Springer-Lehrbuch
Armin von Bogdandy • Jürgen Bast
(H rsg.)
Europäisches Verfassungsrecht Theoretische und dogmatische Grundzüge 2., vollständig aktualisierte und erweiterte Auflage
123
Professor Dr. Armin von Bogdandy Dr. Jürgen Bast Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Im Neuenheimer Feld 535 69120 Heidelberg
[email protected] [email protected]
Unter redaktioneller Mitarbeit von Franziska Sucker
ISSN 0937-7433 ISBN 978-3-540-73809-1 e-ISBN 978-3-540-73810-7 DOI 10.1007/978-3-540-73810-7 Springer Dordrecht Heidelberg London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Vorwort
Vorwort
Die freundliche Aufnahme der deutschen wie der englischen Fassung dieses Buches ermunterte zu einer Neuauflage sechs Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage. Sie verarbeitet die Entwicklung des Gegenstandes ebenso wie Anregungen aus den zahlreichen Besprechungen. Beide erfordern Überlegungen jenseits des Rahmens eines Vorworts; ihnen gilt die neue Einleitung. So bleibt an dieser Stelle Dank und Anerkennung auszusprechen. Dieses Projekt ist weiterhin der Fritz Thyssen Stiftung tief verpflichtet. Wiederum ermöglichte sie großzügig und unbürokratisch die Zusammenarbeit der Autoren. Die Redaktion lag gemeinsam mit den Herausgebern in den Händen von Franziska Sucker. Sie wurden unterstützt durch Victoria Beinert, Nicole Betz, Anuscheh Farahat, Felix Hanschmann, Marc Jacob, Daniel Oberhofer, Johannes Pötzl, Maja Smrkolj, Ingo Venzke und Christian Wohlfahrt. Armin von Bogdandy und Jürgen Bast Heidelberg, im März 2009
Inhaltsübersicht
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Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX
Der verfassungsrechtliche Ansatz und das Unionsrecht Armin von Bogdandy und Jürgen Bast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Gegenstand, Grundlagen und Grundbegriffe Grundprinzipien Armin von Bogdandy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Föderalismus und Demokratie Stefan Oeter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Staatliches Unionsverfassungsrecht Christoph Grabenwarter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Völkerrechtliche Verfassungselemente Robert Uerpmann-Wittzack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung Christoph Möllers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Finalität Ulrich Haltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 II. Das institutionelle Recht Die politischen Organe Philipp Dann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Kompetenzen Martin Nettesheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Auswärtige Gewalt Daniel Thym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
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Handlungsformen und Rechtsschutz Jürgen Bast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Verfassungsgerichtsbarkeit Franz C. Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 III. Die Rechtsstellung des Einzelnen Unionsbürgerschaft Stefan Kadelbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Grundrechte Jürgen Kühling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 Grundfreiheiten Thorsten Kingreen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Jörg Monar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 IV. Gesellschaftsverfassung Wirtschaftsverfassung im Binnenmarkt Armin Hatje . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Arbeitsverfassung Florian Rödl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 855 Wettbewerbsverfassung Josef Drexl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905 V. Gesamteinschätzungen Die Europäische Union als föderaler Zusammenschluss von Staaten und Bürgern Ulrich Everling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961 Der europäische Staatenverbund Paul Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009 Die Vorzüge der Europäischen Verfassung Manfred Zuleeg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1077
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX Der verfassungsrechtliche Ansatz und das Unionsrecht – Von einem Konstitutionalismus der Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen zu einer liberaldemokratischen Politisierung der EU Armin von Bogdandy und Jürgen Bast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Idee des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Reaktionen auf Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Gegenstand, Grundlagen und Grundbegriffe Grundprinzipien Armin von Bogdandy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ziele, Thesen und Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zur Wissenschaft unionaler Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundprinzipen und Verfassungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Drei Aufgaben einer prinzipienorientierten Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsdogmatischer Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendungsorientierte Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Pflege und Fortentwicklung der „rechtlichen Infrastruktur“ . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechts- und integrationspolitische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Allgemeine Fragen einer europäischen Prinzipienlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prinzipien im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unionale Grundprinzipien und ihr verfassungsrechtlicher Charakter . . . . . . . . c) Prinzipien des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Rolle mitgliedstaatlicher Verfassungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einheitliche Grundprinzipien angesichts uneinheitlichen Primärrechts . . . . . . . . . IV. Prinzipielles zum Verhältnis Union – Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einheitsbildung unter dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtstaatlichkeit und überstaatliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Prinzip der Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Prinzip umfassenden Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prinzipien des politischen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsstaatlichkeit und Legalitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prinzipien der Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Prinzip freier Interessenverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prinzipien des Verbunds aus Union und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Verbund als neue Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prinzip struktureller Kompatibilität oder Homogenitätsprinzip? . . . . . . . . . . .
13 13 15 15 17 17 20 22 22 25 25 25 27 29 30 33 36 36 36 38 42 43 43 46 49 50 50 52
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Inhaltsverzeichnis
c) Prinzip der loyalen Zusammenarbeit und die föderale Balance . . . . . . . . . . . . Prinzipielles zum Verhältnis Einzelner – Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prinzip der gleichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prinzip des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prinzip der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwicklung und allgemeiner Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Demokratieprinzip und Organstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Transparenz, Beteiligung, Deliberation und Flexibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Supranationale Demokratie: eine Evaluierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Solidaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.
54 55 56 59 62 62 62 65 66 68 69 71
Föderalismus und Demokratie Stefan Oeter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Einführung: Die Europäische Union – ein föderales Gemeinwesen? . . . . . . . . . . . . . 73 II. Die verschiedenen „Föderalismusdiskurse“ – eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 III. Die Europäische Union als föderatives „Mischsystem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 IV. Vom Nutzen föderaler Analogien – oder: der Zentralstaat als Leitbild der Staatstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Die Souveränitätsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Volkssouveränität und die „Verfassung“ der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . 90 V. Die Rolle des Demokratieprinzips im föderalen „Staatenverbund“ . . . . . . . . . . . . . . 97 VI. Die Konstruktion demokratischer Verantwortlichkeit – Erfahrungen föderaler Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Exekutivföderalismus und parlamentarische Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Demokratische Verantwortlichkeit und das Institutionensystem der EU . . . . . . . 106 3. „Demokratiedefizit“ und der Drang zur Konkordanzdemokratie . . . . . . . . . . . . . 112 4. Europäisches Konkordanzsystem und die sozialen Voraussetzungen funktionierender Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 VII. Schlussfolgerungen: Die föderale „Verbundverfassung“ – ein zukunftsfähiges Modell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Staatliches Unionsverfassungsrecht Christoph Grabenwarter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Verhältnis zwischen dem Recht der Union und dem nationalen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Umfassender Vorrang des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begrenzter Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor Verfassungsrecht . . . . . . . . . . 3. Vorrang der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Situation in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der jüngsten Beitrittsgeneration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Begründungsansätzen . . . . . . . . . . . 6. Die Rechtslage nach dem Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Inhalte des Unionsverfassungsrechts der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Souveränität und Übertragung von Hoheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121 121 123 123 124 129 131 133 135 135 136
Inhaltsverzeichnis
XI
2. Struktursicherungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Föderale und dezentrale Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4. Die Stellung der nationalen Parlamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 5. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 IV. Zusammenfassende Beobachtungen zum Verhältnis des nationalen Verfassungsrechts zum Recht der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Die handelnden Organe der Verfassungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Interdependenzen zwischen den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten untereinander sowie zwischen mitgliedstaatlichen Verfassungen und europarechtlichen „Nebenverfassungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Typologie nach der inhaltlichen Ausrichtung: Integrationsoffene und defensive Anpassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4. Entwicklung zur gegenseitigen Verklammerung der Verfassungen zu einem Verfassungsverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Völkerrechtliche Verfassungselemente Robert Uerpmann-Wittzack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 I. Öffnung der Rechtsordnung zum Völkerrecht als Verfassungsfrage . . . . . . . . . . . . 177 II. Inkorporation völkerrechtlicher Verfassungselemente als unmittelbar anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1. Automatische Inkorporation von Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2. Beitritt zu völkerrechtlichen Nebenverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) WTO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 aa) Art. 300 Abs. 7 EG als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 bb) Theorie der unmittelbaren Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 cc) Abgrenzung unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 dd) Das Argument der Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 ee) Das Argument des Verhandlungsspielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 ff) Einschränkung der internen Wirkung durch den Rat . . . . . . . . . . . . . . . . 195 gg) Interne Wirkung ohne unmittelbare Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 196 hh) Der EuGH zwischen Monismus und Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 b) EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3. Rechtsnachfolge kraft Funktionsnachfolge und Formen der mittelbaren Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 a) GATT 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 b) EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 aa) Rechtsnachfolge i.e.S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 bb) Durchgriff auf die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 cc) Gewährleistungsverantwortung der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . 205 III. Transformation völkerrechtlicher Verfassungselemente in Unionsrecht . . . . . . . . . . 207 1. Primärrechtliche Inkorporation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Unionsrechtliche Rechtsnachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 b) Ausdrückliche primärrechtliche Inkorporation – insbes. Art. 6 Abs. 2 EU . . 208 c) Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2. Sekundärrechtliche Inkorporation – insbes. die Umsetzung von UN-Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 IV. Bewertung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1. Gründe für unterschiedliche Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
XII
Inhaltsverzeichnis a) Souveränitätswahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die EU als Grundrechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verstärkte Bezugnahme auf EMRK und EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verstärkte Kontrolle mitgliedstaatlichen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Versuch einer Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) UN-Sanktionen als Sonderproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Änderungen durch den Lissabonner Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung Christoph Möllers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorüberlegung: Bedeutungsebenen des Verfassungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundlegung: Zwei Typen von Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Herrschaftsbegründung: Verfassung als Politisierung des Rechts . . . . . . . . . . . . a) Herrschaftsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normativität, Vorrang und Verurkundlichung der Verfassung . . . . . . . . . . . . c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Herrschaftsformung: Verfassung als Verrechtlichung der Politik . . . . . . . . . . . . a) Herrschaftsbegrenzung als Verrechtlichung von Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . b) Eingeschränkte Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundlegung: Verfassung als Kopplung von Politik und Recht . . . . . . . . . . . . . . III. Diskussionsstand – eine kritische Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nationalstaat und Autonomie des Europarechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassung als nationalstaatliches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Heteronomie und Autonomie des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Relativierungen des Verfassungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gleichsetzung von Verfassung und Verfassungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassungselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bund – Verbund – Fragment – Regime: Vielheiten der Verfassung . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Anwendung: Begriffe der Verfassung in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassunggebende Gewalt des Volkes – das Kriterium gleicher Freiheit . . . . . . 2. Verfassung: die Europäischen Verträge als formelle Unionsverfassung . . . . . . . a) Urkundlichkeit der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorrang der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassung als Argument – der EuGH und die Binnenhierarchie der Vertragsregeln . . . . . . . . . . . . . bb) Vorrang des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Verträge als formale Verfassung: supranationale Überverrechtlichung und intergouvernementale Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konstitutionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gemeineuropäisches Verfassungsrecht – Prinzipienbildung . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechte-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Administrative Konstitutionalisierung – Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zur Legitimation von evolutionären Konstitutionalisierungsprozessen . . . . . V. Europäisches Verfassungsrecht als Rechtsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
214 217 217 218 220 221 222
227 227 229 230 230 232 234 234 234 236 237 238 240 240 240 242 244 244 246 247 249 250 250 255 257 260 260 262 264 265 266 267 268 270 271
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VI. Politische Grenzen der semantischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Deliberativer Konvent und intergouvernementale Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politische Zäsuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsnominalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
274 274 275 276
Finalität Ulrich Haltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 I. Konjunkturen der Finalität Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 1. Die Notwendigkeit der Vergewisserung über europäische Finalität . . . . . . . . . . . 280 2. Verunsicherungen über den Gegenstand „Europa“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 3. Heteronomie als Lösung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 4. Reformwille vs. Soziales Legitimationsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 5. Sich kreuzende Finalitäts- und Identitätsdiskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 6. Diskursgemengelage in der europäischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 II. Der rechtswissenschaftliche Bezugsrahmen: Macht, Recht, Kultur und das Politische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1. Der Beitrag des Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2. Der Ansatz einer Kulturtheorie des Rechts: Von Funktion und Fortschritt zu Bedeutungen des Politischen . . . . . . . . . . . . . . 293 3. Das Imaginäre von Macht und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 4. Souveränität als Kern des Imaginären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 III. Die europäische Suche nach dem Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 1. Post-Souveränität und Recht: Umrisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 2. Die Liquidierung von Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 3. Europarecht als post-souveränes Speichermedium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 4. Post-Post-Souveränität (1): Politische Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 5. Post-Post-Souveränität (2): Politisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 IV. Finalität, Identität, Post-Souveränität: Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
II. Das institutionelle Recht Die politischen Organe Philipp Dann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Organe im rechtswissenschaftlichen Diskurs – ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . . 1. Rat, Kommission und die Anfänge der Forschung zu den Organen . . . . . . . . . . . 2. Das Europäische Parlament: Lieblingsobjekt deutscher Gemeinschaftsrechtler . 3. Institutionenforschung seit den 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Exekutivförderalismus als konzeptioneller Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die institutionelle Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Form folgt der Funktion: Mitglieder, Organisation und Kompetenzen . . b) Entscheidungsmodus: Mehrheitsentscheid und Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Europäische Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wahlfunktion: Die negative Kreationskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kontrollfunktion: eine Frage der internen Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsetzungsfunktion: Kooperation und Konsensbildung . . . . . . . . . . . . . .
335 335 337 337 340 341 343 346 346 346 349 354 355 358 360
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3. Die Europäische Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einführung und das Problem politischer Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Organisationsstruktur: die Form einer konsensualen Regierung . . . . . . . c) Funktionen: Agenda-Setter, Vermittlerin und Staatsanwältin . . . . . . . . . . . . . aa) Agenda-Setter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vermittlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Staatsanwältin der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schlussfolgerung und das ungelöste Problem politischer Führung . . . . . . . . 4. Der Europäische Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Organisatorische Form: Das Ideal des „Kamingesprächs“ . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Richtungsweiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Schiedsrichter und Koordinator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Konstitutioneller Motor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Eine Institution nach dem Rezept des Exekutivföderalismus . . . . . . . . . bb) Der Europäische Rat und die Europäische Kommission als zweiköpfige Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eine dreiköpfige Führung? Der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Legitimation des institutionellen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Dilemma der nationalen Parlamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Probleme der nationalen Parlamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Reform durch den Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Europäische Parlament und die Grenzen seiner Repräsentationsfunktion . . 3. Schlussfolgerung und Vorschlag: eine semi-parlamentarische Demokratie . . . . . VI. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzen Martin Nettesheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kompetenzlehren des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff der Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kompetenz und politische Programmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kompetenz und Föderation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begründung originärer Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prinzip der begrenzten Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kompetenz-Kompetenz in gesamthänderischer Verbundenheit von EU und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kompetenzielle Letztinterpretationsbefugnis beim EuGH . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kompetenz und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kompetenzbedarf für amtliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kompetenz, Rechtsfehlerhaftigkeit und Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kompetenztypen des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eindimensionalität der Kompetenzzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Positivierte und ungeschriebene Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Regelfall: Kompetenzbegründung durch Vertragsbestimmung . . . . . . . . b) Ungeschriebene Kompetenzen durch EuGH-Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . c) Insbesondere: Ungeschriebene Kompetenzen im Außenbereich . . . . . . . . . .
363 363 365 367 367 367 368 368 370 370 372 372 373 373 374 374 376 377 378 378 379 380 382 384 386
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3. Kompetenzcharakteristika (Breite, Tiefe, Dichte, Modus, Ausrichtung) . . . . . . . 4. Ausschließliche, konkurrierende und parallele Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Qualifikation der internen Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausschließliche Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Komplementäre Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Konkurrierende Kompetenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Parallele Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Bestand auswärtiger Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausschließliche, konkurrierende und parallele Außenkompetenzen . . . . bb) Komplementäre Ausübung der auswärtigen Gewalt (Gemischte Abkommen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Actio pro unionem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Wahl zwischen verschiedenen Kompetenznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
418 423 424 424 426 426 427 429 429 432 434 434
Auswärtige Gewalt Daniel Thym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 II. Verfassungsrechtliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 1. Eigenart der auswärtigen Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 2. Wandel der auswärtigen Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 III. Supranationale Außenbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 1. Ausweitung der EG-Verbandskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 a) Expansive Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 b) Konstitutionelle Konsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 2. Verhältnis von Gemeinschafts- und Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 3. Supranationale Entscheidungsfindung: parlamentarisches Defizit? . . . . . . . . . . . 460 4. Materielle Rechtsbindung auswärtigen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 a) Gerichtliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 b) Reduzierte Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 c) Inhaltliche Ausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 IV. Intergouvernementale Außen- und Sicherheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 1. Intergouvernementale Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 2. Militärische Exekutivfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 3. Rechtsnatur des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 V. Verbundcharakter auswärtiger Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 1. Vertikaler Verbund von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 2. Horizontale Kohärenz von Union und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 3. Einheitlichkeit der Außenvertretung: Reformperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Handlungsformen und Rechtsschutz Jürgen Bast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausübung von Hoheitsgewalt und ihre gerichtliche Kontrolle als Verfassungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Dogmengeschichtliche Skizzen: Handlungsformen- und Rechtsschutzdiskurse im Wechselspiel . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die EGKS als Verwaltungsunion: Entscheidungen und direkter Rechtsschutz der Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . .
489 489 492 492
XVI
Inhaltsverzeichnis
2. Die EWG als Rechtsetzungsunion: Verordnungen und indirekter Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Verordnung als Standardhandlungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Vorabentscheidung als Rechtsschutzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsetzung und Verwaltung im föderalen Verbund: Richtlinien und der Schutz subjektiver Gemeinschaftsrechte . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entdeckung der Richtlinie als Form der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . b) Der Rechtsschutzauftrag der nationalen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die EU/EG im Reformjahrzehnt: Proliferation der Handlungsformen und Rechtsschutzdefizite? . . . . . . . . . . . . . . a) Rahmenbeschlüsse und die Rechtsschutzdefizite der Säulenstruktur . . . . . . . b) Systematisierung oder Vereinfachung? Wege zur Reform der Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Ruf nach Hierarchisierung und Vereinfachung durch den Vertragsgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Beitrag der Wissenschaft zur Reform der Handlungsformen . . . . . . c) Systemwechsel oder punktuelle Erweiterung? Wege zur Reform des Individualrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Dogmatische Analyse I: Der Weg zur Formenneutralität des Rechtsschutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anfechtbare Handlungen nach Art. 230 Abs. 1 EG: die Generalklausel judikativer Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anfechtbare Entscheidungen nach Art. 230 Abs. 4 EG: die Generalklausel direkten Individualrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die an den Kläger gerichtete Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die „als Verordnung“ ergangene Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Dogmatische Analyse II: Strukturentscheidungen zur Ordnung der Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strukturentscheidung für ein offenes Handlungsformensystem . . . . . . . . . . . . . . a) Die Normstruktur des Art. 249 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kein Numerus clausus der Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grenzen der Entwicklungsoffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strukturentscheidung für die nicht-hierarchische Einheit des abgeleiteten Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gleichrang der Rechtsetzungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gleichrang der Rechtsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gleichrang der verbindlichen Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gleichrang von vertragsunmittelbaren und habilitierten Rechtsakten („Durchführungsrecht“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Fehlende Hierarchie als Systemanomalie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Strukturentscheidung für eine Differenzierung der Handlungsformen nach rechtlichen Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Gültigkeitsregime: Formspezifische Anforderungen an Legalität und Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wirksamkeitsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtmäßigkeitsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Wirkungsmodus als Schlüsselkategorie der Formensystematik . . . . . . .
495 495 497 501 502 506 507 508 511 512 513 516 518 519 521 521 522 525 525 526 526 528 529 530 531 532 534 536 537 537 538 539 541
Inhaltsverzeichnis V.
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Handlungsformen und Rechtsschutz nach dem Lissabonner Vertrag . . . . . . . . . . . . 1. Zur Neugestaltung der Handlungsformen: die Kreation des europäischen Gesetzes („Gesetzgebungsakte“) . . . . . . . . . . . . . a) Vereinfachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hierarchisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vier Aspekte des Gesetzes-Begriffs im nationalen Verfassungsrecht . . . bb) Verstärkung öffentlicher Kontrolle als Kennzeichen der „Gesetzgebung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neuerungen für den Rechtsschutz des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausweitung des Normalfalls: zur Demontage der dritten Säule . . . . . . . . . . . b) Modifizierung des Normalfalls: zur Reform des Individualrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
544 545 545 546 547 551 554 554 555
Verfassungsgerichtsbarkeit Franz C. Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 I. Bestandsaufnahme: Der EuGH und nationale oberste Gerichte – Kollision oder Kooperation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 1. Prozedurale Perspektive: Die Vorlageverpflichtung nach Art. 234 EG (Art. 267 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 a) Die Vorlageverpflichtung nationaler oberster Gerichte aus europarechtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 b) Die Vorlagepraxis der nationalen obersten Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 2. Materiell-rechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 a) Die Sicht des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 b) Die Perspektive der nationalen obersten Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 aa) Das BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 (1) Grundrechte: Solange I und II (1974/1986) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 (2) Kompetenzen: Das Maastricht-Urteil (1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 (3) Zusammenfassung: Das BVerfG auf der Brücke . . . . . . . . . . . . . . . . 577 bb) Die anderen Obergerichte der EU 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 cc) Die Obergerichte in den jüngsten Mitgliedstaaten der EU 27 und der Beitrittskandidaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 II. Analyse und theoretische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 1. Möglichkeiten zur rechtlichen Gestaltung der Letztentscheidungsfrage . . . . . . . 585 2. Möglichkeiten einer theoretischen Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 a) Bestehende Einordnungs- und Lösungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 b) Einbettung in eine zeitgemäße Verfassungskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 aa) Vorklärung: Welche Verfassung? Verfassung, Verfassungsverbund und Mehrebenenverfassung . . . . . . . . . 593 bb) Die Rolle von Gerichten im europäischen Mehrebenensystem . . . . . . . . 596 c) Komplementäre Verfassungsgerichtsbarkeit – Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . 598 aa) Asymmetrie der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . 598 bb) Verflüchtigung von Verantwortung und Heimatlosigkeit der Gemeinwohlbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 cc) Erkenntniswert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602
XVIII
Inhaltsverzeichnis
III. Neuere Entwicklungen im Verhältnis zwischen europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gerichte und die Kernthemen des Reformprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
602 603 604 606
III. Die Rechtsstellung des Einzelnen Unionsbürgerschaft Stefan Kadelbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Idee der Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Konstruktion des europäischen Bürgerstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Staatsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Staatsangehörigkeit als Voraussetzung der Unionsbürgerschaft . . . . . . . bb) Unionsbürgerschaft als Ergänzung der Staatsbürgerschaft . . . . . . . . . . . III. Die rechtlichen Komponenten der Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Individualrechte auf der Grundlage des EG-Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sekundäres Recht: Unionsbürger als Steuerzahler, Leistungsempfänger und Verbraucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unionsbürgerrechte im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Politische Rechte und Zugang zu öffentlichen Ämtern . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kommunalwahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Europawahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Petition, Information, Zugang zu Dokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Diplomatischer und konsularischer Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unionsbürgerrechte und Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verbindungen zwischen Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot . . b) Derivative soziale Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Derivative kulturelle Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Verhältnis der Unionsbürgerschaft zu den Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . 5. Unionsbürgerliche Pflichten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zwischenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Zukunft der Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unionsbürger im europäischen Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bürgerstatus und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Multinationales Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Universalistische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bürgerschaftliche Identitäten in mehrstufigen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . c) Komplementarität des Bürgerstatus und politische Mitwirkung . . . . . . . . . . 2. Unionsbürgerschaft und demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unionsbürgerschaft und europäische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Abschließende Bemerkungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
611 611 614 614 618 618 619 621 621 622 623 623 623 624 625 625 627 628 629 630 633 635 635 636 638 639 642 643 645 645 645 645 648 649 652 653 654 655
Inhaltsverzeichnis Grundrechte Jürgen Kühling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Stationen der Entwicklung des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entwicklung des prätorischen Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundrechtsdiskussion in der Ära der Grundrechte-Charta . . . . . . . . . . . . . . a) Neue Diskussionsimpulse durch die Verabschiedung der Grundrechte-Charta – Zeit für eine radikale Neuausrichtung der Grundrechtsentwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fehlende Rechtsverbindlichkeit aber Katalysatorwirkung . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundrechte-Charta und ‚Exit-Protokoll‘ – Risse in der Wertegemeinschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kernelemente einer Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung: Funktionen und notwendige Fortentwicklung der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Funktionen der Grundrechtsdogmatik vor dem Hintergrund divergierender Grundrechtskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Notwendigkeit der Fortentwicklung der bisherigen Grundrechtsdogmatik des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzdimensionen der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Subjektives Abwehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutzpflichten und ihre gerichtliche Durchsetzbarkeit (Schutzgewährrechte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Derivatives Teilhaberecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Originäres Leistungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundrechtsverpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bindung der Organe der EG und der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bindung der Mitgliedstaaten als Determinante der vertikalen Reichweite der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Position des EuGH – Grundrechte im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts: agency situation und Beschränkungen der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Künftige Festigung des EuGH-Standpunktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Erweiterung der bisherigen Fallkategorien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundrechtsberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Struktur der Grundrechtsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick über die Prüfungssystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutzbereich der Grundrechte und Eingriff in den Schutzbereich . . . . . . . . c) Rechtfertigung des Eingriffs in die Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Eingriff von gesetzlicher Grundlage gedeckt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verhältnismäßigkeit i.e.S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Kontrolldichte und Bewertungsspielräume (margin of appreciation) .
XIX
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XX
Inhaltsverzeichnis
dd) Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 d) Besonderheiten bei der Prüfung besonderer Grundrechtstypen und Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 IV. Ausblick: Materiellrechtliches und institutionelles Arbeitsprogramm . . . . . . . . . . . 701 Grundfreiheiten Thorsten Kingreen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Grundfreiheiten im rechtswissenschaftlichen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Grundfreiheiten im Prozess der Europäisierung und Konstitutionalisierung . . . 1. Der politisch-institutionelle Kontext I: Das Horizontalverhältnis zwischen EuGH und europäischem Gesetzgeber . . . . a) Die Grundfreiheiten in der Krise der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Grundfreiheiten nach der Einheitlichen Europäischen Akte . . . . . . . . . . c) Die Grundfreiheiten in der Phase der Konstitutionalisierung . . . . . . . . . . . . . 2. Der politisch-institutionelle Kontext II: Das Vertikalverhältnis zwischen EuGH und mitgliedstaatlichem Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Grundfreiheiten als Mehrebenennormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Grundfreiheiten im europäischen Verfassungsverbund . . . . . . . . . . . . . . 3. Transnationale Integration oder (supra-)nationale Legitimation? . . . . . . . . . . . . III. Dogmatische Umsetzung der Kontextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Struktur und Reichweite der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kritik des freiheitsrechtlichen Verständnisses der Grundfreiheiten . . . . . bb) Ein neuer Angriff auf die Keck-Formel: Die Schlussanträge von Generalanwalt Maduro in Alfa Vita Vassilopoulos . . . . . . . . . . . . . . b) Auswirkungen auf die Rechtfertigungsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Bindung der Union an die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Unionsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten . . . . . . . . IV. Die sog. Privatwirkung der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmittelbare Privatwirkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Alternative: Das Recht auf hoheitliche Schutzgewähr . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
730 735 740 741 741 743 743 746 748
Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Jörg Monar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die verfassungsrechtlichen Bedeutung des RFSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Thematische Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Methodologische Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das grundlegende Vertragsziel und seine konzeptionelle Dimension . . . . . . . . . . . 1. Der RFSR als grundlegendes Vertragsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Begriff des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Begriff der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Begriff der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Begriff des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
749 750 750 752 753 753 753 755 758 759 761
705 705 710 711 711 714 716
718 718 720 725 726 727 727 727
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III. Der RFSR in der Vertragsarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Aufteilung zwischen den Säulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konsequenzen der Aufteilung zwischen den Säulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fragen der Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Aufhebung der Säulenteilung durch den Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . IV. Differenzierte Beteiligungsformen als verfassungsrechtliche Komponente des RFSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Opt-outs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Opt-in-Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Möglichkeiten zur „verstärkten Zusammenarbeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Stellung der assoziierten Schengen-Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ein Raum der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die kooperative Orientierung des gegenwärtigen vertraglichen Rahmens . . . . . . 2. Die Kommission und der Gerichtshof als (begrenzte) Faktoren der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Beibehaltung der Logik der Zusammenarbeit im Vertrag von Lissabon . . . . VI. Die Stellung des Einzelnen in einem Raum zusammenarbeitender Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Einzelne als passiver Begünstigter des RFSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwei versäumte Gelegenheiten: Die Charta der Grundrechte und die Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Schutz der Rechte des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
764 764 766 768 771 773 773 773 774 776 778 779 779 781 785 786 786 788 789 795
IV. Gesellschaftsverfassung Wirtschaftsverfassung im Binnenmarkt Armin Hatje . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 I. Wirtschaftsverfassung und europäische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 1. Aktualität des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 2. Begriff und Funktionen der Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 a) Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 b) Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804 c) Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805 3. Die europäische Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805 a) Erweiterung der Debatte auf ein übergeordnetes Referenzsystem . . . . . . . . . 805 b) Der Verbundcharakter der europäischen Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . 806 c) Funktionelle Besonderheiten der europäischen Wirtschaftsverfassung . . . . . 807 4. Wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 a) Formen der Zuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 b) Dogmatische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808 II. Systementscheidung und Funktionsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809 1. Die Entscheidung für eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb . . . . . 809 a) Rechtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810 b) Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810 2. Funktionsgarantien einer marktwirtschaftlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
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a) Privatautonomie als Grundbedingung eines marktwirtschaftlichen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wirtschaftsteilnehmer als Rechtssubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Individuelle und unternehmerische Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . cc) Gleichheit der Marktteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Koordination durch Tausch auf offenen Märkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sichere Verfügbarkeit der Tauschobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Stabile Währung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abbau staatlicher Marktschranken durch die Grundfreiheiten . . . . . . . . (1) Stetige Ausdehnung der Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Einschränkende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kommunikationsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Begrenzte Offenheit nach Außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wettbewerb als Instrument der Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Funktion und Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bereichsausnahmen vom Wettbewerbsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wettbewerb und Marktversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Funktionsgarantien des Marktes und Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ziele der Gemeinschaftstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wirtschaftsverfassungsrechtliche Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . 1. Asymmetrien der Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tendenzen der bisherigen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis von Wirtschafts- und Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsformen der Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bereiche gemeinschaftlicher Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ordnungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Marktöffnung durch Rechtsangleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Liberalisierung regulierter Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Aufbau eines Raumes der Freiheit und der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . b) Verlaufspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Finanzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Maßnahmen der Strukturförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Sektorielle Strukturpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Regionale Strukturpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Aktionen der Europäischen Investitionsbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beschäftigungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Umweltpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Weitere Politikbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verteilungs- und Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verteilungspolitische Ziele der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergänzende Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ansätze einer europäischen Arbeits- und Sozialordnung . . . . . . . . . . . . . d) Prinzipielle Wahlfreiheit im Rahmen der Generalklausel . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gestaltungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zielpräferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
811 812 812 813 813 814 814 815 815 816 817 818 818 819 820 821 821 821 822 822 823 823 823 824 825 825 826 826 826 827 828 828 828 828 829 829 830 830 831 832 832 832 833 834 835 836 836
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b) Erhöhte Effektivität marktintegrativer Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837 aa) Abgestufte Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837 bb) Prozedurale Sicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837 cc) Rechtswirkungen der Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838 c) Tatbestandliche Sicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838 aa) Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838 bb) Schutz durch Funktionsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 (1) Vorbehalte zugunsten der Errichtung und des Funktionierens des Binnenmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 (2) Vorbehalte zugunsten des unverfälschten Wettbewerbs . . . . . . . . . . . 839 cc) Rechtliche Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 840 d) Rechtfertigungslasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 840 aa) Subjektive Rechte als Grundlage von Rechtfertigungslasten . . . . . . . . . . 840 bb) Verhältnismäßigkeit – Gebot des Interventionsminimums . . . . . . . . . . . . 841 5. Die Währungsunion in der Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841 IV. Wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . 842 1. Verfassungsrechtliche Ausgangspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842 a) Systementscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842 b) Funktionsgarantien einer marktwirtschaftlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . 843 c) Interventionistische Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843 2. Marktrelevante Gestaltungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844 a) Ordnungspolitische Vorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844 aa) Autonome Gestaltung der Eigentumsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844 bb) Bestandsgarantie zugunsten der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845 cc) Bereitstellung öffentlicher Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846 b) Verlaufspolitische Gestaltungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 c) Verteilungspolitische Gestaltungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 d) Das Problem des Systemwettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848 3. Gestaltungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848 a) Marktwirtschaftliche Ausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848 b) Quantitative Begrenzung des finanziellen Interventionspotenzials . . . . . . . . . 849 c) Verhältnismäßigkeit als qualitative Schranken finanzieller und regulativer Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849 aa) Legitimation anhand europäischer Maßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 850 bb) Eignung und Erforderlichkeit als Gebote des Interventionsminimums . . 850 cc) Konkordanz von Wettbewerb und Intervention? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 851 V. Bilanz und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852 Arbeitsverfassung Florian Rödl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Europäische Verfassung und gesellschaftliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Begriff der Arbeitsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die EWG-Arbeitsverfassung und der soziale Integrationskompromiss . . . . . . . . . . 1. Die Grundnormen der Arbeitsverfassung der EWG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundlage und Funktion der EWG-Arbeitsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Versprechen der neo-klassischen Ökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
855 855 855 858 861 861 863 863
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b) Der soziale Integrationskompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gestalt der europäischen Arbeitsverfassung im gesellschaftlichen Wandel . . . . . III. Die positiv-rechtliche Gestalt der EU-Arbeitsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übersicht über den Normbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leitnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Kernproblem der fehlenden Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Form der europäischen Arbeitsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eine integrierte europäische Arbeitsverfassung „im Werden“? . . . . . . . . . . . . . . a) Marksteine der Entwicklung der europäischen Arbeitsverfassungsnormen . . aa) Aufbau autonomer arbeitsrechtlicher Kompetenzen: Einheitliche Europäische Akte (1987) und Sozialabkommen von Maastricht (1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konstitutionalisierung von Rechten: Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (1989) und die EU-Charta der Grundrechte (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vermehrung der Leitnormen: Sozialabkommen von Maastricht (1993) und Amsterdamer Vertrag (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Neuerungen durch den Lissabonner Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eine historisch und polit-ökonomisch verfestigte Asymmetrie . . . . . . . . . . . 2. Eine post-regulatorische Arbeitsverfassung für die EU?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die EU-Arbeitsverfassung im europäischen Arbeitsverfassungsverbund . . . . . . a) Schutz der Autonomie mitgliedstaatlicher Arbeitsverfassung . . . . . . . . . . . . aa) Horizontale Schutzrichtung: Arbeitskollisionsrecht und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vertikale Schutzrichtung: Wettbewerbs- und Binnenmarktrecht . . . . . . . b) Legislative Kompetenzen für marktfunktionale Harmonisierung . . . . . . . . . aa) Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Harmonisierungen für Maschinen, Produktionsstoffe und Anlagen-Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Harmonisierung des übrigen technischen und des sozialen Arbeitsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Arbeitsrechtlicher Annex europäischen Gesellschaftsrechts . . . . . . . . . . c) Transnationalisierung arbeitsverfassungsrechtlicher Rechte . . . . . . . . . . . . . aa) Transnationale Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Transnationale Mitwirkungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Transnationale Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wettbewerbsverfassung Josef Drexl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung: Zwischen Reformvertrag und Ökonomisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Auswirkungen des Lissabonner Reformvertrages auf das Wettbewerbsrecht . . 1. Der Schutz des unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt – noch ein Ziel des Unionsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Analyse der Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Garantie des unverfälschten Wettbewerbs als Schranke der Abwägung kollidierender Ziele bei Anwendung des Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . .
865 868 869 869 869 872 872 874 877 877 877 877 879 881 882 882 885 888 888 888 891 894 894 895 896 897 898 898 899 901 903 905 905 908 908 909 912
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c) Eingriffe in die „Struktur des Wettbewerbs“ als Missbrauch marktbeherrschender Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 913 2. Die Verschiebung der Systemgarantie der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ im Lissabonner Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 916 III. Die Ökonomisierung des Wettbewerbsrechts als Antwort auf ein Rechtsanwendungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 918 1. Historische Entwicklung und Charakterisierung des more economic approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 a) Die Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung von 1999: Der neue „auswirkungsbezogene“ Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 b) Unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 81 Abs. 3 EG (Art. 101 Abs. 3 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921 c) Reform der europäischen Zusammenschlusskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923 d) Reform der Anwendung von Art. 82 EG (Art. 102 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . 925 e) Die Reform der Rechtsdurchsetzung und die Stärkung der privaten Rechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929 f) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933 2. Mangelnde Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933 3. Erforderlichkeit von Prognoseentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935 4. Anmaßung von Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 5. Missachtung der institutionellen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939 6. Plädoyer für einen „even more economic approach“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 940 IV. Die Ziele des Kartellrechts aus ökonomischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 940 1. Verbraucherwohlfahrt als Ziel des europäischen Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . 941 a) Verbraucherwohlfahrt als ökonomisches Ziel der Wettbewerbspolitik . . . . . . 941 b) Das Ziel Verbraucherwohlfahrt in der europäischen Wettbewerbspolitik . . . . 941 c) Verbraucherwohlfahrt als Ziel des europäischen Wettbewerbsrechts aus der Sicht der europäischen Verfassungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 942 2. Der consumer surplus standard im europäischen Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . 943 a) Die ökonomische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 944 b) Die Behandlung der Frage in der europäischen Wettbewerbspolitik . . . . . . . 945 c) Der consumer surplus standard und die Effizienzverteidigung aus der Sicht der europäischen Verfassungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 945 3. Das Vorliegen eines Verbrauchernachteils als Voraussetzung der Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 948 a) Die ökonomische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 948 b) Praxis der europäischen Wettbewerbspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 948 c) Beurteilung aus der Sicht der europäischen Verfassungsordnung . . . . . . . . . . 949 4. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 951 V. Die Ökonomisierung im Lichte eigener Ziele der europäischen Verfassungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 952 1. Das grundrechtliche Freiheitsparadigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953 a) Die wirtschaftliche Handlungsfreiheit des einzelnen Wirtschaftsteilnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953 b) Schutz der Freiheit des Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954 2. Das gemeinschaftsrechtliche Ziel wirtschaftlicher Integration . . . . . . . . . . . . . . . 955 VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 956
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V. Gesamteinschätzungen Die Europäische Union als föderaler Zusammenschluss von Staaten und Bürgern Ulrich Everling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961 II. Grundlagen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963 1. Ziele der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963 a) Entstehung der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963 b) Fortentwicklung der ursprünglichen Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965 2. Die Europäische Union als Politische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 967 a) Der politische Gehalt der wirtschaftlichen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . 967 b) Einbeziehung der Politik der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968 3. Die Europäische Union als Wirtschaftsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970 a) Öffnung der nationalen Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970 b) Wettbewerbspolitik und sonstige Politiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 972 III. Die Institutionen im System der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 974 1. Besonderheiten der institutionellen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 974 a) Parteipolitische Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 974 b) Einbeziehung der nationalen Verwaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976 2. Beschlussverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978 a) Mehrheitsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978 b) Delegation von Durchführungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 980 3. Kompetenzen und Legitimation zur Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981 a) Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981 b) Legitimation der Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984 IV. Die Verfassungs- und Rechtsordnung der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . 987 1. Verfassungsstruktur der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 987 a) Verfassungsdiskussion in der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 987 b) Organisationsstruktur der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 988 2. Die Union als Rechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 990 a) Rechtsstaatliche Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 990 b) Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 992 3. Rechtsschutzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993 a) Europäische Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993 b) Rechtsschutz und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996 V. Rechtliche Bewertung und Zukunft der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . 998 1. Zur Stellung der Mitgliedstaaten in der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998 a) Wahrung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998 b) Einwirkung auf die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 999 2. Folgerungen und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1002 a) Deutungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1002 b) Zusammenfassung im föderalen Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1004 3. Ausblick: Zur Zukunft der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005
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Der europäische Staatenverbund Paul Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009 I. Der Verzicht auf den Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009 1. Die europäische Rechtsgemeinschaft als Gemeinschaft des Maßes . . . . . . . . . . 1009 a) Das Erfordernis von mehr Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1010 b) Keine Verfassunggebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011 2. Integrationsrealität und Integrationshoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013 3. Verfassung – einheitlicher Text oder Grundordnung eines Staates? . . . . . . . . . . 1014 4. Verstetigende Verfassung und dynamische Entwicklungsordnung . . . . . . . . . . . 1016 II. Das Verhältnis von Verfassungsrecht und Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1017 1. Verfassungsrechtliche Geltungsbedingungen des Europarechts . . . . . . . . . . . . . 1017 2. Die Europäische Union als Staatenverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1019 3. Die Europäisierung des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1022 4. Ein „Mehrebenenmodell“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1023 III. Der Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1024 1. Staatlichkeit und Europaoffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1024 2. Das in Freiheit vorgefundene Staatsvolk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1025 3. Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027 4. Neue Aufgaben für den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1029 IV. Der Staat im Verbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1030 1. Entwicklung eines gemeinsamen Verfassungsrechts im Umfeld des Maastrichter Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1030 2. Die Supranationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1034 3. Lebendigkeit des totgesagten Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035 4. Der Kooperationsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1036 5. Moderne Formen der Gewaltenbalance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1038 a) Die Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1039 b) Freiheitssichernde Gewaltenbalance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1039 c) Entscheidungsrichtigkeit und Entscheidungsverantwortlichkeit . . . . . . . . . . 1040 d) Zukunfts- und Gegenwartsorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1041 aa) Die europäische Zukunftsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1041 bb) Die Gegenwartsgewalt der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1042 e) Gewaltenkooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1042 6. Das Europa der Staaten als Friedens- und Freiheitschance . . . . . . . . . . . . . . . . . 1043 Die Vorzüge der Europäischen Verfassung Manfred Zuleeg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045 I. Die Europäische Verfassung – ein Faktum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045 II. Die Vorzüge im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1048 1. Die Vorzüge der Europäischen Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1048 a) Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1048 b) Die Verträge als Grundlage der europäischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . 1049 c) Das Organisationsstatut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1049 d) Die Konstruktion der europäischen Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1052 e) Rechtshandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053 2. Aufgaben und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054 3. Die Aufteilung der Hoheitsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054
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4. Verfassungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Föderative Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Strukturmerkmale der europäischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Umfang der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die zukünftige Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Bedarf nach einer Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Überschaubarkeit der europäischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Vertrag von Lissabon und die weitere Konstitutionalisierung der Union . . a) Einstellung auf künftige Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Form und Inhalt der Verträge nach Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die institutionelle Struktur der Union nach Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Stärkung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der EU . . . . . . e) Die Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Die Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Union . . . . . . . . . 4. Differenzierte Zusammenarbeit statt Abkehr von der Integration . . . . . . . . . . . IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1077
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Autorenverzeichnis
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Dr. Jürgen Bast, Dipl.-Soz., Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg. Prof. Dr. Armin von Bogdandy, M.A., Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg, Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Dr. Philipp Dann, LL.M. (Harvard), Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg, Schumpeter-Fellow der Volkswagenstiftung. Prof. Dr. Josef Drexl, LL.M. (Berkeley), Direktor des Max-Planck-Instituts für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht, München, Professor an der Universität München. Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Everling, Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Richter am Europäischen Gerichtshof a.D. Prof. Dr. Dr. Christoph Grabenwarter, Professor für öffentliches Recht, Wirtschaftsrecht und Völkerrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien, Richter am Verfassungsgerichtshof Österreich. Prof. Dr. Ulrich Haltern, LL.M. (Yale), Inhaber des Lehrstuhls für deutsches und europäisches Staats- und Verwaltungsrecht und Direktor des Instituts für nationale und transnationale Integrationsforschung der Leibniz Universität Hannover. Prof. Dr. Armin Hatje, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht und Geschäftsführender Direktor der Seminarabteilung Europäisches Gemeinschaftsrecht der Universität Hamburg. Prof. Dr. Stefan Kadelbach, LL.M. (Virginia), Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht und Co-Direktor des Wilhelm MertonZentrums für Europäische Integration und Internationale Wirtschaftsordnung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg. Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof, Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung des Finanz- und Steuerrechts an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg, Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht, Bundesverfassungsrichter a.D.
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Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Jürgen Kühling, LL.M. (Brüssel), Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Immobilienrecht an der Universität Regensburg. Prof. Dr. Franz C. Mayer, LL.M. (Yale), Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Rechtspolitik an der Universität Bielefeld. Prof. Dr. Christoph Möllers, LL.M. (Chicago), Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Staatsrecht, Rechtsvergleichung und Verfassungstheorie an der Georg-August-Universität, Göttingen. Prof. Dr. Dr. Jörg Monar, Professor of Contemporary European Studies an der University of Sussex, Director of Studies am Europa-Kolleg Brüssel. Prof. Dr. Martin Nettesheim, Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europarecht und auswärtige Politik an der Eberhard-KarlsUniversität, Tübingen. Prof. Dr. Stefan Oeter, Inhaber des Lehrstuhls für deutsches und ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg. Dr. Florian Rödl, M.A., Nachwuchsgruppenleiter am Exzellenz-Cluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. PD Dr. Daniel Thym, LL.M. (London), Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Prof. Dr. Robert Uerpmann-Wittzack, maître en droit, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Regensburg. Prof. em. Dr. Dr. h.c. Manfred Zuleeg, ehem. Professor für Öffentliches Recht einschließlich Europarecht und Völkerrecht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Richter am Europäischen Gerichtshof a.D.
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Der verfassungsrechtliche Ansatz und das Unionsrecht
Der verfassungsrechtliche Ansatz und das Unionsrecht Von einem Konstitutionalismus der Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen zu einer liberaldemokratischen Politisierung der EU
Armin von Bogdandy und Jürgen Bast
1. Idee des Buches Das politische Projekt, die Europäische Union auf ein mit dem Wort „Verfassung“ bezeichnetes Dokument zu gründen, ist vorerst gescheitert. Allenfalls ein Reformvertrag wird das Licht der Welt erblicken,1 der, so der Europäische Rat, auf das „Verfassungskonzept“ (engl. constitutional concept, franz. concept constitutionnel) verzichtet.2 Gleichwohl firmiert die zweite Auflage dieses Lehrbuchs des Unionsrechts weiterhin als Europäisches Verfassungsrecht. Diesem Titel liegt ein rechtswissenschaftlicher, nicht ein positivrechtlicher Begriff des Verfassungsrechts zugrunde. Er bezeichnet die Fragestellung dieses Bandes und den diskursiven Raum, in den er sich stellt. Eine rechtswissenschaftliche Bearbeitung der Basisverträge der Union und der ungeschriebenen Rechtsgrundsätze als Verfassungsrecht sucht Anschluss an die Diskurse des liberaldemokratischen Konstitutionalismus. Sie liest dieses „Primärrecht“ als Rahmenordnung von Politik, systematisiert das Material im Lichte verfassungstheoretischer und verfassungsrechtsdogmatischer Bestände, thematisiert legitimatorische Grundlagen und Abschlussfiguren, zielt auf eine disziplinäre Verortung und Selbstvergewisserung, vermittelt zwischen gesellschaftlichen und rechtlichen Diskursen. Gewiss ist dieser verfassungsrechtliche Ansatz begründungsbedürftig, als rechtswissenschaftliche Begrifflichkeit braucht er aber nicht den Segen der Politik. Über die Frage, ob die Verträge, auf denen die Union beruht, Verfassungscharakter
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Zu den Unterschieden zwischen dem Vertrag über eine Verfassung für Europa von 2004 und dem Vertrag von Lissabon in konstitutionalistischer Perspektive G. de Burca, General Report, in: H. F. Koeck/M. M. Karollus (Hrsg.), Preparing the European Union for the Future? (FIDE XXIII. Kongress Linz 2008), 2008, S. 385 (391 ff.). Europäischer Rat vom 21./22. Juni 2007, Schlussfolgerungen des Vorsitzes (11177/1/07 REV 1), Anlage I: Mandat für die Regierungskonferenz, Rn. 1, unter www.consilium. europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (1.03.2009).
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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besitzen, kann ein gubernatives Organ nicht autoritativ entscheiden.3 Zudem ist das, was laut Europäischem Rat das „Verfassungskonzept“ ausmacht, rechtswissenschaftlich kaum relevant. Nach den Schlussfolgerungen des Vorsitzes bestand das Verfassungskonzept des Verfassungsvertrags darin, „alle bestehenden Verträge aufzuheben und mit einem einheitlichen Text mit der Bezeichnung ‚Verfassung‘ zu ersetzen“.4 Danach hätten weder Deutschland (Grundgesetz) noch Österreich eine Verfassung,5 doch niemand wähnt diese Staaten in einem verfassungslosen Zustand. Auch wird die Rechtsprechung des EuGH, welche dem EG-Vertrag den Charakter einer „Verfassungsurkunde“ zuspricht,6 in ihrer Substanz von keinem relevanten Akteur in Frage gestellt.7 Über einen wissenschaftlichen Ansatz wie eben den verfassungsrechtlichen Ansatz zur Erschließung des Unionsrechts ist aufgrund wissenschaftlicher Argumente zu entscheiden. Gewiss verlangt der verfassungsrechtliche Ansatz ausreichend „entgegenkommende“ Elemente in seinem Untersuchungsgegenstand. Hiervon finden sich im Unionsrecht ungleich mehr als im Völkerrecht, und selbst für dieses gibt es einen konstitutionalistischen Ansatz.8 Immerhin begründet das Primärrecht Hoheitsgewalt, statuiert eine Normenhierarchie und legitimiert Rechtsakte, es schafft eine Bürgerschaft und gewährt Grundrechte, es regelt das Verhältnis von Rechtsordnungen, von Hoheitsgewalt und Wirtschaft, von Recht und Politik. In einem funktionalen Vergleich ergeben sich zahlreiche Übereinstimmungen zwischen dem Unionsprimärrecht und staatlichen Verfassungen; erst in theoretischen und damit umstrittenen Zuspitzungen werden signifikante Unterschiede zwischen dem Unionsprimärrecht und dem „gemeinsamen Nenner“ der mitgliedstaatlichen Verfassungen sichtbar. Doch nicht nur die Funktionen, auch „Semantik“ oder „Codierung“ des Unionsprimärrechts legen einen verfassungsrechtlichen Zugang zunehmend nahe: Der Vertragsgeber gibt seit dem Vertrag von Amsterdam über Art. 6 Abs. 1 EU für die Begründungsdiskurse die Kernbegriffe des verfassungsrechtlichen Diskurses vor: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechtsschutz. Entsprechend machte die Verfassungssemantik des EuGH, als entgegenkommende Tendenz, mit den Begriffen „Verfassungsgrundsatz“ und „verfassungsrechtliche 3 4
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Ebd., Rn. 3: „Der EUV und der Vertrag über die Arbeitsweise der Union werden keinen Verfassungscharakter haben.“ Ebd., Rn. 1; laut Bundesregierung sollen noch die Symbole und die Bezeichnung „Europäisches Gesetz“ dazu zählen, Denkschrift der Bundesregierung zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, BR-Drs. 928/07, S. 133 (134). Zu den über hundert österreichischen Bundesverfassungsgesetzen E. Wiederin, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Österreich, in: A. von Bogdandy/P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), IPE I, 2007, § 7, Rn. 44 f. EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23; Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21. Ähnlich M. Dougan, The Treaty of Lisbon 2007: Winning Minds, not Hearts, CMLRev. 45 (2008), S. 617 (698). Aus der reichen Literatur R. MacDonald/D. Johnston (Hrsg.), Towards World Constitutionalism: Issues in the Legal Ordering of the World Community, 2005; A. Peters, Compensatory Constitutionalism, Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 579.
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Garantie“ einen großen Schritt.9 Ob all dies reicht, ob der verfassungsrechtliche Ansatz also trägt auch ohne Staat, Nation und einen Akt, der sämtlichen Anforderungen traditioneller Verfassungstheorien genügt, ist ein erstes Thema einer europäischen Verfassungsrechtswissenschaft. Entsprechend problematisiert dieser Band diesen Ansatz: Insbesondere die Beiträge von Ulrich Haltern, Paul Kirchhof und Christoph Möllers zeigen gegenteilige Positionen auf. Der verfassungsrechtliche Zugang schließt andere Verständnisse nicht aus. Verfassungs-, verwaltungs-, wirtschafts- und völkerrechtliche Zugänge überlagern sich beim Recht der Europäischen Union. Dies ist zu begrüßen: Wettbewerb ist nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Wissenschaft erkenntnisfördernd. Auf keinen Fall ist die Rekonstruktion des Primärrechts als Verfassungsrecht legitimatorisch oder gar apologetisch gedacht; der Zugang präjudiziert zwar in gewisser Hinsicht die prinzipiellen Maßstäbe einer Bewertung, nicht jedoch ihr Ergebnis. Im Gegenteil: Der verfassungsrechtliche Zugriff lässt Errungenschaften wie Defizite deutlich werden.
2. Aufbau des Buches Der Aufbau dieses Bandes ist komplex,10 da die rechtswissenschaftliche Disziplin eines unionalen Verfassungsrechts erst im Entstehen begriffen ist. Während der Leser im Groben weiß, was ihn bei einer Darstellung „seines“ staatlichen Verfassungsrechts erwartet, bestehen in der sich formenden europäischen Verfassungsrechtswissenschaft noch keine Standards, was Gegenstand, Grundlagen, Zugangsweisen oder Schwerpunkte sein sollten. Vor diesem Hintergrund versteht sich der erste Teil. Der Beitrag zu den Grundprinzipien skizziert zum einen den Beitrag einer Prinzipienlehre zum Projekt einer europäischen Verfassungsrechtswissenschaft und entfaltet zum anderen in der Tradition des dogmatischen Konstruktivismus diese Prinzipien in ihrem Zusammenhang, um auf diesem Weg eine Idee des Ganzen des Unionsprimärrechts zu entwerfen. Dieser Beitrag ergibt, dass das Demokratieprinzip und das Verhältnis zwischen Einheit stiftenden und Vielfalt schonenden Prinzipien sich als im philosophischen Sinne problematisch erweisen. Stefan Oeter nimmt dies auf und erörtert in Föderalismus und Demokratie dieses Spannungsfeld in staatstheoretischer Tradition, die rechtshistorisch auf das Kaiserreich, interdisziplinär auf sozialwissenschaftliches Schrifttum und rechtsvergleichend auf die amerikanische Föderalismusdebatte blickt. Auf diesem Weg unterbreitet er eine Deutung dieser beiden Leitbegriffe für den gemeinsamen Diskursraum von Rechtswissenschaft, politischer Theorie und empirischer Politikwissenschaft. Darstellungen staatlichen Verfassungsrechts behandeln dieses oft als ein selbstgenügsames normatives Universum. Vieles spricht dafür, das unionale Verfassungs9 10
EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi u.a./Rat und Kommission, Slg. 2008, I-0000, Rn. 285, 290. Eine Erläuterung des Aufbaus verlangen zu Recht die Besprechungen von J. J. Hesse, ZSE 2 (2004), S. 310, und R. Winkler, ZÖR 59 (2004), S. 102.
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recht nicht als ein Universum, sondern als Teil eines normativen Pluriversums zu begreifen. Denn ungeachtet der Autonomie des Unionsrechts steht das Primärrecht in zahlreichen Beziehungen zu den mitgliedstaatlichen Verfassungen. Das Verständnis dieser Beziehungen ist wesentliches Moment eines angemessenen Verständnisses des Primärrechts, aber auch der mitgliedstaatlichen Verfassungen. Christoph Grabenwarter entfaltet in Staatliches Unionsverfassungsrecht die maßgeblichen Fragestellungen in den Methoden der dogmatikorientierten Rechtsvergleichung und führt sie unter einem heuristisch verstanden Begriffs des „Verfassungsverbunds“ zusammen, dem derzeit wichtigsten Begriff der deutschen Europarechtswissenschaft zur Deutung dieses Pluriversums. Das Verständnis des Unionsprimärrechts als Teil eines Pluriversums bezieht sich nicht allein auf das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht: Auch das Völkerrecht gilt es in die Betrachtung einzubeziehen, und zwar weniger wegen des völkerrechtlichen Ursprungs der Union als wegen zahlreicher rechtlicher Verknüpfungen. Robert Uerpmann-Wittzack untersucht diese in dem Beitrag Völkerrechtliche Verfassungselemente rechtsdogmatisch und demonstriert dabei exemplarisch das kritische Potenzial rechtsdogmatischer Analyse gegenüber der Rechtsprechung des EuGH, die bislang im Wesentlichen nur die EMRK als völkerrechtliche „Nebenverfassung“ anerkennt. Christoph Möllers’ Beitrag Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung untersucht in der Tradition einer interdisziplinär und rechtsvergleichend weit ausgreifenden Staatslehre,11 an welche Traditionsbestände der konstitutionalistische Zugang zum Unionsrecht anknüpfen kann und welche Probleme mit dieser Verwendung verbunden sind. Er ordnet die komplexe Debatte, indem er zwei Traditionen des Verfassungsbegriffs typisiert. Der den ersten Teil abschließende Beitrag von Ulrich Haltern zur Finalität wählt einen ganz anderen Ansatz. Es würde den Reichtum an rechtswissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisinteressen verkennen, würde man sich auf einen rechtsdogmatischen Ansatz beschränken, gerade mit Blick auf einen so „unfertigen“ Gegenstand wie dem europäischen Verfassungsrecht. Der Beitrag führt exemplarisch vor, welche fruchtbaren Irritierungen von der theoriegeneigteren US-amerikanischen Rechtswissenschaft zu erwarten sind. Der zweite Teil wendet sich dem institutionellen Recht der Union in verfassungsrechtlicher Perspektive zu, also jenem Funktionskreis des Primärrechts, der im staatlichen Kontext „Staatsorganisationsrecht“ heißt. Philipp Danns Beitrag Die politischen Organe erarbeitet in der Tradition der Staatslehre einen rechtshistorisch, rechtsvergleichend und interdisziplinär abgesicherten Begriff des Exekutivföderalismus und entfaltet auf dessen Grundlage die primärrechtliche Organisationsverfassung.12 Martin Nettesheim präsentiert in pointiert selbstbewusster 11
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Der Band bot den Anlass, diese Subdisziplin ausführlich dem angloamerikanischen Leserkreis zu präsentieren: J. Khushal Murkens, The Future of Staatsrecht: Dominance, Demise or Demystification?, Modern Law Review 70 (2007), S. 731. Das Fehlen eines solchen Beitrags in der ersten Auflage wurde zu Recht bemängelt, F. von Alemann, Europäisches Verfassungsrecht: Die (Be-)Gründung einer neuen Rechtsdisziplin, justament 2003, S. 24; O. Beaud, Revue internationale de droit comparé 2005, S. 533 (534).
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dogmatischer Tradition die organisationsrechtlich zentrale Kategorie der Kompetenzen, wobei er den konzeptionellen Erfahrungsschatz bundesstaatlicher Kompetenzlehren fruchtbar macht. Eine der wesentlichen Entwicklungen seit der ersten Auflage ist die Stärkung der EU als internationaler Akteur. Daniel Thyms Beitrag zur Auswärtigen Gewalt der Europäischen Union erörtert in verfassungsdogmatischer Rekonstruktion das Nebeneinander von Gemeinschaft, Union und Mitgliedstaaten und legt auf dieser Grundlage die eigentümliche Gestalt der europäischen auswärtigen Gewalt dar. Gerade in konstitutionalistischer Perspektive war es ein Mangel der ersten Auflage, dass der Rechtsschutz gegen das Handeln der Union nur beiläufig erörtert wurde. Dem begegnet die zweite Auflage, indem der Beitrag von Jürgen Bast nun Handlungsformen und Rechtsschutz in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit dogmatisch rekonstruiert und die den primärrechtlichen Normenbestand tragenden Verfassungsprinzipien und Strukturentscheidungen entfaltet. Im letzten Beitrag dieses Teils erörtert Franz C. Mayer unter dem Titel Verfassungsgerichtsbarkeit den EuGH und seine Interaktion mit den mitgliedstaatlichen Höchstgerichten. Dies ist ein europarechtliches Thema, das wie wenig andere dogmatisch gehaltvolle Kontroversen zu verfassungsrechtlichen Grundfragen hervorgebracht hat. Diese Interaktion wird unter einem konflikttheoretischen Paradigma im Lichte des Leitbegriffs des Verfassungsverbunds entfaltet und zur programmatischen Idee einer Mehrebenen-Verfassungsgerichtsbarkeit verdichtet. Der dritte Teil gilt der Rechtsstellung des Einzelnen. Neben der rechtlichen Ordnung der Politik bildet das rechtliche Verhältnis von Rechtsunterworfenen und Hoheitsgewalt einen Schwerpunkt verfassungsrechtlicher Forschung. Die individualrechtliche Dimension des Primärrechts besteht aus drei konzeptionell bislang kaum verbundenen Komponenten: Unionsbürgerschaft, Grundrechten und Grundfreiheiten. Stefan Kadelbach entfaltet im Beitrag Unionsbürgerschaft eine positiv-rechtliche und eine verfassungstheoretische Perspektive auf die Bürgerschaft und verbindet damit erkenntnisträchtig zwei wissenschaftliche Diskurse. Jürgen Kühlings Beitrag unterbreitet Rechtsdogmatik der unionalen Grundrechte in Auseinandersetzung mit der deutschen Grundrechtsdogmatik und der Rechtsprechung des EGMR. Thorsten Kingreens Grundfreiheiten präsentiert ebenfalls eine primär dogmatisch ausgerichtet Rekonstruktion, welche wie wenige andere das kritische Potenzial rechtsdogmatischer Forschung am Beispiel der Grundfreiheiten des EG-Vertrags entfaltet. Der Teil schließt mit einem Beitrag von Jörg Monar zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dieser Beitrag ist ebenfalls neu in den Band aufgenommen worden, entsprechend dem Bedeutungsgewinn, den die grundrechtssensiblen Politiken, die diesem Vertragsziel dienen, in den letzten Jahren gewonnen haben. Die Zuordnung des Themas zum Teil über die Rechtsstellung des Einzelnen mag zunächst verwundern, da keine primärrechtlichen Rechte begründet werden. Gleichwohl gehört es in diesen Teil, da das einschlägige Primärrecht besonders intensiv die klassische Dialektik von Einzelnem und Hoheitsgewalt betrifft: die Gewährleistung der Sicherheit und eines funktionierenden Justizsystems. Jörg Monar
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bearbeitet das Thema mit einer in der deutschen Rechtswissenschaft wenig verbreiteten Methode, nämlich der Deutung anhand programmatischer Dokumente politischer Akteure. Der vierte Teil dieses Buches wendet sich der primärrechtlichen Verfassung gesellschaftlicher Teilbereiche zu; man kann diesen Teil des Primärrechts als europäische Gesellschaftsverfassung begreifen. Es entspricht der Herkunft der Europäischen Union als ehedem primär auf die Gestaltung des Wirtschaftslebens ausgerichtetem Integrationsverband, dass hier die rechtliche Rahmenordnung der ökonomischen Sphäre im Vordergrund steht. Es geht um den Beitrag des Unionsprimärrechts zur europäischen Verbundverfassung von Wirtschaft, Arbeit und Wettbewerb. Dass diese unionale Schicht der europäischen Wirtschaftsverfassung sich nicht in den Instrumenten zur Herstellung eines funktionierenden Binnenmarkts erschöpft, ist eine geteilte Auffassung der drei Autoren dieses Teils, deren Deutungen im Übrigen teils erheblich differieren. Armin Hatje arbeitet in Wirtschaftsverfassung im Binnenmarkt die im EG-Vertrag niedergelegte „Systementscheidung für eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ als Schlüssel zum Verständnis der europäischen Wirtschaftsverfassung heraus. Diese Systementscheidung stehe politischen Gestaltungsanliegen auf unionaler und nationaler Ebene zwar nicht generell im Weg, lege ihnen aber Rechtfertigungslasten auf und ziehe Grenzen. Florian Rödl fragt in Arbeitsverfassung nach der primärrechtlichen Ordnung der industriellen Arbeitsbeziehungen und kommt zu dem kritischen Befund, dass die ursprüngliche Arbeitsverfassung des EWG-Vertrags gescheitert ist und die (Wieder-)Herstellung einer normativ geforderten Balance von Kapital und Arbeit nur in einem kollisionsrechtlich austarierten Verbund der europäischen Arbeitsverfassungen möglich ist. Josef Drexl schließlich untersucht die verfassungsrechtliche Einbettung des europäischen Wettbewerbsrechts und verteidigt das ordoliberale Verständnis der Wettbewerbsverfassung als integrale Komponente der europäischen Verfassungsordnung gegen interventionistische und ökonomistische Umdeutungen und Kritiken. Der fünfte Teil bietet Gesamteinschätzungen von Persönlichkeiten, die als Wissenschaftler und Richter in höchsten Positionen den Gang der Integration selbst geprägt haben.13 Diese Gesamteinschätzungen Zur verfassungsrechtlichen Gestalt der Union unterbreiten rechtsdogmatische Leitbilder, die auf historischen und staatstheoretischen Einsichten, konkreter Normanalyse sowie praktischer Erfahrung beruhen. Ulrich Everling, Teilnehmer bei den Verhandlungen zum EWG-Vertrag, später maßgeblicher deutscher Beamter, dann von 1980 bis 1988 Richter am EuGH präsentiert Die Europäische Union als föderaler Zusammenschluss von Staaten und Bürgern. Paul Kirchhof, Richter am Bundesverfassungsgericht von 1987 bis 1999, Berichterstatter im Verfahren über den Vertrag von Maastricht und Schöpfer des einflussreichen Begriffs des Staatenverbundes, unterbreitet diese Lesart im Beitrag Der europäische Staatenverbund. Manfred Zuleeg, Richter am EuGH von 1988 bis 1994 und damit zur Zeit des bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens zum 13
Lesenswert die Analyse der Prämissen dieser drei Beiträge durch Khushal Murkens (Fn. 11).
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Maastrichter Vertrag, stellt eine in wesentlichen Momenten gegenläufige Konzeption unter dem Titel Die Vorzüge der Europäischen Verfassung vor.
3. Reaktionen auf Kritik Einige Rezensionen fragen, ob der Band zutreffend als Lehrbuch firmiert.14 Richtig ist, dass es sich um kein einführendes Werk handelt. Es ist nicht adressiert an den Unkundigen, der einen leicht verständlichen ersten Zugang sucht. Dies aber erschöpft die Gattung „Lehrbuch“ nicht. Dieser Band zielt auf das nur schwach besetzte Segment der Publikationslandschaft zwischen Grundrissen, die auf einen ersten Zugang und die Lösung von Klausurfällen ausgerichtet das positive Recht und die Rechtsprechung dogmatisiert aufbereiten, Kommentaren und Handbüchern, die das Rechtsmaterial in seiner ganzen Breite und Detailreichtum präsentieren, und vertieften Abhandlungen spezifischer Einzelfragen. Er ist darauf angelegt, den wissenschaftlich interessierten Leser zu unterstützen, also Studierende, die sich mit wissenschaftlicher Neugier und Ehrgeiz dem Europarecht im Schwerpunktstudium zuwenden,15 Doktoranden sowie allgemein Juristen, die sich in dem Diskursraum, den der Begriff Europäisches Verfassungsrecht bezeichnet, wissenschaftlich orientieren wollen. Aufgrund dieser primär wissenschaftlich-konstruktiven und nicht praktischen Ausrichtung verzichtet der Band auf knappe, für Anwendungsdiskurse leicht nutzbare Dogmatisierungen. Vielmehr geht es um theoretische und dogmatische Grundzüge, um die Reflexion des Stands der Forschung, die Verdeutlichung methodischer Zugänge, um die Klärung unterschiedlicher Wissenschaftsverständnisse und die Bezeichnung von Forschungsdesiderata. Es gehört zum Programm dieses Lehrbuchs, Rechtswissenschaft als offenen, argumentativen Prozess zu präsentieren.16 Entsprechend diesem Prinzip der Offenheit führt der Band Autoren unterschiedlicher methodischer und integrationspolitischer Verständnisse zusammen. Dies wurde kritisiert.17 Gewiss wird das Material nicht „glatt“ aus einer Hand vorgestellt, was den ersten Zugang vielleicht erschwert. Auf der anderen Seite tritt so die Vielfalt des Feldes besser hervor, in der jeder Wissenschaftler ohnehin seinen eigenen Weg zu finden hat.18 In der jetzigen Gliederung sollte die Kohärenz des Bandes besser zu Tage treten.19 Zudem durchzieht alle Bei14 15 16
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A. Peters, CML Rev. 41 (2004), S. 861; H. Sendler, DÖV 2004, S. 264. Richtig erkannt B. Krenberger, StudJur Heft 2 (2004), unter www.studjur-online.de; H. Goerlich, SächsVBl. 2003, S. 252. Eine Situierung des Bandes im weiteren Forschungskontext bei J. Dülffer, Europa – aber wo liegt es?, Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 524; M. Heinig, Offene Staatlichkeit oder Abschied vom Staat?, Philosophische Rundschau 52 (2005), S. 191. H. Aden, KJ 2005, S. 343 (345); C. Church, Journal of Contemporary European Research 3 (2007), S. 171 (174), zur englischen Ausgabe. Anerkennend hingegen P. Badura, AöR 129 (2004), S. 458 (459); Winkler (Fn. 10), S. 102. So auch Beaud (Fn. 12), S. 535; von Alemann (Fn. 12), S. 24; M. Nakos, European Review of Public Law 17 (2005), S. 1384. Zur Kohärenz der 1. Auflage Peters (Fn. 14), S. 863.
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träge des Bandes ein roter Faden: Sie eint das Anliegen, den im staatlichen Bereich verwirklichten Bestand an Verfassungskultur in der Union zu wahren, ja fortzuentwickeln. Kritisiert wurde auch, dass die Autoren dem Kreis der deutschsprachigen Rechtswissenschaft entstammen.20 Diese Beschränkung erklärt sich dadurch, dass das Projekt um eine in Deutschland bestehende Gruppe wuchs, die sich vornahm, aus ihrer Perspektive den „State of the Art“ der Disziplin zu formulieren und international zu präsentieren; dieses Anliegen lag auch der englischen Publikation zugrunde.21 Es besteht im Ausland ein großes Interesse an der deutschen Europarechtsforschung, doch oft werden Schwierigkeiten des Zugangs beklagt. Diesem Interesse etwas zu bieten erschien uns sinnvoll, nicht zuletzt angesichts des zunehmenden Wettbewerbs zwischen den nationalen Europarechtswissenschaften im europäischen Forschungsraum. Die deutsche Tradition theoretisch begründeter Dogmatik, vor allem wenn im Lichte anderer Denkstile fortentwickelt, hat, so scheint uns, Interessantes zu bieten.22 In diesem Sinne ist der Band auch wahrgenommen worden.23 Es kann die Autoren des Bandes nur erfreuen, dass er zu zwei grundsätzlichen und anregenden rechtswissenschaftstheoretischen Aufsätzen geführt hat.24 Insbesondere Michelle Everson verdanken die Autoren eine interessante Einschätzung, finden sie sich doch als Meister von „dark doctrinal arts“ wieder, die sie mit „the fervour of a theological commitment“ verfolgen.25 Ihr zentraler Kritikpunkt ist, so scheint mir, eine Reflexion der Grenzen des Unionsrechts und vor allem darauf bezogener rechtlicher Argumentation. Sie findet das zentrale Vorverständnisse der Beiträge in der „assumption that legal discourse across and between national and European legal orders possesses a persuasive authority all of its own“; diese Annahme aber habe „potentially fatal weaknesses“.26 Hier leuchtet die alte Kritik gegenüber den Gerichten und der Rechtswissenschaft auf, dass ihre dogmatischen Konstrukte einen Mantel für ein legitimatorisch zweifelhaftes, ja tendenziell autoritäres politisches Projekt bilden.27 Diese Kritik war hilfreich, um den Beitrag zu den Grundprinzipien fortzuentwickeln; er sollte nun noch deutlicher die 20 21 22 23
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Aden (Fn. 17), S. 344. Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Principles of European Constitutional Law, 2006. Zur gegenläufigen Entwicklungstendenz A. Arnull, The Americanization of EU Law Scholarship, in: FS Sir Francis Jacobs, 2008, S. 415. Beaud (Fn. 12), S. 533; Church (Fn. 17), S. 171 (zur englischen Ausgabe); Khushal Murkens (Fn. 11), S. 731 (zur englischen Ausgabe); M. Panebianco, Diritto comunitario e degli scambi internazionali 2003, S. 641 (mit interessanten Ausführungen zur deutschsprachigen Rechtswissenschaft); F. Ronse, Bulletin Quotidien Europe, 9219/693, 27. Juni 2006 (zur englischen Ausgabe); H. J. van Harten/T. Beukers, SEW Tijdschrift voor Europees en economisch recht 54 (2006), S. 452 (zur englischen Ausgabe); D. Thym, CMLRev. 44 (2007), S. 837 (839) (zur englischen Ausgabe). M. Everson, Is it just me, or is there an Elephant in the Room?, ELJ 13 (2007), S. 136; Khushal Murkens (Fn. 11), S. 731. Everson (Fn. 24), S. 136. Ebd., S. 138 f. Ausführlicher in M. Everson/J. Eisner, The Making of a European Constitution, 2007, S. 2 ff.
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Argumente aufzeigen, die den rechtswissenschaftlichen Zugang des Buches rechtfertigen und seine Offenheit für demokratisch-politische Prozesse auszeichnen. Wie schon Michelle Everson zur englischen Erstauflage verwundert es die Autoren dieser Zeilen, dass selbst so epochale Ereignisse wie die Erweiterung der Union um 12 Staaten aus Mittel-, Ost- und Südeuropa, die gelungenen und misslungenen weltpolitischen Positionierungen der Union in der Welt nach dem 11. September 2001 und nunmehr auch die Saga um den Verfassungsvertrag und den Reformvertrag von Lissabon die Texte nicht tiefer geprägt und zu sehr viel mehr Distanz zwischen der ersten und der zweiten Auflage geführt haben. Teil einer Antwort mag sein, dass sich das geltende Primärrecht durchaus erfolgreich als stabilisierende Rahmenordnung des Politischen erweist, eben als Verfassungsrecht.
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I. Gegenstand, Grundlagen und Grundbegriffe
Grundprinzipien
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Grundprinzipien
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I. Ziele, Thesen und Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zur Wissenschaft unionaler Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundprinzipen und Verfassungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Drei Aufgaben einer prinzipienorientierten Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechts- und integrationspolitische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Allgemeine Fragen einer europäischen Prinzipienlehre 1. Der Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Rolle mitgliedstaatlicher Verfassungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einheitliche Grundprinzipien angesichts uneinheitlichen Primärrechts . . . . . . . . . IV. Prinzipielles zum Verhältnis Union – Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einheitsbildung unter dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prinzipien des politischen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prinzipien des Verbunds aus Union und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Prinzipielles zum Verhältnis Einzelner – Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prinzip der gleichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prinzip des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prinzip der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Solidaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Ziele, Thesen und Prämissen Prinzipien (Grundsätze) bilden den Mittelpunkt einer autonomiebedachten Rechtswissenschaft, die hinter der Mannigfaltigkeit der Bestimmungen und Urteile Dauerhaftes, Erkenntnisstiftendes, Maßstäbliches und damit ein disziplinäres Proprium sucht.1 Daher gibt es vorzügliche Kommentare und Handbücher2, und fast jeder *1 1 2
Christian Wohlfahrt leistete wertvolle Hilfe bei der Fertigstellung des Beitrags; unter den Kritikern ist insbesondere Jürgen Bast, Jochen von Bernstorff, Iris Canor, Pedro Cruz Villalón, Philipp Dann und Michelle Everson zu danken. Zu diesem Programm und seiner Problematik schon I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787 = Ausgabe B, S. 355 ff., insb. S. 358. Vgl. aus der reichen Literatur, noch in der Perspektive allgemeiner Rechtsgrundsätze, U. Bernitz/J. Nergelius (Hrsg.), General Principles of European Community Law, 2000; X. Groussot, General Principles of Community Law, 2006; T. Tridimas, The General Principles of EU Law, 2006; R. Gosalbo Bono, The Development of General Principles of Law at National and Community Level, in: R. Schulze/U. Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechts
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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Beitrag dieses Bandes erörtert Prinzipien des Unionsrechts. Worin kann dann der Mehrwert einer eigenen Darstellung, gar einer spezifischen Prinzipienlehre liegen? Als Beitrag zu einer reflexiven Rechtswissenschaft werden zunächst Dimensionen, Grundlagen und Funktionen von Prinzipien, insbesondere von europäischen Grundprinzipien, ausgeleuchtet. Das Kapitel diskutiert weiter, wie eine Prinzipienlehre das Projekt einer europäischen Verfassungsrechtswissenschaft fördert. Prinzipien stärken zudem die Gerichte gegenüber der Politik. Dies alles ist mannigfacher Kritik ausgesetzt und wirft eine Reihe von Fragen auf (II.). Das dritte Kapitel gilt allgemeinen Fragen europäischer Grundprinzipien. Es untersucht zunächst den diffusen Gebrauch der Worte Prinzip und Grundsatz im Unionsrecht. Anknüpfend an einen politischen Akt, die Niederlegung des Art. 6 Abs. 1 EU durch den Amsterdamer Vertrag, fokussiert es dann als Grundprinzipien diejenigen Normen des Primärrechts, die angesichts der Rechtfertigungsbedürftigkeit hoheitlichen Handelns die allgemeinen legitimatorischen Grundlagen der Union festlegen und sie so verfassen (III. 1.). Weiter wird der Rolle von mitgliedstaatlichen Verfassungsprinzipien im unionalen Verfassungsdiskurs nachgegangen (III. 2.) sowie die Frage erörtert, ob eine Prinzipienlehre, die EU-Vertrag und EGVertrag übergreift, die also von der Einheit des Unionsrechts unter Einschluss des Gemeinschaftsrechts ausgeht, rechtlich überhaupt trägt (III. 3.). Der Beitrag will nicht im Allgemeinen verharren, sondern auch das Verständnis einzelner Grundprinzipien befördern. Dies erfolgt mittels einer Darstellung, welche diese Prinzipien in ihrem Zusammenhang erarbeitet. Die Leitthese lautet, dass das Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten, also die föderale Spannungslage, einen, wenn nicht gar den Schlüssel zum Verständnis der Spezifik der unionalen im Vergleich zu staatlichen Verfassungsprinzipien bietet. Deshalb werden, in bewusstem Gegensatz zur üblichen Darstellung des europäischen Primärrechts oder des bundesstaatlichen Verfassungsrechts, zunächst die Grundprinzipien dieses Verhältnisses dargestellt (IV.), um dann vor deren Hintergrund die klassischen Verfassungsprinzipien liberté, égalité und fraternité, also Rechtsstaatlichkeit mit Grundrechtsschutz, Demokratie und Solidarität, in ihrer supranationalen Spezifik zu entfalten (V.). Dieser Beitrag unterbreitet eine rechtsdogmatische Darstellung der Grundprinzipien, ihre Identifizierung und Deutung anhand wissenschaftlicher Debatten, weiterer Prinzipien, einschlägiger Einzelnormierungen und Leitentscheidungen, ihres Zusammenhangs sowie rechtsvergleichender Überlegungen. Wie jede Rechtsdogmatik steht dieses Bemühen in einem theoretischen und ideologischen Kontext. Rechtsfortbildung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft, 2003, S. 99; bereits in der Perspektive von Verfassungsprinzipen B. Beutler, in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2003, Art. 6 EU; C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 6 EU; M. Hilf/F. Schorkopf, Art. 6 EU, sowie I. Pernice/F. Mayer, nach Art. 6 EU, beide in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU (Stand: Mai 2008); S. Mangiameli (Hrsg.), L’ordinamento Europeo: I principi dell’Unione, 2006; J. Molinier (Hrsg.), Les principes fondateurs de l’Union européenne, 2005; H. Bauer/C. Calliess (Hrsg.), SIPE 4: Verfassungsprinzipien in Europa, 2008.
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Dazu gehört die Annahme, dass die Union eine neue Form politischer und rechtlicher Herrschaft bildet. Entsprechend sollen ihre Grundprinzipien zwar in der Tradition des europäischen Konstitutionalismus verankert sein, jedoch zugleich der Spezifik der Union gerecht werden und so die „sui-generis“-Gestalt der Union konkretisieren. Weiter beruht dieser Beitrag auf der bestrittenen Überzeugung, dass Erfassung und Bearbeitung von ethischen, politischen oder ökonomischen Konflikten als Prinzipienkonflikte erkenntnisstiftend und problemlösend wirken können.3 Wohlgemerkt: Eine rechtswissenschaftliche Prinzipienlehre kann für solche Konflikte gewiss keine wissenschaftliche, einzig richtige Lösung bereithalten. Wer das europäische Primärrecht nicht als „Integrationsrecht“ oder „Binnenmarktrecht“, sondern als Verfassungsrecht deutet und so von einer grundsätzlichen Offenheit des unionalen Systems für konkurrierende Lösungen ausgeht, kann noch nicht einmal einen prinzipiellen Vorrang eines bestimmten Prinzips festlegen. Das schließt aber Lösungsvorschläge von Wissenschaftlern nicht aus, die aufgrund ihres systematischen Zugriffs und ihrer Praxisentlastung eine spezifische Rolle in den einschlägigen juristischen Diskursen haben. Der folgende Text enthält sich weitgehend solcher Vorschläge, hat gleichwohl eine wichtige integrationspolitische Tendenz: dass die diskutierten Konflikte als Prinzipienkonflikte im Unionsrecht behandelt und entschieden werden sollen und unionale Grundprinzipien wesentlicher Bestandteil einer gemeinsamen Sprache der Konfliktbearbeitung sind. Dies ist eine grundsätzliche Entscheidung pro unione.4 Eine rechtswissenschaftliche Prinzipienlehre bereitet die Argumente jenes unionsinternen Prozesses in einer Reflexion auf Prinzipielles auf.
II. Zur Wissenschaft unionaler Grundprinzipien 1. Grundprinzipen und Verfassungsrechtswissenschaft Dieser Band behandelt nicht das Unionsrecht allgemein, sondern das Unionsprimärrecht, und er prüft die Tragfähigkeit seiner Bearbeitung als Unionsverfassungsrecht. Gewiss ist die Kategorie Verfassungsrecht für das Unionsprimärrecht begründungsbedürftig, nicht zuletzt nach dem Scheitern des Vertrags über eine Verfassung Europas.5 Die verfassungsrechtliche Deutung bleibt eine wissenschaft3
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In der Tradition der critical legal studies wird dies unter Ideologieverdacht gestellt, dazu G. Frankenberg, Der Ernst im Recht, KJ 1987, S. 281; ders., Partisanen der Rechtskritik, in: S. Buckel u.a. (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, S. 97; Duncan Kennedy, Critique of Adjudication, 2003; ders., The Structure of Blackstone’s Commentaries, Buffalo Law Rev. 28 (1979), S. 209; R. M. Unger, The Critical Legal Studies Movement, Harvard Law Rev. 96 (1983), S. 563. Auch dies unterscheidet die Union von internationalen Organisationen, J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 18 ff.; C. Walter, Grundrechtsschutz gegen Hoheitsakte internationaler Organisationen, AöR 129 (2004), S. 39; A. v. Bogdandy, General Principles of International Public Authority, GLJ 9 (2008), S. 1909. Hierzu die Beiträge von C. Möllers und P. Kirchhof, in diesem Band, S. 227 bzw. S. 1009.
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liche Setzung, zu bewerten anhand ihrer analytischen, konstruktiven und propositiven Leistungen. So liegt eine Aufgabe einer Lehre unionaler Grundprinzipien darin, die Sinnhaftigkeit der konstitutionalistischen Herangehensweise unter Beweis zu stellen. Der verfassungsrechtliche Charakter des Primärrechts6 zeigt sich, so die These, besonders deutlich in den für die Legitimation unionaler Herrschaft maßgeblichen Grundprinzipien. Deren wissenschaftliche Entfaltung als Verfassungsprinzipien ist erkenntnisträchtig, weil diese Perspektive zu den einschlägigen Fragen, Wissensbeständen und Diskursen führt. Ein Verständnis des Primärrechts als Verfassungsrecht liest dieses als Rahmenordnung der politischen Auseinandersetzung, thematisiert Grundlagen und Abschlussfiguren, zielt auf Selbstversicherung, vermittelt zwischen gesellschaftlichen und rechtlichen Diskursen.7 Dabei verfolgt dieser Ansatz zugleich eine wissenschaftsstrategische Zielsetzung. Die Ausbildung des europäischen Verfassungsrechts als Teildisziplin verlangt einen spezifischen Fokus,8 ähnlich wie zuvor die Ausbildung des Europarechts9 und dann des europäischen Gemeinschaftsrechts10 als Teildisziplinen. Der mögliche Beitrag einer Lehre der Grundprinzipien zeigt sich im Vergleich mit einem rechtsquellentheoretischen Ansatz. Für Letzteren wäre das maßgebliche Kriterium die Zugehörigkeit einer Norm zu einem Rechtskorpus, der nur unter erschwerten Voraussetzungen, dem Verfahren des Art. 48 EU, abzuändern ist.11 Danach können überkommene Darstellungen des Primärrechts als Verfassungsrecht firmieren.12 Ein bloßer Etikettentausch verfehlt jedoch ein wichtiges Anliegen, das mit dem Schwenk zu einer Verfassungsrechtswissenschaft verbunden ist: das Fokussieren jener Normen, die die Hoheitsgewalt begründen und legitimieren.13 Die Bearbeitung des Primärrechts als Verfassungsrecht sollte auf eine neue Qualität der Bearbeitung abzielen und die Überwindungen von Verständnissen wie „Integrationsrecht“ oder „Binnenmarktrecht“ vorantreiben.14 Denn eine Prinzipienlehre be-
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EuGH, Gutachten 1/91, EWR-Abkommen I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21. P. Dann, Überlegungen zu einer Methodik des europäischen Verfassungsrechts, in: Y. Becker u.a. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 2005, S. 161 (167). Es gibt seit 2005 eine eigene Zeitschrift, die European Constitutional Law Review. Ähnlich der Ansatz im Völkerrecht S. Kadelbach/T. Kleinlein, International Law a Constitution for Mankind? An Attempt at a Re-appraisal with the Analysis of Constitutional Principles, GYIL 50 (2007), S. 303. H. Mosler, Der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, ZaöRV 14 (1951–1952), S. 1 (23 ff.). H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 4 ff. H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 252. Integrationsbejahend K. Lenaerts/P. Van Nuffel, Constitutional Law of the European Union, 2005; eher skeptisch T. C. Hartley, The Foundations of European Community Law, 2007. F. Snyder, The Unfinished Constitution of the European Union, in: J. H. H. Weiler/M. Wind (Hrsg.), European Constitutionalism Beyond the State, 2003, S. 55 (58). F. Snyder, General Course on Constitutional Law of the European Union, in: Academy of European Law (Hrsg.), Collected Courses of the Academy of European Law, Bd. VI, 1998, S. 41 (47 f.); S. Douglas-Scott, Constitutional Law of the European Union, 2002.
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obachtet nicht nur, sie ist Teil des Konstitutionalisierungsprozesses. Dies führt zum nächsten Punkt. 2. Drei Aufgaben einer prinzipienorientierten Rechtsdogmatik Rechtswissenschaftliche Prinzipienlehren sind in aller Regel Teil „rechtsinterner Diskurse“, also Operationen des Rechtssystems. Eine prinzipienorientierte Verfassungsrechtswissenschaft unterscheidet sich von Ansätzen, die das juristische Material in einer sozialwissenschaftlichen Fragestellung bearbeiten, also etwa den tatsächlichen Kräften oder Motiven nachspüren, die auf das Recht einwirken. Eine prinzipienorientierte Verfassungsrechtswissenschaft erhebt nicht den Anspruch, Kausalitäten im Recht nachzuweisen.15 Es geht nicht um empirische Ursachen, sondern um argumentative Gründe; Ursachen und Gründe bezeichnen unterschiedliche Erkenntnisinteressen und Argumentationsstrukturen. Eher bestehen Übergänge zu rechtsphilosophischen Überlegungen, die heute oft prinzipienbasiert argumentieren.16 Das Verhältnis zwischen rechtsphilosophischem und rechtsdogmatischem Prinzipiendiskurs ist ebenso fließend wie schwierig. Der Unterschied kann nicht in den Prinzipien als solchen liegen: Es geht stets um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte etc. Ein Unterschied liegt darin, dass ein philosophischer Prinzipiendiskurs deduktiv vorgehen kann, während ein juristischer Prinzipiendiskurs mit dem positiven Rechtsmaterial aus Normen und Einzelfallentscheidungen zu verknüpfen ist; er ist hermeneutisch angelegt und auf das geltende Recht bezogen. Prozedural besteht ein Unterschied darin, dass eine juristische Prinzipienkonzeption sich letztlich in einem gerichtsförmig organisierten Verfahren durchsetzen muss. Zudem sei festgehalten: So wichtig es ist, dass rechtswissenschaftliche Prinzipienkonstruktionen sich möglicher philosophischer Grundlagen versichern, so wichtig ist es, dass in pluralistischen Gesellschaften die Rechtsprinzipien selbst Distanz zu philosophischen Diskursen halten und so Projektionsflächen gleichgerichteter, aber sachlich divergenter Konstruktionen sein können. Der philosophische Gestus ist in Urteilen fehl am Platz. a) Rechtsdogmatischer Konstruktivismus Eine erste dogmatische Stoßrichtung prinzipienorientierter Verfassungsrechtswissenschaft zielt darauf ab, Prinzipien des positiven Rechtsmaterials zu identifizieren, es damit zu ordnen und auf dieser Grundlage eine Kohärenz des verfassungsrechtlichen Materials herzustellen.17 Kohärenz ist „ein Maß für die Gültigkeit einer Aus-
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Breiter ein sozialwissenschaftlicher Begriff, wonach Prinzipien empirische, kausale und normative Grundsätze umfassen, S. D. Krasner, Structural Causes and Regime Consequences, International Organization 36 (1982), S. 185 (186). Diskursprägend J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 81 ff.; diese deutsche Ausgabe spricht von Grundsätzen, die englische aber von Prinzipien (A Theory of Justice, geänderte Auflage 1999, S. 52 ff.); weiter vor allem R. Dworkin, Bürgerrechte ernst genommen, 1984, S. 54 ff.; J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 166, 208 ff., 242. Dann (Fn. 7), S. 183 ff.
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sage, das schwächer ist als die durch logische Ableitung gesicherte analytische Wahrheit, aber stärker als das Kriterium der Widerspruchsfreiheit“.18 Dieses Kriterium der Kohärenz verlangt eine Modellbildung, die bisweilen, mit einem gewissen essentialistischen Überschwang, als „großer Strukturplan“ oder eine „übergreifendsinnhafte Konzeption“ beschrieben wird.19 Ein solcher Ansatz unterliegt wichtigen Entscheidungen des EuGH, wenn er etwa den „Geist“ der Verträge20 oder deren „Wesen“21 bemüht. Das kanadische oberste Gericht formuliert dieses Verständnis exemplarisch: The constitution is more than a written text. It embraces the entire global system of rules and principles which govern the exercise of constitutional authority. A superficial reading of selected provisions of the written constitutional enactment, without more, may be misleading. It is necessary to make a more profound investigation of the underlying principles animating the whole of the Constitution … Those principles must inform our overall appreciation of the constitutional rights and obligations … .22
Gewiss ist die Annahme eines „großen Strukturplans“ erkenntnis- und argumentationstheoretisch ebenso problematisch wie Behauptungen zu „Geist“ oder „Wesen“ einer Rechtsordnung. Richtig ist aber, dass eine Idee des Ganzen unerlässlich ist,23 und dieser Beitrag verfolgt das Ziel, durch eine Zusammenschau von Grundprinzipien eine solche Idee zu vermitteln. Die entsprechende Rolle der Rechtswissenschaft kann als rechtsdogmatischer Konstruktivismus bezeichnet werden.24 Zunächst, also im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, ging es dabei, dem begriffsjuristischen Strang der historischen Rechtsschule folgend, um eine Strukturierung des Rechts mittels autonomer Begriffe. Das rechtliche Material wird dabei transzendiert, aber nicht mittels politischer, historischer oder philosophischer Überlegungen, sondern mittels Begriffen wie Staat, Souveränität oder subjektives öffentliches Recht, die als spezifisch juristische Begriffe konzipiert werden, so dass deren Behandlung allein in der Kompetenz der Rechtswissenschaft liegt. Oberstes wissenschaftliches Ziel rechtsdogmatischer Konstruktion (oder Systembildung) ist, das öffentliche Recht wie das Privatrecht als Komplex systematisch koordinierter Leitbegriffe zu erarbeiten. Im Herzen der Anstrengung steht die Ausbildung eines autonomen rechtswissenschaftlichen Argumentationsraums, der zwischen naturrechtlichen, also philosophisch zu bearbeitenden Sätzen und den positiven Rechts18 19
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Habermas (Fn. 16), S. 258. G. F. Schuppert/C. Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 28, 39; zu „Leitbildern“ U. Volkmann, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2008), S. 57 (67 ff.). EuGH, Rs. 26/62, van Gend en Loos, Slg. 1963, 1 (27); Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 25. EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovic, Slg. 1991, I-5357, Rn. 35. Reference re Secession of Quebec, [1998] 2 S.C.R. 217 (Can.), zu Frage 1; ähnlich BVerfGE 34, 269 (287). Näher F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik: Bd. II Europarecht, 2007, Rn. 349 ff. Näher A. v. Bogdandy, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Vergleich, in: ders./P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), IPE II, 2008, § 39.
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sätzen im unmittelbaren Zugriff der Politik und der Gerichte liegt.25 Im Zuge der Ausbildung materiellen Verfassungsrechts und der postpositivistischen Fortentwicklung des ursprünglichen Programms haben zunehmend Verfassungsprinzipien diese Rolle der autonomen Leitbegriffe übernommen.26 Für das Programm einer das Ganze in den Blick nehmenden Rechtswissenschaft, eines „Systems“ oder „übergreifenden Konzeption“, sind Grundprinzipien im Unionsrecht besonders wichtig, weil sich eine begriffsdogmatische Schicht jenseits einer ordnenden Exegese des EuGH kaum ausgeprägt hat, nicht zuletzt wegen der bisweilen stürmischen primärrechtlichen Entwicklung. Gleichwohl haben Grundprinzipien nicht von Anfang an diese Rolle gehabt: In einer frühen Zeit der Integration standen die Ziele der Verträge im Mittelpunkt von Bemühungen, eine „übergreifende Konzeption“ zu entwickeln.27 Im Zuge der Vervielfachung der Ziele verlor dieser Ansatz jedoch an Überzeugungskraft, was die Abschaffung der spezifischen Ziele der Art. 2 f. EG durch den Vertrag von Lissabon bestätigt (Art. 3 EUVLiss.). Ein prinzipienorientierter Ansatz erscheint als zweckmäßige Alternative. Das rechtkonstruktivistische Bemühen erscheint für das europäische Primärrecht besonders dringlich. Seine Qualifizierung als „constitutional chaos“ ist die vielleicht bekannteste Gesamtcharakterisierung.28 Gewiss bringt der Vertrag von Lissabon erhebliche Systematisierungsleistungen, die jedoch die wissenschaftliche Anstrengung nicht erledigen. Zudem betrifft diese prinzipienbasierte Rechtswissenschaft nicht allein das Primärrecht. Der Prozess der Konstitutionalisierung erfordert nach verbreitetem Verständnis auch, dass die Verfassung alle Rechtsbeziehungen „durchdringt“.29 Eine entsprechende verfassungsrechtliche Ausrichtung des sekundärrechtlichen Materials verlangt einen rechtsdogmatischen Konstruktivismus, für den, wie nationalstaatliche Beispiele zeigen, Verfassungsprinzipien, insbesondere einzelne Grundrechte, unerlässlich sind. Zahlreiche sekundärrechtliche Akte rufen hierzu geradezu auf, sind sie doch nach ihren Begründungserwägungen ausdrücklich im Lichte von Grundprinzipien, insbesondere einzelner Grundrechte, zu deuten; entsprechend nutzt der EuGH die Primärrechtskonformität als Auslegungs-
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J. H. v. Kirchmann (Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Nachdruck der 1. Auflage von 1848, 1990, S. 29) begründet damit die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Dies ist in der Perspektive des klassischen Positivismus natürlich eine Verfallsgeschichte, prägnant N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 521 ff. Die weitere Konkretisierung erfolgt dann oft über sogenannte „Rechtsinstitute“, klassisch etwa subjektives Recht oder Eigentum; ausf. U. Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, insb. S. 21 ff., 98 ff. Sie sind ebenfalls relativ selbständig gegenüber dem positiven Recht; sie finden sich allerdings kaum im Unionsrecht, worin sich auch die operative Schwäche der Unionsrechtswissenschaft zeigt; vgl. aber T. Kingreen, in diesem Band, S. 705 ff. C. F. Ophüls, Die Europäischen Gemeinschaftsverträge als Planverfassungen, in: J. H. Kaiser (Hrsg.), Planung I, 1965, S. 229 (233); Ipsen (Fn. 10), S. 128 ff. D. Curtin, The Constitutional Structure of the Union, CMLRev. 30 (1993), S. 17 (67); begriffsprägend J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, 1985. Früh G. F. W. Hegel, Rechtsphilosophie, 1821 (1970, Ausgabe Moldenhauer/Michel), § 274.
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methode.30 Die Grundrechte-Charta bestärkt diese Konstitutionalisierung, da sie zahlreichen Interessen eine verfassungsrechtliche Dimension verleiht. Dabei ist mit einem tragfähigen Konzept rechtsdogmatischer Konstruktion zu arbeiten. Rechtsdogmatische Konstruktion kann nur ein und nicht das System des geltenden Rechts unterbreiten. Früher wurde ein System oft kryptoidealistisch als dem Recht innewohnend verstanden und bisweilen dogmatisch im Sinne einer einzig wahren Lehre vertreten. Dieses Wissenschaftsprogramm ist als undemokratisch oder elitär bezeichnet worden;31 dieser Kritik ist Rechnung zu tragen. Im Lichte dieser Kritik kann es heute nur bescheidener um Deutungsangebote für die Ordnung, Handhabung und Fortentwicklung des Rechts gehen. Kaum ein Rechtswissenschaftler behauptet heute noch, dass rechtsdogmatische Arbeit eine prästabilisierte logische Einheit des Primärrechts oder die eine Integrationsphilosophie der Verträge zu Tage fördern könnte. Gerade eine verfassungsrechtliche Dogmatik muss sich zudem der Gefahr einer Überdeterminierung des politischen Prozesses bewusst sein. Ein Bewusstsein für die Grenzen des rechtswissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs ist insbesondere für prinzipienbasierte Konstruktionen erforderlich, wegen der Offenheit des Prinzipienbestands insgesamt, wegen der sprachlichen Offenheit einzelner Prinzipien, wegen der Offenheit ihrer gegenseitigen Zuordnung im Falle eines Konflikts.32 Reduziert sind auch die Erwartungen an das, was ein System in der Operation des Rechts konkret leisten kann, wenngleich in diesem Punkt signifikante Differenzen bestehen.33 Eine Prinzipienlehre als Frucht rechtswissenschaftlicher Konstruktion kann zudem nicht identisch sein mit der Rechtspraxis. Dies ist kein Mangel, sondern vielmehr Beweis des kritischen Gehalts rechtswissenschaftlicher Konstruktion. Das Projekt einer kritischen Rechtswissenschaft kann auch mit dem Instrumentarium der Rechtsdogmatik verfolgt werden. b) Anwendungsorientierte Rechtsdogmatik Im Zitat des kanadischen obersten Gerichts haben Prinzipien nicht allein ordnend eine Erkenntnisfunktion, sondern bilden Argumentationsfiguren bei einer schöpferischen Rechtsanwendung. Diese Praxisorientierung gilt auch für Prinzipienlehren, ist doch Rechtswissenschaft nach überwiegendem Verständnis eine primär anwendungsorientierte Wissenschaft. Bei der Anwendung des Rechts kommen Prinzipien diverse Funktionen zu.
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EuGH, Rs. C-314/89, Rau, Slg. 1991, I-1647, Rn. 17; Rs. C-98/91, Herbrink, Slg. 1994, I-223, Rn. 9; verb. Rs. C-465/00, C-138/01 und C-139/01, ORF, Slg. 2003, I-4989, Rn. 68; Rs. C-540/03, Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5769, Rn. 61 ff., 104 f. Klassisch H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Neudruck der 2. Auflage von 1929, 1981, S. 23; ders., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 2. Neudruck der 2. Auflage von 1928, 1981; M. Everson, Is it just me, or is there an Elephant in the Room?, ELJ 13 (2007), S. 136; J. Murkens, The Future of Staatsrecht, MLR 70 (2007), S. 731. Zu Anwendungsdiskursen K. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, 1988, S. 300. Selbstbewusst etwa T. Kingreen und M. Nettesheim, in diesem Band, S. 708 ff. bzw. S. 389 f.
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Oft erweitern Prinzipien den Kreis der Argumente, mit denen über die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens gestritten werden kann. In dieser Funktion kann man sie als Rechtsprinzipien beschreiben, die über Ordnungsprinzipien hinausgehen. Indem Prinzipien den Argumentationshaushalt des Rechtsstabs erweitern, stärken sie dessen Autonomie gegenüber den rechtsetzenden politischen Institutionen. Zumeist erfolgt dies mittels einer prinzipienorientierten Auslegung einer einschlägigen Bestimmung, sei sie primär- oder sekundärrechtlich.34 Die Argumentation mit Prinzipien impliziert oft eine Verteilung von Darlegungslasten:35 Wer gegen ein Prinzip argumentiert, steht unter Zugzwang. Bisweilen macht es sich der EuGH allerdings arg einfach: Mit der schlichten Bezeichnung einer Norm als Prinzip will er bisweilen deren weite Auslegung rechtfertigen und eine gegenläufige Norm entsprechend eng verstehen.36 Dies überzeugt methodisch nicht, weitere Argumente sind erforderlich.37 Zuweilen erstarkt ein Prinzip sogar zu einem eigenständigen Rechtmäßigkeitsmaßstab.38 Einer Prinzipienlehre kommt dabei insbesondere die Aufgabe zu, die einschlägigen Argumentationsmuster zu durchleuchten sowie allgemeine Gesichtspunkte und neue Verständnisse zu entwickeln. Der weite Anwendungsbereich von Prinzipien und ihre Geltung in unterschiedlichen Rechtsordnungen erlaubt es etwa, innovative lokale Strategien der Prinzipienkonkretisierung zu generalisieren. Zugleich sollte die Rechtswissenschaft jedoch die Kosten einer solchen Autonomisierung aufzeigen, etwa im Lichte des demokratischen Prinzips.39 Abschließend ist festzuhalten, dass einer rechtswissenschaftlichen Prinzipienlehre eine Funktion normalerweise nicht zukommen kann: die Abgrenzung zwischen Recht und Unrecht in einem konkreten Fall. Dies ergibt sich schon aus der regelmäßigen Vagheit von Prinzipien; hinzu tritt der regelmäßige Konflikt unterschiedlicher Prinzipien in Anwendung auf einen konkreten Sachverhalt. Die Lösung eines Prinzipienkonflikts kann weder wissenschaftlich noch rechtlich determiniert, wohl aber strukturiert werden. 34
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Zur prinzipienkonformen Auslegung des Primärrechts EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi u.a./Rat und Kommission, Slg. 2008, I-0000, Rn. 303; weiter Rs. C-50/00 P, Union de Pequeños Agricultores/Rat, Slg. 2002, I-6677, Rn. 44; Rs. C-354/04, Gestoras Pro Amnistía u.a./Rat, und Rs. C-355/04, Segi u.a./Rat, Slg. 2007, I-1579 bzw. I-1657, jew. Rn. 51 ff; zur prinzipienkonformen Auslegung des Sekundärrechts, Rs. C-540/03 (Fn. 30), Rn. 70 f.; Rs. C-305/05, Ordre des barreaux francophones et germanophone, Slg. 2007, I-5305, Rn. 28. Lehrreich EuGH, Rs. C-361/01 P, Kik/HABM, Slg. 2003, I-8283, Rn. 82, wo der EuGH ein Prinzip ablehnt; dazu F. C. Mayer, Europäisches Sprachenverfassungsrecht, Der Staat 44 (2005), S. 367 (394); dieser Beitrag zeigt zugleich exemplarisch, wie rechtswissenschaftlich Rechtsprinzipien generiert werden können. Bsp. Prinzip des Binnenmarkts: EuGH, Rs. 7/61, Kommission/Italien, Slg. 1961, 695 (720); Rs. 113/80, Kommission/Irland, Slg. 1981, 1625, Rn. 7. K. Larenz/C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 175 f.; überzeugend Appellate Body, WT/DS26/AB/R, WT/DS48/AB/R, EC Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones), Rn. 104. Ausf. Tridimas (Fn. 2), S. 29 ff. Dazu sofort, II. 3.
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c) Pflege und Fortentwicklung der „rechtlichen Infrastruktur“ Das rechtskonstruktive und das anwendungsorientierte Moment kommen in einer Funktion der Rechtsdogmatik zusammen, die man als „Pflege des Rechts als gesellschaftlicher Infrastruktur“ bezeichnen kann. Es geht zunächst um die Herstellung und Wahrung der Übersichtlichkeit des Rechts.40 Dies ist für die fragmentierte Rechtsordnung der Union besonders wichtig. Die „Infrastrukturpflege“ verlangt weiter die immanente Fortentwicklung des Rechtskorpus im Anschluss an sich wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse, Interessen und Überzeugungen. Hierbei sind Prinzipien ebenfalls dienlich, erfüllen sie doch die Funktion von „Schleusen“, welche die Rechtsordnung an allgemeine normative Diskurse anbinden. Diese Anbindung ist für das unionale Primärrecht angesichts der Schwerfälligkeit des Verfahrens nach Art. 48 EU von besonderer Bedeutung. Auch deshalb sollte rechtsdogmatische Arbeit sich nicht in der Erfassung des geltenden Rechts erschöpfen, sondern auch propositiv auf seine Fortentwicklung abzielen.41 Verfassungsprinzipien ermöglichen eine dem positiven Recht immanente Kritik, die zu leisten eine verfassungsrechtswissenschaftliche Kernaufgabe darstellt und die auf die Fortentwicklung des geltenden Rechts abzielt, sei es über die Rechtsprechung, sei es über den politischen Prozess. Sie fördern die Transparenz juristischer Argumentation, sind argumentative Einfallsstore neuer Überzeugungen und Interessen, können, zugespitzt formuliert, Agenten universeller Vernunft gegen lokale Rationalitäten sein. Die Kritik unterscheidet sich von der allgemeinen politischen Kritik, da sie in juristischen Argumentationsformen erfolgt, eng mit der bisherigen Operation des Rechts verwoben ist und so leichter im Recht absorbiert werden kann. Titel I des EU-Vertrags in geltender wie Lissabonner Fassung ruft aufgrund seines Manifestcharakters zu solcher Kritik auf. 3. Rechts- und integrationspolitische Perspektiven Prinzipien ermöglichen einen autonomen rechtswissenschaftlichen Diskurs, stärken die Autonomie der Gerichte gegenüber der Politik und tragen eine interne Fortbildung des Rechts, die das mühsame Verfahren des Art. 48 EU umgeht: Ist dies im Lichte des demokratischen Prinzips akzeptabel? Die Beantwortung dieser Frage muss zwischen der Gerichtsbarkeit und der Rechtswissenschaft unterscheiden. Für Letztere gilt, dass rechtswissenschaftliche Konstruktionen keine Rechtsquelle bilden, sondern nur propositiver Natur sind; dies entlastet. Zudem kann sich die Rechtswissenschaft auf die Freiheit der Wissenschaft berufen.42 Auch ist Max Webers Einsicht unwiderlegt, dass nur eine begrifflich durchdrungene und so rationalisierte Rechtsordnung in komplexen Gesellschaften adäquate soziale und 40 41 42
Schuppert/Bumke (Fn. 19), S. 40. Zur Fortentwicklung des Art. 230 Abs. 4 EG im Lichte des Rechtsstaatsprinzips J. Bast, in diesem Band, S. 521 ff. und 555 ff. Die auf europäischer Ebene allerdings weniger weit reicht als unter dem deutschen Grundgesetz, J.-C. Galloux, in: L. Burgorgue-Larsen u.a. (Hrsg.), Traité établissant une Constitution pour l’Europe, Bd. II, 2005, Article II-73, Rn. 12.
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politische Ordnungsleistungen erbringt. Daraus fließt eine funktionale Legitimation dieses rechtswissenschaftlichen Ansatzes.43 Gleichwohl sollte ein Wissenschaftler sich nicht blind stellen gegenüber den möglichen Folgen seiner Forschung. Es gilt insbesondere die Problematik der Rechtsfortbildung durch den wichtigsten Adressaten seiner Konstruktionen, die Gerichtsbarkeit, zu berücksichtigen. Für die Prinzipiennutzung der Gerichte ist festzuhalten, dass alles zeitgenössische Recht positives Recht ist. Positivität bedeutet Zugriff politisch verantwortlicher Gremien:44 Das Recht wird durch die Gesetzgeber selbst erlassen oder aber ist – in den Fällen des Common Law oder anderen Fällen richterlicher Rechtsfortbildung – unter ihrer Verantwortung: Die Legislative kann eine Rechtslage, die aus der rechtsfortbildenden Tätigkeit der Gerichte resultiert, korrigieren.45 Die Fortbildung eines Rechtskorpus, auf den die Legislative nur unter erschwerten Bedingungen Zugriff hat, ist daher kritisch und ein Standardthema der Verfassungsrechtswissenschaft.46 Die gerichtliche Rechtsfortbildung ist dabei zumeist als dem Rechtsprechungsauftrag innewohnend anerkannt, debattiert werden zumeist ihre Grenzen.47 Entsprechend konturiert der EuGH seine rechtsfortbildende Kompetenz in Abgrenzung zum Vertragsänderungsverfahren.48 Die Teile IV und V werden eine deutliche Logik zeigen, in welchen Bereichen Prinzipien rechtsfortbildend eingesetzt werden und wo dies nicht der Fall ist. Als weiteres Argument für eine rechtliche Fassung politischer und sozialer Konflikte als Prinzipienkonflikte spricht, dass dies Konflikte begrifflich kanalisiert und vielleicht sogar rationalisiert. Auch können juristische Prinzipendiskurse eine stützende Rolle für demokratische Diskurse ausüben.49 Eine Lösung über Prinzipienabwägungen ist zudem den meisten Rechtsgenossen verständlicher als eine „rechtstechnische“, in hermetischer Sprache formulierte Begründung, welche die Wertungen eines Gerichts verdeckt. Die Formulierung rechtlicher Streitfragen als Prinzipienkonflikte ermöglicht eine im Lichte des demokratischen Prinzips begrüßenswerte Politisierung, da die Öffentlichkeit sich eher zu der gerichtlichen Entscheidung verhalten kann.
43 44 45 46
47 48
49
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1972, S. 825 ff. E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 289 (322). Zum Common Law P. Atiyah/R. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1991, S. 141 ff. A. Bickel, The Least Dangerous Branch, 1962; vergleichend U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen, 1998; zum EuGH aus einer Innensicht K.-D. Borchardt, Richterrecht durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, in: GS Grabitz, 1995, S. 29. Zur Rechtsfortbildung durch den EuGH BVerfGE 75, 223 (243). Allerdings gerade in Fällen, wo ihm die Verweigerung einer angetragenen Rechtsfortbildung gut zu pass zu kommen schien, EuGH, Gutachten 2/94, EMRK, Slg. 1996, I-1759, Rn. 30, und Rs. C-50/00 P (Fn. 34), Rn. 44, bzw. Rs. C-263/02 P, Kommission/Jégo-Quéré, Slg. 2004, I-3425, Rn. 36; näher J. Bast, in diesem Band, S. 516 ff. L. Siedentop, Democracy in Europe, 2000, S. 100.
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Prinzipien wie Vorrang und unmittelbare Wirksamkeit bilden den Schlüssel zur Konstitutionalisierung des Gemeinschaftsrechts.50 Gleichwohl ist die Diskussion von Grund- und Verfassungsprinzipien ein neueres Phänomen, was sich aus der Geschichte der Integration erklärt. Der Weg der Integration war seit der gescheiterten Europäischen Politischen Gemeinschaft eben nicht der konstitutionelle, sondern der funktionale.51 Die Ziele wurden durch die Verträge mit hinreichender Deutlichkeit festgelegt, so dass der europäische Diskurs sich als ein pragmatisch-administrativer unter Entlastung politisch-ethischer Argumente entfalten konnte.52 Diese Ausrichtung prägte die rechtswissenschaftliche Konstruktion. Es setzten sich in der deutschen Rechtswissenschaft nicht die bundesstaatlichen Konzeptionen durch, sondern wirtschaftsrechtliche Ansätze öffentlichrechtlicher und privatrechtlicher Provenienz. Nur langsam entwickelte der EuGH Prinzipien, die die Hoheitsmacht der Gemeinschaft beschränken.53 Noch 1986 stellte Pierre Pescatore fest, dass es zwar als Prinzipien Verhältnismäßigkeit, die gute Verwaltung, die Rechtssicherheit, Grundrechtsschutz und Verteidigungsrechte gebe, es handle sich aber um „peu de chose“, „où on peut mettre tout et son contraire“.54 Das sollte sich gründlich ändern. Dank des Binnenmarktprogramms und des Vertrags von Maastricht hat sich die Debatte über europäische Grund- und Verfassungsprinzipien rasch entfaltet.55 Sie mündete mit dem Amsterdamer Vertrag 1997 in Art. 6 EU, der die wichtigste positive Grundlage europäischer Grundprinzipien bietet. Es sei noch auf die integrationspolitische Rolle einer Lehre der Grundprinzipien für die Förderung eines allgemeinen Verständnisses der Union unter den Unionsbürgern hingewiesen und die Formierung eines europaweiten Hintergrundkonsenses für das Operieren der europäischen Institutionen. Sicherlich kann rechtswissenschaftliche Arbeit nicht unmittelbar auf die öffentliche Wahrnehmung einwirken.56 Sie lässt sich aber als Teil eines breiteren öffentlichen Diskurses begreifen, in dem sich die europäische Bürgerschaft ihrer Grundlagen versichert. In diesem integrationspolitischen Diskurs können Prinzipien dann allerdings auch eine ideologische Funktion haben. Eine Darstellung der Union im Lichte von Prinzipien hat gewiss ein entsprechendes Potenzial.57 Der Vertrag von Lissabon 50 51 52 53 54 55
56 57
Klassisch E. Stein, Lawyers, Judges and the Making of a Transnational Constitution, AJIL 75 (1981), S. 1. Näher S. Oeter, in diesem Band, S. 77 ff. Zu den unterschiedlichen Diskursformationen Habermas (Fn. 16), S. 197 f. P. Pescatore, Le droit de l’intégration, 1972, S. 70 f.; H. Lecheler, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, 1971. P. Pescatore, Les principes généraux du droit en tant que source du droit communautaire, 1986, in: ders., Études de droit communautaire européen 1962–2007, 2008, S. 691. J. A. Frowein, Die Herausbildung europäischer Verfassungsprinzipien, in: FS Maihofer, 1988, S. 149; J. Gerkrath, L’emergence d’un droit constitutional pour l’Europe, 1997, S. 183 ff.; J. H. H. Weiler, European Neo-Constitutionalism, Political Studies 44 (1996), S. 517. F. Snyder, Editorial: Dimensions and Precipitates of EU Constitutional Law, ELJ 8 (2002), S. 315. K. Lenaerts, ‘In the Union We Trust’, CMLRev. 41 (2004), S. 317.
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erweist sich in dieser Hinsicht als problematisch. In ihm werden die Grundprinzipien der EU als Werte und damit als Ausdruck der ethischen Überzeugungen der Unionsbürger dargestellt (Art. 2 EUV-Liss). Eine rechtswissenschaftliche Prinzipienlehre sollte auf einer besseren Grundlage denn soziologisierenden Vermutungen über normative Dispositionen der Unionsbürger bauen und im Lichte des Prinzips der Freiheit auf die Differenz zwischen Recht und Ethik hinweisen.58 Wertediskurse haben leicht eine paternalistische Dimension.
III. Allgemeine Fragen einer europäischen Prinzipienlehre 1.
Der Untersuchungsgegenstand
a)
Prinzipien im Unionsrecht
Der Vertragsgeber59 mag das Wort Prinzip: Es wird in den meisten Sprachfassungen bemerkenswert häufig verwendet. Die englische und die französische Fassung des EU-Vertrags nutzen es derzeit 22 Mal, die des EG-Vertrags 48 Mal, nach dem Willen des Vertrags von Lissabon sogar insgesamt 98 Mal. Die Charta der Grundrechte nutzt Prinzip in der englischen und der französischen Fassung 14 Mal. Inhaltlich handelt es sich um einen bunten Strauß, der vom Demokratieprinzip (Art. 6 EU) bis zu den Prinzipien der mitgliedstaatlichen Sozialversicherungssysteme (Art. 137 Abs. 4 EG) reicht; manche Prinzipien soll gar erst der Rat festlegen (Art. 202 EG). In der deutschen Fassung taucht das Wort Prinzip weit seltener auf, nämlich nur drei Mal im geltenden EU-Vertrag und vier Mal im EG-Vertrag; zumeist geht es um das Subsidiaritätsprinzip. Der Prinzipienschwund in der deutschen Fassung erklärt sich damit, dass anstelle des englischen principle bzw. französischen principe das deutsche Wort Grundsatz genutzt wird, dies gilt auch für die deutsche Fassung der Grundrechte-Charta. Liegt Bedeutungsvolles hinter den unterschiedlichen Sprachfassungen? Bisweilen zeigt die Verwendung von zwei deutschen Worten anstelle eines einzigen englischen oder französischen Terminus eine wichtige juristische Differenzierung an: Man denke an den Begriff decision, der im Deutschen eine Entscheidung oder aber ein Beschluss sein kann, so dass decision zwei Handlungsformen mit unterschiedlichen Rechtsregimen bezeichnet.60 Es gibt aber keine Hinweise auf Entsprechendes
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E. Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 143 (149). Klärend der Vergleich mit der US-amerikanischen Debatte betr. rights theory versus moral conventionalism; dazu P. Brest, The Fundamental Rights Controversy, YLJ 90 (1981), S. 1063. Der Begriff Vertragsgeber bezeichnet die durch Art. 48 EU zu einem Kollektiv zusammengeschlossenen Mitgliedstaaten. Zum Begriff: EuG, Rs. T-28/03, Holcim/Kommission, Slg. 2005, II-1357, Rn. 34 („verfassungsgebende Gewalt“); Rs. T-172/98, Salamander u.a./ Parlament und Rat, Slg. 2000, II-2487, Rn. 75 („Verfassungsgeber der Gemeinschaft“). Ausführlich J. Bast, Grundbegriffe der Handlungsformen der EU, 2006, S. 110 ff.; ders., in diesem Band, S. 514 f.
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hinter dem deutschen Dual Prinzip und Grundsatz, so dass dieser Beitrag die beiden Termini in Übereinstimmung mit Praxis und Schrifttum als Synonyme versteht.61 Das Wort Prinzip im Vertragstext hat attributiven Charakter. Der Vertragsgeber weist dem so charakterisierten Tatbestandsmerkmal oder gar ganzen Normen herausgehobene Bedeutung zu und orientiert damit den Leser in einem unübersichtlichen Text. Zugleich legt ein Prinzip zumeist allgemeine Vorgaben nieder, man denke nur an Art. 6 Abs. 1 EU oder Art. 71 Abs. 2 EG. Der als Prinzip bezeichnete Begriff soll Aussagen für ein Ganzes machen, hat insoweit eine reflexive Bedeutung. Weiter bezeichnet der Vertragsgeber mit dem Wort Prinzip zumeist Tatbestandsmerkmale, deren Aussage vage ist, wie selbst Prinzipien für einzelne Materien wie die in Art. 174 Abs. 2 EG oder Art. 274 EG zeigen. Alexy stellt in seiner einflussreichen Theorie Prinzipien Regeln gegenüber und charakterisiert sie dadurch, dass es sich um abwägbare Optimierungsgebote handle.62 Dem mag es geschuldet sein, dass der Juristische Dienst des Rates den Vorrang des Gemeinschaftsrechts im deutschen Text nicht als Prinzip, sondern „Grundpfeiler“ bezeichnet, um ihn so „abwägungsfest“ zu machen.63 Dem entspricht es, dass die französische Fassung unbekümmert von „principe fondamental“ spricht. Die dieser Charakterisierung zugrundeliegende kategorische Unterscheidung von Regel und Prinzipien ist jedoch wenig überzeugend und wird von diesem Beitrag nicht zur Charakterisierung von Prinzipien genutzt.64 Die Qualifizierung als Prinzip als solche löst keine spezifischen Rechtsfolgen aus. Dies ergibt mit besonderer Deutlichkeit ein Vergleich von Art. 23 und Art. 52 Abs. 5 GR-Charta. Das Gleichheitsgebot des Art. 23 GR-Charta ist ein einklagbares Prinzip des Gemeinschaftsrechts.65 Art. 52 Abs. 5 GR-Charta unterscheidet hingegen ausdrücklich zwischen einklagbaren Rechten und Prinzipien (Grundsätzen). Die Vermutung einer fehlenden übergreifenden Konzeption des Vertragsgebers bestätigt die eher zufällige Zuweisung von Attributen wie richtungweisend (Art. 4 Abs. 3 EG), bestehend (Art. 47 Abs. 2 EG), wesentlich (Art. 67 Abs. 5 EG und Art. 2 des Protokolls über die finanziellen Folgen des Ablaufs des EGKS-Vertrages und über den Forschungsfond für Kohle und Stahl), einheitlich (Art. 133 Abs. 1 EG) und allgemein (Art. 288 Abs. 2 EG). Es muss bei jeder Verwendung des Wortes Prinzip eigens untersucht werden, welche Rechtsfolgen an die Norm geknüpft sind, insbesondere mit Blick auf die Eröffnung von Rechtsschutz und die gerichtlichen Kontrollmöglichkeiten.66
61 62 63
64 65 66
Dies gilt auch für den philosophischen Diskurs, vgl. nur Habermas (Fn. 16), S. 211. Ausf. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 2006, S. 75 ff. Europäischer Rat, Gutachten des juristischen Dienstes, Rats-Dok. 11197/07, dazu F. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung?, ZaöRV 67 (2007), S. 1141 (1153); zum Vorrang als Prinzip M. Niedobitek, Der Vorrang des Unionsrechts, in: ders./J. Zemánek (Hrsg.), Continuing the European Constitutional Debate, 2008, S. 63 (65 f.). A. Jakab, Prinzipien, Rechtstheorie 2006, S. 37. St. Rspr. EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753, Rn. 7. Ausf. C. Hilson, Rights and Principles in EU Law, MJ 15 (2008), S. 193 (215).
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Das Wort Prinzip bezeichnet nicht nur einen Begriff des positiven Rechts der EU, sondern auch einen solchen rechtswissenschaftlicher Analyse. Wie unter II. 2. dargelegt ist er unentbehrlich, um den Aufgaben der Rechtswissenschaft nachzukommen. Dabei ist umstritten, was ein „Prinzip“ ist; hinter dem Begriff stehen konkurrierende Deutungen des Rechts.67 Das ist unschädlich, denn bei der Definition eines wissenschaftlichen Begriffs geht es nicht um Wahrheit, sondern um Zweckmäßigkeit im Lichte des Erkenntnisziels. Dies führt zu den Grundprinzipien. b) Unionale Grundprinzipien und ihr verfassungsrechtlicher Charakter Dieser Beitrag nutzt Grundprinzip als rechtswissenschaftlichen Begriff, um in der Tradition des Konstitutionalismus jene Normen des Primärrechts zu identifizieren und zu deuten, die eine normativ begründende Funktion für das Ganze der Unionsrechtsordnung haben; sie legen die angesichts der Rechtfertigungsbedürftigkeit hoheitlichen Handelns wesentlichen legitimatorischen Grundlagen fest.68 Insoweit schließt dieses Verständnis an den soeben dargelegten Prinzipienbegriff des Primärrechts an: Es geht um herausgehobene Normen, die das Ganze einer Materie betreffen. Grundprinzipien als Spezies dieser Gattung betreffen das Ganze des Unionsprimärrechts, ja des Unionsrechts insgesamt. Dieser materielle Begriff des Grundprinzips erfasst keineswegs alle in den Verträgen oder der Rechtsprechung als Prinzipien bezeichneten Normen und Tatbestandsmerkmale, sondern einige wenige Normen, die im staatlichen Verfassungsrecht ebenfalls als Grundprinzipien, aber auch als Strukturprinzipien oder Baugesetze bezeichnet werden.69 Es ist zulässig und erkenntnisträchtig, diese Grundprinzipien als Verfassungsprinzipien zu verstehen und in diesem Horizont zu bearbeiten.70 Die Union ist in den 1990er Jahren zu einer politischen Union erstarkt.71 Der Vertragsgeber hat 1997 nach langen Debatten mit Art. 6 Abs. 1 EU diese Union auf „den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“ und so auf dem Kernprogramm des liberaldemokratischen Konstitutionalismus gegründet. Dies impliziert die Entscheidung für eine verfassungsrechtliche Semantik, die nun eine verfassungsrechtliche Dogmatik ausarbeiten sollte.72 Der normative Gehalt des Indikativs „beruht“ 67
68 69 70
71 72
Grundlegend Dworkin (Fn. 16), S. 58 ff.; Alexy (Fn. 62), S. 72 ff.; zur Debatte R. Guastini, Distinguendo: Studi di teoria e metateoria del diritto, 1996, S. 115 ff.; M. L. Fernandez Esteban, The Rule of Law in the European Constitution, 1999, S. 39 ff.; M. Koskenniemi, General Principles, in: ders. (Hrsg.) Sources of International Law, 2000, S. 359. Zum Begriff des principe fondateur Molinier (Fn. 2), 24; ähnlich Dworkin (Fn. 16), S. 55. Näher H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2006, Art. 20 (Einführung), Rn. 5, 8; F. Reimer, Verfassungsprinzipien, 2001, S. 26 ff. Auch der EuGH spricht von Verfassungsprinzipien (bzw. -grundsätzen) des EG-Vertrags: verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 34), Rn. 285. Hierzu bereits die Überlegung in der Einleitung. Vgl. U. Everling und S. Oeter, in diesem Band, S. 967 ff. bzw. S. 76 ff. B. Beutler, in: Groeben/Schwarze (Fn. 2), Art. 6 EU, Rn. 1; P. Cruz Villalón, La constitución inédita, 2004, S. 73, 143; H. W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rn. 92 ff.
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in Art. 6 Abs. 1 EU und entspricht demjenigen des Indikativs „ist“ in Art. 20 Abs. 1 GG.73 Ein Vergleich mit Art. F EU-Vertrag in der Maastrichter Fassung verdeutlicht die Tragweite der politischen Entscheidung von 1997. Art. F ist noch ganz aus der Schrankenperspektive formuliert, die heute noch Art. 6 Abs. 2 EU unterliegt: Art. 6 Abs. 2 EU verpflichtet die Union auf allgemeine Rechtsgrundsätze, general principles, die keine begründende, sondern nur eine beschränkende Funktion haben.74 1997 legt der Vertragsgeber dann in Art. 6 Abs. 1 EU die normativen Kerngehalte nieder, auf denen sich die Union gründet. Insoweit geht der konstitutionelle Gehalt des Art. 6 Abs. 1 EU über die verfassungsrechtliche Dimension des Maastrichter Vertrags hinaus. Nunmehr hat nicht nur ein beschränkender, sondern ein begründender europäischer Konstitutionalismus eine positivrechtliche Grundlage.75 Der hier verfolgte rechtswissenschaftliche Ansatz buchstabiert mit einem materiellen Begriff des Grundprinzips die im Amsterdamer Vertrag zum Ausdruck kommende politische Entscheidung aus, dass eine europäische politische Union in den Postulaten des liberaldemokratischen Konstitutionalismus zu gründen ist. Grundprinzipien sind danach die in Art. 6 Abs. 1 EU niedergelegten Grundsätze sowie die ebenfalls in Titel I EU angelegten Prinzipien der Kompetenzwahrnehmung, der loyalen Zusammenarbeit und der strukturellen Kompatibilität. Diesen Ansatz bestätigt Titel I EUV-Liss. mit Blick auf die Grundprinzipien des föderalen Verhältnisses zwischen Union und Mitgliedstaaten. Andere primärrechtliche Prinzipien gehören nicht zu diesen übergreifenden Grundprinzipien, dienen jedoch zu deren Konkretisierung und gewinnen zugleich aus ihnen verfassungsrechtliche Gehalte.76 Die in Art. 2 EUV-Liss. niedergelegten Normen, obwohl als Werte bezeichnet, sind als Rechtsnormen und Prinzipien, Grundprinzipien, zu verstehen. Üblicherweise wird zwischen Werten und Prinzipien unterschieden, wobei Erstere fundamentale ethische Überzeugungen von Menschen, die Zweiten Rechtsnormen bezeichnen. Da die „Werte“ des Art. 2 EUV-Liss. im Verfahren des Art. 48 EU niedergelegt sind und rechtliche Wirkung entfalten (z.B. Art. 3 Abs. 1, Art. 7, Art. 49 EUV-Liss.), bilden sie rechtliche Normen und, da herausgehoben, übergreifend und begründend, Grundprinzipien.77 Die Verwendung des Begriffs „Wert“ in Art. 2 EUV-Liss. an Stelle von „Prinzip“, die unklare normative Funktion des 2. Satzes dieses Artikels sowie die Differenzen zwischen den diversen Formulie-
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Langsam wird Art. 6 Abs. 1 EU auch operativ; zur prinzipienkonformen Auslegung des Primärrechts EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 34), Rn. 303. Molinier (Fn. 2), S. 29; vgl. nur die in Tridimas (Fn. 2) und Groussot (Fn. 2) erörterten Prinzipien. Zur Unterscheidung eines nur beschränkenden und eines begründenden Konstitutionalismus C. Möllers, in diesem Band, S. 229 ff. Vgl. im Einzelnen unten, IV. 1. Zur Problematik der Begrifflichkeit „Werte“ oben, II. 3.
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rungen der postulierten Werte78 zeigen verbleibende Unsicherheiten bei der Identifikation europäischer Grundprinzipien. Angesichts der analytischen Natur bedeutet die Qualifizierung einer Norm als Grundprinzipien nicht, dass andere Verständnisse ausgeschlossen werden. Es gibt beachtliche Analysen derselben Prinzipien etwa als verwaltungsrechtliche Prinzipien.79 Der verfassungs- und der verwaltungsrechtliche Zugang überlagern sich beim überstaatlichen öffentlichen Recht. Man mag fragen, warum diese Studie die Grundprinzipien zwar als Verfassungsprinzipien rechtlich qualifiziert, aber nicht als solche bezeichnet. Zunächst wird dadurch eine Bedeutungsdifferenz mit der Rechtsprechung vermieden: Die Rechtsprechung hat den Begriff Verfassungsprinzip (Verfassungsgrundsatz) bislang nur für Normen des mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts genutzt.80 Allerdings findet sich der Begriff Verfassungsprinzip im Kadi-Urteil prominent auch für das Gemeinschaftsrecht,81 was den innovativen Gehalt dieses Urteils unterstreicht. Bislang üblich ist die Bezeichnung als Grundprinzip.82 Die Bezeichnung der hier als Grundprinzipien dargestellten Prinzipien mit dem weiten Begriff des Verfassungsprinzips würde vor allem aber den konstitutionellen Charakter anderer Prinzipien des Primärrechts in Frage stellen, was nicht die Zielsetzung dieses Beitrags ist. Es ist im Unionsrecht zwischen Prinzipien, insbesondere Grundprinzipien, und Zielen zu unterscheiden. Die Union „beruht“ auf Prinzipien (Art. 6 Abs. 1 EU). Prinzipien bilden Schranken für mitgliedstaatliches und unionales Handeln. Ziele hingegen legen die angestrebten Effekte in der sozialen Wirklichkeit nieder. Die Verschleifung von Zielen und Prinzipien etwa in Art. 3 Abs. 1 EUV-Liss. untergräbt diese Unterscheidung nicht. Diese Trennung zwischen Integrationszielen und verfassungsrechtlichen Prinzipien wird auch durch das Scheitern der Zweckverbandskonzeption nahe gelegt.83 c) Prinzipien des Völkerrechts Auch die Völkerrechtswissenschaft operiert mit dem Begriff des Verfassungsprinzips,84 und es fragt sich, ob allgemeine Prinzipien des Völkerrechts und Prinzipien 78 79 80
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Man vergleiche 3. Präambelerwägung EU, Art. 6 Abs. 1 EU bzw. Art. 2 EUV-Liss., 2. Präambelerwägung GR-Charta. G. della Cananea, Il diritto amministrativo europeo e i suoi principi fondamentali, in: ders. (Hrsg.), Diritto amministrativo europeo, 2006, S. 1 (17 ff.). EuGH, Rs. C-36/02, Omega, Slg. 2004, I-9609, Rn. 12; Rs. C-49/07, MOTOE, Slg. 2008, I-0000, Rn. 12. Bisweilen nutzt ein Generalanwalt den Begriff für das Unionsrecht, GA Kokott zu EuGH, verb. Rs. C-387/02, 391/02 und 403/02, Berlusconi, Slg. 2005, I-3565, Rn. 163. EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 34), Rn. 285. EuGH verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029, Rn. 27; Rs. C-255/02, Hailfax, Slg. 2006, I-1609, Rn. 92; Rs. C-438/05, International Transport Workers’ Federation, Slg. 2007, I-10779, Rn. 68; Rs. C-162/07, Ampliscientifica, Slg. 2008, I-4019, Rn. 25. Dazu oben, II. 3. Kadelbach/Kleinlein (Fn. 8).
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einzelner völkerrechtlicher Verträge, insbesondere der UN-Satzung, der Menschenrechtspakte oder des WTO-Übereinkommens, in eine Untersuchung der Grundprinzipien der Union einzubeziehen sind. Art. 3 Abs. 5 EUV-Liss. kann in diese Richtung verstanden werden, und schon jetzt weist Art. 300 Abs. 7 EG völkerrechtlichen Verträgen einen übergesetzlichen Rang zu, der auch für Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts gilt.85 Eine nähere Analyse der Rechtsprechung zeigt jedoch, dass völkerrechtlichen Normen mit Ausnahme der Bestimmungen der EMRK86 keine prägende Rolle für die Hoheitsgewalt der Union zukommt, so dass sie in dieser Betrachtung unberücksichtigt bleiben können. Diese Grundentscheidung kommt bereits im Urteil Costa/ E.N.E.L. zum Ausdruck: Während das Urteil van Gend das Gemeinschaftsrecht noch als eine „autonome Rechtsordnung des Völkerrechts“ ansieht, spricht der EuGH seit Costa nur noch von einer „autonomen Rechtsordnung“ tout court.87 Das überwiegende Verständnis des europäischen Konstitutionalismus versteht ihn nicht als Anwendungsfall eines übergreifenden internationalen Konstitutionalismus.88 2. Zur Rolle mitgliedstaatlicher Verfassungsprinzipien Dieser Beitrag untersucht Grundprinzipien der Europäischen Union, dem Prinzip der Autonomie des Unionsrechts folgend. Dieser Fokus darf aber nicht den rechtlichen Kontext unionaler Grundprinzipien ausblenden, den insbesondere die mitgliedstaatlichen Verfassungen bilden. Man kann das Verfassungsrecht der Union als eine Teilverfassung oder eine Komplementärverfassung begreifen, die gemeinsam mit den mitgliedstaatlichen Verfassungen einen europäischen Verfassungsraum bildet.89 Unionsrechtlich ergeben sich die Vernetzung und die rechtliche Relevanz der mitgliedstaatlichen Verfassungen etwa aus Art. 48 Abs. 3 EU, aus Art. 6 Abs. 2 EU oder aus Art. 4 Abs. 2, 6 Abs. 3 EUV-Liss. Weiter sichern mitgliedstaatliche Prinzipien – etwa in der Form des Art. 23 Abs. 1 GG – unionale Prinzipien ab.90 Es wird gar vertreten, dass die konstitutionelle Substanz des europäischen Verfassungsraums in den staatsrechtlichen Integrationsklauseln liege.91 Eine Schlüsselfrage einer europäischen Prinzipienlehre lautet, in welchem Umfang auf mitgliedstaatliche Lehren von Verfassungsprinzipien rekurriert werden
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EuGH, Rs. C-162/96, Racke, Slg. 1998, I-3655, Rn. 45–51. Hierzu unten, V. 2. und 4. Bemerkenswert der Ausschluss unmittelbarer Wirksamkeit des UN-Seerechtsübereinkommens EuGH, Rs. C-308/06, Intertanko, Slg. 2008, I-4057, Rn. 42 ff.; dazu R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 189. Zuletzt EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 34), Rn. 316. J. d’Aspremont/F. Dopagne, Two Constitutionalisms in Europe, ZaöRV 68 (2008), S. 939. P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Fn. 24), § 26, Rn. 109; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 209, 219. Ausführlich C. Grabenwarter, in diesem Band, insb. S. 140 ff. M. Kaufmann, Integrierte Staatlichkeit als Staatsstrukturprinzip, JZ 1999, S. 814; P. Kirchhof, in diesem Band, S. 1017 ff.
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kann.92 Manche bestreiten diese Möglichkeit mit der Behauptung, die Neuartigkeit des Herrschaftsträgers verlange „präzedenzlos zu denken“.93 Diese Forderung widerstreitet jedoch der Praxis, vielleicht gar der „Natur“ rechtswissenschaftlichen Denkens, ist doch der Vergleich ein wichtiges Instrument rechtlicher Argumentation und Erkenntnis.94 Ein Verzicht ist auch nicht nötig, da hinreichende Vergleichbarkeit besteht. Das unionale und das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht betreffen dasselbe zentrale Problem: das Phänomen einseitiger Macht als Angelpunkt jeder Verfassungsordnung.95 Unionale wie mitgliedstaatliche Hoheitsträger können einen Bürger bestimmen, ohne dass es auf dessen Einverständnis ankäme. Diese Einseitigkeit, die mit dem zentralen Gedanken der europäischen Moderne kollidiert, der Freiheit des Einzelnen, ist das Zentralproblem des zeitgenössischen Verfassungsrechts. Im unionalen wie im staatlichen Verfassungsrecht geht es in erster Linie darum, wie diese problematische Einseitigkeit konstituiert, organisiert und limitiert wird. Da die meisten, vielleicht sogar alle verfassungsrechtlichen Prinzipien sich mit diesem Problem befassen, ist angesichts dieser Problemidentität eine Vergleichbarkeit gegeben.96 Den Kritikern ist zuzugeben, dass eine schlichte Übertragung von Instituten und Erkenntnissen aus dem staatlichen Kontext in vielen Fällen kaum weiterführt. Die Übertragung der verfassungsrechtlichen Institute eines Mitgliedstaates verbietet schon die in Art. 6 Abs. 3 EU (Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss.) zum Ausdruck kommende Gleichwertigkeit der 27 mitgliedstaatlichen Verfassungen. Aber auch die Suche nach einem gemeineuropäischen Substrat mitgliedstaatlicher Verfassungen kann nur Teil einer Antwort sein. Dies liegt zum einen daran, dass die mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen erheblich divergieren und deshalb für eine konkrete Frage kaum einmal ein völliger Gleichklang gefunden werden dürfte.97 Jede Analogiebildung muss zudem reflektieren, dass die Union kein Staat, sondern eine neue Form politischer und rechtlicher Herrschaft ist. Die Verfassungsprinzipien müssen dies aufnehmen. Eine europäische Prinzipienlehre muss daher die herrschaftskonstituierenden, -lenkenden und -begrenzenden Rechtsinstitute aus der staatlichen Fixierung lösen und die in ihnen transportierten Gehalte des europäischen Konstitutionalismus mit Blick auf die Union fortschreiben. Dabei ist die Einsicht, dass die Union kein Staat ist (und wohl auch keiner werden soll), bloßer Anlass der Fortschreibung, 92
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R. Dehousse, Comparing National and EC Law, AJCL 42 (1994), S. 761 (insb. 762 und 771 f.); J. Ziller, National Constitutional Concepts in the New Constitution for Europe, EuConst 1 (2005), S. 452. G. F. Schuppert, Anforderungen an eine europäische Verfassung, in: H.-D. Klingemann/F. Neidhardt (Hrsg.), Zur Zukunft der Demokratie, 2000, S. 237 (249). Zur „Speicherfunktion“ E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2004, S. 4; Dann (Fn. 7), S. 175 ff. N. MacCormick, Questioning Sovereignty, 1999, S. 138 f. So selbst T. v. Danwitz, Vertikale Kompetenzkontrolle in föderalen Systemen, AöR 113 (2006), S. 510 (517). Näher unten, IV. 3. b).
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der jedoch kaum eine Richtung vorgibt. Die Konkretisierung der „sui-generis“-Gestalt der Union hängt von dieser Fortentwicklung ab; hier ist eine Prinzipienlehre besonders gefordert. Die Teile IV und V sind in diesem Sinne zu lesen. Eine für das Verständnis von Grundprinzipien wichtige Differenz zwischen unionalem und staatlichem Verfassungsrecht ist, dass die Union weit weniger als ihre Mitgliedstaaten98 jene Phänomene aufweist, die der verfassungstheoretische Begriff der politischen Einheit bezeichnet.99 Gewiss gibt es in der Europäischen Union politische Einheit insofern, als Frieden als Rechtszustand herrscht und eine gemeinsame politische Organisation besteht, deren Maßnahmen selbst bei Mehrheitsentscheidungen in der Regel befolgt werden. Der Begriff der politischen Einheit umschließt jedoch weitere Gehalte, die sich auf der europäischen Ebene kaum finden lassen. Man kann etwa die Herrschaftsausübung der Union kaum als Wille oder Selbstregierung eines demokratischen Souveräns deuten. Auch die Referenden der letzten Jahre haben die Grenzen der europäischen politischen Einheit deutlich gezeigt. Die herausragende Bedeutung konsensualer und vertraglicher Elemente in den Beziehungen der verschiedenen Hoheitsträger,100 das Gewicht der Nationalstaaten und ihrer Völker müssen das Verständnis und die Konkretisierung der Grundprinzipien prägen. Die sui-generis-Natur, die Spezifik der Grundprinzipien beruht darauf, dass die Mitgliedstaaten der Union zumeist entwickelte und identitätsbewusste Nationalstaaten sind, die zwar ein europäisches Gemeinwesen wollen, ohne aber zu nachgeordneten Gebietskörperschaften eines europäischen Bundesstaates zu mutieren. Dieses Verständnis unterliegt bereits der ersten Bestimmung des Unionsvertrags (Art. 1 Abs. 1 und 2 EU), und zwar in besonderer Deutlichkeit unter dem Vertrag von Lissabon (Art. 1 Abs. 1 EUV-Liss.) Mitgliedstaatliche Verfassungsprinzipien sind vor allem in zwei Hinsichten für den unionalen Prinzipiendiskurs von Bedeutung. Erstens ergeben sich aus den nationalen Prinzipien Fragen, auf die auf der unionalen Ebene Antworten gefunden werden müssen. Zweitens bieten die nationalen Prinzipienlehren in ihrer Vielfalt eine Fülle möglicher Verständnisse, die bei der Entwicklung und Konkretisierung unionaler Prinzipien dienlich sein können. Mitgliedstaatlichen Verfassungsprinzipien kommt somit eine wichtige diskursive Funktion zu. Jedoch sollte sich der Diskurs nicht hierauf beschränken: Auch das Verfassungsrecht komplexer Föderationen wie den Vereinigten Staaten und Kanadas bietet wertvolle Anregungen.101
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101
Belgien mag angesichts seiner Verfassungskrise eine Ausnahme bilden. Näher T. Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation, 1990, S. 23 ff.; C. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 230 ff. Dies mag die Renaissance des Vertragsdenkens erklären, G. Frankenberg, The Return of the Contract, King’s College Law Journal 12 (2001), S. 39; I. Pernice/F. C. Mayer/S. Wernicke, Renewing the European Social Contract, King’s College Law Journal 12 (2001), S. 61. Vgl. nur K. Nicolaidis/R. Howse (Hrsg.), The Federal Vision, 2001.
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3. Einheitliche Grundprinzipien angesichts uneinheitlichen Primärrechts Die in Titel I EU niedergelegten Prinzipien gelten für das gesamte Unionsrecht, also den Unionsvertrag und die Gemeinschaftsverträge. Dies wird unter Art. 2 EUVLiss. unzweifelhaft sein, ist unter dem geltenden Recht aber bestritten, insbesondere unter Verweis auf die sog. Säulenarchitektur der Verträge (EG-Vertrag, Titel V und Titel VI EU). In der Tat entsprechen Titel V und VI EU-Vertrag nicht in jeder Hinsicht der sog. Gemeinschaftsmethode mit Supranationalität, unmittelbarer Wirkung und durchgängigem europäischen Rechtsschutz. Die Sonderregelungen sind Ausdruck wichtiger Kompromisse im Rahmen der Vertragsgebung, die die Rechtswissenschaft ernst nehmen muss. Nach mancher Meinung bildet die Europäische Union noch nicht einmal einen Hoheitsträger. Unter Titel V und VI EU sollen vielmehr „in Wirklichkeit“ die Mitgliedstaaten und nicht Unionsorgane operieren. Entsprechend wäre zwischen dem Gemeinschaftsrecht und dem Unionsrecht kategorial zu unterscheiden. Akte des Rates unter Titel V und VI EU, etwa ein Rahmenbeschluss, wären nicht Akte der EU, sondern völkerrechtliche Abkommen der Mitgliedstaaten.102 Eine übergreifende Prinzipienlehre wäre danach weitgehend gegenstandslos.103 Es gibt jedoch gute Gründe, die Union als einheitlichen Hoheitsträger und das Recht aus dem Unionsvertrag und das aus den Gemeinschaftsverträgen als eine Rechtsordnung zu betrachten, in Abgrenzung zu den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auf der einen Seite und zum Völkerrecht auf der anderen. Zunächst ist auf die organisatorische Verschmelzung hinzuweisen: Seit 1994 wird in den Rechtsakten unter Titel V und VI EU als rechtsetzendes Organ immer der Rat der Union genannt, niemals die Mitgliedstaaten. Die Einheit ist zudem für das Grundprinzip des Grundrechtsschutzes ausdrücklich angeordnet (Art. 46 lit. d EU)104 und kann im Übrigen mit Bestimmungen wie Art. 1 oder Art. 48 f. EU begründet werden.105 In diesem Lichte ist es konsequent, dass der EuGH Prinzipien des Gemeinschaftsrechts auf Rechtsakte unter Titel V und VI EU ausdehnt.106
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A. Haratsch/C. König/M. Pechstein, Europarecht, 2006, Rn. 79, 83; in diese Richtung auch BVerfGE 113, 273 (301). M. Pechstein, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 6 EUV, Rn. 2 f. Zur Einheitlichkeit der Standards EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld (Europ. Haftbefehl), Slg. 2007, I-3633, Rn. 45. Ausf. A. v. Bogdandy, The Legal Case for Unity, CMLRev. 36 (1999), S. 887; ähnlich H.-J. Blanke, in: Calliess/Ruffert (Fn. 2), Art. 3 EU, Rn. 1, 3; C. Stumpf, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2008, Art. 3 EU, Rn. 1. Näher K. Lenaerts/T. Corthaut, Towards an Internally Consistent Doctrine on Invoking Norms of EU Law, in: S. Prechal/B. van Roermund (Hrsg.), The Coherence of EU Law, 2008, S. 495; T. Giegerich, Verschmelzung der drei Säulen der EU durch europäisches Richterrecht, ZaöRV 67 (2007), S. 1. Nunmehr wegweisend EuGH, Rs. C-301/06, Irland/Parlament und Rat, Slg. 2009, I-0000, Rn. 56. Zuvor beschrieb der EuGH bisweilen EU-Recht und EG-Recht als „integrierte, aber verschiedene Rechtsordnungen“: verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 34), Rn. 202.
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Die Annahme der rechtlichen Einheit des Unionsrechts kann auch mit dem Kohärenzprinzip begründet werden. Dieses beruht auf dem Prinzip der Gleichheit der Rechtsgenossen, bildet den Fluchtpunkt für rechtswissenschaftliche Systemund damit Einheitsbildung und ermöglicht eine dem Recht immanente Kritik auseinanderlaufender Regelungslogiken und Rechtsprechungslinien. Positivrechtlich ist dies dem Gleichheitsprinzip (Art. 20 GR-Charta) sowie Bestimmungen wie Art. 3 Abs. 1 EU, Art. 225 Abs. 2 und 3 EG zu entnehmen (Art. 13 Abs. 1 EUVLiss., Art. 256 Abs. 2 und 3 AEUV). Kohärenz ist kein Prinzip mit allgemeinem Vorrang, Divergenz mag gute Gründe haben.107 Diese Annahme einer rechtlichen Einheit der Unionsrechtsordnung behauptet nicht, dass sich das positive Verfassungsrecht oder gar die darauf bezogene Rechtsprechung zu einem harmonischen Ganzen fügen. Die Annahme einer Unionsrechtsordnung, die das Gemeinschaftsrecht als seinen Hauptteil umschließt, bestreitet daher nicht, dass eine Reihe von Rechtsinstituten des Gemeinschaftsrechts gar nicht oder nur eingeschränkt unter Titel V und VI zur Anwendung kommen. Die allgemeine Linie lautet, dass die gemeinschaftsrechtlichen Prinzipien Anwendung finden, wenn dies mit den spezifischen Regelungen des Unionsvertrags vereinbar ist.108 Der Vertrag von Lissabon bietet zwar erhebliche Systematisierungsfortschritte und verringert diese Fragmentierung,109 überwindet sie aber keineswegs, wie das Protokoll betreffend die Sonderposition des Vereinigten Königreichs und Polens unter der Grundrechte-Charta zeigt.110 Selbst unter der Prämisse einer einheitlichen Geltung der Grundprinzipien fragt sich, ob der einheitlichen Geltung eine einheitliche Bedeutung in verschiedenen Teilen des Unionsrechts entspricht. So gibt es mit Blick auf das Demokratieprinzip eine duale Legitimationsstruktur durch Rat und Parlament nur unter den Kompetenzen des EG-Vertrags, und der für das Prinzip des Rechtsstaats so wichtige Rechtsschutz durch den EuGH ist in wichtigen Bereichen beschränkt, teilweise gar ausgeschlossen. Dies lässt Zweifel an dem rechtsdogmatischen Nutzen einer übergreifenden Prinzipienlehre aufkommen und gibt Anlass zu dem Verdacht, dass sie weniger die Frucht rechtswissenschaftlicher Erkenntnis denn Instrument integrationspolitischer, föderalistischer Strategien sein könnte; zu Unrecht. Da die in Art. 6 EU (Art. 2 EUVLiss.) niedergelegten Grundsätze für alle Bereiche der Union gelten, kann einer darauf aufbauenden, alle Verträge übergreifenden Prinzipienlehre kaum die Berechtigung abgesprochen werden. Art. 6 EU verlangt geradezu, eine allgemeine Prinzi-
107 108 109 110
Ausf. F. Chirico/P. Larouche, Conceptual Divergence, Functionalism, and the Economics of Convergence, in: Prechal/van Roermund (Fn. 106), S. 463. Ausf. U. Everling, in diesem Band, S. 988 ff. R. Streinz u.a., Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 2008, S. 33 f. Vorschläge zum Umgang bei M. Dougan, The Treaty of Lisbon 2007, CMLRev. 45 (2008), S. 617 (665 ff.); so ungewöhnlich ist dies nicht, A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429.
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pienlehre für das gesamte Unionsrecht zu entwickeln.111 Das „Beruhen“ der Union auf den Prinzipien des Art. 6 Abs. 1 EU, und mehr ihr „Gründen“ im Falle des Art. 2 EUV-Liss., enthält ein beträchtliches normatives Programm. Man kann so den EUVertrag gar als eine Verfassung deuten, welche selbst Maßstäbe zur Feststellung von Defiziten und Leitlinien für deren Überwindung niederlegt.112 Eine übergreifende Prinzipienlehre ist danach möglich. Ist dieser grundsätzliche Einwand aus dem Feld geschlagen, so lässt es doch die starke Sektoralisierung zahlreicher primärrechtlicher Regelungsbereiche problematisch erscheinen, welche vertraglichen Regeln als Konkretisierungsstrategie eines abstrakten Prinzips gedeutet werden können. Man kann sowohl das Verfahren der Mitentscheidung nach Art. 251 EG wie auch die alleinige Entscheidungskompetenz des Rates unter dem Einstimmigkeitserfordernis als Verwirklichung des Demokratieprinzips begreifen. Diese Untersuchung meint jedoch, dass für die Ausbildung einer unionalen Prinzipienlehre der supranationale Standardfall, auch als Gemeinschaftsmethode bezeichnet,113 begründbar verwandt werden kann. Der Vertrag von Lissabon stützt diese These mit der Einführung des „ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens“, Art. 289 AEUV.114 Insgesamt steht zu erwarten, dass unter der Geltung des Vertrags von Lissabon die Grundprinzipien des Art. 2 EUV-Liss. im Lichte der Aussagen des EUVertrags konkretisiert werden, so dass abweichende Regelungen im AEU-Vertrag dann als Ausnahme behandelt werden. Gerade in seiner Lissabonner Fassung enthält der EU-Vertrag Momente einer Manifestverfassung, welche der Vertrag über die Arbeitsweisen der EU nur unvollständig durchführt. Der rechtliche Umgang mit den daraus resultierenden Spannungen sollte prinzipiengeleitet sein, zumal spezifische Regeln kaum zur Verfügung stehen. Die weitere Konstitutionalisierung Europas verlangt, den normativen Gehalt des neuen EU-Vertrags, insbesondere der Titel I und II, auszuleuchten und hermeneutische und rechtspolitische Strategien seiner Realisierung zu entwickeln. Ein Verständnis in der Tradition des europäischen Konstitutionalismus, wie hier zugrunde gelegt, wird darauf dringen, die dem EUV-Lissabon zugrundeliegende Idee der gewaltenteiligen, grundrechtsschützenden Repräsentativverfassung über alle Teile und Protokolle auszudehnen. Es wird aber nicht versuchen, die Kompetenzen der Union zu Lasten der Mitgliedstaaten auszudehnen oder spezifische Maßstäbe zu derogieren. Eine übergreifende Prinzipienlehre kann spezifische, und insbesondere anders ausgerichtete Sektoralregelungen nicht überspielen, soll ein 111 112 113
114
Ein ähnliches Anliegen kann der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 GG entnommen werden. A. v. Bogdandy, The Prospect of a European Republic, CMLRev. 42 (2005), S. 913 (934 ff.). So im Verfassungsvertrag, dazu C. Calliess, in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-1 VVE, Rn. 47 f.; zur Gemeinschaftsmethode J. Bast, Einheit und Differenzierung der Europäischen Verfassung, in: Becker (Fn. 7), S. 34 (52 ff.). In diese Richtung EuGH, Rs. C-133/06, Parlament/Rat, Slg. 2008, I-3189, Rn. 63; in der für ihn neuen Unterscheidung zwischen parlamentarisch mitverantworteter Gesetzgebung und bloßer Rechtsetzung; wegweisend K. Lenaerts, etwa in: Sénat et Chambre des représentants de Belgique, Les finalités de l’Union européenne, 2001, S. 14 (15).
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wesentliches Grundprinzip nicht verletzt werden: Art. 6 Abs. 3 EU i.V.m. Art. 48 EU legt ein klares Zeugnis ab, dass die verfassungsrechtliche Dynamik unter der Kontrolle der nationalen Parlamente bleiben soll.115 Eine gegenüber dem konkreten Regelungsbestand der Verträge entfesselte Prinzipienargumentation würde wesentliche Gehalte des Unionsverfassungsrechts verkennen: Die EU-Verfassung ist eine Verfassung des Details, dies korrespondiert mit der Heterogenität ihrer politischen und sozialen Basis.116 Dieser Detailreichtum drückt diese Vielfalt, aber auch das bestehende Misstrauen und Kontrollbedürfnis der EU-Mitgliedstaaten aus.
IV. Prinzipielles zum Verhältnis Union – Mitgliedstaaten 1.
Einheitsbildung unter dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit
a)
Rechtstaatlichkeit und überstaatliches Recht
Unter den Grundprinzipien des Art. 6 Abs. 1 EU kommt der Rechtsstaatlichkeit die größte operative Bedeutung im Unionsrecht zu. Entsprechend der Leitthese dieses Beitrags, dass sich die unionalen Grundprinzipien am besten aus der föderalen Spannungslage erklären, werden im Folgenden das Rechtsstaatsprinzip und das dieses konkretisierende Recht entfaltet. Diese Darstellung des Rechtsstaatsprinzips wird Kontinuität und Innovation gegenüber staatlichem Verfassungsdenken aufweisen und zugleich den Prinzipienbestand des acquis communautaire in einem verfassungsrechtlichen Licht neu beleuchten. Einheit ist konstitutiv für Vielfalt.117 Entsprechend bildeten sich im Verlauf der Integration zunächst die Einheit stiftenden Prinzipien aus. In verfassungsrechtsdogmatischer Rekonstruktion erscheint die Rechtsstaatlichkeit als das wichtigste Einheit stiftende Prinzip. Rechtsstaatlichkeit wurde als erstes der klassischen Verfassungsprinzipien für das Gemeinschaftsrecht gefordert. 1964 stellte Joseph H. Kaiser programmatisch fest: „Es ist Beruf unserer Zeit einen europäischen Rechtsstaat zu schaffen.“118 Diese Terminologie ist ob des Elements der Staatlichkeit misslich.119 Treffender erscheint der Terminus Herrschaft des Rechts (rule of law oder prééminence du droit).120 Gleichwohl machte sich 1997 der Vertragsgeber diese 115 116
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119 120
EuGH, Gutachten 2/94 (Fn. 48), Rn. 10 ff.; Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419. J. C. Piris, The Constitution for Europe, 2006, S. 59. Dies schließt gewiss Straffungen und Abstraktionen an vielen Stellen nicht aus, B. de Witte, Too Much Constitutional Law in the European Union’s Foreign Relations?, in: M. Cremona/ders. (Hrsg.), EU Foreign Relations Law, 2008, S. 3 (7). G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, 1932 (Orig. 1812, Ausgabe Lasson), S. 59. J. H. Kaiser, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 1 (33). Ähnlich die deutsche Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert, E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1992, S. 143 ff. M. Zuleeg, in: Groeben/Schwarze (Fn. 2), Art. 1 EG, Rn. 4. Gerkrath (Fn. 55), S. 347.
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Terminologie zu Eigen und legte in Art. 6 Abs. 1 EU ein Prinzip nieder, das die meisten Sprachfassungen als Rechtsstaatlichkeit bezeichnen.121 Die Herrschaft des Rechts ist fundamental für den Entwicklungspfad, den die Integration genommen hat. In ihr findet sich eine differentia specifica gegenüber dem Völkerrecht. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit eröffnet eine verfassungsrechtliche Deutung der Rechtsprechung des EuGH, die seit den frühen sechziger Jahren auf eine Verrechtlichung des Integrationsprozesses und eine Autonomisierung des europäischen Rechts gegenüber politischen und administrativen Akteuren abzielt.122 Als Prinzip führt es das größte „Eigenleben“ und trägt weitreichende Rechtsfortbildungen, die Europa transformierten123 und verfassten.124 Offensichtlich sind die zuständigen Richter, europäische wie mitgliedstaatliche, der Auffassung, dass sie mit dem Auftrag versehen sind, auch ohne klare vertragliche Vorgaben die Integration prätorisch zu verrechtlichen. Gegen dieses Verständnis des Rechtsstaatsprinzips mag man einwenden, dass der EuGH nur ganz selten das Wort Rechtsstaat nutzt; es findet erst in jüngster Zeit und nur in wenigen Urteilen Verwendung.125 Eine Volltext-EUR-Lex-Recherche ergibt in der Kombination „Rechtsstaat“ und „Gerichtshof“ (einschließlich Generalanwälte und EuG) ganze 16 Treffer; ein viel genutztes Wort ist Rechtsstaat gewiss nicht.126 Ähnliches gilt für die Rechtsgemeinschaft, also jenen Begriff Walter Hallsteins,127 der – bei Vermeidung des konfliktträchtigen Begriffs der Staatlichkeit – die Gemeinschaft im Lichte rechtsstaatlicher Postulate deutet. Selbst dieser rechtswissenschaftliche Schlüsselbegriff 128 findet beim EuGH (einschließlich der Generalanwälte) nur 78 Mal Verwendung.129 Die konkrete Terminologie des EuGH ist jedoch ebenso wie historische Motivationslagen für eine dogmatische Konstruktion zweitrangig. Entscheidend ist für eine autonome Rechtswissenschaft vielmehr, welchen Erkenntniswert eine prinzipienbasierte Erfassung des Rechtsmaterials bietet. Es ist zu zeigen, dass die Rechtsinstitute, die die Herrschaft des Gemeinschaftsrechts begründen, im Rechtsstaatsprinzip ihre verfassungsrechtlich passende Grundlage finden. 121 122 123 124 125 126
127 128
129
Anders aber die englische Fassung. Klassisch J. H. H. Weiler, The Community System, YEL 1 (1981), S. 267. So der prägnante Titel von J. H. H. Weiler, The Transformation of Europe, YLJ 100 (1991), S. 2403. E. Grabitz, Der Verfassungsstaat in der Gemeinschaft, DVBl. 92 (1977), S. 786 (791); Stein (Fn. 50). Vgl. insb. EuGH, Rs. C-303/05 (Fn. 104), Rn. 45. Die Suchmaschine unter curia.eu weist 30 Treffer für die letzten 11 Jahre nach. Die Eur-LexZahlen sind also nur wenig belastbar. Für die Zwecke dieses Arguments reichen sie jedoch aus. W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 1973, S. 31 ff.; ders., Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 33 ff.; zur Rezeption Fernandez Esteban (Fn. 67), S. 154 f. Näher S. Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel, in: E. SchmidtAßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 223. EuGH, Rs. 294/83 (Fn. 20), Rn. 23.
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b) Das Prinzip der Wirksamkeit Die erste Bedingung von Rechtsstaatlichkeit ist die Herrschaft des Rechts, seine Wirksamkeit insbesondere gegenüber Hoheitsträgern. Um dies zu erreichen, hat der EuGH in zahlreichen Entscheidungen Rechtsinstitute entwickelt, welche in der föderalen Spannungslage die Mitgliedstaaten als die kritischsten Adressaten des Gemeinschaftsrechts einbinden sollen. Nicht 16 oder 78, sondern 2439 Mal hat er, so EUR-Lex, bislang das Argument der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts bemüht. Die (nützliche, praktische, volle) Wirksamkeit (effet utile) kann man als richterrechtliches Prinzip deuten, das mehr als alle anderen das Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten strukturiert.130 Es verpflichtet die Mitgliedstaaten, den Regelungszweck einer gemeinschaftsrechtlichen Norm zu realisieren, und kann im Konfliktfall hierfür erforderliche Rechtsfolgen generieren.131 Es umfasst alle richterrechtlichen Institute, die dem Gemeinschaftsrecht Wirksamkeit in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verschaffen; diese bilden ihrerseits wichtige Normen und somit Prinzipien. Es handelt sich vor allem um die Autonomie des Gemeinschaftsrechts,132 die unmittelbare Wirksamkeit von Vertragsbestimmungen,133 Entscheidungen,134 Richtlinien135 sowie völkerrechtlichen Pflichten,136 um deren Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht,137 das Gebot effektiver und gleichwertiger Durchführung138 sowie die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung.139 Aus einer staatsrechtlichen Perspektive mag diese Konstruktion verwundern, denkt man beim Prinzip des Rechtsstaats doch in erster Linie an die Beschränkung, nicht an die Begründung von Herrschaft. Jedoch liegt das erste Moment eines Prinzips der Rechtsstaatlichkeit darin, dass das Recht herrscht, also Rechtsnormen wirksam sind. Ein verfassungsrechtliches Verständnis des Unionsprimärrechts setzt voraus, dass die Union Hoheitsgewalt ausübt, dass also das Unionsrecht dank glaubwürdiger Durchsetzungsmechanismen nicht auf die konkrete Folgebereit130
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S. Prechal, Direct Effect, Indirect Effect, Supremacy and the Evolving Constitution of the European Union, in: C. Barnard (Hrsg.), The Fundamentals of EU Law Revisited, 2007, S. 35; R. Streinz, Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des EuGH, in: FS Everling, 1995, S. 1491. Näher M. Accetto/S. Zleptnig, The Principle of Effectiveness, European Public Law 11 (2005), S. 375. EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 (1269 f.); zu den diversen Dimensionen dieser Autonomie Peters (Fn. 89), S. 242 ff. EuGH, Rs. 26/62 (Fn. 20), 24 f.; EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 34), Rn. 282. EuGH, Rs. 9/70, Grad, Slg. 1970, 825, Rn. 5; dazu E. Grabitz, Entscheidungen und Richtlinien als unmittelbar wirksames Gemeinschaftsrecht, EuR 1971, S. 1. EuGH, Rs. 8/81, Becker, Slg. 1982, 53, Rn. 29 f. EuGH, Rs. 181/73, Haegeman, Slg. 1974, 449, Rn. 2 ff. EuGH, Rs. 6/64 (Fn. 132), 1269; Rs. 92/78, Simmenthal/Kommission, Slg. 1979, 777, Rn. 39; Rs. C-213/89, Factortame, Slg. 1990, I-2433, Rn. 18; Rs. C-285/98, Kreil, Slg. 2000, I-69. EuGH, verb. Rs. 205/82 u.a., Deutsche Milchkontor, Slg. 1983, 2633, Rn. 22; Rs. C-261/95, Palmisani, Slg. 1997, I-4025, Rn. 27. EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 (Fn. 21), Rn. 33 ff.
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schaft des Adressaten in jedem Einzelfall angewiesen ist. Dem Prinzip kommt jedoch zugleich legitimatorische Bedeutung zu: Zum einen ist die Wirksamkeit unerlässlich für die sog. Output-Legitimation der Union, zum anderen ist die einheitliche Wirksamkeit des Rechts unerlässlich für die rechtliche Gleichheit der Rechtsunterworfenen.140 Die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts ist aufgrund seiner völkerrechtlichen Genese keineswegs selbstverständlich: Das Völkerrecht kennt viele Verträge, allen voran die Satzung der Vereinten Nationen, deren Wirksamkeit sowohl gegenüber den Mitgliedern als auch gegenüber den Organen problematisch ist. Zugleich findet sich an dieser Stelle eine, vielleicht die wesentliche Differenz zwischen der Union als Herrschaftsträger und einem Staat: ihre fehlenden Zwangsmittel. Die Wirksamkeit staatlicher Rechtsnormen steht in aller Regel aufgrund des Konnexes von staatlicher Regelungs- und Zwangsgewalt außer Frage. Die Herrschaft des Rechts im Sinne seiner Wirksamkeit wird beim staatlichen Recht entwickelter liberaldemokratischer Staaten allenfalls in Randbereichen thematisiert, im Übrigen aber als selbstverständlich vorausgesetzt.141 Die Union hingegen ist in diesem Sinne (nur) eine Rechtsgemeinschaft und, ungeachtet einer Reihe von Sanktionsinstrumenten, eben keine Zwangsgemeinschaft.142 Bedenkt man, wie viele Theorien das Zwangsmoment bis heute gar als konstituierend ansehen,143 so findet sich hier die erste Herausforderung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit im Unionsrecht. Entsprechend haben sich die verschiedenen Grundanliegen einer Herrschaft des Rechts seit den sechziger Jahren als erste Aspekte des europäischen Verfassungsgedankens zu primärrechtlichen Prinzipien verdichtet; gemeinhin beginnt die Erzählung der Konstitutionalisierung just mit jenen Entscheidungen, die auf die Stärkung der Wirksamkeit des Rechts abzielen, dessen Normativität und Eigenstand.144 Die föderale Bedeutung des Prinzips der Wirksamkeit wird erst vollständig erfasst, zieht man in die Betrachtung ein, dass dieses Prinzip die Rechtsunterworfenen der Mitgliedstaaten stärkt und zu Akteuren der überstaatlichen Rechtsordnung macht. Ipsen schuf den programmatischen Begriff des Marktbürgers.145 Anders als in einer staatlichen Rechtsgemeinschaft sind in einer transnationalen Rechtsgemeinschaft das Systeminteresse an seiner Wirksamkeit und das Interesse des Einzelnen an der Durchsetzung einer ihn begünstigenden Norm gleichursprünglich 140 141 142
143 144 145
M. Nettesheim, Der Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, in: GS Grabitz (Fn. 46), S. 447 (448 ff.). Art. 3 Abs. 1 GG; BVerfGE 66, 331 (335 f.); 71, 354 (362). Hallstein, Die Europäsiche Gemeinschaft (Fn. 127), S. 33 ff.; S. Bitter, Procedural Rights and the Enforcement of EC Law Through Sanctions, in A. Bodnar u.a. (Hrsg.), The Emerging Constitutional Law of the European Union, 2003, S. 15; anders M. Nettesheim, Kompetenzen, in diesem Band, S. 419. J. Derrida, Gesetzeskraft, 1991, S. 73; H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1994, S. 20 ff.; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 34. Stein (Fn. 50); Weiler (Fn. 122). Ipsen (Fn. 10), S. 187.
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und gleichgerichtet: Normgeber (EU) wie Normbegünstigter (Bürger) stehen in ähnlicher Angewiesenheit auf die nationalen Gerichte dem Nationalstaat als Normverpflichtetem gegenüber. Die der Herrschaft des europäischen Rechts dienenden Prinzipien sind konstitutiv und unauflöslich mit beiden Interessen verbunden. Die „Instrumentalisierungsthese“146 (mit dem unterschwelligen Vorwurf eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG) vermengt Motivationsforschung mit Dogmatik. Die Herrschaft des Rechts ist für den Bestand der Union wichtiger als für einen Nationalstaat. Walter Hallstein formulierte, die Gemeinschaft sei nichts als ein Geschöpf des Rechts.147 Dies ist vor dem Hintergrund eines Verständnisses des Nationalstaates zu lesen, das ihm ein „vorrechtliches Substrat“ zuschreibt. Man mag die Vorgängigkeit des Staates vor der Verfassung ebenso bestreiten148 wie die Überhöhung des Gemeinschaftsrechts als wichtigstes Moment des europäischen Zusammenhalts.149 Die integrative Rolle gemeinsamen Rechts ist angesichts der Knappheit anderer Integrationsfaktoren wie Sprache oder Geschichte jedoch kaum zu bestreiten.150 Es gilt Tocquevilles Einsicht, dass die Rechtsförmigkeit in freiheitlichen politischen Gebilden kontinentaler Reichweite von besonderem Gewicht für die gesellschaftliche Integration ist.151 Insofern gibt der Begriff der Rechtsgemeinschaft treffend die besondere Bedeutung der Rechtsförmigkeit für den Zusammenhalt in der Union wieder; das neue Bemühen, die Union zudem als Wertegemeinschaft darzustellen, kann dies allenfalls ergänzen, niemals jedoch ersetzen. Die Schwierigkeiten, die Wirksamkeit überstaatlichen Rechts von einer hochgradig zentralisierten Institution (Brüssel und Luxemburg) aus gegenüber widerstreitenden staatlichen Bestimmungen und Praktiken zu sichern, erklären einige problematische Rigiditäten des europäischen Rechts, die nicht immer gegenläufigen Prinzipien gerecht werden. Besonders häufig ist der Konflikt mit den Prinzipien der beschränkten Ermächtigung, der Subsidiarität und der Rechtssicherheit. Die Bearbeitung dieser Konflikte nach den allgemeinen Lehren vom Umgang mit Prinzipienkollisionen eröffnet der Weg zu ausgewogeneren Lösungen.152 Dass der EuGH 146 147 148
149 150 151
152
T. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 175. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft (Fn. 127), S. 33; U. Everling, Bindung und Rahmen, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität Europas, 1985, S. 152. Grundlegend Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (Fn. 31); H. Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz, Die Verwaltung 1999, S. 241. Kritisch R. Dehousse/J. H. H. Weiler, The Legal Dimension, in: W. Wallace (Hrsg.), The Dynamics of European Integration, 1991, S. 242. Ausf. F. Hanschmann, Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, 2008, S. 149 ff. A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835), 1985, S. 78 ff., 99 f.; G. Bermann, The Role of Law in the Functioning of Federal Systems, in: Nicolaidis/Howse (Fn. 101), S. 191. S. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, S. 270 f.; M. Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt in der Europäischen Union, 2004, S. 104 ff. Rigide C. Kakouris, Do the Member States Possess Judicial „Procedural“ Autonomy?, CMLRev. 34 (1997), S. 1389.
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hier keine kategorische Linie zugunsten des Prinzips der Wirksamkeit fährt, zeigt sich etwa in seiner schwankenden Rechtsprechung betreffend die Bestands- und Rechtskraft von gemeinschaftsrechtswidrigen Akten.153 Diese Deutung der Wirksamkeit als Aspekt des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit mag in Zweifel ziehen, wer die einschlägige Rechtsprechung als ultra vires und in den Konsequenzen unverantwortlich ansieht; das Francovich-Urteil etwa war Anlass zu entsprechenden Aussagen.154 Es ist Aufgabe der Rechtswissenschaft, richterrechtliche Entwicklung auf Kompetenz, Konsistenz und Konsequenzen zu prüfen, und gewiss sind bei einzelnen Entscheidungen Nachfragen wohl begründet. In ihrer Gesamtstoßrichtung ist diese Rechtsprechungslinie jedoch weder von dem Vertragsgeber, noch von den staatlichen Gerichten oder der Wissenschaft in Frage gestellt worden. Das unionale Rechtsstaatsprinzip im konkretisierenden Prinzip der Wirksamkeit erhellt die Gestalt der unionalen Rechtsordnung anhand ihres spezifischen Verhältnisses zu den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Es ist eine Rechtsordnung, deren Wirksamkeit dem Recht entwickelter Bundesstaaten gleichkommt, deren Instrumente jedoch in bundesstaatlich-hierarchischer Perspektive kaum zu fassen sind. Dies zeigt besonders deutlich der Vorrang, da er die Frage nach der Hierarchie, dem wichtigsten Instrument der Einheitsstiftung, stellt. Zunächst als Ausdruck einer autonomen Rechtsordnung konzipiert,155 setzte sich rasch die Erkenntnis seiner verfassungsrechtlichen156 und föderalen157 Bedeutung durch. In der Ausbildung dieses Prinzips lassen sich wesentliche Entwicklungslinien der Union zur supranationalen Föderation nachzeichnen. Bereits in der Entscheidung gegen den Geltungs- und für den Anwendungsvorrang158 findet sich ein signifikantes pluralistisches Gestaltmoment. Zudem ist aus dem Blickwinkel des Unionsrechts allein das Prinzip des Vorrangs nicht vollständig zu verstehen. Bekanntlich gehen der Gerichtshof und inzwischen auch das vertragliche Primärrecht von einem unbedingten Vorrang vor jedem staatlichen Recht einschließlich des staatlichen Verfassungs-
153
154 155 156 157 158
Zu bestandskräftigen nationalen Verwaltungsentscheidungen: EuGH, Rs. C-208/90, Emmott, Slg. 1991, I-4269, Rn. 16 ff.; Rs C-224/97, Ciola, Slg. 1999, I-2517, Rn. 21 ff.; Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837, Rn. 23 ff.; zu rechtskräftigen Urteilen: Rs. C-234/04, Kapferer, Slg. 2006, I-2585, Rn. 20 ff.; Rs. C-119/05, Lucchini, Slg. 2007, I-6199, Rn. 59 ff. F. Ossenbühl, Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, DVBl. 1992, S. 993 (995 f.). Der Hinweis auf die Verfassung aber schon bei GA Lagrange zu EuGH, Rs. 6/64 (Fn. 132), 1289 (1291). E. Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966, S. 100. Stein (Fn. 50), S. 12. Für den Geltungsvorrang Grabitz (Fn. 156), S. 113; zum Anwendungsvorrang G. Hoffmann, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Gemeinschaften zum Recht der Mitgliedstaaten, DÖV 1967, S. 433 (439); M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 140 f.
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rechts aus,159 während die meisten mitgliedstaatlichen Höchstgerichte den Vorrang des Unionsrechts nicht vollständig akzeptieren.160 Das Prinzip des Vorrangs stiftete keine vollständige Einheit; vielmehr findet sich am zentralen Punkt des Verfassungsverbunds aufgrund der konkurrierenden Regelungsansprüche ein ‚ungeregeltes‘ Verhältnis. Dies wird unter dem Vertrag von Lissabon so bleiben.161 Eine Reihe von Autoren sieht in dieser Offenheit keinen Mangel, sondern begreift sie als Ausdruck einer Verfassungsstruktur, die Union und Mitgliedstaaten grundsätzlich angemessen sei,162 solange die Offenheit mit Prinzipien der beteiligten Rechtsordnungen umbaut ist, namentlich mit Verpflichtungen zur gegenseitigen Rücksichtnahme und Kooperation. c) Das Prinzip umfassenden Rechtsschutzes Das Prinzip der Wirksamkeit steht und fällt mit der Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle. Dies entspricht dem überkommenen Verständnis des Rechtsstaatsprinzips. Seine Entfaltung seit dem 19. Jahrhundert geht einher mit der Ausbildung gerichtlicher Kontrollen hoheitlicher Maßnahmen, so unterschiedlich die Entwicklung des öffentlichen Rechts im Übrigen auch gewesen sein mag. Ob Sieyès, Bähr, Austin, Orlando oder Dicey: Alle sehen ein engstes Band zwischen Recht und Richter. Nach diesem Verständnis erhält Recht seinen vollen Wirklichkeitsmodus erst dank eines unparteiisch entscheidenden Dritten im Konfliktfall.163 Die Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle hoheitlichen Handelns ist konstitutiv für Rechtsstaatlichkeit.164 Bei näherer Betrachtung zeigt sich gar, dass die meisten der unter b) dargestellten Rechtsinstitute gerichtliche Kompetenzen mit dem Ziel begründen, dass ein Gericht, zumeist der EuGH, die Gemeinschaftsrechtskonformität mitgliedstaatlichen Verhaltens effektiv kontrollieren kann. Bereits die bloße Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle ist ein wesentliches Moment zur Stärkung der Wirksamkeit des Rechts; die analytische Unterscheidung zwischen der Rechtsschutz- und Steuerungsperspektive bezeichnet keinen Gegensatz. Über lange Zeit stand der entsprechende Ausbau des Vorabentscheidungsverfahrens von Art. 234 EG im Mittelpunkt der Entwicklung.165 Das in Art. 234 EG begründete Zusammenwirken von EuGH und mitgliedstaatlichen Gerichten ist konstitutiv für Verrechtlichung und Konstitutionalisierung des europäischen Integrationsprozesses, da es die Rechtsauffassung des EuGH mit der Autorität staatlicher Urteile verbindet und so eine strukturelle Schwäche überstaatlicher Gerichtsbarkeit überwindet. Es wird ergänzt durch die 159 160 161 162 163 164 165
Die primärrechtliche Aussage ergibt sich aus Punkt 2 des Protokolls zum Amsterdamer Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Ausführlich F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 87 ff. S. Kadelbach, Vorrang und Verfassung, in: FS Zuleeg, 2005, S. 219 (228 ff.). Hierzu die Beiträge von C. Grabenwarter und F. Mayer, in diesem Band, S. 173 ff. bzw. S. 601 f. A. Kojève, Esquisse d’une phénoménologie du droit, 1982, § 13. Ausführlich L. Heuschling, État de droit, Rechtsstaat, Rule of Law, 2002, passim, zusammenf. S. 662. F. Mayer, in diesem Band, S. 562 ff.; diese Kontrolle kann auch im Verfahren des Art. 230 EG stattfinden, EuGH, Rs. C-64/05 P, Schweden/Kommission, Slg. 2007, I-11389, Rn. 93 f.
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gemeinschaftsrechtliche Pflicht, gegenüber jedem mitgliedstaatlichen Handeln, das gemeinschaftsrechtliche Rechtspositionen verletzt, den Rechtsweg zu den nationalen Gerichten zu eröffnen.166 Wenn das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG zum zentralen gerichtlichen Kontrollinstrument der Union erstarkt ist, so kann es doch kaum in traditionellen, nämlich hierarchischen Kategorien erfasst werden. Es begründet keinen hierarchischen Instanzenzug, sondern ein Kooperationsverfahren. Der EuGH bleibt auf eine Bereitschaft der mitgliedstaatlichen Gerichte angewiesen, die er kaum erzwingen kann.167 Dies erklärt viele Eigenheiten des gerichtlichen Rechtsschutzes in der Europäischen Union.168 Kurzum: Die europäische Rechtseinheit ist nicht unitarisch und hierarchisch, sondern als pluralistisch und dialogisch zu begreifen. Natürlich erschöpft sich das Prinzip des gerichtlichen Rechtsschutzes nicht in der Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns im Verfahren des Art. 234 EG, sondern verlangt zudem Rechtsschutz gegen unionale Maßnahmen.169 Systemprägend für das föderale Verhältnis ist jedoch das Vorabentscheidungsverfahren in seiner spezifischen Mischung kooperativer und einheitsstiftender Momente. 2. Prinzipien des politischen Prozesses a) Rechtsstaatlichkeit und Legalitätsprinzip Die Rechtsfortbildung unter dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit führte zu rechtlicher Einheitsbildung, transformierte, föderalisierte, konstitutionalierte das Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten. Allerdings hat diese Rechtsfortbildung einen klaren Fokus: Sie sichert, dass das im politischen Prozess der Union erarbeitete Recht von den Mitgliedstaaten beachtet und implementiert wird. So lästig dies für die Mitgliedstaaten bisweilen sein mag, sie können dank dieser Rechtsfortbildung im Großen und Ganzen davon ausgehen, dass alle mitgliedstaatlichen Stellen sich dem gemeinsamen Recht fügen.170 Rechtsetzung in der Union ist mehr als symbolische Politik, sie gestaltet. Diese richterrechtliche Erschwerung mitgliedstaatlichen Ungehorsams bedingt einen Bedeutungszuwachs der Prinzipien des politischen Prozesses.171 Entsprechend bildeten sich kongeniale Prinzipien des politischen Prozesses aus, ebenfalls 166 167
168 169 170
171
EuGH, Rs. 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1651, Rn. 17 ff., bestätigt in Art. 47 GR-Charta. Ein Versuch in EuGH, Rs. C-224/01, Köbler, Slg. 2003, I-10239, Rn. 30 ff. Die gemeinschaftsrechtliche Pflicht wird extern abgestützt, so insb. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, BVerfGE 73, 339 (366 ff.); 75, 223 (233 ff.). Auch hierin zeigt sich die kooperative Struktur. Statt aller R. Dehousse, The European Court of Justice, 1998, S. 28 ff.; U. Haltern, Europarecht, 2007, Rn. 13 ff. Unten, V. 3. Die ist im Völkerrecht trotz zahlreicher Innovationen weit weniger der Fall; instruktiv der Vergleich mit dem internationalen Umweltrecht, siehe R. Michell, Compliance Theory, sowie J. Klabbers, Compliance Procedures, beide in: D. Bodansky/J. Brunnée/E. Hey (Hrsg.), International Environmental Law, 2007, S. 893 sowie 995. Wegweisend J. H. H. Weiler, The European Community in Change: Exit, Voice and Loyalty, 1987.
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in einer rechtsstaatlichen Dimension. Denn das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit bezieht sich natürlich nicht allein auf die Rechtsanwendung, sondern auch auf die europäische Rechtsetzung. Dies baute der EuGH mit Blick auf Kompetenzen und Verfahren aus, so dass die einschlägigen Prinzipien das föderale Verhältnis und die Verfassungsnatur des Primärrechts weiter konturieren. Dieser Aspekt des Rechtsstaatsprinzips kann als das Prinzip verfassungsmäßiger Legalität des Unionshandelns bezeichnet werden.172 Es gliedert sich in die negative und die positive Legalität. Nach dem Prinzip der negativen Legalität (Vorrang der Verträge) hat jegliches Handeln, das der Union zugerechnet werden kann, die Normen höheren Rangs zu beachten.173 Jeder Akt des abgeleiteten Rechts muss mit der Gesamtheit der Vertragsnormen und ranggleichen allgemeinen Prinzipien in Übereinstimmung stehen.174 Dies begründet eine strikte interne Hierarchie, den Stufenbau der Unionsrechtsordnung: Das von den Organen der Union erzeugte Sekundärrecht bildet eine einheitliche Rangstufe unter dem Primärrecht.175 Art. 5 EU (modifiziert Art. 13 Abs. 2 EUV-Liss.) formuliert diesen Maßstabscharakter der Verträge für alle Handlungen der Hauptorgane der Union in allen Bereichen (also auch Titel V und VI EU). Das Prinzip der negativen Legalität gilt ausnahmslos: Es herrscht der absolute Vorrang der Unionsverfassung. Die Unionsorgane sind an die mitgliedstaatlich ratifizierten Verträge gebunden. Gewiss: Der Vorrang des Unionsrechts untersteht nicht vollständig gerichtlicher Kontrolle. Dies gilt insbesondere für Maßnahmen unter Titel V EU: Die europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist, auch unter dem Vertrag von Lissabon, als ein gubernatives Arcanum konzipiert, ohne hinreichende gerichtliche und parlamentarische Kontrollen.176 Problematisch ist auch der Europäische Rat. Obwohl er seine Grundlage in Art. 4 EU findet und so ein Organ der Union bildet, steht er nach seinem Selbstverständnis außerhalb der Union: Er hat entsprechend die Charta der Grundrechte nicht proklamiert. Ähnlich wie der König in den konstitutionellen Regimen des 19. Jahrhunderts ist er unverantwortlich und kann „nicht Unrecht thun“,177 verbleibt außerhalb des verfassungsrechtlich organisierten Gefüges rechtlicher und politischer Verantwortung.178 Der Vertrag von Lissabon ist in dieser Hinsicht zweischneidig. Zwar dürfte unter ihm die Organeigenschaft un-
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177 178
Näher A. v. Bogdandy/J. Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441. Rechtsvergleichend A. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 166. EuGH, Rs. 294/83 (Fn. 20), Rn. 23; Gutachten 1/91 (Fn. 6), Rn. 21. Ausnahmsweise kennt das Unionsrecht allerdings die Befugnis der Unionsorgane, ohne Mitwirkung nationaler Stellen Primärrecht zu erzeugen (sog. autonome Vertragsergänzung). Dies ist aber auch im Recht der Mitgliedstaaten nicht ungewöhnlich. Allerdings dringt der EuGH vermittels Art. 47 EU auch in diesen Bereich vor, Rs. C-91/05, Kommission/Rat, Slg. 2008, I-3651, Rn. 32 f. C. v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, Lehrbuch der allgemeinen Staatslehre, 2. Aufl. 1840 (Neudruck 1964), S. 249 ff. EuGH, Rs. C-253/94 P, Roujansky/Rat, Slg. 1995, I-7, Rn. 11.
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bestritten sein (Art. 13 EUV-Liss.), die Mechanismen der Verantwortlichkeit bleiben jedoch schwach (Art. 263 Abs. 1 AEUV).179 Gleichwohl zeigt sich der ungeheure Erfolg der Konstitutionalisierung der Verträge bestens in dem Umstand, dass die Geltung des Legalitätsprinzips für den EGVertrag als trivial und sein Ausschluss insbesondere für Titel V EU-Vertrag als problematisch erscheint. So evident die Geltung dieses Prinzips heute erscheinen mag, so wenig selbstverständlich war es für die frühe Gemeinschaft.180 Die Maßstäblichkeit des Gründungsvertrags einer internationalen Organisation für das von ihr erzeugte Recht ist im Völkerrecht in den allermeisten Organisationen kaum gesichert, daher kaum ein Rechtsprinzip.181 Zu verdanken ist die strenge Hierarchisierung dem EuGH. Aus der Prämisse einer autonomen Rechtsordnung folgerte er die ausschließliche Maßgeblichkeit des vertraglich vorgesehenen Vertragsänderungsverfahrens (Art. 48 EU) und verhinderte damit eine paralegale Entwicklung der EU ebenso wie jede paralegale Einflussnahme der Mitgliedstaaten; eine entsprechende Konstitutionalisierung internationaler Organisationen steckt weiter in den Kinderschuhen.182 Das Legalitätsprinzip schützt die Mitgliedstaaten, da die Kompetenz zur Verfassungsfortschreibung und Verfassungsänderung bei den Mitgliedstaaten zur gesamten Hand liegt. Es unterliegt Art. 48 und 49 EU sowie dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, der in Art. 5 EU und Art. 5 Abs. 1 EG (Art. 5 Abs. 1 EUVLiss.) besonders deutlich zu Tage tritt und inzwischen zu einem eigenen Interpretationsprinzip ausgebaut wurde.183 Die diversen Passerelle-Klauseln sowie die Ausdifferenzierung des Vertragsänderungsverfahrens durch den Vertrag von Lissabon ändern hieran nichts. Das Legalitätsprinzip bedeutet, dass die strikte Normativität der Verträge sich weder durch informelle Absprachen vorübergehend suspendieren lässt,184 noch eine ständige Praxis der Organe Primärrecht derogieren kann.185 Auch das vom Rat ein179
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182 183 184 185
P. Dann, in diesem Band, S. 370 ff.; F. Botschi Orlandini, Principi costitutionali di struttura e Consiglio europeo, in: M. Scudiero (Hrsg.), Il diritto constituzionale comune Europeo, Volume Primo, 2002, S. 165. K. Carstens, Die kleine Revision des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, ZaöRV 21 (1961), S. 1 (14, 37). M. Barnett/M. Finnemore, The Power of Liberal International Organizations, in: M. Barnett/ R. Duvall (Hrsg.), Power in Global Governance, 2006, S. 161 (182); M. Diez de Velasco Vallejo, Las Organizaciones Internacionales, 2006, S. 138; G. Nolte, Lawmaking Through the Security Council, in: R. Wolfrum/V. Röben (Hrsg.), Developments of International Law in Treaty Making, 2005, S. 237 (239 ff.). Ausf. International Law Association, Accountability of International Organisations, Final Report, 2004, abrufbar unter: www.ila-hq.org/en/committees/index.cfm/cid/9 (9.09.2008). EuGH, Gutachten 1/94, WTO, Slg. 1994, I-5267, Rn. 9; Gutachten 2/94 (Fn. 48), Rn. 30; Rs. C-376/98 (Fn. 115), Rn. 83. EuGH, verb. Rs. 90/63 und 91/63, Kommission/Belgien und Luxemburg, Slg. 1964, 1329 (1345); Rs. 43/75, Defrenne, Slg. 1976, 455, Rn. 56. EuGH, Rs. 68/86, Großbritannien/Rat, Slg. 1988, 855, Rn. 24; Rs. C-271/94, Parlament/Rat, Slg. 1996, I-1689, Rn. 24, 34.
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stimmig erlassene Recht unterliegt dem Primärrecht, was die innerstaatlichen Parlamente gegenüber Eigendynamiken ihrer Regierungen schützt. Dies gilt, wie der EuGH gegen mitgliedstaatliche Widerstände durchgesetzt hat, uneingeschränkt selbst dann, wenn sich der Rat auf eine weite Befugnisnorm wie Art. 308 EG stützt.186 Hat hingegen nicht der Rat gehandelt, sondern eine die Gesamtheit der Mitgliedstaaten repräsentierende Staatenkonferenz (die „im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten“), so kommt – mit letztlich gleichem Effekt für die Wahrung der negativen Legalität – das Prinzip des Vorrangs vor mitgliedstaatlichem Recht zur Anwendung.187 In der verfassungstheoretischen Konsequenz führt dies zu einer bemerkenswerten Dichotomisierung des Status und Handlungsvermögens der Mitgliedstaaten. Als verfassungsschaffende und -ändernde Akteure stehen sie zwar weitgehend188 außerhalb der unionalen Legalität, sie können aber nur im Verfahren des Art. 48 EU Einfluss nehmen; in der Sache bedeutet dies eine weitgehende Autonomisierung der unionalen Verfassungsordnung. Zugleich beschicken die Mitgliedstaaten den Europäischen Rat und den Rat als unional verfasste Gewalt und stehen damit im Mittelpunkt der durch die Verträge konstituierten Hoheitsgewalt, sind dem Primärrecht aber strikt unterworfen. Diese gleichzeitige Exklusion und Inklusion der „Herren der Verträge“ ähnelt der verfassungsrechtlichen Legalität in den Mitgliedstaaten: Die Parlamente repräsentieren zwar den Souverän, sind aber strikt an die Normativität der Verfassungen und die in ihnen niedergelegten Prozeduren der Rechtserzeugung gebunden.189 b) Prinzipien der Kompetenzordnung Die Europäische Union ist ein Hoheitsträger, weil sie über die Macht verfügt, einseitig zu verpflichten. Diese Macht verfasst bereits an ihrer Quelle das Prinzip der positiven Legalität, das auch als Vorbehalt einer kompetenzbegründenden Norm, Vorbehalt der Verträge oder Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung bezeichnet wird. Jeder Akt des abgeleiteten Unionsrechts muss eine Rechtsgrundlage besitzen, die sich auf die Gründungsverträge zurückführen lässt.190 Die Rechtsgrundlage kann sich entweder unmittelbar aus einer Vertragsnorm ergeben oder aber aus einem Akt des abgeleiteten Rechts, der sich seinerseits auf die Verträge zurückführen lässt.191 Während es bei der negativen Legalität (nur) um die Begrenzung einer vorausgesetzten Hoheitsgewalt geht, setzt das Erfordernis einer kompetenzbegründenden Norm eine Stufe vorher an und fragt nach deren Geltungsgrund. In ihren Rechtsfolgen unterscheiden sich das Prinzip des negativen und das der posi-
186 187 188 189 190 191
EuGH, Rs. 38/69, Kommission/Italien, Slg. 1970, 47, Rn. 12 f. EuGH, Rs. 44/84, Hurd, Slg. 1986, 29, Rn. 39. Näher unten, IV. 3. b). N. Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, RJ 1990, S. 176 ff. Ausf. M. Nettesheim, in diesem Band, S. 407 f. Ob staatliches Handeln ebenso auf die Verfassung zurückzuführen ist, ist umstritten: Möllers (Fn. 99), S. 256 ff.
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tiven Legalität nicht: Bei Rechtswidrigkeit ist die regelmäßige Rechtsfolge die Anfechtbarkeit, in Fällen besonders schwerer und offenkundiger Fehler die Inexistenz.192 Die Kompetenzordnung ist zunehmend in der Perspektive der Wahrung mitgliedstaatlicher Interessen formuliert worden. Diese Tendenz setzt der Vertrag von Lissabon fort. Im Einklang mit vielen mitgliedstaatlichen Verfassungen193 bezeichnet er die Kompetenzen als von den Mitgliedstaaten „übertragen“ (Art. 1 Abs. 1 EUV-Liss.) und legt die Prinzipien der beschränkten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit prominent in Teil I nieder (Art. 5 EUVLiss.). Die gewählte Formulierung „übertragen“ markiert eine Abgrenzung zu bundesstaatlichen Verfassungen, da ein Bundesstaat zumeist über eine eigene verfassunggebende Gewalt verfügt. Dabei ist unter „Übertragung“ gewiss keine technische Delegation zu verstehen, da dies die europäische Hoheitsgewalt an die mitgliedstaatlichen Verfassungen binden würde und das Ende der Autonomie des Unionsrechts wäre. Dies kann laut Art. 2 5. Spstr. EU, der „die volle Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstands“ vorgibt, nicht gemeint sein. Es werden Zweifel geäußert, ob die Unionsorgane diesen Prinzipien immer genügen, ob insbesondere der EuGH ihnen hinreichende Wirksamkeit verschafft.194 Die Berechtigung dieser Kritik kann an dieser Stelle dahinstehen.195 Wichtig ist, dass die unionale Rechtsordnung Prinzipien aufweist, die es erlauben, entsprechende Zweifel rechtlich zu formulieren und – mit Ausnahme von Titel V EU-Vertrag196 – auch vor dem EuGH gerichtlich zu verfolgen. Zudem steht der EuGH bei dieser Aufgabe nicht allein, sondern unter externer Kontrolle. Die Beachtung gerade dieser Prinzipien wird auch von Institutionen der Mitgliedstaaten glaubhaft gewährleistet.197 Hierin zeigt sich wiederum die nicht-hierarchische, pluralistische Charakteristik der unionalen Rechtsordnung. Da die Kompetenzen der Union weit sind, kann auch unter Wahrung des Kompetenzrahmens mitgliedstaatliche Autonomie empfindlich beschränkt werden. Die wichtigste Sicherungsstrategie einer autonomieschonenden Wahrnehmung ist organisations- und verfahrensrechtlicher Natur: die Rolle der Mitgliedstaaten in den Institutionen und Prozessen der Union. Diese Rolle schützt das Prinzip der Legalität, da Maßnahmen nur unter der maßgeblichen Kompetenzbestimmung in dem darin vorgesehenen Verfahren einschließlich der notwendigen Quoren erlassen werden 192 193 194 195
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EuGH, Rs. C-137/92 P, Kommission/BASF, Slg. 1994, I-2555, Rn. 48–53. Ausf. C. Grabenwarter, in diesem Band, S. 136 ff.; P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/ders. (Fn. 24), § 26. Problematisch EuGH, Gutachten 1/91 (Fn. 6), Rn. 21. Als Antwort des EuGH ist insbesondere Rs. C-376/98 (Fn. 115), Rn. 83, zu verstehen; weniger eindeutig aber Rs. C-380/03, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573, Rn. 36 ff. Vgl. aber die Ansätze in EuGH, Rs. C-91/05 (Fn. 176). Wegweisend BVerfGE 89, 155, wenngleich mit teilweise kritischer Begründung, näher A. v. Bogdandy, Das Leitbild der dualistischen Legitimation für die europäische Verfassungsentwicklung, KritV 2000, S. 284.
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können.198 Die föderale Spannungslage bestimmt nicht nur das unmittelbare Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten, sondern auch das Innenrecht der Organe und die horizontalen Interorganbeziehungen. Sie erklärt das Fehlen von übergreifenden hierarchischen Strukturen und dem polyzentrischen, horizontalen Charakter des politischen Systems. Die Polizentrik wird auch durch das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts gehegt: Es dient der Sicherung der vertraglich etablierten Verantwortungsstränge199 sowie der Einhaltung von Verfahrensbestimmungen,200 ohne jedoch die Interorganbeziehungen in eine bestimmte Richtung fortzuentwickeln.201 Dies entspricht der politikwissenschaftlichen Erkenntnis, dass der politische Prozess der Union ein offener Verhandlungsprozess ist,202 und zeigt sich anschaulich in der Polyzentrik im Rat als dem wichtigsten Organ mitgliedstaatlicher Interessenverfolgung. Er verfügt gerade nicht über den zentralen Mechanismus der Einheitsbildung: eine Hierarchie. In vielerlei Hinsicht erscheint er mehr als ein vielgestaltiger und fragmentierter Prozess der Konsenssuche von 28 unterschiedlichen politisch-administrativen Systemen (27 staatlichen und der regelmäßig anwesenden Kommission), denn als festgefügte Institution. Ihn prägen nicht hierarchische Momente, sondern vertragsähnliche Kooperation zwischen unterschiedlichen und weitgehend voneinander unabhängigen politisch-administrativen Systemen.203 Allerdings gibt es im Sekundärrecht zahlreiche Beweise, dass der Rat diese Aufgabe nicht immer erfüllt. So führte der Maastrichter Vertrag das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Subsidiaritätsprinzip mit dem Ziel ein, die autonomieschonende Kompetenzwahrnehmung besser zu garantieren.204 Insbesondere zur Subsidiarität gibt es überaus unterschiedliche Einschätzungen.205 Gewiss hat dieses Prinzip in der Rechtsprechung bislang keine zentrale Rolle erlangt.206 Konzeptio198 199 200
201 202 203 204
205 206
EuGH, Rs. 68/86 (Fn. 185), Rn. 24. EuGH, Rs. 9/56, Meroni/Hohe Behörde, Slg. 1958, 11 (44); Rs. 25/70, Köster, Slg. 1970, 1161, Rn. 9. EuGH, Rs. 139/79, Roquette Frères/Rat, Slg. 1980, 3333, Rn. 33; Rs. 70/88, Parlament/Rat, Slg. 1990, I-2041, Rn. 22 f.; J.-P. Jacqué, The Principle of Institutional Balance, CMLRev. 41 (2004), S. 383. Eine Interpretation in der Perspektive eines föderalen bikameralen Systems nun in EuGH, Rs. C-133/06 (Fn. 114), Rn. 54 ff. I. Tömmel, Das politische System der EU, 2003, S. 271 ff. F. Scharpf, Introduction: The Problem Solving Capacity of Multi-Level Governance, Journal of European Public Policy 4 (1997), S. 520. Sie werden seit dem Amsterdamer Vertrag in dem formulierungstechnisch abenteuerlichen Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit konkretisiert. C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 1999; skeptisch M. Nettesheim, in diesem Band, S. 401. Ansätze in EuGH, Rs. C-84/94, Großbritannien/Rat, Slg. 1996, I-5755, Rn. 46 ff.; Rs. C-233/ 94, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 1997, I-2405, Rn. 9 ff.; Rs. C-491/01, British American Tobacco Investments, Slg. 2002, I-11453, Rn. 177 ff; Rs. C-114/01, AvestaPolarit Chrome, Slg. 2003, I-8725, Rn. 54 ff.; Rs. C-154/04, Alliance for Natural Health, Slg. 2005, I-6451, Rn. 101 ff.
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nell ist bemerkenswert, dass das Prinzip zunächst materiell-rechtlich ausgerichtet war, inzwischen aber ein prozedurales Verständnis dominiert, indem Institutionen mit vermutetem besonderem Interesse an der Subsidiarität verfahrensrechtliche Positionen eingeräumt werden.207 Dies bestärkt die allgemeine Kompetenzverflechtung zwischen Union und Mitgliedstaaten. c) Das Prinzip freier Interessenverfolgung Unter dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ist der politische Prozess in der Union verrechtlicht, konstitutionalisiert worden: Mitgliedstaaten und Unionsorgane sind wirksam eingebunden, die Normativität des Rechts ist auch gegenüber den politischen Organen gewährleistet. Diese Verrechtlichung beschränkt sich allerdings weitestgehend auf den kompetenziellen und prozeduralen Rahmen; hingegen bleiben die Positionen der Mitgliedstaaten weitgehend frei. Der unionale politische Prozess wird unionsverfassungsrechtlich inhaltlich kaum ausgerichtet. Es steht den Mitgliedstaaten offen, in den Institutionen der Union ihre „nationalen“ Interessen zu verfolgen.208 Der EuGH hat die vertraglichen Ziele, insbesondere Art. 2 f. EG, nicht politikdeterminierend verdichtet. Dies ist keineswegs zwingend, wurden die Verträge doch abgeschlossen, um die nationalstaatliche Beschränktheit zahlreicher Lebensbereiche zu überwinden und die zusammengeschlossenen Gesellschaften zu europäisieren. Ebensowenig entnimmt der EuGH den unionalen Grundrechten Gesetzgebungsaufträge. Auch entwickelte er Art. 10 EG nicht zu einer Pflicht der Mitgliedstaaten, in den Organen der Union im Sinne des Gemeinschaftsinteresses zusammenzuarbeiten. Das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit verlangt nicht, im Rat Kompromisse zu schließen oder gar die Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung zu nutzen, wenn eine Minderheit sich einem Rechtsetzungsprojekt nicht anschließt.209 Das ist nicht selbstverständlich: Immerhin sind die nationalen Amtsträger in die Ziele der Union (Art. 2 EU, Art. 2 und 3 EG) eingebunden: direkt, wenn sie in den Unionsorganen mitwirken, im Übrigen mittelbar über Art. 10 EG. Diese Normen verpflichten sie zur Wahrung der Interessen aller Unionsbürger; für Konstellationen des Konflikts gilt zudem der Grundsatz des Vorrangs. Gleichwohl ist es nie zu einer rechtlichen Zurückweisung „nationaler Positionen“ gekommen: Es gibt kein objektiv zu ermittelndes europäisches Gemeinwohl, es wird nur aus der Synthetisierung der diversen Standpunkte gewonnen. Die Gemeinschaftstreue verlangt allein, im politischen Prozess der Union mitzuwirken.210 207 208 209
210
Näher P. Dann, in diesem Band, S. 380 f., und C. Grabenwarter, ebd., S. 157 f. EuGH, Rs. 57/72, Westzucker, Slg. 1973, 321, Rn. 17. Vgl. hierzu die Stellungnahmen in EuGH, Rs. 13/83, Parlament/Rat, Slg. 1985, 1513 (1576); hierzu B. Schloh, in: M. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Stand April 2008), A. II, Rn. 205, 209 ff. A. Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, 2001, S. 67, 77. Eine „Politik des leeren Stuhls“, wie von Frankreich 1965 praktiziert, ist unzulässig; J. H. Kaiser, Das Europarecht in der Krise der Gemeinschaften, EuR 1966, S. 4; weiter U. Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, DVBl. 1993, S. 936 (946).
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Diese Überlegungen sprechen auch gegen die Annahme eines Integrationsprinzips, Integration verstanden als die Verschmelzung bislang national organisierter Lebensbereiche zu einem Lebensbereich europäischer Dimension. Manche Autoren behaupten ein abstraktes Rechtsprinzip von „mehr Europa“ als „mehr Einheitlichkeit“.211 Die erste Präambelerwägung zum EG-Vertrag, die von einem „immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ spricht, kann in diese Richtung gedeutet werden.212 Ein solches Prinzip wäre aber hochproblematisch. Ihm fehlt bereits eine hinreichende Grundlage im verfügenden Teil der Verträge. Zudem könnte mit ihm das europäische Verfassungsrecht einer zentralen Funktion, nämlich der Stabilisierung des Verhältnisses zwischen Union und Mitgliedstaaten, kaum noch nachkommen. Eher ist zu überlegen, ob, anknüpfend an das Motto der Union, ein Prinzip der Vielfalt formuliert werden kann.213 In diese Richtung weist Joseph Weilers Prinzip der constitutional tolerance.214 3. Prinzipien des Verbunds aus Union und Mitgliedstaaten a) Der Verbund als neue Perspektive Eine wichtige neuere Forschungslinie zielt darauf ab, das Ganze aus Union und Mitgliedstaaten rechtswissenschaftlich zu erfassen.215 Von besonderer Bedeutung sind dabei der Mehrebenen- und der Netzwerkbegriff, die beide politikwissenschaftlich geprägt sind.216 Die deutsche Rechtswissenschaft, der die begriffliche Autonomie besonders am Herzen liegt, stellt hingegen oft den Verbundbegriff in den Mittelpunkt. Das Wort Verbund war zunächst vor allem Bestandteil der beiden konkurrierenden Großdeutungen des (intergouvernativen) Staatenverbunds Paul Kirchhofs
211
212 213
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216
Vgl. GA Reischl zu Rs. 32/79, Kommission/Großbritannien, Slg. 1980, 2403 (2460 ff.); J. Isensee, Integrationsziel Europastaat?, in: FS Everling (Fn. 9), S. 567 (568); J. González Campos, La posición del Tribunal Constitucional en la articulación entre Tribunales comunitarios y Tribunales nacionales, in: E. García de Enterría/R. Alonso García (Hrsg.), La Encrucijada Constitucional de la Unión Europea, 2002, S. 493 (494). Auch der Vertrag von Lissabon gibt das Ziel eines „immer engeren Zusammenschluss[es] der europäischen Völker“ nicht auf (vgl. 1. Erwägungsgrund der Präambel zum AEU-Vertrag). Bejahend A. Leisner-Egensperger, Vielfalt – ein Begriff des öffentlichen Rechts, 2004, S. 78, 137 ff.; ablehnend A. v. Bogdandy, The European Union as Situation, Executive, and Promoter of the International Law of Cultural Diversity, EJIL 19 (2008), S. 241 (275). J. H. H. Weiler, Federalism Without Constitutionalism, in: Nicolaidis/Howse (Fn. 101), S. 54 (65 ff.). L. Besselink, A Composite Giacinto della Cananea, 2003, insb. S. 6, 146; M. Ruffert, Von der Europäisierung des Verwaltungsrechts zum Europäischen Verwaltungsverbund, DÖV 2007, S. 761. Zur Leistungsfähigkeit der Begrifflichkeit M. Goldmann, Der Widerspenstigen Zähmung, oder: Netzwerke dogmatisch gedacht, in: S. Boysen u.a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, S. 225; zu den Problemen des Mehrebenenbegriffs A. v. Bogdandy/P. Dann, International Composite Administration, GLJ 9 (2008), S. 2013.
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und Ingolf Pernices (tendenziell bundesstaatlichen) Verfassungsverbund,217 wurde jedoch aus diesem Gegensatz gelöst.218 Der Blick aufs Ganze impliziert eine Neuausrichtung der Europarechtswissenschaft. Die europäische Rechtsgemeinschaft entstand als autonome Rechtsordnung;219 entsprechend richtete sich der Fokus der Europarechtslehre aus. Das Prinzip der Autonomie des Gemeinschaftsrechts ist vom EuGH stets besonders entschlossen verteidigt worden: Zu seinem Schutz stellte er sogar die Neuordnung des europäischen Kontinents nach dem Fall der Mauer in Frage.220 In der Tat dürfte diese Trennungskonzeption fundamental für die Etablierung der supranationalen Rechtsordnung gewesen sein. Diese Autonomie der Rechtsordnung entspricht dem Autonomiegedanken Monnets für das politisch-administrative System der Gemeinschaft. Die tatsächliche Entwicklung sowohl im politisch-administrativen wie auch im rechtlichen Bereich lief jedoch nicht auf Trennung, sondern auf Verzahnung des unionalen und des mitgliedstaatlichen Bereichs hinaus.221 Der Vertrag von Lissabon treibt dies voran, etwa durch den Einbezug der mitgliedstaatlichen Parlamente in den unionalen Rechtsetzungsprozess (Art. 12 EUV-Liss.). Überlegungen, wie man diese Verzahnung begreifen kann, führten bis zu Konzeptionen der Einheit des supranationalen und des nationalen Bereichs.222 Die meisten Konzeptionen sind jedoch pluralistischer. Die Abhängigkeit der Unionsverfassung von den mitgliedstaatlichen Verfassungen ist größer als die einer bundesstaatlichen von den gliedstaatlichen Verfassungen.223 Positivrechtlich ergibt sich dies etwa aus Art. 6 Abs. 2 und 3 EU oder Art. 48 EU, konzeptionell etwa aus dem Prinzip der dualen Legitimation, wonach die Legitimität der Union auf die nationalen Verfassungen angewiesen ist. Der Vertrag von Lissabon betont dies durch so zentrale Bestimmungen wie Art. 1 Abs. 1, Art. 10 Abs. 2, Art. 12. Aber auch die mitgliedstaatlichen Verfassungen sind ohne Berücksichtung der Unionsverfassung kaum noch angemessen zu begreifen, da sie nicht mehr sämtliche Hoheitsgewalt in ihrem Anwendungsbereich verfassen.224 Die Erkenntnis dieser gegenseitigen Verwiesenheit führt zu Begriffen wie Teilverfassung 217 218
219 220
221 222 223 224
Vgl. P. Kirchhof und F. Mayer, in diesem Band, S. 1016 f. bzw. S. 594 f. E. Schmidt-Aßmann, Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, S. 241; A. v. Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 11. EuGH, Rs. 26/62 (Fn. 20), 25; Rs. 6/64 (Fn. 132), 1269; Rs. C-287/98, Linster, Slg. 2000, I-6719, Rn. 43. EuGH, Gutachten 1/91 (Fn. 6), Rn. 30 ff.; weiter Gutachten 1/00, Luftverkehrsübereinkommen, Slg. 2002, I-3493, Rn. 5 ff.; EuGH, Rs. C-459/03, Kommission/Irland, Slg. 2006, I-4635, Rn. 123 ff. Näher zur Verflechtung P. Dann, in diesem Band, S. 343 ff. I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2000), S. 148 (163 m.w.N.); W. Wessels, Die Öffnung des Staates, 2000, S. 122 ff., 413 ff. J. A. Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, S. 315 (318); P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 2006, S. 220 ff. Näher C. Grabenwarter und F. Mayer, in diesem Band, S. 173 ff. bzw. S. 596 f.
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oder Komplementärverfassung. Selbst wenn man eine solche Begrifflichkeit nicht akzeptiert, ist doch unbestreitbar, dass das Unionsrecht dem mitgliedstaatlichen Recht im Allgemeinen und gerade das Unionsverfassungsrecht dem mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht fundamentale Vorgaben macht. Unter diesen Vorgaben, Prinzipien, sind die in Art. 6 Abs. 1 EU von besonderer Bedeutung für das föderale Verhältnis, da sie an Homogenitätsanforderungen in bundesstaatlichen Verfassungen erinnern. b) Prinzip struktureller Kompatibilität oder Homogenitätsprinzip? Bereits früh wurde im Integrationsprozess erkannt, dass ein gewisser rechtlicher Gleichklang zwischen den Mitgliedstaaten mit Blick auf marktwirtschaftliche Ordnung und rechtsstaatliche Demokratie unentbehrlich für das Funktionieren der Gemeinschaft ist. Entsprechend normative Anforderungen hatten jedoch Minimalcharakter.225 Im Zuge der Ausbildung eines gemeinsamen Verfassungsraumes könnte man diese Anforderungen zu einem Einheit stiftenden Rechtsprinzip der Verfassungshomogenität verdichten.226 Zahlreiche Autoren entnehmen dies insbesondere Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 EU.227 Gegen ein solches Verständnis von Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 EU sprechen gewichtige Einwände. Festzuhalten ist zunächst, dass es mit der Vielfalt der mitgliedstaatlichen Verfassungen kaum vereinbar wäre: Republiken und Monarchien, parlamentarische und semipräsidentielle Systeme, starke und schwache Parlamente, Konkurrenz- und Konkordanzdemokratien, solche mit starken und solche mit schwachen Parteistrukturen, mit starken und schwachen gesellschaftlichen Institutionen, unitarische und föderale Ordnungen, starke, schwache und fehlende Verfassungsgerichte sowie beachtliche Divergenzen hinsichtlich des Gehalts und der Schutzintensivität von Grundrechten.228 Die Erweiterung der Union nach Osten und Süden hat diese Vielfalt verstärkt. Aber auch eine nähere Analyse der Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 EU streitet gegen die Annahme eines Prinzips der Verfassungshomogenität. Bereits der Wortlaut zielt nur auf einen eher abstrakten Gleichklang. Systematisch widerstreitet das Gebot der Achtung nationaler Identität (Art. 6 Abs. 3 EU) einem Homogenitätsprinzip, drückt sich die nationale Identität doch gerade in den bisweilen eigensinnigen verfassungsrechtlichen Arrangements aus,229 wie Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss. festhält. Dieses Verständnis bestätigen die Auseinandersetzung über die Sanktionen von 14 Mitgliedstaaten gegenüber Österreich im Jahr 2000 und 225 226 227
228 229
H. P. Ipsen, Über Verfassungs-Homogenität in der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Dürig, 1990, S. 159. Zum Begriff C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl. 1993 (1928), S. 65. S. Mangiameli, La clausola di omogeneità, in: ders. (Fn. 2), S. 17; T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 301 ff.; F. Schorkopf, in: Grabitz/Hilf (Fn. 2), Art. 7 EU, Rn. 32; KOM(2003) 606, Mitteilung der Kommission zu Art. 7 des Vertrags über die Europäische Union. P. Cruz Villalón, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Vergleich, in: A. v. Bogdandy/ders./P. M. Huber (Hrsg.), IPE I, 2007, § 13. M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: GS Grabitz (Fn. 46), S. 157 (166 ff.).
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die Debatte zu Art. 51 GR-Charta.230 Gegen ein Prinzip der Verfassungshomogenität sprechen auch die Schwierigkeiten, die Grundrechte-Charta zu einem verbindlichen Rechtsdokument zu machen, und die Modifikationen im Zuge der Verhandlungen zum Vertrag von Lissabon: Viele Unionsbürger haben die Sorge, europäisches Verfassungsrecht könnte ähnlich wie die Grundrechte unter dem Grundgesetz oder die US-Verfassung zu einer Kraft ungewollter Homogenisierung erstarken.231 Vielversprechender erscheint es, die Prinzipien des Art. 6 EU zu drei Ebenen von Standards mit abnehmender Dichte zu konkretisieren: eine erste Ebene größter Dichte betreffend die Verfassung der Union, eine zweite Ebene erheblich geringerer Dichte betreffend die Verfassungen der Mitgliedstaaten und eine dritte Ebene minimaler Voraussetzungen, die die Außenpolitik der Union anleiten.232 Aus der Gesamtanlage des Unionsverfassungsrechts ergibt sich, dass die zweite Ebene in deutlicher Distanz zu einem bundesstaatlichen Homogenitätsprinzip steht, was auch terminologisch zum Ausdruck gebracht werden sollte: Daher sollte man Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 EU nur ein Prinzip der strukturellen Kompatibilität entnehmen. Im Gegenzug sind auch die mitgliedstaatlichen Strukturvorgaben für die Europäische Union nicht im Sinne eines Homogenitätsprinzips zu deuten. Die Prinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Art. 23 Abs.1 GG sind anders zu verstehen als in Art. 28 Abs. 1 GG, eben weil es das eine Mal um (bundesstaatliche) Homogenität, das andere Mal nur um strukturelle Kompatibilität in einem weit vielfältigeren Zusammenhang geht. Dieses Prinzip struktureller Kompatibilität erschöpft allerdings nicht den Kreis der primärrechtlichen Normen, die übergreifende Vorgaben für Union und Mitgliedstaaten machen. Vor allem mit Blick auf die Ausübung von Hoheitsgewalt im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zielt die Rechtsprechung auf der Grundlage von Art. 10 EG über strukturelle Kompatibilität hinaus auf eine Kohärenz, die den Vergleich mit bundesstaatlichen Vorgaben nicht zu scheuen braucht und als Homogenitätsprinzip gefasst werden könnte. So wendet der EuGH neuerdings Verfahrensprinzipien, die für die EU-Eigenverwaltung entwickelt wurden, auf nationale Verwaltungstätigkeit an.233 Die mitgliedstaatlichen Verwaltungen sind im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts durch Gemeinschaftsgrundrechte, Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip eingebunden sowie nunmehr auch durch die Prinzipien, die für das EU-Eigenverwaltungsrecht entwickelt wurden: eine durch und durch föderale Konstellation. Ebenso gilt im Anwendungsbereich des 230
231 232
233
Dazu der Beitrag von J. Kühling, in diesem Band, S. 682 f.; R. Alonso García, Las cláusulas horizontales de la carta de los derechos fundamentales, in: García de Enterría/Alonso García (Fn. 211), S. 151 (158 ff.). A. Knook, The Court, the Charter, and the Vertical Division of Powers in the European Union, CMLRev. 42 (2005), S. 367. Näher zu diesem Modell A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157 (162 f.); dogmatisch kann dies über die margin of appreciation-Doktrin erfolgen, J. Kühling, in diesem Band, S. 695 ff. EuGH, Rs. C-28/05, Dokter, Slg. 2006, I-5431, Rn. 71 ff.
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Gemeinschaftsrechts ein Prinzip der Kohärenz im Rechtsschutz gegenüber jeder Hoheitsgewalt.234 Gerade im Lichte dieser Vorgaben ergibt sich jedoch um so deutlicher, dass die Vorgaben des Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 EU, die den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen insgesamt Vorgaben machen, von weit geringerer Dichte sind und deshalb schon aus Gründen terminologischer Klarheit nicht als Homogenitätsprinzip bezeichnet werden sollten.235 c) Prinzip der loyalen Zusammenarbeit und die föderale Balance Während im nationalen Rechtsraum staatliches Recht und staatlicher Machtapparat in engem Verhältnis stehen,236 sucht man hinter dem europäischen Recht vergleichbare Sanktionsgewalt vergebens. Ein Großteil des europäischen Rechts, insbesondere Rechtsnormen an die Adresse der Mitgliedstaaten, ist noch nicht einmal symbolisch zwangsbewehrt. Entsprechend kommt der freiwilligen Befolgung und Unterstützung, kurzum: der Loyalität, eine zentrale, ja fundierende Rolle im europäischen Recht zu. Loyalität hat als Rechtsprinzip eine unmittelbar gestaltende Rolle in den vielfältigen Beziehungen zwischen den involvierten Hoheitsträgern.237 Ungeachtet einer bisweilen hohen Dichte detaillierter Regeln der Zusammenarbeit im Verbund müssen diese Beziehungen eingebettet werden in ergänzende Pflichten, die die Wirksamkeit des Rechts sichern und Konflikte lösen. Derartige Pflichten generiert das Loyalitätsprinzip, vom Gerichtshof zumeist als Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit bezeichnet.238 Die einschlägige Judikatur entwickelte sich anhand von Art. 10 EG, jedoch hat der EuGH das Prinzip auf Aktivitäten unter dem EU-Vertrag ausgedehnt,239 so ausdrücklich auch Art. 4 Abs. 3 EUV-Liss. Dieses Prinzip gestaltet die mannigfaltigen Interaktionen zwischen Unionsorganen und nationalen Stellen im Sinne des weiterhin namenlosen Ganzen aus Union und Mitgliedstaaten; es kann sowohl Einheit stiftend wie Vielfalt schützend wirken.
234
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239
Vgl. etwa EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029, Rn. 42; näher C. Nowak, Recht auf effektiven Rechtsschutz, in: S. Heselhaus/C. Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, Rn. 51, 63; ferner J. Bast, in diesem Band, S. 501, 507 u. 517 f. Eine neue Dimension findet sich in den staatsorganisationsrechtlichen Vorgaben von Art. 12 EUV-Liss. Näher Möllers (Fn. 99), S. 272 ff. R. A. Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, S. 72 ff. 526 ff. EuGH, Rs. 230/81, Luxemburg/Parlament, Slg. 1983, 255, Rn. 37; Rs. 2/88 Imm., Zwartveld, Slg. 1990, I-3365, Rn. 17; Rs. C-135/05, Kommission/Italien, Slg. 2007, I-3475, Rn. 31 f.; verb. Rs. C-231/06–C-233/06, Jonkman, Slg. 2007, I-5149, Rn. 37; Rs. C-215/06, Kommission/Irland, Slg. 2008, I-0000, Rn. 59; 3. Erklärung zu Art. 10 in der Schlussakte zum Vertrag von Nizza; O. Due, Article 5 du traité CEE, Collected Courses of the Academy of European Law, Bd. II-1 (1992), S. 15 (35); J. Mischo, Der Beitrag des Gerichtshofes zur Wahrung der föderalen Balance in der Europäischen Union, 1999. EuGH, Rs. C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285, Rn. 39 ff.; Rs. C-354/04 P (Fn. 34), Rn. 52; Rs. C-355/04 P (Fn. 34), Rn. 52; U. Everling, From European Communities to European Union, in: FS Ehlermann, 2002, S. 139 (157); Hatje (Fn. 210), S. 39 f.
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Dieses Prinzip stützt zahlreiche Rechtsinstitute großer Bedeutung, etwa die rechtsstaatlichen Vorgaben für die gerichtliche Kooperation oder die nationale Durchführung des Unionsrechts, 240 nicht selten mit stark einheitswirkenden Konsequenzen. Im Lichte der Vielfaltswahrung ist jedoch beachtlich, dass das Prinzip in aller Regel nur den Schutz der Integrität der Resultate europäischer Rechtsetzung gegen ihre nachträgliche Infragestellung durch einzelne Mitgliedstaaten betrifft. Aus ihm folgen hingegen keine Pflichten zu einer unionsfreundlichen Politikformulierung.241 Das Loyalitätsprinzip begründet auch Pflichten der Unionsorgane gegenüber den Mitgliedstaaten, so ausdrücklich Art. 4 Abs. 3 EUV-Liss.242 Diese erstrecken sich auf den Schutz der Vielfalt, jedoch harren sie näherer Klärung. Sicher ist, dass Art. 6 Abs. 3 EU als Ausprägung des Loyalitätsprinzips die Union verpflichtet, auf Verfassungsprinzipien und elementare Interessen der Mitgliedstaaten Rücksicht zu nehmen (Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss.).243 Allerdings kann nicht jegliche Berührung verfassungsrechtlicher Positionen bereits zu einem Verbot unionalen Handelns führen, da sich sonst angesichts des Umstandes, dass etwa in der Bundesrepublik zahllose Fragen verfassungsrechtlich determiniert sind, eine eigenständige Unionspolitik nicht mehr betreiben ließe. Erforderlich sind vielmehr konkret sich abzeichnende schwere Beeinträchtigungen wesentlicher Gehalte des nationalen Verfassungsrechts. Das Prinzip der Loyalität erscheint so als ein weiterer Schlüssel zum Verständnis der Union. So wie die europäische Rechtsordnung in letzter Instanz auf freiwilligem Gehorsam und damit der Loyalität der Mitgliedstaaten beruht, so zeigt sich das Loyalitätsprinzip auch geeignet, in offenen Fragen eine Regelung zu generieren und Konflikte zu hegen.
V. Prinzipielles zum Verhältnis Einzelner – Union Dieser Abschnitt entwickelt die Grundprinzipien des europäischen Verfassungsrechts über das Verhältnis zwischen privaten Rechtssubjekten und der Hoheitsgewalt der Europäischen Union. Gewiss betreffen bereits die unter IV. diskutierten Prinzipien private Rechtssubjekte: Die Einheitsbildung unter dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit erfolgt maßgeblich dadurch, dass Individuen und Unternehmen zu Subjekten der supranationalen Rechtsordnung, zu Marktbürgern, werden.244 Wie jedoch die weiterhin ausbleibende volle horizontale Wirksamkeit von Richtlinien 240 241 242 243 244
Näher oben, IV. 1. b). Näher oben, IV. 2. c). Diese Bestimmung kodifiziert die bisherige Rechtsprechung, EuGH, Rs. 230/81 (Fn. 238), Rn. 37 ff.; Rs. C-263/98, Belgien/Kommission, Slg. 2001, I-6076, Rn. 94 f. BVerfGE 89, 155 (174); C. Schmid, Multi-Level Constitutionalism and Constitutional Conflicts, 2001, S. 222 ff. Dies schließt Unternehmen als Verbände Privater ein; zu deren zentraler Rolle bei der Ausbildung des Gemeinschaftsrechts C. Harding, Who Goes to Court in European Community?, ELRev. 17 (1992), S. 105.
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zeigt,245 entwickelt der EuGH diese Prinzipien in einer Weise, dass sie den Einzelnen rechtlich grundsätzlich nur begünstigen, sie betreffen nicht die klassische Dialektik von Hoheitsgewalt und Freiheit. Ähnliches gilt für die Prinzipien der Verteilung politischer Macht: Zwar wirken sie sich auf die politischen Rechte der Bürger unter den mitgliedstaatlichen Verfassungen aus,246 entziehen sich jedoch ebenfalls der klassischen Dialektik. Nunmehr soll es um die europäischen Prinzipien jener Dialektik, also um die klassischen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, in ihrer spezifischen unionsverfassungsrechtlichen Gestalt gehen. 1. Prinzip der gleichen Freiheit Art. 6 Abs. 1 EU nennt als erstes der Prinzipien, auf denen die Union beruht, die Freiheit.247 Soll diese eigenständige Niederlegung normative Bedeutung aufweisen, muss das Prinzip der Freiheit die einzelnen Freiheitsrechte transzendieren, welche das Prinzip der „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“ (Art. 6 Abs. 1 EU) erfasst. Die Freiheit im Singular findet sich im Vertragsziel Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts (Art. 2, 4. Spstr. EU). Eine Deutung des Freiheitsbegriffs in Art. 6 Abs. 1 EU im Lichte des bislang reduktionistisch verstandenen Freiheitsbegriffs des Art. 2, 4. Spstr. EU kann jedoch kaum überzeugen.248 In der Tradition des europäischen Konstitutionalismus liegt es vielmehr nahe, diesen Begriff ausgehend von seinem wohl wichtigsten Dokument zu deuten. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 ist in Art. 1 auf die gleiche Freiheit zentriert und verpflichtet in Art. 2 alle Hoheitsgewalt auf dieses Prinzip. Laut Art. 4 besteht diese Freiheit darin, „alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet“. Bis heute legt dies den Fluchtpunkt der wichtigsten philosophischen Prinzipienlehren nieder.249 Das allgemeine Prinzip der Freiheit ist so zu deuten, dass im Anwendungsbereich des Unionsrechts jeder Mensch ein Rechtssubjekt ist und sich alle Menschen als rechtlich Gleiche begegnen.250 Dieses Verständnis des Menschen ist keineswegs naturgegeben, sondern das vielleicht bedeutendste Artefakt der europäischen Geschichte, fundamental für das Selbstverständnis der meisten Rechtsgenossen. Man mag einwenden, dass es sich um das universelle Prinzip par excellence handele. Gewiss. Ebenso gewiss ist aber, dass dieses Prinzip sich keineswegs in allen 245
246 247 248 249
250
EuGH, Rs. 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723, Rn. 47 f.; Rs. C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Rn. 6; Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, Rn. 24 ff.; Rs. C-443/98, Unilever Italia, Slg. 2000, I-7535, Rn. 50; näher J. Bast, in diesem Band, S. 503 ff. BVerfGE 89, 155 (182 ff.). Eine Verfassungsdogmatik aus diesem Prinzip entwirft E. Grabitz, Freiheit als Verfassungsprinzip, Rechtstheorie 8 (1977), S. 1; ausf. ders., Freiheit und Verfassungsrecht, 1976. Ausf. J. Monar, in diesem Band, S. 758 f. Vgl. nur I. Kant, Metaphysik der Sitten, hrsgg. von K. Vorländer, 4. Aufl. 1922, § C (S. 35); Rawls (Fn. 16), S. 81; Dworkin (Fn. 16), S. 300; Habermas (Fn. 16), S. 109 f., 159, 257 (als Auslegungsgrundsatz), 499, 537. Zum Konnex von Freiheit und Rechtssubjektivität Hegel (Fn. 29), § 4.
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Rechtsordnungen durchgesetzt hat. Und gänzlich außer Frage steht, dass das Recht der Europäischen Union die einzige überstaatliche Rechtsordnung ist, die ihm in konkreten Rechtsbeziehungen breite Wirksamkeit verschafft. Näher betrachtet eröffnet dieses Prinzip eine verfassungsrechtliche Deutung wichtiger Prinzipien, die oft allein funktionalistisch begriffen werden. Dies gilt etwa für das Prinzip der unmittelbaren Wirksamkeit, das – völkerrechtlicher Üblichkeit entsprechend – zumeist funktionalistisch-technizistisch missverstanden wird.251 Ihm ist zu verdanken, dass der Einzelne nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt des Rechts ist: Es dient nicht nur dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, sondern auch dem der Freiheit.252 Das Prinzip der Freiheit des Individuums ist seit den ersten Schritten der Integration präsent. Walter Hallstein hat die europäische Integration so verstanden, dass der Abbau der Grenzen den individuellen Gestaltungsspielraum erweitert. Wenngleich die Gemeinschaft am Anfang kaum privatrechtliche Regelungen erließ, hatte sie damit eine privatrechtliche Dimension, deren Gewicht sich aus der Konzeption des Privatrechts als der eigentlichen Freiheitsordnung ergibt.253 In dieser Perspektive erklärt sich die fundamentale Stellung der Marktfreiheiten und des Wettbewerbsrechts sowie des Art. 4 Abs. 1 EG, die auf die Gewährleistung eines kontinentalen Raums freier privater Gestaltung abzielen, der einen spezifischen Wert der Integration verkörpert.254 Diese Freiheit der privatautonomen Gestaltung hat in einer vielgestaltigen politischen Gemeinschaft fast kontinentaler Reichweite eine Bedeutung, die diejenige im Nationalstaat noch übersteigt. Je größer und vielfältiger ein politisches Gemeinwesen ist, desto schwieriger ist es, Politik und Recht als Instrumente freier Selbstregierung zu begreifen. Umso wichtiger werden Räume privatautonomer Gestaltung. Obgleich die Union über die Binnenmarktfinalität hinausgewachsen ist, kommt den ökonomischen Aspekten der Freiheit pfadabhängig weiter eine größere Bedeutung zu als im staatlichen Kontext. Das Prinzip der Freiheit erschöpft sich nicht in privatautonomer Gestaltungsfreiheit,255 sondern verlangt in der westlichen Verfassungstradition die gleiche Freiheit der Rechtsgenossen. Das Prinzip der gleichen Freiheit erlaubt eine verfassungsrechtliche Deutung der Diskriminierungsrechtsprechung des EuGH, insoweit sie auf eine Angleichung des rechtlichen Status der Subjekte unter der europäischen Rechtsordnung abzielt:256 Das Prinzip unterliegt danach der Arbeitnehmerfreizü251 252 253 254
255 256
Zur Kritik im Einzelnen A. v. Bogdandy, Pluralism, Direct Effect, and the Ultimate Say, International Journal of Constitutional Law 6 (2008), S. 397. Oben IV. 1. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat (Fn. 127), S. 45 f.; E.-J. Mestmäcker, Die Wiederkehr der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Rechts, RJ 1991, S. 177. BVerfGE 89, 155 (174); von hieraus erklärt sich auch die besondere Bedeutung der Wirtschaftsverfassung, dazu A. Hatje und – kritisch – F. Rödl, in diesem Band, S. 809 ff. bzw. S. 874 ff. G.-P. Calliess, Die Zukunft der Privatautonomie, Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler (2000), S. 85 (90 ff.). Dementsprechend nennt Art. 2 EUV-Liss. die Gleichheit als eigenen Wert.
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gigkeit, dem allgemeinen Diskriminierungsverbot und der Unionsbürgerschaft, dem Assoziationsrecht.257 Der transformatorische Gehalt dieser Rechtsprechung ist erheblich, zumal die gleiche Freiheit ein Prinzip mit besonders stark zentralistischer Tendenz ist.258 Die in Art. 2 S. 2 EUV-Liss. aufscheinende gesellschaftspolitische Zielvorstellung stützt diese transformatorische Entwicklungstendenz. Dies bedeutet für die Beitritts- und Mitgliedsfähigkeit eines Staates gem. Art. 49 EU und Art. 7 Abs. 1 EU, dass Sozial- und Rechtsordnung auf einem im weiteren Sinne aufklärerischen Verständnis des Einzelnen beruhen müssen und es keine internen Segmentierungen, etwa in unversöhnliche religiöse, ethnische oder soziale Gruppierungen geben darf, die dazu führen, dass die Einzelnen sich nicht als gleiche Rechtsgenossen begegnen. Dies legitimiert unionale Interventionen in die Privatautonomie, wenn Letztere gesellschaftliche Ungleichheit und soziale Abhängigkeitsverhältnisse produziert. Aus diesem Prinzip der Freiheit kann eine kritische Perspektive auf so manche Politik der Union entwickelt werden. Es zeigen sich in der Union durchaus paternalistische Tendenzen gegenüber dem Unionsbürger, wohl auch in der Hoffnung, durch eine wohlmeinende Politik die eigene Legitimität zu steigern.259 Ähnlich kritisch unter einem Prinzip der Freiheit sind ethische Forderungen der Union. Ein Beispiel bietet die Europäische Charta für Forscher.260 Die Forscher sollen sich auf „anerkannte ethische Grundsätze“ verpflichten, insbesondere, wenn sie Fördermittel der Union haben wollen. Diese pauschale Festlegung ist freiheitsfeindlich. Wenn Hoheitsgewalt etwas von den Unterworfenen will, muss sie die Rechtsform nutzen. Das ist Kern verfassungsrechtlicher Freiheitlichkeit. Eine Verpflichtung auf ethische Grundsätze ist allenfalls akzeptabel, wenn sie von gesetzlich eingerichteten Gremien in rechtsstaatlichen Verfahren aufgrund spezifischer Expertise für besonders kritische Forschungsfelder entwickelt werden. Im Lichte des Prinzips der Freiheit ist es unerlässlich, rechtlichen und moralisch-ethischen Diskurs zu trennen.261 Aus diesem Grund kann auch die Zusammenführung von Werten und Prinzipien im Vertrag von Lissabon nicht überzeugen (Art. 2 EUV-Liss.). Der Vertrag von Lissabon schiebt die Freiheit vom ersten auf den zweiten Platz; sie wird, der Logik der Grundrechte-Charta folgend, vom Prinzip der Achtung der Menschenwürde verdrängt. Dies schließt an die Universelle Erklärung der Menschenrechte ebenso an wie an das deutsche Verfassungsverständnis unter dem Grundgesetz.262 Es ist ungeklärt, ob dies zu einer Umstellung in der Ausrichtung
257 258 259 260 261 262
EuGH, Rs. C-268/99, Jany, Slg. 2001, I-8615; verb. Rs. C-317/01 und C-369/01, Abatay, Slg. 2003, I-12301. A. v. Bogdandy/S. Bitter, Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot, in: FS Zuleeg, 2005, S. 309. Näher A. Somek, Individualism, 2008, S. 245 ff. Empfehlung 2005/251/EG, ABl. 2005 L 75, S. 67. Denninger (Fn. 58), S. 149. Näher S. Rixen, Würde des Menschen als Fundament der Grundrechte, in: Heselhaus/Nowak (Fn. 234), S. 335.
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der Union führt, ob hier gar „angelsächische“ Freiheit mit „deutscher“ Menschenwürde ringt. 2. Prinzip des Grundrechtsschutzes Art. 6 Abs. 1 EU legt ein Prinzip der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten nieder. Die Grundfreiheiten des Art. 6 Abs. 1 EU beziehen sich nicht auf die binnenmarktorientierten Grundfreiheiten des EG-Vertrags,263 sondern auf Rechte, die entsprechend der Terminologie der Grundrechte-Charta hier als Grundrechte bezeichnet seien.264 Ungeachtet seiner prominenten Stellung kommt dem Prinzip des Grundrechtsschutzes im Unionsrecht bislang keine besonders herausgehobene Bedeutung zu. Sicherlich bilden Grundrechte nicht den wichtigsten Bezugspunkt der Unionsrechtsordnung, ihre Bedeutung ist weit geringer als die der Grundrechte unter dem Grundgesetz. Daraus kann man manche Erkenntnis für das unionale Verfassungsrecht entnehmen. Festzuhalten ist zunächst, dass der Vertragsgeber das Prinzip des Art. 6 Abs. 1 EU, wie auch in Art. 6 Abs. 2 EU, bemerkenswert zurückhaltend formuliert. Achtung ist nur das erste Moment der Trias to respect, to protect, to fulfil.265 Der Gerichtshof hat zwar Grundrechten bisweilen auch Schutz- und Teilhaberechte entnommen, insgesamt kommt Grundrechten bislang jedoch keine prägende Rolle in seiner Rechtsprechung zu, wenngleich einige neuere Entscheidungen ein deutlicheres grundrechtliches Profil zeigen.266 Dies entspricht dem Entwicklungspfad der Integration. Wesentlich für die Konstitutionalisierung der Union sind Rechte des Einzelnen, also individuelle Rechte gewesen,267 die aber nur ausnahmsweise als Grundrechte qualifiziert wurden: Die Integration hatte den funktionalistischen, nicht den konstitutionalistischen Weg eingeschlagen. Den Schutz gegenüber der Gemeinschaft sollte zunächst ein Prinzip der Gewaltenteilung gewährleisten.268 Dieser Ansatz hat aber bald an Bedeutung eingebüßt, da der EuGH seit dem Ende der sechziger Jahre individualschützende principes généraux entwickelte.269 Diese umfassen neben verwaltungsrechtlichen Grundsätzen auch Grundrechte;270 hierauf 263 264 265 266 267
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269 270
T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 2), Art. 6 EU, Rn. 3. Im Einzelnen J. Kühling, in diesem Band, S. 674 ff. M. Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights, 2005, Introduction, Rn. 3. EuGH, Rs. C-540/03 (Fn. 30), Rn. 35 ff.; Rs. C-305/05 (Fn. 34), Rn. 28 ff. Oben, IV. 1. b); das Prinzip der unmittelbaren Wirksamkeit begründet eben individuelle Rechte, näher S. Beljin, Dogmatik und Ermittlung der Unionsrechte, Der Staat 46 (2007), S. 489. EuGH, Rs. 9/56 (Fn. 199), 44; H.-J. Seeler, Die europäische Einigung und das Problem der Gewaltenteilung, 1957; D. Sidjanski, L’originalité des Communautés européennes et la séparation de leurs pouvoirs, 1961. Ausf. Pescatore (Fn. 54). Die verwaltungsrechtlichen Grundsätze werden, was für den deutschen Leser irritierend sein kann, aber in der Regel als eigener Maßstab neben und nicht innerhalb einer Grundrechtsprüfung angewandt, so etwa der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, vgl. EuGH, Rs. C-453/ 03, ABNA, Slg. 2005, I-10423, Rn. 67 ff.
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beruht die Formulierung in Art. 6 Abs. 2 EU. Insgesamt ist die grundrechtliche Dimension des Unionsrechts aber blass geblieben. Man kann diese Gestalt des Grundrechtsschutzes aus der föderalen Spannungslage deuten. Zunächst ist sie kaum ohne den Druck einiger mitgliedstaatlicher Höchstgerichte auf den EuGH zu verstehen.271 Aber auch die enge Anlehnung des EuGH an die Rechtsprechung des EGMR,272 also sein Verzicht auf die Formulierung eigener Grundrechtsstandards, erklärt sich in dieser Perspektive: Die Union bildet danach keine eigene Grundrechtsgemeinschaft, fordert also die mitgliedstaatlichen Gerichte in diesem Punkt nicht heraus. Es zählt zu den Prämissen der bisherigen europäischen Integration, dass die Mitgliedstaaten gegenüber der Union hinsichtlich wesentlicher Mechanismen staatlicher Einheitsbildung und deshalb gerade in der Ausrichtung des nationalen Grundrechtsschutzes autonom bleiben.273 Die oft wenig grundrechtssensiblen und pauschalen Abwägungen des EuGH haben immerhin den Vorteil, dass sie ihn kaum als spezifisches Organ des Grundrechtsschutzes profilieren, was die Konkurrenz zu staatlichen Gerichten erzeugen könnte, die sich über diese Rolle profilieren. Es gibt allerdings Tendenzen, das Prinzip des Grundrechtsschutzes zu stärken. 1999 formulierten Philip Alston und Joseph H. Weiler in einem wegweisenden Auftragswerk für das Europäische Parlament,274 die Union solle sich zu einem internationalen Vorbild für eine kohärente, energische und zukunftsorientierte Grundrechtspolitik mausern. In einer progressiven Grundrechtspolitik, zu implementieren weniger durch die Gerichte denn durch spezialisierte Bürokratien unter Einbindung von Nichtregierungsorganisationen, sollen Minderheitenpolitik, Migrationspolitik und allgemeine Nichtdiskriminierungspolitik zusammenfließen.275 Diese Forderung stand zunächst eher am Rande des Diskussionsspektrums; dies ist nach der Einrichtung der Grundrechteagentur276 gewiss nicht mehr der Fall. Von herausragender politisch-symbolischer Bedeutung ist die Proklamation der Charta der Grundrechte, deren 2. Präambelerwägung so verstanden werden kann, dass Menschenrechte den Mittelpunkt des Unionsrechts bilden sollen.277 Doch just die Schwierigkeiten ihrer Überführung in einen Rechtsakt zeigen, dass das geltende Unionsrecht diese Ausrichtung noch nicht teilt.
271 272 273 274 275 276 277
Ausf. F. Mayer, in diesem Band, S. 573 f. Zum Verhältnis EuGH – EGMR L. Scheeck, The Relationship Between the European Courts and Integration Through Human Rights, ZaöRV 65 (2005), S. 837. Weiler (Fn. 4), S. 102 ff. Dies schließt nicht aus, dass einige Mitgliedstaaten ihre Grundrechte an europäischen Vorgaben ausrichten, Huber (Fn. 89), Rn. 98 ff. P. Alston/J. H. H. Weiler, An 'Ever Closer Union' in Need of a Human Rights Policy, in: P. Alston (Hrsg.), The EU and Human Rights, 1999, S. 3. In diesem Sinne P. Alston/O. de Schutter (Hrsg.), Monitoring Fundamental Rights in the EU, 2005. Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, ABl. 2007 L 53, S. 1. Charta der Grundrechte der EU, ABl. 2000 C 364, S. 8.
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Eine allgemeine Richtung der Fortentwicklung des Prinzips des Grundrechtsschutzes zeichnet sich derzeit nicht ab. Einerseits führt eine Reihe von grundrechtsinvasiven Maßnahmen der Union dazu, dass das Thema weit präsenter ist als noch in den neunziger Jahren. Einige Entscheidungen sind entsprechend deutlich kontrollintensiver.278 Es gibt weiter Anzeichen, dass der EuGH Grundrechte im Sinne föderaler Einheitsbildung unter legitimationserheischender Nutzung des EGMR nutzen will: Mit fadenscheinigen Argumenten wird ein Bezug zum Gemeinschaftsrecht hergestellt, um dann die nationalen Rechtsordnungen auf die EMRK in ihrer Auslegung durch den Straßburger Gerichtshof zu verpflichten.279 Auch sind Rechtsakte ergangen, die spezifische Aspekte des Grundrechtsschutzes in den Mitgliedstaaten betreffen.280 Bemerkenswert ist auch eine Rechtsprechungslinie, welche individuelle Rechtspositionen grundrechtlich umdeutet, was eine grundrechtsorientierte Konstitutionalisierung befördert.281 Auf der anderen Seite gibt es deutliche Zeichen, dass eine allgemeine grundrechtlich ausgerichtete Einheitsbildung auf erhebliche mitgliedstaatliche Widerstände stoßen wird. Die Charta der Grundrechte legt ausdrücklich fest, dass die unionalen Grundrechte in erster Linie die Union verpflichten; die Mitgliedstaaten sind nur in der sogenannten Durchführungskonstellation adressiert, Art. 51 Abs. 1;282 im Zuge der Verhandlungen zum Vertrag von Lissabon wurde dies noch verschärft.283 Die spezifische föderale Spannungslage deutet somit viele Aspekte des unionalen Prinzips der Achtung der Grundrechte. Die bestehende, verfassungsrechtlich geschützte Vielfalt in der Union legt einer prinzipien- oder wertebasierten homogenisierenden Judikative Schranken auf. Weiter verlangen die Besonderheiten der unionalen Organisationsverfassung, so das Fehlen eines auf der Ebene der Union organisierten verfassungsändernden Gesetzgebers, Berücksichtigung bei der Bestimmung der Reichweite und Regelungstiefe von Prinzipien.
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282 283
Vgl. insb. EuGH, Rs. C-540/03 (Fn. 30), I-5769, Rn. 35 ff. So insb. EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279, Rn. 41 ff.; vgl. weiter verb. Rs. C465/00 u.a. (Fn. 30), Rn. 71 ff.; U. Mager, Dienstleistungsfreiheit und Schutz des Familienlebens, JZ 2003, S. 204. Neben der Verordnung zur Grundrechteagentur (Fn. 276) sind insb. zu nennen die Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180, S. 22; Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303, S. 16. EuGH, Rs. C-28/05 (Fn. 233), Rn. 71 ff.; zur Wandlung des Rechts auf Rechtsschutz C. Nowak, Justizielle Grundrechte und Verfahrensgarantien, in: Heselhaus/Nowak (Fn. 234), Rn. 8 ff., 14. Dies ist enger als der Stand der Rechtsprechung, vgl. EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Rn. 41–45; Rs. C-479/04, Laserdisken, Slg. 2006, I-8089, Rn. 61. Ausf. Mayer (Fn. 63), S. 1141.
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3. Prinzip der Rechtsstaatlichkeit Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit wurde in wichtigen Aspekten bereits dargestellt. Mit Blick auf die Beziehung Union – Einzelner tritt nunmehr die Bedeutungsebene hinzu, welche den Schutz des Einzelnen gegenüber Maßnahmen der Union verlangt.284 Dies ist allgemein anerkannt (Art. 47 GR-Charta). Gleichwohl ist dieser Rechtsschutz in einer Reihe von Hinsichten unbefriedigend; der Umgang mit den Defiziten verlangt, die Gesamtkonstellation des Rechtsschutzes durch unionale und mitgliedstaatliche Gerichte im Lichte des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit zu gestalten.285 4. Das Demokratieprinzip a) Entwicklung und allgemeiner Gehalt Nicht das demokratische Prinzip, sondern das der Rechtsstaatlichkeit bestimmte über viele Jahrzehnte den Fokus der Europarechtswissenschaft. Bei letzterem Prinzip bestand von Anfang an Konsens, dass dieses auf das Handeln der supranationalen Organe unmittelbar Anwendung finden müsse, dass die Gemeinschaft eigener rechtsstaatlicher Legitimation bedürfe. Eine bloß mittelbare Anwendung, d.h. eine rechtsstaatliche Einbindung nur der staatlichen Funktionsträger, die im europäischen politischen Prozess mitwirken oder ihre Ergebnisse im nationalen Rechtsraum zur Anwendung bringen, galt stets als unzureichend. In scharfem Kontrast hierzu entwickelte sich das Postulat eigener demokratischer Legitimation der Gemeinschaft. Dies war über lange Zeit nur eine politische Forderung europäischer Föderalisten und kein rechtliches Prinzip. Bis in die neunziger Jahre wurde vertreten, dass der supranationale Herrschaftsträger rechtlich keiner eigenen demokratischen Legitimation bedürfe.286 Dann aber kam es zu einer rasanten Entwicklung mit zwei Schwerpunkten: Unionsbürgerschaft und unionale Organisationsverfassung.287 Es ist bezeichnend für den mühsamen Weg dieser politischen Forderung zu einem Rechtsprinzip, dass sich selbst im Direktwahlakt aus dem Jahre 1976 der Terminus „Demokratie“ noch nicht findet.288 Auch die Rechtsprechung geht bei der Prinzipienbildung kaum voran, nur ganz vorsichtig nutzt sie das Demokratieprinzip ab den achtziger Jahren.289 Der Maastrichter Vertrag positiviert diesen Begriff, 284 285 286
287 288 289
Heuschling (Fn. 164). Näher J. Bast, in diesem Band, S. 510 f., 517 f. A. Randelzhofer, Zum behaupteten Demokratiedefizit der Europäischen Gemeinschaft, in: P. Kirchhof/P. Hommelhoff (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 39 (40). Ausführlich P. Dann und S. Kadelbach, in diesem Band, S. 335 bzw. S. 611. Akt und Beschluss über die Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung vom 20. Sept. 1976, ABl. 1976 L 278, S. 1. Das demokratische Prinzip dient vor allem dazu, die Einhaltung von Regeln überprüfbar zu machen, EuGH, Rs. 138/79, Roquette Frères/Rat, Slg. 1980, 3333, Rn. 33; Rs. C-300/89, Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2867, Rn. 20; Rs. C-392/95, Parlament/Rat, Slg. 1997, I-3213, Rn. 14. Anders EuG, Rs. T-135/96, UEAPME/Rat, Slg. 1998, II-2335, Rn. 89.
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spricht von seiner Maßgeblichkeit für die Union jedoch nur in der 5. Präambelerwägung. Sein Art. F Abs. 1 EU-Vertrag hingegen nutzt ihn nur mit Blick auf die Mitgliedstaaten. Erst der Amsterdamer Vertrag macht in Art. 6 EU den Sprung und verpflichtet auch die Union auf das Demokratieprinzip. Diese interne Entwicklung ist extern abgesichert. Von Bedeutung sind insbesondere ein neueres Verständnis von Art. 3 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK,290 sowie nationale Vorgaben wie Art. 23 Abs. 1 GG.291 Der Konventsentwurf eines Verfassungsvertrages versuchte einen weiteren Sprung, da er die Demokratie in dem Wahlspruch als obersten Wert der Union postulierte; er ging ins Leere, zu Recht. Der Begriff Demokratie wird in Art. 6 EU nicht definiert. Die Unsicherheiten über seinen Gehalt wurden in Teil I Titel VI und Teil II Titel V des Verfassungsvertrages besonders deutlich. Unter den Überschriften „Das demokratische Leben der Union“ und „Bürgerrechte“ versammelte er ein Sammelsurium heterogener Bestimmungen. Die Schwierigkeiten zeigen sich auch in einer bemerkenswert vorsichtigen Rechtsprechung des EuGH, die auf eine unionsrechtliche Bestimmung des demokratischen Subjekts weitgehend verzichtet. Im Gegensatz zu fast allen anderen Begriffen des Unionsrechts vermeidet er eine autonome Bedeutungsfestlegung und überlässt das Feld den Mitgliedstaaten.292 Der Vertrag von Lissabon macht in dieser Hinsicht einen großen Schritt: Die 4 Artikel des Titels II EUV-Liss. sind weitaus kohärenter; die komplexe fächerübergreifende Diskussion zur europäischen Demokratie trägt hier ein paar Früchte.293 Zur Bestimmung des unionalen Demokratieprinzips scheidet eine Reihe von Konzeptionen aus, die in nationalen Diskursen zur Konkretisierung des Demokratieprinzips genutzt werden. Dies gilt insbesondere für das Verständnis von Demokratie als der Herrschaft des Volkes, soweit dieses Volk holistisch verstanden wird: Die Voraussetzungen eines solchen Verständnisses sind auf der europäischen Ebene kaum nachzuweisen. Zwar wäre es möglich, die Summe der Unionsbürger als Volk im Kant’schen Sinne zu konzipieren,294 dies erschiene aber im Licht von Art. 1 Abs. 2 EU, Art. 6 Abs. 3 EU, Art. 189 EG systematisch wenig überzeugend. Das unionale Demokratieprinzip ist also losgelöst vom Volksbegriff zu konkretisieren. Als zentraler Begriff bietet sich der Unionsbürger an; diesen Weg beschreitet Art. 9 EUV-Liss. in der Tradition der republikanischen Gleichheit. Die europäische 290 291 292 293
294
EGMR (GK), Nr. 24833/94, Matthews/Großbritannien, ECHR 1999-I; G. Ress, Das Europäische Parlament als Gesetzgeber: Der Blickpunkt der EMRK, ZEuS 2 (1999), S. 219 (226). Zu Struktursicherungsklauseln in anderen Verfassungen der Beitrag von C. Grabenwarter, in diesem Band, S. 141 ff. EuGH, Rs. C-145/04, Spanien/Großbritannien, Slg. 2006, I-7917, Rn. 71; Rs. C-300/04, Eman, Slg. 2006, I-8055, Rn. 44. F. Schimmelpfennig, Legitimate Rule in the European Union, Tübinger Arbeitspapiere zur Internationalen Politik und Friedensforschung 27 (1996), unter www.uni-tuebingen.de/uni/ spi/taps/tap27.htm (22.04.2008); H. Bauer u.a. (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005; B. Kohler-Koch/B. Rittberger (Hrsg.), Debating the Democratic Legitimacy of the European Union, 2007. A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 62, 110 f.
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Demokratie ist von der Gleichheit der Bürger her zu denken. Allerdings könnte dies in Art. 9 EUV-Liss. noch klarer zum Ausdruck kommen, hat doch Art. 9 EUV-Liss. auch ein paternalistisches Moment. Man würde das unionale Demokratieprinzip verkennen, stellte man allein den Unionsbürger in den Mittelpunkt. Das Unionsrecht anerkennt die demokratische Organisation aller (Art. 17 Abs. 1 S. 1 EG) Unionsbürger durch die Mitgliedstaaten. So stehen neben dem Unionsbürger die demokratisch verfassten Völker der Mitgliedstaaten (Art. 1 Abs. 2 EU, Art. 6 Abs. 3 EU, Art. 189 EG), die als organisierte Verbände in der Union tätig werden. Eine positiv-rechtlich ausgerichtete Konkretisierungsstrategie sollte auf diesem doppelten Textbefund aufbauen: Die Verträge sprechen, soweit das Demokratieprinzip im Raum steht, zum einen von den Völkern der Mitgliedstaaten und zum anderen von den Unionsbürgern. Hiermit sind die zentralen Elemente benannt, die das unionale Demokratieprinzip bestimmen. Die Union beruht auf einer dualen Legitimationsstruktur295: der Gesamtheit der Unionsbürger und den mitgliedstaatlich verfassten Völkern. Diese Konzeption scheint in Art. 10 Abs. 2 EUV-Liss. deutlich auf. An diesem Punkt stellt sich die verfassungstheoretische Schlüsselfrage, ob die beiden Legitimationsstränge von zwei strukturell unterschiedlichen Legitimationssubjekten ausgehen und in unterschiedlichen Theorietraditionen zu fassen sind, oder ob die Legitimationsgrundlage letztlich eine einzige ist.296 Der duale Ansatz scheint zunächst dafür zu sprechen, dass die politische Ausgestaltung als Kompromiss zwischen einem individuumszentrierten und einem holistischen, von dem Makrosubjekt Volk ausgehenden Demokratieverständnis verstanden werden sollte.297 Allerdings erschiene mir eine entsprechend synkretistische Konzeption auf der theoretischen Ebene problematisch. Theoretisch ist es überzeugender, nur die Individuen, die Staats- wie Unionsbürger sind, als die einzigen Legitimationssubjekte zu konzipieren.298 Angesichts der Kompromissnatur des positiven Rechts kann diese theoretische Einsicht jedoch nur überaus vorsichtig rechtsfortbildend genutzt werden. Worum geht es aber in der Sache? Manche Autoren begreifen die europäische Demokratie, wie jede Demokratie, als Weg politischer Selbstbestimmung.299 In der Tat kann man die Union als Institution deuten, welche die Europäer vor amerikani295 296
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299
Zum Modell dualer Legitimation die Beiträge von S. Oeter und P. Dann, in diesem Band, S. 90 ff. bzw. S. 378 ff.; Peters (Fn. 89), S. 556 ff. J. v. Achenbach, Theoretische Aspekte des dualen Konzepts demokratischer Legitimation für die Europäische Union, in: S. Vöneky/C. Hagedorn/M. Clados/dies. (Hrsg.), Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht, 2009, S. 191. S. Dellavalle, Between Citizens and Peoples, Annual of German & European Law II/III (2004/2005), S. 171. Näher v. Achenbach (Fn. 296) und Dellavalle (Fn. 297); in diesem Sinne dogmatisch A. v. Bogdandy (Fn. 105), S. 900; I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (160 f., 176). Kohler-Koch/Rittberger (Fn. 293), S. 12, 160; C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 28 ff. Diese Konzeption wird theoretisch etwa von Habermas diskursprägend vorgetragen, Habermas (Fn. 16), S. 118, 383 ff. und passim.
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scher, chinesischer oder russischer Fremdbestimmung schützt. Dies genügt dem Begriff politischer Selbstbestimmung in einer postkolonialen Zeit jedoch nicht. Der Gedanke der Selbstbestimmung kann dann entweder im Sinne individueller Selbstbestimmung verstanden werden. Die kaum verständlichen Verfahren der Union in diesem Sinne zu deuten übersteigt eine durchschnittliche Vorstellungskraft, zumindest die des Autors. Auch erscheint mir ein solches Verständnis als eine theoretische Zumutung, die gegenüber Uneinsichtigen leicht ausgrenzend wirkt. Die Alternative ist, Demokratie als kollektive Selbstbestimmung zu deuten. Dies ist im Nationalstaat auf der Grundlage eines starken Nation-Begriffs plausibilisierbar. Dieses Verständnis trägt jedoch nicht auf der europäischen Ebene, weil es just an einem solchen Kollektiv, an dieser Form politischer Einheit, an einem solchen „Wir“ fehlt. Die Konsequenz einer solchen Konzeption kann nur sein, die Union als zumindest derzeit demokratieunfähig zu bezeichnen. Dies ist gewiss eine theoretisch vertretbare Konzeption, die aber rechtsdogmatisch nichts taugt, da sie unfähig ist, einen Begriff des positiven Rechts, die „Demokratie“ in Art. 6 Abs. 1 EU, mit Sinn zu füllen. Politische Selbstbestimmung wird damit zugleich für das Demokratieverständnis in den Mitgliedstaaten unplausibel, da die mitgliedstaatlichen Völker angesichts ihrer Gliedstellung in der Union keine Selbstbestimmung ausüben. Solche Demokratiekonzeptionen dürften daher im Kontext der Union insgesamt kein konstruktives, sondern nur ein kritisches Potenzial haben. Entsprechende philosophische Konzeptionen arbeiten an einer „regulativen Idee“,300 deren Leuchtkraft für die Arbeit am positiven Recht beschränkt ist und die nicht mit einem Rechtsprinzip verwechselt werden sollte. Im Folgenden soll ein bescheideneres Verständnis skizziert werden, das zunächst einmal auf Interessenrepräsentation und Kontrolle abzielt. b) Demokratieprinzip und Organstruktur Das demokratische Prinzip findet seine bedeutendste Verwirklichungsstrategie in repräsentativen Institutionen; hierauf baut Art. 10 Abs. 1 EUV-Liss. Fast zwanzig Jahre Diskussion haben ergeben, dass der Parlamentarismus alternativlos, aber zeitgemäß zu konzipieren ist.301 Entsprechend dem Grundgedanken der dualen Legitimation ergeben sich aus Wahlen zwei Legitimationsstränge: zum einen das auf der Gesamtheit der Unionsbürger fußende Europäische Parlament, zum anderen Rat und Europäischer Rat, deren Legitimation auf den demokratisch verfassten mitgliedstaatlichen Völkern aufruht, so Art. 10 Abs. 2 EUV-Liss. Dabei besteht gegenwärtig ein deutliches Übergewicht bei dem Legitimationsstrang, der über die nationalen Parlamente führt, wie sich insbesondere aus Art. 48 EU sowie der Präponderanz des Rates und des Europäischen Rates in den unionalen Entscheidungsverfahren ergibt. In dieser Erkenntnis stärkt der Vertrag von Lissabon den Verbundcharakter, indem er in Art. 12 EUV-Liss. zu diesem Zweck staatsorganisationsrechtliche Vorgaben macht. 300 301
Habermas (Fn. 16), S. 264. A. v. Bogdandy, Parlamentarismus in Europa, AöR 130 (2005), S. 445.
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Man mag zweifeln, ob ein Prinzip der dualen Legitimation formuliert werden kann, da sich die Mitentscheidung des Europäischen Parlaments noch keineswegs bei allen Kompetenzen durchgesetzt hat und keineswegs alle Akte ihm gegenüber verantwortet werden müssen. Unter der geltenden Rechtslage kann das Prinzip so verstanden werden, dass die demokratische Legitimation des Unionshandelns durch den Rat und das Europäische Parlament vermittelt werden kann und dies bei gesetzgeberischem Handeln der Normalfall ist.302 Das Rechtsprinzip bestimmt aber nicht, ob der Normalfall vorliegt, also welches Organ eine konkrete Entscheidung treffen muss;303 dies richtet sich nach der einschlägigen Kompetenz.304 Die Forderung der Ausweitung parlamentarischer Kompetenzen verbleibt im politischen Raum. Ist somit der operative Gehalt des unionalen Demokratieprinzips beschränkt, so führt es doch zu einem neuen kognitiven Rahmen, der die Weiterentwicklung des europäischen Verfassungsdenkens beflügeln wird. Konzeptionell ist es ein großer Schritt, dass ein transnationales, nicht ein Volk repräsentierendes Parlament überhaupt demokratische Legitimation spenden kann. Ebenso wichtig ist, dass ein gubernatives Organ hierzu ebenfalls in der Lage ist. In den nationalen Verfassungsräumen gilt die demokratische Qualität gubernativer Entscheidungen als problematisch. Selbst in bundesstaatlichen Verfassungen wird dem Vertretungsorgan der gliedstaatlichen Regierungen kaum demokratische Bedeutung zugesprochen.305 Zu stark ist das Denken vom unitarisch konzipierten Bundesvolk her. Der europäische Exekutivföderalismus306 hat hingegen demokratischen Eigenstand im Lichte des unionalen Demokratieprinzips. Weitere Konkretisierungen des demokratischen Prinzips erfolgen oft über die spezifische Stellung des Parlaments im Organisationsgefüge. Die entsprechende Forschung zum Europäischen Parlament und wohl auch das Parlament selbst befinden sich hier noch auf der Suche nach einem weithin konsentierten Modell. c) Transparenz, Beteiligung, Deliberation und Flexibilität Das demokratische Prinzip hat in der Union mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als im Nationalstaat. Dies mag ein Preis der größeren privaten Freiheit in der Union sein. So setzen die schiere Größe der Union und ihre konstitutive Vielfalt, die Ferne ihrer Institutionen und deren Komplexität einer Verwirklichung des demokratischen Prinzips über repräsentative Mechanismen engere Grenzen als im Nationalstaat. Entsprechend haben weitere Strategien der Demokratisierung in der Union eine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ein wichtiges Ergebnis der Diskussion der 302 303 304 305 306
EuGH, Rs. C-133/06 (Fn. 114), Rn. 63; ausdrücklich Art. 289 AEUV. Dies unbeschadet der politischen Forderung, dass zumindest in den Bereichen, in denen der Rat mit Mehrheit entscheidet, das Parlament mitentscheiden sollte. So ist das Demokratieprinzip kein Kriterium bei der Kompetenzabgrenzung, EuGH, Rs. C300/89 (Fn. 289), Rn. 20 f.; missverständlich GA Tesauro, ebd., I-2892 f. A. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004, S. 199 ff., 279 ff., 312 f. Zum Exekutivföderalismus P. Dann und S. Oeter, beide in diesem Band, S. 343 ff. bzw. S. 103 ff.
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letzten 20 Jahre ist, dass diese weiteren Strategien den Parlamentarismus nur ergänzen, nicht aber ersetzen können. Wichtig sind insbesondere Transparenz, Betroffenenbeteiligung, Deliberation und Flexibilität; Art. 11 EUV-Liss. nimmt dies auf. Einen ersten Komplex bildet die Transparenz hoheitlichen Handelns, seine Verständlichkeit und die Zuordnung von Verantwortung; dies wird im staatlichen Kontext nur selten mit dem Demokratieprinzip in Verbindung gebracht. Das Europäische Verfassungsrecht gebietet hingegen seit dem Amsterdamer Vertrag mit Art. 1 Abs. 2 EU, dass die Entscheidungen „möglichst offen“, also transparent getroffen werden müssen. Die spezifisch demokratische Bedeutung der Transparenz im europäischen Recht unterstreicht Art. 11 Abs. 1 und 2 EUV-Liss. Transparenz verlangt die Kenntnis der Motive. Das Gemeinschaftsrecht kennt in Art. 253 EG (Art. 296 Abs. 2 AEUV) eine Begründungspflicht auch für Rechtsetzungsakte, die es in staatlichen Rechtsordnungen kaum gibt. Sie wurde zunächst als Aspekt der Herrschaft des Rechts konzipiert,307 ihre Relevanz für das demokratische Prinzip im Sinne effektiver politischer Kontrolle wird inzwischen gesehen.308 Von Bedeutung für den Transparenzgrundsatz ist weiter der Zugang zu Dokumenten, Art. 255 EG, inzwischen Gegenstand einer beachtlichen Rechtsprechung.309 Ein weiterer Aspekt ist die Öffentlichkeit der Abstimmungsergebnisse des Rates bei dem Erlass legislativer Maßnahmen.310 Der zweite Komplex betrifft Formen politischer Beteiligung jenseits von Wahlen. Bürgerbefragungen und -entscheide sind etablierte Instrumente, um nationale Entscheidungen zu europäischen Fragen (wie den Beitritt oder einen Änderungsvertrag) zu legitimieren. Es gibt den Vorschlag, solche Instrumente auf die europäische Ebene auszudehnen.311 Dahinter zurück bleibt die Bürgerinititative des Vertrags von Lissabon (Art. 11 Abs. 4 EUV-Liss.),312 da eng gefasst. Ihre demokratische Bedeutung ist kaum einzuschätzen. Während die Union keine Erfahrungen mit direktdemokratischen Instrumenten hat, ist ihr die Beteiligung Interessierter und Betroffener wohlbekannt. Die Forschung zeigt, dass dies, insbesondere wenn mit deliberativen Momenten angereichert, dem demokratischen Prinzip dienen kann.313 Art. 10 Abs. 2 EUV-Liss. ist diesem Gedanken verpflichtet. Allerdings muss das Prinzip politischer Gleichheit beachtet werden und die Beteiligungsformen sind so auszugestalten, dass sie nicht 307 308 309 310 311 312 313
H. Scheffler, Die Pflicht zur Begründung von Maßnahmen nach den europäischen Gemeinschaftsverträgen, 1974, S. 44 ff., 66 ff. EuGH, Rs. C-64/05 P (Fn. 165), Rn. 54, 64. J. Heliskoski/P. Leino, Darkness at the Break of Noon, CMLRev. 43 (2006), S. 735. Art. 207 Abs. 3 S. 4 EG; C. Sobotta, Transparenz in den Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Union, 2001, S. 144 ff., 198 ff. H. Abromeit, Ein Vorschlag zur Demokratisierung des europäischen Entscheidungssystems, PVS 1998, S. 80; J. Habermas, Ach, Europa, 2008, S. 105. A. Epiney, Europäische Verfassung und Legitimation durch die Unionsbürger, in: S. Kadelbach (Hrsg.), Europäische Verfassung und direkte Demokratie, 2006, S. 33 (46 ff.). B. Kohler-Koch, The Organization of Interests and Democracy, in: dies./Rittberger (Fn. 293), S. 255.
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das politische Handeln blockieren oder sich zum Gefangenen organisationsstarker Gruppen machen. Von demokratischer Relevanz erscheint weiter die Flexibilisierung der Union.314 Sie erlaubt die Respektierung einer mitgliedstaatlichen demokratischen Mehrheit, ohne dass diese Mehrheit, die eine europäische Minderheit ist, die Verwirklichung des europäischen Mehrheitswillens unterbindet. Allerdings stellen sich schwierige Fragen der Wettbewerbs- und Lastengleichheit wie auch der Wahrung demokratischer Transparenz im Entscheidungsverfahren.315 Weiter dient die Möglichkeit zum Austritt aus der Union, die Art. 50 EUV-Liss. vorsieht, dem demokratischen Prinzip, da sie nationale Selbstbestimmung eröffnet, wenn die Herrschaft der Union als illegitime Fremdbestimmung erscheinen sollte.316 d) Supranationale Demokratie: eine Evaluierung Die vorstehenden Überlegungen zeigen, dass das demokratische Prinzip auf der europäischen Ebene schrittweise Gehalte erlangt, die an etablierte Konzeptionen anschließen, zugleich jedoch innovative Akzentuierungen aufweisen. Die bedeutendsten Modifikationen lassen sich darauf zurückführen, dass der demokratische Verfassungsstaat, selbst in der bundesstaatlichen Variante, nach herrschendem Verständnis auf einer politischen Einheit im Sinne einer Staatsnation aufruht. Daran fehlt es in der Union, geht sie doch konstitutiv von dem Bestand unterschiedlicher, staatlich organisierter Völker aus.317 Dies ergibt sich etwa aus der Garantie des Fortbestands der mitgliedstaatlichen Völker, dem fehlenden Staatsgründungswillen, der Zentralität von Rat und Europäischem Rat. Die Annahme einer europäischen Gesellschaft, von Art. 2 EUV-Liss. postuliert, ändert daran nichts. Dies hat prinzipielle Auswirkungen: Während im staatlichen Verfassungsrecht die politische Gleichheit der Staatsbürger weithin die Organisationsverfassung prägt,318 muss im unionalen Verfassungsrecht der Organisation der Vielfalt gleicher Rang eingeräumt werden. Dies ist kein völliges Novum und demokratietheoretisch begründbar.319 Hieraus rechtfertigen sich etwa die Einschränkungen betreffend die Realisierung des Prinzips politischer Gleichheit320 oder die gubernativlastige Ausgestaltung der politischen Ordnung. Vielleicht werden sie gar einmal
314 315 316 317 318 319 320
D. Thym, Supranationale Ungleichzeitigkeit im Recht der europäischen Integration, EuR 2006, S. 637. J. Wouters, Constitutional Limits of Differentiation, in: B. de Witte u.a. (Hrsg.), The Many Faces of Differentiation in EU Law, 2001, S. 301. J.-V. Louis, Le droit de retrait de l’Union européenne, Cahiers de Droit Européen 2006, S. 293. R. M. Lepsius, Die Europäische Union als Herrschaftsverband eigener Prägung, in: C. Joerges u.a. (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Polity?, 2000, S. 203 (210 f.). K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 125, 130. G. Frankenberg, in: E. Denninger u.a. (Hrsg.), AK-Grundgesetz, 2001, Art. 20, Abs. 1-3, I (Republik), Rn. 37; Schmitt (Fn. 226), S. 388 f. F. Arndt, Ausrechnen statt aushandeln, ZaöRV 68 (2008), S. 247 (251).
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wichtige Elemente eines originär supranational-föderalen Demokratieverständnisses sein.321 Es fragt sich, ob unter dem Demokratieprinzip rechtliche Defizite festzustellen sind, die zu rechtsfortbildendem Eingreifen rufen. Im Bereich der Organisationsverfassung, insbesondere im Verhältnis von Rat und Parlament, dürfte dies nur in engen Grenzen möglich sein, weil der Rat nach dem Prinzip der dualen Legitimation selbst der Realisierung des demokratischen Prinzips dient und im unionalen Verfassungsrecht keine Anhaltspunkte zu finden sind, wonach die demokratische Legitimation über das Europäische Parlament höher zu werten ist. Allerdings könnte Art. 10 EUV-Liss. eine Vermutungsregel für eine duale Legitimation entnommen werden, dies hätte ein rechtsfortbildendes Potenzial. Schon heute wirkt das Prinzip in diesem Sinne in den Bereichen Transparenz, Beteiligung betroffener Interessen322 und im Intraorganrecht.323 5. Das Solidaritätsprinzip Das letzte der klassischen Prinzipien des europäischen Konstitutionalismus ist die Solidarität. Unter dem Solidaritätsprinzip organisiert der Hoheitsträger den Zusammenhalt und die gegenseitige Hilfe der Bürger.324 Anhaltspunkte finden sich nicht in Art. 6 EU, wohl aber in Art. 1 Abs. 3 S. 2, Art. 2 EU. Man beachte die Textentwicklung. In der ursprünglichen Formulierung des Art. 2 EWG-Vertrag ging es nur um die Förderung engerer Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, ein nur schwacher Anklang an die erste Präambelerwägung, nach welcher der Vertrag auf „einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ zielt. Spätere Ergänzungen haben das Ziel der Präambelerwägung angenähert. Die Ersetzung des Begriffs Beziehungen durch Zusammenhalt durch den Maastrichter Vertrag kann als Übergang von einer Konzeption internationaler Beziehungen zur Konzeption eines politischen Gemeinwesens gelesen werden. Die Zentralität der Solidarität unterstreicht die Grundrechte-Charta, insbesondere in Titel IV. Die Entwicklung ist auch inspiriert von der Idee eines europäischen Sozialmodells, das Europa gegenüber den Vereinigten Staaten positiv qualifiziert; dies bildet den Hintergrund für Art. 3 Abs. 3 EUV-Liss. Gleichwohl zählt die Solidarität weiterhin nicht zu den Gründungsprinzipien des Art. 6 EU, Art. 2 EUV-Liss. Hier leuchtet eine wichtige Grundspannung auf: Die Spannung zwischen Mitgliedstaaten, die „Geber“, und jenen, die „Nehmer“ der in321
322 323 324
Bausteine bei P. Magnette, European Democracy Between Two Ages, in: Barnard (Fn. 130), S. 13; M. Nettesheim, Demokratisierung der Europäischen Union und Europäisierung der Demokratietheorie, in: Bauer u.a. (Fn. 293), S. 143. EuG, Rs. T-135/96 (Fn. 289), Rn. 88 ff. EuG, verb. Rs. T-222/99, T-327/99 und T-329/99, Martinez u.a./Parlament, Slg. 2001, II-2823, Rn. 195. T. Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im Europäischen Verfassungsverbund, 2003, S. 22 ff., 128 ff.; M. Lais, Das Solidaritätsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2007, S. 25 ff.
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nereuropäischer Umverteilung sind. Art. 2 EUV-Liss. verdichtet diese Spannung, indem er die Solidarität nicht als Wert der (handlungsfähigen) Union, wohl aber als Wert der diffusen europäischen Gesellschaft niederlegt. Das Ziel sozialer Gerechtigkeit, das Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV-Liss. zur Konturierung eines europäischen Sozialmodells einführt, wird nicht im Lichte der Solidarität unter Bürgern, sondern unter Mitgliedstaaten gefasst. Gleiches gilt für die Solidarität in der Außen- und Sicherheitspolitik, Art. 11 Abs. 2 EU (Art. 24 EUV-Liss.). Der geringe Entwicklungsstand der europäischen Solidargemeinschaft im Vergleich zu einer staatlichen Solidargemeinschaft zeigt sich auch in dem Fehlen einer Verteidigungsgemeinschaft, dem weitgehenden Beistandsausschluss in Art. 100, 103 EG (Art. 122, 125 AEUV), sowie der primärrechtlichen Grenze der von der Union organisierten Umverteilung.325 Aus alldem folgt: Umverteilung als wohl wichtigster Aspekt des Solidaritätsprinzips zählt nicht zu den legitimatorischen Grundlagen der Union. Die Autonomie der Mitgliedstaaten hinsichtlich Organisation, Anspruchstypen und Anspruchsniveau ihrer Sozialsysteme als herausragende Instrumente staatlicher Einheitsbildung bleibt weitgehend unberührt. Solidarität ist gleichwohl in einem beschränkteren Maße ein Prinzip des Unionsrechts, und seine Ausgestaltung zeigen wiederum die Union als Drittes neben einer internationalen Organisation und einem Bundesstaat. Wenngleich die mitgliedstaatliche Solidarität kaum rechtsfortbildende Bedeutung erlangt hat,326 so dient sie dem EuGH etwa zur Abstützung der Rechtsgemeinschaft.327 Verfassungsrechtlich interessanter ist, dass das Unionsrecht auch auf zwischenmenschliche Solidarität in den Mitgliedstaaten abzielt. Insbesondere gebietet die Unionsbürgerschaft eine Gleichbehandlung von Unionsbürgern in den national organisierten Solidarsystemen, sie verlangt „eine bestimmte finanzielle Solidarität der Angehörigen [des Aufnahmestaates] mit denen der anderen Mitgliedstaaten“.328 Es gibt Anzeichen, dass die Union insgesamt darauf abzielt, Fortentwicklung der europäischen Nationen zu inklusiven und insoweit solidarischen Gesellschaften zu fördern, die im globalen Wettbewerb erfolgreich sind.329 Man ist an das Binnenmarktprogramm der achtziger Jahre erinnert: Damals führten die Regierungen über die EG ein großes volkswirtschaftliches Modernisierungsprogramm durch, heute geht es um die Inklusion von Randgruppen im Rahmen gesellschaftlicher Modernisierung. Dies dient sowohl der Lissabon-Strategie zur Steigerung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit – Exklusion und Diskriminierung sind teuer und unökonomisch – als auch der Entwicklung eines neuen, globalisierungstauglichen europäi-
325 326 327 328
329
Eigenmittelbeschluss 2007/463/EG, ABl. 2007 L 163, S. 17. Vgl. EuGH, Rs. C-149/96, Portugal/Rat, Slg. 1999, I-8395, Rn. 83 ff.; Rs. 126/86, Giménez Zaera, Slg. 1987, 3697, Rn. 11. EuGH, Rs. 39/72, Kommission/Italien, Slg. 1973, 101, Rn. 24 f. EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 31, 44; prononciert K.-D. Borchardt, Der sozialrechtliche Gehalt der Unionsbürgerschaft, NJW 2000, S. 2057; Kingreen (Fn. 324) S. 414 ff. Vgl. Fn. 280; kritisch Somek (Fn. 259), S. 245 ff.
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schen Sozialmodells. Art. 3 Abs. 3 EUV-Liss. versteht sich vor diesem Hintergrund.
VI. Schlussbetrachtung Vergleicht man die unionalen Grundprinzipien mit solchen aus staatlichen Verfassungen, so zeigen sich Kontinuität und Neubeginn. Dabei besteht eine um so größere Kontinuität, je weniger die staatsrechtliche Position dem Postulat der Einheit verpflichtet ist, wenn also Begriffe wie Volk und Souveränität nicht als zentral, sondern peripher, wenn Repräsentation nicht als das Sichtbarmachen eines unsichtbaren Seins, sondern als Instrument der Interessenaggregation, wenn das Gesetz nicht als Inbegriff der volonté générale höheren Wahrheitsgehalts, sondern als Ergebnis von Aushandlungsprozessen verstanden werden. Je mehr das staatliche Verfassungsrecht als Verfassungsrecht gesellschaftlichen und politischen Pluralismus gedeutet wird, desto eher ergeben sich theoretische und dogmatische Verbindungen. Das Demokratieprinzip und das Verhältnis zwischen Einheit stiftenden und Vielfalt schonenden Prinzipien erwiesen sich als im philosophischen Sinne problematisch.330 Im Sinne philosophischer Prinzipien kann dies als Spannung zwischen unionsrechtlich gewährleisteter gleicher Freiheit und mitgliedstaatlich organisierter Vielfalt gedeutet werden. Wahrscheinlich hat Carl Schmitt in einem Punkt einmal Recht, wenn er substantielle Stabilität in einer nicht homogenen Föderation für ausgeschlossen hält.331 Noch wahrscheinlicher aber ist, dass substantielle Stabilität in einer vielfach verflochtenen und sich rasch verändernden Welt auch mit Blick auf staatliche Institutionen ein überholter Wunschtraum ist. Worauf es wirklich ankommt, dies sollte eine Prinzipienlehre zeigen.
330 331
Kant (Fn. 1), S. 392, 444; aus diesem Grund folgt nun der Beitrag von S. Oeter zu Föderalismus und Demokratie. Schmitt (Fn. 226), S. 370 ff.
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I. II. III. IV.
Einführung: Die Europäische Union – ein föderales Gemeinwesen? . . . . . . . . . . . . . 73 Die verschiedenen „Föderalismusdiskurse“ – eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Die Europäische Union als föderatives „Mischsystem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Vom Nutzen föderaler Analogien – oder: der Zentralstaat als Leitbild der Staatstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Die Souveränitätsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Volkssouveränität und die „Verfassung“ der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . 90 V. Die Rolle des Demokratieprinzips im föderalen „Staatenverbund“ 97 VI. Die Konstruktion demokratischer Verantwortlichkeit – Erfahrungen föderaler Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Exekutivföderalismus und parlamentarische Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Demokratische Verantwortlichkeit und das Institutionensystem der EU . . . . . . . 106 3. „Demokratiedefizit“ und der Drang zur Konkordanzdemokratie . . . . . . . . . . . . . 112 4. Europäisches Konkordanzsystem und die sozialen Voraussetzungen funktionierender Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 VII. Schlussfolgerungen: Die föderale „Verbundverfassung“ – ein zukunftsfähiges Modell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
I. Einführung: Die Europäische Union – ein föderales Gemeinwesen? Anleihen bei Konzepten des Föderalismus erfreuen sich seit einigen Jahren wieder einer gewissen Beliebtheit in der verfassungspolitischen Debatte. Was lange Zeit nahezu undenkbar schien, tritt nun wieder ein: Politiker glauben sich mit Slogans wie „Vom Staatenverbund zur Föderation“ als Visionäre profilieren zu können.1 Zugleich dienen derartige „Visionen“ aber auch Politikern gegenläufiger Orientierung, insbesondere in Frankreich und Großbritannien, als Schreckgespenster, mit denen sich die auf die Bewahrung traditionaler Nationalstaatlichkeit orientierten Wählermassen dieser Länder mobilisieren lassen. Anleihen bei Denkmustern und Vokabular des Föderalismus zementieren so immer wieder neu den Graben, der die unterschiedlichen Lager in der verfassungspolitischen Debatte um das zukünftige Europa voneinander trennt. „Understanding the European Union as a Federal Polity“, so der 1
Siehe nur die Rede von Bundesaußenminister Fischer an der Humboldt-Universität, Berlin, am 12. Mai 2000: J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation: Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, integration 2000, S. 149 (154); vgl. auch F. Mancini, Europe: The Case for Statehood, ELJ 4 (1998), S. 29.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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Titel eines Aufsatzes eines amerikanischen Politikwissenschaftlers,2 ist eben alles andere als eine konsensfähige Position. Dabei hatten für eine in den Gründungsjahren der Gemeinschaft sehr einflussreiche Gruppe von Verfechtern der europäischen Integration Konzeptionen des Föderalismus immer als Richtschnur für ihre Visionen einer künftigen „Verfassung Europas“ gedient, orientiert auf das Projekt einer Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“.3 Von den – in der nationalstaatlichen Politik weitherum vorherrschenden – Gegnern dieser Vision wurde und wird der Gebrauch föderaler Konzepte in der Europapolitik und -wissenschaft dagegen seit jeher als „hoffnungslos unpraktische oder nachgerade utopische“ Fehlvorstellung belächelt, ja als Horrorszenario.4 Das dirty F-word ist in vielen Kreisen lange Zeit geradezu ein Tabubruch gewesen. Doch warum ist dies eigentlich so? „Why has federalism provoked such an obviously irrational human response“ – wie es ein Kenner der Debatte, der englische Politikwissenschaftler Michael Burgess, formulierte – „and why does it continue today to upset even well-informed observers of the evolving European Union (EU)?“5 Als Gründe für diese merkwürdige emotionale Aufladung der Föderalismusdebatte führt Burgess – meines Erachtens einleuchtend – vor allem eine verzerrte Wahrnehmung föderalistischer Erfahrungen an. Föderalismus, so konstruieren weite Kreise in Europa die Grunderfahrung föderaler Systeme wie der USA, Deutschlands oder der Schweiz, sei Teil des historischen Prozesses der Staatsbildung und der nationalstaatlichen Integration in heterogenen Gemeinwesen wie den nordamerikanischen Kolonien, der Eidgenossenschaft oder dem „bündischen System“ des Deutschen Reiches Bismarck’scher Prägung. Föderalismus sei damit untrennbar verknüpft mit dem dialektischen Prozess der Bildung einer eigenen „Nation“ und eines eigenen „Staates“. Die Bildung einer föderal strukturierten Europäischen Union laufe damit aber – so wird implizit unterstellt – unweigerlich auf die „Staatswerdung Europas“ hinaus, die Einschmelzung der Nationalstaaten und Nationalkulturen im Schmelztiegel einer neu zu formenden „europäischen Nation“.6 In Frontstellung zu dieser Fehlwahrnehmung hat der Rückgriff auf Föderalismus-Konzepte zunächst deutlich zu machen, dass die Konstruktion eines geeinten Europas in föderalen Kategorien kein Unternehmen zur Zerstörung der tradierten Nationalstaaten darstellt, sondern im Gegenteil letztlich ein Unternehmen zu deren Rettung.7 Dem Druck der zunehmenden internationalen Verflechtung der Ökonomien, Gesellschaften und Staatswesen werden sich die überlieferten Nationalstaa2 3 4 5 6 7
R. Koslowski, Understanding the European Union as a Federal Polity, in: T. Christiansen u.a. (Hrsg.), The Social Construction of Europe, 2001, S. 32. Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von M. Burgess, Federalism and European Union: The Building of Europe, 2000, S. 55 ff. Siehe nur Burgess (Fn. 3), S. xi. Ebd. Ebd., S. xi f.; vgl. auch T. Fischer/N. Schley, Europa föderal organisieren, 1999, S. 38 f. Formulierung in Anlehnung an S. Hoffmann, Reflections on the Nation-State in Western Europe Today, JCMS 21 (1982), S. 21; vgl. ferner A. S. Milward, The European Rescue of the Nation-State, 1992, insb. S. 2 ff., 438 ff.
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ten nur auf Dauer stellen können, wenn sie es schaffen, in arbeitsteiliger Eingliederung in einen größeren Verbund zu angemessenen Antworten auf die auftretenden Herausforderungen zu kommen, zugleich aber in der Funktionsteilung des föderalen Systems ihren Bestand und ihre (wenn auch beschränkte) Handlungsautonomie zu sichern. Letzten Endes dient die gesamte Argumentation dieses Beitrages einer Korrektur der einleitend beschriebenen, leider weitverbreiteten Fehldeutungen – und dies nicht nur im Blick auf die Erkenntnis der schon stark föderalen Züge der Union, sondern auch im Blick auf die Konstruktion demokratischer Verantwortlichkeit von Herrschaft in einem solchen „Bund“8 etablierter Nationalstaaten, deren konstruktive Dilemmata nur auf dem Hintergrund der föderalen Eigenheiten des europäischen Verbundgefüges begreifbar sind. Hat man die erste „Sperrlinie“ einer völligen Tabuisierung föderalistischer Konzepte für die Diskussion um die europäische Integration erst einmal überwunden, so tut sich ein neues Problem auf. Sieht man genau hin, so gibt es nicht einen einzigen, mehr oder weniger geschlossenen Diskurs über „Föderalismus und Europäische Union“, sondern eine Vielzahl derartiger Diskurse, die zum Teil nur wenig miteinander verbindet. Der verfassungspolitische Diskurs über ein zukünftiges „föderales Europa“ folgt ganz anderen Leitmotiven, Konzepten und Argumentationslinien als der eher analytische, politikwissenschaftlich-europarechtliche Diskurs über die theoretische Modellierbarkeit des bestehenden Gefüges der EU in den Kategorien eines föderalen oder föderativen Verbundsystems. Will die eine Denkschule die „Halbheiten“ des gegenwärtigen „Staatenverbundes“ in der föderalen Verfassung eines „wirklich geeinten“ europäischen Bundesstaates überwinden, so ist der anderen Denkschule das bestehende Mehrebenensystem der Europäischen Union schon heute im Kern ein Gebilde föderaler Verbundstaatlichkeit, das aber gerade nicht auf Transformation in einen echten Bundesstaat angelegt ist, sondern in der Pfadabhängigkeit dieser Hybridkonstruktion weiter als Verbundgefüge eigenen Charakters fortzuentwickeln ist. In einem ersten Schritt liegt es daher nahe, eine ganz knappe Bestandaufnahme der verschiedenen Theorieansätze und Modelle zu unternehmen, die das Integrationsprojekt der EU im Lichte föderaler Kategorien zu begreifen suchen. Implizit wird es dabei auch schon um die Frage gehen, welchen Erkenntnisgewinn der jeweilige Diskurs für die europäische Verfassungsdebatte zu erbringen verspricht. Ist man als Rechts- und Politikwissenschaftler eher an der Erfassung, analytischen Durchdringung und theoretischen Konstruktion des bestehenden Systems interessiert als an den „visionären“ Forderungen nach einer Überwindung des Bestehenden, so liegt dabei die Präferenz für den institutionalistisch orientierten, politikwissenschaftlich geprägten Diskurs über die theoretische Modellierbarkeit des bestehenden Gefüges der EU in den Kategorien eines föderalen oder föderativen Verbundsystems auf der Hand.
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Siehe zur Leistungsfähigkeit der Begrifflichkeit des „Bundes“ nur C. Schönberger, Die Europäische Union als Bund, AöR 129 (2004), S. 81.
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Der Kern dieses auf eine synthetische Rekonstruktion der europäischen Föderalismus-Debatte zielenden Beitrages arbeitet sich daher an den Grundfragen und Leitkonzepten des politikwissenschaftlichen Diskurses über „Föderalismus und Europäische Union“ ab, also des Streites, ob und inwieweit die (bestehende) Europäische Union in den Kategorien eines föderalen oder föderativen Verbundsystems theoretisch modellierbar ist – und was sich daraus dann für die Konstruktion demokratischer Verantwortlichkeit von Herrschaft auf der Ebene der Europäischen Union ableiten lässt. Dieser Streit weist zahlreiche Fallstricke auf, ist er doch durch einen untergründigen Grabenkrieg divergierender staatstheoretischer Konzepte und Begrifflichkeiten geprägt, die im Zuge einer Revision und Synthese grundlegend zu überprüfen sind, wie an den besonders heiklen Debatten um Souveränität und um Demokratie in der Europäischen Union deutlich zu machen ist. In den Blick gerät bei diesem Versuch einer Rekonstruktion und Überprüfung etablierter Begrifflichkeiten (und Denkmodelle), in welchem Ausmaß unser staatstheoretisches Denken bis heute von Kategorien (und Frontstellungen) des 19. Jahrhunderts geprägt bleibt – ohne dass man sich sicher sein kann, dass diese Begrifflichkeiten und Konzepte noch ausreichen, um den Herausforderungen eines Umbaus von Staatlichkeit im 21. Jahrhundert gerecht zu werden.9 In unangemessenen theoretischen Konzepten aber steckt eine enorme Gefahr. „Was nicht mehr begriffen werden kann, das ist nicht mehr“ – so könnte man als Konstruktivist in Anspielung an einen berühmten Satz Hegels sagen.10
II. Die verschiedenen „Föderalismusdiskurse“ – eine Skizze Für die Gründungsväter der Gemeinschaft stellte sich das soeben skizzierte Problem noch nicht, konstruierten sie doch eine aus den Formen der internationalen Organisation herausentwickelte neue Form supranationaler Integration, deren gedachter Endzustand sich bruchlos in die etablierten Kategorien der tradierten Staatstheorie einfügen ließ. Erstrebtes Ziel war – dies lässt sich ohne ungebührliche Vergröberung wohl sagen – für die Gründergeneration die schrittweise Verdichtung der Integration hin zu den damals als Vision noch weithin konsentierten „Vereinigten Staaten von Europa“, in klassischen Formen des Bundesstaates.11 Ein Titel wie „Der unvollendete Bundesstaat“12 – so der Titel eines grundlegenden Buches von Walter Hallstein aus den sechziger Jahren – war damals noch primär eine programmatische Aufforderung, das Projekt der gemeinsamen Zielsetzung gemäß zu Ende zu führen. 9 10
11
12
Siehe hierzu J. E. K. Murkens, The Future of Staatsrecht: Dominance, Demise or Demystification, Modern Law Review 70 (2007), S. 731 (735 ff.). Als ersten (hochinteressanten) Versuch einer Anwendung der Konzepte des Konstruktivismus auf die Probleme der Integrationsforschung siehe den von Christiansen u.a. hrsg. Sammelband (Fn. 2). Siehe dazu eingehend Burgess (Fn. 3), S. 64 ff., außerdem J. Pinder, The Influence of European Federalists in the 1950s, in: T. B. Olesen (Hrsg.), Interdependence Versus Integration, 1997, S. 220. W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969.
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Die Gründungsväter der Gemeinschaft waren in diesem Sinne durchgängig „Föderalisten“, und der rechtspolitisch grundierte Föderalismusdiskurs begleitet die Europäische Gemeinschaft in dieser Perspektive nicht nur von Anfang an, sondern stand geradezu an der Wiege dieses Integrationsprojektes. Geboren wurde die EWG schließlich aus der Enttäuschung über das Scheitern des politisch sehr viel ehrgeizigeren Projektes der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, dem noch deutlicher als der späteren EWG seine Bestimmung als Fundament und erster Bauabschnitt des zu gründenden europäischen Bundesstaates deutlich eingeschrieben war.13 Die wichtigsten Akteure der Europapolitik dieser Jahre – von Robert Schuman über Jean Monnet, Paul-Henri Spaak, Walter Hallstein bis hin zu Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi – waren sich in diesem Punkte ohne Zweifel einig, als sie ab 1955 das Ersatzprojekt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf Stapel legten.14 Nicht dass deren Position unumstritten gewesen wäre – Bundeswirtschaftsminister Erhard etwa beschwerte sich immer wieder über die „Europa-Romantiker“ im Auswärtigen Amt um Hallstein, die allerdings die Rückendeckung Adenauers genossen.15 Die „föderalistische“ Strömung setzte sich jedoch durch und brachte einen Vertrag zuwege, der ganz gezielt eine institutionelle Struktur enthielt, die als Blaupause eines im Ansatz „föderalen“ Systems konzipiert war. Mehr noch, die erste Besetzung der Kommission ließ aus dem zentralen Organ der EWG einen Hort der erklärten „Föderalisten“ werden,16 mit Walter Hallstein an der Spitze und offenen Befürwortern eines europäischen Bundesstaates wie Hans von der Groeben und Jean Rey als zentralen Mitgliedern. Doch die Rückschläge kamen bald, angefangen mit den De Gaulle’schen Initiativen einer rein intergouvernementalen „Politischen Union“17 über den Bruch zwischen französischer Regierung und Kommission sowie Ratsmehrheit mit der „Politik des leeren Stuhls“ im Gefolge,18 bis hin zu den Phasen der Stagnation jeder weiteren Integration in den späten sechziger, siebziger und frühen achtziger Jahren.19 Die bundesstaatliche Teleologie, an die anfänglich die meisten Aktivisten der europäischen 13
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Vgl. nur F. Duchêne, Jean Monnet: The First Statesman of Interdependence, 1994, S. 340 ff., sowie Pinder (Fn. 11), S. 227 f.; D. Dinan, Origins and Evolution of the European Union, 2006, S. 42 f., 114 ff.; M.-T. Bitsch, Histoire de la construction européenne de 1945 à nos jours, 2006, S. 81 ff.; vgl. ferner eingehend E. Fursdon, The European Defence Community: A History, 1980. Vgl. nur Burgess (Fn. 3), S. 72 ff., sowie H. J. Küsters, Walter Hallstein und die Verhandlungen über die Römischen Verträge 1955–1957, in: W. Loth u.a. (Hrsg.), Walter Hallstein: Der vergessene Europäer?, 1995, S. 81, außerdem F. Bärenbrinker, Hallsteins Europakonzeption vor seinem Amtsantritt bei der Kommission, in: ebd., S. 107 (108 ff.). Küsters (Fn. 14), S. 93. Burgess (Fn. 3), S. 73, 76 ff. Vgl. dazu ebd., S. 78 ff., und Bitsch (Fn. 13), S. 135 ff., sowie eingehend S. J. Bodenheimer, Political Union: A Microcosm of European Politics 1960–1966, 1967. Vgl. hierzu ebenfalls Burgess (Fn. 3), S. 83 ff., außerdem Dinan (Fn. 13), S. 157 ff.; Bitsch (Fn. 13), S. 161 ff.; vgl. ferner W. Loth, Hallstein und De Gaulle: Die verhängnisvolle Konfrontation, in: ders. u.a. (Fn. 13), S. 171, und H. H. Götz, Die Krise 1965/66, ebd., S. 189. Vgl. nur Burgess (Fn. 3), S. 85 ff., 101 ff., und Dinan (Fn. 13), S. 169 ff.
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Integration geglaubt hatten, schien sich als illusionär erwiesen zu haben. Das von Anfang an mit der föderalen Vision konkurrierende Paradigma, die Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft als (begrenztes) Projekt einer „funktionalen Integration“ im Sinne einer in den Zielen wie den Mitteln beschränkten „Zweckgemeinschaft“ primär ökonomischer Motivation, gewann die Oberhand. Das föderale Paradigma verschwand nie völlig, wurde aber zum Glaubensbekenntnis einer eher sektiererischen Gruppe. Der von Altiero Spinelli inspirierte Bericht der Kommission zur Reform der Gemeinschaft vom 26. Juni 1975,20 der die Grundlage für den Tindemans-Bericht lieferte, sowie die Einführung der Direktwahl des Europäischen Parlamentes 197921 ließen noch einmal über den reinen Funktionalismus hinausreichende, „föderalistische“ Ambitionen erkennbar werden. Die Zähflüssigkeit des Integrationsprozesses, die überdeutlichen Widerstände der nationalen Politiksysteme gegen solch weitreichende Zielvorstellungen sowie der bewusste Übergang zu einem behutsamen Inkrementalismus führten jedoch zu einem weitgehenden Entschwinden föderalistischer Leitkonzepte. Erst die Verfassungsdiskussion der neunziger Jahre hat diese Strömung wieder deutlich an Relevanz gewinnen lassen.22 Die große Enttäuschung der späten sechziger Jahre hatte das föderale Paradigma mutieren lassen von einer wirkungsmächtigen politischen Eschatologie zu einem bescheideneren, eher status quo-bezogenen „kognitiven Schema“. Stellte die Europäische Gemeinschaft denn nicht schon längst – so fragte man nach dem Scheitern der großen Illusionen – so etwas wie ein „föderales Gebilde“ dar? Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht bereits das oben erwähnte Buch „Der unvollendete Bundesstaat“ von Walter Hallstein. Erwachsen aus seiner desillusionierenden Erfahrung als Kommissionspräsident, stellte es nicht nur ein Plädoyer für die Vollendung des erstrebten „europäischen Bundesstaates“ dar, sondern zugleich eine Apologie der bestehenden Gemeinschaft als einer in nuce föderalen Institutionenordnung, die auf ein bundesstaatliches System hin angelegt war, auf die „Vereinigten Staaten Europas“, die Hallstein weiter offen als Endziel deklarierte. Die Doppeldeutigkeit dieser föderalen Konzeption wird von Hallstein sehr deutlich ausgedrückt: „Die föderale Konzeption ist … nicht nur eine Zielvorstellung. Sie ist zugleich die einfachste – und in diesem Sinne richtige – Beschreibung einer (partiellen) Realität, nämlich der Europäischen Gemeinschaft.“23 Die Europäische Gemeinschaft sei – so Hallstein – „ein dynamischer Organismus, der schon eine Zukunft in sich trägt“,24 also ein „work in progress“, an dessen Vollendung ständig weitergearbeitet werden müsse bis zur Vollendung des großen Bauwerkes. Das integrierte Europa sei „gewiß noch keine Föderation, kein Staat“ – so schrieb er 1969. Doch ergänzte er dies durch die Feststellung: 20 21 22
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Vgl. dazu Burgess (Fn. 3), S. 108 ff. Vgl. wiederum Burgess, ebd., S. 116 ff., außerdem Bitsch (Fn. 13), S. 214 ff. Vgl. zu den verschiedenen Strängen der Verfassungsdiskussion M. Avbelj, Questioning EU Constitutionalisms, GLJ 9 (2008), S. 1, unter www.germanlawjournal.de; ferner grundlegend J. H. H. Weiler, European Neo-Constitutionalism in Search of Foundations for the European Constitutional Order, Political Studies 44 (1996), S. 517. W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 1979, S. 439. Hallstein (Fn. 12), S. 7.
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„Die Staaten verzichten auf einen Teil ihrer ‚Souveränität‘, oder besser: sie legen einen Teil davon zusammen, verschmelzen ihn und unterstellen ihn gemeinschaftlichen Organen, in denen sie selbst ein entscheidendes Wort sprechen. Wir können diese Lösung auch ‚föderal‘ nennen. Wir müssen nur darauf Bedacht nehmen, die Interpretation … zu vermeiden, dass wir damit die Staatseigenschaft der Gemeinschaft behaupten. … Zum Staat gehört die Allzuständigkeit, während unsere Gründung nur bestimmte, d.h. im Vertrag aufgezählte Zuständigkeiten genießt. Was wir mit ‚föderal‘ meinen, ist also nur: Die Gemeinschaft hat mit dem Bundesstaat die Eigenschaft gemein, dass bestimmte Teile der Staatsgewalten in einem Verein mit anderen zusammengelegt, und einer eigenen, vom Gliedstaat verschiedenen Organisation übertragen sind. Insofern ist die Gemeinschaft bundesstaatsähnlich. Sie leistet das, was das wesentliche der europäischen Aufgabe ist: ein Gleichgewicht herzustellen zwischen einer aus nationalen ‚Souveränitätsteilen‘ zusammengefügten europäischen Gewalt und einer fortbestehenden Staatsgewalt der Mitgliedsländer.“25
Beobachter haben diese Perspektive als eine „Kant’sche konstitutionelle, auf einen föderativen Überstaat gerichtete Strategie“ bezeichnet,26 die dem Leser die Integration als effektiv und vernünftig zugleich darstellen soll, in der Hoffnung, so letztlich als self-fulfilling prophecy wirksam zu werden. Das vorherrschende „funktionalistische“ Paradigma der Jahrzehnte nach 197027 ließ allerdings diese Wahrnehmung der Gemeinschaft als eines nicht nur werdenden, sondern (partiell) schon seienden Bundesstaates zunächst völlig in den Hintergrund treten. Noch Anfang der neunziger Jahre war sich das Schrifttum weithin darin einig, selbst die mit Maastricht geschaffene Europäische Union sei „meilenweit von einer europäischen Bundesstaatlichkeit oder sonstiger Staatlichkeit der Union entfernt“.28 Doch ist an der Hallstein’schen Konstruktion der „real-existierenden“ Gemeinschaft nicht doch mehr als ein Körnchen Wahrheit? Die jüngere Literatur, zumal des deutschsprachigen Raumes, stellt diese Frage jedenfalls zunehmend.29 25 26
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Hallstein (Fn. 12), S. 40 f. So etwa W. Wessels, Walter Hallsteins integrationstheoretischer Beitrag – überholt oder verkannt?, in: Loth u.a. (Fn. 14), S. 281 (282 f.); vgl. auch H. Schneider, Rückblick für die Zukunft (1986), S. 65 ff. Siehe dazu grundlegend E. B. Haas, The Uniting of Europe: Political, Social and Economic Forces, 1968; vgl. ferner P. C. Schmitter, Three Neofunctional Hypotheses About International Integration, International Organization 23 (1969), S. 161. T. Oppermann, Der Maastrichter Unionsvertrag – Rechtspolitische Wertung, in: R. Hrbek (Hrsg.), Der Vertrag von Maastricht in der wissenschaftlichen Kontroverse, 1993, S. 108 f.; vgl. auch Burgess (Fn. 3), S. 29. Siehe nur D. Thürer, Föderalistische Verfassungsstrukturen für Europa, integration 2000, S. 89; P. Badura, Die föderative Verfassung der europäischen Union, in: D. Merten (Hrsg.), Der Bundesrat in Deutschland und Österreich, 2001, S. 161; P. Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus. Eine Studie zum Verhältnis von föderaler Ordnung und parlamentarischer Demokratie in der Europäischen Union, 2004; U. Everling, Zur konsensualen Willensbildung in der föderal verfassten Europäischen Union, in: FS Badura, 2004, S. 1053; H. RossenStadtfeld, Demokratische Staatlichkeit in Europa: ein verblassendes Bild, JöR n.F. 53 (2005), S. 45; zur älteren Literatur zu diesem Punkt siehe die Nachweise in Fn. 30 der Erstauflage.
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Inspiriert von den verfassungsgeschichtlichen Analogien der Konstruktion des deutschen Reiches von 1867/1871,30 werden zunehmend wieder die föderalen Züge der Gemeinschaftskonstruktion herausgearbeitet, wird das (vom Berichterstatter Paul Kirchhof sicherlich eher „staatenbündisch“ gemeinte) Konstrukt des „Staatenverbundes“, das mit dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Debatte neu zentriert hat, umgedeutet in eine eher föderale als konföderative Phänotypik der Gemeinschaftsverfassung. In der angelsächsischen Literatur ist dieser Ansatz ebenfalls zunehmend aufzufinden, dort allerdings eher rechts- und institutionenvergleichend orientiert, gespeist von der vergleichenden Föderalismusforschung.31 „Understanding the European Union as a Federal Polity“, der der Einleitung vorangestellte Titel eines Aufsatzes des Politikwissenschaftlers Rey Koslowski, sei für diese Denkrichtung hier nur pars pro toto genannt.32 Dieser aktuelle Debattenstrang führt eine wichtige neue Dimension in den europäischen Verfassungsdiskurs (wieder) ein, in der Korrektur „intergouvernementalistischer“, aber auch „supranational-funktionalistischer“ Vereinseitigungen der „Wesensbeschreibung“ der Europäischen Gemeinschaft, mehr noch aber in der kritischen Überprüfung der Prämissen und Vorverständnisse, die diese Debatte bestimmen. Eine Rekonstruktion dieses „revisionistischen“ Ansatzes wird in den folgenden Abschnitten unternommen. Untrennbar verwoben mit einer Revision der Leistungskraft eines föderalen Paradigmas ist ein veränderter Blick auf die Frage nach der demokratischen Legitimation des europäischen Verbundgemeinwesens, ja letztlich nach der „Demokratiefähigkeit“ der Europäischen Union. Stellt man diese Frage nach der Konstruktion demokratischer Verantwortlichkeit im Kontext der europäischen Integration in einem bewusst föderalistischen Blick, so ergeben sich doch in Nuancen deutlich andere Antworten auf die alten Fragen als in einer rein nationalstaatsfixierten, traditionell „staatsrechtlich“ geprägten Perspektive.
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Siehe insoweit nur A. Böhmer, Die Europäische Union im Lichte der Reichsverfassung von 1871, 1999, S. 35 ff., 125 ff., 144 ff., ferner K. E. Heinz, Europäische Zukunft: Bundesstaat oder Staatengemeinschaft?, DÖV 1994, S. 994. Siehe insb. den Sammelband von K. Nicoladis/R. Howse (Hrsg.), The Federal Vision, 2001, dort insb. zusammenfassend die beiden Herausgeber: The Federal Vision, Levels of Governance, and Legitimacy, ebd., S. 1, sowie J.H.H. Weiler, Federalism without Constitutionalism, ebd., S. 54; vgl. außerdem J. DeBardeleben/A. Hurrelmann (Hrsg.), Democratic Dilemmas of Multilevel Governance, 2007; M. Longo, Constitutionalising Europe, 2006; P. Dann, Looking Through the Federal Lens: The Semi-Parliamentary Democracy of the EU, Jean Monnet Working Paper 5 (2002), unter www.jeanmonnetprogram.org; D. Sidjanski, The Federal Future of Europe, 2000. Koslowski (Fn. 2), S. 32 ff.; vgl. außerdem M. Forsyth, The Political Theory of Federalism, in: J. J. Hesse/V. Wright (Hrsg.), Federalizing Europe, 1996, S. 43 f.
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III. Die Europäische Union als föderatives „Mischsystem“ Doch wenden wir uns nun der Debatte um die Konstruktion der existierenden Institutionenordnung der Europäischen Gemeinschaft zu. Ausgangspunkt sei dabei ein deutlicher Grundbefund: Die real existierende „Verfassung“ der europäischen Gemeinschaft (und letztlich auch der Union) weist die Züge eines Mischsystems auf.33 Man kann dieses Mischsystem nun – wie im Schrifttum vorgeschlagen – als eigene Kategorie zu typisieren suchen, etwa unter dem Leitbegriff des Bundes.34 Herausgearbeitet würde damit, dass es sich nicht notwendig um ein irreguläres, vorübergehendes Zwischenprodukt einer Entwicklung vom Staatenbund zum Bundesstaat handelt, sondern um eine Kategorie eigenen Rechts, die als spezifischer Typus ernstzunehmen ist35. Letztlich beschriebe der neue Typus aber nur, was in der Absetzung von den Kontrastfolien der Idealtypen Staatenbund und Bundesstaat auch so herausgearbeitet werden kann, die Besonderheit eines „bündischen“ Integrationsgebildes auf völkervertraglicher Grundlage, aber mit Institutionen und Funktionsweisen, die weitenteils stark denen bundesstaatlicher Gemeinwesen ähneln. Der hybride Charakter eines solchen „Bundes“ ist dabei durch das Nebeneinander völkerrechtlicher wie staatsrechtlicher Bezüge geprägt. Als durch einen völkerrechtlichen Vertrag gegründete „Vertragsgemeinschaft“ trägt sie zunächst genetisch starke Züge eines konföderalen, „staatenbündischen“ Zusammenschlusses, einer „Zweckgemeinschaft“ mit begrenzten Zielen. Für ein derartiges Verständnis sprechen nicht nur die konstitutiven Grundlagen der Gemeinschaft (und Union), die mit den Gründungsverträgen und deren Ergänzung im Unionsvertrag und den zahlreichen Änderungsverträgen immer in den Formen des klassischen völkerrechtlichen Vertrages verblieben sind, bis hin zum Entwurf des Verfassungsvertrages und nun dem Vertrag von Lissabon.36 Aus dieser Perspektive stellt die Gemeinschaft zunächst nichts anderes dar als eine (wenn auch mit besonders starken
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Siehe mit besonderer Klarheit die Einschätzung durch Michael Burgess, der argumentiert „that the EU represents something distinctly new in the world of both inter-state and intrastate relations. It is not yet a union of individuals in a body politic but it is more than merely a union of states in a body politic. It is not a federation but it is also more than a confederation understood in the classical sense.“, Burgess (Fn. 3), S. 41 f. Siehe Schönberger (Fn. 8), S. 98 ff. Vgl. hierzu ebd., S. 102 ff., sowie M. Forsyth, Unions of States, 1981, S. 4 ff.; P. Lerche, Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: FS Redeker, 1993, S. 131 (141 f.); Rossen-Stadtfeld (Fn. 29), S. 59 ff. Vgl. zur Differenz zwischen einer derartigen „Vertragsverfassung“ und einer Verfassung i.e.S. S. Oeter, Vertrag oder Verfassung: Wie offen lässt sich die Souveränitätsfrage halten?, in: T. Bruha u.a. (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa?, 2001, S. 243 (245 ff.), sowie M. Dickstein, Der Verfassungsbegriff der Europäischen Union, 1998, S. 10 ff., 142 ff., ferner D. Grimm, Vertrag oder Verfassung: Die Rechtsgrundlage der Europäischen Union im Reformprozeß Maastricht II, StWStP 6 (1995), S. 509 (510 ff.); vgl. auch zu den verschiedenen Verfassungsbegriffen im Blick auf Europa M. Kumm, Beyond Golf Clubs and Judicialization of Politics: Why Europe has a Constitution Properly So Called, American Journal of Comparative Law 54 (2006), S. 504, sowie C. Möllers, in diesem Band, S. 250 ff.
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Kompetenzen ausgestattete) internationale Organisation. Von diesem Vorbild ließen sich die Gründer in den fünfziger Jahren auch im Detail der Ausgestaltung ersichtlich leiten, so etwa in den Grundzügen der Organstruktur. Der Rat als Hauptbeschlussorgan der Gemeinschaft und die parlamentarische Versammlung als daneben gestelltes Konsultativorgan waren klare Anleihen bei der Organstruktur internationaler Organisationen, was besonders deutlich wird im Blick auf die nur wenige Jahre ältere europäische Regionalorganisation des Europarates. Das klassische dritte Organ des Sekretariates hat zwar mit der Kommission eine etwas eigenwillige Ausprägung erfahren, lässt sich aber mit einigem rabulistischen Geschick noch als den besonderen Funktionen der Gemeinschaft angepasste Sondervariante des die zwischenstaatliche Zusammenarbeit erleichternden und verwaltenden „Büros“ oder „Sekretariates“ begreifen.37 Auch der Gerichtshof der Gemeinschaften hat in neueren Organisationsverträgen Parallelen gefunden, in der Form vertragsspezifischer Streitbeilegungsorgane mit recht umfassender Kompetenz zur Vertragsauslegung – man denke nur an das WTO-Übereinkommen38 und das UNSeerechtsübereinkommen. Dementsprechend neigen auch Teile der Politikwissenschaft dazu, das Gefüge der Gemeinschaft – in Analogie zu anderen Vertragsregimen – als Ausprägung des Phänomens der „internationalen Regime“ zu thematisieren und zu analysieren,39 also eines Phänomens, das im Blick dieser Schule in den letzten fünfzig Jahren für das sich ausbildende System einer „global governance“ bestimmend geworden ist.40 Das Regime der Europäischen Gemeinschaft (und daran angekoppelt der Union) wäre dann nichts anderes als das ausgefeilteste und elaborierteste System einer regionalen Integrationsgemeinschaft, wie sie in vielen Teilen der Welt auf völkervertraglicher Grundlage entstanden sind.41
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Vgl. dazu Oeter (Fn. 36), S. 248 ff., aber auch P.-C. Müller-Graff, Europäische Verfassung und Grundrechtscharta, integration 2000, S. 34, sowie Böhmer (Fn. 30), S. 53, 125 ff. Zu den aus der Verselbständigung völkerrechtlicher Streitbeilegung in der WTO erwachsenden Legitimationsproblemen siehe nur A. von Bogdandy, Law and Politics in the WTO, Max Planck Yearbook of United Nations Law 5 (2001), S. 609. Zur Anwendung institutionalistischer Ansätze aus dem Bereich der Internationalen Beziehungen auf die EG vgl. nur R. Keohane/S. Hoffman, Institutional Change in Europe in the 1980s, in: dies. (Hrsg.), The New European Community, 1991, S. 25. Vgl. als grundlegende Referenzwerke zur Regimetheorie E. Haas, Why Collaborate? IssueLinkage and International Regimes, World Politics 32 (1979–80), S. 357; S. D. Krasner (Hrsg.), International Regimes, 1983; O. R. Young, International Cooperation, 1989, S. 13 ff.; V. Rittberger, Regime Theory and International Relations, 1993; M. A. Levy u.a., The Study of International Regimes, European Journal of International Relations 1 (1995), S. 267; A. Hasenclever u.a., Theories of International Regimes, 1997. Der Altmeister der vergleichenden Föderalismusforschung, Daniel Elazar, hat dieses Argument allerdings im gegensätzlichen Sinne benutzt, wenn er die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft als Ansatzpunkt eines weltumspannenden Paradigmenwechsels hin zu einem „postmodern federalism“ sieht: ders., From Statism to Federalism, Publius 25 (1995), S. 5 (12).
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Als völlig verfehlt wird man diese Perspektive schwerlich begreifen können, wenn sie auch nur einen Teil der Spezifika des Systems der in der EG institutionalisierten europäischen Integration zureichend erfasst. Die halbe Wahrheit ist zwar ein Teil der Wahrheit, aber eben doch eine „Halbwahrheit“, weist mithin Züge einer verzerrten Darstellung auf. Gerade die Spezifika des Gemeinschaftssystems, die der Rechtsdogmatik so große Schwierigkeiten in der Einordnung bereiten, werden in einer rein intergouvernementalen (Re-)Konstruktion des Systems der Vergemeinschaftung42 tendenziell zum Verschwinden gebracht, ja werden gezielt hinwegeskamotiert.43 Wirklich erfassen kann man das bestehende Institutionensystem mit seinen Eigenheiten so nicht, allenfalls diskursstrategisch umdefinieren, um die unerwünschten Wesenszüge zu „Anomalien“ zu erklären. Dies fängt an mit dem für das Gepräge des Gemeinschaftsrechts so entscheidenden Zug der „Supranationalität“. Nun ist der Begriff der „Supranationalität“ selbst eine nachträglich entwickelte Kategorie, um bestimmte Eigenheiten der Gemeinschaftskonstruktion erklären und analytisch fassen zu können. Dieses Bild hat – wie jedes neu geschaffene Bild, jede neue analytische Kategorie – die Phänomene, die es erklären sollte, mindestens so sehr befördert und angetrieben wie es sie analytisch einzufangen gesucht hat. Indem die vom EuGH proklamierten Eigenschaften des Vorrangs und der Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts zum prägenden Merkmal des ganzen Systems erklärt wurden, das damit ja erst „supranational“ wurde, leistete die neue Begrifflichkeit einen nicht unerheblichen Beitrag, diese „Supranationalität“ zum mittlerweile praktisch unbefragten Leitbild zu erheben.44 Nicht dass es dazu in der Vertragskonstruktion keine Ansatzpunkte gegeben hätte: Das Konstrukt des Vorabentscheidungsverfahrens etwa wäre ohne Vorrang und Direktwirkung – oder (völkerrechtlich gesprochen) „unmittelbare Anwendbarkeit“ der Normen des Gemeinschaftsrechts eine Neuschöpfung ohne wirkliche Funktion gewesen. Auch die Kommission in ihrer Struktur wie in ihrer Kompetenz weist Züge eines „supranationalen“ Organs auf, wie in ihrem Vorbild, der Hohen Behörde der Montanunion, beinahe noch deutlicher wird als im Gefüge des EWG-Vertrages. Und selbst das Parlament ist nicht klassische „parlamentarische Versammlung“ geblieben, sondern über die Schritte zunächst der Direktwahl und dann der schrittweisen kompetentiellen Aufwertung zu einem Organ unmittelbarer parla42
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Als wichtigsten Vertreter eines derartigen Ansatzes siehe Andrew Moravcsik, vgl. etwa ders., Negotiating the Single European Act, International Organization 45 (1991), S. 19, sowie ders., Preferences and Power in the European Community, JCMS 31 (1993), S. 473. Vgl. nur die Kritik an dem rein intergouvernementalistischen Ansatz vieler Politikwissenschaftler bei Burgess (Fn. 3), S. 44 ff. Vgl. insoweit nur die grundlegenden Beiträge von Joseph Weiler: The Transformation of Europe, The Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 (2410 ff.); ders., European Neo-Constitutionalism: In Search of Foundations for the European Constitutional Order, in: R. Bellamy/ D. Castiglione (Hrsg.), Constitutionalism in Transformation, 1996, S. 105; J. H. H. Weiler, Ideals and Idolatry in the European Construct, in: B. McSweeney (Hrsg.), Moral Issues in International Affairs, 1998, S. 55; J. H. H. Weiler/U. Haltern, The Autonomy of the Community Legal Order, Harvard International Law Journal 37 (1996), S. 411.
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mentarischer Repräsentation mit tatsächlichen (Mit-)Entscheidungsrechten geworden.45 Mit den sich im Zuge der Gemeinschaftsentwicklung immer weiter verstärkenden Elementen der „Supranationalität“ bildet die Gemeinschaft zusehends föderale Züge aus, die mit den ursprünglich vorherrschenden konföderalen Zügen des Systems der regionalen Integration in einem merkwürdigen Kontrast stehen. Obwohl man doch unter dem Eindruck der klassischen staatstheoretischen Kategorisierungen von „Staatenbund“ und „Bundesstaat“ geneigt ist, „staatenbündisch“ und „bundesstaatlich“, also „konföderal“ und „föderal“ für sich gegenseitig ausschließende Begrifflichkeiten zu halten, weist das System der Europäischen Gemeinschaft unbestreitbar Züge beider Kategorien in einem zudem noch über die Zeit hinweg sich wandelnden Mischungsverhältnis auf.46 Nun ist die Dichotomie von „Staatenbund“ und „Bundesstaat“ immer schon ein theoretisches Artefakt gewesen – wies doch etwa der Deutsche Bund, an dessen Leitbild die Kategorie des Staatenbundes entwickelt worden ist, durchaus im Detail auch „supranationale“, man könnte auch sagen: „föderale“ Züge auf, während der Norddeutsche Bund von 1867 und dessen Erweiterung zum Deutschen Reich von 1871 umgekehrt in entscheidenden Grundzügen durchaus auch (noch) „staatenbündische“ Züge hatte.47 Nur wollte die herrschende Strömung der deutschen Staatsrechtslehre beides nicht wahrnehmen, weil sie den Deutschen Bund, als das Zerrbild des in der Einigung zu überwindenden „Staatenbundes“, im Sinne der gebildeten Kategorien gedanklich genauso zuzurichten suchte wie sie den „Bundesstaat“ von 1867/71 um seine „staatenbündischen“ Rudimente interpretatorisch zu bereinigen suchte.48 Die Verwendung der staatstheoretischen Konzepte „Staatenbund“ und „Bundesstaat“ – darauf verweist schon dieser knappe historische Exkurs – verfügt letztlich immer über politisch-strategische Beimischungen, zielt untergründig ebenso auf die Etablierung tonangebender normativer Leitbilder wie sie vordergründig um sachangemessene theoretische Konzeptualisierungen ringt. Man wird daher die Debatte um die „föderalen“ Merkmale der Europäischen Gemeinschaft kaum sinnvoll führen können, ohne zugleich einen Blick auf die politischen und diskursstrategischen Implikationen der verwendeten Konzepte zu werfen. Nicht zuletzt aus dieser Doppelbödigkeit bezieht die Diskussion um die Parallelen, Analogien, aber auch direkten Erklärungspotentiale föderaler Erfahrungen und föderalismustheoretischer 45
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Vgl. etwa C. D. Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, AöR 119 (1994), S. 238; W. Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 87 ff.; J. Pinder, Steps Towards a Parliamentary Democracy for Europe, in: F. Breuss u.a (Hrsg.), Vom Schuman-Plan zum Vertrag von Amsterdam, 2000, S. 194; M. Heintzen, Die Legitimation des Europäischen Parlaments, ZEuS 2000, S. 377; P. Dann, European Parliament and Executive Federalism, ELJ 9 (2003), S. 549; ders., Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004. Vgl. dazu auch Burgess (Fn. 3), S. 41 ff., insb. S. 42, im gleichen Sinne ferner Schönberger (Fn. 8), S. 98 ff. Siehe auch Schönberger, ebd., S. 89 ff. Vgl. ebenfalls ebd., S. 95 f.
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Konzepte ihren besonderen Reiz, aber auch ihre Tücke. Während dabei im deutschsprachigen Raum vor allem die Ähnlichkeiten, Analogien, aber auch kontrastierenden Modellbildungen vor der Hintergrundfolie des Deutschen Reiches von 1871 sich besonderer Beliebtheit erfreuen, rekurriert die angelsächsische Literatur auf einen deutlich weiteren Erfahrungshintergrund, der die paradigmatische Föderalverfassung der USA mit ihrer mehr als zweihundertjährigen Erfahrung in den Blick nimmt, aber auch die föderalen Dominions-Verfassungen Kanadas und Australiens, ergänzend auch die nachkolonialen Bundesstaatsverfassungen von Indien, Nigeria, Burma, Malaysia. Noch weiter geht eine Forschungsrichtung in der neueren politikwissenschaftlichen Literatur, die unter dem Einfluss der jüngeren Nationalismusforschung vor allem die Frage in das Zentrum stellt, ob und wie eine betont multinationale Gemeinschaft überhaupt staatlich zu integrieren sei – und dabei zu der klaren Antwort gelangt: in föderaler Form natürlich, wenn überhaupt! Als Referenzpunkte dienen hier naturgemäß vor allem die Schweiz, Belgien und Kanada. Während die erste, stark in der deutschsprachigen Literatur vertretene Strömung zunächst auf eine Dekonstruktion unkritisch verwendeter Leitbilder und Grundkonzepte der Debatte um die „europäische Verfassung“ abzielt, versucht die vergleichende und theorieorientierte Föderalismusliteratur angelsächsischer Prägung eher konstruktive Folgerungen aus dem empirisch und theoretisch aufzubereitenden Erfahrungsfundus föderaler Systeme abzuleiten.49 Besonders deutlich wird dies in der von der Nationalismusforschung inspirierten Debatte um die Chancen föderaler Vergemeinschaftung einer Vielzahl „nationaler“ Einheiten bzw. Völker in einem multinationalen, bundesstaatlichen Gefüge. Die Frage des notwendigen Konkordanzcharakters derartiger Gebilde, in Anlehnung an die Lijphart’schen Modelle der „consociational democracy“, wird hier gestellt, aber auch ganz direkt die Frage nach dem denkbaren „Staatsvolk“ eines solchen Nationenkonglomerates – bis hin zu Titeln wie „A Theory of the Necessity of a Federal ‚Staatsvolk‘, and of Consociational Rescue“50.
IV. Vom Nutzen föderaler Analogien – oder: der Zentralstaat als Leitbild der Staatstheorie Doch begonnen sei hier mit dem dekonstruktivistischen Potential, das einem Seitenblick auf föderale Parallelen und auf Debatten der Föderalismustheorie innewohnt. Interessant an der in ganz Europa geführten Debatte um Form und Inhalt einer „europäischen Verfassung“ ist unter der Perspektive der Staatstheorie zunächst die Wahl der theoretischen Prämissen. Dass diese in Staaten wie Frankreich, das seit mehr als zwei Jahrhunderten von den Erfahrungen und Traditionen einer rigi49
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Vgl. insoweit nur beispielhaft die Beiträge von D. J. Elazar, J. H. H. Weiler, J. D. Donahue/ M. A. Pollack, G. A. Bermann, G. Majone und K. Nicoladis, in: Nicoladis/Howse (Fn. 31), S. 31, 54, 73, 191, 252 bzw. 439. B. O’Leary, An Iron Law of Nationalism and Federation?, Nations and Nationalism 7 (2001), S. 273.
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den Zentralstaatlichkeit geprägt ist, unwillkürlich eine Fixierung auf zentralistische Leitbilder aufweist, dürfte kaum verwundern. Schon überraschender ist da die untergründige Orientierung auf zentralstaatliche Leitbilder, die auch die deutsche Debatte durchzieht. Die starke Fixierung der Debatte auf den traditionellen Begriff der Souveränität fällt dabei sofort auf, sodann die Verkoppelung des Souveränitätsbegriffes mit klassischen Vorstellungen der Volkssouveränität und der parlamentarischen Demokratie.51 Aus Begriffen wie Souveränität und Demokratie wird in Deutschland häufig im Wege der begrifflichen Deduktion geschlossen, dass ein Gebilde wie die Europäische Union verfassungspolitisch nicht der durchgreifenden Parlamentarisierung zugänglich sei bzw. – aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts – eine derartige Parlamentarisierung ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip wäre.52 Die Eigenart des im Verlaufe der Integration geschaffenen Gebildes lasse volle parlamentarische Mitbestimmung nicht zu, ohne die Balance des Gesamtsystems zu zerstören.53 Betrachtet man diese Debatte vor dem Hintergrund der deutschen Verfassungsgeschichte, so werden schnell Analogien zur staatsrechtlichen Diskussion des Kaiserreiches um den Charakter des Bundesstaates deutlich, die auf gemeinsame Problemstrukturen derartiger bündischer Systeme hinweisen. Die Frage nach dem Sitz der Souveränität bzw. nach dem Zeitpunkt des endgültigen Übergangs der Souveränität von den Einzelstaaten auf das Reich hat im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert über Jahrzehnte die Staatsrechtslehre beschäftigt, ebenso wie die Frage nach der Vereinbarkeit des bundesstaatlichen Gefüges der Reichsverfassung mit einem parlamentarischen System. Die Mehrheit der deutschen Verfassungsrechtler nahm in der zweiten Frage eine abwehrende Haltung ein. Während das deutsche Verfassungssystem dem Ausland als „Autokratie“ erschien, dessen „Militarismus“ untrennbar mit dem Abweichen vom Ideal der parlamentarischen Demokratie verbunden sei,54 fühlte sich die deutsche Staatsrechtslehre im Gegenteil dazu aufgerufen, die Eigentümlichkeiten des deutschen Systems als ein positives „Erbe Bismarcks“ zu verteidigen.55 Vor diesem Hintergrund wird man die Wiederkehr der alten Debatte um den Sitz der Souveränität in bündischen Systemen als zumindest irritierend empfinden müssen. Zieht man die Linien dieser Debatte durch bis zu den gängigen Überlegungen zur Frage nach dem Verhältnis von Exekutive und Parlament und zu der damit verknüpften Diskussion um die „Eigenart“ eines bündischen Systems, die nach 51 52 53
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Vgl. auch schon I. Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, Die Verwaltung 29 (1993), S. 449 (451 ff.). Vgl. zur „Staatszentriertheit“ dieser Perspektive Avbelj (Fn. 22), S. 8. Siehe in diesem Sinne schon J. H. Kaiser, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1964), S. 1 (16), sowie H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 1042 f. Vgl. nur H. Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, 1916, S. 14 ff., 26 ff. Siehe E. Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, 1917, insb. S. 6 ff., 64 ff., 96 ff.; vgl. aber auch schon O. Mayer, Republikanischer und monarchischer Bundesstaat, AöR 18 (1903), S. 337 (insb. 366 ff.).
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gängiger Auffassung einer durchgreifenden Parlamentarisierung entgegenstehe, so gelangt man zu merkwürdigen Eindrücken der Wiederkehr „Untoter“ aus dem Theoriearsenal des späten 19. Jahrhunderts. Die Debatte der Spätphase des Kaiserreichs liefert unter diesem Blickwinkel im Ergebnis auch heute noch (oder gerade wieder) fruchtbare Ansätze zur Bewertung der gängigen staatstheoretischen Grundvorstellungen – Ansätze, die die Frage aufkommen lassen, ob die ganze Diskussion nicht in den völlig falschen Bahnen und um die falschen Fragen geführt wird. Wie so oft, zeigt der Rekurs auf scheinbar längst abgehakte „historische“ Debatten um Grundbegriffe, dass die vordergründig so sicheren Begrifflichkeiten in sich mehr Probleme bergen als die mit diesen Begrifflichkeiten hantierenden Wortführer zuzugeben bereit sind.56 1. Die Souveränitätsfrage Die von Bismarck sehr bewusst angestrebte Konstruktion der Bundesverfassung von 1867,57 mit nur marginalen Veränderungen dann umgeformt in die Reichsverfassung von 1871, hatte die damals für das Staatsrecht so zentrale Frage nach dem Sitz der Souveränität gezielt offengelassen. Die Verfassung hatte eine fragile Balance nicht nur zwischen monarchischer Souveränität – der einzelnen Fürsten, verkörpert im Organ des Bundesrates – und Volkssouveränität – des gesamten deutschen Volkes, verkörpert im Reichstag – hergestellt, sondern auch die Frage offengelassen, ob das Reich nun ein vollsouveräner Staat sei, der die in ihm vereinigten Mitgliedstaaten mediatisiere, oder ob umgekehrt die Einzelstaaten weiter als souveräne Staaten anzusehen seien. Dieses „in der Schwebe halten“ fiel zunächst insofern leicht, als die zum Zeitpunkt der Reichsgründung herrschende „altliberale“ Bundesstaatslehre von der Vorstellung einer zwischen Bund und Gliedstaaten geteilten Souveränität ausging.58 Unter dem Einfluss der nach der Reichsgründung schnell ihren Siegeszug antretenden „juristisch-formalen“ Methode wurde die Souveränitätsfrage jedoch bald 56 57
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Vgl. auch Murkens (Fn. 9), S. 743 ff. Vgl. dazu nur T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. II, 1992, S. 109; H. Boldt, Deutscher Konstitutionalismus und Bismarckreich, in: M. Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland, 1970, S. 119; G. A. Craig, Deutsche Geschichte 1866–1945, 1981, S. 45 ff., sowie aus der älteren Staatsrechtsliteratur die Tübinger Antrittsvorlesung von G. Anschütz, Bismarck und die Reichsverfassung, 1899, S. 2 ff.; H. Preuß, Großdeutsch, Kleindeutsch und die Idee des nationalen Staates, in: ders. (Hrsg.), Obrigkeitsstaat und großdeutscher Gedanke, 1916, S. 27, 50 f., sowie Kaufmann (Fn. 55), S. 21 ff. Siehe G. Waitz, Grundzüge der Politik, 1862, S. 42 ff., 162 ff.; außerdem R. von Mohl, Encyclopädie der Staatswissenschaften, 1872, S. 367; G. Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen über die Deutsche Reichsverfassung, 1872, S. 12 ff., 74 ff.; J. C. Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, 1886, S. 560 ff.; F. v. Martitz, Das Staatsrecht des deutschen Reichs von P. Laband, ZStW 32 (1876), S. 555; Als Überblick über den Meinungsstand des späten 19. Jahrhunderts vgl. die Darstellung von A. Haenel, Deutsches Staatsrecht, Bd. I, 1892, S. 201 ff., sowie H. Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, 1889, S. 33 ff.; siehe außerdem M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. II, 1992, S. 365 ff.
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neu formuliert. Der staatsrechtliche Positivismus bekannte sich insoweit zu einer Prämisse, die es nicht mehr gestattete, der Frage nach dem Sitz der Souveränität auszuweichen: Staatliche Souveränität sei nach ihrem Begriff und Wesen unteilbar, könne folglich nur entweder beim Reich oder bei den Einzelstaaten liegen, so wurde nach 1871 bald allgemein von der Staatsrechtswissenschaft angenommen.59 Je nach Perspektive (und politischer Präferenz) konnte man nun in die Reichsverfassung eine eher staatenbündische Konstruktion hineinlesen, oder umgekehrt in der Reichsverfassung die endgültige Mediatisierung der Einzelstaaten erblicken, durch die das Reich zum Staat – als dem alleinigen Träger der Souveränität – geworden sei.60 Aus der Verfassung selbst ließ sich diese Frage nicht zwingend beantworten.61 Die eher unitarisch gesinnten Positivisten des Reichsstaatsrechts – wie Paul Laband oder Philipp Zorn – argumentierten, mit dem In-Kraft-Treten der Verfassung ende das ursprünglich vertragliche Verhältnis, das auf Gründung des Bundesstaates gerichtet gewesen sei, durch Erfüllung und es trete die staatsrechtliche Organisation an seine Stelle.62 Die denklogisch nur als einheitlich und unteilbar vorstellbare Souveränität könne aber in einem staatsrechtlichen Gefüge, d.h. in einem herrschaftlich, durch Über- und Unterordnungsverhältnisse strukturierten Gebilde, nur dem Oberstaat, also dem Bund zustehen.63 Die betont partikularstaatlich orientierten Föderalisten unter den Staatsrechtlern verfochten dagegen umgekehrt die These vom Reich als einem nach wie vor staatenbündischen Zusammenschluss64 – wohl sehend, dass die schnell Dominanz erringende positivistische Schule des Reichsstaatsrechts deutlich unitarische Züge trug.65 Da die Gründung des Reiches in völkervertraglicher Form erfolgt sei und die einzelnen Staaten sich über die Bundesverträge die Fortdauer als Staaten gesichert hätten, könne es sich bei der bündischen Oberkonstruktion des Reiches nur um einen Staatenbund handeln. „Trotz aller thatsächlich vorhandenen Uebergänge und Mittelbildungen“ – so 59
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Siehe in diesem Sinne P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 1876, S. 73 ff.; A. Haenel, Studien zum Deutschen Staatsrechte, Erste Studie: Die vertragsmäßigen Elemente der Deutschen Reichsverfassung, 1873, S. 239 ff.; M. v. Seydel, Kommentar zur Reichsverfassung, 1897, S. 13 ff.; siehe außerdem E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, 1963, S. 786 f., 791, 794 ff., sowie Stolleis (Fn. 58), S. 366 f. Wie sehr dieser Streit die Zeitgenossen bewegte, lässt sich an der knappen Skizze des Meinungsstandes durch F. v. Martitz in seiner Rezension des Laband’schen Staatsrechts ersehen: (Fn. 58), S. 560 f. Selbst P. Laband räumt dies, zumindest in der ersten Auflage seines „Staatsrechts des Deutschen Reiches“, noch ein: ders. (Fn. 59), S. 59. Laband (Fn. 59), S. 60; H. Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, 1907, S. 24 f.; vgl. außerdem mit gleicher Zielrichtung Haenel (Fn. 59), S. 68 ff., und G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 1882, S. 171 ff. Laband (Fn. 59), S. 73 ff.; Haenel (Fn. 59), 56 ff.; ders., Deutsches Staatsrecht, Bd. I, 1892, S. 803 ff., insb. S. 806; Jellinek (Fn. 62), S. 171 ff. So vor allem M. v. Seydel, Der Bundesstaatsbegriff, ZStW 28 (1872), S. 185; ders. (Fn. 59), S. 13 ff., 123 ff. Siehe v. Seydel (Fn. 59), S. 7: „Die neueren Bundesstaatstheorien tragen, … alle weniger oder mehr und manchmal sogar sehr bewußt, den Keim des Unitarismus in sich.“
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die auch von den Gegnern geteilte Prämisse – „ist niemals ein Staat ein Staatenbund und niemals ein Staatenbund ein Staat; es giebt kein politisches Gebilde, das beides zugleich ist, denn das Eine ist die Negation des Andern.“66 Seien die Mitglieder des Reiches aber weiterhin Staaten, so die Folgerung, dann könne das Reich kein wirklicher Staat mit eigener Souveränität sein, sondern nur ein Staatenbund.67 Die deutsche Staatsrechtswissenschaft hatte sich – wie es ein Außenseiter der Staatsrechtslehre der Kaiserzeit, nämlich Hugo Preuß formulierte – „im Gespinnst des Souveränitätsbegriffs“ verfangen „wie die Fliege im Gewebe der Spinne“.68 In einer weitgehend auf Verzahnung von zentraler Gesetzgebung und einzelstaatlicher Verwaltung ausgerichteten Aufgabenteilung verlor die ältere Vorstellung von einer echten Teilung der Souveränität an Überzeugungskraft. Hatte diese Konzeption vor dem Hintergrund der klassischen Bundesstaatskonstruktionen – Vereinigte Staaten, Schweiz – noch einiges an Plausibilität für sich beanspruchen können, so wies die Hegemonialkonstruktion des deutschen Bundesstaates von 1867/1871 bereits deutliche Züge eines integrierten Systems mit einer Hierarchie von Reich und Ländern auf.69 Als das Wesen des Bundesstaates erschien in der Folge dem deutschen Staatsrecht – halb von der Anschauung der neuen Verfassungskonstruktion geprägt, halb aber auch von dem Wunsch nach möglichst weitgehender Einheit diktiert – die prinzipielle Unterordnung der Gliedstaaten unter den Bund.70 Die Besonderheiten des Bismarck’schen Bundesstaatsmodells waren damit unversehens zum Wesensmerkmal des abstrakt-staatsheoretisch formulierten Idealtypus des Bundesstaates als solchem mutiert – zumindest in den Augen deutscher Autoren.71 Die Konzentration des staatsrechtlichen Positivismus auf den Text der Verfassung und die daraus zu gewinnenden logischen Deduktionen, in Abkehr von der eher staatstheoretischrechtsvergleichenden Perspektive der älteren liberalen Staatsrechtslehre, hat die darin steckende Blickverengung ohne Zweifel deutlich gefördert.72 Aber auch die nahezu durchgängig nationalliberale Prägung der neuen Generation von Staatsrechtlern mit ihrer – unter politischem Blickwinkel – klar unitarischen Ausrichtung auf einen möglichst durchsetzungsfähigen deutschen Machtstaat hat nicht wenig zu 66 67 68 69 70 71
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So Laband (Fn. 59), S. 56; kritisch dazu dann v.a. H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 189 ff. Siehe in diesem Sinne vor allem v. Seydel (Fn. 59), S. 6 ff. Preuß (Fn. 58), Vorbemerkung S. VI. Besonders deutlich herausgearbeitet hat diese Unterschiede H. Triepel, Die Reichsaufsicht, 1917, S. 71 ff. Siehe Laband (Fn. 59), S. 76 ff., 94 ff. Siehe die kritische Auseinandersetzung mit dem Laband’schen Staatsrecht durch O. v. Gierke. Gierke warf Laband vor, in seiner Konstruktion des Bundesstaates Besonderheiten des Reiches zu „dem Bundesstaate überhaupt eignenden Erscheinungen“ zu erklären, siehe O. v. Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, Schmollers Jahrbuch 7 (1883), S. 1097, 1161; siehe außerdem im gleichen Sinne S. Brie, Zur Lehre von den Staatenverbindungen, Grünhut’s Zeitschrift 11 (1884), S. 85, 154 f. Schon F. v. Martitz warf in einer Rezension 1876 dem Laband’schen Staatsrecht vor: „so fürchte ich doch, dass solche Behauptungen ohne genügende Kenntniss ausländischer föderaler Rechtszustände gewagt werden.“, v. Martitz (Fn. 60), S. 569.
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dieser Veränderung der staatstheoretischen Prämissen beigetragen.73 In staatstheoretischer Hinsicht erschien dieser Schritt zunächst als Gewinn. Die deutsche Staatsrechtslehre hatte mit dem konsequent verengten Souveränitätsbegriff wieder eine scheinbar logische und präzise theoretische Grundlage. Doch damit einher ging ein zunächst kaum bemerkter Verlust: Man hatte sich außerstande gesetzt, das „bündische System“ der Reichsverfassung noch zureichend in theoretischen Kategorien zu erfassen.74 Der Bundesstaat konnte dogmatisch nur noch als eine Art dezentralisierter Einheitsstaat begriffen werden. Viel geändert hat sich daran bis heute nicht, wie der Souveränitätsdiskurs im Blick auf die Europäische Union zeigt.75 2. Volkssouveränität und die „Verfassung“ der Europäischen Union Wie stark diese Frage nach dem Träger der Souveränität die Staatsrechtslehre früherer Zeiten beschäftigt hat, vermag man sich heute kaum mehr vorzustellen. Die traditionelle liberale Staatslehre, die für den Bundesstaat von einer zwischen Bund und Staaten geteilten Souveränität ausgegangen war, hatte sich insoweit noch auf stark naturrechtliche Fundierungen gestützt, spiegelte noch den Fortschrittsoptimismus der klassischen Liberalen wider, die sich letztlich nur das Prinzip der Volkssouveränität als tragendes Prinzip eines modernen Staatswesens hatten vorstellen können. Unter der Prämisse der Volkssouveränität jedoch hatte die Vorstellung einer geteilten Souveränität durchaus Sinn ergeben: Das „Volk“ als eigentlicher Träger der Souveränität ist aus sich heraus nicht handlungsfähig. Die Volkssouveränität muss immer über die staatliche Verfasstheit erst organisiert werden.76 Diese Organisation beruht aber im gewaltenteiligen Verfassungsstaat immer auf Arbeitsteilung in der Ausübung von Staatsgewalt. Der Verfassungsstaat kennt definitionsgemäß gerade kein staatliches Organ, das als Träger einer (Organ-)Souveränität mit einer absoluten Herrschaftsmacht ausgestattet wäre.77 Im Gegenteil: Organisatorische Träger der in der Souveränität zusammengefassten Herrschaftsrechte können im auf Gewaltenteilung beruhenden Verfassungsstaat immer nur mehrere Organe 73
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P. Häberle hat dementsprechend auch nicht ganz zu Unrecht von dem „in der Vergangenheit im Zeichen der Monarchie und des Nationalstaates etatistisch übersteigerten“ Souveränitätsbegriff des 19. Jahrhunderts gesprochen, ders., Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, AöR 92 (1967), S. 259 (261). Zur etatistischen Grundprägung der deutschen Staatsrechtslehre vgl. prägnant A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 98 ff. Siehe als kritische Stimmen zu diesem Diskurs N. Walker, Late Sovereignty in the European Union, in: ders. (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, S. 3 (17 ff.); N. MacCormick, Questioning Sovereignty, 1999, S. 4 ff.; M. Wind, The European Union as a Polycentric Polity: Returning to a Neo-Medieval Europe?, in: J. H. H. Weiler/M. Wind (Hrsg.), European Constitutionalism Beyond the State, 2003, S. 103. Siehe zu dieser – eigentlich unbestrittenen – Prämisse jeder Staatstheorie nur K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1984, S. 604 ff., sowie E.-W. Böckenförde, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 2005, § 34, insb. Rn. 9–11, jeweils m.w.N. der Literatur. Siehe dazu im Detail K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 527 ff., insb. S. 532–536.
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zugleich, d.h. im aufeinander verwiesenen Zusammenwirken sein – wenn man nicht im klassischen Gewaltenmonismus der „Parlamentssouveränität“ denkt.78 Der alten Bundesstaatsdiskussion analoge Fragen der Aufspaltung und Stufung von Herrschaftsträgern und der komplementären Sinnwandlung (wenn nicht Sinnentleerung) des Souveränitätsbegriffes stellen sich unbezweifelbar auch für das supranationale Gefüge der EU. Inwieweit die Europäische Union schon „staatsähnliche“ oder „parastaatliche“ Züge aufweist, darüber mag man streiten. In vielen Punkten zeigt die existierende „Verfassung“ der Europäischen Union – in der Gestalt des Maastricht-Vertrages und der darauf folgenden Reformverträge von Amsterdam, Nizza und Lissabon – jedenfalls verblüffende Ähnlichkeiten mit der (kompromisshaft-bündischen) Verfassungsordnung des Deutschen Reiches nach 1867 bzw. 1871. Auch das Deutsche Reich ist im Rückblick schon (und dies durchaus mit einleuchtenden Gründen) als „Staatengemeinschaft“ bzw. „Staatenverbund“ beschrieben worden,79 wies es doch in vielen Punkten noch deutlich staatenbündische Züge auf. Dies gilt vor allem für die Beteiligung der Einzelstaaten an der zentralen Willensbildung, die in der damals gewählten Form für echte Bundesstaaten untypisch war.80 Der Bundesrat, der nach Bismarcks ursprünglicher Verfassungskonzeption als eine Art „gemeinschaftliches“ Regierungsorgan der „verbündeten Regierungen“ gedacht war, stellte nicht nur eine Konsequenz aus dem fast völligen Fehlen einer Exekutive des Bundes dar, sondern sollte auch ganz bewusst die Eigenständigkeit der einzelstaatlichen Exekutiven bewahren.81 Die „verbündeten Regierungen“ stellten als Träger der „monarchischen Souveränität“ die eigentlichen Legitimitätsquellen im bürokratischen Obrigkeitsstaat des deutschen Konstitutionalismus dar. Indem man das politische Schwergewicht der monarchischen Exekutiven sicherte, blockierte man zugleich – und dies war von Bismarck ausdrücklich gewollt – den Siegeszug des Parlamentarismus.82 Ähnliches könnte man für die im Ansatz sehr technokratisch geprägte Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft sagen: Indem man den nationalen Regierungen über die Dominanz des „intergouvernementalen“ Rates das entscheidende Wort in der Willensbildung der Gemein78 79
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Als geradezu klassische Ausprägung der Doktrin der Parlamentssouveränität siehe Bluntschli (Fn. 58), S. 134 ff. Siehe K. E. Heinz, Das Bismarck-Reich als Staatengemeinschaft: Ein Beitrag zu den Lehren von Bundesstaat und Staatengemeinschaft, StwStP 5 (1994), S. 77, sowie Böhmer (Fn. 30), S. 35 ff.; vgl. außerdem zu den auffallenden Analogien M. R. Lepsius, Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, in: R. Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas?, 1991, S. 19 (20 f.). Den Unterschied zwischen der Bundesstaatskonstruktion des Deutschen Reiches und denen der klassischen Bundesstaaten USA und Schweiz haben schon die Zeitgenossen wahrgenommen, so z.B. besonders deutlich J. C. Bluntschli in seiner Staatslehre (Fn. 58), S. 561 f.; siehe außerdem Anschütz (Fn. 57), S. 13 ff.; Triepel (Fn. 69), S. 71 ff., sowie Kaufmann (Fn. 55), S. 64 ff. Siehe nur Nipperdey (Fn. 57), S. 92. Siehe dazu nur Boldt (Fn. 57), S. 119 ff., sowie Nipperdey (Fn. 57), S. 43, der von „Bismarcks komplizierter Konstruktion“ schreibt, „den Bundesrat als kaum greifbaren Gegenpol des Parlamentes zu installieren und so eine Parlamentarisierung nach Möglichkeit zu blockieren“ ; im gleichen Sinne auch schon Preuß (Fn. 58), S. 152 ff.
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schaft zuweist – und dieses pragmatische Arrangement dann (wie in der deutschen Staatstheorie leider vielfach üblich) in der Erhebung des Rates zum nahezu alleinigen Träger demokratischer Legitimation noch theoretisch überhöht, wird das (im Ansatz zunächst stark idealistisch geprägte) Unternehmen der europäischen Integration zum Vehikel der Machtsicherung nationaler Exekutiven umgeformt, wird zum Instrument der Verselbständigung staatlicher Machtapparate, die sich über die „intergouvernementale“ Konstruktion einer so konzipierten Gemeinschaft mehr und mehr des „Störfaktors“ demokratischer Partizipation entziehen können. Die Rolle des Parlamentes stellt damit für beide Systeme Fragen von ganz besonderer Brisanz. Der Reichstag stand von Anfang an in einer starken Spannung zum eher bürokratisch-obrigkeitsstaatlichen Verfassungsgefüge des Reiches – einer Spannung, die bewusst in das Verfassungsgefüge der Reichsverfassung eingebaut worden war.83 Der Reichstag verkörperte das Prinzip der „Volkssouveränität“ eines deutschen Gesamtvolkes, das sich in eigenartigem Widerspruch zur konservierten „monarchischen“ (bzw. bürokratischen) Souveränität der „verbündeten Regierungen“ befand. Die Berufung auf die Volkssouveränität des deutschen Volkes war als „die wirksamste der Künste“ im Kampf um die Hegemonie von Bismarck bewusst eingesetzt worden,84 erwies sich auch als nutzbringender Motor der weiteren Integration im Streben nach Rechtseinheit, blieb letzten Endes aber immer verdächtig als Einfallstor „fremder“ Tendenzen, die einzudämmen waren.85 Ähnliches ließe sich nun im Ansatz auch von der Stellung des Europäischen Parlamentes sagen.86 Das Gefüge der Europäischen Gemeinschaften ist gleichfalls von einem unaufgelösten Formelkompromiss zwischen fortbestehender mitgliedstaatlicher „Souveränität“ (als Staatensouveränität) und gemeinschaftsbezogener Repräsentation (als Ausdruck des Prinzips der Volkssouveränität) geprägt. Es ruht auf zwei Säulen demokratischer Legitimation: einer nationalen über die mitgliedstaatlichen Parlamente und Regierungen, einer gemeinschaftseigenen über das direkt gewählte Europäische Parlament.87 In der ursprünglichen Gestalt einer „par83
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Die Reichsverfassung war – wie Th. Nipperdey es resümierend ausgedrückt hat – „Waffenstillstand und Kompromiß“; sie hat „föderalistische und parlamentarische Prinzipien gegeneinander ausbalanciert“, ders. (Fn. 57), S. 79. Das „demokratische Wahlrecht war für Bismarck nach seinem eigenen Ausdruck die stärkste seiner Künste im politischen Streite um die Vorherrschaft in Deutschland“, H. Preuß, Die Wandlungen des deutschen Kaisergedankens, 1917, S. 19; siehe auch T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, 1983, S. 707, 766, 778 f. Siehe in diesem Sinne vor allem Kaufmann (Fn. 55), S. 96 ff. Vgl. dazu insb. Classen (Fn. 45), S. 238 ff. Dies statuiert Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV-Liss. (in Übernahme von Art. 46 VVE) nun auch explizit, wenn in Abs. 1 zunächst der Grundsatz der „repräsentativen Demokratie“ als Grundlage für die Arbeitsweise der Union beschworen wird, in Abs. 2 sodann die duale Legitimation der Union herausgestrichen wird: „Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europaäischen Parlament vertreten. Die Mitgliedstaaten werden im Europäischen Rat unmittelbar von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen.“ Vgl. hierzu auch M. Ruffert, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. 46 VVE, Rn. 2 ff.
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lamentarischen Versammlung“ bezog das Europäische Parlament zwar nur die nationalen Parlamente in den Entscheidungsprozess der Gemeinschaften ein, „repräsentierte“ es die nationalen Völker als die unbestrittenen Subjekte der (auf die Mitgliedstaaten bezogenen) Volkssouveränität über deren nationale Parlamentsmitglieder.88 Die Einführung der Direktwahl seiner Abgeordneten verschob allerdings auf ganz merkwürdige – und wohl auch nicht voll beabsichtigte – Weise die Stellung des Parlamentes.89 Als „Repräsentanten“ der einzelnen nationalen Völker, als Ausdruck einer – jeweils isolierten – Volkssouveränität der in der Union mit den anderen Nationen vereinigten konkreten Staatsnation wird man die Mitglieder des Europäischen Parlamentes in seiner heutigen Gestalt kaum mehr ansehen können.90 Sie sind keine treuhänderischen Verwalter deutscher (oder anderer nationaler) Staatsgewalt mehr, die über die nationalen parlamentarischen Systeme legitimiert wären, sondern „Repräsentanten“ des Volkes („Volkes“ als Gesamtheit der Herrschaftsunterworfenen) im Hinblick auf eine die ganze Union umfassende Hoheitsgewalt.91 Denn ideengeschichtlich gilt: Die Gleichsetzung von „Volk“ und „Nation“ ist eine mögliche, aber nicht unbedingt die einzig zwingende Ausdeutung der Volkssouveränität. Entstehungsgeschichtlich ist vielmehr das Konzept der Volkssouveränität gerade nicht tragend auf den Begriff der Nation bezogen, sondern beruht zunächst auf der Idee der freien Selbstbestimmung der Bürger, durch deren Konsens Herrschaftsgewalt legitimiert werden muss. Die Einzelnen müssen sich nicht schon vor dem Gründungsakt als Volk oder Nation konstituiert haben, sondern können sich durchaus auch erst im Akt der Verfassunggebung selbst als pouvoir constituant begründen.92 88
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So heißt es in Art. 189 EG nach wie vor, das Europäische Parlament bestehe „aus Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“. Interessanterweise fehlt diese Formel jedoch in der Nachfolgebestimmung des Lissabon-Reformvertrages, Art. 14 EUV-Liss. Vgl. insoweit nur Burgess (Fn. 3), S. 116 ff. Gleichwohl ist ein Teil des Schrifttums der Ansicht, Träger der Volkssouveränität könnten schon begrifflich nur die traditionellen Staatsnationen sein, die demokratische Legitimation einzig über die nationalen Parlamente vermittelten. Siehe z.B. P. M. Huber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozeß, StwStP 3 (1992), S. 349 (354); F. Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz – eine verfassungsrechtliche Wende?, DVBl. 1993, S. 629 (634); vgl. außerdem BVerfGE 89, 155 (186); vgl. jedoch differenzierend U. Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 87 ff., 100 ff., und J. Bröhmer, Das Europäische Parlament: Echtes Legislativorgan oder bloßes Hilfsorgan im legislativen Prozeß?, ZEuS 1999, S. 197. Vgl. in diesem Sinne auch W. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Fn. 87), Art. 20 VVE, Rn. 5 ff.; A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 386 ff.; W. Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 30 ff.; W. Wessels, Wird das Europäische Parlament zum Parlament?, in: GS Grabitz, 1995, S. 369. Darauf weist Helmut Steinberger hin, H. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 9 (23); vgl. außerdem I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (163), sowie Rossen-Stadtfeldt (Fn. 29), S. 63, außerdem J. H. H. Weiler, To Be a European Citizen: Eros and Civilization, Working Paper Series in European Studies (Special Ed.) 1998, S. 31, 37 ff., unter http://uw-madison-ces.org/papers/weiler.pdf (4.10.2008).
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Wenn man das Parlament – wie es die Verfechter der nationalen Souveränität so gern tun – nicht gleich ganz als quantité négligeable aus der Betrachtung ausblendet,93 so gibt es heute wohl nur eine plausible Option: Das Europäische Parlament ist gewählter Vertreter, ist symbolische Verkörperung eines auf die Gesamteinheit der Europäischen Union bezogenen Prinzips der Repräsentation (im Sinne des Gedankens der Volkssouveränität),94 wenn auch diese „Volkssouveränität“ nicht einem einheitlichen „europäischen Staatsvolk“ zusteht, sondern dem „Volk“ im prä-nationalen, ursprünglichen Sinn des Begriffes, als „demos“, als der Gesamtheit der das Gemeinwesen bildenden Bürger.95 Wenn überhaupt in den überlieferten „nationalstaatlichen“ Kategorien zu fassen, so könnte man von den in der Union vereinigten europäischen Völkern als zusammengesetztem multinationalen Verband sprechen. Dieses jedem direkt gewählten Parlament eigentlich per definitionem zugrunde liegende Element der Repräsentation der Bürger, die ihrerseits ideengeschichtlich auf dem Prinzip der Volkssouveränität ruht, ist bisher nur schwach im Verfassungsgefüge der Union verankert, wird noch weitgehend überschattet von der im Rat verkörperten mitgliedstaatlichen Souveränität. Im Grundsatz sind die Mitgliedstaaten formal immer noch Herren der Verträge, bedürfen zur Abänderung der im Unionsvertrag niedergelegten „Verfassung“ der Union formal nicht der Zustimmung des Parlamentes.96 Je stärker aber die Stellung des Parlamentes wird, je größer seine Mitsprache in der Rechtsetzung ausgebaut wird,97 desto stärker tritt unweigerlich dieses im Gesamtgefüge in nuce angelegte Element einer im Parlament verkörperten gesamteuropäischen Volkssouveränität in den Vordergrund.98
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Als Beispiel für diese Tendenz vgl. nur Ossenbühl (Fn. 90), S. 634 f., der behauptet, das Europäische Parlament sei „kein Parlament im Sinne einer Volksrepräsentation“; vgl. ferner M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 466 ff.; M. Heintzen (Fn. 45); P. M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 194 (236 f.); C. Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, 2005, S. 292 ff., sowie das bei G. Lübbe-Wolff nachgewiesene Schrifttum: Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 246 (263 in Fn. 44). Siehe Classen (Fn. 45), S. 246 f., außerdem Pernice (Fn. 51), S. 477 ff.; Lepsius (Fn. 79), S. 22. Vgl. Pernice (Fn. 51), S. 477 f., sowie jüngst eingehend Augustin (Fn. 91), insb. S. 63 ff., 393 ff., außerdem Peters (Fn. 74), S. 657 ff., 700 ff. Vgl. dazu nur H.-J. Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht – Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, DÖV 1993, S. 412 (418 f.), aber auch U. Everling, Zur Stellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als „Herren der Verträge“, in: FS Bernhardt, 1995, S. 1161. Vgl. insoweit nur A. Maurer, The Legislative Powers and Impact of the European Parliament, JCMS 41 (2003), S. 227. Diese Verstärkung der im Parlament verkörperten „zentralen“ Volkssouveränität muss nicht unbedingt zum Übergang zum echten Bundesstaat führen, der an bestimmte äußere Formen (Verfassunggebung) geknüpft ist, sondern kann – solange die äußere Form des völkerrechtlichen Vertrages beibehalten wird – auch im Gehäuse des traditionellen „Staatenverbundes“ geschehen, vgl. nur Oeter (Fn. 36), S. 258 f.
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Angesichts des gegenwärtigen Standes der Vergemeinschaftung – und das heißt vor allem: angesichts des inzwischen verwirklichten Umfanges der Mitsprache durch das Parlament99 – wird man damit die Frage stellen müssen, ob in der Europäischen Union nicht längst – will man grundsätzlich am Souveränitätsbegriff festhalten – so etwas wie ein Zustand geteilter bzw. dualer Souveränität i.S. der altkonstitutionellen Bundesstaatstheorie entstanden ist,100 der mit fortschreitender Gewichtsverlagerung zugunsten des Parlaments immer weiter konsolidiert wird, im Sinne einer dualen Legitimation der Institutionen der Europäischen Union.101 Die als Gegenargument übliche Berufung auf die (fehlende) „Kompetenz-Kompetenz“ der Union – diese liegt nach allgemeiner Auffassung weiter bei den Mitgliedstaaten als den „Herren der Verträge“102 – hilft hier nicht wirklich weiter, setzt sie doch theoretisch zunächst einmal die Existenz einer solchen Letztentscheidungsbefugnis voraus – einer Letztentscheidungsbefugnis, die im bündischen System gerade nicht selbstverständlich ist.103 Das Institut der unbeschränkten „Kompetenz-Kompetenz“ überträgt das Modell des hierarchisch organisierten Einheitsstaates auf den Bundesstaat, statuiert es doch, dass Herrschaftsgewalt und Souveränität im Kern immer bei einem zentralen Organ angesiedelt sein müsse, ursprünglich beim Monarchen, dann beim Parlament. Diese für die deutsche Bundesstaatsdoktrin typische Übertragung
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Siehe zur Rolle, die dem Parlament nach den (gescheiterten) Verfassungsvertrag zugekommen wäre, etwa S. Oeter, Demokratie im europäischen Verfassungsverbund: Überlegungen zum Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, in: M. Zuleeg (Hrsg.), Die neue Verfassung der Europäischen Union, 2006, S. 69; vgl. ferner die Kommentierung von Ruffert (Fn. 87) zu Art. 46 VVE (wortlautidentisch mit Art. 10 EUV-Liss.), sowie B. Crum, Tailoring Representative Democracy to the European Union, ELJ 11 (2005), S. 452. Zu dem daraus resultierenden verfassungspolitischen „Schwebezustand“ der Europäischen Union vgl. P. Lerche, Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: FS Redeker, 1993, S. 131 (141 f.); vgl. außerdem Peters (Fn. 74), S. 144 ff. m.w.N. der einschlägigen Literaturstimmen in Fn. 241. Vgl. zur dualen Legitimationsstruktur der Union Ruffert (Fn. 87), Art. 46 VVE, Rn. 3; J. Gerkrath, Die Bedingungen der Demokratie in der Europäischen Union, EuGRZ 2006, S. 371; C. Calliess, Das Demokratieprinzip im europäischen Staats- und Verfassungsverbund: Eine Analyse mit Blick auf den Konventsentwurf für den Europäischen Verfassungsvertrag, in: FS Ress, 2005, S. 399 (403); F. Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung: Das Handlungsformensystem des Mehrebenenverbundes als Ausdruck einer legitimitätsorientierten Kompetenzbalance zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten, 2005; Dann (Fn. 29), S. 4 ff.; A. v. Bogdandy, Zur Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren auf die Europäische Union, in: FS Badura, 2004, S. 1033 (1046 f.); ders., in diesem Band, S. 64; A. Maurer, Parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union: Der Beitrag des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, 2002; W. Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 371 ff.; Kluth (Fn. 91), S. 87 ff.; Classen (Fn. 45), S. 246 ff. Siehe insoweit nur C. Tomuschat, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Stand: Aug. 2005), Art. 24, Rn. 20, sowie ausführlich U. Everling, Sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft noch Herren der Verträge?, in: FS Mosler, 1983, S. 173 (insb. S. 189), und ders. (Fn. 96). Vgl. auch J. A. Frowein, Verfassungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft, EuR Beiheft 1/1992, S. 63 (67 f.).
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unitarischer Kategorien auf föderale Strukturen ist jedoch schon im Ansatz problematisch.104 Bereits bei Albert Haenel, der in besonderem Maße zur Etablierung des Begriffes der „Kompetenz-Kompetenz“ beigetragen hat, war die Denkfigur weniger gedacht als Element einer bundesstaatlichen Verfassungslehre denn als theoretischer Ansatz zur Überwindung des bündischen Systems105 – des bündischen Systems, das als Haupthemmnis auf dem Weg zum angestrebten parlamentarischen System empfunden wurde. Diese von Anfang an bewusst unitarische Ausrichtung der Denkfigur von der „Kompetenz-Kompetenz“ sollte zur Vorsicht mahnen. Vorschnelle Übertragung der Figur auf föderale Konstruktionen wie die Europäische Gemeinschaft wird unweigerlich in die Irre führen, kann doch in der Folge jegliche verdichtete Form der Integration nur noch in den Kategorien der Einheitsstaatlichkeit begriffen werden (oder allenfalls des „unitarischen Bundesstaates“ deutscher Prägung). Dabei ist es geradezu ein Gemeinplatz, dass ein geeintes Europa nicht nach dem Modell des nationalen Einheitsstaates mit zentraler Bürokratie und im Prinzip omnipotentem Parlament konstruiert werden kann.106 Lässt sich das Gefüge der europäischen Integration aber nur als eine Konstruktion traditioneller „bündischer Integration“ in föderalen Formen begreifen, also in den Kategorien „schwebender“ bzw. „geteilter Souveränität“, so bedeutet dies: Die Souveränität der Mitgliedstaaten bleibt in jedem Falle im Kern erhalten, verfügen sie doch weiter über nicht abgeleitete, „originäre“ Herrschaftsgewalt. Diese Herrschaftsgewalt ist jedoch nicht mehr unbeschränkt, wie es die klassische Souveränitätslehre einst forderte, sondern im Gegenteil nur noch partielle Hoheitsgewalt, da andere Teile der Hoheitsgewalt unwiderruflich im System der supranationalen Vergemeinschaftung gebunden sind.107 Die Ebene der supranationalen Herrschaft verfügt übrigens ebenfalls nur über beschränkte Hoheitsgewalt – dies bliebe selbst nach einer potentiellen „Konstitutionalisierung“ des Systems über den Erlass einer europäischen Verfassung so, in deren Gefolge die Hoheitsbefugnisse der Union qua Verfassungsänderung erweiterbar wären.108
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Siehe auch Schönberger (Fn. 8), S. 105 ff. Siehe Haenel (Fn. 58), S. 771 ff., insb. S. 803 ff. Vgl. nur Lerche (Fn. 100), S. 134, sowie Tomuschat (Fn. 102), Rn. 46. Vgl. hierzu auch Peters (Fn. 74), S. 144 ff. Selbst wenn man eine „konstitutionalisierte“ Europäische Union als Bundesstaat qualifizierte, hätte dies keine nennenswerten Auswirkungen auf den Rechtsstatus der Mitgliedstaaten, denn deren rechtliche Stellung würde durch das Kompetenzteilungsgefüge der „Verfassung“ bestimmt, und nicht durch ihre dogmatische Qualifikation als Gliedstaaten oder als souveräne Vollstaaten.
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V. Die Rolle des Demokratieprinzips im föderalen „Staatenverbund“ Souveränitätsfrage und Demokratieprinzip erweisen sich somit als untrennbar verkoppelt, geradezu als siamesische Zwillinge.109 In einem Gefüge moderner Verfassungsstaatlichkeit ist die Frage nach der Souveränität letztendlich immer eine Frage nach der Konstruktion von Volkssouveränität. Konstruktion von Volkssouveränität aber ist die Frage nach der Ausgestaltung des Demokratieprinzips.110 Anders gewendet: Wie in einem System bündischer Integration die Frage nach dem Träger der Souveränität beantwortet wird, hängt untrennbar zusammen mit dem gewählten Modell der Vermittlung demokratischer Legitimation. Bejaht man die Existenz einer überwölbenden Volkssouveränität, die sich in einem direkt gewählten Gesamtparlament des Bundes verkörpert, so wird man zur Souveränität des Bundes tendieren, wenn man in unitarischen Kategorien denkt – oder zu einem System geteilter Souveränität, denkt man in föderalistischen Kategorien. Akzeptiert man dagegen ausschließlich die Staatsvölker der im Bund vereinigten Einzelstaaten als Subjekte der Volkssouveränität, so kann Souveränität einzig und allein bei den Mitgliedstaaten liegen. Die Antwort auf die Frage nach der Vermittlung demokratischer Legitimation hängt also vom Vorverständnis, vom zugrunde gelegten Modell der Konstruktion europäischer Integration wie von den demokratietheoretischen Prämissen ab.111 Geht man ganz traditionalistisch an die Europäische Union heran und nimmt sie einzig als Verbund souveräner Nationalstaaten wahr, so ist die Vermittlung demokratischer Legitimation einzig über die mitgliedstaatlichen Parlamente möglich. Doch welche Rolle kommt dann dem Europäischen Parlament zu, das ja keine rein konsultative „parlamentarische Versammlung“ mehr ist, sondern eine direkt gewählte parlamentarische Vertretung der Bürger Europas, also ein genuines Organ parlamentarischer Repräsentation, dem unmittelbare demokratische Legitimation zukommt? Nimmt man diese veränderte Rolle des Europäischen Parlamentes in den Blick, so wird man kaum um die Einsicht herumkommen, dass im Europäischen Parlament längst Ansätze einer gemeinschaftsbezogenen „Volkssouveränität“ verkörpert sind.112 Ähnlich wie beim Reichstag des Kaiserreiches ist dieser Ansatz einer das gesamte Gemeinwesen überwölbenden „Volkssouveränität“ zwar dadurch amputiert, dass das Gesamtgefüge der Verfassung kein wirklich parlamentarisches System etabliert, sondern die verfassungsrechtliche Präponderanz der „verbündeten Regierungen“ festschreibt. Wie stark die Ansätze einer „europäischen Volkssouve109 110 111
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Vgl. dazu nur E.-W. Böckenförde, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 2004, § 24, Rn. 8. Siehe ebd., § 24, Rn. 9 ff. Vgl. zur demokratietheoretischen Diskussion um Europa etwa E. Grande, Demokratische Legitimation und europäische Integration, Leviathan 3 (1996), S. 339; F. W. Scharpf, Mitgliedschaft, Grenzen und politischer Raum, in: B. Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, S. 249; A. Benz, Ansatzpunkte für ein europafähiges Demokratiekonzept, in: ebd., S. 345; H. Abromeit, Democracy in Europe, 1998. Vgl. die Nachweise oben in Fn. 94 und 101.
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ränität“ zum Tragen kommen, hängt in der Folge damit einzig von der konkreten Ausgestaltung der Stellung des europäischen Parlaments ab.113 Ab welchem Punkt in der kompetentiellen Stärkung es Sinn ergibt, von einer echten „unionsbezogenen“ Volkssouveränität als tragender Legitimationsbasis des Systems zu sprechen, ist schwer festzulegen, handelt es sich beim Anwachsen von direkter demokratischer Legitimation in einem bündischen „Zwei-Säulen-System“ doch um einen eher gleitenden Prozess,114 bei dem sich mit allmählichen Gewichtsverschiebungen in der funktionellen Rolle der Organe auch das Gewicht der Legitimationsschienen wandelt.115 Rey Koslowski hat insoweit treffend von einem Prozess der „unintentional constitutionalization of power-sharing“ gesprochen, im Gegensatz zum klassischen Gründungsakt föderaler Systeme, dem „intentional federalism by treaty“.116 Wandel der funktionellen Rollenverteilung zwischen den Organen der Gemeinschaft und Transmission des Parteiensystems werden hier letztlich Hand in Hand gehen.117 Steigendes Gewicht des Parlamentes wird die Parteien auf europäischer Ebene zu verstärkter innerparteilicher Integration zwingen, die wiederum nötig ist, damit das Parlament seiner neuen Funktion gerecht werden kann. Steigendes Gewicht des Parlamentes wird zugleich das Interesse der Medien an der „europäischen Innenpolitik“ befördern, also den Entscheidungen der Rechtsetzung, Haushalts- und Verwaltungskontrolle, die dem Europäischen Parlament obliegen. Verstärkte Berichterstattung (und erhöhtes Interesse der Öffentlichkeiten) wird aber zu stärkerer Kenntnisnahme der Paralleldebatten in den medialen Öffentlichkeiten der anderen Mitgliedstaaten führen, damit zu einer zunehmenden Verzahnung und Wechselbezüglichkeit der bisher noch weitgehend gegeneinander abgeschotteten „nationalen“ Öffentlichkeiten.118 Je mehr Parlament und Kommission öffentlichkeitswirksam Fragen der Europapolitik unter dem Blickwinkel eines „europäischen Gemein113
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Selbst ein Kritiker der Demokratisierungsvorschläge wie P. M. Huber gibt zu, dass mit der Schaffung einer echten Legislativkompetenz des Parlamentes (bzw. eigenständiger Kreationsbefugnisse des EP für Kommission und andere Gemeinschaftsorgane) die Wahlen zum Europäischen Parlament zum staatliche „Lebenswirklichkeit“ herstellenden Integrationsprozess würden, Huber (Fn. 90), S. 359. In dieser Richtung siehe etwa den „Neo-Federalism“ von J. Pinder, European Community and Nation-State, International Affairs 62 (1986), S. 41 (53 ff.), sowie ders., European Community, 1991, S. 203 ff.; vgl. ferner Blanke (Fn. 96), S. 419, sowie Peters (Fn. 74), S 556 ff. Vgl. dazu Pernice (Fn. 51), S. 453. Koslowski (Fn. 2), S. 39 f. Vgl. zur Rolle, die die Unionsverfassung, in Zukunft also Art. 10 Abs. 4 EUV-Liss. (bzw. wortlautidentisch auch schon Art. 46 Abs. 4 VVE) den politischen Parteien in Europa zuschreiben, etwa Ruffert (Fn. 87), Art. 46 VVE, Rn. 8 ff.; D. Tsatsos, Europäische politische Parteien?, EuGRZ 2004, S. 45; R. Damm, Die europäischen politischen Parteien: Hoffnungsträger europäischer Öffentlichkeit zwischen nationalen Parteien und europäischen Fraktionsfamilien, ZParl 1999, S. 395; P. M. Huber, Die politischen Parteien als Partizipationsinstrument auf Unionsebene, EuR 1999, S. 579; T. Papadopoulou, Politische Parteien auf europäischer Ebene, 1999. Vgl. zur Wechselwirkung von Massenmedien und politischer Öffentlichkeit mit Blick auf die Herausbildung eines genuin europäischen politischen Diskurses Augustin (Fn. 91), S. 149 ff.
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wohls“ thematisieren, desto mehr werden auch die heute im Ansatz noch „nationalen“ politischen Diskurse zu „europäischen“ Diskursen zusammenwachsen, in denen die gleichen Fragen unter Bezug auf die Argumente der anderen und im Blick auf gemeinsame Ziele zu einer Konstruktion eines „nationenübergreifenden“ Gemeinschaftsinteresses verschmolzen werden müssen.119 Das alles wird natürlich nicht von heute auf morgen vonstatten gehen, sondern stellt einen mühsamen und äußerst langwierigen Prozess dar. Die „Konstitutionalisierung“ der EU zu einem „föderalen Gemeinwesen“ wird man in dieser Perspektive folglich als einen langsamen, gerade darum aber im Kern dialektischen Prozess zu konstruieren haben, in dessen Verlauf sich nicht nur die institutionellen Ausformungen einer „europäischen Demokratie“ entwickeln werden (bzw. entwickeln müssen, wenn das Projekt der europäischen Integration nicht scheitern soll), sondern parallel mit der Umgewichtung institutioneller Rollen auch die sozialen und organisatorischen Voraussetzungen einer funktionierenden Demokratie auf der Ebene der Union. Genau darin liegt das Wesen eines schleichenden Prozesses allmählicher „Föderalisierung“, einer – mit den Worten von Koslowski – „institutionalization of a federal legal framework through the routinization of practices“.120 Letztlich wird man sich „Verfassunggebung“ in der Europäischen Union also ganz anders als einen revolutionären Akt einmaliger „Verfassunggebung“ vorzustellen haben, eher als Prozess schleichender Akkumulation wichtiger Grundentscheidungen im Stil der englischen Verfassungsentwicklung.121 Genau in der Vorstellung der revolutionären „Souveränitätsverschiebung“ liegt nun aber der Hauptangriffspunkt der Kritiker einer weiteren Integration. Weitere „Parlamentarisierung“ der Union bedrohe unweigerlich die nationale Souveränität, mediatisiere die einzelstaatlichen Parlamente, und hebe im Ergebnis die Selbstbestimmung der in den Parlamenten repräsentierten Völker auf. Die Europäische Gemeinschaft bzw. Union sei von ihrer Natur her als System bündischer Integration, als „Staatenverbund“ konföderaler Art, nicht zur Demokratisierung geeignet. Demokratie verlange das Vorhandensein eines vorgegebenen Volkes als Träger der Volkssouveränität.122 Ein „europäisches Volk“ jedoch existiere nicht, könne nicht existieren, da prägend für Europa gerade die Vielfalt und Unterschiedlichkeit seiner Völker sei. Ein „Volk“ als Träger der Volkssouveränität setze zwar nicht unbedingt gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte voraus, aber doch ein sich seiner Zusammengehörigkeit bewusstes, zum rechtlichen Verbund bereites und auf eine gemeinsame Entscheidung und Entscheidungsverantwortung vorbereitetes Volk. Nur 119 120 121
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Vgl. zur dahinterstehenden Problematik nur Rossen-Stadtfeldt (Fn. 29), S. 76 f. Koslowski (Fn. 2), S. 41. Siehe dazu auch R. Bieber, Verfassungsentwicklung und Verfassunggebung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Wildenmann (Fn. 79), S. 393 (403 ff., insb. 408 f.); vgl. ferner Peters (Fn. 74), S. 360 ff., insb. S. 372 ff., 487 ff., sowie Rossen-Stadtfeldt (Fn. 29), S. 63. Siehe insoweit nur die Nachweise der einschlägigen Literaturstimmen bei Lübbe-Wolff (Fn. 93), S. 263 in Fn. 44; zu den Schwierigkeiten des Volksbegriffes, gerade in Bezug auf die „Vertragsverfassung“ der Europäischen Union, siehe eingehend Augustin (Fn. 91), S. 29 ff., 196 ff., 393 ff., und Peters (Fn. 74), S. 105 f., 651 ff.
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auf der Grundlage dieser Gemeinsamkeiten sei dann eine die Volkssouveränität tragende politische Öffentlichkeit denkbar, die als Kontrollinstanz jede Demokratie abstützen müsse.123 Die Bewahrung der Eigenheiten der in der Union vereinigten Staaten und Völker verlange deshalb Verzicht auf weitere Demokratisierung der Union, verlange vielmehr umgekehrt verstärkte Einbeziehung und Mitsprache der nationalen Parlamente.124 Vordergründig hat diese Argumentation zunächst durchaus einige starke Argumente für sich. Ein „europäisches Volk“, im Sinne eines „Staatsvolkes“ mit vorgegebener nationaler Identität, existiert tatsächlich nicht. Doch ist damit die Debatte wirklich geschlossen? Trägt dieser Ausgangsbefund wirklich die gezogenen Schlussfolgerungen? Die Antwort darauf sollte man sich nicht zu einfach machen. Die Prämissen der geschilderten Argumentationslinie dürfen nicht unbefragt einfach als selbstverständlich unterstellt werden.125 Der gängigen Argumentation des fehlenden „europäischen Volkes“ als unübersteigbares Hindernis der Demokratisierung wohnt vielmehr ein durchaus problematisches Vorverständnis von der Konstruktion moderner Verfassungsstaatlichkeit inne, wenn ohne jegliche Überprüfung mit der unbefragten Gleichsetzung von Volkssouveränität und tradiertem Nationalstaat gearbeitet wird. Zwar mag historisch in der Tat einiges dafür sprechen, Volkssouveränität und Nationalstaat für zwei Seiten einer Medaille zu halten, für Produkte der liberalen Volksstaatsidee des 19. Jahrhunderts.126 Allerdings wird man schon rein historisch gewisse Zweifel an der Richtigkeit der Prämisse von der unauflöslichen Verbindung von Volkssouveränität und Nationalstaatsprinzip nicht unterdrücken können, sind doch die meisten „Nationen“ Europas Folgeprodukte der gemeinsamen Staatlichkeit, aus denen sie hervorgingen, und nicht prä-existente Voraussetzungen des auf ihrer Grundlage errichteten nationalen Staates.127 Als in der französischen Revolution Frankreich zum Nationalstaat erklärt wurde, waren 123
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So z.B. Ossenbühl (Fn. 90), S. 634; P. Kirchhof, Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, 1992, S. 38 f.; U. Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, Der Staat 32 (1993), S. 191 (203 f.). Siehe nur Fischer/Schley (Fn. 6), S. 34; zur praktischen Problematik dieser Vorstellung vgl. insb. U. Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union, DVBl. 1993, S. 936 (945 ff.), außerdem K. Hänsch, Europäische Integration und parlamentarische Demokratie, Europa-Archiv 1986, S. 191 (197 ff.), sowie Pernice (Fn. 51), S. 466 ff. Vgl. in diesem Sinne auch Peters (Fn. 74), S. 651 ff.; R. Lepsius, „Ethnos“ und „Demos“, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38 (1986), S. 751 (756 f.); J. Habermas, Remarks on Dieter Grimm’s „Does Europe Need a Constitution“?, ELJ 1 (1995), S. 303 (305 f.); J. H. H. Weiler, The Reformation of European Constitutionalism, JCMS 35 (1997), S. 97 (118 ff.); ferner grundlegend E. K. Francis, Ethnos und Demos, 1965, S. 77, 87 ff., 90, außerdem J. Delbrück, Das Staatsvolk und die „offene Republik“, in: FS Bernhardt, 1995, S. 777. Vgl. nur U. Scheuner, Nationalstaatsprinzip und Staatenordnung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in: T. Schieder (Hrsg.), Staatsgründungen und Nationalitätsprinzip, 1974, S. 9 (19). Vgl. dazu insb. E. J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, 1991, S. 25 ff.; außerdem E. Gellner, Nationalismus und Moderne, 1991, sowie E. J. Hobsbawm/T. Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, 1983.
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die Bewohner Frankreichs noch alles andere als eine einheitliche Nation; erst der von der nationalen Idee erfüllte Staat hat Frankreich im Verlaufe eines Jahrhunderts zur einheitlichen Staatsnation geformt.128 Gleiches gilt auch für die meisten anderen Staatsnationen Westeuropas.129 Die so beliebte Gleichsetzung von Volkssouveränität und Nationalstaat enthält im Kern ein Element des ethnischen Fundamentalismus, trägt Züge mythologischen Denkens, die einem um politische Einigung ringenden Europa schlecht anstehen.130 Gerade den sich so vehement auf das Konzept der nicht-ethnischen Staatsnation berufenden Staaten Westeuropas müsste dieser Rekurs auf völkische Gründungsmythen eigentlich widerstreben.131 Historisch tritt Volkssouveränität vielmehr problemlos auch ohne das einigende Band des gemeinsamen „ethnos“ auf – man denke an die Schweiz oder Einwandererstaaten wie die USA und Kanada.132 Umgekehrt wurde der Nationalstaat des öfteren gerade mit dem Verzicht auf konsequente Durchsetzung des Prinzips der Volkssouveränität erkauft – man denke nur an das Beispiel des Deutschen Reiches von 1867 bzw. 1871. Die Argumentation mit der „Nicht-Demokratisierbarkeit“ bündischer Systeme erinnert – und hier liegt die eingangs beschworene „historische Ironie“ – fatal an die damals für westeuropäische Verfassungsrechtler so schwer nachvollziehbaren Einwände der deutschen Staatsrechtler während des Ersten Weltkrieges, mit denen diese sich gegen eine weitere Parlamentarisierung des Reiches aussprachen.133 Der von den Gegnern des Reiches – so lautete der Einwand – fälschlich zum Normtypus der europäischen Verfassungsentwicklung erhobene Parlamentarismus sei der deutschen Verfassungstradition im Wesenskern völlig fremd. Das in der „konstitutionellen Monarchie verkörperte „echte“ deutsche Staatsmodell vertrage keine Abhängigkeit der Regierung vom Parlament. Auch die im bundesstaatlichen Modell bewahrte Vielfalt der deutschen Staats- und Kulturtraditionen sei mit einer Parlamentarisierung nicht vereinbar, da Parlamentssouveränität im Reich unweigerlich die endgültige Mediatisierung der einzelstaatlichen Monarchien bedeuten müsste.134 Ganz ähnlich wird nun heute wieder argumentiert, wenn man die Behauptung hört, die im traditionellen nationalen Einheitsstaat westeuropäischer Prägung zu128
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Siehe nur Hobsbawm (Fn. 127), S. 75 sowie G. Ziebura, Nationalstaat, Nationalismus, supranationale Integration. Der Fall Frankreich, in: H. A. Winkler/H. Kaelble (Hrsg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalität, 1993, S. 34 (42 ff.), m.w.N. der einschlägigen französischen Literatur. Hobsbawm (Fn. 127), S. 97 ff. So zu Recht B.-O. Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, StwStP 5 (1994), S. 305 (309), sowie J. H. H. Weiler, Der Staat „über alles“, JöR n.F. 44 (1996), S. 91. Zu den Friktionen, die zwischen dem auf dem Nichtidentifikationsprinzip beruhenden Konzept der modernen „Staatsnation“ und dem Nationalstaatsprinzip bestehen, vgl. insb. J. Delbrück, Global Migration – Immigration – Multiethnicity, Global Legal Studies Journal 2 (1994), S. 45, sowie ders. (Fn. 125). Vgl. dazu Bryde (Fn. 130), S. 312, sowie U. Fastenrath, Die Struktur der erweiterten europäischen Union, EuR Beiheft 1/1994, S. 101 (117). Siehe als Beispiel Kaufmann (Fn. 55), S. 96 ff. Vgl. ebd., S. 98 f.
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grunde gelegte Konstruktion von Volkssouveränität und Demokratie vertrage sich nicht mit einer weiteren Demokratisierung der Union. Nun ist das sicher richtig, soweit Volkssouveränität und Demokratie als exklusiv auf das Konzept des Nationalstaates bezogen gedacht werden. „Demokratisierung“ der Gemeinschaft im Sinne der klassischen parlamentarischen Mehrheitsherrschaft hieße letztlich Errichtung eines europäischen „Superstaates“, müsste im Endergebnis die Balance des Gemeinschaftssystems zerstören, die auf fortdauernder Selbstbestimmung im Rahmen des „nationalen“ Staates und darüber vermittelt auf Bewahrung der Vielgestaltigkeit und Unterschiedlichkeit der europäischen Nationalkulturen beruht. Fraglich ist jedoch schon die Prämisse dieser Vorstellung, die sich ein Fortschreiten der Integration nur in den Organisationsstrukturen des klassischen Nationalstaates vorstellen kann. Völlig ignoriert wird dabei der Reichtum an empirischen Erfahrungen in der Konstruktion nicht-nationalstaatlicher Verbundsysteme, den die vergleichende Föderalismusforschung bereithält. Der arbeitsteilige Verbund unterschiedlicher Ebenen von Staatlichkeit, der für föderale Systeme kennzeichnend ist, hebt die in ihm verbundenen Gemeinwesen nicht in ihrer Eigenstaatlichkeit auf, im Sinne der Einschmelzung in einen größeren Staat mit umfassender Verantwortlichkeit, sondern bewahrt die (wenn auch funktional beschränkte) Entscheidungsautonomie und Selbstbestimmung des jeweiligen Staatsvolkes im Gefüge der föderalen Stufung von Staatlichkeit, hebt sie also auf im Sinne der Konsolidierung und dauerhaften Sicherung. Nur die sinnvollerweise zentral zu erledigenden Aufgaben werden auf die neu geschaffene, übergreifende Ebene des föderativen Gesamtstaates verschoben; die dezentrale Zuständigkeit der im föderalen Verbund aufgehobenen Teilstaaten bleibt aber zugleich erhalten, und damit die „regulatory competition“ der Gliedstaaten als disziplinierendes Element föderativer Staatenverbünde. Das tradierte Staatsmodell des unitarisch konzipierten Nationalstaates wird im Gegensatz dazu im auf exklusive Souveränität des Nationalstaates fixierten Modell der „Euroskeptiker“ als ein apriorischer Wert an sich (miss-)verstanden, anstatt als Frage der funktionalen Angemessenheit einer bestimmten Institutionenordnung.135 Vermieden wird mit dem Beharren auf der Idealität des Vorgegebenen jedoch die entscheidende Frage: Vermag der Verzicht auf einen Ausbau der Rolle des Europäischen Parlaments und die kompensatorische Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente eigentlich die Probleme, die hinter dem Schlagwort vom „Demokratiedefizit“ stecken, befriedigend zu lösen?
VI. Die Konstruktion demokratischer Verantwortlichkeit – Erfahrungen föderaler Systeme Dass mit dem Beharren auf historischen Eigenheiten und einem vorausgesetzten „Anderssein“ die entscheidenden Fragen allzu leicht verdeckt werden, darauf haben gerade auch in der hier als Bezugspunkt dienenden Verfassungsdiskussion, die 135
Vgl. insoweit auch Peters (Fn. 74), S. 93 ff.
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während der letzten Jahre des Kaiserreichs geführt wurde, einige der entschiedenen Kritiker des Bismarck’schen Verfassungssystems hingewiesen.136 Die einzelstaatlichen Bürokratien hätten – so führte nicht zuletzt Max Weber aus – das Reich vorrangig als eine „Versicherungsanstalt für die eigene Stellung“ wahrgenommen.137 So sehr die Reichsleitung „gelegentlich den Reichstag als Druckmittel gegen widerspenstige Einzelregierungen in der Hinterhand“ gehalten habe, so sehr habe sie andererseits jene Abschirmungstendenz der Höfe und Beamtenapparate ausgenutzt, um als deren Schutzherr zu erscheinen. „Denn eine dynastisch-bureaukratische Pfründenversicherung, praktisch sich äußernd in einer Garantie weitgehender Kontrollfreiheit der Bureaukratie, war und ist das, was hinter dem Schlagwort vom „Schutz des Föderalismus“ in Deutschland stand und steht. Kontrollfreiheit auch und vor allem: innerhalb der einzelstaatlichen Verwaltung“.138 Durch das Verschieben politisch heikler Fragen auf die föderale Ebene hatte die einzelstaatliche Bürokratie sich weitgehend der Kontrolle der heimischen Parlamente entledigt. Mangels einer funktionsfähigen parlamentarischen Kontrolle der Exekutive auf Reichsebene hatte sich zugleich in der Folge ein System völlig unkontrollierter bürokratischer Entscheidungsfindung entwickeln können, das in mehrfacher Hinsicht fatale Wirkungen zeitigte. 1. Exekutivföderalismus und parlamentarische Demokratie Unkontrollierte Herrschaft der Bürokratie geht einher mit unklarer Zuweisung von politischer Verantwortung.139 Politische Entscheidungen wurden (und werden) in einem solchen System von Beamten getroffen, denen die Sozialisierung im bürokratischen Apparat systematisch das Tragen politischer Verantwortung nach außen aberzogen hat. Politische Verantwortung wird in der Konsequenz vermieden bzw. verwischt, mit der Folge, dass politische Entscheidungen nicht bewusst als Teil einer koordinierten Strategie verantwortet werden, sondern im Neben- und Gegeneinander der bürokratischen Teilapparate mehr oder weniger zufällig entstehen. Dagegen gab und gibt es nur eine Abhilfe: Nur eine wirkliche parlamentarische Kontrolle der Regierung kann eine klare Zuweisung politischer Verantwortlichkeit sicherstellen.140 Zugegeben, die politische Öffentlichkeit ist heute gegenüber den Segnungen des Parlamentarismus in starkem Maße desillusioniert. Ein alternativer Weg der effizienten Kontrolle bürokratischer Apparate, deren unvermeidliches Wachstum gerade Max Weber so einleuchtend herausgearbeitet hat, ist jedoch nicht in Sicht, von einem alternativen Mechanismus der Offenlegung und klaren Zuweisung politischer Verantwortung ganz abgesehen. Für das Gefüge eines im Ansatz zunächst 136
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Siehe vor allem W. Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung, 2. und 3. Aufl. 1913, S. 30 ff., 60 ff.; Preuß (Fn. 58), S. 157 ff.; M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1918, insb. S. 99 ff., 131 ff. Weber (Fn. 136), S. 146. Ebd., S. 146. Siehe ebd, S. 13 ff. Vgl. ebd., S. 39 ff., 99 ff.
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primär intergouvernemental konstruierten „Staatenverbundes“ wie die Europäische Union gilt diese Feststellung nun in ganz besonderem Maße. Die von Weber konstatierten Probleme bündischer Systeme auf bürokratischer Basis wiederholen sich hier in erheblichem Umfang.141 Auch im System der EU schütteln die mitgliedstaatlichen Bürokratien die Kontrolle der heimischen (nationalen) Parlamente weitgehend ab, indem sie Entscheidungsprobleme auf die Ebene der Union verschieben. Auf der europäischen Ebene unterliegen sie aber keiner auch nur annähernd vergleichbaren politischen Kontrolle wie in den nationalen Verfassungssystemen. Politische Verantwortlichkeit wird diffus, verschwimmt immer mehr, verschwindet schließlich ganz.142 Es entsteht ein System „organisierter Verantwortungslosigkeit“, wie Weber es auf so traurige Weise am außenpolitischen Apparat des Deutschen Reiches demonstrieren konnte. An konkreten Beispielen für diese immer wieder von der Organisationssoziologie beschworene Gefahr mangelt es im System der Gemeinschaft wahrlich nicht, wie schon ein flüchtiger Blick auf (vergemeinschaftete) Politikfelder wie die Landwirtschaftspolitik oder die Außenhandelspolitik der EG zeigen könnte. Und auch die immer wieder gerne als „souveränitätsschonend“ propagierte zweite Ebene der inter-gouvernementalen Zusammenarbeit im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik wie der polizeilichen und strafjustiziellen Zusammenarbeit krankt an ähnlichen Problemen.143 Ein spezifisches Problem der Europäischen Union ist all dies jedoch nicht. Auch die nationalen Politiksysteme zeichnen sich mittlerweile durch ein hohes Maß an Politikverflechtung zwischen den verschiedenen Ebenen der Staatlichkeit, mehr noch aber der Verflechtung zwischen Staat und wichtigen Interessengruppen aus Wirtschaft und Gesellschaft aus. Der „verhandelnde Staat“ ist zu einem gängigen Schlagwort geworden, hinter dem sich ein komplexes Netz vielfältiger Kooperationsbeziehungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren verbirgt, die den politischen Alltag nachhaltig prägen.144 Die so etablierten „Verhandlungssysteme“ entziehen sich naturgemäß weitgehend der demokratischen Kontrolle durch Parlament und politische Öffentlichkeit, verwischen Verantwortlichkeit – sind aber im Sinne einer effektiven „Governance“ wohl weithin unverzichtbar. Teil dieser Verhandlungssysteme ist in föderalen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland 141
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Die politische Soziologie thematisiert dies Problem unter dem Begriff der „transnationalen Bürokratisierung“, vgl. dazu eingehend M. Bach, Vom Zweckverband zum technokratischen Regime, in: Winkler/Kaelble (Fn. 128), S. 288 (insb. 300 ff.), sowie W. Wessels, Verwaltung im EG-Mehrebenensystem, in: M. Jachtenfuchs/B. Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, S. 165. Als Problem geben dies auch die Skeptiker gegenüber einer Stärkung des Europäischen Parlamentes zu, vgl. z.B. Huber (Fn. 90), S. 356 f.; H. H. Rupp, Verfassungsprobleme auf dem Weg zur europäischen Union, ZRP 1990, S. 1 (3). Vgl. insoweit nur S. Weber, Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und parlamentarische Demokratie, EuR 2008, S. 88. Vgl. hierzu nur A. Benz, Der moderne Staat, 2001, S. 169 ff., 252 ff.; H. Rossen, Vollzug und Verhandlung, 1999, S. 292 ff.; K. v. Beyme, Niedergang der Parlamente, Internationale Politik 53 (1998), S. 21 (29); E. Grande, Auflösung, Modernisierung oder Transformation?, in: ders./R. Prätorius (Hrsg.), Modernisierung des Staates, 1997, S. 45 (57).
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das Geflecht der Kooperationsbeziehungen zwischen Akteuren der Bundes- und der Landesebene, das man als Kerncharakteristikum des deutschen Modells des „Exekutivföderalismus“ ansehen kann.145 Das institutionelle Arrangement der Europäischen Union ähnelt in diesem Punkt ganz eklatant dem deutschen Modell, ist seinerseits schon als europäischer „Exekutivföderalismus“ bezeichnet worden.146 Ganz zufällig ist diese Ähnlichkeit nicht, beruht der institutionelle Aufbau der EU doch – ganz parallel zur Konstruktion des deutschen Bundesstaatsgefüges – auf einem Arrangement dezentralen Vollzugs des durch die Institutionen der EU gesetzten Gemeinschaftsrechts – eines verwaltungsmäßigen Vollzugs durch mitgliedstaatliche Behörden, der unausweichlich zu erheblichen Verflechtungszwängen führt. Das unter dem Stichwort der „Politikverflechtungsfalle“ beschriebene Grundproblem des deutschen „Exekutivföderalismus“147 wiederholt sich damit nur – unter ähnlichen institutionellen Voraussetzungen – auf der Ebene der EU. In der Reaktion auf diese Problemdiagnose sollte man allerdings besonnen bleiben. Das beschriebene „Transparenzdefizit“ lässt sich nicht einfach durch die Einführung eines Systems reiner parlamentarischer Mehrheitsherrschaft im Stile des sogen. „Westminster-Modells“ beseitigen. Die Heterogenität der in der EU vereinigten Nationen und Gesellschaften ist unbestritten zu groß, als dass das Mehrheitsprinzip alleine zu allseits als legitim akzeptierten Entscheidungen führen könnte.148 Föderale Systeme wie die Europäische Union, die in sich große gesellschaftliche Vielfalt zu integrieren suchen, müssen vielmehr unweigerlich starke Elemente eines Konkordanzsystems in ihr politisches Entscheidungsgefüge einbauen149 – so lässt sich die Forderung nach Rücksichtnahme auf die vorzufindende kulturelle und soziale Heterogenität der europäischen Gesellschaften auf einen in seiner Legitimität unbestreitbaren Mindestkern reduzieren.150 Weitergehende Schlüsse, angesichts 145 146 147 148
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Vgl. insoweit nur S. Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 461 ff. Siehe Dann (Fn. 45), sowie ders. (Fn. 29), insb. S. 117 ff. Siehe F. W. Scharpf u.a. (Hrsg.), Politikverflechtung, 1976. Vgl. nur F. W. Scharpf, Regieren in Europa: Effektiv und demokratisch?, 1999, S. 16 ff., sowie ders., Democratic Legitimacy Under Conditions of Regulatory Competition, in: Nicoladis/Howse (Fn. 31), S. 355; zu den Grenzen der Mehrheitsentscheidung allgemein vgl. auch Böckenförde (Fn. 109), S. 923 f. (Rn. 54–56), S. 929 ff. (Rn. 63–66), sowie J. P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 1993, S. 149 ff. So schon früh – mit normativer Zielrichtung – Steinberger (Fn. 92), S. 9 (47); Frowein (Fn. 103), S. 72; P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und föderativer Verfassungsprinzipien der in Europa verbundenen Staaten, ZSchwR NF 109 (1990), S. 115 (133); für die politikwissenschaftliche Literatur dient der Begriff des Konkordanzsystems dagegen eher als analytisches Modell in der Beschreibung der EG, vgl. N. Chryssochoou, Democracy and Symbiosis in the European Union, West European Politics 17 (1994), S. 1 (4 ff.); J. H. H. Weiler u.a., European Democracy and its Critique, West European Politics 18 (1995), S. 4 (31 ff.); A. Lijphart, Patterns of Democracy: Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries, 1999, S. 34 ff.; S. Hix, The Political System of the European Union, 1999, S. 202 ff.; P. C. Schmitter, How to Democratize the European Union … And Why Bother?, 2000, S. 78 ff. Vgl. auch Fischer/Schley (Fn. 6), S. 33; siehe zum Dilemma der Konkordanzdemokratie aus demokratietheoretischer Sicht auch M. G. Schmidt, Demokratietheorien, 2000, S. 331 ff.
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des Fehlens einer sozial und kulturell homogenen Gesellschaft sei Europa als „Gesamtsubjekt“ der Demokratie per definitionem nicht fähig, beruhen dagegen auf einer problematischen perspektivischen Verzerrung.151 Alternative zur „Demokratisierung“ der EU ist schließlich nicht die Entscheidungsfindung auf der Basis nationaler Demokratiestrukturen, sind doch weite Bereiche politischer Steuerung längst in der Union vergemeinschaftet, mit der Folge, dass gemeinsame Entscheidungen auf jeden Fall in den Organen der Gemeinschaft getroffen werden.152 Dieser Weg in die „Vergemeinschaftung“ ist auch nicht mehr so einfach umkehrbar, bedenkt man den „Mehrwert“, den gemeinsame Problemlösung erbringt – im Gegenteil ließen sich viele Probleme überhaupt nicht mehr sinnvoll angehen in der splendid isolation des klassischen Nationalstaates.153 Zur Auswahl stehen allein die bisherige Form der rein bürokratischen Entscheidungsfindung im Wege zwischenstaatlicher Verhandlungsprozeduren oder eine nach außen – und das heißt: offen politisch – verantwortete Entscheidung aufgrund öffentlicher Debatte und parlamentarischer Abstimmung, wenn auch Debatte und Abstimmung im parlamentarischen Prozedere vielfach Züge eines symbolischen Diskurses tragen werden. Nicht mehr um die Frage des „Ob“ integrierter Entscheidungsfindung geht es dabei – der Umfang staatlicher Aufgaben, deren Wahrnehmung die Steuerungskapazität des Nationalstaates überfordert, ist längst kaum noch zu überschauen – sondern allein um die Frage des „Wie“ der gemeinschaftlichen Entscheidungsbildungsprozeduren, also um die Konstruktion der Entscheidungsverfahren, gerade im Hinblick auf den Mangel an Homogenität. 2. Demokratische Verantwortlichkeit und das Institutionensystem der EU Dabei zeigen sich im Vergleich zu den institutionellen Arrangements nationalstaatlicher Verfassungssysteme natürlich deutliche Unterschiede, insbesondere im Blick auf die Gewichtsverteilung zwischen den Organen. Ist etwa bei uns in der Bundesrepublik – zumindest in der Theorie – der Bundestag das zentral gestaltende Organ, so kommt diese Funktion auch in der über den Entwurf des Verfassungsvertrages und nun den Lissabon-Vertrag weiterentwickelten, neuen Unionsverfassung tendenziell immer noch mehr dem Konglomerat aus Europäischem Rat und Rat zu als dem Parlament, wobei allerdings der Rat durch die Aufwertung und Institutionalisierung des Europäischen Rates gleichsam in das zweite Glied der die Mitgliedstaaten repräsentierenden Organe gestellt worden ist.154 Allerdings haben sich die Mitsprachebefugnisse von Rat und Parlament im mehr und mehr zum Regeltypus gewordenen 151 152
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Siehe dazu Bryde (Fn. 130), S. 307 ff. Siehe insoweit vor Lübbe-Wolff (Fn. 93), S. 255 ff., 259 ff., außerdem F. W. Scharpf, Mehrebenenpolitik im vollendeten Binnenmarkt, StwStP 5 (1994), S. 475, wo Scharpf eindringlich die Handlungszwänge beschreibt, die für die Ebene der „positiven Integration“ aus der Verselbständigung der klassischen „negativen Integration“ erwachsen. Vgl. insoweit nur K.-H. Ladeur, Towards a Legal Theory of Supranationality, ELJ 3 (1997), S. 33 (47 f.), sowie J. H. H. Weiler, Preface, in: ders., The Constitution of Europe, 1999, S. X. Vgl. insoweit Streinz u.a., Die neue Verfassung für Europa, 2005, S. 45.
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Mitentscheidungsverfahren weitgehend einander angenähert, wie zunehmend auch die Praxis der europäischen Gesetzgebung erweist.155 Der Entwurf des Verfassungsvertrages wie der Lissaboner Vertrag sind einen weiteren Schritt hin zum Ausbau des Mitentscheidungsverfahrens zum „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ der Gemeinschaft bzw. Union gegangen. Zugegeben, es gibt sie noch, die Bereiche der Einstimmigkeitsentscheidung im Rat unter Konsultation des Parlamentes, aber diese Fälle sind (zumindest unter systematischer Perspektive) zu Ausnahmen im Rechtsetzungsverfahren geworden.156 Das Europäische Parlament ist mithin dabei, auch in der Ausgestaltung der Organisationsverfassung einen wichtigen Schritt hin zur zentralen Repräsentativkörperschaft einer europäischen Demokratie zu vollziehen, wenn es dabei auch weiter ein kontrollierendes „Arbeitsparlament“ bleiben und nicht zum politikgestaltenden Organ der Regierungsmehrheit mutieren wird.157 Die zentralen Probleme der institutionellen Stellung des Parlamentes bleiben gleichwohl erhalten, die bisher bei der Mehrzahl der Beobachter Skepsis an der Funktionsfähigkeit einer europäischen Demokratie mit dem Europäischen Parlament als zentralem Akteur genährt haben. Das Parlament hat nach wie vor – angesichts der geringen Personalisierung der Wahlen und der fehlenden Zuspitzung auf eine Frontstellung Regierungsmehrheit-Opposition – nur wenig politisches Profil in den politischen Öffentlichkeiten, kann dieses Profil angesichts seiner Rolle im Institutionensystem, die es auf eine weitgehend der Herrschaftskontrolle verpflichtete Funktion beschränkt, auch kaum haben. Im Konkordanzsystem der Union hat das Parlament die (wichtige) Rolle eines institutionellen Gegengewichtes zu Kommission und Rat.158 Auszuüben vermag es diese Rolle aber nur im konsensualen Zusammenwirken der großen Parteien. Die daraus resultierenden Schwächen in der öffentlichen Wahrnehmung führen zu krass unterentwickelten öffentlichen Diskursen über Entscheidungsfragen europäischer Politik,159 also der vor allem von Dieter Grimm beschworenen Schwäche politi155
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Vgl. nur M. Shackleton, The European Parliament, in: J. Peterson/M. Shackleton (Hrsg.), The Institutions of the European Union, 2002, S. 95 (104 ff.), ferner A. Peters, European Democracy After the 2003 Convention, CMLRev. 41 (2004), S. 37 (48 ff.). Zum Versuch des Konvents, die Zahl der Einstimmigkeitstatbestände zu verringern, vgl. P. Norman, The Accidental Constitution, 2003, S. 258 f., ferner Ohler (Fn. 154), und Peters (Fn. 155), S. 49 f., 55, sowie (mit kritischem Unterton) P. M. Huber, Das institutionelle Gleichgewicht zwischen Rat und Europäischem Parlament in der künftigen Verfassung für Europa, EuR 2003, S. 574 (583); zum Reformvertrag von Lissabon vgl. die Denkschrift der Bundesregierug, BR-Drs. 928/07, S. 137; M. Avbelj, Can the European Constitution Remedy the EU ‘Democratic Deficit’?, EUMAP Online Journal 7 (2005), unter www.eumap.org/journal/features/2005/demodef/avbelj (4.10.2008). Siehe zum Charakter des EP als „Arbeitsparlament“ Dann (Fn. 29), S. 330 ff., 363 ff. Siehe hierzu Dann (Fn. 45), S. 557 ff. Vgl. allerdings (mit eher optimistischer Bewertung) R. Eder/C. Kantner, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: M. Bach (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, 2000, S. 306; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 2002, S. 162 ff., 215 ff.; E. O. Eriksen/H.-J. Trenz, When the People Come In: Constitution-Making and the Belated Politicisation of the EU, in: E. O. Eriksen u.a. (Hrsg.), Law and Democracy in the Post-National Union, 2006, S. 29 (32 ff.).
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scher Öffentlichkeit in Europa,160 zu einem wenig leistungsfähigen Parteiensystem auf europäischer Ebene161 und letztlich zu einem großen Ausmaß an Desinteresse und Apathie an europäischen Wahlen – mit dementsprechenden Rückwirkungen auf die Legitimation des Parlamentes. Es bleiben ferner für das Parlament die ungelösten Probleme der Repräsentation in rein technischer Hinsicht, also die starke Verzerrung der proportionalen Repräsentation im System der nationalen Sitzzuteilung.162 Bereits der Vertrag von Nizza hat hier deutliche Verbesserungen erbracht, aber keine wirkliche Remedur geschaffen.163 Der Verfassungsentwurf sah das Problem, sprach es auch an, wenn in Art. I-20 Abs. 2 S. 3 vorgegeben wurde: „Die europäischen Bürgerinnen und Bürger sind im Europäischen Parlament degressiv proportional, mindestens jedoch mit sechs Mitgliedern je Mitgliedstaat vertreten.“ Zu sehr dramatisieren sollte man das Problem der Proportionalität in der Sitzverteilung jedoch nicht. Die deutschen Vorstellungen von Stimmwertgleichheit sind international beispiellos. Durchaus signifikante Verzerrungen der Proportionalität werden in den meisten Demokratien traditionell akzeptiert, selbst in Verhältniswahlsystemen, erst recht aber in Mehrheitswahlsystemen. Zudem muss man sehen, dass die Frage der Sitzzuteilung im Europäischen Parlament in einem engen Zusammenhang mit der – in Konvent und Regierungskonferenz wieder so heftig umkämpften – Verteilung der Stimmgewichte im Rat steht, die letztlich zum Erfordernis der so genannten doppelten Mehrheit bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen geführt hat.164 So sehr die stark verzerrte Repräsentation der Stimmbürger im Parlament eine Merkwürdigkeit im Verfassungsvergleich darstellt, so sehr ist die immer noch an Kriterien der proportionalen Repräsentation orientierte Stimmengewichtung im Rat eine Anomalie für ein quasi-föderales Verbundsystem mit doppeltem Repräsentationsstrang. Dies hängt zusammen mit der Wahrnehmung des Rates als des nach wie vor dominanten Entscheidungszentrums der Gemeinschaft und Union. Das wiederholte Geschacher um die Stimmgewichtung im Rat ist leider symptomatisch für diese regierungsamtliche Wahrnehmung des „institutionellen Gleichgewichts“ quer durch 160
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Siehe etwa D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581 (587 ff.); ders., Mit einer Aufwertung des Europa-Parlaments ist es nicht getan, Jahrbuch Staats- und Verwaltungswissenschaft 8 (1992/93), S. 13; vgl. außerdem L. Siedentop, Democracy in Europe, 2001, S. 122 ff. Vgl. zum System der europäischen Parteienverbünde T. Raunio, Political Interests: The EP’s Party Groups, in: Peterson/Shackleton (Fn. 105), S. 257 ff., sowie Dann (Fn. 29), S. 391 ff. Siehe hierzu Peters (Fn. 155), S. 45 ff., sowie M. M. Karlsson, Democracy, Legitimacy and the European Union, 2001, S. 93 ff.; vgl. zu den daraus folgenden Problemen der Legitimation nur die eingehende Analyse bei M. Kaufmann (Fn. 93), S. 251 ff.; C. Gusy, Demokratiedefizite postnationaler Gemeinschaften, ZfP 45 (1998), S. 267 (269); Lübbe-Wolff (Fn. 93), S. 248. Vgl. zur Modifikation der Sitzverteilung im Gefolge des Vertrages von Nizza Shackleton (Fn. 155), S. 110 f. Vgl. zur Verhandlungsgeschichte im Rahmen des Konvents und der Regierungskonferenz Hix (Fn. 149), S. 82 ff., sowie K. H. Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, 2004, S. 166 ff., außerdem Peters (Fn. 155), S. 56 ff.
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fast alle nationalen Regierungskanzleien und Außenämter.165 Und der Entwurf des Verfassungsvertrags trägt seinen Teil bei zur Verfestigung dieser Wahrnehmung, insbesondere mit seinem Bemühen um Institutionalisierung und Stärkung des Europäischen Rates und der Schaffung des Amtes eines auf zweieinhalb Jahre gewählten Präsidenten des Europäischen Rates.166 Der Rat ist im Verfassungsentwurf (wie letztlich auch im Lissabon-Vertrag) protokollarisch auf den Rang eines mit dem Parlament gleichberechtigten Gesetzgebungsorgans herabgestuft worden. Ob der Rat im Ergebnis dann nicht doch etwas gleicher als sein Gegenüber ist, bleibt abzuwarten. Konstruktiv spricht viel für ein Fortbestehen der traditionellen Ungleichgewichte. Schon im gewöhnlichen Rechtsetzungsverfahren der Mitentscheidung tut sich der Rat leichter, mit der Drohung, das anstehende Rechtsetzungsprojekt ganz scheitern zu lassen, entsprechende Zugeständnisse vom Parlament zu erpressen als dies umgekehrt dem Parlament im Verhältnis zum Rat möglich wäre. Vom – wenn auch mittlerweile zur Ausnahme eingeengten – Bereich der Einstimmigkeitsentscheidung (mit reiner Anhörung des Parlamentes) sei hier nur am Rande die Rede. Es bleibt zudem – im Bereich der Rechtsetzung – neben dem neuen Typus der „delegierten“ Rechtsakte, der weitgehend unserer deutschen Verordnungsermächtigung gem. Art. 80 Abs. 2 GG entspricht, wohl der Typus der unabgeleiteten Rechtsetzung des Rates bestehen, die ihm die Möglichkeit der rein exekutivischen Rechtsetzung ohne Kontrolle des Parlamentes nach dem Vorbild des romanischen décret-loi eröffnet.167 Hinzu kommen die Einwirkungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten im Bereich des Erlasses von Durchführungsrechtsakten, also der gesamte Problembereich der Komitologie.168 Sieht man all dies in einer Gesamtschau, so kann von einer wahrhaft gleichberechtigten Rolle des Parlamentes in der Rechtsetzung auch unter dem Verfassungsvertrag noch nicht wirklich die Rede sein. Ein weiteres drängendes Problem ist auch mit den neueren Vertragsänderungen ungelöst geblieben. Worüber man praktisch keinen Konsens erzielen konnte, ist eine innere Reorganisation des Rates, im Sinne einer Stufung zwischen einem all165
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Vgl. zur „doppelten Mehrheit“ als der schließlich für den Lissabon-Vertrag vereinbarten Lösung nur F. C. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung?, ZaöRV 67 (2007), S. 1141 (1175 ff.); vgl. auch die kritischen Bemerkungen zur gängigen Fehlperzeption der Bedeutung der Stimmgewichtung im Verfahren der qualifizierten Mehrheitsentscheidung bei F. Hayes-Renshaw, The Council of Ministers, in: Peterson/Shackleton (Fn. 105), S. 47 (58). Vgl. zu den einschlägigen Tendenzen im Verfassungskonvent und deren Hintergründen Norman (Fn. 156), S. 137 ff. Vgl. zum Instrument der Europäischen Verordnung nach dem VVE Streinz u.a. (Fn. 154), S. 64; näher zum Ganzen J. Bast, in diesem Band, S. 548 f., 552 f. Kritisch zur Legitimation des Ausschusssystems insb. J.H.H. Weiler, Epilogue: „Comitology“ as Revolution, in: C. Joerges/E. Vos (Hrsg.), EU Committees, 1999, S. 339 (347 ff.); vgl. auch K. Lenaerts/A. Verhoeven, Towards a Legal Framework for Executive RuleMaking in the EU?, CMLRev. 37 (2000), S. 645; C. Joerges/L. Falke (Hrsg.), Das Ausschußwesen der Europäischen Union, 2000; G. Haibach, Komitologie nach Amsterdam, VerwArch 90 (1999), S. 98.
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gemeinen Gesetzgebungsrat als eines koordinierenden und letztentscheidenden Plenums und der Fachministerräte als vorbereitender Ausschüsse.169 Der Rat wird sich weiter mit dem tendenziell unkoordinierten Nebeneinander zum Teil ganz gegenläufige Interessen verfolgender Fachministerräte herumzuschlagen haben, mit dementsprechenden Defiziten in Konsistenz und Transparenz der Entscheidungen.170 Zumindest aber hat der Verfassungsentwurf bzw. Lissabon-Vertrag in einigen Bereichen besonders krasser Transparenzmängel im Entscheidungsverfahren des Rates Bemühungen auf Abhilfe unternommen. Einen Durchbruch bedeutet hier Art. 16 Abs. 8 EUV-Liss., der festlegt, dass nicht nur das Parlament öffentlich tagen soll, sondern auch der Rat, „wenn er über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät oder abstimmt“.171 Das alte Spielchen der völligen Verwischung der Verantwortlichkeit wäre damit künftig nicht mehr so ohne weiteres möglich, müssten nationale Regierungen doch in Zukunft offen geradestehen für ihr Stimmverhalten.172 Dies kann gelegentlich Kompromissfindung im Rat erschweren, zwingt aber die Regierungen, die sachliche Rechtfertigung eines einmal eingegangenen Kompromisses offensiv zu vertreten und nicht den (notwendigen) Kompromisszwang zu leugnen, unter rhetorischer Aufrechterhaltung unhaltbarer nationaler Positionen. Allzu bequem war es traditionell, sich zwar Erfolge im Interesse der eigenen Klientel stolz an die eigene Brust zu heften, Preisgaben partikularer Positionen im Interesse übergeordneter Belange jedoch nach dem Motto „Wir haben standhaft gekämpft, sind aber der Tücke der anderen erlegen“ herunterzuspielen. Mehr Transparenz wird an diesem Punkt auch zu mehr Ehrlichkeit in der Festlegung und Weiterentwicklung eigener Positionen seitens der nationalen Regierungen führen müssen.173 Ähnlich begrüßenswert sind auch die Festlegungen für die Beteiligung des Parlamentes bei Rechtsetzungsakten im Bereich der bisherigen zweiten und dritten Säule, und sei es nur in Form der Konsultation. Geradezu revolutionär – vielleicht gar der wichtigste Schritt des ganzen Entwurfes – ist die Unterstellung der bisherigen „polizeilichen und strafjustiziellen Zusammenarbeit“ der dritten Säule unter die üblichen Beschlussfassungsverfahren des Gemeinschaftsrechts.174 Die völlige Abkapselung der Zusammenarbeit unter der dritten Säule, in Formen des reinen Inter169 170 171 172
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Vgl. zur Problematik Norman (Fn. 156), S. 143 f.; vgl. ferner Dann (Fn. 29), S. 60 ff. Vgl. Hayes-Renshaw (Fn. 155), S. 54 ff. Vgl. zu dieser wichtigen Weichenstellung Streinz u.a. (Fn. 154), S. 46, sowie Peters (Fn. 155), S. 64 ff., ferner die Denkschrift der Bundesregierug (Fn. 156), S. 135. Zur Bedeutung der Transparenz für den demokratischen Charakter des Entscheidungsprozeeses der Union vgl. D. M. Curtin, „Civil Society“ and the European Union, in: Collected Courses of the Academy of European Law VII-1 (1996), S. 185 (259 ff.), sowie A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 66 ff.; vgl. außerdem Peters (Fn. 155), S. 63 ff., und LübbeWolff (Fn. 93), S. 256 f., 276 ff. Siehe allerdings die insoweit skeptischen Bemerkungen von U. Everling, Zur konsensualen Willensbildung in der föderal verfassten Europäischen Union, in: FS Badura, 2004, S. 1053 (1073). Vgl. dazu Streinz u.a. (Fn. 154), S. 105.
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gouvernementalismus außerhalb des gemeinschaftlichen Institutionensystems,175 wird damit durchbrochen, im übrigen selbst für den Bereich der GASP. Ein wichtiger Fortschritt wäre auch die konsequente Beteiligung des Parlamentes an den Vertragschlussverfahren im Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik.176 Das mit dem Entwurf des Verfassungsvertrages und nun des Reformvertrages von Lissabon relativ fein austarierte Gleichgewicht zwischen Rat und Parlament läuft auf eine Festigung der institutionellen Sonderstellung der Kommission hinaus, die klassischer nationalstaatlicher Demokratietheorie besondere Probleme bereitet. Weder ist die Kommission ein Exekutivausschuss der parlamentarischen Mehrheit, wie in der Mehrheitsdemokratie nach dem Westminster-Modell, noch stellt sie eine (quasi-präsidiale) Exekutive mit eigener direktdemokratischer Legitimation dar.177 Sie ist im Kern – wie schon in der ursprünglichen Blaupause der fünfziger Jahre – ein Mittler, ein technokratischer Sachwalter des Integrationsinteresses, der als unabhängig gestellter, neutraler Dritter die Politik der Gemeinschaft bzw. Union versachlichen und verstetigen soll, gegen die Volatilitäten nationaler Wahlströmungen und Populismen wie gegen allzu krude nationale Partikularismen abschirmen soll.178 Conditio sine qua non dieser Konstruktion ist die Unabhängigkeit der Kommission, unter symbolischer Widerspiegelung der „Vielfalt in der Einheit“ in Gestalt der multinational zusammengesetzten Kollegialbehörde. Beide Zentralelemente waren – und sind – großen Gefährdungen ausgesetzt. Die (selbst in der Diskussion um den Konventsentwurf vorherrschende) Debatte um die Maxime „ein Kommissar pro Land“ ist zu offensichtlich von der Wahrnehmung der Kommissare als nationaler Interessenwalter geprägt, um zukunftweisend sein zu können.179 Die Schöpfer der Verträge in den fünfziger Jahren waren hier fortschrittlicher als die Mehrheit der Politiker heutzutage. Mindestens ebenso gefährlich aber ist die unreflektierte Analogie zur aus dem nationalen Kontext der Mitgliedstaaten vertrauten Mehrheitsdemokratie, mit der daraus folgenden Versuchung, die Kommission zur parlamentarischen Regierung in Abhängigkeit vom Europäischen Parlament umzuformen. Vordergründig wäre dies ein großer Schritt hin zur „Demokratisierung“ der Union;180 in der Logik der institutionellen Sonderkonstruktion aber wäre es ein 175
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Vgl. zum bisherigen Rechtszustand J. Monar, Institutionalizing Freedom, Security and Justice, in: Peterson/Shackleton (Fn. 105), S. 186 (203 f.); M. Pechstein/C. Koenig, Die Europäische Union, 2. Aufl. 1998, S. 196 f. Zum bisherigen Zustand des weitgehenden Ausschlusses des EP von der Formulierung der Gemeinsamen Handelspolitik vgl. M. Haag, in: Beutler u.a., Die Europäische Union, 5. Aufl. 2001, S. 706 ff. Zur Sonderstellung der Kommission siehe J. Peterson, The College of Commissioners, in: Peterson/Shackleton (Fn. 105), S. 71 (72 ff.). Vgl. zum funktional-technokratrischen Charakter der traditionellen Rolle der Kommission G.-D. Majone, The European Commission as Regulator, in: ders. (Hrsg.), Regulating Europe, 1996, S. 61. Vgl. zu den entsprechenden Debatten in Verfassungskonvent und Regierungskonferenz Norman (Fn. 156), S. 145 ff. Vgl. P. Magnette, Appointing and Censuring the European Commission, ELJ 7 (2001), S. 292.
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fataler Schritt. Ist Europa tatsächlich so weit, bedingungslos die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit zu akzeptieren, mit all ihren Schattenseiten? Man wird dies mit Fug und Recht bezweifeln müssen.181 Ein so heterogen zusammengesetztes Gebilde wie die Union muss handfeste Vorkehrungen gegen übermäßigen Gebrauch des Instrumentes der Mehrheitsentscheidung treffen, muss die Mehrheit institutionell immer wieder daran erinnern, dass es der Rücksichtnahme auf die Interessen auch der Minderheit bedarf. Die Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung ist wichtig, um eventuelle Blockaden, die aus rücksichtsloser Verfolgung von Partikularinteressen entstehen könnten, auflösen zu können. Routinemäßiges Entscheidungsverfahren zu Händen einer für längere Zeit über Wahlen ermittelten „strukturellen“ Mehrheit wird sie in der Union aber kaum sein können.182 Der zunächst merkwürdig anmutenden Sonderrolle der Kommission, als einer technokratischen Exekutivgewalt ohne unmittelbare demokratische Legitimation, kommt in diesem Kontext ganz besondere Bedeutung zu, ist die Kommission doch institutionell wie personell so ganz besonders zur Interessenaggregation gezwungen. 3. „Demokratiedefizit“ und der Drang zur Konkordanzdemokratie Aus diesen Befunden im Blick auf die Eigenheiten des institutionellen Systems der EU lassen sich einige weitreichende Schlussfolgerungen ziehen. Erstens: Das Organ des Rates – als Instrument der Beteiligung der Mitgliedstaaten an der politischen Führung und Rechtsetzung – ist unverzichtbar und muss eine entscheidende Funktion im politischen Prozess der Gemeinschaften behalten.183 Zweitens: Politische Entscheidungen müssen so getroffen werden, dass alle relevanten Gruppierungen in die Entscheidungsfindung einbezogen sind. Nicht ohne Grund hat gerade die Schweiz als ein bewusster Vielvölkerstaat ein Modell der Konkordanzdemokratie mit kollegialer politischer Führung ausgebildet – einer kollegialen Leitung, in der alle wichtigen gesellschaftlichen Gruppen repräsentiert sind.184 Ähnliches wird ohne Zweifel auch die Europäische Union anzupeilen haben, selbst bei voller parlamentarischer Mitentscheidung des Europäischen Parlaments im Rechtsetzungsverfahren. Mit der Kommission verfügt die Union nach Stellung und Zusammensetzung auch im Ansatz über ein kollegiales Leitungsorgan, das strukturell nicht zufällig 181 182
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Zur Frage nach den Grenzen der Mehrheitsherrschaft in Europa vgl. F.W. Scharpf, Regieren in Europa, 1999, S. 17 ff. Vgl. auch R. Dehousse, Constitutional Reform in the European Community: Are there Alternatives to the Majoritarian Avenue?, West European Politics 18 (1995), S. 118 (122 ff.); M. Poiares Maduro, Europe and the Constitution: What if This is as Good as It Gets?, in: J. H. H. Weiler/M. Wind (Hrsg.), European Constitutionalism Beyond the State, 2003, S. 74 (90 ff.); J. Shaw, Postnational Constitutionalism in the European Union, in: T. Christiansen u.a. (Hrsg.), The Social Construction of Europe, 2001, S. 66 (76 ff.). Vgl. insoweit nur die überzeugenden Gründe, die P. Raworth, A Timid Step Forward: Maastricht and the Democratisation of the European Community, ELRev. 19 (1994), S. 16 (23 ff.), anführt, außerdem die Überlegungen von Fastenrath (Fn. 132), S. 114 ff. Zum Vergleich des EU-Institutionensystems mit dem konkordanzdemokratischen System der Schweiz vgl. auch Badura (Fn. 149) S. 133, sowie Everling (Fn. 173), S. 1062.
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erhebliche Ähnlichkeiten zum Schweizer Bundesrat aufweist.185 Diese kollegiale Exekutive, deren plurale Zusammensetzung dafür sorgt, dass die unterschiedlichen Völker, Traditionen und politischen Präferenzen der in der Union zusammengeschlossenen Völker auch im exekutivischen Zentrum des Institutionensystems repräsentiert sind, nach dem Muster klassischer Mehrheitsdemokratien umzuformen, in eine parlamentarische Regierung des Westminster-Modells oder eine präsidiale Exekutive amerikanischer Prägung, vermag im Blick auf die föderalen Erfahrungen mit der institutionellen Verarbeitung sprachlich-kultureller Vielfalt wenig zu überzeugen.186 Der in diesem Kontext immer wieder gezogene Vergleich zur Schweiz hinkt zugegebenermaßen in mehrfacher Hinsicht.187 Dies gilt nicht zuletzt für die Rolle der Kommission. Solange das „Gravitationszentrum“ der politischen Entscheidungsfindung im Rat liegt, bleibt die Kommission notwendig angewiesen auf das Zusammenschnüren nationaler Interessenpositionen zu oft im Detail unbefriedigenden Paketlösungen.188 Es fehlt die Möglichkeit des Balanceaktes, die der Exekutive in klassisch föderalen Systemen im Spannungsfeld zwischen auf Integration bedachtem Parlament und auf Subsidiarität orientierten gliedstaatlichen Bürokratien zur Verfügung steht. Politik, die allein im informalen Aushandlungsprozess der „intergouvernementalen Zusammenarbeit“ entsteht, wird immer ein Element des Undurchschaubaren tragen,189 zeigt zudem eher die Züge einer „Aggregation bürokratischer Partialinteressen“ als die von einem System bündischer Integration eigentlich anzustrebende übergreifende Transformation der partikularen Interessen in die Formulierung eines eigenständigen „Gemeinwohls“ des Gesamtsubjekts.
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Vgl. zur Konstruktion des Bundesrates als Kollegialorgan J.-F. Aubert, Bundesstaatsrecht der Schweiz, Bd. II, 1995, Rn. 1587 ff.; Y. Hangartner, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Bd. I, 1980, S. 122 ff.; P. Saladin, Probleme des Kollegialitätsprinzips, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 104 (1985), S. 271; B. Ehrenzeller, Kollegialität und politische Verantwortlichkeit im schweizerischen Konkordanzsystem, Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht 100 (1999), S. 145; vgl. ferner den jüngst erschienenen Handbuchbeitrag von L. Mader, § 67: Bundesrat und Bundesverwaltung, in: D. Thürer u.a. (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz/Droit constitutionnel suisse, 2001. So auch Fischer/Schley (Fn. 6), S. 32. Vgl. Everling (Fn. 173), S. 1062. Vgl. allerdings zur Dialektik der Beziehungen zwischen Kommission und nationalen Bürokratien S. Pag, The Relations Between the Commission and the National Bureaucracies, in: S. Cassese (Hrsg.), The European Administration, 1987, S. 443, daneben auch H. C. Röhl, Die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der Rechtsetzung im Ministerrat der Europäischen Union, EuR 1994, S. 409 (415 ff.). Dies gilt natürlich ganz besonders, solange die Verhandlungen (wie im Ministerrat) unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Dementsprechend ist die Öffentlichkeit der Ratssitzungen auch eine der wichtigsten Reformforderungen, siehe nur Lübbe-Wolff (Fn. 93), S. 256.
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4. Europäisches Konkordanzsystem und die sozialen Voraussetzungen funktionierender Demokratie Man ist damit bei der fundamentalen Frage angelangt: Weist der Zusammenschluß in einem langen historischen Prozeß gefestigter Nationalstaaten mit ausgeprägter eigener nationaler Identität überhaupt die grundlegenden Voraussetzungen auf, um das verdichtete Zusammenleben in einem Gehäuse föderaler Institutionen zu tragen? Die so reformulierte Frage taucht in der Literatur in vielerlei Abwandlungen immer wieder als Frage nach der Existenz eines europäischen Staatsvolkes auf. Man könnte geneigt sein, die so gestellte Frage als zu naiv abzulehnen, als zu sehr dem Vorbild des überlieferten Nationalstaates verhaftet. Doch auch hier lehrt uns der Rückgriff auf Kategorien der Föderalismustheorie, dass in dem hinter der Frage verborgenen „Vorurteil“ ein Quäntchen Wahrheit steckt. Die von den Befunden der neueren Nationalismusforschung angeleitete Diskussion über die sozialen Voraussetzungen funktionsfähiger Staatlichkeit geht tatsächlich zunächst einmal von der Notwendigkeit eines historisch vorausliegenden Nationsbildungsprozesses aus. Nötig ist dieser, falls ein Zusammenschluss von Menschen die soziale Kohäsion – und die aus diesem Gefühl der Zusammengehörigkeit gespeiste Solidarität – aufbringen soll, die erforderlich ist, um einem Staatswesen Dauer zu verleihen, gerade auch wenn es in föderaler Form verfasst ist. In staatlichen Formen „gehegte“ Gewalt alleine, in der Erscheinungsform einer „Staatsgewalt“, vermag einen Staat durch Krisen und Problemzeiten hindurch nicht zu tragen. Nur staatliche Gebilde, deren Legitimität von ihren Bewohnern als selbstverständlich akzeptiert wird, die als Organisation der Herrschaft nicht nur „aus dem Volk“ und „durch das Volk“, sondern auch „für das Volk“ empfunden werden, vermögen auf Dauer die Stabilität zu erlangen, die zu einem geordneten Zusammenleben in einem übergreifenden Gemeinwesen nötig ist.190 Welchen Grund sollten dann aber die Völker Europas haben, die Solidarität und Kohäsion der nationalstaatlich verfassten Staatenwelt Europas aufzugeben, um sich den Risiken des Experimentes eines europäischen Bundesstaates auszusetzen? Ganz fair formuliert ist die Frage nicht. Der Zusammenhalt, das überlieferte Gefühl der Solidarität und Geborgenheit im ererbten nationalstaatlichen Gehäuse soll ja nicht wirklich aufgegeben werden, sondern nur ergänzt durch ein überwölbendes föderales Gebilde „Europäische Union“. Stärke des Modells föderalen Zusammenschlusses ist es aber gerade, dass die Vorteile und die Stabilität der überlieferten staatlichen Institutionen nicht aufgegeben werden, sondern fortbestehen, nur angereichert werden durch eine übergreifende Ebene föderal verfasster Bundesstaatlichkeit. Der „Bund“, die „Föderation“, der föderale Oberstaat übernehmen zwar Aufgaben, die formal vorher den einzelnen Staaten zugestanden hätten; materiell handelt es sich aber meist um Staatsfunktionen, die entweder in Formen „bündischer“ Zusammenarbeit schon vorher zwischenstaatlich „vergemeinschaftet“ waren
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Vgl. insoweit auch Fischer/Schley (Fn. 6), S. 27 ff.
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oder denen der Staat in den engen Grenzen seiner territorialen Beschränkung nicht mehr wirklich gerecht werden konnte. Ungeklärt ist nach wie vor, ob es für diese Form des „bündischen“ Zusammenschlusses wirklich der Empfindung gemeinsamer nationaler Tradition und Zusammengehörigkeit bedarf, also der immer wieder beschworenen „Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft“191, oder ob hier nicht schon das Bewusstsein der Vorteilhaftigkeit des föderalen Zusammenschlusses ausreicht. Die Debatte ist hier auch im internationalen Diskurs ohne klares Ergebnis. Es gibt föderale Systeme, die vom nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl einer dominanten „Staatsnation“, eines „Staatsvolkes“ klassisch nationalstaatlicher Prägung zusammengehalten bzw. dominiert werden. Es gibt aber auch – in der empirischen Analyse durchaus aufweisbar – föderale Gebilde, denen es an einem herrschenden „Staatsvolk“ fehlt, die aus einer Mehrzahl ganz unterschiedlicher „Völker“ im ethnisch-kulturellen Sinne bestehen. Wie ein führender Vertreter der Nationalismusforschung es – in Auseinandersetzung mit den Gedanken Ernest Gellners – ausdrückte: „A majoritarian democratic federation requires a Staatsvolk, a demographically, electorally and culturally dominant nation. This lends weigh to Ernest Gellner’s theory about the power of nationalism. But the theory has a corollary: the absence or near absence of a Staatsvolk does not preclude democratic federation, but a democratic federation without a clear or secure Staatsvolk must adopt (some) consociational practices if it is to survive.“192
Multinationale Föderationen tendieren insofern nicht ohne Grund zur Ausbildung stark konsoziativer Elemente, zu Formen der Konkordanzdemokratie.193 Dies mag in den Augen überzeugter Föderalisten nicht unbedingt beruhigend klingen, gehen Konkordanzsysteme doch mit einem hohen Ausmaß an politischer Verflechtung, mit der Verwischung politischer Verantwortlichkeit im mühseligen Prozess möglichst breit abgestützter Konsensbildung, mit einer kaum zu vermeidenden Langsamkeit und Schwerfälligkeit des politischen Prozesses einher. Die mit der föderalen Konstruktion erstrebte Entscheidungseffizienz194 leidet unweigerlich. Der große Vorteil der Einziehung einer eigenen Ebene föderaler Staatlichkeit mit eigenen Handlungsbefugnissen und eigenen, institutionell verselbständigten Entscheidungsverfahren und eigenem Strang demokratischer Legitimation wird durch die Elemente der Konkordanz tendenziell wieder ausgehebelt, die angestrebte politi191 192 193
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Vgl. nur exemplarisch P. Graf Kielmannsegg, Integration und Demokratie, in: Jachtenfuchs/ Kohler-Koch (Fn. 141), S. 47 (55). O’Leary (Fn. 50), S. 291. Siehe in diesem Sinne Fischer/Schley (Fn. 6), S. 33, 47 f., unter Rückgriff auf ältere Arbeiten von D. J. Puchala, Of Blind Men, Elefants and International Integration, JCMS 3 (1972), S. 267, und R. Hrbek, Die EG, ein Konkordanzsystem?, in: GS Sasse, 1981, S. 87. Siehe zum Ziel der verbesserten Entscheidungseffizienz der europäischen Institutionen auch J. Janning/C. Giering, Strategien gegen die institutionelle Erosion, in: dies. u.a., Demokratie und Interessenausgleich in der Europäischen Union, 1999, S. 39.
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sche Transparenz leidet erheblich, und die hohen Weihen idealtypisch reiner demokratischer Legitimation werden durch die Verflechtungszwänge konkordanzdemokratischer Entscheidungsverbünde konterkariert. Doch sollte man nicht ungerecht sein. Die real existierenden Alternativen eines derartigen Konkordanzsystems, die in Rechnung zu ziehen sind, erweisen sich als nicht besser. Reale Alternative ist nicht das klare Gefüge demokratischer Verantwortlichkeit einer Mehrheitsdemokratie mit seinen unzweideutige Entscheidungen produzierenden Institutionen, sondern das schier undurchschaubare Institutionengeflecht und das Entscheidungslabyrinth klassisch zwischenstaatlicher Zusammenarbeit. Zugegeben: der Vorteil der föderalen Konstruktion gegenüber den strikt konsensabhängigen Prozeduren intergouvernementaler Zusammenarbeit wird im Konkordanzsystem tendenziell eingeebnet. Verfasste Staatlichkeit wird überlagert von einem Gewebe informeller Absprachen und Konsensroutinen; doch – wie wichtige Stimmen plausibel belegt haben – sichert erst diese scheinbar kontraproduktive Überlagerung der verselbständigten Ebene föderaler Staatlichkeit den Zusammenhalt und das bruchlose Funktionieren der föderalen Formen staatlicher Gemeinsamkeit.195
VII. Schlussfolgerungen: Die föderale „Verbundverfassung“ – ein zukunftsfähiges Modell? Das Fazit für das Gefüge der europäischen Integration ist damit von deutlichen Ambivalenzen geprägt: Ohne parlamentarische Verantwortlichkeit lässt sich auch in der Europäischen Union weder politische Transparenz noch gegenüber der Gesamtheit verantwortliche Entscheidungsfindung sicherstellen – wenn auch zugleich unverkennbar ist, dass eine zukünftige Gemeinschaftsverfassung nicht der reinen Lehre eines parlamentarischen Systems wird folgen dürfen, sondern mit Blick auf ihre eigenen funktionellen Anforderungen nach eigenständigen Lösungen wird suchen müssen, Lösungen, die unweigerlich starke Elemente eines konkordanzdemokratischen Systems werden aufweisen müssen. Dies muss im Ergebnis nicht unbedingt auf ein Plädoyer für große europäische Verfassungsentwürfe hinauslaufen, wohl eher im Gegenteil. Der revolutionäre Akt der „Verfassunggebung“ eines europäischen Bundesstaates bleibt bis auf weiteres eine blanke Utopie – eine Utopie, der, sollte sie denn einmal verwirklicht werden, die gefährliche Versuchung konstruktivistischen Überschwangs innewohnt, mit dem Risiko einer Überforderung des Willens zur staatlichen Gemeinsamkeit. Die Zwischenstellung des bestehenden Verbundgefüges der Integration, irgendwo anzusiedeln zwischen den klassischen Polen des „Bundesstaates“ und des „Staatenbundes“, ist – gerade im Blick auf die hier ausgebreiteten Befunde der verschiedenen Föderalismusdiskurse – durchaus auch als Tugend der (in steter Veränderung begriffenen) Gemeinschaftsverfassung anzusehen, und nicht nur als (defizitäres) Zurückbleiben hinter einem – wie auch immer gearteten – Idealzustand. Die im Ansatz gezielt starke Elemente des „Konfödera195
Vgl. hierzu auch Fischer/Schley (Fn. 6), S. 43 (47 f.).
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len“ wahrende „Verbundverfassung“ stellt eine zentral wichtige Absicherung dezentraler Entscheidungs- und Handlungsspielräume dar, sichert also das friedliche Zusammen- (und Nebeneinanderher-)leben der unterschiedlichen Völker Europas, ohne sie der Vorteile verdichteter Zusammenarbeit in föderalen Formen zu berauben.196 Erst das Bewußtsein der zu erheblichen Teilen schon gegebenen ‚föderalen Natur‘ der EU schafft die Gelassenheit, sich den Übertreibungen auf klassische Bundesstaatlichkeit zielender Verfassungsprojekte zu entziehen. Die EU trägt schon föderale Züge, sie muss nicht explizit per Verfassunggebung zum Bundesstaat umgeformt werden. Dies soll nun nicht heißen, es bestehe kein institutioneller Reformbedarf. Der Reformbedarf liegt jedoch nicht im Abweichen von tradierten Blaupausen föderaler Staatsorganisation, sondern in konkreten Unzulänglichkeiten des gemeinschaftsspezifischen Institutionensystems.197 Nicht der Umstand, dass die Institutionenverfassung der EU von historisch geläufigen Mustern bundesstaatlicher Organisation abweicht, sollte ihr zum Vorwurf gemacht werden, sondern dass Verfehlen ihrer ganz spezifisch aufgegebenen Zielsetzungen, des im Kontext der pfadabhängigen institutionellen Eigenart zu erstrebenden Optimums. An den Leistungen, die sie für die ‚Völker Europas‘ erbringt, wird die EU gemessen werden. Der ‚unentschiedene‘ Charakter der Unionsverfassung, der hybride Züge in der Grauzone zwischen Bundesstaat und Staatenbund aufweist, man könnte auch sagen: das typische Gepräge eines ‚Bundes‘ in prekärer verfassungstheoretischer ‚Gleichgewichtslage‘198, sollte als Stärke, nicht als Schwäche der Gemeinschaftsverfassung gesehen werden, denn er hält offen, wie politische Einheitsbildung mit der Bewahrung politisch-kultureller Vielfalt zu vereinbaren ist. Diese Organisation von unitas in pluralitate ist die zentrale Herausforderung der europäischen Union; ihr wird man nur gerecht werden können, indem man in einem andauernden experimentellen Prozess nach den angemessenen Mechanismen der Einheitsbildung bei gleichzeitiger Bewahrung von Vielfalt immer neu sucht. Das in die Verfassungskonstruktion der Union eingebaute Dilemma – im Blick auf den pouvoir constituant gibt es kein Entrinnen aus den zähen Konsensbildungsprozessen der Vertragsgemeinschaft,199 während der pouvoir constitué zumindest formell weitgehend per 196
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So das Plädoyer von D. Elazar für die Beibehaltung einer konföderalen Grundkonstruktion der Europäischen Union, die er als – auf eine gewisse Art geradezu ironische – Rückbesinnung auf das föderalistisch-konsoziative Erbe „Alteuropas“ ansieht, und als Kehrtwende gegen die etatistischen Muster kontinentaleuropäischer Nationalstaatlichkeit, vgl. ders., The United States and the European Union: Models for Their Epochs, in: Nicoladis/Howse (Fn. 31), S. 31. Vgl. auch D. Hanf, State and Future of the European Constitution: Improvement or Radical Reform?, GLJ 2 (2001), in Heft 15, unter www.germanlawjournal.de. Vgl. zu den Aporien des klassischen Begriffspaars Staatenbund/Bundesstaat nur Schönberger (Fn. 8), S. 86 ff., 104 ff., 109 ff. Die fundamentalen (verfassungstheoretischen) Unterschiede zwischen den Konstruktionen der „Vertragsgemeinschaft“ und des „Verfassungsstaates“ habe ich eingehend behandelt in Oeter (Fn. 36), S. 245 ff.
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Mehrheitsbildung entscheidet und somit weitgehend bundesstaatsähnliche Züge aufweist – kennt nicht nur kein Entrinnen, sondern ist vielleicht sogar unaufgebbar für die Konstruktion der supranationalen Integrationsgemeinschaft. Der Konsenszwang der Vertragsgemeinschaft sichert auf der Verfassungsstufe, also der Ebene der Ausbildung eines rechtlich institutionalisierten Grundkonsenses, die ‚pluralitas‘ des multinationalen Verbundes, während die Mehrheitsregel im Kontext der verfassten Institutionen effektive Entscheidfindung im operativen Alltagsgeschäft gewährleistet. Beide Züge wären jeweils für sich kaum verzichtbar, ohne den Charakter der Union fundamental zu ändern. Im Detail bleiben sie jedoch der Modifikation offen – auf der Stufe der Aushandlung verfassungsähnlicher Grundregeln der Modifikation des Konventsverfahrens, auf der operativen Ebene der Mehrheitsentscheidung im Verfahren der Sekundärrechtsetzung bleibt das Mischungsverhältnis von Konsenszwang und Mehrheitsentscheidung sowieso der Verständigung der Betroffenen anheim gegeben. Das Konstrukt der EU ist damit weit föderaler strukturiert als dies die Anhänger des herrschenden Diskurses wahrzunehmen bereit sind – die Union ist jedoch strukturell nicht einfach der Transformation in das klassische Institutionengefüge des Bundesstaates zugänglich. Anstatt dies als Defizitanzeige zu beklagen, sollte man sich Rechenschaft über die besonderen Leistungen einer derartigen Hybridkonstruktion ablegen – Sicherung der ‚Vielfalt‘ bei gleichzeitiger Gewährleistung möglichst effektiver Einheitsbildung auf der operativen Ebene. Vieles spricht dafür, dass die Europäische Union genau die Verfassung hat, die sie verdient. 200 Die Realität scheint insoweit der Phantasie längst vorausgeeilt zu sein. Doch gerade das ist vielleicht das eigentliche Problem. Was nicht in die etablierten theoretischen Kategorien passt, das darf nicht sein. Ein ‚bündisches‘ Gebilde muss entweder als Bundesstaat oder als Staatenbund zu kategorisieren sein – und wenn es in keine dieser Schubladen passt, dann wird es eben so lange uminterpretiert, bis es in eine der tradierten Kategorien zu passen scheint.201 Solange diese Verzerrung der Optik unbefragt fortgeschrieben wird, wird es praktisch unmöglich bleiben, Gebilde wie die Europäische Gemeinschaft theoretisch zu begreifen und in die Konstruktionen der Verfassungsrechtsdogmatik zu integrieren.202 Eigentlich müsste dies als Herausforderung verstanden werden, die staatstheoretischen Prämissen zu überprüfen und den realen Entwicklungen (und Notwendigkeiten) anzupassen.203 „Understanding the European Union as a Federal Polity“ drückt die sich stellende Herausforderung für die rechts- wie politikwissenschaftliche Modellbildung in einer 200
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Vgl. zu den Problemen theoretischer Einordnung auch Burgess (Fn. 3), S. 46 ff., ferner P. C. Schmitter, Some Alternative Features for the European Polity and Their Implications for European Public Policy, in: Y. Meny u.a. (Hrsg.), Adjusting to Europe, 1996, S. 25; Schönberger (Fn. 8), S. 109 ff.; G. Majone, Dilemmas of European Integration, 2005; E. O. Eriksen, Reflexive Supranationalism in Europe, in: ders. u.a. (Fn. 159), S. 1. Vgl. Schönberger, (Fn. 8), S. 88 ff. Vgl. dazu auch G. F. Schuppert, Zur Staatswerdung Europas, StWStP 5 (1994), S. 35 (53 ff.). Siehe dazu auch I. Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), S. 100.
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plakativen Formel aus, die allerdings nicht so missverstanden werden darf, die Europäische Union nun in das Prokrustesbett klassischer bundesstaatlicher Konstruktionen zu zwängen. „Federal Polity“ meint nicht unbedingt „Bundesstaat“ im engen Sinne der klassischen Staatslehre, sondern kann eben auch ganz andere Konstruktionen „bündischer Art“ umfassen. Die Forderung nach dem Ausbruch aus den überlieferten Kategorien der klassischen Staatslehre heißt folglich nicht, das „Ende des Staates“ zu proklamieren. Die die Union begründenden Nationalstaaten blieben auch in einer offen föderalen Konstruktion der Union als Staaten erhalten, bleiben weiter Träger genuiner Staatlichkeit und Symbole nationaler Identität, ausgestattet mit wichtigen Kompetenzen und einem weiten Spektrum staatlicher Institutionen und Handlungsinstrumente; was sie verlieren, ist einzig ihr „Exklusivcharakter“ als allein denkbarer Träger eigenlegitimierter Herrschaftsgewalt. Die Union, als föderales Dach, wird auch in Zukunft kaum mehr Aufgaben wahrnehmen können als sie der Gemeinschaft heute schon zukommen, mit Ausnahme einer vergemeinschafteten Außen- und Sicherheitspolitik und koordinierenden Institutionen einer gemeinsamen Wahrung innerer Sicherheit. Doch die Europäische Union ist keine reine Variable, kein simples Parallelogramm nationalstaatlicher Innenpolitik mehr, und darf auch nicht mehr als solche begriffen werden, sondern wäre gefordert, so etwas wie ein gesamteuropäisches „Gemeinwohl“ zu bilden und offensiv gegenüber den Völkern der Union zu propagieren.204 Der Hybridcharakter des „Verfassungsverbundes“205 der Union sollte insoweit im Ergebnis eher als Stärke denn als Schwäche der Europäischen Union begriffen werden. Ästhetischen Puristen wird ein solches Mischsystem zwar immer ein Dorn im Auge bleiben; für die politische Praxis hat der ambivalente Charakter der föderalen Verfassungskonstruktion aber unbestreitbare Vorteile, gestattet er doch ein stetes Voranschreiten auf dem Weg der weiteren Integration, ohne gleich die (polarisierende) Grundfrage nach dem „Sitz der Staatlichkeit“ stellen zu müssen, ganz zu schweigen vom Streit über die „Kompetenz-Kompetenz“, die es im föderalen System eigentlich sowieso nicht geben kann.206 Letztlich gilt: Etwas mehr Glaube an die immanente Vernunft des Bestehenden könnte uns zu der Gelassenheit verhelfen, das ersichtlich Unvernünftige am Ererbten mit Augenmaß zu verbessern, ohne gleich das von unseren Vorgängern Erreichte gänzlich umstürzen zu wollen. Gerade wenn man die Europäische Gemeinschaft bzw. Union als eine im Ansatz schon heute „föderale“ Konstruktion versteht, spricht viel dafür, auf diesen föderalen Zügen aufzubauen und sie im Sinne einer Optimierung der institutionellen Strukturen zu stärken, anstatt die Union in einem „revolutionären“ Akt völlig umzukrempeln und aus ihr einen von technokratischen Eliten gewillkürten „Staat“ zu machen, nach 204 205
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Siehe in diesem Sinne auch Peters (Fn. 74), S. 174. Vgl. zum Konzept des „Verfassungsverbundes“ I. Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27 (29 ff.); ders., Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JöR n.F. 48 (2000), S. 205 (214 ff.); ders., Multilevel Constitutionalism in the European Union, ELRev. 27 (2002), S. 511; vgl. außerdem Peters (Fn. 74), S. 207 ff. Vgl. insoweit nur Schönberger (Fn. 8), S. 104 ff.
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dem Muster der institutionellen Ordnung klassischer Nationalstaaten. Gerade eine – im Ansatz zunächst umstürzlerisch klingende – „soziale Konstruktion“ der Gemeinschaft als föderal konstruiertes Verbundgemeinwesen mit im Kern schon längst gemeinschaftlich ausgeübter Staatsgewalt vermag die Gelassenheit zu vermitteln, derer es bedarf, soll das „geeinte Europa“ nicht in den Grabenkämpfen widerstreitender Verfassungsutopien zerrieben werden, sondern soll es in einem behutsamen und schrittweisen Verfahren der Optimierung der bestehenden institutionellen Strukturen konsolidiert und fortentwickelt werden, hin zu einer föderal verfassten „Union“ der europäischen Völker mit dem Volk verantwortlicher, aber zugleich funktionierender Staatsgewalt und eigenen Strängen demokratischer Rückkopplung und Kontrolle.
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Staatliches Unionsverfassungsrecht
Staatliches Unionsverfassungsrecht
Christoph Grabenwarter
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Das Verhältnis zwischen dem Recht der Union und dem nationalen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Umfassender Vorrang des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Begrenzter Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor Verfassungsrecht . . . . . . . . . . 124 3. Vorrang der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4. Die Situation in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der jüngsten Beitrittsgeneration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Begründungsansätzen . . . . . . . . . . . 133 6. Die Rechtslage nach dem Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 III. Inhalte des Unionsverfassungsrechts der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 1. Souveränität und Übertragung von Hoheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 2. Struktursicherungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Föderale und dezentrale Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4. Die Stellung der nationalen Parlamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 5. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 IV. Zusammenfassende Beobachtungen zum Verhältnis des nationalen Verfassungsrechts zum Recht der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Die handelnden Organe der Verfassungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Interdependenzen zwischen den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten untereinander sowie zwischen mitgliedstaatlichen Verfassungen und europarechtlichen „Nebenverfassungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Typologie nach der inhaltlichen Ausrichtung: Integrationsoffene und defensive Anpassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4. Entwicklung zur gegenseitigen Verklammerung der Verfassungen zu einem Verfassungsverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
I. Einleitung Die Frage nach dem Unionsverfassungsrecht der Mitgliedstaaten ist in einer spezifischen Weise auf das Verhältnis zwischen nationalem Verfassungsrecht und dem Recht der Union bezogen. Untersucht werden die Veränderungen im nationalen Verfassungsrecht, die Folge des Beitritts zu den Gemeinschaften bzw. der Union, der fortdauernden Konfrontation mit dem Unionsrecht sowie der Entwicklungen des Rechts der Union sind. Dabei geht es sowohl um Inhalte von geschriebenen und ungeschriebenen Rechtsnormen und ihre Änderungen im Zeitverlauf als auch um die Art und Weise, wie diese Veränderungen vor sich gehen. Es soll untersucht werA. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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den, inwieweit in den einzelnen Mitgliedstaaten bestimmte Strategien zur Bewältigung der fortschreitenden europäischen Integration verfolgt werden. Die Verfassungen und ihre Entwicklung reflektieren die Strategien der Verfassungsorgane und sind insofern das primäre Betrachtungsobjekt. Der Begriff der Verfassung darf für die Zwecke des folgenden Beitrags mit Blick auf das Ziel der Untersuchung nicht zu eng gefasst werden. Oft zeigen sich Veränderungen nicht in Mutationen des Textes der Verfassungsurkunden, sondern in Nebenverfassungsrecht, Ausführungsgesetzen oder der Praxis in Ausführung des Verfassungsrechts (Verfassung im materiellen Sinne). Die interessierenden Veränderungen sind Ausdruck bestimmter Anpassungsprozesse. Anpassung ist zunächst scheinbar ein einseitiger Vorgang, welcher die Veränderung der nationalen Verfassung in Richtung des Rechts der Union impliziert. So verstanden ist Anpassung aber zu eng gefasst. Vielmehr enthält die Anpassung, jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang, zwei Komponenten, nämlich einen Konformitätsaspekt und einen Kreativitätsaspekt. Der Konformitätsaspekt beschreibt das Nachgeben gegenüber einem Anpassungsdruck, der hier von Seiten des Rechts der Union herrührt. Der Kreativitätsaspekt meint die gestalterische Bewältigung der rechtlich wie politisch bedingten Anpassungssituation. Die Anpassungsbeziehungen im Geflecht der heute 27 Mitgliedstaaten sind jedoch komplexer: Anpassungen können auch im Sinn einer Vereinheitlichung im Verhältnis zu den Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten erfolgen, die durch das Recht der Union nicht verursacht, sondern von diesem bloß induziert wurden. Keinesfalls darf ‚Anpassung‘ in diesem Sinn in seiner Bedeutung auf ,Vereinheitlichung‘ reduziert werden. Das Ziel und im Fall seines Erreichens auch das Ergebnis eines Anpassungsprozesses kann eine solche Vereinheitlichung sein, es kann aber auch im Gegenteil Vielfalt sein, mithin jeder (Rechts-)Zustand, der regelmäßig ein Neben- und Miteinander zweier Rechtsebenen ermöglicht. Diese Bedeutung von Anpassung wird durch den in der Politikwissenschaft gebräuchlichen englischen Begriff der (institutional) adaptation eingefangen,1 welcher ebenso wenig wie die Bezeichnung ‚Anpassung‘ einen einseitigen Prozess beschreibt.2 Der Gang der Untersuchung umfasst drei Stufen. In einem ersten Schritt wird die Ausgangsbasis zwischen nationalem Verfassungsrecht und dem bedeutsamsten Teil des Rechts der Union geklärt, die Frage des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem Verfassungsrecht. Im zweiten Schritt werden die typischen Inhalte jener Teile des Verfassungsrechts dargestellt, die einen besonderen Bezug zum Recht der Union haben. Im dritten Schritt sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Strategien und die Konsequenzen für das Recht der Union herauszuarbeiten. 1 2
Vgl. z.B. die Terminologie bei T. Börzel, States and Regions in the European Union, 2001, S. 27 ff. Im französischen Schrifttum findet man abwechselnd den (neutraleren) Begriff der mutation, jenen der adaptation, so wie jenen der adéquation. Vgl. nur den Untertitel des Werks von J. Rideau, Les États Membres de l’Union Européenne, 1997: Adaptations – Mutations – Résistances, oder auch S. Muñoz Machado, La Unión Europea y las mutaciones del Estado, 1993.
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II. Das Verhältnis zwischen dem Recht der Union und dem nationalen Verfassungsrecht Das Verhältnis zwischen dem Recht der Union, insbesondere dem Gemeinschaftsrecht, und dem nationalen Verfassungsrecht bildet den Ausgangspunkt der Überlegungen zum Unionsverfassungsrecht der Mitgliedstaaten. Von ihm hängt ab, welcher Art die Anpassungen des Unionsverfassungsrechts sind. Die rechtsdogmatische Bewältigung des Verhältnisses beeinflusst Anpassungsstrategien des nationalen Verfassungsrechts entscheidend, ja bestimmt sie im Einzelfall. Bedeutung kommt dem Verhältnis zwischen innerstaatlichem Verfassungsrecht und dem Gemeinschaftsrecht sowohl für Vertragsrevisionen als auch für die laufende Entwicklung des innerstaatlichen Rechts im Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht zu. Der Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten ist im Allgemeinen heute weitgehend unbestritten.3 Der EuGH hat zwar bereits 1964 klargestellt, dass der Vorrang gegenüber dem nationalen Recht jeder Rangstufe besteht, also auch hinsichtlich des Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten.4 So unbestritten dieser Ansatz dem Grundsatz nach wenigstens aus heutiger Sicht für das einfache Gesetzesrecht ist, so umstritten und uneinheitlich gestaltet sich die Sicht des Verhältnisses zum nationalen Verfassungsrecht. Hier bestehen durchaus erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten. Drei Gruppen von Staaten lassen sich unterscheiden: Staaten, in denen das Gemeinschaftsrecht umfassenden Vorrang genießt, Staaten, in denen das Gemeinschaftsrecht begrenzten Vorrang hat, und solche, in denen das nationale Verfassungsrecht dem Gemeinschaftsrecht vorgeht. 1. Umfassender Vorrang des Gemeinschaftsrechts Die erste Gruppe umfasst Staaten, in denen der Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber dem Verfassungsrecht im Wesentlichen unbestritten und von den Gerichten anerkannt ist. Hier sind zunächst die Niederlande zu nennen. Da sich nach der Auffassung der rechtsprechenden Abteilung des Raad van State (Afdeling Bestuursrechtspraak) der Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht aus der niederländischen Verfassung ableitet, sondern unmittelbar aus europäischen Recht, gilt nach h.M. ein umfassender Vorrang.5 Auch in Österreich erfolgte die Öffnung der österreichischen Rechtsordnung für die EU-Mitgliedschaft in Kenntnis und Anerkennung der Vorrangwirkung des 3 4
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Statt aller T. Oppermann, Europarecht, 2005, § 7 Rn. 1 ff. EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 (1270); ausdrücklich hinsichtlich der Grundrechte: Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125; kritisch A. Schmitt Glaeser, Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts, 1996, S. 156 ff. Entscheidung Metten/Minister van Financiën v. 7.07.1995, NJB-katern 1995, S. 426, dazu F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 191; L. F. M. Besselink, An Open Constitution and European Integration: The Kingdom of the Netherlands, in: F.I.D.E. 17. Kongress, Bd. 1, 1996, S. 361 (390 ff.).
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Gemeinschaftsrechts (vgl. Art. 2 der Beitrittsakte), unabhängig vom Rang des entgegenstehenden innerstaatlichen Rechts. Der österreichische Verfassungsgerichtshof geht geradezu mit Selbstverständlichkeit vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber Verfassungsrecht aus.6 In Annäherung zu jenen Staaten, in denen Grenzen des Vorrangs angenommen werden, wird jedoch für die Grundprinzipien des Verfassungsrechts eine ,Unterordnung‘ unter das Gemeinschaftsrecht verneint.7 2. Begrenzter Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor Verfassungsrecht In einer zweiten Gruppe von Staaten werden mit unterschiedlicher Begründung differenzierende Ansätze vertreten, die einen partiellen, aber vom Verfassungsrecht begrenzten Vorrang des Gemeinschaftsrechts annehmen. Dies ist zahlenmäßig mit Abstand die größte Gruppe. Zunächst haben in Italien, Deutschland, Dänemark und in Belgien die Verfassungsgerichte Grenzen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gegenüber staatlichem, insbesondere dem Verfassungsrecht markiert. Die italienische Corte Costituzionale hat 1984 den Vorrang des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich anerkannt.8 Ausdrücklich behält sich das Gericht aber die Möglichkeit vor, die Einhaltung der Grundrechte und der persönlichen Freiheiten zu überprüfen (controlimiti-Lehre).9 Eine Entscheidung vom Dezember 1995 wird
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Österr. VfGH, VfSlg. 15427/1999, zur Verdrängung der Organisationsvorschrift des Art. 133 Z. 4 B-VG durch eine Richtlinie; kritisch: S. Griller, Introduction to the Problems in the Austrian, the Finnish and the Swedish Constitutional Order, in: A. E. Kellermann u.a. (Hrsg.), EU Enlargement, 2001, S. 147 (169 ff.). Ablehnung einer „Unterordnung“ der Grundprinzipien des Verfassungsrechts durch P. Pernthaler, Der Verfassungskern, 1998, S. 14 f.; zuletzt mit gewisser Einschränkung T. Öhlinger, Die Transformation der Verfassung, JBl. 2002, S. 2. Entscheidung Sent. n. 170/1984 v. 8.07.1984, Granital, Il Foro Italiano 1984 I, 2062, engl. Übersetzung in: CMLRev. 21 (1984), S. 756 mit Anm. G. Gaja, S. 764; näher hierzu A. La Pergola, Costituzione e integrazione Europea: il contributo della Giurisprudenza costituzionale, in: Studi in onore di Leopoldo Elia, Bd. I, 1999, S. 815 (826 ff.); dazu auch Muñoz Machado (Fn. 2), S. 50; A. Adinolfi, The Judicial Application of Community Law in Italy, CMLRev. 35 (1998), S. 1313 (1314 ff.); A. M. Aronovitz/B. Cottier, Italien, in: B. Cottier (Hrsg.), Staatsrechtliche Auswirkungen der Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 287; siehe zur Entwicklung der Rechtsprechung der Corte Costituzionale C. Panara, in: A. v. Bogdandy/P. Cruz Villalón/P. Huber (Hrsg.), IPE I, 2007, § 18, Rn. 20 ff. Entscheidungen Sent. n. 117/1994 v. 31.03.1994, Il Foro Italiano 1995 I, 1077; Sent. n. 232/ 1989 v. 21.04.1989, Fragd, Rivista di diritto internazionale 1989, S. 104, und Sent. n. 170/ 1984 (Fn. 8). Dieser Grundsatz wurde freilich bereits in der Entscheidung Sent. n. 183/73 v. 27.12.1973, Frontini, C.M.L.R. 2/1974, S. 372 (389 bzw. 405), ausgesprochen. Siehe zu dieser Entscheidung C. Maestripieri, The Application of Community Law in Italy in 1973, CMLRev. 12 (1975), S. 431; P. F. Lotito, Die italienische Corte Costituzionale und die Anwendung der Gemeinschaftsnormen in der innerstaatlichen Rechtsordnung, in: C. Tomuschat u.a. (Hrsg.), Europäische Integration und nationale Rechtskulturen, 1995, S. 259; Adinolfi (Fn. 8), S. 1313 (1317 f., 1322).
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dahin gehend interpretiert, dass die Corte Costituzionale diese Überprüfungskompetenz aber nur dann auszuüben gedenkt, wenn der EuGH den Grundrechtsschutz im Rahmen eines Vorlageverfahrens zuvor abgelehnt hat.10 Einzelne Stimmen im italienischen Schrifttum verstehen den durch die Verfassungsnovelle 2001 geänderten Art. 117 der italienischen Verfassung als Bestätigung und Kodifikation der Rechtsprechung der Corte Costituzionale, wodurch dem Europarecht auf Verfassungsebene durch die controlimiti-Lehre lediglich beschränkter Vorrang eingeräumt würde.11 Das Bundesverfassungsgericht hat den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht vergleichsweise früh anerkannt,12 jedoch im Laufe der Zeit unterschiedliche Vorbehalte gegenüber einer umfassenden Vorrangwirkung mit Blick auf das Verfassungsrecht formuliert. Wurde die Vorrangwirkung zunächst unter die Bedingung der Wahrung der Strukturprinzipien gestellt und damit zumindest implizit ein Vorbehalt der Überprüfung von Gemeinschaftsrechtsakten angenommen,13 so schränkte das Bundesverfassungsgericht dies später dahin gehend ein, dass es Gemeinschaftsmaßnahmen nicht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüfen wolle, solange der auf Gemeinschaftsebene erreichte Grundrechtsstandard generell gewährleistet werde. Im 1993 ergangenen Maastricht-Urteil hielt sich das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich die Kompetenz offen, gemeinschaftsrechtliche Rechtsakte darauf hin zu überprüfen, ob diese sich im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeiten hielten.14 In der so genannten Bananenmarkt-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts des Jahres 2000 hat das Bundesverfassungsgericht sich von dem beanspruchten Kontrollanspruch distanziert bzw. ihn nicht realisiert.15 Zwischenzeitlich hatte der Verfassungsgesetzgeber die Schranken der Integrationsermächtigung in Art. 23 Abs. 1 GG niedergelegt.16 Der Højesteret, der Oberste Gerichtshof in Kopenhagen, hat in seinem Urteil zum Zustimmungsgesetz Dänemarks zum Vertrag von Maastricht vom April 1998 ausgeführt, dass die dänischen Gerichte weiterhin die Überprüfungsbefugnis darüber beanspruchen können, ob ein EG-Rechtsakt den Rahmen der durch
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Sent. n. 509/1995 v. 11.12.1995, Rivista Italiana di Diritto Pubblico comunitario 1996, S. 764; dazu: Adinolfi (Fn. 8), S. 1324 f. Siehe dazu Hinweise und kritische Erwiderung in Panara (Fn. 8), Rn. 37 ff. Vgl. hierzu BVerfGE 22, 293 (296); E 31, 145 (174). Hinsichtlich der Frage, ob das Gemeinschaftsrecht gegenüber nationalem Recht Geltungs- oder Anwendungsvorrang genießt, scheint sich das BVerfG in seinen neueren Entscheidungen auf den Anwendungsvorrang festzulegen, vgl. R. Streinz, Europarecht, 2008, Rn. 229. BVerfGE 37, 217 (279) – Solange I; E 58, 1 (40) – Eurocontrol. BVerfGE 89, 155 (188). Kritisch u.a. M. Kumm, Who is the Final Arbiter of Constitutionality in Europe?, CMLRev. 36 (1999), S. 351, und C. Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, S. 489. BVerfGE 102, 147 (164) – Bananenmarktordnung; vgl. R. Hofmann, Zurück zu Solange II!, in: FS Steinberger, 2002, S. 1207. Dazu unten, III. 2.
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das Beitrittsgesetz vorgezeichneten Grenzen der Souveränitätsübertragung einhält.17 Auch Belgien kann zu dieser Gruppe gezählt werden. Zwar konnte in Belgien nach der früheren Rechtsprechung der Cour de Cassation18 davon ausgegangen werden, dass das Gemeinschaftsrecht allen innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorging. Diesem Ansatz hat jedoch die Cour d’Arbitrage später eine Absage erteilt. In ihrem Urteil vom 16. Oktober 1991 stellten die Richter fest, dass sie die Überprüfung völkerrechtlicher Verträge auch auf die innere Verfassungsmäßigkeit der Vertragsbestimmungen selbst (materielle Verfassungsmäßigkeit) ausdehnen.19 Schließlich kann auch Spanien zur selben Gruppe von Staaten gerechnet werden, mag auch der Ausgangspunkt anderes nahe legen. Das spanische Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional) hat sich hinsichtlich des Gemeinschaftsrechts die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ausdrücklich vorbehalten.20 Es nahm hierfür in einer grundsätzlichen Feststellung in seiner Maastricht-Entscheidung vom 1. Juli 1992 auf Art. 95 Abs. 1 der Verfassung Bezug, welcher besagt, dass der Abschluss eines internationalen Vertrages, der verfassungswidrige Bestimmungen enthält, der vorherigen Änderung der Verfassung bedarf. Die Anwendung von Art. 93, der zur Übertragung von Hoheitsrechten ermächtigt, dürfe nach Ansicht des Verfassungsgerichts nicht die Schutzfunktion des Art. 95 aushöhlen und könne damit nicht zu stillschweigenden Verfassungsänderungen führen.21 Dieser formalen Auslegung des Art. 93 als „Organisations- und Verfahrensvorschrift“ hat das Gericht mit seiner 17
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Højesteret v. 6.04.1998, i. S. I 361/1997 = EuGRZ 1999, S. 49; dazu die Besprechung von R. Hofmann, Der Oberste Gerichtshof Dänemarks und die europäische Integration, EuGRZ 1999, S. 1; F. Thomas, Das Maastricht-Urteil des dänischen Obersten Gerichtshofs v. 6.04.1998, ZaöRV 58 (1998), S. 879; H. Koch, The Danish Constitutional Order, in: Kellermann u.a. (Fn. 6), S. 109 (114 ff.); Mayer (Fn. 5), S. 213 f.; P. Lachmann, The Treaty of Maastricht vs. the Danish Constitution, Nordic Journal of International Law 67 (1998), S. 365; G. Ring/L. Olsen-Ring, Souveränitätsübertragung nach dänischem Verfassungsrecht, EuZW 1998, S. 589. Vgl. Cour de Cassation, Urteil v. 27.05.1971, Le Ski, Journal des Tribunaux 1971, S. 460 = C.M.L.R. 1972, S. 330. Allerdings handelte es sich in diesem Fall um eine einfachgesetzliche Norm, nicht um eine Verfassungsvorschrift. Die Aussagekraft des Urteils ist dementsprechend beschränkt. Entscheidung v. 16.10.1991, Journal des Tribunaux 1992, S. 6670, vgl. Mayer (Fn. 5), S. 179 f.; E. Robson, Das Verhältnis zwischen Völkerrecht, Gemeinschaftsrecht und dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, Europäisches Parlament, Generaldirektion Wissenschaft, Reihe Recht, W-6, DE 12-1995, S. 34. E. García de Enterría/R. Alonso García, Spanischer Landesbericht, in: J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, 2000, S. 287 (298); Muñoz Machado (Fn. 2), S. 37 ff.; G. Garzón Clariana, The Spanish Constitutional Order, in: Kellermann u.a. (Fn. 6), S. 117 (121 ff.). Declaración del Tribunal Constitucional de 1 de julio de 1992 = EuGRZ 1993, S. 285; dazu: A. López Castillo/J. Polakiewicz, Verfassung und Gemeinschaftsrecht in Spanien, EuGRZ 1993, S. 277 (281); A. Estella de Noriega, A Dissident Voice: The Spanish Constitutional Court case law on European Integration, European Public Law 5 (1999), S. 269 (279); A. Jiménez-Blanco Carillo de Albornoz, Die verfassungsrechtlichen Auswirkungen des Vertrages über die Europäische Union in Spanien und Frankreich, Die Verwaltung 1995, S. 225 (230); Muñoz Machado (Fn. 2), S. 39 f.; A. Ruiz Robledo, Las implicaciones constituciona
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Entscheidung vom 13. Dezember 2004,22 welche die Verfassungsbestimmung als Scharnier zwischen den Rechtsordnungen i.S. einer Öffnungsklausel begreift, eine neue, materielle Deutung zur Seite gestellt.23 Die inhaltliche Ausweitung des Verständnisses des Art. 93 manifestiert sich in der erstmaligen Formulierung von Integrationsschranken, zu denen das Verfassungsgericht die Souveränität des Staates, die grundlegenden Verfassungsstrukturen sowie das System der Grundwerte und -prinzipien, vor allem der Grundrechte, zählt.24 Auch in Schweden wird im Grundsatz davon ausgegangen, dass dem Gemeinschaftsrecht Vorrang vor jeglichem nationalen Recht einschließlich des Verfassungsrechts zukommt.25 Die Verfassungsnorm des Kapitels 10 § 5, welche zum Beitritt in Kraft gesetzt wurde, spiegelt aber deutlich die Solange-Rechtsprechung des BVerfG wider. Danach kann der Reichstag Beschlussrechte auf die Europäischen Gemeinschaften übertragen, solange diese über einen Freiheits- und Rechtsschutz verfügen, der den in dieser Verfassung und in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gegebenen entspricht.26 Demnach wird hier die Solange-Rechtsprechung des BVerfG positivrechtlich in der Verfassung festgeschrieben und bildet die Grundlage der schwedischen Mitgliedschaft.27 Ebenso wird auch in Irland heute von einem grundsätzlichen Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber der Verfassung ausgegangen.28 Die irische Verfassung enthält sowohl in Art. 29 Abs. 4 Nr. 3 (Beitritt zur EG) als auch in Art. 29 Abs. 4 Nr. 4 (Vertrag von Maastricht) Bestimmungen, wonach kein bestehender oder künftiger Teil des Gemeinschaftsrechts als gegen das irische Grundgesetz ver22
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(230); Muñoz Machado (Fn. 2), S. 39 f.; A. Ruiz Robledo, Las implicaciones constitucionales de la participación de España en el proceso de integración Europeo, Noticias de la Unión Europea, Nr. 183, 2000, S. 9 (10). Entscheidung v. 13.12.2004 über die Vereinbarkeit des europäischen Verfassungsvertrages mit der spanischen Verfassung, EuR 2005, S. 339. Die hier angeführten Urteilspassagen sind für das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zur spanischen Verfassung von allgemeiner Bedeutung. Zur Entscheidung: A. C. Becker, Vorrang versus Vorherrschaft, EuR 2005, S. 354; P. Cruz Villalón, Europeización de la Constitución española: una introducción al problema, in: ders. (Hrsg.), Hacia la europeización de la Constitución española, 2006, S. 23; R. Alonso García, The Spanish Constitution and the European Constitution, German Law Journal 2005, S. 1001; C. Plaza, The Constitution for Europe and the Spanish Constitutional Court, European Public Law 12 (2006), S. 353. Kritisch zur formalen Auslegung statt vieler Alonso García (Fn. 22), S. 1007 m.w.N. Zu diesen im einzelnen P. Cruz Villalón, La Cláusula General Europea, in: ders. (Fn. 22), S. 51 (68 ff.). Entsch. des Obersten Verwaltungsgerichtshofs (Regeringsrätten), Fall Lassagård, RÅ 1997 ref. 65 (dazu J. Nergelius, The Impact of EC Law in Swedish National Law, in: I. Cameron/ A. Simoni (Hrsg.), Dealing With Integration, Bd. 2, 1998, S. 165); U. Bernitz, Swedish report, in: Schwarze (Fn. 20), S. 389 (422 f.). Griller (Fn. 6), S. 154 ff. Vgl. U. Bernitz, Sweden and the European Union, CMLRev. 38 (2001), S. 903 (910 ff.); J. Nergelius, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Fn. 8), § 22, Rn. 14 ff. G. Hogan, Ireland and the European Union, in: Kellermann u.a. (Fn. 6), S. 201 ff.
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stoßend qualifiziert werden darf.29 Hiernach können irische Gesetze zur Umsetzung mittelbar anwendbaren EG-Rechts nicht unter Berufung auf das irische Verfassungsrecht für nichtig erklärt werden. Auch sind alle Teile des Gemeinschaftsrechts gegen eine gerichtliche Überprüfung ihrer Vereinbarkeit mit der irischen Verfassung geschützt. Hiervon besteht jedoch eine wesentliche Ausnahme: Bei allfälligen Verstößen gegen die Menschenrechtsgarantien des Verfassungsgesetzes wird angenommen, dass Teile des Gemeinschaftsrechts für Irland außer Kraft gesetzt werden können.30 In diese Gruppe ist schließlich Großbritannien einzuordnen, wenngleich es einen Sonderfall bildet. Dort wurde – im Gegensatz zu Irland – die Vorherrschaft des EG-Rechts zunächst ohne verfassungsrechtliche Änderung akzeptiert. Das weitgehend unkodifizierte Verfassungsrecht ist einem formellen Änderungsakt ohnehin kaum zugänglich,31 weshalb sich Analysen auch mit dem Hinweis begnügten, das britische Verfassungsrecht enthalte ohnehin kaum Bestimmungen, die gegen das EG-Recht verstoßen könnten.32 Ein erhebliches Konfliktpotenzial im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht birgt freilich der ungeschriebene Verfassungsgrundsatz der Parlamentssouveränität in sich.33 Die Frage des Vorrangs und seiner Vereinbarkeit mit diesem Grundsatz wurde in den ersten zwanzig Jahren britischer EG-Mitgliedschaft immer wieder diskutiert, letztlich aber nie entschieden. Die Auseinandersetzung wurde den Gerichten überlassen, welche stets pragmatische gemeinschaftsrechtskonforme Lösungen unter Umgehung dogmatischer Fragen fanden.34 So wurde seit der Entscheidung Macarthy’s Ltd. v. Wendy Smith des English Court of Appeal die Section 2 (4) des European Communities Act (ECA) allgemein als weitgehender Interpretationsgrundsatz für das nationale Recht verstanden, um eine direkte Kollision zwischen einer gemeinschaftsrechtlichen Norm und einer zeitlich späteren nationalen Rege-
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Ebd., S. 90 ff.; M. Sychold, Irischer Landesbericht, in: Cottier (Fn. 8), S. 257 (264). Dies wird der Entscheidung des Supreme Court in Sachen Society for the Protection of Unborn Children (Ire.) Ltd. v. Grogan, (1989) IR 753 entnommen; vgl. EuGH, Rs. C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd. Slg. 1991, I-4685; aufgrund der außerordentlichen Sensibilität gegenüber diesem Thema in Irland wird der Fall jedoch als nicht verallgemeinerungsfähig eingestuft, vgl. Hogan (Fn. 28), S. 101; Sychold (Fn. 29), S. 264 ff. N. Foster, Großbritannien und die Europäische Union, AJP 1998, S. 409 (412). Siehe etwa Sychold (Fn. 29), S. 264. Vgl. zu diesem Fragenkomplex: P. P. Craig, Sovereignty of the United Kingdom Parliament after Factortame, Yearbook of European Law 11 (1991), S. 221; S. Davis, Theorie und Praxis der Bewältigung des Verhältnisses zwischen EG-Recht und englischer Rechtsordnung (unter Einbezug der EMRK), 1991, S. 9; Mayer (Fn. 5), S. 194 ff.; siehe auch die klassische Darstellung von H. W. R. Wade, The Basis Of Legal Sovereignty, Cambridge Law Journal 13 (1955), S. 172. S. Rajani, Die Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, 2000, S. 27.
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lung zu vermeiden.35 Die Entscheidung des House of Lords in Sachen Factortame Ltd. aus dem Jahr 1991 erwies sich sodann als Nagelprobe, in der die Auflösung der Kollision unentrinnbar wurde:36 Erstmals entschied das House of Lords für die Nichtanwendung einer zeitlich später erlassenen nationalen Norm wegen der Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht. Dieser Einschnitt in der Judikatur markiert den Beginn der Anerkennung des Vorrangs gegenüber nationalem Recht. Offen bleibt, ob das Parlament beim Erlass nationaler Gesetze rechtmäßig und explizit erklären kann, es wolle gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen, und dies die Gerichte kraft der Souveränität des Parlaments auch binden würde. Ob und inwieweit ein solcher ,Souveränitätsvorbehalt‘, d.h. die Kompetenz zur Rechtsetzung ausdrücklich entgegen dem Gemeinschaftsrecht, besteht, ist in der britischen Lehre umstritten.37 3. Vorrang der Verfassung Zur dritten Gruppe von Staaten gehören jene, in denen wenigstens dem Grundsatz nach und überwiegend von einem Vorrang des Verfassungsrechts vor Gemeinschaftsrecht ausgegangen wird. Zu diesen Staaten sind Frankreich und Griechenland zu zählen. Die verfassungsrechtliche Situation in Frankreich wird durch ein komplexes Zusammenspiel von verfassungsrechtlichen Vorgaben, Praxis der Exekutiv- und Gesetzgebungsorgane und der Zuständigkeit des Conseil constitutionnel bestimmt.38 Unbestritten ist heute, dass dem Gemeinschaftsrecht gleich den völkerrechtlichen Verträgen ein Rang zwischen Verfassung und Gesetz auf der Basis der Art. 54 und 55 der Verfassung zukommt.39 Gemäß Art. 54 hat der Conseil constitutionnel hin35
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Macarthy’s Ltd. v. Wendy Smith (1979) 3 All ER, 325 = C.M.L.R. 3/1979, S. 44. Section 2 (4) ECA besagt, dass alle bestehenden und künftigen Rechtsakte „shall be construed and have effect subject to the foregoing provisions of this section.” Section 2 (1) lautet: „rights, powers, liabilities, obligations and restrictions from time to time created or arising by or under the Treaties, … be recognised and available in law, and be enforced, allowed and followed accordingly”. Näher zur Bedeutung des ECA: P. J. Birkinshaw, British Report, in: Schwarze (Fn. 20), S. 205 (235 ff.); J. Schwarze, ebd., S. 463 (507 f.); A. Dashwood, The British Way, in: Kellermann u.a. (Fn.6), S. 81 (84). House of Lords, Factortame Ltd. v. Secretary of State, (1991) 1 AC 603. Für einen Vorbehalt Lord Denning, Macarthy’s, (1979) 3 All ER, 325; siehe außerdem Craig (Fn. 33), S. 221; Dashwood (Fn. 35), S. 87; dazu auch C. Filzwieser, Ausgewählte rechtliche Aspekte der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs bei den Europäischen Gemeinschaften, 1999, S. 100 f.; Rajani (Fn. 34), S. 195 f. Zur Entwicklung der Vorrangdiskussion in Frankreich K. Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, S. 124 ff., und J. F. Flauss, Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, EuR Beiheft 1/2000, S. 31; F. C. Mayer u.a., Der Vorrang des Europarechts in Frankreich, EuR 2008, S. 63; Schwarze (Fn. 35), S. 502; T. De Berranger, Constitutions nationales et construction communautaire, 1995, S. 333 ff.; ausführlich zum Meinungsstreit in Frankreich: J. Gundel, Die Einordnung des Gemeinschaftsrechts in die französische Rechtsordnung, 1997, S. 70 ff. Ebd., S. 480.
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sichtlich des primären Gemeinschaftsrechts die Kompetenz der präventiven Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit.40 Dadurch bestehen Grenzen der Verfassungsänderung, aus denen ein Vorrang der Verfassung abgeleitet wird.41 Art. 55 räumt dem Gemeinschaftsrecht Vorrang vor den Gesetzen ein, knüpft diesen aber an bestimmte Bedingungen und macht damit deutlich, dass in Frankreich nur eine Form des gemäßigten bzw. bedingten Monismus vorliegt. Nach diesen beiden Bestimmungen hat das Gemeinschaftsrecht daher einen Rang unterhalb der Verfassung aber über den Gesetzen,42 wenn auch der Conseil constitutionnel in jüngeren Entscheidungen der Überprüfbarkeit des Gemeinschaftsrechts anhand verfassungsrechtlicher Normen Grenzen gezogen hat. So leitet der Verfassungsrat in seiner Entscheidung vom 10. Juni 2004 aus Art. 88-1 der Verfassung eine verfassungsrechtliche Verpflichtung (exigence constitutionnelle) zur Umsetzung von Richtlinien ab, „der lediglich eine ausdrückliche gegenteilige Bestimmung der Verfassung entgegengesetzt werden könnte“. Außerhalb dieses Verfassungsvorbehalts sei allein der EuGH zur Prüfung der Grundrechtskonformität und Kompetenzverteilung berufen.43 Durch die Hochzonung der Umsetzungspflicht in den Verfassungsrang reduziert sich der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab nationaler Umsetzungsakte auf gegenteilige Verfassungsbestimmungen.44 Nichtsdestoweniger behält die französische Verfassung, wie der Conseil constitutionnel in seiner Folgeentscheidung vom 19. November 2004 hervorhebt, ihren Platz an der Spitze der innerstaatlichen Rechtsordnung.45 40
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Siehe das Verfahren vor dem Conseil constitutionnel vor der Ratifikation des Maastricht Vertrags, Décision n°92-308 DC du 9 avril 1992 = EuGRZ 1993, S. 187, sowie sodann die Décision n° 92-312 DC du 2 septembre 1992 = EuGRZ 1993, S. 193. Diese Möglichkeit der präventiven Kontrolle wurde mit der Verfassung der 5. Republik eingeführt, Gundel (Fn. 38), S. 57. Gundel (Fn. 38), S. 72. Ebd., S. 70; zur Reichweite des Vorrangs der Verfassung vgl. die Entscheidungen des Conseil constitutionnel zur Verfassungsmäßigkeit von europäischem Gemeinschaftsrecht, Maastricht I-III, V, Amsterdam; dazu J. Dutheil de la Rochère, The French Conseil Constitutionnel and the Constitutional Development of the European Union, in: M. Kloepfer/I. Pernice (Hrsg.), Entwicklungsperspektiven der europäischen Verfassung im Lichte des Vertrages von Amsterdam, 1999, S. 43 (46 ff.); zu den drei Maastricht-Entscheidungen siehe auch Flauss (Fn. 38), S. 31, und C. Walter, Die drei Entscheidungen des französischen Verfassungsrates zum Vertrag von Maastricht über die Europäische Union, EuGRZ 1993, S. 183. Décision n°2004-496 DC du 10 juin 1992, 7. Erwägungsgrund = EuR 2004, S. 921 = EuGRZ 2005, S. 45. Dazu: F. C. Mayer, Europarecht als französisches Verfassungsrecht, EuR 2004, S. 925; C. Walter, Der französische Verfassungsrat und das Recht der Europäischen Union, EuGRZ 2005, S. 77; J. Dutheil de la Rochère, CMLRev. 42 (2005), S. 859; die Formulierung der Entscheidungen n°2004-497 DC, n°2004-498 DC und n°2004-499 DC ist identisch. Mayer (Fn. 43), S. 930; Walter (Fn. 43), S. 79 ff. Der Begriff der „ausdrücklichen gegenteiligen Verfassungsbestimmungen“ darf dennoch nicht zu eng verstanden werden, Dutheil de la Rochère (Fn. 43), S. 867; nach Ansicht der Lehre gehören zu diesen Verfassungsvorbehalten das Prinzip der Laizität, der gleiche Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, die Unteilbarkeit der Republik etc., L. Azoulai/F. Ronkes Agerbeek, CMLRev 42 (2005), S. 871. Décision n°2004-505 DC du 19 novembre 2004, 10. Erwägungsgrund = EuR 2004, S. 911 = EuGRZ 2005, S. 45.
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Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist letztlich in der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Art. 88-1 der Verfassung und nicht in der Autonomie der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsordnung selbst begründet.46 In seiner Entscheidung vom 27. Juli 2006 bekräftigt der Conseil constitutionnel, dass die Verfassung eine Pflicht zur Richtlinienumsetzung enthalte, deren Grenzen er indes nunmehr anders akzentuiert: Die Umsetzung einer Richtlinie dürfe nicht gegen eine Regel oder ein Prinzip verstoßen, das die Verfassungsidentität Frankreichs charakterisiert, es sei denn, der Verfassungsgeber hätte zugestimmt.47 Auch dem griechischen Verfassungsrecht geht das Gemeinschaftsrecht nach h.M. nicht vor. Dies wurde in der Lehre mit dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des Art. 28 Abs. 1 der Verfassung begründet, der nur den Vorrang gegenüber einfachem Gesetzesrecht vorsieht. Daraus wird e contrario geschlossen, dass Gemeinschaftsrecht gegenüber der Verfassung keinen Vorrang genieße, sonst hätte der Gesetzgeber von 1975, dem der Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts bekannt war, eine andere Formulierung gewählt.48 Im Juli 1997 bestätigte der Staatsrat in den so genannte DI.KATSA-Entscheidungen diesen Ansatz. Das Gericht entschied, dass das in der Verfassung verankerte Verbot von Privatuniversitäten eine Anerkennung von Diplomen ausländischer Universitätsabschlüsse entgegen Art. 149 EG und der Hochschuldiplomrichtlinie ausschlösse.49 4. Die Situation in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der jüngsten Beitrittsgeneration Auf die Rechtsordnungen der so genannten neuen Mitgliedstaaten zeitigte das Recht der Europäischen Union ,Vorwirkungen‘ einer späteren Mitgliedschaft. Die Verfassungsgerichte Tschechiens und Ungarns bezogen bereits vor ihrem Beitritt zur Union grundsätzlich zum Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zu innerstaatlichem Recht Stellung.50
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Walter (Fn. 43), S. 82. Décision n°2006-540 DC v. 27.07.2006; dazu Mayer u.a. (Fn. 38), S. 70 ff.; vgl auch die vieldiskutierte Entscheidung des Conseil d’Etat Décision n°287110 du 8 février 2007; dazu Mayer u.a. (Fn. 38), S. 72 ff.; X. Magnon, La sanction de la primauté de la Constitution sur le droit communautaire par le Conseil d'Etat, Revue française de droit administratif 23 (2007), S. 578 (588 f.); P. Cassia, Entscheidungsanmerkung, ebd., S. 406 (412). C. Bernasconi/C. Spirou, Griechischer Landesbericht, in: Cottier (Fn. 8), S. 155 (169); vgl. dagegen noch D. Evrigenis, Legal and Constitutional Implications of Greek Accession to the European Communities, CMLRev. 17 (1980), S. 157 (167), der angesichts der europaoffenen Position Griechenlands eine bejahende und auf Art. 28 Abs. 1 und 2 gestützte Haltung der griechischen Gerichte hinsichtlich des Vorrangs von Gemeinschaftsrecht gegenüber Verfassungsrechts erwartet. Vgl. Mayer (Fn. 5), S. 220 f. Vgl. M. Hofmann, Gemeinschaftsrecht in der Rechtsprechung des ungarischen und des tschechischen Verfassungsgerichts, in: Hanns Seidel Stiftung/Ùstavny súd Slovensky republiky (Hrsg.), Euròpske právo v judikatúre ústavnych súdov, 2001, S. 34 (36 f.).
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Mit größerer Zurückhaltung51 erklärte das ungarische Verfassungsgericht, dass Kriterien aus dem bilateralen Europa-Abkommen nicht zu den „allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts“ nach Art. 7 der Verfassung gehörten und dass die gemeinschaftsrechtlichen Kriterien einen dynamischen Charakter hätten, wie sie sich in der Anwendungspraxis der Gemeinschaftsorgane entwickeln. Da die Gemeinschaft ein selbstständiges und von der Republik Ungarn getrenntes System der öffentlichen Gewalt darstelle, auf deren Rechtsetzung Ungarn keinen Einfluss habe, sei zur unmittelbaren Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen Kriterien eine Verfassungsänderung erforderlich.52 Die Integrationsklausel des Art. 2/A der ungarischen Verfassung enthält keine ausdrückliche Regelung des Verhältnisses zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht. Aus Art. 2/A kann jedenfalls abgeleitet werden, dass das Gemeinschaftsrecht bestimmten Regelungsgehalten der Verfassung, insbesondere den Grundrechten und dem Prinzip der Rechtssicherheit, nicht vorgeht: Art. 2/A sieht vor, dass die Republik Ungarn „sich aus der Verfassung ergebende einzelne Befugnisse zusammen mit anderen Mitgliedstaaten ausüben“ kann. Diese Formel wird als Ausdruck der nemo plus iuris-Regel verstanden und bewirkt, dass die EU nicht jene Garantien der Verfassung außer Acht lassen darf, die auch von den ungarischen Staatsorganen bei Ausübung der öffentlichen Gewalt zu beachten sind.53 Die Bindung des Gemeinschaftsrechts an die Grundrechte wird durch Art. 6 Abs. 4 der ungarischen Verfassung wiederum ein Stück weit relativiert. Die Staatszielbestimmung verpflichtet den Staat zur Mitwirkung an der europäischen Einheit und bewirkt, dass die Grundrechtskonformität des Gemeinschaftsrechts an einem anderen Maßstab der Verhältnismäßigkeit geprüft werden kann, als jene des nationalen Rechts.54 Das tschechische Verfassungsgericht sah sich trotz eines inhaltlichen Spannungsverhältnisses zwischen Wettbewerbsregeln nach dem EG-Vertrag mit dem nationalen Verfassungsrecht an der Feststellung einer Verfassungswidrigkeit von europarechtlich determiniertem Recht gehindert. Es begründete dies damit, dass das Assoziierungsabkommen wie der Vertrag über die Europäsche Union auf denselben Werten und Prinzipien beruhten wie die Verfassungsordnung der Tschechischen Republik.55 Im Ergebnis betont das Verfassungsgericht, dass die Auslegung innerstaatlicher Rechtsvorschriften im Einklang mit europäischem Wettbewerbsrecht nicht verfassungswidrig sein könne. Dieses Ergebnis unterscheidet sich der Sache nach nicht mehr vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber Verfassungs51
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Ähnlich J. Zemánek, Mittel- und Osteuropa vor dem EU-Beitritt, in: M. Kloepfer/I. Pernice (Hrsg.), Entwicklungsperspektiven der europäischen Verfassung im Lichte des Vertrags von Amsterdam, 1999, S. 132 (137). Entscheidung 30/1998 (IV. 25.) AB v. 25.06.1998, Magyar Közlöny 1998/4565; in deutscher Übersetzung: GRUR Int. 1999, S. 1. P. Sonnevend, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Fn. 8), § 25, Rn. 27. Ebd., Rn. 29. Entscheidung Nr. 66 v. 29.05.1997, III. ÚS 31/97, Sbírka nálezu a usnesení 6 (1996-II. Teil), S. 149; dt. Übers. in: G. Brunner u.a., Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechischen Republik, 2001, S. 444.
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recht. Ausdrückliche Regelungen zur Frage eines Vorrangs des Rechts der Europäischen Union gegenüber Verfassungsrecht finden sich freilich auch hier nicht, so dass es auch in den neuen Mitgliedstaaten den Verfassungsgerichten überlassen bleiben wird, die Vorrangfrage mehr oder weniger differenziert zu beantworten.56 Der polnische Verfassungsgerichtshof hat in dieser Frage eine eindeutige Position bezogen. In seinem Urteil vom 11. Mai 200557 gesteht der Gerichtshof dem Gemeinschaftsrecht Anwendungsvorrang gegenüber einfachgesetzlichen nationalen Bestimmungen zu, wie er allgemein gemäß Art. 91 Abs. 2 der Verfassung für völkerrechtliche Verträge vorgesehen ist. Keinesfalls könne dies jedoch zur Anerkennung eines Vorrangs vor Verfassungsrecht führen. Die Verfassung bleibe damit wegen ihrer besonderen Geltungswirkung „das oberste Recht der Republik Polen“ und genieße aufgrund der aus Art. 8 Abs. 1 folgenden Überordnung der Rechtswirkung im Fall einer Normenkollision58 Geltungs- und Anwendungsvorrang.59 Ein derartiger Konflikt könne letztendlich nur durch eine Verfassungsänderung oder einen Austritt Polens aus der Union gelöst werden.60 Wenn auch die Verortung des Ranges des Gemeinschaftsrechts zwischen Verfassungsrecht und einfachgesetzlichen Bestimmungen der französischen bzw. griechischen Position entspricht, nehmen die durch den polnischen Verfassungsgerichtshof getroffenen Feststellungen in ihrer Eindeutigkeit in der bisherigen höchstgerichtlichen Vorrangsdiskussion eine singuläre Stellung ein. 5. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Begründungsansätzen Wie beim Vorrang des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht allgemein, so hängt auch das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum Verfassungsrecht vom jeweiligen Bezugssystem ab, für das der Vorrang gelten soll. Während der EuGH aus 56 57
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Vgl. Mayer (Fn. 5), S. 358. Urt. d. poln. VfGH v. 11.05.2005, K 18/04 – Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union, dt. Übers. in: EuR 2006, S. 236; siehe zur Entscheidung S. Biernat, in: v. Bogdandy/ Cruz Villalón/Huber (Fn. 8), § 21, Rn. 45 ff.; B. Banaszkiewicz, Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes der Republik Polen seit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung bis zum Urteil über die EU-Mitgliedschaft (1997-2005), 2006, S. 309 (313 ff.). Eine solche sei anzunehmen, wenn es zwischen Gemeinschafts- und nationalem Verfassungsrecht zu einem unauflösbaren Widerspruch komme, der sich auch nicht durch eine europarechtskonforme Interpretation beseitigen lasse. Letztere finde jedenfalls am ausdrücklichen Wortlaut der Verfassung und an den durch die Verfassung verwirklichten Funktionsgarantien ihre äußerste Grenze, Urt. d. poln. VfGH v. 11.05.2005 (Rn. 57), Pos. 6.3 f. Ebd., Pos. 4.2; der Vorrang der Verfassung gegenüber Primär- und Sekundärrecht der Gemeinschaft wurde bereits im Entwurfsstadium der jüngsten polnischen Verfassung aus dem Jahre 1997 diskutiert und von der herrschenden Lehre vertreten. Wegen der grundsätzlichen ,axiologischen‘ Übereinstimmung beider Rechtsordnungen seien Normkollisionen jedoch nicht zu erwarten, M. Bainczyk/U. Ernst, Fragen der EU-Mitgliedschaft vor dem polnischen Verfassungsgerichtshof, EuR 2006, S. 249 f. m.w.N. Ebd., Pos. 6.4.; siehe auch Urt. d. poln. VfGH v. 27.04.2005, P 1/05, in deutscher Übersetzung abgedruckt in: EuR 2005, S. 494; weitere Nachweise bei P. Tuleja, in: v. Bogdandy/ Cruz Villalón/Huber (Fn. 8), § 8, Rn. 50 f.
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gemeinschaftsrechtlicher Perspektive den Vorrang aus der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts ableitet,61 ist es aus staatsrechtlicher Perspektive eine spezifische nationale verfassungsrechtliche Ermächtigung, welche den Vorrang begründen könnte.62 Man kann diese Unterscheidung rechtstheoretisch mit zwei unterschiedlichen Grundnormen beschreiben,63 ohne damit freilich die Frage nach der faktischen Lösung des Konflikts zu beantworten. Die Existenz divergierender Vorrangregeln im Gemeinschaftsrecht einerseits und den nationalen Rechtsordnungen andererseits wird jedenfalls mitgliedstaatliche Behörden veranlassen, adäquate Konfliktvermeidungs- und Kooperationskonzepte zu entwickeln.64 Letztlich verweist das gemeinschaftsrechtliche Gebot für die Bestimmung seiner Grenzen auf die Verfassungen der Mitgliedstaaten.65 Die nationalen Verfassungsgeber haben freilich keinen unbegrenzten Spielraum, sie haben sich vielmehr im Beitrittszeitpunkt, häufig auch später, selbst Beschränkungen auferlegt. Die Abwägung zwischen dem Interesse an der Einheitlichkeit der Wirkung des Gemeinschaftsrechts und dem Interesse an intakten, funktionierenden und akzeptierten mitgliedstaatlichen Verfassungen fällt in den Mitgliedstaaten zum Teil sehr unterschiedlich aus. Das Verhältnis bzw. die genaue Grenzziehung des nationalen Verfassungsrechts zum europäischen Gemeinschaftsrecht ist in den meisten der untersuchten Länder durch die Rechtsprechung der (Verfassungs-)Gerichte geprägt. Somit zeigen der Vergleich und die Unterscheidung dreier Gruppen von Verfassungsordnungen, 1. dass differenzierende Lösungen das Verhältnis in den meisten Mitgliedstaaten bestimmen; 2. dass die Gesichtspunkte, nach denen Begrenzungen des Vorrangs markiert werden, zwar von nationalen Besonderheiten bestimmt sind, im Kern aber auf die gleichen Verfassungsgrundsätze hinauslaufen; in der weit überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten wird ein unverletzlicher Kern nationaler verfassungsrechtlicher Grundprinzipien bzw. gesondert hervorgehobener Grundrechte angenommen; 3. dass jene Staaten, in denen formal unbegrenzter Vorrang der einen oder anderen Rechtsebene eingeräumt wird, ihrerseits Schranken des Vorrangs kennen; 4. dass der Weg zur Annahme eines Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor Verfassungsrecht umso steiniger ist, je früher Staaten den Gemeinschaften bzw. der
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Grundlegend hierzu EuGH, Rs. 6/64 (Fn. 4); Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 1. Dazu statt vieler Streinz (Fn. 12), Rn. 202 ff. m.w.N. Vgl. W.-D. Grussmann, Grundnorm und Supranationalität, in: T. v. Danwitz u.a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 47 (56); J. Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, in: FS Stern, 1997, S. 1239 (1262). Vgl. M. Jestaedt, Der Europäische Verfassungsverbund, in: GS Blomeyer, 2004, S. 637 (666 ff.). M. Nettesheim, Der Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, in: GS Grabitz, 1995, S. 447 (457).
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Union beigetreten sind,66 je stärker einzelne Verfassungsorgane, insbesondere Verfassungsgerichte,67 als Wahrer nationaler Identität aufgetreten sind und – bis zu einem gewissen Grad – je größere Bedeutung ein Land im europäischen Vergleich, insbesondere durch seine Größe hat. 6. Die Rechtslage nach dem Vertrag von Lissabon Der Vertrag von Lissabon enthält keine ausdrückliche Erwähnung des Rangverhältnisses zwischen Unionsrecht und nationalem Recht. In der 17. Erklärung zu Bestimmungen der Verträge (Erklärung zum Vorrang) weist die Regierungskonferenz jedoch darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben. Darüber hinaus hat die Konferenz beschlossen, dass das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates zum Vorrang in der Fassung des Dokuments 11197/07 (JUR 260)68 der Schlussakte beigefügt und dadurch in Bezug auf die Vorrangproblematik auf die Rechtsprechung des EuGH verwiesen wird. Der Vorrang des Europarechts vor nationalem Recht wird damit zwar nicht primärrechtlich verankert,69 am status quo ändert sich insoweit aber auch nichts, so dass auch in Zukunft von einem Vorrang des Europarechts auch gegenüber Verfassungsrecht auszugehen ist.
III. Inhalte des Unionsverfassungsrechts der Mitgliedstaaten Die Anpassungen des Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten und die dabei verfolgten Strategien unterscheiden sich zunächst nach dem verfassungsrechtlichen Regelungsgegenstand, welcher der Anpassung unterliegt. Im Folgenden sind zentrale Inhalte und Verfassungsprinzipien in den Blick zu nehmen, namentlich die Souveränitätsfrage (1., 2.), der Bundesstaat (3.), Fragen der Demokratie (4.) und Grundrechte (5.). Es geht dabei nicht um eine detaillierte inhaltliche Aufarbeitung und Erfassung aller Anpassungsvorgänge im Einzelnen, sondern um die Darstellung der Art und Weise und des unterschiedlichen Ausmaßes der Veränderungen. Dieser Teil soll in einem weiteren Schritt Aussagen über Unterschiede in der Anpassungsintensität je nach Verfassungsinhalt ermöglichen (Staatsorganisationsrecht einerseits und Grundrechte andererseits). Auch sollen – neben genuin inner-
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Vgl. nur die Analyse in Abhängigkeit vom Zeitpunkt des Beitritts von F. G. Jacobs, The Constitutional Impact of the Forthcoming Enlargement of the EU, in: Kellermann u.a. (Fn. 6), S. 183. Schwarze (Fn. 35), S. 502 ff. Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates v. 22.07.2007, beigefügt der Schlussakte der Regierungskonferenz v. 13.12.2007, ABl. 2008 C 115, S. 335 (344). Anders F. C. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung?, ZaöRV 67 (2007), S. 1141 (1153).
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staatlichen Ursachen (z.B. das Rechtsquellensystem etc.) – Unterschiede im Ländervergleich deutlich gemacht werden. 1. Souveränität und Übertragung von Hoheitsrechten Der Beitritt zu den EG bzw. zur EU sowie Integrationsschübe durch Vertragsänderungen berühren in der Wahrnehmung der überwiegenden Zahl der Mitgliedstaaten die staatliche Souveränität und das im Mitgliedstaat herrschende Souveränitätsverständnis. Die Intensität entsprechender Debatten hängt vom Stellenwert der Souveränität in den jeweiligen Ländern ab. Während in Frankreich und im Vereinigten Königreich (dort auch in Vermengung mit der Frage der Souveränität des Parlaments) der Souveränitätsverlust als zentrales Problem erforderlicher Anpassung gesehen wurde, wird dieser in anderen Ländern, unter anderem auch in Deutschland, aus unterschiedlichen Gründen weniger in den Vordergrund gestellt.70 Während der Anfangsjahre des Prozesses der europäischen Integration reagierten staatliche Verfassungen nur vereinzelt auf diesen. Immerhin sahen bereits das deutsche Grundgesetz seit 1949 (Art. 24 GG), die dänische Verfassung seit 1953 (Art. 20),71 die Verfassung der Niederlande seit 1956 (Art. 67 Abs. 1, jetzt Art. 92) und – als Beispiel aus dem EWR – die Verfassung Norwegens seit 1962 die ausdrückliche Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen vor. In der Folgezeit wurden vergleichbare Klauseln in zahlreiche europäische Verfassungen aufgenommen.72 Allerdings erwiesen sich die herkömmlichen Vorschriften, die das Eingehen internationaler Verpflichtungen jenseits von völkerrechtlichen Verträgen ermöglichten, in vielen Mitgliedstaaten anlässlich des Beitritts zu den Gemeinschaften bzw. zur Union oder zu einem späteren Zeitpunkt, etwa anlässlich einer Vertragsrevision, als nicht mehr hinreichende verfassungsrechtliche Basis für die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen der fortschreitenden europäischen Integration. Die Verfassungen vieler Mitgliedstaaten enthalten nun – neben den allgemeinen Ermächtigungen – europaspezifische Vorschriften über Kompetenzübertragungen zugunsten der Europäischen Union. In Frankreich wurde die Einfügung des Titels XV (Art. 88-1 bis 88-4) in die Verfassung durch die erste Maastricht-Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 9. April 1992 ausgelöst.73 Sie ist für das Verständnis und den Inhalt der Verfassungsänderungen bestimmend und wurde in der Entscheidung vom 19. November
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Zu den Ursachen hierfür Schwarze (Fn. 35), S. 514. Dazu das Urteil des Obersten Gerichtshofs in Kopenhagen v. 6.04.1998 = EuGRZ 1999, S. 49. Etwa Schweden 1965, dazu Bernitz (Fn. 27), S. 910. Ausführliche Nachweise bei De Berranger (Fn. 38), S. 47 ff.; R. Bieber, Die Europäisierung des Verfassungsrechts, in: K. Kreuzer u.a. (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997, S. 71 (77). CC, Décision n° 92-308 DC (Fn. 40), S. 187.
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200474 bestätigt: In ihr werden die verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration dort verortet, wo durch die Integration „wesentliche Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität“ betroffen werden.75 In drei Punkten stellte der Conseil constitutionnel in der Maastricht-Entscheidung verfassungsrechtlichen Veränderungsbedarf wegen Souveränitätsbeeinträchtigung fest, auch wenn er die Teilnahme an der Europäischen Gemeinschaft mit der Wahrung der nationalen Souveränität grundsätzlich für vereinbar hielt: beim Kommunalwahlrecht,76 bei der Währungsunion77 und bei der Visapolitik.78 Die Entscheidung vom 19. November 2004, die in allen drei Punkten neue Regelungen auslöste79 und die Verfassungskonformität des europäischen Verfassungsvertrags zum Gegenstand hatte, unterstreicht wiederum den Souveränitätsgedanken als Leitprinzip verfassungsrechtlicher Prüfung. Von der Übertragung von Kompetenzen in neuen Sachbereichen erklärte der Conseil constitutionnel all jene für mit der Verfassung unvereinbar, die „mit der Ausübung der nationalen Souveränität untrennbar verbunden“ sind. Von dieser Kategorie erfasst sind insbesondere Kompetenzübertragungen in den Bereichen der Grenzkontrollen und der Zivil- und Strafsachen.80 Der Conseil constitutionnel beanstandete sogar Änderungen hinsichtlich bereits bestehender Gemeinschaftskompetenzen: so war der Übergang im Abstimmungsmodus vom Einstimmigkeitserfordernis zur qualifizierten Mehrheit ebenfalls von der Verfassung nicht gedeckt, und zwar selbst dann, wenn ein solcher Übergang von einem einstimmigen Folgebeschluss im Europäischen Rat oder im Rat der EU abhängig gemacht wurde.81 Verfassungsgrundlage für die Mitgliedschaft Griechenlands in der EU ist Art. 28 Abs. 2 der Verfassung. In dieser Bestimmung zeigt sich das Prinzip der offenen Staatlichkeit. Sie hat als Staatszielbestimmung oder „Grundentscheidung“ zudem den Rang einer Auslegungsrichtlinie.82 Absatz 3 bringt die immanenten Schranken des Art. 28 Abs. 2 zum Ausdruck. Er enthält die materiellen Vorausset74 75
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Décision n°2004-505 DC (Fn. 45), dazu sogleich unten. Siehe den 14. Erwägungsgrund: „… au cas où des engagements internationaux souscrits à cette fin contiennent une clause contraire à la Constitution ou portent atteinte aux conditions essentielles d’exercice de la souveraineté nationale, l’autorisation de les ratifier appelle une révision constitutionelle.“ Vgl. Erwägungsgründe 21 ff. Zu dem Problem näher unten, 5 a), sowie J. Hecker, Europäische Integration als Verfassungsproblem in Frankreich, 1998; Walter (Fn. 42), S. 183; Gundel (Fn. 38), S. 132. Vgl. Erwägungsgrund 43, dazu Gundel (Fn. 38), S. 133. Vgl. Erwägungsgrund 49, dazu Gundel (Fn. 38), S. 133. Dazu wiederum CC, Décision n° 92-312 (Fn. 40); S. 193. Décision n°2004-505 DC (Fn. 45), 27. Erwägungsgrund. An dieser Rechtsprechung des franz. Conseil Consitutionnel orientiert sich auch die spanische Lehre bei der Beurteilung, welche Kompetenzübertragungen noch mit der Verfassung und insbesondere mit dem Souveränitätsgedanken vereinbar sind: M. Medina Guerrero, La distribución de competencias entre la Unión Europea y los Estados miembros, in: Cruz Villalón (Fn. 22), S. 109 (134). 29. bzw. 33. Erwägungsgrund. T. Antoniou, Europäische Integration und griechische Verfassung, 1985, S. 205; Evrigenis (Fn. 48), S. 159; J. Iliopoulos-Strangas, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Fn. 8), § 16, Rn. 25 ff.
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zungen für den Fall der Beschränkung der Ausübung der Souveränität, wie sie im Falle des Beitritts zur EG erfolgt.83 Art. 28 Abs. 2 und 3 wurde 1975 im Rahmen einer substanziellen Verfassungsänderung und aus Anlass der wenige Tage später erfolgten Bewerbung Griechenlands um die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften eingefügt. Er wurde nach dem Vorbild von ähnlichen Vorschriften in den Verfassungen von damals gegenwärtigen oder potenziellen Mitgliedstaaten entworfen, die verfassungsrechtliche Überprüfungen vor den jeweiligen nationalen Gerichten bereits bestanden hatten.84 Der mit der Beteiligung des Landes an der Europäischen Gemeinschaft einhergehende Souveränitätsverlust wurde angesichts der gegenwärtig oder zukünftig erwarteten Vorteile aus der Mitwirkung Griechenlands im Prozess der europäischen Einigung jedoch ohne Weiteres hingenommen.85 Die italienische Verfassung enthält nur eine sehr knappe Regelung: Die Einschränkungen der Souveränität wegen der durch die Gründungsverträge vorgesehenen Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft sind gemäß Art. 11 der italienischen Verfassung verfassungskonform.86 Art. 117, demgemäß die nationale Gesetzgebung nach der Verfassung und entsprechend den aus der EU-Rechtsordnung und aus den völkerrechtlichen Verpflichtungen entstehenden Verbindlichkeiten ausgeübt wird, erachtet die italienische Lehre allerdings nicht als europäische Integrationsklausel, die die Übertragung weiterer Hoheitsrechte ermöglicht.87 In Österreich erfolgte die verfassungsrechtliche Bewältigung des Beitritts zur Europäischen Union durch ein eigenes Beitritts-Bundesverfassungsgesetz, mit welchem die zuständigen Organe ermächtigt wurden, den entsprechenden Staatsvertrag abzuschließen. Dieses Verfassungsgesetz bildet mithin die Grundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union. Wiewohl es aus verfassungsrechtlichen Gründen einer Volksabstimmung unterworfen worden war, spielte die Souveränitätsfrage, wenn überhaupt, so nur eine untergeordnete Rolle.88 Die Verankerung der Mitwirkung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in einer den Beitritt begleitenden Verfassungsnovelle geschah weniger aus Gründen der Souveränität, als vielmehr im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Vorgabe der dauernden Neutralität, welche einer völkerrechtlichen Beschränkung der außenpolitischen und militärischen Handlungsoptionen entspricht.89 83 84 85
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Antoniou (Fn. 82), S. 208. Evrigenis (Fn. 48), S. 160. G. Papadimitriou, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht in Griechenland, in: U. Battis u.a. (Hrsg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, 1995, S. 149 (160). Lotito (Fn. 9), S. 261. Panara (Fn. 8), Rn. 37 ff. m.w.N. Näher H. Schäffer, Österreichischer Landesbericht, in: Schwarze (Fn. 20), S. 339 (372 ff.). T. Öhlinger, BVG Neutralität, in: K. Korinek/M. Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht (Stand: 2001), Art. 23f B-VG, Rn. 13; welcher hier ursprünglich zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Teilnahme an Embargobeschlüssen des Rates der EU geschaffen wurde, wurde anlässlich der Ratifikation des Vertrags von Amsterdam novelliert, um die Beteiligung Österreichs im Rahmen der sog. Petersberg-Aufgaben verfassungs
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Schließlich soll in einer Auswahl von neuen Mitgliedstaaten auf die Diskussion in Polen und Ungarn eingegangen werden. In den neuen Mitgliedstaaten findet die wissenschaftliche und politische Diskussion um die Souveränität und etwaige Souveränitätsbeschränkungen aufgrund der jahrzehntelangen Abhängigkeit von der Sowjetunion regelmäßig vor einer ungleich sensibleren Öffentlichkeit statt.90 So stand auch in der Debatte über Art. 90 der polnischen Verfassung von 1997, der zur Übertragung von Hoheitsrechten gerade mit Blick auf die Europäische Union ermächtigt, die Souveränitätsdiskussion unzweifelhaft im Mittelpunkt.91 In einem Urteil vom 11. Mai 2005 verknüpft der Verfassungsgerichtshof die Souveränitätsfrage thematisch mit der Reichweite der Übertragung von Hoheitsrechten. Die Antragsteller hatten die Unvereinbarkeit des Beitrittsvertrages mit dem in Art. 8 ausgedrückten Verfassungsgrundsatz, welcher die Verfassung als „oberstes Recht der Republik Polen“ statuiert, behauptet. Nach Ansicht des Gerichtshofs verhinderten die der Verfassung inhärenten Beschränkungen eine Kompetenzübertragung in einem Ausmaß, welches das Funktionieren der Republik Polen als souveräner Staat beeinträchtigen würde.92 Art. 90 Abs. 1 der Verfassung sei in diesem Zusammenhang Ausdruck einer souveränen Öffnung des Verfassungsgebers gegenüber einer Erweiterung des Kataloges der Rechtsakte, die auf polnischem Staatsgebiet allgemein gelten sollen.93 Der Integrationsartikel in der ungarischen Verfassung (Art. 2/A) ist die Antwort auf zwei vor dem Beitritt zur Union aufgeworfene Fragen: Einerseits sollte er die demokratische Legitimation der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU sicherstellen, die angesichts der Entscheidung 30/199894 des ungarischen Verfassungsgerichts bezüglich des Europa-Abkommens von der herrschenden Lehre gefordert worden war und ohne besondere Regelung in der Verfassung zumindest fraglich gewesen wäre. Andererseits sollte die Übertragung der Souveränität verfassungsrechtlich beschränkt werden.95 Art. 2/A sichert die nationalstaatliche Souveränität an einer äußeren Grenze ab, indem er von der Republik Ungarn als Mitgliedstaat der Europäischen Union spricht. Zudem wird eine Betonung der ungarischen Souveränität darin gesehen, dass der Integrationsartikel lediglich zur Übertragung einzelner Befugnisse ermächtigt und dadurch der Republik Ungarn deutlich die Kompetenz-Kompetenz vorbehält. Schließlich erlaubt Art. 2/A die Übertragung von Befugnissen nur insoweit, als sie für die Ausübung der Rechte 90 90 91 92
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liert, um die Beteiligung Österreichs im Rahmen der sog. Petersberg-Aufgaben verfassungsrechtlich zuzulassen. Vgl. etwa zu Polen Biernat (Fn. 57), Rn. 36 ff. Vgl. M. Wyrzykowski, European Clause: Is it a Threat to Sovereignty?, in: ders. (Hrsg.), Constitutional Cultures, 2000, S. 267 (268, 279 f.). Urt. d. poln. VfGH v. 11.05.2005 (Rn. 57), Pos. 4.5; an dieser Stelle nimmt der Verfassungsgerichtshof ausdrücklich auf das Maastricht-Urteil des BVerfG Bezug; Banaszkiewicz (Fn. 57), S. 313 ff. Ebd., Pos. 8.1. Entscheidung 30/1998 (Fn. 52); siehe dazu oben, II. 4. Sonnevend (Fn. 53), Rn. 10.
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und die Erfüllung der Verpflichtungen aus den Gründungsverträgen notwendig ist, sodass ultra vires-Akte der EG-Organe keine verfassungsrechtliche Deckung haben.96 2. Struktursicherungsklauseln Die Vorschriften über die Ermächtigung zum Beitritt, zur Übertragung weiterer Hoheitsrechte u.Ä. sind in vielen mitgliedstaatlichen Verfassungen von so genannten Struktursicherungsklauseln begleitet. Häufig verknüpft mit einer Bestätigung oder Ermächtigung zur Zugehörigkeit bzw. zum Beitritt des Staates zur Europäischen Union markieren sie auch Grenzen der Integration bzw. Fortentwicklung des Unionsrechts, indem sie teils sogar einen Kern des Verfassungsrechts als unveränderbar der Disposition europäischer Integrationsakte entziehen (Verfassungsbestandsklauseln). An dieser Stelle stößt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch an verfassungsrechtliche Grenzen. Art. 23 Abs. 1 GG bringt die Verbindung der Öffnungsklausel mit dem Anliegen der Struktursicherung besonders deutlich zum Ausdruck.97 Im selben Atemzug mit dem Auftrag zur Mitwirkung an der Entwicklung der Europäischen Union wird die Union auf bestimmte Prinzipien verpflichtet. Sie bilden inhaltliche Schranken der Integrationsermächtigung. Durch ihre Festschreibung in Art. 23 Abs. 1 GG werden an die Europäische Union Strukturanforderungen gestellt, die Parallelen zu den Strukturprinzipien des Grundgesetzes haben. Es wird jedoch keine strukturelle Kongruenz gefordert, sondern vielmehr sind die Postulate entsprechend den Eigenheiten der jeweiligen Ausprägung der Union strukturangepasst zu modifizieren.98 Diese Klausel zeigt – jedenfalls im Hinblick auf den Grundrechtsschutz – deutliche Parallelen zur Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.99 Sie hat ihrerseits der weiteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts normative Anhaltspunkte für eine Bekräftigung der Schranken und die Formulierung der Konsequenzen eines Verstoßes gegen die Schranken geliefert.100 Inwieweit sich die Bundesrepublik Deutschland am Integrationsprozess beteiligen darf, ohne verfassungsrechtliche Essentialia ihrer selbst preiszugeben, ist in der Verfassungsbestandsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG durch einen Verweis auf Art. 79 Abs. 3 GG geregelt. Die von dieser ,Ewigkeitsgarantie‘ umfassten Ordnungsprinzipien sind großteils genau dieselben Grundsätze, denen aus Sicht des Grundgesetzes auch die Union als solche – wenn auch in modifizierter Weise – ver96 97
98 99 100
Ebd., Rn. 24 ff. Siehe dazu etwa R. Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), NVwZ 1994, S. 417 (422); F. Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz – eine verfassungsrechtliche Wende?, DVBl. 1993, S. 629 (633); D. König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses, 2000, S. 279 ff. Siehe U. Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, DVBl. 1993, S. 936 (944); König (Fn. 97), S. 282, 413. Insbesondere BVerfGE 73, 339 (378 ff.) – Solange II. BVerfGE 89, 155 (179, 182 ff.) – Maastricht.
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pflichtet werden soll, d.h. insbesondere die Verfassungsgrundsätze gemäß Art. 20 GG.101 Anleihen am deutschen Verfassungsrecht nahmen Schweden und Österreich anlässlich ihres Beitritts zur Union im Jahr 1995. Freilich traten hier die Verfassungsgesetzgeber nicht mit demselben Selbstbewusstsein gegenüber Europa auf, so dass das Ergebnis auch durchaus anders ausfiel. Der österreichische Verfassungsgesetzgeber verweist in teils wörtlicher Wiedergabe auf die Integrationsschranken, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil aufgestellt hatte, jedoch nicht im Text des Beitritts-Bundesverfassungsgesetzes, sondern bloß in den Gesetzesmaterialien, woraus geschlossen wird, dass vergleichbare Schranken wie in Deutschland in Österreich nicht bestehen.102 In ähnlicher Weise nimmt Kapitel 10 § 5 der schwedischen Verfassung auf die Äquivalenz des Grundrechtsschutzes als Struktursicherungselement Bezug. Seit einer Verfassungsänderung im Jahre 2002 setzt eine „Übertragung von Beschlusskompetenzen“ auf die EU überdies voraus, dass „die Prinzipien betreffend den Zustand des Staates (principerna för statsskikket) nicht berührt“ werden, wobei unter den angesprochenen Prinzipien spezifische schwedische Rechtstraditionen, etwa Transparenz und Zugang zu Dokumenten, verstanden werden. Im Einzelnen ist die Bedeutung der Wendung indes unklar.103 Auch Griechenland verfügt mit Art. 28 Abs. 3 der Verfassung über eine Art Struktursicherungsklausel. Sie enthält ähnlich dem Art. 79 Abs. 3 GG materielle Voraussetzungen und damit Schranken für Souveränitätsübertragungen, nämlich den elementaren Kern der in Art. 110 Abs. 1 der griechischen Verfassung vorgesehenen Grundsätze. Art. 28 Abs. 3 macht u.a. den Schutz der Menschenrechte und die Wahrung der Grundlagen des demokratischen Systems zur inhaltlichen Bedingung für die Souveränitätsbeschränkung. Dabei wird von der Struktur der EG nicht eine spezifisch nationale Staatsform als Ausprägung der Demokratie, sondern die Sicherung der Grundlagen und Prinzipien einer Demokratie im Allgemeinen, nicht die Bewahrung der Grundrechte, wie die griechische Verfassung sie festschreibt, sondern die Bewahrung der Menschenrechte schlechthin verlangt.104 Art. 11 der italienischen Verfassung gestattet Begrenzungen der Souveränität nur insoweit, als diese nötig sind, um ein System zur Gewährleistung von Frieden und Gerechtigkeit zwischen den Staaten zu errichten.105 Der italienische Verfassungsgerichtshof bejahte im Jahre 1973 die Vereinbarkeit der EG-Verträge mit dieser Zielsetzung, indem er der europäischen Integration den Zweck der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und folglich auch den Zweck der Verteidigung des Friedens und der Freiheit zuerkannte.106 101
102 103 104 105 106
Isensee (Fn. 63), S. 1257 f.; G.-B. Oschatz, Verfassungsrechtliche Grenzen der Weiterentwicklung Europas, in: D. Merten (Hrsg.), Die Stellung der Landesparlamente aus deutscher, österreichischer und spanischer Sicht, 1997, S. 33 (36). T. Öhlinger, EU-Beitritts BVG, in: Korinek/Holoubek (Fn. 89), Rn. 19. Nergelius (Fn. 27), Rn. 34 ff. Antoniou (Fn. 82), S. 207 f; Iliopoulos-Strangas (Fn. 82), Rn. 41 ff. Bieber (Fn. 72), S. 78. Entscheidung Sent. n. 183/73 (Fn. 9), S. 389, 405; Panara (Fn. 8), Rn. 17 f.
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In der französischen Verfassung besteht zwar mit Art. 88 Abs. 1 eine Regelung, die insofern an eine Struktursicherungsklausel erinnert, als im Gefolge der Maastricht I-Entscheidung eine auf den selbständigen Mitgliedstaaten beruhende Gemeinschaftsstruktur festgeschrieben wird. Die inhaltlichen Schranken für die Übertragung von Hoheitsrechten an die Union sind jedoch nach wie vor in der Judikatur des Conseil constitutionnel begründet und umfassen die conditions essentielles d’exercice de la souveraineté nationale und die Wahrung der Grundrechte.107 Ein – auch verfassungsänderungsfester – ‚harter Kern‘ der französischen Rechtsordnung wird nach wie vor überwiegend abgelehnt.108 Auch einzelne der neuen Mitgliedstaaten passten ihre Verfassungsordnungen noch vor dem eigentlichen Beitrittsprozess bereits für eine bevorstehende Mitgliedschaft in der Europäischen Union an.109 Eine Vorreiterrolle nahm die polnische Verfassung ein: Art. 90 der neuen polnischen Verfassung von 1997 ermächtigt zur Übertragung von Hoheitsrechten und wird im polnischen Schrifttum explizit auch als „Europäische Klausel“ bezeichnet.110 Sein Absatz 1 sieht vor, dass auf Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages einer internationalen Organisation oder einem internationalen Organ Kompetenzen der Organe der Staatsgewalt „in einigen Angelegenheiten“ übertragen werden können. Vor dem Hintergrund der Diskussion111 um die Bestimmung steht außer Zweifel, dass sie für den Beitritt zur Europäischen Union konzipiert war, ungeachtet der Beschränkung auf „einige Angelegenheiten“. Dass die Regelung den Charakter einer Struktursicherungsklausel hat, erscheint ebenfalls unbestritten.112 Die Verfassungsentwicklung in der Slowakei folgte diesem Beispiel und ging sogar noch einen Schritt weiter:113 Im Februar 2001 wurden umfangreiche Verfassungsänderungen verabschiedet, zu deren wichtigsten die Änderungen mit Bezug zu einem möglichen EU-Beitritt gehörten. Ähnlich Art. 90 der polnischen Verfassung ermächtigt Art. 7 der slowakischen Verfassung die Republik „durch einen Vertrag oder auf seiner Grundlage einen Teil ihrer Hoheitsrechte auf eine internationale Organisation [zu] übertragen, deren Mitglied sie ist.“ Daran anschließend wird aber weiter gehend die direkte Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts fest107 108 109
110 111 112 113
Mayer (Fn. 5), S. 146 ff.; J. Rideau, France, in: J.-C. Masclet/D. Maus (Hrsg.), Les constitutions nationales à l’épreuve de l’Europe, 1993, S. 67 (118). Gundel (Fn. 38), S. 172 ff. Vgl. M. Hofmann, Die Europa- und Völkerrechtsdimension der geänderten slowakischen Verfassung, in: dies./H. Küpper (Hrsg.), Kontinuität und Neubeginn: Staat und Recht in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2001, S. 398 m.w.N. zu Ungarn und Bulgarien; zu Slowenien vgl. M. Škrk, The European Union Law and the Constitutional Order of Slovenia, in: Hanns Seidel Stiftung/Ùstavny súd Slovensky republiky (Fn. 50), S. 70 (75); zu weiteren Staaten Mittel- und Osteuropas vgl. die Beiträge in: Kellermann u.a. (Fn. 6), S. 267 ff. Vgl. nur Wyrzykowski (Fn. 91), S. 268 ff.; siehe zur wiss. Diskussion auch die Nachweise in Biernat (Fn. 57), Rn. 16. Siehe ders., Constitutional Aspects of Poland’s Future Membership in the European Union, AVR 36 (1998), S. 400; vgl. auch die Nachweise in: ders. (Fn. 57), S. 252. Wyrzykowski (Fn. 91), S. 280. Vgl. Hofmann (Fn. 109), S. 398 (405 f.).
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gelegt. Allgemein formuliert wird angeordnet, dass Rechtsakte einer solchen internationalen Organisation direkt anwendbar sind und Vorrang vor dem Gesetz haben Ähnlich der ‚Europäischen Klausel‘ der polnischen Verfassung lautet die in Art. 2/A der ungarischen Verfassung gewählte Wendung, nach der die Republik Ungarn ‚einzelne‘ ihrer sich aus der Verfassung herleitenden Befugnisse gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten der EU ausüben kann. Als Struktursicherung ist in diesem Fall jedoch weniger die Einschränkung auf einzelne Befugnisse, als vielmehr der Verweis auf die Verfassung anzusehen, der dahingehend verstanden wird, dass die Republik Ungarn die Ausübung der öffentlichen Gewalt nur in der Weise übertragen kann, wie sie auch durch die eigenen Staatsorgane auszuüben ist, insbesondere also unter Berücksichtigung der Grundrechte und des Prinzips der Rechtssicherheit.114 Durch die Formulierung des Art. 2/A verknüpft der ungarische Verfassungsgeber demnach die Übertragung von Hoheitsgewalt an die EU mit der Einhaltung fundamentaler Werte der ungarischen Verfassung, die freilich im Einzelnen noch der Konkretisierung harren. Ein Gebot der Struktursicherung ist auch hinsichtlich der Beschränkung der slowenischen Souveränität gegeben. Nach Art. 3a der slowenischen Verfassung kann die Ausübung von Teilen der souveränen Rechte auf solche internationale Organisationen übertragen werden, die auf der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Demokratie und den Prinzipien des Rechtsstaates fundieren. 3. Föderale und dezentrale Einheiten Mit Blick auf föderale und dezentrale Einheiten der Mitgliedstaaten können unterschiedliche Vorgehensweisen der nationalen Verfassungsgesetzgeber beobachtet werden. Als maßgebliche Faktoren können hier das Gewicht der staatlichen Untergliederungen sowie die föderalistische Kultur eines Mitgliedstaates ausgemacht werden. Verfassungsrechtliche Anpassungsprozesse sind bestimmt von Auseinandersetzungen um die Wahrung der innerstaatlichen Kompetenzverteilung, die durch die wachsende Integration Veränderungen unterliegt. Im Rückblick ist festzustellen, dass auch in dieser Hinsicht der Vertrag von Maastricht einen Einschnitt bildet, aus dessen Anlass maßgebliche Verfassungsentwicklungen auf mitgliedstaatlicher Ebene angestoßen wurden. Dabei sind es, mit der Ausnahme der Gemeinschaften und Regionen Belgiens, vor allem die föderalen Einheiten, welche nach Kompensation für die Verlagerung von Kompetenzen aus ihrem Zuständigkeitsbereich .nach Brüssel‘ trachten. Als Verlierer einer fortschreitenden Vereinigung Europas werden insbesondere die deutschen Länder gesehen und hierbei insbesondere die Landesparlamente, weil durch die Übertragung nationaler Hoheitsrechte auch Gesetzgebungskompetenzen der Länder auf die Europäische Union übergehen. Während innerhalb der Verbandskompetenz des Bundes der Verlust von Kompetenzen mit einer Mitwirkung in Europäischen Organen teilweise ausgeglichen wird, beschränkt sich die europarechtliche Kompensation im Fall der Länder zunächst auf eine Mitwirkungsbefug114
Sonnevend (Fn. 53), Rn. 27.
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nis innerhalb der Mitgliedstaaten. Der innerstaatliche Ausgleich fällt in Deutschland den Landesregierungen und nicht den Landesparlamenten zu,115 womit die Entwicklung der Bundesstaatlichkeit zu einem Exekutivföderalismus durch die europäische Integration indirekt verstärkt wird.116 Hinsichtlich der Beteiligungsrechte föderaler bzw. dezentraler Einheiten bei den europäischen Rechtssetzungsprozessen lassen sich wiederum drei Kategorien von Verfassungsanpassungen unterscheiden.117 Zu einer ersten Kategorie ist Belgien zu zählen. Dort sind die föderalen Einheiten nach der großen Verfassungsreform von 1993 im Rahmen ihrer Kompetenzen zur Vertretung Belgiens im Rat der Europäischen Union befugt. Damit entsteht ein höchst kompliziertes System der Zusammenarbeit des Gesamtstaates mit seinen föderalen Einheiten. In Art. 1 der Verfassung wird festgelegt, dass Belgien ein föderaler Staat ist, der aus Gemeinschaften und Regionen besteht. Hieraus ergibt sich ein kompliziertes Geflecht aus insgesamt sechs Gliedstaaten,118 welche jeweils mit eigenen Exekutiv- und Legislativorganen ausgestattet sind.119 Diesen Gliedstaaten werden umfängliche Beteiligungsrechte sowohl bei der Entstehung von Primärrecht als auch beim Zustandekommen von Sekundärrecht eingeräumt.120 Zwei Kooperationsverträge zwischen dem Föderalstaat, den Gemeinschaften und den Regionen legen Verfahren hinsichtlich der Willensbildung des belgischen Staates im Ministerrat fest.121 115
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In Österreich ist diese Frage den Landesverfassungen überlassen. Die Integrationsvereinbarung der Länder sieht vor, dass das Organ aus den Landeshauptmännern und den Landtagspräsidenten besteht, das Stimmrecht aber allein vom Exekutivorgan Landeshauptmann ausgeübt wird. J. Isensee, Der Bundesstaat – Bestand und Entwicklung, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 719 (751 ff.); R. Halfmann, Entwicklungen des deutschen Staatsorganisationsrechts im Kraftfeld der europäischen Integration, 2000, S. 323; E. Iltgen, Bundesstaatliche Ordnung und Europäische Union aus der Sicht der (neuen) deutschen Landtage, in: Merten (Fn. 101), S. 45 (47); R. Müller-Terpitz, Die Beteiligung des Bundesrates am Willensbildungsprozess der Europäischen Union, 1999, S. 357; K. Pabel, Grundfragen der Kompetenzverteilung im Bereich der Kunst, 2002, S. 201 f. Die in Griechenland Ende der achtziger Jahre gegründeten Regionen (dezentralisierte ausgedehnte Verwaltungseinheiten) stellen keine den deutschen Ländern vergleichbare Einheiten dar, Papadimitriou (Fn. 85), S. 178. Flämische Gemeinschaft, Deutschsprachige Gemeinschaft, Französische Gemeinschaft, Flandern, Wallonien und Brüssel. M.-O. Pahl, Regionen mit Gesetzgebungskompetenzen in der Europäischen Union, 2004, S. 164; siehe G. Roller, Die Mitwirkung der deutschen Länder und der belgischen Regionen an EG-Entscheidungen, AöR 123 (1998), S. 21 (47); siehe auch A. Alen, Belgien: Ein zweigliedriger und zentrifugaler Föderalismus, ZaöRV 50 (1990), S. 501. Ausf. Pahl (Fn. 119), S. 177 ff.; F. Delmartino, Belgien in der Europäischen Union, in: R. Hrbek (Hrsg.), Europapolitik und Bundesstaatsprinzip, 2000, S. 143. Zusammenarbeitsabkommen zwischen dem Föderalstaat, den Gemeinschaften und den Regionen bezüglich der Vertretung des Königreichs Belgien im Ministerrat der Europäischen Union v. 8.03.1994, Belgisches Staatsblatt v. 17.11.1994, S. 28217; sowie Zusammenarbeitsabkommen v. 8.03.1994, unter Einschluss der Gemeinsamen Gemeinschaftskommission der Region Brüssel, Belgisches Staatsblatt v. 17.11.1994, S. 28224.
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In einer zweiten Kategorie von Verfassungen, die am Leitbild des kooperativen Föderalismus ausgerichtet sind, werden den föderalen Einheiten zwar Vertretungsrechte zugebilligt, diese verbleiben jedoch unter dem Vorbehalt der gesamtstaatlichen Interessen. Hierher gehören Deutschland, Österreich mit ihren Bundesländern und, wiederum als Sonderfall, das Vereinigte Königreich nach der devolution. Für Deutschland sieht Art. 23 Abs. 2, 4, 5 und 6 GG die „Mitwirkung“ des Bundesrates vor. Stets ist ein Tätigwerden des Bundes, im Besonderen der Bundesregierung, vorgesehen, an dem der Bundesrat mitwirkt. Sogar im äußersten Fall, dass schwerpunktmäßig ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, kann zwar die Wahrnehmung der mitgliedstaatlichen Rechte der Bundesrepublik auf einen Ländervertreter übertragen werden, die Wahrnehmung der Rechte erfolgt jedoch auch hier „unter Beteiligung und in Abstimmung“ mit der Bundesregierung und unter Verpflichtung auf die „gesamtstaatliche Verantwortung“ des Bundes.122 Ganz ähnlich ist die Mitwirkung der Länder im österreichischen Verfassungsrecht, deren Regelung erkennbar am deutschen Vorbild orientiert war.123 Art. 23d B-VG sieht eine Informationspflicht des Bundes vor (Abs. 1), die Länder haben ein Stellungnahmerecht mit differenzierter Bindungswirkung (Abs. 2) und bei Angelegenheiten aus der Gesetzgebungskompetenz der Länder kann die Mitwirkung im Rat auf einen Ländervertreter übertragen werden (Abs. 3). Die wichtigste Abweichung gegenüber dem deutschen System besteht darin, dass das für die Länder handelnde Organ nicht der Bundesrat,124 sondern eine Integrationskonferenz der Länder (IKL) ist, welche sich aus den Spitzen der Landesregierungen und der Landtage zusammensetzt.125 Gleichzeitig werden die Länder zusätzlich in die Pflicht genommen, um die Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben im Kompetenzbereich der Länder zu sichern.126 Die entsprechenden Mechanismen und Verfahren wurden bereits vor dem Beitritt im Hinblick auf die Mitgliedschaft im EWR auf eine Weise etabliert, die für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union passfähig war. Unverkennbar ist freilich, dass der Bund mit Art. 23d B-VG einen Preis für die erforderliche Zustimmung des Bundesrates zum Beitrittsvertrag bezahlte. Bemerkenswert an der österreichischen Regelung ist, dass auch die kommunale Ebene Eingang 122 123
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Ausf. zur Beteiligung des Bundesrates statt vieler Müller-Terpitz (Fn. 116) passim. Vgl. ausf. zur Stellung der österr. Länder im Rahmen der EU die Beiträge von P. Bußjäger und A. Rosner in: dies., Mitwirken und Mitgestalten – Europa und die österreichischen Länder, 2005; W. Dax, Die Bedeutung der Landesparlamente in Österreich, in: Merten (Fn. 101.), S. 71 (76 ff.). Zu den B-VG-Novellen 1992 und 1994 vgl. H. Schäffer, Information und Entscheidungsabstimmung zwischen Landesparlament und Landesregierung, ebd., S. 105 (117 ff.). Die Stellung des österr. Bundesrats ist in politischer wie rechtlicher Hinsicht erheblich schwächer als die seines dt. Pendants. Die maßgeblichen Rechtsgrundlagen sind Art. 23d B-VG, die Bund-Länder-Vereinbarung nach Art. 15a B-VG, BGBl. 1992/775 und die Zwischenländervereinbarung LGBl. Wien 1992/29. Zu Einzelheiten C. Grabenwarter, Änderungen der österreichischen Bundesverfassung aus Anlaß des Beitritts zur Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), S. 166 (171). Art. 23d Abs. 5 B-VG.
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in die Mitwirkung fand: Städte und Gemeinden sind ebenso wie die Länder informations- und stellungnahmeberechtigt (Art. 23d Abs. 1 B-VG). Weiter wurde durch die devolution Schottlands und Wales im Jahr 1998 auch im Vereinigten Königreich die Frage nach Mitwirkungsbefugnissen dieser dezentralen Einheiten aufgeworfen.127 Hier besteht freilich die Besonderheit, dass die Kompetenzverschiebung hin zu den abgetrennten Landesteilen zum Zeitpunkt der bereits vollzogenen europäischen Integration erfolgte. Es ging daher nicht um die Verteidigung bestehender Kompetenzen auf gliedstaatlicher Ebene, sondern um die Zuweisung oder ,Herabzonung‘ auf zentralstaatlicher Ebene angesiedelter Kompetenzen. Zwischen der Regierung des Vereinigten Königreichs auf der einen und der schottischen (Scottish Ministers) sowie der walisischen Regionalregierung (Cabinet of the National Assembly for Wales) auf der anderen Seite wurde eine rechtlich unverbindliche Vereinbarung getroffen, welche ein Memorandum of Understanding und einzelne supplementary agreements umfasst.128 Danach wurde das Gremium eines Joint Ministerial Committee (JMC) als zentrales Koordinationsgremium gegründet, das aus Vertretern der Exekutive der beteiligten Körperschaften besteht. Gleichwohl soll die Koordination hauptsächlich auf bilateraler Ebene zwischen den jeweils im Einzelfall beteiligten Ministerien ablaufen. Als zusätzliche Regelungen wurden jeweils für Schottland und Wales getrennte sog. Concordats on Co-operation of European Union Policy Issues, sowie weitere Concordats zwischen den einzelnen Ministerien für einzelne Sachmaterien abgeschlossen. Auch diese Concordats on Co-operation of European Union Policy Issues sollen ausdrücklich rechtlich unverbindlich sein („it is intended to be binding in honour only“). Sie statuieren u.a. Informationspflichten, Beteiligungsrechte bei der Entwicklung der britischen Position hinsichtlich verschiedener Politiken, sowie Anwesenheitsrechte bei Ministerrats- und anderen Treffen. Nach diesen Concordats soll die Exekutive Schottlands und Wales’ jeweils vollständig und kontinuierlich im Rahmen der Entwicklung, Verhandlung und Durchführung politischer Positionen, welche die Kompetenzen der Gliedkörperschaften betreffen, beteiligt werden. Dabei soll gesichert bleiben, dass insbesondere vor dem Hintergrund von Verhandlungen unter Zeitdruck die effektive und einheitliche Verhandlungsstrategie nicht beeinträchtigt wird. Wenngleich die Verhandlungsleitung stets bei der Zentralregierung bleibt, ist auch die Möglichkeit vorgesehen, dass Vertreter Schottlands oder Wales’ im Einzelfall die zuvor abgestimmte britische Position im Rat vertreten. Den dritten Weg beschreitet das spanische Verfassungsrecht mit seinen Comunidades Autónomas (autonomen Gemeinschaften, CCAA). Hier wird der Charakter
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Vgl. R. Grote, Regionalautonomie für Schottland und Wales – das Vereinigte Königreich auf dem Weg zu einem föderalen Staat?, ZaöRV 58 (1998), S. 109. Memorandum of Understanding and supplementary agreements between the United Kingdom Government, Scottish Ministers and the Cabinet of the National Assembly for Wales, October 1999, Cm 4444. Hierin werden auch die Mitwirkungsrechte des Northern Ireland Executive Committees geregelt.
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des Einheitsstaates grundsätzlich bewahrt, die dezentralen Einheiten erhalten lediglich beschränkte Beteiligungsrechte. Die mitwirkenden Organe zur Geltendmachung der Interessen der autonomen Gemeinschaften sind die Conferencia para Asuntos Relacionados con las Comunidades Europeas sowie die sachbezogenen Conferencias sectoriales, die, bestehend aus den Ministern des jeweiligen Fachbereichs sowie aus den entsandten Beratern der verschiedenen autonomen Gemeinschaften, am ehesten mit den deutschen Fachministerkonferenzen vergleichbar sind.129 Sie haben – wie die österreichische Integrationskonferenz – keinen Einfluss auf die Gesetzgebung auf gesamtstaatlicher Ebene. Die im Rahmen der Conferencias sectoriales erzielten Einigungen sind keinesfalls bindend, sondern für das Verhalten und die Positionierung der Zentralregierung lediglich „maßgebend“ (determinante). Überdies gehört den Conferencias sectoriales ein Vertreter der Zentralregierung an, der sowohl als einziger über das Recht zur Einberufung der Konferenzen, als auch über ein Vetorecht verfügt. Die im Jahre 1997 neu geschaffene Institution der Conferencia para Asuntos Relacionados con las Comunidades Europeas (CARCE) soll als Diskussionsforum zu mit der europäischen Integration verknüpften allgemeinen bzw. institutionellen Fragestellungen, als Koordinationsinstrument und als adäquater Mechanismus zur Teilhabe der CCAA am gesamtstaatlichen Willensbildungsprozess fungieren. Die im Rahmen der CARCE getroffenen Abkommen regeln beispielsweise die Gewährung staatlicher Beihilfen oder die Mitwirkung der CCAA in Vertragsverletzungsverfahren bzw. sonstigen Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, welche die Zuständigkeiten der autonomen Gemeinschaften berühren. Die CARCE nimmt vor diesem Hintergrund in allgemeinen Integrationsfragen gegenüber den materienspezifischen Conferencias sectoriales aus institutioneller Sicht im Kooperationsmodell eine vorrangige Stellung ein. Angesichts des Mangels an Entscheidungskompetenzen der CARCE werden dennoch in der Praxis die bedeutendsten Angelegenheiten weiterhin im Rahmen der Conferencias sectoriales behandelt. Die beschriebenen Mitwirkungsrechte der CCAA spiegeln deutlich die Charakterisierung des spanischen Staatsgefüges als lediglich politisch dezentralisierter Einheitsstaat wider. Es handelt sich nicht um einen aus Mitgliedstaaten zusammengesetzten Bundesstaat, sondern um einen „komplexen Einheitsstaat“.130 Die Gegenüberstellung Belgiens, Deutschlands, Österreichs, Großbritanniens und Spaniens zeigt sehr deutlich, dass Unterschiede im Ausmaß der Verfassungsänderungen und des Grads der Mitwirkung vor allem vom Gewicht der föderativen Einheiten bestimmt sind. In einem Staat, in dem die föderalen Körperschaften eine so vehemente Fliehkraft besitzen wie in Belgien, konnten die entsprechenden Einheiten die Vertretung teilweise gänzlich übernehmen. Zudem gelingt es dort, wo diese wie in Deutschland und in Österreich die Ratifikation eines auf die Fortent129 130
Dazu und zum Folgenden A. M. Carmona Contreras, Las comunidades autónomas, in: Cruz Villalón (Fn. 22), S. 175 (187 ff.). P. Cruz Villalón, La curiosidad del jurista persa, y otros estudios sobre la Constitución, 2006, S.436 ff.
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wicklung des Unionsrechts gerichteten Vertrages verhindern können, stärker, sich die Zustimmung durch kompensatorische Zugeständnisse ,abkaufen‘ zu lassen.131 Aber selbst im Verhältnis dieser beiden Staaten zueinander zeigt sich ein erheblicher Unterschied, der in der vergleichsweise schwächeren Stellung der österreichischen Länder und im Besonderen des Bundesrates seine Erklärung findet. Sucht man die Gemeinsamkeiten in den Anpassungsverfahren und in ihrem Ergebnis, so werden zwei Verschiebungen deutlich, die miteinander im Zusammenhang stehen. Die erste Verschiebung betrifft ein prägendes Merkmal der Bundesstaatlichkeit, nämlich dass die föderalen Körperschaften innerhalb einer bestimmten Kompetenzordnung Gesetzgebungsbefugnisse ausüben. Die Ausübung dieser Befugnisse erfolgt in dem Maße, in dem in diesem Bereich nunmehr europäische Rechtssetzung stattfindet, im ,gestreckten‘ Verfahren und zwar durch Beteiligung an der Mitwirkung des Bundes in der EU. An die Stelle des Kompetenzföderalismus tritt der Beteiligungsföderalismus:132 Alleinentscheidungsrechte durch Zustimmung oder Einspruch des Bundesrates oder aber überhaupt durch die Ausübung von Gesetzgebungskompetenzen der Länder werden eingetauscht gegen Mitwirkungsrechte. Damit ist die zweite Verschiebung angesprochen, welche die Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und vollziehender Gewalt betrifft.133 Die Ausübung der Mitwirkungsrechte erfolgt durch den Bundesrat oder überhaupt direkt durch Spitzenvertreter der Exekutive der föderalen Einheiten, sei es über vom Bundesrat nominierte Vertreter, sei es über Mitglieder von ,Länderkonferenzen‘, und zwar in Kooperation mit dem Bund, bzw. in Belgien je nach ,Kategorie‘ der Vertreter der föderierten Teilgebiete. Die ,Verlierer‘ sind die Landesparlamente und die vergleichbaren Gesetzgebungsorgane, die aus der Mitwirkung der Länder auf gesamtstaatlicher Ebene an der Rechtsetzung im Rahmen der Union weitgehend ,ausgeblendet‘ sind.134 Was ihnen letztlich bleibt, ist, dass die Landesregierungen und die ihnen vergleichbaren Organe ihnen gegenüber auch für die Europapolitik verant131 132
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Für Deutschland Börzel (Fn. 1), S. 68 ff. Vgl. Müller-Terpitz (Fn. 116), S. 357; D. Reich, Zum Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Kompetenzen der deutschen Bundesländer, EuGRZ 2001, S. 1 (11 ff.); T. Stein, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz, VVDStRL 53 (1994), S. 26 (36 ff.); M. Schweitzer, ebd., S. 48 (62 ff.). Zur fehlenden Symmetrie der Kompetenzübertragung auf die Europäische Union vgl. auch A. Ruiz Robledo, Las instituciones constitucionales españolas, in: Cruz Villalón (Fn. 22), S. 149 (152). A. Rosner, in: Bußjäger/Rosner (Fn. 123), S. 25 m.w.N.; P. Bußjäger, Die Beteiligung nationaler und regionaler Parlamente an der EU-Rechtsetzung – Chance oder Vortäuschung von Partizipation?, in: Gamper/Bußjäger (Hrsg.), Subsidiarität anwenden: Regionen, Staaten, Europäische Union, 2006, S. 33 (41); Pahl (Fn. 119), S. 387 f.; vgl. E. Röper, Landesparlamente und Europäische Union, JöR 49 (2001), S. 251 (274 ff.); A. Lenz/R. Johne, Die Landtage vor der Herausforderung Europa, APuZ B 6/2000, S. 20; H. Schreiner, Rückwirkungen der europäischen Integration auf den österreichischen Bundesstaat und die Stellung der Länder, in: Hrbek (Fn. 120), S. 101 (114).
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wortlich sind, und dass sie Richtlinien gesetzlich umsetzen dürfen.135 Das Mitwirkungsverfahren bewirkt mithin eine weitere Stärkung des Exekutivföderalismus. In einer Gesamtwürdigung zeigt sich, dass die Beteiligungsrechte föderaler Einheiten eine gewisse Kompensation für verloren gegangene Befugnisse zur autonomen Rechtssetzung bilden. Von einem vollen Ausgleich kann indes keine Rede sein.136 Immerhin aber wurden die föderalen Einheiten nach Erosionsprozessen insbesondere in den Siebziger Jahren und in den Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch nationale Verfassungsanpassungen gestärkt. Diese Stärkung wiederum wird gestützt durch die Verfassungsentwicklung der Europäischen Union seit dem Vertrag von Maastricht. Durch den Reformvertrag erfahren die regionalen und lokalen Einheiten eine zweifache Stärkung ihrer Position. Einerseits werden in Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss. die regionale und die lokale Selbstverwaltung als Elemente der nationalen Identität der betreffenden Mitgliedstaaten ausdrücklich anerkannt, andererseits erhält der Ausschuss der Regionen ein eigenes Klagerecht bezüglich behaupteter Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips. 4. Die Stellung der nationalen Parlamente Im Zusammenhang mit demokratischen Verfassungsprinzipien sind vor allem drei Anpassungsfelder festzustellen, nämlich der Einsatz plebiszitärer Elemente, die Mitwirkung nationaler Parlamente an der Rechtssetzung der Gemeinschaft und durch die europäische Rechtsentwicklung induzierte Änderungen im Bereich des Kommunalwahlrechts. An dieser Stelle soll nur der zweite Bereich einer vergleichenden Betrachtung unterzogen werden, das Kommunalwahlrecht wird im Zusammenhang mit den Grundrechten erörtert,137 plebiszitäre Elemente werden im abschließenden Kapitel angesprochen.138 Verfassungsanpassungen sind in einem wesentlichen Umfang auf die Wahrung der demokratischen Legitimation des Rechtssetzungsprozesses in der Europäischen Union gerichtet. Dieser Zusammenhang kommt in aller Deutlichkeit in den Struktursicherungsklauseln der Verfassungen der Mitgliedstaaten zum Ausdruck. Exemplarisch ist auf Art. 23 Abs. 1 GG zu verweisen, der nicht nur die Verpflichtung der Union auf demokratische Grundsätze (unionsgerichtete Struktursicherung), sondern auch das Grundgesetz im Zusammenhang mit dem Unionsrecht über den Verweis auf Art. 79 Abs. 3 GG in qualifizierter Weise an die Wahrung dieser Grundsätze bindet (verfassungsrechtliche Struktursicherung). Die Wechselwirkung zwischen Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht bringt das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck, indem es für die nationalen Parlamente „Aufgaben und Befugnisse 135
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Zum Teil sehen die Landesverfassungen immerhin die Einbindung der Länderparlamente analog zur Lösung für den Bundestag vor, z.B. Art. 34 a Verfassung des Landes BadenWürttemberg. Hierzu und zu weiteren Beispielen: K. Zwicker, Als Bundesstaat in die Europäische Union, 2000, S. 225 ff. So auch König (Fn. 97), S. 415. Unten 5. a). Unten IV. 1.
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von substantiellem Gewicht“ fordert.139 Mitwirkungsrechte nationaler Parlamente im Rechtssetzungsprozess können dabei wesentliche kompensatorische Funktionen erfüllen, solange die demokratische Legitimation auf europäischer Ebene gemessen am nationalen Standard noch defizitär ist.140 Wie reagieren die Verfassungsgeber in den Mitgliedstaaten auf den Kompetenzverlust der nationalen Parlamente? Die nationalen Parlamente nahezu aller Mitgliedstaaten verfügen über Mitwirkungsrechte an der Rechtsetzung im Rahmen der Europäischen Union.141 Entsprechende Regelungen im Verfassungsrang gibt es in Deutschland, in Frankreich, Griechenland, in den Niederlanden, in Dänemark, Schweden, Portugal, Österreich und Finnland sowie in der Tschechischen Republik, Ungarn, der Slowakei und Slowenien. Daneben gibt es Mitwirkungsrechte, die außerhalb des Verfassungsrechts ihre Grundlage haben, etwa jene der Parlamente im Vereinigten Königreich, in Belgien, Dänemark, Irland, Italien, Luxemburg, Spanien sowie in Litauen, Polen, Estland und Lettland.142 Die Motive für entsprechende Verfassungsänderungen haben Ähnlichkeiten mit jenen im Bereich des Föderalismus. Auch hier geht es darum, Einflussverluste der Legislative dadurch zu kompensieren, dass eine Mitwirkung des Parlaments bei der Rechtssetzung auf europäischer Ebene vorgesehen wird. Die Regelungen der Mitgliedstaaten weisen zwar in den Einzelheiten Abweichungen auf,143 zeigen im Grundsätzlichen aber gemeinsame Charakteristika. Das Instrument, dessen sich die Verfassungen zur Wahrung des Einflusses der Parlamente bedienen, besteht im Wesentlichen aus zwei Elementen, den Informationsrechten und den Mitwirkungsrechten in Form von Stellungnahmerechten.144 In einigen Fällen findet auch eine differenzierte Bindung des Vertreters des Mitgliedstaates im Rat an die Stellungnahme des Parlaments im Einzelfall statt. Einzelne Parlamente verfügen daneben auch über eher informelle Beteiligungsmöglichkeiten.145 Die Verfassungen fast aller Mitgliedstaaten sehen Informationsrechte der Parlamente vor, nur in Luxemburg besteht keine entsprechende rechtliche Verpflich-
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BVerfGE 89, 155 (186) – Maastricht. BVerfGE 89, 155 (186) – Maastricht; H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, GG, 2007, Art. 23, Rn. 31; R. Scholz, Europäische Union und nationales Verfassungsrecht, 1994, S. 12 (16 f.). Für eine ausführliche Darstellung siehe C. Grabenwarter, Die Rolle der nationalen Parlamente in den Mitgliedstaaten, in: H. Schäffer/J. Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Staatsmodernisierung in Europa, 2007, S. 85 m.w.N.; ferner die Studie der COSAC, Dritter Halbjahresbericht: Developments in European Union Procedures and Practices relevant to Parliamentary Scrutiny, Mai 2005, S. 10, unter www.cosac.eu/en/documents/biannual (14.10.2008); A. Janukowski, Die nationalen Parlamente und ihre Europa-Gremien, 2005. Diese Rechtsgrundlagen bestehen nicht nur in einfachen Gesetzen, sondern auch allein in den Verfahrensregeln oder Geschäftsordnungen der einzelnen Parlamente bzw. in Einzelfällen sogar in bloßen Entschließungen der Parlamente selbst. COSAC (Fn. 141), S. 3. Z.B. Art. 23 Abs. 3 GG; Art. 161 n port. Verf.; Art. 23 e österr. B-VG. COSAC (Fn. 141), S. 14.
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tung,146 in Großbritannien und in Irland gibt es sie kraft convention.147 Sie gründen sich einerseits auf verfassungs- oder einfachgesetzliche Regelungen, andererseits auf bloße parlamentarische Entschließungen148 oder auch auf Ministerialbeschlüsse.149 Zumeist sind die Regierungen der einzelnen Staaten verpflichtet, ihren Parlamenten die Entwürfe und Vorschläge für europäische Rechtsakte zu übermitteln. Zum Teil sind sie dabei zudem verpflichtet, erläuternde Stellungnahmen oder Mitteilungen zu den Rechtsaktsvorschlägen150 oder ihre geplante Verhandlungsposition151 mitzuteilen. Der Inhalt dieser Erläuterungen umfasst etwa den Zweck des geplanten Rechtsakts und den zeitlichen Plan für das Rechtsetzungsverfahren sowie einen Überblick über die Auswirkungen des geplanten Rechtsakts auf die nationale Rechtsordnung (und insbesondere auch die Frage, ob nationale Gesetze zu dessen Umsetzung erforderlich sein werden) oder auch über mögliche wirtschaftliche, soziale und finanzielle Konsequenzen, die aus dem Rechtsakt folgen könnten.152 Als zweites Element ist den Verfassungen die Mitwirkung des Parlaments im Entscheidungsprozess gemeinsam. Die Mitwirkungsinstrumente sind indessen unterschiedlich stark ausgebildet. Sie reichen von der bloßen Berechtigung des Parlaments zur Bekundung seiner Meinung zu dem geplanten Rechtsetzungsvorhaben in Form einer Stellungnahme, über die Verpflichtung der Regierung, ihre endgültige Verhandlungs- und Abstimmungsposition erst nach einer Stellungnahme des Parlaments oder unter Berücksichtigung dieser Stellungnahme festzulegen, bis zur verbindlichen Vorgabe des Verhaltens und damit der Verhandlungs- und Abstimmungsposition des zuständigen Regierungsmitglieds in Form bindender Stellung146
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Vgl. COSAC (Fn. 141), S. 54; dazu ausf. D. Bossaert, The Luxembourg Chamber of Deputies, in: A. Maurer/W. Wessels (Hrsg.), National Parliaments on their Ways to Europe: Losers or Latecomers?, 2001, S. 301 (306); H.-G. Kamann, Die Mitwirkung der Parlamente der Mitgliedstaaten an der europäischen Gesetzgebung, 1997, S. 148. Eine Unterrichtung des Parlaments erfolgt jedoch auf freiwilliger Basis durch die Regierung, Janukowski (Fn. 141), S. 156. Vgl. Kamann (Fn. 146), S. 124 f., 136. Ebd. Vgl. etwa die Verordnung des Ministerkabinetts Nr. 286 v. 3.06.2003 über das temporäre Verfahren für die Koordination der nationalen Positionen Lettlands. Dies ist etwa in Irland und dem Vereinigten Königreich sowie in Estland, Ungarn und Slowenien vorgesehen; zu Deutschland N. Görlitz, Europäische Verfassung und Artikel 23 GG, ZG 2004, S. 249 (257); M. Schröder, Die Parlamente im europäischen Entscheidungsgefüge, EuR 2002, S. 301 (311). Dies kann das Parlament von den Regierungsvertretern von Dänemark, Finnland und Schweden sowie Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, der Tschechischen Republik, Ungarn und Slowenien verlangen. Vgl. etwa § 152 Abs. 1 des Gesetzes über die Verfahrensordnung im estnischen Parlament (Riigikogu); Art. 3 des ungar. Gesetzes Nr. LIII. von 2004 über die Zusammenarbeit des Parlaments und der Regierung in Angelegenheiten der Europäischen Union; Art. 180 des Statuts des Seimas der Republik von Litauen; Art. 6 des poln. Gesetzes über die Zusammenarbeit des Ministerrats mit dem Sejm und dem Senat in Angelegenheiten betreffend die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union; Art. 9 des slow. Gesetzes über die Zusammenarbeit zwischen der Nationalversammlung und der Regierung in Angelegenheiten der Europäischen Union.
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nahmen oder Mandate durch die nationalen Parlamente. Ausgangspunkt der parlamentarischen Mitwirkungsrechte ist die Möglichkeit der Sichtung und Überprüfung der betreffenden Dokumente, zu denen die Parlamente in der Folge ihre Meinung äußern können. Hier spielt der Zeitfaktor eine ganz wesentliche Rolle. Die Überprüfungs- und Stellungnahmerechte können z.B. an die Vorgabe gekoppelt sein, dass die nationalen Minister im europäischen Rechtsetzungsprozess nicht handeln dürfen, bevor die parlamentarische Behandlung nicht abgeschlossen und eine entsprechende Stellungnahme gebildet und abgegeben worden ist.153 Abgesehen von den Unterschieden in den Einzelheiten ist das Verfahren insgesamt doch von großer Einheitlichkeit geprägt. Die wesentlichen Dokumente müssen regelmäßig kraft verfassungsrechtlicher Verpflichtung übermittelt werden, der Regierungsvertreter gibt sein Votum erst nach Abschluss des innerstaatlichen Beteiligungsverfahrens ab. Wenn das Parlament eine Stellungnahme beschlossen hat, so ist diese regelmäßig nicht bindend.154 Im Ländervergleich weisen die nationalen Parlamente in Dänemark, Österreich, Schweden sowie in der Slowakei, in Estland und Litauen, die im Ergebnis über ein Recht zur bindenden Stellungnahme verfügen, die stärksten Mitwirkungsrechte auf. Das dänische Parlament hat die Befugnis, bindende Mandate für das Verhalten der Regierungsmitglieder im Rat bei der Abstimmung insbesondere über Richtlinien und Verordnungen von größerer Relevanz zu erteilen.155 Auch der österreichische Nationalrat kann eine für die Regierungsvertreter verbindliche Stellungnahme abgeben.156 Eine Abweichung von solchen Stellungnahmen durch das zuständige Regierungsmitglied ist zwar möglich, darf jedoch nur aus „zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen“157 erfolgen. Sofern es sich um ein europäisches Vorhaben handelt, das eine Änderung des geltenden Bundesverfassungsrechts bewirken würde, verfügt der Nationalrat sogar über ein absolutes Zustimmungsrecht. Ist die dänische Rechtslage mit der traditionell starken Stellung des Parlaments ge153 154
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Ein solcher Vorbehalt der parlamentarischen Prüfung ist etwa in der ital. Rechtsordnung vorgesehen. Panara (Fn. 8), Rn. 44 ff.; COSAC (Fn. 141), S. 10. Zur Praxis im Bundestag: K.-D. Schnapauff, Der neue Europaartikel in der staatlichen Praxis, ZG 1997, S. 188 (190 f.); F. Pflüger, Die Beteiligung der Parlamente in der europäischen Verfassungsentwicklung, unter http://www.whi-berlin.de/pflueger.htm (14.10.2008). COSAC (Fn. 141), S. 29; zum Verfahren Janukowski (Fn. 141), S. 107 ff.; dem bindenden Mandat des dän. Folketing bzw. seines Europa-Ausschusses kommt eine große politische Bedeutung zu, vgl. J. Dieringer, Entparlamentarisierung oder Renaissance der Volksvertretungen?, in: K. Beckmann u.a. (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2005, S. 235 (248 f.); Janukowski (Fn. 141), S. 110; Kamann (Fn. 146), S. 55; J. Albaek Jensen, Prior Parliamentary Consent to Danish EU Policies, in: E. Smith (Hrsg.), National Parliaments as Cornerstones of European Integration, 1996, S. 40. Ausf. zu den Mitwirkungsbefugnissen des österr. Parlaments H. Schäffer, Österreichs Beteiligung an der Willensbildung in der Europäischen Union, insbesondere an der europäischen Rechtsetzung, ZÖR 1996, S. 42; C. Grabenwarter, Änderungen der österreichischen Bundesverfassung aus Anlass des Beitritts zur Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), S. 166; S. Griller, Verfassungsfragen der österreichischen EU-Mitgliedschaft, ZfRV 1995, S. 89 (102 ff.). Art. 23e Abs. 2 B-VG.
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rade mit Blick auch auf auswärtige Angelegenheiten erklärbar,158 so war die Entstehung der österreichischen Regelung, die im Übrigen das dänische Modell als Vorbild hatte, auch Konsequenz einer kurzfristigen Machtverschiebung im Nationalrat. In Schweden erlässt das Parlament bzw. der zuständige Ausschuss Mandate für das Abstimmungsverhalten der Regierungsmitglieder im Rat, die zwar nicht formal bindend ausgestaltet, wohl aber in hohem Maße politisch bindend sind und in der Praxis auch regelmäßig befolgt werden.159 In der Slowakei verfügt das Parlament über die Befugnis, die Verhandlungspositionen der slowakischen Regierung zu überprüfen. Die slowakische Regierung darf nur solche Positionen vertreten, die vom Parlament auch genehmigt wurden. Der Zustimmungsvorbehalt wirkt insofern letztlich wie ein bindendes Mandat gegenüber der Regierung.160 Die estnische Regierung ist ausdrücklich dazu verpflichtet, sich an Stellungnahmen ihres nationalen Parlaments zu halten und sich zum ehest möglichen Zeitpunkt zu rechtfertigen, wenn sie im Einzelfall von der Parlamentsmeinung abweicht.161 Als Mittelstufe parlamentarischer Stellungnahmerechte existieren in einer Reihe von Staaten Mitwirkungsgebote, welche die Regierungsvertreter dazu anhalten, die Stellungnahmen der Parlamente bei der Festlegung ihrer Verhandlungsposition zu berücksichtigen, sich daran zu orientieren bzw. darauf Bedacht zu nehmen. Wie komplex und vielfältig das Ausmaß der Berücksichtigungspflicht ist, lässt sich am Beispiel Deutschlands zeigen. Art. 23 Abs. 3 GG ordnet an, dass die deutsche Regierung die Stellungnahmen des Bundestages zu den ihm übermittelten Rechtsaktsvorschlägen „berücksichtigt“. In der Ausführungsregelung des § 5 S. 3 EUZBBG162 heißt es, dass die Bundesregierung die Stellungnahme ihren Verhandlungen „zugrundelegt“. Mit dieser Formulierung wird das Berücksichtigungsgebot dahingehend präzisiert, dass sich die Bundesregierung am Beginn des Willensbildungsprozesses an den Vorgaben und Hinweisen des Bundestages (mit)orientieren soll.163 Die – in Form eines schlichten Parlamentsbeschlusses ergehende – Stellungnahme des Bundestages ist somit nicht rechtlich verbindlich. Sie stellt lediglich eine parlamentarische Vorgabe dar, von der die Bundesregierung abgehen kann, sofern sie dies aus integrationspolitischen Gründen für notwendig erachtet.164 Dem Bundestag
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Vgl. Kamann (Fn. 146), S. 55; J. Albaek Jensen, Prior Parliamentary Consent to Danish EU Policies, in: E. Smith (Hrsg.), National Parliaments as Cornerstones of European Integration, 1996, S. 40. S. Janukowski (Fn. 141), S. 114; Nergelius (Fn. 27), Rn. 37. Vgl. COSAC (Fn. 141), S. 65; vgl. auch die entsprechende Befugnis der niederländischen Parlamentskammern, wenn es auf europäischer Ebene um Angelegenheiten aus dem Politikbereich Justiz und Inneres geht, ebd., S. 59. S. § 1524 Abs. 3 der Verfahrensordnung des estn. Parlaments (Riigikogu). Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union v. 12.12.1993, BGBl. 1993 I, S. 311. So das Verständnis des Bundestags-Sonderausschusses „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)“; vgl R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz (Stand: Dezember 2007), Art. 23, Rn. 116. Kamann (Fn. 146), S. 79 ff.
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verbleibt bloß die Möglichkeit, gem. Art. 43 Abs. 1 GG vom zuständigen Regierungsmitglied Rechenschaft über sein Abstimmungsverhalten und die Nichtberücksichtigung der Stellungnahme zu verlangen.165 Rechtliche Verbindlichkeit könnte allenfalls durch ein „Mandatsgesetz“ herbeigeführt werden.166 Mitwirkungsbefugnisse der Parlamente in Finnland,167 Irland sowie Malta, der Tschechischen Republik und in bestimmten Fällen auch in Ungarn, Polen und Slowenien werden in Form von Stellungnahmerechten gewährt, die mit denjenigen des deutschen Bundestages vergleichbar sind. Zum Teil wird das Berücksichtigungsgebot dabei mit bestimmten Pflichten in Bezug auf seine Nichteinhaltung kombiniert, so dass eine praktisch stärkere Bindungswirkung entsteht. So ist die ungarische Regierung zwar ausdrücklich nur dazu verpflichtet, den Standpunkt des Parlaments als Basis bei der Erarbeitung ihrer Verhandlungsposition heranzuziehen. Sofern der europäische Rechtsaktsvorschlag allerdings einen Gegenstand betrifft, zu dessen Regelung verfassungsrechtlich eine qualifizierte Mehrheit im Parlament vorgesehen ist, darf die Regierung von der Stellungnahme des Parlaments nur „in gerechtfertigten Fällen“ abweichen.168 Ebenso ist für die polnische Regierung vorgesehen, dass die Stellungnahmen des Sejm zu den übermittelten europäischen Rechtsaktsvorschlägen die Basis für ihre Verhandlungsposition im Rat darstellen sollen. Zugleich ist jedoch festgelegt, dass die Regierung von der Stellungnahme auch abweichen kann, wobei ein Vertreter der Regierung aber verpflichtet wird, dem Sejm die Gründe für die Abweichung mitzuteilen.169 Die slowenische Regierung muss die Stellungnahmen des Parlaments grundsätzlich ebenfalls nur „berücksichtigen“. Allerdings ist sie dazu verpflichtet, das Parlament sofort über ein Abweichen von seiner Stellungnahme zu informieren und die Umstände darzulegen, die dazu geführt haben.170 Durch diese Verpflichtungen der Regierung zur Rechtfertigung ihres Abweichens von den an sich nicht bindenden Stellungnahmen der Parlamente, scheinen sich die parlamentarischen Stellungnahmen wenn auch nicht rechtlich, so doch zumindest politisch bindenden Vorgaben anzunähern. Auch die „Gutachten“ zu europäischen Rechtsaktsvorschlägen, die das finnische Parlament erstellen kann, sind in diesem Sinne politisch bindend, da die Staatsregierung das Parlament über ihr Handeln in den betreffenden Angelegenheiten unterrichten muss,171 wobei das finnische Parla-
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C. D. Classen, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck, GG Kommentar, Bd. 2, 2005, Art. 23 Rn. 95. Scholz (Fn. 163), Rn. 118; Classen (Fn. 165), Rn. 105, spricht von „grundsätzlicher Verbindlichkeit“; schwächer O. Rojahn, in: I. v. Münch/P. Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2001, Art. 23, Rn. 71. Siehe insbes. Art. 96, 97 finn. Verf. S. Art. 4 Abs. 4 und Abs. 5 des ungar. Gesetzes Nr. LIII. von 2004 über die Zusammenarbeit des Parlaments und der Regierung in Angelegenheiten der Europäischen Union. Art. 10 des poln. Gesetzes über die Zusammenarbeit des Rats mit dem Sejm und dem Senat in Angelegenheiten betreffend die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union. Art. 3 a slow. Verf. und Art. 10 des slow. Gesetzes über die Zusammenarbeit zwischen der Nationalversammlung und der Regierung in Angelegenheiten der Europäischen Union. § 96 finn. Verf.
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ment regelmäßig sicherstellt, dass seine Stellungnahmen bei der Vorbereitung der nationalen Positionen auch berücksichtigt worden sind.172 Das Parlament des Vereinigten Königreichs stellt einen Sonderfall dar, da seine Möglichkeiten in erster Linie auf die Durchführung von Debatten über europapolitische Themen beschränkt sind. Durch das scrutiny reserve system und die große Bedeutung, die diesen Debatten in der politischen Realität in Großbritannien als Instrument zur Einwirkung auf die Regierung zukommt, verfügt es aber dennoch über einen Umfang an Mitwirkungsbefugnis, der zumindest der Befugnis zur Abgabe von „zu berücksichtigenden“ Stellungnahmen nahekommt.173 Am anderen Ende der Skala finden sich die Parlamente wieder, an deren Stellungnahmen keine Rechtsfolgen geknüpft sind und die folglich für die Regierungsvertreter im Rat keine Bindungswirkung entfalten. Dies ist etwa bei den Parlamenten von Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden,174 Portugal, Spanien, Bulgarien und Lettland175 der Fall. Deren Mitwirkungsrechte erschöpfen sich in diesem Sinne weitgehend in der Abgabe einer Stellungnahme zu den übermittelten europäischen Dokumenten.176 So wurde etwa in Frankreich die Mitwirkungsmöglichkeit des Parlaments in der heutigen Form erst im Verfahren vor dem Conseil constitutionnel erreicht. Dieser befand eine Verfassungsänderung für nötig, um dem Parlament eine, wenn auch nur mittelbare, Einflussmöglichkeit auf die Haltung der französischen Regierung im Rat zu eröffnen.177 Nach Art. 88-4 der Verfassung, der über die Umsetzung der Vorgaben aus der Maastricht I-Entscheidung nicht hinausgeht, legt die Regierung der Nationalversammlung und dem Senat jene Entwürfe oder Vorschläge von Rechtsakten der EG und der Europäischen Union vor, die gesetzliche Bestimmungen enthalten. Zu diesen Entwürfen und Vorschlägen sowie zu weiteren Dokumenten können die beiden Kammern (bloß) Entschließungen verabschieden.178 Auch die Mitwirkung des griechischen Parlaments ist nur schwach ausgebildet. Zunächst sah Art. 3 des Ratifikationsgesetzes überhaupt nur vor, dass die Regierung dem Parlament vor Ende seiner jährlichen Sitzungsperiode einen Bericht über die Entwicklung der europäischen Angelegenheiten vorzulegen hatte.179 Seit 1990 172 173 174
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COSAC (Fn. 141), S. 33; vgl. ausf. Janukowski (Fn. 141), S. 116 ff. Vgl. ausf. Janukowski (Fn. 141), S. 133 ff., sowie insbes. S. 139. Beide Kammern des niederl. Parlaments verfügen jedoch über eine spezifische Mitwirkungsbefugnis in Bezug auf Angelegenheiten aus dem Politikbereich Justiz und Inneres auf europäischer Ebene. Die Regierung darf entsprechenden europäischen Rechtsakten nicht zustimmen, bevor die Parlamentskammern nicht ihr Einverständnis abgegeben haben, COSAC (Fn. 141), S. 59. Verfassungsgesetz über die Mitgliedschaft der Republik Litauen in der Europäischen Union v. 13.07.2004, Nr. IX-2343, und Art. 185 der Verfahrensordnung des lett. Parlaments (Seimas). Vgl. COSAC (Fn. 141), S. 10 f. Z.B. Gundel (Fn. 38), S. 479. Näher Kamann (Fn. 146), S. 102 ff.; P. Weber-Panariello, Nationale Parlamente in der Europäischen Union, 1995, S. 162 ff. Evrigenis (Fn. 48), S. 168; Bernasconi/Spirou (Fn. 48), S. 186.
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existiert eine aus 25 Mitgliedern bestehende Kommission für europäische Gemeinschaftsangelegenheiten. Der Europakommission stehen ausschließlich konsultative Kompetenzen zu. Sie verfolgt die laufenden Gemeinschaftsangelegenheiten und die allgemeine Europapolitik und verfasst einen Bericht, in welchem sie auch Empfehlungen erlassen kann,180 eine regelmäßige Vorausinformation durch die Regierung erfolgt jedoch nicht. Ebenso wenig besteht eine Bindung der Regierung an die Empfehlungen, und auch der praktische Einfluss ist äußerst gering.181 Die bulgarische Verfassung sieht lediglich vor, dass der Ministerrat die Nationalversammlung über Entwürfe und Verabschiedungen unionsrechtlicher Instrumente im Voraus zu informieren und ihr eine detaillierte Begründung für ihre Handlungen mitzuteilen hat (Art. 105 Abs. 4). Schon diese Formulierung indiziert, dass der Ministerrat handeln darf, ohne an etwaige Stellungnahmen der Nationalversammlung gebunden zu sein. Auf Verfassungsebene ist die Möglichkeit spezifisch unionsrechtlicher Stellungnahmen der Nationalversammlung auch gar nicht vorgesehen, sondern allenfalls aus der allgemeinen parlamentarischen Kontrolle gegenüber dem Ministerrat ableitbar. Auf verfahrensrechtlicher Ebene sind in zweierlei Hinsicht Anpassungen gegenüber dem üblichen parlamentarischen Rechtssetzungsverfahren festzustellen. Für die Behandlung von Vorhaben im Rahmen des Mitwirkungsverfahrens sind vielfach eigene, i.d.R. auf europäische Angelegenheiten spezialisierte Ausschüsse zuständig, um durch die geringere Größe, Spezialisierung und damit einhergehenden erhöhten Sachverstand eine effektive Mitwirkung zu ermöglichen. Die zweite Anpassung steht damit im Zusammenhang: Um mit dem Rechtssetzungsprozess auf europäischer Ebene kompatibel zu sein, bedarf es abgekürzter Fristen für die Behandlung von Vorhaben im Parlament. Zum Teil sehen die Verfassungen oder die ausführenden Gesetze präzise Fristen vor, nach deren Verstreichen das Regierungsmitglied auch ohne parlamentarische Stellungnahme handeln kann. Die Rechtsvorschriften anderer Staaten begnügen sich mit unbestimmteren Vorgaben wie „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“182 oder „unverzüglich“.183 Ungeachtet teils (auf dem Papier) weitreichender Kompetenzen der Parlamente ist die Mitwirkung im Rechtssetzungsverfahren der Europäischen Union kein vollwertiger Ersatz für den Verlust von Gesetzgebungskompetenzen. Am Beispiel Deutschlands kann gezeigt werden, dass durch Bestimmungen wie Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zunächst nur die Regierung institutionell und funktionell zur Teilhabe an der supranationalen Rechtssetzung legitimiert wird. Dies stellt im Hinblick auf die grundgesetzliche Funktionenordnung eine Funktionsverschiebung dar. Die Kon180 181
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Ebd., S. 186 f.; Papadimitriou (Fn. 85), S. 168; P. Zervakis/N. Yannis, The Parliament of Greece, in: Maurer/Wessels (Fn. 146), S. 147 (160). Kamann (Fn. 146), S. 118. In Griechenland ist das zuständige Regierungsmitglied allerdings gem. Art. 41b Abs. 3 der GO des griech. Parlaments dazu verpflichtet, sich in Bezug auf die Befolgung der parlamentarischen Stellungnahme zu erklären, wenn Angelegenheiten der Gesetzgebung betroffen sind. § 3 AusfG zu Art. 23 Abs. 2 GG, ferner § 5. Art. 23d Abs. 1 des österr. B-VG.
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trolle des Parlaments gegenüber der Regierung tritt an die Stelle eigenständiger Gesetzgebung.184 Hinzu kommt, dass die Praxis in jenen Staaten, die weiter reichende Kompetenzen des Parlaments kennen, nicht in so starkem Maße von der anderer Staaten abweicht, als dies die Verfassungstexte vermuten ließen.185 So sind etwa ernsthafte Widerstände oder Einschränkungen des Spielraums der Regierung, zu schweigen von echten Konflikten, in 14 Jahren der Mitgliedschaft Österreichs nicht aufgetreten.186 In Dänemark wirkt der Umstand Konflikt vermeidend, dass die Mandate des Marktausschusses des Folketing seit einem Konfliktfall zunehmend weit gefasst werden, damit dem Regierungsvertreter ein gewisser Verhandlungsspielraum verbleibt.187 Und selbst wenn die Parlamente der Mitgliedstaaten von bindenden Stellungnahmerechten Gebrauch machen, ist deren Effektivität letztlich von den vorgesehenen Abstimmungsquoren, mithin der Frage, ob für eine Ratsentscheidung ein einstimmiges Votum erforderlich ist oder ein (qualifiziertes) Mehrheitsvotum ausreicht, abhängig.188 Zum geringeren praktischen Einfluss der Parlamente mag auch die Einsicht beitragen, dass Verstöße gegen die nationalverfassungsrechtliche Bindung die Gültigkeit des Rechtsakts auf der Ebene der Union nicht berühren. Der Reformvertrag nimmt in zahlreichen Bestimmungen ausdrücklich auf die nationalen Parlamente Bezug, insbesondere werden sie in Art. 12 EUV-Liss. zu einem aktiven Beitrag an der Arbeitweise der Union bestimmt.189 Die wesentlichste Neuerung stellt wohl die ausdrückliche Einbeziehung der nationalen Parlamente in die Überwachung und Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips (sog. Frühwarnsystem) dar. Damit werden sie als die „Hüter des Subsidiaritätsprinzips“190 direkt in den europäischen Gesetzgebungsprozess einbezogen.191 Sie erhalten Kontrolle über einen spezifischen Teil europäischer Rechtssetzung.192 Das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union bezieht sich in seiner Präambel auf die Kontrolle der Regierungen durch die nationalen Parlamente hinsichtlich der Tätigkeiten der Europäischen Union und bringt den Wunsch zum Ausdruck, eine stärkere Beteiligung der nationalen Parlamente an den Tätigkeiten der Europäischen Union zu fördern. Zur Erreichung dieses Zieles enthält das Protokoll eine Anzahl an Informationspflichten seitens der europäischen Institutionen gegenüber den nationalen Parlamenten (Titel 1). Darü184 185 186 187 188 189 190 191
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M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 485 f. Vgl. auch die Einschätzung von Janukowski (Fn. 141), S. 178 ff. Dieringer (Fn. 155), S. 247; ähnlich die erste Zwischenbilanz von Schäffer (Fn. 156), S. 60 ff. Weber-Panariello (Fn. 178), S. 308. Vgl. R. Bieber, Demokratische Legitimation in Europa, ZEuS 1999, S. 141 (149); Dieringer (Fn. 155), S. 240. Dazu kritisch Mayer (Fn. 69). U. Mager, Die Prozeduralisierung des Subsidiaritätsprinzips im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, ZEuS 2003, S. 471 (478). Zur Begründung der Einbeziehung der nationalen Parlamente M. Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, S. 8 (12). Ein erster Verweis auf dieses Kontrollrecht befindet sich in Art. 5 Abs. 3 EUV-Liss.
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ber hinaus enthält Titel 2 des Protokolls Regeln über die Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten. Diese Beispiele führen die zunehmende Wechselbeziehung zwischen den nationalen und den europäischen Organen und damit einhergehend die stärkere Verklammerung von nationalem Verfassungsrecht und dem Recht der Union im Bereich der staatlichen Organisation vor Augen. 5. Grundrechte Dass auch und gerade die Grundrechte den Einwirkungen aus dem Gemeinschaftsrecht unterworfen waren und sind, zeigt nichts deutlicher als die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den eigenen Prüfungskompetenzen im Bereich des Grundrechtsschutzes. Der Beitritt Frankreichs zur EMRK, die gemeinsame Erklärung von Rat, Kommission und Parlament aus dem Jahr 1977, die sich stetig verdichtende Grundrechtsjudikatur des EuGH mit zunehmenden Bezugnahmen auf die EMRK, grundrechtsbezogene Änderungen des primären Gemeinschaftsrechts und schließlich die Proklamation der Grundrechtecharta sind die wichtigsten Marksteine. Von dieser Entwicklung blieben die nationalen Verfassungen nicht unberührt. Im Gegensatz zu den bisher geschilderten Bereichen schlugen sich Änderungen in diesem Bereich – mit Ausnahme des Kommunalwahlrechts – weniger im Wortlaut der Verfassungstexte als vielmehr in Änderungen der Rechtsprechung der Verfassungs- und Höchstgerichte nieder. Mit Blick auf die vom Recht der Union ausgehenden Wirkmechanismen können fünf verschiedene Arten von Änderungen unterschieden werden, die es im Folgenden zu erläutern gilt (a–e). a) Die vom Gemeinschaftsrecht geforderte Ausweitung des Gewährleistungsumfangs einer nationalen grundrechtlichen Garantie: Das Beispiel des Kommunalwahlrechts Die Einordnung des Wahlrechts auf kommunaler Ebene unter die Grundrechte mag zunächst fernliegend erscheinen. Die Tatsache aber, dass hierfür in Deutschland im Wesentlichen dieselben Grundsätze wie für das Wahlrecht auf Bundes- und Landesebene gelten, und die entsprechende Einstufung in den Verfassungen anderer Mitgliedstaaten relativieren eine Unterscheidung.193 Auch die Grundrechtecharta reiht das Kommunalwahlrecht in Art. 38 in die Bürgerrechte ihres 5. Kapitels ein. Die zunächst in Art. 8 b Abs. 1 EG, später in Art. 19 Abs. 1 EG verankerte Garantie des Wahlrechts für EU-Ausländer auf kommunaler Ebene und ihre detaillierte Ausformung in der Richtlinie 80/94 erforderten in einer Reihe von Staaten Anpassungen, weil die Mitwirkung von Ausländern an Wahlen aus grundsätzlichen demokratierechtlichen Gründen nicht zulässig war. In vielen Fällen waren die Verfassungsgerichte im Vorfeld von Rechtsänderungen auf Ebene der Europäischen Union mit der Frage befasst, um die Anpassungserfordernisse zu klären, nicht zu193
Vgl. etwa Art. 14 finn. Verf.; Art. 15 Abs. 4 port. Verf.
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letzt auch mit Blick auf die Frage der Souveränität des Staates. Die Entwicklungen in Deutschland, Frankreich und Spanien zeigen exemplarisch die unterschiedlichen Anpassungsstrategien. In Deutschland nahm das Bundesverfassungsgericht die Klärung der verfassungsrechtlichen Anpassungserfordernisse aus Anlass zweier Urteile zum Ausländerwahlrecht auf kommunaler Ebene in Schleswig-Holstein und Hamburg zu einem Zeitpunkt vor, als die Kommunalwahlrichtlinie bereits ihre Schatten vorauswarf.194 Das Gericht entschied, dass die Zugehörigkeit zum Staatsvolk durch die Staatsangehörigkeit vermittelt werde;195 das Wahlrecht auf Bundes- und Landesebene steht daher nur deutschen Staatsangehörigen zu und ein Ausländerwahlrecht ist – auch auf kommunaler Ebene – insofern verfassungswidrig.196 Gleichzeitig führte das Gericht in einem obiter dictum aus, dass die damals diskutierte Einführung eines kommunalen Wahlrechts für EU-Ausländer Gegenstand einer nach Art. 79 Abs. 3 GG zulässigen Verfassungsänderung sein könne.197 Wegen der eindeutigen Aussage der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hinsichtlich des Kommunalwahlrechts für Ausländer wurde Art. 28 Abs. 1 GG zur Umsetzung des Maastrichter Vertrages geändert.198 Nach Satz 3 des neugefassten Artikels sind nun auch Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union nach Maßgabe des europäischen Rechts bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden wahlberechtigt und wählbar. Damit öffnet sich das Grundgesetz einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung und näheren Ausgestaltung des kommunalen Wahlrechts für EU-Bürger (Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG als „Öffnungsklausel“199). In Frankreich war die verfassungsrechtliche Situation vor der Einführung des kommunalen Wahlrechts für EU-Bürger ähnlich. Der Conseil constitutionnel stützte in der Maastricht I-Entscheidung die Verfassungswidrigkeit der Teilnahme von EU-Bürgern an Kommunalwahlen darauf, dass durch die Wahl der Senatoren durch die Gemeinderäte eine mittelbare Beteiligung nicht-französischer Unionsbürger an den Wahlen zum landesweiten Senat die Folge wäre.200 Daraus lässt sich schließen, dass der Conseil constitutionnel regionale und landesweite Wahlen unterschiedlich beurteilt.201 Für die nach Abschluss des Maastrichter Vertrages erforderliche Einführung des kommunalen Wahlrechts für EU-Bürger musste daher auch in Frankreich die Verfassung geändert werden.202 Diese Änderung ist inhaltlich deshalb 194
195 196 197 198 199 200 201 202
BVerfGE 83, 37 (60 ff.); vgl. dazu etwa K. Sieveking, Die Umsetzung der Richtlinie des Rates zum Kommunalwahlrecht der Unionsbürger in den deutschen Ländern, DÖV 1993, S. 449. Ebd., 51. Ebd., 51 ff. und Ls. 3. Ebd., 59. Änderungsgesetz v. 27.10.1994, BGBl. I, S. 3146. R. Scholz, in: T. Maunz/G. Dürig/R. Herzog/R. Scholz (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar (Stand: 2001), Art. 28, Rn. 41 b. CC, Décision n° 92-308 DC (Fn. 40), S. 190. Walter (Fn. 42), S. 186. CC, Décision n° 92-308 DC (Fn. 40), S. 192.
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bemerkenswert, weil Art. 88-3 der Verfassung neben dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit nur eine Ermächtigung an den Gesetzgeber enthält, das Wahlrecht EUAusländern mit Wohnsitz in Frankreich bei Gemeindewahlen zu gewähren.203 Der Conseil constitutionnel hat diesem scheinbar eröffneten Spielraum des Gesetzgebers in der Maastricht II-Entscheidung schnell die Schranken gewiesen, indem er den Organgesetzgeber ermahnte, bei Erlass des Gesetzes die Vorgaben der Richtlinie einzuhalten.204 In Spanien ging die Umsetzung mit geringeren Konflikten vor sich, und man ging letztlich auch in der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung wesentlich weiter. Zunächst musste ohnehin nur noch der halbe Weg der Anpassung gegangen werden, gab es doch zum Zeitpunkt der Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben bereits das aktive Wahlrecht für Ausländer unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit. Das Verfassungsgericht sah im Übrigen in der Einführung eines Kommunalwahlrechts für EU-Bürger keinen Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 der spanischen Verfassung, der den Bürgern das Recht auf politische Beteiligung garantiert. Zwar ist diese Garantie grundsätzlich auf spanische Staatsangehörige beschränkt, doch kann sie auf Grundlage der Generalklausel des Art. 13 Abs. 1 der Verfassung auch auf Ausländer ausgedehnt werden. Dafür musste allerdings Art. 13 Abs. 2 der Verfassung geändert werden, der zunächst nur eine Verleihung des aktiven Wahlrechts an Ausländer vorsah. Der neue Artikel sieht nun auch das passive Wahlrecht für Ausländer vor, und zwar – wie die bisherige Regelung – ohne Beschränkung auf Unionsbürger. Hinsichtlich der Frage, ob die Beteiligung von Ausländern an Kommunalwahlen einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 2 der Verfassung bildet, der das spanische Volk zum alleinigen Träger der Souveränität erklärt, stellte das Verfassungsgericht fest, dass die Gemeinden nicht Kompetenzen wahrnehmen, die in Zusammenhang mit der Ausübung der spanischen Souveränität stehen.205 b) Verstärkter Grundrechtsschutz im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts: Das Beispiel der Gleichheit von Mann und Frau Das Gemeinschaftsrecht kennt bekanntlich verschiedene besondere Gleichbehandlungsgrundsätze, die teilweise auf primärrechtlicher, teilweise auf sekundärrechtlicher Ebene angesiedelt sind. Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Bereich von Ausbildung, Einstellung, Beschäftigungsbedingungen und Entgelt gewährleisten Art. 141 EG sowie die Gleichbehandlungsrichtlinie.206 Art. 12 EG enthält für grenzüberschreitende Sachverhalte ein Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit, das in Einzelheiten in den Grundfreiheiten des Binnenmarktes nähere Ausgestaltung findet. Weitere Diskriminierungsverbote finden sich im Zusam203
204 205 206
Ungeachtet dessen werden Ausländer bereits auf Verfassungsebene vom Amt des Bürgermeisters und eines Beigeordneten sowie von der Nominierung der Wahlmänner zum Senat und von der Senatorenwahl selbst ausgeschlossen. CC, Décision n° 92-308 DC (Fn. 40), S. 187. Vgl. López Castillo/Polakiewicz (Fn. 21), S. 282; Muñoz Machado (Fn. 2), S. 32 ff. Richtlinie 76/207/EWG, ABl. 1976 Nr. 39, S. 40.
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menhang mit den Grundfreiheiten des Binnenmarkts.207 Die auf verschiedenen Ebenen angesiedelten Diskriminierungsverbote und Gleichbehandlungsgebote haben in unterschiedlicher Weise Einfluss auf das nationale Verfassungsrecht genommen und ergänzen einander. Das Gemeinschaftsrecht übt vor allem im Bereich der Gleichberechtigung von Mann und Frau wesentliche Einflüsse auf das nationale (Verfassungs-)Recht aus.208 Ohne dass es eines grenzüberschreitenden Sachverhalts bedarf, müssen Frauen und Männer gem. Art. 141 EG und der Gleichbehandlungsrichtlinie im Bereich von Ausbildung, Einstellungen, Beschäftigungsbedingungen und Entgelt gleichbehandelt werden – von der Ausbildung für Steuerberater bis zur Aufnahme in die Armee.209 Damit ist häufig eine Veränderung des innerstaatlichen Grundrechtsbestands, jedenfalls aber eine Ergänzung verbunden. Besonders deutlich waren diese Einflüsse in Deutschland und Irland. Am Beispiel Deutschlands lassen sich die Auswirkungen im Schutzumfang nach Art. 3 Abs. 2 GG in zwei Fällen deutlich nachweisen. Erstens erfassen Art. 141 EG und die Gleichbehandlungsrichtlinie das gesamte Arbeitsleben und binden damit – zunächst anders als Art. 3 Abs. 2 GG – nicht nur den Staat. Erst in der Entscheidung zum Nachtarbeitsverbot übertrug das Bundesverfassungsgericht mit der Figur der Schutzpflicht diese Schutzrichtung in die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 GG.210 Zweitens hat die Berücksichtigung faktischer Diskriminierung durch den EuGH Einfluss auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 Abs. 2 GG gehabt. Wurden zunächst nur Regeln, die an das Geschlecht anknüpften, als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG angesehen,211 legt das Bundesverfassungsgericht den Artikel nunmehr dahingehend aus, dass er die Herstellung tatsächlicher Gleichheit der Geschlechter verlangt.212 In einer weiteren Entscheidung hält das Bundesverfassungsgericht nach der Änderung von Art. 3 GG im Jahr 1994 sogar eine ausgleichende Ungleichbehandlung zur Herstellung faktischer Gleichheit für verfassungsrechtlich möglich,213 während der EuGH weiterhin das Gleichbehandlungsgebot im Sinne strikter Gleichheit auslegt.214 Für das deutsche Verfassungsrecht zeitigte das gemeinschaftsrechtliche Gleichbehandlungsregime aber noch weiter gehende Folgen. Bis zum Jahr 2000 war 207 208 209 210
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M. Holoubek, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 12 EG, Rn. 7 ff. Vgl. dazu J. Kokott, Zur Gleichstellung von Mann und Frau, NJW 1995, S. 1049. Siehe EuGH, Rs. C-1/95, Gerster, Slg. 1997, I-5253; Rs. C-273/97, Sirdar, Slg. 1999, I-7403; Rs. C-285/98, Kreil, Slg. 2000, I-69. BVerfGE 85, 191 (207); vgl. dazu C. D. Classen, Wechselwirkungen zwischen deutschem und europäischem Grundrechtsschutz, in: G. Manssen (Hrsg.), Grundrechte im Umbruch, 1997, S. 61 (70 f.). BVerfGE 85, 191 (207) – Nachtarbeitsverbot; E 52, 369 (375 f.) – Hausarbeitstag; E 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe. BVerfGE 85, 191 (207); E 89, 276 (285); vgl. dazu Classen (Fn. 210), S. 72; ders., Wie viele Wege führen zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen?, JZ 1996, S. 921 (922). BVerfGE 92, 91 (109). EuGH, Rs. C-450/93, Kalanke, Slg. 1995, I-3051 (3078); Rs. C-409/95, Marschall, Slg. 1997, I-6363; vgl. Classen (Fn. 210), S. 73.
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Frauen nach Art. 12 a Abs. 4 S. 2 GG der Dienst mit der Waffe in der Bundeswehr versagt. Sie durften nach der herrschenden Lehre215 und der Judikatur des BVerwG216 in der Bundeswehr nur im Sanitätsdienst sowie in der Militärmusik eingesetzt werden. Der EuGH hielt diese Praxis in einer Entscheidung, die in Deutschland großes Aufsehen erregte, für unvereinbar mit der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG. Die Richtlinie gelte auch für die Bereiche der inneren wie äußeren Sicherheit, das Geschlecht bilde für die Beschäftigungsverhältnisse der Bundeswehr keine unabdingbare Voraussetzung und der vollständige Ausschluss vom Dienst mit der Waffe sei nicht angemessen und erforderlich, um das Ziel der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit zu erreichen.217 Vor dem Hintergrund, dass in der deutschen Lehre umstritten war, ob Art. 12 a Abs. 4 GG einem freiwilligen Dienst von Frauen mit der Waffe entgegenstand, nahm der Verfassungsgesetzgeber eine geringfügige Anpassung des Wortlauts des einschlägigen Satzes in Art. 12 a Abs. 4 GG vor, um wenigstens klarzustellen, dass ein freiwilliger Zugang zur Bundeswehr Frauen auch dann offen steht, wenn er mit dem Dienst an der Waffe verbunden ist.218 Anders gewendet: Veranlasst durch das Gemeinschaftsrecht wurden geschlechtsspezifische Differenzierungen auch verfassungsrechtlich auf den Bereich reduziert, in dem eine Verpflichtung der Frauen besteht. c) Verstärkung und Veränderung der Wirkung der EMRK im innerstaatlichen Bereich Die Verfassungen der Mitgliedstaaten werden im Grundrechtsbereich in einer weiteren Hinsicht vom Recht der Union beeinflusst, nämlich soweit von diesem eine Steigerung des Einflusses der EMRK oder aber Veränderungen im Inhalt von Grundrechtsgarantien der EMRK ausgehen. Die unionsrechtlich induzierte Stärkung des nationalen Grundrechtsschutzes lässt sich an manchem Beispiel zeigen. Der Erlass des Human Rights Act in Großbritannien, der nicht ohne gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund die EMRK zum nationalen Grundrechtskatalog gemacht hat, ist hier an erster Stelle zu nennen. In Schweden steht die Inkorporation der EMRK in das nationale Recht in unmittelbarem Konnex mit dem gleichzeitig erfolgten EU-Beitritt.219 Auch die Ratifikation des 6. ZP EMRK durch Belgien, Großbritannien und Griechenland ist unmittelbare
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Statt vieler R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz (Stand: 2001), Art. 12 a, Rn. 196 ff.; F. Kirchhof, Bundeswehr, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 2000, § 78, Rn. 42. Z.B. BVerwGE 103, 301. EuGH Rs. C-285/98, Kreil, Slg. 2000, I-69, Rn. 15 ff.; zum Urteil R. Streinz, Frauen an die Front, DVBl. 2000, S. 285; R. Scholz, Frauen an die Waffe kraft Europarechts?, DÖV 2000, S. 417; C. Koch, Anmerkung, DVBl. 2000, S. 476. Nach neuer Rechtslage dürfen Frauen „auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden“. U. Bernitz, The Incorporation of the European Human Rights Convention into Swedish law, German Yearbook of International Law 38 (1995), S. 178 (181).
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Folge der Erklärung Nr. 1 der Regierungskonferenz anlässlich der Ratifikation des Amsterdamer Vertrags zur Abschaffung der Todesstrafe.220 Dort aber, wo die EMRK innerstaatlich im Übergesetzesrang oder Verfassungsrang steht oder die Grundrechtsauslegung beeinflusst,221 bewirkt das Recht der Union zunehmend auch Modifikationen des Grundrechtsgehalts. Beispiele sind die ,Rezeptionsbegriffe‘, wie der Begriff des Ausländers in Art. 16 EMRK und der Begriff der gesetzgebenden Körperschaft in den Wahlrechtsgarantien des Art. 3 1. ZP EMRK. Art. 16 EMRK lässt Beschränkungen der politischen Tätigkeit von Ausländern im Bereich der Art. 10, 11 und 14 EMRK zu. Die Rechtsentwicklung im Recht der Europäischen Union führt jedoch zur Reduktion des Ausländerbegriffs in Art. 16 EMRK auf Drittstaatsangehörige mit der Konsequenz, dass EU-Ausländer Staatsbürgern bei der Ausübung der Rechte nach den Art. 10, 11 und 14 EMRK jedenfalls für die Zwecke der Wahlwerbung vor Wahlen zum EP gleichgestellt werden.222 Der Begriff des gesetzgebenden Organs in Art. 3 1. ZP EMRK, der ursprünglich nur eine Garantie für nationale Parlamente bilden sollte, enthält eine Verweisung auf das nationale Verfassungsrecht. Er muss unter Berücksichtigung der verfassungsmäßigen Strukturen des betroffenen Staats ausgelegt werden.223 Auf dieser Grundlage hat der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 3 1. ZP EMRK auf die Wahlen zum Europäischen Parlament bejaht.224 d) Indirekte Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf den Gewährleistungsumfang nationaler Grundrechtsgarantien Auswirkungen auf den Umfang innerstaatlicher Grundrechtsgarantien erwachsen schließlich aus dem Zusammenspiel insbesondere der Grundfreiheiten des EG-Vertrages einerseits mit nationalen Grundrechtspositionen, die für Inländer wie EUAusländer gleichermaßen gelten, sowie andererseits mit solchen, die auf Staatsbürger beschränkt sind. Im ersten Fall könnte die EG-rechtlich gebotene Besserstellung des Ausländers (Inländerdiskriminierung oder umgekehrte Diskriminierung) zu einem Konflikt mit 220
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W. Hummer, Der Schutz der Grund- und Menschenrechte in der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Union nach dem Vertrag von Amsterdam, 1998, S. 71 (97); S. Griller/D. Droutsas (Hrsg.), The Treaty of Amsterdam, 2000, S. 138 f.; F. Klug, The Human Rights Act 1998, Pepper v. Hart and All That, Public Law 1999, S. 246 (272 f.). Vgl. dazu C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 292 (299 ff.). Das bedeutet, dass die entsprechenden Deutschenvorbehalte der Art. 8 und 9 GG hinter der EMRK zurückbleiben. Für EU-Ausländer besteht daher innerstaatlich der Schutz nach Art. 11 EMRK auf einfachgesetzlicher Ebene. Eine Verfassungsbeschwerde kann nach h.M. auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützt werden, vgl. BVerfGE 35, 383 (399); E 78, 179 (196 f.); H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2004, Art. 2, Abs. 1, Rn. 31 f.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 1040 f. m.w.N. Vgl. EGMR, Urteil v. 2.03.1987, Mathieu-Mohin et Clerfayt/Belgien, Ser. A Nr. 113, Rn. 53; EKomMR, Nr. 7008/75, X/Österreich, DR 6, S. 120; EKomMR, Nr. 27311/95, Timke/ Deutschland, DR 82-A, S. 158. EGMR, Urteil v. 18.02.1999, Matthews/Vereinigtes Königreich, RJD 1999-I, Rn. 39, 54.
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dem allgemeinen Gleichheitssatz führen.225 Die Rechtsstellung der EU-Ausländer als Vergleichsgruppe ist der Regelungsgewalt des nationalen Gesetzgebers entzogen und durch supranationales Recht vorgegeben.226 Das nationale Verfassungsrecht sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass das Gemeinschaftsrecht nicht Teil des nationalen Rechts ist, wohl aber Teil der in dem Mitgliedstaat geltenden Rechtsordnung. Geht man von der Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 GG auf die Fälle der umgekehrten Diskriminierung aus,227 so umfasst er als umfassendes Gleichheitsgebot innerhalb der Rechtsordnung der Bundesrepublik auch das Gemeinschaftsrecht. Auch wenn die Ungleichbehandlung von Inländern und EG-Ausländern letzten Endes auf Gemeinschaftsrecht beruht, hat der nationale Gesetzgeber die Möglichkeit, seine internationalen Verpflichtungen auf verschiedene Weise zu erfüllen. Sowohl das nationale als auch das Gemeinschaftsrecht belassen ihm die Möglichkeit, auch die Inländer von einer belastenden Regelung zu entbinden. Die Differenzierung zwischen In- und Ausländern bleibt daher den inländischen Rechtssetzungsorganen zuzurechnen228 und bildet eine Beeinträchtigung der Rechte nach Art. 3 Abs. 1 GG. Sie kann aber gerechtfertigt sein, wenn ausreichende Sachgründe vorliegen und die Benachteiligung der Inländer in Grenzen bleibt.229 Keinen Zweifel an der Anwendbarkeit des innerstaatlichen Gleichheitsgrundsatzes auf Fälle der umgekehrten Diskriminierung ließ von Anfang an der österreichische Verfassungsgerichtshof. Die Rechtsprechung hatte freilich zunächst das Problem zu lösen, dass der innerstaatliche Gleichheitsgrundsatz zunächst nur auf Ungleichbehandlungen im Verhältnis zwischen Inländern anwendbar ist. Die Erstreckung auf Verhältnisse zwischen Inländern und Ausländern wurde jedoch unter Rückgriff auf (im Verfassungsrang stehende) Diskriminierungsverbote völkerrechtlichen Ursprungs230 jedenfalls insoweit begründet, als es um die Schlechterstellung von Inländern gegenüber Ausländern ging. Sodann geht der VfGH von 225
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Zu den Konstellationen im Einzelnen: M. Holoubek, ,Inländerdiskriminierung‘ im Wirtschaftsrecht, in: J. Aicher u.a. (Hrsg.), Gemeinschaftsrecht und Wirtschaftsrecht, 2000, S. 159; T. Schilling, Gleichheitssatz und Inländerdiskriminierung, JZ 1994, S. 8 (12). Zutreffender ist der Begriff Inlandsmarktdiskriminierung, vgl. Streinz (Fn. 12), Rn. 810. H. Weis, Inländerdiskriminierung zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht, NJW 1983, S. 2721 (2725). W. Heun, in: Dreier (Fn. 222), Art. 3, Rn. 10; L. Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 2007, Art. 3, Rn. 1; a.A. D. König, Das Problem der Inländerdiskriminierung, AöR 118 (1993), S. 591 (599 f.). Das BVerfG lässt die Frage, ob Art. 3 GG auf die Fälle der Inländerdiskriminierung Anwendung findet, ausdrücklich offen, BVerfG (Kammer), NJW 1990, S. 1033. M. Herdegen, Europarecht, 2001, Rn. 100. A. Epiney, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2002, Art. 12 EG, Rn. 33 ff.; Herdegen (Fn. 228), Rn. 100; C. Starck, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck, GG Kommentar, Bd. 1, 2005, Art. 3, Rn. 233. Art. 14 EMRK i.V.m. einem anderen Konventionsrecht (z.B. VfGH 17.06.1997, B 592/96, EuGRZ 1997, S. 362) sowie Bundesverfassungsgesetz gegen rassische Diskriminierung; ohne weitere Prüfung der Anwendbarkeit des Gleichheitssatzes etwa VfSlg. 15683/1999.
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einer doppelten Bindung österreichischer Gesetze an das Gemeinschaftsrecht einerseits und an das nationale Verfassungsrecht, in concreto: den nationalen Gleichheitsgrundsatz, andererseits aus.231 Das innerstaatliche Gesetz muss daher am Gleichheitssatz gemessen werden, wobei – von Fällen abgesehen, in denen die Umsetzung von Gemeinschaftsrecht zwingend eine Verfassungsänderung erfordert – der Umstand, dass Gemeinschaftsrecht umgesetzt wird, für sich genommen keinen ausreichenden Rechtfertigungsgrund bildet.232 Nur wenige Tage vor dem Beitritt Polens zur Europäischen Union stellte der polnische Verfassungsgerichtshof fest, dass der gesetzgeberische Spielraum bei einer Einschränkung der Unternehmensfreiheit und der Interpretation des Begriffs des „wichtigen öffentlichen Interesses“ i.S.d. Art. 22 der Verfassung mit Rücksicht auf die Beteiligung Polens am europäischen Binnenmarkt zu bestimmen sei. Dies gelte insbesondere für die verfassungsrechtliche Würdigung der Inländerdiskriminierung, welche aus Sicht des Gemeinschaftsrechts unbedenklich, qua Verfassungsrecht jedoch untersagt sei.233 Die zweite Fallgruppe indirekter Anpassungen betrifft den Grundrechtsschutz von EU-Ausländern, die sich im Anwendungsbereich einer Grundfreiheit oder einer anderen sie begünstigenden gemeinschaftsrechtlichen Norm befinden, nach innerstaatlichem Recht aber nicht dem Schutzbereich eines korrespondierenden Grundrechts unterfallen. Hier kann es gemeinschaftsrechtlich geboten sein, den EU-Ausländer nicht schlechter zu stellen als den Inländer.234 Anwendungsfälle sind zum Beispiel die auf Staatsangehörige beschränkten Grundrechte der Berufsfreiheit gem. Art. 12 GG oder der Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 GG sowie der Gleichheitssatz gem. Art. 2 StGG und Art. 7 B-VG. Auch die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen, die nach Art. 19 Abs. 3 GG auf Inländer beschränkt ist, stellt einen weiteren Anwendungsfall dar. Hier stellt sich die Frage, auf welchem Weg dem EU-Ausländer eine für den Inländer geltende Grundrechtsgarantie zugestanden werden kann, um einem gemeinschaftsrechtlichen Gebot, etwa einer Freiheit des Binnenmarktes, Rechnung zu tragen oder Diskriminierungen insbesondere im Rechtsschutz zu vermeiden.235 Je nach Verfassungslage sind die Anpassungsstrategien unterschiedlich. Steht ein Auffanggrundrecht ‚zur Verfügung‘, so bildet dieses einen gangbaren Weg der Gewährung von im Wesentlichen gleichem Grundrechtsschutz.236 Als (meist über-
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Z.B. VfSlg. 15106/1998. VfSlg. 15683/1999. Urt. d. poln. VfGH v. 21.04.2004, K 33/03 (Biokomponenten in Kraftstoffen), Pos. 13. Zu weitgehend R. Störmer, Gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbote versus nationale Grundrechte?, AöR 123 (1998), S. 541 (557 ff.). Siehe dazu für die Grundrechtsgarantien des GG A. Siehr, Die Deutschengrundrechte des Grundgesetzes, 2001, S. 329. H. Bauer/W. Kahl, Europäische Unionsbürger als Träger von Deutschengrundrechten?, JZ 1995, S. 1077 (1083). Eine Kombination von Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG vertritt Siehr (Fn. 235), S. 468 ff.
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zeugendere)237 Alternative kommt die interpretative Erstreckung des Schutzbereichs des Staatsbürger-Grundrechts auf EU-Ausländer in Betracht.238 Im griechischen Verfassungsrecht lässt sich ein Beispiel für den indirekten Einfluss des Art. 191 EG auf die Bestimmung des Art. 29 der griechischen Verfassung feststellen, der griechischen Bürgern das Recht einräumt, politische Parteien zu gründen und ihnen anzugehören. Während der Verfassungsgeber ursprünglich nur nationale Parteien erfassen wollte, wird nunmehr – gestützt auf die Integrationsklausel des Art. 28 Abs. 2 und 3 der Verfassung – vertreten, dass nicht nur griechischen Bürgern, sondern auch Unionsbürgern die Beteiligung in Parteien ermöglicht wird.239 Auf der Schrankenebene kann bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer berufsbeschränkenden Maßnahme (die in der den Inländer benachteiligenden Regelung besteht) der Tatbestand der Benachteiligung des Inländers gegenüber Mitbewerbern aus EG-Mitgliedstaaten zu berücksichtigen sein. Auch die Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit können unter dem Gesichtspunkt der Inländerdiskriminierung neu zu beurteilen sein.240 Ein verwandtes Problem, wenngleich mit unterschiedlichen Vorzeichen, stellte sich im bulgarischen Verfassungsrecht: Durch Art. 22 der bulgarischen Verfassung wurde Ausländern der Erwerb von Liegenschaften grundsätzlich untersagt. Diese Bestimmung musste vor dem Beitritt geändert werden, um insbesondere nicht mit den Personenverkehrsfreiheiten und der Kapitalverkehrsfreiheit zu kollidieren. e) Abstimmung nationaler Grundrechte mit der Verdichtung des Rechtsbestandes auf europäischer Ebene Am Beispiel des Asylgrundrechts lässt sich zeigen, wie die zunehmende Zusammenarbeit auf europäischer Ebene Grundrechtstatbestände beeinflusst. Die Bezugnahme auf sichere Drittstaaten in Art. 16 a Abs. 2 GG und der Vorbehalt völkerrechtlicher Verträge in Art. 16 a Abs. 5 GG hebt nicht zufällig die Mitgliedstaaten der EG hervor. Vielmehr erfasst sie das Schengener Durchführungsübereinkommen241 bzw. hinsichtlich Abs. 5 auch das Dubliner Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem EG-Mitgliedstaat gestellten Asylantrages.242 237
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Vgl. nur die Einwände von H. Dreier, in: ders. (Fn. 222), Vorb. zu Art. 1, Rn. 17; E. Klein, Gedanken zur Europäisierung des deutschen Verfassungsrechts, in: FS Stern, 1997, S. 1301 (1309 f.); H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, GG, 2002, Art. 19, Rn. 10. Für Art. 12 GG: R. Breuer, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, 1989, § 147, Rn. 21; weitere Nachweise bei P. M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001) S. 194 (201). Papadimitriou (Fn. 85), S. 173. Beispiel bei König (Fn. 227), S. 603 f. So auch BVerfGE 94, 49 (86). Vgl. dazu B. Huber, Das Dubliner Übereinkommen, NVwZ 1998, S. 150 f.; G. Lübbe-Wolf, in: Dreier (Fn. 222), Art. 16a, Rn. 102; U. Davy, in: E. Denninger u.a., AK-GG (Stand: August 2001), Art. 16a, Rn. 58.
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Ähnlich ist die Verfassungsänderung in Art. 53-1 der französischen Verfassung betreffend die Teilnahme Frankreichs am Schengener System zu bewerten, mag sie auch nicht unmittelbar eine grundrechtliche Vorschrift betreffen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat damit auf die Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 13. August 1993 reagiert, in der das Gericht festgestellt hatte, dass nur eine „hinkende“, d.h. nochmalige Überprüfung von bereits in anderen Mitgliedstaaten abgelehnten Asylanträgen zulassende Teilnahme mit der Asylgewährleistung der Verfassung vereinbar war.243 Dass im Bereich der Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Asylrechts auch noch Harmonisierungsdefizite bestehen, zeigt die Entscheidung des House of Lords im Fall Secretary of State for the Home Department v. Adan and Aitseguer.244 Danach wurde algerischen und somalischen Staatsangehörigen Abschiebungsschutz vor der Abschiebung nach Deutschland bzw. Frankreich mit der Begründung gewährt, diese seien insoweit keine sicheren Drittstaaten, da sie Art. 1A der Genfer Flüchtlingskonvention in einer Weise auslegten, die eine Verfolgung durch nichtstaatliche Gruppen unberücksichtigt lässt. Hier scheint – aus deutscher Sicht – nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. August 2000245 bzw. dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Februar 2001246 eine Annäherung der Rechtsprechungspraxis stattzufinden.
IV. Zusammenfassende Beobachtungen zum Verhältnis des nationalen Verfassungsrechts zum Recht der Union 1.
Die handelnden Organe der Verfassungsordnung
Das Ausmaß, in dem die Verfassungsgesetzgeber tätig werden, wird entscheidend von Verfassungstraditionen bestimmt. Während eine Reihe von Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Irland sowie die jüngeren Mitgliedstaaten überwiegend eigene, teils ausführliche Regelungen über die Übertragung von Hoheitsrechten getroffen haben,247 üben sich andere Verfassungsordnungen in Zurückhaltung,248 ohne einen eigenen allgemeinen Europaartikel zu enthalten. Vielmehr kommen die allgemeinen Regelungen für Übertragungen von Hoheitsrechten zur Anwendung. Daraus lässt sich indessen kein Hinweis auf das Ausmaß der ‚Europafreundlichkeit‘ der Verfassung gewinnen. Vielmehr kann gerade eine europaspezifische Regelung der Begrenzung von Souveränitätsverschiebungen dienen. Richtet man vor diesem Hintergrund das Augenmerk auf das Verhältnis zwischen Verfassungsgesetzgeber und Verfassungsgerichten, so zeigt sich, dass die 243 244 245 246 247 248
Vgl. Gundel (Fn. 38), S. 63 f. Urteil v. 19.12.2000 – R 9441 = NVwZ-Beil. I zu Heft 2/2002, S. 17. EuGRZ 2000, S. 388. BVerwGE 114, 27. Siehe Kap. 10 § 5 schwed. Verf.; Art. 93 finn. Verf.; Art. 23a bis 23f österr. B-VG, sowie das Beitritts-Bundesverfassungsgesetz. Vor allem die Benelux-Staaten, aber auch Spanien und Italien.
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Gewichte je nach Materie unterschiedlich verteilt sind. Soweit das Staatsorganisationsrecht betroffen ist, haben die Verfassungsgesetzgeber das Heft der Verfassungsgesetzgebung in vielen Staaten noch fest in der Hand. In nicht wenigen Staaten haben Verfassungsänderungen stattgefunden, die teils detaillierte Regelungen über die Mitwirkung der Parlamente und im Fall von föderal gegliederten Staaten auch der Bundesländer oder vergleichbarer Einheiten in den Verfassungstext eingefügt haben. Mit dieser Situation ist aus Gewaltenteilungsgesichtspunkten vergleichbar, wenn die Verfassung nur eine Grundsatznorm enthält und der einfache Gesetzgeber Ausführungsregelungen erlassen hat. Freilich bestimmen auch hier die Verfassungsgerichte in unterschiedlichem Ausmaß die Ausgangssituation und die Rahmenbedingungen der Normsetzung mit. So hat das Bundesverfassungsgericht die Mitwirkung des Parlaments explizit in Zusammenhang mit den Anforderungen des Art. 23 GG an die demokratische Struktur des Rechtssetzungsprozesses der Europäischen Union gebracht.249 Der französische Conseil constitutionnel hat eine dem späteren Art. 88-4 der französischen Verfassung entsprechende Regelung sogar zur verfassungsmäßigen Bedingung der Ratifikation des Vertrags von Maastricht gemacht.250 Demgegenüber sind die Regeln in anderen Staaten teils im Interesse des Verfassungsgesetzgebers an eigener Kompetenzwahrung, teils orientiert am ausländischen Vorbild Verfassungsgesetz geworden. Dies weist auf zwei verschiedene Rollenverständnisse von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung hin, die mit dem System der Verfassungsgerichtsbarkeit zusammenhängen. Während es im französischen System typischerweise die Verfassungsgerichtsbarkeit ist, welche die Bedingungen der Verfassungskonformität für Ratifikations- und andere Übertragungsakte im Vorfeld festlegt, ist es im System der ex-post-Kontrolle, wie sie der Konzeption des Grundgesetzes nach vom Bundesverfassungsgericht ausgeübt wird, der Verfassungsgesetzgeber, welcher in Vorlage tritt. Indessen verschwimmen auch in diesem Bereich die Grenzen, insbesondere die Gegensätze zwischen französischer und deutscher Verfassungskontrolle. Während das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit des Vertrags von Maastricht mit den Vorgaben des Grundgesetzes vor seiner Ratifikation durch Deutschland geprüft hat, gerät der französische Conseil constitutionnel zunehmend in die Rolle eines nachträglich kontrollierenden Gerichts, indem er etwa zurückliegende Gesetzgebungs- oder Ratifikationsakte im Fall der Gesetzes- oder Vertragsänderung in die Kontrolle mit einbezieht.251 Anders als im Staatsorganisationsrecht ist die Anpassungsleistung der Verfassungsgerichte im Bereich der Grundrechte in allen Mitgliedstaaten größer. Die Ursachen hierfür sind weniger europaspezifisch, denn hausgemacht. In den meisten Verfassungen interpretieren die Verfassungsgerichte vielfach bereits ältere oder seit langem unverändert gebliebene Grundrechtstexte, die der Eigenart von Grund249 250 251
BVerfGE 89, 155 (184 ff.) – Maastricht. CC, Décision n° 92-308 DC (Fn. 40), S. 190. Vgl. die Nachweise bei Hecker (Fn. 76), S. 110 ff.
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rechten entsprechend überwiegend relativ unbestimmt formuliert sind. Dass der Zugriff der Verfassungsgerichte auf den Spielraum des Gesetzgebers steigt, ist ein europaweiter, nicht zuletzt durch die europäischen Gerichte mitbeeinflusster Trend, der sich auch im Spannungsfeld mit dem Europarecht fortsetzt. In ihrer rechtsfortbildenden Funktion treten die Verfassungsgerichte naturgemäß in Konflikt mit dem EuGH. Dieses Konfliktfeld aufzulösen, ist bezogen auf mitgliedstaatliche Gerichte ein Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG. Was im Zusammenhang mit ,normalen‘ Gerichten – ungeachtet nationaler Unterschiede in der Vorlagefreudigkeit252 – heute einheitlich zur Regel geworden ist, begegnet im Fall der Verfassungsgerichte noch erheblichen Vorbehalten. Die meisten Verfassungsgerichte fühlen sich zwar zur gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation verpflichtet, sehen sich aber entweder überhaupt nicht als Gericht i.S.v. Art. 234 EG253 oder aber vermeiden Vorlagen, indem sie zum Ergebnis kommen, dass – etwa wegen hinreichender Klärung der Rechtsfrage – keine Berechtigung oder Verpflichtung zur Vorlage gegeben ist, oder aber eine Rechtsverletzung durch Nichtvorlage durch ein Fachgericht feststellen. Aus dem Rahmen fällt der österreichische Verfassungsgerichtshof, der 1999 als erstes Verfassungsgericht in einem Verfahren nach Art. 234 EG vorgelegt hat254 und diese Übung mittlerweile in weiteren Fällen fortgesetzt hat. Betrachtet man das Verhalten von Verfassungsorganen im Zusammenhang mit der Änderung oder Auslegung des Verfassungsrechts, so gewinnt man in vielen Fällen den Eindruck, dass hinter Argumenten der Wahrung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards oder der Eigenstaatlichkeit zumindest auch die Wahrung der eigenen Kompetenzen steht. Dieser Zusammenhang lässt sich bei der Mitwirkung der Parlamente aber auch föderaler Einheiten, allen voran der deutschen und österreichischen Länder sowie des Organs Bundesrat, am deutlichsten nachweisen. Im Fall von Vertragsänderungen ist in vielen Verfassungsordnungen noch das ‚Verfassungsorgan‘ Volk Akteur, wenn in Volksabstimmungen über die Entwicklung des Rechts der Union wie der nationalen Verfassung gleichermaßen entschieden wird.255 Referenden werden nur zum Teil aus zwingenden verfassungsrechtlichen Gründen durchgeführt.256 Zum Teil werden sie aus dem politischen Motiv der Legitimation von fundamentalen Entscheidungen (Beitritte und Vertragsänderun-
252 253
254 255 256
Vgl. C. O. Lenz, Die Rolle des EuGH im Prozeß der Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, in: Kreuzer u.a. (Fn. 72), S. 161 (162 f., 174). BVerfGE 92, 203 (insbes. 236 f.); so etwa auch die ital. Corte Costituzionale, Beschluss Nr. 536 v. 29.12.1995; zu ihr Panara (Fn. 8), Rn. 32 f.; U. Everling, Vorlagerecht und Vorlagepflicht nationaler Gerichte nach Art. 177 EWG, in: G. Reichelt (Hrsg.), Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, 1998, S. 11 (14). VfGH, v. 12.12.2000, KR 1-6, 8/00. Siehe hierzu auch den allgemeinen Überblick von R. Grote, Direkte Demokratie in den Staaten der Europäischen Union, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1996, S. 317. Z.B. Irland und Dänemark sowie aus dem Kreis der Beitrittsländer Polen.
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gen) abgehalten.257 Sie stellen bei wichtigen Vertragsänderungen die demokratische Legitimation her, machen aber mit Wirkung auch auf andere Mitgliedstaaten das Ratifikationsverfahren unberechenbarer, letztlich durchaus mit Konsequenzen für die Inhalte der Änderungen, aber auch für den Ablauf des Ratifikationsverfahrens.258 Im Gefüge der Mitgliedstaaten kommt es dann zu Ungleichgewichten, die in föderalen Systemen keineswegs ungewöhnlich sind: Wenige Stimmen in der Volksabstimmung in einem kleinen Mitgliedstaat können darüber entscheiden, ob ein Vertrag zustande kommt oder im weniger spektakulären Fall mit oder ohne Anpassungen rechtswirksam wird.259 2. Interdependenzen zwischen den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten untereinander sowie zwischen mitgliedstaatlichen Verfassungen und europarechtlichen „Nebenverfassungen“ Manche Änderung der Verfassungen der Mitgliedstaaten ist nur scheinbar direkt vom Recht der Europäischen Union beeinflusst. Tatsächlich geht hier die Anpassung Umwege, sie orientiert sich entweder am Verfassungsrecht anderer Mitgliedstaaten oder aber erfährt Impulse durch Rechtsquellen, an die zwar alle Mitgliedstaaten gebunden sind, die aber im eigentlichen Sinne nicht zum Recht der Europäischen Union gehören (sog. Nebenverfassungen).260 Zum ersten Bereich, den Wechselwirkungen zwischen den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen: Bedingt durch unterschiedliche Beitrittszeitpunkte stehen die Verfassungsordnungen für jeweils ganz unterschiedliche Anpassungserfordernisse. In einem Gründungsmitgliedstaat stellten sich bestimmte Fragen zu einem Zeitpunkt, zu dem das Gemeinschaftsrecht selbst noch nicht den heutigen Stand erreicht hatte. Am deutlichsten wird dies bei den Fragen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und der Konkurrenz im Grundrechtsschutz: Eine Entscheidung wie Solange I wäre in den Ländern der nächsten Beitrittsgeneration nicht mehr denkbar, sollte das geschriebene Recht der Europäischen Union zum Zeitpunkt des Beitritts einen Grundrechtskatalog enthalten. Auf der anderen Seite entwickelten die Verfassungsgesetzgeber, Verfassungsgerichte und Verfassungsrechtswissenschaft in dem einen Staat Antworten auf Spannungen zwischen der nationalen und der europäischen Rechtsordnung, die in anderen Staaten rezipiert werden konnten und, befördert durch die Rechtsvergleichung, 257 258
259
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Z.B. Frankreich sowie Schweden; vgl. Bernitz (Fn. 25), S. 435 f. Beispielhaft sei hier die Ratifikation des Vertrags von Maastricht durch Dänemark genannt, ausführlich: H. Zahle, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht in Dänemark, in: Battis u.a. (Fn. 85), S. 47 (49 ff.). Vgl. die ablehnenden irischen Referenden v. 7.07.2001 und v. 12.07.2008; zum erstgenannten: A. Kellermann, Postscriptum: The Irish Referendum on the Treaty of Nice and Article 10 EC, in: Kellermann u.a. (Fn. 6), S. 499. Zu diesen R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 178 ff. Für eine Typologie von Anpassungen im Verhältnis zwischen mehreren Verfassungen i.w.S. Bieber (Fn. 72), S. 76 f.; ders., Der Verfassungsstaat im Gefüge europäischer und insbesondere supranationaler Ordnungsstrukturen, in: D. Thürer u.a. (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 97 (102).
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in vielen Fällen auch tatsächlich rezipiert wurden. Was sich in jahrzehntelanger Mitgliedschaft in einem Staat bereits bewährt hat, ist für den neu beitretenden Staat vor dem Hintergrund vergleichbarer politischer Systeme und Verfassungskulturen häufig attraktiv, wenigstens als Ausgangspunkt für eigene Lösungen. Dies kann an Hand der Beitritte des Jahres 1995 ebenso beobachtet werden wie in Prozessen, die im Rahmen der Beitritte in den Jahren 2004 und 2007 stattgefunden haben.261 Daneben hat der spätere Beitrittszeitpunkt für die innerstaatlichen Organe auch ,psychologisch entlastende‘ Funktion. Verfassungsgerichte und andere Verfassungsorgane, die z.B. die Grenzen des Umfangs des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts im jahrzehntelangen Dialog mit Organen der Europäischen Union entwickelt haben, haben i.d.R. größere Schwierigkeiten, einen weiter gehenden acquis anzuerkennen als ein Verfassungsgericht eines neuen Mitgliedstaates, das insoweit vor vollendeten Tatsachen steht, an deren Entstehung es keinen Anteil hatte. Das mag der Vergleich zwischen dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem österreichischen Verfassungsgerichtshof verdeutlichen. Aber auch im Verhältnis zwischen Verfassungsgesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit kann es zu Verschiebungen bedingt durch die unterschiedliche Dauer der Konfrontation mit dem Gemeinschaftsrecht kommen. So kann das, was in dem einen Mitgliedstaat ohne Basis im geschriebenen Verfassungsrecht von Gerichten langsam und erst Schritt für Schritt entwickelt wurde, später in anderen Staaten in Vorschriften des geschriebenen Verfassungsrechts umgesetzt werden.262 Im Übrigen werden Interdependenzen in Art. 6 Abs. 2 EU wenn schon nicht zwingend vorgegeben, so doch wesentlich begünstigt. Für die Ermittlung der allgemeinen Rechtsgrundsätze wird aber anders als in den eben geschilderten Wechselwirkungsbeziehungen nicht ein einzelnes Land in den Blick genommen, sondern (wenigstens vom grundsätzlichen Anspruch aus) die Verfassungen aller Mitgliedstaaten. Im Verhältnis zu den Nebenverfassungen ist die Situation nicht wesentlich anders. Vor allem die EMRK beeinflusst die Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten, und zwar eben nicht nur im völkerrechtlichen Verhältnis der Mitgliedschaft in der EMRK, sondern auch vermittelt, modifiziert und teilweise sogar verstärkt durch das Recht der Europäischen Union.263 3. Typologie nach der inhaltlichen Ausrichtung: Integrationsoffene und defensive Anpassungen In inhaltlicher Sicht lassen sich zwei Arten von Anpassungen des nationalen Verfassungsrechts unterscheiden, so genannte integrationsoffene Anpassungen und de261
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Für Polen: Wyrzykowski (Fn. 91), S. 267. Für Ungarn etwa: A. Harmathy, Constitutional Questions of the Preparation of Hungary to Accession to the European Union, in: Kellermann u.a. (Fn. 6), S. 315 (316 ff.). Vgl. den Fall von Art. 10 § 5 schwed. Verf., welcher vom Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts beeinflusst wurde. Im Einzelnen oben, III. 5. c).
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fensive Anpassungen. Die Zuordnung ist nicht immer einfach und führt bei bloßer Orientierung am Wortlaut gelegentlich zu falschen Ergebnissen. Aufschluss bringt häufig erst die Entstehungsgeschichte einer europaverfassungsrechtlichen Norm. Ein klares Bekenntnis zur europäischen Integration enthält Art. 7 Abs. 5 der portugiesischen Verfassung, der eine Verpflichtung Portugals enthält, „den europäischen Einigungsprozess und die Vorhaben der europäischen Staaten für Demokratie, Frieden, wirtschaftlichen Fortschritt und Gerechtigkeit unter den Völkern zu unterstützen.“ Einen ähnlichen Eindruck vermittelt der Auftrag in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, an der Entwicklung der Europäischen Union „zur Verwirklichung eines vereinten Europas“,264 sowie der Auftrag in Art. 6 Abs. 4 der ungarischen Verfassung, „zur Entfaltung der Freiheit, des Wohlstands und der Sicherheit der Völker Europas an der Schaffung der europäischen Einheit“265 mitzuwirken. Eine originelle Formulierung verwendet die Interpretationserklärung zu Art. 28 der griechischen Verfassung, der ihr zufolge „den Grundstein für die Beteiligung an Verfahren zur europäischen Vollendung“ darstellt. Die bulgarische Verfassung verzichtet auf pathetische Formeln und beschränkt sich in ihrem Art. 4 Abs. 3 auf den Auftrag, an Aufbau und Entwicklung der Union teilzunehmen. Gleichwohl bilden diese Integrationsaufträge nur die eine Seite der Medaille. Mag man diese ohne Weiteres den integrationsfreundlichen Anpassungen zuordnen, so sind die mit ihnen einhergehenden Struktursicherungsklauseln dem defensiven Bereich zuzuordnen. Das zeigt sich stärker im Falle Deutschlands, ist aber auch etwa der portugiesischen Verfassung nicht fremd, wird doch dort wie in anderen Verfassungen auf das Subsidiaritätsprinzip ebenso verwiesen wie auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit.266 Besonders deutlich ist die Defensivstrategie des französischen Verfassungsgesetzgebers anlässlich der Änderungen vor der Ratifikation des Vertrags von Maastricht. Zwar findet sich in Art. 88-1 der französischen Verfassung eine dem Einleitungssatz des Art. 23 Abs. 1 GG vergleichbare Formulierung über die Mitwirkung an den EG und der EU, ein Hinweis auf ein vereintes Europa fehlt jedoch. Stattdessen werden die EG und die EU dahin gehend als zwischenstaatliche Einrichtung charakterisiert, dass sie aus „Staaten bestehen, die sich freiwillig kraft der Gründungsverträge entschlossen haben, einige ihrer Kompetenzen gemeinsam auszuüben.“267 Die Mitgliedstaaten als ,Herren der Verträge‘ erfahren auf diese Weise eine kräftige Bestätigung mit dem Zertifikat des nationalen Verfassungsgesetzgebers. Eine scheinbar offensive Anpassung weist das österreichische Unionsverfassungsrecht in Bezug auf die Außen- und Sicherheitspolitik auf. Nach Art. 23f Abs. 1 B-VG wirkt Österreich an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik 264 265 266 267
Weitere Nachweise bei I. Pernice, in: Dreier (Fn. 222), Art. 23, Rn. 6 ff. Weitere Nachweise bei G. Halmai, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Fn. 8), § 12, Rn. 87 ff. Art. 7 Abs. 6 port. Verf.; Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG; Art. 28 Abs. 3 griech. Verf.; Art. 11 italien. Verf.; Art. 20 dän. Verf. Hervorh. C. G.
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mit. In Wahrheit verbergen sich hinter der Vorschrift all jene komplexen – kaum rational nachvollziehbaren – Befindlichkeiten, welche im Zusammenhang mit der ‚immerwährenden Neutralität Österreichs bestehen, welche von maßgeblichen Teilen der Bevölkerung noch immer als Existenzbedingung des unabhängigen Staates begriffen wird. Sie verfolgt denn auch einen zweifachen Zweck: In Richtung Union und andere Mitgliedstaaten sollen Zweifel an der Mitwirkungsfähigkeit Österreichs durch ein verfassungsrechtliches Signal beseitigt werden. Innerstaatlich aber bewirkt die Regelung eine – der insoweit sensiblen Öffentlichkeit nicht bewusst gemachte – Einschränkung der verfassungsrechtlichen Neutralitätsverpflichtung.268 Der Defensivcharakter wird vor allem deutlich in den qualifizierten Verfahrensvorschriften des Art. 23f Abs. 1 letzter Satz B-VG und im Erfordernis eines Einvernehmens zwischen Bundeskanzler und Außenminister in Art. 23f Abs. 3 B-VG. Die europabezogenen Bestimmungen der italienischen Verfassung beschränken sich auf ein Mindestmaß, da insbesondere hinsichtlich der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU mit dem das Völkerrecht allgemein betreffenden Art. 11 der italienischen Verfassung das Auslangen gefunden werden konnte. Die europäische Integration wurde erstmals durch die im Rahmen der Verfassungsnovelle 2001 erfolgte Änderung des Art. 117 der italienischen Verfassung ausdrücklich im Verfassungstext erwähnt. 4. Entwicklung zur gegenseitigen Verklammerung der Verfassungen zu einem Verfassungsverbund Die Einbindung der Mitgliedstaaten in den europäischen Integrationsprozess ist in allen nationalen Verfassungssystemen mehr oder weniger zu einem wesentlichen Element der Verfassungsentwicklung geworden. Das einst aus den verfassungsrechtlichen Prinzipien und Traditionen der Mitgliedstaaten entwickelte europäische Recht zwingt die nationalen Verfassungsordnungen nun ihrerseits im Verlauf der europäischen Integration zur Anpassung. Die Untersuchung macht deutlich, dass die nationalen Verfassungsordnungen durch diesen zunehmenden europarechtlichen Einfluss begonnen haben, sich in zentralen Bereichen aneinander anzugleichen,269 mögen auch die Strategien stark von nationalen Besonderheiten geprägt und dementsprechend unterschiedlich sein. Änderungen des EU-Vertrages können Fortschritte der Integration, und damit zugleich materielle Verfassungsänderungen auf nationaler Ebene bewirken, die nicht immer auch textlich zum Ausdruck kommen müssen.270 268
269 270
C. Grabenwarter, Permanent Neutrality and Economic Integration, in: R. Bernhardt (Hrsg.), EPIL Bd. 3, 1997, S. 1004; ders. (Fn. 125), S. 166; T. Öhlinger (Fn. 89), Rn. 13; S. Griller, Die GASP und das Ende der immerwährenden Neutralität, in: W. Hummer (Hrsg.), Rechtsfragen in der Anwendung des Amsterdamer Vertrages, 2001, S. 261 (265); ders. (Fn. 6), S. 158 ff. So auch Schwarze (Fn. 35), S. 463. J. A. Frowein, Wesentliche Elemente einer Verfassung, in: R. Bieber/P. Widmer, Der europäische Verfassungsraum, 1995, S. 71 (83).
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Diese Standards sind indes nicht artifizielle europarechtliche Produkte, sondern werden inhaltlich aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten gespeist. Ihre interpretative Erschließung erfolgt daher ihrerseits wieder unter dem Einfluss der nationalen Verfassungen, und hier im Besonderen ihrer Struktursicherungsklauseln. Diese öffnen die Verfassungen auch für den Prozess supranationaler Verfassungsgebung und bestimmen das Verfahren und die Organe, durch welche der Prozess supranationaler Verfassungsgebung demokratischen Grundsätzen entsprechend verfasst wird.271 Dazu gehört zunächst die wechselseitige Bezug- und Rücksichtnahme auf Verfahrens- und Entscheidungsnotwendigkeiten im Verfahren der Mitwirkung von Gesetzgebungsorganen und föderalen Einheiten im Rechtssetzungsprozess der Europäischen Union. Diese kommen sowohl in den nationalen Verfassungen, z.B. in Art. 23 Abs. 2 GG, als auch im Recht der Union, etwa in Art. 203 EG und im Abschnitt I des durch den Vertrag von Amsterdam eingefügten Protokolls über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union, zum Ausdruck.272 Entscheidender sind aber die inhaltlichen Verbindungen, die ein dialektisches Verhältnis zwischen der nationalen und der europäischen Verfassungsentwicklung begründen.273 Das Recht der Union und die Verfassungen der Mitgliedstaaten werden durch das Primärrecht miteinander verbunden,274 mit der Konsequenz, dass im Ergebnis die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten beschränkt wird. Die Homogenitätsklausel des Art. 6 Abs. 1 EU enthält die wesentlichsten Determinanten für einen gemeinsamen Standard der Demokratie, der Grundrechte und des Rechtsstaates, welcher von den Verfassungen der Mitgliedstaaten unter der Sanktionsdrohung des Mechanismus des Art. 7 EU nicht unterschritten werden darf. Mit Di Fabio lässt sich von „struktureller Koppelung“275 der Verfassungen der Mitgliedstaaten sprechen, die nach nationalem Verfassungsrecht nicht ohne Weiteres einseitig wieder aufgelöst werden kann.276 Eine derartige wechselseitige Koppelung kann als System wechselseitiger Verfassungsstabilisierung277 beschrieben werden, die von Teilen der deutschen Staatsrechtslehre als „Existenzbedingung des europäischen Verfassungsverbundes“ bezeichnet worden ist.278 Der Begriff des Verfassungsverbunds wurde entwickelt, um 271 272 273 274 275 276
277 278
I. Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, 2000, unter http:// edoc.hu-berlin.de (20.10.2008). Dazu z.B. vgl. Müller-Terpitz (Fn. 116), S. 47 m.w.N. Frowein (Fn. 270), S. 83; vgl. auch Schwarze (Fn. 35), S. 464 f. Huber (Fn. 238), S. 209. U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 99. Für Deutschland: Art. 23 Abs. 1 GG; für Österreich das Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt, das eine Gesamtänderung der Bundesverfassung bedeutete und auch nur im (erschwerten) Verfahren der Gesamtänderung im Zusammenhang mit einem Austritt aus der Union wieder aufgehoben werden könnte. A. v. Bogdandy/M. Nettesheim, Die Europäische Union: Ein einheitlicher Verband mit eigener Rechtsordnung, EuR 1996, S. 1. I. Pernice, Bestandssicherung der Verfassungen, in: Bieber/Widmer (Fn. 270), S. 225 (261 ff.); ders., Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (186).
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zum einen die Rechtseinheit von supranationaler und nationaler Ebene zu betonen, zum anderen aber auch die besondere Verfasstheit dieses Systems hervorzuheben, in dem vielfache institutionelle, personelle, funktionale, prozedurale und materiellrechtliche Verschränkungen beider Ebenen bestehen und die Bürger in ihren verschiedenen Identitäten als Landes-, Staats- und Unionsbürger zugleich Legitimationssubjekt und Adressaten der auf den verschiedenen Ebenen jeweils gesetzten Normen sind.279 Dieses Konzept ist jedoch verfassungs- und rechtstheoretischer Grundsatzkritik ausgesetzt, welche die Fundierung und den Mehrwert des Konzepts des europäischen Verfassungsverbunds und des sog. multilevel constitutionalism in ein anderes Licht rückt.280 Das Konzept des europäischen Verfassungsverbunds ist nicht Teil einer normativen Kategorie, sondern beschreibt rechtliche und vor allem auch faktische Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Verfassungsordnungen. Gegenwärtig sind das Verfassungsrecht der Union und jenes der Mitgliedstaaten miteinander in einer Weise gekoppelt, die es rechtfertigt, das Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten als ein solches sui generis zu bezeichnen. Es bildet die Grundlage für künftige Entwicklungen sowohl des staatlichen Unionsverfassungsrechts als auch des auf das nationale Verfassungsrecht bezogenen Rechts der Union.
279 280
Vgl. Pernice (Fn. 264), Rn. 20 ff.; ders., VVDStRL 60 (2001), S. 163 ff. Jestaedt (Fn. 64), S. 666 ff.
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Völkerrechtliche Verfassungselemente
Völkerrechtliche Verfassungselemente
Robert Uerpmann-Wittzack*
I. Öffnung der Rechtsordnung zum Völkerrecht als Verfassungsfrage . . . . . . . . . . . . 177 II. Inkorporation völkerrechtlicher Verfassungselemente als unmittelbar anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1. Automatische Inkorporation von Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2. Beitritt zu völkerrechtlichen Nebenverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3. Rechtsnachfolge kraft Funktionsnachfolge und Formen der mittelbaren Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 III. Transformation völkerrechtlicher Verfassungselemente in Unionsrecht . . . . . . . . . . 207 1. Primärrechtliche Inkorporation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2. Sekundärrechtliche Inkorporation – insbes. die Umsetzung von UN-Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 IV. Bewertung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1. Gründe für unterschiedliche Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Änderungen durch den Lissabonner Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
I. Öffnung der Rechtsordnung zum Völkerrecht als Verfassungsfrage Staaten und Internationale Organisationen sind in die übergreifende Ordnung des Völkerrechts eingebunden. Das gilt selbstverständlich auch für die Europäische Union (EU) mit der Europäischen Gemeinschaft (EG). Die internationale Gemeinschaft ist nicht in derselben Weise verfasst wie ein Staat oder wie die EU. Dennoch lassen sich im Völkerrecht Verfassungselemente erkennen.1 Dazu gehört die Charta der Vereinten Nationen (VN-Charta) ebenso wie auf regionaler Ebene die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Wie sich ein staatliches oder staatsähnliches Gemeinwesen zu internationalen Verfassungselementen verhält, besagt etwas über seine Stellung in der Welt. Die Bandbreite möglicher Optionen reicht von der bedingungslosen Öffnung des eigenen Verfassungsraumes bis hin zur voll-
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Für wertvolle vorbereitende Recherchen zur Neuauflage danke ich meinen Mitarbeitern Christoph Lindner, Franziska Schiffner und Sabine Wiesneth. Frau Schiffner hat insbesondere auch das statistische Datenmaterial zur EMRK- und EGMR-Rechtsprechung des EuGH zusammengestellt. Siehe nur A. Peters, Compensatory Constitutionalism, Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 579; S. Kadelbach/T. Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht, AVR 44 (2006), S. 235; R. Uerpmann, Internationales Verfassungsrecht, JZ 2001, S. 565; E. de Wet, The International Constitutional Order, ICLQ 55 (2006), S. 1.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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ständigen Abschottung. Der folgende Beitrag behandelt das internationale Verfassungsrecht der Europäischen Union. Es geht also um die Frage, wie sich das Unionsverfassungsrecht für internationale Elemente öffnet. Völkerrechtliche Normen sind unterschiedlich geeignet, die Verfassungsordnung eines Gemeinwesens mitzuprägen. Von den drei Völkerrechtsquellen, die Art. 38 Abs. 1 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (IGH-Statut) auflistet, ist zunächst das Völkergewohnheitsrecht zu nennen. Normen des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts, wie zum Beispiel das Gewaltverbot, haben zu einem großen Teil so grundlegenden Charakter, dass man ihnen im materiellen Sinn Verfassungsqualität zusprechen kann. Ähnliches gilt für die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut. Diese Rechtsgrundsätze sind allerdings gerade solche, die das Völkerrecht aus den nationalen Rechtsordnungen rezipiert.2 Auch das Unionsrecht erkennt allgemeine Rechtsgrundsätze, die aus den Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten entwickelt werden, als Primärrechtsquelle an. Obwohl sich das unionsrechtliche Konzept der allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht genau mit dem völkerrechtlichen deckt, wird man davon ausgehen können, dass Normen, die den völkerrechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsätzen zugeordnet werden können, ohnehin Teil des primären Unionsrechts sind, so dass es einer Reinkorporation nicht bedarf. Anders liegt es bei völkerrechtlichen Verträgen zwischen denen es zu differenzieren gilt, da sie häufig spezieller Natur sind. Ein Beispiel hierfür sind Fischereiabkommen zwischen der EG und nordafrikanischen Staaten über EG-Fangquoten für deren ausschließliche Wirtschaftszonen.3 Formal nimmt ein solcher Vertrag zwar auch am Vorrang völkerrechtlicher Verträge vor dem EG-Sekundärrecht nach Art. 300 Abs. 7 EG bzw. zukünftig Art. 216 Abs. 2 AEUV teil.4 Von seinem Inhalt her geht es jedoch um eine Maßnahme der gemeinsamen Fischereipolitik nach Art. 32 ff. EG (Art. 38 ff. AEUV). Es handelt sich nicht um einen Verfassungsvertrag, sondern um einen Vertrag im Rahmen der Verfassung. Daneben kennt das Völkerrecht aber auch Vertragswerke, die wichtige Bereiche grundlegend ordnen. Solche multilateralen Vertragswerke können durchaus geeignet sein, die Verfassungsordnung eines Gemeinwesens mitzuprägen. Sie lassen sich als völkerrechtliche Nebenverfassungen begreifen. Christian Tomuschat hat den Begriff der völkerrechtlichen Nebenverfassung 1977 in einem Referat vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Hinblick auf das deutsche Verfassungsrecht geprägt.5 Dort hat er vor allem die völkerrechtlichen Instru-
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W. Heintschel v. Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 2004, § 17, Rn. 1–3. Siehe z.B. das Abkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Côte d’Ivoire über die Fischerei vor der Küste von Côte d’Ivoire, ABl. 1990 L 379, S. 3. Dazu noch unten, II. 2. a) aa). C. Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7 (51 f.).
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mente des Menschenrechtsschutzes als Nebenverfassungen der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet. In einem späteren Beitrag hat er den Begriff sogar ausschließlich auf Menschenrechtskodifikationen bezogen.6 Ernst-Ulrich Petersmann hat den Begriff 1989 aufgegriffen, um die Funktion des GATT zu beschreiben.7 Völkerrechtliche Nebenverfassungen können verschiedene Funktionen erfüllen. Teilweise weist das nationale Verfassungsrecht inhaltliche Lücken auf, die unter Rückgriff auf Völkerrecht geschlossen werden. Das gilt namentlich im Bereich der Grund- und Menschenrechte. So kommt der Europäischen Menschenrechtskonvention in verschiedenen europäischen Staaten eine Lückenschließungsfunktion zu. Beispielsweise kompensiert sie in Österreich,8 dem Vereinigten Königreich9 aber auch Frankreich10 auf jeweils unterschiedliche Weise Defizite im nationalen Grundrechtsschutz. In Deutschland ist diese Funktion angesichts des umfassenden und voll justiziablen Grundrechtskataloges des Grundgesetzes kaum ausgeprägt. Hier kommt der EMRK eher eine Anstoßfunktion für innerstaatliche Rechtsentwicklungen zu.11 Daneben sind völkerrechtliche Nebenverfassungen ein Ausdruck „offener Staatlichkeit“.12 Das Gemeinwesen verschließt sich nicht internationalen Einflüssen, sondern es ordnet sich als Glied in eine internationale Gemeinschaft ein und rezipiert internationales Verfassungsrecht als Teil der eigenen Verfassung. Die interne Verfassung beschränkt sich dann nicht mehr auf eine interne Urkunde,13 sondern sie öffnet sich für internationale Normen. Zum internationalen Verfassungsrecht zählt dabei neben den Vertragswerken des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes vor allem die Charta der Vereinten Nationen. Auch dem Recht der Welthandels-
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C. Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 1992, § 172, Rn. 73. E.-U. Petersmann, Wie kann Handelspolitik konstitutionalisiert werden?, Europa-Archiv 1989, S. 55 (62). Dazu H. Tretter, Austria, in: R. Blackburn/J. Polakiewicz (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe, 2001, S. 103. Dazu R. Blackburn, United Kingdom, in: Blackburn/Polakiewicz (Fn. 8), S. 935. Dazu J. Gundel, Der Status des Völkerrechts in der französischen Rechtsordnung nach der neueren Rechtsprechung des Conseil d’Etat: Von der Öffnung zum Rückzug?, AVR 37 (1999), S. 438 (439 f.); ferner J. F. Flauss, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht aus französischer Sicht, EuR Beiheft 1/2000, S. 31 (35 f.); C. Grewe, Das Verständnis des Rechtsstaates in Frankreich und in Deutschland, in: H. Jurt u.a. (Hrsg.), Wandel von Recht und Rechtsbewusstsein in Frankreich und Deutschland, 1999, S. 157 (165 f.). R. Uerpmann, Völker- und Europarecht im innerstaatlichen Recht, in: C. Grewe/ C. Gusy (Hrsg.), Französisches Staatsdenken, 2002, S. 196 (202 f.). Der Begriff geht zurück auf K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 33 ff. Zur Bedeutung der Urkundlichkeit C. Möllers, in diesem Band, S. 233.
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organisation (WTO) wird teilweise Verfassungsqualität zugesprochen,14 wenngleich man dies durchaus bestreiten mag.15 Ob ein Gemeinwesen internationales Verfassungsrecht als völkerrechtliche Nebenverfassungen in sein Verfassungswerk aufnimmt, besagt etwas über seine Stellung in der Welt. Tomuschats Thema war 1977: „Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen“.16 Er konnte dabei auf Klaus Vogel aufbauen, der die Frage nach der Einordnung des einzelnen Staates in die internationale Gemeinschaft schon 1964 als eine Frage des Verfassungsrechts bezeichnet hatte.17 Im vorliegenden Beitrag geht es darum, wie sich die verfasste EU im Geflecht der internationalen Beziehungen verhält. Ein Gemeinwesen, das seine Unabhängigkeit und Eigenständigkeit betonen will, wird dem Völkerrecht reserviert gegenüberstehen. Es wird nicht geneigt sein, völkerrechtliche Nebenverfassungen in seine Verfassung zu integrieren. Anders steht es mit einem Gemeinwesen, das sich als Teil der internationalen Gemeinschaft versteht. Bei ihm ist zu erwarten, dass seine Verfassung relativ stark durch völkerrechtliche Bestandteile geprägt ist. Fragt man nach völkerrechtlichen Nebenverfassungen der EG, kommt zunächst die EMRK in den Blick. Ihre Verbürgungen stellen einen gemeineuropäischen Grundrechtsstandard dar.18 Meinhard Hilf hat sie als den „konsentierten Kern einer gesamteuropäischen Verfassungsordnung“ bezeichnet.19 Auch wenn die EG der EMRK nicht beigetreten ist, steht die gemeinschaftsrechtliche Bedeutung der Konvention als menschenrechtlicher Referenztext außer Frage. Die EMRK war ein wichtiges Hilfsmittel, um das zunächst vollständige Fehlen eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtskataloges zu kompensieren.20 Sie erfüllt damit die Lückenschließungsfunktion einer völkerrechtlichen Nebenverfassung. Als zweiter Kandidat für eine völkerrechtliche Nebenverfassung soll das Vertragswerk der WTO untersucht werden. Seine Verfassungsqualität ist zwar erheb-
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Für eine derartige Verfassungsqualität T. Cottier, A Theory of Direct Effect in Global Law, in: FS Ehlermann, 2002, S. 99 (113); E.-U. Petersmann, Welthandelsrecht als Freiheits- und Verfassungsordnung, ZaöRV 65 (2005), S. 543; J. P. Trachtman, The Constitutions of the WTO, EJIL 17 (2006), S. 623. So z.B. M. Nettesheim, Von der Verhandlungsdiplomatie zur internationalen Verfassungsordnung, in: C. D. Classen u.a. (Hrsg.), „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen…“, 2001, S. 381 (392 ff.); siehe auch die fundierte Auseinandersetzung mit der Theorie der Verfassungsfunktionen von E.-U. Petersmann in: M. Krajewski, Verfassungsperspektiven und Legitimation des Rechts der Welthandelsorganisation (WTO) (2001), S. 161; ähnlich A. v. Bogdandy, Law and Politics in the WTO, Max Planck Yearbook of United Nations Law 5 (2001), S. 609 (655 ff.). Tomuschat (Fn. 5). Vogel (Fn. 12), S. 30. H. C. Krüger/J. Polakiewicz, Vorschläge für ein kohärentes System des Menschenrechtsschutzes in Europa, EuGRZ 2001, S. 92 (94, 100). M. Hilf, Europäische Union und Europäische Menschenrechtskonvention, in: FS Bernhardt, 1995, S. 1193 (1194). Dazu J. Kühling, in diesem Band, S. 662 ff.; sowie noch unten, III. 1. c).
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lich prekärer, doch kommt es darauf an dieser Stelle nicht an. Es geht nicht um eine abstrakte Bestimmung, welche völkerrechtlichen Vertragswerke Verfassungsqualität besitzen. Vielmehr geht es darum, in welchem Maße die EU völkerrechtliche Vertragswerke so in die eigene Rechtsordnung integriert, dass sie zu Teilen des Europäischen Verfassungsrechts werden, das dieser Band behandelt. Unter diesem Gesichtspunkt ist neben der EMRK das WTO-Recht schon deshalb besonders interessant, weil um seine Stellung im Gemeinschaftsrecht heftig gerungen worden ist. Den dritten Kandidaten bildet die Charta der Vereinten Nationen. Sie teilt mit der EMRK das Schicksal, dass ihr EG und EU nicht beigetreten sind. Sanktionen, die der UN-Sicherheitsrat verhängt, werden unionsrechtlich mit einem komplizierten, zweistufigen Mechanismus umgesetzt. Auf der ersten Stufe nimmt der Rat im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nach Art. 11 ff. EU eine gemeinsame Aktion oder einen gemeinsamen Standpunkt an. Auf dieser Grundlage wird dann nach Art. 60 Abs. 1 und Art. 301 EG eine Verordnung oder ein anderer Akt zur Umsetzung im EG-Sekundärrecht erlassen (vgl. Art. 75 und 215 AEUV). Das mehrstufige Umsetzungsverfahren erweckt den Anschein, als sei das Gemeinschaftsrecht weitgehend vom Recht der Vereinten Nationen abgeschirmt. Die neueste Rechtsprechung des Gerichts erster Instanz (EuG) zu UN-Sanktionen gegen namentlich aufgelistete Terrorverdächtige legt jedoch den Eindruck nahe, dass Beschlüsse des Sicherheitsrats tief in die Gemeinschaftsrechtsordnung und namentlich in das Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft eingreifen können. Ausgeklammert bleiben hingegen Assoziierungsabkommen nach Art. 310 EG (Art. 217 AEUV). Ihr Ziel ist es, Drittstaaten der Union anzunähern.21 Im Vordergrund steht damit die Ausdehnung gemeinschaftsrechtlicher Regelungsgehalte auf Drittstaaten. Das gilt auch für das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), das die EFTA-Staaten (mit Ausnahme der Schweiz) assoziiert. Der vorliegende Beitrag hat hingegen den Import externer, fremder Regelungsgehalte in das Gemeinschaftsrecht zum Gegenstand. Im Folgenden soll untersucht werden, ob und wie das Unionsrecht Völkergewohnheitsrecht einerseits sowie völkerrechtliche Nebenverfassungen wie die EMRK, das WTO-Recht und die Charta der Vereinten Nationen andererseits in seine Verfassungsordnung aufgenommen hat. Dazu muss untersucht werden, welche Mechanismen das Gemeinschaftsrecht bereitstellt, um Völkerrecht zu inkorporieren. Wer die interne Ordnung als Teil einer größeren, weltweiten Ordnung begreift, wird geneigt sein, völkerrechtliche Normen auch intern unmittelbar anwendbar zu machen. Diesen Ansätzen ist zuerst nachzugehen (II.). Freilich verfügt das Unionsrecht auch über Mechanismen, Völkerrecht ohne unmittelbare Anwendbarkeit in der einen oder anderen Form Geltung zu verschaffen, indem es in Gemeinschaftsrecht transformiert wird (III.). Eine Bewertung, die die Unterschiede in der Rezep-
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Der EuGH, Rs. 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3719, Rn. 9, spricht von einer zumindest teilweisen Teilhabe am Gemeinschaftssystem; siehe auch A. Weber, in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2003, Art. 310 EG, Rn. 1.
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tion zu erklären versucht, sowie die Darstellung der für diesen Beitrag relevanten Änderungen durch den Lissabonner Vertrag schließen den Beitrag ab (IV.). In methodischer Hinsicht hat die Analyse vom Normtext auszugehen, soweit ein solcher vorhanden ist. Sodann ist zu systematisieren, welche dogmatischen Konzepte zur Lösung offener Fragen angeboten werden. Die Rechtsprechung des EuGH ist auf ihre dogmatische Konsistenz zu befragen. Gegebenenfalls sind eine dogmatisch kohärente Rekonstruktion und eine bewertende Erklärung verbleibender Brüche zu versuchen. Eine terminologische Bemerkungen vorab: Das Verhältnis von EG und EU kann und muss in diesem Beitrag nicht geklärt werden. Im Rahmen der WTO handelt die EG. Wenn es um die EMRK geht, ist ebenfalls vorrangig die EG betroffen. Allerdings zeigt die primärrechtliche Verankerung der Menschenrechte in Art. 6 Abs. 2 EU, dass auch die EU mitbetroffen ist. Zudem kommen dort, wo es um die Umsetzung von UN-Sanktionen geht, gemeinsame Standpunkte aus der zweiten Säule der EU mit ins Spiel. Der Reformvertrag von Lissabon soll die Unterscheidung aufheben. Damit verschiebt sich der Blickwinkel vom Gemeinschaftsrecht immer mehr hin zur Gesamtheit des Unionsrechts. Der Sprachgebrauch wird daher nicht ganz einheitlich sein.
II. Inkorporation völkerrechtlicher Verfassungselemente als unmittelbar anwendbares Recht Die größte Öffnung einer nationalen Rechtsordnung besteht darin, Völkerrecht im Rahmen einer generellen automatischen Inkorporation22 ohne weiteres interne Geltung zuzusprechen (sog. Adoptionslehre23). Das Gemeinschaftsrecht scheint diesen Weg in der Tat für den Bereich des Völkergewohnheitsrechts zu gehen. Dieser generellen automatischen Inkorporation ist zuerst nachzugehen (1.). Der klassische Mechanismus, sich einem völkerrechtlichen Vertragswerk zu unterwerfen, ist der Beitritt. Er ist anschließend zu behandeln (2.). Dieser Mechanismus ist allerdings weder bei der EMRK noch bei der VN-Charta oder beim GATT 1947 benutzt worden. Hier ist an den Mechanismus der Rechtsnachfolge sowie an Konzepte der mittelbaren Bindung zu denken (3.). 1. Automatische Inkorporation von Völkergewohnheitsrecht Das Verhältnis von Völkerrecht und internem Recht wird traditionell mit den Begriffen des Monismus und des Dualismus beschrieben. Dem Gemeinschaftsrecht ist häufig eine monistische Konzeption des Verhältnisses zum Völkerrecht zugeschrieben worden.24 Das trifft nur eingeschränkt zu, denn in einer streng monistischen Konzeption müsste Völkerrecht automatisch Vorrang vor allen internen Rechtsnormen einschließlich der Verfassung genießen. Ein solcher absoluter Vorrang des Völkerrechts vor dem Gemeinschaftsrecht wird nicht vertreten. Die Einordnung des 22 23
Dazu A. Cassese, International Law, 2005, S. 220. Dazu P. Kunig, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2007, Abschn. II, Rn. 39.
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Völkerrechts in die Gemeinschaftsrechtsordnung ist vielmehr eine Frage, die vom Gemeinschaftsrecht zu beantworten ist. Denis Alland hat aus dem Blickwinkel der französischen Rechtsordnung, die einer monistischen Tradition zugeordnet wird,25 angemerkt, dass letztlich jedes verfassungsrechtliche Konzept der Integration von Völkerrecht ein dualistisches sei.26 Was sich je nach Verfassungsordnung unterscheide, sei der Grad des monistischen Einflusses. Das gilt auch für das EG-Recht. Vertritt man einen eher monistischen Ansatz, liegt die Annahme nahe, dass die Gemeinschaftsrechtordnung Völkerrecht automatisch rezipiert. Man kann von einer generellen Adoption des Völkerrechts sprechen. Dies wird für das Völkergewohnheitsrecht in der Tat vertreten. So führt Tomuschat aus, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, also vor allem das Völkergewohnheitsrecht, seien „ipso iure Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung“, und zieht die Parallele zu Art. 25 GG.27 Im Rang stehe das Völkerrecht innergemeinschaftlich zwischen dem Primär- und dem Sekundärrecht.28 Tatsächlich hat sich der EuGH in seinen Entscheidungen immer wieder auf Völkergewohnheitsrecht bezogen.29 Häufig ging es dabei um völkerrechtliche Grenzen der Gemeinschaftsgewalt bei Sachverhalten mit Auslandsbezug. Im Zellstoff-Fall machten die Kläger, die ihren Sitz außerhalb der Gemeinschaft hatten, geltend, dass es völkerrechtswidrig sei, sie dem EG-Kartellrecht zu unterwerfen. Der EuGH stellte jedoch auf die Auswirkungen ab, die das Preiskartell der Kläger im Gemeinsamen Markt hatte, und sah die Zuständigkeit der EG als vom völkergewohnheitsrechtlichen Territorialitätsprinzip gedeckt an.30 Deshalb bestand kein Anlass, auf die formale Stellung des Völkergewohnheitsrechts innerhalb des Gemeinschaftsrechts einzugehen. Andeutungen zum innergemeinschaftlichen Status des Völkergewohnheitsrechts finden sich erstmals 1992 im Poulsen-Urteil. Dort war zu entscheiden, ob eine EG-Fischereiverordnung auf das Schiff eines Dänen Anwendung fand, das in 24
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So für das Völkervertragsrecht V. Constantinesco/D. Simon, Quelques problèmes des relations extérieures des Communautés européennes, Revue trimestrielle de droit européen 11 (1975), S. 432 (440–443); P. Pescatore, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur innergemeinschaftlichen Wirkung völkerrechtlicher Abkommen, in: FS Mosler, 1983, S. 661 (680–687); siehe auch P.-J. Kuijper, Epilogue: Symbiosis?, in: J. M. Prinssen/A. Schrauwen (Hrsg.), Direct Effect, Rethinking a Classic of European Law, 2002, S. 251 (257 f.), sowie D. Thym, in diesem Band, S. 456 ff., zur Rechtsprechung des EuGH. P. Daillier/A. Pellet, Droit international public, 2002, Rn. 148. D. Alland, Jurisprudence en matière de droit international public, Revue générale de droit international public 102 (1998), S. 203 (234–237). C. Tomuschat, in: v. d. Groeben/Schwarze (Fn. 21), Art. 281 EG, Rn. 41; siehe auch schon K. M. Meessen, The Application of Rules of Public International Law Within Community Law, CMLRev. 13 (1976), S. 485 (499 f.). Tomuschat (Fn. 27), Art. 281 EG, Rn. 43. Siehe die umfassende Analyse von J. Wouters/D. Van Eeckhoutte, Giving Effect to Customary International Law Through European Community Law, in: Prinssen/Schrauwen (Fn. 24), S. 181. EuGH, verb. Rs. 89/85 u.a., Ahlström Osakeyhtiö u.a./Kommission, Slg. 1988, 5193, Rn. 18 f.
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Panama registriert war. Der EuGH stellte fest, dass die Befugnisse der EG unter Beachtung des Völkerrechts auszuüben seien und daher die EG-Verordnung im Lichte des einschlägigen Seevölkerrechts auszulegen sei.31 Hier wird allerdings zunächst nur die völkerrechtliche Bindung der EG betont und daraus ein Gebot völkerrechtskonformer oder jedenfalls -freundlicher Auslegung abgeleitet. Über die formale Inkorporation des Völkergewohnheitsrechts in die Gemeinschaftsrechtsordnung ist damit noch nichts gesagt. In einer etwas anderen Konstellation wandte der EuGH Völkergewohnheitsrecht 2002 im Weber-Fall an. Zu entscheiden war, ob das Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsabkommen (EuGVÜ) auf Arbeiten auf dem Festlandsockel Anwendung fand. Das EuGVÜ knüpfte an das Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten an, gab aber keinen Anhalt, wie dieses Hoheitsgebiet zu bestimmen war. Daher waren nach Ansicht des EuGH die den Festlandsockel betreffenden „Grundsätze des Völkerrechts“ heranzuziehen.32 Man kann hier von einer Lückenfüllungsfunktion des Völkergewohnheitsrechts sprechen.33 Auch wenn man Völkerrecht nicht als Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung ansehen würde, läge es nahe, dort, wo eine europäische Rechtsnorm an ein völkerrechtliches Konzept wie das des Hoheitsgebietes anknüpft, mangels anderer Anhaltspunkte die völkerrechtlichen Abgrenzungsregeln anzuwenden. Die deutlichste Stellungnahme des EuGH zur innergemeinschaftlichen Wirkung von Völkergewohnheitsrecht findet sich im Racke-Urteil, auf das Tomuschat34 seine Aussage zur innergemeinschaftlichen Wirkung stützt. Angesichts des Zerfalls Jugoslawiens hatte der Rat 1991 ein Kooperationsabkommen der EWG mit Jugoslawien durch Verordnung suspendiert. Er berief sich dabei auf einen Wegfall der Geschäftsgrundlage. Der EuGH stellte 1998 fest, dass die EG bei der Suspendierung eines Drittstaatsabkommens die Regeln des Völkergewohnheitsrechts zu beachten habe; die völkergewohnheitsrechtlichen Regelungen zur clausula rebus sic stantibus bänden die Gemeinschaftsorgane und seien Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung.35 Hier scheint sich der EuGH in der Tat deutlich für eine innergemeinschaftliche Geltung des Völkergewohnheitsrechts mit Vorrang vor dem Sekundärrecht auszusprechen. Freilich weist der Fall Besonderheiten auf. Der Kläger berief sich auf ein Kooperationsabkommen, das nach Art. 300 Abs. 7 EG Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung im Rang zwischen Primär- und Sekundärrecht war.36 Die fragliche EG-Verordnung wäre also wegen Verstoßes gegen das Kooperationsabkommen gemeinschaftsrechtswidrig, wenn es sich nicht um eine 31
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EuGH, Rs. C-286/90, Poulsen, Slg. 1992, I-6019, Rn. 9; siehe auch P.-J. Kuijper, On International Customary Law and the Legal Order of the European Union, in: I. F. Dekker/ H. H. G. Post (Hrsg.), On the Foundations and Sources of International Law, 2003, S. 151 (157–159). EuGH, Rs. C-37/00, Weber, Slg. 2002, I-2013, Rn. 31. Wouters/Van Eeckhoutte (Fn. 29), S. 194–196. Tomuschat (Fn. 27). EuGH, Rs. C-162/96, Racke, Slg. 1998, I-3655, Rn. 45 f. Dazu noch unten, II. 2. a) aa).
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völkerrechtlich zulässige Suspendierung handelte. Um also feststellen zu können, ob die EG-Verordnung gegen das Kooperationsabkommen verstieß oder ob dieses in zulässiger Weise suspendiert wurde, musste der EuGH die entsprechenden Regeln des Völkervertragsrechts anwenden. Es fragt sich daher, ob hier tatsächlich ein allgemeingültiger Satz zum innergemeinschaftlichen Status des Völkerrechts aufgestellt wurde.37 Der EuGH scheint freilich von einer generellen Maßstabsfunktion des Völkergewohnheitsrechts auszugehen. So hat er 2008 in der Rechtssache Intertanko seine Bereitschaft gezeigt, Sekundärrecht am Maßstab des Völkergewohnheitsrechts zu messen.38 Allerdings fehlte es im konkreten Fall an gewohnheitsrechtlichen Normen, die der EuGH hätte anwenden können. Einen ganz anderen Weg der Inkorporation wählte das EuG 1997 im Fall Opel Austria. Das EuG hatte über einen Einfuhrzoll zu entscheiden, den der Rat wenige Wochen vor dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens für bestimmte Produkte aus Österreich festgesetzt hatte. Nach dem EWR-Abkommen war ein solcher Zoll verboten. Die Opel Austria GmbH berief sich daher auf die in Art. 18 der Wiener Vertragsrechtskonvention kodifizierte Regel des Völkergewohnheitsrechts, wonach ein Völkerrechtssubjekt vor dem Inkrafttreten eines von ihm unterzeichneten Vertrages verpflichtet ist, alles zu unterlassen, was Ziel und Zweck des Vertrages vereiteln würde. Das EuG hielt zunächst fest, dass die entsprechende völkerrechtliche Regelung für die EG verbindlich sei.39 Anschließend nahm das EuG aber nicht die völkerrechtliche Regelung zum Maßstab, sondern den inhaltlich parallel verstandenen Grundsatz des Vertrauensschutzes als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts. Das EuG wendet also inhaltlich genau den Maßstab an, den das Völkerrecht vorgibt. Rechtsquelle und damit Entscheidungsgrundlage des EuG ist aber nicht das Völkerrecht, sondern das EG-Primärrecht in Form eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes. Das EuG macht sich hier genau den Inkorporationsmechanismus zunutze, den der EuGH für die EMRK entwickelt hat.40 Das Bild zum innergemeinschaftlichen Status des Völkergewohnheitsrechts ist damit alles andere als eindeutig. Das geschriebene Primärrecht regelt die Frage, anders als etwa Art. 25 GG, nicht. Man kann mit der Stellungnahme des EuGH in den Fällen Racke und Intertanko von einer automatischen Inkorporation des Völkergewohnheitsrechts ausgehen. Es gibt allerdings auch Entscheidungen, die in eine andere Richtung weisen, am deutlichsten die Entscheidung des EuG in der Sache Opel Austria. Darauf wird zurückzukommen sein.41
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Krit. zur Racke-Entscheidung auch Wouters/Van Eeckhoutte (Fn. 29), S. 202–204. EuGH, Rs. C-308/06, Intertanko, Slg. 2008, I-4057, Rn. 51. EuG, Rs. T-115/94, Opel Austria/Rat, Slg. 1997, II-39, Rn. 90 f. Dazu noch unten, III. 1. c). Unten, III. 1. c).
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2. Beitritt zu völkerrechtlichen Nebenverfassungen a) WTO Der normale Weg, einen völkerrechtlichen Vertrag verbindlich zu machen, ist der Beitritt. Diesen Weg ist die EG bei der WTO gegangen. Die EG gehört zu den Gründungsmitgliedern, für die das Vertragswerk der Welthandelsorganisation am 1.1.1995 in Kraft getreten ist.42 Damit sind die Vertragsparteien völkerrechtlich verpflichtet, die Vertragsbestimmungen einzuhalten. Mit welchen Mitteln sie dies bewerkstelligen, überlässt das Völkerrecht grundsätzlich den Vertragsparteien. Insbesondere gibt es keine allgemeinen völkerrechtlichen Vorgaben dafür, ob und wie die Parteien einen Vertrag in ihr innerstaatliches Recht zu inkorporieren haben. Es entspricht der völkerrechtlichen Vertragsfreiheit, dass die Parteien in einem Vertrag regeln können, ob sie eine innerstaatliche Wirkung verlangen oder ob sie eine solche Wirkung ausschließen wollen.43 Im Falle der WTO ist dies aber nicht geschehen.44 Damit verbleibt die Entscheidung bei den einzelnen Vertragsparteien.45 Das stellt namentlich Art. 1 Abs. 1 S. 3 TRIPS klar.46 Für die EG regelt Art. 300 Abs. 7 EG, dass das Vertragswerk für die Organe der Gemeinschaft und für die Mitgliedstaaten verbindlich ist. Es fragt sich, was das bedeutet. aa) Art. 300 Abs. 7 EG als Ausgangspunkt Geht man vom Wortlaut des Art. 300 Abs. 7 EG aus, fragt sich zunächst, welcher Rechtsnatur die Bindung ist. Die völkerrechtliche Bindung der EG als solcher folgt kraft Völkerrechts unmittelbar aus dem Vertragsschluss nach Art. 300 Abs. 2 EG. Gemeinschaftsrecht hat auf diese Bindung keinen Einfluss. Art. 300 Abs. 7 EG kann also nur eine darüber hinausgehende, gemeinschaftsrechtliche Bindung der einzelnen Organe meinen. Art. 300 Abs. 7 EG spricht eine uneingeschränkte Bindung der Organe aus. Sie werden also auch dann gebunden, wenn sie als Gemeinschaftsgesetzgeber tätig werden.47 Hieraus ergibt sich der innergemeinschaftliche Rang völkerrechtlicher Verträge. Da völkerrechtliche Verträge ihre innergemeinschaftliche Bindungswirkung aus dem Primärrecht ableiten, stehen sie gemeinschaftsintern unter dem Pri-
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45 46 47
Siehe die Notifikation des WTO-Generalsekretärs nach Art. XIV Abs. 3 WTO-Übereinkommen, WTO-Dok. WT/Let/1/Rev. 2, unter www.wto.org. Cottier (Fn. 14), S. 121; P. E. Holzer, Die Ermittlung der innerstaatlichen Anwendbarkeit völkerrechtlicher Vertragsbestimmungen, 1998, S. 35 ff. G. M. Berrisch/H.-G. Kamann, WTO-Recht im Gemeinschaftsrecht, EWS 2000, S. 89 (92 f.); W. Meng, Gedanken zur Frage unmittelbarer Anwendung von WTO-Recht in der EG, in: FS Bernhardt, 1995, S. 1063 (1085); so i.E. zutreffend auch EuGH, Rs. C-149/96, Portugal/Rat, Slg. 1999, I-8395, Rn. 34 f., 41. A. v. Bogdandy/T. Makatsch, Kollision, Koexistenz oder Kooperation?, EuZW 2000, S. 261 (266). So auch EuGH, Rs. C-89/99, Schieving-Nijstad, Slg. 2001, I-5851, Rn. 33 f. C. Timmermans, The EU and Public International Law, European Foreign Affairs Rev. 4 (1999), S. 181 (189).
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märrecht. Indem Art. 300 Abs. 7 EG den Gemeinschaftsgesetzgeber bindet, weist er den völkerrechtlichen Verträgen aber einen Rang über dem Sekundärrecht zu.48 Die Verträge sind somit gemeinschaftsintern zwischen Primär- und Sekundärrecht einzuordnen. Der interne Vorrang völkerrechtlicher Verträge vor dem Sekundärrecht ist keine Selbstverständlichkeit. In Deutschland weist beispielsweise Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG völkerrechtlichen Verträgen lediglich den Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu.49 Eine Verfassung, die Völkerrecht über das einfache Recht stellt, nimmt dem internen Gesetzgeber die Freiheit, völkerrechtswidriges Recht zu setzen. Dies wird in Europa immer mehr zur Regel. Art. 55 der französischen Verfassung ist dafür ebenso ein Beispiel wie Art. 94 der niederländischen oder Art. 91 Abs. 2 der polnischen Verfassung. Auch Art. 300 Abs. 7 EG wählt diese besonders völkerrechtsfreundliche Lösung. Das ist im Grundsatz weitgehend anerkannt. Nicht nur das Schrifttum leitet aus Art. 300 Abs. 7 EG einen Vorrang völkerrechtlicher Verträge vor sekundärem Gemeinschaftsrecht ab.50 Auch der EuGH erkennt den Vorrang mit seiner Bereitschaft, sekundäres Gemeinschaftsrecht am Maßstab völkerrechtlicher Verträge zu überprüfen, grundsätzlich an.51 Freilich tut er dies gerade im Bereich des WTO-Rechts nur mit Einschränkungen, deren Berechtigung noch zu prüfen sein wird. Mit der Feststellung einer innergemeinschaftlichen Bindung im Rang zwischen primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht ist noch nicht geklärt, unter welchen Umständen die Vorschriften völkerrechtlicher Verträge gemeinschaftsintern auch die Rechtsverhältnisse von Individuen regeln können. Dies bemisst sich nach der Theorie der unmittelbaren Anwendbarkeit. bb)Theorie der unmittelbaren Anwendbarkeit Auch wenn das Völkerrecht die innerstaatliche Wirkung selbst nicht regelt, hat sich doch ein Konzept über seine unmittelbare innerstaatliche Anwendbarkeit herausgebildet, das vielen Staaten gemeinsam ist.52 In Anschluss an die Leitentscheidungen 48 49 50 51
52
A. Epiney, Zur Stellung des Völkerrechts in der EU, EuZW 1999, S. 5 (7). O. Rojahn, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2001, Art. 59, Rn. 37. Siehe nur H. Krück, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 281 EG, Rn. 30; leicht zweifelnd Tomuschat (Fn. 27), Art. 300 EG, Rn. 84. Besonders deutlich EuGH, Rs. C-308/06 (Fn. 38), Rn. 42 f.; siehe auch Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 53 f.; Rs. C-344/04, International Air Transport Association, Slg. 2006, I-403, Rn. 39. Für Frankreich: Alland (Fn. 26), S. 219 ff.; für die USA: C. M. Vázquez, The Four Doctrines of Self-Executing Treaties, AJIL 89 (1995), S. 695; für die Schweiz: Holzer (Fn. 43), S. 103 ff.; sowie D. Würger, Die direkte Anwendbarkeit staatsvertraglicher Normen, in: T. Cottier u.a. (Hrsg.), Der Staatsvertrag im schweizerischen Verfassungsrecht, 2001, S. 93, 97 ff.; aus deutscher Sicht rechtsvergleichend G. Buchs, Die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Vertragsbestimmungen, 1993, S. 31 ff.; siehe auch A. Nollkaemper, The Direct Effect of Public International Law, in: Prinssen/Schrauwen (Fn. 24), S. 155 (158, 164– 167, 172).
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des EuGH in den Sachen Haegemann53 und Kupferberg54 geht das europarechtliche Schrifttum ganz überwiegend davon aus, dass diese Regeln auch für die innergemeinschaftliche Anwendung im Rahmen von Art. 300 Abs. 7 EG gelten.55 Das Konzept der unmittelbaren Anwendbarkeit wird auch als die Lehre von den selfexecuting treaties bezeichnet.56 Eine besondere Ausprägung hat es in der Lehre von der unmittelbaren innerstaatlichen Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts gefunden. Das Gemeinschaftsrecht stellt jedoch eine Sonderentwicklung gegenüber dem allgemeinen Völkerrecht dar.57 Es steht dem innerstaatlichen Recht in mancher Hinsicht näher als dem Völkerrecht.58 Wenn hier nach der internen Wirkung von Völkerrecht gefragt wird, ist daher vorrangig auf die allgemeine Lehre von den selfexecuting treaties zu schauen.
unmittelbar anwendbare Vertragsnormen
Kriterien
Hintergrund
• Bestimmtheit • Unbedingtheit
legislative } keine Konkretisierung notwendig
• Adressat: nicht nur der Staat als solcher
Vertragsstaaten beabsichtigen nicht Ausschluss der unmittelbaren Anwendbarkeit
Die Abbildung zeigt die Voraussetzungen unmittelbarer Anwendbarkeit im Überblick. Danach ist eine Norm self-executing, wenn sie für eine innerstaatliche Anwendung durch nationale Gerichte hinreichend bestimmt und unbedingt ist. Der EuGH fragt in diesem Sinne danach, ob die Bestimmung eines Abkommens „eine klare, eindeutige und unbedingte Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen“.59 Das Bundesverwal53 54 55
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EuGH, Rs. 181/73, Haegeman, Slg. 1974, 449, Rn. 2–6. EuGH, Rs. 104/81, Kupferberg, Slg. 1982, 3641, Rn. 9–27. P. Hilpold, Die EU im GATT/WTO-System, 2000, S. 171; Meng (Fn. 44), S. 1067, 1070, 1072; ebenso Cottier (Fn. 14), S. 104; im Ergebnis auch A. Peters, The Position of International Law Within the European Community Legal Order, GYIL 40 (1997), S. 9 (42–45), die allerdings den Begriff „self-executing“ vermeiden möchte und den Willen der Vertragsparteien besonders betont; a.A. anscheinend J. Sack, Noch einmal: GATT/WTO und europäisches Rechtsschutzsystem, EuZW 1997, S. 688. Zur Übereinstimmung der Begriffe Buchs (Fn. 52), S. 26 f. Hilpold (Fn. 55), S. 168–170; Peters (Fn. 55), S. 55 f. P. Eeckhout, The Domestic Legal Status of the WTO Agreement, CMLRev. 34 (1997), S. 11 (56). EuGH, verb. Rs. C-300/98 und C-392/98, Dior, Slg. 2000, I-11307, Rn. 42, in Anschluss an Rs. 12/86 (Fn. 21), Rn. 14; Rs. 162/96 (Fn. 35), Rn. 31.
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tungsgericht betont die Vergleichbarkeit mit einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift.60 Bedarf die völkerrechtliche Norm zu ihrer Anwendung erst einer Konkretisierung durch staatliche Gesetzgebung, ist sie nicht self-executing.61 Dann lässt die völkerrechtliche Norm dem Staat einen normativen Spielraum, den nationale Gerichte nicht ausfüllen können. Im Hintergrund der Lehre von der unmittelbaren Anwendbarkeit steht damit auch die Kompetenzabgrenzung zwischen den politischen Organen der ersten und zweiten Gewalt einerseits und der rechtsprechenden Gewalt andererseits.62 Normen sind nur insoweit self-executing, wie Gerichte sie auslegen und anwenden können, ohne politische Funktionen zu übernehmen. Ein völkerrechtlicher Vertrag kann zudem durch seine Formulierungen zum Ausdruck bringen, dass er eine normative Ausführung verlangt. Das ist anzunehmen, wenn eine völkerrechtliche Norm ausdrücklich die Staaten als solche anspricht und sie zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet. Die Antwort, ob eine Norm unmittelbar anwendbar ist, kann demnach durchaus für verschiedene Vorschriften ein und desselben Vertrages unterschiedlich ausfallen. Im Intertanko-Fall scheint der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit davon abhängig zu machen, ob die Vertragsnorm Individuen subjektive Rechte verleiht.63 Dieses zusätzliche Erfordernis ist aber mit den allgemein anerkannten Kriterien der unmittelbaren Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge nicht zu vereinbaren.64 Zwar wird die Klagebefugnis häufig von der Geltendmachung eines subjektiven Rechtes abhängen. Dieses Recht muss sich aber nicht aus dem völkerrechtlichen Vertrag ergeben. Greift beispielsweise ein völkerrechtswidriger Verwaltungsakt in ein Grundrecht ein, verleiht das Grundrecht das nötige Klagerecht. Wendet man diese Grundsätze auf das WTO-Recht an, lassen sich mühelos unmittelbar anwendbare Vorschriften finden.65 Beispielsweise kann kaum ein Zweifel bestehen, dass Art. 50 TRIPS mit seinen Vorgaben für die Ausgestaltung des vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes unmittelbar anwendbar ist.66 Die Norm wen60 61
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BVerwGE 80, 233 (235); E 87, 11 (13). Siehe BVerwGE 87, 11 (13), wonach ein Bedürfnis nach „weiterer normativer Ausfüllung“ die unmittelbare Anwendbarkeit entfallen lasse; sowie Art. 91 Abs. 1 der Verfassung der Republik Polen vom 2.04.1997, wonach ein völkerrechtlicher Vertrag unmittelbar anzuwenden ist, „es sei denn seine Anwendung setzt die Verabschiedung eines Gesetzes voraus“ (Verfassung der Republik Polen, hrsg. v. der Kanzlei des Sejm, Warszawa 1997). Diesen Aspekt betont Cottier (Fn. 14), S. 115 ff. EuGH, Rs. 308/06 (Fn. 38), Rn. 59–64. Buchs (Fn. 52), S. 40, 88 f.; Vázquez (Fn. 52), S. 719 f.; Würger (Fn. 52), S. 109 f. Siehe auch S. Mauderer, Der Wandel vom GATT zur WTO und die Auswirkungen auf die Europäische Gemeinschaft, 2001, S. 117; A. Ott, GATT und WTO im Gemeinschaftsrecht, 1997, S. 223 ff.; E.-U. Petersmann, Darf die EG das Völkerrecht ignorieren?, EuZW 1997, S. 325 (327); ders., GATT/WTO-Recht: Duplik, EuZW 1997, S. 651 (652 f.). Auch die Bundesregierung geht in ihrer Denkschrift zum WTO-Abkommen (BT-DRs. 12/ 7655 [neu], S. 345) ausdrücklich davon aus, dass TRIPS zumindest in Teilen unmittelbar anwendbar ist; speziell zur unmittelbaren Anwendbarkeit des TRIPS-Übereinkommens R. Duggal, Die unmittelbare Anwendbarkeit der Konventionen des internationalen Urheberrechts am Beispiel des TRIPS-Übereinkommens, IPRax 2002, S. 101 (104–107).
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det sich ausdrücklich an die Gerichte. Einer weiteren normativen Konkretisierung bedarf es nicht. Etwaige Zweifel über das Geforderte kann jedes Gericht mit den Mitteln juristischer Auslegung beheben. Andere Vorschriften, wie etwa das Verbot nicht-tarifärer Handelshemmnisse nach Art. XI GATT und die Ausnahmevorschrift des Art. XX GATT sind wesentlich ungenauer. Armin von Bogdandy hat auf die Rechtsunsicherheit hingewiesen, die bei der Anwendung derart komplexer Vorschriften für die Marktteilnehmer entstehen könnten.67 Auch diese Vorschriften lassen den einzelnen Staaten jedoch keinen Konkretisierungsspielraum. Das zeigt das WTO-Streitschlichtungsverfahren. Leitet ein Staat mit der Behauptung, ein anderer Staat habe seine Verpflichtungen aus dem GATT verletzt, ein Verfahren ein, so werden ein Panel und gegebenenfalls der Appellate Body darüber entscheiden, ob das GATT tatsächlich verletzt ist. Panel und Appellate Body sind keine politischen Organe, sondern sie entscheiden in einem gerichtsförmigen Verfahren. Wenn Panel und Appellate Body zu einer rechtsförmigen Entscheidung in der Lage sind, muss für staatliche Gerichte dasselbe gelten. Piet Eeckhout weist zwar darauf hin, dass nationale Gerichte überfordert sein könnten, wenn sie das ihnen fremde WTORecht direkt anwenden müssten.68 Komplexes Recht anzuwenden, wird von Gerichten aber auch sonst verlangt. Gerade der EuGH, um den es hier geht, sollte in der Lage sein, sich soweit in das Rechtssystem der WTO einzuarbeiten, dass er zu sachgerechten Entscheidungen in der Lage ist. Tatsächlich zögert der EuGH nicht, Vorschriften des WTO-Rechts auszulegen.69 cc) Abgrenzung unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten Sicher wird sich im Voraus oft nur schwer bestimmen lassen, wie gerichtliche Instanzen eine Vorschrift des WTO-Rechts letztlich auslegen und anwenden werden. Auch mag es zu Divergenzen zwischen Entscheidungen unterschiedlicher nationaler Gerichte70 oder zwischen nationalen Entscheidungen und späteren Entscheidungen der WTO-Streitschlichtung71 kommen, wenn nationale Gerichte WTO-Recht unmittelbar anwenden würden. Dieses Problem beschränkt sich aber nicht auf das WTO-Recht.72 Auch nationales Verfassungsrecht ist in einem Maße unbestimmt, 67 68 69
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A. v. Bogdandy, Rechtsgleichheit, Rechtssicherheit und Subsidiarität im transnationalen Wirtschaftsrecht, EuZW 2001, S. 357 (362). Eeckhout (Fn. 58), S. 50. Siehe nur EuGH, Rs. C-53/96, Hermès, Slg. 1998, I-3603, Rn. 34 ff, sowie im Überblick F. Snyder, The Gatekeepers: The European Courts and WTO Law, CMLRev. 40 (2003), S. 313 (317 f.). Dies betont C. Schmid, Immer wieder Bananen: Der Status des GATT/WTO-Systems im Gemeinschaftsrecht, NJW 1998, S. 190 (195); siehe auch H. G. Krenzler, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union (Stand: Jan. 2008), E 1, Rn. 85; H.-D. Kuschel, Die EG-Bananenmarktordnung vor deutschen Gerichten, EuZW 1995, S. 689 (690). Dies betont Krajewski (Fn. 15), S. 65; P. Royla, WTO-Recht – EG-Recht: Kollision, Justiziabilität, Implementation, EuR 2001, S. 495 (500), schließt daraus sogar, dass sich die Einrichtung eines internationalen Sanktionsmechanismus mit dem Konzept der unmittelbaren Anwendbarkeit nicht vertrage. Meng (Fn. 44), S. 1086.
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dass verfassungsgerichtliche Entscheidungen häufig nur begrenzt vorhersehbar sind. Es ist keine Seltenheit, dass fachgerichtliche Entscheidungen von späteren Entscheidungen des Verfassungsgerichts abweichen. Auch andere völkerrechtliche Verträge lassen selbstverständlich erhebliche Auslegungsspielräume. Das gilt namentlich für die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Gefahr, dass nationale Entscheidungen zur EMRK von späteren Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abweichen, ist seit langem bekannt. Dennoch entscheiden sich immer mehr Staaten dafür, die EMRK als richterlichen Prüfungsmaßstab in ihr internes Recht zu integrieren.73 Markus Krajewski sieht es als wesentlichen Unterschied zur EMRK an, dass das WTO-Recht keine Mechanismen enthalte, um Konflikte zwischen Entscheidungen im Rahmen der WTO-Streitschlichtung und solchen nationaler Gerichte zu regeln. Aus dem Fehlen müsse geschlossen werden, dass die Vertragsstaaten die unmittelbare Anwendbarkeit des WTO-Rechts ausschließen wollten. Demgegenüber regele die EMRK mit der sog. local remedies rule in ihrem Art. 35 Abs. 1 das Verhältnis der Gerichtsbarkeiten.74 Dagegen ist einzuwenden, dass Art. 35 Abs. 1 EMRK divergierende Entscheidungen nicht vermeidet. Vielmehr stellt die Vorschrift sicher, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) grundsätzlich nur solche Fälle beurteilen kann, in denen innerstaatliche Gerichte eine Rechtsverletzung rechtskräftig verneint haben. Immer wenn der EGMR dann eine Verletzung feststellt, kommt es zum Konflikt mit innerstaatlichen Entscheidungen. Unter diesen Umständen wird man aus dem Schweigen des WTO-Rechts nicht folgern können, dass die WTO-Staaten eine unmittelbare Anwendung des WTO-Rechts im Interesse der Konfliktvermeidung ausschließen wollten. Es bleibt vielmehr bei der Feststellung, dass das WTO-Recht die Frage völkerrechtlich nicht entschieden hat.75 dd) Das Argument der Gegenseitigkeit Der EuGH stützt seine Ablehnung der innergemeinschaftlichen Wirkung des WTORechts seit seiner Entscheidung in der Sache Portugal/Rat maßgebend auf das Argument fehlender Gegenseitigkeit (Reziprozität).76 In der Tat gewähren wichtige Handelspartner der EG dem WTO-Recht ebenfalls keine interne Wirkung.77 Völkerrechtlich ist das Argument allerdings unbrauchbar. Verstößt ein anderer Staat gegen WTO-Recht, kann die EG ein Streitschlichtungsverfahren einleiten und 73 74 75 76
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Siehe Krüger/Polakiewicz (Fn. 18), S. 93 f. Krajewski (Fn. 15), S. 63 ff., 270. Siehe schon oben, II. 2. a). EuGH, Rs. C-149/96 (Fn. 44), Rn. 42–47; bestätigt durch verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 (Fn. 59), Rn. 44; Rs. C-307/99, OGT Fruchthandelsgesellschaft, Slg. 2001, I-3159, Rn. 24 f.; Rs. C-377/02, Léon Van Parys, Slg. 2005, I-1465, Rn. 53; zustimmend M. Hilf/F. Schorkopf, WTO und EG: Rechtskonflikte vor den EuGH?, EuR 2000, S. 74 (84 f., 90); ebenso Hilpold (Fn. 36), S. 262–271; krit. A. Ott, Der EuGH und das WTO-Recht: Die Entdeckung der politischen Gegenseitigkeit, EuR 2003, S. 504. Dies belegend, allerdings auch relativierend T. v. Danwitz, Der EuGH und das Wirtschaftsvölkerrecht, JZ 2001, S. 721 (726–728).
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gegebenenfalls in einem genau reglementierten Verfahren nach Art. 22 DSU eigene Verpflichtungen aussetzen. Eine solche völkerrechtliche Aussetzung ließe sich intern durchführen, ohne dass dem eine etwaige unmittelbare Anwendbarkeit der betroffenen Vorschriften entgegenstünde. Ist eine Verpflichtung völkerrechtlich suspendiert, entfällt auch die parallele interne Wirkung.78 Außerhalb der speziellen Verfahren nach der Streitschlichtungsvereinbarung kann die EG die eigene Rechtsbefolgung völkerrechtlich jedoch nicht von der Rechtstreue anderer Staaten abhängig machen.79 Freilich ist die interne Wirkung des WTO-Rechts ohnehin nicht völkerrechtlich determiniert.80 Entscheidend ist das interne Recht. Dort kann die Gegenseitigkeit durchaus zum Anwendungserfordernis erhoben werden, wie Art. 55 der französischen Verfassung belegt.81 Allerdings zeigt das französische Beispiel, dass die Voraussetzung nicht unproblematisch ist. Französische Gerichte schränken ihr Anwendungsfeld zunehmend ein.82 Überlegungen gehen dahin, auf den Gegenseitigkeitsvorbehalt als Druckmittel gerade auch dann zu verzichten, wenn das völkerrechtliche Vertragswerk selbst einen Streitschlichtungs- und Durchsetzungsmechanismus vorsieht.83 Folgt man dem, würde der WTO-Streitschlichtungsmechanismus den Gegenseitigkeitsvorbehalt sogar im französischen Recht entfallen lassen. Vor allem aber fehlt im Gemeinschaftsrecht eine Regelung, die Art. 55 der französischen Verfassung entspräche. Art. 300 Abs. 7 EG kennt keinen Gegenseitigkeitsvorbehalt.84 Schon gar nicht bietet Art. 300 Abs. 7 EG einen Anhalt, die Gegenseitigkeit speziell bei einem bestimmten Typus von Abkommen zu verlangen, wie es der EuGH versucht.85 Wie inkonsistent das Gegenseitigkeitsargument ist, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass es der EuGH bei Assoziierungsabkommen nicht anwendet,86 obwohl Art. 310 EG für diese Art von Verträgen ausdrücklich gegenseitige Rechte und Pflichten einfordert. ee) Das Argument des Verhandlungsspielraums Es scheint, dass der EuGH die Schwäche des Reziprozitätsarguments 2003 in der Sache Omega Air erkannt hat. Dort stützte sich er sich vor allem auf das Argument,
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Meng (Fn. 44), S. 1076 f. Mauderer (Fn. 65), S. 180 f.; W. Schroeder/P. Schonard, Die Effektivität des WTO-Streitbeilegungssystems, Recht der internationalen Wirtschaft 2001, S. 658 (660 f.). Siehe oben, II. 2. a). Dazu auch v. Danwitz (Fn. 77), S. 726; siehe ferner Buchs (Fn. 52), S. 101–104 zu Parallelen in der amerikanischen Rechtsprechung. D. Alland, Le droit international „sous“ la Constitution de la Ve République, Revue de droit public 114 (1998), S. 1649 (1664–1666); J. Gundel, Der Status des Völkerrechts in der französischen Rechtsordnung, AVR 37 (1999), S. 438 (460 f.). Alland (Fn. 82), S. 1665. v. Danwitz (Fn. 77), S. 726. Berrisch/Kamann (Fn. 44), S. 93. EuGH, Rs. 87/75, Bresciani, Slg. 1976, 129, Rn. 22/23; Rs. C-469/93, Chiquita Italia, Slg. 1995, I-4533, Rn. 31–35.
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dass WTO-Mitgliedern Spielraum für Verhandlungslösungen bleiben solle.87 Dieses Argument lässt sich sowohl völkerrechtlich als auch gemeinschaftsrechtlich verstehen. Völkerrechtlich gewendet findet es sich bereits in der Sache Portugal/Rat. Danach ist es das WTO-Recht selbst, das den Mitgliedstaaten einen weiten Spielraum für Verhandlungen lasse.88 Namentlich sehe Art. 22 Abs. 2 der Streitschlichtungsvereinbarung (DSU) vor, dass ein Mitglied, das einen vom Streitschlichtungsgremium festgestellten Verstoß nicht rechtzeitig beheben kann, mit dem betroffenen Staat im Verhandlungswege eine Entschädigung vereinbart.89 In den letzten Jahren hatte der EuGH unter diesem Aspekt insbesondere die innergemeinschaftliche Wirkung verbindlicher Entscheidungen des WTO-Streitschlichtungsgremiums (Dispute Settlement Body, DSB) zu beurteilen. In der Sache Biret wies der EuGH 2003 auf Art. 21 Abs. 3 DSU hin, wonach dem betroffenen Mitglied ein angemessener Zeitraum für die Umsetzung einer DSB-Entscheidung eingeräumt wird, wenn eine sofortige Umsetzung unmöglich ist. Jedenfalls vor Ablauf dieser Frist sei, so der EuGH in der Sache Biret, eine unmittelbare innergemeinschaftliche Wirkung im Hinblick auf mögliche Verhandlungslösungen ausgeschlossen.90 Das deutete darauf hin, dass der EuGH die Rechtslage nach Ablauf der Umsetzungsfrist unter Umständen anders beurteilen würde.91 Entsprechende Erwartungen wurden jedoch 2005 mit dem Urteil in der Sache Léon Van Parys enttäuscht. Dort führte der EuGH aus, dass der Fristablauf nicht impliziere, dass die EG ihre Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft habe. Eine Rechtskontrolle durch den EuGH könne die Position der EG gegenüber anderen Staaten daher nach wie vor schwächen.92 Versucht man, das Argument des Verhandlungsspielraums mit der Lehre der unmittelbaren Anwendbarkeit zu fassen, bietet sich allein das Kriterium der mangelnden Unbedingtheit an. Sollte es der EG völkerrechtlich tatsächlich freistehen, ob sie die Regeln der WTO befolgt oder stattdessen eine andere Regelung aushandelt und namentlich Entschädigung leistet, würde den WTO-Regeln in der Tat der Befehl zur unbedingten Anwendung fehlen, der für eine unmittelbare interne Anwendbarkeit erforderlich ist.93 Ein solches Verständnis des WTO-Rechts ist allerdings kaum vertretbar.94 Art. XVI Abs. 4 des WTO-Übereinkommens stellt die Verpflichtung zur Einhaltung des WTO-Rechts klar. Art. 22 Abs. 1 S. 2 DSU bestätigt, dass ein 87 88 89 90 91 92 93 94
EuGH, verb. Rs. C-27/00 und C-122/00, Omega Air, Slg. 2003, I-2569, Rn. 89 f. EuGH, Rs. C-149/96 (Fn. 44), Rn. 36; vorsichtig zustimmend Hilf/Schorkopf (Fn. 76), S. 85 f., 90; ähnlich Schmid (Fn. 70), S. 195. EuGH, Rs. C-149/96 (Fn. 44), Rn. 39; dieses Argument führt auch Hilpold (Fn. 36), S. 272– 277, aus. EuGH, Rs. C-93/02 P, Biret, Slg. 2003, I-10497, Rn. 62. Siehe Bartelt, Die Haftung der Gemeinschaft bei Nichtumsetzung von Entscheidungen des WTO-Streitbeilegungsgremiums, EuR 2003, S. 1077 (1080, 1082). EuGH, Rs. C-377/02 (Fn. 76), Rn. 51 f. Dahin gehend J. Sack, Von der Geschlossenheit und den Spannungsfeldern in einer Weltordnung des Rechts, EuZW 1997, S. 650. J. Pauwelyn, Enforcement and Countermeasures in the WTO, AJIL 94 (2000), S. 335 (341 f.).
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Mitglied letztlich stets verpflichtet ist, sein Recht mit seinen Verpflichtungen aus den WTO-Abkommen in Einklang zu bringen. Das ist mehrfach dargelegt worden.95 Damit erscheint das Argument des EuGH völkerrechtlich unhaltbar. Man kann das Verhandlungsargument freilich auch so verstehen, dass hier gar nicht auf völkerrechtlich bestehende Spielräume verwiesen wird, sondern dass unabhängig von einer völkerrechtlichen Bindung aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen ein Handlungsspielraum gewahrt werden soll. In diese Richtung weist das Argument des EuGH, er dürfe den Legislativ- und Exekutivorganen der Gemeinschaft nicht den Spielraum nehmen, über den die entsprechenden Organe der Handelspartner der Gemeinschaft verfügten.96 Auch im Schrifttum wird teilweise geltend gemacht, dass sich die Gemeinschaft mit der unmittelbaren Anwendbarkeit eines politischen Druckmittels gegenüber anderen Staaten begebe.97 Eine solche Argumentation zeugt, wie Helen Keller analysiert hat, von einem politisch-diplomatischen Völkerrechtsverständnis. Der rechtliche Charakter internationaler Normen werde dabei zwar nicht vollkommen geleugnet. Die Einhaltung des Völkerrechts werde aber letztlich zu einer Frage politischer Zweckmäßigkeit.98 Der Verlust dieses politischen Druckmittels ist jedoch dem Konzept der unmittelbaren Anwendbarkeit immanent. Ordnet eine Verfassung die unmittelbare innerstaatliche Wirkung an, entscheidet sie sich für eine umfassende Beachtung des Völkerrechts, ohne die eigene Völkerrechtstreue vom Verhalten anderer Staaten abhängig zu machen. Diese völkerrechtsfreundliche Entscheidung treffen viele nationale Verfassungsordnungen und auch Art. 300 Abs. 7 EG. Die Rechtsprechung des EuGH zeigt aber, dass diese Völkerrechtsfreundlichkeit politisch nicht gewollt ist.99 Art. 300 Abs. 7 EG wird vom EuGH bezeichnenderweise nicht einmal erwähnt.100 Möglicherweise ist das Schweigen zu Art. 300 Abs. 7 EG daraus zu erklären, dass der EuGH nicht materiell-rechtlich, sondern prozessual argumentiert. Dafür könnte auch die Formulierung des EuGH sprechen, die WTO-Übereinkünfte gehörten „grundsätzlich nicht zu den Vorschriften, an denen der Gerichtshof die Rechtmäßigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane“ messe.101 Versteht man diese Aussage prozessual, stellt der EuGH die materielle Bindung der Gemeinschaftsorgane an das WTO-Recht nicht in Frage. Eingeschränkt wird lediglich die Prüfungskompetenz des EuGH, so dass die materiell-rechtliche Bindung prozessual 95 96 97 98 99 100
101
Berrisch/Kamann (Fn. 44), S. 92; Eeckhout (Fn. 58), S. 54 f.; Mauderer (Fn. 65), S. 133, 160–162; Petersmann (Fn. 65), S. 653; Schroeder/Schonard (Fn. 79), S. 659–662. EuGH, Rs. C-149/96 (Fn. 44), Rn. 46; Rs. C-377/02 (Fn. 76), Rn. 53. Dahin gehend S. Peers, Fundamental Right or Political Whim?, in: De Búrca/Scott (Fn. 45), S. 111 (122 f.); Sack (Fn. 93), S. 651. H. Keller, Rezeption des Völkerrechts, 2003, S. 700; Snyder (Fn. 69), S. 331, betont die Nähe zu einer political questions doctrine. Zur Analyse der politischen Dimension Mauderer (Fn. 65), S. 170–177, 179 f.; die wirtschaftspolitischen Zusammenhänge untersucht Hilpold (Fn. 36), S. 212–252. Dies heben auch Berrisch/Kamann (Fn. 44), S. 91 sowie C. Schmid, Ein enttäuschender Rückzug, Anmerkungen zum „Bananenbeschluss“ des BVerfG, NVwZ 2001, S. 249 (256) hervor. EuGH, Rs. C-149/96 (Fn. 44), Rn. 47.
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nicht aktualisiert werden kann. In der Sache kann aber auch dieser prozessuale Ansatz nicht überzeugen. Er verschiebt die Begründungsprobleme lediglich von der materiell-rechtlichen auf die prozessuale Ebene. Die Prüfungskompetenz des EuGH geht grundsätzlich ebenso weit wie die materielle Bindungswirkung des Gemeinschaftsrechts. So hat der EuGH sowohl im Fall International Fruit Company102 als auch im Fall Racke103 betont, dass sich seine Zuständigkeit auf sämtliche möglichen Ungültigkeitsgründe erstrecke. Zudem sind Differenzierungen im Prüfungsmaßstab je nach Art des völkerrechtlichen Vertrages, wie sie der EuGH vornimmt, weder in Art. 230 Abs. 2 noch in Art. 234 Abs. 1 lit. b EG (Art. 263, 267 AEUV) angelegt. ff) Einschränkung der internen Wirkung durch den Rat Diskutiert wird ferner, ob der Rat die interne Wirkung der WTO-Abkommen durch seinen Genehmigungsbeschluss104 ausgeschlossen hat. Nach der elften und letzten Präambelerwägung des Beschlusses ist „[d]as Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation einschließlich seiner Anhänge … nicht so angelegt, dass es unmittelbar vor den Rechtsprechungsorganen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten angeführt werden kann.“ Es ist anerkannt, dass es die Vertragspartner in der Hand haben, durch eine Regelung auf der völkerrechtlichen Ebene die interne Wirkung eines Abkommens einzuschränken oder auszuschließen.105 Dies relativiert den Grundsatz, dass die interne Rechtswirkung eine Frage des internen Rechts ist. Es entspricht aber der völkerrechtlichen Vertragsfreiheit. Der Ratsbeschluss ist allerdings ein rein interner Akt ohne völkerrechtliche Wirkung.106 Auf der völkerrechtlichen Ebene hat die EG das WTO-Abkommen ausweislich einer Notifikation des WTO-Generalsekretärs107 am 30.12.1994 ohne Vorbehalt oder sonstige zusätzliche Erklärung angenommen.108 Damit stellt sich die Frage, ob der Rat einem Vertrag durch einen rein innergemeinschaftlichen Rechtsakt die interne Wirkung nehmen kann.109 Dies ist eine Frage des primären EG-Rechts. Art. 300 Abs. 2 EG überträgt dem Rat die Befugnis, über die völkerrechtliche Bindung der Gemeinschaft zu entscheiden. Er kann die Bindung eingehen, er kann sie ablehnen oder er kann sie durch einen völkerrecht102 103 104 105 106
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EuGH, verb. Rs. 21/72–24/72, International Fruit Company, Slg. 1972, 1219, Rn. 5 f. EuGH, Rs. 162/96 (Fn. 35), Rn. 26 f. Beschluss 94/800/EG des Rates über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde, ABl. 1994 L 336, S. 1. Nollkaemper (Fn. 52), S. 171; Tomuschat (Fn. 27), Art. 300 EG, Rn. 79. Nach Art. 1 Abs. 3 des Beschlusses (Fn. 104) handelt es sich lediglich um die gemeinschaftsrechtliche Ermächtigung zur Abgabe der nachfolgenden völkerrechtlichen Beitrittserklärung; s. auch v. Danwitz (Fn. 77), S. 725. Oben Fn. 42. Im Übrigen dürfte eine einseitige Erklärung für eine völkerrechtliche Regelung ohnehin nicht ausreichen. Ausweislich der Draft Guideline Nr. 1.4.5 der International Law Commission zum Recht der Vorbehalte von 2007 (UN-Dok. A/62/10, S. 46 (50)) wäre eine derartige Erklärung kein Vorbehalt sondern lediglich ein „informative statement“. Bejahend Tomuschat (Fn. 27), Art. 300 EG, Rn. 81.
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lich relevanten Vorbehalt einschränken. Soweit er die völkerrechtliche Bindung eingeht, ordnet jedoch Art. 300 Abs. 7 EG die interne Wirkung an.110 Auf dieser Ebene hat der Rat keinen Spielraum. Zwar überlässt das Völkerrecht die Regelung der internen Wirkung der jeweiligen Vertragspartei,111 in diesem Fall also der EG. Gemeinschaftsrechtlich ist die Frage aber in Art. 300 Abs. 7 EG primärrechtlich und damit für den Rat verbindlich geregelt.112 Insoweit folgt das Gemeinschaftsrecht, wie schon beim Völkergewohnheitsrecht,113 der Adoptionslehre. Normen, die die EG völkerrechtlich binden, wirken automatisch in den internen Rechtsraum hinein. Werner Meng weist auf den Unterschied zum deutschen Recht hin.114 In Deutschland ist der Befehl zur internen Anwendung eines ratifizierten Vertrages nicht in der Verfassung selbst verankert, sondern in dem innerstaatlichen Zustimmungsgesetz, das der Bundesgesetzgeber nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG erlässt. Das deutsche Recht folgt insoweit der sog. Vollzugslehre.115 Damit hat es der deutsche Gesetzgeber theoretisch in der Hand, die interne Wirkung auszuschließen. Im Gemeinschaftsrecht wird der Anwendungsbefehl jedoch primärrechtlich erteilt. Der EG-Vertrag ist insoweit völkerrechtsfreundlicher als das Grundgesetz.116 Unter diesen Umständen kann die genannte Präambelerwägung im Beitrittsbeschluss des Rates nur als bloße Meinungsäußerung qualifiziert werden.117 Wenn der EuGH die Präambelerwägung in der Sache Portugal/Rat118 dennoch als Bestätigung seiner Argumentation zitiert, so ist dies nach Thomas von Danwitz119 eine „politische Rechtfertigung“ seiner Rechtsprechung.120 gg) Interne Wirkung ohne unmittelbare Anwendbarkeit Angesichts der Beständigkeit, mit der der EuGH dem WTO-Recht die unmittelbare Anwendbarkeit abspricht, wird darüber nachgedacht, welche internen Wirkungen dem völkerrechtlichen Vertragswerk, dem die EG beigetreten ist, auch ohne unmit110
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R. Arnold, in: M. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Stand 1994), K. I, Rn. 61; W. Schroeder/M. Selmayr, Die EG, das GATT und die Vollzugslehre, JZ 1998, S. 344 (348); v. Bogdandy (Fn. 67), S. 361 weist darauf hin, dass der Rat die Formulierung in der Präambel des späteren Genehmigungsbeschlusses 1999/61/EG über die Annahme der Ergebnisse der Verhandlungen der Welthandelsorganisation über Finanzdienstleistungen, ABl. 1999 L 20, S. 38, entsprechend abgeschwächt hat. Tomuschat (Fn. 27), Art. 300 EG, Rn. 72; siehe auch schon oben, II. 2. a). Krajewski (Fn. 15), S. 69 f.; Meng (Fn. 44), S. 1070, 1072; Mauderer (Fn. 65), S. 193. Siehe oben, II. 1. Meng (Fn. 44), S. 1070, 1072; ebenso Mauderer (Fn. 65), S. 192. Dazu Rojahn (Fn. 49), Rn. 33; R. Streinz, in: M. Sachs (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 2007, Art. 59, Rn. 61–65. Warum die Vollzugslehre die Wirkung des Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG besser zu erklären vermag als die Transformationslehre kann und muss an dieser Stelle nicht erörtert werden. Zur besonderen Völkerrechtsfreundlichkeit von Art. 300 Abs. 7 EG auch Hilpold (Fn. 36), S. 187 f. Im Ergebnis ebenso v. Bogdandy (Fn. 67), S. 360. EuGH, Rs. C-149/96 (Fn. 44), Rn. 48. v. Danwitz (Fn. 77), S. 724. Ähnlich Mauderer (Fn. 65), S. 136 f.
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telbare Anwendbarkeit zukommen können. Teilweise werden diese Wirkungen unter dem Begriff der internen Geltung behandelt. Eine innergemeinschaftliche Geltung sei, so heißt es, auch dann möglich, wenn es an der unmittelbaren Anwendbarkeit fehle.121 Der Begriff der internen Geltung könnte allerdings zu eng sein, um alle Fälle der internen Wirkung zu erfassen. So kann eine völkerrechtskonforme Auslegung auch dort in Betracht kommen, wo die völkerrechtliche Norm nur völkerrechtlich verbindlich ist, intern aber nicht gilt. Das bloße Interesse, eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit zu vermeiden, kann ein hinreichendes Motiv für eine völkerrechtskonforme Auslegung internen Rechts sein.122 Im französischen Schrifttum werden die unterschiedlichen Formen der internen Wirkung unter dem Oberbegriff der invocabilité erfasst.123 Thomas von Danwitz übersetzt diesen Begriff mit „Einklagbarkeit“.124 Damit könnte der Blick jedoch zu sehr auf die prozessrechtliche Perspektive beschränkt werden. Daher soll hier möglichst neutral von interner Wirkung gesprochen werden. Als einen Ausweg aus der festgefahrenen Rechtsprechung des EuGH nennen einige Autoren die schon erwähnte völkerrechtskonforme Auslegung.125 In der Rechtsprechung des EuGH fand sich ein vorsichtiger Ansatz in diese Richtung zunächst in den Sachen Werner126 und Leifer.127 Im Hermès-Urteil hat der EuGH die Methode bekräftigt.128 Allerdings hängt die Methode davon ab, dass gemeinschaftsrechtliche Normen einen entsprechenden Auslegungsspielraum eröffnen.129 Der Gemeinschaftsgesetzgeber bleibt damit Herr über die interne Wirkung des WTORechts.130 Ferner können auch solche Bestimmungen, die nicht unmittelbar anwendbar sind, als Maßstabsnormen für internes Recht fungieren.131 Das ist aus dem Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und staatlichem Recht bekannt. So vermag eine EGRichtlinie, die aufgrund ihres Inhalts nicht unmittelbar anwendbar ist, gegebenenfalls widersprechendes nationales Recht außer Anwendung zu setzen.132 Ebenso 121 122 123
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So z.B. Schroeder/Selmayr (Fn. 110), S. 345 f. Siehe Uerpmann (Fn. 11), S. 200. Alland (Fn. 52), S. 234 f.; P. Manin, L’influence du droit international sur la jurisprudence communautaire, in: Société Française pour le Droit International (Hrsg.), Droit International et Droit Communautaire, 2000, S. 153 (163). v. Danwitz (Fn. 77), S. 722. Berrisch/Kamann (Fn. 44), S. 95; v. Bogdandy/Makatsch (Fn. 45), S. 267; Cottier (Fn. 14), S. 109–111; Hilf/Schorkopf (Fn. 76), S. 88; G. A. Zonnekeyn, The Status of WTO Law in the EC Legal Order, Journal of World Trade 34 (2000), S. 111 (124 f.). EuGH, Rs. C-70/94, Werner, Slg. 1995, I-3189, Rn. 23. EuGH, Rs. C-83/94, Leifer, Slg. 1995, I-3231, Rn. 24. EuGH, Rs. C-53/96 (Fn. 69), Rn. 28; bestätigt durch EuGH, verb. Rs. C-300/98 und 392/98 (Fn. 59), Rn. 47. Snyder (Fn. 69), S. 363. So auch Cottier (Fn. 14), S. 122, der davon spricht, dass die „prerogative of democratic legislation“ gewahrt werde. Epiney (Fn. 48), S. 11; siehe auch D. Thym, in diesem Band, S. 457 f. Alland (Fn. 52), S. 234–237.
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müsste WTO-Recht kraft seiner innergemeinschaftlichen Geltung nach Werner Schroeder und Martin Selmayr eine widersprechende EG-Verordnung auch dann außer Kraft setzen können, wenn es nicht unmittelbar anwendbar ist.133 Das Konzept ist stimmig. Rechtmäßigkeit und unmittelbare Anwendbarkeit sind, wie Jan Klabbers feststellt, logisch voneinander unabhängig.134 Dennoch hat der EuGH im Fall Intertanko klargestellt, dass er die Gültigkeit eines Gemeinschaftsakts nur an unmittelbar anwendbaren Normen des Völkervertragsrechts misst.135 WTO-Recht erkennt er nach seiner Fediol- und Nakajima-Rechtsprechung nur in dem Sonderfall als Maßstab für Gemeinschaftsrecht an, dass Gemeinschaftsrecht entweder eine bestimmte, im Rahmen der WTO übernommene Verpflichtung umsetzt136 oder dass es ausdrücklich auf spezielle Bestimmungen des WTO-Rechts verweist.137 Armin von Bogdandy hat darauf hingewiesen, dass die innergemeinschaftliche Wirkung hier von einem widerrufbaren Akt der Unionsorgane abhängt, so dass eine Selbstbindung vermieden wird.138 WTO-Recht, das die EG völkerrechtlich bindet, soll also innergemeinschaftlich nur wirken, soweit und solange die Gemeinschaftsorgane dies wollen. hh) Der EuGH zwischen Monismus und Dualismus Art 300 Abs. 7 EG, der das Völkervertragsrecht in das Gemeinschaftsrecht integriert, ist als Ausdruck einer monistischen Auffassung des Verhältnisses von Völkerrecht und internem Recht verstanden worden.139 Im Bereich des WTO-Rechts folgt der EuGH dieser Lesart jedoch nicht.140 Die Fediol- und Nakajima-Rechtsprechung ist stattdessen dualistisch geprägt. Sie verweigert dem WTO-Recht unmittelbare innergemeinschaftliche Wirkung. Die interne Anwendbarkeit hängt von einem Gemeinschaftsakt ab, den die zuständigen Gemeinschaftsorgane jederzeit aufheben oder ändern können.141 Mit dem traditionellen Verständnis von Art. 300 Abs. 7 EG ist dies nicht vereinbar. Diese unbefriedigende Inkohärenz lässt sich unterschiedlich lösen. Der EuGH könnte seine bisherige WTO-Rechtsprechung aufgeben und an die allgemeine Lehre von der unmittelbaren Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge anpassen. Nach der konsequenten Bestätigung seiner restriktiven Linie in der Sache Léon Van Parys142 133 134 135 136 137
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Schroeder/Selmayr (Fn. 110), S. 345. J. Klabbers, International Law in Community Law: The Law and Politics of Direct Effect, YEL 21 (2002), S. 263 (291); dahingehend auch EuGH, Rs. C-377/98 (Fn. 51), Rn. 53 f. EuGH, Rs. C-308/06 (Fn. 38), Rn. 64 f. zum UN-Seerechtsübereinkommen. EuGH, Rs. C-69/89, Nakajima/Rat, Slg. 1991, I-2069, Rn. 27–31. EuGH, Rs. 70/87, Fediol/Kommission, Slg. 1989, S. 1781, Rn. 19 f.; auf dieser Linie auch Rs. C-377/98 (Fn. 51), Rn. 55; bestätigend Rs. C-149/96 (Fn. 44), Rn. 49; Rs. C-377/02 (Fn. 76), Rn. 40. v. Bogdandy (Fn. 67), S. 361. Oben Fn. 24. P. J. Kuijper/M. Bronckers, WTO Law in the European Court of Justice, CMLRev. 42 (2005), S. 1313 (1315). Siehe oben, II. 2. a) gg). EuGH, Rs. C-377/02 (Fn. 76).
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erscheint dies unwahrscheinlicher denn je. Alternativ ließe sich die anerkannte Auslegung von Art. 300 Abs. 7 EG überdenken. Sein Wortlaut ist hinreichend offen für eine abweichende Interpretation.143 Eine solche Korrektur kann sich nicht allein auf das WTO-Recht beschränken, sondern sie muss die Beziehung zu völkerrechtlichen Verträgen insgesamt in den Blick nehmen.144 Das schließt es nicht aus, zwischen unterschiedlichen Arten völkerrechtlicher Verträge zu differenzieren. So könnte sich eine neue Lehre der unmittelbaren Anwendbarkeit auf bestimmte Vertragstypen beschränken. Armin von Bogdandy hat dazu eine Reihe von Kriterien vorgeschlagen.145 Dabei kommt dem Verhältnis von Recht und Politik sowie der Frage der demokratischen Legitimation eine besondere Bedeutung zu.146 Eine solche Neuinterpretation kann hier nicht geleistet werden. Festzuhalten ist stattdessen die Verschiebung weg vom Monismus hin zum Dualismus. Ganz im Gegensatz zu der Annahme, dass das Gemeinschaftsrecht in einer monistischen Tradition stehe, folgt der EuGH in seiner WTO-Rechtsprechung einem dualistischen Konzept.147 Danach kommt der Autonomie der Unionsrechtsordnung höhere Bedeutung zu als ihrer Integration in eine übergreifende internationale Rechtsordnung. b) EMRK Der EMRK ist die EG bislang nicht beigetreten. Das könnte es überflüssig erscheinen lassen, den Beitrittsmechanismus in Hinblick auf die EMRK zu untersuchen. Allerdings ist die EMRK unstreitig ein zentraler Referenztext für den Grundrechtsschutz in Europa, auch in der Europäischen Union. Dabei nimmt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Hüter der EMRK mittlerweile die Stellung eines obersten und letzten Garanten der Menschenrechte in den Staaten des Europarates ein. Nur die Europäische Union steht als wichtiger europäischer Hoheitsträger außerhalb dieses Systems. Das legt einen Beitritt nahe.148 Daher ver143 144 145
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Klabbers (Fn. 134), S. 270 ff. Siehe auch D. Thym, in diesem Band, S. 458 f. v. Bogdandy (Fn. 67), passim; dazu R. Uerpmann, Völkerrechtliche Nebenverfassungen, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 339 (349–351); sowie R. Uerpmann, International Law as an Element of European Constitutional Law, Jean Monnet Working Paper 9 (2003), S. 15–18, unter www.jeanmonnetprogram.org; siehe ferner die Differenzierungsansätze bei Snyder (Fn. 69), S. 333 f. Siehe v. Bogdandy (Fn. 67), S. 33; ferner ders. (Fn. 15), S. 614 ff.; T. Cottier/M. Oesch, Die unmittelbare Anwendbarkeit von GATT/WTO-Recht in der Schweiz, Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht 14 (2004), S. 121 (144 ff.); J. H. Jackson, Status of Treaties in Domestic Legal Systems, AJIL 86 (1992), S. 310 (330 f.); Krajewski (Fn. 15), S. 223–225; N. Krisch, The Pluralism of Global Administrative Law, EJIL 17 (2006), S. 247 (262 f.). So auch deutlich die Schlussanträgen von GA Maduro zu EuGH, Rs. C-402/05 P, Kadi/Rat und Kommission, Slg. 2008, I-0000, Nr. 21–24. So nachdrücklich Krüger/Polakiewicz (Fn. 18), S. 94 ff.; J. Polakiewicz, The Relationship between the European Convention on Human Rights and the EU Charter of Fundamental Richts, in: V. Kronenberger (Hrsg.), The European Union and the International Legal Order: Discord or Harmony, 2001, S. 69 (79).
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spricht eine Analyse der Gründe, die gegen den Beitritt sprechen, weiteren Aufschluss über die Haltung der EG zum Völkerrecht. Erste Hindernisse ergeben sich aus dem Völkerrecht. Die EMRK steht nur Europaratsmitgliedern zum Beitritt offen,149 und dem Europarat können nur Staaten beitreten.150 Es bedarf also einer Vertragsänderung, um der EG den Beitritt zu ermöglichen. Immerhin liegt nun das 14. Zusatzprotokoll zur EMRK151 vor, dessen Ratifikation durch Russland freilich noch aussteht. Mit seinem Inkrattreten wird Art. 59 EMRK um einen neuen Absatz 2 ergänzt, der der EU den Beitritt ermöglicht.152 Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts ist zweifelhaft, ob der EG-Vertrag die Kompetenz zum Beitritt verleiht. Der EuGH hat dies bekanntlich verneint.153 Nach Ansicht des EuGH reichte Art. 308 EG als Kompetenzgrundlage nicht aus, weil ein Beitritt „grundlegende institutionelle Auswirkungen sowohl auf die Gemeinschaft als auch auf die Mitgliedstaaten“ und deshalb eine „verfassungsrechtliche Dimension“ hätte.154 Man hat dies dahingehend interpretiert, dass der EuGH vor allem eine Unterwerfung und Bevormundung durch den EGMR fürchte.155 Hans Christian Krüger und Jörg Polakiewicz wenden dagegen ein, dass das Gemeinschaftsrecht die Begründung einer externen Gerichtsgewalt nicht ausschließe, wie das erste Gutachten des EuGH zum Europäischen Wirtschaftsraum sowie das EuGHGutachten zum WTO-Beitritt zeigten.156 So unterschiedlich die Bewertungen sind, stimmen sie doch in dem Ausgangspunkt überein, dass das Verhältnis der beiden europäischen Gerichtsbarkeiten zueinander das Hauptproblem darstellt.157 Auf dem Spiel steht also die Unabhängigkeit des EuGH als höchstem Hüter des Gemeinschaftsrechts.158 Die Mitgliedstaaten können darauf ohne weiteres reagieren, indem sie bei einer Revisionskonferenz die notwendige Kompetenz ausdrücklich im Vertrag veran-
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Art. 59 Abs. 1 EMRK; dazu S. Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 2000, S. 46–50. Art. 4 der Satzung des Europarats. BGBl. 2006 II, S. 138. Art. 17 des Protokolls. EuGH, Gutachten 2/94, EMRK-Beitritt, Slg. 1996, I-1759, Rn. 36. Ebd., Rn. 35. S. Mathieu, L’adhésion de la Communauté à la CEDH, Revue du Marché commun et de l’UE 1998, S. 31 (34); dahingehend auch G. Ress, Menschenrechte, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Verfassungsrecht, in: FS Winkler, 1997, S. 897 (919); J. H. H. Weiler/ S. C. Fries, A Human Rights Policy for the European Community and Union: The Question of Competences, in: P. Alston (Hrsg.), The EU and Human Rights, 1999, S. 147 (160), sprechen in diesem Zusammenhang von der „hallowed position“ des EuGH; dieses Motiv relativierend Winkler (Fn. 149), S. 129. Krüger/Polakiewicz (Fn. 18), S. 101; zur Zulässigkeit einer externen Gerichtsbarkeit siehe auch Winkler (Fn. 149), S. 77–84. Ebenso M. Ruffert, Anmerkung zu Gutachten 2/94, JZ 1996, S. 624 (626). Siehe auch D. Thym, in diesem Band, S. 458.
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kern.159 Die lange Zeit mehrheitlich160 ablehnende Haltung gegenüber einer solchen Vertragsänderung mag zwei Gründe haben. Die EMRK ist geschaffen worden als System zur Regulierung staatlicher Gewalt. Eine Gemeinschaft, die diesem System beitritt, wird staatsähnlicher.161 Die Garantenstellung für die bürgerlichen Rechte und Freiheiten, aus der der Staat einen Teil seiner Legitimation zieht, kommt dann gleichermaßen der EU zu. Die Bedeutung ihrer Mitgliedstaaten würde sinken. Nach Sebastian Winkler ist gerade diese „Integrationswirkung“ der Grund für die ablehnende Haltung einiger Mitgliedstaaten.162 Der andere Grund weist in die umgekehrte Richtung. Ein Akteur, der sich vor einem internationalen Gericht verantworten muss, verliert einen Teil seiner Selbstherrlichkeit. Im Falle des EGMR wiegt der Eingriff besonders schwer, weil dieser Gerichtshof nicht nur über zwischenstaatliche Sachverhalte urteilt, sondern vorrangig über interne Vorgänge. Für Staaten, die als geborene Völkerrechtssubjekte souverän sind, ist an sich längst geklärt, dass die Unterwerfung unter eine internationale Gerichtsbarkeit mit ihrer völkerrechtlichen Souveränität vereinbar ist.163 Weitergehende Vorstellungen absoluter Souveränität sind überholt. Der EG als nicht-staatliches Völkerrechtssubjekt ist Souveränität ohnehin nie zugesprochen worden. Dennoch erscheint es nicht ausgeschlossen, dass der langjährige Widerstand gegen einen EMRK-Beitritt gerade auf der Furcht beruht, eine Unterwerfung unter die Rechtsprechung des EGMR könnte die Unabhängigkeit der Gemeinschaft beeinträchtigen. Dieser Gedanke wird weiterzuverfolgen sein. 3. Rechtsnachfolge kraft Funktionsnachfolge und Formen der mittelbaren Bindung a) GATT 1947 Ein weiterer Mechanismus, der eine völkerrechtliche Bindung der EG begründen könnte, ist der Gedanke der Rechtsnachfolge. Dadurch, dass die EG bestimmte Funktionen von ihren Mitgliedstaaten übernommen hat, könnte sie in deren völkerrechtliche Verpflichtungen eingetreten sein. Diese Möglichkeit ist vor allem für das GATT 1947 diskutiert worden. So sprechen Schroeder/Selmayr von einer „Funktionsnachfolge“, die eine völkerrechtliche Verpflichtung der EG begründet habe.164 Tomuschat bezeichnet das rechtliche Ereignis als „funktionelle Rechtsnachfolge“.165
159 160 161 162 163 164 165
S. Alber/U. Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 497 (505 f.). Zur unterschiedlichen Interessenlage unter den Mitgliedstaaten Winkler (Fn. 149), S. 115 f. Ebd., S. 118 f. Ebd., S. 116. Zur Tradition einer gebundenen Souveränität P. Kirchhof, in diesem Band, S. 1027 f. Schroeder/Selmayr (Fn. 110), S. 344. Tomuschat (Fn. 27), Art. 281 EG, Rn. 53.
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Eine Staatennachfolge, wie sie das Völkerrecht kennt, ist bei der EG allerdings nicht gegeben.166 Die Regeln der Staatennachfolge finden Anwendung, wenn die territoriale Souveränität über ein Gebiet von einem Staat auf einen anderen übergeht.167 Dazu ist es im Fall der EG nicht gekommen. Die EG ist kein Staat.168 Sie hat ihre Mitgliedstaaten als territoriale Souveräne nicht verdrängt, sondern nur bestimmte Funktionen von ihnen übernommen. Man könnte erwägen, ob auch eine solche Funktionsnachfolge völkerrechtliche Bindungen übergehen lässt.169 Eine derartige Funktionsnachfolge ist bisher aber weder durch völkerrechtliche Verträge noch durch Völkergewohnheitsrecht als Grund für eine Rechtsnachfolge anerkannt. Auch die Rolle, die die EG im GATT 1947 gespielt hat, lässt sich kaum als Präzedenzfall werten. Die EG war zwar völkerrechtlich wie ein Mitgliedstaat in das GATT 1947 integriert. Darüber bestand aber ein Konsens unter allen Beteiligten,170 so dass sich die völkerrechtliche Stellung der EG zwanglos mit einem konkludenten Beitritt erklären ließ.171 Seit der Gründung der WTO, der die EG 1994 förmlich beigetreten ist, spielen Fragen einer Rechtsnachfolge in das GATT 1947 ohnehin keine aktuelle Rolle mehr. Der Mechanismus einer Rechtsnachfolge kraft Funktionsnachfolge bleibt aber als dogmatische Option für andere Fälle interessant. In Hinblick auf die Harmonisierung des Asylrechts lässt sich eine Nachfolge der EG in die Pflichten aus der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und dem zugehörigen Protokoll von 1967 erwägen. Dieses Vertragswerk bindet völkerrechtlich bislang nur die EU-Mitgliedstaaten, nicht aber die EG. Allerdings hat die Frage nach einer Rechtsnachfolge auch hier nur begrenzte Bedeutung, weil Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 EG (Art. 78 Abs. 1 AEUV) eine weitgehende gemeinschaftsrechtliche Bindung an die Genfer Flüchtlingskonvention anordnet.172 Brisanter ist eine mögliche Rechtsnachfolge der EG in Pflichten aus der EMRK. b) EMRK Auch in Hinblick auf die EMRK sind Mechanismen diskutiert worden, die sich mehr oder minder dem Konzept der Funktionsnachfolge zuordnen lassen. Sie beruhen auf dem Grundgedanken, dass es nicht akzeptabel wäre, wenn die Mitgliedstaaten den Einzelnen dadurch, dass sie typische staatliche Funktionen auf die EG übertragen, den durch die EMRK verbürgten Menschenrechtsschutz nehmen.
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G. M. Berrisch, Der völkerrechtliche Status der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im GATT, 1992, S. 93 f. A.Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 972. P. Kirchhof, in diesem Band, S. 1034 f. Dahingehend EuGH, Rs. C-308/06 (Fn. 38), Rn. 48. EuGH, verb. Rs. 21/72–24/72 (Fn. 102), Rn. 16 ff. R. Bernhardt, Die Europäische Gemeinschaft als neuer Rechtsträger im Geflecht der traditionellen zwischenstaatlichen Beziehungen, EuR 1983, S. 199 (205); Ott (Fn. 65), S. 117–119; ausführlich zu den möglichen rechtsgeschäftlichen und rechtsgeschäftsähnlichen Deutungen Berrisch (Fn. 166), S. 212 ff. Dazu noch unten, III. 1. b) a.E.
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aa) Rechtsnachfolge i.e.S. Zum einen wird bei der EMRK ähnlich wie beim GATT 1947 eine Rechtsnachfolge im engeren Sinn diskutiert.173 Nach Hilf „drängt sich die Annahme förmlich auf, dass die Mitgliedstaaten Hoheitsgewalt nur unter gleichzeitiger Weitergabe der an diese geknüpften Rechtsbindungen übertragen können“.174 Nach diesem Konzept trägt die Hoheitsgewalt, die die Mitgliedstaaten der EG übertragen haben, die Verpflichtung zur Einhaltung von Menschenrechten also gleichsam als „Hypothek“ mit sich.175 Dogmatisch ist dies jedoch schwer zu begründen. Zunächst widerspricht das genannte Bild der allgemeinen Ansicht, dass die EG originäre Hoheitsgewalt ausübt und nicht ein Bündel mitgliedstaatlicher Hoheitsgewalt.176 Der Umstand, dass es sich um originäre Hoheitsgewalt handelt, steht allerdings einer Rechtsnachfolge nicht entgegen. Auch bei der Staatennachfolge im Fall der Dismembration, der Fusion oder der Sezession handelt es sich um neue, originäre Staatsgewalt, die an Verpflichtungen des Vorgängerstaates gebunden wird. Schwerer wiegt, dass die zeitliche Reihenfolge bei der EMRK nicht so klar ist wie beim GATT 1947. Die EMRK ist zwar älter als die EG. Für Frankreich ist sie aber erst 1974 in Kraft getreten, also lange nach dem EG-Vertrag. Das bedeutet, dass insoweit jedenfalls bis 1974 keine Rechtsnachfolge eintreten konnte. Gegen eine Rechtsnachfolge im Jahr 1974 spricht, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EG zu diesem Zeitpunkt schon erfolgt war. Im Jahr 1974 fehlt es also an einem Funktionsübergang, der eine Rechtsnachfolge auslösen könnte. Ebenso schwer wäre zu begründen, wie die EG an Zusatzprotokolle zur EMRK gebunden sein soll, die dem Abschluss der EG-Gründungsverträge zeitlich nachfolgen. Dafür müsste man das bisher bekannte Konzept der völkerrechtlichen Staatennachfolge erheblich fortentwickeln. Gil Carlos Rodríguez Iglesias hat gegen eine Rechtsnachfolge zudem eingewandt, dass die EG den Vertragsparteien nicht ohne deren Zustimmung gleichgestellt werden könne.177 In der Tat nimmt das Völkerrecht bei der Staatennachfolge Verträge, die die Mitgliedschaft in einer Internationalen Organisation begründen, grundsätzlich aus.178 Dem entspricht es, dass auch die Befürworter einer Rechtsnachfolge diese zumeist auf eine Bindung an die materiellen Bestimmungen der
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Grundlegend P. Pescatore, La Cour de justice des Communautés européennes et la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: FS Wiarda, 1988, S. 441 (450 f.); aus jüngerer Zeit T. Ahmed/I. d. J. Butler, The European Union and Human Rights: An International Law Perspective, EJIL 17 (2006), S. 771 (790 f.); im Überblick Winkler (Fn. 149), S. 29–32. Hilf (Fn. 19), S. 1197. A. Bleckmann, Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die Europäische Menschenrechtskonvention, 1986, S. 113–116; ähnlich Pescatore (Fn. 173), S. 450. BVerfGE 37, 271 (280); C. Tomuschat, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Stand: Aug. 2005), Art. 24, Rn. 15; siehe auch C. Grabenwarter, in diesem Band, S. 133 f. G. C. Rodríguez Iglesias, Zur Stellung der Europäischen Menschenrechtskonvention im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS Bernhardt, 1995, S. 1269 (1274). V. Epping, in: Ipsen (Fn. 2), § 31, Rn. 22.
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EMRK beschränken.179 Eine Unterwerfung unter den Kontrollmechanismus mit der Beschwerde zum EGMR bleibt einem Beitritt der EU zur EMRK vorbehalten. bb)Durchgriff auf die Mitgliedstaaten In den letzten Jahren wurde verstärkt ein anderer Gedanke diskutiert. Danach soll es den Vertragsstaaten der EMRK nicht möglich sein, sich durch die Gründung einer Internationalen Organisation als einer Form zwischenstaatlicher Zusammenarbeit ihrer Grundrechtsverantwortung gegenüber den Einzelnen zu entziehen.180 Folge ist, dass die EG-Mitgliedstaaten vor der EMRK in vollem Umfang für das Verhalten der EG-Organe verantwortlich sind. Hier handelt es sich nicht um eine Rechtsnachfolge im eigentlichen Sinn. Es gehen keine Pflichten von den Mitgliedstaaten auf die EG über. Vielmehr wird das Verhalten der Gemeinschaftsorgane den Mitgliedstaaten zugerechnet. Auch wenn dieser Mechanismus radikal erscheinen mag, ist er dogmatisch relativ einfach zu konstruieren, indem die EG aus EMRK-Perspektive nicht als eigenständiges Völkerrechtssubjekt anerkannt wird.181 Entfällt die EG als völkerrechtliche Zurechnungseinheit, wird das Verhalten der Gemeinschaftsorgane den Staaten zugerechnet, die die EG gegründet haben und die sie tragen. Im Schrifttum ist die Parallele zur mittelbaren Staatsverwaltung gezogen worden.182 Überträgt ein Staat Hoheitsgewalt auf unterstaatliche Einheiten, wird ihm deren Verhalten völkerrechtlich als eigenes zugerechnet. Ebenso ließe sich das Verhalten der Gemeinschaftsorgane aus EMRK-Sicht den Mitgliedstaaten zurechnen, solange die EG nicht selbst der EMRK beigetreten ist. Der EGMR hat diesen Schritt nicht gewagt. Zwar hat er 1999 im MatthewsUrteil erklärt, dass die Übertragung von Kompetenzen auf eine Internationale Organisation wie die EG die konventionsrechtliche Verantwortung der Mitgliedstaaten nicht entfallen lasse.183 Gleichzeitig hat er aber betont, dass Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane nicht Gegenstand eines Verfahrens vor dem EGMR sein können.184 Letztlich kam es auf die Frage nicht an, weil sich die Verantwortlichkeit des Vereinigten Königreichs aus seiner Zustimmung zu einem uneigentlichen Ratsbeschluss und zum Vertrag von Maastricht ergab.185
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Bleckmann (Fn. 175), S. 81; auch Hilf (Fn. 19), S. 1197 f., spricht allein von der materiellen Bindung; anders Pescatore (Fn. 173), S. 453. C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290 (329–331); in dieselbe Richtung gehen die Erwägungen von Ress (Fn. 155), S. 920 f., 932. Winkler (Fn. 149), S. 170. Ebd., S. 170; ferner Bleckmann (Fn. 175), S. 93. EGMR, Nr. 24833/94, Matthews/Großbritannien, EuGRZ 1999, S. 200, Rn. 32. Ebd. Ebd., Rn. 33; in der Beschwerde Nr. 56672/00, Senator Lines/15 EU-Mitgliedstaaten, wurde eine Verantwortung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsakte geltend gemacht; siehe die Beschwerdeschrift, HRLJ 21 (2000), S. 112 (116–118); die Unzulässigkeitsentscheidung vom 10.03.2004 ließ die Frage jedoch offen.
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Man mag einwenden, dass es unpraktisch wäre, wenn sich einzelne oder alle186 EU-Mitgliedstaaten für ein Verhalten der EG verantworten müssen, das sie kaum kontrollieren können. Derartige Praktikabilitätserwägungen können jedoch kaum die Reichweite des Menschenrechtsschutzes bestimmen. Außerdem lassen sich die Probleme lösen. So wäre es möglich, dass sich die EG-Mitgliedstaaten in Fällen, in denen es um Akte der EG geht, durch einen Vertreter der EG vertreten lassen. Würde der EGMR den Weg einschlagen, EG-Akte vollständig den Mitgliedstaaten zuzurechnen, würde dies im Übrigen einen erheblichen Druck ausüben, die Rechtslage durch einen förmlichen Beitritt der EG zur EMRK zu bereinigen. Mittlerweile hat sich freilich ein dritter, moderaterer Weg verfestigt, eine gewisse, subsidiäre EGMR-Kontrolle über Unionsakte zu begründen. cc) Gewährleistungsverantwortung der Mitgliedstaaten Einen solchen dritten Weg hat bereits die Europäische Kommission für Menschenrechte im Fall M & Co./Deutschland aufgezeigt.187 Danach akzeptiert die EMRK zwar, dass die Mitgliedstaaten im Streben nach Zusammenarbeit und Integration supranationale Einrichtungen schaffen. Ihrer eigenen Menschenrechtsverantwortung werden die EMRK-Staaten dabei aber nur gerecht, wenn sie sicherstellen, dass die Organisation einen Menschenrechtsstandard wahrt, der der EMRK entspricht. Dieser Ansatz ähnelt der sog. Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Geltungsanspruch des Grundgesetzes.188 Danach obliegt es dem Bundesverfassungsgericht, nicht nur den Grundrechtsschutz gegenüber deutscher Staatsgewalt, sondern umfassend Grundrechtsschutz in Deutschland sicherzustellen.189 Damit wäre auch EG-Recht am Grundgesetz zu messen. Dieser Geltungs- und Kontrollanspruch wird allerdings zurückgenommen, solange die EG einen Grundrechtsschutz gewährleistet, der dem des Grundgesetzes strukturell vergleichbar ist.190 Ähnlich argumentiert die Europäische Kommission für Menschenrechte in Hinblick auf die Anwendbarkeit der EMRK. Diesen Ansatz hat der EGMR 2005 im Bosphorus-Fall bestätigt.191 Danach fordert die EMRK zwar keinen identischen Grundrechtsschutz auf Unionsebene. Es muss aber ein Grundrechtsschutz bestehen, der sowohl materiell-rechtlich als auch in prozessualer Hinsicht demjenigen des EMRK-Systems gleichwertig ist. Der
186 187
188 189 190
191
Zur Frage, ob alle Mitgliedstaaten gemeinsam in Anspruch zu nehmen sind, Winkler (Fn. 149), S. 180 f. EKomMR, Nr. 13258/87, M. & Co./Deutschland, DR 64, S. 138 (145) = ZaöRV 50 (1990), S. 865 (867), bestätigt durch EKomMR, Nr. 21090/92, Heinz/Österreich u.a., DR 76-A, S. 125 (127 f.). Die Parallele zeigt auch Hilf (Fn. 19), S. 1198, auf. BVerfGE 89, 155 (174 f.) – Maastricht. BVerfGE 102, 147 (162 ff.) – Bananenmarktordnung – in Anschluss an BVerfGE 73, 339 (374 ff.) – Solange II, sowie in jüngerer Zeit BVerfG, NVwZ 2007, S. 937 (938) – Emissionshandel. EGMR, Nr. 45036/98, Bosphorus Hava Yollari Turizm/Irland, NJW 2006, S. 197, Rn. 149 ff.
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EGMR fordert „Äquivalenz“ im Sinne von „Vergleichbarkeit“.192 Wird ein solcher gleichwertiger Grundrechtsschutz allgemein festgestellt, besteht eine Vermutung dafür, dass auch im Einzelfall ausreichend Grundrechtsschutz gewährt wurde. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, wenn der Grundrechtsschutz im Einzelfall offensichtlich unzureichend ist.193 Während sich also das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Solange-Rechtsprechung mit der allgemeinen Prüfung begnügt, ob ein Grundrechtsschutz besteht, der dem deutschen „im Wesentlichen gleichzuachten“ ist,194 und dann auf eine Einzelfallprüfung vollkommen verzichtet, will der EGMR auch bei einem Ausreißer im Einzelfall eingreifen.195 Dieser Unterschied folgt einer inneren Logik. Werden Unionsakte vom Verfassungsgericht einer kleineren territorialen Einheit, wie Deutschland, überprüft, bedroht dies die Einheit der Unionsrechtsordnung. Das spricht dafür, dass nationale Instanzen ihre subsidiäre Kontrolle auf ein absolutes Minimum reduzieren. Die Zuständigkeit des EGMR erstreckt sich hingegen ratione loci auf das ganze Unionsgebiet und darüber hinaus. Eine Kontrolle durch den EGMR relativiert zwar die Autonomie des Unionsrechts, stellt dessen räumliche Einheit aber nicht in Frage. Streng genommen geht es auch bei der Gewährleistungsverantwortung der Mitgliedstaaten, die der EGMR konstruiert, nicht um Rechtsnachfolge kraft Funktionsnachfolge. Verpflichtet bleiben allein die Staaten. Sie werden zwar dafür in die Pflicht genommen, dass die EG Grundrechtsschutz gewährt. Auf welchen Rechtsquellen und -texten dieser Schutz beruht, bleibt aber offen. Das Wesentliche bleibt freilich, dass diese Rechtsprechung zu einem effektiven Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene führt. Schon seit einigen Jahren ist eine Tendenz des EuGH zu erkennen, den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz zu optimieren. Dass der EuGH den sanften, aber bestimmten Druck, den die Bosphorus-Entscheidung auf die Gemeinschaftsrechtsordnung ausübt, aufgreift, zeigen seine Urteile in den Sachen Gestoras Pro Amnistía196 und Segi197 vom 27.02.2007. Darin erstreckt er seine Jurisdiktion über Maßnahmen der dritten Säule, die sich nach Art. 35 EU zunächst nur auf Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse bezieht, auf gemeinsame Standpunkte, falls diese Rechtswirkungen gegenüber Dritten erzeugen. Der EuGH schließt hier eine Rechtsschutzlücke, die den EGMR sonst nach seiner Bosphorus-Rechtsprechung zum Einschreiten veranlassen müsste. Damit stellt er sich der Herausforderung aus Straßburg.198
192 193 194 195 196 197 198
Ebd., Rn. 155: „By ‚equivalent‘ the Court means ‚comparable‘.“ Ebd., Rn. 156. BVerfGE 73, 339 (378) – Solange II. Siehe auch H.-G. Dederer, Die Architektonik des europäischen Grundrechtsraums, ZaöRV 66 (2006), S. 575 (597–599). EuGH, Rs. C-354/04 P, Gestoras pro Amnistía u.a./Rat, Slg. 2007, I-1579, Rn. 53 f. EuGH, Rs. C-355/04 P, Segi u.a./Rat, Slg. 2007, I-1657, Rn. 53 f. Siehe auch U. Haltern, Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, JZ 2007, S. 537 (547); ders., Rechtsschutz in der dritten Säule der EU, JZ 2007, S. 772 (777 f.).
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III. Transformation völkerrechtlicher Verfassungselemente in Unionsrecht Will eine Gemeinschaft den Umfang völkerrechtlichen Einflusses kontinuierlich kontrollieren, liegt es nahe, Völkerrecht intern nicht unmittelbar zur Anwendung zu bringen, sondern vermittelt durch interne Normen. Völkerrecht wird in diesem Fall in der einen oder anderen Form in internes Recht transformiert. Diese Transformation kann auf der Ebene des Primärrechts oder des Sekundärrechts geschehen. 1. Primärrechtliche Inkorporation Eine erste Form einer primärrechtlichen Inkorporation ist die einer rein unionsrechtlich angeordneten Rechtsnachfolge, wie sie vor allem für die EMRK vertreten wird (a). Das Primärrecht kann Völkerrecht aber auch durch eine ausdrückliche Verweisung inkorporieren. Das wichtigste Beispiel ist Art. 6 Abs. 2 EU (b). Sehr effizient ist schließlich der Weg, völkerrechtliche Verfassungselemente als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts auf der Ebene des Primärrechts zu inkorporieren (c). a) Unionsrechtliche Rechtsnachfolge Auch wenn man beim derzeitigen Entwicklungsstand des Völkerrechts nicht bereit ist, aus der Funktionsnachfolge auf eine echte völkerrechtliche Rechtsnachfolge der EG in die EMRK-Bindung der Mitgliedstaaten zu schließen, ließe sich eine gemeinschaftsrechtliche Rechtsnachfolge erwägen. Dieser Mechanismus würde ebenfalls dazu führen, dass die EG an die EMRK gebunden ist. Es würde sich aber nicht mehr um eine völkerrechtliche Bindung handeln, sondern um eine rein gemeinschaftsrechtliche. Rudolf Bernhardt denkt in diese Richtung, wenn er von dem Phänomen spricht, dass die EG materiell an Vertragsbestimmungen gebunden sei, ohne selbst Vertragspartei zu sein. Er erklärt diese Bindung damit, dass das Gemeinschaftsrecht unter Beachtung der völkerrechtlichen Bindungen der Mitgliedstaaten auszulegen und anzuwenden sei.199 Primärrechtlicher Ausgangspunkt derartiger Überlegungen ist Art. 307 EG (Art. 351 AEUV). Art. 307 Abs. 1 EG spricht die Selbstverständlichkeit aus, dass der Beitritt zur EG die zu dieser Zeit bereits bestehende Bindung der meisten Mitglieder an die EMRK unberührt lässt. Man kann diese Bindung, wie gesehen,200 so verstehen, dass die Mitgliedstaaten auch für ein EMRK-konformes Verhalten der EG verantwortlich sind.201 Nach Art. 307 Abs. 2 EG sind etwaige Unvereinbarkeiten zwischen der EMRK und dem EG-Vertrag zu beheben. Eine Änderung oder gar Kündigung der EMRK zugunsten des EG-Vertrages steht nicht zur Debatte. Zwar hat Akos G. Toth 1997 vorgeschlagen, alle EU-Mitgliedstaaten sollten die EMRK kündigen.202 Nach diesem Vorschlag würde dann allein dem EuGH 199 200 201 202
Bernhardt (Fn. 171), S. 214. Oben, II. 3. b) bb) und cc). Dahin gehend auch Bleckmann (Fn. 175), S. 87. A. G. Toth, The European Union and Human Rights: The Way Forward, CMLRev. 34 (1997), S. 491 (512, 518–527).
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die Aufgabe des Grundrechtsschutzes innerhalb der EU zufallen. Dies widerspricht allerdings diametral dem Grundanliegen des EMRK-Systems, jede Ausübung hoheitlicher Gewalt innerhalb Europas einer externen Kontrolle zu unterwerfen. Es herrscht Einigkeit, dass nationale Verfassungsgerichte die externe Kontrolle durch den EGMR nicht ersetzen können. Das gilt auch für den EuGH. Ein Autor hat die Idee einer EMRK-Kündigung sogar als „absurd“ bezeichnet.203 Der einzige Lösungsweg ist es also, die EG gemeinschaftsrechtlich auf Einhaltung der EMRK zu verpflichten, damit es nicht zu einer völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten kommt.204 Ähnliche Erwägungen hat das EuG nun im Fall Yusuf zur Charta der Vereinten Nationen angedeutet.205 Die Figur einer gemeinschaftsrechtlichen Rechtsnachfolge gestattet es, die Organe der EG gemeinschaftsrechtlich an die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu binden, ohne das völkerrechtliche Institut der Rechtsnachfolge fortentwickeln zu müssen und ohne auf die Mitwirkung dritter Staaten angewiesen zu sein, wie es bei einem Beitritt der EG zur EMRK der Fall wäre. Gleichzeitig bliebe die Autonomie der Gemeinschaft unberührt, weil die EG völkerrechtlich nicht verpflichtet wird. Freilich kommt diesem Mechanismus kaum eigenständige Bedeutung zu. Er dient zur Begründung, warum Unionshandeln im Einklang mit bestimmten völkerrechtlichen Vertragswerken erfolgen muss. Um diesen Gleichlauf mit völkerrechtlichen Normen herzustellen, wird dann aber auf andere unionsrechtliche Mechanismen wie den des Art. 6 Abs. 2 EU zurückgegriffen. b) Ausdrückliche primärrechtliche Inkorporation – insbes. Art. 6 Abs. 2 EU Betrachtet man Art. 6 Abs. 2 EU, ist zunächst festzuhalten, dass es sich um einen rein europarechtlichen Mechanismus handelt. Das Unionsrecht inkorporiert einen völkerrechtlichen Vertrag durch eine ausdrückliche Verweisung auf der Ebene des Primärrechts. Es erkennt dem völkerrechtlichen Text eine Maßstabsfunktion zu, ohne dass eine völkerrechtliche Bindung begründet würde. Die Verweisung ist also autonom. Sie ermöglicht eine Rezeption völkerrechtlicher Maßstäbe, ohne externe Bindungen zu begründen oder Gemeinschaft und Union gar der Rechtsprechung eines unionsfremden Organs zu unterwerfen. Art. 6 Abs. 2 EU wahrt damit die Unabhängigkeit der Union und ihrer Organe.
203 204
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Winkler (Fn. 149), S. 146 f. Dahin gehend auch Grabenwarter (Fn. 180), S. 331, der Art. 6 Abs. 2 EU in diesem Sinne auslegen will. Der weitergehenden These von Winkler (Fn. 149), S. 147 f., Art. 307 Abs. 2 EG verlange den Beitritt der EG zur EMRK, weil nur so ein Beschwerderecht gegen die EG nach Art. 33, 34 EMRK begründet werden könne, ist hingegen nicht zu folgen, da die EMRK eine Unterwerfung der EG unter die Rechtsprechung des EGMR nicht verlangt. Wie oben in Abschn. II. 3. b) ausgeführt, ist schon zweifelhaft, wieweit die EMRK überhaupt Geltung gegenüber EG-Akten beansprucht. Jedenfalls lässt sich die Zuständigkeit des EGMR aber, wie ausgeführt, dadurch sichern, dass die Mitgliedstaaten für EG-Akte zur Verantwortung gezogen werden. Siehe unten, III. 2; dagegen EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi u.a./Rat und Kommission, Slg. 2008, I-0000, Rn. 301–304.
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Davon abgesehen ist die Tragweite von Art. 6 Abs. 2 EU unklar. Manche wollen über Art. 6 Abs. 2 EU die Bindung an die EMRK wenigstens innergemeinschaftlich verwirklicht sehen. Hilf spricht in diesem Zusammenhang von einer materiellen Bindung.206 Er hebt hervor, dass sich Art. 6 Abs. 2 EU nicht allgemein auf völkerrechtliche Menschenrechtsverbürgungen bezieht, sondern speziell auf die EMRK, und dass die Vorschrift die EMRK als selbständige Gewährleistung vor die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten stellt.207 Andere betonen hingegen auch hier die Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts. So stellt das EuG klar, dass die EMRK „als solche nicht Bestandteil des Gemeinschaftsrechts“ sei; EuGH und EuG ließen sich lediglich „von den Hinweisen leiten“, die die EMRK gebe.208 Das führt deutsche Autoren zu der Feststellung, die EMRK sei für die EG keine Rechtsquelle, sondern lediglich „Rechtserkenntnisquelle“.209 Eckhard Pache würdigt die Rechtsprechung des EuG mit den Worten, dass sie „die Gefahr einer externen, durch den EGMR erfolgenden Fremdbestimmung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes“ vermeide.210 Als Beobachtung dürfte dies zutreffen.211 Es fragt sich jedoch, wieso die Kontrolle durch den EGMR eine gefährliche Fremdbestimmung sein soll. Siegbert Alber und Ulrich Widmaier denken bezeichnenderweise in die umgekehrte Richtung und erwägen de lege ferenda eine primärrechtliche Bestimmung, die dem EuGH die Beachtung der Rechtsprechung des EGMR zur Pflicht macht.212 Wenn sich alle EU-Mitgliedstaaten freiwillig der Kontrolle durch den EGMR unterworfen haben, sollte dasselbe für die EG jedenfalls nicht allzu bedrohlich sein. In der Grundrechte-Charta der EU (GR-Charta) offenbart sich erneut das ambivalente Verhältnis von Gemeinschaft und Union zur EMRK als völkerrechtliche Nebenverfassung. Die Grundentscheidung, einen eigenen Grundrechtstext zu formulieren anstatt völkerrechtliche Menschenrechtstexte förmlich in das Gemeinschaftsrecht zu inkorporieren, entspricht dem Streben, die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts zu wahren und zu betonen. Inhaltlich gehen die Verweisungen der GR-Charta auf die EMRK freilich weiter als Art. 6 Abs. 2 EU. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GR-Charta ordnet den Gleichlauf von Charta-Gewährleistungen mit parallelen Garantien der EMRK an.213 Art. 53 der GR-Charta erklärt die EMRK zudem im Verbund mit anderen Grund- und Menschenrechtsver206 207 208 209 210 211
212 213
Hilf (Fn. 19), S. 1206 f. Ebd., S. 1205 f. EuG, Rs. T-347/94, Mayr-Melnhof/Kommission, Slg. 1998, II-1751, Rn. 311 f.; Rs. T-112/ 98, Mannesmannröhrenwerke/Kommission, Slg. 2001, II-729, Rn. 59 f. J. Kühling, in diesem Band, S. 663; T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, 2007, Art. 6 EU, Rn. 33. E. Pache, Urteilsanmerkung, EuZW 2001, S. 351. Siehe auch EuG, verb. Rs. T-305/94 u.a., Limburgse Vinyl Maatschappij u.a./Kommission, Slg. 1999, II-931, Rn. 420, wo das EuG die Unabhängigkeit von der Rechtsprechung des EGMR betont. Alber/Widmaier (Fn. 159), S. 507 f. Zur Tragweite dieser Vorschrift siehe noch unten, IV. 2.
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bürgungen zum europäischen Mindeststandard.214 Diese Inkorporation der EMRK in das Gemeinschaftsrecht bleibt allerdings bloßes Programm, solange der GRCharta die rechtliche Verbindlichkeit fehlt. Eine wesentlich stärkere primärrechtliche Inkorporation findet sich an relativ versteckter Stelle in Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 EG (Art. 78 Abs. 1 AEUV). Die Vorschrift, die mit dem Vertrag von Amsterdam eingefügt wurde, beauftragt die europäische Gesetzgebung mit einer Harmonisierung des Asylrechts und bindet sie dabei an die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, das dazugehörige Protokoll von 1967 sowie andere einschlägige Verträge. Hier wird ein völkerrechtliches Vertragswerk auf der Ebene des Primärrechts in das Gemeinschaftsrecht integriert. Während Art. 6 Abs. 2 EU lediglich eine mehr oder minder enge Orientierung an der EMRK fordert, verlangt Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 EG ein Handeln „in Übereinstimmung“ mit dem Völkerrecht. Die Genfer Konvention wird damit zum unmittelbaren Entscheidungsmaßstab. Sie ist nicht lediglich „Rechtserkenntnisquelle“, sondern sie wird kraft Verweisung zur Rechtsquelle im Range des verweisenden primären Gemeinschaftsrechts. Praktische Bedeutung erlangt dies allerdings nur im Rahmen einer sekundärrechtlichen Harmonisierung des Asylrechts,215 die sich an der Konvention messen lassen muss. c) Allgemeine Rechtsgrundsätze Ein weiterer Ansatz, Völkerrecht in das Primärrecht der Union zu inkorporieren, ist der Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze. Auf diesem Weg hat der EuGH schon lange vor Entstehen des Art. 6 Abs. 2 EU mit einer partiellen Rezeption der EMRK begonnen. Manche sehen in Art. 6 Abs. 2 EU nur eine Festschreibung des Konzepts, die EMRK als Ausdruck allgemeiner Rechtsgrundsätze fruchtbar zu machen.216 Ansatz für dieses Konzept sind Lücken in der geschriebenen Gemeinschaftsrechtsordnung. Ab einem gewissen Integrationsstand bestand ein unabweisbares Bedürfnis, Grundrechtsschutz gegenüber Akten der Gemeinschaftsorgane zu gewährleisten.217 Da geschriebene Grundrechte im Gemeinschaftsrecht fehlten, mussten sie aus anderen Quellen abgeleitet werden. Der Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze lag nahe. Die EMRK, die einen gemeineuropäischen Grundrechtsstandard verbürgt, drängte sich als Referenztext auf. Allerdings hat der EuGH eine unmittelbare Bindung an die EMRK vermieden.218 Bezugspunkt ist nicht die Konvention, sondern sind die ungeschriebenen Rechtsgrundsätze, die der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung entnommen 214 215 216 217 218
Dazu C. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBl. 2001, S. 1 (11). Siehe Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge, ABl. 2004 L 304, S. 12. D. Kugelmann, Grundrechte in Europa, 1997, S. 25; R. Streinz, Europarecht, 2005, Rn. 754; siehe auch Rodríguez Iglesias (Fn. 177), S. 1281. Siehe auch J. Kühling, in diesem Band, S. 662. J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S. 55.
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werden. Im Schrifttum ist dafür der Begriff der wertenden Rechtsvergleichung geprägt worden.219 Internationale Menschenrechtsabkommen können dabei nach frühen Leitentscheidungen des EuGH „Hinweise“ geben.220 Später betonte der EuGH die „besondere Bedeutung“ der EMRK.221 Ungeachtet der Leitfunktion der EMRK bleibt damit die Eigenständigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsfortbildung gewahrt. Jürgen Schwarze222 spricht von einem „Reservoir“, aus dem der EuGH schöpfe. Der Inkorporationsmechanismus der allgemeinen Rechtsgrundsätze weist sich damit nicht nur durch seine hohe Flexibilität aus, sondern auch dadurch, dass er die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Gemeinschaft unberührt lässt. Völkerrechtliche Bindungen werden nicht begründet. In welchem Umfang völkerrechtliche Standards innergemeinschaftlich rezipiert werden, hängt allein von Gemeinschaftsorganen ab, und zwar vorrangig von der Rechtsprechung des EuGH. Das Ergebnis, das hier aus einer völkerrechtlich geprägten Außenperspektive gewonnen wird, deckt sich mit dem, was Jürgen Kühling223 aus dem Blickwinkel des unionalen Grundrechtsschutzes feststellt. Denselben Inkorporationsmechanismus hat das EuG in der Sache Opel Austria für Völkergewohnheitsrecht angewandt.224 Ausgangspunkt war dort ein Satz des Völkergewohnheitsrechts, und das EuG betonte seine völkerrechtliche Verbindlichkeit für die EG. Innergemeinschaftlich wurde dann aber nicht der Satz des Völkergewohnheitsrechts angewandt, sondern ein inhaltlich parallel verstandener allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts. Das völkerrechtlich Gebotene wird so in Gemeinschaftsrecht transformiert mit der Folge, dass EuGH und EuG Herren der innergemeinschaftlichen Anwendung bleiben.225 2. Sekundärrechtliche Inkorporation – insbes. die Umsetzung von UN-Sanktionen Eine Inkorporation völkerrechtlicher Normen durch autonome Verweisung ist nicht nur auf der Ebene des Primärrechts möglich. Völkerrecht kann auch durch sekundärrechtliche Verweisung in das Unionsrecht transformiert werden. Ein Beispiel bilden EG-Verordnungen, die den Zweck haben, WTO-Recht innergemeinschaftlich umzusetzen. In der Sache Nakajima hat der EuGH für diesen Sonderfall angenommen, dass der sekundärrechtliche Umsetzungsakt auf seine WTO-Konformität 219 220 221
222 223 224 225
Siehe nur H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rn. 163; J. Schwarze, in: ders. (Fn. 50), Art. 220 EG, Rn. 16. EuGH, Rs. 4/73, Nold/Kommission, Slg. 1974, 491, Rn. 13; Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727, Rn. 15. EuGH, verb. Rs. 97/87–99/87, Dow Chemical Ibérica u.a./Kommission, Slg. 1989, 3165, Rn. 10; Rs. C-299/95, Kremzow, Slg. 1997, I-2629, Rn. 14; Rs. C-71/02, Karner, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48. Schwarze (Fn. 219). J. Kühling, in diesem Band, S. 663 f. EuGH, Rs. T-115/94 (Fn. 39). Siehe die entsprechende Analyse von Wouters/Van Eeckhoutte (Fn. 29), S. 211.
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überprüft werden könne.226 Ein weiteres Beispiel sind Rechtsakte, mit denen Unionsorgane UN-Sanktionen innergemeinschaftlich Geltung verschaffen. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus hat in den letzten Jahren zu einer heftigen Diskussion über die innergemeinschaftliche Wirkung von Sanktionsbeschlüssen des UN-Sicherheitsrates geführt. Durch Resolution 1267 (1999) ordnete der Sicherheitsrat am 15.10.1999 nach Kapitel VII VN-Charta unter anderem das Einfrieren aller Finanzmittel von Personen an, die den afghanischen Taliban zuzurechnen sind. Zur Durchführung der Resolution wurde ein Sanktionsausschuss als Unterorgan des Sicherheitsrats eingesetzt. Mit Resolution 1333 (2000) wurden die Sanktionen auf Osama bin Laden und seine Anhänger ausgeweitet. Einzelpersonen, deren Gelder nach diesen Resolutionen einzufrieren sind, nimmt der Sanktionsausschuss in eine Liste auf. Zur Umsetzung dieser Sanktionen nahm der Rat gemeinsame Standpunkte an. Darauf folgte nach Art. 60 und 301 EG die Rats-Verordnung (EG) Nr. 467/2001 vom 6.3.2001.227 Anhang I dieser Verordnung listet die vom Sanktionsausschuss bezeichneten Personen auf, deren Finanzmittel eingefroren werden. Die Listen wurden später mehrfach verändert. Verschiedene Personen wehrten sich vor dem EuG gegen ihre Aufnahme in die Listen und beriefen sich namentlich auf Grundrechte. Zu entscheiden war insbesondere, ob die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats nach Kapitel VII VN-Charta die EG-Verordnung vor einer gerichtlichen Kontrolle am Maßstab der Grundrechte abschirmte. Im Fall Yusuf leitet das EuG zunächst aus Art. 103 VN-Charta einerseits und Art. 307 sowie Art. 297 EG andererseits ab, dass die Mitgliedstaaten UN-Sanktionen mit Vorrang vor dem primären und sekundären Gemeinschaftsrecht befolgen müssen.228 Darüber hinaus macht das EuG den zum GATT 1947 erarbeiteten Gedanken der Rechtsnachfolge229 fruchtbar, um eine Bindung der EG an die VN-Charta zu konstruieren.230 Freilich kommt das EuG, anders als es beim GATT 1947 der Fall war, nicht zu einer völkerrechtlichen Verpflichtung. Die Bindung der EG sei vielmehr gemeinschaftsrechtlicher Natur.231 Damit entspricht die Position eher dem
226 227 228
229 230 231
EuGH, Rs. C-69/89 (Fn. 136). ABl. 2001 L 67, S. 1. EuG, Rs. T-306/01, Yusuf/Rat und Kommission, Slg. 2005, II-3533, Rn. 231 ff.; im wesentlichen gleichlautend Rs. T-315/01, Kadi/Rat und Kommission, Slg. 2005, II-3649, Rn. 181 ff.; bestätigend Rs. T-253/02, Ayadi/Rat, Slg. 2006, II-2139, Rn. 115 ff.; zust. A. v. Arnauld, UN-Sanktionen und gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz, AVR 44 (2007), S. 201 (206 f.); M. Kotzur, Eine Bewährungsprobe für die Europäische Grundrechtsgemeinschaft, EuGRZ 2006, S. 19; S. Steinbarth, Individualrechtsschutz gegen Maßnahmen der EG zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, ZeuS 2006, S. 269 (278 f.); krit. dagegen S. Hörmann, Völkerrecht bricht Rechtsgemeinschaft?, AVR 44 (2006), S. 267; S. Schmahl, Effektiver Rechtsschutz gegen targeted sanctions des UN-Sicherheitsrats?, EuR 2006, S. 566 (573 f.); K. Schmalenbach, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, JZ 2006, S. 349 (352). Siehe oben, II. 3. a). EuG, Rs. T-306/01 (Fn. 228), Rn. 245 ff. Ebd., Rn. 257.
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Mechanismus der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsnachfolge, wie er für die EMRK erarbeitet wurde.232 Das EuG stellt sodann den Zweck der angegriffenen Verordnung heraus, die entsprechenden UN-Sanktionsbeschlüsse umzusetzen.233 An dieser Stelle zeigt sich eine Parallele zur Nakajima-Rechtsprechung des EuGH.234 Hier wie dort stehen Rechtsakte der Gemeinschaft zur Überprüfung, die mit dem Ziel erlassen wurden, völkerrechtlichen Verpflichtungen innergemeinschaftlich Geltung zu verleihen. Es geht also in beiden Fällen um die Transformation völkerrechtlicher Verpflichtungen durch Sekundärrechtsakte. Während aber die Nakajima-Rechtsprechung ausnahmsweise eine Kontrolle des Umsetzungsakts am Maßstab des WTO-Rechts eröffnet, führt der Umstand, dass die Sanktionsverordnung UN-Beschlüsse transformiert, hier zu einer Freistellung des Sekundärrechtsakts von der ansonsten gebotenen Kontrolle am Maßstab der Unionsgrundrechte.235 Stattdessen beschränkt sich das EuG darauf, auf der völkerrechtlichen Ebene zu prüfen, ob die zugrunde liegenden UN-Beschlüsse wegen eines Verstoßes gegen zwingendes Völkerrecht nichtig seien.236 Diesen Mindeststandard sieht das EuG aber nicht verletzt.237 Zwar bestehe eine Rechtsschutzlücke, da es auch auf der internationalen Ebene kein gerichtliches Organ gebe, das die Aufnahme in die Liste überprüfen könne; dies verstoße aber noch nicht gegen ius cogens.238 Das Rechtsschutzinteresse des Einzelnen müsse hinter dem Interesse an der Wahrung des Weltfriedens zurücktreten.239 In der nachfolgenden Sache Ayadi hat das EuG zudem versucht, die Rechtsschutzlücke von einer anderen Seite her zu reduzieren. Dort hat er herausgearbeitet, dass Unionsgrundrechte die Mitgliedstaaten verpflichten, zugunsten ihrer Staatsangehörigen oder der in ihrem Gebiet ansässigen Personen gegebenenfalls im UNSanktionsausschuss auf eine Korrektur der Liste hinzuwirken.240 Rechtsschutz gegenüber der UN-Listung wird also durch ein Recht auf diplomatischen Schutz ersetzt. Schaut man darauf, in welcher Weise die UN-Sanktionen in das Gemeinschaftsrecht hineinwirken, ist zunächst festzuhalten, dass eine unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen hier nicht in Frage steht. Innergemeinschaftlich gelten die Sanktionen vielmehr kraft sekundärrechtlicher Umsetzung. Die inner232 233 234 235 236 237
238 239 240
Dazu oben, III. 1. a). EuG, Rs. T-306/01 (Fn. 228), Rn. 264; ebenso EuGH, Rs. C-117/06, Möllendorf, Slg. 2007, I-8361, Rn. 54; verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 205), Rn. 297. EuGH, Rs. C-69/89 (Fn. 136). EuG, Rs. T-306/01 (Fn. 228), Rn. 265 ff. Ebd., Rn. 277 ff. Ebd., Rn. 283 ff.; zur Kritik des vom EuG angewandten ius cogens-Maßstabs aus völkerrechtlicher Sicht M. Bulterman, Fundamental Rights and the United Nations Financial Sanction Regime, Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 753 (769 f.), sowie die Anm. von C. Tomuschat, CMLRev. 43 (2006), S. 537 (547 ff.). EuG, Rs. T-306/01 (Fn. 228), Rn. 340 f. Ebd., Rn. 344. Ebd., Rn. 144 ff.; zustimmend C. Tomuschat, Die Europäische Union und ihre völkerrechtliche Bindung, EuGRZ 2007, S. 1 (11 f.).
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gemeinschaftliche Wirkung der UN-Sanktionen besteht nach Auffassung des EuG darin, dass die Umsetzungsverordnung vor einer Kontrolle am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte abgeschirmt wird. Während in der WTO-Rechtsprechung das Sekundärrecht vor einer Kontrolle am Maßstab des WTO-Rechts geschützt wird, dient das Völkerrecht dem EuG hier als Schutzschild vor Unionsgrundrechten. Letzteres hat der EuGH freilich in der Berufungsinstanz korrigiert.241
IV. Bewertung und Ausblick 1.
Gründe für unterschiedliche Rezeption
a)
Souveränitätswahrung
Eingangs wurde die Frage gestellt, wie sich die Verfassung von EG und EU zu völkerrechtlichen Verfassungselementen verhält. Der vorstehende Befund lässt zwei Deutungen zu, die einander nicht ausschließen. Ein Erklärungsansatz betrifft die Rechtsstaatlichkeit242 der Gemeinschaft, der andere die Stellung der Gemeinschaft in der Welt. Die restriktive Haltung des EuGH gegenüber dem WTO-Recht wird häufig damit erklärt, dass er den Handlungsspielraum von Rat und Kommission nicht einengen wolle.243 Dahinter steht ein Verständnis von Gewaltenteilung, das die auswärtige Gewalt von gerichtlicher Kontrolle freistellt.244 Joseph Drexl formuliert dies als Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Kontrolle einerseits und der Wahrung der Freiheit zum Vertragsbruch andererseits.245 Aus ordnungspolitischen Gründen spricht er sich für die richterliche Kontrolle aus.246 Eine rechtsstaatliche Betrachtung des europäischen Verfassungsrechts führt zu demselben Ergebnis. Im staatlichen Recht ist der Gedanke einer gerichtsfreien auswärtigen Gewalt weitgehend zurückgedrängt.247 In Frankreich hat die Bedeutung des Völkerrechts in der gerichtlichen Rechtsanwendung in den letzten Jahren erheblich zugenommen.248 Deutsche Gerichte haben wiederholt betont, dass es zu den Aufgaben der staatlichen Gerichte gehöre, Situationen zu vermeiden, die zu einer völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates führen könnten.249 Auch im EG-Vertrag ist mit Art. 300 Abs. 7 241 242 243
244 245 246 247 248 249
EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 205), Rn. 280 ff.; dazu noch unten, IV 1 c. Bzw. treffender: die Herrschaft des Rechts; dazu A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 36 f. So kritisch Berrisch/Kamann (Fn. 44), S. 94; v. Danwitz (Fn. 77), S. 728 f.; auch Petersmann (Fn. 65), S. 327; ebenso, aber weniger kritisch, Hilf/Schorkopf (Fn. 76), S. 89; siehe auch schon oben, II. 2. a) ee). Dahin gehend auch die Analyse von Peters (Fn. 55), S. 59 f.; ferner D. Thym, in diesem Band, S. 466 ff. J. Drexl, Unmittelbare Anwendbarkeit des WTO-Rechts in der globalen Privatrechtsordnung, in: FS Fikentscher, 1998, S. 822 (836). Ebd., S. 839 ff., 845 ff. Siehe auch v. Danwitz (Fn. 77), S. 728. Grewe (Fn. 10), S. 165 f. BVerfGE 58, 1 (34); E 59, 63 (89); BGHSt 45, 321 (339).
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einerseits und den Regelungen über die gerichtliche Kontrolle in Art. 220 ff. andererseits eine rechtlich gezähmte auswärtige Gewalt angelegt. Die Gemeinschaftsorgane scheinen diesen rechtsstaatlichen Entwicklungsstand noch nicht erreicht zu haben. Jenseits der internen Rechtsstaatlichkeit der EG ist ihre Stellung in der Welt berührt. Selbstverständlich ist die EG Mitglied der internationalen Gemeinschaft. Es steht außer Zweifel, dass sie zu den wichtigen Akteuren im Rahmen der WTO gehört. Es liegt auch auf der Hand, dass die EMRK einen gemeineuropäischen Grundrechtsstandard verbürgt, dem sich EG und EU nicht grundsätzlich entziehen können. Dennoch verfolgt die EG konsequent eine Linie, die ihre Unabhängigkeit gegenüber der internationalen Gemeinschaft und völkerrechtlichen Bindungen so weit wie möglich wahrt. Sie verfügt über Mechanismen, um menschenrechtliche Standards der EMRK bei Bedarf effizient in das Gemeinschaftsrecht zu inkorporieren. Zunächst war es das Konzept allgemeiner Rechtsgrundsätze, das nun durch die autonome Verweisung in Art. 6 Abs. 2 EU ergänzt wird. Eine völkerrechtliche Bindung, die ihren Spielraum einengen könnte, hat sie aber bisher vermieden. Ähnlich verhält es sich mit der WTO. Diesem System ist die EG völkerrechtlich beigetreten. Die dogmatisch nahezu zwingende Konsequenz, dem WTO-Recht über Art. 300 Abs. 7 EG eine weitgehende innergemeinschaftliche Wirkung zu verleihen, ist aber von den entscheidenden Organen nicht gezogen worden. Der EuGH entschied sich, wie Georg M. Berrisch und Hans-Georg Kamann es formulieren, für eine „Bewahrung der gemeinschaftlichen Souveränität innerhalb der WTO“.250 Ganz auf dieser Linie liegt ein Ausschussbericht des Europäischen Parlaments von 1997. Er fordert, die Gemeinschaft im Wege der Vertragsänderung mit einem „Souveränitätspanzer“ auszustatten.251 Damit entsteht das Bild einer Europäischen Gemeinschaft, die einem Souveränitätsdenken verhaftet ist, das moderne Staaten längst überwunden haben. Viele Staaten sind bereit, dem Völkerrecht eine innerstaatliche Wirkung zu verleihen, die den Handlungsspielraum staatlicher Organe merklich beschränkt. Die Verfassungsgerichte europäischer Staaten haben ihre Rolle als alleinige oberste Hüter der Grundrechte längst verloren. Neben und über ihnen steht der EGMR.252 Es mutet merkwürdig an, dass die Europäische Gemeinschaft, die nie als souveräner Staat angesehen wurde, größere Schwierigkeiten haben sollte, sich internationalen Bindungen zu unterwerfen. Vielleicht liegt allerdings gerade hier ein Erklärungsansatz. 250
251
252
Berrisch/Kamann (Fn. 44), S. 92; v. Danwitz (Fn. 77), S. 729, kommentiert die Haltung zum WTO-Abkommen mit den Worten, „[h]inter der Fassade der geschlossenen Abkommen herrsch[e] … immer noch die rechtlich ungezügelte Hoheitsmacht der Gemeinschaftsinstitutionen.“ Europäisches Parlament, Ausschuss für Rechte und Bürgerrechte, Bericht über die Beziehungen zwischen dem Völkerrecht, dem Gemeinschaftsrecht und dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten vom 24.9.1997 (Berichterstatter: S. Alber), A4-0278/97, PE 220.225/end, S. 15. Zu dieser Parallele auch Alber/Widmaier (Fn. 159), S. 506; Krüger/Polakiewicz (Fn. 18), S. 100.
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Nationalstaaten wie Deutschland oder Frankreich werden in ihrer Identität nicht ernsthaft gefährdet, wenn sie sich internationalen Bindungen unterwerfen und ihren Anspruch auf autonome Rechtssetzung und -anwendung zurücknehmen. Anders verhält es sich mit der EG. Sie ist ein relativ junges Gebilde, das sich zu einem erheblichen Teil als Rechtsgemeinschaft versteht.253 Verliert ihr Recht an Eigenständigkeit, könnte das die Gemeinschaft in ihrer Identität bedrohen. So ist die Idee der Rechtsgemeinschaft ein Leitmotiv, mit der der EuGH in der Sache Kadi die Autonomie des Gemeinschaftsrecht gegenüber Sanktionsresolutionen des Sicherheitsrats begründet hat.254 Das Autonomiestreben der Gemeinschaft erscheint so als Versuch, eine eigene Identität zu erlangen und zu festigen. Das Identitätsdefizit von EU und EG ist bekannt.255 Der EU-Vertrag thematisiert es im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. In der zehnten Präambelerwägung beschreibt der EU-Vertrag die GASP als Mittel, die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken. Es fällt auf, dass Identität und Unabhängigkeit hier ausdrücklich miteinander in Verbindung gebracht werden. Art. 2 Abs. 1 EU greift die Präambelerwägung in seinem zweiten Spiegelstrich auf, indem er die Behauptung der Identität auf internationaler Ebene zum Ziel der Europäischen Union erklärt. Eine europäische Identität soll hier vor allem dadurch geschaffen werden, dass die Union als außenpolitische Handlungseinheit konstituiert wird. Mit dem Betonen der Unabhängigkeit klingt eine zweite Strategie an: Identität kann auch durch Verselbständigung und Abgrenzung hergestellt werden. Der EuGH ist diesen zweiten Weg schon 1964 in der Sache Costa/E.N.E.L. gegangen, als er das Gemeinschaftsrecht als autonome Rechtsordnung von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten abgehoben hat.256 In der Haltung der Gemeinschaft zu völkerrechtlichen Verfassungselementen wird dieselbe Strategie nach außen gewandt.257 Die Gemeinschaftsorgane sind bestrebt, die Rechtsordnung der Gemeinschaft als eigenständige Rechtsordnung vom Völkerrecht unabhängig zu machen. Dieses Autonomiestreben wirkt in dem Maße anachronistisch, wie Nationalstaaten zunehmend bereit sind, überkommene Souveränitätsvorstellungen zurückzunehmen und ihre nationalen Verfassungsordnungen für internationale Einflüsse zu öffnen. Erklärbar ist die entgegengesetzte Haltung der Gemeinschaft damit, dass sie ihren festen Platz in der internationalen Gemeinschaft noch nicht gefunden hat. Die Ordnung, die in diesem Band untersucht wird, erscheint nach dieser Analyse als eine Verfassungsordnung im Werden. Sie kann auf internationale Verfassungselemente nicht verzichten. Solange die europäische Verfassungsordnung nicht in sich gefestigt ist, wird sie aber bestrebt sein, die Bedeutung völkerrechtlicher 253 254 255 256 257
Dazu A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 39 ff.; U. Everling, in diesem Band, S. 990; J. Bast, in diesem Band, S. 494. EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 205), Rn. 281, 304, 316. Siehe dazu W. Graf Vitzthum, Die Identität Europas, EuR 2002, S. 1 (5 ff.), sowie U. Haltern, in diesem Band, S. 280 ff. EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, S. 1251 (1270). Siehe auch D. Thym, in diesem Band, S. 456 ff.
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Verfassungselemente herunterzuspielen und den eigenen Autonomieanspruch in den Vordergrund zu stellen. b) Die EU als Grundrechtsgemeinschaft aa) Verstärkte Bezugnahme auf EMRK und EGMR Freilich zeichnet sich im Grundrechtsbereich seit einigen Jahren eine deutlich andere Tendenz ab. Die Haltung des EuGH zum formalen Status der EMRK im Gemeinschaftsrecht hat sich nicht geändert. Die Formulierung, dass internationale Menschenrechtsabkommen bloße „Hinweise“ zur Feststellung allgemeiner Rechtsgrundsätze gäben, wobei der EMRK lediglich eine „besondere Bedeutung“ zukomme, findet sich noch immer.258 Dennoch scheint der EuGH nunmehr bereit zu sein, den Garantien der EMRK im Gemeinschaftsrecht umfassend Geltung zu verschaffen.259 Darüber hinaus zieht er nun Urteile des EGMR ebenso zur Begründung seiner Entscheidungen heran wie eigene Urteile.260 Das ist umso bemerkenswerter, als der EuGH sonst nahezu ausschließlich sich selbst zitiert, und nun eben auch den EGMR. Die zunehmende Bereitschaft des EuGH, die EMRK und den EGMR zu akzeptieren, lässt sich auch statistisch belegen. Die nachfolgende Grafik zeigt insoweit eine deutliche Entwicklung.
Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Rechtsprechungstätigkeit des EuGH in den vergangenen Jahren insgesamt angestiegen ist. Fällte der EuGH 1998 254 Ur258 259 260
EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, I-5659, Rn. 71; Rs. C-71/02 (Fn. 221), Rn. 48; siehe zu diesen Formulierungen schon oben, III. 1. c). Siehe auch J. Kühling, in diesem Band, S. 663 f. Z.B. EuGH, Rs. C-112/00 (Fn. 258), Rn. 79; Rs. C-245/01, RTL, Slg. 2003, I-12489; Rs. C71/02 (Fn. 221), Rn. 51; siehe auch die umfassende Analyse von S. Douglas-Scott, A Tale of two Courts: Luxembourg, Strasbourg and the Growing European Human Rights Acquis, CMLRev. 43 (2006), S. 629 (644 ff.), sowie C. Grabenwarter/K. Pabel, Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR, in: K. Stern/P. J. Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Rechtsvergleich, 2005, S. 81 (83–85).
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teile, waren es 2006 351.261 Das relativiert den Anstieg der Bezugnahmen auf die EMRK. Setzt man die Entscheidungen mit den EMRK-Zitaten ins Verhältnis zur Gesamtzahl der EuGH-Urteile eines Jahres, ergibt sich jedoch noch immer eine deutliche Steigerung, wie die zweite Grafik zeigt.
Offenbar gehören die Vorbehalte der Luxemburger Richter gegenüber dem Straßburger Gerichtshof der Vergangenheit an.262 Die Zeit scheint nunmehr reif für einen EMRK-Beitritt. bb)Verstärkte Kontrolle mitgliedstaatlichen Verhaltens Betrachtet man die Rechtsprechung der letzten Jahre, fällt auf, dass der EuGH insbesondere auch die Grundrechtskontrolle über mitgliedstaatliches Handeln intensiviert hat. Im Ansatz ist es nichts Neues, dass der EuGH Handlungen der Mitgliedstaaten Gemeinschaftsgrundrechten unterwirft. Seit der Wachauf-Entscheidung aus dem Jahr 1989 misst er den mitgliedstaatlichen Vollzug des Gemeinschaftsrechts zumindest insoweit an Gemeinschaftsgrundrechten, als den nationalen Instanzen kein Ermessen zukommt.263 Art. 51 Abs. 1 S. 1 nimmt diese Rechtsprechung auf. Etwas problematischer, aber ebenfalls weitgehend anerkannt ist die ERT-Rechtsprechung, wonach Mitgliedstaaten dort, wo sie in Grundfreiheiten eingreifen, die Gemeinschaftsgrundrechte als zusätzliche Schranken-Schranke zu beachten haben.264 261 262
263 264
Zahlen nach EuGH, Jahresbericht 2006, S. 103, unter www.curia.europa.eu. Diese Zahlen wurden auch der folgenden Grafik zugrunde gelegt. J. Callewaert, Die EMRK und die EU-Grundrechtecharta, EuGRZ 2003, S. 198 (203); siehe auch F. Sudre, L’apport du droit international et européen à la protection communautaire des droits fondamentaux, in: Société Française pour le Droit International (Fn. 123), S. 169 (185 f., 192 f.); ausf. L. Scheek, The Relationship between the European Courts and Integration through Human Rights, ZaöRV 65 (2005), S. 837 (851–856). EuGH, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, 2609, Rn. 19; zu dieser sog. agency situation siehe J. Kühling, in diesem Band, S. 680 f. EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43–54; dazu J. Kühling, in diesem Band, S. 682 f.
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Freilich deutet sich dort schon an, dass die Mitgliedstaaten Gemeinschaftsgrundrechte nicht nur bei der Einschränkung von Grundfreiheiten, sondern auch allgemein im „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ zu beachten haben.265 Die ERT-Rechtsprechung hat der EuGH nun in mehreren Urteilen sehr problematisch ausgedehnt. Das größte Aufsehen erregte 2002 der Fall Carpenter.266 Das Vereinigte Königreich wollte die Drittstaatsangehörige Frau Carpenter, die mit dem Briten Herrn Carpenter verheiratet war, ausweisen. Das Sekundärrecht regelt zwar das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen aus Drittstaaten, gibt aber kein Aufenthaltsrecht im Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers.267 Der EuGH zog daher das Primärrecht heran und stützte sich auf die Dienstleistungsfreiheit von Herrn Carpenter. Da sich Frau Carpenter zu Hause um die Kinder kümmere, erleichtere sie es Herrn Carpenter, im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit Kunden in anderen Mitgliedstaaten zu besuchen. Weise das Vereinigte Königreich Frau Carpenter aus, greife es in die Dienstleistungsfreiheit von Herrn Carpenter ein.268 Damit war der Weg frei für eine Anwendung von Art. 8 EMRK als Schranken-Schranke der Dienstleistungsfreiheit mit der Folge, dass die Ausweisung wegen eines Verstoßes gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens gemeinschaftsrechtswidrig war.269 Die Verknüpfung zwischen der Ausweisung und der Dienstleistungsfreiheit ist sehr locker. Berücksichtigt man, wie der EuGH den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit in der Sache Keck eingeschränkt hat,270 erscheint es kaum vertretbar, hier noch einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit anzunehmen.271 Der EuGH ist im Fall Carpenter weniger als Hüter des Gemeinschaftsrechts tätig geworden, denn als Hüter der EMRK. Ähnlich problematisch ist das Urteil in der Sache Herbert Karner Industrie-Auktionen aus dem Jahr 2004.272 Ein österreichisches Unternehmen hatte Waren aus der Konkursmasse eines anderen Unternehmens erworben und wollte diese versteigern. Es warb damit, dass es sich um eine Konkursversteigerung handelte. Dies wurde als irreführend untersagt, weil der Eindruck erweckt werde, es handele sich um eine Versteigerung durch den Masseverwalter. EG-Sekundärrecht regelt zwar irreführende Werbung, lässt aber weitergehende Regelungen der Mitgliedstaaten zu und stand dem Verbot damit nicht entgegen.273 Auch Art. 28 EG war nicht anwendbar, weil es sich um eine bloße Verkaufsmodalität im Sinne der Keck-Rechtsprechung
265 266 267 268 269 270 271 272 273
EuGH, Rs. C-260/89 (Fn. 264), Rn. 42. EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279; siehe auch nachfolgend Rs. C-109/01, Akrich, Slg. 2003, I-9607. EuGH, Rs. C-60/00 (Fn. 266), Rn. 34–36. Ebd., Rn. 39. Ebd., Rn. 40–46. EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck, Slg. 1993, I-6097, Rn. 16 f; dazu T. Kingreen, in diesem Band, S. 716 f. Siehe auch die kritische Analyse von U. Mager, Anmerkung, JZ 2003, S. 204 (206). EuGH, Rs. C-71/02 (Fn. 221). Ebd., Rn. 31–33.
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handelte.274 Damit konnten Gemeinschaftsgrundrechte nicht als Schranken-Schranke der Warenverkehrsfreiheit zur Anwendung kommen. Dennoch maß der EuGH das Werbeverbot an Art. 10 EMRK und begnügte sich zur Begründung dieses Schrittes mit einem abstrakten Hinweis auf die Relevanz der Grundrechte, „deren Wahrung der Gerichtshof sicher[e]“, wenn die nationalen Regelungen „in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ fallen.275 Nachdem der EuGH einen Grundrechtsverstoß verneint hatte, stellte er abschließend fest, dass Art. 28 EG einem entsprechenden Werbeverbot nicht entgegenstehe.276 Diese Schlussfolgerung deutet darauf hin, dass der EuGH Art. 10 EMRK nicht neben Art. 28 EG prüfen wollte, sondern innerhalb dieser Vorschrift, obwohl sie gar nicht anwendbar war.277 Der Bezug der Grundrechtsprüfung zum Gemeinschaftsrecht bleibt damit peripher. Der EuGH erscheint insoweit, wie schon im Fall Carpenter, eher als Hüter der EMRK. cc) Versuch einer Erklärung Es fragt sich, warum der EuGH die Rolle eines Hüters der EMRK gegenüber mitgliedstaatlichem Verhalten nicht dem EGMR überlässt, der nach Art. 19 S. 1 EMRK eigens zu diesem Zweck geschaffen wurde. Von den Ursprüngen des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes, als es darum ging, die Gemeinschaftsgewalt ähnlichen grundrechtlichen Bindungen zu unterwerfen wie sie für nationale Staatsgewalt bereits Standard waren, hat sich der EuGH mit seinen Entscheidungen weit entfernt. Vergleicht man die beiden Urteile Carpenter und Kraner mit der WTO-Rechtsprechung des EuGH, fällt zudem das unterschiedliche Verhältnis zur Gemeinschaftslegislative auf. In Hinblick auf die WTO betont der EuGH den Spielraum der politischen Organe, den er nicht beschränken dürfe.278 Im Fall Carpenter war das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen bereits sekundärrechtlich geregelt. Danach bestand in der Konstellation, in der sich Frau Carpenter befand, gerade kein gemeinschaftsrechtliches Bleiberecht. Diese Entscheidung der Gemeinschaftslegislative hat der EuGH über Art. 8 EMRK korrigiert. Ähnlich lag der Fall Karner. Dort hielt der Umstand, dass die Gemeinschaftslegislative nur Mindestkriterien für irreführende Werbung aufgestellt hatte, den EuGH nicht davon ab, das weitergehende mitgliedstaatliche Verbot an Art. 10 EMRK zu messen. Möglicherweise lässt sich die intensive Grundrechtsprechung der vergangenen Jahre als Versuch deuten, die Europäische Union als Grundrechtsgemeinschaft279 und sich selbst als Grundrechtsgericht zu etablieren. So betont der EuGH in der Sache Kadi mehrfach die verfassungsrechtliche Bedeutung der Grundrechte für die 274 275 276 277 278 279
Ebd., Rn. 37–43. EuGH, Rs. C-71/02 (Fn. 221), Rn. 49. Ebd., Rn. 53. Siehe auch den Hinweis von Rengeling/Szczekalla, (Fn. 219), Rn. 288, 320. EuGH, Rs. C-149/96 (Fn. 96); Rs. C-377/02 (Fn. 96). Krit. zu einem solchen Konzept A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157; differenzierend ders., in diesem Band, S. 59 ff.; zurückhaltend auch P. Kirchhof, in diesem Band, S. 1043.
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EG als Rechtsgemeinschaft.280 Der EuGH wäre damit auf der Suche nach einer zusätzlichen Legitimationsbasis, die im Schutz der Rechte des Einzelnen liegt. Die EMRK in ihrer Entfaltung durch den EGMR würde damit nicht mehr als Gefahr für die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung gesehen, sondern als Fundament für diese Ordnung. c) UN-Sanktionen als Sonderproblem Die Umsetzung von UN-Sanktionsbeschlüssen ist ein Sonderfall. Defizite bestehen hier zunächst außerhalb des Unionsrechts, auf der Ebene der Vereinten Nationen. Solange UN-Sanktionen nicht direkt gegen Einzelpersonen gerichtet waren, bestand für einen gerichtlich abgesicherten Grundrechtsschutz auf UN-Ebene kaum Anlass. Anders verhält es sich jedoch nun mit sog. smart sanctions. Benennt der Sicherheitsrat selbst oder ein von ihm eingesetzter Ausschuss konkrete Individuen und belegt sie mit einschneidenden Sanktionen, ist nach heutigen Grundrechtsstandards ein effektiver Individualrechtsschutz erforderlich. Will man die Bindungswirkung von UN-Sanktionen nicht in Frage stellen, muss dieser Rechtsschutz sinnvollerweise im Rahmen der Vereinten Nationen entwickelt werden. Dort ist ein solcher jedoch nicht einmal ansatzweise vorhanden. Damit stellt sich die Frage, ob kleinere territoriale Einheiten wie die UN-Mitgliedstaaten oder die EU den notwendigen Rechtsschutz bereitstellen. Der EuGH befindet sich hier in einer ähnlichen Lage wie das Bundesverfassungsgericht mit seiner Solange-281 und der EGMR mit seiner Bosphorus-Rechtsprechung. Bundesverfassungsgericht und EGMR haben mit ihrer Rechtsprechung auf potenzielle Defizite im unionalen Grundrechtsschutz reagiert. Nun stellt sich die Frage, ob die unionalen Gerichtsinstanzen in ähnlicher Weise auf eklatante Rechtsschutzdefizite im Rahmen der UN reagieren. Versteht sich die Europäische Union als Grundrechtsgemeinschaft, kann sie das nahezu vollständige Fehlen von Rechtsschutzmöglichkeiten gegenüber individualisierten UN-Sanktionen nicht sehenden Auges hinnehmen. Während aber das BVerfG und der EGMR die Rücknahme der eigenen Kontrolle davon abhängig machen, dass EuGH und EG einen im wesentlichen gleichwertigen Grundrechtsschutz verwirklichen282, lässt das EuG in seiner Yusuf-Rechtsprechung einen viel geringeren ius-cogens-Maßstab genügen. Nach dem Solange- und dem Bosphorus-Standard würden die UN-Sanktionsbeschlüsse, die sich auf konkrete Individuen beziehen, am völligen Fehlen gerichtlichen Rechtsschutzes scheitern. Unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten erscheint die gefundene Lösung höchst unbefriedigend. Will der UN-Sicherheitsrat regelmäßig Individuen mit Sanktionen belegen, muss er für einen ausreichenden gerichtlichen Rechtsschutz sorgen. Will man verhindern, dass einzelne Staaten und deren nationale Gerichte die Rechtmäßigkeit und Wirksamkeit von UN-Resolutionen in Frage stellen, muss ein gerichtlicher Individualrechtsschutz auf UN-Ebene eingeführt werden. Kapitel 280 281 282
EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 205), Rn. 285, 304, 316. Zu dieser Parallele siehe auch v. Arnauld (Fn. 228), S. 207 ff. Dazu oben, II. 3. b) cc).
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VII VN-Charta böte für die Einrichtung eines solchen Gerichts durchaus die erforderliche Rechtsgrundlage.283 Ist der UN-Sicherheitsrat nicht bereit, diesen Schritt zu gehen, müssen andere Instanzen einen entsprechenden Druck aufbauen. Dazu gehört auch die Inanspruchnahme eines subsidiären Kontrollmandats im Sinne von Solange und Bosphorus. Freilich ist dabei auch das BVerfG noch nie soweit gegangen, die EU ernsthaft zu beschädigen. Unter diesem Aspekt bleibt ein subsidiärer Rechtsschutz gegenüber UN-Sanktionen heikel. Die Autorität der Vereinten Nationen ist prekär. Würden europäische Gerichte die Umsetzung der Antiterror-Sanktionen am fehlenden Rechtsschutz scheitern lassen, könnte dies insbesondere die USA noch stärker am Nutzen der UNO zweifeln lassen. Es erscheint daher verständlich, wenn europäische Gerichte zwar Warnsignale abgeben, aber auf einen Querschuss verzichten.284 Dementsprechend hat der EGMR im Behrami-Fall angedeutet, dass er seine Kontrolle bei Maßnahmen, die auf Sanktionsbeschlüssen des Sicherheitsrats beruhen, stark zurücknehmen könnte.285 Dagegen hat der EuGH nun im Rechtsmittelverfahren in der Sache Kadi das Konzept der Grundrechtsgemeinschaft in den Vordergrund gerückt.286 Den Gedanken, dass die VN-Charta eine völkerrechtliche Nebenverfassung der EG sein könnte, hat er damit klar zurückgewiesen. 2. Änderungen durch den Lissabonner Vertrag Der Reformvertrag von Lissabon bestätigt die Tendenz, die sich in den letzten Jahren andeutete: eine Aufwertung der EMRK bei fortbestehender Zurückhaltung gegenüber anderen internationalen Verfassungselementen. Die frühere Zurückhaltung gegenüber der EMRK, die sich im bisherigen Art. 6 Abs. 2 EU niederschlägt, wird mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages auch auf der Ebene des Primärrechts überwunden. Art. 6 EUV-Liss., der weitgehend Art. I-9 des Vertrages über eine Verfassung für Europa (VVE) nachempfunden ist, führt zwei neue Menschenrechtsquellen ein. Art. 6 Abs. 1 EUV-Liss. verweist auf die Charta der Grundrechte, die als eigenständige Grundrechtsurkunde Teil des Primärrechts wird. Das zukünftige Europäische Verfassungsrecht soll also einen eigenen geschriebenen, rechtsverbindlichen Grundrechtskatalog enthalten. Gleichzeitig reagiert Art. 6 Abs. 2 EUV-Liss. auf das EMRK-Gutachten 2/94 des EuGH,287 indem 283
284 285
286 287
B. Fassbender, Art. 19 Abs. 4 GG als Garantie innerstaatlichen Rechtsschutzes gegen Individualsanktionen des UN-Sicherheitsrates, AöR 132 (2007), S. 257 (285 f.); siehe auch zur Errichtung des Internationalen Strafgerichts für das frühere Jugoslawien dessen AppealsChamber-Entscheidung vom 2.10.1995, Prosecutor vs. Tadi: Fall Nr. IT-94-1, HRLJ 1995, S. 437, Rn. 32 ff., und dazu C. Kreß, Friedenssicherungs- und Konflikt-Völkerrecht auf der Schwelle zu Postmoderne, EuGRZ 1996, S. 638 (640–642), sowie K. Ipsen, in: ders. (Fn. 2), § 42, Rn. 34. Grds. zust. zur Yusuf-Rechtsprechung daher v. Arnauld (Fn. 228), S. 209 f. EGMR, Nr. 71412/01 und Nr. 78166/01, Behrami u.a./Frankreich u.a., EuGRZ 2007, S. 522, Rn. 146–151; so auch schon A. Haratsch, Die Solange-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ZaöRV 66 (2006), S. 927–947. Oben, Fn. 280. EuGH, Gutachten 2/94 (Fn. 153).
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es eine ausdrückliche Kompetenz für den EMRK-Beitritt vorsieht. Dabei öffnet die Vorschrift nicht nur die Tür für einen Beitritt, sondern sie enthält zugleich einen Auftrag an die Unionsorgane, die notwendigen Schritte zu unternehmen. Allerdings erschwert Art. 218 AEUV den Beitritt zur EMRK in verfahrensrechtlicher Hinsicht. Art. 59 Abs. 2 EMRK würde der EU nach Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls zur EMRK288 einen Beitritt durch einseitige Erklärung gestatten. Diesen Weg verschließt Art. 218 AEUV in Verbindung mit Abs. 6 Abs. 1 lit. a (ii) sowie Abs. 8 Abs. 2 S. 2 AEUV, wo ausschließlich von einer Übereinkunft über den Beitritt zur EMRK die Rede ist. Das Protokoll Nr. 5 zum Lissabonner Vertrag289 knüpft hieran an, indem es die Inhalte vorgibt, die in dieser Übereinkunft zu regeln sind. Unionsrechtlich ist der Beitritt damit nur aufgrund eines eigenen Protokolls möglich, das zwischen der EU und allen EMRK-Vertragsstaaten auszuhandeln ist. Art. 218 Abs. 8 UAbs. 2 S. 2 AEUV bestimmt darüber hinaus, dass der Beschluss des Rates über den Abschluss des Beitrittsprotokolls erst „nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft“ tritt. Die EU-Mitgliedstaaten werden also doppelt tätig werden müssen: Als EMRK-Vertragsstaaten müssen sie das Beitrittsprotokoll ratifizieren. Darüber hinaus müssen sie den Ratsbeschluss über das Beitrittsprotokoll ratifizieren, bevor die EU das Beitrittsprotokoll verbindlich abschließen kann. Die doppelte Mitwirkung der EU-Mitgliedstaaten klingt unnötig kompliziert, doch lassen sich hierfür zwei Erklärungen finden. Zum einen dürfte hinter der Vorschrift die Befürchtung einzelner Mitgliedstaaten stehen, dass über einen EMRK-Beitritt der EU Konventionsrechte unkontrolliert in einer Weise in den nationalen Rechtsraum hineinwirken können, die der nationalen Rechtstradition fremd ist. Die Vorschrift wäre in diesem Fall ähnlich motiviert wie das Protokoll Nr. 7 zum Lissabonner Vertrag, das die Anwendbarkeit der Grundrechte-Charta auf Polen und das Vereinigte Königreich begrenzt. Zum anderen bestimmt das Ratifikationsverfahren den Rang der EMRK im Unionsrecht. Art. 216 Abs. 2 AEUV, der dem bisherigen Art. 300 Abs. 7 EG entspricht, inkorporiert völkerrechtliche Verträge in die Unionsrechtsordnung und weist ihnen einen Rang zwischen Primär- und Sekundärrecht zu.290 Müssen aber die Mitgliedstaaten den Beschluss über das Beitrittsprotokoll ratifizieren, erlangt dieser Beitrittsbeschluss selbst Primärrechtsrang. Er könnte die EMRK damit im Range des Primärrechts inkorporieren. Nach dem Lissabonner Vertrag ist die EMRK in zweifacher Hinsicht relevant.291 Durch einen Beitritt nach Art. 6 Abs. 2 EUV-Liss. wird die EMRK für die EU völkerrechtlich verbindlich. Zugleich werden die Unionsorgane damit der externen Kontrolle durch den EGMR unterworfen. Darüber hinaus wird die EMRK 288 289
290 291
Oben Fn. 151. Protokoll (Nr. 5) zu Art. 6 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union über den Beitritt der Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, ABl. 2007 L 306, S. 155. Siehe oben, II. 2. a) aa), im Hinblick auf Art. 300 Abs. 7 EG. R. Uerpmann-Wittzack, Doppelter Grundrechtsschutz für die zukünftige Europäische Union, DÖV 2005, S. 152, zum parallelen Art. I-9 VVE.
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unabhängig von einem Beitritt der EU auch über die Grundrechte-Charta inkorporiert, die mit Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV-Liss. rechtsverbindlicher Teil des Primärrechts wird. Nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GR-Charta haben die Rechte der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die Garantien der EMRK, soweit sie diesen entsprechen. Die vom Präsidium des Charta-Konvents verfassten und mittlerweile aktualisierten Erläuterungen enthalten eine Liste entsprechender Rechte.292 Nach der überarbeiteten 5. Präambelerwägung der Charta sind diese Erläuterungen eine offizielle Auslegungshilfe.293 Sie zeigen, dass sich die Garantien der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle nahezu vollständig in der Charta wiederfinden. Auf der Rechtfertigungsebene kommt Art. 52 Abs. 3 GR-Charta besondere Bedeutung zu. Danach müssen Eingriffe in Charta-Rechte nicht nur den allgemeinen Schrankenanforderungen des Art. 52 Abs. 1 GR-Charta genügen, sondern auch den speziellen Rechtfertigungsanforderungen der EMRK.294 Wird z.B. in das Privatleben eingegriffen, muss Art. 7 GR-Charta im Lichte von Art. 8 EMRK gelesen werden. Der Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn er sowohl Art. 52 Abs. 1 GR-Charta als auch Art. 8 Abs. 2 EMRK entspricht. Entgegen dem ersten Anschein schafft die Grundrechte-Charta also keinen autonomen Grundrechtstext; vielmehr müssen Charta und EMRK zusammen gelesen werden. Art. 6 EUV-Liss. inkorporiert die EMRK also gleich doppelt, zum einen über Abs. 2 mit der Perspektive des Beitritts und unabhängig davon zum anderen über Abs. 1 als Bestandteil der Grundrechte-Charta der EU. Auf beiden Wegen erhält die EMRK in Zukunft Primärrechtsrang. Sie wird damit zu einer völkerrechtlichen Nebenverfassung im wahrsten Sinne des Wortes. Die EMRK-freundliche EuGHRechtsprechung der letzten Jahre295 scheint diese Entwicklung zu antizipieren. Darüber hinaus greift Art. 6 Abs. 3 EUV-Liss. den bisherigen Art. 6 Abs. 2 EU296 auf und verhindert damit einen Rückfall hinter den grundrechtlichen status quo. Die Aufgeschlossenheit des Reformvertrages gegenüber internationalen Einflüssen beschränkt sich jedoch auf den Europäischen Menschenrechtsschutz. Beim WTO-Recht sind keine Änderungen zu verzeichnen. Art. 300 Abs. 7 EG, der der Ausgangspunkt für alle Überlegungen zur unionsinternen Wirkung sein sollte,297 wird mit rein sprachlichen Anpassungen in Art. 216 Abs. 2 AEUV übernommen. Die Gelegenheit, offene Fragen zu lösen, wird nicht genutzt.298 Außenpolitik wird wichtig genommen, doch stellt der Lissabonner Vertrag dabei den Einfluss der EU 292 293 294
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ABl. 2007 C 303, S. 17 (33 f.). Siehe auch Art. 52 Abs. 7 GR-Charta i.d.F. vom 12.12.2007, ABl. 2007 C 303, S. 1. M. Mahlmann, Die Grundrechtscharta der EU, ZEuS 2000, S. 419 (442); R. Schwartmann, Europäischer Grundrechtsschutz nach dem Verfassungsvertrag, AVR 43 (2005), S. 129 (137); leicht skeptisch F. J. Lindner, Grundrechtsschutz in Europa – System einer Kollisionsdogmatik, EuR 2007, S. 160 (173 f.). Siehe oben, IV. 1. b) aa). Dazu oben, III. 1. b). Siehe oben, II. 2. a) aa). C. Herrmann, Die Außenhandelsdimension des Binnenmarktes im Verfassungsentwurf, EuR Beiheft 3/2004, S. 175 (203), zum entsprechenden Art. III-225 VVE.
Völkerrechtliche Verfassungselemente
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auf die „übrige Welt“ in den Vordergrund. Nach Art. 3 Abs. 5 S. 1 EUV-Liss. soll die Union weltweit ihre Werte und Interessen schützen und fördern. Die Norm zeigt den Willen, Unionsstandards zu exportieren, ohne dass die Möglichkeit, internationale Standards in die eigene Ordnung zu inkorporieren, in den Blick käme. Art. 3 Abs. 5 S. 2 EUV-Liss. erwähnt den Beitrag der EU zu freiem und gerechtem Handel, doch dürfte der Maßstab dessen, was frei und gerecht ist, wiederum von der EU zu bestimmen sein. Derselbe Satz behandelt die strikte Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts. Der Wortlaut legt nahe, dass das geltende Völkerrecht nicht vorbehaltlos akzeptiert wird, sondern nach den Maßstäben der Union entwickelt werden soll. Art. 21 Abs. 1 UAbs. 1 EUV-Liss. bekräftigt die Absicht, Unionsstandards im Rahmen der Gemeinsamen Außenpolitik weltweit zu fördern. Die europäische Integration wird als weltweites Modell beschrieben.299 Mit diesen neuen Bestimmungen zeichnet der Lissabonner Vertrag das Bild einer Union, die sich selbst genügt und die nicht erwartet, von außen wesentliche Impulse zu erhalten, weder von der WTO noch aus anderer Quelle. Von der EMRK abgesehen, scheint die Union auch in Zukunft keine internationalen Nebenverfassungen akzeptieren zu wollen.
299
Siehe ebd., S. 188 f., zum VVE.
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Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung
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I. Vorüberlegung: Bedeutungsebenen des Verfassungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundlegung: Zwei Typen von Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Herrschaftsbegründung: Verfassung als Politisierung des Rechts . . . . . . . . . . . . 2. Herrschaftsformung: Verfassung als Verrechtlichung der Politik . . . . . . . . . . . . 3. Grundlegung: Verfassung als Kopplung von Politik und Recht . . . . . . . . . . . . . . III. Diskussionsstand – eine kritische Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nationalstaat und Autonomie des Europarechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Relativierungen des Verfassungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bund – Verbund – Fragment – Regime: Vielheiten der Verfassung . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Anwendung: Begriffe der Verfassung in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassunggebende Gewalt des Volkes – das Kriterium gleicher Freiheit . . . . . . 2. Verfassung: die Europäischen Verträge als formelle Unionsverfassung . . . . . . . 3. Konstitutionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Europäisches Verfassungsrecht als Rechtsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Politische Grenzen der semantischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Deliberativer Konvent und intergouvernementale Methode . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politische Zäsuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsnominalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Vorüberlegung: Bedeutungsebenen des Verfassungsbegriffs Die Vieldeutigkeit des Begriffs „Verfassung“ ist berüchtigt.1 Als „Verfassung“ kann man eine Norm bezeichnen, aber auch einen politischen Zustand, ein Objekt, die Verfassungsurkunde oder eine Funktion. Zumeist werden einige, doch selten alle dieser Bedeutungen zugleich angesprochen, wenn von „Verfassung“ die Rede ist. Diese begriffliche Schwierigkeit erzeugt Unklarheiten, die sich noch vervielfältigen, wenn – wie im Fall der Europäischen Integration – zum einen verschiedene Verfassungstraditionen aufeinander stoßen, zum anderen weder Konsens über die rechtswissenschaftliche Frage herrscht, ob es bereits eine Verfassung für Europa gibt, noch Einigkeit über das politische Problem, ob es sie geben sollte: Die Ver1
Vgl. nur D. Grimm, Verfassung, in: Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. V, 1989, Sp. 634; K. Loewenstein, Verfassungslehre, 1969, S. 140 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 3 ff.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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schmelzung von juristischen und politischen Fragen verleiht jeder verfassungstheoretischen Aussage auch eine verfassungspolitische Bedeutung. Diese Komplikationen lassen sich nicht dadurch vermeiden, dass man den Verfassungsbegriff schlicht auf eine mögliche Bedeutung beschränkt. Solch eine terminologische Verengung droht eine Diskussion unangemessen einzuebnen, die eben zugleich um die „Verfassungsfähigkeit“ der Europäischen Integration wie um den Gehalt des Verfassungsbegriffs kreist. Aus diesem Grund ist es unergiebig, den Zusammenhang zwischen Verfassungsbegriff und Europäischer Integration begrifflich zu arretieren, also festzustellen, die Europäische Union2 habe oder brauche eine Verfassung, oder habe oder brauche sie nicht. Vielmehr macht der Begriff der Verfassung auf verschiedenen Ebenen liegende wissenschaftliche Beschreibungsangebote, die es zu nutzen gilt. Wer sie nutzen will, kann sich der begrifflichen Traditionen, die er sich dabei auflädt und die eng mit der Geschichte des Nationalstaats verwoben sind, nicht einfach wieder entledigen.3 Unterschiedliche, durchaus gleichberechtigte Bedeutungsebenen des Begriffs lassen sich dann mit jeweils mehr oder weniger Berechtigung auf die europäische Integration anwenden. Neben seinen politischen Konnotationen verbinden sich im wissenschaftlichen Verwendungszusammenhang drei Bedeutungsebenen mit dem Begriff der Verfassung: Eine theoretische, die den Begriff ideengeschichtlich und legitimatorisch reflektiert, eine juristisch-normative, die ihn als Kategorie des positiven Rechts verwendet, und eine deskriptive,4 die ihn als Mittel zur Beschreibung von Institutionen benutzt. Nur die Kontrolle über die jeweils angesprochene Begriffsebene kann der Diskussion um die Verfassung der Europäischen Integration Konsistenz verleihen. Dabei ist zu erkennen, dass aus der Unterscheidung dieser Ebenen nicht zwingend ihre Trennung folgt: Aus theoretischen Begriffen werden Rechtsbegriffe; in der zunächst metaphorisch gemeinten Bezeichnung der Europäischen Verträge als „Verfassung“ können Rechtsfolgen angelegt sein. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als ein rechtswissenschaftlicher verfassungstheoretischer Beitrag zum Problem der Europäischen Verfassung. Als zentrale Voraussetzung nimmt er an, dass der Begriff der Verfassung nicht frei politisch verfügbar ist, sondern systematische Bedeutungen besitzt, die von der Rechtswissenschaft zu entwickeln und, wenn nötig, der politischen und juristischen Praxis entgegenzuhalten sind. Eine angemessene Aktualisierung des Begriffs für die europäische Integration ist ohne systematische Besinnung auf seine historisch 2
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Im Folgenden wird, auch mit Blick auf die durch den Reformvertrag von Lissabon wohl bestehende Konsolidierung, einheitlich von Union, Unionsrecht und Unionsverfassung gesprochen. Diese Voraussetzung enthält keine Aussage über die Einheitlichkeit des unionalen Legitimationssystems. Dies ist ein zentrales Element der Argumentation von P. Eleftheriadis, The Idea of a European Constitution, Oxford Journal of Legal Studies 27 (2007), S. 1. Zur selten gesehenen deskriptiven Ebene im europäischen Kontext: A. v. Bogdandy, Die Verfassung der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 97 (99 und Anm. 14).
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bedingten Bedeutungsfelder5 nicht möglich.6 Hieraus ergibt sich das kritische Potential des Beitrages. Rechtswissenschaft ist immer auch Rechtskritik.7 Sie darf sich um ihrer Wissenschaftlichkeit willen nicht darauf beschränken, den politischen Prozess der europäischen Integration bloß affirmativ zu begleiten und dort konstitutionelle Sinnstiftung zu treiben, wo kein Sinn ist. Der Aufbau des Beitrags folgt einem einfachen Kompositionsprinzip: Die Konzeption des Verfassungsbegriffs, als Verweiszusammenhang zwischen Recht und Politik, wird mit Hilfe historischer Typisierung entwickelt (II.), in den Zusammenhang der wissenschaftlichen Diskussion gestellt (III.) und – in den drei Ausformungen verfassunggebende Gewalt, formelle Verfassung und Konstitutionalisierung – als Maßstab wissenschaftlicher Kritik auf die Institutionen der EU angewendet (IV.). Diese Überlegungen gestatten es, das Rechtsgebiet „Europäisches Verfassungsrecht“ zu vermessen (V.) und abschließend einen kritischen Blick auf die verfassungspolitischen Entwicklungen in Europa zu werfen (VI.).
II. Grundlegung: Zwei Typen von Verfassung Wird mit dem Begriff „Verfassung“ von der Magna Charta bis zur UN-Charta normativ vielerlei bezeichnet, so bleibt ein so umfassender Gebrauch zu unspezifisch, um der Diskussion um die Europäische Verfassung analytischen Wert zu verleihen. Für eine präzisere Verwendung, die sich nicht zu früh auf eine bestimmte Definition festlegt und damit Bedeutungen a priori ausschließt, sollen im Folgenden zwei Traditionen des Verfassungsbegriffs typisiert werden.8 Erst diese zugespitzte Typisierung liefert mehr Trennschärfe für den inflationierten Verfassungsbegriff. Die gewählte Typisierung ist nicht neu.9 Sie orientiert sich an der Bestimmung des Verfassungsbegriffs als eines Verweisungszusammenhangs zwischen Recht und Politik: Die erste französisch-amerikanische Tradition hat einen spezifisch demokratischen Traditionsbestand geschaffen, von dem die Gegenwart – dies zeigt nicht zuletzt das Jahr 1989 – bis heute zehrt. Ihr Thema ist die demokratische Politisie5
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Grundsätzlich zur Historizität des Rechts: S. Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewussteins, 1998, S. 352 ff.; F. Ost, Le Temps du Droit, 1999, S. 43 ff.; für die europäische Verfassungsdiskussion auch U. Haltern, in diesem Band, S. 283 ff. Zur Notwendigkeit der Historisierung auch verfassungstheoretischer Begrifflichkeit für moderne Geisteswissenschaften J. Derrida, Die unbedingte Universität, 2001, S. 66 ff. Hier hat die deutsche Rechtswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Abzweig zur kritischen Wissenschaft versäumt, den etwa die protestantische Theologie genommen hat. Zum kritischen Anspruch auch A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 20. Zum Konzept: U. Gerhardt, Idealtypus: Zur methodologischen Begründung der modernen Soziologie, 2001. Zu diesen beiden Traditionen des Verfassungsbegriffs mit ähnlicher Typisierung: H. Brunkhorst, Solidarität, 2002, S. 84 ff.; U. K. Preuß, Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, in: ders., Zum Begriff der Verfassung, 1994, S. 7 (9, 11 ff.); I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (159); H. Vorländer, Die Verfassung. Idee und Geschichte, 1999, S. 15; knapp bei Ost (Fn. 5), S. 211 f.
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rung der Rechtserzeugung durch die Begründung einer neuen Herrschaftsordnung (1.). Als Kontrast- und Komplementärphänomen ist eine ältere Form des Konstitutionalismus vorzustellen, die gerade umgekehrt die Verrechtlichung einer bereits bestehenden Herrschaft in den Vordergrund stellt (2.). Diese Tradition findet sich – bei vielen Unterschieden im Einzelnen – etwa in der deutschen und der englischen Verfassungstradition, zumal große Teile der aktuellen Diskussion um die Europäische Verfassung von deutschen Beiträgen bestritten werden.10 Erst der Blick auf beide Traditionen wird es gestatten, einen genaueren Verfassungsbegriff für eine europäische Verfassungstheorie zu entwickeln (3). 1. Herrschaftsbegründung: Verfassung als Politisierung des Rechts Welches sind die gemeinsamen Eigenarten des am Ende des 18. Jahrhunderts in der amerikanischen und der französischen Revolution aufkommenden Verfassungsbegriffs?11 Mit Blick auf die folgenden Fragestellungen lassen sich zwei grundsätzliche Merkmale systematisch herausdestillieren.12 a) Herrschaftsbegründung Die neuen Verfassungen haben durchaus im doppelten Sinn des Wortes die Funktion, Herrschaft neu zu begründen, also gerade nicht, bereits bestehende Herrschaft zu begrenzen.13 Dieser – von der bedeutendsten politischen Theoretikerin des 20. Jahrhunderts maßgeblich entwickelte, in der deutschen Diskussion wohl trotzdem nicht zufällig häufig übersehene14 – Punkt ist für die Theorie des liberalen Verfassungsstaates von nicht zu überschätzender Bedeutung: In der Ordnung der revolutionären Verfassungen bedarf jegliche Form von Herrschaftsausübung einer systemimmanenten Form der Rechtfertigung, die von der Verfassung definiert wird. Die Verfassung liefert Form und Inhalt hoheitlicher Herrschaft und beendet 10 11 12
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So auch F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 48 in Anm. 153 m.w.N. Auf die Frage von Kontinuität und Diskontinuität der Begriffsbildung muss in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. Andere Typisierungen bei H. Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht – Politik – Verfassung, 1986, S. 261 (266 ff.); G. Stourzh, Staatsformenlehre und Fundamentalgesetze in England und Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert, in: R. Vierhaus (Hrsg.), Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, 1977, S. 294; knappe Begriffsgeschichte: G. Maddox, Constitution, in: T. Ball/R. L. Hanson (Hrsg.), Political Innovation and Conceptual Change, 1989, S. 50. Zum Gesichtspunkt der Herrschaftsbegründung: H. Arendt, Über die Revolution, 1963, S. 183 ff.; E.-W. Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 29 (42 f.); H. Brunkhorst, Einführung in die politische Ideengeschichte, 2000, S. 253 ff.; U. K. Preuß, Die Verfassung als „Gegenstand allen Sehnens“, in: ders., Revolution, Fortschritt und Verfassung, 1994, S. 11 (19 f.); G. S. Wood, The Creation of the American Republic, 1969; zum Traditionsbruch in der amerikanischen Revolution: D. Grimm, Verfassung (II.), in: O. Brunner u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. VI, 1990, S. 863 (866). Vgl. unten, III. 2. a).
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damit auch die zuvor ausgeübte Herrschaft: Sie begründet eine Diskontinuität, eine Ruptur, die ihre institutionelle Entsprechung in Frankreich in der Revolution, in den Vereinigten Staaten im Unabhängigkeitskrieg findet. Verfassung wird damit ganz ausdrücklich zu einem exklusiven Begriff: Auffällig ist, dass bestimmte Ordnungsformen nun nicht mehr als schlechte oder falsche Verfassung bezeichnet werden, sondern ihnen der Anspruch, überhaupt Verfassung zu sein, abgesprochen wird.15 An den Gedanken der Herrschaftsbegründung kann auch das Konzept der verfassunggebenden Gewalt des Volkes anschließen, das allerdings in der amerikanischen Tradition kaum eine Rolle spielt.16 Der Gedanke der verfassunggebenden Gewalt benennt zum einen das Subjekt der Herrschaftsbegründung, nämlich das Volk, und er garantiert zum anderen, dass der Prozess der Verfassunggebung nicht abgeschlossen ist, sondern auf Grundlage der verfassungsgemäßen Institutionenbildung verstetigt werden kann17 – in Frankreich durch die Institution des Gesetzes, das auch für die Definition subjektiver Rechte zuständig ist.18 Diese Perpetuierung wird durch Verfahren garantiert, nicht durch bestimmte Zweckbindungen der Herrschaftsgewalt. Weil der Rechtsgrund der Herrschaft Selbstbestimmung ist, wird sie zum ergebnisoffenen Selbstzweck.19 Der Gehalt der Verfassung beschränkt sich auf Verfahren der Legitimation20 und die Benennung von Utopien („Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“). Aus ihrem herrschaftsbegründenden Charakter folgt auch der egalitäre Individualbezug dieser Verfassungstradition.21 Nur dieser ermöglicht zumindest in der Theorie einen radikalen Bruch mit dem obrigkeitlichen status quo. Weil die Verfassung sich nicht an bereits bestehenden Herrschaftsstrukturen orientieren soll, muss 15
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Das prominenteste Beispiel hierfür ist natürlich Art. 16 der Déclaration des Droits de l’homme von 1789 „Toute societé dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a point de constitution.“; vgl. aber auch für die amerikanische Tradition das Zitat bei Wood (Fn. 13), S. 267: „All countries have some form of government, but few, or perhaps none, have truly a constitution.“, sowie unten bei Fn. 33. E.-J. Sieyès, Was ist der Dritte Stand? (1789), in: E. Schmitt/R. Reichardt (Hrsg.), Politische Schriften 1788–1790, 1981, S. 117 (124 f.); eine Rezeption für die amerikanische Verfassungstradition bei B. Ackerman, We the People, Foundations, Bd. I, 1991, und, ders., Transformations, Bd. II, 1998. E.-W. Böckenförde, Die Verfassunggebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, in: ders. (Fn. 13), S. 90 (100). R. Carré de Malberg, La loi, expression de la volonté générale: étude sur le concept de la loi dans la Constitution de 1875, 1931; zum revolutionären Gewaltenteilungskonzept: M. Gauchet, La Révolution des Pouvoirs, 1995, S. 55 ff. Diese demokratische Pointe der Bestimmung von Herrschaft als Selbstzweck findet sich selten thematisiert, vgl. dazu H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 39 f. Insoweit lässt sich bereits für diesen Entwicklungsstand von einer Prozeduralisierung des Rechts sprechen. „Die Prozeduren und Voraussetzungen des Legitimationsprozesses sind nunmehr die legitimierenden Gründe, auf die sich die Geltung von Legitimationen stützt.“, so J. Habermas, Legitimationsprobleme im modernen Staat, PVS Sonderheft 7 (1976), S. 44. L. Henkin, Revolutionen und Verfassungen, in: Preuß (Fn. 9), S. 213 (214 ff.); G. S. Wood, Radicalism of the American Revolution, 1993; zur demokratischen Gleichheit im Anschluss an Kant: I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1994, S. 176 ff.
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sie die individuelle Freiheit zu einem systematischen Bezugspunkt machen. Adressat der Verfassung sind die der neuen Herrschaft einzelnen Unterworfenen ohne weitere Vermittlung durch andere Korporationen.22 Dies bedeutet im Ergebnis nicht notwendig eine geringere oder zumutungsärmere Herrschaftsintensität als zuvor: Sowohl die französische Revolution als auch die Gründung der Vereinigten Staaten dürften eher zu einer Zunahme des hoheitlichen Zugriffs geführt haben und in Frankreich lässt sich die Zeit nach der Revolution praktisch administrativ als Fortsetzung einer kontinuierlichen Entwicklung darstellen.23 Aber die Verfassung organisiert und rechtfertigt – begründet im doppelten Sinne – diese Eingriffe über die Erfindung des Bürgers, über sein Wahlrecht und seine Grundrechte. Die Verfassung begründet eine neue durch die Individualrechte von vornherein begrenzte Form von Herrschaft. Sie begrenzt keine bereits bestehende Herrschaft. b) Normativität, Vorrang und Verurkundlichung der Verfassung Aus dem herrschaftsbegründenden Charakter der Verfassung folgt ihre Normativität.24 Die Neubegründung von Herrschaft schließt es aus, den status quo als Legitimationsgrundlage anzuerkennen. Damit verlieren bereits vorhandene zunächst ihren rechtfertigenden Wert25 und müssen durch eine verfassungseigene Traditionsschaffung ersetzt werden. Die Abkopplung von der Vergangenheit ist zugleich eine Abkopplung von der vorgefundenen politischen Praxis und damit eine Verschärfung der Unterscheidung zwischen dieser und dem normativen Anspruch der Verfassung: Der vorkonstitutionelle Bestand an Privilegien ist zu vergessen.26 Damit eröffnet die Verfassung einen Zukunftshorizont, der mit der Perpetuierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auch auf die Perpetuierung der Veränderung hinarbeitet.27 Aus dieser zunächst politisch-emphatischen Normativität entwickelte sich namentlich in den Vereinigten Staaten das juristische Konzept der Verfassung als höchster Norm, die in Deutschland als Vorrang der Verfassung bezeichnet wird.28 Die Etablierung eines solchen Vorrangs gelingt unter bestimmten institutionellen Voraussetzungen: Sie setzt neben entsprechend deutbaren Inhalten der Verfassung auch verfassungsspezifische Prüfungsinstitutionen – eben Verfassungsgerichte –
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Deutlichster Ausdruck dieses Zusammenhangs ist das Verbot der Korporationen in der Loi Le Chapelier. Eine genaue Analyse bei S. Simitis, Die Loi le Chapelier: Bemerkungen zur Geschichte und möglichen Wiederentdeckung des Individuums, KJ 1989, S. 157 (159 ff., 166 ff.). Für Frankreich ist dies bei A. de Tocqueville, L’ancien régime et la révolution, 1851, nachgewiesen; dazu die Analyse bei F. Furet, Penser la Révolution française, 1978, S. 209 ff. Preuß (Fn. 9), S. 20 f. Die klassische Kritik hieran findet sich bei E. Burke, Burke’s Reflections on the Revolution in France (1789), 2001, S. 181 ff. W. H. Sewell Jr., A Rhetoric of Bourgeois Revolution, 1994, S. 109, spricht mit Blick auf Sieyès von einer „Rhetoric of Amnesia“. Preuß (Fn. 9), S. 24 ff.; Ost (Fn. 5), S. 175 ff. R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (493 ff.).
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voraus.29 Das Beispiel Frankreich zeigt auf der anderen Seite, dass sich eine herrschaftsbegründende Tradition für lange Zeit auch ohne einen derartig ausgeprägten Verfassungsvorrang entwickeln kann. Sowohl der politisch-utopische Gehalt wie auch der juristische Vorrang der Verfassung werden durch ihre Verurkundlichung begünstigt.30 Die Verschriftlichung des Verfassungsgehalts stellt eine entscheidende Formalisierungsleistung dar. Sie ist praktische Bedingung der Möglichkeit, sich immer wieder neu auf die Normativität der Verfassung und auf ihren Zukunftsanspruch zu berufen: Die Objektivierung der Verfassung in einem Text verselbstständigt diese und macht den Bezug auf ihren Inhalt für jeden Leser neu möglich. Dies begründet eine spezifische politische Normativität des Verfassungstexts. Ähnlich wie bei einem Kunstwerk ermöglicht ihr Objektcharakter, mögliche Gegensätze zur „gesellschaftlichen Wirklichkeit“ darzustellen.31 Die Objektivierung der Verfassung zeitigt ihre Symbolisierung.32 Die Schriftform ist dabei nicht notwendig als Fixierung eines bestimmten Inhalts zu verstehen, denn offensichtlich wandelt sich das Verständnis des Textes im Laufe der Zeit ganz erheblich und dieser Verständniswandel ist keineswegs unerwünscht.33 Trotzdem ermöglicht die Verurkundlichung der Verfassung eine Verselbstständigung ihres politisch-utopischen Anspruchs, der auch den Juristen entgegengehalten werden kann. Verfassungen sind „a layman’s document, not a lawyer’s contract.“34 Aber auch für den juristischen Vorrang der Verfassung ist die Schriftform von Bedeutung: Werden Änderungen der Verfassung an Änderungen des Verfassungstexts gebunden, so erhöht dies die Distanz der Verfassung von politischen Einzelproblemen und macht ihren abgehobenen Anspruch besser sichtbar.35
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Zu diesem Zusammenhang mit Blick auf die USA: N. Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176. Dazu S. E. Finer, The History of Government, Bd. III, 1997, S. 1503 ff.; Preuß (Fn. 9), S. 21 f.; Stourzh (Fn. 12), S. 318 ff.; bei A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 53 ff., wird Urkundlichkeit mit der „Einheit des Staats“ verknüpft und verabschiedet, dies verkennt den staatsunabhängigen normativen Gehalt der Urkundseigenschaft. N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, 1995, S. 229 f. E. S. Corwin, The Constitution as Instrument and as Symbol, American Political Science Review XXX (1936), S. 1071 (1072 f.). In McCulloch v. Maryland, 17 US (4 Wheat) 316, 407 (1819), bezieht sich die viel zitierte Feststellung J. Marshalls: „In considering this question, then, we must never forget that it is a constitution we are expounding.“ auf genau diesen Umstand. So F. D. Roosevelt, Address on Constitution Day, Washington, D.C. (17.9.1937), in: F. D. Roosevelt/S. I. Rosenman (Hrsg.), The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, 1938, S. 362. H. Dreier, Bestandssicherung kodifizierten Verfassungsrechts am Beispiel des Grundgesetzes, in: O. Behrends/W. Sellert (Hrsg.), Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), 2000, S. 119 (128 ff.); vgl. mit Blick auf die besondere Lage in Österreich M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: FS Isensee, 2002, S. 183 (209 ff., 211 in Anm. 103).
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c) Fazit Die revolutionäre Verfassungstradition fordert eine umfassende demokratische Politisierung der Rechtserzeugung. Die Diskontinuität, die durch den herrschaftsbegründenden Akt der Verfassunggebung zumindest fingiert wird, begründet die Notwendigkeit, die Gesamtheit der Rechtsordnung auf einen einzigen demokratischen Prozess zurückführen, an dem das gesamte Volk als freie und gleiche Individuen teilnehmen können muss. Dies ist für das überlieferte vorrevolutionäre Recht zumindest dadurch zu sichern, dass es in einem demokratischen Prozess geändert werden könnte. Hieraus ergibt sich die zentrale Bedeutung des Gesetzes für den demokratischen Verfassungsstaat. Allein das Bereitstehen demokratischer Verfahren rechtfertigt die Geltung der Rechtsordnung und kann sogar – wie in der Figur der verfassunggebenden Gewalt des Volkes vorgedacht – ihre Abschaffung zugunsten einer anderen Ordnung legitimieren. 2. Herrschaftsformung: Verfassung als Verrechtlichung der Politik Deutlicher wird das Profil der revolutionären Verfassungsbegrifflichkeit durch den kontrastierenden Vergleich mit einem anderen Typ von Verfassung, der nicht die Begründung einer neuen politischen Herrschaft anstrebt, sondern die rechtliche Formung einer bereits bestehenden. In Europa lassen sich hierfür – mit gewichtigen Unterschieden im Einzelnen36 – als Beispiele England und Deutschland nennen. a) Herrschaftsbegrenzung als Verrechtlichung von Herrschaft Seit dem Frühkonstitutionalismus zielte das Konzept der Verfassung in Deutschland nicht auf die Neubegründung von Herrschaft, sondern auf die Begrenzung bereits bestehender Herrschaft, die man begrifflich zunächst mit der Person des Königs, später mit der Rechtsperson des Staats identifizierte.37 Die Verfassungen „konstituieren nicht ein neues Gemeinwesen, sondern sie stellen ein System von Beschränkungen der fürstlichen Macht dar.“38 In einem ganz anderen historischen Kontext entstand ein strukturell ähnliches Verfassungsverständnis in England.39 36
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Namentlich der gänzlich unterschiedliche Umgang mit der Institution des Parlaments (zum verfehlten Umgang der deutschen Staatstheorie mit dem englischen Parlamentarismus hier nur H. Boldt, Parlamentarismustheorie, Der Staat 19 (1980), S. 385 (390 ff., 397 ff.; E. Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 1991, S. 23) und die unterschiedliche Rolle des Staats sind hervorzuheben. Vgl. für Deutschland H. Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, 1975, S. 25 ff., 133 ff.; Böckenförde (Fn. 13), S. 33 ff.; H. Dreier, Der Ort der Souveränität, in: ders./J. Hofmann (Hrsg.), Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, 1986, S. 11 (30 ff.); für ältere Traditionen: R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 1975, S. 163 ff.; allgemeiner M. Stolleis, Das „europäische Haus“ und seine Verfassung, KritV 78 (1995), S. 275 (287 f.). H. Brandt, Landständische Repräsentation im Vormärz, 1968, S. 46. Zu den Ursprüngen: J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law (1957), 1987, S. 46 ff.; zu den englischen Wurzeln des Verfassungsbegriffs: H. Mohnhaupt, Verfassung (I.), in: Brunner u.a. (Fn. 13), S. 831 (846 f.).
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Auch hier wurde die Kategorie der Verfassung nicht mit einer Neubegründung von Herrschaft verknüpft, vielmehr stand die Legitimität der entscheidenden Akteure außer Frage, sie konnte gleichfalls „vorausgesetzt“ werden. Als „Verfassung“ fungierte auch hier die allmähliche Verrechtlichung der legitimen Herrschaftsapparatur. Bestand die verfassungsrechtliche Ursituation in den Vereinigten Staaten im Vorhandensein einer Repräsentativkörperschaft, eines Parlaments, ohne Verwaltung,40 so war es in Deutschland und England gerade umgekehrt: Der bereits vorhandenen Monarchie wurde eine Repräsentativkörperschaft mit allmählich wachsender Bedeutung zugeordnet.41 Die „ursprüngliche“ Macht des Königs sollte durch die Verfassung in die Schranken gewiesen werden.42 Dieser Ausgangspunkt ist bis in die Gegenwart der gemeinsame Nenner der Traditionen des Rechtsstaats in Deutschland und der rule of law in England.43 Es ist daher wohl kein Zufall, dass beide Verfassungstraditionen, anders als in Frankreich44 und den Vereinigten Staaten45, keine verfassungseigene Demokratietheorie entwickelt haben: In Deutschland fehlte es der herrschaftsbegrenzenden Institution der Verfassung an einem Begründungsprinzip, einem Legitimationsverfahren. Die Rechtfertigung von Herrschaft blieb bis 1918 nur ein hintergründiges Thema der öffentlichen Rechtswissenschaft, die sich nicht zufällig Staatsrecht und nicht Verfassungsrecht nannte. In England dagegen gelang es, die traditionale Legitimität46 der überlieferten Souveränitätstheorie mit einer Modernisierung der Institutionen hin zum Parlamentarismus zu verbinden. Das Problem der Legitimation wurde praktisch durch die Einrichtung parlamentarischer Deliberation gelöst.47 Mit der Vorstellung der Herrschaftsbegrenzung verbindet sich die ideengeschichtlich alte Furcht vor der ungebundenen Despotie. Es ist für eine modernisierte Variante der herrschaftsbegrenzenden Verfassungstheorie jedoch wichtig zu sehen, 40 41 42
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Vgl. zum Aufbau der amerikanischen Verwaltung durch den Kongress: S. M. Elkins/E. L. McKitrick, The Age of Federalism, 1993, S. 50 ff. C. Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, 1997, S. 56 ff., 148 ff.; G. A. Ritter, Parlament und Demokratie in Großbritannien, 1972, S. 69 ff. Zur britischen rule of law: A. V. Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 10. Aufl. 1959, S. 183 ff.; K. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, 1967, S. 74 ff.; zur amerikanischen rule of law im Vergleich zur deutschen Rechtsstaatlichkeit: O. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, 1997, S. 207 ff. Vgl. als deutsche Rezeption der englischen rule of law: R. v. Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. Aufl. 1879. J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, oder die Prinzipien des Staatsrechts, 1762, Buch I Kap. 7 und Buch II; Sieyès (Fn. 16). J. Madison oder A. Hamilton, The Federalist Papers, 1788, Nr. 51; dazu H. Dreier, Demokratische Repräsentation und vernünftiger Allgemeinwille, AöR 113 (1988), S. 450. Besonders zum englischen Konstitutionalismus M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1974, S. 189. Dazu klassisch E. Burke, Speech to the Electors of Bristol (vom 3.11.1774), in: D. Bromwich (Hrsg.), On Empire, Liberty, and Reform, 2000, S. 39 (45 f.); zur Abgrenzung dieses Deliberationskonzepts von einer genuinen Demokratietheorie: J. M. Bessette, The Mild Voice of Reason, 1994, S. 40 ff.
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dass Herrschaftsbegrenzung Herrschaft nicht verringert, sondern verrechtlicht. Diese Formung politischer Macht durch Verrechtlichung führt keineswegs zu einem Weniger, sondern eher zu einem Mehr an politischer Herrschaft,48 so wie der moderne Verfassungsstaat einen unendlich viel präziseren Zugriff auf seine Bürger haben dürfte als ein absolutistischer Herrscher.49 Die Verrechtlichung des Herrschaftsapparates dürfte nämlich in jedem Fall mit Rationalitätsgewinnen verbunden sein,50 die die Durchsetzungschancen gerade für die Exekutive deutlich erhöht haben. Aus diesem Grund ist die hier entwickelte Verfassungstradition im Folgenden als herrschaftsformende – nicht als herrschaftsbegrenzende – Tradition zu bezeichnen. b) Eingeschränkte Normativität Mangels eines revolutionären Bruchs blieb der normative Anspruch des Verfassungsbegriffs in der herrschaftsformenden Tradition beschränkt. In Deutschland wurde nicht erst seit der Weimarer Diskussion regelmäßig der – etwa Carl Schmitt und Rudolf Smend verbindende – Versuch unternommen, die soziale Realität in den Begriff Verfassung zu integrieren.51 Ausdrücke wie „Verfassungswirklichkeit“52, „Verfassungswandel“53, „Verfassung im materiellen Sinn“54 oder als „politische Gesamtentscheidung“55 sind bis in die Gegenwart Zeuge dieser Tradition.56 Darin spiegelt sich sowohl die fehlende Erfahrung mit einer revolutionären Neugründung der eigenen Ordnung als auch der Zweifel an der Formalisierung der Rechtsordnung wider, die nicht die Gesamtheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfassen kann. Die Verfassung ist nicht der Text, die Verfassung „ist“ ein gesamtgesellschaftlicher Zustand. Das Ausgreifen des Verfassungsbegriffs auf die Gesamtheit gesellschaftlicher Bedingungen sorgt zugleich dafür, dass der Begriff der Verfassung demjenigen des Staats immer ähnlicher wurde – eine Entwicklung, die sich in der deutschen Diskus48
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Zur Kritik an der Vermutung abnehmender politischer Macht durch Verrechtlichung und Gewaltenteilung vgl. N. Luhmann, Macht, 1988, S. 48 ff.; M. Foucault, Il faut défendre la société, 1997, S. 21 ff.; vgl. auch die Feststellung bei E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 3. Aufl. 1995, Bd. III, S. 790. Zur historischen Diskussion: R. G. Asch, Kriegsfinanzierung, Staatsbildung und ständische Ordnung in Westeuropa im 17. und 18. Jahrhundert, Historische Zeitschrift 268 (1999), S. 635 (638 ff.) m.w.N. S. Breuer, Der Staat, 1998, S. 161 ff.; W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, S. 291 ff. S. Korioth, Integration und Bundesstaat, 1990, S. 282 ff.; insofern steht die Empfehlung bei I. Pernice, Schmitt, Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), S. 100 zugunsten von Smend ihrerseits in der spezifischen Tradition eines eingeschränkt normativen Verfassungsbegriffs. F. Lassalle, Über Verfassungswesen (1862), 1919. Dau-Lin Hsü, Die Verfassungswandlung, 1932; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982; dazu die Kritik bei Jestaedt (Fn. 35), S. 194 ff. R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928; P. Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, in: FS Scheuner, 1973, S. 19. Schmitt (Fn. 1), S. 23 ff. Zur Kritik im Vergleich mit angelsächsischen Verfassungskulturen W. Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1968, S. 24 ff.
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sion spätestens in der Weimarer Republik deutlich zeigt. Staat und Verfassung entwickelten sich zu ganzheitlichen, aber austauschbaren Beschreibungskategorien.57 An dieser theoretischen Nahtstelle entsteht in der deutschen Theorie der angeblich zwingende Zusammenhang zwischen Staat und Verfassung, der für die Diskussion um die Europäische Verfassung eine so zentrale Bedeutung gewonnen hat.58 In England fehlt es zwar an einer solchen Verganzheitlichung des Verfassungskonzepts, aber auch hier bleibt die Normativität der Verfassung beschränkt.59 Dies zeigt sich weniger am Dogma der Parlamentssouveränität60 und der geringen Vergerichtlichung des Verfassungsvorrangs, denn dieses Phänomen findet sich vermittelt über den Begriff des Gesetzes auch in Frankreich.61 Es zeigt sich deutlicher am Fehlen einer Verfassungsurkunde62 und an der entsprechenden Gleichsetzung von Verfassung mit einem bestimmten kontinuierlich weiter zu entwickelnden Traditionsbestand, der es nicht gestattet, Normativität von praktischer Politik abzuheben.63 In beiden Traditionen erhebt die Verfassung keinen normativen Absolutheitsanspruch gegenüber der bestehenden politischen Ordnung. In beiden Traditionen erlebt der Verfassungsbegriff damit in der zeitlichen Dimension eine eher evolutionäre als revolutionäre Konzipierung. c) Fazit Die herrschaftsformende Verfassungstradition setzt demnach – anders als die herrschaftsbegründende Tradition – keinen demokratischen Politikbegriff voraus. Vielmehr thematisiert sie die Begrenzung einer vordemokratischen Herrschaft durch Rechtsform. Sowohl in der deutschen als auch in der britischen Tradition wird hierbei den Gerichten eine besondere Funktion zugewiesen. Wirkte der Rechtsschutz in Deutschland als Kompensation für eine fehlende Demokratisierung,64 so garantierte und garantiert die Gerichtsbarkeit in England die Bindung des Souveräns an bestimmte Gerechtigkeitsstandards, die insbesondere der Tradition des Common Law entstammen65 und eine spezifische Form der Konstitutionalisierung ohne Verfas57 58 59 60
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C. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 141 ff. Dazu sogleich, III. 1. Vorländer (Fn. 9), S. 34 f. Kanonisierte Darstellung bei Dicey (Fn. 42), S. 37 ff., sowie E. C. S. Wade, Introduction, ebd., S. XXXIV ff.; aktuelle Relativierungen: E. Barendt, An Introduction to Constitutional Law, 1998, S. 86 ff. Vgl. oben bei Fn. 18. Dicey (Fn. 42), S. 4 ff.; Loewenstein (Fn. 42), S. 43 ff.; zusammenf. A. W. Bradley/K. D. Ewing (Hrsg.), Constitutional and Administrative Law, 1997, S. 7 f. Knapp J. Hatschek, Das Staatsrecht des Vereinigten Königreichs Grossbritannien-Irland, 1914, S. 7 ff.; F. W. Maitland, The Constitutional History of England (1908), 1961, S. 526 ff. D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 24 ff. Juristische Analyse bei T. R. S. Allan, Constitutional Rights and Common Law, in: ders., Law, Liberty and Justice, 1993, S. 135 (136 ff.); zur Ideengeschichte: R. G. Asch, Das Common Law als Sprache und Norm der politischen Kommunikation in England, in: H. Duchhardt/G. Melville (Hrsg.), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual, 1997, S. 103; knapp W. Heun, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 80 (81 f.).
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sungstext darstellen. In beiden Traditionen bezeichnet Verfassung damit das Ergebnis eines Verrechtlichungs-, nicht eines Politisierungsprozesses. 3. Grundlegung: Verfassung als Kopplung von Politik und Recht Die idealtypische Zuspitzung der beiden Verfassungstraditionen gestattet es nunmehr, den Verfassungsbegriff auch systematisch genauer zu bestimmen. Herrschaftsbegründende und herrschaftsformende Verfassungstradition stehen in keinem systematischen Widerspruch zueinander, in den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen der Gegenwart lassen sich zudem stets beide Traditionen wiederfinden. Trotzdem können demokratische Gestaltungsfreiheit einerseits und Rechtsförmigkeit des politischen Prozesses andererseits in praktischen Widerspruch zueinander geraten.66 Diese Widersprüche sind der Verfassungstheorie lange bekannt und beschäftigen – etwa als die Frage nach der demokratischen Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit67 oder der Gesetzesprägung der Grundrechte68 – die wissenschaftliche Diskussion bis heute. Zu häufig wird dabei der Versuch unternommen, den Antagonismus der beiden Verfassungskonzepte zugunsten eines der beiden einseitig aufzulösen: So stellt die bis heute einflussreiche Weimarer Vorstellung vom „politischen Charakter“ des Verfassungsrechts die Normativität der Verfassung in politischen Zusammenhängen in Frage.69 Umgekehrt tendiert die aktuelle Konstitutionalisierungsdebatte für supra- und internationale Rechtsordnungen dazu, Verrechtlichung gegenüber Politisierung zu privilegieren.70 Hinter solchen Einseitigkeiten steht die Vermutung, Demokratisierung und Verrechtlichung gingen notwendig auf Kosten des jeweils anderen, es gäbe ein Nullsummenspiel zwischen Politisierung und Rechtsform. Demgegenüber haben neuere verfassungstheoretische Überlegungen darauf hingewiesen, dass in westlichen Rechtsordnungen der Antagonismus eines herrschaftsgesteuerten politischen Rechts und eines autonom entstandenen Rechts nicht nur lange bekannt, sondern auch notwendig ist.71 Dies lässt sich auf verschiedene Art und Weise theoretisch formulieren – als strukturelle Kopplung der Systeme Politik und Recht,72 als delibe-
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Der Versuch einer Auflösung bei: M. Kaufmann, Politische Gestaltungsfreiheit als Rechtsprinzip, StWStP 8 (1997), S. 161. Zum Problem der counter-majoritarian difficulty in der Sache schon James B. Thayer, The Origin and Scope of the American Doctrine of Constitutional Law, Harvard Law Review 7 (1893), S. 129 (137); A. Bickel, The Least Dangerous Branch, 1962; vergleichend zum Problem: U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen, 1998, S. 169 ff. M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung durch Gesetz, 1999, S. 287 ff. Deutlich bei Schmitts Ausspielen der politischen gegenüber der rechtsstaatlichen Verfassung: Schmitt (Fn. 1), S. 125 ff.; vgl. aber differenziert: J. Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 1992, § 162. Vgl. unten, IV. 3. und V. H. Hofmann, Das Recht des Rechts, das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung, 1998, S. 40 ff. Luhmann (Fn. 31), S. 193 ff., 204 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 468 ff.
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rativer Zirkel zwischen subjektiven Rechten und Demokratie73 oder bloß als Verrechtlichung der demokratisch-parlamentarischen Rechtserzeugung74 – in jedem Fall aber so beschreiben, dass beide Gesichtspunkte als gleichberechtigt verstanden werden können. Daraus folgt weiter, dass Rechtsform und demokratische Rechtserzeugung sich wechselseitig verstärken75 können. Umgekehrt führen Verluste an Verrechtlichung des politischen Prozesses zu Defiziten, die sich sowohl als Funktionsstörungen als auch als Legitimationsdefizite darstellen lassen. Beispielhaft: Politische „Rücksichtnahmen“ bei Gerichtsentscheidungen stellen als eine Politisierung des Rechtssystems sowohl die Legitimität der Politik, die Einfluss ausübt, als auch die des Rechtssystems, das sich solchem unterwirft, in Frage. Eine zu extensive verfassungsgerichtliche Rechtsprechung kann auf der anderen Seite zu einer Überverrechtlichung politischer Prozesse führen, die die möglichen Bedeutungen des Verfassungstextes überstrapaziert, dadurch die Normativität der Verfassung beeinträchtigt und zugleich die Funktionsfähigkeit des politischen Systems in Frage stellt. Für die Anwendung der beiden Verfassungstraditionen auf die europäische Integration stellt sich demnach nicht die Frage, welche von beiden die „bessere“ Tradition ist.76 Vielmehr lassen sich auf europäischer Ebene sowohl eigenständige neue Formen politischer Rechtserzeugungsprozesse mit Anspruch auf eine eigene demokratische Legitimation entdecken als auch intensive Formen der Verrechtlichung des seinem Ursprung nach intergouvernementalen Politikprozesses feststellen. Für das erste Phänomen wäre das Europäische Parlament ein Beispiel, für das zweite stehen beispielsweise vom EuGH entwickelte Verfahrensanforderungen bei der Setzung von Sekundärrecht. Unter Verfassung verstehen wir also ein institutionelles Arrangement, das die Legitimation der Rechtsordnung durch demokratische Rechtsetzung und die Konstituierung demokratischer Willensbildung in Rechtsform gleichzeitig garantiert. Handelt es sich bei der Kopplung von Politik und Recht durch die Verfassung wie gezeigt nicht um ein Nullsummenspiel, so spricht manches dafür, dass es den europäischen Institutionen an beidem mangelt: Sowohl an Strukturen der Demokratisierung der Rechtserzeugung als auch an geeigneten Verrechtlichungsformen. So sind die undurchsichtigen Rechtssetzungstechniken des Rates weder rechtlich umhegt noch demokratisch.77 Haben wir es mit einem doppelten Defizit an Herrschaftsbegründung und an Herrschaftsformung zu tun, so bietet die Unterscheidung zwischen einem herrschaftsbegründenden und einem herrschaftsformenden Verfas73 74 75 76
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J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 167 ff.; O. Gerstenberg, Bürgerrechte und Demokratie, 1997, S. 27 ff. Kelsen (Fn. 19), S. 234. C. Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 71 ff.; als Beispiel für wechselseitige Verluste: M. Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, 1992. Vgl. auch die wichtige Feststellung bei Stolleis (Fn. 37), S. 295, eine Einbeziehung der Verfassungsgeschichte vor 1789 in die europäische Verfassungsdebatte müsse keine Refeudalisierung bedeuten. Vgl. dazu unten, IV. 2. a).
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sungsbegriff ein differenziertes Instrument zur Analyse des europäischen status constitutionis, das quer zur Diskussion um die Verfassungsfähigkeit Europas liegt und es gestattet, die normative Gewinn- und Verlustbilanz einer Europäisierung der Verfassungsidee genauer zu rekonstruieren. Manche Phänomene lassen sich dabei auf die eine, manche auf die andere Verfassungstradition zurückführen. Zugleich sollen diese Traditionen aber eben auch einen kritischen Maßstab abgeben, an dem die Europäische Integration zu messen ist. Bevor dies geschieht, ist die vorliegende wissenschaftliche Diskussion um den europäischen Verfassungsbegriff zu betrachten, um die hier entwickelte Konstruktion an den Stand der Debatte anzuschließen.
III. Diskussionsstand – eine kritische Bestandsaufnahme Die Grundpositionen in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion um die Europäische Verfassung liegen quer zu den begrifflichen und historischen Voraussetzungen, die soeben entwickelt wurden: Eine ältere Diskussionsschicht kreist um die Zuordnung des Verfassungsbegriffs zum Nationalstaat wie um die Frage der Autonomie des Europarechts (1.). Neuere Debatten reduzieren den Verfassungsbegriff auf Verfassungselemente oder Verfassungsfunktionen (2.) oder sehen ihn durch föderale oder gesellschaftliche Pluralisierung herausgefordert (3.). Die Ergiebigkeit dieser Diskussionsstränge ist differenziert zu beurteilen (4.). 1. Nationalstaat und Autonomie des Europarechts a) Verfassung als nationalstaatliches Phänomen Große Teile der Diskussion um die Europäische Verfassung zentrieren sich um das Verhältnis von Verfassung und Staat. Dieser Diskussionsstrang erörtert die Frage, ob der Begriff der Verfassung sich auf den Staat beschränken muss,78 oder auch mit Blick auf das Recht der Europäischen Union Verwendung finden darf.79 78
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So, nicht als allgemein staatstheoretische Aussage, sondern nur mit Blick auf die europäische Integration etwa O. Beaud, La Puissance de L’État, 1994, S. 209; E.-W. Böckenförde, Begriff und Probleme des Verfassungsstaates, in: ders. (Fn. 13), S. 127 (135 ff.); D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581; D. Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant, Der Staat 32 (1993), S. 161 (168 ff.); die demokratische Nationalstaatstradition ernst nehmend und differenziert: U. K. Preuß, Auf der Suche nach Europas Verfassung, Transit 17 (1999); zur fehlenden Vergleichbarkeit Staat – Europa: H. P. Ipsen, Europäische Verfassung – Nationale Verfassung, EuR 1987, S. 195 (200 ff.). Dies kann als die mittlerweile deutlich überwiegende Ansicht gesehen werden. Vgl. für viele J. Gerkrath, L’émergence d’un droit constitutionnel pour l’Europe, 1997, S. 87 ff., 127 ff.; W. Hertel, Die Normativität der Staatsverfassung und einer Europäischen Verfassung, JöR n.F. 48 (2000), S. 233 (244 ff.); P. M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 194 (198 f.); Pernice (Fn. 9), S. 155 ff.; P. Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht, in: W. G. Grewe (Hrsg.), Europäische Gerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit, 1981, S. 319 (322); L. Torchia, Una costituzione senza Stato, Diritto Publico 7 (2001), S. 405; in Abgrenzung der englischen von der französischen Tradition: I. Harden, The Constitution of the European Union, Public Law 1994, S. 609 (613 f.).
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Historisch spricht wenig dafür, die Begriffe Staat und Verfassung in einen notwendigen Zusammenhang zu stellen. So kennt die deutsche Verfassungsgeschichte einen Konstitutionalismus ohne Nationalstaat und ohne verfassunggebende Gewalt, ist also mit dem vermeintlich neuen Modell der postnationalen80 Verfassung pränational vertraut. Selten wird bemerkt, dass der Nationalstaat gerade kein für die deutsche Geschichte typisches Modell darstellt. Mit den Worten eines prophetischen Beobachters aus den frühen Dreißiger Jahren verlangt gerade die deutsche Geschichte nach einer Herrschaftsform im Sinne der vornationalen Reichsidee oder der nachnationalen Vereinigten Staaten von Europa.81 Auch für die englische Verfassungsgeschichte wird man einen solchen Staatsbezug, jedenfalls wenn man unter ihm den ihn Deutschland gebräuchlichen verwaltungsbezogenen Anstaltsbegriff des Staats82 versteht, kaum annehmen können. England ist eine „stateless society“, der die gesamte verwaltungszentrierte juristische Begrifflichkeit fernsteht.83 In der europäischen Verfassungsgeschichte ist eine Zuordnung von Staat und Verfassung nicht zwingend.84 Folgerichtig beziehen sich systematische Argumente der Befürworter eines staatsbezogenen Verfassungsbegriffs auf die Universalität beanspruchende Kategorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Von einer Verfassung könne nur da die Rede sein, wo in einem revolutionären85 Akt der demokratischen Selbstbestimmung die verfassunggebende Gewalt des Volkes eine neue Ordnung zum Entstehen bringe.86 Dies führt jedoch schnell zu juristisch kaum zu lösenden Fragen der soziologischen Voraussetzungen einer europäischen Staatsbildung. Nicht selten folgt hier gar der Hinweis auf die notwendige „Homogenität“ des Staatsvolks.87 Dieser Begriff re-germanisiert freilich die französische republikanische Demokratietheorie gründlich,88 indem er die soziale Geschlossenheit der Herrschaftsunterworfenen mit deren demokratischer Selbstbestimmung verwechselt.89 Folgerichtig bleibt die 80
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Pernice (Fn. 9), S. 155 ff.; D. Curtin, Civil Society and the European Union: opening spaces for deliberative democracy?, in: Academy of European Law (Hrsg.), Collected Courses of the Academy of European Law, Bd. VII, 1996, S. 185; J. Habermas, Die postnationale Konstellation, in: ders., Die postnationale Konstellation, 1998, S. 91. H. Plessner, Die verspätete Nation, 1933, S. 27; dazu R. Koselleck, Deutschland – eine verspätete Nation?, in: ders./H.-G. Gadamer, Zeitschichten, 2000, S. 359 (373 ff.); zum uneindeutigen Zusammenhang von Staat und Nation in Deutschland auch D. Langewiesche, Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte, HZ 254 (1992), S. 340. Weber (Fn. 46), S. 29 f. K. W. Dyson, Die Ideen des Staates und der Verfassung, Der Staat 19 (1980), S. 485; ders., The Western State Tradition, 1980. Umfassend in diesem Sinne Pernice (Fn. 9), S. 156 ff. Beaud (Fn. 78), S. 359 ff. Grimm (Fn. 78), S. 586; Murswiek (Fn. 78), S. 163; P. Kirchhof, Die Staatenvielfalt – Ein Wesensgehalt Europas, in: FS Schambeck, 1994, S. 947 (954 ff.); M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 38 (48 ff.). Schmitt (Fn. 1), S. 228 ff. Brunkhorst (Fn. 9), S. 91 ff.; Preuß (Fn. 9), S. 24. Möllers (Fn. 57), S. 422 f.; zur Unterscheidung von Staat und Nation: F. Mancini, Europa: Gründe für einen Nationalstaat, KritV 81 (1998), S. 386 (390 ff.).
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Anrufung von Staatlichkeit ohne demokratietheoretische Ausarbeitung.90 Dieser Argumentationsstrang wäre besser an die Soziologie zu übergeben.91 Trotz dieser Einwände bleibt von der staatsbezogenen Kritik an einem Europäischen Verfassungsbegriff ein theoretischer und ein praktischer Merkposten: Theoretisch offen ist die Frage, auf welcher hoheitlichen Ebene jenseits des Nationalstaats Politik und Recht, Herrschaftsbegründung und Normativität zueinander finden92 und welche verfassungstheoretischen Begrifflichkeiten für eine sich ankündigende Politisierung der europäischen Ebene adäquat sind.93 Diese Fragen ergebnisoffen zu stellen, heißt freilich zugleich, sich mit dem bloßen Hinweis auf Staatlichkeit für die Verfassungsdiskussion nicht zufrieden geben zu können. Praktisch aber hat das endgültige Scheitern des Verfassungsvertrags unter dieser Bezeichnung deutlich gemacht, wie ausgeprägt der Wille der mitgliedstaatlichen Völker bleibt, den Begriff der Verfassung auf die eigene staatliche Ebene zu beschränken. Es ist wichtig, dies richtig zu verstehen: als Ergebnis einer politischen Entscheidung, nicht als Folge begrifflicher Notwendigkeit. b) Heteronomie und Autonomie des Unionsrechts Ihre rechtstheoretische Fortsetzung findet diese Debatte bei der Frage nach der Autonomie des Europarechts. Hat das Unionsrecht einen geltungstechnischen Selbststand94 oder gilt es nur durch den Rechtsanwendungsbefehl im Zustimmungsgesetz der nationalen Gesetzgeber?95 Diese Frage ist weniger „richtig“ zu beantworten, als 90 91
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95
Besonders deutlich bei Murswiek (Fn. 78), S. 163 ff. Vgl. dazu M. R. Lepsius, Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, in: ders., Demokratie in Deutschland, 1993, S. 265; positiv zur politischen Öffentlichkeit in Europa: K. Eder/C. Kantner, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: M. Bach (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, 2000, S. 306; weiterhin F. Neidhardt u.a., Konstitutionsbedingungen politischer Öffentlichkeit: Der Fall Europa, in: H.-D. Klingemann/F. Neidhardt (Hrsg.), Zur Zukunft der Demokratie, 2000, S. 263; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 2002, S. 162 ff., 213 ff. M. Kaufmann, Permanente Verfassungsgebung und verfassungsrechtliche Selbstbindung im europäischen Staatenverbund, Der Staat 36 (1997), S. 521 (523). Entwicklungsbezogene Kritik bei J. Habermas, Braucht Europa eine Verfassung?, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 185. So H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 61, 62 ff., 100; L.-J. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. I, 1977, S. 180 ff.; den originären Charakter des Europarechts auch bejahend: P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 34 (56 f., 61); C. F. Ophüls, Staatshoheit und Gemeinschaftshoheit, in: FS Heymanns Verlag, 1965, S. 519 (558 ff.). So BVerfGE 73, 339 (375); 89, 155 (183 f., 190); vgl. aber BVerfGE 45, 142 (169); T. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 464; C.-D. Ehlermann, Die Europäische Gemeinschaft und das Recht, in: FS Carstens, 1984, S. 81 (83); J. Isensee, Integrationsziel Europastaat, in: FS Everling, 1995, S. 567 (574); Kaufmann (Fn. 86), S. 428 und Anm. 69; P. Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: J. Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und rechtliche Form, 1993, S. 63 (99); U. Scheuner, Der Grundrechtsschutz in der EG und die Verfassungsrechtsprechung, AöR 100 (1975), S. 30 (36 ff.).
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in ihrer Relevanz zu relativieren. Zwei Gesichtspunkte laden dazu ein: Unumstritten sind die durch die Mitgliedstaaten geschlossenen Verträge Geltungsgrund des Unionsrechts. Fraglich aber ist, welche juristischen Konsequenzen diese Feststellung hat (1), und ob es ergiebig ist, die verschlungenen Zusammenhänge zwischen nationalem Recht und Unionsrecht im binären Schema von Autonomie oder Abhängigkeit zu erfassen (2). (1) Die Konstruktion eines eigenen autonomen Geltungsgrundes etwa als „Grundnorm“ dient in aller Regel der Rechtfertigung der ultimativen Entscheidungskompetenz des EuGH.96 Doch muss eine solche Konstruktion scheitern. Die Kelsensche Grundnorm ist keine Norm, sondern ein außerrechtliches Faktum.97 Das Entstehen einer Art europarechtlicher Grundnorm kann man nicht mit dem bloßen Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH begründen. Selbst wenn man es täte, ergäbe sich daraus noch kein methodischer Zusammenhang zwischen dem Letztprüfungsanspruch des EuGH und dem autonomen Verfassungscharakter des Unionsrechts andererseits, denn gerade eine völkerrechtliche Konzeption des Unionsrechts spricht nicht für einen Souveränitätsvorbehalt des nationalen Rechts.98 (2) Der Zusammenhang zwischen Unionsrecht und nationalen Rechtsordnungen – oder ganz allgemein zwischen verschiedenen Rechtsordnungen99 – ist nicht in die Dichotomie Autonomie-Heteronomie zu pressen.100 Die Autonomie einer Rechtsordnung ist stets relativ.101 Materiell ist der Korpus des Unionsrechts zu einem methodisch und systematisch eigenständigen Gebilde geworden – deutlich eigenständiger etwa als die Rechtsordnungen der mit „Staatlichkeit“ ausgezeichneten Länder im Deutschen Bundesstaat. Aber diese Eigenständigkeit kann nicht mit der Loslösung von den vertraglichen Grundlagen gleichgesetzt werden, sie wird erst durch den Bezug auf die Vertragstexte ermöglicht. Formell liegt das entscheidende Kriterium für den Grad an Autonomie, die in Anlehnung an die Diskussion um den Geltungsgrund der Reichsverfassung auch mit dem Begriff der Kompetenz-Kompetenz belegt wird,102 im Verhältnis zwischen Vertragsentstehung und Vertragsänderung. Hier zeigt sich ein uneindeutiges Bild: Einerseits bleiben die Mitgliedstaaten die allein 96 97 98
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101 102
Nachweise für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bei Mayer (Fn. 10), S. 87 ff. Zur Kritik an der europarechtlichen Verwendung des Grundnormkonzepts: Kaufmann (Fn. 92), S. 527; Möllers (Fn. 57), S. 398. So überzeugend J. H. H. Weiler/U. Haltern, The Autonomy of the Community Legal Order Through the Looking Glass, Harvard International Law Journal 37 (1996), S. 411; gegen T. Schilling, The Autonomy of the Community Legal Order – an Analysis of Possible Foundations, ebd., S. 389. Sei es innerhalb eines Bundesstaats, im Völkerrecht oder mit Blick auf private Rechtssetzung. Eine ähnliche Dichotomie findet sich im europäischen Verwaltungsrecht mit der Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdverwaltung. Zur Kritik E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungskooperation und Verwaltungskooperationsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1996, S. 270 (275 ff.). M. van de Kerchove/F. Ost, Le système juridique entre ordre et désordre, 1988, S. 154 ff. Vgl. unten bei Fn. 123.
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entscheidenden Faktoren für die Änderung der Verträge – damit hat sich das Verfahren der Vertragsänderung wenig verselbstständigt. Andererseits ergeben sich erste Verselbstständigungstendenzen mit Blick auf die Anhörungspflicht des Europäischen Parlaments103 und vor allem beim Beitrittsverfahren.104 Im Unterschied etwa zur Reichsverfassung, zum Grundgesetz oder zur amerikanischen Verfassung bleibt es aber dabei, dass ein einzelner Mitgliedstaat eine Vertragsänderung verhindern kann. Die Erfahrungen mit dem Verfassungsvertrag zeigen, dass dies nicht bloße Theorie ist. Das fortbestehende völkerrechtliche Element im Änderungsverfahren lädt nicht zu Verfassungspathos ein, weil es der im Verfassungsbegriff immer mitgedachten Verselbstständigung jeder verfassunggebenden Ebene entgegensteht. 2. Relativierungen des Verfassungsbegriffs Aus der Zurückweisung einer etatistischen Verengung des Verfassungsbegriffs folgt nicht seine beliebige Erweiterbarkeit: Beschränkt sich das Phänomen Verfassung nicht auf die Herrschaftsorganisation des Nationalstaats, so ist damit im Umkehrschluss noch nichts darüber gesagt, ob es sinnvoll ist, die Kategorie Verfassung im Zusammenhang mit der Europäischen Integration zu verwenden. Zur Beantwortung dieser Frage werden in der Literatur die vom Unionsrecht wahrgenommenen Verfassungsfunktionen (a) und die in den Verträgen enthaltenen Verfassungselemente (b) hervorgehoben, die allerdings beide nur ein vergleichsweise anspruchsloses Konzept der Verfassung begründen können (c). a) Gleichsetzung von Verfassung und Verfassungsfunktionen Als ergänzendes Begründungselement zugunsten des Verfassungscharakters der Union dient nicht selten der Hinweis auf die vom Unionsrecht, insbesondere den Verträgen erfüllten Funktionen.105 Diese Verfassungsfunktionen rechtfertigten es, den Verfassungsbegriff auch auf den erreichten Stand der Integration anzuwenden. Genannt werden in diesem Zusammenhang etwa die Legitimations-, die Machtbegrenzungs- oder die Organisationsfunktion, die sowohl die Verträge als auch die Gesamtrechtsordnung des Integrationsraums beschreiben können. Allerdings wird die Herleitung solcher Funktionen mit relativ wenig Aufwand vorgenommen, eine Systematisierung fehlt. Funktionen stehen unverbunden nebeneinander. 103 104 105
Pernice (Fn. 9), S. 171 f. H.-J. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 49 EU, Rn. 3. A. v. Bogdandy, Skizzen zu einer Theorie der Gemeinschaftsverfassung, in: T. v. Danwitz u.a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 9 (24 f.); v. Bogdandy (Fn. 4), S. 101; M. L. Fernandez Estaban, The Rule of Law in the European Constitution, 1999, S. 7 ff.; Huber (Fn. 79), S. 199 ff.; Pernice (Fn. 9), S. 158 ff.; J. Schwarze, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, in: J. Schwarze/R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, S. 15 (25 ff.); Peters (Fn. 30), S. 76 ff.; C. Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, DVBl. 2000, S. 1 (6 ff.); grundsätzlich D. Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97 (1972), S. 489 (494 ff.); A. Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), S. 35 (46 ff.).
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Begrifflich erscheint es zumindest nicht zwingend, aus der Tatsache, dass eine Institution die Funktion einer anderen erfüllt, zu schließen, dass beide gleich bezeichnet werden sollten. Ganz im Gegenteil verweist das Konzept der Funktion gerade auf strukturähnliche Leistungen verschiedener Institutionen, sonst könnte man Funktion durch Identität ersetzen. Konkret: Nicht jedes Rechtsgebilde, das Funktionen einer Verfassung erfüllt ist, deswegen eine Verfassung. Von der Theorieanlage her ist – zum Zweiten – nachzufragen, ob die Zuordnung einer Vielzahl von Funktionen ohne zwingende Binnensystematik tatsächlich einen besonderen Beschreibungswert entfaltet.106 Dies lässt sich beispielhaft am Zusammenhang zweier in der Diskussion genannter Verfassungsfunktionen verdeutlichen: der Konstituierungsund der Legitimationsfunktion. Versteht man die Konstituierung eines Gemeinwesens als Verfassungsfunktion, so lässt sich auf diesem Wege zugleich eine auf die Individuen zugeschnittene Legitimationsfunktion des Unionsrechts zuordnen, also die Legitimation der Union durch die Ausübung individueller Freiheit bestimmen.107 Denn die neu konstituierte Rechtsordnung richte sich durch die Garantie von Bürgerrechten unmittelbar an die Individuen. Doch wird unter diesen Bedingungen erklärungsbedürftig, warum die Europäische Verfassung die Herrschaft der Mitgliedstaaten voraussetzt und in gewisser Weise auch fortsetzt108 und ihre Bürger nicht in einer verfassunggebenden Ursituation unmittelbar adressiert. Die Feststellung, auch die demokratisch verfassten Mitgliedstaaten seien letztlich der individuellen Freiheit der Bürger verpflichtet,109 kann diesen Einwand nicht widerlegen: Diese Aussage definiert Demokratie ohne Herrschaft110 und hebt die Unterscheidung zwischen individueller Freiheit und staatlicher Herrschaft auf. Die paradoxe Leistung der Demokratie111 aber besteht gerade darin, dass sie Herrschaft nicht zum Verschwinden bringt, sondern in einer bestimmten auf Selbstbestimmung bezogenen Form organisiert. Funktionsbegriffe verbergen hier terminologische Widersprüche und die plurale Legitimation der Union. In der oben entwickelten Begrifflichkeit werden in dieser Argumenta106
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Der Reiz funktionaler Erklärung mag gerade in der Monofunktionalität der beschriebenen Systeme liegen, sonst werden Vergleiche beliebig: N. Luhmann, Soziale Systeme, 1987, S. 84. Zu den Vieldeutigkeiten des Konzepts: R. K. Merton, Manifest and Latent Functions, in: ders., Social Theory and Social Structure, 1968, S. 73 (79 ff.). Pernice (Fn. 9), S. 159, 167 f.; entsprechend für eine einheitliche Legitimation der Union: A. v. Bogdandy, Organizational Proliferation and Centralization under the Treaty on European Union, in: N. M. Blokker/H. G. Schermers (Hrsg.), Proliferation of International Organizations, 2001, S. 177 (190). Dazu oben, II. 2. d). Pernice (Fn. 9), S. 164; ders., Europäisches Verfassungsrecht im Werden, in: H. Bauer/P. M. Huber (Hrsg.), Ius Publicum im Umbruch, 2000, S. 25 (31). Zum notwendigen Herrschaftsbezug von Demokratie: O. Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: M. Bertschi u.a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123 (123 ff.); vgl. auch G. Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 246 (252 f.): Demokratie als Maximierung von Selbstbestimmung, nicht als Minimierung von Herrschaft. N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, S. 357 f.
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tion Herrschaftsbegründung und Herrschaftsformung und ihre ja durchaus antagonistischen institutionellen Tendenzen nicht unterschieden, sondern unzulässig miteinander identifiziert. Auf den ersten Blick schlüssiger erscheint es, die Begrenzung und Ordnung einer bereits bestehenden Herrschaftsgewalt als „klassische“ Verfassungsfunktion dem Unionsrecht zuzuordnen,112 weil die Europäische Union bewusst an die Herrschaft der Mitgliedstaaten anknüpft. Allerdings reduziert eine solche Bestimmung den Verfassungsbegriff unter der Hand auf ein herrschaftsformendes Verfassungsverständnis, unterschlägt die demokratische Verfassungstradition113 wie auch den Umstand, dass „Herrschaftsformung“ in diesem Sinn durchaus zu einem Mehr an Herrschaftsausübung führen kann.114 Die Herrschaftsausübung der Union wird auch hier hinwegfunktionalisiert. Noch anspruchsloser ist das Konzept der Organisationsfunktion: In der Tat definieren die Verträge die Organisation der Europäischen Union, aber ganz augenscheinlich genügen Organisationsregeln nicht, um eine Norm zu einer Verfassung zu erheben. Ein funktionales Verfassungsverständnis weist damit grundsätzliche Defizite auf: Es kann die Veränderungen, die der Verfassungsbegriff mit Blick auf die revolutionäre Verfassungstradition erfahren hat, noch nicht einmal beschreiben: Es verzichtet auf die Urkundlichkeit der Verfassung und relativiert damit die Normativität des Verfassungsbegriffs: Verfassung „ist“ nach funktionaler Lesart der Herrschaftszusammenhang von Union und Mitgliedstaaten,115 „ist“ ein Verfassungsverbund oder „ist“ ein Mehrebenen-System.116 Der normative – geschweige denn utopische – Gehalt des Verfassungsbegriffs entfällt.117 Der Begriff der Verfassung wird zum Synonym für den status quo der Integration. Die Verfassung Europas ist der jeweilige Zustand der Europäischen Institutionen, nicht mehr. b) Verfassungselemente Neben dem Konzept der Funktion findet sich auch in der europarechtlichen Diskussion der Hinweis auf Verfassungselemente des Unionsrechts. Das Konzept der Verfassungselemente kann sich auf Art. 16 Déclaration118 berufen, der Grundrechte und Gewaltenteilung zu inhaltlichen Bedingungen einer Verfassung erklärte. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Elemente in der Definition der französischen Revolutionäre kumulativ zu verstehen sind und notwendige Kriterien 112 113 114 115 116
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Pernice (Fn. 9), S. 158, bezeichnet die Begrenzung einer vorausgesetzten Herrschaftsgewalt als „klassisches“ Konzept. Vgl. oben, II. 1. Vgl. oben, II. 3. Pernice (Fn. 9), S. 165 ff. I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?, CMLRev. 36 (1999), S. 703 (708 ff.); zustimmend für viele H. Bauer, Europäisierung des Verfassungsrechts, JBl. 2000, S. 751 (752). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der nicht selten erfolgte Rückgriff in der Diskussion auf die Definition von Verfassung bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1912, S. 505, also aus einer vordemokratischen und explizit anti-parlamentarischen Theorie. Vgl. oben bei Fn. 15.
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darstellen. Eine Verfassung, die nur Organisationsregeln enthält ist nach diesem Verständnis auf jeden Fall keine Verfassung – eine Verfassung, die die genannten Elemente enthält, kann eine solche sein, muss es aber nicht. Jedenfalls müssen die Grundrechte rechtswirksam sein und durch einen demokratischen Gesetzgeber aktualisiert werden.119 Die Argumentation mit Verfassungselementen verfehlt die anspruchsvolle herrschaftsbegründende Verfassungstradition, derer sie sich bedient. Sie verfehlt zudem den Inhalt der Grundfreiheiten, die etwas anderes sind als Menschen- und Bürgerrechte.120 Somit steht die Argumentation mit Verfassungselementen eher für eine nachhaltige Relativierung des Verfassungsbegriffs als für eine gehaltvolle Erfassung der Unionsrechtsordnung. 3. Bund – Verbund – Fragment – Regime: Vielheiten der Verfassung Die wohl bedeutendste Herausforderung an den Verfassungsbegriff stellen verschiedende Diagnosen der Pluralisierung von Verfassungsinstitutionen dar. Dabei lassen sich zwei Typen unterscheiden, wenn auch nicht notwendig trennen: Ein Strang der Pluralisierungsdiagnose bezieht sich auf die Vervielfachung von hoheitlichen Akteuren, die je eigene Legitimationsstrukturen aufbauen (1), ein anderer verweist auf die Pluralisierung verschiedener thematischer Politikfelder, die jede Form allgemeiner Politik ausschließt (2). (1) So hat sich zunächst eine neuere Diskussionsrichtung darum bemüht, föderale Denkfiguren für die Beschreibung der Europäischen Union wiederzuentdecken und diese aus dem deutschen Begriffskorsett der Unterscheidung zwischen Bundesstaat und Staatenbund zu befreien.121 In föderalen Strukturen ist die Frage nach der souveränen Ebene gerade offen gelassen, und diese Offenheit ist nicht zuletzt Ausdruck ihrer demokratischen Verfasstheit, die politische Beweglichkeit erfordert. Die Fixierung auf die Frage nach Letztentscheidung und Souveränität wird also nicht beantwortet, sondern zurückgewiesen – und diese Zurückweisung der Frage scheint mehr von der komplexen Balance des europäischen Gebildes einzufangen als jede denkbare Antwort. Föderale Vorbilder sind insoweit weniger der deutsche Bundesstaat als die Vereinigten Staaten und die Schweiz. Diese Einordnung hilft beim vergleichenden Verständnis der Rechtsentwicklung der europäischen Integration,122 befreit ihre Beobachtung von nationalstaatlichen Blaupausen und entfaltet damit einen beträchtlichen Beschreibungswert. Die im Denken der deutschen Bundesstaatstheorie nach Reichsgründung befangenen Debatten um Kompetenz-Kompetenz123 und Staatlichkeit der Länder können zu den Akten gelegt werden. Die 119 120 121 122
123
Vgl. oben bei Fn. 18. Vgl. J. Kühling, in diesem Band, S. 660 f., und T. Kingreen, ebd., S. 725 f. Eingehender S. Oeter, in diesem Band, S. 81 ff. Deutlich bei C. Schönberger, Unionsbürger, 2005, und O. Beaud, Théorie de la Fédération, 2007, die die Diskussionen um die Einordnung Europas durch historischen Vergleich von vielem theoretischen Ballast befreien. Zur Dogmengeschichte: P. Lerche, „Kompetenz-Kompetenz“ und das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: FS Heymanns-Verlag, 1995, S. 409.
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Einsicht in die Besonderheiten früher Föderationen öffnet die Begrifflichkeiten, aber auch unsere politischen Erwartungen an den Gang der Integration. Eine über diese kritische Wirkung hinausgehende Theorie ist damit freilich nicht verbunden und Legitimationsprobleme lassen sich mit dem Hinweis auf die Vertragsstrukturen kaum thematisieren. Die Gefahr, in einen juristischen Historismus zu verfallen, der zwar nicht mehr den Anstaltsstaat, dafür aber den Staatenbund des 19. Jahrhunderts zur Norm erhebt, ist hier nicht völlig von der Hand zu weisen. Zu unterscheiden ist diese Linie von der Lehre vom europäischen „Verfassungsverbund“124, die diesen Begriff einerseits als Vermittlungsbegriff zwischen Bundesstaat und Staatenbund einführt, um andererseits den Rechtscharakter der Integration hervorzuheben und vom Primat der Mitgliedstaaten, wie er im Ausdruck Staatenverbund zum Ausdruck kommt, abzuheben. Neben der ungelösten Frage, inwieweit es sich bei der Verbundfigur, um einen rechtlich verwertbaren Hinweis auf eine normative Struktur handeln,125 oder konkreter: inwieweit er eine oder mehrere Verfassungen bezeichnet und wo genau der „Verbund“ zu verorten ist, leidet die Theorie des Verfassungsverbundes unter den oben gegen einen funktionalen Verfassungsbegriff gemachten Einwänden:126 Supranationale Verrechtlichung wird auch hier mit Konstitutionalisierung schlicht gleichgesetzt.127 Wie die Neuentdeckung des Bundesbegriffs kann die Lehre vom Verwaltungsverbund schwerlich eine legitimationstheoretische Perspektive begründen, sie bleibt affirmativ. Anders als diese argumentiert sie ohne die institutionelle Anschaulichkeit historischer Vorbilder. (2) Ein anderer Diskussionsstrang stellt die Frage nach der thematischen Fragmentierung des Europarechts. Diese – aus dem Völkerrecht vertraute – Diskussion128 hebt hervor, dass der einem klassischen Verfassungsverständnis eigene Anspruch darauf, alle politischen Prozesse einheitlich zu regeln, unter den Bedingungen der Europäisierung und Internationalisierung nicht zu halten sei. Mit diesem Einwand steht einiges auf dem Spiel. Denn von demokratischen politischen Prozessen kann man nur sprechen, wo eine Allgemeinheit von Fragen entschieden werden kann. Für die Europäische Integration werden Fragmentierungsprozesse angesichts der Säulenaufteilung, der innerhalb der Säulen thematisch zerklüfteten Verfahrensstruktur der Verträge, mit Blick auf Formen differenzierter Vertiefung
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Dazu grundlegend Pernice (Fn. 9). Eingehende Analyse bei M. Jestaedt, Der Europäische Verfassungsverbund – Verfassungstheoretischer Charme und rechtstheoretische Insuffizienz einer Unschärferelation, in: GS Blomeyer, 2004, S. 637 (645 ff.). Soeben, 2. Dem entspricht die begrifflich völlig unzutreffende Identifizierung von Verfassungsvertrag und Gesellschaftsvertrag: I. Pernice, Der europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JöR n.F. 48 (2000), S. 205 (210 ff.); ders. (Fn. 9), S. 167; N. Petersen, Europäische Verfassung und europäische Legitimation, ZaöRV 64 (2004), S. 429 (435 ff. und Anm. 40). ILC-Report, Fragmentation of International Law, UN Dok. A/CN.4/L.682.
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wie Schengen- und Euro-Raum sowie hinsichtlich der Vervielfachung des Grundrechtsschutzes diskutiert.129 Freilich erscheint die Diagnose der Fragmentierung gerade im Vergleich zum Völkerrecht nur vor dem Hintergrund unreflektierter Erwartungen überzeugend. Denn man kann die europäische Integration umgekehrt auch als Form der De-Fragmentierung zwischenstaatlicher Beziehungen in Europa lesen, gibt es doch keine andere übernationale Organisation, die so viele verschiedene Themen in einem vergleichsweise so homogenen Verfahrenszusammenhang bündelt. Dass dies nicht dem Standard demokratischer Zentralstaaten entspricht, ist klar. Doch zieht die Fragmentierungs- und Pluralisierungsdebatte zu viel argumentatives Kapital aus der Unterstellung, andere würden den demokratischen Zentralstaat als Normalfall betrachten. So bleibt es richtig, die Zersplitterung des Primärrechts sowohl auf formeller als auch auf inhaltlicher Ebene anzuerkennen, ohne deswegen zu vergessen, dass die eigentliche Besonderheit der europäischen Integration in einer, wenn auch vielfach abgeschwächten und demokratisch unbefriedigenden zwischenstaatlichen Politikvereinheitlichung besteht. 4. Fazit Nichts spricht dagegen, einen anspruchs- und gehaltvollen Verfassungsbegriff auch auf Herrschaftsformen jenseits des Staats anzuwenden. Dies rechtfertigt es allerdings nicht, einen Teil dieses Begriffs unter den Tisch fallen zu lassen, um kritische Nachfragen an die Demokratiefähigkeit der EU zu unterdrücken. Die Beschränkung des Verfassungsbegriffs auf den Staatsbegriff erwies sich als etatistische Verkürzung der herrschaftsbegründenden demokratischen Verfassungstradition, die Reduzierung des Verfassungsbegriffs auf Funktionen oder Elemente als deren vollständige Außerachtlassung. Dagegen verspricht der Blick auf die föderale und thematische Homogenität der europäischen Integration einen ergiebigeren Zugriff auf den europäischen Verfassungsbegriff. Dieser darf nur nicht denselben Fehler mit umgekehrten Vorzeichen begehen und die Pluralität der europäischen Integration verabsolutieren. Auch wenn man von der Europäischen Integration keine neue demokratische Revolution erwarten kann oder will, genügt es weder, den Begriff der Verfassung für die Europäische Integration einfach auszuschließen, noch, ihn mit der Faktizität des Integrationsvorgangs zu identifizieren. Er ist als wissenschaftlich entwickelter kritischer Maßstab vielmehr immer wieder an den Stand der Integration anzulegen.
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Konsequent: N. Krisch, Die Vielheit der europäischen Verfassung, in: Y. Becker u.a. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 2005, S. 61 (71 ff.), dessen Diagnose „verlorener Einheit“ aber gerade angesichts föderaler Erfahrungen unhistorisch wirkt.
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IV. Anwendung: Begriffe der Verfassung in Europa Der Verfassungsbegriff bezeichnet die gleichzeitige Verrechtlichung von Politik und die Politisierung von Recht.130 So ist dieser Zusammenhang im Folgenden – wie in der Einleitung angedeutet – auf drei Ebenen für eine Grundlegung eines europäischen Verfassungsbegriffs zu entfalten. Auf einer verfassungstheoretischen Ebene steht die Figur der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als kompromisslose Einforderung einer egalitären demokratischen Politisierung jeder, auch der europäischen Herrschaft (1.). Auf einer normativ-juristischen Ebene ist die Verwendung eines formellen Verfassungsbegriffs, also einer verschriftlichten Norm mit Anspruch auf Vorrang vor allen anderen Normen innerhalb ihres Geltungsbereichs, für die Europäischen Verträge zu rechtfertigen und auf juristische Konsequenzen hin zu untersuchen (2.). Auf einer deskriptiven Ebene schließlich ist das viel verwendete Konzept der Konstitutionalisierung des Europarechts vom Verfassungsbegriff selbst zu unterscheiden und für einige Phänomene der Integration fruchtbar zu machen (3.). Zurückgespiegelt auf die oben entwickelten zwei Verfassungstypen steht der erste Gesichtspunkt für die Aktualisierung der herrschaftsbegründenden revolutionären Verfassungstradition, der dritte Gesichtspunkt für die Anwendung eines herrschaftsformenden verrechtlichenden Verfassungskonzepts. Für beide gebräuchlich ist der formale Verfassungsbegriff. 1. Verfassunggebende Gewalt des Volkes – das Kriterium gleicher Freiheit Wäre es möglich, den herrschaftsbegründenden Verfassungsbegriff auf die Europäische Union anzuwenden, so wäre damit zugleich die Frage nach dem Bestand der verfassunggebenden Gewalt des Unionsrechts aufzuwerfen. Aber ist dies ohne begriffliche Verzerrungen zulässig? In der wissenschaftlichen Diskussion wird die Kategorie der verfassunggebenden Gewalt nicht selten formalistisch mit der Frage nach der Autonomie des Unionsrechts131 gleichgesetzt: Ist das Europarecht heteronom, so sind die Mitgliedstaaten132 die verfassunggebende Gewalt, ist es autonom, so sind es die Bürger.133 Doch verkennt dieser Ansatz den ursprünglich radikaldemokratischen Gehalt der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Diese ist eine Theorie der Legitimation von Herrschaft. Nicht jede Ingangsetzung einer verfassungsähnlichen Struktur lässt sich auf das Bestehen einer verfassunggebenden Gewalt in diesem Sinne zurückführen. Die Kategorie der verfassunggebenden Gewalt verweist auf die demokratische Entstehungsform einer demokratischen Ordnung, sie enthält also zwei aneinander anschließende demokratische Elemente. Jedoch macht ihre widersprüchliche Struk130 131 132 133
Vgl. oben, II. 3. Vgl. oben, III. 3. M. Herdegen, Vertragliche Eingriffe in das Verfassungssystem der Europäischen Union, in: FS Everling, 1995, S. 447 (452); Huber (Fn. 79), S. 214 ff.; Kaufmann (Fn. 92), S. 534 f. C. Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S. 66 ff.; Pernice (Fn. 9), S. 171.
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tur die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt134 argumentativ missbrauchsanfällig: Auf der einen Seite erkennt man ihr Wirken immer nur im Nachhinein, wenn eine Verfassung entstanden ist. Auf der anderen Seite kann sie durch die Verfassung nicht geregelt werden.135 Sie ist das schlechthin Unregelbare,136 die verfassungstheoretische Utopie demokratischer Selbstbestimmung.137 Schließlich genügt die tatsächliche Praxis der verfassunggebenden Gewalt so gut wie nie denjenigen demokratischen Prinzipien, die sich in der durch sie beschlossenen Verfassung finden.138 Als verfassunggebende Gewalt bezeichnete Sieyès den Akt der Selbstbindung einer zur Verfassunggebung bereit stehenden inhaltlich ungebundenen Nation freier und gleicher Bürger.139 Wie auch immer sich diese konstituiert, zumindest gewisse Minimalanforderungen dürften sich aus diesem Konzept auch für die europäische Ebene herleiten lassen:140 das Vorhandensein eines politischen Beteiligungsmechanismus, in dem die Europäischen Bürger als Gesamtheit, also nicht als Teile eines mitgliedstaatlichen Teilvolks,141 ein streng gleiches und freies Beteiligungsrecht haben, das in einem politischen Prozess aufgeht.142 Unter diesen Voraussetzungen erscheint es problematisch, die verfassunggebende Gewalt der Union in ihrem jetzigen Stadium ihren Bürgern zuzuordnen143 und damit von einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes in einem Sinne reden zu können, der über eine technische Bezeichnung der Einsetzung oder Änderung des höchstrangigen Vertragsrechts hinausgeht. In einem demokratietheoretisch anspruchsvollen Sinn verfügt die Europäische Union über keine verfassunggebende Gewalt.144 Denn unter den diversen politischen Prozessen, die sich auf europäischer
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J. Derrida, Declarations of Independence, New Political Science 15 (1986), S. 7; F. Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995; Hofmann (Fn. 12), S. 292 f. Beaud (Fn. 78), S. 321 ff.; Böckenförde (Fn. 17), S. 91; Isensee (Fn. 90), S. 62 ff. A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 318. Dazu drastisch A. Negri, Il potere costituente. Saggio sulle alternative del moderno, 1992; Kritik bei G. Agamben, Homo Sacer, 2002, S. 50 ff. Vgl. die praktischen Analysen bei K. v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1968, S. 7 ff.; J. Elster, Deliberation and Constitution Making, in: ders. (Hrsg.), Deliberative Democracy, 1998, S. 97 (100 ff.). Sieyès (Fn. 16), S. 124; zur Konstruktion Sewell Jr. (Fn. 26), S. 45 ff.; Brunkhorst (Fn. 9), S. 102 ff.; A. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, 1909, S. 116 ff. Vgl. auch H. Abromeit, Wozu braucht man Demokratie?, 2002, als Beispiel für einen mit strengen Minimalanforderungen operierenden demokratietheoretischen Ansatz für Europa. Augustin (Fn. 136), S. 401 f. Vgl. Sieyès (Fn. 16), S. 91; E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: ders. (Fn. 13), S. 289 (327 ff.); Maus (Fn. 21). Die Entstehung des Grundgesetzes lässt sich als Akt der verfassunggebenden Gewalt deuten, eben weil der Parlamentarische Rat eine solche Körperschaft darstellte. H. Dreier, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2004, Präambel, Rn. 67 ff. Deutlich bei H. P. Ipsen, Fusionsverfassung Europäische Gemeinschaften, 1969, S. 35, 51; vgl. auch Gerkrath (Fn. 79), S. 127; dagegen ein geschmeidigerer Ansatz bei P. Häberle (Fn. 91), S. 232 ff.
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Ebene abspielen, findet sich keiner, der den strengen Kriterien dieses Begriffs entspricht. Zunächst ist die Repräsentation der Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der souveränen Gleichheit kategorial von der Repräsentation der Bürger nach dem Prinzip der formellen Gleichheit zu unterscheiden.145 Nach dem ersteren Repräsentationsprinzip aber richtet sich sowohl der Urakt der Entstehung der Römischen Verträge, der eigentliche Akt des pouvoir constituant sans peuple, als auch die Vertragsänderung im Unionsrecht, des pouvoir constitué. Die demokratische Gleichheit146 wird durch die Staatenrepräsentation unterbrochen. In der demokratietheoretischen Diskussion internationaler Beziehungen wird dies als fehlende demokratische Kohärenz der Außenpolitik bezeichnet.147 Damit ist die Überlegung freilich noch nicht am Ende: Vielmehr ist die demokratietheoretische Einsicht, dass die Legitimation der Verfassunggebung mit der Verfassungssetzung nicht endet,148 sondern – institutionell sublimiert – ihre Fortsetzung in den in der Verfassung vorgesehenen Rechtserzeugungsverfahren erlebt,149 auf die Europäische Union anzuwenden. Dies vorausgesetzt kann man in umgekehrter Richtung die Rechtserzeugungsmechanismen der Union nach ihren Legitimationsquellen untersuchen, ohne den status quo der Union als „plébiscite des tous les jours“ mit der Normativität des Unionsrechts gleichzusetzen.150 Die Figur der verfassunggebenden Gewalt verweist auf die rechtsförmige Institutionalisierung eines politischen Prozesses nach den Prinzipien der demokratischen Gleichheit. Als politischer Prozess bezeichnet er Verfahren, die Entscheidungsalternativen generieren, die regelmäßig umstritten sind, sich also in einem dichotomischen Schema (rechts/links, Regierung/Opposition) institutionell kristallisieren. Die Legitimationsidee der verfassunggebenden Gewalt ist radikal Inputorientiert151 und durch die Einführung deliberativer Strukturen nicht zu befriedigen.152So verstanden nimmt die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in der Diskussion um die Legitimationsstruktur und Finalität der Union zwi145 146 147 148 149 150 151
152
Kaufmann (Fn. 86), S. 344 f. Vgl. oben Fn. 21 und Fn. 142. M. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, 1998, S. 237 f. Augustin (Fn. 136), S. 319 ff.; Böckenförde (Fn. 17), S. 105 f., Peters (Fn. 30), S. 379 ff., dort mit anderen normativen Konsequenzen. Vgl. oben, II. 1. a). Pernice (Fn. 9), S. 161, unter Bezug auf E. Renan; zur Kritik an dieser Figur als demokratietheoretischem Argument: Augustin (Fn. 136), S. 349 ff. Zur Unterscheidung: F. W. Scharpf, Regieren in Europa, 1999, S. 20 ff.; ein Output-Konzept wohl bei Peters (Fn. 30), S. 580 ff.; knappe Kritik am Konzept der Output-Demokratie: H. Brunkhorst, Globale Solidarität, in: L. Wingert/K. Günther (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, 2001, S. 605 (621 in Anm. 48). B. Manin, On Democracy and Political Deliberation, Political Theory 15 (1987), S. 338 (351 ff.); knapp J. Habermas, Vorwort zur Neuauflage 1990, in: ders., Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1990, S. 28 f.; für Europa entwickelt bei R. Schmalz-Bruns, Deliberativer Supranationalismus, ZIB 6 (1999), S. 185 (204 ff., 212 ff.); J. Bohman, Public Deliberation, 2000, S. 23 ff.
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schen intergouvernementaler, supranationaler und föderaler Theorie eine eindeutige Position zugunsten einer weitestgehenden Föderalisierung der EU ein.153 Durchmustert man vor diesem Hintergrund das Institutionensystem der Union, so bleibt der Befund zunächst negativ: Der supranationale Beitrag des Gerichtshofs zur Integration steht doch gerade für eine Verrechtlichung. Auch die deliberative Umwelt des Ausschusswesens kann mangels demokratischer Gleichheit der an ihr Beteiligten nicht dazu gehören.154 Schließlich fügt sich auch die bloße Existenz politischer Entscheidungsspielräume in den Initiativ- und Durchführungskompetenzen der Kommission diesem Kriterium nicht.155 Für die Kommission könnte anderes nur gelten, insoweit sie in einem Legitimationszusammenhang mit dem Europäischen Parlament stünde, der unter dem Stichwort der Parlamentarisierung der Union diskutiert wird.156 Jedoch genügt auch das zersplitterte Wahlrecht zum Europäischen Parlament nicht den Standards der demokratischen Gleichheit.157 Institutionell bietet die EU keine egalitär demokratisch legitimierten Mechanismen. Ob es auch an gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlt, ist eine andere Frage. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt setzt nicht das Bestehen eines irgendwie „vorrechtlich“ definierten Volkes voraus. Das Legitimationssubjekt Volk ist auch in der revolutionären Tradition eine normative Figur. Es entsteht in einem normativen Sinn, sobald es von der Rechtsordnung adressiert wird.158 Die genuin normative Konstruktion der verfassunggebenden Gewalt des Volkes gestattet es, die Einrichtung eines nach Kriterien der demokratischen Gleichheit gewählten Parlaments gerade umgekehrt als Voraussetzung eines solchen Volkes zu verstehen. Weitere substantielle Anforderungen sind dem radikaldemokratischen Volkskonzept dagegen fremd.159 Der Ausschluss vom Legitimationssubjekt ist möglich, wenn nicht konstitutiv, aber über Ausschluss und Einschluss ist seinerseits demokratisch zu entscheiden. Institutionen, die den Minimalanforderungen an die Lehre 153 154
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Zur föderalen Legitimation mit Blick auf das Europäische Parlament kritisch: Kaufmann (Fn. 86), S. 260 ff. Zur Legitimation des Ausschusssystems kritisch J. H. H. Weiler, Epilogue: „Comitology“ as Revolution – Infranationalism, Constitutionalism and Democracy, in: C. Joerges/E. Vos (Hrsg.), EU Committees, 1999, S. 339 (347 ff.); vgl. auch unten bei Fn. 254. Zur (schwachen) funktional-technokratischen Legitimation der Kommission: G.-D. Majone, The European Commission as Regulator, in: ders. (Hrsg.), Regulating Europe, 1996, S. 61. Dazu P. Dann, in diesem Band, S. 355 ff. Vgl. nur die eingehende Analyse bei Kaufmann (Fn. 86), S. 251 ff.; C. Gusy, Demokratiedefizite postnationaler Gemeinschaften, ZfP 45 (1998), S. 267 (269); Lübbe-Wolff (Fn. 110), S. 248. Hier sind nach wie vor Überlegungen Hans Kelsens zu nutzen: H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 14 ff.; ders. (Fn. 19), S. 310 ff.; dazu O. Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik, in: C. Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S. 366 (403 ff.). Brunkhorst (Fn. 13), S. 256 ff.; speziell zu Europa: ders. (Fn. 9), S. 227 ff.; zu Ende gedacht soll dies auch eine Verabschiedung des Volksbegriffs nahe legen: so Augustin (Fn. 136), S. 377 ff.; vgl. auch BVerfGE 83, 37 (52), das folgerichtig die Bestimmung des Staatsvolks dem politischen Prozess – dem Gesetzgeber überlässt.
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von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes genügen, könnten sich demnach nur in der Einrichtung eines nach Gleichheitsmaßstäben einzurichtenden Parlaments oder in der Einführung eines unionsweiten Plebiszits160 ergeben. Steht die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes für die demokratische Politisierung der Rechtssetzung,161 so sieht sich ihre institutionelle Verwirklichung in Europa zwei Problemen gegenüber – zum einen der soeben beschriebenen fehlenden demokratischen Institutionalisierung; zum anderen der offenen Frage, inwieweit sich ein politischer Prozess auf europäischer Ebene institutionalisieren ließe, der die Integration selbst zum Thema machen würde. Versteht man unter einem politischen Prozess im Allgemeinen einen ergebnisoffenen Willensbildungsprozess, der zu einer verbindlichen Rechtserzeugung führen kann, jedenfalls auf eine solche bezogen ist, und der seinerseits durch rechtsverbindliche Regeln organisiert wird, so finden sich auf Unionsebene zwar eigenständige politische Prozesse, aber kaum solche, die den entwickelten Ansprüchen genügen. Denn nicht zufällig wurden wesentliche Teile der Integration einem politischen verfassunggebenden Prozess bewusst entzogen und dem Gerichtshof als effektivstem supranationalen Akteur überantwortet.162 Trotz der vielfach gezogenen Parallele zwischen Europäischer Integration und Rechtsintegration in den USA, die mit Blick auf Europäischen Gerichtshof und U.S. Supreme Court durchaus ihre Berechtigung haben mag,163 liegt hier bis auf Weiteres ein entscheidender Unterschied zwischen beiden Rechtsentwicklungen. In den Vereinigten Staaten wandelte sich der Verfassungskonflikt zwischen nationaler und gliedstaatlicher Ebene bereits in den ersten Jahren zu einem politischen Konflikt auf der nationalen Ebene.164 Die Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition,165 die erst die institutionalisierte Fortsetzung eines demokratischen verfassunggebenden Prozesses ermöglicht, wurde mit der Unterscheidung der beiden Ebenen verkoppelt. Der perpetuierte verfassunggebende Prozess in der nationalen politischen Debatte bildete den Konflikt zwischen nationaler und gliedstaatlicher Ebene ab, indem sich im Zwei-ParteienSystem in der Tendenz eine Partei auf die Seite der Zentrale und eine auf die Seite der Gliedstaaten schlug. An dieser Verschränkung von demokratischer Verfassunggebung und Integration fehlt es zumindest vorerst in der Europäischen Union. Allerdings zeigt sich momentan im institutionellen Verhalten des Parlaments, wie genuin europäische egalitäre politische Prozesse, wenn auch langsam, entstehen können. Die politische Ablehnung des Kommissionskandidaten Buttiglione durch das Europäische Parlament folgte der politischen Logik von rechts und links, nicht
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Beaud (Fn. 78), S. 477 ff.; Abromeit (Fn. 140). Vgl. oben, II. 1. a). Vgl. den institutionenökonomischen Vergleich zwischen Gerichtshof und Kommission bei J. Tallberg, The Anatomy of Autonomy, JCMS 38 (2000), S. 843. Analysen in M. Cappelletti u.a. (Hrsg.), Integration Through Law, 3 Bde, 1985–1988; T. Sandalow/E. Stein (Hrsg.), Courts and Free Markets, 1982. Elkins/McKitrick (Fn. 40), S. 258 ff. Zu den Vereinigten Staaten: R. Hofstadter, The Idea of a Party System, 1970.
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der mitgliedstaatlichen Zugehörigkeit der Abgeordneten. Solche Formen der Politisierung des Europäischen Parlaments dürften auf Dauer Bausteine für eine europäische demokratische Legitimation im Sinne der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes darstellen. Was erbringt also der Blick auf die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes für die europäische Verfassungsdiskussion? Er erinnert daran, dass das anspruchsvolle radikaldemokratische Erbe des späten 18. Jahrhunderts nicht auf die Institution des Nationalstaats beschränkt werden muss. Und er gibt handfeste Kriterien für eine Weiterentwicklung der Union, die mit ihrer eigenen demokratischen Rhetorik Schritt halten will. Die Figur der verfassunggebenden Gewalt dient damit als ein normativ begründeter kritischer Stachel für die Entwicklung einer demokratischen europäischen Integration. 2. Verfassung: die Europäischen Verträge als formelle Unionsverfassung Vieles spricht dafür, die Europäischen Verträge als formelle Verfassung166 der Union zu verstehen,167 so wie es der EuGH zumindest auf den ersten Blick tut. Die Verträge konstituieren auf europäischer Ebene eigenständige Formen der Rechtserzeugung, und sie haben Anspruch auf Vorrang vor allen anderen Schichten des Unionsrechts. Die Verträge sind „Rechtserzeugungsnormen“168 und koppeln damit das Verhältnis von Politik und Recht auf der Ebene der Union. Ein näherer theoretischer Blick auf die so definierte formelle Verfassungsstruktur der Union dürfte sich aus zwei Gründen anbieten: Zum einen bringt sie das gerade in der europarechtlichen Diskussion oftmals unterschätzte Element der Verschriftlichung des Verfassungstextes auf den Plan und geht darin über die bereits kritisierte Lehre169 von den Verfassungsfunktionen hinaus. Zum zweiten ist eine Beschäftigung mit formellen Gesichtspunkten auch e contrario empfehlenswert, weil die Suche nach der materiellen Verfassung des Unionsrechts schwerlich zu einem systematischen Konnex mit dem Begriff der Verfassung selbst führt. Zwar finden sich in der Literatur als begriffsnotwendig deklarierte Verknüpfungen zwischen dem Begriff der Verfassung und allen denkbaren Verfassungsprinzipien:170 Hebt man die individualrechtliche Mobilisierung des Gerichtshofs hervor, so bietet sich eine Verbindung mit Konzepten der Rechtsstaatlichkeit oder der rule of law171 an. Konzentriert man sich auf die Organisationsstrukturen, so kann man sich der föde-
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Zum Begriff der formellen Verfassung hier nur Kelsen (Fn. 19), S. 251 f.; Peters (Fn. 30), S. 51 ff. Vgl. P.-C. Müller-Graff, in: M. A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Stand: April 2008), A. I., Rn. 90 m.w.N. Kelsen (Fn. 19), S. 98, 234. Vgl. oben, III. 2. a). Vgl. A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 16; Gerkrath (Fn. 79), S. 325 ff. T. M. J. Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, 1999, S. 29 ff.; vgl. oben, II. 2. a).
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ralen Ordnung der Union,172 dem Subsidiaritätsprinzip173 oder der differenzierten Integration174 zuwenden. Funktionale Erwägungen schließlich legen es nahe, den offenen Binnenmarkt175 oder die Grundfreiheiten zum materiellen Verfassungskern der Integration zu erklären.176 Doch so wichtig all diese Grundsätze für die konsistente und vollständige Beschreibung der Europäischen Rechtsordnung sind, so wenig zwingend ist die notwendige Verknüpfung von nur jeweils einem Prinzip mit der Kategorie Verfassung und so unscharf ist die Verknüpfung mit allen. Dies entspricht auch einem weit verbreiteten Sprachgebrauch in der europarechtlichen Literatur, die von Verfassungsproblemen oder Verfassungsrecht der Union spricht, ohne den Begriff der Verfassung theoretisch zu beanspruchen oder zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung zu machen.177 Eine Beschränkung auf die formale Vorrangseite des Verfassungsbegriffs könnte sich deswegen zugleich als inhaltlich bescheidener und trennschärfer erweisen. Sie scheint zudem der vom Gerichtshof vorgenommenen Gleichsetzung der Verträge mit einer „Verfassungsurkunde“178 der Union zu entsprechen und damit zugleich eine rechtsdogmatische Perspektive auf den Verfassungsbegriff im Europarecht zu eröffnen. Die Untersuchung der formalen Verfassungseigenschaften stellt schließlich eine Gelegenheit dar, die programmatisch überfrachtete europäische Verfassungsdebatte vom Kopf auf die Füße zu stellen. Bevor eine systematische Untersuchung formaler Verfassungseigenschaften der Verträge begonnen werden kann, muss mit Blick auf die Formulierung des EuGH allerdings eine deutliche terminologische Einschränkung gemacht werden: Die in der deutschen Urteilsversion mit „Verfassungsurkunde“ übersetzte und von der ge172
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178
So etwa bei P. Hay, Federalism and Supranational Organization: pattern for new legal structures, 1966; K. Lenaerts, Constitutionalism and the Many Faces of Federalism, AJCL 38 (1990), S. 205; J. H. H. Weiler, Constitutionalism and Federalism – Europe’s Sonderweg, in: R. Howse/K. Nicolaïdis (Hrsg.), The Federal Vision, 2001, S. 54; S. Oeter, in diesem Band, S. 90 ff. C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 1999, S. 65 ff. C.-D. Ehlermann, Engere Zusammenarbeit nach dem Amsterdamer Vertrag: Ein neues Verfassungsprinzip?, EuR 1997, S. 362. P.-C. Müller-Graff, Die wettbewerbsverfaßte Marktwirtschaft als gemeineuropäisches Verfassungsprinzip?, EuR 1997, S. 433 (439 ff.). M. Poiares Maduro, We the Court, 1998, S. 7 ff.; vgl. A. Hatje, in diesem Band, S. 815 ff. So J. Boulois, Droit institutionnel de L’Union Européenne, 1997, S. 39; K. Lenaerts/P. Van Nuffel, Constitutional Law of the European Union, 2005; besonders bemerkenswert der Titel bei dem grundsätzlich intergouvernemental argumentierenden Buch von T. C. Hartley, The Foundations of European Community Law: an introduction to the constitutional and administrative law of the EC, 2007. Vgl. schon Schlussantrag von GA Lagrange zu EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1289; dann EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1365, Rn. 23: „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“; EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6102, Rn. 21: „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“; ähnlich BVerfGE 22, 293 (296); vgl. aber auch EuGH, Gutachten 1/76, Stillegungsfonds, Slg. 1977, 759, Rn. 12, wo von der „inneren Verfassung der Gemeinschaft“ die Rede ist; vgl. die sorgfältige Diskussion bei Gerkrath (Fn. 79), S. 124 f. m.w.N.
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samten wissenschaftlichen Literatur unkritisch rezipierte Formulierung lautet in den besonders wichtigen französischen Urteilstexten „charte constitutionnelle de base qu’est le traité“. Dies zeigt nicht allein eine Vieldeutigkeit in der Übersetzung,179 sondern deckt einen verfassungshistorischen Hinweis auf den juristisch kompromisshaften Charakter der Europäischen Verträge auf. Denn in der französischen Verfassungsgeschichte ist die „Charte Constitutionnelle“ vom 4. Juni 1814 eben ausdrücklich keine „Constitution“, die sich das Volk selbst gibt, sondern ein vom König erlassenes Grundgesetz, sie bezeichnet also das Minus zur Verfassung, mit dem das monarchische Prinzip im europäischen Konstitutionalismus Einzug hält und die demokratischen Errungenschaften der Revolution vorerst zurückgehalten werden.180 Der formale Verfassungsbegriff lässt sich – anders als die bereits behandelte Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und anders als der noch zu behandelnde Begriff der Konstitutionalisierung – nicht eindeutig einer der beiden oben entwickelten Verfassungstraditionen zuordnen. Schriftform und Vorrang der Verfassung haben ihre zentrale Bedeutung zwar erst mit dem Erscheinen des herrschaftsbegründenden Verfassungsbegriffs eingenommen,181 doch lassen sie sich auch in ein evolutives herrschaftsformendes Verfassungsverständnis integrieren, das freilich auch ohne diese Qualitäten auskommt.182 a) Urkundlichkeit der Verträge Die Verurkundlichung von Verfassungen hat eine doppelte Funktion:183 Auf einer verfassungspolitischen Ebene ist der Verfassungstext ein politisches Programm, an dem die gesellschaftliche Wirklichkeit durch Lektüre und Vergleich immer wieder gemessen und kritisiert werden kann. Die Verfassung – und dies ist das Erbe der herrschaftsbegründenden Verfassungstradition, das sich bis in die Gegenwart besonders deutlich in den Vereinigten Staaten beobachten lässt – entwickelt eine wichtige symbolische Funktion für die Selbstbeschreibung, eine politische Normativität für das Gemeinwesen, das sie regelt.184 Der freiheitliche Anspruch der Verfassung verlangt immer neue Bemühungen. Die allgemeine Verbreitung eines lesbaren Verfassungstextes befördert diesen Anspruch einer Gesellschaft an sich selbst. Verfassungsrechtlich verstärken Verschriftlichungserfordernisse die Abkopplung der Verfassungsinhalte von politischen Einzelproblemen – ad-hocÄnderungen der Verfassung werden vermieden, das Verbot von Verfassungsdurch179
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„Charte“ kann als Verfassungsurkunde, aber auch als Verfassung übersetzt werden. Das Adjektiv „constitutionnelle“ bezeichnet dann weniger eine Identifikation als eine Relativierung. Eine wörtliche Übersetzung von Charte Constitutionnelle könnte „verfassungsähnliche Charta“ lauten. Vgl. nur F. Furet, La Révolution, tome II, 1814–1880, 1988, S. 24 ff.; V. Sellin, Die geraubte Revolution, 2001, S. 17 f., 225 ff. Vgl. oben, II. 1 b). Dies zeigt sich deutlich an der englischen Verfassungstradition. Vgl. bereits oben, II. 1. b). Vgl. oben, II. 1. b).
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brechungen garantiert, dass der gesamte verfassungsrechtliche status quo der Verfassung zu entnehmen ist, und keine ungeschriebenen Nebenverfassungen entstehen.185 Diese wichtigen Funktionen einer Verfassungsurkunde sind mit Blick auf die europäischen Verträge zumindest zu relativieren. Die Urkundlichkeit der Verträge ist aus Gründen prekär, die sich allesamt auf die fortwirkenden intergouvernementalen Ursprünge des Unionsrechts zurückführen lassen: Zunächst schränkte schon die Aufteilung der Gründungsurkunden in verschiedene Verträge am historischen Ursprung der Gemeinschaften den formellen Verfassungscharakter ein. Dieses Problem wird durch die seit dem Maastricht-Vertrag bestehende Teilung des Europarechts, also die formelle Seite des umstrittenen Problems der Einheit der Europäischen Union,186 eher noch vertieft. Zu dieser Vielfalt der Verträge kommt das ihnen beigegebene System von Protokollen und Erklärungen. Die Protokolle werden nach Art. 311 EG Bestandteil des Vertrags. Sie nehmen zwar an der Verrechtlichung des Vertragsänderungsverfahrens teil,187 doch rufen sie insbesondere dann verfassungstheoretisch begründbares Misstrauen hervor, wenn ihre Inhalte gegen Kernregeln des Unionsrechts wie das Diskriminierungsverbot oder die Beibehaltung des acquis communautaire verstoßen,188 wie das Barber-Protokoll.189 Das Protokollsystem dient insoweit auf Unionsebene als funktionales Äquivalent der in manchen Mitgliedsstaaten zulässigen Verfassungsdurchbrechung, also der Verfassungsänderung ohne Änderung des Textes der Verfassungsurkunde.190 Eine Implementation intergouvernementaler ad-hoc-Kompromisse in Vertragsrang wird dadurch erleichtert und die Funktion der Verträge, eine einheitliche Verrechtlichung zu dokumentieren, relativiert. Ähnliches gilt für die in ihrer Rechtswirkung allerdings auf Auslegungshilfen eingeschränkten191 Schlusserklärungen der Mitgliedstaaten in den Anhängen zu den Verträgen. Weniger gravierend ist in der Zwischenzeit die Abrundungskompetenz nach Art. 308 EG, die aber ebenso eine Relativierung der Urkundlichkeit des EG-Vertrags darstellt wie das Vorhandensein spezieller Regeln zur Vertragsderogation.192 185 186 187
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U. Hufeld, Die Verfassungsdurchbrechung, 1997, S. 208 ff. Vgl. oben bei Fn. 2. Zur Anwendung von Art. 48 EU auf die Protokolle: H.-H. Herrnfeld, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2008, Art. 48 EU, Rn. 2; zur Rechtswirkung vgl. U. Becker, ebd., Art. 311 EG, Rn. 2–4. Grundlegend D. Curtin, The Constitutional Structure of the Union: a Europe of Bits and Pieces, CMLRev. 30 (1993), S. 17 (22 ff., 44 ff.). Kritik bei: D. Curtin, Scalping the Community Legislation: Occupational Pensions and „Barber“, CMLRev. 27 (1990), S. 475; U. Everling, Zur rechtlichen Wirkung von Beschlüssen, Entschließungen, Erklärungen und Vereinbarungen des Rates oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, in: GS Constantinesco, 1983, S. 133 (142 f.). Vgl. etwa für Österreich: Art. 44 B-VG, sowie oben Fn. 39. Everling (Fn. 189), S. 153; deren Rechtswirkung dürfte sich nach einer Ansicht nach Art. 31 Abs. 2 WVÜ bestimmen; gegen eine Verwendung durch den EuGH: A. G. Toth, The Legal Status of the Declarations Annexed to the Single European Act, CMLRev. 23 (1986), S. 803 (810 f.). Dazu Lenaerts/Van Nuffel (Fn. 177), S. 262 f.
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Die Unübersichtlichkeit des gesamten Vertragssystems entspricht der viel beklagten inhaltlichen Unübersichtlichkeit der einzelnen Verträge, namentlich des Gemeinschaftsvertrags. Auch diese ist Ergebnis der intergouvernementalen Aushandlungsvorgänge der Vertragssetzung, auch diese relativiert die Funktionen der Verurkundlichung. Als politischer Katechismus eines demokratischen Gemeinwesens sind die Verträge in ihrer jetzigen Form nicht zu gebrauchen – sie haben ein Stilproblem.193 Ihre weitestgehende Relativierung erfährt die Verurkundlichung schließlich durch spezifische Formen differenzierter intergouvernementaler Integration, etwa durch die „Verstärkte Zusammenarbeit“194 und durch die „offene Methode der Koordinierung“.195 Das letztere Vorgehen ist deswegen besonders bedenklich, weil es keinerlei formalisierte schriftliche Spuren im Unionsrecht hinterlässt: Es ist weder in den Verträgen vorgesehen, noch führt es zum Erlass von unionalen Rechtsakten. Die Integration verläuft an den Texten der Verträge vorbei und bleibt ihrem Leser unsichtbar. Aus verfassungstheoretischer Sicht ähneln sich diese Mechanismen strukturell darin, dass sie der intergouvernementalen Seite der Union ein politisches Ventil mit verfassunggebender Wirkung einrichten. Dieses Ventil findet seinen institutionellen Niederschlag in den Handlungen des Europäischen Rates. Eine solche Ventilfunktion relativiert aber gerade die ausgewogene Kopplung von Normativität und Herrschaftsbegründung, von politischem Prozess und rechtlicher Form, die von Verfassungen erwartet wird,196 und ist selbst aus intergouvernementaler Sicht defizitär, weil teilweise die nationalen Parlamente ausgeschlossen bleiben.197 Der Blick auf die formelle Seite der Verträge gibt problematische Antworten hinsichtlich ihrer materiellen Funktionsfähigkeit als Verfassung. Darüber hinaus verkürzt der Aufbau der Verträge die politisch-symbolische Funktion der Verfassungsurkunde bis zur Unkenntlichkeit.198 Daran ändert sich im Wesentlichen auch nichts dadurch, dass die Unterscheidung zwischen EU-Vertrag und EG-Vertrag im Lissabonner Vertrag in die Unterscheidung zwischen EU-Vertrag und dem Vertrag über die „Arbeitsweise“ der Union (AEUV) überführt werden soll.
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Vgl. zu den widersprüchlichen Stilerwartungen an einen Verfassungstext prägnant Jestaedt (Fn. 35), S. 214 m.w.N. Dazu T. Bender, Die Verstärkte Zusammenarbeit nach Nizza, ZaöRV 61 (2001), S. 729 (738 ff.). Europäischer Rat, 23. und 24. 3. 2000 in Lissabon: Schlußfolgerungen des Vorsitzenden, Abschn. I. 7., unter www.europarl.eu.int/summits/lis1_de.htm (17.06.2008); C. de la Porte, Is the Open Method of Coordination Appropriate for Organising Activities at European Level in Sensitive Policy Areas?, ELJ 8 (2002), S. 38. Zur Kritik Becker (Fn. 187), Rn. 4. C. Koenig/M. Pechstein, Die EU-Vertragsänderung, EuR 1998, S. 130 (139 f.). Vgl. oben, II. 1. b).
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b) Vorrang der Verträge Zum formalen Verfassungsbegriff gehört weiterhin der Vorrang vor anderen Rechtsmaterien.199 Mit Blick auf die Verträge lassen sich zwei Stufen von Hierarchisierung erkennen und als Verfassungseigenschaft rekonstruieren:200 Zum einen eine mögliche Binnenhierarchisierung innerhalb des Vertragsrechts, zum anderen der Vorrang des Vertragsrechts gegenüber anderem mitgliedstaatlichem Recht und Unionsrecht. An diesem Punkt gewinnt das „Bild“201, das die Europäischen Verträge als Verfassung rekonstruiert, eine ganz konkrete dogmatische Bedeutung. aa) Verfassung als Argument – der EuGH und die Binnenhierarchie der Vertragsregeln Der Gesichtspunkt einer Binnenhierarchie der Vertragsregeln oder – sachlich entsprechend – die immanenten Änderungsgrenzen der Verträge führen zunächst zu einem der klassischen Theorieprobleme des Europarechts, nämlich der Frage nach der konsensualen Aufhebbarkeit der Verträge. Der an diesem Punkt diskutierte Konflikt zwischen allgemeinen Regeln des Völkervertragsrechts und einem selbständigen unionsrechtlichen Austrittsverbot202 erweist sich jedoch als zugleich akademisch und wenig normativ.203 Die Diskussion changiert in genau derselben Weise wie der in diesem Zusammenhang ins Spiel gebrachte Begriff der Souveränität zwischen einer normativen Berechtigung und einer tatsächlichen Fähigkeit. Man wird sich insoweit auf folgende Feststellung beschränken können: Besteht die Fähigkeit zum Austritt – anders formuliert: lohnen sich die Austrittskosten –, so dürfte eine entgegenstehende Verpflichtung keine Rolle spielen. Sie kann in die Kostenberechnung miteinbezogen werden. Besteht die Fähigkeit nicht, wird die Frage nach der Berechtigung nicht virulent.204 Von zukünftig ungleich größerer Bedeutung dürfte das Problem der Binnenhierarchisierung bestimmter vertraglicher Inhalte sein. An diesem systematischen
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Besonders deutlich entwickelt bei Kelsen (Fn. 19), S. 252 f. Als Verfassungseigenschaft der Verträge hervorgehoben etwa bei G. C. Rodríguez Iglesias, Zur „Verfassung“ der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 1996, S. 125 (125 f.); F. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union – Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EU, 2000, S. 219 f. So A. v. Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, Der Staat 40 (2001), S. 1 (12). Für den Ausschluss eines völkerrechtlichen Kündigungsrechts: U. Everling, Sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft noch Herren der Verträge?, in: FS Mosler, 1983, S. 173 (183 ff.); Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 100 f.; J. Schwarze, Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, EuR 1983, S. 1 (5 ff.); für die Anwendbarkeit des Völkerrechts z. B. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 56 (58 f.); W. Meng, Das Recht der internationalen Organisation, 1979, S. 119 ff., 162 ff.; C. Tomuschat, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Stand: September 2007), Art. 24, Rn. 99. Ähnlich J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 18. Kritik bei Möllers (Fn. 57), S. 399 f.
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Punkt hat der Gerichtshof im 1. EWR-Gutachten205 zum jetzigen Art. 310 EG den Verfassungsbegriff zum Einsatz gebracht.206 Die in ihrer Stringenz durchaus umstrittene Entscheidung schließt in der Sache das Rechtsschutzsystem des Unionsrechts durch die Anwendung des Verfassungsbegriffs gegenüber der Einrichtung eines Rechtsschutzsystems ab, an dem auch assoziierte Nichtmitglieder der Union beteiligt sind. In der Lesart des Gerichtshofes sind die Verträge Verfassungsurkunden. Aus ihrer Verfassungseigenschaft folge, so der Gerichtshof, das Erfordernis einer Homogenität des unionalen Rechtssystems. Der Begriff der Verfassung wird in diesem Zusammenhang also im Sinne eines einheitsstiftenden Elements verstanden. Wie problematisch dieses Begründungsmuster ist, zeigt die ähnliche Argumentation im Schlussantrag des Generalanwalts Maduro in der Rechtssache Kadi, einem der Fälle zur Transformation von Listen des UN-Sicherheitsrates durch die EU.207 Maduro plädiert für eine volle Überprüfbarkeit und Aufhebung der umgesetzten Maßnahmen am Maßstab der EU-Grundrechte. Gegen die Regel des Art. 307 EG wendet er sich mit Art. 6 Abs. 1 EU – und mit dem Hinweis auf den Verfassungscharakter der EU. So sympathisch es in der Sache ist, Rechtsschutz gegen die autoritären Anwandlungen des Sicherheitsrates zu gewährleisten, das Argument bleibt eigenartig – und könnte strukturgleich mit besseren Gründen seitens der Mitgliedstaaten gegen Akte der EU gewendet werden. Denn immerhin sind die Mitgliedstaaten eben Mitglieder der EU, die EU aber nicht Mitglied der UN. Obwohl die Entscheidung Les Verts selten unter dem Stichwort der Binnenhierarchisierung diskutiert wird,208 argumentiert sie in der Sache ähnlich mit dem Verfassungsbegriff: Auch dort wird ein ganzheitlicher Gesichtspunkt gegen die begrenzten prozessualen Vertragsregeln ausgespielt. Aus der Verfassungseigenschaft wird hier vom Gerichtshof ein umfassender Rechtsschutzanspruch hergeleitet, der über den Vertragswortlaut hinausgeht. In verblüffend paralleler Argumentation zur Feststellung Justice Marshalls in McCulloch v. Maryland 209 dient die Anrufung der Verfassungseigenschaft einer Ausweitung des Normgehalts und damit auch der Prüfungskompetenz des Gerichts, das die betroffene Rechtsmasse einerseits nach außen abschließt und andererseits nach innen vervollständigt. Dies geht auf Kosten der rechtsimmanenten Überzeugungskraft der Entscheidungen, die in Zweifel steht, wenn die Verfassungseigenschaft zunächst unterstellt wird, um dann aus ihr Rechts-
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GA Maduro zu EuGH, Rs. C-402/05 P, Kadi/Rat und Kommission, Slg. 2008, I-0000, Nr. 31 ff.; Überblick über die Diskussion bei I. Ley, Legal Protection Against the UN-Security Council Between European and International Law, GLJ 8 (2007), S. 279. EuGH, Gutachten 1/91 (Fn. 178); dazu die kritischen Analysen bei M. Heintzen, Hierarchisierungsprozesse des Primärrechts in der europäischen Gemeinschaft, EuR 1994, S. 35; Hertel (Fn. 79), S. 238; Koenig/Pechstein (Fn. 197), S. 137; vgl. auch C. Vedder/H.-P. Folz, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU (Stand: Okt. 2007), Art. 48 EU, Rn. 16. EuGH, Rs. 294/83 (Fn. 178). Vgl. aber P. Craig, Constitutions, Constitutionalism, and the European Union, ELJ 7 (2001), S. 125 (133 f.). Vgl. oben bei Fn. 37.
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folgen herzuleiten.210 Solche begriffsfundierten Zirkelschlüsse dürften jedoch nicht selten am Anfang einer Verfassungsrechtsprechung stehen211 und ihre Kraft zur Begründung einer Rechtsordnung dürfte zumindest nicht an ihrer argumentativen Schlüssigkeit hängen. Trotzdem bietet der durch den Verfassungsbegriff erschlichene Gesichtspunkt selbst in beiden Entscheidungen eine im Ergebnis überzeugende Lösung für ein von den Normtexten nicht vorhergesehenes Problem, also eher eine Auslegung praeter denn contra constitutionem. Der Verfassungsbegriff bot hier die Möglichkeit, den Gehalt der Verträge methodisch über sich hinauswachsen zu lassen. Dies mag dogmatisch anfechtbar sein, verfassungstheoretisch ist es unbedenklich und aus anderen Rechtsordnungen bekannt. bb)Vorrang des Vertragsrechts Die Durchsetzung des Vorrangs der Verträge durch den EuGH vor allen Stufen des mitgliedstaatlichen Rechts, also auch des Verfassungsrechts, wird in der Literatur nicht selten als eines ihrer konstitutiven Spezifika verstanden.212 Dies ist als solches zumindest deswegen zu relativieren, weil durch internationales Recht konstituierte Gerichte völkerrechtliche Pflichten stets weitgehend ohne Rücksicht auf den innerstaatlichen Normbestand anwenden und durchsetzen.213 Insoweit ist die Konsequenz, mit der der EuGH das Unionsrecht gegenüber den Mitgliedstaaten zur Geltung bringt, als solche nichts Besonderes. Sie wird durch die Dichte des unionsrechtlichen Normbestands einerseits und durch die unmittelbare Anwendbarkeit des Rechts andererseits allerdings besonders spürbar.214 In föderalen Strukturen erweist sich der Vorrang der Verfassung der höheren Ebene stets als ein besonders prekäres Phänomen, denn die Entscheidung über das Verhältnis der Rechtsebenen zueinander ist einem Gericht der höheren Ebene zugewiesen. Insoweit ist es methodisch problematisch, den Vorrang der Verfassung innerhalb des Rechts der höheren Ebene mit dem Vorrang gegenüber dem Recht der niedrigeren Ebene zu vergleichen. Trotz dieser Schwierigkeiten sieht sich eine Untersuchung des Vorrangs des Primärrechts der Notwendigkeit ausgesetzt, diesen Vergleich vorzunehmen. Dienen die Verträge gleich nationalstaatlichen Verfassungen der Verrechtlichung der unionalen Rechtserzeugung, so müssen sie sich auch gegenüber dem sekundären Unionsrecht durchsetzen. Hier sind jedoch Relativierungen vorzunehmen. So ist die Überprüfung von unionalen Rechtsakten durch den EuGH am Maßstab der Grundfreiheiten deutlich weniger intensiv als die Überprüfung mitgliedstaatlicher Akte. Sie orientiert sich zumindest im Ergebnis auch an den Mehr-
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Zu ähnlichen Zirkelschlüssen bei der Entstehung des Gemeinschaftsrechts die Analyse in B. de Witte, Direct Effect, Supremacy and the Nature of the Legal Order, in: P. Craig/C. de Búrca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, 1999, S. 177 (208). P. W. Kahn, The Reign of Law, 1997, S. 134 ff. Hartley (Fn. 177), S. 233 ff.; Ipsen (Fn. 202), S. 266 f., 277 ff. Vgl. etwa Art. 46 Abs. 1 WVÜ, sowie Weiler/Haltern (Fn. 98). So Weiler (Fn. 203), S. 20 f.
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heitsverhältnissen im Rat.215 Eine ähnliche Beobachtung lässt sich bei der Delegation von Rechtssetzungskompetenzen des Rates einerseits an die Kommission, andererseits an die Mitgliedstaaten feststellen.216 Diese Differenzierungen haben zweifelsohne einen in der Anlage der angewandten Normen liegenden Grund: Versteht man die Grundfreiheiten im Kern als Diskriminierungsverbote, so liegt es nahe, dass sich ihr Regelungsbereich nur auf mitgliedstaatliche Akte erstrecken lässt.217 Ähnliches lässt sich mit Blick auf die Funktion von delegierten Durchführungsregeln zur Sicherung eines unionsweit einheitlichen Vollzugs feststellen,218 zumal dem EG-Vertrag die Regelung von formalen Delegationsgrenzen unbekannt ist. So gesehen richtet sich ein Großteil des Vertragsrechts spezifisch an die Mitgliedstaaten und differenziert in seinen Vorrangwirkungen legitim zwischen nationalem und unionalem Recht. Doch hat diese Rechtfertigung unterschiedlicher Vorrangstrukturen ihre Grenzen. Versteht man Grundfreiheiten auch als Beschränkungsverbote219 und gestaltet sich die Vollzugsstruktur des Gemeinschaftsrechts zunehmend homogener, so dürften Unterschiede in der Behandlung der mitgliedschaftlichen gegenüber der unionsrechtlichen Prüfungsdichte an Plausibilität verlieren.220 Trotz zunehmender Integration bleibt die gerichtliche Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts gegenüber der Gemeinschaft aber die Ausnahme. Dies zeigt sich deutlich daran, dass das Fehlen einer Verbandskompetenz der Union gegenüber den Mitgliedstaaten vom EuGH so gut wie nie festgestellt wird.221 Dass im Übrigen die Abhängigkeit zwischen Integration und Prüfungsdichte so gut nachweisbar ist, indiziert eine genuin „supranationale Politisierung“ der Rechtsprechung. Relativierungen des Vertragsvorrangs lassen sich noch unter weiteren Gesichtspunkten feststellen: Dem Unionsrecht fehlt es an einem Rechtsformenkanon, der die Unterscheidung verschiedener Normenhierarchien formal abbilden könnte.222 Auch wenn in den neuen Verträgen nunmehr von Gesetzgebungsakten und Gesetzgebungsverfahren, Art. 289 Abs. 1 AEUV, die Rede ist, bleibt es beim alten Rechtsformenkanon, Art. 288 AEUV. Immerhin legt der neue Vertrag nun größeren Wert auf die Kenntlichkeit von Durchführungs- und Delegationsakten, Art. 290 Abs. 3,
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Poiares Maduro (Fn. 176), S. 78 ff.; vgl. auch T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 176 f.; zur engen Zusammenarbeit von Gerichtshof und Kommission – auch einer Form supranationaler Politisierung: E. Stein, Lawyers, Judges, and the Making of a Transnational Constitution, AJCL 75 (1981), S. 1. Analyse bei C. Möllers, Durchführung des Gemeinschaftsrechts, EuR 2002, S. 483 (486 ff.). Vgl. zur kompetenziellen Seite der Grundfreiheiten T. Kingreen, in diesem Band, S. 720 ff. Vgl. K. Lenaerts, Regulating the regulatory process: „delegation of powers“ in the European Community, ELRev. 18 (1993), S. 23 (29 ff.); Möllers (Fn. 216), Abschn. IV. 1. Vgl. T. Kingreen, in diesem Band, S. 727 ff. Vgl. aber auch die Überlegungen bei A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157 (165). Neben den Entscheidungen zu den Außenkompetenzen vgl. EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419; dazu M. Nettesheim, in diesem Band, S. 414 ff. J. Bast, in diesem Band, S. 529 ff.
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291 Abs. 4 AEUV, und versucht mit einer Kodifikation von Wesentlichkeitskriterien eine Abgrenzung zwischen den Normebenen zu ziehen, Art. 290 Abs. 2 AEUV.223 Es bleibt aber dabei, dass die Verträge materiell überladen sind und in der Sache eine Vielzahl von Sekundärregelungen enthalten. Dem Vorrang des Vertragrechts ist beides abträglich. Das Funktionieren des Vertragsvorrangs beruht nicht auf dem isolierten Vorranganspruch eines Normenkomplexes über allen anderen. Es muss vielmehr anwendungsgeeignet gestaltet sein und sich inhaltlich von den sekundären Normen abheben, damit entsprechende Prüfungsprogramme entstehen können. Gerade die Frage, ob Primär- oder Sekundärrecht Gegenstand der Prüfung ist, ob also der Vorrang der Verträge zur Anwendung kommt oder nicht, ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs oft kaum zu entscheiden. c) Die Verträge als formale Verfassung: supranationale Überverrechtlichung und intergouvernementale Politisierung Auch wenn gute Gründe dafür sprechen, die Europäischen Verträge, demnächst in der Form des EUV und des AEUV, als formelle Verfassung der Union zu verstehen, so erlaubt es diese Kategorisierung zugleich, verfassungstheoretische Maßstäbe an die Verträge anzulegen und Funktionsdefizite des Unionsrechts zu benennen: Die Urkundsqualität der Verträge ist durch ihre Teilung, durch ihre inhaltliche Überfrachtung, durch das als Verfasssungsdurchbrechung funktionierende Annexsystem und durch fortwirkende intergouvernementale Nebenrechtssetzungsprozesse empfindlich beeinträchtigt. Auch die Vorrangeigenschaft der Verträge erweist sich bei näherer Hinsicht als eingeschränkt, indem der EuGH die vertraglichen Kontrollmaßstäbe nicht in gleicher Weise auf mitgliedstaatlicher Ebene und Unionsebene anwendet, sondern die supranationale Ebene privilegiert. In beiden Fällen erfüllen die Verträge die Leistung der Verknüpfung von politischem Prozess und Rechtsform nur teilweise: Sie erweisen sich mit Blick auf die Urkundseigenschaft als intergouvernemental politisiert, mit Blick auf den Vertragsvorrang als supranational überverrechtlicht. Anders gesagt: Die Verträge bündeln die Regeln, nach denen höchstrangiges Recht entstehen soll, nicht ausreichend. Doch fesseln sie die einfachen Rechtssetzungsprozesse durch ein Zuviel an intergouvernemental-paktiertem materiellem Vertragsrecht. Die Verträge sind unterformalisiert und übermaterialisiert. Die Verknüpfung der beiden Verfassungstraditionen, die Demokratisierung der Rechtserzeugung und die Verrechtlichung des politischen Prozesses, haben sich gerade in den formalen Verfassungsqualitäten zu erweisen. Sie gelingt mit Blick auf das europäische Vertragswerk nur sehr eingeschränkt.
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Zur Rechtslage bisher H. Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007; zur ursprünglichen Reform auch J. Bast, Grundbegriffe der Handlungsformen der EU, 2006, S. 425 ff.
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3. Konstitutionalisierung Das in der europarechtlichen Literatur mittlerweile ubiquitär verwendete Konzept der Konstitutionalisierung224 ist vom Begriff der Verfassung nicht vollständig zu trennen, sollte von diesem aber deutlich unterschieden werden.225 Für eine Unterscheidung zwischen beiden Konzepten kann wiederum auf die oben typisierten Verfassungstraditionen rekurriert werden. Der Begriff der Konstitutionalisierung kann dabei der zweiten, herrschaftsformenden Tradition zugeordnet werden: Er bezieht seine Emphase weniger aus der Demokratisierung der Rechtserzeugung als aus der Verrechtlichung der politischen Herrschaftsausübung. Mit Blick speziell auf die durch das Common Law geprägte englische Verfassungstradition ergeben sich dabei besondere Affinitäten dieses Konzepts zu einer Kontrolle der Staatsgewalt durch die Gerichte, die hierzu allgemeine Gerechtigkeitsmaßstäbe entwickeln und damit spontane Formen von Verrechtlichung ohne Gesetzgebungsprozess ermöglichen. Wichtig ist auch, dass in dieser Verfassungstradition die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht bestenfalls eine geringe Rolle spielt.226 Parallelen hierzu finden sich im supra- und internationalrechtlichen Kontext, in dem der Begriff der Konstitutionalisierung die Verselbstständigung internationaler Regime von intergouvernementalem Handeln bezeichnet.227 Konstitutionalisierung lässt sich also als Phänomen des allmählichen Entstehens einer neuen Rechtsschicht verstehen: Als die zunächst unsortierte Verdichtung einer Rechtsmaterie, deren zunehmende Normenquantität schließlich auch die Entstehung verallgemeinerbarer normativer Strukturen – also von Rechtsgrundsätzen – ermöglicht, die durch ihre Allgemeinheit zumindest faktisch auch erschwert abänderbar sind.228 So entsteht eine spontane Binnenhierarchisierung des Rechts, die sich durch die Institutionalisierung rechtsprechender Instanzen verstärkt und beschleunigt, eine Form der Ver224
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Davon zu unterscheiden ist die Erhebung größerer Teile der Rechtsordnung in Verfassungsrang. Für das deutsche Recht nachgewiesen und analysiert bei G. F. Schuppert/C. Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000. Ähnlich wie hier: Craig (Fn. 208), S. 126 f. J. W. F. Allison, A Continental Distinction in the Common Law, 1997. Deutlich in der Diskussion zum Internationalen Wirtschaftsrecht, namentlich bei E.-U. Petersmann, Constitutional Functions and Constitutional Problems of International Economic Law, 1991; J. A. Frowein, Konstitutionalisierung des Völkerrechts, BerDGVR 39 (2000), S. 427 (428); vorsichtiger C. Walter, Constitutionalizing (Inter)national Governance, GYIL 44 (2001), S. 170 (192 ff.); mit Blick auf die UN eine kritische Bestandsaufnahme bei A. L. Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, 2001, S. 293; E. de Wet, The International Constitutional Order, ICLQ 55 (2006), S. 53; ein eigenes Konzept von internationaler Verfassung bei S. Langer, Grundlagen einer internationalen Wirtschaftsverfassung, 1995, S. 35 ff.; zur – dem hier verwendeten Begriff der Konstitutionalisierung entsprechenden – Verselbstständigung der Judikative gegenüber anderen Rechtserzeugungsfunktionen: C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 426 ff.; zutreffende Kritik an der inflationären Verwendung des Konstitutionalisierungsbegriffs bei R. Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: FS Brohm, 2002, S. 191. Diese wichtige Beobachtung bei Heintzen (Fn. 206), S. 36.
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dichtung des Rechtsstoffs, die traditionell für nationale Rechtsordnungen typischer war als für internationale.229 Ein derart weites Verständnis von Konstitutionalisierung ermöglicht es, mit dem Begriff auch privatrechtliche Phänomene zu erfassen – namentlich scheint die Entwicklung des Common Law in seiner Amalgamierung von Privatrecht und „verfassungsrechtlichen Sicherungen“ ein Konstitutionalisierungsphänomen darzustellen.230 Für die im Vergleich zu allen anderen überstaatlichen Gebilden einzigartig weit fortgeschrittene Konstitutionalisierung der Europäischen Union ist die zentrale Rolle subjektiver Rechte der entscheidende Faktor, der sich aus der direkten Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts231 ergibt, die für eine intensive Vergerichtlichung des Unionsrechts sorgt.232 Damit kann der Begriff der Konstitutionalisierung als ein Komplementärbegriff zur Figur der verfassunggebenden Gewalt gedeutet werden – die beiden oben vorgestellten Traditionen des Verfassungsbegriffs finden sich hier wieder: Wo die eine Tradition den demokratischpolitischen Geltungs- und Setzungsgrund der gesamten Rechtsordnung durch eine revolutionäre Diskontinuität unterstellt, und die Rechtsentwicklung im Übrigen vor allem bei der Legislative ansiedelt, bezeichnet der Begriff der Konstitutionalisierung mit der Komplementärtradition einen allmählichen und selbstbezüglichen233 Verrechtlichungsvorgang, der insbesondere durch die Gerichte, aber auch durch eine sich systematisierende Verwaltungspraxis und durch die rechtswissenschaftliche Dogmatik vorangetrieben wird. Solche evolutiven Konstitutionalisierungsprozesse sind für das Unionsrecht von großer praktischer Bedeutung. Zugleich geht das Unionsrecht, das zeigen schon die Diskussionen um die demokratische Legitimation einer Verfassung für die Union, potentiell über die Konstitutionalisierung hinaus. a) Gemeineuropäisches Verfassungsrecht – Prinzipienbildung Als ein Beispiel für einen Konstitutionalisierungsprozess im Unionsrecht kann die Diskussion um die Entstehung eines Gemeineuropäischen Verfassungsrechts dienen: Vor dem Hintergrund der in beide Richtungen verlaufenden Homogenisierungserfordernisse, Art. 6 Abs. 1 EU,234 Art. 23 Abs. 1 GG,235 könnten sich gemeinsame dogmatische Strukturen des Verfassungsrechts horizontal zwischen den Mitgliedstaaten untereinander oder vertikal zwischen ihnen und der Union ent-
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Weiler (Fn. 203), S. 9. Vgl. nur G. Teubner, Privatregimes: Neo-Spontanes Recht und duale Sozialverfassungen in der Weltgesellschaft?, in: FS Simitis, 2000, S. 437. Zu dieser Spezifik: Hartley (Fn. 177), S. 187 ff.; Ipsen (Fn. 202), S. 120 ff.; Weiler (Fn. 203), S. 19 f. Zu einer privatrechtlichen Deutung der Grundfreiheiten: J. Drexl, Wettbewerbsverfassung, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 747 (764 ff.). Im Sinne eines „Recht des Rechts“, nicht der Herrschaft: vgl. Hofmann (Fn. 71), S. 40 f. Vgl. Schorkopf (Fn. 200), S. 69 ff. Für andere Mitgliedstaaten die Darstellung bei Schorkopf (Fn. 200), S. 45 ff.; C. Grabenwarter, in diesem Band, S. 141 ff.
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wickeln lassen.236 Freilich wird man an der Anwendbarkeit der Figur des Gemeinen Rechts237 gerade auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Organisationsbestimmungen Zweifel anmelden müssen. Während sich in der Relation Bürger–Hoheitsträger vergleichbare Problemstrukturen innerhalb der Mitgliedstaaten und der Union ergeben, gilt dies für die Organisationsnormen weniger. Konkret: Während die Problemlösungsmöglichkeiten für den Vertrauensschutz238 oder die Verhältnismäßigkeit239 in einem Wechselspiel von Achtung und Rezeption der jeweils anderen Rechtsordnungen240 miteinander verfugt werden können, gilt dies weder für die Frage demokratischer Legitimation noch für die Gewaltenteilung respektive das institutionelle Gleichgewicht. Auch hier lassen sich zwar Vergleiche ziehen, aber potentielle Lösungen sind so stark vom jeweiligen Regelungskontext geprägt, dass sich eine eigene gemeineuropäische Dogmatik nur ergeben dürfte, wenn zuvor die gemeinsamen politischen Grundlagen der europäischen Verfassungstradition theoretisch angemessen aufgearbeitet würden.241 Die einfachsten Gemeinsamkeiten dürften sich für ungeschriebene Regeln der Rücksichtnahme in föderalen Rechtsbeziehungen ergeben, die manche Ähnlichkeiten mit der in Art. 10 EG verankerten Pflicht zur Unionstreue aufweisen.242 Hier werden aus dem Gedanken der Unionstreue243 verallgemeinerbare Regeln für das Verhalten der Gerichte,244 aber auch der anderen Hoheitsträger entstehen. b) Grundrechte-Charta Auch Einführung und mit dem Lissabonner Vertrag anvisiertes Wirksamwerden der Grundrechte-Charta245 gehören in den Kontext der Konstitutionalisierung und damit zur herrschaftsformenden Verfassungstradition. Die zunächst ohne eigenen demokratischen Akt proklamierte Charta soll das Handeln der Union weiteren rechtlichen Bindungen unterstellen, ohne komplementäre politische Verfahren zur Verfügung stellen zu können. Sie übereignet den weiteren Ausbau der Rechtsordnung damit institutionell der Gerichtsbarkeit und steht damit in der Kontinuität der
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Begrifflich grundlegend P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 (268 ff.); ders. (Fn. 84), S. 110 ff.; eine Ausdifferenzierung des Begriffs bei M. Heintzen, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht in der Europäischen Union, EuR 1997, S. 1 (4 f.). Dazu Häberle (Fn. 236), S. 268. T. Tridimas, The General Principles of EC Law, 1999, S. 89 ff. Vgl. die Beiträge in E. Ellis (Hrsg.), The Principle of Proportionality in the Laws of Europe, 1999. A. Schmitt Glaeser, Grundgesetz und Europarecht als Elemente europäischen Verfassungsrechts, 1996, S. 191 ff. Ein Versuch unter Einbeziehung der USA bei C. Möllers, Die drei Gewalten, 2008. Vergleichend: D. Halberstam, Of Power and Responsibility: the Political Morality of Federal Systems, Virginia Law Review 90 (2004), S. 731. M. Blanquet, L’article 5 du traité C.E.E., 1994; M. F. Commichau, Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, 1998. F. C. Mayer, in diesem Band, S. 596 f. Dazu U. Di Fabio, Eine europäische Charta, JZ 2000, S. 737; I. Pernice, Eine GrundrechteCharta für die Europäische Union, DVBl. 2000, S. 847.
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Entwicklung des Europarechts seit seinen Anfängen. Dies wirft die Frage auf, inwieweit eine weitere Ebene von Grundrechten dazu führen könnte, die Freiheitsgrade politischer Entscheidungen zu weit einzuschränken – und damit das Problem der Überkonstitutionalisierung zu schaffen, das aus der deutschen Rechtsordnung bekannt ist.246 Zwar erfüllt die Einführung der Charta auch eine symbolische Funktion, die an die revolutionäre Verfassungstradition anknüpft, in dem sie den bis dahin nur richterrechtlich gewährten europäischen Grundrechtsschutz verurkundlicht und dadurch für die Öffentlichkeit nachvollziehbar macht. Doch zeigt der Geltungsausschluss der Charta für Polen und das Vereinigte Königreich,247 wie lebendig intergouvernementale Politik im Herzen der Konstitutionalisierung wirkt. Verfassungstheoretisch gibt es Rechte nur als gleiche Rechte.248 Eine europäische Regelung, die einen Teil der Europäer ausschließt, gewährt niemandem Rechte, sondern nur manchen Privilegien. c) Administrative Konstitutionalisierung – Governance Versteht man unter Konstitutionalisierung spontane Formen der Verrechtlichung, die ohne vollständigen Zugriff eines demokratischen Gesetzgebers zu einer eigenständigen Systematisierung führen, so gerät neben den Gerichten auch die Verwaltung als Akteur in den Blick. Fällt es auch schwer in der undurchsichtigen Gemengelage von organisatorischer Selbständigkeit und materieller Kontrolle eine eigene „Europäische Verwaltung“ zwischen Unions- und mitgliedstaatlichen Organen zu identifizieren,249 so erscheinen systematische Strukturen dennoch erkennbar. Die Entwicklung eines Europäischen Verwaltungsrechts lässt sich dann als ein Konstitutionalisierungsphänomen verstehen.250 Auf einer ersten dogmatischen Erkenntnisebene können sich solche Strukturen aus Prinzipien des Verwaltungsvollzugs in einem induktiven Vergleich der mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtsordnungen ergeben.251 Aber auch das Handeln der vollziehenden Unionsorgane selbst kann eine eigenständige Systematisierung erfahren.252 Die Bedeutung dieser Konstitutionali246 247 248 249 250 251 252
Entsprechend der bei Schuppert/Bumke (Fn. 224) für Deutschland gestellten Diagnose. Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich. C. Menke/A. Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2007. E. Schmidt-Aßmann, Europäische Verwaltung zwischen Kooperation und Hierarchie, in: FS Steinberger, 2002, S. 1375 (1380 ff.). J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 1988; H.-W. Rengeling, Rechtsgrundsätze beim Verwaltungsvollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1977, S. 90 ff., 180 ff. E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2004, S. 385. M. Everson, The Constitutionalisation of European Administrative Law, in: C. Joerges/E. Vos (Hrsg.), European Committees, 1999, S. 281 (289 ff.); S. Kadelbach, European Administrative Law and the Law of a Europeanized Administration, in: C. Joerges/R. Dehousse (Hrsg.), Good Governance in Europe’s Integrated Markets, 2002, S. 167 (181 ff.); E. Schmidt-Aßmann, Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 5, Rn. 49 ff.
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sierungsschicht zeigen die Diskussionen um die Kodifikation des unionalen Verfahrensrechts,253 um die Legitimation der Komitologie,254 um infranationales Verwaltungshandeln,255 um ein Europäisches Allgemeines Verwaltungsrecht256 oder um Vertrauensstrukturen im Zulassungsrecht.257 In diesem Zusammenhang steht auch das Governance-Weißbuch der Kommission, das ganz ausdrücklich auf Grundlage des geltenden Vertrags argumentiert, also den Gesetzgeber der Union heraushält258 und die daran anschließende wissenschaftliche Diskussion um den Begriff „Governance“.259 Der Begriff schneidert supra- und internationalen Verwaltungsstrukturen eine eigene Legitimation zu, die sich nicht an egalitären politischen Prozessen, sondern an ihrem Beitrag zur technokratisch verstandenen „Verbesserung“ bestimmter Regulierungsstrukturen orientiert. Maßstab sind dabei Vergleichbarkeit ermöglichende Kennwerte für bestimmte administrative Leistungen, also ein quantifizierbarer Output, der hoheitliches Verwaltungshandeln allein institutionenökonomisch versteht. Gemessen wird freilich nicht die Leistung der sich auf Governance berufenden übernationalen Strukturen, sondern diejenige der mitgliedstaatlichen Verwaltungen. Zwar entsprechen nicht alle Konzepte einem lediglich expertokratischen Legitimationsmodell,260 doch ist die politische Umwelt der genannten Verwaltungsstrukturen jedenfalls nicht an eine allgemeine gleiche Beteiligungsmöglichkeit aller Bürger gekoppelt. Nicht zufällig steht diese Façette der Konstitutionalisierungsdiskussion, obwohl sie den Anspruch auf Neuheit pflegt, sehr deutlich in einer englischen Begriffs- und Theorietradition, die mit einem französischen Konzept gesetzesgebundener hierarchischer Verwaltung261 kritisch umgeht,262 und Konstitutionalisierung – dem Common Law nicht unähnlich – als einen spontanen gesamt-
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C. Harlow, Codification of the EC Administrative Procedures?, ELJ 2 (1996), S. 3. C. Joerges/J. Neyer, From Intergovernmental Bargaining to Deliberative Political Process: The Constitutionalisation of Comitology, ELJ 3 (1997), S. 273 (293 ff.). Weiler (Fn. 203), S. 96 ff., 283 ff. G. Biaggini, Theorie und Praxis des Verwaltungsrechts im Bundesstaat, 1996, S. 24 ff.; H. P. Nihl, Principles of Administrative Procedure in EC Law, 1999, S. 13 ff. H. C. Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht, 2000, S. 44 ff. Europäisches Regieren, KOM(2001) 428; dazu die kritischen Beiträge in: C. Joerges u.a. (Hrsg.), Mountain or Molehill?, 2002. Nachweise und Kritik bei C. Möllers, European Governance – Meaning and Value of a Concept, CMLRev. 43 (2006), S. 314. Dazu etwa Majone (Fn. 155). Dazu T. Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 111 ff. Dies entspricht implizit allen soeben zitierten Beiträgen; explizite Kritik bei C. Harlow, European Administrative Law, in: Craig/de Búrca (Fn. 210), S. 261 (264 ff.); L. Azoulay, The Judge and the Community’s Administrative Governance, in: Joerges/Dehousse (Fn. 309), S. 109 (133 f.).
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gesellschaftlichen Prozess versteht,263 der hier allerdings nicht auf private Koordination, sondern auf hoheitliches Handeln bezogen wird.264 Die beiden oben rekonstruierten Verfassungstraditionen lassen sich also auf zwei Möglichkeiten der europäischen Verwaltungsentwicklung abbilden. Auf der einen Seite steht ein plurales Konstitutionalisierungskonzept, auf der anderen Seite die Idee hierarchischer Gesetzesbindung in einer unitarischen Verwaltung. Bewegt sich die wissenschaftliche Diskussion eher in den Bahnen des ersten Modells, so spricht die Rechtsprechung des Gerichtshofs eher für das zweite unitarisierende Modell.265 Dabei besteht das Dilemma darin, dass der Garant der administrativen Einheit keine politisch verantwortliche Regierung ist, sondern eine nach wie vor mit einem technokratischen Selbstverständnis operierende Kommission.266 Damit stellen sich die Koordinaten der Diskussion um die administrative Konstitutionalisierung auf gemeinschaftlicher Ebene anders dar als in den Mitgliedstaaten. d) Zur Legitimation von evolutionären Konstitutionalisierungsprozessen Verrechtlichung ohne demokratische Politik: Die hier vorgestellten Formen der Konstitutionalisierung sind ohne Zweifel geeignet, die Legitimität des Unionsrechts zu erhöhen. Gemeinsam ist Ihnen, dass sie Rationalität, Systematik und Transparenz des Rechts durch Prinzipien- und Strukturbildung sowie durch die Institutionalisierung deliberativer Strukturen fördern. In einer institutionell und legitimatorisch zersplitterten Rechtsordnung wie derjenigen der EU sind solche Entwicklungen notwendig. Die Pluralisierung der Rechtsordnung erschwert eine hierarchische Konstruktion von Legitimationszusammenhängen, wie sie letztlich dem hier unter dem Stichwort der verfassunggebenden Gewalt des Volkes erörterten Verfassungsideal zugrunde liegt.267 Das Konstitutionalisierungskonzept entstammt einer Tradition, die durch die evolutive Entwicklung von Rechtsprinzipien anhand einzelner Problemkonstellationen eine große juristische Sensibilität aufweist. Genau aus diesem Grund ist aber auch zweifelhaft, inwieweit dieses Konzept geeignet ist, für Rechtsentwicklungen im Großen Legitimität in Anspruch zu nehmen. Die Gefahr, dass ein eingeschlagener Konstitutionalisierungspfad nur deswegen für legitim gehalten wird, weil er 263
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Vgl. insoweit beispielhaft nur J. Shaw, Postnational Constitutionalism in the European Union, Journal of European Public Policy 6 (1999), S. 579 (582 ff.), auf Grundlage einer (wohl nicht zwingenden) Rezeption von J. Tully, Strange Multiplicity, 1995. Vgl. zur Kritik an einer verdeckt zivilistisch arbeitenden Verfassungstheorie in der Debatte um die europäische „Governance“ knapp: C. Möllers, Transnational Governance without a Public Law?, in: C. Joerges u.a. (Hrsg.), Constitutionalism and Transnational Governance, 2002, S. 329. EuGH, Rs. 9/56, Meroni/Hohe Behörde, Slg. 1958, 11; vgl. auch EuG, verb. Rs. T-369/94 und T-85/95, DIR/Kommission, Slg. 1998, II-357, Rn. 52; ein ähnlicher Gegensatz zwischen einem unitarischem Verwaltungskonzept der Verfassungsrechtsprechung und einem pluralen der Verfassungsrechtswissenschaft findet sich auch in der deutschen Diskussion. Dies zeigt das Governance-Weißbuch deutlich: F. W. Scharpf, European Governance: Common Concerns vs. the Challenge of Diversity, in: Joerges u.a. (Fn. 258), S. 1. Vgl. oben, II. 1. a), und IV. 1.
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eingeschlagen wurde, ist hier besonders groß. Spontane Konstitutionalisierungsprozesse ohne zurechenbare politische Entscheidung machen aus der europäischen Rechtsentwicklung eine geradezu naturwüchsige „Evolution“268, also eine Entwicklung die weder grundsätzlich verändert noch demokratisch verantwortet werden kann. Hierin liegt die Gefahr eines Verfassungsbegriffs, der sich auf Konstitutionalisierung beschränkt.
V. Europäisches Verfassungsrecht als Rechtsgebiet Die Schwierigkeiten zu definieren, was Europäisches Verfassungsrecht sein könnte, sind auf den zweiten Blick weniger europaspezifisch als man vermuten mag. So ist es beispielsweise der deutschen Staatsrechtswissenschaft niemals gelungen, der ausdrücklich gepflegten Unterscheidung zwischen Verfassungsrecht und Staatsrecht eine konsistente Bedeutung zu verleihen.269 Zudem ist es in föderalen Gebilden nicht immer möglich, einen bestimmten Normbestand einer bestimmten Körperschaft eindeutig zuzuordnen.270 Dies gilt auch für die Europäische Union.271 Was ist gemeint, wenn von Verfassungsrecht die Rede ist? Auch wenn sich diese Frage für nationale Gebilde keineswegs eindeutig beantworten lässt, wirft die Bestimmung dieses Rechtsgebietes mit Blick auf die europäische Ebene zusätzliche Probleme auf. Dies liegt praktisch an der intensiven Verknüpfung von Primär- und Sekundärrecht im Prüfungsprogramm des EuGH und in der Verschmelzung von Unionsrecht und nationalem Recht, die sich gerade mit den Rechtswirkungen der Richtlinienform verbindet. Die Bestimmbarkeit von Europäischem Verfassungsrecht ist somit von ganz konkreten institutionellen Zusammenhängen abhängig. Dass trennscharfe Abgrenzungen zum nationalen Recht wie zum Sekundärrecht nicht immer möglich sind, sollte die Diskussion aber ebenso wenig wie im nationalen Recht davon abhalten, vom Rechtsgebiet „Europäisches Verfassungsrecht“ zu sprechen. Insoweit wird es in demjenigen Moment sinnvoll, von Verfassungsrecht zu sprechen, in dem ein übernationaler Regelungszusammenhang organisatorisch in die Lage versetzt wird, eine eigene Rechtserzeugung aufzunehmen, die über punktuelle Streitentscheidung hinausgeht. Tut er dies, so verbindet sich damit zugleich die verfassungstypische Unterscheidung zwischen verschiedenen normativen Rangstufen. Mit der Bezeichnung Europäisches Verfassungsrecht wird dann ein spezifisches Feld an rechtswissenschaftlichen Fragestellungen verknüpft, die sich aus der hier entwickelten dreigliedrigen Verfassungsbegrifflichkeit begründen lassen.272 268
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So der bezeichnende Titel des wichtigen Bandes Craig/de Búrca, The Evolution of EU Law (Fn. 210). Möllers (Fn. 57), S. 173 ff. m.w.N. Für den deutschen Bundesstaat: P. Lerche, Bundesverfassungsnormen mit landesverfassungsrechtlicher Qualität?, in: FS Zacher, 1998, S. 529 (530). Weiler (Fn. 203), S. 12 in Anm. 7. Auf Grundlage der Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsrecht, jedoch mit einem stärker staatszentrierten Konzept argumentiert auch P. Badura, Verfassung und Verfassungsrecht in Europa, AöR 131 (2006), S. 423.
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Hierzu gehört zunächst – getreu der herrschaftsbegründenden Verfassungstradition und der ihr zugehörigen Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes – die Rekonstruktion von demokratischen Legitimationsstrukturen des Unionsrechts. Die Frage der demokratischen Legitimation von Hoheitsträgern ist weder politischen Philosophen noch empirischen Sozialwissenschaftlern zu überlassen: Sie stellt ein genuin rechtswissenschaftliches Problem dar, insoweit das Konzept der Legitimation demokratietheoretische Argumente mit der Systematisierung und Auslegung des positiven Rechts verknüpft. Die Frage, wo sich auf der Ebene der Union politische Prozesse finden und auf wessen Mitbestimmungsrechte sich diese zurückführen lassen, steht im Zentrum eines Europäischen Verfassungsrechts. Das bedeutet, dass sich das Europäische Verfassungsrecht nicht allein auf gerichtsförmige Rechtserzeugung beschränken kann, sondern auch zu institutionellen Fragen mit wissenschaftlichen Mitteln offensiv Stellung zu nehmen hat. Zu einem europäischen Verfassungsrecht gehören weiterhin – getreu einem formellen Verfassungskonzept – alle Kollisionsbeziehungen zwischen dem vertraglichen Primärrecht und anderen unionalen und nationalen Rechtssätzen. Die Fragen nach der dogmatischen und der institutionellen Auflösung von Konflikten zwischen unionalem und mitgliedstaatlichem Recht273 und nach der maßstabbildenden Funktion des Primärrechts gegenüber dem Sekundärrecht stehen hier im Zentrum. Hieran lassen sich eine Fülle von Einzelproblemen andocken: beispielsweise die Delegationsstrukturen innerhalb des Gemeinschaftsrechts oder die verbandskompentenziellen Konsequenzen verschiedener Verständnisse unionaler Grundfreiheiten und Grundrechte. Zu einem europäischen Verfassungsrecht gehört schließlich – getreu der herrschaftsformenden Verfassungstradition und dem ihr zugehörigen Verständnis von Verfassung als evolutionärem Konstitutionalisierungsprozess – die Entwicklung eigenständiger Rechtsprinzipien für das Gemeinschaftsrecht, die sich aus der gerichtlichen und der administrativen Praxis ergeben. Die chaotische Unübersichtlichkeit des Sekundärrechts verlangt sowohl aus praktisch-systematischen als auch aus legitimatorischen Gründen nach einer Strukturbildung, die sich von den Einzelregelungen abhebt und die als Realisierung von Prinzipien erkannt werden kann. Mit Blick auf diese Bestimmung des Rechtsgebietes ist für die Funktion der Rechtswissenschaft in der europäischen Verfassungsdiskussion dreierlei zu bedenken: (1) Zunächst weisen die hier rekonstruierten Typen der Verfassung, herrschaftsbegründendes und herrschaftsformendes Verfassungsverständnis, der Rechtswissenschaft unterschiedliche Aufgaben zu: Während evolutionäre Konstitutionalisierungsprozesse durch Prinzipien- und Systembildung die Rechtswissenschaft zu einer wichtigen Rechtsquelle werden lassen, wird der Einfluss der Disziplin durch 273
Dazu C. U. Schmid, From Pont d’Avignon to Ponte Vecchio: The Resolution of Constitutional Conflicts between the European Union and the Member States through Principles of Public International Law, Yearbook of European Law 18 (1998), S. 415 (449 ff.); M. Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict, ELJ 11 (2005), S. 262.
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revolutionäre Ereignisse ebenso zurückgedrängt wie durch die Aktivität des demokratischen Gesetzgebers – ein methodisch zurückhaltendes „positivistisches“ Selbstverständnis der Rechtswissenschaft ist hierzu das methodische Korrelat. Dieser Zusammenhang erklärt die wieder wachsende Bedeutung rechtswissenschaftlicher Rechtserzeugung und rechtsphilosophisch inspirierter Argumente gerade in inter- und supranationalen Regelungszusammenhängen.274 Diese Affinität ist freilich nur eine andere Formulierung für ein Demokratiedefizit, fehlt es doch juristischer Expertise – wie jeder anderen auch – an einem Mandat zu legitimer Rechtserzeugung. Vor diesem Hintergrund muss sich die Rechtswissenschaft davor hüten, bestimmte Konzepte von Verfassung zu privilegieren, weil diese ihre eigene institutionelle Rolle stärken. Konkret bedeutet dies: Für das Problem der Kopplung von Politik und Recht auf der Ebene der Europäischen Union kann die verfassungstheoretische Empfehlung nicht einfach „Recht“ lauten. Vieles spricht vielmehr dafür, dass die Union an die „Grenzen informeller Verfassungsentwicklung“275 gestoßen ist, die sich vor allem als ein Verrechtlichungsphänomen ohne entsprechende politische Prozesse darstellen. (2) Neben der Gefahr einer Privilegierung bestimmter Konstitutionalisierungsformen stellt sich für die Rechtswissenschaft die Gefahr fehlender zeitlicher Distanz zum Projekt einer europäischen Verfassung. Diese ergibt sich namentlich aus den vergleichsweise häufigen und intensiven Eingriffen in das Primärrecht und aus der Vielzahl von offiziellen Vorschlägen für eine europäische Verfassung.276 Für die notwendig mit einer retrospektiven Perspektive versehene Rechtswissenschaft277 dürfte es von besonderer Dringlichkeit sein, innerhalb aktueller Entwicklungen grundsätzliche und längerfristig verlaufende Tendenzen zu rekonstruieren. (3) Schließlich leidet die verfassungstheoretische Diskussion ganz augenscheinlich unter einem verfassungspolitischen Distanzproblem: Der Begriff der Verfassung dient immer noch als eine Art Schibboleth,278 das die grundsätzliche Einstellung zur europäischen Verfassung bekenntnishaft zum Ausdruck bringen soll.279 Nun ist die Verschmelzung von Verfassungspolitik und Verfassungstheorie nichts Neues. Ein Blick in die Dogmengeschichte zeigt, dass gerade theoretisch bleibende Beiträge immer auch verfassungspolitisch Partei ergriffen. Doch darf sich diese Parteinahme, will sie einen theoretischen Eigenwert haben, auf der einen Seite nicht darauf beschränken, den Verfassungsbegriff zu tabuisieren, ihn aber andererseits
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Zu diesem Zusammenhang und zum Folgenden C. Möllers, Globalisierte Jurisprudenz: Einflüsse relativierter Nationalstaatlichkeit auf das Konzept des Rechts und die Funktion seiner Theorie, ARSP Beiheft Nr. 79 (2001), S. 41 (43 ff., 49 ff.). Formulierung bei Peters (Fn. 30), S. 478. Insbesondere Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments, ABl. 1984 C 77, S. 33 („Spinelli“); Verfassungsentwurf des Institutionellen Ausschusses des EP, ABl. 1994 C 61, S. 155 („Herman“). Vgl. oben Fn. 5. Buch der Richter 12,6. v. Bogdandy (Fn. 201), S. 14.
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auch nicht bis zur vollständigen status-quo-Gefügigkeit dehnen.280 Unvermeidlich zehrt jede Verwendung des Verfassungsbegriffs auf der europäischen Ebene von dem ihm in der Geschichte der Nationalstaaten einbeschriebenen Pathos.281 Die Frage, inwieweit dieses Pathos verdient ist und sein kann, bedarf daher immer wieder verfassungstheoretischer Vergewisserung.282
VI. Politische Grenzen der semantischen Verfassung Der politische Prozess zwischen dem Beginn des Verfassungskonvents, den Referenden in Frankreich und den Niederlanden, die jedenfalls das semantische Projekt des „Verfassungs“-Vertrages beendeten und dem im Moment durch das irische Referendum bedrohten Vertrag von Lissabon lädt dazu ein, die hier entwickelten Kategorien anzuwenden und noch einmal zu überdenken. Dies soll mit Blick auf die Konvents-Methode als einem möglichen Paradigma europäischer Verfassunggebung (1.), auf die Suche nach politischen Zäsuren in diesem Prozess (2.) und schließlich auf die Bedeutung des europäischen Verfassungsnominalismus (3.) geschehen.283 1. Deliberativer Konvent und intergouvernementale Methode Die Idee eines Konvents, die nunmehr auch Eingang in den Reformvertrag von Lissabon gefunden hat, Art. 48 Abs. 3 EUV-Liss., soll weiterhin die Vertragsetzung aus den Blockaden der intergouvernementalen Politik befreien. Man könnte von einer Konstitutionalisierung der Verfassunggebung sprechen, die aber ihrerseits sowohl das Ergebnis intergouvernementaler Politik darstellt als auch in einen intergouvernementalen Beschluss mündet. Parlamente werden in den Prozess „einbezogen“284, aber „Einbeziehung“ ist eigentlich nicht das, wofür die demokratische Legitimation von Parlamenten gemacht ist285 – und umgekehrt sollte sich der politische Moment der Verfassunggebung eigentlich einer Vorabregelung entziehen, um zu funktionieren zu können. Die Widersprüche zwischen rationaler Deliberation und voluntaristischer Demokratie, die im Begriff der deliberativen Demokratie ger280
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Zum durchaus eigenartigen Selbstverständnis der Europarechtswissenschaft als Legitimationsbeschaffer des Verfassungsvertragsprojekts die Kritik bei M. Heinig, Europäisches Verfassungsrecht ohne Verfassung(svertrag)?, JZ 2007, S. 905. U. Haltern, in diesem Band, S. 291 ff.; H. J. Lietzmann, Europäische Verfassungspolitik, in: H. Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, 2002, S. 291. Vgl. etwa die Kritik an der Grundrechte-Charta bei M. Nettesheim, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, integration 25 (2002), S. 35 (38 ff.). Eine vorzügliche Analyse der Ereignisse bei G. de Búrca, The EU on the Road From the Constitutional Treaty to the Lisbon Treaty, Jean Monnet Working Paper 3/2008, unter www.jeanmonnetprogram.org. S. Hölscheidt, Europäischer Konvent, Europäische Verfassung, nationale Parlamente, JöR n.F. 53 (2004), S. 429. Mit guten Gründen relativierend aber: A. v. Bogdandy, Parlamentarismus in Europa: eine Verfalls- oder Erfolgsgeschichte?, AöR 130 (2005), S. 445.
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ne versteckt werden, kommen hier zum Vorschein, denn über ein eindeutiges demokratisches Mandat verfügen soweit nur die nationalen Regierungen, denen es aber gerade deswegen an der Fähigkeit zur Deliberation mangelt. Umgekehrt formuliert, misstrauen die einzig unzweifelhaft demokratischen Akteure ihrer eigenen demokratischen Legitimation. Der Versuch, den Verfassungskonvent als ein Gespräch Europas mit seinen Bürgern zu inszenieren, als ein wirklich öffentliches Ereignis, darf als gescheitert gelten – ein solches Gespräch über Europa begann, wenn überhaupt, erst mit den nationalen Referenden. Wenn man den Grad der Konstitutionalisierung Europas am Maß der Überwindung von Intergouvermentalität misst, bleibt der Befund bescheiden. Der Hinweis, demokratische Legitimation sei ohnehin oftmals nur „fiktional“286, hat den normativen Charakter demokratischer Legitimation dagegen erst gar nicht verstanden. Demokratie ist ein Verfahren der Selbstverpflichtung unter Bedingungen der Gleichheit, kein empirisches Phänomen. 2. Politische Zäsuren Hannah Arendts berühmte Konzeption politischer Handlung als Neuanfang oder Zäsur287 wird in den Mühen des inkrementalen Integrationsprozesses häufig vermisst. Funktionierende Demokratien schaffen sich solche Momente selbst, indem sie Wahlen organisieren. Dies gelingt der Europäischen Union noch nicht, sie wartet auf andere Ereignisse. Doch solche constitutional moments scheinen der Integration zu fehlen. Umgekehrt gehört es zu den irritierenden Besonderheiten der europäischen Integration, dass sie auch ohne solche Momente ihr Gesicht in dem Vierteljahrhundert seit der Einheitlichen Europäischen Akte dramatisch verändert hat. Eine wohlwollende Interpretation könnte festhalten: Während demokratische Nationalstaaten politische Wechsel inszenieren, ohne sich zu verändern, ist es bei der europäischen Integration umgekehrt. Wenn europäische politische Momente in Erscheinung treten, so in nationalen Zusammenhängen, die freilich – und das ist neu und von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit – eine europäische Bedeutung bekommen, indem sie in ganz Europa als relevantes Ereignis wahrgenommen werden. Dies gilt für das Attentat in Madrid im Jahr 2004, in dessen Gefolge der Verfassungsprozess erst wieder in Gang kam, wie für die Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005, die ebendiesen aufhielten. Europäische demokratische Politik in diesem emphatischen Sinn ist bis auf Weiteres nationale Politik von europäischer Bedeutung.288 Dabei verkennt der Vorwurf gegen die Referenden, diese seien im Grunde gar nicht mit Europa, sondern nur mit der jeweiligen Innenpolitik beschäftigt, den Charakter europäischer Politik grundlegend. Wie in anderen föderalen Ordnungen auch sorgt die institutionelle Verflechtung auch hier für eine Vermischung der demokratischen Meinungs286 287 288
Petersen (Fn. 127), S. 452 m.w.N. H. Arendt, Was ist Politik?, in: dies., Was ist Politik?, 1993, S. 48 ff. Zur Komplexität europäischer „Identität“ auch M. R. Lepsius, The Ability of a European Constitution to Forge a European Identity, in: H.-J. Blanke/S. Mangiameli (Hrsg.), Governing Europe Under a Constitution, 2006, S. 23 (33 f.).
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bildung. Europäische Politik ist immer auch nationale Politik und eine nationale Meinungsbildung über Europa kann nicht scheiden, was die institutionelle Ordnung verbunden hat. Die Beispiele zeigen auch, wie verstörend solche emphatische Politik sein kann und – per definitionem – wie irrational: Sit pro ratione voluntas. Die Sehnsucht nach einem legitimatorischen Urknall für die europäische Integration sollte daher aufgegeben werden, ohne den demokratischen Impetus dieser Sehnsucht zu vergessen. 3. Verfassungsnominalismus Der Verfassungsvertragsentwurf verband eine üppige konstitutionelle Symbolik mit einer Regelungstechnik, die man durchaus als Täuschung, jedenfalls als semantische Verfassung im Sinne Loewensteins verstehen kann.289 Denn während der Erste Teil allgemeine Regeln und Begriffe definierte, zeigte sich im Dritten Teil wiederum das bekannte byzantinische Geflecht an Spezialregelungen für jeden Politikbereich, das so gar nicht dem Idealbild einer allgemeinen Verfassung entspricht. Mit einem solchen Text wurde ein konstitutionelles Versprechen also zugleich gegeben und gebrochen. Der Lissabonner Vertrag folgt in seiner Form dem bestehenden zweigeteilten Modell, auch wenn er inhaltlich fast alle Bestimmungen des in den Referenden abgelehnten Verfassungsvertrags enthält. Wie ist dies zu beurteilen? Man mag in der inhaltlichen Wiederauflage des Vertrags nichts weniger als einen politischen Betrug namentlich an der demokratischen Mehrheit der Franzosen und Niederländer sehen, die gegen den Verfassungsvertrag stimmten, und voraussichtlich keine Gelegenheit mehr bekommen werden, sich unmittelbar gegen eine fast identische Regelung zu wenden. Dies setzt freilich voraus, dass die Ablehnung sich maßgeblich gegen den Inhalt der Verträge richtete. Unzulässig erscheint es, die Referenden als innenpolitisches Phänomen abzutun. Demokratische Antworten umzubiegen, sollte autoritären Ordnungen vorbehalten werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der dies teilweise geschah sagt viel über das Politikverständnis von Teilen der Europapolitik und des Europarechts. Das bedeutet, dass das Scheitern in den Referenden Folgen haben musste, aber die hat es gerade im Verzicht auf den Verfassungsbegriff auch gehabt. So lässt sich das Scheitern des Verfassungsvertrags als Verfassungsvertrag, als Scheitern eines politischen Anspruchs verstehen, den Europa an sich selbst erhob. Niemand war gegen eine institutionelle Reform, aber viele gegen die Überbewertung dieser Form durch den Begriff der Verfassung.290 Es geht also nicht darum, ob der erreichte Zustand der Integration „wirklich“ schon den Verfassungsbegriff nahelegt. Diese Frage verfehlt schlicht die Normativität des Konzepts. Es geht vielmehr darum, ob sich die Europäer jenseits bestehender Strukturen in einem emphatischen Sinn als politische Gemeinschaft 289 290
Loewenstein (Fn. 1), S. 153 ff.; differenzierte Kritik bei G. Lübbe-Wolff, Die „Verfassung für Europa“ – ein Etikettenschwindel, in: FS Otte, 2005, S. 195 (198 ff.). J. H. H. Weiler, Editorial: Marking the Anniversary of the Universal Declaration; The Irish No and the Lisbon Treaty, EJIL 19 (2008), S. 647 (650, 652).
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verstehen wollen. Aus dieser Sicht muss die kommende Version des Reformvertrags dann nicht wie ein Betrug an den Bürgern verstanden werden, die etwas bekommen haben, was sie nicht wollten, sondern als die Form unprätentiöser Fortschreibung des europäischen Projekts, die sich von Ansprüchen fernhält, die sie nicht zu erfüllen vermag. Wenn und nur wenn der Wunsch nach einer demokratischen Verfassung auch in demokratischer Form geäußert wird, erfüllt er sich sogleich von selbst. Sollte sich dagegen im Prozess der europäischen Integration etwas völlig Neues entwickeln, wie es ja in der Diskussion gerne angedeutet wird, dann erschiene es wohl auch angemessen, dieses Neue, mit einem neuen Begriff zu belegen – und damit auf die alte Verfassungssemantik zu verzichten.
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I.
Konjunkturen der Finalität Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Notwendigkeit der Vergewisserung über europäische Finalität . . . . . . . . . . 2. Verunsicherungen über den Gegenstand „Europa“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Heteronomie als Lösung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Reformwille vs. Soziales Legitimationsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sich kreuzende Finalitäts- und Identitätsdiskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Diskursgemengelage in der europäischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der rechtswissenschaftliche Bezugsrahmen: Macht, Recht, Kultur und das Politische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Beitrag des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Ansatz einer Kulturtheorie des Rechts: Von Funktion und Fortschritt zu Bedeutungen des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Imaginäre von Macht und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Souveränität als Kern des Imaginären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die europäische Suche nach dem Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Post-Souveränität und Recht: Umrisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Liquidierung von Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Europarecht als post-souveränes Speichermedium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Post-Post-Souveränität (1): Politische Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Post-Post-Souveränität (2): Politisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Finalität, Identität, Post-Souveränität: Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Konjunkturen der Finalität Europas Die rasanten Entwicklungen seit der ersten Auflage machen eine vollständige Neuformulierung dieses Beitrags notwendig. Um das weite Feld der Finalität der Europäischen Union handhabbar zu machen, gehe ich zunächst auf Vergewisserungen und Unsicherheiten der Finalität sowie auf die sich hierauf beziehenden, sich kreuzenden Diskurse ein (I.). Danach erarbeite ich die Rolle des Rechts und der Rechtswissenschaft in dieser Frage; zu diesem Zweck entwickele ich einen kulturtheoretischen Ansatz, der das Imaginäre als Schlüssel zum Verständnis ins Zentrum stellt (II.). Anschließend beziehe ich die Ergebnisse auf Europas Suche nach dem Politischen und analysiere das Spannungsverhältnis von Souveränität und PostSouveränität (III.). Hieraus ergeben sich Schlussfolgerungen und Optionen (IV.).
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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1. Die Notwendigkeit der Vergewisserung über europäische Finalität Aus juristischer Perspektive über die Finalität Europas sprechen zu wollen ist heikel. Die Zukunft als Möglichkeitsraum gestaltender Handlung zu begreifen gelingt der Politik und ihrer Wissenschaft. Das Recht aber knüpft an Quellen an, die in der Vergangenheit einer gegebenen Normengemeinschaft Autorität besitzen, und verlängert deren Sinn in die Zukunft. Zukunft in der Grammatik des Rechts ist der Raum für die Kontinuierung einer bereits bestehenden Ordnung; der Schwerpunkt liegt mithin auf der Bewahrung bereits etablierten politischen Sinns. Es ist daher nicht überraschend, dass die entscheidenden Anstöße zur Finalität Europas zunächst aus dem Lager der Politik gekommen sind.1 Rechtswissenschaft aber ist eine Wissenschaft, die an der Praxis als Prolog, Voraussetzung, Kritik und Reflexion teilnimmt; Reformvorschläge sind als angemessenes Ziel rechtswissenschaftlicher Tätigkeit akzeptiert.2 Die Reformbedürftigkeit der Europäischen Union wurde spätestens in Folge der Einheitlichen Europäischen Akte, der (Wieder-)Einführung des Mehrheitsprinzips im Rat und der empfindlichen Störung des Gleichgewichts zwischen intergouvernementaler Normsetzung und supranationaler Normbindung offenkundig.3 Die Mitgliedstaaten sahen sich nun zum ersten Mal mit der Möglichkeit konfrontiert, durch Vorschriften gebunden zu sein, die ganz oder teilweise gegen ihren Willen zustande gekommen sind, die innerhalb ihrer Rechtsordnungen unmittelbar anwendbar sind und im Klagewege durchgesetzt werden können. Aufgrund des zentripetalen Kompetenzdrifts geschah dies in sich ausweitenden Sektoren, für die die Gemeinschaft keine ausdrückliche Einzelermächtigung besaß. Damit stellte sich nun nicht mehr nur die Frage nach der Legitimität gubernativer Rechtsetzung, sondern auch diejenige nach der Legitimität des europäischen Rechtsetzungsprozesses insgesamt: Warum sollte sich ein Mitgliedstaat an Normen festhalten lassen müssen, die in jenem Mitgliedstaat niemand wollte und ihm durch eine Koalition „fremder“ Staaten „aufgezwungen“ wurde? Ist das Mehrheitsprinzip Teil eines europäischen demokratischen Prozesses, und kann man den national imprägnierten Demokratiebegriff überhaupt auf Gemeinschaftsprozesse übertragen? Gibt es ein europäisches Volk, dessen Vertreter in Brüssel und Straßburg legitimerweise Recht für alle setzen? Diese Fragen setzen einen Demokratiediskurs in Gang, der eng mit Fragen der Legitimität verwoben ist und sich schnell erweitert zu einem Diskurs, der Antworten auf die Frage sucht, wer „wir“ in Europa sind. Diese Frage unterscheidet sich von der bisher gestellten und einigermaßen zufriedenstellend beantworteten Frage, was wir in Europa tun sollen: Es geht nun auch um europäische Identität. Mit der Einheitlichen Euro1
2 3
Zur Reform der EU als Gegenstand „visionärer Reden“ vor der Konstituierung des Europäischen Konvents statt vieler A. Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, 2005, S. 203 ff. Dass dies nicht unproblematisch ist, zeigt P. W. Kahn, The Cultural Study of Law, 1999, S. 7 ff. J. H. H. Weiler, The Transformation of Europe, Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 (2410 ff.); U. Haltern, Europarecht: Dogmatik im Kontext, 2007, Rn. 91.
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päischen Akte hat sich die Gemeinschaft auf einen Weg begeben, der nach europäischer Selbstvergewisserung verlangt. 2. Verunsicherungen über den Gegenstand „Europa“ Diesem Verlangen nach Selbstvergewisserung stehen freilich zahlreiche Selbstverunsicherungen gegenüber. Worüber sprechen wir, wenn wir über Europa sprechen? Sogar Grundkategorien wie Raum (Territorium) und Zeit (Geschichte) sind undeutlich definiert und in einem komplexen Querstand befangen. Geographisch ist weder nach Osten noch nach Süden die Grenze Europas klar gezogen. Die Ostgrenze ist nicht natürlich, sondern von politischen Gegebenheiten abhängig; sie hat sich seit der Öffnung Russlands durch Peter den Großen zunächst vom Don zur Wolga verschoben, während die Grenzverschiebung im Kalten Krieg in umgekehrter Richtung verlief. Auch nach Süden ist die Grenze wenig eindeutig, wie das von Präsident Sarkozy angestoßene Projekt der Mittelmeerunion gezeigt hat. Das Mittelmeer war eher ein Bindeglied als eine Grenze, wie bereits aus dem Begriff „mediterran“ (mittelländisch) hervorgeht, welcher für Nord- und Südküste des Mittelmeeres gleichermaßen gilt. Erst die Entkolonialisierung schuf eine Grenzmarke zwischen Nordafrika und Südeuropa.4 Ohnehin können territoriale Verortungen des notorisch schemenhaften und flüchtigen Europabegriffs wenig Objektives zutage fördern, da sie nicht geographische Entdeckungen, sondern politische und kulturelle Willensakte sind, die darüber hinaus häufig der Aus- und Abgrenzung dienen.5 Auch die Vergangenheit ist, wie der Raum, ein soziales Konstrukt. Zwar wird historisches Erbe gern bemüht, um emblematische Raumidentitäten und politische Ideologien zu formen; die Vergangenheit nimmt dabei häufig die Form einer chronologischen, modernen Progression an, in der lineare Erzählungen das Vergangene mit dem Gegenwärtigen verbinden. Doch verdanken sich diese Beschreibungen starker Filterung, die dazu dienen, den zeitgenössischen Zustand zu legitimieren. Die Wahrnehmung der Vergangenheit hängt dabei weniger von Fakten und Ereignissen als vielmehr von selektiven Interpretationen ab, mit denen jene überzogen werden. Die Vergangenheit wird daher nicht in der Vergangenheit konstruiert, sondern im Kontext der Gegenwart; die Bedeutungen, die an Ereignisse geknüpft werden, entstammen der zeitgenössischen Wahrnehmung und sind aufschlussreicher im Hinblick auf die Gegenwart als auf die Vergangenheit. Hierin liegt auch begründet, warum Interpretationen der Vergangenheit flüchtige, im Übergang befindliche soziale Konstruktionen sind. Zugleich knüp4
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Damit entfällt erstens die Überzeugungskraft eines Verweises auf die Antike als Quelle europäischer Identitätsstiftung: Die Antike war „mittelmeerisch“ und band Asien, Afrika und Europa zu einer Einheit zusammen; dies kann man an ungezählten Stellen, etwa der Odyssee oder der Aeneis, nachlesen. Zweitens überzeugt neben dem griechisch-römischen Bezug auch der jüdisch-christliche Bezug geographisch nicht: Heilsgeographisch liegt Jerusalem dort, wo alle drei Kontinente zusammenstoßen. Vgl. H. Münkler, Die politische Idee Europa, in: M. Delgado/M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), Herausforderung Europa, 1995, S. 9. Zum Gebrauch kultureller und visueller Plausibilisierungen von Grenzen zur Herstellung politischer Loyalität vgl. M. Wintle, What’s in a Continent? The Borders of Europe Before and After 1990, in: H. Huget u.a. (Hrsg.), Grenzüberschreitungen, 2005, S. 173.
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fen aber ganz unterschiedliche Ansprüche und Erzählungen an sie an. Daher nimmt die Vergangenheit eine mehrbödige Natur an. So ist wenig überraschend, dass völlig unklar ist, wo zur Konstruktion Europas zeitlich anzuknüpfen ist. Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass sich die Erzählungen von europäischer Zeit und europäischem Raum überlappen, schneiden, widersprechen, reflexiv aufeinander beziehen und aneinander teilhaben. Es entsteht ein Netzwerk von Bedeutungen, das sich weder überschauen noch entwirren lässt. Europa ist ein Wald von Ideen, Symbolen und Mythen; es ist ein Spiegel, der eine Vielzahl von Konzepten und Bedeutungen reflektiert, statt, wie ein Prisma, die Köpfe und Herzen der Menschen um ein einziges Thema herum zu versammeln.6 3. Heteronomie als Lösung? Hinzu kommt, dass es „schwierig ist, Europa von Europa aus zu erfassen“7: Europa scheint dort „am prägnantesten entwickelt, wo es nicht aus sich selbst, sondern im Gegensatz zu etwas anderem bestimmt wird.“8 Aber auch heteronome Integration kann keine Gewissheit verschaffen: Zum einen sind Exklusionen immer die Kehrseite von Inklusionen und ist eine Sicherheit der Abgrenzung nur durch eine Sicherheit dessen, was eingegrenzt sein soll, herzustellen; zum anderen sind die Beziehungen Europas „nach außen“ zu vielgestaltig, um klare Antworten zu ermöglichen. Was ist Europa im Verhältnis zum Islam mit Echos der Opposition von Orient und Okzident;9 zu den Vereinigten Staaten von Amerika mit Echos der Konkurrenz zwischen der amerikanischen und der französischen Revolution, der Amerika-Reisen von de Tocqueville, Lenau, Weber und anderen, des Amerikanismus-Diskurses der 1920er Jahre und den Nachwirkungen in den aktuellen Diskussionen;10 zu Russland mit Echos der Nähebeziehung im 19. Jahrhundert und den Wortmeldungen etwa von Herzen, Dostojewski, Leontjew sowie der sowjetischen Konkurrenz zum Westen und den nationalistischen Stimmen im postsozialistischen Russland; zu den sog. „Wilden“ der Kolonialisierung mit Echos der Essays Montaignes, Rousseaus zweiten Discours oder Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen; zu China mit Echos des frühneuzeitlichen Wettbewerbs um die „Mitte der Welt“?11 Wie wenig eindeutig heteronome Integrationsversuche sind, lässt sich an der Diskussion über einen möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ablesen; sie ist die Folie, vor der die Identitätssuche abläuft. Handelt es sich bei einem Beitritt um eine Identitätserweiterung oder einen Identitätsbruch? Endet Europa geographisch an der Grenze zum Irak? Ist Europa das Erbe des christlichen Abend6 7 8 9 10 11
P. van Ham, European Integration and the Postmodern Condition, 2001, S. 58. E. Morin, Europa denken, 1988, S. 25. H. Münkler, Reich – Nation – Europa, 1996, S. 116. Die „orientalische Frage“ ist längst wieder aufgebrochen, vgl. nur E. Said, Orientalism, 1978, und I. Buruma/A. Margalit, Occidentalism, 2004. Nachw. bei D. Thomä, Philosophische Spiegelungen Europas, in: F. Jaeger/H. Joas (Hrsg.), Europa im Spiegel der Kulturwissenschaften, 2008, S. 299 (318). Ebd.
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lands? Verschärft werden diese Fragen durch die Dringlichkeit, mit der erstens der „Kampf der Kulturen“ (Gegenmodell: Brücke Orient-Okzident), zweitens der politische Islam (Gegenmodell: Versöhnung von Islam und Demokratie), drittens die großen wirtschaftlichen Anpassungskosten (Gegenmodell: Dynamik der Wirtschaftsunion) und viertens das geostrategische Sicherheitsrisiko (Gegenmodell: Pazifizierung der Region) diskutiert werden.12 Dass Juristen Anschluss an diese Diskurse suchen und finden, ist wenig überraschend. Erstens erlaubt der Zuschnitt der Zukunfts- und Identitätsdiskussion als „Verfassungsdiskussion“ dem Recht, Anschlüsse an disziplinfremde Debatten herzustellen und diese operationalisierbar zu machen. In den Fragen, ob die Union eine Verfassung hat oder braucht, ob der Vertrag über eine Verfassung für Europa gelungen und warum er gescheitert ist, kristallisieren sich Fragen nach der Identität der Union, der Mitgliedstaaten und der Bürger, nach dem Wesen von Supranationalität, nach der Gestalt und der Finalität der Union, nach sozialer Konstruktion und politischer Imagination, nach Fremdheit und Zugehörigkeit, Homogenität und Multikulturalismus, nach Lokalisation und Globalisierung, nach Politik, Markt und Kultur. Zweitens schwelen in der Union Probleme, deren Lösung nach strukturellen und institutionellen Lösungen verlangt. Hierzu zählen etwa das viel diskutierte Demokratiedefizit, das sich aus einer Vielzahl von Einzelproblemen zusammensetzt;13 der scheinbar unaufhaltsame Kompetenzdrift von den Mitgliedstaaten zur Union, der unter den Bedingungen der unmittelbaren Anwendbarkeit und des Vorrangs erwartbare Befürchtungen auslöst, die nationalen Rechtsordnungen könnten ausgehöhlt, ja die Mitgliedstaaten könnten ihrer Staatlichkeit beraubt werden;14 und die Entscheidungs-, Verhandlungs- und Koordinierungsschwierigkeiten in europäischen Institutionen, die auf weniger als 27 Mitgliedstaaten zugeschnitten waren und nach den Erweiterungen dysfunktionale Züge annehmen. Zu einem guten Teil sind dies Probleme, deren Lösung in reformierendem institution-building zu suchen ist. Juristen, deren Denken institutionell geschult ist, können hier ihre Expertise einbringen, dadurch Einfluss auf die Identifizierung und Definition der Probleme nehmen und inhaltlich an die vorgenannten multidisziplinären Diskurse anknüpfen. 4. Reformwille vs. Soziales Legitimationsdefizit Der rechtswissenschaftliche Reformwille gerät dabei in einen Querstand mit der mangelhaften sozialen Legitimation der europäischen Integration. Dies war nirgends besser zu beobachten als im Augenblick des Scheiterns des Verfassungsvertrages. Nachdem der Konvent seine Arbeiten abgeschlossen hatte, einigten sich die Mitgliedstaaten im Juni 2004 auf den Text und unterzeichneten ihn im Oktober 12
13 14
Statt vieler: A. Giannakopoulos/K. Maras (Hrsg.), Die Türkei-Debatte in Europa, 2005; H. König, Gehört die Türkei zu Europa?, 2005; B. Küçük, Die Türkei und das andere Europa, 2008; C. Leggewie (Hrsg.), Die Türkei und Europa: Die Positionen, 2004; A. Wimmel, Transnationale Diskurse in Europa, 2006. Überblick m.w.N. bei Haltern (Fn. 3), Rn. 259 ff. Überblick in diesem Band bei M. Nettesheim, S. 397 ff.
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2004 in einer feierlichen, symbolbeladenen Zeremonie in der Sala degli Oriazi e Curiazi des Konservatorenpalastes mit Blick auf den Kapitolsplatz in Rom, in der bereits 1957 die Römischen Verträge unterzeichnet worden waren. 18 Mitgliedstaaten ratifizierten den Verfassungsvertrag, davon zwei – Spanien und Luxemburg – im Wege der Volksabstimmung.15 Die Bürger Frankreichs und der Niederlande jedoch lehnten in Referenden mit hoher Wahlbeteiligung die Annahme des Verfassungsvertrages am 29. Mai und am 1. Juni 2005 nach lebhaften Debatten mit großer Mehrheit ab. Sechs der sieben verbleibenden Mitgliedstaaten (Dänemark, Irland, Polen, Portugal, die Tschechische Republik und das Vereinigte Königreich) hatten gleichfalls Referenden angesetzt; in allen außer Portugal war ein negatives Ergebnis nicht unwahrscheinlich. Repräsentative Umfragen in den Mitgliedstaaten, in denen der parlamentarische Ratifikationsprozess ohne Probleme verlaufen war, ergaben das gleiche Resultat. Die schockierte und konfuse Reaktion der politischen Entscheidungsträger auf die Referenden verwundert umso mehr, als der Mangel sozialer Legitimation längst bekannt war. Seit den frühen 1970er Jahren haben immer neue EurobarometerUmfragen in halbjährigen Abständen das immer gleiche Ergebnis erbracht: Die Bürger der Union sehen die Zukunft eher pessimistisch und rechnen der EU nur negative, nie positive Effekte zu. Das Wissen um die Union ist erschreckend gering.16 In Beantwortung der Standardfrage, ob man eine Mitgliedschaft des eigenen Landes in der Gemeinschaft oder Union für gut oder schlecht halte, zeigt sich eine tiefe Skepsis der Bürger. Von 1991 bis 1996 fiel die Unterstützung der europäischen Integration in der Bevölkerung, die sich bis dahin am Wirtschaftswachstum ausgerichtet hatte und diesem weitgehend gefolgt war, dramatisch und dümpelt seither recht stabil um die 50 %-Marke herum. Die Hälfte der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten ist damit gegen die Mitgliedschaft ihres Staates in der Union oder verhält sich dahingehend gleichgültig.17 Der Bruch in den frühen 1990er Jahren in Gestalt der Abkoppelung von den wirtschaftlichen Daten erklärt sich aus der zunehmenden Kenntnis darüber, dass es sich bei der Gemeinschaft um mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft handelte. Die Bürger machen sich seither ein eigenes Bild von den Vor- und Nachteilen der Integration. Bereits im Ratifikationsprozess des Maastricht-Vertrages wurde die zunehmende Opposition bemerkbar, als die dänische Bevölkerung im Juni 1992 den Vertrag ablehnte, die französische Bevölkerung ihn im September 1992 nur hauchdünn passieren ließ, der britischen Regie15
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In Luxemburg wurde das Referendum am 10.7.2005, also nach den Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden, durchgeführt und führte unter dem Eindruck der Rücktrittsdrohung des populären und europa-erfahrenen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker zur Annahme des Vertrages. Eindrucksvolles Beispiel: OPTEM, Wahrnehmung der Europäischen Union: Einstellungen und Erwartungen – Qualitative Untersuchung über die öffentliche Meinung in den 15 Mitgliedstaaten und 9 Kandidatenländern (Zusammenfassung), Juni 2001, veröffentlicht unter http://ec.europa.eu/public_opinion/quali/ql_perceptions_summary_de.pdf (20.01.2009). Daten und Analyse etwa bei S. Hix, What’s Wrong With the European Union and How to Fix It, 2008, S. 50 ff.
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rung im House of Commons eine Abfuhr erteilt wurde und das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit zu urteilen hatte. Ergänzt wird dieses Bild durch die Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Seit den ersten direkten Wahlen 1979 ist die Beteiligung kontinuierlich und deutlich zurückgegangen und lag zuletzt durchschnittlich (also Länder mit Wahlpflicht wie Belgien und Luxemburg eingerechnet) bei 45,5 %. Analysen der Wahlen bis zum Jahr 2004 kommen zum Ergebnis, dass zwar die europäische awareness gewachsen ist, die Europaskepsis aber ebenfalls zugenommen hat.18 Hinzu kommt, dass sogar während der Phase, in der der Entwurf des Verfassungsvertrags erarbeitet wurde, die Diskussion der Frage europäischer Identität in den Medien ernüchternd ausfiel.19 5. Sich kreuzende Finalitäts- und Identitätsdiskurse Die Diskrepanz zwischen Reformwillen und sozialem Legitimationsmangel ließ sich nach den Abstimmungen in Frankreich, den Niederlanden und Irland nicht länger ignorieren. Anders als noch zum Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Auflage dieses Buches ist sie – insbesondere durch die Notwendigkeit strategischen Entscheidens über das weitere Vorgehen – ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und hat zu einer lebhaften und niveauvollen Debatte geführt. Die idealtypischen, häufig variierten und differenzierten Diametralpositionen dieser Debatte lassen sich als sich kreuzende Diskurse beschreiben, die empirisch und analytisch aus unterschiedlichen Ressourcen schöpfen und normativ ganz andere Richtungen vorgeben. Auf der einen Seite steht ein Fortschrittsdiskurs der integrationspolitischen Notwendigkeit, der in einer sich schnellstmöglich erweiternden und zugleich vertiefenden Union – von der verstärkten Zusammenarbeit über die politische Gemeinschaft bis hin zum Verfassungsvertrag und zur Europäischen Föderation im Wege eines bewussten Neugründungsaktes Europas – die Vollendung einer historischen Vision sieht.20 Seine Flugbahn ist stets ähnlich, doch sind die Vektoren, die die Richtung anzeigen, mannigfaltig; sie entstammen der politischen (Friedensideal), wirtschaftlichen (Prosperität durch Binnenmarkt), historischen (Lehren aus der Geschichte), moralischen (Solidargemeinschaft der Bürger) oder juristischen (Rechtsauftrag „immer engerer Zusammenschluss der europäischen Völker“) Arena und lassen kaum Raum für Alternativen (Bewältigung zunehmend transnationaler Probleme nur durch zunehmend transnationale Integration). Übergangslos weitet sich dieser Diskurs zum „europäischen Traum“ (Rifkin) einer globalen Rechtsgemeinschaft, in der die Differenzen kultureller, wirtschaftlicher oder politischer Natur durch einen Konstitutionalisierungsprozess auf globaler Ebene überbrückt werden, in der sich die 18
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Etwa P. Manow, Politik unter den Bedingungen der Europäisierung: Reagieren Europas Wähler auf den nationalstaatlichen Grenzverlust?, in: M. Stolleis/W. Streeck (Hrsg.), Aktuelle Fragen zu politischer und rechtlicher Steuerung im Kontext der Globalisierung, 2007, S. 97 ff. Analysen bei R. Vetters, Konvent + Verfassung = Öffentlichkeit?, 2008, S. 227 ff. Etwa J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation, 2000.
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Menschen „politisch und rechtlich als Weltbürger definieren“ und in der den staatlichen Organen aufgetragen ist, „einen solchen weltumfassenden contrat social zu verhandeln und vorzubereiten“.21 Auf der anderen Seite steht ein euroskeptischer Diskurs, in dessen Zentrum eine Betonung des Lokalen, eine in vielen Formulierungen immer wiederkehrende Begrenzung der Integrationstugenden (in moralischer, wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Hinsicht) und eine Beschränkungssemantik mit anschließender Warnung steht. Dieser nicht nur an den Rändern des politischen Spektrums gepflegte Diskurs führt gegenüber dem Fortschrittsdiskurs überall eine Dichotomie ein, indem er ein Spannungsfeld von Vor- und Nachteil oder von Tugend und Gefahr aufmacht. Den Prosperitätsgewinnen eines Binnenmarktes stehen schmerzhafte Anpassungsprozesse und „Globalisierungsverlierer“ gegenüber; der Solidargemeinschaft steht eine überspannte Tugendzumutung gegenüber; der Utopie einer Rechtsgemeinschaft steht die Betonung des Nichtrechtlichen gegenüber, das sich insbesondere aus Divergenzen (unterschiedlichen Interessen, Kulturen, Sprachen, Vorverständnissen usw.) speist. Dadurch geraten Topoi an die Oberfläche, die in der individuellen Entscheidungsmacht des Privaten versunken waren und nun wieder dem Rampenlicht des Öffentlichen ausgesetzt sind, wie etwa die Religion oder auch die „Heimat“,22 die dem europäischen Nomadentum, der Migration und der Wanderschaft entgegengehalten wird. Einer gemeinsamen europäischen Identität – sei diese durch Werte, Interessen, Kultur, geteilte Geschichte usw. vermittelt – werden nationale Erinnerungen entgegengestellt, die sich als kollektiver Gedächtnishaushalt einer enger umgrenzten politischen Gemeinschaft anders auf die Vergangenheit beziehen als die Geschichtsschreibung.23 Auch die Metaphern unterscheiden sich: statt vorwärts stürmen soll man innehalten; statt reformieren konsolidieren; statt handeln nachdenken; statt entscheiden diskutieren. Dieser Diskurs betont häufig das Organische, Natürliche, Gewachsene, Unbewegliche und Erdige gegenüber dem Geschaffenen, dem Projekt, dem Beweglichen, dem Liquiden.24 Dadurch ist der Eindruck häufig der eines konservativen und kulturkritischen 21 22
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Zitate bei I. Pernice, Zur Finalität Europas, in: G. F. Schuppert/I. Pernice/U. Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 743 (785). Zuletzt nur K. Kufeld (Hrsg.), Europa – Mythos und Heimat, 2006; G. Gebhard u.a. (Hrsg.), Heimat: Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, 2007; zuvor scharfe Diagnose bei M. Hecht, Das Verschwinden der Heimat, 2000; aus der Philosophie etwa K. Joisten, Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, 2003. Dazu nur H. König u.a. (Hrsg.), Europas Gedächtnis, 2008. In diesem Zusammenhang gewinnen auch die oben als wenig anschlussfähig gekennzeichneten Kategorien von Raum und Zeit eine neue, beharrende Dimension. Vgl. etwa A. Muschg, Das Andere Europas, in: K. Kufeld (Hrsg.), Europa – Wandel durch Kultur, 2008, S. 32 (36, Hervorh. i.O.): „Mit dem, was mir Europa bedeutet, verbinde ich eine Kultur der Verortung, und das Bewusstsein dafür, dass wir unsere Erfahrungen nicht einfach machen: sie müssen sich zeitigen, und sie zeitigen uns. Das europäische Subjekt, das ich meine, ist kein hors-sol-Produkt; Europa mag nach Ort und Zeit nicht ausreichend zu definieren sein: ohne Ort und Zeit gar nicht. Diese Rückbindung an seine Quelle, die Herkunft, ohne die es keine Zukunft hat, wäre lateinisch als re-ligio zu übersetzen. Es muss an Europa etwas geben, was Europäern heilig ist.“
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Diskurses, der nicht auf Funktion, sondern auf Substanz, nicht auf Zwecke, sondern auf Werte, nicht auf Gestaltung, sondern auf Schicksal, und nicht auf Netze, sondern auf die Dichotomien Oberfläche/Tiefe oder dünn/dicht setzt. Es ist freilich nicht so, als müsse der euroskeptische Diskurs auf funktionale Argumente verzichten. Aus politikwissenschaftlicher Sicht mag man etwa darauf verweisen, dass das Projekt einer europaweiten Demokratie aus mehreren Gründen problematisch ist. Nationale Demokratien konnten auf einer Reihe von stützenden Elementen aufruhen. Darunter sind erstens häufig Verfassungsurkunden, deren erschwerte rechtliche Veränderbarkeit zu einem sakrosankten Ansehen in der Öffentlichkeit geführt haben; zweitens eine politische Exekutive, die für das Staatsgebiet mit dem Gewaltmonopol ausgestattet war; drittens stabile territoriale Grenzen; viertens eine durch Inklusions- und Exklusionsmechanismen strukturierte Bevölkerung, die sich mit dem Staat identifiziert; fünftens eine Vielzahl ausschließlicher Kompetenzen und eine Kompetenz-Kompetenz; und sechstens körperschaftliche Untereinheiten, die über vergleichsweise ähnlichen Einfluss und ähnliche Repräsentation verfügen.25 Natürlich besitzen nicht alle Staaten alle genannten Merkmale. Das Argument besteht jedoch darin, dass dann, wenn kein einziges dieser Merkmale vorhanden ist, ein funktionierendes, demokratisches, europaweites Gemeinwesen vor Schwierigkeiten steht, und dies allein deshalb, weil es sich von der Integrationserfahrung der Nationalstaaten so fundamental unterscheidet. Beide Diskurse speisen sich aus Erfahrungen der Praxis. Der Diskurs notwendig fortschreitender Integration ist informiert durch Strukturen, die von der politikwissenschaftlichen Policy-Forschung unter den Begriff der Governance subsumiert werden und die Ko-Produktion gesellschaftlicher Ordnung (im Sinne oder anstelle von Staatlichkeit) durch eine Akteursmehrheit meinen. Gespiegelt wird v.a. die Erfahrung von Prozessen der Grenzveränderung, etwa zwischen national und international, privat und öffentlich, formal und informal, zentral und peripher oder innen und außen. Die wachsende Interdependenz, das Netzwerkartige, die Transformationen und Öffnungen des Nationalstaats,26 die Aufgabe des staatlichen Monopols auf Gewährung von physischer Sicherheit, Rechtssicherheit, demokratischer Selbstbestimmung und sozialer Wohlfahrt27 sowie die Bildung globaler Formationen (wie IWF oder WTO) und partikularer Assemblagen – also hoch spezialisierter Formationen, die auf bestimmte Nützlichkeitserwägungen und bestimmte Ziele ausgerichtet sind28 – führen zu dem Bedürfnis, die in Regelungsstrukturen institutionalisierten Modi sozialer Handlungskoordination jenseits historisch gewachsener oder kulturell determinierter Ausprägungen zu beschreiben.29 Diese Beschreibungen 25 26 27 28 29
P. Schmitter, Making Sense of the EU: Democracy in Europe and Europe’s Democratization, Journal of Democracy 14 (2003), S. 71 (75 ff.). S. Leibfried/M. Zürn (Hrsg.), Transformationen des Staates?, 2006; R. Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003. A. Hurrelmann u.a. (Hrsg.), Zerfasert der Nationalstaat?, 2008. S. Sassen, Das Paradox des Nationalen, 2008, S. 674 f. S. De La Rosa/M. Kötter, Governance(-forschung) im Kontext der Disziplinen, in: S. De La Rosa u.a. (Hrsg.), Transdisziplinäre Governanceforschung, 2008, S. 11 (13).
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spiegeln sich zunehmend in der Rechtswissenschaft wider, sowohl im theoretischen Zugang (unter Begriffen wie Heterarchie, Polyzentrismus, Interlegalität und Regime-Vernetzung30) als auch in den Subdisziplinen, etwa im Verwaltungsrecht31 oder im Zivilrecht.32 Der Diskurs skeptischen Innehaltens speist sich aus der Erfahrung der oben beschriebenen Verweigerungshaltung der Bürger Europas gegenüber „ihrer“ Union. Die Spannungsfelder, die dieser Diskurs formuliert und von denen gerade die Rede war, lassen sich auch darauf zurückführen, dass das Angebot der Union an die Bürger aus sich heraus janusköpfig ist und zu Ambivalenzen führen muss. Unionsbürgerschaft, Personenverkehrsfreiheiten, Dienstleistungsfreiheit und die Begleitrechte Reise, Aufenthalt und Verbleib, untermauert durch zunehmend soziale Rechte, sind sowohl Versprechen als auch Schrecken. Grenzöffnung und Entgrenzung sind zwei Seiten derselben Medaille; Wanderschaft heißt nicht nur anzukommen, sondern auch zu verlassen. Der Gewinn neuer, fremder Kulturhaftigkeit beinhaltet zugleich den Verlust des bekannten, beruhigenden Partikularismus; mit der Aufnahme neuen kulturellen Wissens gehen zugleich alte Gewissheiten und Identitäten verloren. Die Union hat sich von einer Antwort auf die Nachkriegsängste zu einem Auslöser von Modernitäts- und Postmodernitätsängsten gewandelt.33 6. Diskursgemengelage in der europäischen Praxis In der Praxis der neueren europäischen Reformversuche herrscht Konsens wohl nur hinsichtlich der Tatsache, dass sich die individuelle Identität der Bürger Europas nicht in einer Marktbürgerschaft erschöpfen soll. Hinter diesem bereits in den frühen 1960er Jahren auftauchenden Begriff34 schien ein „funktionalistisch reduziertes Personenkonzept“ und die Instrumentalisierung des Einzelnen als Träger ökonomischer Grundfreiheiten zu stehen.35 Die Kritik am homo oeconomicus trug in ihrem Kern vor, dass die Deutung des Menschen als Konsumenten und Produzenten oder Arbeiter seinen Wert als Individuum sowie die Wichtigkeit des politischen Prozesses zu wenig beachtet. Zudem schien das Leitbild eines egoistischen, nur auf sein eigenes Wohl bedachten Marktbürgers einem Zugehörigkeitsgefühl im Wege zu stehen, denn der Konsumbürger kann die Regeln des Gemeinschaftsrechts ledig-
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A. Fischer-Lescano/G. Teubner, Regime-Kollisionen, 2006. Z.B. C. Möllers/A. Voßkuhle/C. Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007; E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund, 2005; T. v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008. Vgl. nur die von J. Basedow, U. Blaurock, A. Flessner, R. Schulze, G. Wagner und R. Zimmermann herausgegebene Zeitschrift für europäisches Privatrecht (ZeuP). J. H. H. Weiler, Europa am Fin de Siècle, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 112 (1993), S. 437; U. Haltern, Europäischer Kulturkampf, Der Staat 37 (1998), S. 591 (611 f.). H. P. Ipsen/G. Nicolaysen, Haager Kongress für Europarecht und Bericht über die aktuelle Entwicklung des Gemeinschaftsrechts, NJW 1964, S. 339 (340, Fn. 2). J. Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation, 1998, S. 91 (142).
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lich als rational actor zur Beförderung seines eigenen Vorteils verstehen.36 Dementsprechend groß ist das Unverständnis, wenn vereinzelt Regierungen der Mitgliedstaaten von der Union als einer „Freihandelszone“ sprechen. Darüber hinausgehend findet sich in den Dokumenten aber eine zunächst verwirrende Gemengelage der beschriebenen Diskurse, die zu eklatanten Widersprüchen sogar innerhalb eines Textes führen kann. Das Paradebeispiel hierfür ist die Präambel des Entwurfs des Verfassungsvertrags in der Form, in der dieser vom Europäischen Konvent angenommen und dem Präsidenten des Europäischen Rates am 18. Juli 2003 überreicht wurde.37 Es hatte den Anschein, als sei mit dem Verfassungsvertrag die Zukunft Europas angebrochen. Schenkte man der Präambel Glauben, war Europa nun „in Vielfalt geeint“, womit sich ein Raum eröffnete, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann, in dem sie die alten Trennungen überwinden und ihr Schicksal gemeinsam gestalten können werden. Europa wollte weiter voranschreiten auf dem Weg des sozialen Fortschritts und Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in die Welt hineintragen. Die Zukunft, über die der Konventsentwurf sprach, war ein Horizont der guten Möglichkeiten und Absichten. Diese Elemente sind aus dem Diskurs fortschreitender Integration wohlbekannt. Zugleich behauptete die Präambel Kontinuität. Die historische Flugbahn, an deren Ende das damalige Dokument stand, war ein großer Bogen, der von der Antike bis ins 21. Jahrhundert reichte. Das zeitumspannende Projekt, das sich in der europäischen Integration verwirklichte, wurde von der Präambel prominent in den Blick gerückt. Neben dem erstaunlichen Thukydides-Zitat sprach der Text sogleich im ersten Absatz von „Urzeiten“, immer neuen Besiedelungsschüben und vom „Laufe der Jahrhunderte“. Als „Träger der Zivilisation“ war Europa ein altes und ehrwürdiges Gebilde, das, so der zweite Absatz, „aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen“ schöpfte und auf eine Vielzahl von Werten „in seinem Erbe“ verweisen konnte. Die Union speiste sich keineswegs aus dem unbedingten Friedenswillen nach dem traumatischen Zweiten Weltkrieg, sondern schlug einen Bogen, dessen Enden kaum sichtbar waren. In der Vergangenheit reichte er in nebelhafte „Urzeiten“ und Besiedelungsschübe zurück, in der Zukunft griff er vor auf eine Zeit, in der sich die Hoffnungen der Menschheit entfalten können und Werte wie Frieden, Wohlstand, Kultur, Wissen, sozialer Fortschritt, Gleichheit, Freiheit, Geltung der Vernunft und das Wohl aller Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, verwirklicht werden sollten. Die Enden der Parabel tendierten ins Unendliche. Hier sind Elemente eines pointierten Fortschrittsdiskurses ebenso wie Elemente eines auf kulturelle Werte, Verortung und Kontinuität gerichteten Diskurses auffindbar.
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Etwa M. Everson, The Legacy of the Market Citizen, in: J. Shaw/G. More (Hrsg.), New Legal Dynamics of European Union, 1995, S. 73 (85 ff.); D. Kostakopoulou, The Future Governance of Citizenship, 2008. CONV 850/03, unter http://european-convention.eu.int.
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Diese Diskurse wurden gleichzeitig und widersprüchlich genutzt. Europa wollte zugleich „voranschreiten“ und doch „bleiben“; es wollte „gestalten“ und doch „bewahren“; es wollte „dieses große Abenteuer fortsetzen“ und sprach doch vom „Schicksal“. Hier zeigten sich Unvereinbarkeiten, die sich bestätigten, wenn einerseits von einem „nunmehr geeinten Europa“ die Rede war, andererseits aber vom Entschluss der Völker Europas, „immer enger vereint“ sein zu wollen. Dass der Konvent über diese Unvereinbarkeiten hinwegsah, lässt sich nur mit der großen Ambition erklären, die tatsächlich alles wollte: Globalisierung und Lokalisierung, Entwicklung und Bewahrung, Reform und Konsolidierung, Funktion und Substanz, Wanderschaft und Heimat, historische Neugründung und Erinnerung. Nun müssen Dichotomien nicht starre und unveränderliche Unvereinbarkeiten bleiben, sondern können nonlineare und kreative Hybride ergeben.38 Dass dies in der Präambel misslingt, ist wohl auf die Finalitätsverwirrung des Konvents ebenso wie auf die unterschiedlichen Interessen und Vorverständnisse der handelnden Akteure zurückzuführen.39 Der Bruch, der nach der misslungenen Berliner Erklärung40 und dem endgültigen Scheitern des Verfassungsvertrages in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 21./22. Juni 2007 in Brüssel und im Mandat für die Regierungskonferenz des Rates der Europäischen Union vom 26. Juni 2007 sichtbar wird, könnte deutlicher nicht sein. Danach will Europa dreierlei: Effizienz, demokratische Legitimität und Kohärenz des auswärtigen Handelns. Dies sind die Ziele, die im Mandat gleich zu Anfang (I. 1.) genannt werden.41 Auch die Schlussfolgerungen selbst sprechen eine andere Sprache als die damalige Präambel.42 Von einem Raum der Hoffnung für die Menschheit ist keine Rede mehr; es geht nun darum, „dass wir in der Welt von morgen nur dann unsere Interessen und Ziele vertreten können, wenn wir zusammenarbeiten.“ Herausgestellt werden – als Beispiele für diese Zusammenarbeit – die folgenden Errungenschaften: „die Roaming-Verordnung, durch die die Kosten für moderne Kommunikation in Europa gesenkt werden, die Schaffung des Europäischen Zahlungsverkehrsraums, der das Reisen und das Zusammenleben in der EU leichter macht, und die ständige Verbesserung der Verbraucherrechte, die den Bürgern überall in der EU die gleichen hohen Standards garantieren.“ Statt ein globales Sendungsbewusstsein auf der Basis einer vorgestellten, über Jahrtausende reichende Geschichtsteleologie zur Schau zu stellen, setzt die Union nun auf ihr eigenes Interesse. Wollte man überspitzt formulieren, könnte 38 39 40 41 42
Vgl. etwa M. Kröncke u.a. (Hrsg.), Kultureller Umbau: Räume, Identitäten und Re/Präsentationen, 2007. Zu letzteren etwa J. Gerhards unter Mitarbeit von M. Hölscher, Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union, 2006. Vom 23.3.2007, unter www.eu2007.de/de/News/download_docs/Maerz/0324-RAA/German.pdf (1.12.2008). Mandat für die Regierungskonferenz 2007, Dok. 11218/07, unter http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/07/st11/st11218.de07.pdf (1.12.2008). Europäischer Rat vom 21./22. Juni 2007, Dok. 1177/1/07 REV1, unter http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/94935.pdf (1.12.2008).
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man schlussfolgern, dass die Unionsbürger statt eines Gemeinwesens, das sich als Träger der Zivilisation versteht, heute billige Handy-Gebühren bekommen. Dass dies die Finalität der Union bei weitem nicht ausschöpft, ist selbstverständlich und wird durch den Vertrag von Lissabon offenkundig. Die Werte der Union (Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit von Frauen und Männern) finden sich prominent in Art. 2 EUV-Liss., die Fundamentalprinzipien finden sich in Art. 6 EUVLiss. und sind mit dem Sanktionsmechanismus des Art. 7 EUV-Liss. unterfüttert. Daneben setzt der Vertrag in Art. 4 EUV-Liss. voraus, dass die rechtliche und administrative Entscheidungsmacht in erster Linie bei den Mitgliedstaaten angesiedelt ist; diese stehen im Zentrum, während die Union ihre nationale Identität achtet. Zudem verpflichtet sich die Union detailliert dem Demokratieprinzip und achtet sowohl repräsentative (Art. 10 Abs. 1 EUV-Liss.) als auch partizipative (Art. 10 Abs. 3 EUV-Liss.) Formen der Demokratie. Dies ist gleichwohl eine dezidiert andere Sprache als die verfassungsrechtliche Hybris des Verfassungsvertrages. Es geht nach Form und Inhalt nicht mehr in erster Linie um die Errichtung eines europaübergreifenden demokratischen Gemeinwesens, sondern um den Schutz der Demokratie in Europa – ein Ziel, das die Mitgliedstaaten zentral stellt und (neben der Errichtung verbesserter demokratischer Prozesse auf Unionsebene) der Verzerrung mitgliedstaatlicher demokratischer Prozesse43 abhelfen will.44 Zudem stellt das Mandat für die Regierungskonferenz lakonisch fest: „Das Verfassungskonzept, das darin bestand, alle bestehenden Verträge aufzuheben und durch einen einheitlichen Text mit der Bezeichnung ‚Verfassung‘ zu ersetzen, wird aufgegeben.“ Bereits die Bezeichnung des „Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ ist ein vielsagender Zeuge von der neuen Nüchternheit, die dem Pathos des gescheiterten Versuchs einer Verfassunggebung gefolgt ist. Für die Diskussion der Finalität Europas ist dies nicht ohne Belang.
II. Der rechtswissenschaftliche Bezugsrahmen: Macht, Recht, Kultur und das Politische 1. Der Beitrag des Rechts Es ist kein Zufall, dass die Finalitätsfrage in der Debatte über eine europäische Verfassunggebung kondensierte. Der Verfassungsbegriff verkoppelt die Politik strukturell mit dem Recht. Ob der Verlust des Verfassungsbegriffs in der Form, in der er theoretisch und praktisch figurierte, ein Nachteil ist, ist eine offene Frage. Eine Ant43 44
Vgl. hierzu etwa Haltern (Fn. 3), Rn. 266 ff. Dazu, dass der Weg hierzu aber zweifelhaft ist, vgl. D. Chalmers/G. Monti, European Union Law: Updating Supplement, 2008, S. 14 f., und allgemein R. Bellamy, The European Constitution is Dead – Long Live European Constitutionalism, Constellations 13 (2006), S. 181 (186 f.).
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wort setzt voraus, den Kontext dieses Verlusts zu kennen. Hierzu gibt es mehr zu sagen, als lediglich einen Verweis auf die Referenden in Frankreich und den Niederlanden anzubringen. Die Europäische Union ist auf der Suche nach einer eigenen politischen Imagination.45 Diese Imagination baut auch auf dem Recht auf. Die EU hat ihren Anfang in einer Rechtsgemeinschaft genommen46 und wird nach wie vor als solche charakterisiert.47 Sie konnte sich zunächst im Wesentlichen nur auf ihr Recht verlassen; auf die vielfältigen kulturellen Ressourcen, die lange Geschichte und die Erinnerungen, die dem Nationalstaat zur Verfügung stehen, konnte sie nicht zugreifen. Versuche der politischen Organe, das kulturelle Kapital des Staates für die Union nutzbar zu machen, haben bislang nur geringe Erfolge erzielt. Der Einsatz kultureller Artefakte und an den Nationalstaat angelehnter Symbole hinterlässt den Eindruck von Künstlichkeit. War die Instrumentalisierung des Rechts im Hinblick auf die Herstellung eines Gemeinsamen Marktes zwar schwierig, aber in der Rückschau erfolgreich, geht es nun um die Frage europäischer Identität. Die Instrumentalisierung des Rechts wird hier zu einem Problem. Das Recht hat darauf zunächst durch einen Grundrechtsdiskurs reagiert, der eine ethische Grundierung der Gemeinschaft versprach, und diesen um die Dimension der Unionsbürgerschaft erweitert. Die Grundrechtecharta, die Einführung der Unionsbürgerschaft im MaastrichtVertrag und der Versuch, eine geschriebene Verfassung zu schaffen, legen Zeugnis von der prominenten Rolle ab, die das Recht für die Herausbildung einer europäischen Identität spielen soll. Eine Antwort auf die Frage, wer wir als Europäer sind, konnten sie jedoch nicht geben. So betrachtet hat Recht viel mit sozialer Legitimation zu tun. Es ist denkbar, dass das Defizit sozialer Legitimation der Union damit zusammenhängt, dass es dem Gemeinschaftsrecht nicht gelungen ist, die Bürger Europas in ausreichendem Maße um das Integrationsprojekt zu versammeln und einen nichtstaatlich definierten Kern von Gemeinsamem plausibel zu machen. Die Vorstellung der Bürger vom Politischen und von sich selbst ist noch immer an nationalen Grenzen ausgerichtet, auch wenn der wirtschaftliche Blick längst darüber hinausgeht. Diese Vorstellungen sind durch lange Erfahrungen entstanden, können sich aber durch neue Erfahrungen ändern. Auch politische Identität wird in Prozessen, Diskursen und politischer Praxis konstruiert. Nicht allein die Fakten entscheiden darüber, wie wir uns wahrnehmen, sondern die Bedeutungen, die wir diesen Fakten zuschreiben. Das soziale Legitimationsdefizit der Union ist ein Defizit der Bedeutungszuschreibung.
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J. P. Olsen, Europe in Search of a Political Order, 2007; I. Ward, Beyond Constitutionalism, ELJ 7 (2001), S. 24; U. Haltern, Europarecht und das Politische, 2005. W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 1973, S. 53: „Nicht Gewalt, nicht Unterwerfung ist als Mittel eingesetzt, sondern eine geistige, eine kulturelle Kraft: das Recht. Die Majestät des Rechts soll schaffen, was Blut und Eisen in Jahrhunderten nicht vermochten.“ Aus der Rechtsprechung statt vieler: EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi u.a./ Rat und Kommission, Slg. 2008, I-0000, Rn. 281; aus der Literatur statt vieler F. C. Mayer, Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Fn. 21), S. 429.
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Recht ist eine Praxis der Bedeutungszuschreibung: Recht formt und strukturiert unsere Vorstellung, noch bevor es Institutionen formt und strukturiert.48 Damit könnte es im Gemeinschaftsrecht begründet liegen, dass politische Bedeutungen in Europa andere Formen annehmen als im Nationalstaat. Tatsächlich könnte Gemeinschaftsrecht imaginativ etwas anderes sein als nationales Recht. Der Zuschnitt europäischer Bedeutungen, die eng mit der Frage der Finalität verschränkt sind und vor denen eine auf politischer Identität aufruhende Vergemeinschaftung versagt, ist damit ein genuines Thema der Rechtswissenschaft. 2. Der Ansatz einer Kulturtheorie des Rechts: Von Funktion und Fortschritt zu Bedeutungen des Politischen Die Bedeutungen des Rechts, die auf gespeicherten sozialen Sinn verweisen und diesen immer wieder neu und differenziert erzeugen, sind nicht mit Hilfe rein funktionalistischer, historischer oder institutioneller Ansätze in der Rechtswissenschaft auszuloten. Die instrumentelle Funktion von Verfassungen (etwa Konstituierung von Herrschaft, Begrenzung von Herrschaft, Stabilisierung des politischen Gemeinwesens, Entlastung des politischen Prozesses von bestimmten Grundentscheidungen, soziale Regulierung) wird von der europäischen Rechtsordnung im Wesentlichen erfüllt. Dass hier gegenüber nationalstaatlichen Verfassungen einige Abstriche zu machen sind, liegt auf der Hand; insbesondere fehlt es der Union an der Kompetenz, über ihre eigenen Grundlagen, das primäre Gemeinschaftsrecht, selbst zu entscheiden; auch vor dem Gewaltmonopol hat die Vergemeinschaftung Halt gemacht.49 Dies erscheint mir nicht uninteressant, aber auch nicht entscheidend. Dass Europa insbesondere aufgrund der supranationalen Rechtsdurchsetzungsrechtsprechung des EuGH konstitutionalisiert ist, ist in Theorie und Praxis längst akzeptiert.50 Der Ansatz, der hier verfolgt wird, nimmt einen Perspektivwechsel vor, indem er sich den Bedeutungen zuwendet, die das Recht dem Politischen zuschreibt.51 Recht ist also eine Imaginationsform, deren Macht nicht in objektivierbaren Fakten, sondern in der Möglichkeit liegt, die auf die Bedeutungen des Politischen bezogene Imagination zu stabilisieren. Es bietet sich daher eine Betrachtung an, die Recht als 48 49 50
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Kahn (Fn. 2). D. Grimm, Das staatliche Gewaltmonopol, in: W. Heitmeyer/J. Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, 2002, S. 1297 (1309 f.). Statt vieler J. H. H. Weiler, European Neo-constitutionalism, Political Studies 44 (1996), S. 517; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001; der EuGH spricht spätestens seit Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23, von den Verträgen als „Verfassungsurkunde“. Trotz der zutreffenden Relativierung des Begriffs charte constitutionnelle, die in der französischen Verfassungsgeschichte gerade keine Verfassung, sondern ein Minus ist, bei C. Möllers, in diesem Band, S. 257, dürfte die Konstitutionalisierung als solche außer Zweifel stehen. Ich habe diesen Ansatz im Überblick skizziert in U. Haltern, Notwendigkeit und Umrisse einer Kulturtheorie des Rechts, in: H. Dreier/E. Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, ARSP Beiheft Nr. 113 (2008), S. 193.
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symbolische Form begreift. An Cassirer angelehnt ist Rechtswissenschaft insofern „nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse, [sondern] … eine Form der Selbsterkenntnis“.52 Niemand lebt hinter einem Schleier des Nichtwissens als ausfüllungsbedürftiger Platzhalter, sondern man registriert sich selbst zunächst als Bürger – auch Rechtsbürger – eines bestimmten Gemeinwesens. Neben anderem konstituiert das Recht die Erfahrung des Selbst und des Anderen. Es ist auch Teil des kulturellen Bedeutungs- und Symbolgewebes, in das der Mensch verstrickt ist, und damit bereits integraler Bestandteil dessen, was es regelt. Recht beeinflusst nicht von außen, sondern ist Teil des Selbstverständnisses. Wir beginnen uns zu sehen, wie das Recht uns sieht, indem wir an der Konstruktion von Bedeutungen teilnehmen, die das Recht vornimmt. Die Repräsentationen des Rechts werden so internalisiert, dass man eigene Ziele und Einsichten nicht länger von denen des Rechts isolieren kann. Dementsprechend konzentriert sich dieser Ansatz auf die Untersuchung von Recht als imaginiertes Bedeutungssystem, das sich in Symbolen materialisiert. Im Hinblick auf den normativen Status dieses Ansatzes ist selbstverständlich, dass derjenige, der über die Tiefenstruktur einer Imagination spricht, diese nicht notwendigerweise für erstrebenswert erachtet. Der Versuch, die Herkunft und die Konstellationen unserer Glaubenssysteme – auch des Rechts – zu verstehen, ist etwas anderes, als die Voraussetzungen philosophisch zu befragen, unter denen Herrschaft legitim ist. Letzteres ist ein Projekt politischer Rechtfertigung und damit Teil normativer politischer Theorie; ersteres hingegen nicht.53 Die Bedeutungszuschreibung, die das Recht dem Politischen angedeihen lässt, ist längst erkannt worden, nimmt aber in der politischen Theorie und Philosophie eine inhaltliche Form an, die sich als Fortschrittserzählung beschreiben lässt und ihrerseits kontextualisiert werden kann. Diese Erzählung besitzt spätestens seit der normativen Wende der politischen Wissenschaften einen guten Klang – nicht nur unter Juristen, sondern auch und gerade unter Nicht-Juristen, die sich dem Recht mit Optimismus und Verve zuwenden.54 Recht erscheint als Leitmotiv einer westlichen politischen Fortschrittserzählung, die sich durch drei Elemente auszeichnet. Erstens gab es einen Übergang von personalisierten zu demokratischen Formen der Machtausübung, beispielsweise vom Fürsten zur Republik. Zweitens gab es einen Übergang von der Folter zum Strafprozess und vom Theater des Schafotts zur Wissenschaft der Kriminologie: Das Recht schützt auch diejenigen, die gegen es verstoßen. Dadurch wird die Herrschaft des Volkes zugleich zur Herrschaft des Rechts. Drittens gab es einen Übergang vom Krieg zum Recht: Blinde, blutige Gewalt wird durch Völkerrecht, insbesondere rechtsförmige Streitschlichtungsorgane 52 53
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E. Cassirer, Versuch über den Menschen, 1996, S. 291. Cassirer bezog dies auf die Geschichtswissenschaft. Weiter zum normativen Status P. W. Kahn, Freedom, Autonomy, and the Cultural Study of Law, Yale Journal of Law & the Humanities 13 (2001), S. 141; Haltern (Fn. 51), S. 209 f., 218 ff. Etwa J. Habermas, Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?, in: ders., Der gespaltene Westen, 2004, S. 113; H. Brunkhorst, Solidarität, 2002.
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und -prozesse, ersetzt; wo Gewalt unvermeidbar ist, wird sie durch humanitäres Völkerrecht eingehegt. Alle drei Übergänge appellieren an das Recht, das zum Leitmotiv der gesamten Fortschrittserzählung wird. Im Zentrum steht die Gerechtigkeit, die als normative Spezifizierung des Vernünftigen im Politischen erscheint. Die rechtliche Erzählung ist insofern eine solche vom Fortschritt durch die Vernunft. Man findet sie nicht nur im Recht und im Politischen, sondern in allen denkbaren Bereichen: Die Wissenschaften werden von falschen Glaubenssätzen befreit, die Natur wird gezähmt, wirtschaftliche Produktion wird rationalisiert, seit Freud wird auch der Mensch einer Vernunfttherapie unterzogen. Das Politische ist nur eine von vielen Instanzen des Fortschritts in der Vernunft. Es bedarf keines langen historischen Gedächtnisses, um sich an andere Perioden großer rechtlicher Hoffnungen zu erinnern. Denkt man lediglich 100 Jahre zurück, schien sich das Recht, insbesondere das Völkerrecht, zum Kern einer friedlichen Streitbeilegung zwischen Völkern und rivalisierenden Mächten entwickelt zu haben. Es schien eine natürliche, ja zwingende Bewegung von der innerstaatlichen Ordnung des Rechts zur internationalen Rechtsordnung zu geben. Dies schien die Realität dessen zu sein, was Kant 100 Jahre zuvor theoretisch überlegt hatte: die schrittweise Erweiterung der Republik des Rechts von der inneren Ordnung liberaler Staaten zur internationalen Ordnung zwischen liberalen Staaten. Die Konflikte der Folgezeit, beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, haben die Schwäche des Rechts vor den Kräften gezeigt, die das Politische mobilisierten. Diese Kräfte besaßen etwas Elementares, nämlich das Vermögen der Nation, die Bürger zu Opfern aufzurufen. Trotz aller technischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts besaßen die Konflikte dieser Zeit eine archaische Komponente, die mitunter an die großen Religionskriege erinnert: einen elementaren, auf Glauben basierenden Zorn. Anders als die Religionskriege stellte aber das Politische selbst, nicht die Religion, den Glauben zur Verfügung, der sich dann in nationalen, ethnischen und ideologischen Konflikten Bahn brach. Dieser Archaismus – der sich u.a. in den in Ruanda und Bosnien verwendeten Waffen spiegelt – steht in krassem Gegensatz zum fortschrittlichen, aufgeklärten und modernen Recht. Als fortschrittliche, aufgeklärte und moderne Menschen stehen wir daher sprach- und ratlos vor den archaischen Verwerfungen des Politischen, die das Recht hinwegzufegen scheinen. Im beginnenden 21. Jahrhundert hegen Juristen Hoffnungen, die denen der Juristen zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf verstörende Weise ähneln; es ist bezeichnend, dass Völkerrechtler und politische Philosophen nun Kants „Zum Ewigen Frieden“ wiederentdecken. Wiederum ist die Rede von einer globalen Rule of Law, gar von einer „Globalverfassung“; wieder werden internationale Spruchkörper errichtet und westliche politische und moralische Werte auf die restliche Welt erstreckt. Dieser Optimismus verdankt sich wesentlich dem Ende der ideologischen Konfrontation nach dem Kalten Krieg. Der Westen hat den Streit über die Natur der Vernunft in der Politik gewonnen, als die liberale, demokratische Sicht der Vernunft die marxistisch inspirierte Sicht der Vernunft besiegte. Doch wäre es ein Fehler zu glauben, dass sich die Konflikte des 20. Jahrhunderts aus einem Querstand unterschiedlicher Visionen von Vernunft speisten. Gegen die Vernunft selbst rich-
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tete sich der Zuschnitt des Politischen als Nationalismus mit seinen archaischen Tiefenstrukturen.55 Diese Tiefenstrukturen sind heute kaum weniger vorhanden als damals. Es gibt keine Veranlassung, der Fortschrittserzählung des Rechts Glauben zu schenken oder den Hoffnungsdiskurs der Verrechtlichung zu führen. 3. Das Imaginäre von Macht und Recht Recht als imaginiertes Bedeutungssystem zu begreifen zieht zwei scheinbar gegensätzliche Konsequenzen nach sich. Zum einen wird die eigentümliche Schwere des Rechts, seine Greifbarkeit und Körperlichkeit, gewissermaßen virtualisiert und fiktionalisiert. Sie geht auf in Bedeutungen und einem Imaginären, das sich allein in den Köpfen abspielt. Der Zwang, der hinter dem Recht steht und dieses zu einem Feld des Schmerzes und des Todes werden lassen kann,56 wird verschattet von der Notwendigkeit, an die Inhalte der Bedeutungen des Rechts zu glauben. Zum anderen kehrt gerade im Imaginären unvermutet eine besondere Schwere in Gestalt längst überwunden geglaubter Elemente des politischen Denkens wieder. Wenn Recht (auch) ein Glaubenssystem ist, das sich auf die jahrhundertelang gebildeten kulturellen Ressourcen des Staates stützt, ist es zugleich ein Speichermedium, dem die Ursprungs-, Herkunfts- und Gründungsmythen eingeschrieben sind. Man kann dann davon ausgehen, dass unter der rationalen und ordnenden Oberfläche des Rechts Reste von Glaubensstrukturen verborgen sind, um die sich gewalterfüllte Mythen (etwa Revolutionsmythen), Träume von Auserwähltheit, Ewigkeit, Todesängste und Opferbereitschaft ranken. Hinsichtlich der ersten Folgerung erscheint der Wechsel von den Phänomenen Recht und Staat auf die Imagination von Recht und Staat in der Tat wie ein postmoderner Trick, der die Institutionen entpersönlicht, dem Recht seinen Ernst nimmt, eine intellektuelle Unschuld vorschützt und alle Konsequenzen tilgt. Zudem scheint diese Denkbewegung die eigentlichen Ressourcen der Normativität – Zwang und Konsens – außer acht zu lassen. Zwang und Konsens sind aber tatsächlich rare Ressourcen, die die Normativität von Recht und den verbindlichen Charakter des Staates nicht zu erklären vermögen. Wichtiger ist der Einwand gegen die Fiktionalisierung. Hier lohnt sich die Erinnerung daran, dass der Gedanke des Imaginären politischer Macht und ihrer Legitimation nicht neu ist. Man findet ihn etwa bei Hobbes, der meint, Macht sei „dem Gerücht ähnlich, das mit seiner Verbreitung zunimmt“57: Ausreichend ist, dass alle an den Machtglauben der anderen glauben. Imaginäre Zuerkennung von Macht besitzt performativen Charakter. Die Pointe, die Hegel im berühmten Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft ausbuchstabiert 55
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Die Gleichzeitigkeit von sich ausweitender Verrechtlichung und sich ausweitender Gewalt ist erklärbar durch die Inkommensurabilität von Nomos und Narration, dazu U. Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007, S. 82 ff. R. Cover, Violence and the Word, Yale Law Journal 95 (1986), S. 1601: „Legal interpretation takes place in a field of pain and death.“ T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, 1999, S. 66.
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hat, besteht darin, dass dann der Machthaber vom Untertan abhängig ist, nicht umgekehrt.58 Man hat es also mit Diskursen zu tun, die einen Projektionsschirm errichten, um die Schwächen der Macht zu bedecken. Dass das „mystische Fundament der Autorität“ (Pascal) alles andere als transzendent ist, war bereits zu Beginn der absolutistischen Ära den Eingeweihten bekannt. „Die Gewohnheit allein macht das ganze Recht; dass es überliefert ist, ist sein einziger Grund; sie ist das mystische Fundament seiner Autorität.“59 Die Ausdifferenzierung von Politik und Religion bringt erst die Notwendigkeit mit sich, das politisch Imaginäre als solches zu entdecken und in seiner Eigenschaft als konstitutiv für die Errichtung und den Erhalt sozialer Ordnung zu entwickeln. Man kann damit formulieren, dass sich soziale und rechtliche Ordnung auf regulative Fiktionen gründet, die das Spiel der kollektiven Einräumung von Macht sowohl ermöglichen als auch begrenzen.60 Auch der moderne Verfassungsstaat kennt diese Form der „Als ob“-Regel. Es bedarf lediglich einer Lektüre von Verfassungen, die den paradoxen Akt der Selbstvalidierung zumeist in die Präambel bannen61 und sich auf eine verfassunggebende Instanz berufen, die sie doch selbst erst hervorbringen. Sie sind autologische Texte, die rechtstechnisch und begründungstheoretisch auf sich selbst zurückführen und sich performativ und verschleiernd selbst in Geltung setzen.62 Obwohl bereits Rousseau dies wusste und als Beispiel für die gegenseitige intensive Einwirkung imaginärer Prozesse und politischer und juristischer Prozesse deutete, findet man weder in der Politik noch im Recht diesen fiktionalen Charakter intensiv reflektiert. Das Recht scheint wenig über sich selbst zu wissen.63 Recht und Politik verschließen sich von einem bestimmten Punkt an gegen eine Thematisierung des Un-Grundes ihrer begrifflichen und systematischen Vorentscheidungen.64 Derrida meinte gar, es bleibe dem scheinbar funktionsentlasteten Diskurs der Poesie vorbehalten, 58
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G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werkausg. Bd. 3, 1986, S. 145–155. Sogar die verstehende Soziologie Max Webers (ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 1980, S. 187 ff.) thematisiert den Raum „gegenseitiger sinnhafter Bezogenheit“ zwischen den handelnden Subjekten und geht von einem vorausgesetzten „Einverständnis“ aus: Dem Gehorsam liegt in der Regel nicht die Furcht der Gehorchenden, sondern eine unausgesprochene Legitimitätsvorstellung zugrunde. Es ist wohl eher dieses Weber’sch gemilderte Verständnis, das die kollektive Fiktionalisierung von Macht, Recht und Institutionen im wissenschaftlichen Diskurs zunehmend akzeptabel erscheinen lässt; vgl. etwa B. Stollberg-Rittberger, Des Kaisers alte Kleider, 2008. B. Pascal, Pensées: Über die Religion und einige andere Gegenstände, 1978, S. 150. Zur antidespotischen Pointe im Verzicht auf die legitimatorische Überhöhung und imaginäre Abschirmung des Politischen bereits J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, in: ders., Politische Schriften, 1995, S. 59 (124): „Der Fürst von Machiavelli ist in Wahrheit das Buch der Republikaner.“ T. Frank u.a., Des Kaisers neue Kleider: Über das Imaginäre politischer Herrschaft, 2002, S. 77. C. Vismann, Akten: Medientechnik und Recht, 2000, S. 39 ff. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 472 f. Haltern (Fn. 45), S. 5; a.A. F. Steinhauer, Non Plus Ultra: Zu Formen der Kulturwissenschaften im Recht, Der Staat 47 (2008), S. 63 (75). Luhmann (Fn. 62), S. 38 ff.
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den blinden Fleck der Funktionssysteme zu thematisieren.65 Dies ist freilich nicht länger der Fall. Abseits der wichtigen akribischen Beforschung von Funktionslogiken der Regulierung nimmt insbesondere die neuere Forschung – angeregt durch das wiederentdeckte Interesse am Verhältnis von Staat und Religion – die Bedeutung von Konstruktionen in den Blick, die sich Glaubenssystemen verdanken und hinter die Aufklärung zurückreichen.66 Hinsichtlich der zweiten Folgerung erscheint der Gedankenschritt zur Bedeutungsebene von Staat und Recht als Wendung nicht zu einer quasi-postmodernen Fiktionalisierung, sondern zu einer quasi-prämodernen Regression zurück hinter die evolutionären Errungenschaften der Aufklärung. Freilich handelt es sich auch dabei um eine Fiktionalisierungsstrategie. Sie wird hier nicht als Legitimationsfigur, die von der Einsetzung der Staatsgewalt und der Invisibilisierung des heiklen Anfangsproblems politischer Systeme handelt, verwandt, sondern zur Definition der Außen/Innen-Grenze des Gemeinwesens. Wer dazugehört und wer nicht, lässt sich erst entscheiden, wenn der politische Körper als Ganzheit dargestellt wird, was in Anbetracht der grundlegenden Kontingenz des Zuschnitts politischer Gemeinwesen einen schwierigen Akt symbolischer Einheitsbildung nach sich zieht. Nicht umsonst spricht eines der besten Bücher zur Nationbildung von „vorgestellten Gemeinschaften“ (imagined communities).67 Die Notwendigkeit, die über das Individuelle hinausgehende unsichtbare soziale „Substanz“ sinnfällig zu machen, treibt einen reichen Fundus an Kollektivmythen hervor. Das Bild des sozialen Körpers hat sich in der Funktion imaginärer Ganzheitsstiftung als besonders wirkungsmächtig erwiesen.68 Auch hierbei handelt es sich natürlich nicht um essentialistische Einheit, sondern um eine Retrofiktion, die der dekorporierten Gesellschaft wieder einen Körper geben soll und dementsprechend das Bild des Körpers vom „Körper des Königs“ auf neue Einheiten – Volk, Nation, Gesellschaft – überträgt.69 Es kann keine Verwunderung auslösen, dass die Mythen, um die die Einheitsbildungen kreisen, nicht nur manipuliert, sondern auch häufig gewalterfüllt sind. Jeder Revolutionsmythos – die Apotheose politischer Handlung, der Recht und Staat entspringen – besitzt als Unterbau den gezeichneten Körper des Revolutionärs, denn die abstrakte Idee allein kann nicht zum Fundament einer neuen Ordnung werden. Dies gelingt nur dann, wenn Menschen bereit sind, Opfer für sie zu bringen. Diese Opfer werden in der Geschichte der politischen Gemeinschaft erinnert; es scheint sich bei ihnen um Datenträger authentischen Zeugnisses zu handeln.70 Damit ist zu65 66 67 68
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J. Derrida, Gesetzeskraft: Der „mystische Grund der Autorität“, 1991. Brillant etwa B. Wolf, Die Sorge des Souveräns, 2004. Vgl. aus der Politikwissenschaft etwa P. Manow, Im Schatten des Königs, 2008, und unten Fn. 92. B. Anderson, Imagined Communities, 1991. Nachw. in Fn. 69 und 92. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass nicht nur das Organische, sondern auch der Vertrag nur eine Gesellschaftsmetapher ist; vgl. nur A. Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, 2006, S. 312 ff., 320 ff. A. Koschorke u.a., Der fiktive Staat, 2007, S. 259; U. Hebekus u.a. (Hrsg.), Das Politische, 2003; P. Diehl/G. Koch (Hrsg.), Inszenierungen der Politik, 2007. Zu den offenkundigen religiösen Strukturen and Analogien nur P. W. Kahn, The Reign of Law, 1997, S. 86.
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gleich gesagt, dass sie die Verstetigung und Konstruktion institutioneller Kontinuität stützen;71 Feste, Denkmäler, Grabstätten und Rituale in vielfältigen Formen dienen der Gegenwärtighaltung und (Re-)Präsentation. Tatsächlich sieht sich eine erfolgreich hergestellte politische Gemeinschaft in ihnen repräsentiert, so dass ihnen das Gemeinwesen gewissermaßen auf den Leib geschrieben ist.72 Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die Kraft kollektiv geglaubter Mythen durch die Aufklärung systematisch abgeschnitten wäre.73 Das Recht kann von diesen mythischen Inhalten nicht unberührt bleiben. Um erinnert zu werden, muss der politische Akt der Herstellung eines Gemeinwesens „gelesen“ werden können: Er bedarf der Verstetigung durch die Herstellung eines „Textes“, welcher Form auch immer. Die politische Handlung schreibt daher der Idee eine historische Verkörperung zu; Erinnerung ist der umgekehrte Vorgang, in dem die Idee aus der Verkörperung abgelesen wird. Kollektive Gedächtnisrituale besitzen genau hier ihre Funktion. Verfassunggebung erfüllt ebenfalls die Funktion der Speicherung; die Verfassung ist die historische Verkörperung der politischen Idee. Sie partizipiert an der geglaubten Authentizität der politischen Handlung, die – so die imaginäre Ganzheitsstiftung erfolgreich ist – „unsere“ politische Handlung ist und dadurch das Recht zu „unsrigem“ macht. Recht, insbesondere Verfassungen, leiht sich einer Lektüre, die ihre Materialität als Zeichen nimmt. Dies ist nicht selbstverständlich. Ein guter Teil der politischen Philosophie findet für die Sinnspeicherfunktion kaum Platz; Ganzheitsstiftungen werden als illusionär oder pathologisch begriffen und in ihrer Eigenschaft als Mythen decouvriert. Dies ist insoweit eine verdienstvolle Aufgabe, als die mit ihr einhergehende Entzauberung der Welt ein kaum zu überschätzendes emanzipatorisches Potential besitzt. Nicht unproblematisch aber ist eine Sichtweise, die politische Mythen verdächtigen, zu täuschen und die Menschen zu hindern, ihre wirklichen Interessen zu erkennen und wahrzunehmen. Dann erscheint der politische Mythos als Ideologie, gegen den eine Politik der Aufklärung nottut.74 Mythen hingegen erfüllen wichtige politische Funktionen, darunter die Reduktion vielfältiger sozialer Bezüge und Bindun71 72 73
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Etwa G. Melville/K.-S. Rehberg (Hrsg.), Gründungsmythen – Genealogien – Memorialzeichen, 2004. Zu „Körperschriften“ vgl. nur A. Assmann, Erinnerungsräume, 1999, S. 241 ff. Es erscheint vielmehr wahrscheinlich, dass erst die Moderne zur eigentlichen Kraft beigetragen hat, da sich nun die Notwendigkeit der Umstellung vom Monarchenkörper, der den Staat verkörperte, auf andere und schwierigere Formen ergab. Dass dieser Gedanke jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland keine Konjunktur hat, liegt an der Übersteigerung und am Missbrauch dieser Strategie im Nationalsozialismus; vgl. dazu nur P. Berghoff, Der Tod des politischen Kollektivs, 1997; Y. Karow, Deutsches Opfer, 1997; C.-E. Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, 2002. Ich habe diese Reaktion als Reformation des politischen Denkens beschrieben: Haltern (Fn. 55), S. 52 ff. Dazu, dass auch Gegendenkmäler, wie sie in der bundesdeutschen Erinnerungskultur als Erfolgskonzept gelten, ihrerseits mythische und problematische Identifikationsangebote hervorbringen, C. Tomberger, Das Gegendenkmal, 2007. So etwa P. Glotz, Die Rückkehr der Mythen in die Sprache der Politik, in: ders./G. Kunert (Hrsg.), Mythos und Politik, 1985, S. 115.
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gen und dadurch die Verbürgung des Wissens um politische Zugehörigkeit, die Reduktion von Komplexität und dadurch die Konstitution politischer Handlungsfähigkeit, und die Reduktion von Kontingenz und dadurch die Stiftung von Zukunftsvertrauen.75 Diese Funktionen beschreiben freilich auch die möglichen Kosten: Unterdrückung konkurrierender Loyalitäten; Unterschätzung von Komplexität und Verfehlung der realen Kontingenz von Handlungsverläufen. Mythen können daher unmittelbar ins Verbrechen oder Verderben führen und sind riskante Erzählungen. Doch, so Münkler, „erst eine Welt ohne Politik würde eine Welt ohne politischen Mythos sein“,76 und Clifford Geertz schreibt: „Eine vollständig entzauberte Welt ist eine vollständig entpolitisierte Welt.“77 Möglicherweise nimmt liberale politische Theorie Mythen und ihre Kontinuität auch in der Gegenwart deshalb nicht voll wahr, weil ihre analytischen Codes durch Vernunft und Interesse abgesteckt werden. Beide aber können wenig über die symbolische Dimension von Sinn aussagen.78 Ein weiterer Grund dafür, dass die fortwirkende und sinnstiftende Kraft des Imaginären jedenfalls nicht intuitiv unmittelbar einsichtig erscheint, liegt am unpersönlichen Zuschnitt von Macht im modernen Verfassungsstaat. Demokratie begründet sich als „gleichsam körperlose Gesellschaft“,79 in der jede Substantialität der Macht durch eine „geregelte Infragestellung der Autorität“ dementiert wird.80 Immerhin denkt man den Staat, nicht den Herrscher, und evokative Analysen erläutern, wie die Prozedur der freien Wahl die Rechnungsprüfung der Gerechtigkeit zum urdemokratischen Ideal erhebt.81 Doch liegt es auch hier komplizierter. Gauchet hat die Frage gestellt, wie es gleichzeitig zu einer Personifikation des Nationalen, also zu einer Subjektivierung des Kollektivs, und zur Depersonifikation der Macht kommen konnte.82 Die Antwort mag darin liegen, dass der personale Souverän mit seinen Vollmachten und seiner auratischen Ausstattung durch ein Papier ersetzt wurde. Die Allianz von Nationdiskurs und Verfassungsdiskurs im revolutionären Frankreich ist hierfür ein treffendes Beispiel. Der Platz des geköpften Königs, der den Staat repräsentierte, war leer und konnte nicht wiederbesetzt werden.83 Das Gemeinwesen konfigurierte sich daraufhin um eine körperlose Mitte, in die die Gründungsurkunde 75 76 77 78 79 80 81 82 83
H. Münkler, Der Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR, in: R. Brandt/ S. Schmidt (Hrsg.), Mythos und Mythologie, 2004, S. 221. Ebd., S. 224. C. Geertz, Centers, Kings, and Charisma: Reflections on the Symbolics of Power, in: ders., Local Knowledge, 2000, S. 121 (143). Ausführlich P. W. Kahn, Putting Liberalism In Its Place, 2005; ders., Law and Love, 2000, S. 66; Haltern (Fn. 45), S. 97 f. C. Lefort, Die Frage der Demokratie, in: U. Rödel (Hrsg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, 1990, S. 281 (295). C. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, 1999, S. 51. E. Matala de Mazza, Die Unsumme der Teile: Körperschaft, Recht und Unberechenbarkeit, in: Hebekus u.a. (Fn. 69), S. 171 (175 f.). M. Gauchet, Des deux corps du roi au pouvoir sans corps, Le débat 14 (1981), S. 133 (141). Vgl. Art. 27 der nie in Kraft getretenen Verfassung von 1793: „Jedes Individuum, das den Platz der Souveränität usurpiert, ist von den freien Männern auf der Stelle zu töten.“
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einrückte. Die Verfassung trat so an die Stelle des Fürsten; es handelte sich um einen Rollentausch im imaginären Zentrum des Staates, in dem nun das Textgenre angesiedelt war. Dies ist ein ungeheurer, in seiner transformierenden Kraft heute kaum noch zu ermessender Schritt: An die Stelle des auratischen personalen Souveräns tritt ein herren- und vaterloses Dokument aus Papier, in dessen reiner Schrift sich die Abstraktion der modernen Staatsidee manifestierte.84 Ein solcher Schritt kann nicht funktionieren, ohne einen Teil des Mysteriums, das den Fürsten umgeben hatte, auf den Verfassungstext zu übertragen. Neben dem kompensatorischen Anschwellen des Gesetzgebers zu einer fast transzendentalen Größe und der doppelten Aufgabe der Verfassung, einerseits juristisch zu einem reinen und von Partikularismen freien Begriff von Gesetz und Öffentlichkeit vorzudringen und andererseits Darstellungs- und Identifikationsformen für eine unpersönliche und eigentlich undarstellbare Form der Macht zu finden,85 stellt auch die moderne Verfassung einen Begriff in ihre legitimatorische Mitte, der seit der frühen Neuzeit als Bedingung, Mittel und Erfüllung aller irdischen Herrschaft begriffen wird: die (Volks-)Souveränität. Sie schließt an die Souveränität des den Staat verkörpernden Monarchen an, dessen Gegenwart – ähnlich wie die Gegenwart des Heiligen – ein mysterium tremendum ist. Diese Bedeutung migriert vom Religiösen über den Fürsten in die Verfassung und damit ins Zentrum des modernen Denkens über Recht und Staat. 4. Souveränität als Kern des Imaginären Schaut man auf den Begriff der Souveränität, verdoppelt er sich zunächst: Einerseits ist Souveränität als Volkssouveränität der Kern, von dem aus moderne Demokratien gedacht werden, mit all den Manifestationen des Fortschritts, auf die man stolz sein kann: allgemeine Wahlen, Deliberation, Gleichheit, Partizipation usw. Andererseits ist Souveränität das große Problem, an der eine effektivere Umsetzung des Völker- und manchmal auch des Gemeinschaftsrechts scheitert und die daher von der internationalrechtlichen Dogmatik zunehmend relativiert wird.86 84
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Koschorke u.a. (Fn. 69), S. 246 ff. Vgl. außerdem J. Vogl, Gründungstheater. Gesetz und Geschichte, in: A. Adam/M. Stingelin (Hrsg.), Übertragung und Gesetz, 1995, S. 31; M. Schneider, Imaginationen des Staates, in: R. Behrens/J. Steigerwald (Hrsg.), Die Macht und das Imaginäre, 2005, S. 41. Koschorke u.a. (Fn. 69), 249 f. Aufgrund dieser Verdoppelung des Souveränitätsbegriffes als Faktor sowohl der innerstaatlichen als auch der zwischenstaatlichen Ordnung lastet auf ihm mehr Gewicht, als er zu tragen in der Lage ist. Die beiden Seiten dieses Begriffes sind in eine wechselseitig oszillierende Kommunikation getreten: Beide Ordnungen nutzen ihn, um die jeweils andere Ordnung nach ihrem eigenen Bild zu formen. Im klassischen Völkerrecht etwa waren Staaten dem Gedanken der inneren Machtvollkommenheit verschrieben und wollten daher das Völkerrecht um die Konzepte des Konsenses und der Nichteinmischung herum ordnen. In neuerer Zeit ist die Stoßrichtung eher umgekehrt: Die zunehmende Anerkennung immer größerer Interdependenz zwischen den Staaten führt dazu, dass die innere Souveränität stärker unter Druck gerät.
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Blickt man als Jurist genauer hin, zerbröselt der Begriff. Äußere Souveränität wird beschrieben als offen, relativiert, fragmentiert, geteilt, gepoolt oder ganz aufgegeben.87 Innere Souveränität wird beschrieben als gewaltenteilig pluralisiert, repräsentationsförmig mediatisiert und insgesamt verrechtlicht, wobei die Verrechtlichung darauf hinausläuft, statt der Volkssouveränität allein die konkret-normativen Ausprägungen in der Verfassung zu lesen.88 Gleichwohl erweist sich der Begriff als so hartnäckig, dass es nicht zu gelingen scheint, andere Worte zu finden:89 Wir scheinen an ihn gebunden zu sein wie an ein großes Rad, das mit uns zu Tale saust. Ein Grund wird darin zu suchen sein, dass es sich nicht nur um ein Kennzeichen politischer Herrschaftsmacht oder einen Baustein internationalrechtlicher Dogmatik handelt, sondern auch um den Bestandteil einer weit zurückreichenden politischen und theologischen Ideengeschichte, der das gerade beschriebene Imaginäre von Macht, Recht und Staat nachhaltig geprägt hat.90 An anderer Stelle habe ich ausführlich nachgezeichnet, wie das Politische in Europa Anleihen bei der Religion, insbesondere beim Christentum macht.91 Grundthese ist eine Migration religiösen Denkens von der Religion zum Staat. Mit der Ausdifferenzierung von Staat und Religion wurden überhaupt erst die Grundbedingungen für diese Wanderung gelegt. Es kam mit der Trennung von Staat und Kirche nicht zu einer völligen Lösung der langen Verschraubung, sondern zur Aufnahme religiösen Wissens durch den Staat. Hiervon legen bereits bei oberflächlicher Betrachtung zivilreligiöse Resümierungen von Restbeständen religiöser Institutionen Zeugnis ab. Eine vertiefte Betrachtung nimmt statt eines eindimensionalen Prozesses der Säkularisierung einen parallel verlaufenden, ja auf diesem beruhenden Prozess der Sakralisierung des Staates wahr, der eine Unschärferelation in das Verhältnis von Staat und Religion einführt. Ein Beispiel, das die oben behandelte Körpermetapher in den Mittelpunkt rückt, ist ein körperschaftliches Kernelement der mittelalterlichen politischen Theologie, nämlich die Verkörperung des Staates im Souverän. So wie die Kirche der Körper Christi ist, ist der Staat der Körper des 87
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Statt vieler: J. Kokott, T. Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, VVDStRL 63 (2004), S. 7 ff., 41 ff.; U. Beck/E. Grande, Das kosmopolitische Europa, 2004; U. Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004; N. MacCormick, Questioning Sovereignty, 1999; N. Walker, Late Sovereignty in the European Union, in: ders. (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, S. 3. Etwa K. v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1968; P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, AöR 112 (1987), S. 54; H.-P. Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 1992, § 158. So fühlen sich Rechts-, Politik-, Geschichtswissenschaft und politische Philosophie gezwungen, immer wieder den „Wandel der Souveränität“ zum Thema zu machen, vgl. statt vieler die Beiträge von Schuppert, Mahlmann, Ladwig, Landfried, Grimm und Preuß in T. Stein u.a. (Hrsg.), Souveränität, Recht, Moral, 2007. Zur Steuerung moderner Institutionen „von alten, ihnen unbewussten Programmen“ und zur Theologie als „Avantgarde-Konzept“ für abendländische Denkbewegungen vgl. nur A. Koschorke, Die Heilige Familie und ihre Folgen, 2000, etwa S. 218. Haltern (Fn. 55).
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Souveräns.92 An der Bedeutung des Staates kann teilhaben, wer Teil dieses Körpers ist. Das religiöse Konzept der Souveränität wandert zum Politischen; in beiden Sphären vermittelt der Souverän als symbolische Form die Möglichkeit, die eigene Endlichkeit zu transzendieren. Souveränität konnotiert sowohl die Überwindung des Todes (le Roi ne meurt jamais; dignitas non moritur) als auch Allgegenwärtigkeit und Allmacht.93 Der Souverän befindet sich damit außerhalb der normalen Kategorien von Zeit und Raum; er ist die Gleichzeitigkeit von Unendlichem und Endlichem, von Omnipräsenz und Entzogenheit. In diesem Sinne ist Souveränität immer ein Wunder.94 Der Bruch der Aufklärung besteht im Wesentlichen darin, dass der konzeptionelle Apparat des mystischen Körpers vom Monarchen auf das Volk als Souverän umgestellt wird: Der Volkssouverän, nicht mehr der Monarchenkörper, wird der corpus mysticum des Staates. Der Ort der Souveränität, nicht ihr symbolischer, oft transzendenter Charakter, ändert sich.95 Hieraus folgen zwei Überlegungen. Erstens modelliert sich der Staat in seiner symbolischen Dimension nach der institutionellen Konstellation der Kirche. Gläubige verstehen Kirche in ihrer symbolischen Dimension. Diesem Verständnis zufolge verleiht die Kirche einer Wahrheit historisches Leben, die sich von einer Institution nicht einfangen lässt. Die Autorität der Kirche erklärt sich daraus, dass sie diese Bedeutung für ihre Mitglieder präsent hält und repräsentiert. Wenn kirchliche Autorität mit dem Glauben an die von der Kirche offerierte Bedeutung einhergeht, sind Herrschende und Beherrschte nicht durch Drohung oder Zwang vereint, sondern durch gemeinsamen Glauben. Dies gilt auch für den Staat. Auch hier sind Herrscher und Beherrschte weder durch Drohung oder Zwang noch durch Konsens vereint, wenn staatliche Autorität mit dem Glauben an den politischen Willensakt einhergeht, der sich im Gründungsmythos sedimentiert hat und von den staatlichen Institutionen präsent gehalten und repräsentiert wird. Es gibt also eine Glaubensstruktur, die in ihrer qualitativen Reichweite – anders als Zwang oder Konsens – 92
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Vgl. E. H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, 1992; ders., Mysterien des Staates, in: ders., Götter in Uniform, 1998, S. 263; L. Marin, Das Portrait des Königs, 2005; H. Bredekamp, Thomas Hobbes visuelle Strategien, 2006; H. Bredekamp/P. Schneider (Hrsg.), Visuelle Argumentationen, 2006; Wolf (Fn. 66); W. Brückner, Bildnis und Brauch, 1966; W. Ernst/C. Vismann (Hrsg.), Geschichtskörper, 1998; S. Sasse/S. Wenner (Hrsg.), Kollektivkörper, 2002; H. Belting u.a. (Hrsg.), Quel Corps?, 2002; S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, 2004, S. 88 ff.; H. Belting, Das echte Bild, 2005, S. 86 ff.; A. von der Heiden (Hrsg.), per imaginem, 2005. Zu den heute rätselhaft und befremdlich erscheinenden Ritualen, die dieses Denken spiegeln, etwa Bredekamp (Fn. 92), S. 97 ff.; Kantorowicz, Die zwei Körper (Fn. 92), S. 411 f., 422 ff.; Matala de Mazza (Fn. 81), S. 171 ff.; bereits dies., Der verfasste Körper, 1999, S. 49 ff. Zu den Gründen, warum Schmitts politische Theologie gegenüber derjenigen von Kantorowicz anstößiger wirkt, vgl. G. Agamben, Homo sacer, 2002, S. 102. Klassisch dazu E. H. Kantorowicz, Deus per naturam, Deus per gratiam, in: ders., Götter in Uniform (Fn. 92), S. 155, und M. Bloch, Die wundertätigen Könige, 1998. Man kann dies mit einer Umstellung vom Transsubstantiations- zum Repräsentationsdenken verkoppeln, vgl. Haltern (Fn. 45), S. 81 f.
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grundsätzlich unbegrenzt ist. Diesem Vorteil der Glaubensstruktur politischer Macht – der Tiefe seiner Handlungsanleitung und der potentiellen räumlich und zeitlichen Unbegrenztheit – stehen manifeste Nachteile gegenüber, deren wichtigster wohl die permanente Fragilität des Glaubens ist. Beruht Macht auf Fiktion, bröckelt sie mit der Unglaubwürdigkeit der Erzählungen und löst sie sich wie ein Schemen auf. Anerkennungsdynamiken können in Aberkennungszyklen umschlagen; Max Weber hat dies am Beispiel charismatischer Herrschaft vorgeführt.96 Zweitens enthält Souveränität nun ein metaphysisches Versprechen, das das Politische so anziehend und verführerisch macht und das sich offenkundig im Nationalismus manifestiert. Jedes Mitglied des Gemeinwesens ist ein Teil des Körpers des Souveräns. Als Teil dieses mystischen Körpers nimmt das Individuum an der Verdoppelung Teil, die die mittelalterliche politische Theologie vorgedacht und die Kirche vorgemacht hat. Als sterbliches Individuum partizipiert man am unsterblichen und omnipräsenten Souverän. Als Bürger ist man eingebettet in die Geschichte seines Staates und akzeptiert sie als die eigene. Der Bürger kennt seinen Platz in der Geschichte, da er die Geschichte durch die Brille der Volkssouveränität liest. Die Geschichte des Staates ist seine Geschichte; das Territorium des Staates ist sein Raum; die Zukunft des Staates ist auch seine Zukunft. Das große metaphysische Versprechen ist das der politischen Identität. In dieser Imaginationsform gibt es keine natürliche Bewegung in Richtung Universalität. Hinter den Bäumen, die von der Rechts- und Politikwissenschaft sowie von der politischen Theorie in Subsumtion unter das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip sowie unter die Menschenrechte beschrieben werden, wird ein Wald sichtbar, der bei kulturtheoretischer Scharfstellung der Linse als religionsnahe und mystische Herstellung von Einheit abgebildet werden kann. Im Zentrum dieser Einheit steht der Begriff der Souveränität, der nach wie vor eine über Wunder, Mysterien und Rituale von Opfer und Gewalt funktionierende Imagination reproduziert. Möglicherweise ist dies die Konsequenz einer katholischen Tradition, die neben die vom modernen Staat zeitgleich reproduzierte jüdische Imagination von Recht tritt; letztere stellt den vom souveränen Willen Gottes offenbarten heiligen Text als Heiligen Bund statt der Prophezeiung zentral. Der Souverän verkörpert sich damit sowohl im Recht als auch in den zugleich sinnstiftenden und beunruhigenden, brandaktuellen und anachronistisch anmutenden Ritualen des Politischen, die über Erinnerung und Gedächtnis bis hin zur legitimen Einforderung von Sterbe- und Tötungsbereitschaft verläuft. Der Souverän tritt im modernen demokratischen Verfassungsstaat doppelt auf: als Stimme und als Körper, als Recht und als Gewalt. Die wissenschaftliche Diskussion konzentriert sich auf die Stimme und das Recht, fokussiert dabei auf den aus der Ethik bekannten Gegensatz von deontologischen und konsequentialistischen Argumenten und verkennt so die Kräfte, die das Politische bewegen. Das 96
Dazu, dass der Topos der charismatischen Herrschaft nicht aus dem modernen Staat verabschiedet ist, vgl. P. Rychterová u.a. (Hrsg.), Das Charisma: Funktionen und symbolische Repräsentationen, 2008; insbesondere zum Charisma in der Rechtsprechung P. W. Kahn, Charisma and the Foundation of Judicial Authority, Ms. 2007.
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Politische ist nicht das Moralische; Zugehörigkeit zum Staat kann nicht durch die Sprache der Moral gerechtfertigt werden, sondern ist eine Frage der Erfahrung von Identität. Der eigentliche Gegensatz ist dann derjenige zwischen moralischem Universalismus und der Zugehörigkeit zu einer ganz bestimmten Gemeinschaft. Letztere besitzt eine lange Geschichte und die Vorstellung einer Zukunft; sie ist durch Mythen, Narrationen und symbolische Konstruktionen gekennzeichnet. Erinnerung, Erfahrung und Gedächtnis sind etwas kategorial Anderes als das Denken von Prinzipien aus. An all dies ist das Individuum gebunden; es ist die Last der Herkunft ebenso wie der Horizont der Hoffnung. Damit ist weder gesagt, dass der Staat eine Kirche ist, noch dass die ungeheuren evolutionären Errungenschaften der Aufklärung relativiert sind, dass politische Theologie die angemessene oder gar einzige Erklärung moderner Staatlichkeit oder dass die symbolische Struktur des Imaginären, das unter den Zwecken und Funktionen liegt, wünschenswert oder normativ verpflichtend wäre. Wir haben es eher mit einem Anlagerungsprozess zu tun, der im Verborgenen stattgefunden und den Erfolg des Liberalismus ermöglicht hat. Doch haben das vergangene Jahrhundert und die wenigen Jahre des gegenwärtigen Jahrhunderts gezeigt, dass das Politische keine ungefährliche Imaginationsform ist. Daher ist es sinnvoll, nach Erklärungen zu suchen, die die Bedeutungen des Politischen in ihrer Genealogie verorten und die Tiefenstrukturen, die – neben vielem Anderen – staatliche Existenz nach wie vor informieren, ernst nehmen.
III. Die europäische Suche nach dem Politischen Die Europäische Union stellt sich in Anbetracht ihrer zunehmenden Politisierung und der wachsenden Irritation ihres ursprünglich output-orientierten Politikproduktionsmodus durch demokratische und politische Debatten auf die Suche nach einer eigenen Imagination des Politischen ein. Vor der Folie der Ausführungen über das hintergründige Imaginäre, das staatliche Vergemeinschaftung so erfolgreich informiert, ist offenkundig, dass diese Suche ein ehrgeiziges Projekt darstellt und sich nicht einfach gestaltet. Die Union ist nach ihrer Herkunft, ihrer Rechtsform, ihrer Herrschaftstechnik und ihrer Ideale ein Gemeinwesen, das „anders“ strukturiert ist und auf „anderen“ Fundamenten ruht als der Staat. Dies spiegelt sich notwendigerweise auch in ihrem Recht, wenn man Recht zusätzlich zu Rechtszwecken und -funktionen auch als Speichermedium begreift. Für die Rechtswissenschaft ist das nicht selbstverständlich. Die juristische methodische Schulung führt dazu, dass Rechtswissenschaftler Recht als Recht ansehen, gleich welcher Herkunft das Recht ist. Juristen überqueren mühelos die Linie, die das nationale vom nicht-nationalen Recht trennt, und wenden ihre professionelle Kunst mit dem Unterschied weniger methodischer Details auf beide Arten des Rechts an. Der Interpretations- und Subsumtionsakt gleicht sich in ähnlicher Weise, wie Recht gleich Recht erscheint. Rechtliche Interpretation aber ist aus der kulturellen Perspektive, die sich an die methodische Perspektive anlagert, ein Vorgang, der eine normative Sinnzuschreibung vornimmt; dies geschieht durch einen performativen
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Akt, der den gespeicherten Sinn aus dem Normtext entziffert, die imaginative Herkunftsstruktur mitliest und in letzter Konsequenz einen Glauben an die souveräne Quelle der Texts voraussetzt. Gerade hierdurch reifiziert und stabilisiert das Recht seine eigene Struktur; Rechtsinterpretation wird zur Praxis politischer Identität.97 Wer eine Norm des nicht-staatlichen Rechts liest, schaut nicht in erster Linie auf den Willen des Volkssouveräns, sondern auf ein intergouvernementales bargaining. Staaten können sich hier, anders als im staatlichen Recht, einen efficient breach leisten.98 Der Grund ist nicht nur die geringere Durchsetzungskraft des nicht-staatlichen Rechts aufgrund mangelnder Zwangsmittel oder fehlenden Konsenses, sondern auch die andersartige Interpretationsstruktur, die nicht zu politischer Identität führt. Man kann die Eigenarten des Rechts der EU als Defizit gegenüber denen des staatlichen Rechts beschreiben. Die Unterschiede lassen sich dann in einem Diskurs des Mangels formulieren, der überall dort Leerstellen anzeigt, die im staatlichen Recht durch kulturelle Ressourcen, imaginäre Strukturen und symbolische Formen ausgefüllt sind. Man kann sie aber auch als aliud gegenüber den hergebrachten Symbolen des Nationalen beschreiben, die die Möglichkeit einer neuen Form der Vergemeinschaftung und des Politischen eröffnen. Die Unterschiede sind dann nicht Teil eines Mangeldiskurses, sondern eines Fortschrittsdiskurses, der Hoffnungen auf eine Überwindung derjenigen Aspekte des Nationalen setzt, die in der Vergangenheit immer wieder in die Katastrophe geführt haben. Offenkundig liegt der Beschreibungsform eine normative Vorentscheidung zugrunde. Wer eine Mangelbeschreibung wählt, nähert sich dem oben beschriebenen europaskeptischen Diskurs an und wird den Vorschlag des Innehaltens machen; wer eine Progression beschreibt, wird die Notwendigkeit weiterer, zügiger und vertiefter Integration anerkennen. Hier geht es nicht um Normativität, Mahnungen, Hinweise oder Parteinahmen welcher Form auch immer. Wichtig ist mir allein zu verstehen, wodurch sich das Denken über Vergemeinschaftung, Identität und Recht in der europäischen Integration auszeichnet, wie sich dies zum Politischen verhält und welche Optionen existieren. Mein Erkenntnisinteresse ist nicht zuerst normativer Natur, sondern richtet sich auf die Formulierung eines Möglichkeitshorizonts, vor dem Chancen und Probleme schärfer sichtbar werden. Dabei halte ich es für notwendig, von den Erfahrungen politischer Vergemeinschaftungspraxis auszugehen, im Rahmen derer sich der Staat in den letzten Jahrhunderten als außerordentlich erfolgreich erwiesen hat. Es ist ihm gelungen, eine funktionale und symbolische Struktur hervorzubringen, 97 98
Ausführlicher Haltern (Fn. 55), S. 43, dort auch zu den Unterschieden gegenüber der literaturwissenschaftlichen Interpretation. Im Gemeinschaftsrecht ist dies anders; die verhandlungssichere Normativität lässt sich dort v. a. auf die Rechtsschutzverdoppelungen und die Einbeziehung nationaler Gerichte durch Art. 234 EG zurückführen. Vgl. U. Haltern, Verschiebungen im europäischen Rechtssystem, VerwArch 96 (2005), S. 311.
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die zu einer dichten politischen Identität und Loyalität geführt hat. Dass das Ergebnis häufig blutig war, markiert gerade den Ausgangspunkt der Hoffnungen, die auf der europäischen Integration ruhen. Dies ändert aber nichts am (ganz unwahrscheinlichen) Erfolg des Staates bei der Herstellung von gesellschaftlicher Einheit, sondern bescheinigt ihn gerade: Es zeigt, dass es dem Staat gelungen ist, Loyalitätsansprüche totaler Natur durchzusetzen und dies legitim erscheinen zu lassen. Die Anforderungen an den Rechtfertigungsdiskurs haben sich inzwischen zwar erhöht, doch besteht das Potential als solches unvermindert fort. Vor diesem Hintergrund halte ich den Einwand, dieser Ansatz sei etatistisch, für zweifelhaft, zumal das Denken vom Imaginären und von gespeicherten Bedeutungen aus keineswegs die Statik dieser Bedeutungen voraussetzt. Im Gegenteil sind Bedeutungen immer kontextabhängig, wandeln sich im Handumdrehen und migrieren ständig. So wie religiöse Bedeutungen ins Politische wandern können, können auch staatliche Bedeutungen ins Suprastaatliche wandern. Es handelt sich um Geglaubtes; Glauben ist immer prekär. Die Stabilisierung des Glaubens beruht auf Erfahrungen und Praxis, und diese entwickeln sich ebenfalls beständig weiter. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Unterschiede zwischen Staatlichem und NichtStaatlichem kleiner werden und ganz verschwinden können. Dies muss nicht durch einen binären Austausch zwischen zwei Polen geschehen, sondern kann sich auch in Form von Hybridisierungen, Gemengelagen und Anlagerungen ereignen. Da dieser Ansatz also dynamisch und nicht-dichotomisch denkt, sondern lediglich die Vorstellungen, die viele Individuen besitzen und die ein Gewebe von Bedeutungen hervorgebracht haben, das man heute Staat und Recht nennt, ernst nimmt, halte ich ihn für einen geeigneten Analyserahmen, in dem die Würfel nicht von vornherein manipuliert sind. Wendet man sich nach diesen Überlegungen den Details der europäischen Suche nach einer eigenen politischen Imagination zu, findet man in der Integration zunächst eine Hinwendung zu einer Form der Vergemeinschaftung, die man PostSouveränität nennen kann, die eine dezidierte Absage an staatliche Formen, Identitäten und Vergemeinschaftungsstrategien beinhaltet und die ihre Hoffnungen gerade aus dieser antithetischen Besetzung ihrer Strukturen schöpft. Konterkariert wird dies inzwischen durch zwar inhaltlich vorsichtige, aber ästhetisch entschlossene Schritte in Richtung Souveränität, die die post-souveräne Finalität in Frage stellen. Das Ergebnis ist, wie nicht anders zu erwarten, eine Gemengelage oder Gratwanderung. 1. Post-Souveränität und Recht: Umrisse Die Bedeutung von Gemeinschaftsrecht unterscheidet sich von den Bedeutungen nationalen Rechts grundlegend. Das hat auch mit dem unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungshorizont der Vorstellungsgemeinschaft Staat zu tun, in dessen Historie sich im Laufe der Jahrhunderte stabile Strukturen bilden und die Bürger der Staaten prägen konnten. Das Recht der Union kann weder auf das mythische Fundament noch auf die gleiche Quantität von geschichtlicher Erfahrung zugreifen.
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Zwar ist auch das Unionsrecht ein Speicherort, doch sind kaum Erinnerungen gespeichert, die den Texten der Union eine geglaubte Authentizität vermitteln und sie als genuin „unsrige“ erkennbar werden lassen könnten. Es handelt sich eher um nicht-partikulare, unradizierte, ins Universalistische strebende Prinzipien, die als Konzepte der Hochmoderne in die Verträge eingeschrieben wurden und die wenig Identifikation zulassen.99 Die europäische Integration ist als Kontrakt konzipiert und stellt ein vernunftgeleitetes Projekt der Aufklärung dar. Ihre Entstehung verdankt die Integration nicht visionärer Revolution oder Emotionalität, sondern dem Geist der Vernunft und berechnenden Rationalität. In der Gründungsphase waren die leidenschaftlichen und idealistischen Europa-Föderalisten der Logik der Monnet-Methode unterlegen, so dass es „einen revolutionären Akt“, „eine Initialzündung“ in der Geschichte der Union nie gegeben hat.100 Dies ist fast selbstverständlich: Emotionale Appelle an ein Gemeinschaftsgefühl, das Deutschland einschloss, wären notwendig fehlgerichtet gewesen. Die Verknüpfung von Monnet-Methode und Neofunktionalismus durch die Kommission hat letzteren von einer Integrationstheorie zu einer Integrationsideologie werden lassen. Diese ruhte auf dem pragmatisch-utilitaristischen Stil der demokratischen Mittelstandsparteien Europas auf und konnte in einem Klima gedeihen, das sich durch Entideologisierung, Entpolitisierung, wachsende Bürokratisierung der Politik, steigende wohlfahrtsstaatliche Tätigkeit und Erstarrung in der Bipolarität des Kalten Krieges auszeichnete.101 Die Integrationsfaktoren sind im Wesentlichen Faktoren nationalen Interesses.102 Gleiches gilt wohl für die Motive, deren genauer Zuschnitt und relatives Verhältnis zueinander umstritten bleiben müssen. Offenkundig ist, dass die Sicherung des Friedens in Westeuropa, die Einigung Europas durch ein wirtschaftliches Fundament der politischen Einheit und die Überwindung des „Jahrhunderte alten Gegensatzes zwischen Frankreich und Deutschland“ (Schuman-Erklärung) die wichtigsten offen genannten Anliegen waren.103 Hinzu kam aber, dass die französische Industrie auf die gleiche Basis gestellt werden sollte wie die deutsche, die als wettbewerbsfähiger angesehen wurde; die Revitalisierung der französischen Wirtschaft, für die Monnet verantwortlich war, spielte also eine tragende Rolle als Integrationsmotiv.104 99
100 101 102 103
104
Bereits der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors wusste, dass sich die EU nicht als Projektionsfläche für Identifikation eignet, und bemerkte, dass „man sich nicht in einen Binnenmarkt ohne Grenzen verliebt“, zitiert nach OPTEM (Fn. 16), S. 5. Etwa F. Niess, Die europäische Idee, 2001. Etwa M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 172. Haltern (Fn. 45), S. 113 ff. Die Zusammenlegung damals strategischer Güter sowohl für den Wiederaufbau als auch für die Kriegswirtschaft bildete den Kern der Lösung sowohl der „deutschen Frage“ als auch der Frage des Wiederaufbaus Europas – beide waren Dreh- und Angelpunkt des Schuman-Plans. Vgl. im ersten Heft des ersten Jahrgangs des JCMS: J. Monnet, A Ferment of Change, JCMS 1 (1962), S. 203. Weiter zu den überwiegend nationalen Motiven etwa A. S. Milward, The European Rescue of the Nation-State, 1999; w. Nachw. Haltern (Fn. 45), S. 121 ff.
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Sozialpsychologisch war der ideologisch-politische Rückwind nur stark genug, um „einigen Ökonomen und Technokraten den Stoff zur Errichtung einer Produktions- und Marktgemeinschaft zu liefern“.105 Der Konsumismus, der sich hieraus entwickelte, dient bis heute einer herben Kritik des Integrationsprojekts; ob diese berechtigt ist, wird zu klären sein. Jedenfalls konnte und sollte sich auch aus der sozialpsychologischen Befindlichkeit keine Imaginationsstruktur entwickeln, die derjenigen des Nationalstaates ähnelte. Der Kontraktcharakter spiegelte sich anfangs auch darin wider, dass das Projekt der europäischen Integration in völkerrechtlichen Verträgen seinen Ursprung nahm. Völkerrecht ist gewissermaßen die Apotheose des Sozialkontraktes und übernimmt – diese Einsicht verdanken wir spätestens den realistischen und kritischen Theorien – sämtliche Grundannahmen des Liberalismus, ohne für die imaginären und symbolischen Dimensionen offen zu sein.106 Auch an den Biographien der (in der Mehrzahl konservativen und katholischen) „Gründerväter“ lässt sich ablesen, wie wenig „revolutionär“ die Gründungsphase der EU geprägt war; sie alle verkörpern einen Lebensstil und eine Biographie, in denen die nationalen Kontroversen des zwanzigsten Jahrhunderts nur als Zwischenstadium erschienen, das überwunden werden musste.107 Dass Europa sich als Projekt der Hochmoderne stilisierte, spiegelte sich rein äußerlich in der Welt der Brüsseler Bürotürme, der Simultandolmetscher in schalldichten Kabinen, den vervielfältigten Arbeitsdokumenten und den neugegründeten Europaschulen. Dies passte zum damaligen Zeitgeist der Hochhäuser, Autobahnen und Atomkraftwerke: „Wo solche kontrollierte Technik herrschen sollte, waren nationale Eigenheiten als bloße Folklore überflüssig geworden. Europa befand sich in den Händen der Technokraten.“108 Hinter diesen kulturellen Artefakten, die noch heute einen Teil des Bildes der Union prägen, verbirgt sich mehr als nur Stilisierung. Es handelt sich um einen Modus des Handelns und Regierens (Technokratie), des Legitimierens (Zweckrationalität), des Wissens (Expertenwissen) und des Theoretisierens (Funktionalismus). Man könnte den Eindruck erhalten, die Weiterführung des Zivilisationsprozesses sei von der kontinuierlich produzierten Gesamtheit wissenschaftlich-technischer Möglichkeiten vorherbestimmt. Technokratie löst politische Herrschaft durch Sachgesetzlichkeiten ab, entpolitisiert den Staat und macht ihn zum Subjekt einer Verwaltung, die Wirtschaft und Industrie positiv organisiert. Dieses Image lebt heute im Modus der Kommission weiter. Dort versammelt sich Spezial- und Expertenwissen; häufig ist von Management und Technokra105 106
107 108
Morin (Fn. 7), S. 138 f. Vgl. statt vieler M. Koskenniemi, From Apology to Utopia, 1989; N. Purvis, Critical Legal Studies in Public International Law, Harvard International Law Journal 32 (1991), S. 81; O. Korhonen, Liberalism and International Law, Nordic Journal of International Law 65 (1996), S. 481; F. R. Tesón, The Kantian Theory of International Law, Columbia Law Review 92 (1992), S. 53; J. Rawls, The Law of Peoples, 1999. D. Schümer, Das Gesicht Europas, 2000, S. 54 ff., 66; ebenso D. Heater, The Idea of European Unity, 1992, S. 153. Schümer (Fn. 107), S. 45.
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tie die Rede. Es kommt zu einer Diffusion der Verantwortungszusammenhänge, indem Aufgaben auf das europäische Ausschusswesen verlagert werden (sog. Komitologie).109 Expertenwissen steht für die Rationalisierung des Weltbildes, die nach der Aufklärung aus der Gesellschaft zunehmend eine Erkenntnisgesellschaft gemacht hat. Wissenschaftliche Erkenntnis wird benutzt, um Entwicklungen zu prognostizieren und zu kontrollieren. Die instrumentelle Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse schlägt den Bogen von der Erkenntnis zur Machbarkeit. Wissenschaftliche Expertise aber speichert nichts.110 Kennzeichnend ist stattdessen das Dispositiv des Ingenieurs, das sich mit dem Projekt- und Progressionsmythos sowie der „Bau“-Metapher und der Genealogie des form follows function fest in der Tradition der Hochmoderne verorten lässt.111 In dieselbe Richtung wie der europäische Fortschrittsglaube und das Technik-Pathos zielt schließlich die Feststellung, dass Europa als Projekt konzipiert ist: Auch hierbei handelt es sich um eines der Zentralmotive der Moderne.112 Schließlich verleihen auch die Gründungsideale (Frieden, Wohlstand, Supranationalität)113 dem europäischen Imaginären keine Ähnlichkeit mit dem staatlichen Imaginären politischer Macht. Sie sind verblasst und vermögen kaum noch die Imagination des Einzelnen zu prägen; zudem sind sie Teil eines Gründungsmodells technischer Kunst, dessen zeitloses Muster sich aus wissenschaftlicher Durchdringung ergibt. Das Friedensideal erschien als Problem angewandter Politikwissenschaft, die im Neofunktionalismus Niederschlag fand; das Wohlstandsideal erschien als Problem angewandter Wirtschaftswissenschaft, das im Erbe der Ricardoschen Freihandelstheorie und der Theorie der komparativen Kostenvorteile Niederschlag fand; das Supranationalitätsideal schließlich wurde aufgrund der psychoanalytischen Annahme umgesetzt, dass der Fremde, lernte man ihn nur besser kennen, weniger fremd würde. Unabhängig von der Tatsache, dass diese Umsetzungen problematisch sind,114 kann man von Cassirer viel über die Vektoren dieser Gedanken lernen:115 Das Projekt der Integration erscheint als ein aus dem Geist der Wissenschaft geborenes technisches Kunstwerk. Vielleicht nicht einzeln, doch in ihrer Zusammenschau zeichnen diese Phänomene ein vernunft- und interessengeleitetes Bild der europäischen Integration. Das 109 110
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Statt vieler C. F. Bergström, Comitology, 2005, m.w.N. Expertise, wie jeder wissenschaftliche Diskurs, besteht in der Gegenwart. Expertise testet die Vergangenheit und die Zukunft vor der Folie gegenwärtiger Interessen. Recht hingegen testet die Gegenwart vor der Folie der Vergangenheit, während politische Handlung die Gegenwart vor der Folie der Zukunft testet: Kahn (Fn. 70), S. 182. Ausführlich Haltern (Fn. 45), S. 148–172. Umfangreiche weitere Nachw. bei M. Krajewski (Hrsg.), Projektemacher, 2004; weiter P. Fitzpatrick, The Mythology of Modern Law, 1992, S. 40. Vgl. hierzu kritisch J. H. Bergeron, An Ever Whiter Myth, in: P. Fitzpatrick/J. H. Bergeron (Hrsg.), Europe’s Other, 1998, S. 3 (14 ff.). Der EuGH hat sich den Progressionsmythos durch die Privilegierung der teleologischen Auslegungsmethode zueigen gemacht. Weiler (Fn. 33), S. 437. Haltern (Fn. 45), S. 172 ff., 185 ff. E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 1998, S. 339 ff.
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neue Europa hatte mit der Nostalgie nach dem Vorbild Berlins oder Wiens wenig zu tun.116 Die zunehmende Bürokratisierung Europas ist keineswegs pejorativ zu verstehen. Bürokratischer Zentralismus und die ideologische Konsolidierung Europas als Handelsblock, organisiert nach den Vorgaben des Kalten Krieges, wurden als fortschrittlich und zukunftsträchtig angesehen. Die neugeformten Organisationen, insbesondere die Gemeinschaften, der Europarat und die OECD, spielten dabei eine durch Institutionalisierung stützende Rolle. Dass sich das Politische Europas im Wesentlichen auf seine Rolle im Kalten Krieg beschränkte, daneben auch als Strategie friedlicher politischer Ordnung mitlief, sonst jedoch das Wirtschaftliche im Vordergrund stand, hat Gründe, die tiefer sitzen als strategische Überlegungen. Europa war zwar nicht „tot“ (Morin), wurde aber umdefiniert. Es ging nicht länger nur um Politik, sondern um den Gemeinsamen Markt und damit um den neuen Konsumismus und den Wiederaufbau. Europa als geistiges oder philosophisches Projekt hingegen schien nach ganz überwiegender Meinung vollständig diskreditiert zu sein,117 und Europa schien keine andere Rechtfertigung als diejenige zu suchen, die ihm von der kapitalistischen Moderne zur Verfügung gestellt werden konnte.118 Dies bedeutet nicht, dass die ökonomische Dimension unpolitisch war. Im Gegenteil vermochte die neue Idee einer Wirtschaftsgemeinschaft insbesondere für sozialdemokratische Parteien einen neuen Fokus zur Verfügung zu stellen, der es ermöglichte, die Verbindungen zur alten, diskreditierten Europaidee zu kappen. Die ideologische Erschöpfung des Nationalismus bot die Chance, neue politische Programme in Gang zu setzen. Insbesondere für die Westdeutschen war dies angesichts der Teilung der Nation einerseits und der Erfahrung des Dritten Reiches andererseits eine willkommene Option. 2. Die Liquidierung von Souveränität Die Charakterisierung dieses politischen Programms als flacher Konsumismus greift insofern zu kurz, als die europäische Integration damit dezidiert Abstand hielt vom Souveränitätsdenken der Nationalstaaten. Die Exzesse eines körperschaftlichen, sinngeladenen und erotischen Begriffs des Politischen, der im Konzept der Souveränität kondensiert, hatten sich als physisch und moralisch verheerend herausgestellt. Der Schritt weg vom Europa der Souveränität hin zum Europa des Marktes bedeutet, den nationalstaatlichen souveränen Willen und seine transzendenten Substrukturen durch ein funktionales Äquivalent zu ersetzen: die Umstellung auf Geld als Leitmedium. Dies muss insoweit als kluger Schritt gelten, als er auf eine sich beschleunigende Gesellschaft setzt, die ein neues vermittelndes Band kennt, welches 116 117 118
Evokativ G. Delanty, Inventing Europe, 1995, S. 126 ff. Eindringlich J. Patocka, Platon et l’Europe, 1983. Delanty (Fn. 116), S. 126 f. Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang die Körpermetaphorik konsumkritisch gewendet wieder auftaucht: “Going into Europe … was about the belly. A market is about consumption. The Common Market is conceived of as a distended stomach: a large organ with various traps, digestive chambers and fiscal acids, assimilating a rich diet of consumer goods.” E. P. Thompson, Writing by Candlelight, 1980, S. 85.
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zugleich das alte Band antagonistisch zersetzt. Dort, wo das Geld einsickert, beginnen sich die Bindungen zu verflüssigen und gelangen neue und kompliziertere, auf die Rationalität des Geldes (und nicht auf Vasallentreue) gegründete Verhältnisse zur Entstehung. Dies war Teil der Gründungsratio: Die Abwendung von einem Exzess des Nationalstaates, der einerseits den Aufruf zum vasallentreuen Opfer ausschweifend missbrauchte und andererseits die Codierung der Inklusion/Exklusion mit einer furchtbaren Konsequenz betrieb.119 Betrachtet man die Geschichte des Geldes, stellt man fest, dass mit dem Hervortreten des Dingcharakters des Goldes die Gegenwart des Transzendenten schwand, für die das Gold reserviert war. Kulturtheoretisch ausgedrückt kann man von einer Desubstantialisierung der Welt sprechen, da das Gleichgewicht von Ding und Zeichen problematisch wird. Dies gilt umso mehr, als Geld kulturgeschichtlich als widernatürlich angesehen wurde, da es sich um eine unfruchtbare Substanz handelte, die aber dennoch Früchte tragen und arbeiten kann. Im Hinblick auf die europäische Integration müssen sowohl diese Desubstantialisierung als auch die Widernatürlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Positivum gewertet worden sein. Die Substanz der Welt hatte ihre Unschuld längst verloren, und die Natur schien jener gewalttätige, destruktive und chaotische Naturzustand zu sein, in dem sich nationalistische Exzesse barbarisch Bahn brechen konnten. „Natur“ und „Substanz“ waren von jenen essentialistischen Postulaten von Nation und Volksgemeinschaft vereinnahmt, die am Anfang der rassischen Barbarei standen. Europa auf ein Verschwinden dieser Substanz und auf eine Verleugnung der Natur zu bauen musste daher eher als ein Versprechen denn als eine Bedrohung erscheinen. Der Eindruck von Krieg und Zerstörung muss so groß gewesen sein, dass der als notwendig empfundene Antimaterie-Charakter von Markt und Geld sogar vergessen ließ, dass – wie jede Inflation lehrt – die Substanzaufzehrung, der Übergang vom Ding zum Zeichen, kein bloßer Benennungsvorgang, sondern eine reale, dingverzehrende Entwertung sein kann. Dies knüpft an die Erkenntnis an, dass dort, wo Geld regiert, weder fanatische Ideologie noch blutige Gewalt regieren. Markt beruht auf ökonomischen Rahmenbedingungen, die vor allem durch entlastende Ausschließungen definiert sind. Systemtheoretisch gesprochen schließt die Codierung Zahlen/Nicht-Zahlen die Codierung gut/schlecht aus. Kulturhistorisch tritt diese Funktion früh, nämlich in Gestalt des Wergeldes in Erscheinung, das Totschlag durch Geldzahlung statt durch weitere Totschlagsspiralen sühnte. Das religiöse Misstrauen gegenüber dem Geld wurde zumindest oberflächlich dahingehend aufgelöst, dass Geld nicht länger nur die Kommunikation mit dem Fremden, sondern auch mit dem brüderlichen Anderen vermittelt. Brüderlichkeit wandelte sich damit von Calvin bis zur Französischen 119
Ich beziehe mich hier v. a. auf die folgenden Werke: J. Hörisch, Brot und Wein, 1992; ders., Kopf oder Zahl, 1996; ders., Gott, Geld, Medien, 2004; N. Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002; G. Simmel, Philosophie des Geldes (1900), 1989; Z. Bauman, Liquid Modernity, 2000; ders., Liquid Life, 2004; ders., Liquid Times, 2007; ders., Liquid Fear, 2006; N. Luhmann, Das sind Preise, Soziale Welt 34 (1984), S. 153; M. Burckhardt, Metamorphosen von Raum und Zeit, 1997; J. Le Goff, Wucherzins und Höllenqualen, 2008; D. Baecker (Hrsg.), Kapitalismus als Religion, 2003.
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Revolution zum Universalen, dessen Inhalt mit „Wettbewerb auf dem Markt“ umschrieben werden kann. Wenn sich „Zivilität und Urbanität unserer Kultur der Geldwirtschaft verdanken“ (Bolz), lag es kulturtheoretisch nahe, nach dem Krieg auf den Markt und das Geld zurückzufallen. Man kann dies auch zeitlich und räumlich fassen. Zeitlich ist Geld vorstellbar als Abbreviatur eines Dings oder als „Ding im Latenzzustand“, nämlich als Option auf etwas. Als solche speichert es Zeit, jedoch nur zukünftige Zeit. Geld ist vergesslich. In seiner Abstraktion löscht es die Vorgeschichte aus. Handel in Geld ist immer ein Zukunftsmarkt, umschreibbar als verallgemeinerter Terminkontraktmarkt, in dem man trading in futures betreibt, mit Optionen handelt und Zugriffsmöglichkeiten offeriert und erwirbt. Zwar kann man durch Geld die Zukunft in die eigenen Hände nehmen, geht aber persönlicher Erfahrungen verlustig, da die Welt auf Strategien des Umgangs mit Knappheit reduziert wird. In der Abstraktion des Codes Zahlung/ Nicht-Zahlung geht Historizität verloren. Im Markt zählt das Selbst als Vektor von Begierden und als Fähigkeit zur Zahlung. Diese völlige Indifferenz des Geldes, die Identitäten und historische Narrationen, Erfahrungen und Praktiken ignoriert, verarbeitet gewachsene Differenzen in artifizielle Differenzen, nämlich in Preisunterschiede. Räumlich kennt der Markt keine Grenzen und ist in seinem Wesen universeller Natur. Diese Eigenschaft teilt er mit der Vernunft, der im europäischen Integrationsprojekt ebenfalls entscheidende Bedeutung zukommt. Aufgrund seiner universellen Äquivalenz ist Geld ein neuer god term, der zu Entwurzelung und Verflüssigung führt. Man klebt nicht länger an der Scholle und verliert die Bodenhaftung, wird nach der Liquidierung der Immobilie mobil und wird flüssig, liquide und beweglich. Man verliert zwar Bestand, gewinnt aber Elastizität. Die Verflüssigung scheint ein Kennzeichen von moderner Identität, ja der gesamten Moderne zu werden (Bauman). Die Union wählt den Weg der Desubstantialisierung, Verflüssigung, Relativierung von politischer Verräumlichung und der für die Integration zentralen Individualisierung als Antwort auf die Substanz, Körperschaftlichkeit, Radiziertheit und Kollektivität nationaler Souveränität. Natürlich ist der Gemeinsame Markt nicht die Finalität der Union; zu den Gründungsidealen zählt, wie dargestellt, vor allem eine stabile Friedensordnung. Doch sind der Markt und die mit ihm verbundenen Grundfreiheiten das zentrale Instrument zur Realisierung dieser Zielsetzung. Dahinter steht die Liquidierung des Körpers des Souveräns. Dies ist ein revolutionärer Schritt, der die Möglichkeit post-souveräner politischer Gemeinschaft vorstellbar werden lässt. 3. Europarecht als post-souveränes Speichermedium Diese Umprogrammierung europäischer Imagination des Politischen, die in ihrem Wesen vielleicht radikaler war als das, was sich die Verfechter eines von Beginn an föderalistischen Europas hatten vorstellen können, bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Rekonstituierung des Imaginären im Recht.
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Die Abwendung von Substanz- und Naturhaftigkeit des Souveränitätsdenkens ist zugleich die Abwendung von der lang zurückreichenden und religiös imprägnierten Vorstellung vom Recht als Erscheinung des Souveräns. Dadurch nimmt der Lektürecharakter eine grundlegend andere Form an; Interpretation ist nicht länger eine performative Beglaubigungspraxis politischer Identität. Der Zuschnitt des Rechts als Speichermedium wird transformiert. Man kann dies wiederum sowohl negativ als auch positiv formulieren. Die negative Formulierung stellt darauf ab, was im Europarecht nicht gespeichert ist. Es fehlt an der existenziellen Verbindung von politischer Handlung in Gestalt eines (mythisch gefärbten) Gründungsaktes mit der rechtlichen Lektüre als Sichtbarmachung der idealen Bedeutung dieser Handlung zur Stabilisierung der Vergemeinschaftung. Es gibt keine Beglaubigung eines funktionierenden Ursprungsmythos, keine Körperschriften, keine eingezeichneten Spuren und keine transzendenten Verweise auf das Mysterium, das sich hinter der Souveränität verbirgt und ein metaphysisches Versprechen vorhält. Der Bruch, der mit der Umstellung auf Latenz, Zukunft, Liquidität und Beschleunigung einhergeht, führt zu einer Abweisung körperschaftlicher Identitätspraxis im und durch das Recht. Stattdessen kommt es zu einer Alleinstellung und Flexibilisierung, einer grundlegenden Individualisierung als Gegenbewegung zur Teilhabe an einem Kollektivkörper.120 Die positive Formulierung stellt darauf ab, was im Europarecht gespeichert ist. Neben dem nur aufmerksamen Lesern der ersten Seiten der Gründungsverträge auffallenden Friedensideal ist dies in erster Linie der Verweis auf den Markt. Der Markt ist – wie auch die Vernunft hinter dem Schleier des Nichtwissens – ohne Grenzen und universeller Natur. Das Recht steht hier im Dienste der Wirtschaft. Die Grammatik der Wirtschaft aber ist eine andere als die des Rechts, wie sie aus dem staatlichen Imaginären bekannt ist. Dies wird bereits am Beispiel des Topos Körper deutlich. Während das Recht in vielerlei Hinsicht körperbezogen funktioniert – sowohl was den Regelungsgehalt und die Macht über Leben und Tod angeht als auch was die imaginativen Verweisstrukturen mit den Konnotationen von Gewalt und Körperschriften angeht –, funktioniert Wirtschaft ganz anders. Die Wirtschaftswissenschaft ist eine Wissenschaft, die zwar von Bedürfnissen und Begierden handelt, gegenüber dem Körper aber vollkommen gleichgültig ist. Das Subjekt der Wirtschaftswissenschaft ist lediglich ein Platzhalter für Interessen, die wiederum ein Vektor von Begierden sind. Einer Wirtschaft ist gleichgültig, wer hinter diesen Begierden steht und wie diese kontrolliert werden könnten. Hierin liegt begründet, warum die Wirtschaft – anders als das Recht – keine jurisdiktionellen Grenzen kennt, sondern ihrem Wesen nach eine globale Ordnung darstellt. Markt und Kontraktualismus gehen auf diese Weise im europäischen Rechtstext eine Koalition ein. Sowohl der Markt als auch der Kontrakt verweigern sich dem historischen Selbst. Im Kontrakt verschwindet das Selbst hinter dem Schleier des Nichtwissens, im Markt hinter den Begierden. Besonders sinnfällig wird dies, wie bereits angedeutet, am Beispiel des Geldes, dem universalen Tauschmittel. Nichts ist gedächtnisloser 120
Neuerdings A. Somek, Individualism, 2008.
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als das Geld.121 Geldgeschäfte soll man nie mit Freunden (oder Feinden) machen, so dass der indizierte Partner für das Geldgeschäft „die uns innerlich völlig indifferente, weder für noch gegen uns engagierte Persönlichkeit“ ist.122 Im Preis verschwinden Geschichte und Individualität. Europäischer Kontrakt, Markt und Geld konvergieren in diesem Punkt. Alle drei deuten auf eine gewisse Gleichgültigkeit hin, die sich dem Rechtssubjekt bei der Lektüre mitteilt und die gespiegelt wird in der Gleichgültigkeit der Unionsbürger gegenüber dem Projekt Europa. Man kann mit dieser Diagnose unterschiedlich umgehen. Ins Affirmative gewendet ist die Desubstantialisierung einer nationalistischen und gewalttätigen Welt eine Revolution, deren Möglichkeitshorizont das große Versprechen von Zivilität, Toleranz, Elastizität und Neutralität birgt. Der Konfliktgeneigtheit moralischen Diskurses ist ebenso die Spitze abgebrochen wie übersteigerten Loyalitäten oder überkommenen Differenzierungs- und Exklusionsmechanismen. Durch die Analogisierungsfähigkeit von allem mit allem und die damit einhergehende Befreiung von Bindungen – ein Vorgang, den man emanzipatorisch deuten kann – wird Raum geschaffen für Kooperation und Funktionslogik. Der „Übergang vom Existentialismus zum Konsumismus“, der so häufig als Teil eines westlichen Krisendiskurses figuriert und als Teil einer von den Europäern erreichten, „noch immer anhaltenden Hochebene ihrer allesdurchdringenden Nachkriegsnichtigkeit“ gegeißelt wird,123 stellt sich daher als zivilisierend und hoffnungsvoll heraus. Möglicherweise handelte es sich historisch um die einzig mögliche Legitimationsstrategie; heute mag in dem Versprechen die Aussicht auf eine netzwerkförmige, individualisierte, fragmentierte und der eigenen autonomen Entscheidung unterliegende personale Identität liegen, soweit es gelingt, die Logik des Marktes mit derjenigen der Vernunft rechteförmig anzureichern. Ins Negative gewendet markiert der Unterschied zwischen staatlicher und europäischer Imagination einen Mangel. Aus dem Fehlen des souveränitätsgebundenen Imaginären folgt danach ein Defizit in der Authentizität europäischer Rechtstexte, das das soziale Legitimationsdefizit zu erklären vermag. Die Bürger interessieren sich deshalb kaum für die EU, weil sie deren fundierende Texte nicht als die „ihrigen“ ansehen, sondern einfach nur als Texte. Möglicherweise gibt es eine idealisierte Bedeutung; diese aber hat keine Letztbedeutung, sondern ist allein aus der Semantik der Vernunft heraus umrissen. Europäische Texte können daher kaum als Gedächtnis fungieren, da es an sozialem Sinn fehlt, der als „unsriger“ transportiert werden könnte. Unter diesen Umständen kann das europäische Recht kaum legitim Loyalität einfordern. Man kann sich weder durch Vernunft noch durch Begierden zur Loyalität bringen. Im Konflikt zwischen Loyalität und Verantwortung behält die Verantwortung die Oberhand. Verantwortung aber ist nicht der Modus des Rechts, sondern derjenige der politischen Handlung. 121 122 123
D. Baecker, Das Gedächtnis der Wirtschaft, in: ders. u.a. (Hrsg.), Theorie als Passion, 1987, S. 519 (526). Dies ist eine der brillanten Einsichten von Simmel (Fn. 119), S. 290 f. Zitate bei P. Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 18 f.
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Genau hierin liegt nach dieser negativen Wertung begründet, warum der europäische Bürger die Union primär als immer wieder neu handelnden und neu verhandelnden Politiker wahrnimmt. Politiker sprechen den Verantwortungsdiskurs, die Zukunft erscheint als Möglichkeitshorizont. Europa ist das nimmer endende Projekt. Verantwortung als Unterfütterung von politischer Handlung (und von Revolution) lässt Europa insofern als eine ewige Revolution erscheinen: Die Union schaut immer nur auf das Neue; kaum ist die eine Regierungskonferenz beendet, wird bereits die nächste geplant. Unaufhaltsam stürmt die Gemeinschaft nach vorn, beständig wird Geschichte neu geschrieben.124 Es liegt im Wesen von Revolutionen, mit der Vergangenheit zu brechen, weshalb auch Bezugnahmen auf die abendländische Kultur, das Christentum oder Latein als ehemalige lingua franca so wenig überzeugend klingen. Sie werden als Rhetorik durchschaut und negieren sich im Angesicht des Modus der politischen Handlung selbst. Es gelingt dieser permanenten Revolution kaum, ihren Sinn in Körper oder Texte einzuschreiben. Damit fehlt ihr ein Gedächtnis. Ihre Authentizität besteht immer nur im vergesslichen Augenblick. Soll dieser in die Zeit verlängert werden, muss unmittelbar weiter gehandelt werden. Daher erscheint Europa im Auge des Betrachters so atemlos. Die rastlos und hektisch wirkende Handlung ist notwendig, um Europa Sinn angedeihen zu lassen. Es gibt keine Zeit und keinen Raum, den Sinn aus Texten abzulesen. Stabiler Sinn kann sich unter diesen Bedingungen nur einstellen, wenn er unablässig neu durch politische Handlung generiert wird. Anders als der Staat kann sich die Union nicht auf ein Sinnreservoir verlassen und auf diesem ausruhen. Die Schaffung einer europäischen Verfassung wäre nicht ein Beitrag zu einer europäischen Identität gewesen, sondern nur ein weiterer Schritt im ewigen Voranstürmen eines Europas, dessen atemloser Vorwärtsdrang immer unbefriedigt ist und immer unbefriedigend bleiben muss. 4. Post-Post-Souveränität (1): Politische Ästhetik Unabhängig von der Frage, welcher dieser beiden Bewertungsmöglichkeiten man zuneigt – die Antwort hängt von der normativen Gestimmtheit ab –, kann man jedenfalls dann Probleme voraussehen, wenn der Erwartungsdruck auf das Gemeinwesen steigt. In der Union muss er steigen, da mit dem zunehmenden Übergang von Kompetenzen und Souveränitätsrechten das Legitimationsdefizit der Union wächst. Viele vertreten die Notwendigkeit einer europäischen Identität bereits deshalb, weil nur so die Ausübung europäischer Herrschaft in der längst entstandenen „dualen Souveränität“ in Europa erträglich legitimiert werden könne.125 Mit der Einheitlichen Europäischen Akte wurde zudem die Problematik der Rechtfertigung von Mehrheitsabstimmungen im Rat aufgeworfen und damit ein funktionelles Bedürfnis nach europäischer Identität unabweisbar (oben I. 1.). 124 125
Beispiele solcher Geschichtsumschreibung: C. Shore, Building Europe, 2000, S. 40 ff. Etwa B. Laffan, The Politics of Identity and Political Order in Europe, JCMS 34 (1996), S. 81; Begriff bei M. R. Lepsius, Zwischen Nationalstaatlichkeit und westeuropäischer Integration, in: B. Kohler-Koch (Hrsg.), Staat und Demokratie in Europa, 1992, S. 180 (185).
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Diese Problematik ist nicht verborgen geblieben. Insbesondere die Organe der Union haben Gegenmaßnahmen angestoßen, die an die Erkenntnisse der politischen Theorie und Wissenschaften anknüpfen und auf das Erfinden von Traditionen126 sowie das Imaginieren von Gemeinschaft127 setzen. Als imaginierte Gemeinschaft muss die Union durch komplizierte diskursive, ideologische, politische und kulturelle Mechanismen konstruiert werden. Diese Konstruktionen benötigen Kommunikation, um ein Bild vom Gegenstand selbst entwickeln und verallgemeinern zu können. Sie benutzen hierzu nicht nur Erzählungen und Geschichten, sondern auch Bilder, Medien und kulturelle Artefakte aller Art. Imagined Communities haben auch mit imago zu tun: Objekte werden zu Sinnbildern.128 Die Union gab sich daher eine eigene Ikonographie. Am 29. Mai 1986 wurde zum ersten Mal das Europa-Emblem vor dem Kommissionsgebäude geflaggt. Diese Europäische Flagge war vom Europarat übernommen worden; vor blauem Hintergrund bilden zwölf goldene Sterne einen Kreis. Die Website der Europäischen Union informiert darüber, dass dies als Zeichen der Union der Völker Europas gemeint sei: Die Zahl zwölf sei unveränderlich, da sie als Symbol für Vollkommenheit und Einheit gilt; der Kreis stehe für Solidarität und Harmonie zwischen den europäischen Völkern. Die Union schließt an die Ratio des Europarats an, wonach die Zahl zwölf das Symbol der Perfektion und der Reichhaltigkeit sei, welches man ebenso mit den Aposteln, den Söhnen Jakobs, den Tafeln des römischen Gesetzgebers, den Aufgaben des Herkules, den Stunden des Tages, den Monaten des Jahres und den Sternzeichen assoziiere. Außerdem stehe das kreisrunde Layout für Einheit.129 Weiterhin werde der Heiligenschein der Jungfrau Maria repräsentiert130 und die Sternenkrone des apokalyptischen Weibes aus der Offenbarung des Johannes evoziert. Nach einer bedeutenden Lesart erfolge im Zeichen der Krone aus zwölf Sternen die Wiedergeburt des Messias.131 Die Kommission hielt das Emblem für ein Symbol europäischer Identität und Einigung.132 Daneben gibt es eine Europa-Hymne, einen standardisierten Reisepass, viele Briefmarken, die die Portraits von Robert Schuman und Jean Monnet zeigen, europäische Nummernschilder, ein EU-Jugendorchester, einen europäischen Literaturpreis, zahllose „Jean-Monnet-Preise“ sowie einen „Europäische Frau des Jahres-Preis“. Es gibt „Europäische Wochen“, „Europäische Kulturmonate“, die „Europäische Kulturhauptstadt“ und diverse „Europäische Jahre“ (etwa des Kinos oder der Umwelt). Schließlich gibt es ein „Motto“ („In Vielfalt geeint“: Es drückt laut Eigendarstellung der EU aus, dass sich die Europäer über die EU geeint für Frieden und Wohlstand einsetzen und dass die vielen Kulturen, 126 127 128 129 130 131 132
Anschließend an E. Hobsbawm/T. Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, 1983. Anschließend an Anderson (Fn. 67). Statt vieler: U. Bielefeld/G. Engel (Hrsg.), Bilder der Nation, 1998; von der Heiden (Fn. 92); P. Helas u.a. (Hrsg.), FS Bredekamp, 2007. Zitiert bei Shore (Fn. 124), S. 47. T. Bainbridge/A. Teasdale, The Penguin Companion to European Union, 1995, S. 189. A. v. Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 51 mit Fn. 216. Kommission, Europa der Bürger, KOM(88) 331, abgedr. in Bull. EG Beil. 2/1988, S. 5.
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Traditionen und Sprachen in Europa eine Bereicherung für den Kontinent darstellen) und einen Europatag, den 9. Mai in Erinnerung an die Schuman-Erklärung, an dem Veranstaltungen und Festlichkeiten stattfinden, die Europa seinen Bürgern und die Völker der Union einander näher bringen sollen.133 Sieht man über die Unbeholfenheit dieser Maßnahmen hinweg, fallen drei Punkte auf. Erstens spiegelt sich ein Denken wider, welches in eher konservativen Strömungen sozial-evolutionären Gedankenguts aus dem 19. Jahrhundert verwurzelt zu sein scheint. Liest man Geschichtsumschreibungen aus Brüssel, treten das Europäische Parlament und die Kommission darin als Vorkämpfer des Wechsels auf, die die Geschichte auf ihrer Seite haben und Europa seiner vocation fédérale zuführen. Die EU selbst erscheint als logische Entwicklung der Aufklärung, als eine Kraft des Fortschritts, welche ihre Inspiration aus der Wissenschaft, der Vernunft, der Rationalität und dem Humanismus bezieht. Zweitens zeigt sich im Diskurs über „europäische Kultur“ ein Widerspruch. Auf der einen Seite wird Europas kulturelles Erbe als etabliertes und statisches Objekt dargestellt: als organisches Phänomen, das sich quasi natürlich aus der historischen Tiefe Europas ergibt und als stark, stolz, unverwechselbar und unzweideutig erscheint. Auf der anderen Seite aber wird europäische Kultur als zerbrechlich und verletzlich porträtiert, als etwas, das gehegt und gepflegt und vor gefährlichen Einflüssen geschützt werden muss. Dies sind widersprüchliche Repräsentationen europäischer Identität, die als zugleich essentialistisch und instrumentalistisch erscheint. Drittens, und wohl am wichtigsten, setzt die Ikonographie der EU ein Fragezeichen hinter ihren Anspruch, den Nationalstaat zu transzendieren und eine neue Ära des Europäischen einzuläuten. Vielmehr bewegt sich die Union auf demselben symbolischen Terrain wie die alten Nationalstaaten. Flaggen, Hymnen, Reisepässe und Münzprägung sind Artefakte, die der Domäne nationaler Souveränität vorbehalten waren. Selbst wenn man „nationale Souveränität“ durch „Legitimität der EU-Institutionen“ ersetzt, so ist es doch die Präsenz des in Entstehung befindlichen Staates, die symbolisch evoziert wird. Dass sich die politische Ästhetik nicht auf offensichtliche Symbole beschränkt, sondern auch auf Kernbereiche der Diskussion wie die Charta der Grundrechte und den Verfassungsvertrag erstreckt, habe ich an anderer Stelle deutlich gemacht.134 Insbesondere die Charta bedient sich dabei einer konsumästhetischen Strategie der Urigkeit und Nostalgie, die sich der Entfremdung des Konsumenten entgegenstemmt und das Gefühl von Individualität stärken soll, das unter Druck geraten ist. Auch die Grundrechtecharta kompensiert die Abwesenheit wirklicher europäischer Geschichte, indem sie den Geist der Virginia Bill of Rights von 1776 und der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 beschwört. Zweierlei wird damit erreicht. Zum einen erscheint die Union verwurzelt in den Ursprüngen der modernen Demokratien. Hierin dürfte neben dem Versuch, die Geschichtslosigkeit der Union zu überwinden, auch ein Beitrag zur Lösung des Demokratieproblems 133 134
http://europa.eu/abc/symbols/index_de.htm (1.12.2008). Ausführlich Haltern (Fn. 45), S. 211 ff.; ders., Pathos and Patina, ELJ 9 (2003), S. 14.
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liegen, da nicht nur an Grundrechtskataloge, sondern auch an das Prinzip der Volkssouveränität angeknüpft wird. Zum anderen werden Statusansprüche der Union gegenüber den Mitgliedstaaten legitimiert, authentifiziert und verifiziert. Damit besteht eine wichtige Funktion der Grundrechtecharta in der Herstellung von Patina, die keine Ansprüche begründet, sondern diese legitimiert. Durch Patina (in Gestalt der Charta) sichert sich die Union ihren Platz auf ähnliche Weise, wie sich neu erworbener Wohlstand in einer Welt traditioneller Hierarchie durchsetzen und als authentisch legitimieren musste: Sie bezieht sich auf kulturelle Symbole und Artefakte, die als gatekeeper für Statusmobilität dienen. 5. Post-Post-Souveränität (2): Politisches Recht Die ästhetische Einheitsproduktion hat bislang nur wenige überzeugt, doch möglicherweise muss man ihr Zeit geben, um ihre Wirkung abzuwarten. Die Macht der Bilder mag von den Schriftwissenschaften noch unterschätzt werden.135 Unterstützung für die politische Einheitsbildung kommt aber inzwischen vom EuGH, der die Brücke von der um den Markt zentrierten Rechtsgemeinschaft zur politischen Gemeinschaft, die das Recht als Gegenstand politischer Imagination zu nutzen versteht, durch seine Grundrechte- und Unionsbürgerschaftsrechtsprechung schlägt. Grundrechte sind zwar einerseits Teil einer juridifizierten Kultur, markieren aber andererseits den Weg in Richtung einer politischen Philosophie. Sie grenzen das „Unsrige“ vom Fremden und Anderen ab; ihre Zuteilung oder Verweigerung ist auch ein Vektor von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft. Dabei erweisen sich gerade die Grundrechte als Träger großer Hoffnungen. Wenn, wie viele vermuten, im Herzen der Europäischen Union eine kalte modernistische Leerstelle, eine geistige Absenz liegt,136 könnte die Sprache der Grundrechte diese Leerstelle mit Inhalt füllen. Der Inhalt wäre durch Werte determiniert, die nicht nur ein gemeinsames Werteband zwischen den Mitgliedstaaten der Union knüpften, sondern insbesondere eine zukunftsträchtige Alternative zur ökonomischen Ausrichtung der Marktlogik zur Verfügung stellten. Dahinter steht, dass den Grundrechten die Umstellung des Wesens der Integration von der wirtschaftlichen Rationalität auf eine ethische Fundierung zugetraut wird. Dies scheint aus mehreren Gründen willkommen. Erstens verliert der Markt als Integrationstelos zunehmend an Attraktivität. Der Gemeinsame Markt ist weitgehend hergestellt mit der Folge, dass die Zukunftsperspektive fehlt. Die Werte des Marktes kommen einer neuen Generation, die als „postmaterialistisch“ bezeichnet wird, auch nicht reichhaltig genug vor und können einer wachsenden Zahl von Menschen keinen Sinn vermitteln. Zweitens knüpfen Grundrechte an einen zivilrepublikanischen Diskurs an, der die Notwendigkeit prä-politischer Integrations135
136
Vgl. dazu etwa G. Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen, 2008; Bredekamp/Schneider (Fn. 92); H. Belting, Bild-Anthropologie, 2005; C. Wulf/J. Zirfas (Hrsg.), Ikonologie des Performativen, 2005; K. Sachs-Hombach (Hrsg.), Bildwissenschaft, 2005. Statt vieler P. Allott, The European Community is Not the True European Community, Yale Law Journal 100 (1991), S. 2485 (2499).
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merkmale – mag es sich dabei um Ethnie, gemeinsame Geschichtserzählungen oder Mythen, geteilte religiöse Überzeugungen oder Sonstiges handeln – bestreitet und stattdessen auf den inneren Zusammenhang von Rechten und Demokratie aufmerksam macht.137 Rechte scheinen damit in der Lage zu sein, eine unwillkommene Diskussion zu umgehen und möglicherweise trennende Gräben durch verbindende Prozeduren und Prozesse zu ersetzen. Damit einher geht eine Fortschrittserzählung, welche Grundrechte als Überwindung atavistischer Unterscheidungen begreift, indem sie auf die geteilte Menschlichkeit abstellt. In Bezug genommen wird insofern ein aufgeklärter Universalismus, der den Impetus der Integration – die Überwindung von Grenzen – teilt und verstärkt. Die Grundrechtsdiskussion setzt sich fort im Topos der Bürgerschaft. Bürgerschaft setzt sich aus den zwei Bausteinen Rechte und Identität zusammen.138 Sie verknüpft den liberalen Impetus, Fortschritt durch weitergehende Zuteilung von Rechten zu erreichen, mit dem Anspruch, identifikatorisches Potential und kulturelles Kapital in der Bürgerschaft zu verankern. Somit ist Bürgerschaft die notwendige Fortsetzung und der logische Schlussstein einer Diskussion um die Ressource Identität und Legitimation in der Gemeinschaft. Die Einfügung des neuen Bürgerschaftskapitels durch den Maastricht-Vertrag war kein historischer Zufall, sondern setzte genau diese Debatte rechtlich um. Überraschend ist dies nicht. Bürgerschaft besitzt für Juristen große Anziehungskraft. Sie erlaubt eine ungebrochene Verbindung vom Konzept der Rechtsgemeinschaft zur Idee einer Bürgergemeinschaft. Letztere knüpft an eine Entwicklung an, die das Europarecht seit den sechziger Jahren prägt. Der Einzelne ist (spätestens durch das Urteil im Fall van Gend & Loos139) vom Gerichtshof als Zentralstelle des Vertrages konstruiert worden, wodurch die ursprüngliche Struktur des Vertrages umgekehrt wurde. Zu dieser „ontologischen Vorrangigkeit des Individuums“140 traten unzählige weitere Faktoren wie die Umstellung der Behandlung von Fragen der Europapolitik von auswärtigen auf innere Angelegenheiten, die Herstellung des Gemeinsamen Marktes, die zunehmende Einschränkung nationaler Regelungsautonomie, immer mutigere legislative Interventionen des Rates (und zunehmend auch des Europäischen Parlaments) mit Hilfe von Weichenstellungen seitens der Kommission, die Erosion des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und die Ausdehnung des Freiheitsbereichs des Einzelnen unter dem Schutz immer trennschärferer europäischer Grundrechte. Innerhalb einer solcherart geprägten Matrix trat notwendigerweise die Frage nach dem Verfassungscharakter des europäischen Gemeinwesens auf den Plan. Wenn die Union nun ein Gemeinwesen (wenn auch kein Staat) ist, muss es „Mitglieder“ und ein bestimmbares Verhältnis zu ihnen geben. Zugleich muss es solche geben, die nicht Mitglieder sein können, womit die Frage 137 138 139 140
Etwa J. Habermas, Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 293. Y. N. Soysal, Limits of Citizenship, 1994. EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 1. Bergeron (Fn. 112), S. 11.
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nach der Exklusion aufgeworfen ist. Für das Problem der Definition dessen, was als „Mitgliedschaft“, „Zugehörigkeit“ o.Ä. bezeichnet werden kann, bot sich der Begriff der „Bürgerschaft“ an. Bürgerschaft bildet damit für die Rechtswissenschaft eine juristisch kontrollierbare Möglichkeit, mit der Evolution integrationspolitischer Diskurse Schritt zu halten, der sich auch im Recht über Fragen der formalen Legitimität hinausbewegt hat. Zudem ist ein Wandel weg von der Integrationsforschung hin zu einer GovernanceTheorie der Union beobachtbar. Das daraus resultierende Verlangen nach einer politischen Imagination zeigt sich praktisch an den Diskussionen um den Verfassungsvertrag und den Vertrag von Lissabon und theoretisch an einer neuen Annäherung von Rechts- und Politikwissenschaften: Erstere interessieren sich vermehrt für nicht-funktionale, nicht-output-orientierte Konzepte des Neuen Konstitutionalismus, letztere machen zunehmend eine normative Wende durch. Bürgerschaft erlaubt einen normativ geprägten Nachvollzug dieser Entwicklung.141 Zur Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft sind in diesem Zusammenhang mehrere Bemerkungen zu machen. Erstens hat sich aus den ursprünglich eher dünnen und skizzenhaften normativen Grundlagen ein zunächst zögerlicher, dann aber zunehmend dynamischer Umgang des EuGH mit den Art. 17 ff. EG ergeben, der zu einer festen Größe mit weitreichender Sprengkraft geworden ist. Sie hat dogmatisch zu einer Ausdifferenzierung in Ansprüche auf soziale Leistungen gegenüber dem Aufnahmestaat, Ansprüche auf soziale Leistungen gegenüber dem Herkunftsstaat und das Recht auf Aufenthalt geführt. Dabei konnte sie sich zunächst auf vorwärtsdrängende Generalanwälte stützen, die einen grundrechtsgestützten Bürgerschaftsdiskurs mit Verve weiterentwickelten.142 Sie entwickelte aber bald eine derartige Dynamik, dass die Generalanwälte vorsichtiger wurden und den EuGH subtil zum Innehalten aufforderten, freilich ohne Erfolg.143 Die Rasanz, mit der diese Entwicklung stattgefunden hat, ist weniger aus funktionalen Notwendigkeiten, aus den Bürgerschaftsnormen oder gar aus dem Sekundärrecht, sondern aus dem mitlaufenden politischen Identitätsdiskurs heraus zu verstehen. Zweitens koppelte der EuGH die Unionsbürgerschaft weitgehend von der Ratio der Liberalisierung der Produktionsfaktoren ab und schwenkte damit von einem wirtschaftsgebundenen auf ein grundrechtsgleiches Recht um. Besonders deutlich wird dies in der zunehmenden Ausweitung des persönlichen und sachlichen Anwendungsbereichs der Unionsbürgerschaft. Zudem betonte der EuGH in vergleichsweise emphatischer Formulierung die Bedeutung der Unionsbürgerschaft 141 142
143
Ausführlicher zu den Bedingungen des Unionsbürgerschaftsdiskurses im Kontext der politischen Praxis und Philosophie Haltern (Fn. 45), S. 423 ff.; ders. (Fn. 3), Rn. 1326 ff. Etwa GA Jacobs zu EuGH, Rs. C-168/91, Konstantinidis, Slg. 1993, I-1191; GA Léger zu EuGH, Rs. C-214/94, Boukhalfa, Slg. 1996, I-2253; GA La Pergola zu EuGH, Rs. C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691; GA Jacobs zu EuGH, Rs. C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637; GA Cosmas zu EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6207. Beispiel: GA Colomer zu EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Nr. 65, 67 und 68 mit Anm. 59, unter Relativierung der Urteile Martínez Sala und Grzelczyk, und Hinweis auf massive Kritik an Inhalt und Methode in Grzelczyk.
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und machte deutlich, dass es sich nicht nur um einen rein symbolischen Begriff handeln soll: „Der Unionsbürgerstatus ist nämlich dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.“144 Rhetorisch fällt auf, dass die Unionsbürgerschaft als „Status“ bezeichnet wird, also als Kategorie, die keineswegs prozedural oder in der Entwicklung befindlich, sondern fest verwurzelter und statischer Bestandteil des Gemeinschaftsrechts ist. Dieser ist zugleich der „grundlegende“ Status der Einwohner Europas, woraus sich eine subtile Gewichtung von Unionsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit ergibt. Dadurch, dass die Unionsbürgerschaft zum grundlegenden Individualstatus „bestimmt“ ist, kommt ihr von Anfang an, nicht mehr potenziell in der Zukunft, ein Gewicht zu, das der Gerichtshof heute nur noch umzusetzen, nicht aber zu entwickeln braucht. Bereits durch die Rhetorik teilt der Gerichtshof seinem Leser damit Anderes mit, als dieser aus der Lektüre von Art. 17 Abs. 1 S. 3 EG wissen könnte. Gespiegelt wird dies in den Ausführungen von Generalanwalt Cosmas, der ausdrücklich die Abkehr vom Markt und die Hinwendung zum rechtegestützten Status hervorhebt: Er spricht in Bezug auf Art. 18 EG von einer „am Menschen ausgerichteten Betrachtungsweise“, die dazu führt, dass der „funktionale“ Einsatz von Personen für die Zwecke des Gemeinsamen Marktes abgelöst wird durch die „Möglichkeit substantiellen Charakters, d.h. ein wirkliches und wahrhaftiges Recht, das der autonomen Verwirklichung eines Ziels des Inhabers selbst dient und nicht zugunsten der Gemeinschaft oder des Erfolgs ihrer Ziele gilt“; es handele sich um ein „andersartiges Recht, ein Recht auf Freizügigkeit, das sich aus dem Status des Unionsbürgers ergibt und im Verhältnis zur wirtschaftlichen oder nichtwirtschaftlichen europäischen Einigung keine subsidiäre Bedeutung hat“.145 Man kann hierin ein Element des integrationsbezogenen Fortschrittsdiskurses entdecken.146 Drittens erstreckt sich die Rechtsprechung keineswegs nur auf Personen, die in der Lage sind, das mobility game zu spielen und Grenzen ohne Mühe zu überqueren. Die Urteile des EuGH sind zu einem guten Teil zugeschnitten auf Menschen, deren ökonomischer Status als „at best marginal to the labor market“ bezeichnet werden kann.147 Ein Beispiel ist Frau Martínez Sala, die kinderreich, seit Jahren ohne Arbeit und von Sozialhilfe abhängig war. Das Argument, die europäische Integration stelle die ohnehin seit Jahrhunderten grenzüberschreitend mobile und kosmopolitische Elite in ihren Mittelpunkt, wird durch die Unionsbürgerschaftsrechtsprechung entkräftet. Viertens erstreckt der EuGH das Solidarband, das im Vertrag in erster Linie auf das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander bezogen wird, auf das Verhältnis 144 145 146 147
EuGH, Rs. 184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 31. GA Cosmas zu EuGH, Rs. C-274/96 (Fn. 142), Nr. 83–85 (Hervorh. weggelassen). Haltern (Fn. 3), Rn. 1336 ff. J. Shaw, Law of the European Union, 2000, S. 379.
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zwischen Individuen. Er erkennt „eine bestimmte finanzielle Solidarität der Angehörigen dieses Staates mit denen der anderen Mitgliedstaaten“148 an. Ging es bisher um die Umstellung der europäischen Rationalität vom Mitgliedstaat auf den Einzelnen und dann von der Logik des Gemeinsamen Marktes auf die Zwecke des Individuums, kommt an dieser Stelle explizit eine kollektive Dimension ins Spiel. Der Gerichtshof deutet hier seine Kehrtwende vom interessen- oder vernunftgestützten Identitätssurrogat an. Solidarität ist etwas anderes als eine vertragliche Verpflichtung zur Zahlung: Sie leitet sich aus dem Bewusstsein über Gemeinsames ab. Fünftens wird dies durch einen Unterschied zwischen dem EuGH und seinen Generalanwälten bestätigt. Anders als etwa Generalanwalt Cosmas, der die Unionsbürgerschaft als „Grundrecht persönlicher Freiheit“ und als „Gipfel der Individualrechte“ konzipiert149, geht es dem EuGH gerade nicht um Freiheit, sondern um Gleichheit. Insbesondere durch die Verknüpfungen mit Art. 12 EG, dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, definiert der Gerichtshof den Inhalt von Unionsbürgerschaft in wesentlichen Punkten mit dem Postulat, dass die Bürger über die Grenzen hinweg gleich, jedenfalls nicht aufgrund unterschiedlicher Staatsangehörigkeit ungleich sind. Dies setzt ein Band zwischen den Menschen voraus, durch das sie Teil einer Gruppe werden. Die Kriterien dieser Gruppe bleiben unterspezifiziert, doch ist das weder überraschend noch ungewöhnlich. Bemerkenswert ist vielmehr, dass der Individualzuschnitt der Unionsbürgerschaft vom EuGH um eine kollektive Dimension angereichert wird. Diese Dimension ist im Anderson’schen Sinne eine „imaginierte“. Sechstens zeigt sich in der Unionsbürgerschafts- und Grundrechtsrechtsprechung die Markierung zwischen Inklusion und Exklusion, die trotz der ethischen und idealistischen Aufladung von Rechten vorhanden ist. Ein Beispiel ist die Argumentation von Generalanwalt Jacobs im Konstantinidis-Fall, in dem er die umfassende Ausdehnung der Anwendung europäischer Grundrechte auch auf Rechtsakte der Mitgliedstaaten begründen will.150 Kernstück seiner Ausführungen ist der Satz: „[E]r ist berechtigt, zu sagen civis europeus sum und sich auf diesen Status zu berufen, um sich jeder Verletzung seiner Grundrechte zu widersetzen.“151 Die Verwendung des Lateinischen, die Assoziierung des Christlichen (der Apostel Paulus wählt die Parallelsemantik civis romanus sum, Apostelgeschichte 16,37; 22,25–29) und der Bezug auf Rom lassen aus der universalistisch gemeinten Argumentation eine kulturell verwurzelte und räumlich radizierte Argumentation werden. Auch in dem vom Generalanwalt gewählten Beispiel152 präsentiert er sich aufgrund des Bezugs 148 149 150 151 152
EuGH, Rs. C-184/99 (Fn. 144), Rn. 44 (meine Hervorh.). GA Cosmas zu EuGH, Rs. C-274/96 (Fn. 142), Nr. 89. GA Jacobs EuGH, Rs. C-168/91 (Fn. 142). Ebd., Nr. 46. „Angenommen, ein Mitgliedstaat führt ein drakonisches Strafgesetzbuch ein, wonach Diebstahl mit Amputation der rechten Hand bestraft wird. Ein Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats begibt sich in Ausübung seiner Freizügigkeitsrechte nach den Art. 48 ff. EWGVertrag [heute Art. 39 ff. EG] in dieses Land, stiehlt einen Laib Brot und wird dazu verurteilt, dass seine rechte Hand abgeschlagen wird.“ Ebd., Nr. 45.
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auf die menschliche Würde des Individuums und den Kern dessen, was uns zu Menschen macht, als Humanist und Universalist; das heraufbeschworene Klischee aber ist das des barbarischen Orients. Mit erstaunlich wenigen Worten gelingt es dem Generalanwalt, ein reiches Universum von Ideen, Strukturen und Texturen entstehen zu lassen, welches Teil der europäischen Integration und ihrer Grundrechte ist, aber nichts mit hochmoderner diskursiver Vernunft zu tun hat. Grundrechte besitzen eine „dunkle“ Unterseite. Die Doppelbödigkeit des mit Grundrechten kurzgeschlossenen Bürgerschaftsdiskurses spiegelt die Doppelbödigkeit staatlicher Semantik. Einerseits bezeichnen Staat und Nation den Aufstieg eines modernen, posttraditional organisierten Gemeinwesens, das von organischen Bindungen befreit ist: Alle prä-modernen Bande, die das Individuum an einen Stand, eine Familie, eine Religion oder eine sonstige Gruppe fesseln, sind in Auflösung begriffen. Andererseits produziert gerade diese Moderne ihre eigene Antithese. Im Zeichen einer abstrakten Öffentlichkeit und einer gestaltlosen Nivellierung des sozialen Bandes wuchern die Individuen ins Verborgene und suchen dort die Spuren echter Zusammengehörigkeit.153 So betrachtet ist das Prä-Moderne der Gemeinschaftlichkeit von Volk und Nation gerade nicht prä-modern, sondern ein Modernisierungseffekt. Die Berufung auf gemeinsame Wurzeln, geteilte Geschichte, kulturelle Einheit oder sonstige kontingente Materialität ist das Mitlaufende der modernen Sprache des Nationalstaates. Es ist heute mehr denn je verknüpft mit einer Rhetorik des Eingeweihten, Unsagbaren und Geheimen. Der Staat spricht zwar die Sprache von Bürgerschaft und Universalität, meint aber zugleich einen „unaussprechbaren Rest, aus dem man das Unverwechselbare, das ursprünglich Gemeinsame herausriecht“.154 Diese Verbindung von Bürokratie und identitärer Umwölkung wird mit der Hinwendung zur Post-PostSouveränität nun in die europäische Integration importiert. Zusammenfassend stellt sich die Frage, ob das vom EuGH gesprochene, zunehmend politisch und imaginativ aufgeladene Recht auf entsprechende Glaubensbereitschaft beim europäischen Bürger stößt. Indem der EuGH den dynamischen Unionsbürgerschaftsdiskurs führt, trägt er immerhin eine beachtliche Solidaritätsund Glaubenszumutung an die europäischen Bürger heran. Neu daran ist, dass die Rhetorik, die bisher von den politischen Instanzen der Union gepflegt wurde, in den Diskurs der Rechtsprechung aufgenommen wird. Zwar finden sich in den Dokumenten der Gemeinschaft Appelle an Solidarität, Gemeinschaft, gleiche Werte und Einstehenmüssen in vielfältiger Form. Sie sind dort jedoch als politische Handlung erkennbar und identifizieren einen Möglichkeitsraum. Rekurriert hingegen die Rechtsprechung auf den Solidaritätsbegriff, verkoppelt sie die Ressourcen des Rechts mit diesem Begriff, womit ein imaginativer Schritt neuer Qualität getan ist. Auch hier handelt es sich lediglich um Worte, die geglaubt werden müssen, doch steckt hinter dem Recht ein andersgearteter Glaube als hinter der politischen Hand-
153 154
J. Vogl, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Gemeinschaften, 1994, S. 7 (17). Ebd.
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lung, was der gegensätzlichen Grammatik dieser beiden symbolischen Formen geschuldet ist. Das Recht wendet den Blick von den unendlichen Möglichkeiten der Zukunft auf die Vergangenheit. Das Recht verkörpert die Geschichte – unsere Geschichte –, die sie als das hat entstehen lassen, als die wir sie und uns selbst heute sehen. Der Gerichtshof liest gespeicherten Sinn aus den von ihm interpretierten Texten; dies ist die variantenreich wiederholbare und damit prozeduralisierte Transformation von Handlung in Erinnerung. Die imaginative Zumutung des Rechts besteht darin, dass den Bürgern die Authentizität ihrer eigenen Solidarität als Datum angetragen wird. Ob dem EuGH geglaubt werden wird, lässt sich nicht mit Sicherheit vorhersagen; er müsste die Bürger davon überzeugen können, dass er keinen Einschreibungs-, sondern einen Leseakt vornimmt. Skeptisch stimmt insoweit, dass die Wahl des „Bürgers“ als Anknüpfungspunkt für eine imaginäre Einheitsbildung auf den wandernden Europäer setzt. Rechtlich ist dies unausweichlich, denn nur so wird der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts eröffnet. Kulturgeschichtlich ist dies aber problematisch: Zugehörigkeitsstrukturen können eher locker oder eher eng sein, und „der Ort einer Gesellschaft auf dieser Skala scheint mit dem Grad der Sesshaftigkeit zusammenzuhängen. Nomadische Gesellschaften weisen eine lockere, sesshafte dagegen eine dichte Zugehörigkeitsstruktur auf.“155 Ebenfalls skeptisch stimmt, dass jede Art von Bürgerschaftsdiskurs eine Tendenz aufweist, die Figur des Bürgers im Lichte einer Konzeption moralischer Tugend zu konstruieren.156 Dann liegt es nahe, die reichere Unionsbürgerschaft gegen utilitaristische oder instrumentalistische Marktbürgerschaft auszuspielen, die Oberflächlichkeit nutzenorientierten Denkens zu kritisieren157 und dem Bürger moralische Fingerzeige zu geben, er solle den parochialen kulturellen Horizont seines Staates verlassen zugunsten einer toleranten Europakultur und sich dem Nutzendenken versagen zugunsten einer transnationalen Solidarität.158 Optimistisch stimmt hingegen, dass der Solidaritätsdiskurs aus dem legislativen und gubernativen in den judikativen Raum übernommen wurde und es allein daher Anlass gibt, ihn ernster zu nehmen. Man kann auf die langsame Wirkkraft eines normativen Diskurses hoffen, der mit dem Gleichheitsgedanken nicht die schlechteste Anknüpfung gewählt hat. Woran jedenfalls kein Zweifel besteht, ist die Tatsache, dass ein soziales Europa und die vom Gerichtshof sowie den politischen Instanzen längst eingeforderte transnationale Solidarität in Zeiten zunehmender Geldknappheit enormen Legitimationsbedarf erzeugen, der mit den bisherigen Ressourcen kaum zu decken sein wird.
155 156 157 158
J. Assmann, Herrschaft und Heil, 2000, S. 220. J. Shaw, Citizenship of the Union, in: Collected Courses of the Academy of European Law, Bd. VI, Buch I, 1995, S. 237 (344). J. H. H. Weiler, Bread and Circus, Columbia Journal of European Law 4 (1998), S. 223. So Everson (Fn. 36), S. 90.
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IV. Finalität, Identität, Post-Souveränität: Optionen Die Finalität der Europäischen Union ist nicht gleichbedeutend mit den Hoffnungen, die sich an die europäische Integration knüpfen. Dass die Union zunehmend politisches Gewicht in die internationalen Beziehungen einbringen will und sich in wachsendem Maße und in sich weitenden Gebieten koordiniert und engagiert, steht außer Frage. Die Hoffnungen darüber, was europäische Integration bedeuten kann, gehen darüber aber weit hinaus und beziehen sich auf die Optionen politischer Existenzformen, die das Selbstverständnis von Individuum und Gemeinschaft sowie von Macht und Herrschaft neu ausrichten könnten. Die Neuausrichtung orientiert sich im Wesentlichen am Topos der Rechtsgemeinschaft und kooptiert die politische Erzählung, in der das Recht als Leitmotiv des Fortschritts figuriert.159 Die historische Flugbahn reicht von der Souveränität des Königs, welche lediglich durch des Königs eigenes Gewissen begrenzt war, zur Politik der Menschenrechte und der zentral gestellten Würde des Einzelnen. Kerngedanke ist der Versuch, soziale und politische Beziehungen durch die Anwendung von Vernunft prägen zu können. Das Recht spielt hierbei zugleich die Rolle des sichtbaren Zeichens als auch diejenige des Instruments. Mehr Recht bedeutet mehr Reform; mehr Reform bedeutet mehr Vernunft. Daher ist das gegenwärtige institutionelle Design auch vorwiegend durch den Experten gekennzeichnet; dieser managt (ob individuell oder in institutionalisierter Form) die globalen Gemeinschaftsgüter ebenso wie die Voraussetzungen moderner Staatlichkeit, mögen diese finanzieller, handelsbezogener, kommunikativer, umwelt- oder gesundheitsbezogener Natur sein. Hier ist ein stark funktionaler Ansatz angelegt, der die Probleme der Welt multipel und funktional differenziert angeht. Ist diese funktionale Herangehensweise einmal institutionalisiert, beginnen sich die entstandenen Institutionen vom Nationalstaat zu lösen und ihre eigene Praxis im Hinblick auf Werte, Ideale und Ziele zu schaffen. Die notwendige Folge ist, dass man sich zu Recht fragt, ob außerhalb dieser Verrechtlichung, Institutionalisierung und Autonomisierung des Vernünftigen ein Raum für die Souveränität der Staaten übrig bleibt. Stellt sich die Welt nun nicht eher als Netzwerk miteinander verbundener Expertenregime dar, die auf unterschiedlichen Ebenen soziale Kooperation und Organisation hervorbringen?160 Dann muss auch Funktion statt Souveränität Identität definieren. In der Folge schlägt die Wandelbarkeit von Funktion auf Identität durch. Für die individuelle Identität bedeutet dies eine Abwendung von der Idee des „souveränen Individuums“, die zwischen dem Renaissance-Humanismus des 16. und der Aufklärung des 18. Jahrhunderts geboren wurde und sich wesentlich durch die Vorstellung des unteilbaren Subjekts, einer in sich vereinheitlichen und nicht weiter teilbaren Entität speist.161 Stattdessen ist das Subjekt nun im Begriff, fragmentiert zu werden. Es ist nicht aus einer einzigen, sondern aus mehreren, sich manchmal 159 160 161
Vgl. zu den Elementen dieser Erzählung im Text nach Fn. 54. Fischer-Lescano/Teubner (Fn. 30). H. Keupp u.a., Identitätskonstruktionen, 1999, S. 21.
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widersprechenden und ungelösten Identitäten zusammengesetzt. Der Prozess der Identifikation selbst, in dem kulturelle Identitäten entworfen werden, ist offener, variabler und problematischer geworden. Dies bringt das postmoderne Subjekt hervor, welches ohne eine gesicherte, wesentliche oder anhaltende Identität konzipiert ist. Identität hat ihre Festigkeit, ihre Eindeutigkeit und ihre Kontinuität verloren. Daraus entsteht eine Art Spiel, das als großes Ziel die Offenhaltung von Optionen bereithält und den Angelpunkt postmoderner Lebensstrategie nicht in der Identitätsbildung, sondern in der Vermeidung von Festlegung sieht.162 All dies ist Folge jener Fragmentierung, die man als „Politik der Verständigungen“163 oder als Ende der Meistererzählungen bezeichnen kann. Identität kann nichts Vorgegebenes und Stabiles mehr sein, sondern schlägt um in einen kontinuierlichen Prozess ausgehandelter Selbstnarration. Gleiches gilt für die kollektive Identität, die früher als imaginäre Geographie, als symbolisch in Raum und Zeit verortet angesehen wurde. Stattdessen verlieren nun starke (und problematische) Identifikationen mit nationalen Kulturen an Boden, während andere kulturelle Bindungen und Verpflichtungen oberhalb und unterhalb der Ebene des Nationalstaates gestärkt werden. Aus dem Zusammenbruch oder der Abschwächung der Staatenidentitäten könnte dann eine Fragmentierung kultureller Codes, die Vervielfältigung der Stile und die Betonung des Ephemeren, Fließenden, nicht Andauernden sowie der Differenz und des kulturellen Pluralismus folgen. Sowohl Menschenrechte insbesondere in Gestalt der Menschenwürde als auch Differenz und Vielfalt findet man in Umsetzung dieser Wendungen im Kern eines „neuen“ Identitätskonzepts der europäischen Integration.164 Das hoffnungsreiche Potential dieser Konstruktionen liegt auf der Hand. Das Politische verliert seine dämonische Kraft. Konnte der Staat zuvor seine Bürger zu Opfern aufrufen und auf ihre Körper zugreifen, muss er sie nun überzeugen und in komplizierte Begründungsdiskurse eintreten. Integrierte sich eine politische Gemeinschaft zuvor durch identitätsumwölkte, mythische, manipulierte und dennoch geglaubte Arkana, integriert sie sich nun durch den gemeinsamen Dialog. Haftete dem Staat in Gestalt der Souveränität zuvor das Wundersame an, das sich vom voraufklärerischen Fürsten auf den Volkssouverän übertragen hatte, ist der Staat nun in eine Diesseitigkeit versetzt, in der das Gespräch um Vernunft und Interesse, um Gerechtigkeit und den Markt kreist. Das Politische verliert sein Geheimnis, seinen Sog und seine Neigung zu Hypertrophie und Gewalt. Das Gemeinwesen wandelt sich zu einem Sozial- und 162 163 164
Z. Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, 1997, S. 146. N. Luhmann, Die Beschreibung der Zukunft, in: ders., Beobachtungen der Moderne, 1992, S. 129 (139). Etwa M. Kumm, The Idea of Thick Constitutional Patriotism and Its Implication for the Role and Structure of European Legal History, GLJ 6 (2005), S. 319; ders., Why Europeans Will Not Embrace Constitutional Patriotism, I-CON 8 (2008), S. 117; J. H. H. Weiler, European Citizenship: Identity and Differentity, in: M. La Torre (Hrsg.), European Citizenship, 1998, S. 2; J. Rifkin, Der Europäische Traum, 2004; E. Grande, Differenz als Potential, in: R. Johler u.a. (Hrsg.), Europa und seine Fremden, 2007, S. 27.
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Gewährleistungsgemeinwesen, in dem man sich auf vernünftige Weise über Gerechtigkeit und Interessen verständigt. Im Zentrum stehen Texte und Gespräche – Kommunikationen also, die eine Vielzahl von unterschiedlichen Interpretationsgemeinschaften erzeugen. Zusammengehalten werden diese insbesondere durch den Prozess der Textauslegung und Verhandlung. So versteht sich die Union: Sie fokussiert das Politische auf Kommunikationen, relativiert Einheitsbegriffe und ersetzt den Inhalt von Gemeinschaft durch die Form von Gemeinschaft, indem sie sie prozeduralisiert. Die Kategorien Freund und Feind werden bedeutungslos, wenn man stetig in ein Gespräch verstrickt ist, denn auch im Streit sind alle Gesprächspartner. So plausibel diese Wandlung des Integrationsmodus ist, so erwartbar sind die Gegenbewegungen. Mit der Betonung des Ephemeren geht die Furcht vor kultureller Homogenisierung einher. Der kulturelle Austausch zwischen Nationen und der globale Konsumismus, welcher Menschen zu Publikum gleicher Botschaften und Bilder macht, könnte kulturelle Partikularitäten durch die Infiltration der globalen Kultur schwächen. Identitäten lösen sich dann von besonderen Zeiten, Orten, Vergangenheiten und Traditionen – sie werden entbunden und erscheinen als „frei flottierend“. Diese Furcht vor globaler kultureller Homogenisierung hat in Europa eine lange Tradition und benennt einen nach wie vor verbreiteten Alptraum: Die europäische Integration könnte die tiefen, gewachsenen, reichen Unterschiede zwischen den alten Nationalstaaten auf politischer, kultureller, rechtlicher oder sprachlicher Ebene nivellieren.165 Die mit dieser negativen Utopie verknüpfte politische Form ist die eines europäischen Bundesstaates, vor dessen zentripetalem, jedoch bürokratischem Impetus der müde gewordene Nationalstaat kapituliert und sich seiner Identität begibt. Die Diskussion um die Achtung der „nationalen Identität“ der Mitgliedstaaten, wie sie der Europäischen Union in Art. 6 Abs. 3 EU vorgeschrieben ist, zeigt sich als Forum dieser Ängste. Hinzu kommt eine hintergründige Unsicherheit darüber, ob es tatsächlich gelungen ist oder gelingen kann, das staatlich imprägnierte Imaginäre in Gestalt des Denkens vom Souverän aus hinter sich zu lassen. Das Unbehagen in Europa hat tiefere Gründe als gescheiterte institutionelle Reformen, unerledigte Integrationsprobleme oder Meinungsverschiedenheiten über die Grenzen religiöser Toleranz. Auf dem Spiel steht mehr, nämlich der Fluchtpunkt erhoffter Identität und zugleich das Vertrauen, atavistische Politikmuster überwunden zu haben. Die Ereignisse der letzten Zeit haben gezeigt, dass das Gespräch scheitern kann. Die besseren Argumente mögen für die Annahme des Verfassungsvertrages oder des Vertrages von Lissabon gesprochen haben. Doch erinnerten die gescheiterten Referenden in Frankreich, den Niederlanden und Irland an die mitunter irrationale und ungebundene Kraft des Volkswillens, der sich mit schlechten Argumenten weigert, überzeugt zu werden. Auch die banlieue-Unruhen in Frankreich und die Unruhen in Griechenland, die eine deutliche europäische Dimension aufwiesen, vertieften die Ahnung von der begrenzten Leistungsfähigkeit des Gesprächs, denn auch 165
Etwa J. Isensee, Nachwort: Europa: Die politische Erfindung eines Erdteils, in: P. Kirchhof u.a. (Hrsg.), Europa als politische Idee und rechtliche Form, 1993, S. 103 (137).
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hier versagten Argumente. Integration, konnte man lernen, ist fragil, wenn die Vertextung an ihre Grenze gelangt. Am Ende des Gesprächs lauert nach wie vor die Gewalt; sie ist eine Option, die auch nach über 50 Jahren europäischer Einigung nicht ausgeschlossen ist. Der Karikaturenstreit pointierte die wachsende Unsicherheit über das Politische und über die europäische kollektive Identität. Es ist keine Frage, dass in einem prozeduralisierten Begriff des Politischen, der Texte, Gespräche und Kommunikationen in den Mittelpunkt rückt, die Freiheit der Meinungsäußerung zum Dreh- und Angelpunkt wird. Exakt dieser archimedische Punkt des aufgeklärten Verständnisses des Politischen und damit das Zentrum der europäischen Imagination des Politischen geraten unter Druck. Damit geht eine Verunsicherung über europäische Identität einher. Sind wir tatsächlich „wir“, weil wir an das Gespräch glauben? Haben wir tatsächlich einen Fortschritt dadurch erreicht, dass wir alle zu Gesprächspartnern machen wollen? Die Überzeugung, dass das Gespräch zivilisiert und die Teilnahme am Gespräch die Identifizierung eines „Feindes“ ausschließt, wird prekär. Man kann intern die Freund-/Feind-Unterscheidung dialogisch überwinden und in fragmentierte Identitäten auflösen; doch kann sie wieder von außen herangetragen werden. Eine Intuition dessen hatte man bereits nach dem 11. September 2001, doch war es möglich, diese noch an den USA, die einen ganz anderen Begriff des Politischen besitzen, abzuarbeiten.166 Dies erscheint zunehmend unmöglich. Europa muss gewahren, dass sein eigenes Modell des Politischen nicht das Modell der Welt ist. Der europäische Bürger kann fragmentiert und multipel-loyal sein: Freunde und Feinde sind dennoch denkbar, wenn Europa die Grundlagen seiner Imagination bewahren will. Dies ist die eigentlich schlechte Nachricht für ein fortschrittlich gestimmtes Europa. Eine Alternative steht mit einer starken Theorie des Bürgers als Konsumenten bereit.167 Entgegen eines einhelligen konsumkritischen Diskurses ist eine Kultur des Konsums weder narzisstisch noch hedonistisch. Viel spricht dafür, dass Konsumkultur nicht nur eine zeitgemäße Ausprägung einer neuartigen Politik der Verständigungen und ihrerseits eine soziale Chiffre ist, sondern auch die Sprache der Notwendigkeit und Gewissheit vermeidet und durch die ästhetische Erfahrung eine Verbindung zu den Themen Gerechtigkeit und Solidarität schlägt. Die Strenge ethischen Urteilens wird ästhetisch gemildert; man kauft nicht nur Waren, sondern Geschichten, Gefühle und Werte. Konsumbürgerschaft beschreibt neben der Erfah166 167
J. Habermas/J. Derrida, Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas, FAZ v. 31.3.2003. Ich habe diesen Vorschlag bereits in der Erstauflage dieses Buches gemacht und in Europarecht und das Politische (Fn. 45), S. 507 ff. vertieft; für Nachw. vgl. ebd. Neuere Veröffentlichungen bestärken mich in meiner Auffassung, dass man hier vielversprechende Anschlüsse finden kann: etwa S. Baringhorst u.a. (Hrsg.), Politik mit dem Einkaufswagen, 2007; K.-U. Hellmann/G. Zurstiege (Hrsg.), Räume des Konsums, 2008; E. Kimminich u.a. (Hrsg.), Express Yourself!, 2007; P. Koslowski/B. P. Priddat (Hrsg.), Ethik des Konsums, 2006; J. Lamla/S. Neckel (Hrsg.), Politisierter Konsum, konsumierte Politik, 2006; M. Makropoulos, Theorie der Massenkultur, 2008.
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rungswelt und Erwartungshaltung des europäischen Bürgers auch eine in der Stiftung von Gegenseitigkeit und Beziehungen liegende Form von Solidarität. Das kulturelle Kapital Interesse ist – anders als gemeinsame Werte, Geschichte, Konsens über geteilte Ziele usw. – in der Union reich vorhanden. Hierauf offensiv, nicht defensiv abzustellen würde einen offenen Umgang mit dem Defizit sozialer Legitimation ermöglichen und die konsumästhetische Instrumentalisierung von Werten und Rechten überflüssig werden lassen. Zudem könnte die europäische Integration ihrer ursprünglichen Rolle gerecht werden, die Sirenengesänge des nationalen Daseins durch eine rationale, vielleicht ein wenig anämische zusätzliche Herrschaftsschicht zu zivilisieren. Deutlich sind freilich auch die Grenzen dieser Konzeption. Imaginationen des Politischen, die dem Nationalstaat als Glaubenshintergrund eine Sinnstruktur verleihen und manchmal an die Oberfläche des politischen Diskurses durchbrechen, bleiben der Union verschlossen. Konsumbürgerschaft modelliert die Vernunft nach den primär auf den Körper bezogenen Bedürfnissen und den zu deren Befriedigung notwendigen Verträgen; sie bietet nicht die Möglichkeit, Teil eines generationen-, zeit- und raumübergreifenden Bewahrungsprojekts zu werden. Keine noch so starke Konsumtheorie vermag den Körper als Zeichen oder Erscheinung eines Souveräns zu lesen. Unabhängig davon, wie genau sie die beobachtbare Welt abbilden kann, verbleibt sie so an der Oberfläche, dass sie die tiefsten Wurzeln politischer Identität nicht auszuloten vermag. Diese Grenzen aber sind dann nicht nachteilig, wenn man dem Nationalstaat die Souveränitätsdimension politischer Erfahrung überlassen und die europäische Integration auf eine Identitätstiefe beschränken will, die den Fremden fremd belässt und gerade dadurch ihre zivilisierende Funktion erfüllen kann. Es gibt kein zwingendes Argument dafür, dass souveräner Wille, Vernunft und Interesse in Mehrebenensystemen parallel laufen müssten. Vorstellbar ist eine Dissonanz, die das Interesse transnationalisiert, die Imaginationsebene der Souveränität aber dort belässt, wo reichhaltige kulturelle Ressourcen vorhanden sind. Die Union könnte bei einem offenen Umgang hiermit als civitas peregrina gedacht werden, die trotz der Entwurzelung ihrer Bewohner eine gewisse Hospitalität bietet.168 Damit ist die Möglichkeit eines genuin politischen Europa nicht ausgeschlossen; denn wenn der Bürger die Dissonanz von Imaginärem und Interesse als Unmöglichkeit des Staates auffasst, autonome Quelle seiner eigenen Konstruktion und Bedeutung zu sein, werden Bedeutungswanderungen in Gang gesetzt. Diese könnten einerseits ursprünglich staatliche Imaginationen auf die supranationale Ebene verschieben und damit das erreichen, was der Appell an gemeinsame europäische Werte bisher nicht vermocht hat. Sie könnten andererseits umgekehrt verlaufen und auch im Nationalstaat eine post-souveräne Imagination losgelöst vom Souveränitätsdenken ermöglichen. Schließlich könnte es zu hybriden Konstellatio-
168
Haltern (Fn. 45), S. 539. Zum Konzept (nach Augustinus) v.a. J. Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, 1990, S. 92 ff.
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nen kommen, die einen pragmatischen Umgang mit den Demokratieproblemen gestatten. Freilich ist dieser Vorschlag lediglich ein eher bescheidener normativer Anhang zu einer Beschreibung, die der Hartnäckigkeit nationalstaatlicher Imagination nachspürt. Als moralischer Mensch ist man über diese Hartnäckigkeit manchmal bestürzt. Sie kann nur durch sich selbst erklärt werden: Politische Bedeutungen sind gerade keine moralischen Bedeutungen. Eine Begründung, die darüber hinausgeht, gibt es nicht. Der kulturtheoretische Ansatz des Rechts vermag dies immerhin deutlich zu machen. Die Frage, welcher Weg nun einzuschlagen ist, kann er nicht beantworten. Dafür haben wir demokratische Verfahren.
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II. Das institutionelle Recht
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I. Einleitung und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 II. Die Organe im rechtswissenschaftlichen Diskurs – ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . . 337 1. Rat, Kommission und die Anfänge der Forschung zu den Organen . . . . . . . . . . 337 2. Das Europäische Parlament: Lieblingsobjekt deutscher Gemeinschaftsrechtler . 340 3. Institutionenforschung seit den 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 III. Exekutivföderalismus als konzeptioneller Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 IV. Die institutionelle Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 1. Der Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 2. Das Europäische Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 3. Die Europäische Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 4. Der Europäische Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 V. Legitimation des institutionellen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 1. Das Dilemma der nationalen Parlamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 2. Das Europäische Parlament und die Grenzen seiner Repräsentationsfunktion . . 382 3. Schlussfolgerung und Vorschlag: eine semi-parlamentarische Demokratie . . . . . 384 VI. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
I. Einleitung und Zielsetzung Die Konstante im institutionellen System der Europäischen Union ist sein Wandel. Wesentliche Elemente, die heute den Kern dieses Systems ausmachen, existierten zu Beginn der europäischen Integration noch nicht. Der Europäische Rat oder das Europäische Parlament, um zwei Beispiele zu nennen, sind heute zentrale Organe, obwohl ersterer in den Römischen Verträgen nicht einmal erwähnt wird und sich die Rolle des Parlaments dramatisch verändert hat. Angesichts solchen Wandels könnte man annehmen, das institutionelle System sei weiterhin im Fluss, noch nicht recht ausgereift – und daher nur schwerlich einer kohärenten Interpretation zugänglich. Es ist jedoch auch eine andere Sichtweise denkbar. Das institutionelle System der EU und seine Wandlungen können auch als bloße Variationen eines im Grunde konstanten Themas betrachtet werden, als Komposition inspiriert von einer Melodie, wenngleich intoniert in unterschiedlichen Tonarten und Tempi. Dies ist Sichtweise und These des vorliegenden Beitrags. Er analysiert die Organverfassung der EU unter der Prämisse, dass sie von einer grundlegenden und weitgehend unveränderten Struktur geformt wird. Diese Struktur prägt Aufbau und Aufgaben der einzelnen Organe, ihr interinstitutionelles Zusammenspiel und bringt zugleich inhäA. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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rente und daher stets wiederkehrende Probleme mit sich. Diese Struktur, die die Organe bei allem Wandel prägt, sei hier als Exekutivföderalismus bezeichnet und damit auf den spezifischen Mehrebenencharakter der EU und seiner Bedeutung für die Organverfassung verwiesen. Der Beitrag untersucht die politischen Organe der EU in dreifacher Blickrichtung. Zunächst rekapituliert er die bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Organen und versucht einzufangen, wie unser gegenwärtiges Verständnis der Organverfassung geformt worden ist (II.). Auf dieser Grundlage wird die zweite Blickrichtung eingenommen und die heutige Organverfassung der Union analysiert. Die einzelnen Organe sowie ihr Zusammenspiel sollen dargestellt und innerhalb eines einheitlichen begrifflichen und konzeptionellen Rahmens verständlich gemacht werden. Dieser Rahmen, die Struktur des Exekutivföderalismus, wird daher als erstes vorgestellt (III.). Der nächste Teil des Beitrags, der die Organe im Einzelnen analysiert (IV.), beginnt mit dem Rat (1.). Sodann werden die anderen Organe beschrieben, wie sie ihre Aufgaben „im Bann“ der institutionellen Dynamik wahrnehmen, die sich aus der Struktur des Exekutivföderalismus ergibt: das Europäische Parlament (2.), die Kommission (3.) und schließlich der Europäische Rat (4.) Die Analyse der gegenwärtigen Rechtslage schließt mit Überlegungen zu der zentralen Herausforderung an die Organverfassung: der Frage der Legitimation (V.). Skizziert wird die duale Struktur parlamentarischer Demokratie in der EU und ihre Probleme, und es wird ein Begriff zur Kennzeichnung dieses spezifisch europäischen Organisations- und Legitimationsgefüges vorgeschlagen: der Begriff der semi-parlamentarischen Demokratie. Der Beitrag schließt mit einer dritten Blickrichtung, nämlich einigen kurzen Überlegungen zur möglichen Entwicklung der institutionellen Ordnung, wie sie sich mit dem Lissabonner Vertrag abzeichnet. Obwohl die wesentlichen Neuerungen dieses Vertrags im Laufe des Beitrags jeweils bei der Analyse der einzelnen Organe reflektiert werden, soll zuletzt sein Effekt auf die Institutionenordnung insgesamt resümiert werden (VI.). Zunächst seien jedoch kurz Begriffe und Grenzen dieses Beitrags geklärt. Der Begriff „Organe“ bezeichnet hier die Hauptorgane der Europäischen Union, wie sie in Art. 7 EG und Art. 5 EU genannt werden.1 Der Beitrag wird jedoch nicht alle Organe behandeln. Er beschränkt sich auf die politischen Organe, also die Organe, die am regulären Prozess der politischen Entscheidungsfindung und Rechtsetzung beteiligt sind. Deshalb werden hier weder der Rechnungshof noch der Europäische Gerichtshof (EuGH) behandelt werden.2 Sicherlich ließe sich argumentieren, dass jedenfalls der EuGH auch ein politisches Organ sei. Er dient als Verfassungsgericht 1 2
Die Begriffe „Organ“ und „Institution“ werden in diesem Text, in Anlehnung an die französische und die englische Fassung der Verträge, synonym verwendet. Art. 13 EUV-Liss. wird, sollte der Lissabonner Vertrag in Kraft treten, die Liste der Hauptorgane der Union erweitern und zusätzlich den Europäischen Rat und die Europäische Zentralbank nennen. Als politisches Organ wird hier lediglich der Europäische Rat angesehen und behandelt, die EZB dagegen nicht.
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und seine Rechtsprechung setzt maßgebliche Eckpunkte des politischen Prozesses. Nichtsdestotrotz zählt der EuGH nicht zu den Organen, die am regulären politischen Prozess teilnehmen. Die Ernennung seiner Mitglieder, seine Hauptaufgabe und schließlich sein Selbstverständnis unterscheiden sich stark von Institutionen, die aus politischem Wettbewerb und Wahlen hervorgehen und selbst initiierend Politik betreiben.3
II. Die Organe im rechtswissenschaftlichen Diskurs – ein Rückblick Die Beiträge des vorliegenden Bandes widmen sich nicht nur dem gegenwärtigen Verfassungsrecht der EU, sondern möchten zugleich aufzeigen, wie sich das Verständnis dieses Rechts herausgebildet hat.4 Aus diesem Grund ist ein Rückblick auf die Forschungsgeschichte zu den Institutionen sinnvoll. Allerdings bedarf die Durchsicht der bisherigen Literatur zu den europäischen Organen besonderer Sorgfalt. Eine erste Suche nach Studien zu den Gemeinschaftsorganen mag zunächst (scheinbar) enttäuschende Ergebnisse produzieren. Eine Monographie, die sich ausschließlich der Kommission als dem wohl originellsten Teil der neuen Institutionenordnung widmet, erschien erstmals 1980.5 Lediglich der Rat, immerhin das mächtigste Organ der neuen Gemeinschaft, fand schon in den 1960er Jahren monographische Beachtung.6 Dieser erste Blick täuscht jedoch. Es ist vielmehr typisch für die deutsche, und vielleicht generell für die rechtswissenschaftliche Herangehensweise an politische Organe und das Organisationsrecht, diese weniger direkt als vielmehr durch die Brille von Rechtsprinzipien und Verfahrensrecht zu analysieren. Im europäischen Zusammenhang bildeten vor allem Gewaltenteilung und Demokratieprinzip Ausgangspunkte für rechtswissenschaftliche Untersuchungen der supranationalen Organisationsverfassung. Auch das Verfahrensrecht der Organe hat die deutsche Rechtswissenschaft intensiver beschäftigt als Gesamtdarstellungen einzelner Organe. Diese Herangehensweise zeigte sich zunächst mit Blick auf Rat und Kommission. 1. Rat, Kommission und die Anfänge der Forschung zu den Organen Die Forschung zu den neuen europäischen Organen entspann sich in den 1950er Jahren vor allem an der Diskussion von Prinzipien. Der Plan zur Gründung einer 3 4
5 6
Zum EuGH F. C. Mayer und J. Bast, beide in diesem Band. Zum Begriff des europäischen Verfassungsrechts siehe C. Möllers, in diesem Band, S. 271 ff.; zu seinen Methoden P. Dann, Überlegungen zu einer Methodik des europäischen Verfassungsrechts, in: Y. Becker u.a. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 2005, S. 161. H. Schmitt von Sydow, Die Organe der erweiterten Gemeinschaft – die Kommission, 1980. K. H. Friauf, Die Staatenvertretung in supranationalen Gemeinschaften, 1960; S. Buerstedde, Der Ministerrat im konstitutionellen System der Europäischen Gemeinschaften, 1964.
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Europäischen Verteidigungsgemeinschaft wurde von hitzigen Diskussionen der Frage begleitet, ob diese neue Organisation dem Prinzip der Gewaltenteilung unterliegen müsse. Die Auseinandersetzung wurde angefacht von dem Argument, das Grundgesetz gestatte zwar prinzipiell die Übertragung von Souveränitätsrechten an internationale Organisationen, verlange zugleich aber, dass die neu gegründete Organisation eine „strukturelle Kongruenz“ zum deutschen Verfassungsrecht aufweise.7 Als das Projekt der Verteidigungsgemeinschaft scheiterte, übertrug sich die Diskussion auf die EWG. Womöglich zielte diese Diskussion eher auf das deutsche Verfassungsrecht (und die Verfassungsrechtler8) als auf die EWG. Nichtsdestotrotz löste sie die erste rege Diskussion über die Organstruktur der EWG aus und katapultierte die neue Organisation ins Bewusstsein der deutschen Rechtswissenschaft.9 1964 war die „Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstrukturen in den internationalen Gemeinschaften“ sogar Thema der Staatsrechtslehrertagung, stets ein sicheres Anzeichen dafür, dass ein Gegenstand ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Diskussion jedoch bereits abgekühlt. Die vorherrschende Meinung war, dass die neuen Gemeinschaften eine neue Organisationsform darstellten, auf die das Prinzip der Gewaltenteilung zwar grundsätzlich anwendbar sei, jedoch in einer angemessen angepassten Gestalt.10 Jenseits der aufgeladenen Diskussion um Rechtsstaat und Demokratie legte die frühe Forschung zu den Institutionen wesentliche Grundlagen, ohne jedoch ambitioniertere Konzeptionen zu verfolgen. Die Untersuchung des Rats von Sigismund Buerstedde ist ein gutes Beispiel für diese Art der sachkundigen Darstellung von Gründung, Organisation und Mechanismen dieses Organs.11 Sie zeigt auch, dass die Probleme mit komplexer Organisation und langwierigen Verfahren so alt sind wie der Rat selbst. Nach der erhöhten Aufmerksamkeit in den ersten Jahren sank das allgemeine Interesse an Rat und Kommission. Zugleich herrschte in den frühen 1970er Jahren eher die Meinung vor, das institutionelle System der EWG sei dysfunktional und reformbedürftig. Die Frage, wie die Institutionen umgestaltet werden sollten, wurde
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H. Kraus, Das Erfordernis struktureller Kongruenz zwischen der Verfassung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und dem Grundgesetz, in: Veröffentlichungen des Instituts für Staatslehre und Politik (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. II, 1953, S. 545; zu dieser Debatte Friauf (Fn. 6), S. 79–86. Hans Peter Ipsen hat später sarkastisch angemerkt, dass die ganze Diskussion wohl eher ein Ausdruck der besonderen Introvertiertheit der deutschen Staatsrechtslehre gewesen sei: Diskussionsbeitrag, VVDStRL 23 (1964), S. 130. Vgl. z.B. J. Seeler, Die europäische Einigung und das Problem der Gewaltenteilung, 1957; H. Petzold, Die Gewaltenteilung in den Europäischen Gemeinschaften, 1966. J. H. Kaiser und P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstrukturen in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1964), S. 1 bzw. 34. Buerstedde (Fn. 6).
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zur Priorität. Das Werk von Christoph Sasse ist repräsentativ für diese Zeit.12 Er sah zwei Hauptprobleme: Mangel an politischer Führung und Mangel an Legitimation. Mit Blick auf die Kommission konstatierte er, dass es ein Fehler gewesen sei zu glauben, technokratisches Fachwissen allein könne die Öffentlichkeit überzeugen und als Grundlage ihres Führungsanspruchs ausreichend sein. Die Probleme wurden weitgehend dem Rat zugeschrieben. Die Dominanz nationaler Interessen in den Ratsverhandlungen und mangelnder Respekt für die Stellung der Kommission sah man als Ursachen für die trübe Situation. Einen weiteren Horizont nahm dagegen Hans Peter Ipsens Handbuch zum Gemeinschaftsrecht in den Blick.13 Es entwarf eine umfassende Theorie der europäischen Integration und ihres Rechts und präsentierte damit auch einen konzeptionellen Rahmen für die Betrachtung der Organe. Im Rückblick erscheint sein Buch allerdings kaum auf die damals schon erkennbaren Problem zu reagieren und die Veränderungen zu verarbeiten, die im institutionellen System seit Mitte der 1960er Jahre stattgefunden hatten. Ipsen sah den Rat als Organ, das Gefahr und Chance für die Entwicklung der Gemeinschaft in sich vereint, fand aber keine angemessenen Antworten auf die Probleme der Kommission. Vielleicht der konzeptionellen Ansätze14 in Zeiten gefühlter Stagnation müde, wandte sich die Literatur in den späten 1970er und 1980er Jahren Themen zu, die stärker im Zentrum der rechtswissenschaftlichen Analyse angesiedelt sind. Die Vervielfältigung der im Gemeinschaftsrecht verankerten Organe warf Fragen auf, wie die zunehmend unübersichtliche Organisationsstruktur rechtlich geordnet und verstanden werden könnte.15 Meinhard Hilfs Studie zu der Organisationsstruktur der EG bietet einen eindrucksvollen Überblick über die starke Ausdifferenzierung der Organisationsstruktur unterhalb der Vertragsorgane.16 Gleichzeitig wurde die Formalisierung interinstitutioneller Abläufe durch Interorganvereinbarungen rege diskutiert, insbesondere das Konzertierungsverfahren zwischen Rat, Kommission und Parlament, welches 1975 eingeführt wurde.17 Dies war der Auftakt zu einer 12
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C. Sasse, Die institutionelle Fortentwicklung der Gemeinschaften, in: Wissenschaftliche Gesellschaft für Europarecht (Hrsg.), Die institutionelle Entwicklung der europäischen Gemeinschaften in den siebziger Jahren, 1973, S. 61; ders., Regierungen, Parlamente, Ministerrat, 1975. H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972. Eine weitere Gesamtdarstellung bei L.-J. Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1977. Als Vorläufer U. Everling, Zur Errichtung nachgeordneter Behörden der Kommission der EWG, in: FS Ophüls, 1965, S. 33. M. Hilf, Die Organisationsstruktur der Europäischen Gemeinschaften, 1982; zu anderen Aspekten dieser Entwicklung R. Priebe, Entscheidungsbefugnisse vertragsfremder Einrichtungen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979. B. Beutler, Rechtsfragen des Konzertierungsverfahrens, in: GS Sasse, Bd. I, 1981, S. 311; R. Bieber, Kooperation und Konflikt, in: ebd., S. 327; M. Bothe, „Soft law“ in den Europäischen Gemeinschaften, in: FS Schochauer, 1981, S. 65; M. Gauweiler, Die rechtliche Qualifikation interorganschaftlicher Absprachen im Europarecht, 1988; T. Läufer, Die Organe der EG, 1990.
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Reihe von Untersuchungen über die gemeinschaftlichen Entscheidungsverfahren.18 Sie sind ein Teil jener besonderen Aufmerksamkeit, die dem Lieblingsobjekt der deutschen Gemeinschaftsrechtler seit jeher zuteil wurde: dem Europäischen Parlament. 2. Das Europäische Parlament: Lieblingsobjekt deutscher Gemeinschaftsrechtler Die Auseinandersetzung mit dem Europäischen Parlament (EP) hat seit Beginn des Integrationsprozesses eine besondere Rolle in der deutschen Rechtswissenschaft gespielt. Dabei waren die frühen Untersuchungen erneut prinzipiengeleitet, warf doch die oben erwähnte Diskussion über die Kongruenz zwischen deutschem und europäischem Recht auch die Frage nach dem Demokratieprinzip auf. Diese Frage wurde jedoch schneller abgehandelt als jene der Gewaltenteilung. Die begrenzte Reichweite der Gemeinschaftsbefugnisse, die absichernde Rolle der nationalen Parlamente und die verschiedenen Formen der Interessenvertretung (vor allem durch den Wirtschafts- und Sozialausschuss) wurden als Garanten ausreichender demokratischer Legitimation angesehen.19 Das EP dagegen wurde (noch) nicht ernsthaft als maßgebliches Organ demokratischer Absicherung in Betrachtet gezogen. Nichtsdestotrotz begann das Interesse am EP zu wachsen und resultierte bald in einer Vielzahl detaillierter Studien.20 Allerdings begegnete der Forschung ein gewisses Dilemma: Da die Kompetenzen des EP offensichtlich vom „Normalzustand“ nationaler Parlamente abwichen, waren Beobachter vor die Wahl gestellt, sich entweder mit dem gegenwärtigen und vielleicht noch etwas mageren Recht, oder aber mit der Vision des angestrebten Rechts zu beschäftigen. Obgleich jedoch schon in dieser frühen Literatur viel Sympathie für das Experiment eines supranationalen Parlaments zu finden ist, griffen die Autoren kaum die ambitionierten Reden der politischen Klasse auf, in denen das EP bereits als künftiges Parlament einer Europäischen Föderation angepriesen – und letztlich stets als eine (wenngleich noch unvollständige) Kopie nationaler Parlamente gedacht wurde.21 Stattdessen warnten 18
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Z.B. J. Wuermeling, Legislativer Trilog im institutionellen Dreieck der Europäischen Gemeinschaften, 1990; R. Bieber, Das Verfahrensrecht der Verfassungsorgane, 1992; H.-P. Folz, Demokratie und Integration, 1999. Dazu die Berichte der Staatsrechtslehrertagung von 1964: Kaiser (Fn. 10), S. 31, Nr. 3, 6, 9; Badura (Fn. 10), Nr. 20–22; vgl. auch U. Oetting, Bundestag und Bundesrat im Willensbildungsprozeß der Europäischen Gemeinschaften, 1973. Allein für die Zeit vor den Direktwahlen siehe A. Reifferscheidt, Die Ausschüsse des Europäischen Parlaments, 1966; T. Harms, Die Rechtsstellung des Abgeordneten in der beratenden Versammlung des Europarates und im Europäischen Parlament, 1968; C. Sachße, Die Kompetenzen des Europäischen Parlaments und die Gewaltenteilung in den Europäischen Gemeinschaften, 1971; A. Schaub, Die Anhörung des Europäischen Parlaments im Rechtsetzungsverfahren, 1971; R. Bieber, Organe der erweiterten Gemeinschaft – das Parlament, 1974; E. Reister, Parlamentarische Budgetrecht und Rechnungshof, EuR 1976, S. 69. Besonders aufschlussreich hierzu K. Neunreither, Bemerkungen zum gegenwärtigen Leitbild des Europäischen Parlaments, Zeitschrift für Parlamentsfragen 2 (1971), S. 321.
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Rechtswissenschaftler nüchtern vor unrealistischen Erwartungen. Manfred Zuleeg riet von einer mechanischen Reproduktion des nationalen Parlamentarismus ab, der bereits auf staatlicher Ebene mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert sei.22 Roman Herzog wies auf die Diskrepanz zwischen formaler und sozialer Legitimität hin, eine Falle, in die das EP tappen könnte, wenn seine formalen Befugnisse ausgeweitet würden, ohne dass es die Unterstützung der Bürger hätte.23 Die erste Direktwahl 1979 leitete schließlich eine neue Etappe in der Forschung zum EP ein. Es ist vor allem das Werk von Eberhard Grabitz, das hier neue Maßstäbe setzte.24 Zusammen mit Rechts- und Politikwissenschaftlern begann er, das EP über traditionelle, dem national-staatlichen verhaftete Ansätze hinaus zu analysieren. Indem sie versuchten, das EP im dynamischen Regierungsprozess der damaligen Gemeinschaften zu positionieren, entwickelten sie einen Analyserahmen, der dieses einzigartige Umfeld berücksichtigte25 – und der bis heute Früchte trägt.26 3. Institutionenforschung seit den 1990er Jahren Seit den frühen 1990er Jahren hat die EU eine geradezu dramatische politische und institutionelle Umwälzung erlebt. Diese Dynamik veränderte auch die Forschung zu den Organen. Einige wenige Anmerkungen müssen hier genügen. Zunächst rief die neue Dynamik schlicht ein gesteigertes wissenschaftliches Interesse hervor. Zum ersten Mal seit den frühen 1960ern wurden Aspekte der Organverfassung der EU wieder zu wesentlichen Themen der deutschen Staatsrechtslehre. Dies erweiterte nachhaltig den Kreis der Autoren. Waren es bislang vor allem Praktiker und Experten des Gemeinschaftsrechts, die das Forschungsgebiet dominierten, so wurden das Gemeinschaftsrecht und seine Organverfassung nun Themen der allgemeinen verfassungsrechtlichen Diskussion.27 Dies trug zu einem 22
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M. Zuleeg, Die Anwendbarkeit des parlamentarischen Systems auf die Europäischen Gemeinschaften, EuR 1972, S. 1; in dieser Traditionslinie heute G. Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2000), S. 265. R. Herzog, Zur Legitimation der Willensbildung in den Gemeinschaften, in: Wissenschaftliche Gesellschaft für Europarecht (Fn. 12), S. 35; ebd. auch J. A. Frowein, Zur Legitimation der Willensbildung in den Gemeinschaften, S. 83. E. Grabitz/T. Läufer, Das Europäische Parlament, 1980; E. Grabitz u.a., Direktwahl und Demokratisierung, 1988; aber siehe auch P.-C. Müller-Graff, Die Direktwahl des Europäischen Parlaments, 1979. O. Schmuck/W. Wessels (Hrsg.), Das Europäische Parlament im dynamischen Integrationsprozeß, 1989; W. Wessels, Wird das Europäische Parlament zum Parlament?, in: GS Grabitz, 1995, S. 879. A. Maurer, Parlamentarische Demokratie in der EU, 2002. Exemplarisch sei darauf hingewiesen, dass sich 1990 und 1993 erstmals seit den 1960er Jahren wieder die Staatsrechtslehrertagung mit Fragen der europäischen Integration beschäftigte, siehe H. Steinberger, E. Klein und D. Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft VVDStRL 50 (1991), S. 9, 56 bzw. 97; M. Hilf, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, VVDStRL 53 (1994), S. 8, sowie M. Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht, ebd. S. 154.
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starken Anstieg an wissenschaftlichen Publikationen (und kritischen Stimmen) bei.28 Dabei war es auch diesmal eine Prinzipienfrage, die die Diskussion vorantrieb. Nicht das Rechtstaatprinzip wie in den frühen 1960ern, sondern mögliche Gefahren für das Demokratieprinzip versetzten die deutschen Rechtswissenschaftler in den 1990ern in Aufregung.29 Die Diskussion bildete den Anstoß für eine Reihe von Untersuchungen zu den Institutionen, unter denen das EP erneut die größte Aufmerksamkeit erfuhr. Obwohl auch die neuere Forschung kaum ein Gesamtkonzept des Parlaments entwickelte, so kann man doch sagen, dass die Arbeiten heute ein europäisches Parlamentsrecht bilden.30 Auch die anderen Organe und Einrichtungen haben neue Beachtung gefunden.31 Schließlich hat noch eine weitere Veränderung stattgefunden. Erstaunlicherweise hatten die deutschen Rechtswissenschaftler in den ersten Jahrzehnten eine vergleichende Perspektive weitgehend vernachlässigt.32 Vor allem wurde die europäische Organverfassung kaum im Vergleich zu solchen in anderen föderalen Ordnungen analysiert. Dies erscheint umso verwunderlicher, da ja gerade die deutsche Verfassungsgeschichte selbst ein gutes Beispiel für eine sich entwickelnde Föderation bietet. Die vergangenen Jahre haben nun eine Reihe von Arbeiten mit vergleichenden Ansätzen zum Unionsrecht insgesamt,33 aber auch speziell zu Fragen der 28 29
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Einen Überblick bietet A. von Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, Der Staat 40 (2001), S. 3. Zur Übersicht W. Kluth, Die demokratische Legitimation in der EU, 1995; M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997; mit etwas Abstand U. Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 389, 588, sowie P. Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus: Eine Studie zum Verhältnis von föderaler Ordnung und parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union, 2004. An deutschsprachigen Monographien allein: R. Fleuter, Mandat und Status des Abgeordneten im Europäischen Parlament, 1991; C. Schultz-Bleis, Die parlamentarische Immunität der Mitglieder des Europäischen Parlaments, 1995; I. Beckedorf, Das Untersuchungsrecht des Europäischen Parlaments, 1995; V. Saalfrank, Funktionen und Befugnisse des Europäischen Parlaments, 1995; B. Suski, Europäisches Parlament, 1996; V. Neßler, Europäische Willensbildung – Fraktionen im EP, 1997; D. Reich, Rechte des Europäischen Parlaments, 1999; E. Uppenbrink, Das europäische Mandat, 2004. A. Egger, Das Generalsekretariat des Rates der EU, 1994; M. Mentler, Der Ausschuß der Ständigen Vertreter bei den Europäischen Gemeinschaften, 1994; D. Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft, 1999; F. Rutschmann, Der europäische Vermittlungsausschuss, 2002; S. Staeglich, Der Kommissionspräsident als Oberhaupt der Europäischen Union, 2007; siehe auch J. Wuermeling, Streicht die Räte und rettet den Rat, EuR 1996, S. 167; H. C. Röhl, Die Beteiligung der Bundesrepublik an der Rechtsetzung im Ministerrat der EU, EuR 1994, S. 409. Zur Vergleichung im europäischen Recht generell Dann (Fn. 4), S. 174; F. C. Mayer, Die Bedeutung von Rechts- und Verfassungsvergleichung im europäischen Verfassungsverbund, in: C. Calliess (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, 2007, S. 167. H. Kristoferitsch, Vom Staatenbund zum Bundesstaat?, 2007; C. Schönberger, Unionsbürger, 2005; A. Boehmer, Die EU im Lichte der Reichsverfassung von 1871, 1999, S. 73; I. Pernice (Hrsg.), Harmonization of Legislation in Federal Systems, 1996.
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Organverfassung und Legitimation hervorgebracht.34 Zudem wird das institutionelle Unionsrecht zunehmend zu einem Standardobjekt vergleichender Arbeiten zum Organisationsverfassungsrecht insgesamt.35
III. Exekutivförderalismus als konzeptioneller Rahmen Die Organe eines politischen Systems sind keine Solitäre. Sie werden vielmehr genauso durch ihre Kompetenzen und interne Organisation wie durch ihr gegenseitiges Zusammenspiel geprägt. Zu ihrem Verständnis muss zudem der weitere verfassungsrechtliche Rahmen berücksichtig werden, in den die Organe eingebettet sind. Betrachtet man die Organe der EU aus dieser leicht distanzierten Perspektive, so fällt als erstes die föderale Mehrebenenstruktur der EU ins Auge. Sie spielt eine wesentliche Rolle für das Verständnis der institutionellen Ordnung.36 Dabei ist es die spezifische Gestalt dieser föderalen Ordnung, die hier wichtig ist. Die EU ist von einem föderalen Modell geprägt, das man als Exekutivföderalismus bezeichnen kann und das sich in vergleichbarer Form auch in anderen Föderalsystemen findet.37 Was charakterisiert dieses föderale Modell, dass es von derartiger Wichtigkeit für die Organe sein soll? Abstrakt formuliert, ist es das dynamische Zusammenspiel zwischen vertikaler Kompetenzverflechtung und horizontaler Kooperation der Organe. Konkret lässt sich die exekutivföderale Struktur an drei Merkmalen festmachen. Erstens gründet sie sich auf eine Struktur vertikal verflochtener Kompetenzen. Dies bedeutet, dass Rechtsetzung in der EU auf der supranationalen Ebene, die Umsetzung der Rechtsakte aber weitgehend auf der mitgliedstaatlichen Ebene erfolgt.38 Einfacher gesagt: Unionsrecht wird grundsätzlich von den Mitgliedstaaten vollzogen.39 Rechtlich begründet auf Artikel 10 EG, verpflichtet diese Struktur die Mit34 35 36
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S. Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der Verfassungsentwicklung der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), S. 659; Dann (Fn. 29). T. Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999; R. A. Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001; C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005. Es sei betont, dass der Begriff „Föderalismus“ nicht mit Bundesstaatlichkeit gleichzusetzen ist. Das Prinzip des Föderalismus ist nicht auf staatliche Ordnungen beschränkt, sondern ein allgemeines Prinzip der vertikalen Strukturierung von Hoheitsordnungen; grundsätzlich dazu D. Elazar, Exploring Federalism, 1987, S. 34; mit Blick auf die EU A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 62; ferner S. Oeter, in diesem Band. Zum Begriff des Exekutivföderalismus Dann (Fn. 29), S. 154. Das Modell des Exekutivföderalismus bezieht sich somit auf den Modus der Kompetenzanwendung, es macht keine Aussagen zum Inhalt der vertikalen Kompetenzordnung. Zu dieser generell M. Nettesheim, in diesem Band. Dies ist sicherlich eine Vereinfachung, die die vielfältigen Interaktionsformen zwischen EU und Mitgliedstaaten im Vollzugsbereich nicht erfasst. Zu diesen Formen siehe die Beiträge in E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Europäischer Verwaltungsverbund, 2005; G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004; exemplarisch auch J. Bast, Transnationale Verwaltung des europäischen Migrationsraums, Der Staat 46 (2007), S. 1.
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gliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit.40 Dies bedeutet, dass die EU kaum originäre Vollzugskompetenzen hat, dieser vielmehr grundsätzlich den Mitgliedsstaaten obliegt.41 Zwar agieren diese selten allein: Die Union ist verpflichtet, die Umsetzung ihres Rechts zu kontrollieren, und wird auf verschiedene Weise in kooperative Formen des Vollzugs mit den Mitgliedstaaten einbezogen (Verwaltungsverbund).42 Das Schwergewicht der Durchführungsverantwortung liegt nichtsdestotrotz bei den Mitgliedstaaten. Es sei jedoch angemerkt, dass die europäischen Verträge dieses Kompetenzsystem keineswegs zwingend vorschreiben. Ein anderes, Rechtsetzung und Vollzug parallelisierendes Kompetenzsystem könnte mit ihnen genauso vereinbar sein, ist jedoch auch bei grundlegenden Vertragsreformen nicht ernsthaft erwogen worden, wie der Verfassungs- und der Lissabonner Vertrag unterstreichen. Das System der Kompetenzverflechtung ist insofern heute ein fester Bestandteil der unionalen Verfassungsordnung. Dieses erste Merkmal einer exekutivföderalen Struktur mag zunächst als ein eher marginaler (und ziemlich trockener) Aspekt des konstitutionellen Gefüges erscheinen. Er hat jedoch weitreichende Konsequenzen für die institutionelle Ordnung. Insbesondere erzeugt die Kompetenzverflechtung einen ständigen Kooperationsbedarf: beim Aushandeln und Verabschieden neuer Rechtsakte, beim Umsetzen derselben und sogar bei der justiziellen Kontrolle des Rechts – die Kooperation zwischen unionaler und nationaler Ebene ist stets wesentlich.43 Außerdem, und ebenso wichtig, präjudiziert das System der Kompetenzverflechtung, wer zu kooperieren hat. Nicht nur die vertikale Zusammenarbeit zwischen Akteuren beider Ebenen, sondern auch die Beteiligung exekutiver Akteure, vor allem auf der Ebene der Mitgliedstaaten, ist seine notwendige Folge. Da Unionsrecht von nationalen Administrationen durchgeführt wird, ist es sinnvoll, diesen Administrationen auch ein Mitspracherecht in den Rechtsetzungsverfahren zu geben. Dies führt zu den zwei weiteren Merkmalen des Exekutivföderalismus. Das zweite Merkmal ist die Existenz eines Organs, das die eben beschriebene Zusammenarbeit organisiert und koordiniert, im Falle der EU der Rat (im deutschen Exekutivföderalismus der Bundesrat). Er kann als das institutionelle Gegenstück zum System der Kompetenzen angesehen werden. Schließlich impliziert die exekutiv40
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EuGH, Rs. C-476/93, Nutral/Kommission, Slg. 1995, I-4125, Rn. 14; vgl. Art. 4 Abs. 3 EUVLiss. und Art. 291 Abs. 1 AEUV; dazu A. Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998, S. 45; K. Lenaerts/P. van Nuffel, Constitutional Law of the European Union, 2005, Rn. 5-047. Ausnahmen gibt es im Bereich der internen Organisation (Art. 274 EG, Art. 317 AEUV), im Bereich des Wettbewerbsrechts (Art. 81 EG, Art. 101 AEUV). Zur Tätigkeit der Agenturen sowie zu den verschiedenen Typen des kooperativen gemeinschaftsrechtlichen Vollzugs Sydow (Fn. 39), S. 63, 216, passim. Siehe Hinweise in Fn. 39 sowie Art. 211 Spstr. 1, 226 EG; zu den Formen dieser Kontrolle Hatje (Fn. 40), S. 111, 154; K. Lenaerts, Some Reflections on the Separation of Powers in the European Community, CMLRev. 28 (1991), S. 15; zur Ebenenverkoppelung insbesondere mit Blick auf ihre legitimatorischen Folgen Möllers (Fn. 35), S. 334, 344. I. Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27; P. M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 228.
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föderale Struktur als drittes Merkmal einen spezifischen Entscheidungsmodus: nämlich die konsensuale Entscheidungsfindung im Rat und darüber hinaus. Bevor die genauere Analyse des Rates und seiner Entscheidungsmethode in den Vordergrund tritt, sei das Konzept des Exekutivföderalismus kurz in einen allgemeineren Zusammenhang gestellt. Die Struktur des Exekutivföderalismus kann zunächst mit anderen Idealtypen föderaler Ordnung verglichen werden.44 Am deutlichsten fällt dabei der Gegensatz zu einem „dualen Föderalismus“ aus, in dem jede Ebene autonom die Ausarbeitung der Gesetze und deren Umsetzung auf Bundesund Staatenebene organisiert (als wichtigstes Beispiel gelten die USA).45 Dieser Vergleich unterstreicht, wie sehr die Institutionalisierung der Kooperation zwischen den Ebenen das exekutivföderale Modell kennzeichnet. Zugleich gilt es festzuhalten, dass die europäische Form einer exekutivföderalen Ordnung keineswegs singulär ist. Sie findet sich in vergleichbarer Form auch im deutschen Föderalsystem,46 in gewisser Weise auch in dem der Schweiz sowie Österreichs.47 Die Mehrebenenstruktur der EU kann insofern als Ausprägung eines kontinental-, vielleicht sogar gemeineuropäischen Verständnisses von Föderalismus gelesen werden. Und noch eine Anmerkung zum Modell des Exekutivföderalismus: Dieses wird hier als deskriptiv-analytisches Instrument verwandt. Es ist ein idealtypisch zugespitztes Modell, das den Vergleich und dadurch das bessere Verständnis der europäischen Organverfassung erleichtern soll. Es sollte nicht als Gesamt- oder gar Finalitätskonzeption missverstanden werden. Es transportiert keine bundesstaatliche (oder irgendeine andere) Vision der EU, sondern versucht, einige wesentliche Elemente der rechtlichen und politischen Gegebenheiten der EU in ihren Konsequenzen für das institutionelle System zu bedenken. Die exekutivföderale Struktur der EU ist ein Element des unionalen Rechts, ganz gleich ob man die EU als Staatenverbund, Verfassungsverbund oder Zweckverband deutet.48 44 45
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Ausführlich Dann (Fn. 29), S. 117. Zum Vergleich mit den USA K. Lenaerts, Constitutionalism and the Many Faces of Federalism, American Journal of Comparative Law 38 (1990), S. 205 (231); K. Nicoladis (Hrsg.), The Federal Vision, 2002; zu den Grenzen der Autonomie im amerikanischen Föderalismus D. Elazar, The American Partnership, 1962. Zum Vergleich zwischen föderalen Strukturen in der EG und Deutschland bereits F. W. Scharpf, Die Politikverflechtungsfalle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus, PVS 26 (1985), S. 323, aber auch ders., Joint-decision Trap Revisited, JCMS 44 (2006), S. 845; S. Oeter, in diesem Band, S. 104 ff. Eingehend zu strukturell ähnlichen Systemen J. A. Frowein, Integration and the Federal Experience in Germany and Switzerland, in: M. Cappelletti u.a. (Hrsg.), Integration Through Law, Bd. I, Buch 2, 1986, S. 573 (586); Lenaerts (Fn. 45), S. 230–233; zu historischen Wurzeln des Exekutivföderalismus, G. Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1998, S. 59. Zwei Eingrenzungen des Themas sollten hier angezeigt werden. Zum einen bezieht sich die nachfolgende Analyse und das ihr zugrundeliegende Konzept auf das, was bislang als „Gemeinschaftssystem“ bezeichnet worden ist. Sie bezieht sich also nicht auf die Strukturen der GASP (dazu D. Thym, in diesem Band) und nur bedingt auf die Vorschriften zum Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts (dazu J. Monar, in diesem Band, S. 764 ff.). Und zum anderen konzentriert sich die nachfolgende Darstellung auf die Organe und weniger auf die interinstitutionellen Entscheidungsverfahren als solche. Letztere würden einen eigenen Beitrag erfordern, oder sogar ein eigenes Buch, vgl. P. Craig/C. Harlow (Hrsg.), Lawmaking
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IV. Die institutionelle Ordnung 1.
Der Rat
In der Struktur des Exekutivföderalismus ist der Rat der EU49 das Gegenstück zur Kompetenzverflechtung. Seine Zusammensetzung, Organisation und Befugnisse bieten, was die Kompetenzverflechtung erfordert, nämlich einen Treffpunkt für Vertreter der nationalen und supranationalen Ebenen, für Politiker und Beamte, einen Ort um zu beraten, zu verhandeln und zu entscheiden. Der Rat ist das zentrale Organ dieses politischen Systems.50 Seine Gestalt und Funktion seien nun in zwei Schritten erläutert. Zunächst sollen Organisationsstruktur und Aufgaben des Rates in ihrem spezifischen Zusammenspiel erläutert werden (a); sodann wird sein Entscheidungsmodus analysiert, der zentral für die Effizienz des Rates und typisch für die gesamte Institutionenordnung ist (b). a) Die Form folgt der Funktion: Mitglieder, Organisation und Kompetenzen Die besondere Rolle des Rates beruht zunächst auf seiner Zusammensetzung. Der Rat „besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene“.51 Seine Mitglieder sind nicht direkt gewählt, sondern werden in ihrer Funktion als Minister nationaler Regierungen entsandt. Als solche werden sie exekutiv ernannt, wohingegen die Mitglieder der meisten anderen föderalen Räte direkt gewählt werden, z.B. die Mitglieder des US-Senats.52 Typisch für den Rat sind zudem Mandat und Selbstverständnis seiner Mitglieder. Während amerikanische Senatoren gewählte Politiker sind, denen es frei steht, jede beliebige Meinung zu vertreten, sind Ratsmitglieder Vertreter ihrer Regierung; sie sind nur „befugt …, für die Regierung des Mitgliedstaates verbindlich zu handeln“.53 Somit müssen sie den Standpunkt vertreten, auf die sich ihr Kabinett geeinigt hat und müssen innerhalb dieser Grenzen verhandeln.54 49 49
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Beitrag erfordern, oder sogar ein eigenes Buch, vgl. P. Craig/C. Harlow (Hrsg.), Lawmaking in the European Union, 1998. Der durch den Fusionsvertrag von 1965 entstandene „Rat der Europäischen Gemeinschaften“ entschied nach der Ratifikation des Maastrichter Vertrags, sich selbst nunmehr „Rat der Europäischen Union“ zu nennen, unabhängig davon, welche Aktivitäten er ausführt (Beschluss 93/591 vom 8. November 1993, ABl. L 281, S. 18). In Übereinstimmung mit der Terminologie der geltenden Verträge, die der Lissabonner Vertrag beibehalten will, wird im Folgenden schlicht vom „Rat“ gesprochen. Als Übersicht siehe M. Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU (Stand: Jan. 2008), Art. 202 EG; Dann (Fn. 29), S. 51, sowie F. Hayes-Renshaw/H. Wallace, The Council of Ministers, 2006; M. Westlake/D. Galloway, The Council of the European Union, 2004. Art. 203 EG (Art. 16 Abs. 2 EUV-Liss.). G. Löwenberg/S. C. Patterson, Comparing Legislatures, 1979, S. 121. Art. 203 EG (Art. 16 Abs. 2 EUV-Liss.). A. von Bogdandy, Information und Kommunikation in der Europäischen Union, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 168; D. Spence, Negotiations, Coalitions and the Resolution of Inter-state Conflicts, in: Westlake/Galloway (Fn. 50), S. 256.
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Der Rat ist jedoch mehr als eine Runde nationaler Minister. Sie bilden nur die Spitze eines komplexen Systems, das am besten als Pyramide beschrieben werden kann und in dem nationale Akteure in verschiedenen Konfigurationen zusammentreten. Diese Pyramide hat drei Ebenen: der Rat als Versammlungsort der Minister, der Ausschuss der ständigen Vertreter (COREPER55) und die Arbeitsgruppen. Ihre jeweilige Zusammensetzung und Arbeitsweise lässt sich am besten erklären, indem man die Entstehung eines Rechtsaktes nachvollzieht, da dies die Funktion der drei Ebenen und die Logik, die sich aus der Kompetenzverflechtung ergibt, d.h. die Logik exekutiver Kooperation, besonders gut aufzeigt: Es ist das Vorrecht der Kommission, Rechtsakte vorzuschlagen.56 Die erste57 und wichtigste Bewährungsprobe steht jedoch an, wenn ein solcher Vorschlag in einer Arbeitsgruppe des Rates diskutiert wird. Diese Arbeitsgruppen setzen sich aus nationalen Beamten aus jedem Mitgliedstaat zusammen, die für das jeweilige Fachgebiet zuständig sind.58 Sie prüfen, wie sich der Vorschlag in das Rechts- und Verwaltungssystem ihres Landes einpassen würde. Dies kann oft lange dauern, aber es klärt die meisten der oft sehr technischen Probleme, die mit einem Gesetzesentwurf, welcher in 27 verschiedenen Rechtssystemen umgesetzt werden soll, einhergehen. Das Ziel der Verhandlungen ist es, über möglichst viele Punkte bereits auf dieser Ebene eine politische Einigung zu erzielen. Ein Entwurf geht dann an den COREPER, der aus den Botschaftern der Mitgliedstaaten bei der EU besteht, also hochrangigen Berufsdiplomaten, die für eine lange Amtszeit in Brüssel bleiben.59 Während die Arbeitsgruppen flexibel sind und sich für eine kurze Zeit zur Diskussion eines bestimmten Themas zusammenfinden, ist der COREPER eine permanente Einrichtung. Zuweilen als die mächtigste Einrichtung innerhalb der EU angesehen, dient er vor allem als clearing-house. Er prüft jeden Vorschlag und widmet sich den Problemen, die in den Arbeitsgruppen nicht gelöst werden konnten. Da er nur in zwei Fachgruppen aufgeteilt ist,60 gewinnt er einen umfassenden Überblick und ein enormes Fachwissen. Letztlich ist es diese Eigenschaft, die seinen Mitgliedern erlaubt, mehr „Deals“ auszuhandeln und politi55 56 57
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Dieses Akronym der französischen Bezeichnung hat sich eingebürgert. Es steht für Comité des représentants permanentes. Art. 17 Abs. 2 EUV-Liss. Die meisten Vorschläge werden sogar schon in enger Zusammenarbeit mit nationalen Experten und Ministerialbürokraten erarbeitet, dazu W. Wessels, Dynamics of Administrative Interaction, in: W Wallace (Hrsg.), The Dynamics of European Integration, 1990, S. 229. Es gibt derzeit etwa 160 solcher Arbeitsgruppen, so Westlake/Galloway (Fn. 50), S. 217. Art. 207 Abs. 1 EG (Art. 16 Abs. 7 EUV-Liss., Art. 240 Abs. 1 AEUV); zum COREPER: Röhl (Fn. 31); W. Hummer/W. Obwexer, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 207 EG, Rn. 4; Mentler (Fn. 31); J. Lewis, National Interests: Coreper, in: J. Peterson/M. Shackleton (Hrsg.), The Institutions of the European Union, 2006, S. 272. Der COREPER tritt in zwei Formationen zusammen: Coreper II besteht aus den Ständigen Vertretern persönlich und ist für außenpolitische, finanzielle und horizontale Angelegenheiten zuständig, während sich Coreper I aus ihren Stellvertretern zusammensetzt, die mit allen übrigen Materien betraut sind (Hummer/Obwexer (Fn. 59), Art. 207 EG, Rn. 10; Lewis (Fn. 59), S. 286; Westlake/Galloway (Fn. 50), S. 201 (208)).
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schere Probleme zu lösen, als es die Arbeitsgruppen vermögen.61 Nur diejenigen Punkte, die nicht gelöst werden können, müssen dann von den Ministern verhandelt und entschieden werden.62 Ein weiteres Merkmal der Ratsstruktur muss noch erwähnt werden: Der Rat hat kein Plenum. Die Minister tagen gemäß ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich, als Finanzminister, als Umweltminister, etc.63 Der Rat ist folglich kein Ort für Generaldebatten, sondern für sektorale Verhandlungen. „Der“ Rat lässt sich insofern auch eher als ein hochkomplexes Verhandlungssystem bezeichnen, das zudem kaum hierarchische Züge aufweist, die zur Beschleunigung und Ordnung der Verfahren beitragen könnten – und dementsprechend an Effizienzproblemen leidet. Frühere Versuche, die Situation zu ändern, insbesondere durch eine Stärkung des Rats für Allgemeine Angelegenheiten (also den Außenministern), haben nicht den gewünschten Erfolg erzielt.64 Diese organisatorische Grundstruktur wird bei Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages weitgehend unverändert bleiben.65 Gewisse Änderungen, die noch im Verfassungsentwurf des Konvents vorgesehen waren, z.B. die Einführung eines Rats „Allgemeine Angelegenheiten und Gesetzgebung“, wurden von der Regierungskonferenz, die den Verfassungsvertrag ausgehandelt hatte, nicht bestätigt.66 Eine Hierarchie der Ratsformationen zur Rationalisierung der Verfahren wird nur in sehr abgeschwächter Form eingerichtet.67 Immerhin wird (aller Voraussicht nach, denn es bedarf dazu noch einer konkretisierenden Entscheidung durch den Europäischen Rat) ein neues System für den Vorsitz des Rates („Ratspräsidentschaften“) eingeführt.68 Es soll zukünftig Team-Präsidentschaften geben, in denen drei Mit-
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Eine eindrückliche Darstellung der Verhandlungsmethoden im Rat bei Spence (Fn. 54), S. 256. Weder der COREPER noch die Arbeitsgruppen haben rechtlich die Kompetenz, einen Rechtsakt im Namen des Rates zu beschließen. Nichtsdestotrotz werden etwa 80 % der Angelegenheiten inhaltlich entschieden, bevor die Minister zusammentreten. Diese bereits vorentschiedenen Angelegenheiten werden als A-Punkte bezeichnet und ohne weitere Diskussion im Rat angenommen, siehe Art. 3 Abs. 6 Geschäftsordnung des Rates (GO-Rat), Beschluss 2006/683/EG, Euratom, ABl. 2006 L 285, S. 47. Dazu J.-J. Jacqué, in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2004, Art. 204 EG, Rn. 11–19; F. Hayes-Renshaw, The Council of Ministers, in: Peterson/Shackleton (Fn. 59), S. 47 (53). Eine Liste der derzeit neun Ratsformationen findet sich in Anhang I der GO-Rat (Fn. 62). von Bogdandy (Fn. 36), S. 41–44; grundsätzlich D. Curtin, The Constitution of the Union, CMLRev. 30 (1993), S. 17 (26); zur wachsenden Informalität der Ratsverhandlungen U. Puetter, Informal Circles of Ministers, ELJ 9 (2003), S. 109 (114). Zu früheren Reformversuchen W. Wessels, Öffnung des Staates, 2000, S. 227; J. Kokott/A. Rüth, The European Convention and Its Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe, CMLRev. 40 (2003), S. 1315 (1332). W. Wessels, Die institutionelle Architektur der EU nach der europäischen Verfassung, integration 2004, S. 161 (165). Art. 16 Abs. 2 EUV-Liss. Art. 236 lit. b AEUV, Erklärung Nr. 9 zur Schlussakte des Vertrages von Lissabon.
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gliedstaaten gemeinsam eine 18-monatige Präsidentschaft gestalten.69 Dies dürfte die Ratsarbeiten rationalisieren und vor allem für mehr Kontinuität und Transparenz sorgen. Obwohl Zusammensetzung und interne Organisation eine immense Bedeutung haben, sind es die Kompetenzen, die den Rat letztlich zum zentralen Organ in der institutionellen Ordnung der EU machen.70 Und es ist auch dies ein Aspekt, der ihn zu einem typischen Element des Exekutivföderalismus in der EU macht: die Befugnisse des Rates sind sowohl legislativer als auch exekutiver Natur. Sie passen damit kaum in ein traditionelles Schema der Gewaltenteilung, sondern folgen eher einer Logik der Kompetenzverflechtung.71 In Bezug auf die Rechtsetzung spielt der Rat eine dominante Rolle, obgleich er nicht (wie teils fälschlich dargestellt) deren alleiniges Zentrum bildet.72 Der Rat ist nicht nur das einzige Organ, das Entscheidungsbefugnisse in fast allen Verfahren hat, sondern zudem das Organ, dem (mit Ausnahme des Mitentscheidungsverfahrens) auch stets das Letztentscheidungsrecht obliegt.73 Außerdem spielt der Rat eine zentrale Rolle mit Blick auf den Vollzug, da er an der Durchführungsrechtssetzung beteiligt ist.74 Zusammenfassend wird deutlich, wie sehr sich Zusammensetzung und Befugnisse des Rates mit Blick auf die Kompetenzverflechtung ergänzen. Der Rat ist sinnvoller Weise an Rechtsetzungsverfahren beteiligt, weil es die nationalen Administrationen sind, die letztendlich diese Rechtsakte umsetzen und anwenden sollen. Die frühe und maßgebliche Beteiligung nationaler und exekutiver Akteure ist ein notwendiger Bestandteil, damit diese Mechanismen funktionieren – und damit in der Struktur der exekutivföderalen Kompetenzverflechtung fest verankert. Es ist nun jedoch ein drittes Element, das dies System funktionstüchtig macht: die spezielle Form der Entscheidungsfindung. b) Entscheidungsmodus: Mehrheitsentscheid und Konsens Es ist zuweilen als Ausdruck des supranationalen Charakters der EU hervorgehoben worden, dass der Rat, im Gegensatz zu entsprechenden Gremien in vielen Internationalen Organisationen, bindende Entscheidungen nicht einstimmig entscheiden 69
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Zu Einzelheiten und Bedeutung der Ratspräsidentschaften siehe auch W. Hummer/W. Obwexer, in: Streinz (Fn. 59), Art. 203 EG, Rn. 38; J. Tallberg, Leadership and Negotiation in the European Union, 2006. Eine innovative empirische Analyse zur Machtfrage im Organgefüge leisten R. Thomson/ M. Hosli, Who Has the Power in the EU?, JCMS 44 (2006), S. 415. Zum Verhältnis der Gewalten in der EU Möllers (Fn. 35), S. 257. Auch die Kommission ist ein bedeutendes Rechtsetzungsorgan. Etwa die Hälfte der Rechtsakte der Union ergehen durch sie, und damit quantitativ mehr als durch den Rat, siehe A. von Bogdandy/J. Bast/F. Arndt, Handlungsformen im Unionsrechts, ZaöRV 62 (2002), S. 78 (139). Art. 250–252 EG (Art. 293–295 AEUV). Art. 202 Spstr. 3 EG; Komitologie-Beschluss 99/468/EG des Rates, ABl. 1999 L 184, S. 23 (zuletzt geändert durch Beschluss 06/512/EG), mit weiteren Hinweisen J. C. Wichard, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 202 EG, Rn. 5.
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muss, sondern häufig die Option eines Mehrheitsentscheids hat.75 Dies ist richtig und doch nicht die ganze Wahrheit. Genauso wesentlich ist, dass der Rat trotz der oft anwendbaren Mehrheitsregel76 seine Beschlüsse meistens im Konsens fasst.77 Dabei werden Lösungen durch anhaltende Verhandlungen, Kompromissbereitschaft und die Einbeziehung so vieler Parteien wie möglich gesucht. Diese Konsensmethode basiert auf gegenseitigem Vertrauen und der Erwartung, von gegenseitiger Kompromissbereitschaft mehr zu profitieren als von permanenter Unnachgiebigkeit. Nicht zuletzt basiert sie auf der Vertraulichkeit der Verhandlungen.78 In gewisser Hinsicht folgt der Rat insofern zwei Entscheidungsregeln: Hinter der formalen Mehrheit steckt eine informelle Konsensmethode, oder, wie Joseph Weiler es ausgedrückt hat: Konsens entsteht „im Schatten“ eines möglichen Mehrheitsentscheids.79 Obgleich diese Darstellung überzeugend erscheint und sich zudem bestens mit der exekutivföderalen Struktur erklären lässt, so fragt sich doch, ob sie auch heute noch gültig ist. Haben die Osterweiterung der Union, die hitzigen Debatten um die Reform der Mehrheitsregeln in den vergangenen Vertragsreformen und nicht zuletzt der Ruf nach mehr Transparenz die Entscheidungsfindung des Rates wirklich unverändert gelassen? Oder haben sich Methoden und Mechanik vielleicht doch gewandelt? Die Erweiterung auf 27 Mitglieder hat die Größe und Heterogenität des Rates beträchtlich erhöht. Dies ist mit Sicherheit eine Herausforderung für die Methode der konsensualen Entscheidungsfindung, und es ist insofern keine wirkliche Überraschung, wenn erste Studien zur Entscheidungsfindung des Rats seit 2004 von entsprechenden Effekten berichten. Die Zahl der verabschiedeten Rechtsakte ist gesunken und diejenigen Akte, die verabschiedet werden, beschäftigen sich eher mit nebensächlichen Materien und sind insgesamt gewundener.80 Zugleich wird je75 76
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Ipsen (Fn. 13), § 2 Rn. 44. Zu den Mehrheitsregeln im Rat nunmehr ausführlich H. Wedemeyer, Mehrheitsbeschlussfassung im Rat der Europäischen Union, 2008; W. Hummer/W. Obwexer, in: Streinz (Fn. 59), Art. 205 EG, Rn. 8. U. Everling, Zur konsensualen Willensbildung in der föderal verfassten Union, in: FS Badura, 2005, S. 1070; Hayes-Renshaw/Wallace (Fn. 50), S. 304; zu den Methoden anschaulich Spence (Fn. 54), S. 364. Vgl. Art. 5 und 6 GO-Rat (Fn. 62); vgl. M. Bauer, in: Westlake/Galloway (Fn. 50), S. 367 (372). J. H. H. Weiler, The Transformation of Europe, in: ders., The Constitution of Europe, 1999, S. 72; anschaulich U. Haltern, Europarecht, 2007, S. 105–108. Das Entscheidungsverhalten im Rat ist derzeit auch eines der zentralen Untersuchungsfelder der politikwissenschaftlichen Forschung, siehe nur F. Hayes-Renshaw u.a., When and Why the EU Council of Ministers Votes Explicitly, JCMS 44 (2006), S. 161; M. Mattila, Contested Decisions: Empirical Analysis of Voting in the European Union, European Journal of Political Research 43 (2004), S. 29; M. Mattila/J. E. Lane, Why Unanimity?, European Union Politics 2 (2002), S. 31. P. Settembri, The Surgery Succeeded – Has the Patient Died? The Impact of Enlargement on the European Union, Jean Monnet Working Paper 4 (2007), unter jeanmonnetprogram.org; S. Hagemann/J. De Clerck-Sachsse, Decision-making in the Enlarged Council of Ministers, CEPS Policy Brief Nr. 119 (2007), unter http://shop.ceps.eu/BookDetail.php?item_id=1430 (9.1.2009).
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doch berichtet, dass die Konsenskultur des Rates grundsätzlich weiter intakt sei. Insbesondere soll sich die Zahl der Nein-Stimmen gegen Akte nicht wesentlich erhöht haben. Eine Technik, die diesen Umstand erklärt und zum Auffangen größerer Heterogenität dient, ohne dass dies nach außen sichtbar wird, sind Protokollerklärungen. Sie werden im Protokoll der Ratssitzung vermerkt, als solche aber nicht als Nein-Stimmen registriert.81 Obwohl Konsensbildung also deutlich schwieriger geworden ist, ist der grundsätzliche Drang dazu nicht obsolet, das System der zweifachen Entscheidungsregeln ist also grundsätzlich weiterhin intakt. Die Erweiterung der EU war jedoch nur eine Entwicklung der jüngeren Vergangenheit, die die Entscheidungskultur im Rat verändert haben könnte. Ein näherer Blick ist auf die Entscheidungsregeln des Rates nach dem Vertrag von Lissabon zu werfen, standen diese Regeln doch im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit82 und wurde eine deutliche Vereinfachung und Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen als ein tragendes Ergebnis des neuen Vertrages gefeiert. Wird dies Konsenssuche und Kompromissbereitschaft überflüssig machen? Dies ist unwahrscheinlich. Die gegenwärtigen Regeln, die auf den Vertrag von Nizza zurückgehen, sehen ein komplexes System dreifacher Mehrheiten und gewichteter Stimmen vor.83 In klarem und erfrischendem Gegensatz dazu wird der Lissabonner Vertrag die Stimmengewichtung abschaffen und ein transparentes System doppelter Mehrheiten einführen. Stimmt der Rat nach den Regeln der qualifizierten Mehrheit ab, so wird eine Mehrheit 55 % (und mindestens 15) der Mitgliedstaaten erfordern, die mindestens 65 % der Bevölkerung der Union repräsentieren.84 Ist damit die Konsenskultur obsolet? Zur Beantwortung dieser Frage sei die vereinfachte Mehrheitsregel in einen weiteren Zusammenhang gestellt. Dabei wird deutlich, dass die erhitzten Debatten der Regierungskonferenzen und der Kampf um Stimmprozente in einem merkwürdigen Kontrast zur Realität der Entscheidungsfindung im Rat stehen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Mehrheitsregeln des Lissabonner Vertrages erst 2014 in Kraft treten sollen und bis 2017 zudem nur abgeschwächt gelten, da ein Mitgliedstaat bei wichtigen Entscheidungen darauf drängen darf, die Nizza-Regeln anzuwenden.85 Darüber hinaus erfordern auch die vereinfachten Lissabonner Regeln sehr breite Mehrheiten, die zwar keinen einstimmigen Konsens, aber doch das Schmieden mannigfacher Kompromisse und die Integration sehr vieler Parteien voraussetzen. Und schließlich beruht der relative Ein81 82 83
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Hagemann/De Clerck-Sachsse (Fn. 80), S. 3; zu ihrem rechtlichen Status auch W. Hummer/ W. Obwexer, in: Streinz (Fn. 59), Art. 204 EG, Rn. 45. Zu diesen Regeln nach dem Verfassungsvertrag A. Peters, European Democracy After the 2003 Convention, CMLRev. 41 (2004), S. 55. „Dreifach“ bedeutet hier eine Mehrheit der gewichteten Stimmen, der Staaten und teilweise auch der Bevölkerung, Art. 3 des Protokolls über die Erweiterung (2001); dazu auch Wedemeyer (Fn. 76), S. 99; M. Hosli/M. Machover, The Nice Treaty and Voting Rules in the Council, JCMS 42 (2004), S. 497. Art. 16 Abs. 4 EUV-Liss. Art. 16 Abs. 5 EUV-Liss. und Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen für die Organe und Einrichtungen der Union.
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fluss im Rat nach Angaben von Praktikern nur sehr bedingt auf dem eigentlichen Gewicht der Stimme. Qualitative Untersuchungen legen vielmehr nahe, dass es genauso auf das Verhandlungsgeschick, den spezifischen Gegenstand und Einzelumstände ankommt.86 Wenn die Konsensmethode also auch weiterhin notwendig erscheint, so ist jedoch zu fragen, ob sie noch möglich ist. Als wichtige Voraussetzung dieser Methode gilt die Vertraulichkeit der Ratsverhandlungen. Die Vertraulichkeitsregeln sind jedoch seit langem eine wesentliches Ziel von Kritik, da es als normativ unhaltbar angesehen wird, wenn eines der zentralen Entscheidungsgremien der EU hinter verschlossenen Türen tagt.87 Im Jahre 2006 wurden daher die Vertraulichkeitsregeln in der Geschäftsordnung des Rates geändert und Ratsverhandlungen in einem bislang ungekannten Maße der Öffentlichkeit geöffnet.88 Auch der Lissabonner Vertrag wird die Forderung nach mehr Transparenz des Rates aufnehmen und festlegen, dass „der Rat öffentlich [tagt], wenn er über Entwürfe für Gesetzgebungsakte berät und abstimmt“.89 Es bleiben jedoch Zweifel, ob diese Änderungen wirklich die Verhandlungskultur des Rates verändern werden. Dies scheint schon deshalb fraglich, weil die Änderungen nur die oberste Ebene des Ratssystems betreffen; sein wesentlich breiterer Unterbau (COREPER und Arbeitsgruppen) wird dagegen nicht erfasst sein. Insgesamt 80–90 % der Entscheidungen des Rates werden in diesem Unterbau getroffen, also auch weiterhin in Vertraulichkeit und sicherlich häufig im Konsens.90 Im Ergebnis wird man wohl feststellen, dass die Konsensmethode im Rat auch weiterhin, also trotz Erweiterung und im Falle des Inkrafttretens des Lissabonner Vertrags, Bestand haben wird. Betrachtet man dieses Ergebnis durch die Brille des Exekutivföderalismus, so erscheint dies einleuchtend. Drei Überlegungen sollen abschließend den Zusammenhang von Exekutivföderalismus und Konsensmethode sowie deren Bedeutung für die Union darstellen.91 Es ist, erstens, die föderale Heterogenität der EU, die nach einer inklusiven, auf Konsens basierenden Entscheidungsmethode verlangt. Die Theorie der Konsensdemokratie zeigt, dass kulturell, religiös, sprachlich oder in anderer Form gespaltene Gesellschaften einen eigenständigen, eben konsensualen Weg der Entscheidungsfindung entwickelt haben, der ihnen einen friedlichen Weg der Konfliktbeilegung 86 87
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Hayes-Renshaw u.a. (Fn. 79), S. 179–185; Thomson/Hosli (Fn. 70). Kritisch Lübbe-Wolff (Fn. 22), S. 257; zur Debatte allgemein F. Riemann, Die Transparenz der Europäischen Union, 2004; zu den jüngsten Änderungen M. E. de Leeuw, Openness in the Legislative Process in the European Union, ELRev. 32 (2007), S. 295; P. Settembri, Transparency and the EU Legislator, JCMS 43 (2005), S. 637. Vgl. Art. 8 GO-Rat (Fn. 62). Art. 16 Abs. 8 EUV-Liss.; zum Gesetzesbegriff des Lissabonner Vertrags J. Bast, in diesem Band, S. 546 ff. Vgl. Hinweise in Fn. 62. Für eine deutlich optimistischer Einschätzung siehe S. Oeter, in diesem Band, S. 110. Zum Rat als non-majoritäres Organ grundlegend R. Dehousse, Constitutional Reform in the European Community, West European Politics 18 (1995), S. 125.
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gestattet.92 Diese Methode basiert auf permanenter Inklusion aller relevanten sozialen Kräfte, d.h. auf politischen Kompromissen, sowie auf der proportionalen Verteilung der verantwortungsvollen Positionen auf die systemtragenden Parteien. Sie bildet einen Kontrast zu Konkurrenz und temporärer Exklusion, die typischerweise Systeme mit Mehrheitsdemokratien kennzeichnen.93 Die Konsensmethode im Rat wird, zweitens, durch gewisse soziokulturelle Gemeinsamkeiten der Ratsmitglieder vereinfacht. Wie oben beschrieben, sind die Verhandlungen im Rat hauptsächlich Beratungen nationaler und supranationaler Beamter. Ungeachtet sprachlicher, politischer oder anderer Unterschiede, haben diese Beamten oft vergleichbare Ausbildungen (Jura, Politikwissenschaft), einen gemeinsamen beruflichen Hintergrund (Verwaltung) und nähern sich über den laufenden Kontakt einander an. Dies schafft eine gewisse „Fachbruderschaft“ (esprit de corps), die Kompromissbereitschaft und Konsensfindung erleichtert.94 Schließlich erklärt ein Blick auf den Vollzug, warum die Anwendung der Konsensmethode in der Struktur des Exekutivföderalismus einen besonderen Zweck erfüllt. Es ist nachvollziehbar, dass eine Regelung akzeptabler ist, wenn die Regelungsunterworfenen ihr zuvor zugestimmt haben. In der EU liegt der Vollzug von Rechtsnormen bei den Mitgliedstaaten, sowohl ihren Legislativen als auch ihren Administrationen. EU-Normen haben also eine größere Chance, von den nationalen Parlamenten und Bürokratien richtig umgesetzt zu werden, wenn sie mit Zustimmung der eigenen Regierung beschlossen werden.95 Kann man die Konsensmethode somit als komplementäres Element des Exekutivföderalismus ansehen, so lässt sich dieser Punkt sogar noch weiterführen. Die Konsensmethode ist nicht nur ein wesentlicher Mechanismus der Entscheidungsfindung des Rates, sondern die EU im Allgemeinen kann als eine Konsensdemokratie charakterisiert werden.96 Wie auch immer man sich zu dieser Generalbeschreibung verhält, die Methode im Rat hat jedenfalls einen spill-over-Effekt auf den Stil der Entscheidungsfindung in anderen Organen sowie zwischen den Organen. Das vielleicht beste Beispiel dafür ist das Parlament.
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G. Lehmbruch, Proporzdemokratie, 1967; A. Lijphart, The Politics of Accommodation, 1968. Es sollte vielleicht hinzugefügt werden, dass sich diese Methode oft auch dann noch hält, wenn die ursprünglichen Spaltungen der Gesellschaft längst überwunden sind. Das beste Beispiel ist Deutschland, dazu H. Abromeit, Der verkappte Einheitsstaat, 1992. Der Meister der Bürokratiestudien, Max Weber, hat dieses Phänomen als „Kompromisskollegialität“ bezeichnet: ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 1972, S. 164. J. Schwarze u.a., Die Implementation von Gemeinschaftsrecht, 1993, S. 13; S. Krislov u.a., The Political Organs and the Decision-making Process in the United States and the European Community, in: Cappelletti u.a. (Fn. 47), S. 3 (63); N. Nugent, The Government and Politics of the European Community, 1994, S. 145. A. Lijphart, Patterns of Democracy, 1999, S. 42–47; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 728, 758; S. Oeter, in diesem Band, S. 112 ff.
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2. Das Europäische Parlament In einer geradezu revolutionären Entwicklung hat sich das EP von einer rein beratenden Versammlung zu einem in weiten Teilen gleichberechtigten Partner von Rat und Kommission gewandelt.97 Dieser genauso kontinuierliche wie grundlegende Wandel und die ungewöhnliche Erscheinung eines supranationalen Parlaments haben es bislang wohl verhindert, dass das EP eine adäquate Interpretation erfahren hat. Jedenfalls ein Vorschlag dazu, nämlich eine Konzeption des EP als Arbeitsund Kontrollparlament, sei hier mit Hilfe eines vergleichenden Blicks gemacht.98 Das EP soll in seinen Kompetenzen und Organisationsstrukturen dargestellt und dabei mit zwei Grundtypen von Parlamenten verglichen werden. Diese zwei Typen, Redeparlament und Arbeitsparlament, lassen sich kurz wie folgt beschreiben.99 Das Redeparlament findet sein Zentrum im Plenum. Dies dient als Forum der Nation und steht im Mittelpunkt des politischen Diskurses. Der Typus des Redeparlaments findet sich regelmäßig in parlamentarischen Regierungssystemen, in denen die stärkste Fraktion im Parlament die Regierung bildet, so dass es zu einer „Fusion“ von Mehrheitsfraktion und Regierung kommt. Um dieser Übermacht entgegenzuwirken, nutzt die Opposition den Appell an die allgemeine Öffentlichkeit. Nur im Plenum kann sie Maßnahmen der Regierung wirkungsvoll kritisieren und eigene Gegenentwürfe darlegen. Das britische Unterhaus ist das klassische Beispiel dafür.100 Das Arbeitsparlament ist dagegen geprägt durch die personelle Trennung von Regierung und Parlament. Da das Arbeitsparlament die Regierung typischer Weise nicht wählt, wird dieses nicht durch die Fusion von Regierung und Mehrheitsfraktion, sondern die Auseinandersetzung zwischen der Legislative und der Exekutive charakterisiert. Es versteht sich als Gegengewicht zur Regierung und nicht als deren Mehrheitsbeschaffer. Das institutionelle Herz des Arbeitsparlaments schlägt nicht im Plenum, sondern in seinen Ausschüssen. Diese erwerben eigenständige Expertise, mit der sie der Regierungsbürokratie gegenübertreten und Einfluss auf die Rechtsetzung nehmen. Der amerikanische Kongress ist ein klassisches Beispiel für diesen Parlamentstypus.101
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C. Haag/R. Bieber, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), Vorb. zu Art. 189–201 EG, Rn. 7–15; D. Judge/D. Earnshaw, The European Parliament, 2003, S. 26–64; B. Rittberger, The Creation and Empowerment of the European Parliament, JCMS 4 (2003), S. 203; siehe auch die Beiträge in Schmuck/Wessels (Fn. 25). Ausführlich P. Dann, Europäisches Parlament und Exekutivföderalismus, Der Staat 42 (2003), S. 361. Diese Begriffe stammen von Max Weber und Winfried Steffani, siehe M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: ders., Gesammelte politische Schriften, 1971, S. 350; W. Steffani, Amerikanischer Kongress und Deutscher Bundestag, in: ders., Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, 1979, S. 333; siehe auch M. L. Mezey, Comparative Legislatures, 1979, S. 36; beide Typen (wenngleich nicht die Begriffe) tauchen gelegentlich in der Literatur zum EP auf, siehe etwa C. Lord, Democracy in the European Union, 1998, S. 65; R. Corbett u.a., The European Parliament, 2007, S. 9. Klassisch: W. Bagehot, The English Constitution (1867), 1997. Locus classicus hierzu: W. Wilson, Congressional Government (1885), 1956.
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Wie stellt sich das EP vor diesem vergleichenden Hintergrund dar? Angesichts ihrer zentralen Bedeutung sei zunächst die Wahlfunktion des EP dargestellt (a), sodann werden seine Kontroll- (b) und Gesetzgebungsfunktion analysiert (c). Zugleich werden dabei wesentliche Merkmale seiner Organisation behandelt, insbesondere seine Ausschüsse.102 Die Repräsentationsfunktion – und ihre Schwächen – werden im Teil zur Legitimation der Organverfassung behandelt.103 a) Wahlfunktion: Die negative Kreationskompetenz Der Einfluss des EP auf die Ernennung der Kommission und vor allem ihres Präsidenten hat in den vergangenen Jahren beträchtlich zugenommen.104 Das EP muss heute sowohl den Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission als auch das gesamte Kollegium der Kommissare bestätigen.105 Es hat sich zudem das Recht erkämpft, die Kandidaten für die Kommission einer intensiven und kritischen Anhörung zu unterziehen.106 Nach dem Lissabonner Vertrag soll das EP den Präsidenten der Kommission sogar „wählen“.107 Zugleich sieht der neue Vertrag vor, dass der Europäische Rat, dem das Vorschlagsrecht für den Kommissionspräsidenten zukommen soll, bei seinem Vorschlag die Ergebnisse der Wahl zum EP „berücksichtigt“.108 Der Zusammenhang zwischen Wahl und Zusammensetzung des Parlaments und der Komposition der Kommission soll damit unterstrichen werden. Nicht zuletzt hat das EP seit der Gründung der EWG das Recht, einen Misstrauensantrag einzubringen und die Kommission ihres Amts zu entheben.109 Ist es überzeugend, den wachsenden Einfluss des EP als Entwicklung der EU zu einem parlamentarischen Regierungssystem zu interpretieren, also zu einem Regierungssystem wie dem britischen oder deutschen, in dem die Mehrheitsfraktion im
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Zur organisatorischen Struktur des EP generell T. Oppermann, Europarecht, 2005, § 5 Rn. 17–29; R. Bieber, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), Art. 197 EG, Rn. 2–15. Unten, V. 2. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die Kompetenz des EP zur Wahl der Kommission; zu weiteren Ernennungskompetenzen siehe Art. 195 EG (Bürgerbeauftragter), Art. 112 EG (EZB-Direktorium), Art. 247 EG (Rechnungshof); dazu C. Haag/R. Bieber, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), Art. 189 EG, Rn. 12–17; S. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf (Fn. 50), Art. 189 EG, Rn. 23; auch V. Epping, Die demokratische Legitimation der Dritten Gewalt in den Europäischen Gemeinschaften, Der Staat 37 (1997), S. 349. Art. 214 Abs. 2 EG. Maurer (Fn. 26), S. 172–179. Art. 14 Abs. 1 S. 3 EUV-Liss. Hierbei handelt es sich aber vor allem um eine neue Formulierung in der besonders sichtbaren und daher symbolträchtigen Anfangsvorschrift zum EP, der jedoch keine spezifischen neuen Rechte im Kreationsverfahren entsprechen (vgl. Art. 17 Abs. 7 EUV-Liss.). Zwar mag die Neubezeichnung als „Wahl“ eigendynamische Effekte haben. Eine effektive Stärkung der EP-Wahlen und seines „Wahlrechts“ würde jedoch eher einen Sinneswandel der Parteien voraussetzen, sich vor der EP-Wahl auf einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu einigen. Art. 17 Abs. 7 EUV-Liss. Art. 201 EG (Art. 234 AEUV), vgl. Art. 144 EWG-Vertrag; dazu Corbett u.a. (Fn. 99), S. 279.
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Parlament den Regierungschef wählt und seine Regierung politisch trägt?110 Entwickelt sich die EU zumindest zu einer spezifisch europäischen Form, ausgestattet mit einigen supranationalen Merkmalen?111 Die exekutivföderale Gestalt der Organverfassung wirft Zweifel an einer solchen Deutung auf. Zwar lässt sich eine längst stattfindende Parlamentarisierung im Sinne eines Zuwachses parlamentarischen Einflusses auf die Politikgestaltung nicht bestreiten. Eine Entwicklung der EU zu einem veritablen parlamentarischen Regierungssystem im gerade genannten strengen Sinne ist aber ausgesprochen unwahrscheinlich.112 Vier Argumente mögen dies verdeutlichen: Erstens steht der Rat der Herausbildung eines parlamentarischen Regierungssystems in mehrfacher Hinsicht entgegen. Dies gilt zunächst aufgrund seiner Rolle bei der Ernennung der Kommission. Immerhin hat er nach wie vor das Vorrecht der Benennung des Kandidaten – ein Recht, das er kaum aufgeben wird.113 Der Rat steht einem parlamentarischen Regierungssystem in der EU aber auch aufgrund seiner Funktion als Teil einer dualistischen Exekutive entgegen.114 Zu einem parlamentarischen Regierungssystem gehörte der Einfluss des Parlaments auf die gesamte Regierung. Der Rat wird jedoch nicht vom EP gewählt und ist dem EP auch nicht rechenschaftspflichtig.115 Ein zweites Argument leitet sich aus der Art ab, wie das EP das Bestätigungsverfahren der Kommission durchführt.116 Im Redeparlament eines parlamentarischen Regierungssystems wäre es für die Regierungsfraktion „normal“, die Regierung ohne weitere Diskussionen zu wählen. Im EP dagegen gibt es keine Mehrheit, die sich als loyale parlamentarische Basis der Kommission verstehen würde. Das EP präsentiert sich eher, insbesondere in den Anhörungsverfahren, als kritisches Gegengewicht und nicht als loyaler Mehrheitsbeschaffer der Kommission.117 Ein drittes Argument gegen die Parlamentarisierungsthese betrifft die personelle Fusion zwischen dem EP und der Kommission, d.h. die Besetzung der Kommission mit Abgeordneten aus dem Parlament, die ein notwendiger Aspekt eines 110
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Zu dieser Regierungsform siehe G. Sartori, Comparative Constitutional Engineering, 1999, S. 101, aber auch M. Schmidt, Demokratietheorie, 1997, S. 219; zu diesem Argument M. Nentwich/G. Falkner, The Treaty of Amsterdam, European Integration online Papers Nr. 7 (1997), S. 4, unter http://eiop.or.at/eiop; vgl. auch R. Dehousse, European Institutional Architecture After Amsterdam, CMLRev. 35 (1998), S. 595 (624 f.). P. Magnette, Appointing and Censuring the European Commission, ELJ 7 (2001), S. 292. Andere sehen Grenzen einer Parlamentarisierung vor allem im nationalen Verfassungsrecht, das Bedingungen an eine weitere Parlamentarisierung knüpfen würde, so Huber (Fn. 43), S. 237. Vgl. Art. 214 EG (Art. 17 Abs. 7 EUV-Liss.). Lenaerts (Fn. 42), S. 17 f. Zur Rolle der nationalen Parlamente in dieser Hinsicht unten, V. 1., sowie Dann (Fn. 29), S. 177. Vgl. die Darstellung bei D. Nickel, Das Europäische Parlament als rekrutierendes Organ, in: A. Maurer/D. Nickel (Hrsg.), Das Europäische Parlament, 2005, S. 74, sowie die Würdigung H. Schmitt von Sydow, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), Art. 214 EG, Rn. 35–41. Vgl. aber Magnette (Fn. 111), S. 298 f.
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parlamentarischen Regierungssystems und eines Redeparlaments wäre. Empirisch betrachtet gibt es keine solche Fusion zwischen beiden Institutionen.118 Auch rechtlich ist eine Fusion gegenwärtig unzulässig. Eine Inkompatibilitätsregelung zwischen einem Mandat des EP und einem Sitz in der Kommission verbietet formal die Ernennung der MEPs als Kommissare.119 De lege ferenda könnte dies geändert werden. Sowohl die technokratische als auch die föderale Funktion der Kommission stünden dem jedoch entgegen. Eine Aufhebung wird denn auch nirgendwo ernsthaft erwogen. Schließlich wird, viertens, auch der Lissabonner Vertrag die Wahlfunktion des EP nicht wesentlich ändern. Trotz diverser Vorschläge und starker Unterstützung von föderalistischer Seite wird das EP hier kaum gestärkt und vor allem der Vorrang des Rates in der Benennung nicht angetastet.120 Ein Wandel des bisherigen Verfahrens würde nun vielmehr einen politischen Wandel voraussetzen. Erst wenn europäische Parteien sich vor den EP-Wahlen auf gemeinsame Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten einigen, würde das Vorrecht des Rates unter Druck geraten. Insgesamt erscheint die Entwicklung der EU zu einem parlamentarischen Regierungssystem und des EP zu einem Redeparlament also unwahrscheinlich. Nichtsdestotrotz ist die Wahlfunktion des EPs schon heute keineswegs bedeutungslos, im Gegenteil. Sie kennzeichnet vielmehr in besonders prägnanter Weise die Rolle des Parlaments in der EU, denn: Obwohl das EP die Kommission nicht eigenständig wählen kann, so kann es doch jede Kommission verhindern (oder, wenngleich mit qualifizierter Mehrheit, des Amtes entheben). Das EP hat gleichsam eine negative Wahlkompetenz und fungiert so als einflussreiche Kontrollmacht. Dies ergibt in der spezifischen institutionellen Struktur der EU durchaus Sinn. Zunächst sichert diese negative Kreationskompetenz einen Mindeststandard an demokratischer Verantwortlichkeit der Kommission. Ein stärkerer Einfluss würde dagegen die Formung einer stabilen (Regierungs-)Mehrheit im EP voraussetzen. Eine solche Mehrheit wäre aber stets schwer zu erreichen (und aufrechtzuerhalten), wird sie doch durch die föderale Vielfalt des Parteiensystems im EP besonders erschwert. Die Tatsache, dass das EP oder seine Mehrheit nicht an die Kommission durch Parteiloyalität gebunden ist, hat schließlich einen positiven Effekt auf seine Unabhängigkeit, wenn es um Fragen von Kontrolle und Gesetzgebung geht. Die gegenwärtigen Wahlrechte des EP fügen sich somit institutionenlogisch wie normativ gut in das politische System der EU. Diese Interpretation der Wahlkompetenzen des EP soll jedoch nicht die Defizite im System des Exekutivföderalismus verdecken, die insbesondere das Problem kla118 119
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Ebd., S. 298; zu anderen Verbindungen von EP und Kommission Corbett u.a. (Fn. 99), S. 323 f. Art. 6 Abs. 1 Spstr. 2 Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des EP (Direktwahlakt) (ABl. 1976 L 278, S. 5), dazu C. Haag/R. Bieber, in: Groeben/ Schwarze (Fn. 62), nach Art. 190 EG, Rn. 18. Kokott/Rüth (Fn. 65), S. 1332 f.
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rer Verantwortlichkeit der Regierung (bzw. hier: der Kommission) betreffen. Es ist ein zentrales Prinzip demokratischen Regierens, dass die Bürger bestimmen, wer regiert. Betrachtet man aber die EU, so ist dieses Prinzip eindeutig verletzt. Hier wird die Exekutive in Gestalt der Kommission nicht vom EP gewählt, sondern von Rat und EP gemeinsam. Der Rat wiederum setzt sich aus nationalen Regierungen zusammen, die von ihren nationalen Parlamenten individuell gewählt werden. Bei der Wahl zur Kommission fließen daher ganz unterschiedliche Wahlergebnisse (nationale und europäische) zusammen, so dass ein klarer Zusammenhang fehlt. Beteiligt sind letztlich alle, so dass man es faktisch mit einer permanenten AllparteienRegierung zu tun hat.121 Wenn ein parlamentarisches Regierungssystem durch die exekutivföderale Struktur behindert wird, so ließe sich fragen, ob die direkte Wahl des Kommissionspräsidenten das Problem beheben würde. Dies würde das System transparenter machen und eine klare Linie der Verantwortlichkeit aufzeigen.122 Das Problem der Verantwortlichkeit in der EU ist jedoch komplexer.123 Es ist in der föderalen Ordnung angelegt, die die Zusammenarbeit zwischen den föderalen Ebenen und zwischen den verschiedenen Regierungen erforderlich macht. Selbst ein direkt gewählter Kommissionspräsident müsste permanent verhandeln, mit dem EP und mit den nationalen Regierungen im Rat. Klare und schnelle Entscheidungen blieben eine Illusion.124 Es liegt in der Natur des Exekutivföderalismus, diese schwer durchschaubare und untransparente Situation mit sich zu bringen. Allerdings: Was einerseits als eine Verletzung demokratischer Prinzipien erscheint, entpuppt sich andererseits als eine Art Lebensversicherung des föderalen Systems, denn es zwingt zu gemeinsamen Lösungen trotz geradezu überwältigender Heterogenität.125 b) Kontrollfunktion: eine Frage der internen Organisation Die Struktur des Exekutivföderalismus hat erhebliche Auswirkungen auch auf die Kontrollfunktion des EP.126 Ruft man sich die oben genannten Parlamentstypen in Erinnerung, so unterscheiden sie sich auch hier in ihrer Vorgehensweise: ein Redeparlament überprüft die Regierung hauptsächlich durch öffentliche Debatten im Plenum, wohingegen Kontrolle im Arbeitsparlament eher durch detaillierte Prüfun121 122
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J. H. H. Weiler, To Be a European Citizen, in: ders. (Fn. 79), S. 350; K. H. Neunreither, Governance Without Opposition, Government and Opposition 33 (1998), S. 419. Lord (Fn. 99), S. 131; F. Decker, Parlamentarisch oder präsidentiell? Institutionelle Entwicklungspfade des europäischen Regierungssystems nach dem Verfassungsvertrag, Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 5 (2007), S. 192. Eine ähnliche Diagnose findet sich bei S. Oeter, in diesem Band, S. 103 ff. Zum Vergleich effektiver Regierungsstrukturen auch P. Dann, The Gubernative in Presidential and Parliamentary Systems, ZaöRV 66 (2006), S. 1. Zu dem parallelen Problem im deutschen Exekutivföderalismus E.-W. Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, in: FS Schäfer, 1980, S. 188. Zum Verständnis parlamentarischer Kontrolle H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 292; W. Steffani, Formen, Verfahren und Wirkungen parlamentarischer Kontrolle, in: H. P. Schneider/W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 1325.
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gen der Legislativvorschläge in spezialisierten Ausschüssen erfolgt.127 Wie ist das EP in Bezug auf diese beiden Typen einzuordnen? Aus einer formalen Perspektive wäre es zunächst durchaus einleuchtend, das EP als ein Redeparlament zu begreifen. Es verfügt über weitreichende formelle Befugnisse, die Kommission im Plenum zu befragen.128 Der faktische Gebrauch dieser Befugnisse wirft jedoch ein anderes Licht auf die Situation. Obwohl Fragerechte zweifellos beliebt sind,129 hat ihr Gebrauch deutlich abgenommen, vor allem seit das EP seine Rechtsetzungsbefugnisse ausgebaut hat.130 Plenarstunden sind daher kaum der lebendigste Teil unionaler Parlamentskultur. Stattdessen entspricht die Wahrnehmung der Kontrollfunktion des EP eher dem eines Arbeitsparlaments. Sie basiert primär auf organisatorischen Gegebenheiten, insbesondere machtvollen und gut ausgebauten Ausschüssen.131 Und in der Tat sind die Ausschüsse des EP von höchster Wichtigkeit.132 Dies wird sowohl durch ihre Funktionen wie ihre Organisation belegt: Die Ausschüsse spielen, erstens, eine entscheidende Rolle bei der Informationsbeschaffung, Analyse und Formulierung politischer Standpunkte im Rechtsetzungsverfahren. Die Ausschüsse haben das Recht, die Kommission zu befragen133 und Anhörungen mit Experten abzuhalten.134 Durch diese Instrumente haben die Ausschüsse in ihren jeweiligen Fachgebieten eine besondere fachliche Kompetenz erworben.135 Auf dieser Grundlage erstellen sie Berichte für das Plenum und legen dabei in den meisten Fällen das spätere Ergebnis inhaltlich fest.136 127 128
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K. Bradshaw/D. Pring, Parliament and Congress, 1972, S. 355. Art. 197 Abs. 3 EG (Art. 226 AEUV), Art. 108–110 und 176 der Geschäftsordnung des EP (GO-EP), 16. Aufl. Juli 2004, ABl. 2005 L 44, S. 1; Corbett u.a. (Fn. 99), S. 283; Beckedorf (Fn. 30), S. 126. Das EP hat zudem gewisse Kontrollrechte gegenüber dem Rat, die sich aus dessen nicht nur legislativer, sondern zugleich exekutiver Funktion erklären, dazu Dann (Fn. 29), S. 360. In der fünften Legislaturperiode (1999–2004) beantwortete die Kommission nicht weniger als 19.855 parlamentarische Anfragen, Corbett u.a. (Fn. 99), S. 285. Als aufschlussreiche frühe Studie zu diesem Instrument siehe L. Cohen, The Development of the Question Time in the EP, CMLRev. 16 (1979), S. 46. A. Maurer, What Next for the European Parliament?, 1999, S. 54. In vergleichender Perspektive K. Strom, Parliamentary Committees in European Democracies, in: L. Longley/R. Davidson (Hrsg.), The New Role of Parliamentary Committees, 1998, S. 21. Corbett u.a. (Fn. 99), S. 126–155; V. Mamadouh/T. Raunio, The Committee System, JCMS 41 (2003), S. 333; C. Neuhold/P. Settembri, The Role of European Parliament Committees in the EU Policy-making Process, in: T. Christianson/T. Larsson (Hrsg.), The Role of Committees in the Policy-process of the EU, 2007, S. 152. Art. 109, 187 GO-EP (Fn. 128). Art. 183 Abs. 2 GO-EP (Fn. 128). S. Bowler/D. Farrel, The Organizing of the European Parliament, British Journal of Political Science 25 (1995), S. 226–235. Ein weiterer wesentlicher Aspekt parlamentarischer Kontrolle im EP ist sein Recht, Untersuchungsausschüsse einzurichten (Art. 193 EG, Art. 226 AEUV); ausführlich Beckedorf (Fn. 30); M. Shackleton, The European Parliament’s New Committees of Inquiry, JCMS 36 (1998), S. 115.
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Zweitens spielt die Organisation der Ausschüsse eine zentrale Rolle. Sie sind vergleichsweise klein, inhaltlich spezialisiert und gezielt ausgerichtet auf die jeweilige Verteilung der Fachgebiete in der Kommission. Ebenfalls von besonderer Bedeutung ist die Struktur ihrer Führungsspitze. Diese besteht aus einem Vorsitzenden und einem rapporteur (Berichterstatter).137 Letzterer ist für eine Angelegenheit (z.B. ein Rechtsetzungsverfahren) zuständig, präsentiert diese im Ausschuss, formuliert dessen Position und übernimmt seine Präsentation im Plenum sowie gegenüber anderen Organen. Berichterstatter sind daher extrem einflussreich, weshalb ihre Benennung in einem komplizierten und heiß umkämpften Verfahren erfolgt.138 Darüber hinaus schafft diese Position klare Zuständigkeiten und gibt dem Ausschuss eine deutliche Stimme zur internen Kommunikation (zwischen verschiedenen Ausschüssen und Parteigruppen) und zur externen Kommunikation. Letzteres gibt den Ausschüssen eine besondere Fähigkeit zu Verhandlungen mit anderen Organen.139 Neben den Ausschüssen trägt ein weiteres Organisationsmerkmal des EP dazu bei, es als ein Arbeitsparlament zu charakterisieren: sein wissenschaftlicher Dienst. Es ist ein typisches Merkmal eines Arbeitsparlaments, dass es seine Fachkompetenz und Ausdauer bei der Überprüfung von Gesetzentwürfen der Unterstützung durch zahlreiche und kompetente Mitarbeiter verdankt. Verglichen mit dem amerikanischen Kongress erscheint die Zahl der Mitarbeiter des EP unbedeutend. Im Vergleich mit sämtlichen mitgliedstaatlichen Parlamenten ist das EP dagegen sehr gut mit wissenschaftlicher Expertise ausgestattet.140 c) Rechtsetzungsfunktion: Kooperation und Konsensbildung Das EP kann schließlich auch hinsichtlich seiner Rechtsetzungsfunktion als ein Arbeitsparlament qualifiziert werden.141 Im Mitentscheidungsverfahren, dessen Anwendungsbereich im Lissabonner Vertrag weiter ausgeweitet wurde142 und daher mit dem neuen Vertrag konsequenter Weise als „ordentliches Gesetzgebungsver137 138 139
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Mamadouh/Raunio (Fn. 132), S. 341–348; Bowler/Farrel (Fn. 135), S. 242–243. Neuhold/Settembri (Fn. 132), S. 159; Corbett u.a. (Fn. 99), S. 139–141. Ein weiterer Aspekt, der die besondere Rolle der Ausschüsse erklärt, liegt darin, dass sie öffentlich tagen und häufig öffentliche Anhörungen veranstalten. Sie werden daher auch als „Fenster des Parlaments“ angesehen (Corbett u.a. (Fn. 99), S. 314 f., 334), vgl. Art. 96 Abs. 3 GO-EP (Fn. 128). M. Shapiro, The Politics of Information, in: Craig/Harlow (Fn. 48), S. 199–207; R. Bieber, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), Art. 197 EG, Rn. 15; in vergleichender Perspektive Löwenberg/Patterson (Fn. 52), S. 159–164. Insgesamt beschäftigt das Parlament 4.100 Mitarbeiter, wovon aber 1.200 Übersetzer sind. Zugleich nutzt das EP weitere Ressourcen: Es hat ein Netzwerk mit externen Forschungsinstitutionen aufgebaut, das sog. STOA (Scientific and Technical Options Assessment; dazu Corbett u.a. (Fn. 99), S. 287). Nicht zuletzt beschäftigt das Parlament einen eigenen juristischen Dienst. Zu den unterschiedlichen Ansätzen in beiden Parlamentstypen Dann (Fn. 29), S. 356; Bradshaw/Pring (Fn. 127), S. 293. Dies betrifft unter anderem die Agrarpolitik (Art. 43 AEUV), die gemeinsame Einwanderungspolitik (Art. 79 AEUV) und die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 82 AEUV).
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fahren“ bezeichnet werden soll (Art. 289, 294 AEUV), hat es verglichen mit nationalen Parlamenten in parlamentarischen Regierungssystemen eine deutlich mächtigere Position.143 Diese Aussage mag zunächst überraschen. Da das EP kein Initiativrecht besitzt, wird es häufig als defizitär angesehen.144 Dies würde die heutige politische Dynamik der Rechtsetzung in parlamentarischen Regierungssystemen jedoch gründlich missverstehen. Gerade in parlamentarischen Regierungssystemen ist es heute fast ausschließlich die Regierung, die Gesetzesvorschläge unterbreitet, welche sie von ihrer Ministerialbürokratie entwerfen lassen kann. Die parlamentarische Mehrheit einer Regierung hat dann aus politischen Loyalitätsgründen nur noch bedingten Einfluss auf das Gesetz und nimmt es an. Im Vergleich dazu ist das EP aufgrund seiner politischen Unabhängigkeit von der Kommission und des Fehlens einer „regierenden“ Mehrheitsfraktion in der Lage, Gesetzesvorschläge rigoros zu prüfen und zu modifizieren, nicht zuletzt durch seine Ausschüsse. Der Einfluss des EP ist also auch inhaltlich durchaus stark, zugleich aber von einer eher modifizierenden Natur. Die Rolle des EP ist weniger die eines proaktiven als eines reaktiven politischen Akteurs. Das EP ist, anglisiert formuliert, weniger ein policy-making als ein policy-shaping actor.145 Die besondere Form der parlamentarischen Mitwirkung an unionalen Rechtsetzungsverfahren ist durch zwei Aspekte gekennzeichnet: die Notwendigkeit interinstitutioneller Kooperation und den Bedarf an Konsens und Kompromissbereitschaft im EP selbst. Die Gesetzgebung in der EU zeichnet sich zunächst durch die überragende Bedeutung der Kooperation zwischen den beteiligten Organen aus. Dies ergibt sich zum Teil aus der strengen Gleichstellung von Rat und EP, wie sie Art. 251 EG und das Mitentscheidungsverfahren vorsehen.146 In zwei Lesungen im EP und im Rat und eventuell einem Vermittlungsausschuss muss der Gesetzesentwurf von beiden Organen, EP und Rat, verabschiedet werden.147 In diesem oft langwierigen Verhandlungsprozess agiert die Kommission als Initiator und Vermittler. Dieses Dreiecksspiel wird erleichtert durch eine Reihe von informellen Treffen zwischen den Organen, die als Trialoge bezeichnet werden. Sie finden in weit früheren Sta143
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Generell zu den Gesetzgebungskompetenzen des EP: C. Haag, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), Art. 192 EG; zur Entwicklung dieser Kompetenzen A. Héritier, Explaining Institutional Change in Europe, 2006, S. 69; zur Bedeutung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens im Vergleich zu den anderen Rechtsetzungsverfahren D. Nickel, Das EP als Legislativorgan, integration 2003, S. 502 f. Allerdings hat es ein Aufforderungsrecht gegenüber der Kommission, Art. 192 Abs. 2 EGV, das teilweise sogar als rechtlich bindend angesehen wird, siehe P. M. Huber, in: Streinz (Fn. 59), Art. 192 EG, Rn. 14; zu seinem Gebrauch auch C. von Buttlar, Das Initiativrecht der Kommission, 2003, S. 190, 254; M. Westlake, The Commission and the Parliament, in: G. Edwards/D. Spence (Hrsg.), The European Commission, 2006, S. 265. A. von Bogdandy, in diesem Band, S. 65 f.; vgl. K. von Beyme, Die parlamentarische Demokratie, 1999, S. 282. Für weitere Informationen zu den Rechtsetzungsverfahren siehe R. Streinz, Europarecht, 2005, Rn. 500–502; sowie Literatur in Fn. 48. Zum Vermittlungsausschuss ausführlich F. Rutschmann, Der europäische Vermittlungsausschuss, 2002.
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dien des Rechtsetzungsverfahren statt und sind fester (wenngleich informeller) Bestandteil des Verfahrens geworden sind.148 Gerade die Erweiterung der EU und Vergrößerung der Organe hat die Bedeutung dieser Trialoge erhöht.149 Ist europäische Rechtsetzung ohne stete Kooperation nicht möglich, so ist die mit ihr oft einhergehende Intransparenz nicht unproblematisch, da sie Verantwortungszusammenhänge verwischt und politische Interventionen der Öffentlichkeit erschwert.150 Die Notwendigkeit für andauernde Kooperation hat noch einen zweiten Grund: Die Kommission besitzt zwar ein Initiativmonopol,151 hat aber keine stabile parlamentarische Basis, die ihre Vorschläge stets unterstützen würde.152 Und selbst wenn die Kommission eine solche parlamentarische Basis hätte, würde ihr eine solche im Rat fehlen, da dieser nicht nach parteipolitischen Orientierungen strukturiert ist. Daher bildet der Rat eine (exekutivföderale) Barriere gegen ein reibungsloses und Kommissions-gesteuertes Legislativverfahren und macht es stattdessen zu einem stark auf Konsens und Zusammenarbeit basierenden Prozess.153 Politische Willensbildung im und Rechtsetzung durch das EP sind noch durch ein zweites Merkmal gekennzeichnet, nämlich die Tatsache, dass das EP in sich ein auf Kompromissbereitschaft gebautes System ist. Seine Ausschüsse dienen als spezialisierte Foren für Verhandlungen zwischen verschiedenen Fraktionen,154 und seine Führungsstruktur versieht das EP mit einem kompetenten System für die konsensuale Entscheidungsfindung.155 Das EP ist schließlich auch deshalb ein größtenteils auf Kompromissfindung ausgerichteter Akteur, weil die Zahl der Fraktionen traditionell besonders groß ist.156 Es erfordert die Kunst des Kompromisses, hier Übereinkünfte zu erzielen, selbst dort, wo die Mehrheitsregeln anwendbar 148
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Gemeinsame Erklärung von EP, Rat und Kommission zu den praktischen Modalitäten des neuen Mitentscheidungsverfahrens (2007/C 145/02), ABl. 2007 C 145, S. 5; vgl. auch M. Shackleton/T. Raunio, Codecision Since Amsterdam, JEPP 10 (2003), S. 171 (176–181); H. Farrel/A. Héritier, Formal and Informal Institutions Under Codecision, European Integration online Papers Nr. 18 (2002), S. 7, unter http://eiop.or.at/eiop; dazu schon Wuermeling (Fn. 18). Die Zusammenarbeit zwischen den Organen wird zudem durch eine Reihe von interinstitutionellen Vereinbarungen erleichtert, dazu m.w. Hinweisen F. von Alemann, Die Handlungsform der interinstitutionellen Vereinbarung, 2006; I. Eiselt/P. Slominski, Subconstitutional Engineering, ELJ 12 (2006), S. 209. Settembri (Fn. 80), S. 32. Vgl. Lübbe-Wolff (Fn. 22), S. 257; zu diesem Problem auch jenseits der Gesetzgebung unten , IV. 2. a) a.E. Vgl. Art. 250 Abs. 1, 251 Abs. 2, 252a EG (Art. 17 Abs. 2 EUV-Liss.); dazu von Buttlar (Fn. 144). Dehousse (Fn. 91), S. 126; S. Hix/C. Lord, Political Parties in the European Union, 1997, S. 178. S. Boyron, The Co-decision Procedure, in: Craig/Harlow (Fn. 48), S. 147. Und sie dienen zugleich für Verhandlungen mit anderen Organen, nehmen doch Vertreter von Kommission und Rat häufig an den Sitzungen teil, vgl. Art. 137, 183 Abs. 2 GO-EP (Fn. 128); Neuhold/Settembri (Fn. 132), S. 171. Judge/Earnshaw (Fn. 97), S. 173–176. D. Tsatsos/G. Deinzer (Hrsg.), Europäische Politische Parteien, 1998; Hix/Lord (Fn. 152), S. 77, 156 (Tabelle 6.7); A. Kreppel, The European Parliament and Supranational Party System, 2002, S. 215.
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sind.157 Das EP ist also intern gezwungen, Verhandlungs- und Kompromisstechniken entwickeln. Dies ermöglicht es ihm, auch im weiteren interinstitutionellen Prozess erfolgreich zu sein. Dieser konsensuale Charakter des EP bringt mit sich, dass eine majoritäre Logik hier kaum Wurzeln schlagen und mit der föderalen Struktur des institutionellen Prozesses der EU kaum in Konflikt geraten kann.158 So betrachtet erweist sich das, was Renaud Dehousse einmal das „political deficit“ des EP genannt hat, in Wirklichkeit vielleicht als das Geheimnis seiner Effizienz und seiner Wirkungsmacht in der institutionellen Ordnung der EU.159 Um zu unserer Ausgangsfrage zurückzukehren: Das EP erweist sich als ein Arbeits- und mehr noch als Kontrollparlament. Personell getrennt von der Kommission und auch politisch nicht an sie gebunden, hat das EP vergleichsweise starke (und oft unterschätzte) rechtsetzende und kontrollierende Kompetenzen, strukturell dem amerikanischen Kongress vergleichbar. Obwohl es zugleich signifikante Probleme in der Repräsentationsfunktion hat,160 ist es das Zentrum der demokratischen Kontrolle in der EU. Der Kommission ohne parlamentarischer Basis stellt sich dabei ein spezifisches Problem. 3. Die Europäische Kommission a) Einführung und das Problem politischer Führung Die Aufgabe politischer Führung ist ein inhärentes Problem exekutivföderaler Ordnungen im Allgemeinen und der EU im Besonderen. Die grundsätzliche Gleichheit der Mitgliedstaaten und die fehlende ideologische Kohärenz im Rat stehen einer hierarchischen Führung im Wege. Zweier- oder Dreiergruppierungen von Staaten mögen zeitweise als Motor dienen, aber es gibt keine stabile Basis für eine formelle oder informelle Hierarchie. Hinzu kommt, dass der allgegenwärtige Konsensbedarf Verantwortlichkeiten verhüllt. Da die meisten Entscheidungen in Übereinkunft mit allen beteiligten Parteien und auf vertrauliche Weise ausgehandelt werden, ist es oft schwer zu erkennen, wer wofür verantwortlich ist – wohl ein wesentliches Merkmal von Führung. Und schließlich verhindert die stets notwendige Kooperation rasches Handeln. Nicht erst in der Union der 27 erfordert die Einigung auf politische Initiativen und Rechtsakte einen enormen Zeitaufwand und verlangsamt energische Aktionen.161
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Vgl. Art. 198, 251 Abs. 2 lit. b und c EG (Art. 294 Abs. 7 lit. a und b AEUV); zu der problematischen Seite dieser Situation, A. Maurer, Das EP in der Gesetzgebung, in: ders./Nickel (Fn. 116), S. 117–119; siehe auch Kreppel (Fn. 156), S. 174 f., 215. Zu den durchaus anderen Erfahrungen im deutschen Exekutivföderalismus: Lehmbruch (Fn. 47). Dehousse (Fn. 91), S. 125; zu dieser Problematik auch C. Möllers, in diesem Band, S. 250 ff. Dazu unten, V. 2. Diese Analyse aus föderaler Perspektive soll andere Erklärungen natürlich nicht ausschließen, z.B. solche, die auf die institutionelle Rivalität zwischen Kommission und Rat abstellen, dazu etwa N. Nugent, The European Commission, 2001, S. 202–204.
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Die Organverfassung der EU verfügt über zwei Organe, die grundsätzlich Führungsfunktionen übernehmen könnten: die Kommission und der Europäische Rat. Wie erfüllt die Kommission, um mit dem supranationalen Organ zu beginnen, die Funktion und wie kommt sie mit den exekutivföderalen Beschränkungen zurecht? Auch hier sei ein vergleichender Ansatz gewählt, um Gestalt und Funktion der Kommission darzustellen und um eine klarere Vorstellung davon zu bekommen, was für einen Institutionstypus sie darstellt.162 Es seien zwei Regierungstypen unterschieden:163 Der erste Typus, die majoritäre Regierung, beruht auf der Idee ideologischer Kohärenz. Sie setzt sich aus Mitgliedern zusammen, die aus einem politischen Lager stammen und von der Mehrheit im Parlament unterstützt werden. Die interne Organisation der Regierung zeichnet sich durch eine klare Hierarchie aus, in der der Regierungschef die Führung übernimmt. Er trägt die Verantwortung gegenüber dem Parlament. Beispiele für diesen Typus finden sich in der britischen und der deutschen Bundesregierung.164 Grundlegendes Merkmal der konsensualen Regierung, wie der zweite Typus genannt werden soll, ist die repräsentative Vielfalt. Dieser Regierungstyp ist geprägt durch eine proportionale Zusammensetzung des Kabinetts, in dem alle relevanten regionalen, kulturellen und politischen Gruppen vertreten sein sollen. Er basiert nicht auf einer parlamentarischen Mehrheit, sondern auf dem Prinzip der angemessenen Repräsentation aller Parteien und Regionen. Innerhalb des Kabinetts sind alle Regierungsmitglieder gleichberechtigt und tragen gemeinsam die Verantwortung. Dieser Regierungstyp findet sich – mit kurzen Unterbrechungen in jüngerer Zeit – im schweizerischen Bundesrat.165 Wie stellt sich die Kommission im Vergleich zu diesen Typen dar? Da sich der Unterschied zwischen beiden Typen insbesondere an ihrer internen Organisation festmacht, soll die Analyse mit diesem Punkt beginnen.
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Dieser Beitrag untersucht die Kommission nur als politisches Organ (d.h. Kollegium der Kommissare und ihr Präsident), nicht dagegen ihren administrativen Unterbau; dazu näher H. Schmitt von Sydow, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), Art. 218 EG, Rn. 14; Nugent (Fn. 161), S. 134; zur Reform seit dem Rücktritt der Santer-Kommission P. Craig, EU Administrative Law, 2006, S. 3–31. Es sind verschiedene Konzepte vorgeschlagen worden, um die Eigenart der Kommission zu erfassen, siehe D. Rometsch, Die Rolle und Funktionsweise der Kommission in der Ära Delors, 1999, S. 55; L. Cram, The European Commission as Multi-Organisation, JEPP 1 (1994), S. 195; J. H. Matlary, The Role of the Commission, in: N. Nugent (Hrsg.), At the Heart of the Union, 2000, S. 270. Dazu M. Schröder, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 1998, § 51; von Beyme (Fn. 145), S. 415. Die Tatsache, dass es sich in der Bundesrepublik meist um Koalitionsregierungen handelt, steht der ideologischen Kohärenz einer solchen Regierung nicht entgegen. L. Mader, Bundesrat und Bundesverwaltung, in: D. Thürer (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, § 67.
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b) Die Organisationsstruktur: die Form einer konsensualen Regierung Es überrascht nicht, dass die Zusammensetzung der Kommission starke Ähnlichkeiten zum Typus der konsensualen Regierung zeigt. Im Kommissionskollegium wird seit November 2004 jeder Mitgliedstaat von einem Kommissar vertreten.166 Auch im Hinblick auf die politische Zusammensetzung ist eine Form der proportionalen Repräsentation vorherrschend.167 Die besondere Bedeutung dieser Regelungen der proportionalen Zusammensetzung lässt sich aus den Diskussionen im Verfassungskonvent ersehen und an ihrem Ergebnis in Gestalt des Verfassungs- und dann Lissabonner Vertrags ablesen. Obwohl weitgehende Einigkeit dahingehend bestand, dass eine Kommission mit nun 27 Mitgliedern kaum in der Lage sei, kohärent, effizient und vertrauensvoll zu handeln, wurde eine Verkleinerung der Kommission auf das Jahr 2014 verschoben.168 Dann soll nach Art 17(5) EUV-Liss. die Anzahl der Kommissare zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten entsprechen. Auch dabei wird der Vertrag jedoch eine Hintertür offen lassen: Der Europäische Rat kann nämlich die Anzahl der Kommissare auch wieder ändern; die Verkleinerung ist somit keinesfalls sicher.169 In Bezug auf die interne Hierarchie lässt sich eine Entwicklung vom konsensualen zum eher majoritären Typus beobachten. Die Kommission ist ein Kollegium, aus dem der Kommissionspräsident ursprünglich nur marginal herausgehoben war.170 Bis heute werden die Entscheidungen der Kommission als Kollektiv getroffen.171 Die letzten Vertragsrevisionen haben die Position des Präsidenten jedoch kontinuierlich gestärkt. Die Kommission arbeitet nun „unter der politischen Führung ihres Präsidenten“, der über ihre interne Organisation bestimmen und Verantwortlichkeiten zuteilen kann.172 Vielleicht noch wichtiger ist, dass der Präsident die
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Art. 213 Abs. 1 EG, Art. 4 des Protokolls über die Erweiterung (2001), geändert durch Art. 45 Abs. 2 lit. d der Beitrittsakte 2003 (ABl. 2003 L 236, S. 33); siehe Art. 17 Abs. 4 EUV-Liss. Es ist ein vielsagendes Detail, dass diejenigen Länder, die bis zum Inkrafttreten der Regelung im Erweiterungsprotokoll und der Beitrittsakte (also bis November 2004) zwei Kommissare benennen durften, diese grundsätzlich aus unterschiedlichen politischen Lagern wählten, vgl. Nugent (Fn. 161), S. 89. Das Schweizer Verfassungsrecht ist in der Anordnung der Proportionalität noch expliziter als die EU, siehe Art. 175 Abs. 4 Bundesverfassung. Zur Diskussion H. Schmitt von Sydow, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), Art. 213 EG, Rn. 10–20. Der Europäische Rat hat im Dezember 2008 schon einen ersten Schritt durch diese Hintertür gemacht. Um die irische Bevölkerung, die den Lissabonner Vertrag in einem Referendum 2008 abgelehnt hatte, zu besänftigen, wurde beschlossen, im Falle des Inkrafttretens des Lissabonner Vertrags die Zahl der Kommissare nicht zu senken, siehe Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes vom 11./12.12.2008, Rats-Dok. 17271/08, Rn. 2. Nugent (Fn. 161), S. 68–71. EuGH, Rs. 5/85, AKZO Chemie/Kommission, Slg. 1986, 2585, Rn. 30; siehe auch Streinz (Fn. 146), Rn. 349; zum Kollegialprinzip auch Groß (Fn. 35), S. 331. Art. 217 Abs. 1 S. 2 EG; eingehend H. Schmitt von Sydow, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), Art. 217 EG, Rn. 37–42; Staeglich (Fn. 31), S. 110.
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Wahl „seiner“ Kommissare beeinflussen173 kann und diese auch wieder (bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags nur mit Zustimmung seines Kollegiums) entlassen kann.174 Die hierarchische Hervorhebung des Präsidenten ist inzwischen also sehr deutlich.175 Was das Verfahren zur Wahl der Kommission betrifft, kann erneut eine starke Ähnlichkeit mit dem konsensualen Typus der Regierung beobachtet werden. Wie oben bereits angesprochen, wird die Kommission in einem komplexen Verfahren ernannt, das Rat und EP gemeinsam durchführen. Während der Rat (in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs) die Kompetenz hat, zunächst den Präsidenten und dann eine Liste von Kommissaren zu nominieren, muss das EP erst den Präsidenten und dann das Kollegiums als Ganzes bestätigen.176 Deshalb ist es nicht das Parlament, welches eigenständig die Regierung wählen kann, wie es in einem majoritären Modell der Fall wäre (und wie der Text des Lissabonner Vertrags suggeriert), sondern ein Tandem aus einem unitarischen und einem föderalen Akteur.177 Die Stabilität der Amtszeit ist ein weiteres Anzeichen für die Ähnlichkeit der Kommission mit einer konsensualen Regierung. Der Rat hat keine Befugnis, die Kommission aufzulösen. Das EP hat zwar das Recht, die Kommission durch ein Misstrauensvotum aufzulösen – grundsätzlich ein typisches Instrument parlamentarischer Regierungssysteme. Sein Gebrauch wird jedoch ernsthaft erschwert durch die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit.178 Vor allem in einem Parlament, das sich durch Vielzahl und Heterogenität seiner Fraktionen auszeichnet, ist eine derartige Mehrheit fast unmöglich zu erreichen – und bislang auch nie erreicht worden. In dieser Hinsicht gleicht das Recht des EP eher dem Recht zur Amtsenthebung (impeachment) als einem Misstrauensvotum in hergebrachten parlamentarischen Regierungssystemen, das dort typischerweise nur an eine absolute Mehrheit geknüpft ist. Obwohl konsensuale und föderale Aspekte in der Struktur der Kommission schon deutlich wurden, so sind die Spuren des Exekutivföderalismus bis jetzt weniger offenbar geworden. Dies ändert sich, sobald man einen Blick auf die Funktionen der Kommission wirft.
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Art. 214 Abs. 2 Ua 2 EG (Art. 17 Abs. 7 Ua. 2 EUV-Liss.). Art. 217 Abs. 4 EG (Art. 17 Abs. 6 EUV-Liss.). Zum Problem der Verantwortlichkeit allerdings V. Mehde, Responsibility and Accountability in the European Commission, CMLRev. 40 (2003), S. 423. Art. 214 Abs. 2 EG (Art. 17 Abs. 7 EUV-Liss., dort wird allerdings der Europäische Rat tätig); dazu mit weiteren Hinweisen H. Schmitt von Sydow, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), Art. 214 EG, Rn. 27. Vgl. zu dem vergleichbaren Modell in der Schweizer Verfassung Art. 157 Abs. 1, 175 Abs. 2 Bundesverfassung; Mader (Fn. 165), S. 1051. Art. 201 EG (Art. 234 AEUV), dazu Corbett u.a. (Fn. 99), S. 278.
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c) Funktionen: Agenda-Setter, Vermittlerin und Staatsanwältin Jedes politische System braucht (mindestens) ein Organ, das für Orientierung und politische Leitung sorgt. Besonders die institutionelle Dynamik der Kooperation und die Kultur des Konsenses innerhalb der EU schaffen einen solchen Bedarf – und bereiten zugleich Probleme. Fragt man nach der Fähigkeit der Kommission, Leitungsfunktionen zu übernehmen, so hat man ihr besonderes Verhältnis zu den gesetzgebenden Organen in Rechnung zu stellen. Mit Blick auf das EP fehlt der Kommission eine politische Basis. Im Gegensatz zu Regierungen in parlamentarischen Regierungssystemen kann sie sich nicht auf einen Partner in Form einer parlamentarischen Mehrheit verlassen, der ihre politischen Ideen mittragen würde. Und auch mit Blick auf den Rat ist ein planbarer politischer Gleichklang illusorisch. Wie stellen sich Funktion und Kompetenzen der Kommission aus dieser Perspektive dar? Um eine Antwort geben zu können, ist es sinnvoll, sich einen Überblick über die Aufgaben der Kommissionen zu verschaffen. Drei seien hier hervorgehoben.179 aa) Agenda-Setter Zunächst ist die Kommission ein wesentlicher Agenda-Setter. Laut EG-Vertrag ist sie beauftragt, Empfehlungen und Stellungnahmen abzugeben.180 Noch ohne dadurch formalisierte Willensbildungsprozesse auszulösen, kann sie so Themen benennen und Diskussionen vorstrukturieren, häufig durch die Veröffentlichung von Grün- und Weißbüchern. Wesentlich ist zudem ihr Recht, „am Zustandekommen der Handlungen des Rates und des Europäischen Parlamentes mitzuwirken“.181 Eine zentrale Ausprägung dieses Gedankens und von entscheidender Bedeutung ist hier ihr Initiativmonopol, durch das sie vorschlagen kann, ob, wann und auf welcher rechtlichen Basis die Union handeln sollte.182 Obgleich der Rat und das EP die Kommission bitten können, Rechtsetzungsvorschläge zu unterbreiten, kann die Kommission nicht dazu gezwungen werden.183 bb)Vermittlerin Die Kommission hat zudem die Funktion, als unabhängige Dritte die Entscheidungsfindung der Union zu unterstützen.184 Sie eignet sich dazu auch in besonderem Maße. Laut Vertrag müssen Kommission und Kommissare „volle Gewähr für 179 180 181 182 183 184
Mit teilweise anderen Einteilungen der Funktionen H. Schmitt von Sydow, in: Groeben/ Schwarze (Fn. 62), Art. 211 EG; Lenaerts/van Nuffel (Fn. 40), Rn. 10-056 bis 10-061. Art. 211 Spstr. 2 EG (vgl. auch Art. 17 Abs. 1 S. 1 und 7 EUV-Liss.); Lenaerts/van Nuffel (Fn. 40), Rn. 10-059. Art. 211 Spstr. 3 EG. Art. 17 Abs. 2 EUV-Liss.; von Buttlar (Fn. 144); H. Schmitt von Sydow, in: Groeben/ Schwarze (Fn. 62), Art. 211 EG, Rn. 38–50. Art. 208 EG (Art. 241 AEUV). Lenaerts/van Nuffel (Fn. 40), Rn. 11-014; von Buttlar (Fn. 144), S. 68; diese Rechte werden durch den Lissabonner Vertrag noch gestärkt, vgl. J. Schild, Die Reform der Kommission, integration 2003, S. 498; vgl. zu dieser Funktion im Kontext des deutschen Föderalismus F. W. Scharpf u.a., Politikverflechtung, 1976, S. 42.
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ihre Unabhängigkeit“ bieten und ihre Pflichten zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft ausüben.185 Die Kommission hat es bislang weitgehend vermocht, als solch neutraler Vermittler angesehen zu werden, der gute und im allgemeinen Interesse liegende Lösungen zustande bringt.186 Diese Fähigkeit, als unabhängige Dritte zu fungieren, verdankt die Kommission nicht zuletzt einer Reihe von Verfahrensrechten, durch die sie an allen gesetzgebenden Verfahren teilnimmt und Zugang zu allen Institutionen hat.187 Aus ihrem Initiativmonopol ergibt sich zudem das Recht, einen Rechtsaktsentwurf jederzeit und ohne weitere Formalitäten abzuändern, oder ihn einfach zurückzuziehen.188 Die Kommission ist dadurch besonders flexibel und verfügt häufig über einen Informationsvorsprung, der es ihr erleichtert, eine Einigung zwischen den beteiligten Akteuren zu erzielen. In dieser Vermittler-Funktion wird das Zusammenspiel zwischen der funktionalen Anforderung des Exekutivföderalismus und der Struktur der Kommission als konsensuale Regierung besonders auffällig. Die spezifische Struktur der Kommission erscheint gerade so geformt, dass sie in die institutionelle Dynamik des föderalen Systems passt und es fördert. cc) Staatsanwältin der Verträge Eine dritte Funktion der Kommission besteht darin, die unionalen Interessen gegenüber den Mitgliedstaaten nicht nur im Rahmen der politischen Willensbildung, sondern auch gerichtlich zu vertreten und somit für die Legalitätskontrolle zu sorgen. Die Kommission verfügt über mehrere entsprechende Kompetenzen. Hierzu zählt es sicherzustellen, dass das Unionsrecht eingehalten wird. Art. 211 Spstr. 1 EG verpflichtet sie, dafür Sorge zu tragen, dass die Mitgliedstaaten und die anderen Organe im Einklang zum Unionsrecht handeln und ermächtigt sie, Klage gegen diese wegen Verletzung des Unionsrechts beim Gerichtshof einzureichen.189 Auch diese Kompetenzen fügen sich gut in die Struktur des Exekutivföderalismus. Es erscheint einleuchtend, dass ein Bundesorgan die Umsetzung überwachen soll, die den Mitgliedstaaten obliegt. Es ist nicht nur eine Frage der Effizienz, sondern auch der Fairness zwischen den Mitgliedstaaten, dass eine neutrale Institution die Befolgung gemeinsamer Regeln durch alle Mitgliedstaaten sicherstellt.190 d) Schlussfolgerung und das ungelöste Problem politischer Führung Struktur und Kompetenzen der Kommission finden eine kohärente Erklärung im konzeptionellen Rahmen der föderalen Ordnung. Nach den Worten von Walter 185 186 187 188 189 190
Art. 213 Abs. 1, 2 EG (vgl. Art. 245 AEUV). Nugent (Fn. 161), S. 210 f. Hayes-Renshaw/Wallace (Fn. 50), S. 192–194. Art. 250 Abs. 2 EG; zu den Grenzen J. Schoo, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), Art. 250 EG, Rn. 21–24. Art. 17 Abs. 1 S. 2 und 3 EUV-Liss.; bis heute aufschlussreich Schmitt von Sydow (Fn. 5), S. 28. Dazu aus politikwissenschaftlicher Perspektive M. Hartlapp, Die Kontrolle der nationalen Rechtsdurchsetzung durch die Europäische Kommission, 2005.
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Hallstein ist sie „motor, watchdog and an honest broker“.191 Es ist interessant zu beobachten, wie die Organisation der Kommission und ihre Aufgaben interagieren und einander ergänzen. So scheint die proportionale Zusammensetzung der Kommission unerlässlich für ihre Rolle als teils vermittelnde und teils anklagende Dritte – beides sind essentielle Aufgabe im konsensualen System des Exekutivföderalismus.192 Unbeantwortet ist bislang jedoch die Frage nach der politischen Führung in der Union. Kann die Kommission diese erbringen? Eignet sie sich nach Struktur und Kompetenzen als ein Führungsorgan der Union? Berücksichtigt man die spezifischen Probleme politischer Führung, die sich, wie anfangs erwähnt, aus der Struktur des Exekutivföderalismus ergeben, so gibt es wohl zwei Antworten – eine optimistische und eine skeptische. In einem optimistischen Licht ließe sich argumentieren, dass ein so spezifisch konsensuales System wie die EU auch eine spezifische Form der Führung braucht. Die Führung in dieser föderalen Ordnung kann keinem hierarchischen oder majoritären Modell von Führung entsprechen. Stattdessen muss sie hier einen dialogischen Stil annehmen, der eher initiierend, ausgleichend und nachhakend angelegt ist, als durch einseitige Entscheidungskompetenzen zu dominieren. Dieser Führungstyp ist übrigens keineswegs ein schwacher Ersatz für Macht oder eine typisch europäische Krankheit. Auch die letztlich sehr begrenzten Kompetenzen des US-Präsidenten werden vor allem darin gesehen, mit solch weichen Kompetenzen wie Agenda-Setting und öffentlichen Mahnungen Probleme zu benennen und Erwartungen zu erzeugen, denen sich die anderen politischen Akteure dann schlecht entziehen können.193 Ein skeptischer Betrachter könnte jedoch anmerken, dass die Führung der Kommission schon deshalb schwach ist, weil sie unter einer Spannung zwischen den Aufgaben politischer Führung einerseits und föderaler Vermittlung andererseits leidet. Die Kommission ist hin und her gerissen zwischen politischer Agenda und föderalem Ausgleich und folglich unfähig, konsequent zu führen. Es scheint, so der Skeptiker, dass ein Organ entweder als politische Führung oder als neutraler Dritter agieren kann, aber beide Funktionen zusammen nur ein unbefriedigendes Mittelding ergeben. Die Geschichte der Kommission bietet diverse Belege für diese Sichtweise. Wenn es ihr um eine politisch brisante Initiative ging, musste sie immer wieder ihre politischen Intentionen hinter einer Fassade der Fachkompetenz verstecken und in die Rhetorik des Gemeininteresses hüllen. So gesehen ist die Kommission strukturell ungeeignet für die Führungsrolle. Welche Sichtweise man auch bevorzugt: eine klare Konsequenz der Rolle der Kommission als neutraler Vermittler ist oftmals ein Politik-Defizit. Wo politische 191 192 193
W. Hallstein, United Europe, 1962, S. 21. Ein diesbezüglicher, allerdings letztlich kritischerer Vergleich auch bei S. Oeter, in diesem Band, S. 113. Entgegen allgemeinem Glauben auf dieser Seite des Atlantiks hat der US-Präsident nämlich nur durchaus begrenzte konkrete Machtressourcen, unter denen wiederum die Überzeugungskraft als am wichtigsten erachtet wird; dazu die berühmte Studie von R. Neustadt, Presidential Power, 1960.
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Ziele in technischer Verkleidung verfolgt werden, ist der offene Meinungswettstreit nicht mehr möglich. Diese Konsequenz ergibt sich letztlich aus der Struktur des Exekutivföderalismus und ist damit zugleich eine Demonstration eines weiteren, ihm inhärenten Dilemmas (oben war bereits von seiner Intransparenz und der Tendenz zur Verantwortungsverwischung die Rede). Ein System, das so heterogen und derart durch konsensuale Verfahren geprägt ist wie die EU, wird ineffektiver, je politischer und offener die Diskussion ist. Anders ausgedrückt: Ein gewisses Politik-Defizit sichert das Funktionieren der Organe im Exekutivföderalismus, es ist der berühmte Tropfen Öl im Getriebe der exekutivföderalen Organverfassung.194 Ist insofern die Frage politischer Führung noch nicht wirklich beantwortet, so ergibt sich eine Antwort vielleicht aus einem Führungstandem, etwa mit dem Europäischen Rat. 4. Der Europäische Rat Der Europäische Rat ist keines der ursprünglichen Organe der Europäischen Gemeinschaften. Er entstand aus einer Reihe von Gipfeltreffen der Regierungschefs in den späten 1960er Jahren und wurde 1974 offiziell als reguläres Treffen eingeführt.195 Diese Entwicklung ist von besonderer Bedeutung für das Verständnis des Organs, das heute als Ort der wichtigsten politischen Entscheidungen in der EU angesehen wird. Sie hat zudem viel mit den funktionalen Mängeln der föderal geprägten Organverfassung zu tun. Gleichzeitig kann die Gründung des Europäischen Rates als die endgültige Bestätigung der Struktur und institutionellen Logik der exekutivisch geprägten Mehrebenenstruktur der EU betrachtet werden. a) Organisatorische Form: Das Ideal des „Kamingesprächs“ Ein dreifacher Impuls führte zur Gründung des Europäischen Rates.196 Innenpolitischer Druck zur Reform der europäischen Wohlfahrtsstaaten, wachsende Instabilität der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und ein Führungsdefizit innerhalb der Europäischen Gemeinschaften signalisierten die zunehmende Notwendigkeit, den direkten Kontakt der Regierungschefs zu institutionalisieren. Der Erfolg einer solchen Zusammenarbeit hing jedoch auch davon ab, einen angemessen Rahmen ihrer Institutionalisierung zu finden.197 Die Kernidee des Europäischen Rates verband sich daher mit seiner Form: er sollte einem „Kamingespräch“ ähneln, so infor194 195
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Zu diesem Punkt schon oben, mit Blick auf die Rechtsetzung, IV. 2. c). Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs anlässlich ihres Treffens in Paris vom 9.–10. Dezember 1974, Bulletin EG 12-1974, Ziff. 1104(3). Er trat zum ersten Mal offiziell als „Europäischer Rat“ in Dublin im März 1975 zusammen, dazu Westlake/Galloway (Fn. 50), S. 171. Die besten Gesamtdarstellungen liefern S. Bulmer/W. Wessels, The European Council, 1987; J. Werts, The European Council, 1992. Bulmer/Wessels (Fn. 195), S. 16. Zu den verschiedenen Modellen, die zur Diskussion standen, ebd., S. 36; Werts (Fn. 195), S. 70.
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mell wie möglich und zugleich so hochrangig wie nötig.198 Heute ist der Europäische Rat längst aus seinem ursprünglichen Format herausgewachsen, aber seine zentralen Organisationsmerkmale spiegeln diese Idee noch immer wider. Der Europäische Rat versammelt nur die wichtigsten Akteure, d.h. die Staatsund Regierungschefs sowie den Kommissionspräsidenten, wenn nötig jeweils unterstützt durch einen Außenminister und ein weiteres Kommissionsmitglied.199 Er verfährt nach dem Prinzip der Informalität.200 Es wird streng darauf geachtet, dass keine schriftlichen Aufzeichnungen der Treffen angefertigt werden. Bis heute wird nur eine beschränkte Anzahl von Personen in den Sitzungsraum gelassen.201 Gleichermaßen zentral für die Arbeitsweise des Europäischen Rates ist die ausschließlich konsensuale Form der Beschlussfassung.202 Der informelle, fast private Charakter der Treffen stieß jedoch in dem Maße an Grenzen, in dem Bedeutung, Agenda und schließlich die Zahl der Mitglieder des Europäischen Rates wuchsen. Die Folge waren erhebliche organisatorische Probleme.203 Der Lissabonner Vertrag sieht daher eine grundlegende Neuerung vor: um Kontinuität und Kohärenz in der Arbeit des Europäischen Rates zu gewährleisten, wird das Amt eines Präsidenten des Europäischen Rates eingeführt,204 gewählt für eine (einmal verlängerbare) zweieinhalbjährige Amtszeit.205 Die ursprüngliche Idee des Kamingesprächs hatte eine weitere Auswirkung. Lange Zeit stand der Europäische Rat außerhalb des Gemeinschaftsrechts. Erst 12 Jahre nach seiner Erschaffung wurde er primärrechtlich erwähnt.206 Und zwei weitere Jahrzehnte lang wurde er nur vage im Art. 4 EU umschrieben, aber nicht als Organ in Art. 7 EG genannt. Der Europäische Rat war demnach kein Organ der EU und die anderen Unionsorgane formaliter nicht an seine Beschlüsse gebunden.207 Erst der Lissabonner Vertrag wird dies ändern und den Europäischen Rat (endlich) in die institutionelle und rechtliche Ordnung der Union integrieren.208 198
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Diese Idee gründete sich auf den Erfahrungen, die Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt in der sog. library group gemacht hatten, einem sehr kleinen, sehr informellen und sehr hochrangigen Treffen westlicher Finanzminister in der Bibliothek des Weißen Hauses, Westlake/ Galloway (Fn. 50), S. 171 (175); Bulmer/Wessels (Fn. 195), S. 80. Art. 4 Abs. 2 EU (Art. 15 Abs. 2 S. 3 EUV-Liss.). Vgl. Beschluss des Europäischen Rates von London, Bulletin EG 6-1977, Ziff. 2.3.1., der die Organisation und Form der Treffen niederlegte; dazu auch P. de Schoutheete, The European Council, in: Peterson/Shackleton (Fn. 59), S. 40. Dazu die lebendige Darstellung bei de Schoutheete, ebd., S. 42 f. Bulmer/Wessels (Fn. 195), S. 55; Art. 15 Abs. 4 EUV-Liss. würde explizit bestätigen, dass diese dem Völkerrecht entstammende Entscheidungsform die des Europäischen Rates ist. de Schoutheete (Fn. 200), S. 55. Art. 15 Abs. 6 EUV-Liss.; P. de Schoutheete, Die Debatte des Konvents über den Europäischen Rat, integration 2003, S. 468 (478–480). Art. 15 Abs. 5 EUV-Liss. Art. 2 der Einheitlichen Europäischen Akte. M. Pechstein, in: Calliess/Ruffert (Fn. 74), Art. 4 EU, Rn. 3; Lenaerts/van Nuffel (Fn. 40), Rn. 2-018. Art. 13, 15 EUV-Liss.; dies hat Bedeutung für die Frage, ob Handlungen des Europäischen Rates Gegenstand von Verfahren vor dem EuGH werden können, dazu J. Bast, in diesem Band, S. 554 f.
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Setzt man für einen Moment die Brille des Exekutivföderalismus auf, so ist es nicht schwierig, diejenigen Aspekte zu erkennen, die in das föderale System passen. Die Motive, die zur Schaffung des Europäischen Rates führten, erinnern an das Defizit politischer Führung, welches als inhärentes Problem des föderalen Systems bereits angesprochen wurde. Auch die konsensuale Entscheidungsfindung zwischen den Regierungschefs spiegelt den allgemeinen Charakter des Exekutivföderalismus als Konsensdemokratie. In gewisser Hinsicht kann der Europäische Rat als Wiedergeburt einer ursprünglichen, konföderalen Ratsidee betrachtet werden, als Treffpunkt von Regierungschefs, die Verhandlungen in strenger Vertraulichkeit führen und im Konsens Beschlüsse fassen (wobei die Mitgliedschaft des Kommissionspräsidenten hier nicht ins Bild passt – ein Zugeständnis an den Mitwirkungsanspruch der Kommission). Der Europäische Rat ist somit weniger als die anderen Organe vom Antagonismus zu oder Zusammenspiel mit dem Rat geprägt, als diesem vielmehr nachgebildet.209 b) Funktionen Funktionen und Kompetenzen des Europäischen Rates waren ursprünglich nicht festgelegt. Bis heute sind sie positiv-rechtlich eher vage.210 Art. 4 Abs. 2 EU überträgt dem Europäischen Rat die Aufgabe, der Union „die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse“ zu geben und „die allgemeinen politischen Zielvorstellungen“ festzulegen.211 Ein Verständnis seiner institutionellen Rolle ergibt sich deshalb eher aus dem Blick auf seine bisherigen Tätigkeiten. Drei sind von besonderer Wichtigkeit.212 aa) Richtungsweiser Der Hauptgrund für die Schaffung des Europäischen Rates war der Bedarf nach engerer Zusammenarbeit und koordinierter Führung. Politische Führung ist daher die Hauptfunktion des Europäischen Rates. Er hat sich fraglos zu dem Ort entwickelt, an dem die zentralen Richtungsentscheidungen für das europäische Projekt lanciert, diskutiert und getroffen werden.213 Der Europäische Rat ist dabei nicht auf ein bestimmtes Sachgebiet beschränkt, sondern wird potenziell in allen Bereichen tätig; ein Umstand, der nicht zuletzt zu einer beträchtlichen Ausweitung des Wirkungsbereichs der Union geführt hat.214 209 210 211 212 213
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Zum Verhältnis von Europäischen Rat und Rat siehe J. C. Wichard, in: Calliess/Ruffert (Fn. 74), Art. 4 EU, Rn. 13–14; Hayes-Renshaw/Wallace (Fn. 50), S. 165; Werts (Fn. 195), S. 105. Manche sprechen daher gar nicht von Kompetenzen, sondern lediglich von einer „Rolle“ des Europäischen Rates, so J. C. Wichard, in: Calliess/Ruffert (Fn. 74), Art. 4 EU, Rn. 2. Konkrete Kompetenzen sind niedergelegt in Art. 99 Abs. 2 und 128 EG (121 Abs. 2 und 148 Abs. 1 AEUV), und in Art. 13 Abs. 1 und 2 und 17 Abs. 1 EU (26, 42 Abs. 2 EUV-Liss.). Eine Übersicht bei de Schoutheete (Fn. 200), S. 48. Z.B. wurden dort initiiert das Europäische Währungssystem (1978–1979), die Osterweiterung (1993) oder der Lissabon Prozess (2000); dazu näher Bulmer/Wessels (Fn. 195), S. 85; Werts (Fn. 195), S. 177. Die Feierliche Erklärung zur Europäischen Union (The Solemn Declaration on European Union) vom 19. Juni 1983 benennt dies sogar als explizites Ziel des Europäischen Rates, siehe Bulletin EG 6-1983, Ziff. 2.1.2.; dazu Bulmer/Wessels (Fn. 195), S. 92.
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bb)Schiedsrichter und Koordinator Der Europäische Rat fällt aber nicht nur Leitentscheidungen; er ist auch zum letztinstanzlichen Schiedsrichter in europäischen Angelegenheiten geworden. Durchaus entgegen seiner ursprünglichen Intention ist er heute beteiligt an Entscheidungen über Angelegenheiten aus den sektoralen Räten und hat nach und nach die Rolle eines Schiedsrichters für alle Probleme angenommen, die von den sektoralen Räten nicht gelöst werden konnten.215 Diese Rolle fällt ihm mit gewisser Notwendigkeit zu, da die Fähigkeit, umfassende package deals abzuschließen, in diesem Umfang nur den im Europäischen Rat sitzenden Regierungschefs zur Verfügung steht.216 Darüber hinaus ist der Europäische Rat zunehmend beteiligt an der Koordination der Politik des Rates. Diese ebenfalls eher unbeabsichtigte Funktion ist hauptsächlich auf das Scheitern des Rates für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen (der Außenminister) zurückzuführen, dem eigentlich die Rolle des Koordinators zukommen sollte.217 Die Entwicklung des Europäischen Rates zum Schiedsrichter ist nicht wirklich überraschend. Die zunehmende Komplexität des Systems, verursacht durch eine stete Erweiterung der unionalen Handlungsfelder, resultiert in einen erhöhten Koordinationsbedarf und eine erhöhte Erwartung an die Konsistenz zwischen den sektoralen Politiken. Ob der Europäische Rat diese Lücke zufriedenstellend ausfüllt, ist eine andere Frage.218 Sicher ist jedoch, dass der Europäische Rat erfolgreich dem Bedürfnis nach einer letzten Entscheidungsinstanz entsprochen hat. Dieses Bedürfnis ist in der konsensualen Natur des Exekutivföderalismus angelegt, welcher anfällig für Blockaden ist. Der Europäische Rat hat es jedenfalls vermocht, „Stillstände“ des Rates aufzulösen.219 cc) Konstitutioneller Motor Der Europäische Rat hat schließlich einen bemerkenswerten Einfluss auf die konstitutionelle Entwicklung der Union genommen und wird heute als das „entscheidende Forum für Verfassungsreformen“ angesehen.220 Dies ist durchaus überraschend. Als der Europäische Rat geschaffen wurde, wurde allgemein befürchtet, dass die neue Institution zu einer Stärkung der intergouvernementalen Politik in den Gemeinschaften führen und die supranationale Entwicklung und konstitutionelle
215
216 217 218 219 220
Dazu M. T. Johnston, European Council, 1994, S. 75. Die Praxis, ungelöste Problem dem Europäischen Rat zuzuschieben (und dadurch Einstimmigkeit zu gewährleisten), wird durch den Lissabonner Vertrag nun sogar konstitutionalisiert, siehe Art. 23 Abs. 2 EU (Art. 31 Abs. 2 EUV-Liss.). S. Bulmer, The European Council and The Council of the European Union, Publius 26 (1996), S. 32. Vgl. oben, IV. 1. a) und Fn. 64. Bulmer/Wessels (Fn. 195), S. 94. Bulmer (Fn. 216), S. 31. H. Wallace, The Institutional Setting, in: W. Wallace/H. Wallace (Hrsg.), Policy Making in the EU, 2000, S. 20.
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Vertiefung der Integration blockieren würde.221 Aber ganz im Gegenteil wurde der Europäische Rat zum wesentlichen Motor für die vertragliche Weiterentwicklung und Vertiefung der EU. Allerdings ist es wichtig, juristisch zu unterscheiden zwischen dem Europäischen Rat, in dem wesentliche Vertragsrevisionen politisch vorstrukturiert werden (etwa durch die Erklärung von Laeken222 oder das Berliner Verhandlungsmandat für die Revision des Verfassungsvertrags223), und der Regierungskonferenz (ohne Mitwirkung des Kommissionspräsidenten), auf der Vertragsrevisionen formal beschlossen werden. Insgesamt ist der Einfluss des Europäischen Rates jedoch in jedem Fall gewachsen. Insofern ist es durchaus konsequent, wenn der Lissabonner Vertrag die spezifische, aber bislang materielle Rolle des Europäischen Rates nun auch durch die Aufnahme eigener formeller Kompetenzen zur vereinfachten Änderung der Verträge reflektiert (Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV-Liss).224 In vergleichender Perspektive gibt es sicherlich kein Äquivalent zum Europäischen Rat als Organ konstitutioneller Reform „von oben“. Und in der Tat liegt eine gewisse Ironie in dem Umstand, dass die Europäischen Gemeinschaften, die als ein sich stetig wandelndes, dynamisches System angelegt waren, ursprünglich kein rechtes Organ zur Gestaltung dieses Wandels bereit hielten, und ausgerechnet der Europäische Rat, der bei seiner Entstehung als Gefahr für die Integration angesehen wurde, nun genau diese Funktion ausfüllt. Aber Geschichte ist manchmal überraschend. Mit dem Europäischen Rat jedenfalls scheint sie eine Institution geschaffen zu haben, die das bewerkstelligt, was ein überforderter Rat und eine geschwächte Kommission alleine nicht bewerkstelligen können.225 c) Schlussfolgerungen Kein geringerer als Jean Monnet bezeichnete „die Schaffung des Europäischen Rates [als] die wichtigste Entscheidung für Europa seit den Römischen Verträgen“.226 Hier, am Ende dieses Kapitels sei kurz gefragt: Warum? Inwiefern hat die Schaffung des Europäischen Rates die Organverfassung der EU verändert? Wie passt diese neue Institution in die Struktur und das institutionelle System des Exekutivföderalismus? Und schließlich: Liefert dieser endlich die Antwort auf die Frage nach politischer Führung? aa) Eine Institution nach dem Rezept des Exekutivföderalismus Es ist behauptet worden, der Europäische Rat entspreche nicht den Ideen der europäischen „Gründungsväter“.227 Diese Behauptung ist wohl so zu verstehen, dass die 221 222 223 224 225 226 227
Bulmer (Fn. 216), S. 31. Europäischer Rat, Erklärung von Laeken über die Zukunft der Europäischen Union, 14./15. Dezember 2001, SN 300/1/01 REV 1. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes der Tagung des Europäischen Rates, Mandat für die Regierungskonferenz 2007, 22. Juni 2007, Rats-Dok. 11177/07. Siehe auch Art. 17 Abs. 5 und Art. 31 Abs. 3 EUV-Liss. Zur „Notwendigkeit“ des Europäischen Rats aus Sicht eines Praktikers C. Tugendhat, Making Sense of Europe, 1986, S. 166. Zitiert nach ebd., S. 167 (Übersetzung d. Verf.). Bulmer (Fn. 216), S. 30.
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ursprünglichen Vertragsautoren eher eine Reform im bestehenden institutionellen Rahmen vorgenommen und die ursprüngliche technokratische Natur der EWG gestärkt hätten. Mag sein. Man könnte jedoch auch argumentieren, dass die Schaffung des Europäischen Rates sehr wohl den Gründungs-Ideen entsprach, jedenfalls dann wenn sie die Grundideen des Exekutivföderalismus im Kopf hatten. Denn es scheint so, als sei der Europäische Rat nach dem Rezept des Exekutivföderalismus gebraut worden. Statt einer Stärkung der Kommission, des Parlamentes oder der Einführung eines Europäischen Präsidenten wurde der Krise der Gemeinschaft in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren mit einer Stärkung der nationalen Exekutiven begegnet. Und nicht nur das: Die Lösung zielte zudem auf die konsensuale Zusammenarbeit der Exekutive. Der Europäische Rat dreht sich nach der wohlbekannten Melodie der Kooperation und des Konsenses und untermauert so nachdrücklich die exekutivföderale Logik. Allerdings ist der Europäische Rat nicht nur ein Beleg für diese Grundstruktur. Er ist (in Teilen jedenfalls) auch eine Antwort auf deren Defizite: ein Organ, das die Führungsrolle übernehmen kann, als Motor für Entwicklung dient und (zumindest teilweise) die Gefahr eines Stillstandes des institutionellen Systems mindert. Am interessantesten ist, dass der Europäische Rat kaum als anti-föderal oder einseitig intergouvernemental gedeutet werden kann. Der Europäische Rat hat stattdessen eine wesentliche Rolle in der Vertiefung des supranationalen Systems gespielt. Wenn es eines Beleges bedarf, so liefert ihn der Verfassungsentwurf des EP von 1984. Dieses oft als europäische Utopie kritisierte Dokument erkennt die Rolle des Europäischen Rates an, Art. 32. Wie steht der Europäische Rat aber konkret zu den anderen Organen? Das Verhältnis zum Rat wurde oben bereits beschrieben.228 Im Hinblick auf das EP ist die Antwort ambivalent. Bei seiner Gründung wurde die Zustimmung der kleineren Staaten zur Einrichtung des Europäischen Rat „gekauft“ mit dem Versprechen seitens der größeren Staaten, Direktwahlen zum EP einzuführen.229 So betrachtet lieferte der Europäische Rat gar das beste Argument für die Stärkung des EP, nämlich seine unmittelbare demokratische Legitimation. Außerdem hat der Europäische Rat maßgeblichen Anteil am Ausbau parlamentarischer Kompetenzen durch seine Beiträge zu den sukzessiven Vertragsreformen. Die direkten Beziehungen zwischen dem EP und dem Europäischen Rat dagegen sind punktuell. Obwohl Art. 4 Abs. 3 EU die Pflicht des Europäischen Rats niederlegt, dem EP Bericht zu erstatten, ist der praktische Kontrolleffekt dieser Pflicht doch sehr gering.230
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Hierzu oben, IV. 4. a). Westlake/Galloway (Fn. 50), S. 171 (175); Werts (Fn. 195), S. 153. Werts (Fn. 195), S. 158; Bulmer/Wessels (Fn. 195), S. 114.
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bb) Der Europäische Rat und die Europäische Kommission als zweiköpfige Führung Anfängliche Befürchtungen, der Europäische Rat könnte die Kommission nachhaltig schwächen,231 haben sich nicht bewahrheitet.232 Stattdessen können Europäischer Rat und Kommission als zweiköpfige Führungsstruktur angesehen werden. Sie ergänzen einander, indem sie zwei unterschiedliche, jedoch gleichermaßen essentielle Formen der Führung darstellen. Der Europäische Rat sichert politische Richtungsentscheidungen und die Lösung nachhaltiger Entscheidungsblockaden – eine Rolle, die ursprünglich für die Kommission vorgesehen war. Aber nur der Europäische Rat vereint die Macht seiner Mitglieder, ihre jeweilige Regierung auf bestimmte Lösungen einzuschwören und mit ihrer Legitimität für die getroffene Entscheidung einzustehen. Der Europäische Rat als dominantes Zentrum politischer Entscheidung hat die Tendenz, andere Organe zu überschatten. Zugleich bietet er der Kommission, die vor allem in diesen Schatten des Europäischen Rates zu geraten droht, aber auch eine Bühne für das Lancieren ihrer Ideen, insbesondere da sie nach und nach gelernt hat, mit dem Europäischen Rat umzugehen und ihn für ihre eigenen Zwecke einzuspannen.233 So profitiert die Kommission erheblich von dem direkten Informationskanal, den die Tatsache mit sich bringt, dass ihr Präsident selbst Mitglied des Europäischen Rates ist (in dem konsensual entschieden wird). Zudem hat die Kommission eine wichtige Rolle eingenommen, indem sie den Europäischen Rat mit Berichten, Memoranda und grundlegenden Informationen versorgt, und deswegen auch als die „technische Autorität“ im Europäischen Rat angesehen wird.234 In einigen Aspekten geht die Rolle der Kommission aber auch deutlich darüber hinaus. Mehr als einmal war die Kommission in der Lage, umfassende Gesetzesinitiativen über den Europäischen Rat zu lancieren.235
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Exemplarisch J. Lodge, The Role of EEC Summits, JCMS 6 (1974), S. 337 (339); dazu auch Bulmer/Wessels (Fn. 195), S. 109 f. Dies scheint die allgemeine Wahrnehmung zu sein, siehe C. D. Ehlermann, Das schwierige Geschäft der Kommission, EuR 1981, S. 335 (355); W. Wessels/D. Rometsch, The Commission and the Council of the Union, in: Edwards/Spence (Fn. 144), S. 233; P. Craig, Some Thoughts on the Role of the European Council, in: J. Pérez/I. Pernice (Hrsg.), The Government of Europe, 2003, S. 55. Wessels/Rometsch (Fn. 232), S. 233; Bulmer (Fn. 216), S. 34. Werts (Fn. 195), S. 143. Am berühmtesten wohl das Binnenmarktprogramm. Allerdings hängt diese Fähigkeit auch sehr von der Anerkennung des jeweiligen Kommissionspräsidenten ab, siehe Werts (Fn. 195), S. 144.
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d) Eine dreiköpfige Führung? Der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik Der Lissabonner Vertrag wird diese zweiköpfige Struktur um ein drittes Führungsamt ergänzen: den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik.236 Zwar besteht der Posten eines Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bereits seit dem Vertrag von Amsterdam. Allerdings wird dieser bislang in Personalunion vom Generalsekretär des Rates ausgefüllt, Art. 207 Abs. 2 EG, Art. 26 EU. Mit dem Lissabonner Vertrag kann dieser Posten ein stärkeres institutionelles Eigenleben entwickeln, da er aus der Bindung an den Rat gelöst wird und stattdessen in verschiedenen Organen mitwirken soll: Ernannt vom Europäischen Rat, wird der Hohe Vertreter einer der Vizepräsidenten der Kommission sein, den Vorsitz beim Außenministerrat führen und an den Treffen des Europäischen Rates teilnehmen. Er wird kein selbständiges Organ im Sinne von Art. 13 EUV-Liss., aber eben auch nicht mehr allein dem Rat verantwortlich sein. Inhaltlich soll der Hohe Vertreter auf allen Bühnen die Führung in den auswärtigen Angelegenheiten der Union übernehmen.237 Er ist gedacht als Antwort auf die wachsende Bedeutung der Union in internationalen Angelegenheiten und als Lösung für das Problem der bislang verwirrenden Vielzahl von Stimmen, die für die Union bzw. Gemeinschaften sprechen. Dazu soll der Hohe Vertreter von einem Europäischen Auswärtigen Dienst unterstützt werden, der sich aus Mitarbeitern der europäischen Institutionen und der mitgliedstaatlichen diplomatischen Dienste zusammensetzt.238 Das neue Amt bringt jedoch eine Reihe von Risiken mit sich. Seine institutionelle Stellung dürfte das Verständnis der meisten Beobachter überfordern und so die Transparenz des institutionellen Systems weiter beeinträchtigen. Zusammen mit dem neu eingeführten Präsidenten des Europäischen Rates sowie dem Kommissionspräsidenten wird es dann drei „Gesichter“ geben, die für die Union international sprechen werden, zumal die Verteilung der Kompetenzen keineswegs eindeutig ist. Institutionelle Rivalitäten zwischen den Akteuren sind deshalb wahrscheinlich.239
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Art. 18 EUV-Liss., D. Thym, Reforming Europe’s Foreign and Security Policy, ELJ 10 (2004), S. 5 (18–22). Dies ist einer der wenigen Punkte, an denen das Scheitern des Verfassungsvertrags eine direkte Auswirkung auf die Organverfassung haben wird, da der ursprüngliche Titel eines „Außenministers“ den rhetorisch-symbolischen Säuberungen zum Opfer fiel. Substantielle Änderungen wurden allerdings nicht vorgenommen. D. Thym, in diesem Band, S. 485 ff.; M Cremona, The Draft Constitutional Treaty: External Relations and External Actions, CMLRev. 40 (2003), S. 1347 (1350–1361). Art. 27 Abs. 3 EUV-Liss. Skeptisch auch J. Terhechte, Der Vertrag von Lissabon, EuR 2008, S. 162; siehe auch Kokott/ Rüth (Fn. 65), S. 1337 f.
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V. Legitimation des institutionellen Systems Eine Analyse und mehr noch ein Konzept des institutionellen Systems der EU wären unvollständig, würden sie nicht die Frage nach der Legitimation dieses Systems behandeln. Allerdings gibt es so viele Ansätze und Meinungen zu diesem Thema, dass es den Umfang dieses Artikels sprengen würde, einen einigermaßen adäquaten Gesamtüberblick geben zu wollen.240 Die folgende Darstellung konzentriert sich daher auf das zentrale Legitimationsprinzip der EU, das Prinzip parlamentarischer Demokratie.241 Zwar äußern sich die Verträge gegenwärtig nur vage zum Prinzip der Demokratie (Art. 6 Abs. 1 EU).242 Der Lissabonner Vertrag wird dies jedoch ändern und verkünden, dass „die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie [beruht]“ (Art. 10 Abs. 1 EUV-Liss.). Er wird sich damit das Konzept der dualen parlamentarischen Legitimation der EU zu eigen machen, das daher nun auch etwas näher erläutert werden soll.243 Dazu sei zunächst die Rolle der nationalen Parlamente und sodann die Legitimationsfunktion des EP analysiert. Auf dieser Basis soll ein abschließender Abschnitt einen Begriff zur Kennzeichnung des europäischen Legitimations- und Institutionengefüges vorschlagen. 1. Das Dilemma der nationalen Parlamente Nationale Parlamente sollen der Ausübung europäischer Hoheitsgewalt Legitimation vermitteln, indem sie ihre nationalen Regierungen (oder zumindest den Regierungschef) wählen und deren Vorgehensweise im Rat kontrollieren.244 Sie gelten zudem als entscheidende Akteure in Verfassungsangelegenheiten, etwa bei der Ratifizierung der europäischen Verträge oder der Aufnahme neuer Mitglieder – so jedenfalls die Theorie.245 In der Praxis ist ihr Einfluss auf europäische Entscheidungs240
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Für Überblicksdarstellungen siehe Literatur in Fn. 29 sowie Lübbe-Wolff (Fn. 22); F. W. Scharpf, Regieren in Europa, 1999; Lord (Fn. 99); L. Siedentopf, Democracy in Europe, 2000. Dies macht einen kurzen terminologischen Hinweis nötig: Im Gegensatz zu dem Begriff „parlamentarisches Regierungssystem“ (dazu oben in Fn. 110), wird der Begriff „parlamentarische Demokratie“ weit verstanden, und nicht als Beschreibung eines spezifischen Regierungssystems. Letzterer umfasst hier vielmehr alle Formen von Legitimation, die durch die Beteiligung von Parlamenten entsteht oder bereichert wird. A. von Bogdandy, in diesem Band, S. 62 ff. Zur Vielzahl an Legitimationsansätzen und ihrem Zusammenspiel siehe, neben der Literatur in Fn. 240: Peters (Fn. 96), S. 524, 634; Schliesky (Fn. 29), S. 656; A. Verhoeven, The European Union in Search of a Democratic and Constitutional Theory, 2002, S. 208–210; C. Lord/ P. Magnette, E Pluribus Unum? Creative Disagreement About Legitimacy in the EU, JCMS 42 (2004), S. 183. J. A. Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus der Perspektive der Mitgliedstaaten, EuR 1995, S. 324; Dann (Fn. 29), S. 177–210; O. Tans u.a. (Hrsg.), National Parliaments and European Democracy, 2007; A. Maurer/W. Wessels (Hrsg.), National Parliaments on Their Ways to Europe, 2001; nun auch C. Mellein, Subsidiaritätskontrolle durch nationale Parlamente, 2007; zur Perspektive des nationalen Verfassungsrechts C. Grabenwarter, in diesem Band, S. 149 ff. Art. 48, 49 EU (Art. 48, 49 EUV-Liss.); Kaufmann (Fn. 29), S. 337–403.
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prozesse dagegen marginal. Obgleich dies allgemein bekannt ist, ist es schwer zu erklären. Struktur und institutionelle Logik des Exekutivföderalismus könnten helfen, eine kohärente Erklärung zu finden und decken zugleich ein tiefer liegendes Dilemma auf. Im Folgenden seien die (im Wesentlichen drei) Probleme der nationalen Parlamente analysiert (a) und sodann gefragt, was der Lissabonner Vertrag zur Lösung beiträgt (b).246 a) Die Probleme der nationalen Parlamente Das zentrale Problem ist zugleich das offensichtlichste. Die föderale Struktur der Union mediatisiert die Parlamente der Mitgliedstaaten dort, wo es um europäische Angelegenheiten geht. Es sind nicht die nationalen Parlamente, sondern die nationalen Regierungen, die an den Entscheidungsverfahren der EU teilnehmen. Dies ergibt, durch die Brille des Exekutivföderalismus betrachtet, durchaus Sinn.247 Es hat jedoch zur Folge, dass die nationalen Parlamente die komplexen europäischen Verfahren als prozedurale Außenseiter verfolgen müssen. Daraus entstehen ein Überangebot an belanglosen und ein Mangel an Insider-Informationen und oftmals auch an detailliertem Fachwissen sowie ein Brüsseler Zeitplan, der nicht mit dem Arbeitsrhythmus der nationalen Parlamente abgestimmt ist. All dies macht Kontrolle mühsam und häufig ineffektiv.248 Der interinstitutionelle Prozess der unionalen Entscheidungsfindung basiert zudem meist auf vertraulichen Verhandlungen. Dies ist ein weiteres schwieriges Problem für die Kontrolle durch die nationalen Parlamente.249 Vertraulichkeit ist eine notwendige Bedingung in der institutionellen Ordnung des Exekutivföderalismus, wie es oben mit Blick auf verschiedene Organe analysiert worden ist.250 Der Drang der Parlamente zu Diskussion und Kontrolle kollidiert insofern mit der Vertraulichkeit der EU-Verhandlungen. Und drittens funktioniert exekutivföderale Entscheidungsfindung hauptsächlich durch Kompromissbildung und Konsens, woraus sich zwei weitere Probleme ergeben: Erstens basiert die Konsensmethode auf weitgehend ungebundenen Akteuren. Um zu einer Einigung zu gelangen, muss es jedem Akteur freistehen, einen Kompromiss einzugehen; er darf nicht von vornherein an ein feststehendes Mandat ge246 247 248
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Zu den Problemen der nationalen Parlamente sowie möglichen Lösungen ausführlicher Dann (Fn. 29), S. 210–222. Oben, III. und IV. 1. O. Tans, Conclusion: National Parliaments and the European Union, in: ders. u.a. (Fn. 244), S. 227 (232); zum Ausnahmefall Dänemarks P. Riis, National Parliamentary Control of EU Decision-making, in: Tans u.a. (Fn. 244), S. 185; nach wie vor besonders erhellend dazu A. Moravscik, Why the European Community Strengthens the State, Harvard Working Paper Series 52 (1994). P. Birkinshaw/D. Ashiagbor, National Participation in Community Affairs, CMLRev. 33 (1996), S. 499 (521); Oeter (Fn. 34), S. 695, 703. Dazu oben, IV. 1. b), IV. 1. c) und IV. 4. a); insbesondere die Arbeiten des Politikwissenschaftlers Gerhard Lehmbruch zur Konkordanzdemokratie haben dargelegt, dass Kompromisse und Konsens nicht nur auf gegenseitigem Vertrauen, sondern auch auf dem Bewegungsspielraum der Akteure basiert: ders. (Fn. 47), S. 19.
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bunden sein. Parlamente sind jedoch gerade darauf aus, Mandate zu geben, um ihrerseits Verhandlungen zu beeinflussen. So kollidieren parlamentarische Mandate mit der Verhandlungsfreiheit.251 Zweitens basiert Konsens auf Kompromissen. Kompromisse sind jedoch grau. Es sind meist keine klaren Lösungen, sondern komplexe Kombinationen. Die Logik der parlamentarischen Auseinandersetzung basiert dagegen auf einem majoritären und größtenteils binären Modus.252 Parlamente leben vom Widerstreit zwischen Regierung und Opposition, vom Kontrast politischer Ideologien und von klaren Gewinner und Verlierer in konkreten Wahlen. Nationale Parlamente, die kontrollieren möchten, was ihre Regierungen in Brüssel tun, müssen sich stattdessen mit einer Menge grauer Konsense auseinandersetzen.253 Die nationalen Parlamente stehen, so lassen sich ihre Probleme zusammenfassen, vor einem Dilemma zwischen ihrem eigenen Anspruch auf Kontrolle und der Effizienz der Unionsverfahren. Je mehr sie versuchen, ihrer Regierungen mittels strenger Überwachung habhaft zu werden und ihnen durch das Einlegen von „Parlamentsvorbehalten“ ihren Willen aufzuzwingen, desto eher riskieren sie, die unionalen Verfahren zu blockieren und/oder die eigene Regierung (und damit das eigene Anliegen) an den Rand des Brüsseler Verhandlungstisches zu drängen und politisch zu isolieren. Nationalparlamentarische Legitimation und exekutivföderale Institutionenordnung konterkarieren sich. b) Reform durch den Vertrag von Lissabon Wird sich diese Situation ändern, wenn die Reformen des Lissabonner Vertrags in Kraft treten? Die Rolle der nationalen Parlamente war sicherlich eines der zentralen Themen der vergangenen Vertragsrevision und ihre bessere Integration in das institutionelle System zur Anreicherung demokratischer Legitimation der EU ein erklärtes Ziel.254 Die Neuerungen mit Blick auf die nationalen Parlamente sind zahlreich.255 Der Vertrag wird, erstens, die Rolle der mitgliedstaatlichen Parlamente durch eine zentrale Vorschrift im neuen EUV unterstreichen und dadurch ihre Sichtbarkeit vergrößern.256 Der Lissabonner Vertrag wird zudem einen „Frühwarnmechanismus“ einführen.257 Durch diesen können nationale Parlamente ex ante ihre Bedenken bezüglich eines Rechtsetzungsvorschlags der Kommission aussprechen, 251 252 253 254 255 256
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A. Benz, Compounded Representation in EU Multi-Level Governance, in: B. Kohler-Koch (Hrsg.), Linking EU and National Governance, 2003, S. 82 (91 f.). Dehousse (Fn. 91), S. 125; Lehmbruch (Fn. 47), S. 19. P. Weber-Panariello, Nationale Parlamente in der Europäischen Union, 1995, S. 310; Benz (Fn. 251), S. 105. Für die Stärkung der nationalen Parlamente auch Huber (Fn. 43), S. 238 f. R. Passos, Recent Developments Concerning the Role of National Parliaments in the European Union, ERA-Forum 2008, S. 31. Zwei Protokolle werden die Funktionen der mitgliedstaatlichen Parlamente weiter detaillieren, Protokoll (Nr. 1) über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union, und Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Art. 7 Protokoll (Nr. 2).
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wenn sie im geplanten Gesetzgebungsakt eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips seitens der Union sehen. Wenn mindestens ein Drittel der mitgliedstaatlichen Parlamente Bedenken zum Vorschlag signalisieren, ist die Kommission verpflichtet, ihren Vorschlag nochmals durchzusehen (allerdings nicht verpflichtet, ihn auch abzuändern).258 Die Mitgliedstaaten können sodann den EuGH wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips anrufen.259 Während dieser Mechanismus schon durch den Verfassungsvertrag vorgesehen war, bemüht sich der Lissabonner Vertrag, den Einfluss der Parlamente noch weiter zu verbessern. Zu diesem Zweck fügte er dem Frühwarnmechanismus eine weitere Verfahrensstufe hinzu. Sie sieht vor, dass der europäische Gesetzgeber des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (also EP und Rat, nicht nur die Kommission) die Forderung der nationalen Parlamente behandeln soll, wenn eine einfache Mehrheit derselben Bedenken erhoben hat. Er kann den Vorschlag dann stoppen.260 Vor diesem Hintergrund sei noch einmal gefragt: Werden diese Reformen das Dilemma der nationalen Parlamente lösen? Das neue System überzeugt insofern, als es den nationalen Parlamenten eine Stimme im unionalen Verfahren gibt, was erheblichen symbolischen Wert hat. Es gibt ihnen auch eine faire Chance, europäische Prozesse durch frühzeitige Skandalisierung im Namen der „Subsidiarität“ zu stoppen. Skepsis ist dennoch angesagt. Es ist mehr als zweifelhaft, ob die Änderungen einen mehr als oberflächlichen Effekt haben werden und parlamentarische Kontrolle und Legitimation tatsächlich erhöhen. Der vorgesehene Mechanismus wird jedenfalls nur dann erfolgreich sein, wenn die nationalen Parlamente massive Ressourcen investieren, die für eine frühe und kompetente Kontrolle notwendig wären.261 Nur dann können sie feststellen, welcher Gesetzgebungsvorschlag das Prinzip der Subsidiarität verletzen und damit ihre politischen Handlungsspielräume gefährden könnte. Aber hier liegt das zentrale Problem. Nationale Parlamente werden weiterhin mediatisierte Akteure in europäischen Verfahren sein. Sie müssten daher Ressourcen in politische Vorgänge investieren, die nicht die „ihren“ sind und in denen sie stets in einer reaktiven Rolle sind. Für einen normalen Parlamentsabgeordneten werden zudem europäische Angelegenheiten auch zukünftig „fremdes Terrain“, nur schwer zu überblicken und für seine Wiederwahl kaum relevant sein. Man kann daher davon ausgehen, dass das neue System hauptsächlich von symbolischer Bedeutung sein wird.262
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Art. 7 Abs. 2 Protokoll (Nr. 2). Art. 8 Protokoll (Nr. 2). Art. 7 Abs. 3 Protokoll (Nr. 2). Zu Instrumenten und Bedingungen parlamentarischer Kontrolle oben, in Fn. 126. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt Tans (Fn. 244); siehe auch K. Auel, Democratic Accountability and National Parliaments, ELJ 13 (2007), S. 487, die einen Ausweg eher in mehr öffentlicher Debatte als formalen Mandaten sieht.
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2. Das Europäische Parlament und die Grenzen seiner Repräsentationsfunktion Haben die nationalen Parlamente rechtlich wie praktisch nur einen sehr begrenzten Einfluss auf die Politikgestaltung in der EU, so rückt das EP umso mehr in den Vordergrund. Es stellt den zweiten Strang parlamentarischer Legitimation in der EU dar, besonders prädestiniert durch seine direkte Wahl durch die Unionsbürger und ausgestattet mit den oben bereits dargestellten organisatorischen Mitteln und Kompetenzen.263 Im Rahmen des institutionellen Systems der EU ist das EP, so die Argumentation dieses Beitrags, das wesentliche Organ demokratischer Kontrolle, gerade weil sich die EU nicht zu einem parlamentarischen Regierungssystem im strengen Sinne zu entwickeln scheint und der politische Spielraum des EP daher groß bleibt. Trotz direkter Wahl und umfangreicher Kompetenzen hat der legitimatorische Beitrag des EP jedoch einen wesentlichen Schwachpunkt: seine Repräsentativfunktion.264 Parlamente sollen als öffentliches Forum dienen.265 Sie sollen Resonanzböden gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Tendenzen sein. Gerade diese Erwartungen stellen jedoch ein Problem für das EP dar. Parlamentarischer Demokratie in der Union fehlt eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Zivilgesellschaft; das EP kann daher kaum Resonanzboden einer europäischen Gesellschaft sein.266 So jedenfalls lautet die Kritik.267 Allerdings beruht diese zumindest auch auf einem eingeschränkten Verständnis parlamentarischen Wirkens. Der Blick auf die unterschiedlichen Parlamentstypen lehrt dagegen, dass auch die Repräsentationsfunktion auf sehr unterschiedliche Weise ausgeübt werden kann. In Ländern mit einem Redeparlament, um die schon beschriebenen Idealtypen wieder aufzunehmen, sind Plenumsdiskussionen in der Tat die zentralen Orte politischer Diskussion und öffentlicher Selbstdarstellung der Akteure. In Ländern mit einem Arbeitsparlament ist die Herangehensweise dagegen eine andere.268 Da die öffentliche Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition aufgrund der Inkompatibilitätsregel im Plenum gar nicht stattfinden kann, ist es nicht das Plenum, sondern 263 264
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Oben, IV. 2. Es können formale und eher kommunikative Aspekte dieser Funktion unterschieden werden. Beide bereiten in der EU Probleme. Siehe zu den ersteren P. M. Huber, in: Streinz (Fn. 59), Art. 190 EG, Rn. 13 f.; F. Arndt, Ausrechnen statt aushandeln: Rationalitätsgewinne durch ein formalisiertes Modell für die Bestimmung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, ZaöRV 68 (2008), S. 247; zu den letzteren Huber (Fn. 43), S. 237; Weiler (Fn. 79), S. 80–86; J. H. H. Weiler/U. Haltern/F. Mayer, Five Uneasy Pieces: European Democracy and Its Critique, West European Politics 18 (1995), S. 6. Löwenberg/Patterson (Fn. 52), S. 44–51, 182; E.-W. Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1992, S. 379. D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581; P. Kirchhof, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 1992, § 183; Weiler u.a. (Fn. 264), S. 12. Zur Gegenposition B.-O. Bryde, Demokratisches Europa und europäische Demokratie, in: FS Zuleeg, 2005, S. 131; A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000; F. Hanschmann, Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, 2008. Steffani (Fn. 99), S. 333; Bradshaw/Pring (Fn. 127), S. 360–362.
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sind es die parlamentarischen Ausschüsse, die der Öffentlichkeit als Resonanzböden dienen. Eine Konzeption des EP als Arbeits- und Kontrollparlament, wie sie hier vorgeschlagen wird, hilft dabei, seine Repräsentationsfunktion besser zu verstehen. Diese Konzeption beinhaltet, dass das EP natürlicher Weise keine so lebendige Plenumsstreitkultur hat wie Redeparlamente. Dies ist vielleicht ein Makel, aber es ist weniger ein europäischer Makel als einer, der Arbeitsparlamenten generell anhaftet. Betrachtet man die Ausschusskultur im EP, wird dieser Punkt noch deutlicher. Es sind die Ausschüsse des EP, denen die größte öffentliche Anerkennung zukommt, aufgrund ihrer offenen Arbeitsweise, geballten Fachkompetenz und der Einbeziehung der interessierten Öffentlichkeit durch Anhörungen.269 Die Argumente vermögen indes nicht, die Schwächen des EP zu verdecken. Es als ein Arbeitsparlament zu betrachten, mag einige Aspekte erklären, macht es aber nicht zu einem „makellosen“ Repräsentationsorgan. Die Situation des EP erscheint sogar schlimmer zu sein, weil in Europa andere Strukturen fehlen, die in nationalen politischen Systemen die Schwächen solcher Parlamente auszugleichen helfen. Wenn das Plenum als Resonanzboden versagt und die Ausschüsse nur ein ausgesprochen spezialisiertes Publikum erreichen, dann gibt es in nationalen Systemen zumeist andere Wege, gesellschaftliche Diskussionen zu vermitteln und so Repräsentation zu ermöglichen. Im Wesentlichen gibt es zwei Modelle: Entweder übernehmen politische Parteien diese Aufgabe, indem sie ein Programm anbieten, das in die parlamentarische Diskussion einfließt und von den Wählern bewertet wird,270 oder der einzelne Abgeordnete wird als spezifischer Repräsentant seines Wahlkreises wahr- und in Anspruch genommen.271 Vor allem dort, wo Parteien eher lose und dezentralisierte Organisationen sind, die dem Wähler nur eine geringe Orientierung bieten, werden einzelne Parlamentarier zu den eigentlichen Repräsentanten eines Wahlkreises.272 Das Problem mit diesen beiden Modellen ist, dass keines von beiden in der EU funktioniert.273 Es gibt, erstens, nur sehr lose europäische Parteifamilien, denen kohärente europäische Programme fehlen.274 Bei den Wahlkampagnen zu den EP269 270
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Darstellung oben, IV. 2. b)/c). W. Müller, Political Parties in Parliamentary Democracies, European Journal of Political Research 37 (2000), S. 309; P. Mair, Political Parties, Popular Legitimacy and Public Privilege, West European Politics 18 (1995), S. 40. M. Marsh/P. Norris, Political Representation in the European Parliament, European Journal of Political Research 32 (1997), S. 153; Löwenberg/Patterson (Fn. 52), S. 167. Dieses Modell wurde vor allem dazu entwickelt, Repräsentation im US-Kongress zu erklären, wo die Fraktionen traditionell sehr schwach sind. Als bahnbrechende Studie hierzu gilt W. Miller/D. Stokes, Constituency Influence in the US Congress, American Political Science Review 57 (1963), S. 45; ein Klassiker auch R. Fenno, Home Style, 1978. Ausführlich Dann (Fn. 29), S. 41. Zur Rolle europäischer Parteien im Unionsrecht P. M. Huber, Die politischen Parteien als Partizipationsinstrumente auf Unionsebene, EuR 1999, S. 579; W. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Fn. 74), Art. 191 EG; empirisch zur bisherigen Zusammensetzung des EP Hix/Lord (Fn. 152), S. 54; Corbett u.a. (Fn. 99), S. 71–75.
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Wahlen haben deswegen bislang nationale Themen dominiert.275 Außerdem zeigen empirische Daten, dass Europaabgeordnete ihren Wählerkreis kaum repräsentieren, da sie meist „pro-europäischer“ sind als die Bürger ihrer Wahlkreise.276 Und das Modell der einzelnen Parlamentarier scheitert in Europa, nicht nur, aber vor allem aus einem Grund: der Größe der Wahlkreise. Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat Wahlsysteme, die für die Europawahlen überhaupt nur einen nationalen Wahlkreis bilden. Eine lokale Basis der MEP ist damit unmöglich.277 Wo es regionale Wahlkreise im EP gibt, sind diese häufig immer noch sehr groß. Folglich sind die Europaabgeordneten in ihren Wahlkreisen kaum bekannt. Daher ist das Modell von Parlamentariern, die tief in ihrer Region verwurzelt sind und so Feedback und Rechenschaft erzeugen, in der EU strukturell erschwert.278 Im Ergebnis funktioniert keines der Repräsentationsmodelle im europäischen Kontext bislang. Es ergibt sich insofern eine verzwickte Situation: Institutionell betrachtet ist das EP zweifellos ein starkes Parlament. Soziologisch betrachtet ist es dagegen im europäischen politischen Denken kaum existent.279 Nur Zeitablauf kann (und wird) dies ändern. 3. Schlussfolgerung und Vorschlag: eine semi-parlamentarische Demokratie Im Rückblick wird deutlich, warum Legitimation ein so ernstes Problem für das institutionelle System der EU darstellt. Vor allem die Fragen adäquater parlamentarischer Repräsentation und klarer Zuordnung von Verantwortlichkeiten bleiben unbeantwortet. Die exekutivföderale Struktur trägt zu diesen kritischen Fragen an das Legitimitätskonzept bei. Oder um es weniger neutral auszudrücken: die Struktur des Exekutivföderalismus und seine institutionellen Implikationen sind ein (wesentlicher) Teil des Problems. Wie gerade gesehen, ist die mediatisierte Rolle der nationalen Parlamente und somit der Ausschluss effektiver nationalparlamentarischer Kontrolle ein Merkmal dieser föderalen Ordnung. Intransparente Verantwortungsstrukturen aufgrund konsensualer Einigungszwänge sind ebenfalls typisch für dieses föderale System.280 Die exekutivföderale Ordnung ist jedoch zugleich ein Teil der Lösung, denn gerade durch konsensuale Entscheidungen kann Legitimation hergestellt werden. Zudem ist das EP gerade aufgrund seiner exekutivföderal er-
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W. Wessels, Das politische System der EU, in: W. Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, 1999, S. 725; F. van der Eijk/M. N. Franklin, Choosing Europe?, 1996, S. 367. J. Thomassen/H. Schmitt, Policy Representation, European Journal of Political Research 32 (1997), S. 165 (181); siehe auch Lord (Fn. 99), S. 67. C. Haag/R. Bieber, in: Groeben/Schwarze (Fn. 62), nach Art. 190 EG, Rn. 23. M. Marsh/B. Wessels, Territorial Representation, European Journal of Political Research 32 (1997), S. 227. Ähnlich, jedoch deutlich eloquenter H. Brunkhorst, Unbezähmbare Öffentlichkeit: Europa zwischen transnationaler Klassenherrschaft und egalitärer Konstitutionalisierung, Leviathan 2007, S. 12. Gertrude Lübbe-Wolff spricht genauso anschaulich wie zutreffend von einem „Verantwortungsverschiebebahnhof“: dies. (Fn. 22), S. 257.
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klärlichen, klaren Trennung von der Exekutive eine starke parlamentarische Instanz. Wie auch immer man es betrachtet, so stellen das institutionelle System der EU und seine zusammengesetzte Legitimationsstruktur jedenfalls ein sehr eigenes Modell dar. Um diese spezifische Form zu verdeutlichen, sei vorgeschlagen, ihr auch einen spezifischen begrifflichen Ausdruck zu geben. Ich schlage vor, sie als „semiparlamentarische Demokratie“ zu bezeichnen. Folgende Gründe seien angeführt: Die Kompetenz zur Wahl und die demokratische Basis des Regierungschefs dienen gewöhnlich dazu, Regierungssysteme zu kategorisieren.281 Verkürzt könnte man sagen, dass es im parlamentarischen Regierungssystem grundsätzlich das Parlament ist, welches den Regierungschef kürt, während dies im präsidentiellen System ein unmittelbares Recht des Volkes ist. Wendet man diesen Maßstab auf die EU an, so gibt es hier weder einen direkt gewählten Präsidenten noch eine parlamentarisch gewählte Regierung. Die EU scheint ein undefiniertes tertium zu sein. Bei näherer Betrachtung tritt jedoch ein Charakteristikum der europäischen Situation hervor: die negative Kreationskompetenz des EP. Dies reicht kaum aus, um die EU als ein parlamentarisches Regierungssystem zu bezeichnen. Aber die negative Kompetenz, eine Art Vetorecht im Ernennungsprozess und eine Notbremse in der laufenden Legislaturperiode, gibt dem EP ein entscheidendes Mitspracherecht – und dem System ein charakteristisches Merkmal. Die EU ist nur „semi“-parlamentarisch, da der Rat (als ein Teil der unionalen Exekutive) nicht vom Europäischen Parlament kontrolliert oder gar aufgelöst werden kann.282 Semi-parlamentarisch ist die EU auch in Bezug auf den Einfluss der nationalen Exekutiven und der Kommission auf die Legislativfunktion. Ein parlamentarisches System wäre traditionell nur eines, in dem das Parlament souveräner Gesetzgeber ist. Dies ist in der EU kaum der Fall, ist das EP doch allenfalls eine Hälfte des Gesetzgebers, in manchen Bereichen weniger. Trotz dieser Einschränkungen gibt es dennoch gute Gründe für den „parlamentarischen“ Begriffsteil, nämlich Stellung und Kompetenzen des EP. Das Institutions- und Regierungssystem der EU wäre heute nicht mehr präzise beschrieben, wenn man den Einfluss des EP auf die Investitur der Kommission, die Kontrolle der europäischen Exekutive sowie seine Beteiligung am Legislativprozess außer Acht ließe. Im Gegenteil, das Gesamtsystem erhält sogar eine besondere Note durch das kontrollierende und formende Wirken des EP. Der Ausdruck der semi-parlamentarischen Demokratie bringt dies auf den Begriff.
281 282
Sartori (Fn. 110), S. 84, 101, 131; Lijphart (Fn. 96), S. 116. Auf diesen Aspekt gründet Paul Magnette seine Qualifikation der EU als in gewisser Hinsicht semi-parlamentarisches System: ders. (Fn. 111), S. 302.
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Philipp Dann
VI. Zusammenfassung und Ausblick Die Reform des institutionellen Gefüges war ein Kernanliegen des Verfassungsvertrags und seines rhetorisch kasteiten Ersatzes, dem Lissabonner Vertrag.283 Obwohl die Änderungen durch den Vertrag im Laufe dieses Beitrags kontinuierlich reflektiert wurden, sei nun, nach Analyse der gesamten Organverfassung, noch einmal resümierend und ausblickend gefragt, inwiefern der Vertrag sein Anliegen einlöst und die institutionelle Ordnung verändern wird.284 Diese Ordnung, so wurde im Verlauf dieses Beitrags herausgearbeitet, wird durch die Struktur des Exekutivföderalismus geprägt. Diese spezifische Form eines Mehrebenensystems, charakterisiert durch Kompetenzverflechtung, einen Ministerrat und konsensuale Kooperation in und zwischen den Verfassungsorganen, erzeugt eine institutionelle Dynamik, die die Gestalt aller politischen Organe der EU prägt, ihr Zusammenspiel beeinflusst und gleichzeitig inhärente und daher stets wiederkehrende Probleme aufwirft. Vor dem Hintergrund dieser Grundthese des Beitrags wird es nicht überraschen, dass der Lissabonner Vertrag hier vornehmlich als Fortschreibung des bestehenden institutionellen Musters gedeutet wird. Er stellt keinen radikalen Schnitt dar, sondern lässt Grundstruktur und Dynamik des Exekutivföderalismus und seines Einflusses auf die Organverfassung unangetastet. Führen seine zahlreichen, wenngleich nicht System-stürzenden Änderungen aber wenigstens dazu, die vielfältigen Ambivalenzen und Eigentümlichkeiten dieses Systems abzumildern? Daran bestehen ernsthafte Zweifel. Der Lissabonner Vertrag könnte den eher paradoxen Effekt haben, sowohl Vorteile als auch Nachteile der bisherigen Struktur zu verstärken. Wie das? Der Schlüssel liegt in der exekutivföderalen Struktur, die eine hier wiederholt beschriebene Aporie beinhaltet. Sie liegt in der Kompetenzverflechtung begründet, die eine institutionelle Dynamik von Kooperation und Konsens auslöst und einen doppelten Effekt hat: Sie schafft einerseits Legitimation durch Inklusion und untergräbt andererseits legitime Herrschaft durch die Verwischung von Verantwortlichkeiten. Dieses Grundproblem wird die Organverfassung auch nach dem Lissabonner Vertrag prägen. Der Vertrag wird weder zu einer wirklichen Vereinfachung noch zu einer Klärung dieser Struktur beitragen, sondern seine föderalen Aporien und Ambivalenzen fortschreiben. 283
284
Europäischer Rat, Erklärung von Laeken (Fn. 222); Auswärtiges Amt, Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, S. 1, 4, unter www.auswaertiges-amt.de/diplo/ de/Europa/Downloads/Denkschrift-lissabon.pdf (9.1.2009). Eine Analyse der (marginalen) Unterschiede zwischen dem Verfassungsvertrag und dem Lissabonner Vertrag mit Blick auf das institutionelle System bei F. C. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung?, ZaöRV 67 (2007), S. 1141; zum Lissabonner Vertrag statt vieler Terhechte (Fn. 239), S. 143; T. Oppermann, Die Europäische Union von Lissabon, DVBl. 2008, S. 473; M. Doughan, The Treaty of Lisbon 2007, CMLRev. 45 (2008), S. 617. Siehe zudem die Analysen zum Verfassungsvertrag bei Kokott/Rüth (Fn. 65); Peters (Fn. 82), S. 37; Wessels (Fn. 65); P. M. Huber, Das institutionelle Gleichgewicht zwischen Rat und Europäischem Parlament in der künftigen Verfassung für Europa, EuR 2003, S. 574; K. Lenaerts/D. Gerard, The Structure of the Union According to the Constitution for Europe, ELRev. 29 (2004), S. 289.
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Dies ist nicht wirklich überraschend. Stärke und Eigenart des Systems liegen in seinen kooperativen und inklusiven Elementen, seine Schwächen in den oft intransparenten Zusammenhängen. Die Struktur des Exekutivföderalismus, die Wurzel vieler dieser Eigenarten, bleibt unangetastet und wird daher höchst wahrscheinlich auch weiterhin das institutionelle System der Union ausmachen und formen.
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Kompetenzen
Martin Nettesheim
I.
Kompetenzlehren des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff der Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kompetenz und politische Programmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kompetenz und Föderation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kompetenz und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kompetenzbedarf für amtliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kompetenz, Rechtsfehlerhaftigkeit und Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kompetenztypen des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eindimensionalität der Kompetenzzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Positivierte und ungeschriebene Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kompetenzcharakteristika (Breite, Tiefe, Dichte, Modus, Ausrichtung) . . . . . . . 4. Ausschließliche, konkurrierende und parallele Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Wahl zwischen verschiedenen Kompetenznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Kompetenzlehren des Unionsrechts 1. Der Begriff der Kompetenz Die Kompetenzlehren des EU-Rechts1 sind der Königsweg zu einem adäquaten Verständnis der europäischen Integration. Mit keiner anderen Kategorie lassen sich Gestalt und Wirken der EU besser erfassen als mit jener der EU-Kompetenz. In den Kompetenzen der EU drücken sich ihr Sein und ihr Auftrag, ihr Antrieb und ihre 1
Allgemeine Darstellungen bei: V. Constantinesco, Compétences et pouvoirs dans les Communautés européennes, 1974; E. Steindorff, Grenzen der EG-Kompetenzen, 1990; K. Lenaerts, Some Reflections on the Separation of Powers in the European Community, CMLRev. 28 (1991), S. 11; H. D. Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 173; D. Simon, Le système juridique communautaire, 1997; J. Martín y Pérez de Nanclares, El sistema de competencias de la Comunidad Europea, 1997; P.-C. Müller-Graff, Kompetenzen in der Europäischen Union, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Europahandbuch, 1999, S. 779; I. Boeck, Die Abgrenzung der Rechtsetzungskompetenzen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, 2000; I. Pernice, Kompetenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866; F. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 577; A. v. Bogdandy/J. Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441; G. de Burca/B. de Witte, The Delimitation of Powers Between the EU and its Member States, in: A. Arnull/D. Wincott (Hrsg.), Accountability and Legitimacy in the EU, 2002, S. 210; J. Weiler, A Constitution for Europe, JCMS 40 (2002), S. 563; I. Pernice, Eine neue Kompetenzordnung für die EU, in: FS Tsatsos, 2003, S. 477; G.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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Martin Nettesheim
Finalität aus.2 Die Kompetenz ist der Sitz des Wesens der EU und ihres politischen Charakters. Kompetenz ist eine rechtliche Kategorie, mit der die Befähigung eines Kompetenzträgers bezeichnet wird, kompetenzgemäße Handlungen vornehmen zu können. Kompetenznormen sind Rechtsnormen, die den Berechtigten in die Lage versetzen, bestimmte Handlungen vornehmen zu können.3 Kompetenz ist nicht Aufgabe oder Ziel; sie ist auch nicht Rechtsmacht. Kompetenz ist vielmehr Grundlage und Voraussetzung von Rechtsmacht. In der Kompetenz liegt, soweit es um öffentlich-rechtliche Rechtsmacht geht, die Voraussetzung für die Ausübung von Hoheitsgewalt. Handeln des Hoheitsträgers, dessen Kompetenzlosigkeit feststeht, ist Willkür oder Gewalt, nicht aber Ausübung legaler (und damit legitimer) Hoheitsmacht. Vom Inhalt der Kompetenznorm hängt es ab, ob sie zum Erlass von Rechtsnormen,4 zur Vornahme von Realhandlungen oder zu sonstigen Entscheidungen befähigt. Kompetenznormen berechtigen notwendig einen Rechtsträger und begründen damit eine Zuständigkeit; adressatenlose Kompetenznormen sind ebenso wenig denkbar wie Kompetenznormen, die keine Zuständigkeit begründen. Welche Organe einer durch eine (Verbands-)kompetenz berechtigten juristischen Person zur Wahrnehmung der Kompetenz befugt sind, richtet sich nach den verbandsinternen Zuständigkeits- und Verfahrensbestimmungen. In den meisten Verfassungsordnungen gilt heute der Satz, dass sich die Organe eines Verbands Kompetenzen nicht selbst zulegen können.5 Sie sind vielmehr auf Entscheidungen vorgelagerter Normgeber – vor allem der verfassungsgebenden Gewalt – angewiesen (Kompetenzvorbehalt). Anders ausgedrückt: In derartigen Verfassungsordnungen gibt es kein Rechtshandeln, das nicht auf eine vorgelagerte 2
2 3
4 5
S. 563; I. Pernice, Eine neue Kompetenzordnung für die EU, in: FS Tsatsos, 2003, S. 477; G. Davies, The Post-Laeken Division of Competences, ELRev. 28 (2003), S. 686; M. Nettesheim, Die Kompetenzordnung im Vertrag über eine Verfassung für Europa, EuR 2004, S. 511; K. Lenaerts/P. van Nuffel, Constitutional Law of the European Union, 2005, Rn. 5008 ff.; S. Weatherill, Better Competence Monitoring, ELRev. 30 (2005), S. 23; J. J. Hesse/ F. Grotz, Europa professionalisieren: Kompetenzordnung und institutionelle Reform im Rahmen der EU, 2005; A. v. Bogdandy/J. Bast/D. Westphal, Die vertikale Kompetenzordnung im Entwurf des Verfassungsvertrags, in: M. Zuleeg (Hrsg.), Die neue Verfassung der Europäischen Union, 2006, S. 21; J. Kühling, Die Zukunft der europäischen Kompetenzordnung in der Ratifizierungskrise des Verfassungsvertrags, Der Staat 45 (2006), S. 339; C. Ritzer, Europäische Kompetenzordnung, 2006; T. von Danwitz, Vertikale Kompetenzkontrolle in föderalen Systemen, AöR 131 (2006), S. 510; R. A. Lorz, Autonomie und Bindung der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen, DVBl. 2006, S. 1061; M. Zuleeg/A. v. Oettingen, Rechtsstaat und europäische Rechtsetzung, DRiZ 2007, S. 268. In der Kompetenzordnung drückt sich die Zuständigkeitsverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten ebenso aus wie jene zwischen den EU-Organen. Zur staatsrechtlichen Diskussion um den Begriff der Kompetenz: R. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983; R. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2006, Art. 70, Rn. 17 ff.; G. Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, 1979; M. Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaats in rechtsvergleichender Sicht, 1977. Der Begriff der Rechtsnorm wird hier umfassend verstanden. Er umfasst sowohl Normen mit allgemeinem Geltungsanspruch als auch konkret-individuelle Befehle. Zu Fragen der Delegation noch unten, I. 4.
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Kompetenz zurückgeführt werden kann; eine Selbstermächtigung ist ebenso ausgeschlossen wie kompetenzloses Rechtshandeln. Hierin drückt sich eine der wichtigsten Zwecke und Aufgaben der Kompetenzordnung aus: jene der Begründung von Herrschaftsfunktionen, der Aufgabenzuteilung und Gewaltenverschränkung. Die Kompetenzordnung bestimmt insofern, welche Entscheidungen die Organe eines Verbands von Rechts wegen überhaupt für diesen treffen können. Entscheidungen, die die Organe eines Verbands jenseits der in der Kompetenzordnung angelegten Ermächtigungen treffen, haben damit nicht die Qualität von Rechtshandlungen des Verbands. Sie liegen als Handlungen ultra vires außerhalb des rechtlichen Wirkkreises der entscheidenden Organe. Kompetenzloses Handeln kann dem Verband nicht zugerechnet werden; es ist aus der Perspektive des Verbands Nichthandeln.6 Es hängt vom Verfassungsrecht des jeweiligen Verbands ab, ob der Verband derartigen Handlungen einen zu beseitigenden Rechtsschein zuerkennt oder ob er sie als Eigenhandlungen der Entscheidungsträger wertet. Deutlich herauszustellen ist in diesem Zusammenhang der Unterschied von kompetenzlosem Handeln und kompetenzgemäßem, aber rechtswidrigem Handeln. Während die Kompetenz die Fähigkeit begründet, kompetenzgemäße Handlungen überhaupt vornehmen zu können, bestimmen die Wahrnehmungsbedingungen, welche Vorgaben bei der Inanspruchnahme einer Kompetenz erfüllt werden müssen. Üblicherweise sind die Wahrnehmungsvoraussetzungen der Sphäre des jeweils höherrangigen Rechts, teilweise aber auch der Sphäre des gleichrangigen, aber nicht derogierbaren Rechts7 zu entnehmen. Zwischen Kompetenzen und Wahrnehmungsbedingungen besteht in Struktur und Wirkweise ein kategorialer Unterscheid.8 Kompetenzen sind Ermächtigungsnormen; Wahrnehmungsbedingungen sind Ge- oder Verbote. Während Entscheidungen, die außerhalb der Kompetenzsphäre eines Verbands liegen, aus dessen Perspektive Nicht-Handeln sind, sind Entscheidungen, die gegen Wahrnehmungsbedingungen verstoßen, in Rechtswidrigkeit existent. Ordnet die Rechtsordnung als Rechtsfolge der Rechtswidrigkeit Nichtigkeit an, so entfaltet die (gleichwohl existente!) Rechtsnorm keine Wirkungen; sie muss nicht aufgehoben werden. Andernfalls bedarf es einer konstitutiven Aufhebung existenter und rechtswidriger Rechtsnormen.9 Dem Inhalt nach lassen sich Wahrnehmungsbedingungen in solche positiver Legalität (Gebote) und solche 6
7
8 9
Insofern ist es problematisch, kompetenzgemäßes Handeln als Ausdruck „positiver Legalität“ zu bezeichnen, so aber v. Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 441. Handlungen der Entscheidungsträger eines Verbandes jenseits der Kompetenzen sind nicht notwendig rechtswidrig und illegal. Im völkerrechtlichen Kontext wäre auf Normen des ius cogens zu verweisen (A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, § 640; H. von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 2004, § 20, Rn. 1; S. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992), im Kontext des nationalen Verfassungsrechts auf Art. 79 Abs. 3 GG. Teilweise nimmt man zu Unrecht an, dass ein fließender Übergang besteht. Wahrnehmungsvoraussetzungen sind vor diesem Hintergrund nicht als „negative Kompetenznormen“ zu bezeichnen; dieser häufig verwandten Redeweise ist schon deshalb zu widersprechen, weil Entscheidungen, die zwar kompetenzgemäß sind, aber gegen die Wahrnehmungsvoraussetzungen verstoßen, eben doch existent sind.
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negativer Legalität (Verbote) unterscheiden. Zu den Erscheinungsformen positiver Legalität gehören vor allem Verfahrens- und Formanforderungen; negative Legalität entfalten vor allem die Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze,10 die in ihrer Zielrichtung als Unterlassungspflichten den handelnden Organen Verbote auferlegen.11 Es ist nicht Gegenstand dieses Beitrags, die Kompetenzwahrnehmungsbedingungen des EU-Rechts zu behandeln. Ihre Darstellung findet sich in diesem Band an anderer Stelle. Aus kompetenzieller Sicht ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die rechtliche Verbindlichkeit der Kompetenzwahrnehmungsbedingungen entgegen einer gelegentlich geäußerten Auffassung nie Gegenstand von Anfechtungen war: Sie ist bereits im Vertrag selbst angelegt. Die Verbindlichkeit der Vorgaben des Gründungsvertrags für die vom Primärrecht eingesetzten Organe folgt nicht zuletzt aus Art. 230 EG und wurde vom EuGH immer schon durchgesetzt.12 Zu keiner Zeit haben es Organwalter des Integrationsverbands beansprucht, den Vorgaben des Vertrages zuwider handeln zu dürfen. Unklar war allerdings lange Zeit die Frage, inwieweit Amtswalter der Mitgliedstaaten (nicht: Amtswalter des Integrationsverbands) fähig und willens waren, die Verträge implizit zu ändern, wenn sie in ihrer Rolle als Amtswalter des Integrationsverbands Handlungen vornahmen, die in Widerspruch zum Primärrecht traten. Dieser Idee einer impliziten Vertragsänderung ist der EuGH in ständiger Rechtsprechung schon früh entgegengetreten;13 er hat so zwar nicht die Legalität, wohl aber die Stabilität des Primärrechts gestärkt.14 2. Kompetenz und politische Programmatik Kompetenzen sind Handlungsgrundlage.15 In jeder Kompetenz liegt Ermächtigung – zur politischen Gestaltung, zur „Durchführung“ oder auch zur Kontrolle. In jeder Kompetenz fließen Freiheit zur und Bindung bei der Gestaltung zusammen. In Kompetenzen ist insofern immer eine politische Programmatik angelegt – in ihnen gerinnt Politik und setzt zur gleichen Zeit wiederum Gestaltung frei. In den Kompetenzen der EU ist damit das teleologische Projekt eingeschrieben, das den mit der Ausübung der Hoheitsgewalt betrauten Organen und Institutionen aufgegeben ist. Der Auftrag der EU, ihr Handeln und der von ihr zu beschreitende Weg lassen sich 10 11 12
13 14 15
T. Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, S. 3. Auf einer Metaebene lässt es sich als Ausdruck positiver Legalität ansehen, dass die Organe eines Verbands zur Beachtung der Normen höheren Rangs verpflichtet sind. Anderer Auffassung v. Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 442: „evolutionäre Errungenschaft“ und „Erfolg der Konstitutionalisierung“; dies., in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU (Stand: Okt. 2007), Art. 5 EG, Rn. 5. EuGH, Rs. 68/86, Großbritannien/Rat, Slg. 1988, 855, Rn. 24; Rs. C-271/94, Parlament/Rat, Slg. 1996, I-1689, Rn. 24. EuGH, verb. Rs. 90/63 und 91/63, Kommission/Luxemburg und Belgien, Slg. 1964, 1331; Rs. 43/75, Defrenne, Slg. 1976, 455; Rs. 59/75, Manghera, Slg. 1976, 91. Kompetenzregeln müssen allerdings immer mit Verfahrensregeln gelesen werden; ohne „Spielregeln“ kann es rechtsstaatlich akzeptablen Kompetenzgebrauch nicht geben.
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zuerst und vor allem durch eine (querschnittsartige) Analyse des Kompetenzbestands vor Augen führen. Naturgemäß kann das teleologische Projekt, das in einem Kompetenzbestand angelegt ist, sehr unterschiedlich aussehen. Geschichtlich nachweisbar sind liberale, auf die Idee individueller Autonomie gestützte Projekte ebenso wie solche, die sich auf einen idealistischen oder chauvinistischen Kulturnationalismus stützen. Konstitutionelle Teleologie kann sich ebenso aus religiösen Heilsvorstellungen wie aus sozialstaatlichen Sicherungswünschen speisen. Die in der Kompetenz angelegte Programmatik kann abstrakter oder konkreter sein: Es kann sich eher um Hintergrundannahmen über die Art des Zustandekommens eines Gemeinwesens, seine Wurzeln oder seine Gründungsideologie handeln; es können aber auch sehr konkrete teleologische Vorgaben zukunftsgerichteter Art sein. Es kann mehr um die Stabilisierung von Strukturen oder mehr um die gestaltende Herbeiführung neuer Lagen gehen. Es ist ein typisches Kennzeichen vieler heutiger Verfassungen (und der in ihren Kompetenznormen enthaltenen Programmatik), einen vergleichsweise „dichten“ programmatischen Hintergrund zu haben. Die Kompetenzen des Integrationsverbands dienen der Einsetzung von Herrschaft; sie sind konstitutiver Natur.16 Das Primärrecht des Integrationsverbands schafft nicht nur eine Institutionenordnung, sondern enthält auch Vorgaben für den zu beschreitenden Weg. Diese Vorgaben reflektieren ihre Gründungsbedingungen. Die konstitutionelle Teleologie des Primärrechts speist sich in einem erheblichen Umfang daraus, dass es der Überwindung einer zugleich instabilen und ineffektiven Ordnung nationalstaatlichen Nebeneinanders dient. Seine Wurzeln liegen zwar nicht in der revolutionären Überwindung einer überkommenen Ordnung. Die Stiftung konstitutioneller Kompetenzen erfolgte vielmehr vor dem Hintergrund einer bereits zerfallenen (Unrechts-)Ordnung. Die Erinnerung an den unter Mühen entwickelten und realisierten Willen, unmittelbar nach Ende des zweiten Weltkriegs in Europa ein Einigungsprojekt zwischen den noch kurz zuvor miteinander kämpfenden Menschen einzuleiten, gehört zu den Standardelementen jeder Darstellung des europäischen Integrationsprojekts.17 In der Präambel der Verträge wird sie denn auch zu Recht aufgegriffen. Nicht nur für das Verständnis, sondern auch für den Umgang mit den Kompetenznormen des Primärrechts sind diese Hintergründe von wesentlicher Bedeutung: Das Ziel der Verhinderung nationalstaatlicher Ausbrüche und Abirrungen durchzieht den Handlungsauftrag der EU. Die Vertragsgeber haben die Kompetenzordnung und den teleologischen Auftrag der EU als zweckrationales Projekt konzipiert. Die Vergemeinschaftung des politischen Prozesses und die Gemeinschaftsbildung im Kreis der Europäer erfolgt nicht unter romantisch-idealistischen Vorzeichen, sondern als zweck- und zukunftsgerichtetes Vorhaben zur Verfolgung bestimmter Ziele. Dabei lässt sich in dem halben Jahrhundert der Integrationsgeschichte ein bemerkenswerter Wandel 16 17
Zur Unterscheidung von Herrschaftsbegründung und Herrschaftsformung: C. Möllers, in diesem Band, S. 229 ff. Ausführlich: T. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, § 2.
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beobachten: Bis in die achtziger Jahre hinein ging es um den Nachvollzug vertraglich vorgegebener Zielsetzungen. Das Maß der Eingrenzung politischer Entscheidungsspielräume war hoch, die Politisierung des Entscheidungsprozesses insofern gering. Die Technizität der Entscheidungen wurde häufig beklagt; sie war auf Grundentscheidungen der Vertragsgeber zurückzuführen. Das entstehende Bild war fragmentiert: Bereiche, in denen sich liberale Freiheit verwirklichen konnte, standen neben hochgradig durchregulierten Bereichen interventionistischer Regulierung.18 Individuen waren über die Verleihung subjektiver Rechte zur Durchsetzung eingeschaltet und funktionalisiert, nicht aber am politischen Prozess beteiligt. Spätestens seit Beginn der neunziger Jahre änderte sich aber der Charakter der Handlungsbefugnisse. Bedeutung gewannen Kompetenzbestimmungen, die den Organen der EU Politikbereiche zur freien Gestaltung überantworten, ohne dass die wesentliche Richtung bereits vom Vertrag vorgezeichnet wäre. An die Stelle holistischer und überindividueller Projektformulierungen19 ist eine fragmentierte Gemengelage kollidierender Zielsetzungen getreten, die eines politisch herbeizuführenden Ausgleichs bedürfen. Letzter Bezugspunkt der Entscheidung konnte damit nur noch der Einzelne sein. Dies bedeutete eine wesentliche Umstellung der Integrationsteleologie. Sie machte sich in dem Bedeutungsgewinn, den das Soziale im Integrationsprozess gewonnen hat, überaus anschaulich bemerkbar. Überraschen kann dies nicht: Es war wohl unvermeidlich, dass die EU sich in einer Zeit, in der die Anziehungskraft des liberalen Projekts verblasst und sie sich programmatisch umorientiert, einer Entwicklung anschließt, ja vielleicht sogar zu deren Vorreiter machen will, die im nationalstaatlichen Bereich längst prägend ist. Schlagworte wie „Solidarität“, „europäische Wertegemeinschaft“, „europäisches Gesellschaftsmodell“ dienen ihr hierbei als Orientierungsmarke. So wichtig die Freiheitsidee auch ist, und so wirkmächtig auch weiterhin ihre Verwirklichung in einer liberalen Marktordnung20 ist, so sehr groß ist doch der Bedeutungsgewinn, den sozialstaatliche Teleologien in den letzten Jahren erfahren haben.21 Man bemüht sich zunehmend um den Ausgleich oder die Beseitigung von Benachteiligungen. Der in diese Teleologien eingeschriebene Materialismus ist inzwischen von einem umfassenden Egalitarismus überlagert worden.22 Es ist dessen Kennzeichen, dass er sich immer nur auf Relationen bezieht: Er ist damit zugleich fragmentarisch und formal. Ebenso ist es sein Kennzeichen, dass er mit Blick auf jede Form gefühlter oder vorhandener Benachteiligung in Anspruch genommen werden kann. Er bringt einen Perspektivenwechsel des konstitutionellen Projekts mit sich: Es geht nicht mehr um die Herstellung objektiver Ordnung, sondern um 18 19
20 21 22
Ebd., § 19. Gelegentlich wird der Begriff der „Finalität“ des Verbands verwandt, vgl. etwa C. Langenfeld, Zur Finalität der EU vor dem Hintergrund der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, in: B. von Hoffmann (Hrsg.), Rechtspolitische Herausforderungen, 2005, S. 41. Hierzu A. Hatje, in diesem Band, S. 809 ff. Zur Genese ‚sozialstaatlicher‘ Leitnormen in den Verträgen F. Rödl, in diesem Band, S. 861 ff. Vgl. etwa Art. 2 und Art. 3 Abs. 3 EUV-Liss., Art. 8, 10 und 18 AEUV; im Einzelnen: Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 17), § 18.
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die Korrektur einer individuellen Situation. Damit werden tendenziell ganzheitlichholistische Zielsetzungen im Anliegen der Befriedigung von Einzelwünschen auf Abwendung von Benachteiligung zerrieben. In dieser Situation nunmehr darauf zu setzen, die EU könnte den Anschluss an holistische Projekte gewinnen,23 erscheint praktisch wenig wahrscheinlich und politisch letztlich in die Vergangenheit zu weisen. Die vorstehenden Überlegungen sind zunächst und vor allem solche der politischen Teleologie. Sie finden in den konkreten Kompetenznormen des EU-Rechts nur in Ansätzen Niederschlag, sind aber für deren Verständnis und Interpretation wesentlich. Wer nur den Vertrag liest, erschließt sich die Tiefendimension der Kompetenzordnung nicht. Dies gilt natürlich zuerst und vor allem, soweit es um die normative Bedeutung der rückwärtsgewandten Erinnerung geht. Erinnerungen sind keine zukunftsgerichtete Handlungsanleitung. Die oben beschriebene Umstellung von liberalen Freiheits- und Effizienzvorstellungen auf egalitäre Ziele lässt sich in den vertraglichen Bestimmungen demgegenüber durchaus nachvollziehen. Die Zahl der Kompetenznormen, die sich mit der Realisierung von Egalität – vor allem in materieller Hinsicht – befassen, ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Diese Feststellung bezieht sich nicht nur auf jene Vorschriften, die sich mit der europäischen Sozialpolitik im engeren Sinne befassen. Es geht auch um Absicherungen im weiteren Sinne, wie sie etwa Art. 16 EG (Art. 14 AEUV) mit Blick auf die Gewährleistung von Dienstleistungen im allgemeinen Interesse enthält.24 Einen allgemeinen Rechtssetzungsauftrag enthält Art. 13 EG (Art. 19 AEUV). Und vor allem findet sich die egalitäre Neuausrichtung in der Rechtsprechung des EuGH, der – weit über die funktional gerechtfertigte Gleichstellung von Marktteilnehmern über die Grundfreiheiten – nunmehr die Unionsbürgerschaft als Grundstatus mit egalitärem Anspruchsgehalt begreift.25 Der Wandel, der sich in der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 18 EG und Art. 12 EG (Art. 18 ff. AEUV) vollzogen hat,26 manifestiert deutlich, wie eine zunächst und vor allem liberale, auf grenzüberschreitende Mobilität abzielende Rechtsprechung inzwischen in eine auch egalitär ausgerichtete Rechtsprechung fortgeführt worden ist. Man wird dem Gerichtshof jedenfalls keine Inkonsequenz vorwerfen können, wenn er in seiner Rechtsprechung den allgemeinen Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen nachvollzieht. Sein Bestehen darauf, dass von diesem Wandel auch EU-Ausländer profitieren, ist ein konsequenter Ausdruck der Integrationsidee. Die beschriebene Umstellung der politischen Teleologie hat aber nicht nur eine sachliche, sondern auch eine instrumentelle Dimension. Die Verwirklichung einer egalitären konstitutionellen Teleologie kann natürlich in Ausübung legislativer 23 24
25 26
U. Haltern schlägt etwa vor, das Leitbild einer konsumierenden Gesellschaft zur Orientierungsmarke zu machen, in diesem Band, S. 329 ff. Hierzu etwa: M. Nettesheim, Dienste von allgemeinem Interesse im EU-Recht zwischen Wettbewerb und Sozialstaatlichkeit, in: H. Schäffer/J. Iliopoulous-Strangas (Hrsg.), Staatsmodernisierung in Europa, 2007, S. 333. F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, 2007. Hierzu ausführlich S. Kadelbach, in diesem Band, S. 635 ff.
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Kompetenznormen erfolgen. Die Wahrnehmung der Handlungsbefugnisse aus Art. 13 EG bildet hierfür ein Beispiel. Typischer allerdings ist es, sich des Mittels von Grundsatznormen zu bedienen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob man von „Prinzipien“, „Grundrechten“ oder „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ spricht. In jedem Fall handelt es sich um Normsätze, die – in einer Ordnung mit umfassender Gerichtsbarkeit (Art. 220 EG, Art. 19 EUV-Liss) – mit Konkretisierungskompetenzen judikativer Art einhergehen. Auch wenn dies der Ideologie richterlicher (bzw. rechtswissenschaftlicher) Konkretisierung zuwiderläuft, die darauf abstellt, die Person des Interpreten auszublenden, lässt sich doch nicht ernsthaft in Zweifel ziehen, dass sich mit der Existenz derartiger Grundsatznormen immer Gestaltungskompetenzen verbinden. Der Gerichtshof hat derartige Kompetenzen meisterhaft in seiner Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Anspruch genommen – zunächst mit dem Ziel der Marktöffnung, inzwischen mit einem über die liberalisierende Wirkung hinausgehenden egalitären Zug.27 Viel deutlicher zeigt sich die egalisierende Ausrichtung inzwischen allerdings in der Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen – einerseits, eher zurückhaltend, an die EU gerichtet, andererseits, mit zunehmend drängenden Entscheidungen, gegenüber den Mitgliedstaaten.28 Die Entscheidung Mangold 29 war diesbezüglich sicherlich nicht der letzte Entwicklungsschritt. Die geschichtlichen Erfahrungen, auf denen der in den Verträgen angelegte Integrationsprozess ruht, lassen sich (jenseits trivialer Folgerungen) nicht in konkrete Handlungsanweisungen bei der Wahrnehmung von Kompetenznormen umsetzen – insofern verwundert es auch nicht, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung niemals auf Argumente dieses Typs zurückgegriffen hat. Die Politisierung des Rechts, die über die Verträge vorgenommen wird, ist keine historische Mitgift, sondern Ausdruck der Vorstellungen der sich in Europa langsam herausbildenden politischen Gemeinschaft. Die Wechselwirkung zwischen Kompetenz und Politik vollzieht sich in der Gegenwart, sie ist zukunftsgerichtet, damit zugleich instabil und vergänglich. Dies mag man beklagen: Für Anhänger eines romantischen Verfassungsverständnisses müssen sich die Verträge als ausgezehrte, formale Grundordnung darstellen, der der konstitutionelle Charakter abgeht. Man mag es aber auch begrüßen: Nur diese Offenheit ermöglicht es den jeweils in der Ordnung lebenden Bürgern, sich im politisch-demokratischen Prozess ihrer Autonomie zu versichern. Der Respekt vor und der Schutz der Offenheit der Kompetenzordnung ist hierfür notwendige Bedingung.
27 28 29
M. Nettesheim, Grundfreiheiten und Grundrechte in der Europäischen Union, 2006. Vgl. A. von Bogdandy, in diesem Band, S. 61. EuGH, Rs. C-144/04, Mangold, Slg. 2005, I-9981; zurückhaltender, die grundsätzliche Entwicklung aber nicht korrigierend: Rs. C-411/05, Palacios, Slg. 2007, I-8531 (mit Anmerkung J.-H. Bauer/S. Krieger, NJW 2007, S. 3672), und Rs. C-427/06, Bartsch, Slg. 2008, I-0000 (mit Anmerkung M. Nettesheim, JZ 2008, S. 1157).
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3. Kompetenz und Föderation Es ist an anderer Stelle ausführlich begründet worden, dass die EU und die Mitgliedstaaten inzwischen eine Form von Selbststand und wechselseitiger Verbundenheit gefunden haben, die sich als Föderalismus bezeichnen lässt.30 Europäischer Föderalismus lässt sich als konsoziativer Föderalismus treffend kennzeichnen („Föderation von Staaten“).31 Anders als im bundesstaatlichen Föderalismus fließt die verfassungsgebende Gewalt der Glieder in der konsoziativen Föderation nicht aus der Verfassung des übergreifenden Verbands (hier: der EU); anders als im bundesstaatlichen Föderalismus haben die Glieder auch ihre Souveränität bewahrt. Weiterhin liegt die Befugnis zur Verfassungsfortschreibung nach Art. 48 EU weitgehend, allerdings schon nicht mehr ausschließlich in den Händen der Glieder;32 auch haben die Mitgliedstaaten im Entscheidungsprozess der überstaatlichen Ebene eine bestimmende Rolle. Man ist sich im Übrigen in der verfassungstheoretischen Diskussion einig, dass diesem Prinzip des konsoziativen Föderalismus im Prozess der Fortentwicklung der EU normative Qualität zukommt: Europa muss seine bündische Struktur bewahren, muss seine Form als „Föderation von Bürgern und Staaten“ erhalten. Einen Umschlag in die Form bundesstaatlichen Föderalismus gilt es, so die ganz überwiegende Auffassung, gegenwärtig zu verhindern.33 Auf absehbare Zeit bleibt die Grundordnung der EU eine „Vertragsverfassung“. Diese Feststellung lässt sich nicht zuletzt durch die nachfolgende Beschreibung und Analyse der Kompetenzordnung der EU erhärten.34 a) Begründung originärer Kompetenzen In der Föderation treten Hoheitsträger miteinander in einen Verbund, die ihre Befugnisse jeweils aus eigenem Recht innehaben. Der EU wird durch die Kompetenzbestimmungen des Primärrechts (und damit auch durch jene des EG-Vertrags) Hoheitsgewalt zugewiesen, die als originäre Befugnis des supranationalen Verbands anzusehen ist. Diese Hoheitsgewalt ist von den Mitgliedstaaten der EU nicht lediglich „delegiert“; die EU-Kompetenzen sind auch nicht lediglich übertragen, zugeleitet oder abgetreten.35 Die EU tritt auch nicht lediglich als Sachwalter der Mitgliedstaaten, als deren Erfüllungsgehilfe oder Vertreter auf. Die Gründungsverträge 30 31 32 33 34
35
M. Nettesheim, Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, ZEuS 2002, S. 507. Vgl. H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität, integration 2000, S. 171. Einen wichtigen Schritt würde Art. 48 EUV-Liss. bewirken, der dem Europäischen Rat nicht unerhebliche Befugnisse zur Vertragsfortschreibung einräumt. Hierzu die Beiträge von I. Pernice, P. M. Huber, G. Lübbe-Wolff und C. Grabenwarter in VVDStRL 60 (2001), S. 148, 194, 246 bzw. 290 mwN. Nachfolgend wird durchgängig von „Kompetenz“ gesprochen, obgleich das Primärrecht zur Bezeichnung von Rechtsnormen dieses Gehalts auch von Befugnis (Art. 5 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 S. 2 EG) oder von Zuständigkeit (Art. 5 Abs. 2, Art. 300 Abs. 1 S. 2 EG) spricht. Die Schlussfolgerungen gelten für die gesamte Breite des EU-Rechts, also für alle drei „Säulen“. Vgl. M. Pechstein/C. Koenig, Die Europäische Union, 2000, Rn. 193; anders aber P. Manin, Les Communautés européennes l’Union européenne, 1999, Rn. 128. So schon BVerfGE 37, 271 (279 f.).
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haben der EU vielmehr originäre Befugnisse zugewiesen – wenn man so will: „Kompetenzen aus eigenem Recht“. Insofern ist der Wortlaut des Art. 24 GG missverständlich; zu Recht verzichtet Art. 23 GG auf das fehlerhafte Bild der „Übertragung von Hoheitsrechten“. Im Vertrag von Lissabon scheint diese Sichtweise nunmehr allerdings wieder auf: Dort ist eine Ergänzung des Art. 1 Abs. 1 EU vorgesehen, wonach die Mitgliedstaaten der Union Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer Ziele übertragen. Dieser Versuch der Festschreibung der Rolle der Mitgliedstaaten mag politisch erklärbar sein; verfassungstheoretisch ist er verfehlt. Die EU nimmt so Befugnisse war, für deren Ausfüllung sie allein – politisch und rechtlich – verantwortlich einzustehen hat. Es ist denn auch heute davon auszugehen, dass sich die klassischen Regeln völkerrechtlicher Verantwortlichkeit internationaler Organisationen – insbesondere der Grundsatz der Möglichkeit eines Durchgriffs auf die Mitgliedstaaten – auf die EU nicht mehr anwenden lassen. Die Ausdehnung des Tätigkeitsfeldes, der Wille zur Effektuierung der Wahrnehmung bestehender Kompetenzen sowie ein (Selbst-)Verständniswandel haben so dazu beigetragen, dass die Europäische Union sich heute als Inhaberin von Herrschaftsgewalt darstellt, die in puncto Wirkmächtigkeit, Reichweite und Durchschlagskraft weitgehend jener eines Staates gleicht. b) Prinzip der begrenzten Ermächtigung In jeder wahren Föderation sind die Kompetenzen der einander zugeordneten Verbände begrenzt; Föderalismus lebt davon, dass sich die föderal verbundenen Ebenen gegenseitig Betätigungsraum lassen, einander rechtlich respektieren und sich nicht übermäßig auf Kosten der jeweils gegenseitigen Ebene ausdehnen. Dies gilt auch für den Verbund von EU und Mitgliedstaaten. Die Kompetenzen des Verbands Europäische Union sind inhaltlich begrenzt; man spricht vom „Prinzip der begrenzten Ermächtigung“.36 Dieser Grundsatz tritt in einer Vielzahl von Bestimmungen des Vertrages hervor, so in Art. 5 EU und in Art. 5, 7, 211, 230 und 249 EG. Die vereinzelte Auffassung, die Union verfüge über eine allgemeine Rechtsetzungskompetenz, ist unzutreffend. An diesem rechtlichen Zustand ändert Art. 6 Abs. 4 EU schon deshalb nichts, weil es sich nicht um eine Befugnisnorm handelt.37 Von 36
37
Hierzu vor allem: H. P. Kraußer, Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrags, 1991. Der in Art. 5 Abs. 1 EG enthaltene Grundsatz lässt sich am besten als Grundsatz der begrenzten Ermächtigung bezeichnen (H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 425 ff.). In der Literatur finden sich zum Teil abweichende Bezeichnungen, so als der Grundsatz oder das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, begrenzten Einzelzuständigkeit, enumerativen Einzelermächtigung oder begrenzten Handlungsermächtigung, ohne dass daran andere Rechtsfolgen geknüpft werden (Nachweise bei Kraußer, in dieser Fußnote, S. 17). Zwar ist es zutreffend, dass der Vertrag sich bei der Ausstattung der Organe mit Kompetenzen weitgehend des Enumerationsprinzips bedient, jedoch vermag nur die Begrifflichkeit „begrenzte Ermächtigung“ im Gegensatz zu den anderen auch Art. 308 EG zu erfassen. Vgl. aber die Terminologie in der deutschen Sprachfassung des Art. 5 Abs. 1 und 2 EU-Liss. Vgl. BVerfGE 89, 155 (194 f.); D. Simon, in: V. Constantinesco/R. Kovar/D. Simon (Hrsg.), Traité sur l’Union Européenne, 1995, Art. F, Rn. 17 f.; A. Puttler, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 6 EU, Rn. 51 ff. Vgl. Art. 311 Abs. 1 AEUV (ex Art. 269 EG).
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Verfassung wegen erstreckt sich die Zuständigkeit der Organe der EU nur auf jene Bereiche, die von den Kompetenzen des Primärrechts abgedeckt werden. Die EU ist nicht allzuständig, sondern kann nur dort handeln, wo ihr im Primärrecht die entsprechende Befugnis erteilt worden ist. Es muss sich, wie das Gericht erster Instanz feststellte, dabei um eine in Kraft befindliche Befugnis handeln; die Bestimmungen des EGKS können seit ihrem Außerkraftreten nicht mehr als Kompetenz herangezogen werden.38 Dieser Grundsatz ist die durchgängige und unumstößliche Voraussetzung jeglichen amtlichen Handelns.39 Zwar verlangt der Grundsatz nicht, dass die EU nur über im Einzelnen umschriebene, detailliert bestimmte Befugnisse verfügt. Er impliziert jedoch, dass es nicht im Ermessen der politisch handelnden Organe der EU liegt, selbst zu entscheiden, wo sie handeln wollen. Sie können sich auch nicht außerhalb des Verfahrens nach Art. 48 EU die Handlungsbefugnisse zulegen. Vielmehr ist der Gesamtumfang der Verbandskompetenz der EU mit dem (Gesamt-)Inhalt der konkreten Kompetenzbestimmungen identisch. Ihm kommt somit die Funktion einer Zuständigkeitsbegrenzungsregel zum Schutz mitgliedstaatlicher Kompetenzen zu. Aus dem Erfordernis einer Kompetenznorm ergibt sich, dass Handlungsbefugnisse sich nicht aus bloßen Zielbestimmungen ableiten lassen. Es kann nicht einfach von einer Zielbestimmung auf eine dem Ziel angemessene Kompetenz geschlossen werden. Dementsprechend kann dem EuGH nicht darin zugestimmt werden, wenn er ausführt: „Weist eine Bestimmung des EWG-Vertrages … der Kommission eine bestimmte Aufgabe zu, so ist davon auszugehen, dass sie ihr dadurch notwendigerweise auch die zur Erfüllung dieser Aufgabe unerlässlichen Befugnisse verleiht; andernfalls würde der Bestimmung jede praktische Wirksamkeit genommen.“40 Wäre diese Aussage in ihrer Allgemeinheit zutreffend, so würde sich die Differenzierung zwischen Normen, aus denen sich Ziele ableiten lassen, auf der einen und Befugnisnormen auf der anderen Seite weitgehend erübrigen. Dies verbietet allerdings nicht, die Ziele zur Auslegung der Kompetenzbestimmungen heranzuziehen. Vor dem Hintergrund, dass die EU nur begrenzte Kompetenzen hat, darf die Kompetenznorminterpretation nicht zu einer Verwischung des Unterschieds zwischen Kompetenzwahrnehmung und Vertragsumschreibung führen. Während es den EU-Organen möglich ist, die bestehenden Kompetenzen wahrzunehmen und im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen auch fortzubilden, steht ihnen die Möglichkeit einer Vertragsänderung nicht zu. Diese ist im Verfahren nach Art. 48 EU zu vollziehen. Bekanntlich hat das BVerfG die Beachtung dieser Grenzziehung im Maastricht-Urteil deutlich eingefordert: „Wenn eine dynamische Erweiterung der bestehenden Verträge sich bisher auf eine großzügige Handhabung des Art. 235 38 39
40
EuG, verb. Rs. T-27/03 u.a., SP Spa u.a./Kommission, Slg. 2007, II-4331, Rn. 118. EuGH, verb. Rs. 188/80 bis 190/80, Frankreich u.a./Kommission, Slg. 1982, 2545, Rn. 6; Gutachten 2/00, Cartagena-Protokoll, Slg. 2001, I-9713, Rn. 5; Rs. C-93/00, Parlament/Rat, Slg. 2001, I-10119, Rn. 39. EuGH, verb. Rs. 281/85, 283/85–285/85 und 287/85, Deutschland u.a./Kommission, Slg. 1987, 3203, Rn. 28.
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EWG-Vertrag [Art. 308 EG] …, auf den Gedanken der inhärenten Zuständigkeiten … (‚implied powers‘) und auf eine Vertragsauslegung im Sinne einer größtmöglichen Ausschöpfung der Gemeinschaftsbefugnisse (‚effet utile‘) gestützt hat …, so wird in Zukunft bei der Auslegung von Befugnisnormen durch Organe und Einrichtungen der Gemeinschaften zu beachten sein, dass der Unions-Vertrag grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung unterscheidet, seine Auslegung deshalb in ihrem Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen darf; eine solche Auslegung von Befugnisnomen würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten.“41 Keine Antwort hat das BVerfG allerdings auf die Frage gegeben, wo die Grenze zwischen der zulässigen Kompetenzwahrnehmung (unter Einschluss der zulässigen Kompetenzfortbildung) und der unzulässigen Inanspruchnahme der Vertragsänderungskompetenz liegt. Man wird in diesem Zusammenhang davon ausgehen müssen, dass eine ausdehnende, in den Bereich der Kompetenzfortbildung vorstoßende Kompetenzwahrnehmung überhaupt nur dort in Betracht kommt, wo dies der Wortlaut des Vertrages ermöglicht. Kompetenzfortbildung setzt Vagheit der Vertragsbestimmungen voraus. Wo sich im Vertrag eindeutige Festlegungen finden, die eine bestimmte Kompetenzwahrnehmung ausschließen (so z.B. die Harmonisierungsverbote in Art. 150, 151 EG/Art. 166, 167 AEUV), ist eine sich darüber hinwegsetzende Kompetenzfortschreibung unzulässig. Ist eine Fortbildung nicht vom Wortlaut her ausgeschlossen, so kommt sie nur dann in Betracht, wenn das handelnde EU-Organ (a) hinreichend gewichtige Gründe dafür geltend machen kann, dass die beanspruchte Befugnis für die Erreichung der Ziele der EU erforderlich ist, und (b) begründet darlegen kann, dass es vor dem Hintergrund dieser Ziele nicht zweckmäßig wäre, eine ausdrückliche Vertragsänderung im Verfahren nach Art. 48 EU abzuwarten. Diese dogmatischen Aussagen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kompetenzbestimmungen der EU so offen und vage formuliert sind, dass sie keine wirklich klaren Handlungsräume abgrenzen.42 Über alles legt sich dann noch Art. 308 EG (Art. 352 AEUV). Insofern steht fest: Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung nimmt der Kompetenzordnung nicht die Fähigkeit zur dynamischen Anpassung.43 Er gibt insbesondere nicht die Methoden vor, mit denen die Kompetenzbestimmungen des Vertrages zu konkretisieren sind. Die Konkretisierung der Kompetenzvorschriften hat mit Blick auf die unionalen Ziele zu erfolgen. Angesichts des raschen Wandels der westeuropäischen Gesellschaften, der Neudefinition von Problemlagen und der Ausdehnung des Marktprinzips auf bislang verschlossene Bereiche ist der EU kompetenziell die Reaktion auf Veränderungen in der Wirklichkeit ermöglicht. Der EU steht die Regelung von Sachverhalten offen, deren 41 42
43
BVerfGE 89, 155 (210). R. Barents, The Internal Market Unlimited, CMLRev. 30 (1993), S. 85; A. Dashwood, The Limits of European Community Powers, ELRev. 21 (1996), S. 113; D. Wyatt, The Growing Competence of the European Community, European Business Law Rev. 16 (2005), S. 483. Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 17), § 12 Rn. 4 ff.
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mögliche Zuordnung zum Anwendungsbereich des Vertrages bei dessen Abschluss nicht gesehen wurde. Argumentativ lassen sich zielbezogene Erwägungen unter der Bezeichnung „teleologische Argumentation“ einführen. Diesen zielbezogenen Erwägungen kommt gegenüber den subjektiv-historischen Vorstellungen der Vertragsgeber 1957 und der ratifizierenden Organe in den Mitgliedstaaten im Regelfall Vorrang zu. Diese Situation wird häufig als Dynamik des Unionsrechts bezeichnet; ihr entspricht es, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs unter dem Vorbehalt „beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts“ steht.44 Alle Versuche, diesem Sachverhalt institutionell45 oder normativ46 entgegenzuwirken, waren bislang erfolglos.47 Auch der EuGH stellt sich der Entwicklung nicht entgegen.48 c) Kompetenz-Kompetenz in gesamthänderischer Verbundenheit von EU und Mitgliedstaaten Zu den prägenden Merkmalen der EU-Kompetenzordnung gehört ferner, dass die Fortschreibung EU-Organen und Mitgliedstaaten in gesamthänderischer Verant44 45
46
47
48
EuGH, verb. Rs. 205/82 bis 215/82, Deutsche Milchkontor, Slg. 1983, 2633, Rn. 17 ff.; Rs. 25/88, Wurmser, Slg. 1989, 1105, Rn. 16. Vorschläge, ein unabhängiges Kompetenzgericht einzuführen, finden sich etwa bei: U. Goll/ M. Kenntner, Brauchen wir ein europäisches Kompetenzgericht? EuZW 2002, S. 101; kritisch U. Everling, Quis Custodiet Costudes Ipsos? EuZW 2002, S. 357. Zu den Bemühungen um eine kompetenzielle Aufwertung des Verhältnismäßigkeitsprinzips: G. de Burca, The Principle of Proportionality and its Application in EC Law, YEL 13 (1993), S. 105; J. H. Jans, Proportionality Revisited, Legal Issues of Economic Integration 27 (2000), S. 239. Die handgreifliche Wirkungslosigkeit des Subsidiaritätsprinzips (G. Davies, Subsidiarity: The Wrong Idea, in the Wrong Place, at the Wrong Time, CMLRev. 43 (2006), S. 63) veranlasst dazu, in diesem Beitrag keine ausführliche Konkretisierung des Art. 5 Abs. 2 EG zu unternehmen. Weiterführendes etwa bei: N. Emiliou, Subsidiarity: An Effective Barrier Against the Enterprises of Ambition?, ELRev. 17 (1992), S. 383; G. A. Bermann, Taking Subsidiarity Seriously: Federalism in the European Community and the United States, Columbia Law Review 94 (1994), S. 331; A. G. Toth, Is Subsidiarity Justiciable?, ELRev. 19 (1994), S. 268; T. Schilling, A New Dimension of Subsidiarity: Subsidiarity as a Rule and a Principle, YEL 14 (1994), S. 203; G. de Burca, Reappraising Subsidiarity’s Significance After Amsterdam, Jean Monnet Working Paper Nr. 7 (1999), unter www.jeanmonnetprogram.org; N. Bernard, The Future of European Economic Law in the Light of the Principle of Subsidiarity, CMLRev. 33 (1996), S. 633; B. J. Rodger and S. R. Wylie, Taking the Community Interest Line, European Competition Law Review 18 (1997), S. 485; K. Lenaerts, The Principle of Subsidiarity and the Environment in the European Union, Fordham International Law Journal 17 (1994), S. 846; A. Follesdal, Subsidiarity, Journal of Political Philosophy 6/2 (1998), S. 231; D. Z. Cass, The Word that Saves Maastricht?, CMLRev. 29 (1992), S. 1107; N. Farnsworth, Subsidiarity – A Conventional Industry Defence, European Environmental Law Review 13 (2004), S. 176; C. Calliess, Der Binnenmarkt, die europäische Kompetenzordnung und das Subsidiaritätsprinzip im Lichte der neuen Europäischen Verfassung, in: FS Fischer, 2004, S. 1; N. Barber, The Limited Modesty of Subsidiarity, ELJ 11 (2005), S. 308. EuGH, Rs. C-491/01, British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453; Rs. C-84/94, Großbritannien/Rat, Slg. 1996, I-5755; Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079; verb. Rs. C-154/04 und C-155/04, Alliance for Natural Health, Slg. 2005, I-6451.
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wortung zugewiesen ist.49 Nach Art. 48 EU können weder die EU-Organe allein noch die Mitgliedstaaten für sich die Kompetenzordnung ändern. Das Verfahren sieht ein Zusammenspiel der Entscheidungsträger beider Ebenen vor, das es ausschließt, heute noch undifferenziert von den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ zu sprechen. Vertragsänderungen müssen in den Bahnen des Vertrags erfolgen; als verfassungsändernde Akteure sind die Mitgliedstaaten in die unionale Legalität vollständig eingebunden.50 Die Kompetenz-Kompetenz (verstanden als rechtliche Befugnis, die vertraglichen Kompetenzen fortzuschreiben) liegt damit gesamthänderisch bei den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten. Gewiss kommt den Mitgliedstaaten im Vertragsänderungsverfahren weiterhin prägendes Gewicht zu; über ihren je individuellen Willen ist eine Vertragsänderung ausgeschlossen. Ohne die Mitwirkung von Rat, Parlament und gegebenenfalls Kommission lassen sich die Verträge europarechtskonform aber auch nicht mehr anpassen oder fortschreiben, und außerhalb der Verträge ist zwar Revolution, nicht aber legale Verfassungsfortschreibung möglich. Die EU-Verfassung gleicht in diesem Punkte jeder nationalen Verfassung: Nicht nur beansprucht sie, die von ihr eingesetzte und mit Kompetenzen ausgestattete Gewalt vollständig zu binden; sie beansprucht auch, sich durch Regeln über ihre Änderung und Fortschreibung zu stabilisieren. Von Verfassung wegen gibt es allein inkludierte legale Gewalt; jenseits dessen liegt allein die unkontrollierte und unkontrollierbare Illegalität des Verfassungsbruchs. d) Kompetenzielle Letztinterpretationsbefugnis beim EuGH Es ist schließlich darauf hinzuweisen, dass die kompetenzielle Letztinterpretationsbefugnis beim Europäischen Gerichtshof liegt.51 Die Entscheidung darüber, wie weit die der EU zugewiesenen Kompetenzen reichen, obliegt in letzter Zuständigkeit dem nach Art. 220 EG für die Interpretation des EU-Rechts zuständigen Organ. Der Gerichtshof entscheidet, ob eine Maßnahme der EU auf die Kompetenznormen des Primärrechts (seien es solche des EU-Vertrags, seien es solche der Gemeinschaftsverträge) gestützt werden kann oder nicht. Die Gerichte der Mitgliedstaaten sind zwar aufgerufen, die Kompetenzmäßigkeit der von ihnen angewandten EURechtsakte zu überprüfen. Es ist ihnen allerdings grundsätzlich versagt, einen EURechtsakt wegen Kompetenzmängeln zu verwerfen. Sind sie der Auffassung, dass 49
50 51
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Art. 133 Abs. 5 EG, der dem Rat die Befugnis verleiht, durch einstimmigen Beschluss die Anwendung der Abs. 1–4 auf internationale Übereinkünfte über Dienstleistungen und Rechte des geistigen Eigentums auszudehnen, soweit sie nicht bereits von Art. 133 EG erfasst werden. Damit wird dem Rat die Möglichkeit der Kompetenzausdehnung verliehen; es handelt sich um einen jener wenigen, allerdings zunehmend bedeutsamen Fälle, in denen die Mitgliedstaaten ihre bestimmende Rolle im Vertragsänderungsverfahren (Art. 48 EU) aufgegeben und die Organe der EU die Befugnis zur Vertragsfortschreibung erlangt haben. A.A. v. Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 443 („weitgehend außerhalb der unionalen Legalität“). Hierzu vor allem: F. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, sowie ders., in diesem Band, S. 574 ff.; P. M. Huber, BVerfG und EuGH als Hüter der gemeinschaftlichen Kompetenzordnung, AöR 116 (1991), S. 210.
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ein Rechtsakt unter derartigen Mängeln leidet, so müssen sie von der Möglichkeit der Vorlage nach Art. 234 EG Gebrauch machen. Ausnahmsweise dürfen mitgliedstaatliche Gerichte vorläufig einen EU-Rechtsakt unangewendet lassen, wenn sie in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Aktes haben, wenn den Betroffenen im Falle der Anwendung dieses Aktes erhebliche Schäden drohten, wenn sie bei der Entscheidung über die Nichtanwendung das unionale Interesse an der einheitlichen und gleichen Wirkung des Rechts in allen Mitgliedstaaten hinreichend berücksichtigen und zugleich dem EuGH nach Art. 234 EG vorlegen. Der Feststellung, dass die kompetenzielle Letztinterpretationsbefugnis bei einem EU-Organ liegt, lässt sich nicht entgegenhalten, dass die nationalen Gerichte ihrerseits die Möglichkeit haben, am Maßstab nationaler Verfassungsnormen zu überprüfen, ob sich die auf Anwendung drängenden EU-Rechtsakte im Rahmen dessen halten, was vom mitgliedstaatlichen Akt überstaatlicher Kompetenzbegründung gedeckt wird. Prüfungsmaßstab ist in diesem Falle nicht das Primärrecht, sondern der mitgliedstaatliche Konstitutionsakt.52 Die Prüfungsmaßstäbe von EuGH und nationaler Gerichtsbarkeit fallen damit auseinander; jedes der Organe kann mit eigenem Recht eine ihm nach dem jeweiligen (unionalen bzw. mitgliedstaatlichen) Verfassungsrecht zugewiesene Funktion wahrnehmen. Europäische und nationale Gerichtsbarkeit haben diese Funktion jeweils eigenständig, wenngleich immer auch in Verantwortung für das gemeinsame Ganze wahrzunehmen. Für eine „Kooperation“ der Gerichtsbarkeiten ist – entgegen dem vom BVerfG im Maastricht-Urteil53 verwandten anbiedernden Begriff – in diesem Punkte kein Platz. Kommt es zu Auffassungsunterschieden zwischen europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit, lassen sich in einem System, in dem europäische und nationale Gerichtsbarkeit nicht in einem Verhältnis hierarchischer Zuordnung stehen, keine rechtlichen Vorrangregeln bilden; ein Streit ist politisch zu schlichten, ohne dass es noch eine Instanz gäbe, die zu rechtlicher Entscheidung befähigt wäre. Dem EuGH ist häufig vorgeworfen worden, dass er die ihm überantwortete Funktion des Hüters der Kompetenzordnung nur halbherzig und einseitig wahrnehme.54 Er setze, so die Behauptung, den die Kompetenzordnung extensiv handhabenden politischen Organen der EU keine Grenzen, sondern stütze eine immer ausgreifendere, jegliche Zurückhaltung vermissende Kompetenzfortbildung. Die dem Vorwurf zugrundeliegende Feststellung dürfte in der Tat ihre Berechtigung haben. Der EuGH setzt der expansiven Kompetenzhandhabung, wie sie insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren zu beobachten war, keinen Widerstand entgegen. Dabei stehen ihm allerdings gute Gründe zur Seite: Schon im Grundsatz ist es verfassungstheoretisch gut zu rechtfertigen, wenn der Gerichtshof den politisch 52 53 54
Zu diesen Fragen: M. Kumm, Who is the Final Arbiter of Constitutionality in Europe?, CMLRev. 36 (1999), S. 351. BVerfGE 89, 155. Vgl. D. Reich, Zum Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Kompetenzen der deutschen Bundesländer, EuGRZ 2001, S. 1.
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handelnden Organen bei der Wahrnehmung von EU-Kompetenzen eine Beurteilungsprärogative einräumt. Dies gilt vor allem dann, wenn den Vertretern der Mitgliedstaaten im Entscheidungsprozess entscheidender Einfluss zukommt (insbesondere im Falle der Entscheidung mit Einstimmigkeit), sie einen kompetenzwidrigen Akt durch Ausübung ihrer Vetoposition verhindern könnten und ihnen so über prozedurale Vorkehrungen ein effektiver Schutz ihrer Kompetenzen gewährleistet ist.55 In diesem Zusammenhang ist im Übrigen zu betonen, dass es Aufgabe der mitgliedstaatlichen Vertreter ist, die innerstaatliche Kompetenzordnung zu berücksichtigen und sich auch für den Schutz von Länderkompetenzen einzusetzen; es wäre verfehlt, die Organe der EU in die Pflicht zu nehmen, um die Länderkompetenzen vor Aushöhlung durch europäische Integration zu bewahren. Mit dem Übergang im Rat zu Mehrheitsentscheidungen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre entfiel das Argument, dass sich ja jeder Mitgliedstaat gegen Kompetenzüberdehnungen durch Ausübung der Vetostellung wehren könne. Verfassungstheoretisch wäre in dieser Situation zu erwarten, dass der EuGH nunmehr seine kompetenzielle Aufsicht verschärft. Zeitweilig schien es, ob der EuGH diese Erwartung einlösen würde – im berühmt gewordenen Urteil zur Tabakwerberichtlinie erklärte der EuGH erstmalig einen allgemeinen legislativen Akt wegen Fehlens einer Kompetenz für nichtig.56 Auch in seiner Folgeentscheidung zur Problematik des Verbots der Tabakwerbung57 verfolgte er das in dieser Entscheidung begründete restriktive Verständnis des Art. 95 EG weiter: Er betont, dass es „für die Rechtfertigung der Heranziehung von Artikel 95 EG als Rechtsgrundlage entscheidend darauf an[kommt], dass der auf dieser Grundlage erlassene Rechtsakt tatsächlich die Bedingungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessern soll.“58 Die sich anschließende Subsumtion fiel dann allerdings so „großzügig“ aus, dass der letztlich nur kosmetisch veränderte Rechtsakt nunmehr für europarechtskonform erklärt werden konnte. Vielfach ist dem EuGH in der Folge seiner Entscheidung vom 5. Oktober 2000 Sensibilität in Kompetenzfragen attestiert worden. Das Vertrauen darauf, dass der EuGH seine Kompetenzrechtsprechung im Bewusstsein um den Eigenwert einer intakten und ausbalancierten Kompetenzordnung fortführt, hat durch die Folgeentscheidung vom 12. Dezember 2006 Schaden genommen: Zu offensichtlich weist die Genese der in Streit befindlichen Richtlinie aus, dass es um eine die Verwirklichung gesundheitspolitischer Ziele ging, die durch den Verweis auf Handelshemmnisse im Binnenmarkt nur mühsam kaschiert wurden. Richtig wäre es vielmehr gewesen, den Rechtsakt dem Bereich der Gesundheitspolitik zuzuordnen – hier liegt
55
56 57 58
Es darf natürlich nicht übersehen werden, dass der faktische Druck auf Mitgliedstaaten, einer in kompetenzieller Hinsicht für bedenklich erachteten Regelung doch zuzustimmen, sehr groß sein kann. EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 = JZ 2001, S. 32 mit Anmerkung von V. Götz. EuGH, Rs. C-380/03, Deutschland/Parlament und Rat, Slg 2006, I-11573. Ebd., Rn. 80.
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sein Schwerpunkt.59 Hierfür aber weist der Vertrag der EU keine Harmonisierungsbefugnisse zu. Der Schutz der Kompetenzordnung ist für das Funktionieren des föderalen Verbunds unerlässlich, und seine Durchsetzung auch gegen die politisch handelnden Organe der EU darf nicht als Verlust für die Integration angesehen werden, sondern lässt sich als Ausdruck eines funktionierenden Zusammenspiels der Ordnungen betrachten. Die Durchsetzung kompetenzieller Grenzen ist in einer Zeit, in der der Integrationsverband eine staatsähnliche Kompetenzbreite gewonnen hat und nicht mehr auf beständige Ausdehnung und Vertiefung der Befugnisse angewiesen ist, nicht zum Schaden der Integration, sondern gerade Ausdruck der Reife des Prozesses. 4. Kompetenz und Institution Die vorstehenden Überlegungen haben sich mit Fragen befasst, die sich im vertikalen Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten stellen. Kompetenzrechtliche Fragestellungen ergeben sich auch im horizontalen Verhältnis zwischen den Institutionen der EU. Im Grundsatz ist hier davon auszugehen, dass die vom Vertrag vorgesehene Zuordnung von Institution und Kompetenz zwingend ist. Kompetenzen des Vertrags können daher grundsätzlich nur von den Institutionen in Anspruch genommen werden, die hierzu vertraglich ermächtigt werden. Und ihr Gebrauch hat in den Verfahren und Formen zu erfolgen, die vertraglich festgelegt sind. Die Kompetenzordnung ist insofern zugleich spezifisch und statisch. Thematisiert wird diese Bindung vom EuGH einerseits unter dem Stichwort „Zuständigkeit“, wie es sich in Art. 230 Abs. 2 EG (Art. 263 Abs. 2 AEUV) findet. Zum anderen problematisiert der EuGH die Einhaltung der Kompetenzordnung – bzw. kompetenzielle Verschiebungen – unter Verwendung des Begriffs des „institutionellen Gleichgewichts“.60 In ständiger Rechtsprechung geht der EuGH davon aus, dass es dieser Grundsatz „gebietet …, dass jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt“61. Zugleich entnimmt der Gerichtshof diesem Grundsatz die Aussage, dass keinem Organ die Befugnis zusteht, „den anderen Organen … ein Recht [zu] nehmen, das ihnen nach den Verträgen selbst zusteht“.62 Der EuGH hat insbesondere mit Blick auf sog. legislative Tätigkeiten immer betont, dass sie vom Unionsgesetzgeber auf der Grundlage der hierfür im Vertrag vorgesehenen Kompetenzen und in den hierfür vorgesehenen Verfahren durchgeführt werden müssen.63 Als legislative Tätigkeit wird die Festlegung der „wesentlichen 59 60 61 62 63
Dazu unten, S. 434 ff. Vgl. EuGH, Rs. 9/56, Meroni/Hohe Behörde, Slg. 1958, 11 (44); Rs. 138/79, Roquette/Rat, Slg. 1980, 3333, Rn. 33. EuGH, Rs. 70/88, Parlament/Rat, Slg. 1990, I-2041, Rn. 22. EuGH, Rs. 149/85, Wybot, Slg. 1986, 2391, Rn. 23. EuGH, Rs. 25/70, Köster, Slg. 1970, 1161, Rn. 6; Rs. C-240/92, Deutschland/Kommission, Slg. 1992, I-5383, Rn. 36.
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Grundzüge der zu regelnden Materie“64 angesehen. Eine Delegation derartiger Kompetenzen wird als grundsätzlich unzulässig angesehen. Eine erst seit kurzem geklärte Frage ist in diesem Zusammenhang allerdings, ob es nicht ausnahmsweise möglich ist, sekundärrechtliche Kompetenznormen zu schaffen, die den Erlass von Rechtsetzungsakten in einem Verfahren vorsehen, das gegenüber dem primärrechtlich einschlägigen Verfahren vereinfacht ist.65 Gute Gründe sprechen allerdings für die Sichtweise des EuGH, dass eine derartige Selbstermächtigung zur Abweichung von dem vertraglich vorgesehenen Verfahren unzulässig ist.66 Dies gilt auch dann, wenn es diesbezüglich kein ausdrückliches Verbot gibt. Denn die Argumentationslast für die Zulässigkeit einer derartigen Ermächtigung liegt, wie sich Art. 7 EG entnehmen lässt und wie die Existenz von Art. 202 EG und Art. 211 EG belegen, bei dem Organ, das diese Befugnis beansprucht. Der EuGH hat denn auch schon vor vielen Jahren betont, dass „die Grundsätze über die Willensbildung der Gemeinschaftsorgane im Vertrag festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen“.67 Die Sorgfalt, mit der die Verträge Kompetenz, Verfahren und Form regeln, würde konterkariert und das vertragliche System unterlaufen, wenn jedes Organ letztlich frei bestimmen könnte, in welcher Art und Weise es seine Kompetenzen ausübt, indem es sich selbst ermächtigt. Der Vertrag lässt an einzelnen Stellen erkennen, dass er Verfahrenserleichterungen vorsehen will – zu denken ist etwa an Art. 67 Abs. 2 2. Spstr. oder Art. 175 Abs. 2 EG. Jenseits dieser ausdrücklich vorgesehenen Regelungen ist die vertragliche Zuordnung von Kompetenz und Verfahren im Bereich der Rechtsetzung zwingend. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Vertrag Delegationen vollständig ausschlösse. Art. 202 und 211 EG sehen sie für den Bereich der Durchführung ausdrücklich vor, ohne allerdings Voraussetzungen, Verfahren und Form festzulegen. Der EuGH hat diesen Bestimmungen die „Regel“ entnommen, „dass es im System des Vertrages, wenn auf Gemeinschaftsebene Maßnahmen zur Durchführung eines Basisrechtsakts zu treffen sind, Aufgabe der Kommission ist, diese Befugnis auszuüben.“68 Die Einzelheiten dieser Delegation sind im sog. Zweiten Komitologiebeschluss festgelegt worden.69 Ausnahmsweise lässt es der Gerichtshof zu, dass sich der Rat selbst vorbehält, Durchführungsbefugnisse wahrzunehmen. Eine derartige Selbstermächtigung bedürfe der ausführlichen Begründung; der Rat müsse dartun, dass Art und Inhalt der Durchführungsbefugnis einen so spezifischen Charakter haben, dass er sich ihre Ausübung abweichend von der grundsätzlichen Zuständigkeit der Kommission in diesem Bereich vorbehalten darf.70 64 65 66 67 68 69 70
Ebd. Die Frage stellte sich in EuGH, Rs. C-133/06, Parlament/Rat (Liste sicherer Drittstaaten), Slg. 2008, I-3189. Ebd., Rn. 53 ff. EuGH, Rs. 68/86 (Fn. 13), Rn. 38. EuGH, Rs. C-257/01, Kommission/Rat, Slg. 2005, I-345, Rn. 51. Beschluss 1999/468/EG des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl. 1999 L 184, S. 23. EuGH, Rs. C-257/01 (Fn. 68), Rn. 50.
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In der Rechtsprechung ist inzwischen auch geklärt worden, dass die Änderung eines Rechtsetzungsaktes nur auf der Grundlage und in dem Verfahren möglich ist, die dem zu ändernden Akt zugrunde liegen.71 In dem Verfahren C-93/00 stellte der EuGH hierzu fest, dass die Änderung der Grundverordnung „nur auf einer Rechtsgrundlage erfolgen [könne], die derjenigen für den Erlass der Verordnung entspricht, also auf der Grundlage des EG-Vertrags selbst und unter Beachtung des darin vorgesehenen Beschlussfassungsverfahrens.“72 5. Kompetenzbedarf für amtliches Handeln Art. 5 Abs. 1 EG führt nicht näher aus, welche Tätigkeitsformen unter das Erfordernis einer Verbandskompetenz fallen. Es kann in dieser Frage allerdings keinen Zweifel geben: Das Kompetenzerfordernis erstreckt sich auf jede Form amtlichen Handelns.73 Es gilt damit nicht nur für Akte der Rechtsetzung,74 sondern auch für sonstiges rechtliches und faktisches hoheitliches Handeln, wie z.B. die Gewährung von Subventionen oder die Erteilung von Informationen. Es gilt auch für auswärtiges Handeln.75 Vom Gerichtshof ist bislang allerdings noch nicht abschließend geklärt, ob auch tatsächliche Handlungen ohne Rechtsverbindlichkeit (Warnungen, Informationen, Meinungsbekundung, finanzielle Anreize) von der Verbandskompetenz der Gemeinschaft umfasst sein müssen.76 Die Praxis der Gemeinschaftsorgane lässt allerdings erkennen, dass zwar teilweise Unsicherheiten über die Grenzen der gemeinschaftlichen Verbandskompetenz bestehen mögen (z.B. Stadtplanung, Tourismus etc.), dass die Organe aber immer den Anspruch erheben, kompetenzgemäß zu handeln, und in Bereichen, in denen die EG zweifelsfrei keine Verbandskompetenz hat (z.B. militärische und innere Sicherheit), auf jegliche Tätigkeit verzichten.77 Gegen eine Freistellung rechtlich unverbindlicher Handlungen vom Erfordernis einer Verbandskompetenz spricht nicht nur der Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 EG. Entscheidendes Gewicht hat die Überlegung, dass sich hinter der Vorstellung verbandskompetenzfreier tatsächlicher Handlungen staatstheoretische Positionen verbergen, die schon im modernen Verfassungsstaat überholt sind, erst recht auf die Gemeinschaft nicht übertragbar sind und die Problematik einer Verbandskompetenz – die der allzustän71
72 73 74 75 76 77
Eine andere Deutung bei J. Bast, in diesem Band, S. 534 ff.: Delegationsverbot nur für die Änderung von „wesentlichen“ Bestimmungen des Basisrechtsakts. Vgl. Art. 290 Abs. 1 und 2 AEUV. EuGH, Rs. C-93/00, Parlament/Rat, Slg. 2001, I-10119, Rn. 42. Hierzu vor allem: A. Dashwood, The Limits of European Community Powers, ELRev. 21 (1996), S. 113. In diese Richtung: A. Bleckmann, Europarecht, 1997, Rn. 382; Kraußer (Fn. 36), S. 86 ff. EuGH, verb. Rs. C-317/04 und C-318/04, Parlament/Kommission und Rat, Slg. 2006, I-4721. Vgl. auch EuGH, Rs. C-327/91, Frankreich/Kommission, Slg. 1994, I-3641. Vgl. allerdings: EuGH, Rs. 111/63, Lemmerz-Werke/Hohe Behörde, Slg. 1965, 893; Rs. C137/92 P, Kommission/BASF, Slg. 1994, I-2555, Rn. 48–53. Zum Zuständigkeitserfordernis im Hinblick auf Mitteilungen: EuGH, Rs. C-57/95, Frankreich/Kommission, Slg. 1997, I-1627.
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dige Staat gar nicht kennt – im Kern gar nicht berühren. Ebenso wie im Verfassungsstaat muss sich in der EU jede Handlung der Organe auf die Verfassung zurückführen lassen; einen verfassungsfreien Tätigkeitsbereich der Verfassungs(!)organe gibt es nicht. Im Übrigen verfolgt ein Organ – wollte es sich nicht dem Vorwurf sinnlosen und damit unzulässigen Handelns aussetzen – auch dann Steuerungsziele, wenn es rechtlich unverbindlich Warnungen erteilt, finanzielle Anreize setzt,78 Informationen ausgibt oder seine Meinung zu einer Sachfrage kundtut. Im Regelfall wird seine Zielsetzung die planvolle Beeinflussung von Meinungsbildungsprozessen und Interessenkonstellationen in der Gesellschaft sein. Bei der Vergabe finanzieller Mittel muss die Steuerungsabsicht immer auf der Hand liegen, wenn sich das Organ nicht dem Vorwurf der Verschwendung aussetzen will. Wer diese Steuerungsformen kompetenziell freistellte, würde sich in einer Gesellschaft, in der Informationen und finanzielle Anreize in weitem Rahmen an die Stelle des Zwangs getreten sind, Wertungswidersprüchen aussetzen und die Kompetenzordnung der Unionsverfassung unterlaufen. Ein Unionsorgan kann daher nur handeln, wenn die Verbandskompetenz der Union sowie seine Organkompetenz gegeben sind. Der gelegentlich vertretenen Auffassung, die EU könne jenseits des Bereichs der Rechtsetzung auch ohne kompetenzielle Ermächtigung handeln, ist insofern zu widersprechen. Schon aus Gründen demokratischer Legitimität, aber auch aus verfassungsstrukturellen Gründen kann europäische Hoheitsgewalt nur dort ausgeübt werden, wo dies im Vertrag ausdrücklich oder implizit vorgesehen ist. Hinsichtlich der unverbindlichen Rechtsakte (Empfehlungen, Stellungnahmen) bedarf die Kommission gem. Art. 211 2. Spstr. EG regelmäßig keiner ausdrücklichen Ermächtigung („soweit sie es für notwendig erachtet“); es ist davon auszugehen, dass die in den Kompetenzen angelegten Sachbefugnisse regelmäßig auch die Befugnis zur Vornahme rechtlich unverbindlicher Akte umschließen.79 6. Kompetenz, Rechtsfehlerhaftigkeit und Geltung Für das Verständnis der EU-Kompetenzordnung ist es von besonderer Bedeutung, das Verhältnis von Kompetenzmäßigkeit und Rechtmäßigkeit zu analysieren. Vielfach ist man der Auffassung, dass Kompetenznormerfordernis und Wahrnehmungsbedingungen in dieser Hinsicht identische Wirkungen entfalten: Kompetenzlos erlassene Hoheitsakte und Hoheitsakte, die gegen Wahrnehmungsbedingungen verstoßen, seien rechtswidrig; regelmäßig bedürfe es der Anfechtung, in Fällen besonders schwerer und offenkundiger Fehler seien die Akte inexistent.80 Auch in der Rechtssprechung des EuGH wird zwischen Kompetenzfragen und Fragen der Rechtmäßigkeit der Kompetenzwahrnehmung nicht unterschieden. 78
79 80
Hierzu EuGH, Rs. C-106/96, Großbritannien/Kommission, Slg. 1998, I-2729; J.-L. Dewost, Décisions des institutions en vue du développement des compétences et des instruments juridiques, in: R. Bieber/G. Ress (Hrsg.), Die Dynamik des Gemeinschaftsrechts, 1987, S. 321 (328). Für Entschließungen des Parlaments EuGH, Rs. 230/81, Luxemburg/Parlament, Slg. 1983, 255. Z.B. v. Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 443.
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Der hier vertretenen Auffassung zufolge besteht hingegen zwischen der Kompetenzordnung und den Gruppe der Wahrnehmungsbedingungen ein kategorialer Unterschied; dies wirkt sich im Hinblick auf die Rechtsfolgen eines Rechtsverstoßes aus. Akte, die die Organe der EU ohne entsprechende Kompetenzgrundlage erlassen, sind nicht als rechtswidrige Form der Ausübung von Hoheitsgewalt anzusehen, sondern als Nichtakte; es handelt sich um Handlungen, die lediglich dem Rechtsschein nach Ausübung von EU-Gewalt sind. Dieser Rechtsschein muss allerdings vernichtet werden; insofern bedarf es einer Feststellung der Nichtexistenz. Die Nichtexistenz eines Rechtsaktes ist im Wege der Feststellungsklage geltend zu machen, ohne dass dabei Klagefristen zu beachten wären.81 Demgegenüber sind Handlungen, die kompetenzkonform erlassen wurden, immer Ausdruck der Ausübung europäischer Hoheitsgewalt. Derartige Handlungen haben selbst dann rechtliche Existenz, wenn sie unter Verstoß gegen Kompetenzwahrnehmungsbedingungen vorgenommen worden sind: Sie müssen von einem dafür zuständigen Organ aufgehoben werden; hierbei handelt es sich um eine Gestaltungshandlung. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist in einem Fall, in dem bei der Vornahme einer derartigen Handlung gegen Wahrnehmungsbedingungen verstoßen wurde, je nach Schwere des Verstoßes zu differenzieren: Bei einfachen Rechtsverstößen erfolgt die Aufhebung ex nunc. Der EuGH geht davon aus, dass derartig rechtsfehlerhafte Amtshandlungen der EU-Organe nicht nur rechtlich existent sind, sondern auch solange Rechtswirkungen entfalten, bis sie vom EuGH für die Zukunft aufgehoben worden sind.82 Die Rechtsanwender des EU-Rechts sind verpflichtet, auch solche Rechtsnormen des EU-Rechts zu beachten und anzuwenden, die an einem derartigen rechtlichen Fehler leiden.83 Demgegenüber hebt der EuGH Handlungen, die offenkundig an einem derartig schweren Fehler leiden, dass die Tolerierung mit dem rechtsstaatlichen Anspruch der Union unvereinbar wäre, ex tunc auf (Nichtigkeitserklärung). Mit der Nichtigkeitsentscheidung des EuGH gilt die Handlung als inexistent; die rückwärtsbezogene Aufhebung hat zur Folge, dass der Handlung für die gesamte Dauer ihrer Existenz keine Rechtswirkungen zugeschrieben werden können.84 Auch hierbei handelt es sich
81 82
83 84
EuGH, Rs. 15/85, Consorzio Cooperative d’Abruzzo, Slg. 1987, 1005. EuGH, verb. Rs. 15/73 u.a., Kortner u.a./Rat, Kommission und Parlament, Slg. 1974, 177; Rs. 63/87, Kommission/Griechenland, Slg. 1988, 2875; Rs. C-137/92 P, Kommission/BASF, Slg. 1994, I-2555; EuG, verb. Rs. T-80/89 u.a., BASF u.a./Kommission, Slg. 1995, II-729; Rs. T-156/89, Valverde Mordt/Gerichtshof, Slg. 1991, II-407; verb. Rs. T-282/97 und T-57/ 98, Giannini/Kommission, Slg. 1999, II-151. EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Höchst, Slg. 1989, 2859; EuG, Rs. T-34/92, Fiatagri et New Holland Ford/Kommission, Slg. 1994, II-905. EuGH, verb. Rs. 1/57 und 14/57, Société des Usines, Slg. 1957, 213; Rs. C-135/93, Spanien/ Kommission, Slg. 1995, I-1651; Rs. C-199/92 P, Hüls/Kommission, Slg. 1999, I-4287; Rs. C-200/92 P, ICI/Kommission, Slg. 1999, I-4399; Rs. C-234/92 P, Shell/Kommission, Slg. 1999, I-4501; Rs. C-227/92 P, Hoechst/Kommission, Slg. 1999, I-4443; EuG, verb. Rs. T-133/95 und T-204/95, IECC/Kommission, Slg. 1998, II-3645; Rs. T-272/94, Brulant/ Parlament, Slg. 1996, II-1397.
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nach zutreffender Auffassung allerdings um ein Gestaltungsurteil. Es müssen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH außergewöhnliche Umstände vorliegen, um zur Annahme zu kommen, ein Rechtsakt sei ex tunc aufzuheben: Es müssen handgreifliche, für jeden objektiven Beobachter zweifelsfrei und offenkundig ersichtliche Fehler besonderer Schwere vorliegen, um einen Rechtsakt gar nicht ins Leben treten zu lassen.85 Ist ein Rechtsakt unter Beachtung der Verfahrens- und Formvorschriften erlassen worden, so ist im Allgemeinen von seiner Geltung auszugehen.86 Begründungsmängel nehmen einem Rechtsakt nach heutiger Rechtsprechung ebenso wenig wie ein Verstoß gegen eine Anhörungs- oder Beteiligungspflicht die Wirksamkeit; sie führen allenfalls zur Aufhebung.87 Auch die materielle Fehlerhaftigkeit nimmt einem Rechtsakt grundsätzlich nicht die Geltung, wenn sie nicht derartig schwerwiegend und offensichtlich ist, dass sie nicht hingenommen werden kann.88
II. Kompetenztypen des Unionsrechts Nach Art. 5 Abs. 1 EG werden die Organe der EU nur dort tätig, wo der EU eine Kompetenz zugewiesen ist (Verbandskompetenz). Die Vorschrift spricht allgemein davon, dass die Union innerhalb der ihr gesetzten Grenzen „tätig wird“. Die Grenzen der Verbandskompetenz der Union entsprechen der Gesamtheit der Grenzen einzelner Kompetenzvorschriften. Welche Vorschriften des Vertrages Handlungsbefugnisse verleihen, muss im Wege der Konkretisierung ermittelt werden und kann hier nicht allgemein beschrieben werden. In Betracht kommt nur eine typisierende Einordnung. 1. Eindimensionalität der Kompetenzzuweisung Zu den Kennzeichen der unionalen Kompetenzordnung gehört zunächst, dass das Primärrecht der EU zwar der EU positive Kompetenzen zuweist, nicht aber zugleich auch mitgliedstaatliche Kompetenzen begründet. Anders als die typische Verfassung eines Bundesstaates ist die EU-Kompetenzordnung damit eindimensional: Sie begründet zwar EU-Kompetenzen, verzichtet aber darauf, den Mitgliedstaaten der EU Kompetenzen zuzuweisen. Bestimmungen wie jene der Art. 30, 70 GG finden sich im Primärrecht nicht. Soweit das Primärrecht Regelungen enthält,
85 86 87 88
EuG, Rs. T-156/89 (Fn. 82); EuGH, Rs. 15/85 (Fn. 81); Rs. C-137/92 P (Fn. 82). EuGH, verb. Rs. 15/73 u.a. (Fn. 82); vgl. auch Rs. 128/86, Spanien/Kommission, Slg. 1987, 4171; EuG, Rs. T-435/93, ASPEC u.a./Kommission, Slg. 1995, II-1281. EuGH, verb. Rs. 8/66–11/66, Cimentieres C.B.R. u.a./Kommission, Slg. 1967, 100. Erklärt der EuGH einen Rechtsakt aufgrund eines Verfahrensfehlers für nichtig, so führt dies nicht notwendig dazu, dass das Normgebungsverfahren von vorne begonnen werden muss. Es ist vielmehr denkbar, dass auf der Grundlage der rechtmäßig vorgenommenen Verfahrensschritte der Rechtsetzungsprozess wiederholt wird (EuGH, Rs. C-331/88, Fedesa, Slg. 1990, I-4023).
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die bestimmte Bereiche der mitgliedstaatlichen Zuständigkeit vorbehalten, handelt es sich nicht um Normen, die an die Mitgliedstaaten gerichtet sind. Diesen Normen liegt lediglich eine besondere Formulierungstechnik bei der Begründung (oder eben: Nicht-Begründung) von EU-Kompetenzen zu. In dieser Beschränkung drückt sich der Umstand aus, dass die EU und Mitgliedstaaten sich zu einem zwar föderalen, gleichwohl aber konsozialem Verband zusammengeschlossen haben, in dem die Mitgliedstaaten ihre Verfassungsautonomie bewahrt haben. Während die Mitgliedstaaten diese Regelungstechnik zur Wahrung ihres Selbststands verteidigen, sehen manche in dieser Eindimensionalität einen wesentlichen Grund für den unaufhaltsamen kompetenziellen Rutsch auf EU-Ebene und plädieren für die Einführung von Schutzvorkehrungen.89 Im Vertrag von Lissabon wird diese Forderung aufgegriffen (Art. 4 Abs. 1 EUV-Liss.), ohne dass allerdings mehr als einzelne substanzielle Grenzen des Ausgriffs der EU in den mitgliedstaatlichen Bereich hinein formuliert würden. 2. Positivierte und ungeschriebene Kompetenzen a) Der Regelfall: Kompetenzbegründung durch Vertragsbestimmung Typischerweise werden die Kompetenzen der EU durch geschriebene Kompetenzbestimmungen begründet. In den Gründungsverträgen findet sich bislang allerdings kein Kompetenzkatalog. Die Kompetenznormen sind vielmehr über die gesamte Breite des Vertragsrechts verstreut und häufig eng mit Wahrnehmungsbedingungen verflochten. Gelegentlich fällt die Unterscheidung, welche Bestandteile einer Vertragsbestimmung als Ermächtigungsnorm kompetenzbegründend sind und welche aufgrund ihres Ge- oder Verbotscharakters Wahrnehmungsbedingungen formulieren, schwer. Einige der Kompetenzbestimmungen sind eher eng gefasst, andere wiederum von scheinbar grenzenloser Weite. Die wohl weitgespannteste Bestimmung des EG-Vertrags findet sich in Art. 308 EG, wonach den Organen die Befugnis zum Erlass der geeigneten Vorschriften zukommt, um die im Rahmen des Gemeinsamen Marktes gesetzten Ziele zu verwirklichen.90 Diese Auffangkompetenz soll nach Auffassung des EuGH „einen Ausgleich in Fällen schaffen, in denen den Gemeinschaftsorganen durch spezifische Bestimmungen des Vertrags ausdrücklich oder implizit verliehene Befugnisse fehlen und gleichwohl Befugnisse erforderlich erscheinen, damit die Gemeinschaft ihre Aufgaben im Hinblick auf die Erreichung eines vom Vertrag festgelegten Ziels wahrnehmen kann.“91
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Siehe Davies (Fn. 47), S. 63. Ausführlich D. Winkler, in: Grabitz/Hilf (Fn. 12), Art. 308 EG. EuGH, Gutachten 2/94, EMRK, Slg. 1996, I-1759, Rn. 59.
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b) Ungeschriebene Kompetenzen durch EuGH-Rechtsfortbildung Das Unionsrecht enthält – auch im EG-Bereich – darüber hinaus sog. implied powers.92 Implizite Kompetenzen93 können in drei Formen auftreten:94 Sie begründen (1) als Annexkompetenz eine Zuständigkeit für die Regulierung von Vorbereitungs- und Durchführungsmaßnahmen, als (2) Kompetenz aus dem Sachzusammenhang die Regelung einer benachbarten Materie und (3) als Kompetenz aus der Natur der Sache die Zuständigkeit zur Regelung solcher Fragen, deren Regelung durch die Mitgliedstaaten offensichtlich unsinnig wäre.95 Im Gegensatz zu den geschriebenen Ermächtigungen und zu der subsidiären Generalermächtigung des Art. 308 EG handelt es sich bei diesem Kompetenztypus um ungeschriebenes Recht. Implied powers stellen nicht Ausnahmen vom Prinzip der begrenzten Ermächtigung dar, sondern bilden einen integralen Bestandteil der Ermächtigungsnormen des EG-Vertrags. Nach der insbesondere in den USA und in Deutschland entwickelten und im Völkerrecht anerkannten Lehre von den implied powers liegen Zuständigkeiten immer dann vor, wenn eine Materie, für die eine ausdrücklich zugewiesene Kompetenz besteht, verständlicherweise nicht geregelt werden kann, ohne dass gleichzeitig eine andere, nicht ausdrücklich zugewiesene Materie mitgeregelt wird. Gleichwohl entstand in der Literatur Streit darüber, ob die Lehre von den implied powers neben den Generalermächtigungen der Verträge (vgl. auch Art. 95 Abs. 1 EGKSV und Art. 203 EAGV) im Unionsrecht Anwendung finden kann oder ob sie nicht durch diese verdrängt wird.96 Heute ist anerkannt, dass die teilweise weit gefassten Generalermächtigungen ihren Platz neben den ungeschriebenen Kompetenzen haben.97 Der EuGH nahm die Befugnis, unter Rückgriff auf die implied powers-Doktrin ungeschriebene Kompetenzen zu entwickeln, bereits früh in Anspruch. Schon im Fédéchar-Urteil von 1956 ging der EuGH davon aus, dass die Hohe Behörde eine im EGKS-Vertrag nicht ausdrücklich vorgesehene Preisfestsetzungsbefugnis haben müsse, „um sich ihrer Aufgaben wirksam entledigen zu können.“98 In späteren Ur92 93
94
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Wegweisend: G. Nicolaysen, Zur Theorie von den implied powers in den Europäischen Gemeinschaften, EuR 1966, S. 129. Ohne dass sich eine einheitliche Terminologie herausgebildet hätte, werden in diesem Zusammenhang die Begriffe „Annexkompetenzen“, „implied powers“, Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs oder Kompetenzen kraft Natur der Sache verwendet. R. Kovar, Les compétences implicites: jurisprudence de la Cour et pratique communautaire, in: P. Demaret (Hrsg.), Relations extérieures de la Communauté européenne et marché intérieur, 1986, S. 15 ff. Nicolaysen (Fn. 92), S. 131. Vgl. Nachw. bei Ipsen (Fn. 36), bei Rn. 20/43–44 in Fn. 25. Beide Arten von Ermächtigungen bestehen nebeneinander, da sie jeweils an unterschiedliche Voraussetzungen anknüpfen. Ausgangspunkt für die implied powers ist immer eine ausdrückliche Kompetenznorm, die als Anknüpfungspunkt für die Ableitung stillschweigender Zuständigkeiten herangezogen wird. Demgegenüber geht es bei Art. 308 um die vertraglichen Ziele des EG-Vertrags, die als Grundlage für die Herleitung zusätzlicher Befugnisse dienen. EuGH, Rs. 8/55, Fédération Charbonnière de Belgique/Hohe Behörde, Slg. 1956, 297 (312).
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teilen stellte der EuGH heraus, dass „die von einem völkerrechtlichen Vertrag aufgestellten Vorschriften zugleich diejenigen Rechtssätze in sich schließen, ohne welche sie nicht sinnvoll und vernünftig angewendet werden können.“99 Die Herstellung einer Relation von interner Befugnis und äußerem Handlungsauftrag überzeugt. Gelegentlich finden sich allerdings auch überschießende Tendenzen – so etwa, wenn von der Formulierung einer Aufgabe auf die Existenz einer Kompetenz geschlossen wird.100 Die Rechtsprechung zu stillschweigenden Zuständigkeiten im internen Bereich hat der EuGH in weiteren Urteilen bestätigt.101 Der Gerichtshof hält insofern die Anwendung der sowohl im Völkerrecht als auch im innerstaatlichen Recht allgemein anerkannten Auslegungsregel für zulässig, wonach die Vorschriften eines völkerrechtlichen Vertrages oder eines Gesetzes zugleich diejenigen Vorschriften beinhalten, bei deren Fehlen sie sinnlos wären oder nicht in vernünftiger Weise zur Anwendung gelangen können.102 In der ersten Zeit seiner Beschäftigung mit ungeschriebenen Kompetenzen interpretierte der Gerichtshof diese Frage in Übereinstimmung mit der traditionellen völkerrechtlichen Doktrin restriktiv und stellte allein auf den Zusammenhang der in Frage stehenden Kompetenznorm ab.103 Später jedoch dehnte er den Anwendungsbereich erheblich aus, da er zwar weiterhin von einer konkreten Befugnisnorm ausging, die Notwendigkeit jedoch im Hinblick auf die Ziele des EG-Vertrages in den Art. 2 und Art. 3 EG bestimmte.104 Inzwischen geht der EuGH davon aus, dass (jenseits von Art. 135 EG und Art. 280 Abs. 4 EG) in Sachkompetenzen auch eine Befugnis zur Veranlassung strafrechtlicher Maßnahmen liegt. In seiner Entscheidung C-176/03 räumt der Gerichtshof zwar ein, dass die Zuständigkeiten für Regelungen des Strafrechts und des Strafprozessrechts „grundsätzlich“ nicht in die Zuständigkeit der EU falle.105 Dies könne, wie der EuGH in argumentativ zweifelsfrei defizitärer Weise anfügt, „den Gemeinschaftsgesetzgeber jedoch nicht daran hindern, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßi99 100 101 102
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EuGH, Rs. 20/59, Italien/Hohe Behörde, Slg. 1960, 681 (708). EuGH, verb. Rs. 281/85 u.a. (Fn. 40). EuGH, Rs. 20/59 (Fn. 99), 708; Rs. 25/59, Niederlande/Hohe Behörde, Slg. 1960, 745 (788). An das Kriterium der Notwendigkeit werden keine strengen Anforderungen gestellt: Soweit eine ausdrücklich zugewiesene Materie ohne den in Frage stehenden, vom Wortlaut der Kompetenznorm nicht erfassten Aspekt vernünftigerweise nicht geregelt werden kann, hat die Gemeinschaft eine Regelungskompetenz (EuGH, Rs. 165/87, Kommission/Rat, Slg. 1988, 5545, Rn. 7 ff.; verb. Rs. 281/85 u.a. (Fn. 40), Rn. 28. EuGH, Rs. 8/55 (Fn. 98), 311 f. EuGH, verb. Rs. 3/76, 4/76 und 6/76, Kramer, Slg. 1976, 1279, Rn. 17 ff.; Gutachten 1/76, Stillegungsfonds, Slg. 1977, 741 (755 f.). EuGH, Rs. C-176/03, Kommission/Rat, Slg. 2005, I-7879, Rn. 47 unter Verweis auf Rs. 203/ 80, Casati, Slg. 1981, 2595, Rn. 27; Rs. C-226/97, Lemmens, Slg. 1998, I-3711, Rn. 19. Hierzu etwa R. Hefendehl, Der EuGH stellt die strafrechtliche Kompetenzordnung auf den Kopf, in: J. Joerden u.a. (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland, 2007, S. 41.
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ger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstellt.“106 Diese Auffassung hat der EuGH in seiner Entscheidung der Rechtssache C-440/05 wiederholt.107 Er hat in diesem Zusammenhang allerdings auch ausdrücklich betont, dass „[d]ie Bestimmung von Art und Maß der anzuwendenden strafrechtlichen Sanktionen … nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft“ falle.108 Es ist nicht anzunehmen, dass die Lehre über die implied powers zu einer übermäßigen Kompetenzausweitung führen wird. Stillschweigende Kompetenzen können zum einen immer nur dann angenommen werden, wenn der Vertrag der Union eine sachliche Zuständigkeit für das betreffende Gebiet zuweist. Zum anderen gelten implied powers auch dann nur für die Bereiche, die notwendigerweise mit abgedeckt werden müssen, um der sachlichen Ermächtigung umfassend gerecht zu werden. Dazu gehören insbesondere die Durchführung von vertraglichen Ermächtigungen, die an sich den Mitgliedstaaten obliegt, und die Außenkompetenz, wie sie vom EuGH angenommen wird. Bei diesen Begrenzungen stellt sich die Lehre von den implied powers als eine nützliche Ergänzung zu der subsidiären Ermächtigung des Art. 308 EG dar und ist damit auch Ausdruck des Prinzips der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Union. c) Insbesondere: Ungeschriebene Kompetenzen im Außenbereich Bedeutung hat die Lehre von den implied powers vor allem im Bereich der Außenbeziehungen erlangt.109 In den siebziger Jahren hat der EuGH in mehreren Entscheidungen zur Frage Stellung nehmen müssen, inwieweit eine Befugnis zur Rechtsetzung nach innen zugleich die Befugnis zu einem völkerrechtlichen Handeln nach außen umfasst. In der wegweisenden, zu den wichtigsten Leitentscheidungen des EuGH gehörenden AETR-Entscheidung findet sich die Feststellung, dass das EURecht neben den geschriebenen auch ungeschriebene Außenkompetenzen begründe. Der EuGH betonte in dieser Entscheidung, dass sich Außenkompetenzen nicht „nur aus einer ausdrücklichen Verleihung durch den Vertrag [ergeben], wie in Art. 133 (jetzt 184) für die Zoll- und Handelsabkommen und in Art. 238 [jetzt 310] für die Assoziierungsabkommen ausgesprochen“. Sie können „auch aus anderen Vertragsbestimmungen und aus in ihrem Rahmen ergangenen Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane fließen“110. Im Kramer-Urteil111 und im Gutachten zum Stillegungsfonds112 fand diese Argumentation eine Bestätigung. In einer inzwischen ständigen Rechtsprechung geht der EuGH damit davon aus, dass die EU grundsätzlich überall dort, wo sie die Befugnis zur internen Rechtsetzung hat, auch völker106 107 108 109 110 111 112
EuGH, Rs. C-176/03, Kommission/Rat, Slg. 2005, I-7879, Rn. 48. EuGH, Rs. C-440/05, Kommission/Rat, Slg. 2007, I-9097. Ebd., Rn. 70. Hierzu vor allem: O. Dörr, Die Entwicklung der ungeschriebenen Außenkompetenzen der EG, EuZW 1996, S. 39 mit weiteren Nachweisen. EuGH, Rs. 22/70, AETR, Slg. 1971, 263, Rn. 15/19. EuGH, verb. Rs. 3/76, 4/76 und 6/76 (Fn. 104). EuGH, Gutachten 1/76 (Fn. 104).
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rechtliche Bindungen eingehen kann. Seine Rechtfertigung fand dieser Akt der Rechtsfortbildung113 in funktionalen Erwägungen zur Effektivität der Kompetenzordnung; systematisch lässt er sich als Schritt zur Konkretisierung impliziter Kompetenzen begreifen. In der Frage, unter welchen Voraussetzungen sich mit einer internen Kompetenz auch eine (implizite) Außenkompetenz verbindet, nahm der EuGH über die Jahre allerdings unterschiedliche Positionen ein. Die AETR-Entscheidung ließ sich in der Richtung verstehen, dass das Gebrauchmachen von einer internen Kompetenz Voraussetzung für die Entstehung einer impliziten Außenkompetenz ist.114 Im 1977 erstatteten Gutachten 1/76 gab der EuGH der Lehre von den impliziten Außenkompetenzen dann allerdings wesentlich mehr Raum. Nach Auffassung des EuGH sollte der EWG überall dort eine Außenkompetenz zustehen, wo „das Gemeinschaftsrecht den Gemeinschaftsorganen im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel im Innenverhältnis eine Zuständigkeit verleiht“.115 Die in diesem Fall bestehende Außenkompetenz decke alle völkerrechtlichen Verpflichtungen ab, die „zur Erreichung dieses Ziels“ erforderlich sind. Erforderlichkeit liege zum einen vor, wenn eine Beteiligung der EWG an der völkerrechtlichen Vereinbarung „notwendig ist, um eines der Ziele der Gemeinschaft zu erreichen“; Erforderlichkeit liege zum anderen aber auch dann vor, wenn von der internen Zuständigkeit bereits Gebrauch gemacht worden ist. Kritisch ließ sich gegen diese Konstruktion nicht nur einwenden, dass der Schluss vom Erlass internen Rechts auf die Notwendigkeit auswärtigen Handelns nicht trägt. Unzulässig ist auch der unmittelbare Schluss vom vertraglichen Ziel auf die Existenz einer (Außen-)Kompetenz, der den Grundlehren der unionalen Kompetenzordnung zuwiderläuft. Das EU-Recht unterscheidet, wie sich insbesondere Art. 5 Abs. 1 EG entnehmen lässt, ausdrücklich zwischen Zielen und Befugnissen (Kompetenzen). Ungeachtet dieser Begründungsmängel setzte sich in der Folge die Auffassung durch, dass die Gemeinschaft immer dann über Außenkompetenzen verfüge, wenn sie im inneren Bereich eine Zuständigkeit besitze. Schlagwortartig konnte von der „Parallelität von Innen- und Außenkompetenz“ oder von der „Einheit von Innen- und (impliziter) Außenkompetenz“116 gesprochen werden. Nicht der Schluss vom Ziel auf die Kompetenz, wohl aber der Schluss von der Innenkompetenz auf die Außenzuständigkeit war zulässig. Dieses Verständnis findet sich dann deutlich im Gutachten 2/91, in der es um die Zuständigkeit zum Beitritt zum ILO-Übereinkommen Nr. 170 ging.117 Nach Auffassung des EuGH folgte die Zuständigkeit der EG, diesem Übereinkommen beizutreten, implizit aus den sozialrechtlichen EG-Kompetenzen, namentlich Art. 118a EG-Vertrag. Die Konvention falle bereits deshalb in den Zuständigkeitsbereich der EG, weil der 113 114 115 116 117
Allgemein: U. Everling, Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 1998, S. 217. So EuGH, Rs. C-176/03 (Fn. 106); ähnlich die Sichtweise im Stillegungsfonds-Gutachten 1/76 (Fn. 104). EuGH, Gutachten 1/76 (Fn. 104) Rn. 3. R. Geiger, Besprechung, JZ 1995, S. 973 (976). EuGH, Gutachten 2/91, ILO-Übereinkommen Nr. 170, Slg. 1993, I-1061.
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Vertrag im einschlägigen Sachbereich interne Zuständigkeiten begründe. Die Frage nach der „Erforderlichkeit“ des Abschlusses stellte sich nicht mehr; das Bestehen einer Regelungskompetenz im Binnenbereich der EG brachte ohne weitere Voraussetzung die Entstehung einer Außenkompetenz mit sich. Im Gutachten vom 15. November 1994 über die Zuständigkeit der EU zum Abschluss des Vertrags über die WTO korrigierte der EuGH das in den Siebziger Jahren entstandene Bild erheblich.118 In der Zurückhaltung, mit der der EuGH in diesem Gutachten die Außenkompetenzen der EU interpretiert, drückt sich das in der ersten Hälfte der neunziger Jahre allgemein zu beobachtende Bemühen des EuGH um Herstellung einer ausbalancierten und ausgewogenen Zuständigkeitsverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten aus. Im WTO-Gutachten wies der EuGH die These von der unbedingten Parallelität von Binnen- und Außenkompetenzen ausdrücklich zurück. Der EU kam die Zuständigkeit zum Abschluss des Dienstleistungsabkommens GATS nicht bereits deshalb zu, weil die EU in diesem Sektor über Grundfreiheiten und dienstleistungs- und niederlassungsbezogene Harmonisierungskompetenzen weitreichende interne Zuständigkeiten hat. Ebenfalls stellte der EuGH fest, dass die Befugnisse, die die EU bei der Harmonisierung geistiger Eigentumsrechte im Binnenmarkt hat, nicht ohne weiteres eine Außenzuständigkeit begründeten. Außenkompetenzen würden nur dann und nur insoweit zur Entstehung kommen, wie die wirksame Wahrnehmung der Binnenkompetenzen notwendig die Begründung von Verpflichtungen gegenüber Drittstaaten voraussetze. Außenkompetenzen bestehen insofern nur dort, wo ihre Existenz Bedingung für die praktische Wirksamkeit der Binnenkompetenzen ist. Im Lichte dieser Voraussetzung war davon auszugehen, dass die EU nicht alle impliziten Zuständigkeiten hatte, die zum Abschluss der WTO-Verträge notwendig waren; das Abkommen wurde als gemischtes Abkommen von EU und Mitgliedstaaten abgeschlossen. In seinem Gutachten 2/92 zum OECD-Beschluss über die Inländerbehandlung bekräftigte der EuGH dann das neue Kompetenzverständnis. Auch hier stellt er fest, dass „die ausschließliche externe Zuständigkeit der Gemeinschaft nicht ohne weiteres aus ihrer Befugnis zum Erlass von Vorschriften auf interner Ebene folgt.“119 In den beiden Gutachten wurden damit die Anforderungen für das Bestehen einer Außenkompetenz erheblich angezogen: Weder reicht das Bestehen einer Binnenkompetenz aus, um eine implizite Außenbefugnis zur Entstehung kommen zu lassen, noch ergibt sich eine implizite Außenkompetenz bereits aus der Erforderlichkeit einer Abrundung einer Binnenkompetenz, also aus der Zweckmäßigkeit der Verfolgung eines hinter einer Binnenkompetenz stehenden Ziels durch interne und externe Maßnahmen. Ungeschriebene externe Zuständigkeiten weist die EU nur dort auf, wo eine Binnenkompetenz ihre praktische Wirksamkeit verlieren würde, wenn sie nicht durch externe Maßnahmen abgerundet würde, wenn also zwischen dem Ziel der Binnenkompetenz und der Möglichkeit externen Handelns ein untrennbarer Zusammenhang besteht. Der EuGH hat bislang allerdings nicht präzisiert, wann ein 118 119
EuGH, Gutachten 1/94, WTO, Slg. 1994, I-5267. EuGH, Gutachten 2/92, OECD-Beschluss, Slg. 1995, I-521.
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derartiger untrennbarer Zusammenhang besteht. Den Ausführungen im WTO-Gutachten lässt sich immerhin entnehmen, dass es für die Frage, ob der EU überhaupt eine ungeschriebene Außenkompetenz zukommt, nicht auf das Bestehen von Sekundärrecht, sondern auf eine teleologische, an den Zielsetzungen des Primärrechts orientierte Betrachtung ankommt. Vor dem Hintergrund gegenteiliger Annahmen im europarechtlichen Schrifttum ist zu betonen, dass der Umstand, dass die EU in einem Bereich bereits Sekundärrecht gesetzt hat, allein für die Qualität einer Außenkompetenz als ausschließlicher (dazu nachfolgend) von Bedeutung ist; für die Entstehung einer Außenkompetenz kommt es hierauf nicht an. Vielmehr stellt der EuGH in diesem letztgenannten Punkt allein auf den Zusammenhang zwischen dem primärrechtlichen Ziel und Bedarf für eine Außenmaßnahme ab. Dem WTO-Gutachten lässt sich zudem entnehmen, dass es für die zweckgerechte Wahrnehmung der Harmonisierungskompetenzen im Binnenmarktbereich nicht notwendig einer komplementären Außenkompetenz bedarf. Wo sich Marktöffnung und Rechtsangleichung durchführen lassen, ohne dass vertragliche Bindungen mit Drittstaaten begründet werden, besteht der geforderte „untrennbare Zusammenhang“ nicht. Das hinter dieser Feststellung stehende Prinzip lässt sich dahingehend abstrahieren, dass es externer Kompetenzen nur dort bedarf, wo die realen Zusammenhänge zwischen den Gegebenheiten in der EU und der internationalen Situation ein koordiniertes Zusammenspiel von interner und externer Regelung verlangen. Um einige Beispiele zu nennen: Effektive Umweltpolitik lässt sich heute nur noch dadurch betreiben, dass externe Maßnahmen zum Schutz vor grenzüberschreitenden oder globalen Beeinträchtigungen der Umwelt ergriffen werden. Verkehrspolitik setzt heute in vielen Fällen einen übergreifenden, auch die Außenbeziehungen in den Blick nehmenden Regelungsansatz voraus. Auf der anderen Seite lassen sich Harmonisierungsziele im Binnenmarkt regelmäßig auch dann verfolgen, wenn sie nur mit Blick auf Angehörige der Mitgliedstaaten verfolgt werden: Die Staatsangehörigkeit von Unternehmer und Dienstleistungserbringer lässt hier eine scharfe Abgrenzung zwischen Binnenbereich und Außensphäre zu. Insofern begründen die diesbezüglichen Binnenkompetenzen nicht zugleich auch ungeschriebene Außenkompetenzen. Im Lichte der jüngeren EuGH-Rechtsprechung120 kann damit festgehalten werden, dass das expansive, allein auf Machtgewinn der EU abzielende Kompetenzverständnis der frühen Jahre im Außenbereich überwunden ist. Der EuGH bemüht sich heute, zwischen dem Handlungsspielraum der EU und den Befugnissen der Mitgliedstaaten einen ausgewogenen Ausgleich herzustellen. Indem die Befugnisse der EU in jenen Bereichen, in denen die Verträge keine ausdrücklichen Außenkompetenzen bereithalten, erheblich beschnitten wurden, erfuhr die Rolle der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung der Außenbeziehungen eine Stärkung. Die EU hat so bislang im internationalen Raum – jenseits der handelspolitischen Kompetenzen – 120
In der Argumentation zurückhaltend auch EuGH, Rs. C-476/98, Kommission/Deutschland, Slg. 2002, I-9855, sowie weitere Verfahren zu Open Skies-Abkommen; ferner Rs. C-266/03, Kommission/Luxemburg, Slg. 2005, I-4805 (Betonung der Loyalitätspflicht); expansiver nunmehr wieder EuGH, Gutachten 1/03, Übereinkommens von Lugano, Slg. 2006, I-1145.
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keinen Selbststand erlangt. So beeindruckend auch die Dichte, Breite und Tiefe der inzwischen begründeten Außenbeziehungen der EU sind, so wenig ist doch zu übersehen, dass die Mitgliedstaaten ihre dominante Stellung in der internationalen Gemeinschaft121 bislang nicht aufgegeben haben. Die internationale Stellung der EU hinkt ihrer Stellung im föderalen Binnenzusammenspiel mit den Mitgliedstaaten hinterher. Die EU hat sich noch nicht zu einer „Supermacht“ entwickelt. 3. Kompetenzcharakteristika (Breite, Tiefe, Dichte, Modus, Ausrichtung) Die Kompetenzvorschriften des EU-Rechts lassen sich – ebenso wie jene des nationalen Rechts – im Hinblick auf Breite, Tiefe, Dichte, Modus und Ausrichtung der Ermächtigung charakterisieren. Der Begriff der Breite bezeichnet dabei den Umfang des lebensweltlichen Sachbereichs, den die ermächtigten Organe unter Wahrnehmung der Kompetenz abdecken können. Mit dem Begriff der Tiefe bezeichnet man die Reichweite, die die ermächtigten Handlungen in die mitgliedstaatliche Rechtsordnung hinein haben: Ein Rechtsakt, der lediglich die Mitgliedstaaten als Rechtssubjekte adressiert, greift weniger tief als ein Rechtsakt, der auch die nationalen Organe oder gar die Unionsbürger unmittelbar berechtigt oder verpflichtet. Mit der Dichte wird das Maß der inhaltlichen Detailliertheit bezeichnet, mit der eine kompetenzkonform vorgenommene Rechtshandlung ihren Regelungsgegenstand erfassen darf. Modal lässt sich nach der Art der ermächtigten Handlung zwischen genereller Rechtsetzung, rechtlicher Einzelfallentscheidung und Realakt differenzieren. Mit dem Begriff der Ausrichtung wird schließlich das Maß bezeichnet, mit dem dem ermächtigten Organ beim Gebrauch der Kompetenznorm inhaltliche Vorgaben gemacht werden. Mustert man im Lichte dieser Kategorien die vertraglichen Kompetenzbestimmungen, so ergibt sich ein vielfältiges Bild. Große Unterschiede weisen die EUKompetenzen zunächst im Hinblick auf die Breite auf. An die Seite von Kompetenzbestimmungen, die ihrer sachlichen Ausdehnung nach eher schmal sind, treten mit der Binnenmarktkompetenz des Art. 95 EG und der Auffangzuständigkeit des Art. 308 EG Kompetenzbestimmungen von enormer Breite. In dieser Vielfalt entspricht die EU-Kompetenzordnung den nationalen Verfassungsordnungen, wo sich ebenfalls Kompetenzbestimmungen ganz unterschiedlicher Breite finden – man denke nur an den Unterschied zwischen Art. 74 Abs. 1 Nr. 4a GG (Waffen- und Sprengstoffrecht) und Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft). Im Hinblick auf die ermöglichte Regelungstiefe ergeben sich Unterschiede vor allem zwischen den verschiedenen „Säulen“ des Primärrechts. Noch immer ist es der EU nicht möglich, im Bereich von GASP und PJZ unmittelbar wirkendes, für die Unionsbürger berechtigendes oder verpflichtendes Recht zu setzen.122 Die in diesen Bereichen existierenden Befugnisse reichen zwar nicht nur zur Adressierung 121 122
Hierzu M. Nettesheim, Das kommunitäre Völkerrecht, JZ 2002, S. 569. Vgl. aber EuGH, C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285. Allgemein zur Pflicht unionsrechtskonformer Auslegung: M. Nettesheim, Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts, AöR 109 (1994), S. 261.
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der Mitgliedstaaten als Rechtssubjekte; sie ermöglichen den rechtlichen Zugriff auf innerstaatliche Glieder ebenso wie auf nicht-rechtsfähige staatliche Handlungsakteure, vor allem die Organe. Den Bürger allerdings erreicht die EU in diesen Bereichen nicht. Anders demgegenüber im Bereich des EG- und EAG-Rechts, wo es zu den Wesensmerkmalen der Kompetenzen gehört, dass sie den unmittelbaren Zugriff auf die Unionsbürger ermöglichen. Damit entspricht das in der „ersten Säule“ gesetzte Recht in seiner Regelungstiefe grundsätzlich dem nationalen Recht; qualitative Unterschiede zwischen den EG-Kompetenznormen und den Kompetenznormen des nationalen Verfassungsrechts bestehen insoweit nicht. Eine Abstufung in der Regelungstiefe erfolgt allerdings auch in dem EG-Bereich: Soweit Kompetenznormen Rechtsetzung durch Verordnungen ermöglichen, ermöglichen sie eine weitergehende Regelungstiefe, als wenn sie lediglich den Erlass von Richtlinien erlauben. Unterschiede gibt es zwischen den EU-Kompetenznormen ferner auch im Hinblick auf das Maß der möglichen Regelungsdichte. Zwar enthält das Primärrecht – anders als beispielsweise bis 2006 das Grundgesetz – nicht ausdrücklich den Typus einer Rahmenkompetenz.123 Insofern wird die Regelungsdichte der kompetenzgemäß ergehenden Rechtsakte nicht bereits von EU-Verfassungs wegen begrenzt. Eine Differenzierung der Regelungsdichte erfolgt allerdings mittelbar über den Handlungstyp, den die Kompetenznorm ermöglicht: Der Handlungstyp der Verordnung stellt die Entscheidung, mit welcher Regelungsdichte die Rechtsverhältnisse geregelt werden, vollständig ins Belieben des Normgebers. Demgegenüber ist die Regelungsdichte bei Kompetenznormen, die den Erlass von Richtlinien vorsehen, jedenfalls dem Wortlaut des Art. 249 EG nach begrenzt: Richtlinien formulieren den vom nationalen Gesetzgeber herzustellenden Rechtszustand, überlassen diesem aber die Wahl der Form und Mittel. In der Praxis hat sich die Sichtweise, dass Richtlinien ein Mindestmaß an mitgliedstaatlichem Umsetzungsspielraum eröffnen müssen, allerdings nicht durchgesetzt. Die Wahlfreiheit bezieht sich auf die Instrumente der Umsetzung, nicht aber auf den sachlichen Gestaltungsspielraum. Bislang ist noch kein Kläger vor dem EuGH mit dem Argument durchgedrungen, eine Richtlinie sei mit Art. 249 EG unvereinbar, weil ihre Bestimmungen inhaltlich zu konkret seien. Entsprechendes gilt für den Rahmenbeschluss nach Art. 34 EU. Was den Modus der Ermächtigung angeht, liegt der Schwerpunkt der Kompetenzen bislang im Bereich der Rechtsetzung: Die EU ist Rechtsgemeinschaft, und ihr erstes und wichtigstes Kommunikations- und Steuerungsmittel ist das Recht. Rechtsetzungskompetenzen ermöglichen den Erlass von verbindlichen Rechtakten. Der jeweiligen Kompetenzbestimmung ist dabei zu entnehmen, welche Rechtsakttypen gewählt werden dürfen. Während einige der primärrechtlichen Bestimmungen die Wahl jedes unter dem jeweiligen Vertrag zur Verfügung stehenden Rechtsaktes ermöglichen, beschränken andere Kompetenznormen die Wahlfreiheit inhaltlich und geben bestimmte Typen inhaltlich vor. Die Wirkweise des jeweiligen Rechtsakttyps wird regelmäßig nicht in der Kompetenzbestimmung selbst, sondern 123
Vgl. Art. 75 GG a.F.
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in übergreifenden Regeln zur Charakterisierung und Ausgestaltung der Rechtsakte (z.B. Art. 249 EG) festgelegt. Es zeichnet den Integrationsverband aus und hebt ihn von anderen internationalen Organisationen ab, dass seine Organe zur Gesetzgebung (zur Setzung von law of the land) befugt sind. Im Blick liegen dabei nicht nur Verordnungen und Richtlinien; auch Beschlüsse können derartige allgemeinverbindliche Natur entfalten. In jenen Bereichen, in denen die Organe des Integrationsverbands verwaltend tätig werden, kommt in erster Linie die Entscheidung zum Tragen – sei es als staatengerichtete, die Mitgliedstaaten adressierende Entscheidung, sei es als bürgergerichtete, in den Bereich der Privatperson hineinwirkende Entscheidung. Darüber hinaus finden sich vielfältige Erscheinungen nicht-normsetzenden Realhandelns auf allen Ebenen der Zuständigkeit des Integrationsverbands. Bestimmungen, die der EU die Setzung rechtlich unverbindlicher Maßnahmen zur Steuerung mitgliedstaatlichen oder individuellen Verhaltens erlauben (nicht-regulative Kompetenzen), finden sich zum einen dort, wo es um die Koordinierung mitgliedstaatlichen Verhaltens geht, ohne dass der EU Rechtsetzung erlaubt werden soll (weiche Koordinierung). So findet sich in Art. 99 EG die Befugnis des Rates, auf der Grundlage einer Schlussfolgerung des Europäischen Rates mit qualifizierter Mehrheit eine Empfehlung zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik von Mitgliedstaaten und EU auszusprechen. Nach Art. 129 EG kann der Rat Anreizmaßnahmen zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ergreifen, um dem Auftrag zur Durchführung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie (Art. 125 EG) nachzukommen. Als Steuerungstypus hat die „Offene Methode der Koordinierung“ inzwischen erheblich an Bedeutung gewonnen; ihre Effektivität wird allerdings von Praktikern und akademischen Beobachtern sehr unterschiedlich eingeschätzt. Daneben kennt das EU-Recht parallele Kompetenzen, die es den Organen des Integrationsverbands ermöglichen, Anreize für mitgliedstaatliches oder privates Verhalten zu setzen. Derartige Anreizkompetenzen finden sich vor allem in den Bereichen Beschäftigung (Art. 129 EG), Bildung (Art. 149 Abs. 4 EG), Kultur (Art. 151 Abs. 5 EG) sowie Gesundheit (Art. 152 Abs. 4 lit. c EG). In der Sache kann es um Subventionen, um Preise und Auslobungen, um Empfehlungen oder um symbolische Aktionen der EU gehen. Als Rechtsaktstypus kommen alle Formen in Betracht, die ihrer Art nach für Mitgliedstaaten und Private unverbindlich bleiben – insbesondere Empfehlungen und Stellungnahmen, daneben aber auch adressatenlose Beschlüsse.124 Im Anwendungsbereich des Vertrags steht der Kommission nach Art. 211 EG die umfassende Kompetenz zur Abgabe von Empfehlungen zu. Im Hinblick auf den Kompetenzmodus lässt sich zudem eine Differenzierung danach vornehmen, wie weit die EU zur Verdrängung der Mitgliedstaaten aus dem jeweiligen Sachbereich befähigt werden soll. Einige Kompetenznormen, wie jene über die Währungs- oder Außenhandelspolitik, zielen auf eine gänzliche Übernahme des jeweiligen Sachbereichs durch die EU ab; andere hingegen sprechen davon, dass der EU eine „Ergänzung“ der mitgliedstaatlichen Politiken oder ein „Beitrag“ 124
Zu diesen J. Bast, in diesem Band, S. 514 f.
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zur Verwirklichung gemeinsamer Ziele ermöglicht werden soll. In diesem Zusammenhang sind in der ersten „Säule“ beispielsweise die Industriepolitik (Art. 157 EG), die Kohäsionspolitiken (Art. 158 ff. EG), die Forschungspolitik (Art. 163 ff. EG) oder die Entwicklungszusammenarbeit (Art. 177 ff. EG) zu nennen. Die Politiken der zweiten und dritten „Säule“ haben bislang ausschließlich einen akzessorischen Charakter. Von erheblicher Bedeutung ist im hier interessierenden Zusammenhang, dass sich die EU kompetenziell inzwischen über eine reine Rechtsgemeinschaft hinausentwickelt hat. Ihre Kompetenzen erlauben ihr auch die Ausübung physischer Gewalt. Die immer wieder geäußerte Behauptung, in diesem Punkte unterscheide sich die EU kompetenziell noch von einem Staate, ist so heute nicht mehr richtig. In den Feldern der Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 17 EU) sowie dem Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit (Art. 30 EU) sind die Kompetenzgrundlagen gelegt, um den Einrichtungen der EU echte physische Gewaltbefugnisse zu verleihen. Noch ist diese Entwicklung allerdings nicht zu ihrem Abschluss gekommen: Die entsprechenden Kompetenzen sind bislang nicht wirklich zu Leben erweckt worden. Dem gegenüber fällt die Kompetenzlage in der ersten „Säule“ ab: Unter dem EG-Vertrag steht der EU bislang keine Ermächtigung zur Ausübung physischer Gewalt und damit keine Polizeigewalt zu. Ist die EU hier zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen auf Gewalt angewiesen, bedarf sie der Mitwirkung der nationalen Organe. Deutlich spiegelt sich diese Angewiesenheit beispielsweise in der Kartellverordnung Nr. 1/2003 wieder.125 Beachtliche Unterschiede zwischen den Kompetenzbestimmungen der EU und jenen eines Staates ergeben sich schließlich im Hinblick auf die inhaltliche Ausrichtung. Staatliche Kompetenzen überlassen die Entscheidung darüber, wie in den kompetenziell eröffneten Bereichen zu handeln ist, regelmäßig dem politischen Ermessen der ermächtigten Organe. Um ein Beispiel zu nennen: Nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG wird dem Bundesgesetzgeber die Befugnis verliehen, Regelungen im Bereich der Wirtschaft zu treffen; eine Entscheidung darüber, wie diese Regelungen auszusehen haben, trifft die Kompetenzbestimmung nicht. Beschränkungen treten nur „von außen“ heran, vor allem durch die Grundrechte. Demgegenüber enthalten viele der Kompetenzbestimmungen der EU Rechtsgehalte, die der verliehenen Befugnis eine inhaltliche Ausrichtung geben: Der EU wird die Befugnis zur Rechtsetzung erteilt, um bestimmte konkrete Ziele zu verwirklichen. Häufig wird in diesem Zusammenhang von der „Finalität“ der Kompetenzbestimmungen gesprochen. Das Merkmal der „Finalität“ ist dabei gradualisierbar; Maß und Art der inhaltlichen Ausrichtung einer Kompetenznorm lassen sich stufenlos steigern. Insofern ist es verfehlt, zwischen Sachkompetenzen und final definierten Kompetenzen zu unterscheiden; möglich ist es aber, die Sachkompetenzen der EU nach dem Maß ihrer finalen Überlagerung zu klassifizieren.126 125 126
Zu dieser und ihrer Vorgängerin, der Verordnung Nr. 17: J. Drexl, in diesem Band, S. 921 ff. Hierzu etwa M. Zuleeg in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EGVertrag, 2003, Art. 5 EG, Rn. 4.
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Es gehört zu den kennzeichnenden Eigenarten des EU-Rechts, dass die programmatische Beredsamkeit der Verträge und ihre normative Bedeutung weit auseinanderfallen. Die Bedeutung der Zielvorgaben in Art. 2 und 3 EG war schon immer gering. Im Vertrag von Lissabon ist gar vorgesehen, dass diese Vorgaben ganz aufgehoben werden; sie sollen durch allgemeinere Bekenntnisse ersetzt werden (Art. 3 EUV-Liss.). Auch die normative Direktionsstärke der Vorgaben, die der von den Verträgen eingesetzten Hoheitsgewalt in konkreten Vertragsbestimmungen gemacht wird, ist überwiegend gering. Es ist ein Kennzeichen vieler der vertraglichen Bestimmungen, in wortreicher Blumigkeit Ziele und Anliegen des Vertragsgebers zu umschreiben.127 In manchen Kompetenznormen sind derartig viele und kollidierende Ziele erwähnt, dass man von nicht mehr als bloßen Entscheidungsgesichtspunkten sprechen kann. Insofern geht die Dichte der teleologischen Vorgaben, die sich in den Kompetenzbestimmungen findet, gelegentlich weit über das aus nationalen Verfassungen bekannte Maß hinaus. Zu Recht sieht es der EuGH allerdings nicht als seine Aufgabe an, den politisch handelnden Organen unter Berufung auf diese Formulierungen Bindungen aufzuerlegen. Dies schließt es nicht aus, dass sich im Kreis rechtswissenschaftlicher Interpreten mancher bereit findet, schöne Formulierungen in angeblich hartes Recht umzuschreiben. Es lässt sich mit Fug und Recht bezweifeln, dass Bemühungen (sei es des EuGH, sei es der Rechtswissenschaft) um eine stärkere Konturierung der inhaltsausrichtenden Gehalte einer Kompetenznorm überhaupt noch zeitgemäß sind.128 Es ist konsequent, die Zuständigkeiten der Organe eines Zweckverbands, der zur Verwirklichung bestimmter, von den Gründungsmitgliedern vorab definierter Ziele geschaffen wurde, primärrechtlich auszurichten. Insofern spiegelt sich im Bemühen der Vertragsgeber, durch ausführliche inhaltliche Vorgaben eine Vorabfestlegung des Gebrauchs von Hoheitsgewalt vorzunehmen, der ursprünglich apolitische, instrumentelle Charakter des Integrationsverbands. Wenn der EuGH in den ersten Jahrzehnten der Integration gleichwohl erhebliche justizielle Zurückhaltung in der Durchsetzung der Inhaltsfestlegungen an den Tag legte, so drückte sich hierin Respekt vor dem konsensualen Ergebnis (teilweise mühsamer) diplomatischer Verhandlungen aus. Demgegenüber kennzeichnet es die Verfassung eines genuin politischen Verbands, dass sie Fragen der Richtigkeit und Angemessenheit von Maßnahmen – innerhalb des von der Verfassung gezogenen Rahmens – dem politischen Prozess überantwortet. Jenseits der grundlegendsten Ausrichtung auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit überlässt es die Verfassung eines politischen Verbands den Organen, selbst festzulegen, welche Ziele verfolgt werden. Eine inhaltliche Ausrichtung der Kompetenznormen ist der Verfassung eines solchen Verbands eher fremd. Zwar ist nicht zu verkennen, dass sich auch in modernen Verfassungen politischer Verbände (über Staatszielbestimmungen und Grundrechte) Tendenzen einer zunehmenden verfassungsrechtlichen Einbindung der Hoheitsgewalt (und damit einher127 128
Besonders eindrücklich Art. 21 Abs. 2 EUV-Liss. Vgl. nunmehr auch EuGH, Rs. C-380/03 (Fn. 57); die Begründung überzeugt allerdings nicht.
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gehend: eine zunehmende Justizialisierung des Geschehens) manifestieren. Den Rahmencharakter der Verfassung stellen derartige Erscheinungen aber nicht grundsätzlich in Frage. Die Verfassung gewährt Herrschaftsmacht, deren Ausübung vor allem und zunächst der politischen Kontrolle durch funktional verschränkte politische Gewalten unterliegt. Richterliche Zurückhaltung bedeutet in diesem Zusammenhang Respekt vor den politisch zu verantwortenden Entscheidungen eines politisch handelnden Organs. Man würde sich wünschen, dass sich der EuGH dieser Zusammenhänge stärker bewusst und sie über die funktional-teleologische Interpretation stärker in die Kompetenznorminterpretation einfließen lassen würde. Er muss den Rahmencharakter der Verträge respektieren und darf die inhaltsausrichtenden Gehalte der Kompetenzbestimmungen nur dort zum Tragen bringen, wo die Mechanismen der politisch verantworteten Steuerung versagen. Die Bemühungen des EuGH um stärkere rechtliche Konturierung der inhaltlichen Ausrichtung von Kompetenznormen haben nur dort ihren Platz, wo es Gründe für die Annahme gibt, dass die Einforderung von Verantwortlichkeit und die Kontrolle der Rechtsetzung aufgrund struktureller oder sonstiger Hindernisse nicht richtig funktionieren. Die Gerichtsbarkeit des EuGH ist dabei vor allem dort zur Geltung zu bringen, wo die Mehrheit sich in einer Weise durchsetzt, die mit der Idee der gegenseitigen Rücksichtnahme auf nationale Identitäten (Art. 6 EU) unvereinbar ist. Der EuGH hat die Mitgliedstaaten davor zu schützen, in Bereichen majorisiert zu werden, in denen eine gemeinsame europäische Identität sich noch nicht in dem Maße herausgebildet hat, dass sich eine Minderheit bereits dem Mehrheitsvotum unterwerfen würde. Hier, aber auch nur hier hat der EuGH im Kompetenzstreit zwischen den Mitgliedstaaten seinen Platz. Bedauerlicherweise nimmt der EuGH in seiner Entscheidung zur Tabaketikettierungsrichtlinie zu derartigen Fragen funktionaler Natur keine Stellung; sie scheinen auch im Ergebnis nicht berücksichtigt worden zu sein. 4. Ausschließliche, konkurrierende und parallele Kompetenzen Die Kompetenzvorschriften des Unionsrechts lassen sich ferner danach charakterisieren, wie ihre Existenz und ihre Ausübung sich auf die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten auswirken. Art. 5 Abs. 2 EG lässt sich entnehmen, dass es im EURecht neben den ausschließlichen Kompetenzen auch Kompetenzen gibt, die ein Nebeneinander von EU und Mitgliedstaaten erlauben, also nicht zu einer Verdrängung der Mitgliedstaaten führen. In der deutschen Literatur zu europarechtlichen Kompetenzfragen werden dabei regelmäßig die folgenden Kompetenztypen unterschieden: Neben die ausschließlichen Kompetenzen stellt man konkurrierende und parallele Kompetenzen.129 Eine genauere Betrachtung der Kompetenzvorschriften des Primärrechts sowie der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EuGH belegt allerdings, dass diese Typologie unvollständig ist: Es finden sich auch komplementäre, nur im Zusammenwirken von EU und Mitgliedstaaten wahrnehmbare Be129
Jarass (Fn. 1), S. 173.
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fugnisse. Zudem haben sich in der bisherigen Entwicklung des Unionsrechts im internen Bereich allein ausschließliche, komplementäre und parallele, nicht aber konkurrierende Kompetenzen herausgebildet. Konkurrierende Kompetenzen existieren im Unionsrecht bislang ausschließlich im Bereich der Außenbeziehungen. Dies soll im Folgenden dargelegt werden. a) Die Qualifikation der internen Kompetenzen aa) Ausschließliche Kompetenzen Es kennzeichnet die ausschließlichen Kompetenzen der EU, dass sie schon aufgrund ihrer Existenz die Ordnung eines Sachbereichs der EU vorbehalten und mitgliedstaatliches Handeln ausschließen. Kompetenzbestimmungen, die ausschließliche Kompetenzen begründen, haben damit einen doppelten Regelungsgehalt: Sie begründen Zuständigkeiten der EU-Organe (positiver Gehalt); zur gleichen Zeit verbieten sie es den Mitgliedstaaten, in dem jeweiligen Sachbereich tätig zu werden (Sperrwirkung130).131 Ausschließliche Kompetenzen nehmen den Mitgliedstaaten nicht die Fähigkeit, im jeweiligen Sachbereich handeln zu können; sie bedeuten keinen Kompetenzverlust der Mitgliedstaaten. Die Sperrwirkung ist vielmehr rein obligatorischer Natur: Ein Mitgliedstaat verstößt gegen seine Vertragspflichten, wenn er in einem gesperrten Bereich tätig wird, ohne dass ihm dies das EU-Recht gestattete. Auch im Bereich ausschließlicher Kompetenzen ist mitgliedstaatliches Handeln damit nicht vollständig ausgeschlossen; es setzt allerdings eine spezifische sekundärrechtliche Gestattung voraus. In der Frage, wie weit die Sperrwirkung geht, besteht bislang keine Einigkeit; sicher ist lediglich, dass den Mitgliedstaaten die Befugnis zum Erlass verbindlicher Regelungen genommen ist. Bei der Beantwortung der Frage, welche Befugnisse der EU als ausschließlich anzusehen sind, herrschen Meinungsverschiedenheiten. Diese hängen nicht zuletzt damit zusammen, dass man sich unterschiedlicher Kriterien bedient, um zu entscheiden, ob ein Sachbereich ausschließlich von der EU geregelt werden kann. Vor allem im Kreise der EU-Institutionen132 war eine Sichtweise verbreitet, derzufolge eine ausschließliche Kompetenz der EU bereits dann entsteht, wenn eine bestimmte Regelungsaufgabe ihrer Art nach nur von der EU erledigt werden kann. Danach muss beispielsweise die Zuständigkeit zur Herstellung des Binnenmarktes deshalb als ausschließliche Kompetenz angesehen werden, weil es sich hierbei um eine Regelungsaufgabe handelt, die erfolgreich nur von einem überstaatlichen Hoheitsträger erledigt werden kann. Der vorzugswürdigen, aus dem deutschen Verfassungsrecht vertrauten Sichtweise zufolge133 beantwortet sich die Frage, ob eine ausschließliche Kompetenz vorliegt, im Hinblick auf einen konkreten Sachbereich danach, ob die Entfaltung der Sperrwirkung erforderlich ist, um der EU eine hinrei130 131 132 133
Hierzu z.B. E. D. Cross, Pre-emption of Member State Law in the European Economic Community, CMLRev. 29 (1992), S. 447. Definition in Art. 2 Abs. 1 AEUV. Siehe dazu etwa die Liste der Kommission in: Agence Europe v. 30. 10. 1992, Nr. 1804/05. W. Kahl, in: Calliess/Ruffert (Fn. 37), Art. 95 EG, Rn. 8 ff.
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chend effektive Aufgabenerfüllung zu ermöglichen. Es kommt dieser Sichtweise zufolge nicht auf die Frage an, ob sich die Aufgabe nur dadurch bewältigen lässt, dass ein einheitlicher Regelungsrahmen geschaffen wird.134 Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob sich mit der Parallelität von EU-Tätigkeit und mitgliedstaatlichem Wirken so große Gefahren für die effektive Aufgabenerledigung seitens der EU verbinden, dass diese Gefährdungslage durch einen vollständigen Ausschluss mitgliedstaatlichen Wirkens bekämpft werden muss. Sicher ist vor diesem Hintergrund, dass die Kompetenzen, die der EU im institutionellen Bereich der Selbstorganisation zustehen,135 als ausschließliche Kompetenzen zu begreifen sind. Soweit die Organe die Befugnis besitzen, auf die organisatorisch-institutionelle Ordnung Einfluss zu nehmen, handelt es sich um eine ausschließliche Befugnis. Die interne Selbstorganisation der Organe, der institutionelle Binnenaufbau der Verwaltung eines Organs, die interne Zuständigkeitsverteilung in einem Organ und die Ordnung der Rechtsbeziehungen zu den Bediensteten und zu den Bürgern sind Sachbereiche, in denen den Mitgliedstaaten keine Regelungsbefugnisse zustehen. Teilweise ist dies ausdrücklich im Vertrag festgelegt (Dienstrecht: Art. 283 EG; Verfahrensordnungen von EuGH und EuG: Art. 245 UAbs. 3, Art. 225 Abs. 4 EG), teilweise handelt es sich um ungeschriebene Kompetenzen kraft Natur der Sache. Unklarer ist demgegenüber die Rechtslage, was die Einordnung der der EU zugewiesenen Sachkompetenzen angeht. Teilweise qualifizieren die Verträge sachliche Zuständigkeiten ausdrücklich als ausschließliche Kompetenzen: So steht das Recht, die Ausgabe von Banknoten innerhalb der EU zu genehmigen, allein der Europäischen Zentralbank zu (Art. 106 Abs. 1 EG). Darüber hinaus enthält sich das Primärrecht allerdings weitgehend der Qualifizierung von Kompetenznormen und überlässt diese Aufgabe bislang dem politischen Prozess und der Rechtsprechung des EuGH. Mit dem Inkrafttreten der Vertragsänderungen von Lissabon würde sich dies ändern.136 Dort werden als ausschließliche innere Kompetenzen definiert: die Zollunion, die Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Wettbewerbsregeln, die Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, die Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik sowie die gemeinsame Handelspolitik. Man kann diese Aufzählung weitgehend als Beschreibung der gegenwärtige Rechtslage ansehen. In diesen Bereichen sind mitgliedstaatliche Handlungen daher unzulässig, auch wenn sie nicht gegen vorrangiges Europarecht verstoßen würden. Die vom EuGH ebenfalls behauptete ausschließliche Zuständigkeit im Bereich der Errichtung der gemeinsamen Agrarmärkte lässt sich demgegenüber mit guten Gründen bestreiten.137 134 135 136 137
Diese Möglichkeit besteht auch im Bereich der parallelen Kompetenzen; sie wird durch den Vorrang des Europarechts gewährleistet. Zu den diesbezüglichen Grenzen unten unter III. Vgl. aber Art. 3 AEUV. Vgl. z.B. v. Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 448; J.-C. Piris, Hat die Europäische Union eine Verfassung?, EuR 2000, S. 311 (332).
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bb) Komplementäre Kompetenzen Ausschließliche Kompetenzen sind dadurch gekennzeichnet, dass im einschlägigen Sachgebiet nur der ermächtigte Hoheitsträger handeln kann. Demgegenüber zeichnet es komplementäre Kompetenzen aus, dass ihre Wahrnehmung ein Zusammenwirken mehrerer Verbände verlangt. Die Existenz dieses Kompetenztypus wurde in der europarechtswissenschaftlichen Diskussion bislang meist übersehen.138 Seinen Grund mag dies vor allem in dem Umstand haben, dass Kompetenzen dieses Typs in der EU-Kompetenzordnung nur untergeordnete Bedeutung haben. So besteht beispielsweise bei der Errichtung und Fortentwicklung der Unionsbürgerschaft eine Komplementärkompetenz. Zwar wird das Institut als solches durch EU-Primärrecht geschaffen. Seine Fortentwicklung ist aber nach Art. 22 EG den insoweit zusammenwirkenden EU-Organen und den Mitgliedstaaten übertragen: Weder die EU noch die Mitgliedstaaten sind allein dazu befähigt, die rechtlichen Grundlagen dieses Instituts zu verändern. Sie müssen vielmehr zusammenwirken, um hier rechtlich tätig zu werden. Dementsprechend lässt sich auch die Kompetenz nach Art. 48 EU als Komplementärkompetenz bezeichnen; auch die Vertragsfortschreibung ist nur durch ein Zusammenwirken von EU und Mitgliedstaaten möglich. cc) Konkurrierende Kompetenzen? Es kennzeichnet den Typus konkurrierender Kompetenzen, dass sie den niedrigeren Rechtsträgern so lange das Handeln ermöglichen, wie nicht der übergeordnete Kompetenzträger von der Kompetenz Gebrauch gemacht und dadurch ein Handlungsverbot ausgelöst hat. Im Bereich konkurrierender Kompetenzen hätten die Mitgliedstaaten so lange das Recht, regelnd tätig zu werden, wie nicht die EU ihre Kompetenz wahrgenommen und ein Sachgebiet ausdrücklich geregelt hätte. Das Gebrauchmachen der Kompetenz löst eine primärrechtliche Sperrwirkung aus. Für die konkurrierenden Kompetenzen ist insofern kennzeichnend, dass es nicht der dem Sekundärrecht eingeschriebene Vorranganspruch ist, der dem Mitgliedstaat die Handlungsfreiheit nimmt, sondern ein unmittelbar im Vertrag angelegter und durch die Inanspruchnahme der Kompetenz ausgelöste Sperre. In der europarechtswissenschaftlichen Diskussion werden die meisten der Kompetenzen der EU im EG-Bereich dem Typus der konkurrierenden Kompetenz zugeordnet. Dieser Sichtweise zufolge finden sich konkurrierende Kompetenzen vor allem „im Kernbereich des Gemeinsamen Marktes, insbesondere in den Bereichen Zollunion, Agrarpolitik, Verkehrspolitik sowie als Harmonisierungskompetenzen zur Verwirklichung und Fortentwicklung des Binnenmarkts im engeren Sinne.“139 Insbesondere sei die wichtige Bestimmung des Art. 95 EG den konkurrierenden Kompetenzen zuzuordnen; sie ermögliche eine abschließende, mitgliedstaatliche Regelung sperrende Wirkung. Der hier vertretenen Sichtweise zufolge beruht diese Sichtweise auf einer unglücklichen Verwendung des Begriffs der konkurrierenden Kompetenz. Sie ver138 139
Auch in den Definitionen des Art. 2 AEUV findet dieser Typ keine Erwähnung. Vgl. z.B. v. Bogdandy/Bast (Fn. 1), S. 448.
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kennt, dass es das Wesensmerkmal der konkurrierenden Kompetenz ist, dass die Sperrwirkung von der (verfassungsrechtlichen oder primärrechtlichen) Kompetenznorm selbst ausgeht und nicht mittelbare Folge der Anwendung einer Vorrangregel im Hinblick auf das gesetzte Recht ist. Die (abschließende) Inanspruchnahme der Kompetenz, nicht die Kollision mit dem gesetzten Recht nimmt den untergeordneten Verbänden die Handlungsmöglichkeit. Geht man im Lichte dieses Verständnisses die Kompetenzbestimmungen des Primärrechts durch, so erweist sich, dass die EU im Bereich der Binnenbeziehungen keine konkurrierenden Kompetenzen hat. Hier sind ausschließlich parallele Kompetenzen nachzuweisen. Die gegenteilige Behauptung, Kompetenzbestimmungen wie jene des Art. 95 EG oder des Art. 175 EG seien ihrer Natur nach konkurrierende Kompetenzen, lässt sich in der Rechtsprechung des EuGH nicht belegen. Der EuGH geht vielmehr in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Wahrnehmung dieser Kompetenzbestimmungen als solcher die Mitgliedstaaten noch nicht daran hindert, ihrerseits in dem jeweiligen Bereich tätig zu werden – solange sie nur den Vorranganspruch des jeweiligen Sekundärrechts sowie die allgemeine Loyalitätspflicht des Art. 10 EG beachten. Eine primärrechtliche Sperrwirkung für den jeweiligen Sachbereich entfaltet die Rechtsetzung der EU im Binnenbereich nicht. Es ist vielmehr vor allem der Vorranganspruch des von der EU gesetzten Rechts, der den Mitgliedstaaten den Spielraum nimmt. Nicht die für den Typus der konkurrierenden Kompetenz kennzeichnende verfassungsrechtliche Sperrwirkung, sondern die dem konkreten Sekundärrechtsakt innewohnende Kollisionsauflösungsregel entzieht den Mitgliedstaaten Handlungsmöglichkeit. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine flächendeckende (rechtliche) Sperrwirkung, die den von der EU abschließend geregelten Bereich umfasst. Vielmehr geht es immer um eine punktuelle, durch eine konkrete vorrangige Norm ausgelöste (faktische) Sperrwirkung.140 Im Ergebnis ist insofern festzuhalten, dass das EU-Recht konkurrierende Kompetenzen nicht kennt. Die Bestimmungen, die vielfach als konkurrierende Kompetenzen bezeichnet werden, sind als parallele Kompetenzen anzusehen. Hinweisen ist allerdings darauf, dass der Vertrag von Lissabon im Bereich der „geteilten Kompetenzen“ den Kompetenztypus der konkurrierenden Kompetenz einführt (Art. 2 Abs. 2 AEUV).141 dd) Parallele Kompetenzen Parallele Kompetenzen (der AEUV spricht von „geteilten Zuständigkeiten“) sind dadurch gekennzeichnet, dass den Organen der EU ein Handeln ermöglicht wird, ohne dass die Inanspruchnahme ein an die Mitgliedstaaten gerichtetes Verbot auslösen würde, von ihren im gleichen Sachbereich liegenden Kompetenzen Gebrauch zu machen.142 Die Verbände beider Ebenen können zeitgleich im gleichen Sachbereich wirken, ohne dass die Wahrnehmung der Kompetenzen der EU Sperrwirkung 140 141
142
Hierzu auch Zuleeg, in: Groeben/Schwarze (Fn. 126), Art. 5 EG, Rn. 11. Auch nach den Bestimmungen des Vertrags von Lissabon bleiben Bereiche bestehen, in denen „geteilte Zuständigkeiten“ keine konkurrierende Kompetenzen sind, weil ihnen keine Sperrwirkung zukommt (Art. 4 Abs. 3 und Abs. 4 AEUV). Definition in Art. 2 Abs. 2 AEUV („geteilte Zuständigkeiten“).
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für die Mitgliedstaaten entfaltete. In Bereichen, in denen die EU parallele Kompetenzen hat, können ihre Organe und die Organe der Mitgliedstaaten nebeneinander wirken. Das Tätigwerden der EU-Organe führt nicht zu einer Verdrängung mitgliedstaatlichen Handelns. Faktische Verdrängungswirkung kann im Bereich paralleler Kompetenzen lediglich von dem Umstand ausgehen, dass das von der EU erlassene Recht Vorrangwirkung haben kann und in diesem Fall mitgliedstaatliche Rechtssetzung unanwendbar werden lässt. Zudem haben die Mitgliedstaaten auch im Bereich paralleler Kompetenzen das Gebot der gegenseitigen Loyalität zu beachten und sind deshalb daran gehindert, Maßnahmen zu ergreifen, mit denen die einheitliche und gleiche Wirksamkeit des EU-Rechts beeinträchtigt wird. Der hier vertretenen Auffassung zufolge sind alle internen Kompetenzen der EU, die nicht als ausschließliche Kompetenzen einzustufen sind, paralleler Natur. Eine Parallelität der Kompetenzen ist der vertragliche Regelfall. Die der EU zugewiesenen parallelen Kompetenzen143 lassen sich zunächst danach unterscheiden, ob sie zur Rechtsetzung befähigen und so die Auslösung eines Vorrangbefehls ermöglichen – oder ob sie lediglich „koordinierende“144 oder nicht-rechtsetzende „unterstützende“145 Politik ermöglichen. Rechtsetzung ermöglichen der EU insbesondere die Kompetenzbestimmungen zur Herstellung des Binnenmarktes, insbesondere im Sachbereich der Zollunion, der Agrarpolitik, der Verkehrspolitik sowie der Harmonisierung des Marktes für Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital. Darüber hinaus ist die EU auch bei der Marktüberwachung im Kartell- und Beihilfebereich zur Rechtsetzung befugt; auch hierbei handelt es sich um parallele Kompetenzen, die den Erlass von im Kollisionsfalle vorrangigen Sekundärrecht ermöglichen. An die Seite paralleler Kompetenzen, die zur Rechtsetzung ermächtigen, treten solche Kompetenzen, die lediglich Formen nicht-rechtsetzender Politik ermöglichen. Derartige Kompetenzen treten beispielsweise in den Bereichen Beschäftigung, Bildung, Kultur und Gesundheit (Art. 129, 149 IV, 151 V, 152 IV lit. c EG) auf. Sie ermöglichen der EU eine weiche, finanzielle oder sonstige Anreize setzende Politik. Häufig ergehen in diesen Politikfeldern Rechtsakte in Form des Beschlusses, mit dem die zur Durchführung der weichen Steuerung erforderlichen Schritte unternommen werden. Normenkollisionen zwischen steuerndem EU-Recht und zuwiderlaufendem nationalem Recht können hier nicht auftreten. Die Mitgliedstaaten sind allerdings nach Art. 10 EG verpflichtet, Maßnahmen zu unterlassen, durch die der von den EU-Organen angestrebte Erfolg gefährdet werden könnte.146 Parallele Kompetenzen lassen sich ferner im Hinblick darauf unterscheiden, welche Regelungsintensität sie der EU im Bereich der Harmonisierung mitgliedstaatlichen Rechts ermöglichen. Im Regelfall eröffnen die Kompetenznormen der EU die umfassende Möglichkeit zur Angleichung mitgliedstaatlichen Rechts. Der 143 144 145 146
Aufzählung der „geteilten“ Zuständigkeiten in Art. 4 AEUV. Hierzu etwa Art. 5 AEUV. Vgl. Art. 2 Abs. 5 AEUV. Aufzählung der Bereiche unterstützender Kompetenz in Art. 6 AEUV. EuGH, Rs. 242/87, Kommission/Rat (ERASMUS), Slg. 1989, 1425, Rn. 11, 19.
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EU stehen damit sowohl Vollharmonisierung als auch optionale Harmonisierung und Mindestharmonisierung frei. Im zweitgenannten Fall eröffnet das harmonisierende Sekundärrecht den Mitgliedstaaten die Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Regelungsoptionen, im letztgenannten Fall verlangt das EU-Recht den Mitgliedstaaten zwar ein Mindestschutzniveau ab, stellt es ihnen aber frei, über dieses Niveau hinauszugehen und höhere Schutzstandards beizubehalten. Kompetenzen dieses Typs finden sich beispielsweise in Art. 63 EG (Flüchtlings- und Asylrecht), in Art. 137 EG (Sozialbereich) sowie in Art. 31, 34 EU (Strafrecht). An vereinzelten Stellen weist der Vertrag zudem die Besonderheit auf, dass er parallele Kompetenzen der EU mit einer Klausel verbindet, die die Mitgliedstaaten von der Pflicht zur Befolgung des Sekundärrechts befreit (parallele Kompetenz mit mitgliedstaatlicher Freistellung). Zu nennen sind hier die Bestimmungen der Art. 95 Abs. 4–5 EG sowie Art. 176 EG. In beiden Fällen stellt es der Vertrag den Mitgliedstaaten frei, unter begrenzten Voraussetzungen und in einem im Einzelnen geregelten Verfahren Maßnahmen beibehalten zu können, die in ihrer Schutzwirkung über dem EU-Harmonisierungsstandard liegen. b) Der Bestand auswärtiger Kompetenzen Vor dem Hintergrund der vorstehenden Überlegungen ist festzuhalten, dass die EU bei der Wahrnehmung interner Befugnisse zwar ausschließliche und parallele, nicht aber konkurrierende Befugnisse besitzt. Anders fällt demgegenüber die Dogmatik der auswärtigen Kompetenzen aus.147 Die Befugnisse, die die EU im auswärtigen Bereich hat, sind hier teilweise ausschließlicher, im Übrigen aber konkurrierender Natur: Die Inanspruchnahme der EU-Kompetenzen löst von Primärrecht wegen Sperrwirkung aus. Sie nimmt den Mitgliedstaaten zwar nicht die Handlungsfähigkeit: Den Grundsätzen des allgemeinen Völkerrechts zufolge verlieren die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit, im vollem Umfang ihrer Hoheitsgewalt völkerrechtliche Bindungen einzugehen, durch Gründung der EU nicht. Die Bindungen, die das EU-Recht den Mitgliedstaaten auferlegt, sind obligatorischer Art, nehmen den Mitgliedstaaten aber nicht die völkerrechtliche Handlungsmacht.148 Wohl aber verletzen Mitgliedstaaten, die sich über die durch Inanspruchnahme der EU-Außenkompetenzen ausgelöste Sperrwirkung hinwegsetzen, ihre obligatorischen Pflichten. In Randbereichen existieren darüber hinaus parallele Kompetenzen. Im Einzelnen gilt: aa) Ausschließliche, konkurrierende und parallele Außenkompetenzen In einer Reihe von Entscheidungen hat der EuGH deutlich gemacht, dass zwischen der Frage, ob die EU überhaupt eine Außenkompetenz hat, und der Frage der Natur dieser Kompetenz zu unterscheiden ist.149 Selbst wenn der EU durch einen der primärrechtlichen Verträge eine außengerichtete Befugnis verliehen wird, bedeutet 147 148
149
Hierzu D. Thym, in diesem Band, S. 451 ff. Völkerrechtliche Verträge, die unter Verstoß gegen die interne Kompetenzverteilung zustande kommen sind, leiden allerdings bei Evidenz des Verstoßes ihrerseits unter einem völkerrechtlichen Mangel. Hierzu vor allem: Dörr (Fn. 109), S. 39.
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dies noch nicht, dass die Mitgliedstaaten in diesem Bereich zum Handeln nicht mehr befugt wären. Man ist sich darüber hinaus einig, dass eine Reihe der ausdrücklichen Außenzuständigkeiten der EU ausschließlicher Natur sind: so beispielsweise die Befugnis zum Abschluss handelspolitischer Abkommen (Art. 133 EG), zur Assoziierung von Drittstaaten (Art. 310 EG), zum Abschluss von Wechselkursvereinbarungen (Art. 111 EG), zur Durchführung einer Fischereipolitik (Art. 37 EG i.V.m. Art. 102 Beitrittsakte 1972) sowie zur Versorgung mit Kernbrennstoffen (Art. 52 ff. EAGV). In diesen Bereichen ist den Mitgliedstaaten völkerrechtliches Handeln untersagt, ohne dass es unionaler Maßnahmen zur Auslösung der Sperrwirkung bedürfte. Andere Zuständigkeiten sind ausdrücklich als parallele Zuständigkeiten ausgestaltet: Art. 170 EG (Forschung), Art. 174 Abs. 4 EG (Umwelt), Art. 181 EG (Entwicklungszusammenarbeit). In diesen Sachbereichen entfaltet das Primärrecht nie Sperrwirkung. Terminologische und inhaltliche Unklarheiten bestehen demgegenüber bis heute im Bereich der impliziten Außenkompetenzen. In der Rechtsprechung des EuGH, darüber hinaus aber auch in Stellungnahmen der EU-Organe liest man immer wieder, dass dieser Kompetenztypus als „ausschließliche Kompetenz“ angesehen werden könne – oder jedenfalls zu einer solchen Kompetenz werden könne. Eine genauere Betrachtung der EuGH-Rechtsprechung belegt allerdings, dass hier der Begriff der ausschließlichen Kompetenz fehl am Platze ist: Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des EuGH, dass die impliziten gemeinschaftlichen Außenkompetenzen der EU nicht bereits per se und als solche Sperrwirkung entfalten. Es handelt sich insofern entgegen einer verbreiteten Redeweise gerade nicht um „ausschließliche Kompetenzen“. Richtig ist es, die impliziten Außenkompetenzen als konkurrierende Kompetenzen anzusehen: Dieser Typus der unionalen Außenkompetenz löst für die Mitgliedstaaten Sperrwirkung aus, wenn die EU von ihren Befugnissen Gebrauch gemacht hat. Die Mitgliedstaaten verlieren ihre Handlungsbefugnis im völkerrechtlichen Bereich dann, aber auch erst dann, wenn die EU eine bestehende Kompetenz durch die Begründung völkerrechtlicher Bindungen wahrgenommen hat. Erst dann entsteht die einer konkurrierenden Kompetenz eigene Sperrwirkung, und es ist dies gerade nicht die Rechtsfolge einer Vorrangnorm, sondern das der Kompetenznorm selbst eingeschriebene Handlungsverbot. Insofern handelt es sich hier um echte konkurrierende Kompetenzen. Zur Frage, in welcher Form die EU von einer auswärtigen Kompetenz Gebrauch gemacht haben muss, um die Sperrwirkung auszulösen, ist inzwischen eine reichhaltige Rechtsprechung des EuGH ergangen. Schon in der AETR-Entscheidung stellte der EuGH fest, dass „die Mitgliedstaaten außerhalb des Rahmens der Gemeinschaftsorgane keine Verpflichtungen eingehen können, welche Gemeinschaftsrechtsnormen, die zur Verwirklichung der Vertragsziele ergangen sind, beeinträchtigen oder in ihrer Tragweite ändern können.“150 Auch in späteren Gutachten ging der EuGH davon aus, dass eine bestehende Außenkompetenz der EU nicht bereits dann ausschließlichen Charakter entwickle, wenn überhaupt irgendwelches Sekun150
EuGH, Rs. 22/70 (Fn. 110), Rn. 19.
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därrecht im betreffenden Bereich ergangen ist. Im WTO-Gutachten formuliert der EuGH, dass „nur in dem Maße, wie gemeinsame Vorschriften auf interner Ebene erlassen werden, die externe Zuständigkeit der Gemeinschaft zu einer ausschließlichen (werde).“151 Ausschließlichkeit entfalte eine Außenkompetenz allerdings nur dann, wenn mitgliedstaatliche Maßnahmen geeignet sind, in diesem Bereich bestehendes EU-Recht in seiner Tragweite oder Wirkung „zu beeinträchtigen“.152 Es ist insofern davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten ihre völkerrechtlichen Handlungsbefugnisse in einem Bereich, in dem der EU eine auswärtige Kompetenz zusteht, nur in dem Umfang verlieren, in dem die Begründung mitgliedstaatlicher völkerrechtlicher Bindungen zu einer Wirksamkeitsschmälerung bestehenden primären oder sekundären EU-Rechts führen würde.153 Es ist in diesem Zusammenhang davon auszugehen, dass die Sperrwirkung nicht nur durch den Erlass einer Verordnung ausgelöst werden kann (AETR-Konstellation); die Mitgliedstaaten sind an der Wahrnehmung ihrer auswärtigen Kompetenzen auch dadurch gehindert, wenn sie dadurch die Zielsetzungen harmonisierender Richtlinien oder sonstigen Sekundärrechts beeinträchtigen würden. Im ILO-Gutachten154 konnte der EuGH vor diesem Hintergrund feststellen, dass eine Beeinträchtigung der von der EWG auf der Grundlage des Art. 118a EWG-Vertrag erlassenen Richtlinien nicht in Betracht komme; diese Richtlinien waren nach Art. 118a Abs. 3 EWG-Vertrag Mindestvorschriften, die die Mitgliedstaaten nicht daran hinderten, weiter gehende völkerrechtliche Bindungen durch Unterzeichnung einer ILO-Konvention einzugehen. In Bereichen, in denen das Richtlinienrecht eine abschließende Harmonisierung des Arbeitnehmerschutzes vorsah, bejahte der EuGH demgegenüber eine Beeinträchtigungsgefahr und ging deshalb davon aus, dass die europarechtliche Kompetenzbestimmung ihre Sperrwirkung entfaltet habe. Im WTO-Gutachten stellte der EuGH fest, dass die EU im Bereich von GATS und TRIPS bislang keine ausschließlichen Kompetenzen erlangt habe, weil sie diese Bereiche noch nicht abschließend harmonisiert habe.155 In der Entscheidung MOX-Plant156 wird die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH betont, die Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen; der Versuch eines Mitgliedstaats, derartige Fragen vor internationalen Gerichten entscheiden zu lassen, ist unionsrechtswidrig. Der Vertrag von Lissabon sieht vor, dass der Bereich der ausschließlichen Außenkompetenzen ausdrücklich umschrieben wird.157 Ungeachtet der Außenkompetenzen, die der EU explizit oder implizit zugewiesen sind, haben die Mitgliedstaaten über weite Bereiche auswärtige Befugnisse gewahrt, und zwar nicht nur in jenen (schwindenden) Sachbereichen, in denen die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bislang nicht angetastet worden ist, son151 152 153 154 155 156 157
EuGH, Gutachten 1/94 (Fn. 118), Rn. 77. Ebd., Rn. 17; ausführlich zur Entwicklung der Rechtsprechung: D. Thym, in diesem Band, S. 452 ff. EuGH, Gutachten 1/94 (Fn. 118), Rn. 17. EuGH, Gutachten 2/91 (Fn. 117). EuGH, Gutachten 1/94 (Fn. 118), Rn. 77; Rs. C-431/05, Merck, Slg. 2007, I-7001. EuGH, Rs. C-459/03, Kommission/Irland, Slg. 2006 I-4635. Art. 3 Abs. 2 AEUV.
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dern auch und gerade dort, wo die EU parallele oder konkurrierende, allerdings mangels Davongebrauchmachens noch nicht sperrende Kompetenzen hat. In diesen Bereichen kommt es zu Kompetenzüberschneidungen – mit der Folge, dass Mitgliedstaaten und EU gemeinsam auf internationaler Bühne auftreten. Im Falle paralleler Kompetenzen handelt es sich um eine dauerhafte Kompetenzüberschneidung;158 im Falle konkurrierender Kompetenzen tritt die Überschneidung nur solange auf, bis die EU von ihrer Kompetenz Gebrauch gemacht und so die Sperrwirkung zur Entfaltung gebracht hat. Im Falle derartiger Kompetenzparallelität sind die Mitgliedstaaten über Art. 10 EG zu Loyalität und Rücksichtnahme gezwungen; auch die EU muss sich bei der Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten versichern, dass sie ihre Pflicht zur Mitgliedstaatstreue nicht verletzt. Der EuGH hat diese Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme in verschiedenen Entscheidungen ausdrücklich betont, ohne ihr allerdings bislang eine ins Einzelne gehende Konkretisierung zu verleihen.159 Bei Vorliegen konkurrierender oder paralleler Außenzuständigkeit (d.h. vor allem bei Heranziehung der Lehre von den ungeschriebenen Außenkompetenzen) ist das Subsidiaritätsprinzip nach Art. 5 Abs. 2 EG zu beachten.160 Faktisch entfaltet dieses Prinzip im Bereich der konkurrierenden Außenkompetenzen deshalb keine Wirkung, weil der EuGH heute (im Lichte der Gutachten 1/94 und 2/92) so hohe Anforderungen an die Existenz einer ungeschriebenen konkurrierenden Außenkompetenz stellt, dass im Falle der Erfüllung dieser Anforderungen immer auch die Vorgaben des Subsidiaritätsprinzips gegeben sein dürften. Demgegenüber hat das Subsidiaritätsprinzip im Bereich der parallelen Kompetenzen einen wichtigen Anwendungsfall; es ist zu bedauern, dass es gerade hier bislang in Praxis und Rechtswissenschaft nicht richtig akzentuiert worden ist. bb) Komplementäre Ausübung der auswärtigen Gewalt (Gemischte Abkommen) Es ist eine gängige Erscheinung, dass internationale Abkommen von der EU und den Mitgliedstaaten gemeinsam (als „Gemischte Abkommen“) abgeschlossen werden.161 Zu den bekanntesten Beispielen derartiger Gemischter Abkommen gehören die WTO-Verträge, die Abkommen von Lomé sowie eine Vielzahl von Kooperations- und Rohstoffabkommen. Der Abschluss eines Abkommens als Gemischtes Abkommen ist rechtlich zwingend geboten, wenn und soweit sein Inhalt über die Kompetenzsphäre von EU hinausreicht und in den Zuständigkeitsbereich der Mit158 159 160 161
So z.B. im Falle der humanitären Hilfe zugunsten eines Drittstaates (EuGH, Rs. C-181/91, Kommission/Rat, Slg. 1993, I-3685) oder im Falle umweltpolitischer Verträge. EuGH, Gutachten 1/76 (Fn. 104); Rs. 1/78, Euratom, Slg. 1978, 2151; Gutachten 1/94 (Fn. 118). Oppermann (Fn. 43), § 30 Rn. 24. Hierzu z.B. N.-A. Neuwahl, Joint Participation in International Treaties and the Exercise of Power by the EEC and its Member States, CMLRev. 28 (1991), S. 717; K.-D. Stein, Der gemischte Vertrag im Recht der Außenbeziehungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1986; R. Arnold, Der Abschluß gemischter Verträge durch die Europäischen Gemeinschaften, AVR 19 (1980/81), S. 417.
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gliedstaaten ragt.162 Dies ist zum einen dann der Fall, wenn sich in dem Abkommen sachliche Bestimmungen finden, für deren Abschluss die EU keine (ausdrückliche oder implizite) Außenkompetenz hat; zu einem Gemischten Abkommen kommt es zum anderen aber auch, wenn die Durchführung des Abkommens nicht von der EU allein geleistet werden kann und daher die Beteiligung der Mitgliedstaaten verlangt. In beiden Fällen wäre die EU von Rechts wegen nicht fähig, das Abkommen alleine abzuschließen; die Mitgliedstaaten hätten zwar (als souveräne Völkerrechtssubjekte) die Fähigkeit, sich zu binden, würden aber dadurch gegen ihre unionsrechtlichen Pflichten verstoßen. Nur im Zusammenspiel von EU und Mitgliedstaaten lässt sich eine kompetenzordnungsgemäße und umfassende Bindung erzeugen. Schließen EU und Mitgliedstaaten ein Gemischtes Abkommen ab, so wird die EU an den Inhalt des Abkommens nur in dem Umfang gebunden, in dem sie die Abschlusskompetenz hat. Demgegenüber binden sich die hierzu befähigten Mitgliedstaaten an den gesamten Vertragsinhalt. Diese Sichtweise ist schon deshalb zwingend, weil sich die EU über den Abschluss gemischter Abkommen keine Kompetenzen verschaffen oder Pflichten begründen kann, die außerhalb ihres (begrenzten) Zuständigkeitsbereichs liegen. Die Völkerrechtssubjektivität der EU ist (noch) begrenzt; anders als ein Staat hat die EU – einer internationalen Organisation vergleichbar – nur dort völkerrechtliche Zuständigkeiten, wo ihr entsprechende Befugnisse im Gründungsvertrag zugewiesen worden sind. Der Unterschied zwischen einer unbegrenzten Völkerrechtssubjektivität des souveränen Staates und der begrenzten Völkerrechtssubjektivität einer (wenn auch besonderen) internationalen Organisation kann nicht mit Hilfe Gemischter Abkommen überspielt werden. Insofern ist der überwiegenden Meinung, derzufolge bei Gemischten Verträgen alle Partner, also EU und Mitgliedstaaten, an den gesamten Vertragsinhalt gebunden sind,163 zu widersprechen. Der hier vertretenen Auffassung lässt sich auch nicht der Gedanke der Rechtssicherheit entgegenhalten: Wer mit einer internationalen Organisation in völkerrechtliche Beziehungen tritt, muss wissen, dass deren Zuständigkeitsbereich (anders als jener eines Staates) begrenzt ist und sich deshalb nur auf solche Verpflichtungen erstrecken kann, die in den Kompetenzbereich fallen. Rechtssicherheitsgesichtspunkte rechtfertigen es nicht, die Kompetenzordnung zu überspielen. Ist einem Vertragspartner die interne Kompetenzabgrenzung zwischen EU und Mitgliedstaaten unklar (in der Tat kann die Abgrenzung häufig schwierig sein), so kann er vor Vertragsabschluss auf Klärung drängen. Immer wieder kommt es vor, dass das Instrument des Gemischten Abkommens auch dort verwendet wird, wo sein Inhalt eine komplementäre Ausübung der auswärtigen Gewalt durch EU und Mitgliedstaaten eigentlich nicht rechtfertigt. Teilweise versucht man, Kompetenzabgrenzungsschwierigkeiten und Kompetenzstreitigkeiten dadurch zu vermeiden, dass man auf das elegante und versöhnende Instrument des Gemischten Abkommens zurückgreift. In vielen Fällen sind es poli162
163
Hierzu Neuwahl (Fn. 161), S. 717; aus jüngerer Zeit etwa: GA Colomer zu EuGH, Rs. C-339/ 05, Zentralbetriebsrat, Slg. 2006, I-7079; GA Mengozzi zu Rs. C-91/05, Kommission/Rat, Slg. 2007, I-3651. Arnold (Fn. 161), S. 419; Oppermann (Fn. 43), § 30 Rn. 22.
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tische Gründe, die die EU und die Mitgliedstaaten zur Verwendung des Instruments veranlassen, so z.B. im Bereich der Handels- und Entwicklungspolitik. Man erklärt sich diesen politisch motivierten Gebrauch dadurch, dass damit „eine Art psychologischen Ersatz[es] für den nationalen Kompetenzverlust infolge der teilweisen Vergemeinschaftung der Außenbeziehungen“ gewährt werde.164 Integrationspolitisch darf man der darin liegenden Verwischung von Kompetenzgrenzen nicht unkritisch gegenüberstehen. Europarechtlich hingegen lassen sich gegen den gemischten Abschluss in Bereichen, in denen die EU auch allein handeln könnte, keine Einwände formulieren: Es gibt keinen Rechtssatz des Unionsrechts, der die EU daran hinderte, sich beim Abschluss von Verträgen in ihrem Kompetenzbereich der Unterstützung der Mitgliedstaaten zu versichern. Zwar werden die Mitgliedstaaten (als Mitvertragspartner) in vollem Umfang des gemischten Abkommens gebunden; im Innenverhältnis von EU und Mitgliedstaaten werden die Zuständigkeiten durch den gemischten Abschluss aber nicht angetastet. cc) Actio pro unionem Im Grundsatz steht außer Frage, dass die EU die ihr explizit oder implizit zustehenden Kompetenzen durch ihre Organe in den dafür vorgesehenen Verfahren (z.B. Art. 300 EG) selbst auszuüben hat. Teilweise lassen es allerdings die äußeren Umstände nicht zu, dass die EU selbst im internationalen Raum auftritt. Dies kann zum einen daran liegen, dass das Gründungsstatut einer internationalen Organisation oder ein multilateraler Vertrag das Auftreten oder die Mitgliedschaft einer Organisation wie der EU nicht zulassen (so beim GATT 1947; bei der UN165 oder beim IWF). Es kann auch daran liegen, dass es um die Beziehungen zu Staaten geht, die die Völkerrechtsfähigkeit der EU nicht anerkennen (so die Position der UdSSR bis 1984166). In diesen Fällen obliegt es den Mitgliedstaaten, für die EU aufzutreten. Dabei haben sich die Mitgliedstaaten an den Interessen der EU zu orientieren; sie sind Sachwalter des gemeinsamen Interesses und haben ihr Vorgehen mit den EUOrganen aufs Engste abzustimmen.167
III. Die Wahl zwischen verschiedenen Kompetenznormen Die vorstehenden Überlegungen haben sich mit dem Kompetenzbestand der EU befasst. Der Erlass von Rechtsakten oder die Vornahme sonstiger Handlungen setzt allerdings nicht nur voraus, dass überhaupt eine entsprechende Verbandskompetenz besteht. Voraussetzung ist weiter, dass die zu erlassende Verordnung, Richtlinie, Entscheidung, der zu erlassende Beschluss oder die sonstige Entscheidung auf die richtige Kompetenzgrundlage gestützt wird. Schwierigkeiten ergeben sich in die164 165 166 167
Oppermann (Fn. 43), § 30 Rn. 22. Zur Umsetzung eines UN-Embargos vgl. EuGH, Rs. C-124/95, Centro-Com, Slg. 1997, I-81. P. Kapteyn/T. VerLoren van Themaat, Introduction to the Law of the European Communites, 1998, S. 1323 f. Zu den Voraussetzungen M. Pechstein, Die Mitgliedstaaten als „Sachwalter des gemeinsamen Interesses“, 1987, S. 75 ff.; R. Streinz, Europarecht, 2005, Rn. 150.
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sem Bereich, weil die Kompetenznormen des Primärrechts sich nicht randscharf voneinander abgrenzen lassen, sondern sich teilweise überschneiden. Rechtliche Relevanz hat die Frage nach der richtigen Kompetenzgrundlage, weil sich nach der Kompetenzgrundlage Organkompetenz, Handlungsformen und Verfahren bestimmen; die Kompetenzgrundlagen des Primärrechts sehen teilweise erhebliche Unterschiede vor. Der EuGH hat sich in den letzten Jahren vielfach mit dem Problem der Kompetenzwahl befassen müssen.168 Zur Bewältigung des Problems sind drei Fragen zu klären. In einem ersten Schritt geht es um die Bestimmung des Umfangs der in Frage kommenden Kompetenznormen. Ergeben sich hierbei Überschneidungen, so steht – zweitens – die Möglichkeit offen, Kompetenznormen durch Spezialitätsund Subsidiaritätsregeln mit anderen Wahrnehmungsberechtigungen in Abstimmung zu bringen. Andernfalls ist – drittens – festzulegen, nach welchen Zuordnungsregeln ein Rechtsakt behandelt werden soll, der in den Überschneidungsbereich fällt. Enthält ein Rechtsakt inhaltlich trennbare Regelungen, so bedarf es dabei einer gesonderten inhaltlichen Zuordnung. Jede Rechtsfolgeanordnung muss getrennt untersucht und zugeordnet werden, was dazu führen kann, dass mehrere Rechtsgrundlagen in der Begründungserwägung zu nennen sind.169 Klärungsbedürftig ist zunächst, welchen Kompetenznormen die Bestimmungen eines Rechtsaktes überhaupt zugeordnet werden können. Zu einer Kompetenzüberschneidung kommt es nur, wenn diese Prüfung ergibt, dass die Bestimmungen zwei oder mehreren Rechtsgrundlagen unterfallen. In seiner Entscheidung vom 5. Oktober 2000 stellte der EuGH beispielsweise fest, dass Art. 95 EG eine Regelung, durch die die Werbung für Tabakprodukte weitgehend verboten würde, nicht als Maßnahme zur Herstellung des Binnenmarktes oder als Maßnahme zur Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit anzusehen sei.170 Insofern kam der EuGH nicht umhin festzustellen, dass die Vorschriften der Art. 95, 55 i.V.m. 47 EG bereits sachlich nicht einschlägig waren und daher die Richtlinie nicht tragen konnten. Ergibt die Prüfung demgegenüber, dass zwei oder mehr Kompetenzgrundlagen sachlich einschlägig sind und daher die Möglichkeit einer mehrfachen Zuordnung besteht, so ist zunächst zu fragen, inwieweit Spezialitätsregeln171 oder Subsidiaritätsregeln zur Anwendung kommen. Solche Regeln lassen sich im Vertrag z.B. in allgemeiner Form in Art. 308 EG,172 in Art. 34 Abs. 2 EG für das Verhältnis zum Außenhandel (Art. 133 EG)173 168 169
170 171 172
173
Überblick bei: M. Nettesheim, Horizontale Kompetenzkonflikte im EG-Recht, EuR 1993, S. 243. Vgl. z.B. Richtlinie 90/531 betreffend die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor, ABl. 1990 L 297, S. 1, die auf Art. 57 Abs. 2, 66, 100a und 113 EWGV gestützt ist. EuGH, Rs. C-376/98 (Fn. 56). So für das Verhältnis von Art. 95 und Art. 175 EWGV die Kommission in: EuGH, Rs. C-300/ 89, Kommission/Rat (Titandioxid), Slg. 1991, I-2867. Zu Art. 308 EG siehe EuGH, Rs. 45/86, Kommission/Rat (Allgemeines Präferenzsystem), Slg. 1987, 1493; Rs. 242/87, Kommission/Rat, Slg. 1989, 1425; verb. Rs. C-51/89, C-90/89 und C-94/89, Großbritannien u.a./Rat, Slg. 1991, I-2786; Rs. C-295/90, Parlament/Rat (Studentenrichtlinie), Slg. 1992, I-4193. EuGH, Rs. C-131/87, Kommission/Rat (Drüsen und Organe), Slg. 1989, 3371, Rn. 28.
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sowie in Art. 95 EG für das Verhältnis zu Art. 94 EG174 nachweisen. Soweit sich solche Anordnungen positiv-rechtlich finden, folgt der Gerichtshof ihnen im Regelfall. Eine Ausnahme soll jedoch für Art. 95 EG („Soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt ist, …“) gelten, dessen Subsidiaritätsklausel der Gerichtshof nicht anwendet.175 Bei Fehlen einer ausdrücklichen Anordnung hingegen lehnte der Gerichtshof diese Möglichkeit der Vermeidung von Kompetenzkonflikten – meist implizit – ab.176 Obgleich die Spezialitätsthese sowohl vom Rat177 als auch von Seiten eines Generalanwalts178 vorgetragen wurde, legte sie der Gerichtshof seiner Rechtsprechung nicht zugrunde.179 Dies gilt auch für das Verhältnis der Kompetenzen aus verschiedenen Säulen.180 Fällt eine Regelung (Rechtsfolgeanordnung) in den Überschneidungsbereich zweier Kompetenznormen, ohne dass Spezialitäts- oder Subsidiaritätsregeln zur Anwendung kommen, so bedarf es einer inhaltlichen Zuordnungsregel. In ständiger Rechtsprechung geht der EuGH davon aus, dass es nicht im subjektiven Belieben der EU-Organe liege, auf welche von zwei überlappenden Kompetenzgrundlagen sie einen Rechtsakt stützen wollen.181 Es müsse sich vielmehr nach objektiven Regeln bestimmen, welche Kompetenzgrundlage einschlägig sei.182 In der Entwicklung der diesbezüglichen Kriterien war die Rechtsprechung allerdings nicht schwankungsfrei. Zeitweilig versuchte der EuGH, diese Regeln im Hinblick auf die Verfahrensbeteiligung des Europäischen Parlaments zu entwickeln. Im TitandioxidUrteil183 hatte der EuGH einen Rechtsakt zu beurteilen, der Bestimmungen zur Verringerung und Unterbindung der Verschmutzung durch Abfälle der TitandioxidIndustrie enthielt.184 Zu Recht stellte der Gerichtshof fest, dass die Richtlinie so174 175 176 177 178 179
180 181 182
183 184
EuGH, Rs. C-350/92, Spanien/Rat, Slg. 1995, I-1985. Vgl. für das Verhältnis von Art. 95 und Art. 175: EuGH, Rs. C-300/89 (Fn. 171); für das Verhältnis von Art. 95 und Art. 152: EuGH, Rs. C-376/98 (Fn. 56), Rn. 88. Siehe z.B. EuGH, Rs. 70/88, Parlament/Rat (Tschernobyl II), Slg. 1990, I-4529. Sitzungsbericht in: EuGH, Rs. 70/88 (Fn. 176), Rn. 16, 18. GA van Gerven zu EuGH, Rs. 70/88 (Fn. 176), Nr. 26–29. Das klare Bild trüben allerdings Entscheidungen vom 23.2.1988 (EuGH, Rs. 68/86 (Fn. 13), Rn. 15; Rs. 131/86, Großbritannien/Rat, Slg. 1988, 905, Rn. 20) zum Verhältnis von Art. 37 EG und Art. 94 EG, wo davon die Rede ist, dass Art. 32 Abs. 2 EG „den Vorrang der besonderen Bestimmungen des Agrarbereichs vor den allgemeinen Bestimmungen über die Errichtung des Gemeinsamen Marktes“ sicherstelle, dies kann als Ausdruck eines Spezialitätsverhältnisses angesehen werden. Entsprechende Aussagen finden sich in EuGH, Rs. 11/88, Kommission/Rat (Tiernahrung), Slg. 1989, 3799. EuGH, Rs. C-440/05 (Fn. 107). EuGH, Rs. 45/86, Kommission/Rat, Slg. 1987, 1493; Rs. 68/86 (Fn. 13). EuGH, Rs. 45/86 (Fn. 181), Rn. 11; Rs. C-62/88, Griechenland/Rat, Slg. 1990, I-1527; Rs. C-233/94, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 1997, I-2405, Rn. 12; Rs. C-110/03, Belgien/Kommission, Slg. 2005, I-2801, Rn. 78; Rs. C-176/03, Kommission/Rat, Slg. 2005, I-7879, Rn. 45; Rs. C-94/03, Kommission/Rat, Slg. 2006, I-1, Rn. 34; st. Rechtsprechung. EuGH, Rs. C-300/89 (Fn. 171). Richtlinie 89/428 des Rates über die Modalitäten zur Vereinheitlichung der Programme zur Verringerung und späteren Unterbindung der Verschmutzung durch Abfälle der Titandioxid-Industrie, ABl. 1989 L 201, S. 56.
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wohl Rechtsangleichung zur Verwirklichung des Binnenmarktes als auch Umweltschutz betrieb und damit zugleich unter Art. 95 EG und Art. 175 EG fiel. Eine Doppelabstützung auf Art. 95 EG und Art. 175 EG lehnte der Gerichtshof mit der Begründung ab, die dann erforderliche Kumulierung der Gesetzgebungsverfahren würde die Rechte des Parlaments im Verfahren der Zusammenarbeit schmälern und käme zur Wahrung des demokratischen Prinzips nicht in Betracht. Im Ergebnis sah der Gerichtshof Art. 95 EG als einschlägige Kompetenzgrundlage an. Hinter der Begründung versteckt sich – unausgesprochen – die Zuordnungsregel, dass im Überschneidungsbereich von Kompetenznormen die integrationsfreundlichere Norm einschlägig sei. Art. 95 EG, der in der damaligen Fassung Mehrheitsentscheidungen unter Beteiligung des Parlaments im Verfahren der Zusammenarbeit zuließ, gehe daher dem damals Einstimmigkeit verlangenden Art. 175 EG vor. Die jüngere Rechtsprechung des EuGH beruht demgegenüber auf der Annahme, dass ein Rechtsakt im Überschneidungsbereich zweier Kompetenzgrundlagen auf jene zu stützen ist, der er aufgrund seines objektiven Regelungsgehalts sachlich näher steht.185 Rechtsakte zum Schutz der Bevölkerung vor Sekundärstrahlung sind danach auf Art. 31 EAGV auch dann zu stützen, wenn sie zugleich Binnenmarktbezug haben.186 Beschränkungen des internationalen Handelsverkehrs fallen unter Art. 133 EG, auch wenn sie Zielen des Gesundheitsschutzes dienen.187 Vorschriften zur Herstellung eines Binnenmarktes auf dem Gebiet der Landwirtschaft sind auf Art. 37 EG zu stützen, nicht aber auf den tatbestandlich ebenfalls einschlägigen Art. 95 EG.188 Danach sind verkehrsregelnde oder -gestaltende Rechtsakte auf Art. 71 EG zu stützen, auch wenn sie zugleich der Rechtsangleichung und Herstellung eines Marktes ohne Binnenschranken oder dem Umweltschutz dienen. Entsprechendes gilt für das Verhältnis von Art. 34 EU und Art. 175 EG: Maßnahmen, die den strafrechtlichen Schutz der Umwelt bezwecken, sind aufgrund ihrer Sachnähe den Umweltkompetenzen zuzuordnen. Eine Maßnahme, die strafrechtliche Sanktionen zur Bekämpfung der Meeresverschmutzung durch Schiffe vorsah, ordnete der EuGH im Überschneidungsbereich von Art. 34 EU und Art. 80 Abs. 2 EG der letztgenannten Vorschrift zu.189 Dieser Rechtsprechung ist im Grundsatz zu folgen. Dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass der vom EuGH entwickelte Maßstab vage ist, seine Handhabung schwierig ist und sich damit erhebliche Rechtsunsicherheit verbindet. Kritikwürdig 185
186 187 188 189
EuGH, Rs. 70/88 (Fn. 176); Rs. C-295/90, Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4193; Rs. C-155/91, Kommission/Rat, Slg. 1993, I-939; Rs. C-187/93, Parlament/Rat, Slg. 1994, I-2857; Rs. C360/93, Parlament/Rat, Slg. 1996, I-1195; Rs. C-426/93, Deutschland/Rat, Slg. 1995, I-3723; Rs. C-271/94, Parlament/Rat, Slg. 1996, I-1689; vgl. auch Rs. C-269/97, Kommission/Rat (Rindfleisch-Etikettierung), Slg. 2000, I-2257, Rn. 44: „ohne Bedeutung [sei] insofern der Wunsch eines Organs, am Erlass eines bestimmten Rechtsaktes intensiver beteiligt zu werden“. EuGH, Rs. 70/88 (Fn. 176). EuGH, Rs. 62/88, Griechenland/Rat (Tschernobyl I), Slg. 1990, I-1545. EuGH, Rs. 68/86 (Fn. 13) Rn. 15; Rs. 131/86 (Fn. 179), Rn. 20. EuGH, Rs. C-440/05 (Fn. 107).
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ist allerdings, dass der EuGH den Maßstab selbst nicht immer konsequent anwendet: In seiner Entscheidung vom 5. Oktober 2000 (Tabakwerbung) stellte der EuGH in einem obiter dictum fest, dass eine Richtlinienbestimmung, die in den sachlichen Anwendungsbereich der Binnenmarktkompetenzen der Art. 95, 47 i.V.m. 55 EG falle, selbst dann auf diese Normen zu stützen sei, wenn sie schwerpunktmäßig Gesundheitsschutz nach Art. 152 betreibe: „Sind die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 100a [heute: 95], Art. 57 Abs. 2 [heute: 47] und Art. 66 [heute: 55] als Rechtsgrundlage erfüllt, so steht deren Heranziehung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber nicht entgegen, dass dem Gesundheitsschutz bei den zu treffenden Entscheidungen maßgebende Bedeutung zukommt. Vielmehr sind nach Art. 129 Abs. 1 UAbs. 3 [heute: 152] die Erfordernisse im Bereich des Gesundheitsschutzes gerade Bestandteil der übrigen Politiken der Gemeinschaft; Art. 100a Abs. 3 [heute: 95] schreibt ausdrücklich vor, dass bei Harmonisierungen von einem hohen Gesundheitsschutzniveau ausgegangen wird.“190 Dieser Feststellung zufolge wäre für die Zuordnung im Spannungsverhältnis einer Norm wie Art. 152 EG, die Rechtsharmonisierung verbietet, und anderen Vertragsnormen im Falle einer Kompetenzüberschneidung immer die andere Vorschrift einschlägig, ohne dass auf Sachnähe und Schwerpunkt zu schauen wäre. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich in der erstgenannten Kompetenznorm Ziele mit Querschnittscharakter finden (etwa: Art. 152 Abs. 1 EG). Diese Sichtweise vermag nicht zu überzeugen, weil es für die Frage der Zuordnung gerade nicht auf die Rechtsfolgenanordnung der Kompetenznorm (ebenso wenig wie auf die Folgen der Entscheidung für Verfahren und Beteiligung) ankommen sollte. Ebensowenig kann der Umstand, dass sich in einer Kompetenznorm die Festlegung zur Berücksichtigung bestimmter Ziele in anderen Handlungsbereichen finden, zur Entstehung einer impliziten Vorrangrelation führen. Richtig wäre es, konsequent nach dem Schwerpunkt einer Maßnahme zu fragen. Eine ähnliche Tendenz, implizit von Vorrangverhältnissen auszugehen, deutet sich nunmehr allerdings auch in der Rechtsprechung zur Zuordnung von Maßnahmen im Überschneidungsbereich von EU-Kompetenzen und EG-Kompetenzen ab: Auch wenn der EuGH dies hier nicht ausdrücklich zu erkennen gibt, ist eine Neigung zur Stärkung der EG-Kompetenzen deutlich zu erkennen. Der Versuch, diese Kompetenzen (zu Lasten der Befugnisse der dritten Säule) zu stärken, ist in den bereits erwähnten Entscheidungen des EuGH deutlich zu erkennen. Die zweite Kritik, die an die Rechtsprechung des EuGH zu richten ist, bezieht sich auf den Bezugspunkt dessen, was mit „objektiver Sachnähe“ gemeint ist. Dieser Bezugspunkt kann instrumentell, teleologisch oder substanziell definiert werden. Im ersten Fall ist es das Instrument, das die Sachnähe definiert: Bestimmungen über die Pflicht zur strafrechtlichen Verfolgung von Umweltverschmutzung wären dann durch das Merkmal strafrechtlicher Sanktion gekennzeichnet. Im zweiten Fall 190
EuGH, Rs. C-376/98 (Fn. 56); ähnlich Rs. C-380/03 (Fn. 57). Zur Problematik etwa: G. Nolte, Die Kompetenzgrundlage der EG zum Erlaß eines weitreichenden Tabakwerbeverbots, NJW 2000, S. 1144; J. Schwarze, Grenzen des Richterrechts in der europäischen Rechtsordnung, in: FS Hirsch, 2008, S. 165.
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ist es das Ziel, das hinter einer Maßnahme steht: In dem soeben behandelten Bespiel läge der Schwerpunkt dann im Umweltbereich. Im dritten Fall schließlich wäre die Sachnähe dadurch gekennzeichnet, zu welchem Sachbereich der engste Zusammenhang besteht: In einem Fall, in dem es um den Umweltschutz im Verkehrsbereich geht, wäre die Maßnahme den Transportkompetenzen zuzuordnen. Bislang beschäftigt sich der EuGH mit diesen Unterschieden nicht. Ohne dass klare Entscheidungskriterien zu erkennen wären, bedient sich der EuGH der verschiedenen Bezugspunkte scheinbar nach Belieben. Es wäre dringend notwendig, dass hier klare Zuordnungsrelationen etabliert werden.
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I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 II. Verfassungsrechtliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 1. Eigenart der auswärtigen Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 2. Wandel der auswärtigen Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 III. Supranationale Außenbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 1. Ausweitung der EG-Verbandskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 2. Verhältnis von Gemeinschafts- und Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 3. Supranationale Entscheidungsfindung: parlamentarisches Defizit? . . . . . . . . . . . 460 4. Materielle Rechtsbindung auswärtigen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 IV. Intergouvernementale Außen- und Sicherheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 1. Intergouvernementale Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 2. Militärische Exekutivfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 3. Rechtsnatur des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 V. Verbundcharakter auswärtiger Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 1. Vertikaler Verbund von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 2. Horizontale Kohärenz von Union und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 3. Einheitlichkeit der Außenvertretung: Reformperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
I. Vorbemerkung Aus Sicht der Mitgliedstaaten war die Gründung der Europäischen Gemeinschaften ein Projekt der Außenpolitik. Es überrascht daher nicht, wenn interne und externe Gemeinschaftspolitiken vergleichbaren Regeln unterworfen wurden. Paradigmatisch begründet auch der Gerichtshof im AETR-Urteil die weite Auslegung der EGAußenkompetenzen mit deren Bedeutung für die europäischen Binnenpolitiken: Die Mitgliedstaaten dürfen „außerhalb des Rahmens der Gemeinschaftsorgane keine Verpflichtungen eingehen …, welche Gemeinschaftsrechtsnormen … beeinträchtigen oder in ihrer Tragweite ändern können.“1 Auch eine konkurrierende Zuständigkeit der Mitgliedstaaten scheide aus, „da alles, was außerhalb der Gemeinschaftsorgane geschieht, mit der Einheit des Gemeinsamen Marktes und der *1
1
Ich danke den Herausgebern und Mitautoren, den Mitgliedern des Graduiertenkollegs „Verfassung jenseits des Staates“ sowie meinen Kollegen am Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin für konstruktive Anmerkungen und Kritik. EuGH, Rs. 22/70, Kommission/Rat (AETR), Slg. 1971, 263, Rn. 20/22.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist.“2 Diese Annahme einer Komplementarität von Binnen- und Außenhandeln prägt die verfassungsrechtlichen Grundlagen der auswärtigen Gewalt der Europäischen Union bis heute. Allerdings verlangt der Fortschritt des Integrationsprozesses die partielle Entkoppelung von der Binnenperspektive durch eine angemessene Einbeziehung der Besonderheiten auswärtigen Handelns. Ziele und Handlungsfelder der europäischen Außenpolitik lösten sich im Laufe der Jahre von der Ergänzung und Sicherung europäischer Binnenrechtsetzung und gewannen schrittweise ein eigenständiges Profil. Die dynamische Entwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) markiert in diesem Sinn einen alternativen Orientierungspunkt auswärtiger Gewalt, die heute von der internationalen Rechtsharmonisierung aufgrund völkerrechtlicher Verträge bis hin zur militärischen Krisenbewältigung reicht. In der GASP stehen nicht die supranationale Rechtsetzung, sondern die Verständigung auf strategische Ziele und deren Durchsetzung im zwischenstaatlichen Verkehr im Vordergrund. Diese Wesensart außenpolitischen Handelns liefert ein Erklärungsmuster für die eigenständigen Regelungsstrukturen der GASP, welche die verfassungsrechtliche Dichotomie der europäischen auswärtigen Gewalt zwischen Supranationalität und Intergouvernementalität prägen (Abschnitt IV.). Historischer Ausgangs- und rechtlicher Brennpunkt des auswärtigen Handelns bleiben freilich die gemeinschaftlichen Außenbeziehungen aufgrund des heutigen EG-Vertrags mit ihrem supranationalen Regelungscharakter. Die Parallelität der verfassungsrechtlichen Grundlagen von Binnen- und Außenhandeln findet hier ihren deutlichsten Ausdruck – auch wenn Entscheidungsverfahren und Rechtsbindung eine Variation des Grundmodells supranationalen Binnenrechts belegen. Ihre Erklärung finden diese Sonderregeln in den Charakteristika des Völkerrechts (Abschnitt III.). Es bleibt eine Herausforderung der europäischen Außenpolitik, die verschiedenen Aktionsfelder auswärtigen Handelns in einem kohärenten Gesamtkonzept zusammenzuführen. Dies gilt für das Nebeneinander intergouvernementaler und supranationaler Regelungsbereiche ebenso wie für die Einbeziehung der Mitgliedstaaten. Das geltende Vertragsrecht fordert und fördert ein kohärentes Handeln von Gemeinschaft, Union und Mitgliedstaaten; einen Schritt weiter ist der Vertrag von Lissabon auf eine pragmatische Verbindung der verschiedenen Handlungsebenen gerichtet, mit dem Ziel einer einheitlichen Außenvertretung (Abschnitt V.). Das Neben- und Miteinander von Gemeinschaft, Union und Mitgliedstaaten ist eine Eigenart der europäischen auswärtigen Gewalt, deren verfassungsrechtliche Betrachtung einer Versicherung über die methodische Ausgangslage bedarf. Einführend sind daher die Grundlagen der verfassungsrechtlichen Eigenständigkeit europäischer Außenpolitik zu ermitteln und zum fortgesetzten Wandel des Völkerrechts und der Internationalen Beziehungen in Bezug zu setzen.
2
Ebd., Rn. 30/31.
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II. Verfassungsrechtliche Ausgangslage Die Überwindung der geschlossenen Nationalstaatlichkeit in der Europäischen Union mit der einhergehenden Verrechtlichung der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten versperrt häufig den Blick auf die fortexistierenden Besonderheiten auswärtigen Handelns jenseits der Grenzen Europas. Bewusst konzipierten die Gründungsväter die europäische Integration als Realisierung des Traums von einer vernünftigen Weltordnung auf Grundlage des Völkerrechts zur Gewährleistung eines ewigen Friedens; nicht Gewalt und Interessen sollten den Integrationsprozess leiten, „sondern eine geistige, eine kulturelle Kraft, das Recht“3. Das Projekt der Rechtsgemeinschaft beschränkte sich zu keinem Zeitpunkt auf die Binnenbeziehung der Mitgliedstaaten untereinander, sondern umfasst zugleich die Einordnung der Europäischen Union in die internationale Staatengemeinschaft. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung der auswärtigen Beziehungen der Europäischen Union muss daher die Binnenperspektive der europäischen Rechtsgemeinschaft ebenso berücksichtigen wie die fortgesetzten Besonderheiten der internationalen Beziehungen und des Völkerrechts. 1. Eigenart der auswärtigen Gewalt Die europäischen Verträge normieren eine einheitliche Grundlage des auswärtigen Handelns von Union und Gemeinschaft bislang nicht; im geltenden Primärrecht findet sich vielmehr ein Nebeneinander auswärtiger Einzelpolitiken mit jeweils besonderen Zielen und Handlungsaufträgen.4 Erst der Verfassungsprozess verknüpfte in weitgehender Kodifizierung der bisherigen Rechtslage die verschiedenen Segmente des auswärtigen Handelns in einem gemeinsamen Vertragsteil mit übergreifenden Zielvorgaben. Hierdurch wird die Bedeutung der Außenbeziehungen als ein eigenständiges Handlungsfeld europäischer Politik im Verfassungstext nachvollzogen, ohne den Rückbezug auf die Binnenperspektive des Integrationsprozesses abzuschneiden.5 Programmatisch bestimmt der einleitende Art. 21 Abs. 1 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon: „Die Union lässt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätze leiten, die für ihre
3 4
5
So W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 33; weiterführend C. Möllers, in diesem Band, S. 229 ff., und U. Haltern, ebd., S. 305 ff. Der EG-Vertrag normiert die Gemeinsame Handelspolitik (Art. 131–134), die Entwicklungszusammenarbeit (Art. 177–181), die sonstige Zusammenarbeit mit Drittländern (Art. 181a), die Assoziierung (Art. 182–188, 310) und die Verhängung von Sanktionen (Art. 301); hinzu treten die auswärtige Dimension europäischer Binnenpolitiken (etwa der Umweltpolitik) sowie die GASP aufgrund der Art. 11–28 EU. Vgl. Art. 21–46 EUV-Liss. und Art. 205–222 AEUV; zu Implikationen der neuen Einheitlichkeit M. Cremona, The Draft Constitutional Treaty: External Relations and External Action, CMLRev. 40 (2003), S. 1347 (1348–1350), und P.-C. Müller-Graff, Die primärrechtlichen Grundlagen der Außenbeziehungen, in: ders. (Hrsg.), Die Rolle der erweiterten Europäischen Union in der Welt, 2006, S. 11 (19 ff.).
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eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will.“ Als neuen Oberbegriff für die Gesamtheit der auswärtigen Politikbereiche zwischen Außenhandels- und Verteidigungspolitik verwendet der Vertraggeber den generischen Begriff des „auswärtigen Handelns“. Bewusst übernimmt die vorliegende Untersuchung dagegen die Begrifflichkeit der „auswärtigen Gewalt“ aus dem terminologischen Repertoire des deutschen Verfassungsrechts, ohne dass damit eine Staatswerdung der Europäischen Union verbunden ist oder die spezifischen Inhalte der deutschen Debatte auf die europäische Ebene transplantiert werden.6 Die eigene Terminologie verdeutlicht die Beschränkung des Untersuchungsgegenstands und die Eigenart des methodischen Zugriffs. Es geht nicht um die Analyse des sachlichen Gegenstands einzelner oder aller Politikbereiche des auswärtigen Handelns. Einzelfragen des europäischen Außenwirtschaftsrechts werden nachfolgend ebenso ausgeblendet wie spezifische Rechtsprobleme der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Stattdessen stehen übergreifende Fragestellungen des europäischen Verfassungsrechts im Vordergrund. Dies orientiert die Untersuchung an der methodischen Eigenart der Europarechtswissenschaft, die auf Grundlage der juristischen Methodik nur komplementär die Perspektive anderer Disziplinen in die Untersuchung einbezieht.7 Hieraus folgt eine Konzentration auf übergreifende Fragestellungen zur Rolle der europäischen Organe und der Wechselwirkung zwischen nationalen, europäischen und internationalen Regelungen als Gegenstand des Verfassungsrechts der auswärtigen Gewalt.8 Des weiteren gründet die Verwendung des Begriffs „auswärtige Gewalt“ auf der Annahme einer begrenzten Eigenständigkeit ihrer verfassungsrechtlichen Grundlagen in Abgrenzung von europäischen Binnenpolitiken. Dagegen entspringt die verbreitete Terminologie der „Außenbeziehungen“ der Konzeption einer Parallelität von europäischem Innen- und Außenhandeln und berücksichtigt nicht hinreichend die neue Dimension diplomatischen und militärischen Handelns im Rahmen
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Zur Begrifflichkeit des deutschen Verfassungsrechts zuletzt C. Calliess, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, 2006, § 83; kritisch F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 285 ff.; nicht verwandt wird der Begriff im deutschsprachigen Österreich, vgl. T. Öhlinger, VVDStRL 56 (1997), S. 81 (82). Näher I. Pernice, Europarechtswissenschaft oder Staatsrechtslehre?, DV Beiheft 7/2007, S. 225 (238 ff.), sowie A. v. Bogdandy, Wissenschaft vom Verfassungsrecht, in: ders./P. Cruz Villalón/P.M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, 2007, § 39, Rn. 14–46. Dieser Analyseschwerpunkt entspringt nicht allein der Tradition der deutschen Staatslehre, sondern findet sich ähnlich im US-Verfassungsrecht, der Rechtsprechung des EuGH und deren paneuropäische Analyse; vgl. den Fragebogen und die Landesberichte zur FIDE-Jahrestagung 2006 zum Themenkomplex 3 „External Relations of the EU and the Member States“ unter www.fide2006.org (6.09.2008), sowie zu den USA stellvertretend L. Henkin, Foreign Affairs and the United States Constitution, 1996.
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der GASP.9 Bewusst umging die spezifische Begrifflichkeit der Außenbeziehungen in den Anfangsdekaden der europäischen Integration den Begriff der „Außenpolitik“. Nach dem klassischen Verständnis der realistischen Denkschule der Internationalen Beziehungen prägen nämlich die high politics von Diplomatie, Sicherheit und Verteidigung die Außenpolitik von Staaten, während Außenhandel, Entwicklungshilfe oder Umweltschutz als anfänglicher Gegenstand europäischen Handelns die internationalen Beziehungen nicht maßgeblich beeinflussen.10 Europäische Außenbeziehungen begründeten hiernach keine Außenpolitik nach klassischem Verständnis. Aus diesem Grund verwandten auch die Römischen Verträge den Begriff der „Außenpolitik“ nicht und reservierten ihn nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft für das künftige Projekt einer politischen Union – obgleich sich die Gründungsväter der außenpolitischen Bedeutung insbesondere der Handelspolitik bewusst waren.11 Heute gilt ein gewandeltes Verständnis von Außenpolitik, welches die eigenständige Bedeutung der Wirtschafts-, Umwelt oder Migrationspolitik anerkennt.12 Unter bewusster Ausblendung der Vielfalt politikwissenschaftlicher Erklärungsansätze beruht auch dieser Beitrag auf einer umfassenden Deutung der Internationalen Beziehungen. Hiernach begründet das diplomatische und militärische Handeln der Europäischen Union im Rahmen der GASP nur einen Teilbereich europäischer Außenpolitik. Daneben leisten die supranationalen Außenbeziehungen aufgrund des EG-Vertrags einen eigenen Beitrag zum Einfluss Europas in der Welt.13 Nachdrücklich betont die Europäische Union im zentralen politischen Referenzdokument ihres auswärtigen Handelns die außenpolitische Bedeutung der Handels-, Entwicklungs- und Umweltpolitik: Die Europäische Sicherheitsstrategie bekennt sich zu einer Verknüpfung der auswärtigen Handlungsinstrumente des EG- und EUVertrags mit der Zielsetzung eines „wirksamen Multilateralismus“.14 Publizistisch vereinfachend kontrastiert insoweit die europäische soft power der multilateralen 9
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Verwandt wird der Begriff „Außenbeziehungen“ in der neueren Literatur, oft unter Einschluss der GASP, etwa von: P. Eeckhout, External Relations of the European Union, 2004; A. Dashwood/C. Hillion (Hrsg.), The General Law of E.C. External Relations, 2000; M. Dony/J.-V. Louis (Hrsg.), Commentaire J. Mégret 12: Relations extérieures, 2005; S. Kadelbach (Hrsg.), Die Außenbeziehungen der Europäischen Union, 2006. Näher mit Blick auf das europäische auswärtige Handeln die Beiträge zu B. Tonra/T. Christiansen (Hrsg.), Rethinking European Union Foreign Policy, 2004; F. Petiteville, L’Autorité diplomatique de l’Union européenne, in: L. Azoulai/L. Burgorgue-Larsen (Hrsg.), L’Autorité de l’Union européenne, 2006, S. 51, und H. Bedarff/G. Jakobeit, Die GASP aus der Perspektive von politikwissenschaftlichen Integrationstheorien, in: T. Bruha/C. Nowak (Hrsg.), Die Europäische Union: Innere Verfasstheit und globale Handlungsfähigkeit, 2006, S. 183. Vgl. die deutschen und luxemburgischen Delegationsmitglieder Hallstein (Fn. 3), S. 194, und P. Pescatore, Les relations extérieures des Communautés européennes, Recueil des Cours 103 (1961), S. 1 (15). Grundlegend R. Keohane/J. Nye, Power and Interdependence, 1977, und aus Deutschland etwa M. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats, 1998. Die Politikwissenschaft betont ergänzend die außenpolitische Bedeutung der Erweiterungspolitik als Instrument des Stabilitäts- und Werteexports; dagegen erscheint der Beitritt eines neuen Mitgliedstaats verfassungsrechtlich nicht als Akt der auswärtigen Gewalt.
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Zusammenarbeit mit der amerikanischen hard power der militärischen Intervention.15 Ungeachtet dieser Zuspitzung begründet das Ziel einer Weltordnung auf Grundlage vereinbarter Regeln und normativer Werte einen bedeutsamen Bezugspunkt europäischer Außenpolitik nach ihrem politischen Selbstverständnis und verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt.16 Das weite Verständnis außenpolitischen Handelns relativiert die Eigenart der auswärtigen Gewalt. Gleichwohl besteht ein verfassungsrechtliches Sonderregime fort: Die nachfolgende Analyse der geltenden Vertragsbestimmungen ergibt eine nur begrenzte Parallelität der verfassungsrechtlichen Grundlagen von europäischem Binnen- und Außenhandeln. Ein kursorischer verfassungsvergleichender Blick zeigt, dass diese Eigenart keinen europäischen Sonderweg begründet. Das britische Verständnis auswärtigen Handelns als crown prerogative mag noch als historisches Relikt monarchischer Vorrechte erscheinen.17 Doch auch in den Vereinigten Staaten und vor allem in den post-totalitären Verfassungsordnungen Deutschlands, Italiens sowie den Staaten Mittel- und Osteuropas findet ein eigenständiges Außenverfassungsrecht seine Fortsetzung.18 So wurde in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg unter Geltung des Grundgesetzes zwar die Forderung nach der weitgehenden Aufgabe eines Sonderregimes der auswärtigen Gewalt erhoben.19 Gleichwohl hat sich die Annahme ihrer verfassungsrechtlichen Eigenart im Zeitalter der „offenen Staatlichkeit“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Verfassungslehre bis heute bewahrt.20 Allerdings veranschaulicht die Vielfalt der Detailregelungen im Verfassungsvergleich zugleich, dass die konkrete verfassungsrechtliche Ausgestaltung der auswärtigen Gewalt keiner allgemeingültigen Blaupause entspringt, sondern von den Entscheidungen des jeweiligen Verfassunggebers abhängt.
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Europäischer Rat, Europäische Sicherheitsstrategie: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Rats-Dok. 15895/03. Pointiert kritisch R. Kagan, Paradise and Power, 2003; für eine Replik siehe J. Rifkin, The European Dream, 2004; aus Deutschland: W. Wagner/G. Hellmann, Zivile Weltmacht?, in: M. Jachtenfuchs/B. Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, 2003, S. 569. Zur rechtlichen Vorgabe in Anlehnung an die Sicherheitsstrategie der lesenswerte Art. 21 Abs. 1 UAbs. 1 und 2 EUV-Liss.; ähnlich im geltenden Recht Art. 11 Abs. 1 EU. Siehe A. W. Bradley/K. D. Ewing, Constitutional and Administrative Law, 2003, Kap. 15. Zu den Vereinigten Staaten Henkin (Fn. 8), für Italien Art. 72, 80, 87 und 95 der italienischen Verfassung von 1948 und für die neuen mittel- und osteuropäischen Verfassungen T. Giegerich, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt im europäisch-atlantischen Verfassungsstaat, ZaöRV 57 (1997), S. 409. Illustrativ der akademische Schlagabtausch zwischen W. Grewe, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, VVDStRL 12 (1954), S. 129, und E. Menzel, ebd., S. 179. Am Beispiel der Ablehnung einer weitreichenden Parlamentarisierung etwa C. Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7 (18–37), und Calliess (Fn. 6), Rn. 35–49; differenzierend R. Wolfrum, Die Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), S. 38, und V. Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 3–5.
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Besonders deutlich zeigt sich die Abhängigkeit vom Willen des Vertraggebers auf europäischer Ebene bei der GASP, welche die Mitgliedstaaten in bewusster Abkehr vom Standardmodell der Gemeinschaftsmethode in der intergouvernementalen zweiten Säule verorten. Aus dem Blickwinkel der historisch gewachsenen EGAußenbeziehungen erscheint diese Trennung der Säulen als mal nécessaire eines politischen Kompromisses.21 Dies trifft zweifellos zu, sollte jedoch nicht verdecken, dass die Entscheidung gegen eine Übertragung der supranationalen Gemeinschaftsmethode auf die GASP mit einem positiven Erklärungsgehalt unterlegt werden kann: Die vertragliche Konzeption einer Umsetzung der GASP durch die Annahme formeller Rechtsakte nach Maßgabe des EU-Vertrags wird der diplomatischen Eigenart außenpolitischen Handelns nicht gerecht.22 Aus politikwissenschaftlicher Perspektive erscheint die GASP nicht als Spillover der wirtschaftlichen Integration im Binnenmarkt auf sachnahe Politikbereiche, sondern als originäre Erstreckung des Integrationsprozesses auf die klassischen high politics der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.23 Ebenso wie die verfassungsrechtliche Betrachtung der auswärtigen Gewalt neben der europarechtlichen Binnenperspektive die Eigenarten des Völkerrechts beachten muss, erstreckt sich die politikwissenschaftliche Deutung über die Integrationsforschung hinaus auf die Internationalen Beziehungen.24 Wiederum ist die notwendige Einbeziehung der Außenperspektive und in ihrer Folge die begrenzte Parallelität der verfassungsrechtlichen Grundlagen von Innenund Außenpolitik keine Besonderheit des europäischen Rechts. Entsprechend kommen die meisten verfassungsrechtlichen Analysen im Nationalstaat zu dem Schluss, dass die begrenzte Übertragung parlamentarischer und gerichtlicher Kontrolle der Erkenntnis entspringt, dass „typischerweise allein die Regierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfügt, auf wechselnde äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren und so die … auswärtigen Angelegenheiten … bestmöglich zu erfüllen.“25 Völkerrechtliche Vertragsverhandlungen und erfolgreiche diplomatische Initiativen erfordern regelmäßig eine erhöhte Vertraulichkeit, eine besondere Sachkenntnis, die Pflege persönlicher Netzwerke, die Einschätzung internationaler Zusammenhänge sowie eine 21
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So B. de Witte, The Pillar Structure and the Nature of the European Union, in: T. Heukels u.a. (Hrsg.), The European Union after Amsterdam, 1998, S. 51, und S. Kadelbach, Die Außenpolitik im europäischen Mehrebenensystem und ihre rechtliche Basis, in: ders. (Fn. 9), S. 9 (12–14). Hierzu in Abschnitt IV. A. Pijpers, European Political Cooperation and the Realist Paradigm, in: M. Holland (Hrsg.), The Future of European Political Cooperation, 1991, S. 8 (12 f.) weist darauf hin, dass die Grundannahmen des Neofunktionalismus die high politics von Sicherheit und Verteidigung bewusst ausklammerte. Weiterführend die Beiträge in Tonra/Christiansen (Fn. 10) und C. Hill/M. Smith (Hrsg.), International Relations and the EU, 2005. BVerfGE 68, 1 (87); vgl. auch den Überblick über politische Theorie und allgemeine Staatslehre bei Grewe (Fn. 19), S. 130–136; H. Treviranus, Außenpolitik im demokratischen Rechtsstaat, 1966, S. 123–157, und G. Biehler, Auswärtige Gewalt, 2005, S. 3–55.
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Spontaneität und Flexibilität der politischen Reaktion, die mit der verfassungsrechtlichen Rigidität innerstaatlicher Rechtsetzung und -kontrolle nicht vereinbar sind.26 Diese Eigenarten internationalen Handelns charakterisieren das begrenzte verfassungsrechtliche Sonderregime der europäischen auswärtigen Gewalt und weisen auf Perspektiven seiner Fortentwicklung angesichts des Wandels von Völkerrecht und Internationalen Beziehungen. 2. Wandel der auswärtigen Gewalt Die europäische Integration veranschaulicht die Wandlungsfähigkeit der auswärtigen Gewalt. In seiner historischen Genese ist das Recht des Binnenmarkts ein Produkt der auswärtigen Gewalt der Mitgliedstaaten, unterscheidet sich heute in rechtlicher Hinsicht aber nur noch graduell von der innerstaatlichen Gesetzgebung. Der Wandel der auswärtigen Gewalt ist nicht auf den europäischen Kontinent beschränkt. Gegenwärtig erleben das Völkerrecht und die Internationalen Beziehungen eine Phase des Umbruchs, die Rückwirkungen auf das Verfassungsrecht der auswärtigen Gewalt entfaltet. Es ist die Aufgabe der Rechtswissenschaft, Veränderungen des internationalen Umfelds zum Verfassungsrecht der EU-Außenbeziehungen in Bezug zu setzen und auf Spannungsfelder und Bruchstellen hinzuweisen. Letztlich geht es um die Fortentwicklung der vorgestellten Grundannahme einer begrenzten Eigenständigkeit der europäischen auswärtigen Gewalt im Lichte geänderter Rahmenbedingungen. Künftige Forschungsarbeiten zum europäischen Außenverfassungsrecht werden die Reichweite des Wandlungsprozesses und dessen Folgen für die europäische auswärtige Gewalt zum Gegenstand haben. Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung zur künftigen Gestalt der auswärtigen Gewalt Europas sollte verschiedene Reflexionsebenen unterscheiden: Eine dynamische Auslegung des Vertragsrecht kommt nur im begrenzten Umfang in Betracht; bedeutsamer ist der kritische Hinweis auf Widersprüche und Konflikte zwischen der vertraglichen Konzeption und den internationalen Gegebenheiten; der Spielraum für handlungsanleitende Politikentwürfe steigt, wenn man den Blick auf einzelne Sachpolitiken richtet und deren Fortentwicklung im Lichte geänderter Rahmenbedingungen anmahnt. Hierbei kann eine klare Trennlinie zwischen den Betrachtungsebenen nicht immer gezogen werden. Gerade deshalb sind ihre prinzipielle Unterscheidung sowie die Offenlegung rechts- und politikwissenschaftlicher Grundannahmen bedeutsam. Politische Idealisten und völkerrechtliche Konstitutionalisten werden eine weitgehende Parallelität von Binnen- und Außenrechtsregime 26
Ebenso mit Blick auf die begrenzte Rolle nationaler Parlamente und Gerichte M. Smith, Diplomacy by Decree, JCMS 39 (2001), S. 79 (80); Giegerich (Fn. 18), S. 416–419; K. Hailbronner, Die Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), S. 7 (14); M. Koskenniemi, International Law Aspects of the CFSP, in: ders. (Hrsg.), International Law Aspects of the European Union, 1998, S. 27 (27–30), und E. Denza, The Intergovernmental Pillars of the European Union, 2002, S. 324; differenzierend beispielsweise Menzel (Fn. 19), S. 187–200; Schorkopf (Fn. 6), S. 284 ff., und R. Bieber, Democratic Control of European Foreign Policy, EJIL 1 (1990), S. 148 (149–154).
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unterstützen; politische Realisten und völkerrechtliche Etatisten dagegen die verfassungsrechtliche Eigenständigkeit der auswärtigen Gewalt betonen.27 Die Abhängigkeit vom Vorverständnis unterstreicht die Notwendigkeit, sich bei der Betrachtung der auswärtigen Gewalt aus der Binnenperspektive zu lösen und die internationale Dimension in die Analyse einzubeziehen. Für das Verfassungsrecht der auswärtigen Gewalt von besonderer Bedeutung sind der neue Pluralismus international vernetzter Akteure und die Überlagerung der europäischen Gesetzgebung durch völkerrechtliche Normen. Der neue Pluralismus der Akteure steht im Gegensatz zur vertraglichen Konzeption einer exekutiv verantworteten Außenpolitik, die durch die Handlungsform des völkerrechtlichen Vertrags der parlamentarischen und gerichtlichen Kontrolle unterliegt.28 Stattdessen gewinnen nichtstaatliche Akteure an Bedeutung, indem sie auf die zwischenstaatliche Rechtsetzung einwirken oder eigenständige Regelungen treffen.29 Zudem desintegriert das auswärtige Handlungsmonopol der Exekutive, wenn das Europäische Parlament, die EZB sowie europäische Agenturen und Gerichte sich transnational vernetzen.30 Hier wird man zahlreiche Entwicklungen dem Verwaltungsrecht zuordnen müssen, das nur teilweise durch verfassungsrechtliche Vorgaben beeinflusst wird.31 Hinsichtlich letzterer verfolgt der Europäische Gerichtshof eine betont konventionelle Linie, die anstelle einer transnationalen Vernetzung und Kooperation die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung hervorhebt.32 Insoweit reagiert der EuGH auf den Wandel der auswärtigen Gewalt durch einen Rückzug auf bewährte Positionen. Im Bereich der Rechtsetzung gewinnen völkerrechtliche Verpflichtungen an Detailgenauigkeit und umfassen zunehmend Regelungen, die auf die Rechtspositionen von Individuen einzuwirken bestimmt sind. Wenn hiernach strukturell Gesetzgebung auf die internationale Ebene verlagert wird, fordert dies einen Ausbau
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Entsprechend zum Völkerrecht M. Koskenniemi, From Apology to Utopia, 2005. Zu Rechtwirkungen völkerrechtlicher Verträge und deren parlamentarischer und gerichtlicher Kontrolle in Abschnitt 2. Statt vieler die Beiträge zu G. F. Schuppert (Hrsg.), Global Governance and the Role of NonState Actors, 2006. Stellvertretend A.-M. Slaughter, A New World Order, 2004; zur parlamentarischen Diplomatie des EP D. Thym, Beyond Parliament’s Reach? The Role of the European Parliament in the CFSP, EFARev. 11 (2006), S. 109 (119–121); zur internationalen Rolle der EZB, etwa im IWF, D.-C. Horng, The European Central Bank’s External Relations, EFARev. 9 (2004), S. 323, und für Agenturen D. Thym, Die völkerrechtlichen Verträge der Europäischen Union, ZaöRV 66 (2006), S. 863 (892 ff.). Siehe die zahlreichen Beiträge zum „Global Administrative Law Project“ unter www.iilj.org/ GAL (1.04.2009) sowie in C. Möllers/A. Voßkuhle/C. Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007. Näher unten, sub III. 2, speziell zur Sicherung seines Rechtsprechungsmonopols Fn. 71 f. (ein Alternativmodell könnte die Kooperationspraxis des BVerfG sein, hierzu Röben (Fn. 20), S. 145 ff.); ergänzend die Zurückweisung einer eigenständigen Vertragsschlusskompetenz der Kommission für die Zusammenarbeit mit dem US-Justizministerium gemäß EuGH, Rs. C-327/91, Frankreich/Kommission, Slg. 1994, I-3641.
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parlamentarischer Einflussnahme und gerichtlicher Kontrollmöglichkeiten.33 Was folgt hieraus für das Außenverfassungsrecht? Naturgemäß entzieht sich das internationale soft law mit Blick auf das völkerrechtliche Vertragsschlussverfahren einer klaren Zuordnung.34 Dessen ungeachtet sollten Schlussfolgerungen aus dem Wandel internationaler Rechtsetzung nicht übereilt werden. Das Beispiel des europäischen Integrationsprozesses lehrt, dass die Übertragung von Gesetzgebungsbefugnissen auf die überstaatliche Ebene nur im begrenzten Umfang durch eine Parlamentarisierung und Verrechtlichung der auswärtigen Gewalt kompensiert werden kann und stattdessen eines Ausgleichs auf Ebene des Völkerrechts bedarf.35 Zudem verdeckt das Schlagwort einer „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ allzu oft die Vielfalt der Argumentationslinien und die Offenheit des Entwicklungsprozesses.36 Eine besondere Herausforderung ist die rechtliche Würdigung des Einflusses der europäischen Außenpolitik auf die Reform des Völkerrechts. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die europäischen Verträge sich gegenüber diesem Wandel nicht neutral verhalten; vielmehr erstrebt die Europäische Union eine Gestaltung der internationalen Beziehungen nach europäischem Vorbild – und damit letztlich einen Export des Modells der Rechtsgemeinschaft.37 Hier muss besonders vorsichtig zwischen der dogmatischen Verfassungsauslegung, der systematischen Analyse übergreifender Entwicklungen und der Formulierung verfassungspolitischer Reformvorschläge unterschieden werden. Die Orientierung an der Wandlungsfähigkeit auswärtiger Gewalt gilt zuerst für die inhaltliche Ausrichtung einzelner Sachpolitiken wie der Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Rahmen der EG-Außenbeziehungen.38 Auch die Ausgestaltung der Assoziierungs- und Nachbarschaftspolitik und die Kooperation mit anderen regionalen Organisationen wie der Afrikanischen Union zeugen vom Bestreben einer globalen
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Hierzu etwa Wolfrum (Fn. 20), S. 41–45; Giegerich (Fn. 18), S. 419–422; C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 444 f.; I. Pernice, The Global Dimension of Multilevel Constitutionalism, in: FS Tomuschat, 2006, S. 973 (987 f.); J. Kokott, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, DVBl. 1996, S. 937 (938), und S. Kadelbach, Die parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns, in: R. Geiger (Hrsg.), Neuere Probleme der parlamentarischen Legitimation im Bereich der Auswärtigen Gewalt, 2003, S. 41. Hierzu Abschnitt III. 3. Statt vieler zur Situation nach dem Grundgesetz I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2006, Art. 23, Rn. 91 ff.; zum Stand der Forschung und Entwicklungsperspektiven A. v. Bogdandy, Globalization and Europe, EJIL 15 (2004), 885. Einen Überblick bietet S. Kadelbach, Überstaatliches Verfassungsrecht, AVR 44 (2006), S. 235; in der Tendenz positiver A. v. Bogdandy, Constitutionalism in International Law, Harvard International Law Journal 47 (2006), S. 223 (240–242). Vgl. wiederum Art. 21 Abs. 1 EUV-Liss.; aus der akademischen Literatur stellvertretend Pernice (Fn. 33), S. 997–1005, und E.-U. Petersmann, The 2004 Treaty Establishing a Constitution for Europe and Foreign Policy, in: FS Zuleeg, 2005, S. 176 (182–186); vor beinahe fünfzig Jahren ähnlich Pescatore (Fn. 11), S. 125 f. Näher in Abschnitt III. 4. c.
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Projektion des europäischen Integrationsmodells.39 In der verfassungspolitischen Debatte verbindet sich das Ziel des Modellexports mit der Forderung nach einer größeren Parallelität der verfassungsrechtlichen Grundlagen von Innen- und Außenpolitik, insbesondere durch eine Stärkung von Parlament und Gerichtshof.40
III. Supranationale Außenbeziehungen Aus Sicht der Mitgliedstaaten war der europäische Integrationsprozess nicht nur selbst ein Projekt der Außenpolitik zur Überwindung der innereuropäischen Gegensätze, sondern umfasste von Anbeginn eine internationale Dimension. Insbesondere verlangte die Errichtung einer Zollunion gemeinsame Regeln für die Einordnung der Gemeinschaft in das Welthandelssystem. Dies war jedoch nur der Ausgangspunkt. Eine stetige Ausweitung erfuhren die EG-Außenbeziehungen durch die dynamische Rechtsprechung des Gerichtshofs, die völkerrechtliche Vertragsschlusspraxis und mehrfache Vertragsänderungen. Hierbei gestalten die politischen Institutionen maßgeblich die inhaltliche Ausrichtung, während der Gerichtshof die verfassungsrechtlichen Grundlagen der auswärtigen Gewalt prägt. Seine Rechtsprechung zu den EG-Außenbeziehungen ist bis zum heutigen Tag von dem Bestreben geleitet, durch eine Parallelität des internen und des externen Verfassungsrechts den Erfolg der supranationalen Rechtsgemeinschaft abzusichern; nur punktuell zeigt die EuGH-Rechtsprechung eine Öffnung zu den methodischen und sachlichen Besonderheiten des Völkerrechts. 1. Ausweitung der EG-Verbandskompetenz Die föderale Balance zwischen den Verbandskompetenzen der nationalen und der europäischen Ebene ist einem Wandlungsprozess unterworfen, der auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs einen Ausdruck findet. Im Verlauf der Integration bildeten sich zuerst die Einheit stiftenden Prinzipien aus, später formten sich die Vielfalt sichernden Grundsätze.41 Diese allgemeine Erkenntnis findet in der Rechtsprechung zu den auswärtigen Verbandskompetenzen der Gemeinschaft eine Bestätigung. In einer ersten expansiven Phase betont der Gerichtshof die Ausschließlichkeit der europäischen Zuständigkeit und erstreckt sie auf Bereiche, die keiner ausdrücklichen Kompetenzzuweisung unterfallen. In der gegenwärtigen Phase der konstitutionellen Konsolidierung betonen die europäischen Richter das Neben39
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Aus rechtlicher Sicht M. Cremona, The Union as a Global Actor, CMLRev. 41 (2004), S. 553 (554–565), und aus Perspektive der Politikwissenschaft K. Nicolaïdis/R. Howse, ‘This is my EUtopia …’: Narrative as Power, JCMS 40 (2002), S. 767; für eine Einzelstudie D. Thym, Interregional Cooperation in Crisis Management, in: S. Blockmans (Hrsg.), The European Union and International Crisis Management, 2008, S. 177. So etwa P. Eeckhout, Does Europe’s Constitution Stop at the Water’s Edge?, 2005, S. 4; M. Krajewski, Foreign Policy and the European Constitution, Yearbook of European Law 22 (2003), S. 435 (450–453), und Bieber (Fn. 26). Vgl. A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 36 ff.
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einander von Mitgliedstaaten und Gemeinschaft und sind bemüht, die verfassungsrechtlichen Grenzen der europäischen Zuständigkeit zu verdeutlichen. a) Expansive Phase Grundlage für die ausgreifende Deutung der auswärtigen Verbandskompetenz der Gemeinschaft ist das AETR-Urteil aus dem Jahr 1971. Seine maßgebliche Aussage ist die weite Deutung externer Kompetenzzuweisungen: Eine auswärtige Zuständigkeit ergibt sich nicht nur aus ausdrücklichen Zuweisungen nach dem Vorbild der Handelspolitik, sondern besteht immer auch dann, wenn die Gemeinschaft auf Grundlage des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung gegenüber den Mitgliedstaaten einen Binnenrechtsakt erlässt. Die Mitgliedstaaten dürfen keine eigenen völkerrechtlichen Verpflichtungen eingehen, „welche Gemeinschaftsrechtsnormen, die zur Verwirklichung der Vertragsziele ergangen sind, beeinträchtigen oder in ihrer Tragweite ändern können.“42 Der Gerichtshof begründet hiernach eine weitgehende Parallelität von Innen- und Außenzuständigkeit, welche in der Literatur mit der Begrifflichkeit der impliziten Kompetenzen (implied powers) belegt wurde.43 Verfassungsrechtlich verdient die Frage nach den methodischen Grundlagen der AETR-Rechtsprechung Beachtung. Weit verbreitet ist die Annahme eines constitutional import,44 weil der Gerichtshof mit der weiten Auslegung der supranationalen Verbandskompetenz die vom Generalanwalt ausdrücklich erwähnte (und abgelehnte) Rechtsprechung des US Supreme Court zu den impliziten Zuständigkeiten des US-Verfassungsrechts in den europäischen Kontext überführt habe.45 Dieser Rekurs auf verfassungsrechtliche Auslegungsgrundsätze ist jedoch nicht zwingend. Vielmehr deutet viel darauf hin, dass sich der Gerichtshof ebenso von völkerrechtlichen Überlegungen zur Vertragsschlussfähigkeit Internationaler Organisationen leiten ließ. Der seinerzeitige Berichterstatter identifiziert den französischen Wissenschaftler Paul Reuter als Urheber der AETR-Doktrin, der auf Grundlage völkerrechtlicher Dogmatik die grundsätzliche Parallelität interner und externer EG-Kompetenzen begründete.46 Der Gerichtshof selbst hält sich in der dogmatischen Begründung 42 43
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EuGH, Rs. 22/70 (Fn. 1), Rn. 20/22. Zur frühen Debatte P. Pescatore, External Relations in the Case Law of the ECJ, CMLRev. 16 (1979), S. 615 (617–628) und C. Vedder, Die auswärtige Gewalt des Europas der Neun, 1980, S. 98–148. Eeckhout (Fn. 9), S. 61; G. Nicolaysen, Zur Theorie von den Implied Powers in den Europäischen Gemeinschaften, EuR 1966, S. 129, und M. Nettesheim, in diesem Band, S. 411 ff.; differenzierend K. Lenaerts, Le juge et la constitution aux Etats-Unis d’Amérique et dans l’ordre juridique européen, 1988, S. 475–480. Vgl. GA Dutheillet de Lamothe zu EuGH, Rs. 22/70 (Fn. 1), S. 293, sowie zum US-Verfassungsrecht Henkin (Fn. 8), S. 36–45. Die Überlegungen von P. Reuter, La Communauté européenne du charbon et de l’acier, 1953, S. 116–123 benennt Pescatore (Fn. 43), S. 618, als Grundlage der AETR-Rechtsprechung; ähnlich wie Reuter nach ihm H.-J. Hallier, Die Vertragsschlussbefugnis der EGKS, ZaöRV 17 (1956), S. 428 (442 ff.); R.-J. Dupuy, Du Caractère unitaire de la C.E.E. dans les relations extérieures, AFDI 9 (1963), S. 779 (804 f.), und J. Raux, Les Relations extérieures de la Communauté économique européenne, 1966, S. 53–60.
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seines Ergebnisses bedeckt und sucht den Anschluss an seine Rechtsprechung zur Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung.47 Maßgeblich stellt der Gerichtshof darauf ab, dass die Parallelität von Innen- und Außenkompetenzen der „einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ dient, indem sie den Mitgliedstaaten den Erlass von völkerrechtlichen Verträgen im Anwendungsbereich europäischer Normen untersagt.48 Die AETR-Rechtsprechung erscheint hiernach als Mittel zur Absicherung der effektiven, einheitlichen und vorrangigen Geltung des Gemeinschaftsrechts durch deren Projektion nach außen.49 Die Sicherung der supranationalen Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts wird besonders deutlich, wenn man sich die Alternative zum gefundenen Ergebnis vor Augen führt: Die Ablehnung einer AETR-Kompetenz bei gleichzeitiger Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bei der Aushandlung von völkerrechtlichen Verträgen mit Drittstaaten den materiellen Gehalt des Gemeinschaftsrechts zu Grunde zu legen.50 Durch mögliche Konflikte mit völkerrechtlichen Bindungen der Mitgliedstaaten über denselben Sachgegenstand wäre die autonome Auslegung und Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts dauerhaft in Frage gestellt. Die fehlende Parallelität von auswärtiger und interner Zuständigkeit hätte die supranationale Rechtsgemeinschaft gefährdet. Dieses Risiko wollte der Gerichthof nicht eingehen. Die Annahme einer weitgehenden Parallelität von Innen- und Außenzuständigkeiten fand trotz medialer Aufmerksamkeit schnell Eingang in den Kanon gemeinschaftsrechtlicher Grundsätze.51 Spätere Regierungskonferenzen positivierten Teilbereiche europäischer Außenpolitik, die anfangs auf Grundlage der Vertragsergänzungskompetenz des heutigen Art. 308 EG (seinerzeit Art. 235 EWG-Vertrag) in Verbindung mit den AETR-Grundsätzen entwickelt worden waren.52 Erst der Vertrag von Lissabon unternimmt eine Kodifizierung der Rechtsprechung zu den impliziten Außenkompetenzen seit den 1970er Jahren, deren Formulierung trotz verbleibender Unklarheiten die zentralen Aussagen des Gerichtshofs in das positive Vertragsrecht überführt.53 Hierdurch findet ein langjähriger Prozess seinen Ab47
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Der Rekurs auf völkerrechtliche Grundsätze zur Vertragsschlusskompetenz internationaler Organisationen hätte die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung konzeptionell herausgefordert; näher im folgenden Abschnitt. EuGH, Rs. 22/70 (Fn. 1), Rn. 30/31 sowie Rn. 20/22; ausdrücklich Gutachten 1/03, LuganoÜbereinkommen, Slg. 2006, I-1145, Rn. 131: „Die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft bezweckt u.a. die Wahrung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts …“. Siehe Vedder (Fn. 43), S. 124: „antizipierter Vorrang“; A. Dashwood, Implied External Competence of the EC, in: Koskenniemi (Fn. 26), S. 118, und P. Koutrakos, EU International Relations Law, 2006, S. 84–88. So noch Pescatore (Fn. 11), S. 111. Vgl. den Beitrag: La Cour de justice de Luxembourg a-t-elle outrepassé ses compétences?, Le Monde v. 27.04.1971, S. 19; der Rat und die intervenierenden Mitgliedstaaten stellten die implizite AETR-Zuständigkeit im Folgeverfahren EuGH, verb. Rs. 3/76, 4/76 und 6/76, Kramer, Slg. 1976, 1279 (1291 ff.), nicht mehr in Frage. Das gilt insbesondere für die externe Umweltpolitik (Einheitliche Europäische Akte) und die Entwicklungspolitik (Vertrag von Maastricht). Siehe Art. 3 Abs. 2, 216 Abs. 1 AEUV sowie die Analyse im Lichte der Entstehungsgeschichte von R. Passos/S. Marquardt, International Agreements, in: G. Amato u.a. (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne, 2007, S. 875 (888–893).
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schluss. Anfangs wurde die grundsätzliche Anerkennung der AETR-Rechtsprechung nämlich begleitet von wiederholten Auseinandersetzungen über deren Reichweite. Besonders umstritten war die expansive Deutung der Ausschließlichkeit auswärtiger Gemeinschaftskompetenzen in verschiedenen Urteilen der 1970er Jahre.54 Diese ausgreifende Rechtsprechung mag der Überlegung entsprungen sein, das auswärtige Handeln der Gemeinschaft in den Jugendjahren seiner Entwicklung vor nationalen Einflüssen durch die Annahme einer Ausschließlichkeit abzuschirmen. Aufgrund der einhergehenden Begrenzung mitgliedstaatlicher Handlungsautonomie rief dies jedoch eine nachhaltige Kritik hervor.55 b) Konstitutionelle Konsolidierung Zwanzig Jahre nach seinem AETR-Urteil läutete der Gerichtshof eine Periode der konstitutionellen Konsolidierung seiner Rechtsprechung ein, die bis heute fortdauert. Unter Bewahrung des supranationalen Besitzstands betonen die Luxemburger Richter nunmehr verstärkt die verfassungsrechtlichen Grenzen der auswärtigen Verbandskompetenz der Gemeinschaft. Von grundlegender Bedeutung ist das Gutachten 1/94 des Gerichtshofs zur Gründung der Welthandelsorganisation. Es bestätigt die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft für den internationalen Warenverkehr aufgrund des GATT; zugleich weist der Gerichtshof aber eine Erstreckung der Außenhandelspolitik auf die multilateralen Regeln zum Handel mit Dienstleistungen (GATS) und die handelsbezogenen Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum (TRIPs) zurück und lehnt auch eine großzügige Anwendung der AETR-Rechtsprechung auf diese Sachbereiche ab. Seine Schlussfolgerung steht stellvertretend für die neue Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Zuständigkeiten: „Die Zuständigkeit für den Abschluss des GATS/TRIPs ist zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten geteilt.“56 Die Schlussfolgerung einer geteilten Zuständigkeit greift die Übung eines gemeinsamen Vertragsschlusses von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten auf. Schon seit längerem wurden Differenzen über die Reichweite europäischer und nationaler Verbandskompetenzen pragmatisch durch den Abschluss „gemischter Abkommen“ gelöst, denen sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten als eigenstän-
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Vgl. neben Rs. 22/70 (Fn. 1) und verb. Rs. 3/76, 4/76 und 6/76 (Fn. 51) vor allem EuGH, Gutachten 1/76, Stillegungsfonds, Slg. 1977, 741, sowie Rs. 32/79, Kommission/Großbritannien, Slg. 1980, 2403; zur Ausschließlichkeit der Außenhandelspolitik: Gutachten 1/75, Lokale Kosten, Slg. 1975, 1355, sowie Gutachten 1/78, Internationales NaturkautschukÜbereinkommen, Slg. 1979, 2871; entsprechend zum EAG-Vertrag: Beschluss 1/78, Kernmaterialübereinkommen, Slg. 1978, 2151. Für eine Analyse aus heutiger Sicht siehe M. Cremona, External Relations and External Competence, in: P. Craig/G. de Búrca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, 1999, S. 137 (138–155); A. Dashwood/J. Helioskoski, The Classic Authorities Revisited, in: Dashwood/ Hillion (Fn. 9), S. 3–18, und Koutrakos (Fn. 49), S. 77–96. EuGH, Gutachten 1/94, WTO, Slg. 1994, I-5267, Ls. 2 bzw. 3; zur unklaren Reichweite der Art. 133 Abs. 5–7 EG vgl. EuGH, Gutachten 1/08 (noch nicht entschieden); eine ausschließliche EG-Kompetenz begründen erst Art. 3 Abs. 1, 206 f. AEUV.
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dige Vertragsstaaten angehören. Verfassungsrechtlich bewirken gemischte Abkommen zwar eine unbefriedigende Unschärfe der vertikalen Kompetenzabgrenzung. Allerdings erklärt die pragmatische Verbindung von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in einem einheitlichen Handlungsverbund die Attraktivität des gemischten Vertragsschlusses in der Praxis. Aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für das einheitliche Auftreten von Gemeinschaft, Union und Mitgliedstaaten wird auf die Bedeutung gemischter Abkommen im Abschnitt über den Verbundcharakter europäischer Außenpolitik gesondert hingewiesen.57 Eine restriktive Deutung der Ausschließlichkeit impliziter Außenkompetenzen prägt auch die Rechtsprechung zur Fortentwicklung der AETR-Doktrin. Zwar werden die Annahmen der früheren Rechtsprechung nie aufgegeben, ihr Anwendungsfeld jedoch restriktiver fortentwickelt.58 Dies bewirkt, dass eine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft in erster Linie besteht, soweit eine Vertragsbestimmung sich mit dem Anwendungsbereich eines Sekundärrechtsakts überschneidet oder die umfassende Regelung eines Sachbereichs durch Gemeinschaftsrecht vorliegt.59 Die genaue Grenzziehung bleibt jedoch schwierig und muss letztlich in jedem Einzelfall einer Lösung zugeführt werden.60 Soweit hiernach keine ausschließliche Gemeinschaftszuständigkeit besteht, ist ein auswärtiges Handeln der Gemeinschaft nicht ausgeschlossen. Vielmehr umfassen die meisten Gemeinschaftskompetenzen eine Befugnis zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge ohne vorherige Binnenrechtssetzung und begründen insoweit eine konkurrierende Gemeinschaftszuständigkeit.61 Die Nutzung dieser konkurrierenden Außenkompetenzen folgt der politischen Entscheidungsfindung; erst mit dem Erlass eines Binnenrechtsakts entsteht nach Maßgabe der AETR-Rechtsprechung eine ausschließliche supranationale Verbandszuständigkeit, welche den Mitgliedstaaten den eigenständigen völkerrechtlichen Vertragsschluss untersagt.
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Näher Abschnitt V. 1. Siehe die Zusammenfassung in EuGH, Gutachten 1/03 (Fn. 48), Rn. 114–133. Vgl. die Analyse bei Eeckhout (Fn. 9), S. 69–100; J.-V. Louis, La Compétence de la C.E. de conclure des accords internationaux, in: Dony/ders. (Fn. 9), S. 57 (60 ff.); M. Nettesheim, in diesem Band, S. 414 ff., und J. C. Wichard, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 300 EG, Rn. 6–17. Dies gilt nicht nur für die Grenzen der Verbandszuständigkeit der Gemeinschaft, sondern ebenso für die horizontale Abgrenzung zwischen Gemeinschaftspolitiken. Hier verwickelte sich der Gerichtshof mit Blick auf die Handels- und die Umweltpolitik zuletzt in ein schwer zu entwirrendes Fallrecht, vgl. P. Koutrakos, Legal Basis and Delimitation of Competence in EU External Relations, in: M. Cremona/B. de Witte (Hrsg.), EU Foreign Relations Law: Constitutional Fundamentals, 2008, S. 171. Aufgrund ihres Fokus’ auf den Aspekt der Ausschließlichkeit ist die EuGH-Rechtsprechung und in ihrer Folge Art. 216 Abs. 1 AEUV in diesem Punkt nicht eindeutig; für eine stärkere Betonung konkurrierender Zuständigkeiten D. Thym, Der Binnenmarkt und die „Freiheit der Lüfte“, EuR 2003, S. 277 (285–288); M. Nettesheim, in diesem Band, S. 429 f.; C. Vedder, Die Außenbeziehungen der EU und der Mitgliedstaaten: Kompetenzen, EuR Beiheft 3/2007, S. 57 (62 f.), und Eeckhout (Fn. 9), S. 89–100.
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2. Verhältnis von Gemeinschafts- und Völkerrecht Die Ausgangsthese einer weitgehenden Parallelität der verfassungsrechtlichen Grundlagen von Binnen- und Außenhandeln zeigt sich besonders deutlich bei den Rechtswirkungen des Völkerrechts innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Gerichtshof in seiner frühen Rechtsprechung maßgeblich das Ziel verfolgte, die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung abzusichern. Hierbei war die Frage nach den innergemeinschaftlichen Rechtswirkungen des Völkerrechts eine besondere Herausforderung, weil der Gerichtshof die Eigenart der Gemeinschaftsrechtsordnung gerade in Abkehr von völkerrechtlichen Deutungsmustern entwickelt hatte. Während er das Gemeinschaftsrecht anfangs noch als „eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts“62 darstellte, bricht er in Costa/E.N.E.L. mit dem völkerrechtlichen Begründungszusammenhang: „Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen …“63. Die supranationale Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts wird durch dessen Positionierung gegenüber dem Völkerrecht in doppelter Hinsicht herausgefordert: Zum einen drängt es den Gerichtshof in eine Situation der potentiellen Unterordnung gegenüber dem Völkerrecht, welche mit der Situation nationaler Gerichte gegenüber dem Gemeinschaftsrecht vergleichbar ist. Zum anderen erfordert die Einordnung des Völkerrechts in die Gemeinschaftsrechtsordnung eine Begründung, welche indirekt die Überzeugungskraft der Argumente für die Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts hinterfragen könnte. Bestehen zwischen Gemeinschafts- und Völkerrecht strukturelle Unterschiede von einem Gewicht, die eine Sonderbehandlung bei unmittelbarer Anwendung und Vorrang rechtfertigen? Warum sollen nationale Gerichte den unbedingten Vorrang des Gemeinschaftsrechts anerkennen, wenn der EuGH nicht seinerseits einen entsprechenden Vorrang des Völkerrechts gewährleistet? Ihre Brisanz entfalten diese Fragestellungen bis heute, etwa beim Streit um die unmittelbare Anwendung des WTO-Rechts entgegen dem Modell des Gemeinschaftsrechts. Erschwert wird die Analyse des Verhältnisses von Völker- und Gemeinschaftsrecht durch den begrenzten Erklärungsaufwand des Gerichtshofs. Dieser war kein Zufall; im Gegenteil: Pierre Pescatore, der als Richter und Wissenschaftler die frühe Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Außenbeziehungen maßgeblich beeinflusste, identifiziert die vorsichtige Herangehensweise des Gerichtshofs unter Umgehung von Grundsatzfragen als richterliche Strategie: „Diese Zurückhaltung hat mancherlei Gründe, von denen der eindeutigste wohl in der Sorge besteht, das Gemeinschaftsrecht durch Einführung völkerrechtlicher Wertmaßstäbe nicht desintegrieren zu lassen … (F)ormlose Änderung und Aufhebung der Verträge, Außerkraftsetzung des Gemeinschaftsrechts durch widersprechende staatliche Gesetze
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EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (25). EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 (1268).
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und, in ‚gravierenden Konfliktsituationen‘, der Vorrang der staatlichen Macht vor dem Recht (sind) im Völkerrecht immerhin erwägenswerte Fragen. Wenn solche Denkweisen in der Tat für völkerrechtliche Argumentation repräsentativ sind, muss man verstehen, dass der Gerichtshof es vermeidet, ein mit solchen Ideen befrachtetes trojanisches Pferd in das Gemeinschaftsrecht einzuführen.“64 Tatsächlich zeigt die Rechtsprechung des Gerichtshofs das Bemühen, die Eigenständigkeit des Gemeinschafsrechts durch dessen Positionierung gegenüber dem Völkerrecht aufgrund einer grundsätzlichen Parallelität von Binnen- und Außenrechtsregime zu festigen. Dies zeigt schon die Grundannahme des Urteils Haegeman, dass die Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrags „seit dessen Inkrafttreten einen integrierenden Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung (bilden).“65 Eine verfassungsrechtliche Begründung für diese entscheidende Weichenstellung gibt der Gerichtshof nicht; weder stützt er die innergemeinschaftliche Geltung des Völkerrechts auf den Annahmebeschluss noch auf die Regelung des heutigen Art. 300 Abs. 7 EG.66 Vielmehr stellt er einzig auf den Zeitpunkt der völkerrechtlichen Verbindlichkeit ab.67 Diese letztlich monistische Deutung der innergemeinschaftlichen Rechtswirkungen kraft völkerrechtlicher Verbindlichkeit erscheint als externe Projektion des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht. Entsprechend hatte der Gerichtshof in Costa/E.N.E.L. angenommen, dass der EWGVertrag „bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist.“68 Es ist dann nur konsequent, wenn völkerrechtliche Verträge als integrierender Bestandteil des Gemeinschaftsrechts an dessen Vorrang gegenüber dem nationalen Recht teilhaben.69 In begrüßenswerter Klarheit stellte die Große Kammer des Gerichtshofs im Jahr 2006 fest, dass unmittelbar anwendbare Bestimmungen von völkerrechtlichen Abkom-
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P. Pescatore, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur innergemeinschaftlichen Wirkung völkerrechtlicher Abkommen, in: FS Mosler, 1983, S. 681 (683) in Abgrenzung zu R. Bernhardt, Das Recht der europäischen Gemeinschaften zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht, in: FS Bindschedler, 1980, S. 229. EuGH, Rs. 181/73, Haegeman II, Slg. 1974, 449, Rn. 2/6; die auf Deutsch unschöne Formulierung „integrierend“ (nicht: integraler Bestandteil) ist eine direkte Übersetzung des französischen partie intégrante, während die englische Sprachfassung vom integral part spricht. Sinngemäß zuvor bereits EuGH, verb. Rs. 21/72–24/72, International Fruit Company, Slg. 1972, 1219, Rn. 5/6. Hiernach sind völkerrechtliche Verträge der Gemeinschaft für die Organe und die Mitgliedstaaten verbindlich; die Bestimmung selbst wird erst in der späteren Rechtsprechung zitiert. EuGH, Rs. 181/73 (Fn. 65), Rn. 2/6; sinngemäß die Annahme einer Bindung an das Völkergewohnheitsrecht aufgrund des bloßen Umstands seiner Existenz gemäß EuGH, Rs. C-308/ 06, Intertanko, Slg. 2008, I-4057, Rn. 51, unter Zurückweisung der Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung im konkreten Fall. EuGH, Rs. 6/64 (Fn. 63), 1268. Näher zur Rechtsprechung auf Grundlage des Art. 300 Abs. 7 EG: I. MacLeod u.a., The External Relations Law of the European Communities, 1996, S. 125–128, sowie Koutrakos (Fn. 49), S. 183–216.
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men „Vorrang vor den Bestimmungen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts“ zukommt.70 Ihre Grenze findet die Parallelität von Binnen- und Außenrechtsregime erst in der supranationalen Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts. Aufgrund seiner Befugnis zur Überprüfung von geplanten Abkommen auf ihre Vereinbarkeit mit dem EG-Vertrag hat der Gerichtshof dem Vorrang des europäischen Primärrechts vor völkerrechtlichen Verträgen wiederholt zum Durchbruch verholfen. Insbesondere hat er eine Unterordnung unter Völkervertragsregime abgelehnt, welche seine institutionelle Verantwortung für die Wahrung der einheitlichen und vorrangigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Frage stellen oder allgemein eine völkerrechtliche Modifikation der „innere(n) Verfassung der Gemeinschaft“ bewirken.71 Gegenüber der internationalen (Schieds-)Gerichtsbarkeit beansprucht der EuGH im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ein Rechtsprechungsmonopol.72 Allgemein dürfen die „Verpflichtungen aufgrund einer internationalen Übereinkunft nicht die Verfassungsgrundsätze des EG-Vertrags beeinträchtigen“.73 Dies zeugt im Ergebnis eines Nebeneinanders von Völkerrechtsfreundlichkeit und Wahrung des EG-Vertrags vom gemischt dualistisch-monistischen Verständnis des Gerichtshofs.74 In Hinwendung zum Völkerrecht als auch in der Abkehr von dessen vorrangiger Geltung sichert der Gerichtshof die supranationale Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts. Die Annahme, dass völkerrechtliche Verträge einen integrierenden Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung bilden, bedeutet nicht, dass Gemeinschafts- und Völkerrecht in der Sache immer gleich auszulegen wären. Vielmehr erfordert die Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts, dass eventuelle Unterschiede als solche identifiziert und einer differenzierten Lösung zugeführt werden. Besonders deutlich wird dies bei der unmittelbaren Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen. Im Grundsatz überträgt der Gerichtshof auch hier die Regeln für europäisches Binnenrecht auf völkerrechtliche Verträge, wenn er abstrakt formuliert, dass die unmittel-
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EuGH, Rs. C-344/04, International Air Transport Association, Slg. 2006, I-403, Rn. 35. Gleiches gilt für Normen des Völkergewohnheitsrechts und für Beschlüsse internationaler Vertragsgremien und Organisationen; vgl. R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 182 ff. So bereits EuGH, Gutachten 1/76 (Fn. 54), Rn. 12. Nach dem Gutachtenverfahren des Art. 300 Abs. 6 EG stellten eine Unvereinbarkeit mit dem EG-Vertrag insb. fest EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079, und Gutachten 2/94, EMRK-Beitritt, Slg. 1996, I-1759. Näher die instruktive Analyse von L. Azoulai, The Acquis of the European Union and International Organisations, ELJ 11 (2005), S. 196 (225–231). Siehe insb. EuGH, Rs. C-459/03, Kommission/Irland, Slg. 2006, I-4635, Rn. 123, und die anschauliche Analyse von N. Lavranos, Das Rechtsprechungsmonopol des EuGH im Lichte der Proliferation internationaler Gerichte, EuR 2007, S. 440 (446–451). EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi u.a./Rat und Kommission, Slg. 2008, I-0000, Rn. 285. So auch C. Tomuschat, in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EGVertrag, 2003, Art. 281 EG, Rn. 62–64; eher dualistisch zum Vorrang als Kollisionsnorm M. Nettesheim, Normenhierarchien im EU-Recht, EuR 2006, S. 737 (761 f.).
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bare Anwendung voraussetze, dass eine Bestimmung „unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen.“75 In der Sache erfolgt sodann jedoch eine Differenzierung, die neben dem Wortlaut auch den erweiterten Integrationszusammenhang berücksichtigt. Hiernach kann eine völkervertragsrechtliche Bestimmung eine andere Bedeutung besitzen als eine dem Wortlaut nach identische Bestimmung des Gemeinschaftsrechts.76 Diese Unterscheidung des Gemeinschaftsrechts von völkerrechtlichen Kooperationsformen besitzt für den Gerichtshof grundlegende Bedeutung. Seine Abgrenzung des EG-Vertrags vom völkerrechtlichen Kooperationsrahmen des EWR-Abkommens war der direkte Anlass für die höchstrichterliche Qualifizierung des europäischen Primärrechts als „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“77. Sogar Beschlüsse des Sicherheitsrats können keinen Vorrang vor den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts beanspruchen.78 Erneut findet die Parallelität von Binnen- und Außenrechtsregime ihr Ende bei der Wahrung der supranationalen Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts, auch durch eine gegebenenfalls unterschiedliche Auslegung von wortgleichen Bestimmungen des Völker- und des Gemeinschaftsrechts. Leider fügt sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu keinem konsistenten dogmatischen Gesamtbild. Stattdessen entwickelte sich ein Fallrecht, dessen Differenzierungen einer Konzentration auf die jeweiligen Besonderheiten des Sachverhalts folgen. Speziell aus einer deutschen Perspektive (aber auch in Abgrenzung zum Gemeinschaftsbinnenrecht)79 ist die Begrenzung der richterlichen Durchsetzung des Völkerrechts auf unmittelbar anwendbare Normen schwer nachvollziehbar.80 Warum sind völkerrechtliche Normen in Ermangelung einer unmittelbaren Anwendbarkeit nicht gleichwohl als objektiver Rechtmäßigkeitsmaßstab heranzu-
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In dieser Formulierung erstmals EuGH, Rs. 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3719, Rn. 14; entsprechend zu Binnenrechtsakten Rs. 41/74, Van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rn. 13/14; näher zu den Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendung C. Tomuschat, in: Groeben/Schwarze (Fn. 74), Art. 300 EG, Rn. 65–86; C. Kaddous, Le droit des relations extérieures dans la jurisprudence de la Cour de justice, 1998, S. 353–401. Exemplarisch EuGH, Rs. 270/80, Polydor, Slg. 1982, 329, Rn. 14 ff. So EuGH, Gutachten 1/91 (Fn. 71), Rn. 21, im direkten Zusammenhang der unterschiedlichen Auslegung wortgleicher Bestimmungen des EWG-Vertrags und des EWR-Abkommens. Weitgehend, unter bewusster Ausblendung von Art. 25, 48, 103 UN-Charta die Rechtsmittelentscheidung von EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 73), Rn. 305–309. In Ermangelung einer unmittelbaren Anwendung besteht gleichwohl eine Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung (EuGH, Rs. C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135) bzw. eine Staatshaftung der Mitgliedstaaten (EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/ 90, Francovich, Slg. 1991, I-5357). Weiterführend Eeckhout (Fn. 9), S. 278–280, und I. Cheyne, International Instruments as a Source of Community Law, in: Dashwood/Hillion (Fn. 55), S. 254–275.
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ziehen? Hinzu tritt die teils divergente Rechtsprechung zu verschiedenen Vertragstypen. Ein Beispiel: Assoziierungsverträge werden unter weitgehender Ausblendung völkerrechtlicher Auslegungsregeln „gemeinschaftsnah“ ausgelegt und der Einwand einer fehlende Reziprozität ausdrücklich zurückgewiesen – anders als beim WTO-Recht.81 Hiernach entsteht der Eindruck einer bisweilen zufälligen Rechtsprechung, die ohne einheitliche dogmatische Linie zwischen verschiedenen völkerrechtlichen Vertragsregimen unterscheidet. Es bleibt eine wichtige Aufgabe der Lehre vom Europäischen Verfassungsrecht, hier überzeugende Erklärungsmuster zu entwickeln, die ihrerseits die Perspektive des Völkerrechts gebührend berücksichtigen. Dies gilt insbesondere für multilaterale völkerrechtliche Verträge mit Ordnungscharakter (EMRK, UN-Charta, eventuell WTO), denen als „völkerrechtliche Nebenverfassung“ eine besondere Rechtsstellung im Gemeinschaftsrecht gebührt.82 Ein kohärentes Gesamtbild setzt voraus, dass die Urteile zu den unterschiedlichen Sachbereichen auswärtigen Handelns wechselseitig in Bezug gesetzt werden. Dies ermöglicht eine Rückführung der Rechtsprechung zum Verhältnis von Völker- und Europarecht auf seine verfassungsrechtlichen Grundlagen, die der Gerichtshof in seiner frühen Rechtsprechung mit Blick auf sein vorrangiges Ziel der Absicherung der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts bewusst im Unklaren ließ. 3. Supranationale Entscheidungsfindung: parlamentarisches Defizit? Verfahren der Entscheidungsfindung sind in der Europäischen Union nie etwas Zufälliges, sondern eine ihrer Erfolgsbedingungen. Dies gilt auch für das Recht der Außenbeziehungen. Hier legt der bisherige Befund einer weitreichenden Parallelität des Binnen- und Außenrechtsregimes die Annahme nahe, dass die Rolle der supranationalen Organe in den Außenbeziehungen weitgehend der Binnenrechtsetzung entspricht. Tatsächlich findet sich eine derartige Parallelität institutioneller Regeln bei der Initiativ- und Exekutivfunktion der Kommission für Vertragsverhandlungen sowie mit Blick auf qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Rat.83 Dagegen ist die Rolle des Europäischen Parlaments abgeschwächt – entsprechend der begrenzten Rolle der nationalen Parlamente im Außenverfassungsrecht der Mitgliedstaaten. Die Suche nach den Ursachen für die begrenzte parlamentarische Beteiligung ergänzt die Parallelität von Binnen- und Außenrecht um die Hinwendung zur völker-
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Eine entsprechende Anwendung von EuGH, Rs. 104/81, Kupferberg, Slg. 1982, 3641, Rn. 18, auf das WTO-Recht weist zurück EuGH, Rs. C-149/96, Portugal/Rat, Slg. 1999, I8395, Rn. 43–45; einen Überblick über die sektorenspezifische Rechtsprechung des EuGH leisten Eeckhout (Fn. 9), S. 274–324, und Koutrakos (Fn. 49), S. 217–299. So, unter Ausschluss des WTO-Rechts, C. Tomuschat, Die Europäische Union und ihre völkerrechtliche Bindung, EuGRZ 2007, S. 1 (4 f.), sowie weiterführend R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 178 ff. Vgl. für die Gemeinsame Handelspolitik Art. 133 Abs. 3, 4 EG und für sonstige völkerrechtliche Verträge Art. 300 Abs. 1, 2 EG.
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rechtlichen Perspektive und konkretisiert damit die eingangs vorgestellte verfassungsrechtliche Eigenart der auswärtigen Gewalt. Beachtenswert ist die abgeschwächte Stellung des Europäischen Parlaments in den Außenbeziehungen, weil ihr Fortbestand mit der fortgesetzten Ausweitung parlamentarischer Beteiligungsrechte bei der Binnenrechtsetzung kontrastiert. Das Parlament forderte bei allen zurückliegenden Vertragsänderungen eine „parallele“ Ausweitung seiner Befugnisse in den Außenbeziehungen – und scheiterte wiederholt.84 Ein näherer Blick auf das Verfahren des völkerrechtlichen Vertragsschlusses nach dem Regelfall des Art. 300 EG85 zeigt den Umfang bewusster parlamentarischer Ausgrenzung. Eine Erklärung findet die begrenzte Parlamentarisierung in den Besonderheiten des Völkervertragsrechts und den Gebräuchen internationaler Verhandlungen, die der Transparenz parlamentarischer Diskussionskultur und der Rigidität innergemeinschaftlichen Verfahrensrechts teilweise widersprechen. Dies verhindert eine einfache Projektion europäischer Binnenregeln auf die Außenbeziehungen und erfordert Sonderbestimmungen für die Aushandlung, Ratifikation und dynamische Entwicklung völkerrechtlicher Verträge. Schon die Umgangssprache stellt ein „diplomatisches Vorgehen“ sprichwörtlich einer „demokratischen Streitkultur“ entgegen. Ganz in diesem Sinn bleibt das diplomatische Verhandlungszimmer dem Parlament kraft Verfassungsrechts verschlossen, obgleich der Rat beständig die Verhandlungsposition der Gemeinschaft über direkte Vorgaben beeinflussen kann.86 Dem Versuch des Parlaments, in der Vertragspraxis offiziell in den gemeinschaftlichen Meinungsbildungsprozess eingebunden zu werden oder gar Zutritt zu den Koordinierungssitzungen des Rates und der Kommission zur Festlegung der EG-Verhandlungsposition zu erlangen, war kein dauerhafter Erfolg beschieden. Zwar erlangte das Parlament durch den Abschluss von Interinstitutionellen Vereinbarungen auf Grundlage der ursprünglichen Version des EWG-Vertrags zwischenzeitlich eine Ausweitung seiner Beteiligung in der Verhandlungsphase.87 Diese wurden in späteren Vertragsänderungen aber nur teilweise kodifiziert, insbesondere durch die Einführung des Zustimmungserfordernisses vor der Ratifikation. Weitergehende Forderungen des Parlaments wurden nicht erhört und auch einseitige Zusicherungen der Kommission
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Einen Überblick über die Forderungen des EP bietet H. Krück, Zur parlamentarischen Legitimation des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge der EG, in: Geiger (Fn. 33), S. 161 (178–182); zur beeindruckenden Ausweitung parlamentarischer Beteiligung an der Binnenrechtsetzung P. Dann, in diesem Band, S. 360 ff. Zum Ausschluss des EP von den sektoralen Sonderregeln der Handelspolitik (Art. 133 EG), der internationalen Währungspolitik (Art. 111 EG) und der Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 24, 38 EU) näher D. Thym, Parliamentary Involvement in European International Relations, in: Cremona/de Witte (Fn. 60), S. 201 (214–216). Vgl. Art. 300 Abs. 1 EG. Zu den Beteiligungsverfahren Luns I (1964), Luns II/Westerderp (1973) und der Stuttgarter Erklärung (1983) auf Grundlage des ursprünglichen Art. 228 EWG näher A. de Walsche, La procédure de conclusion des accords internationaux, in: Dony/Louis (Fn. 9), S. 77 (96–106), und MacLeod u.a. (Fn. 69), S. 98–100.
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können den restriktiven Vertragsinhalt nicht abändern und gegen den Willen des Rats nicht umgesetzt werden.88 In den meisten nationalen Verfassungen wird die parlamentarische Kontrolle des völkerrechtlichen Vertragsschlusses durch ein parlamentarisches Zustimmungserfordernis vor der Ratifikation gesichert.89 Der EG-Vertrag stellt insoweit keine Ausnahme dar – wenn auch der Umfang parlamentarischer Beteiligung vielfach als unzureichend kritisiert wird.90 Insbesondere besteht nach dem derzeitigen EG-Vertrag keine Parallelität des Anwendungsbereichs des Mitentscheidungsverfahrens mit dem Zustimmungserfordernis zum völkerrechtlichen Vertragsschluss.91 Die begrenzte Parallelität parlamentarischer Zustimmung erstreckt sich sogar auf die klassische parlamentarische Domäne des Haushaltsrechts, wo der Gerichtshof eine Finanzzusage in Höhe von ca. 250 Mio. EUR nicht als eine „erhebliche finanzielle Folge“ einstufte, welche die Notwendigkeit parlamentarischer Zustimmung ausgelöst hätte.92 Diese Begrenzung des parlamentarischen Zustimmungserfordernisses entspricht nicht mehr den Realitäten einer globalisierten Welt, in welcher die internationale Rechtsetzung die autonome Binnengesetzgebung zunehmend überlagert. Es ist daher zu begrüßen, dass in der Zukunft eine sachliche Parallelität interner Mitentscheidung und externer Zustimmung als Ergebnis des Verfassungsprozesses garantiert werden wird und sogar die Außenhandelspolitik umfasst.93 Die Freude über die mögliche Ausweitung parlamentarischer Rechte de constitutione ferenda sollte nicht verdecken, dass auch das parlamentarische Zustimmungserfordernis nur eine unvollkommene Projektion interner Mitentscheidung 88
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Seit 1995 hat das Parlament nach dem Amtsantritt einer neuen Kommission in die jeweilige Rahmenvereinbarung zu den bilateralen Beziehungen Bestimmungen über die parlamentarische Beteiligung an Vertragsverhandlungen aufnehmen können (zuletzt Anlage zu Beschluss des Europäischen Parlaments zu der Revision der Rahmenvereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission, P6_TA(2005)0194, Rn. 19–21, ABl. 2006 C 117 E, S. 125; siehe auch Art. 83 EP-Geschäftsordnung). Hiergegen hat der Rat scharf protestiert, vgl. ABl. 2005 C 161, S. 1. Näher, auch zur fehlenden Rechtsverbindlichkeit der einseitigen Zusicherungen, Thym (Fn. 85), S. 205–207. Rechtsvergleichend S. Riesenfeld/F. Abbott (Hrsg.), Parliamentary Participation in the Making and Operation of Treaties, 1994. Etwa von Eeckhout (Fn. 9), S. 177, und Krajewski (Fn. 40), S. 445. Die begrenzte parlamentarische Beteiligung ist kein Relikt des ursprünglichen EWG-Vertrags; vielmehr sah dieser in keinem Fall eine parlamentarische Zustimmung vor, die im gegenwärtigen, begrenzten Umfang erst durch den Vertrag von Maastricht eingeführt wurde. Art. 300 Abs. 3 EG verlangt eine parlamentarische Zustimmung nur bei einer Änderung eines im Mitentscheidungsverfahren angenommenen Rechtsakts und verlangt hiernach keine Zustimmung, wenn ein Abkommen die künftige Rechtsetzung determiniert. So die Auslegung der zitierten Passage des Art. 300 Abs. 3 EG durch EuGH, Rs. C-189/97, Parlament/Rat, Slg. 1999, I-4741; näher Koutrakos (Fn. 49), S. 145–147. Art. 218 Abs. 6 lit. a AEUV fordert eine Zustimmung bei einer Anwendbarkeit der Mitentscheidung (ordentliches Gesetzgebungsverfahren). Zusätzlich wird der Abschluss internationaler Handelsabkommen dem regulären Verfahren unterworfen und damit auch dem Parlament geöffnet; näher Cremona (Fn. 5), S. 1364, und M. Krajewski, Demokratische Kontrolle der Gemeinsamen Handelspolitik, in: Bruha/Nowak (Fn. 10), S. 237 (245–248).
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auf den völkerrechtlichen Vertragsschluss darstellt. Als Arbeitsparlament ist das Europäische Parlament gewohnt, Einfluss im Gesetzgebungsverfahren durch die Beeinflussung gesetzlicher Detailregelungen aufgrund zahlreicher Änderungsvorschläge auszuüben.94 Beim völkerrechtlichen Vertragsschluss ist dies nicht möglich; stattdessen wird das Parlament mit dem Verhandlungsergebnis als fait accompli konfrontiert.95 Es verbleibt dem Parlament einzig die binäre Möglichkeit einer Zustimmung oder Ablehnung des Vertragswerks. Nur in Sondersituationen kann es durch die vorherige Androhung seines Vetos mittelbar Einfluss auf den Verhandlungsverlauf nehmen.96 Der Vergleich mit den Vorrechten des US-Senats zeigt, dass eine theoretisch denkbare Ausweitung der parlamentarischen Zustimmung auf die Änderung einzelner Vertragsbestimmungen jedenfalls dann zu einer Blockade internationaler Rechtsetzung führt, soweit komplizierte multilaterale Abkommen zur parlamentarischen Disposition gestellt werden.97 Vom nationalen Gesetzesrecht unterscheidet sich das Völkervertragsrecht durch seinen dynamischen und evolutiven Charakter. Ein völkerrechtlicher Vertrag kann nicht nur nach Maßgabe strenger Formvorschriften mit der Möglichkeit einer parlamentarischen Rückbindung in Kraft gesetzt, geändert oder aufgehoben werden. Vielmehr sind die vorläufige Anwendung (Art. 25 WVK), die dynamische Vertragsentwicklung aufgrund der späteren Praxis (Art. 31 Abs. 3 WVK) und die Suspendierung ohne formale Vertragsaufhebung (Art. 62 WVK; Staatenverantwortlichkeit) anerkannte Grundsätze des Völkervertragsrechts. Hinzu treten die Annahme von internationalen Sekundärrechtsakten und die Bedeutung des internationalen soft law in seinen mannigfaltigen Erscheinungsformen. Dies verleiht jeweils demjenigen Akteur ein besonderes Gewicht, der die Position eines Vertragsstaats festlegt – auf europäischer Ebene ebenso wie in den Mitgliedstaaten, wo die Entwicklungsdynamik des Völkerrechts schon früh als Ursache für die „faktische oder sogar rechtliche Einbuße an (parlamentarischer) Entscheidungsmacht“ 98 identifiziert wurde. Das Parlament konnte mit guten Gründen fordern, jedenfalls in Situationen, die keine schnelle Entscheidung erfordern, an der Entscheidung über die Suspendierung völkerrechtlicher Verträge oder die Festlegung einer EG-Position bei der Annahme von internationalem Sekundärrecht als Korrelat seines Zustimmungs-
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Näher P. Dann, European Parliament and Executive Federalism, ELJ 9 (2003), S. 549 (561–569). So zu nationalen Parlamenten Tomuschat (Fn. 20), S. 28. Vgl. Bieber (Fn. 26), S. 161, und die Fallstudie zur Verhandlung über eine Zollunion mit der Türkei bei S. Krauss, The European Parliament in EU External Relations, EFARev. 5 (2000), S. 215; die wenigen Fällen einer tatsächlichen Verweigerung der Zustimmung nennt Tomuschat (Fn. 74), Art. 300 EG Rn. 40. Unter Verweis auf die fast track der Welthandelsrunden Thym (Fn. 85), S. 210 f.; dort auch zur Bedeutung des Zustimmungserfordernisses in den USA und der EU, wo anders als in den parlamentarischen Systemen der meisten EU-Mitgliedstaaten nicht die enge Zusammenarbeit von Parlamentsmehrheit und Regierung die Verweigerung der Zustimmung erschwert. Siehe Tomuschat (Fn. 20), S. 29.
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erfordernisses zum Vertragsschluss beteiligt zu werden. Die Amsterdamer Regierungskonferenz entschied sich jedoch gegen diesen Schritt und verankerte die entsprechenden Vorrechte des Rates ausdrücklich im EG-Vertrag.99 Dies unterstreicht erneut, dass die bemerkenswerte Ausweitung parlamentarischer Beteiligung an der europäischen Binnengesetzgebung im Außenverhältnis keine Entsprechung findet. Nach dem Willen des Vertraggebers bleibt die europäische Außenpolitik der direkten parlamentarischen Einflussnahme weitgehend entzogen. Entsprechende Beteiligungsrechte wären mit dem Mitentscheidungsrecht bei der Binnengesetzgebung wegen der aufgezeigten praktischen Bedeutungsschwäche des Zustimmungserfordernisses und der fehlenden Förmlichkeit zahlreicher völkervertragsrechtlicher Entwicklungsdynamiken ohnehin nicht vergleichbar. 4. Materielle Rechtsbindung auswärtigen Handelns Die auswärtige Gewalt der Europäischen Gemeinschaft unterliegt materiell-rechtlichen Bindungen. Diese ergeben sich zuerst aus den Vertragszielen unter Einschluss der speziellen Zielvorgaben für das auswärtige Handeln. Vor allem jedoch verlangen die europäischen Grundrechte Geltung im gesamten Tätigkeitsfeld der Gemeinschaft. An dieser sachlichen Erstreckung europäischer Grundrechte auf die auswärtigen Gemeinschaftspolitiken besteht kein grundlegender Zweifel. Hierfür spricht bereits Art. 6 EU, wonach die Union auf der „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ beruht. Vor allem jedoch schließen weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch die Charta der Grundrechte bestimmte Politikbereiche von ihrem jeweiligen sachlichen Geltungsbereich aus. Beide Erkenntnisquellen europäischen Grundrechtsschutzes fordern ihre Anwendung auf „alle ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen“ bzw. bestimmen ihre Geltung „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“.100 Was folgt hieraus für die Ausgestaltung der europäischen Außenpolitik? Die Annahme einer materiellen Rechtsbindung beinhaltet zuerst keine Aussage über den Umfang der Kontrolldichte in Fällen einer richterlichen Überprüfung. Umgekehrt beinhaltet die Annahme einer reduzierten Prüfungsdichte keine inhaltliche Orientierungslosigkeit europäischer Außenpolitik. a) Gerichtliche Zuständigkeit Nach seinem Selbstverständnis versteht sich der Gerichtshof als Hüter der europäischen Rechtsgemeinschaft. Es überrascht daher nicht, dass der Gerichtshof die Verfahrensvorschriften des EG-Vertrags so auslegt, dass ihm eine möglichst umfassende richterliche Kontrolle über die Auslegung und Anwendung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Gemeinschaft zukommt.101 Komplettiert wird der Zu99 100
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Art. 300 Abs. 2 EG; entsprechend Art. 218 Abs. 9 AEUV. So Art. 1 EMRK und Art. 51 Abs. 1 GR-Charta, deren Reichweite mit Blick auf die EGMRRechtsprechung hier nicht näher erörtert werden soll; allgemein zu den Grundrechten J. Kühling, in diesem Band, S. 657 ff. Zur weiten Auslegung der Zuständigkeitsvoraussetzungen Koutrakos (Fn. 49), S. 183–216.
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gang zum Gerichtshof durch das besondere Gutachtenverfahren des Art. 300 Abs. 6 EG zur vorherigen Kontrolle eines geplanten völkerrechtlichen Abkommens. Die vorgeschaltete Prüfung findet ihre Rechtfertigung im Ziel einer Vermeidung von „Verwicklungen“ und „ernsthaften Schwierigkeiten“ im Fall einer nachgelagerten Feststellung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit.102 Entsprechende Kritik rief der Gerichtshof hervor, als er erstmals die Umsetzung eines völkerrechtlichen Vertrags nach dessen Inkrafttreten aufgrund einer Nichtigkeitsklage gegen den Zustimmungsbeschluss suspendierte.103 Ähnliche Einwände dürften gegen die Nichtigkeit der innereuropäischen Umsetzung von UN-Sanktionsbeschlüssen erhoben werden.104 Gleichwohl überrascht die vorrangige Anwendung der „Verfassungsgrundsätze des EG-Vertrags“105 nicht: Sie entspricht der gemischt monistisch-dualistische Konzeption des Gerichtshofs für das Gemeinschaftsrecht, dessen Hinwendung zum Völkerrecht ihre Grenzen im Vorrang des EG-Vertrags findet.106 Die meisten Urteile des Gerichtshofs zur Vereinbarkeit völkerrechtlicher Verträge mit dem EG-Vertrag beziehen sich auf Fragen der vertikalen Kompetenzabgrenzung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten sowie auf die horizontalen Befugnisse der Organe in den verschiedenen Politikbereichen. Hier findet die Rechtsprechung zur Kompetenzabgrenzung eine Erweiterung und Entsprechung in der auswärtigen Dimension.107 Dagegen gibt es nur wenige höchstrichterliche Stellungnahmen zu der weitergehenden materiell-rechtlichen Bindung der auswärtigen Gewalt. Hinsichtlich der Vertragsziele überrascht dies nicht, weil deren Umsetzung ebenso wie bei der Binnenrechtsetzung nur „in sehr engen Grenzen justitiabel“108 ist. Dies gilt für die allgemeinen Zielvorgaben des Art. 2 EG in gleicher Weise wie für die speziellen Normierungen zu einzelnen Politikbereichen, die etwa die Entwicklungszusammenarbeit auf die „nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung“ und das „Ziel der Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ verpflichten.109
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Zitate nach EuGH, Gutachten 1/75 (Fn. 54), S. 1361. Erstmals EuGH, Rs. C-327/91, Frankreich/Kommission, Slg. 1994, I-3641; zuletzt Rs. C317/04, Parlament/Rat, Slg. 2006, I-2457; kritisch C. Kaddous, L’arrêt France c. Commission de 1994 et le contrôle de la légalité des accords externes, Cahiers de droit européen 32 (1996), S. 613; bekräftigend Eeckhout (Fn. 40), S. 44 ff. EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 73), Rn. 286–288, betont, dass seine Rechtskontrolle sich auf die EG-Umsetzungsrechtsakte beschränkt und nicht die Völkerrechtskonformität von UN-Sanktionen betrifft. Ebd., Rn. 285. Zur Autonomie des EG-Rechts gegenüber dem Völkerrecht bereits oben, III.2.; die Autonomie tritt deutlich hervor, wenn der EuGH, ebd., Rn. 316, die angenommene Nichtzuständigkeit des EGMR für eine Kontrolle der militärischen Durchführung von UN-Resolutionen mit einem prinzipiellen Verweis auf die Eigenständigkeit des EG-Rechts zurückweist. Im systematischen Kontext M. Nettesheim, in diesem Band, S. 434 ff. Statt vieler M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Fn. 59), Art. 2 EG, Rn. 2. Art. 177 Abs. 1 und 2 EG; siehe künftig die horizontale Vorgabe in Art. 21 EUV-Liss.
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Zur Anwendung der Grundrechte auf die auswärtige Gewalt gibt es eine gefestigte Rechtsprechung nur mit Blick auf die EG-Binnenrechtsakte mit Bezug zum Völkerrecht. Insbesondere prüft der Gerichtshof bei der Umsetzung von UNSanktionsbeschlüssen eine Verletzung von EG-Grundrechten.110 Ebenso kann ein Verstoß gegen Grundrechte zur Nichtigkeit eines Annahmebeschlusses zu völkerrechtlichen Verträgen führen.111 Auch autonome Binnenrechtsakte mit völkerrechtlichem Bezug, insbesondere Antidumpingmaßnahmen, müssen mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts übereinstimmen.112 In all diesen Konstellationen wacht der Gerichthof über die Beachtung der Grundrechte bei der Umsetzung von Völkerrecht im innereuropäischen Rechtsraum gegenüber einzelnen Bürgern oder Unternehmen. Insoweit gilt die kategorische Aussage des KadiUrteils, dass „die Gemeinschaftsgerichte … eine grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit sämtlicher Handlungen der Gemeinschaft im Hinblick auf die Grundrechte … gewährleisten müssen“.113 Dagegen gibt es keine umfassende Rechtsprechung zur Kontrolle der auswärtigen Gewalt, wenn diese unabhängig von der Binnenrechtsetzung tätig wird. Insoweit indiziert die geringe Zahl entsprechender Urteile, dass in der Rechtspraxis wenig Schwierigkeiten auftreten. Eine Ursache hierfür ist die Annahme einer geringen richterlichen Kontrolldichte bei Maßnahmen der auswärtigen Gewalt ohne Bezug zum Binnenrecht. b) Reduzierte Kontrolldichte Der Gerichtshof hat sich bislang nicht ausdrücklich zu der Frage geäußert, ob er seine richterliche Kontrolldichte bei Akten der auswärtigen Gewalt zurücknimmt, welche nicht die Binnenrechtsetzung betreffen. Ein wichtiger Referenzpunkt begründet hierbei das US-Verfassungsrecht. Nach dessen herkömmlicher Lehre können Hoheitsakte fremder Staaten nicht von amerikanischen Gerichten überprüft werden (Act of State-Doktrin), Entscheidungen der anderen Verfassungsorgane sind der richterlichen Kontrolle entzogen (Political Question-Doktrin) und die örtliche Geltung der Grundrechte ist grundsätzlich auf US-Hoheitsgebiet beschränkt.114 Allerdings zeigt der Verfassungsvergleich, dass diese Annahmen in vielen EU-Mitglied-
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Wiederum EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 73), Rn. 333 ff.; ebenso zuvor bereits Rs. C-84/95, Bosphorus, Slg. 1996, I-3953, Rn. 19–26; näher R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 212 ff. u. 221 f. Illustrativ die Ausführungen in EuGH, Rs. C-122/95, Deutschland/Rat, Slg. 1998, I-973, Rn. 54–72, hier zum allgemeinen Diskriminierungsverbot. In Ergänzung der hier als Ausnahme zulässigen Berufung auf Welthandelsrecht EuGH, Rs. C-69/89, Nakajima, Slg. 1991, I-2069, Rn. 107–132. EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 73), Rn. 326. Zum US-Verfassungsrecht: Henkin (Fn. 8), S. 136–148, 305–308; aus der europäischen Literatur E.-U. Petersmann, Act of State Doctrine, Political Question Doctrine und gerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, JöR 25 (1976), S. 587–620; Giegerich (Fn. 18), S. 478–482, 512–518, 533–536; L. Collins, Foreign Relations and the Judiciary, ICLQ 51 (2002), S. 485 (497–510), und Krajewski (Fn. 90), S. 440 f.
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staaten keine Entsprechung finden. Insbesondere das von Thomas Franck in seiner Kritik der US-Rechtsprechung zum Gegenmodell erhobene deutsche Verfassungsrecht geht von einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle der auswärtigen Gewalt aus, erkennt aber den „zu politischem Handeln berufenen Stellen allgemein ein(en) breite(n) Raum politischen Ermessens“115 zu. Im verfassungsrechtlichen Schrifttum findet dieses Ergebnis einer reduzierten Prüfungsdichte weitgehende Unterstützung.116 Auf der Grundlage einer verfassungsvergleichenden Gesamtschau kommt auch Generalanwalt Damon zu dem Schluss, dass ein Ausschluss gerichtlicher Zuständigkeit „überaus gewagt“ wäre, zugleich aber stelle „die äußerste Beschränkung richterlicher Kontrolle in diesem Bereich unzweifelhaft einen roten Faden“ dar.117 Ohne Rückgriff auf verfassungsvergleichende Überlegungen plädieren andere Generalanwälte für ein entsprechendes Modell, welches die Annahme einer Zuständigkeit des Gerichtshofs mit einer reduzierten Prüfungsdichte verknüpft. So kommt Generalanwalt Jacobs zu dem Schluss, dass bei der Beurteilung einer „ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung …, Umfang und Intensität der Kontrolle jedoch wegen der Art der aufgeworfenen Fragen eng begrenzt“ sind.118 Entsprechend unterstellt Generalanwalt Cosmas die Beurteilung der militärischen Bedeutung der italienischen Ferieninsel Capri einem „weiten Ermessensund Handlungsspielraum“ der Mitgliedstaaten.119 Generalanwalt Léger möchte die datenschutzrechtliche Kontrolle des EG-US-Vertrags über den Austausch von Passagierdaten „auf die Prüfung eines etwaigen offensichtlichen Beurteilungsfehlers der beiden Organe beschränken.“120 Sachlich verwandt, aber im rechtlichen Zuschnitt verschieden, ist zudem die Annahme des Gerichtshofs, dass im abgelehnten Fall einer unmittelbaren Anwendbarkeit des GATT „den Legislativ- und Exekutivorganen der Gemeinschaft der Spielraum genommen (würde), über den die entsprechenden Organe der Handelspartner der Gemeinschaft verfügen.“121 Auch der Gerichthof anerkennt, dass bei der Grundrechtsprüfung „zwingende Gründe der 115 116
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BVerfGE 40, 141 (178); hierauf rekurriert in seiner Kritik der US-Rechtsprechung T. Franck, Political Questions, Judicial Answers, 1992, S. 97–125. Insbesondere durch Tomuschat (Fn. 20), S. 55–58; Hailbronner (Fn. 26), S. 19 ff.; Calliess (Fn. 6), Rn. 33–34; Röben (Fn. 20), S. 202–209, und Giegerich (Fn. 18), S. 533–555, der Parallelen zwischen BVerfG und US-Supreme Court aufzeigt; kritisch im Angesicht der zunehmenden innerstaatlichen Bedeutung des Völkerrechts Möllers (Fn. 33), S. 369 ff. GA Damon zu EuGH, Rs. C-241/87, Maclaine Watson/Rat und Kommission, Slg. 1990, 1798, Nr. 95 f., für die seinerzeit zwölf Mitgliedstaaten. GA Jacobs zu EuGH, Rs. C-120/94, Kommission/Griechenland, Slg. 1996, I-1514, Nr. 50, mit Blick auf Art 297 EG. GA Cosmas zu EuGH, Rs. C-423/98, Albore, Slg. 2000, I-5965, Nr. 54; der EuGH lässt die Frage in Rn. 21–23 dahinstehen, weil ihm vom vorlegenden Gericht keine ausreichenden Informationen zur Verfügung gestellt wurden. GA Léger zu EuGH, Rs. C-317/04 (Fn. 103), Nr. 231; der EuGH erklärte das Abkommen aufgrund fehlender EG-Kompetenz für nichtig. EuGH, Rs. C-149/96 (Fn. 81), Rn. 46, mit Blick auf die völkerrechtlich konzipierte Gegenseitigkeit; eine Nähe zur political questions-Doktrin sehen hier Krajewski (Fn. 90), S. 447, und R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 194.
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Sicherheit oder der Gestaltung der internationalen Beziehungen“ eine Abweichung von den gewöhnlichen Schutzstandards erfordern können.122 Die grundsätzliche Annahme einer richterlichen Kontrollbefugnis zur inhaltlichen Rechtsbindung der auswärtigen Gewalt überzeugt. Die auswärtige Gewalt ist der europäischen Rechtsgemeinschaft nicht entzogen, in der „keine Maßnahmen als rechtens anerkannt werden können, die mit den … Grundrechten unvereinbar sind.“123 Allerdings ist hiernach nicht in allen Konstellationen die richterliche Kontrolle umfassend; selbst das Ergebnis einer begrenzten Prüfungsdichte widerspricht nicht dem Konzept der Rechtsgemeinschaft. Vielmehr gibt es auch im Binnenrecht zahlreiche Beispiele einer begrenzten Kontrolldichte. Diese umfassen sogar Kernbereiche europäischer Gesetzgebung wie die Gemeinsame Agrarpolitik oder die Verwirklichung der Grundfreiheiten.124 Bei der richterlichen Kontrolle findet die weitgehende Parallelität der verfassungsrechtlichen Grundlagen des europäischen Binnenrechts und der auswärtigen Gewalt eine Fortsetzung. Es ist in jedem Einzelfall zu fragen, ob hinreichende Gründe bestehen, den Umfang der richterlichen Kontrolldichte zurückzunehmen. Hierbei kann den Besonderheiten auswärtigen Handelns hinreichend Rechnung getragen werden, da eine unbesehene Übertragung materiell-rechtlicher Standards wegen der Notwendigkeit internationaler Konsenssuche nicht immer möglich ist.125 c) Inhaltliche Ausrichtung Sachlich beinhaltet die Annahme einer möglichen Rücknahme der richterlichen Kontrolldichte bei der Kontrolle der europäischen Außenpolitik keine inhaltliche Orientierungslosigkeit derselben. Insbesondere ist europäische Außenpolitik kraft der vertraglichen Vorgaben keine neo-realistische Machtpolitik, die unter Verneinung inhaltlicher Bindungen die internationalen Beziehungen als klassische Interessenpolitik betreibt.126 Allerdings bedeutet eine Rücknahme richterlicher Kontrolldichte, dass die Verantwortung für die Umsetzung der Vertragsziele und den Schutz der Grundrechte dem Verantwortungsbereich der politischen Organe zugeordnet wird. Diese müssen bei ihrem auswärtigen Handeln die inhaltlichen Vorgaben der 122
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EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Fn. 73), Rn. 342, zum effektiven gerichtlichen Rechtsschutz; ausdrücklich anerkennt der Gerichtshof mit Blick auf das Eigentum einen „weite(n) Beurteilungsspielraum“ des Gesetzgebers an (ebd., Rn. 360 f.) und gewährt einen Aufschub der zeitlichen Wirkungen des Urteils (ebd., Rn. 373–376); weitergehend hatte GA Poiares Maduro, ebd., Nr. 45, die Annahme einer begrenzten Kontrolldichte generell zurückgewiesen. Nach dem erneuten „Listing“ von Herrn Kadi (ABl. 2008 L 322, S. 25) wird das EuG in der Rs. T-85/09, Kadi/Kommission, zum Beurteilungsspielraum der EU-Organe Stellung beziehen müssen. EuGH, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, 2609, Rn. 17. Vgl. EuGH, Rs. C-280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973, Rn. 91; Rs. C-233/94, Deutschland/Rat, Slg. 1997, I-2405, Rn. 55 f. Der Gerichtshof selbst betont die Völkerrechtsfreundlichkeit des Gemeinschaftsrechts; vgl. stellvertretend EuGH, Rs. C-286/90, Poulsen, Slg. 1992, I-6019, Rn. 9: „Die Befugnisse der Gemeinschaft sind unter Beachtung des Völkerrechts auszuüben.“ Siehe wiederum Art 21 EUV-Liss. sowie vorstehend Abschnitt II. 1.
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Verträge beachten, haben bei der Auswahl der Mittel aber einen weitgehenden Beurteilungsspielraum. In den vergangenen Jahren wurde hier eine große Vielfalt verschiedener Maßnahmen eingeführt, die durch Anreiz- und Fördermaßnahmen auf unterschiedlichste Weise und mit abgestuftem Erfolg der Verwirklichung der Menschenrechte in Drittstaaten zu dienen bestimmt sind.127 Für die juristische Analyse von besonderem Interesse ist die Aufnahme von Menschenrechtsklauseln in völkerrechtliche Verträge mit Drittstaaten, die inzwischen einen etablierten Bestandteil der EG-Außenbeziehungen darstellen.128 Wenn aufgrund von Menschenrechtsklauseln die Suspendierung eines Abkommens in individuelle Rechtspositionen eingreift, obliegt dem Gerichtshof die Kontrolle, ob insofern die (völker-)rechtlichen Vorgaben beachtet wurden.129 Die zu Grunde liegende außenpolitische Entscheidung für oder wider eine Suspendierung ist jedoch den politischen Organen zugeordnet und wird vom Gerichtshof nur auf „offensichtliche Fehler bei der Beurteilung der Voraussetzungen für die Anwendung dieser Regeln“ überprüft.130 Entsprechend obliegt nicht dem Gerichtshof die Entscheidung, ob im Einzelfall ein Abkommen aufgrund einer Weigerung des Vertragspartners ohne Menschenrechtsklausel geschlossen wird (China, Australien). Die Einschätzung und Abwägung der Handlungsoptionen muss von den politischen Organen getroffen werden; gleiches gilt für sonstige auswärtige Handlungsinstrumente der europäischen Menschenrechtspolitik aufgrund entwicklungspolitischer Instrumente. Die weitgehende Abwesenheit richterlicher Kontrolle spielt in diesen Fällen den Ball zurück in die Arena der Politik, die aufgrund von Interventionen der EU-Organe, akademischer Beobachtung und öffentlicher Meinungsbildung über die inhaltliche Ausrichtung der europäischen auswärtigen Gewalt diesseits gerichtlicher Kontrollbefugnisse zu entscheiden hat.
IV. Intergouvernementale Außen- und Sicherheitspolitik Gemessen an der vertraglichen Zielvorgabe der „Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene“131 ist die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vielfach gescheitert – und gehört gleichwohl zu den großen Wachstumsfeldern der europäischen Politik. Für den anfänglichen Misserfolg im ehemaligen Jugoslawien, die 127
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Im Überblick A. Williams, EU Human Rights Policies, 2005, und T. Bruha/M. Rau, Bedeutung der Grundrechte der EU für Drittstaaten, in: S. Heselhaus/C. Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, S. 105 (110–116). Auf Grundlage abgeschwächter Grundrechtsstandards im Außenverhältnis A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel, JZ 2001, S. 157 (162 ff.), entgegen P. Alston/J. H. H. Weiler, An ‘Ever Closer Union’ in Need of a Human Rights Policy, in: dies. (Hrsg.), The EU and Human Rights, 1999, S. 3; kritisch etwa P. Leino-Sandberg, Particularity as Universality, 2005. Siehe F. Hoffmeister, Menschenrechts- und Demokratieklauseln in den vertraglichen Außenbeziehungen der EG, 1998, und Eeckhout (Fn. 9), S. 465–484. EuGH, Rs. C-162/96, Racke, Slg. 1998, I-3655, Rn. 45 ff., zur Suspendierung nach Völkergewohnheitsrecht ohne Existenz einer Menschenrechtsklausel. Ebd., Rn. 52. Art. B Spstr. 2 EU-Vertrag, heute Art. 2 EU; differenzierend Art. 3 Abs. 5 EUV-Liss.
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Spaltung Europas während des Irak-Kriegs und die weitgehende Passivität der Union bei zentralen Herausforderungen der internationalen Politik wie dem Nahostfriedensprozess gibt es verschiedene Ursachen. Ein Faktor sind die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die als „zweite Säule“ der Union in bewusster Abkehr vom supranationalen Standardmodell der Gemeinschaftsmethode konzipiert wurden. Die einhergehende Verweigerung der institutionellen und rechtlichen Erfolgsbedingungen der supranationalen Integrationsmethode ist nach Ansicht vieler Beobachter mitursächlich für das teilweise Scheitern. Der GASP fehlten die Mittel, um das vollmundige Versprechen einer gemeinsamen Außenpolitik realisieren zu können.132 Vor diesem Hintergrund werden nachfolgend die verfassungsrechtlichen Grundlagen der GASP in ihren Errungenschaften und Defiziten vorgestellt. Hierbei soll gezeigt werden, dass die bewusste Entscheidung des Vertraggebers gegen eine Übertragung der supranationalen Gemeinschaftsmethode mit einem positiven Erklärungsgehalt unterlegt werden kann. Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in den 1950er Jahren wurde das Projekt einer „Politischen Union“ auf Grundlage der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht aufgegeben.133 Es wandelte sich nur der Modus seiner Verwirklichung. An die Stelle eines großen Vertragsentwurfs trat die graduelle Annäherung der nationalen Außenpolitiken aufgrund informeller Kooperationsrahmen, die schrittweise eine einheitliche Übung außenpolitischer Politikkoordinierung entwickelten. Grundlagen, Verfahren und Gegenstand dieser Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) wurden in der Einheitlichen Europäischen Akte erstmals rechtsförmlich niedergelegt. Deren Überführung in eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) durch den Vertrag von Maastricht war kein kategorialer Wandel durch Vergemeinschaftung, sondern ein Zwischenstopp im Prozess der zunehmenden Formalisierung und Verrechtlichung.134 Der inkrementelle Wandel dauert an: Die Einführung des Postens des Hohen Vertreters durch den Vertrag von Amsterdam, der fortschreitende Ausbau verteidigungspolitischer Handlungsinstrumente seit 1999 und die Praxis des völkerrechtlichen Vertragsschlusses seit dem Jahr 2001 führen zum Verfassungsprojekt einer Verknüpfung der GASP mit den EG-Außenbeziehungen. In Fortführung 132
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Grundlegend C. Hill, The Capability – Expectations Gap or Conceptualising Europe’s International Role, JCMS 31 (1993), S. 305; sprachlich zugespitzt Petiteville (Fn. 10), S. 90: „fiction juridique“. Zum Scheitern der EVG P. Gerbet, La construction de l’Europe, 1999, S. 121–162, und W. Loth, Der Weg nach Europa, 1996, S. 91–112. Politische Vorhaben zur Verwirklichung der „Politischen Union“ in den Folgedekaden fasst zusammen J. Mischo, Les efforts en vue d’organiser sur le plan juridique la coopération en matière de politique étrangère, in: FS Pescatore, 1987, S. 441. Grundlegend Smith (Fn. 26), S. 79–104, und ders., Europe’s Common Foreign and Security Policy, 2004; die Entwicklung von EPZ zum Verfassungsvertrag als „ratchet fusion“ deutet W. Wessels, Theoretical Perspectives, in: D. Mahncke u.a. (Hrsg.), European Foreign Policy, 2005, S. 61–96.
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des Verfassungsvertrags realisiert der Vertrag von Lissabon zahlreiche Reformschritte; wiederum geht es um einen inkrementellen Wandel durch schrittweise Neuerungen.135 1. Intergouvernementale Entscheidungsfindung Im strengen Wortsinn „intergouvernemental“ durch eine Begrenzung auf Regierungskontakte unter Ausschluss überstaatlicher Institutionalisierung war die Koordinierung der europäischen Außenpolitik nur in den Anfangsjahren. In bewusster Abgrenzung von den supranationalen Gemeinschaftsorganen trafen sich die Außenminister der sechs Gründungsstaaten zu ihren regelmäßigen Treffen als Koordinationsgremium der EPZ nicht am Tagungsort des Rates in Luxemburg oder Brüssel, sondern in den Metropolen der Mitgliedstaaten. Es sollte symbolisch klargestellt werden, dass die außenpolitischen Hoheitsbefugnisse der Mitgliedstaaten in den Hauptstädten verblieben.136 Verfassungsrechtlich änderte sich dies in der Folgezeit nur insoweit, als der Vertrag von Maastricht mit der GASP ein eigenständiges überstaatliches Kooperationsforum im Rahmen der Europäischen Union schuf und eine entsprechende Zuständigkeit der europäischen Organe zur Annahme von EURechtsakten begründete.137 Bis heute erfolgte dagegen keine Erstreckung des supranationalen Regelfalls der Entscheidungsfindung und Rechtsgeltung. In terminologischer Abgrenzung zur supranationalen Gemeinschaftsmethode kann man insofern weiterhin vom intergouvernementalen Charakter der GASP sprechen. Deutlichster Ausdruck der institutionellen Eigenart der GASP ist die zentrale Rolle der nationalen Regierungen bei der außenpolitischen Entscheidungsfindung. Zentrales Beratungs- und Beschlussorgan der GASP ist der (Europäische) Rat, der in allen Stufen des Verfahrens die volle Kontrolle über Umfang und Ausrichtung außenpolitischer Handlungen besitzt.138 Den Vorrechten des Rates entspricht die nahezu vollständige Ausgrenzung der supranationalen Organe nach geltendem Recht und aufgrund des Vertrags von Lissabon: Der Gerichtshof besitzt keine Zuständigkeit139 und die Kommission wird an der Entscheidungsfindung nur „in vollem Umfang beteiligt“,140 so dass sie allenfalls aufgrund ihrer realen Präsenz bei
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Nur auf den ersten Blick bleibt der Vertrag von Lissabon durch die Beibehaltung der Säulenstruktur hinter dem Verfassungsvertrag zurück, da auch dieser hinter der Fassade eines einheitlichen Vertragswerks die Eigenheiten der GASP bewahrt hätte; näher Cremona (Fn. 5), S. 1350–1361, und D. Thym, Die neue institutionelle Architektur europäischer Außen- und Sicherheitspolitik, AVR 42 (2004), S. 44. Zu den Treffen auf Grundlage des Luxemburger Berichts vom 27. 10. 1970, erstmals im November desselben Jahres in München, näher Smith, Europe’s Common … (Fn. 134), S. 67–83. Art. 30 EEA konzipierte die EPZ noch als Zusammenarbeit der „Hohen Vertragsparteien“. Vgl. Art. 13–18 EU zu den Vorrechten des Rates und der Leitfunktion des Europäischen Rats. Vgl. Art. 46 EU und Art. 275 AEUV mit einer Ausnahme für Sanktionsbeschlüsse. Vgl. Art. 27 EUV.
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den Ratssitzungen durch konstruktive Vorschläge mittelbaren Einfluss auf die Ausrichtung der GASP nehmen kann.141 Ihre Privilegien nach der Gemeinschaftsmethode finden in der zweiten Säule keine Entsprechung: der Kommission steht weder ein Initiativmonopol noch die Kontrolle über den administrativen Unterbau des Ratssekretariats oder eine Klagemöglichkeit vor dem Gerichtshof zur Verfügung. Bemerkenswert ist der nahezu vollständige Ausschluss des Europäischen Parlaments, das selbst hinter der begrenzten Einflussnahme nach dem EG-Vertrag zurückbleibt. Vor der Annahme von individuellen GASP-Maßnahmen erfolgt nicht einmal eine parlamentarische Anhörung. Stattdessen ist nur eine Aussprache „zu den wichtigsten Aspekten und grundlegenden Weichenstellungen“142 der GASP aufgrund von periodischen Tätigkeitsberichten des Rates vorgesehen. Wiederholte Forderungen nach einer Ausweitung parlamentarischer Mitwirkung blieben erfolglos – bis hin zum Reformprojekt des Verfassungsvertrags. Auch dem Versuch des Parlaments, aufgrund einer „demokratischen Erpressung“ durch die Verweigerung von Haushaltsmitteln einen weitergehenden Einfluss auf die Entscheidungsfindung der GASP zu erlangen, war kein nachhaltiger Erfolg beschieden.143 Nur mittelbar kann das Europäische Parlament, auch in Kooperation mit den nationalen Parlamenten, auf die Entscheidungsfindung des Rates einwirken.144 Verfassungsrechtlich bleibt der Rat das alleinige Entscheidungs- und Verantwortungsgremium außenpolitischer Maßnahmen der GASP. Zur Wahrnehmung seiner Aufgaben entwickelte der Rat einen umfassenden institutionellen Unterbau, der seine Entscheidungen vorbereitet und deren Durchführung koordiniert. Eine besondere Bedeutung kommt dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK) zu, das sich in den vergangenen Jahren zum zentralen Leitungs- und Kontrollgremium der GASP zwischen den monatlichen Ratstagungen entwickelte und dem zahlreiche Ratsarbeitsgruppen zuarbeiten.145 Unter Leitung des Hohen Vertreters für die GASP, derzeit Javier Solana, wurde das Generalsekretariat des Rates in den vergangenen Jahren beständig ausgebaut und ist heute dem Umfang nach mit einer Generaldirektion der Kommission vergleich141
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Siehe Art. 18 Abs. 4, Art. 22 Abs. 1 und Art. 27 EU; zur Praxis E. Regelsberger, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, 2004, S. 86–88; nach dem Vertrag von Lissabon wird die Beteiligung der Kommission über den Hohen Vertreter (Außenminister) als Vizepräsidenten der Kommission realisiert. Der zitierte Art. 21 EU beruht auf Art. 30 Abs. 4 EEA und besteht nach Art. 36 EUVLiss. nahezu unverändert fort; zur Entwicklung und Analyse der Vorschriften Thym (Fn. 30), S. 110–113. Zu den 1990er Jahren J. Monar, The Finances of the Union’s Intergovernmental Pillars, JCMS 35 (1997), S. 57, und zu späteren Entwicklungen Thym (Fn. 30), S. 113–117. Ein mittelbarer Erfolg des Parlaments war die Verlagerung kostenintensiver außenpolitischer Maßnahmen auf die EG-Außenbeziehungen; hierzu Abschnitt V. 2. Ausführlicher Thym (Fn. 30), S. 117–123. Vgl. Art. 25 EU sowie ausführlich A. Juncos/C. Reynolds, The Political and Security Committee, EFARev. 12 (2007), S. 127; anders als das frühere Politische Komitee ist das PSK ein ständiges Gremium, dessen Mitglieder durchgehend in Brüssel residieren.
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bar.146 Für die juristische Analyse ist nicht entscheidend, ob der Rat seine Beschlüsse aufgrund spontaner Zusammentreffen der Außenminister fasst und ob diese von langer Hand durch ständige Untergremien unter Rückgriff auf eine eigene Ministerialbürokratie vorbereitet werden. Allerdings misst die Politikwissenschaft letzterem Umstand eine maßgebliche Bedeutung bei, wenn sie zu dem Schluss kommt, dass auch ohne rechtliche Supranationalisierung eine reale „Brüsselisierung“147 europäischer Außenpolitik erfolgte, die einen wesentlichen Beitrag zum zunehmenden Erfolg der GASP leistet. Der beständige Kontakt zwischen mitgliedstaatlichen Akteuren, der Umbau nationaler Außenministerien und die personelle Verstetigung durch das Ratspersonal bilden die Grundlage für die schrittweise Angleichung nationaler Außenpolitiken sowie die erfolgreiche Formulierung und Durchsetzung gemeinsamer Positionen.148 Hierauf baut der Vertrag von Lissabon auf, soweit auf seiner Grundlage der institutionelle Unterbau des Ratssekretariats mit den auswärtigen Dienststellen der Kommission im neuen Europäischen Auswärtigen Dienst unter Vorsitz des Hohen Vertreters (Außenministers) zusammen geführt werden.149 Die Einbeziehung außerrechtlicher Gesichtspunkte liefert auch eine Erklärung, warum die dynamische Entwicklung der GASP nur begrenzt von der Reform ihrer verfassungsrechtlichen Grundlagen abhängt. Ein Blick auf die Vertragsreformen seit Maastricht zeigt, dass der Vertraggeber zwar eine Vergemeinschaftung der GASP bewusst ablehnte, zugleich aber dem Vorbild der EG-Integration insoweit folgte, als ein sachlicher Fortschritt der GASP durch die Reform von Entscheidungsverfahren und Handlungsformen bewirkt werden sollte. Der EU-Vertrag geht davon aus, dass die GASP durch die Annahme rechtsförmlicher Gemeinsamer Positionen, Aktionen und Strategien auf Grundlage regulärer Beschlussverfahren voranschreitet, die unter bestimmten Umständen auch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen zulassen; die ansonsten erforderliche Einstimmigkeit wird durch das besondere Institut der konstruktiven Enthaltung und die verstärkte Zusammenarbeit abzufedern gesucht.150
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Siehe Regelsberger (Fn. 141), S. 67–85; S. Duke/S. Vanhoonacker, Administrative Governance and CFSP, in: H. Hofmann/A. Türk (Hrsg.), EU Administrative Governance, 2006, S. 361, und speziell zu den verteidigungspolitischen Einrichtungen S. v. Kielmannsegg, Die Verteidigungspolitik der Europäischen Union, 2005, S. 254–335, und S. Dietrich, Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), 2006, S. 326–473. G. Müller-Brandeck-Boucquet, Das neue Entscheidungssystem in der GASP, in: dies. (Hrsg.), Europäische Außenpolitik, 2002, S. 9 (11–21). Unter Rückgriff auf die konstruktivistische Denkschule der internationalen Beziehungen konzeptionell weiterführend J. Øhrgaard, International Relations or European Integration: Is the CFSP sui generis?, in: Tonra/Christiansen (Fn. 10), S. 26 (28–32); K. Glarbo, Reconstructing a Common Foreign and Security Policy, in: T. Christiansen u.a. (Hrsg.), The Social Construction of Europe, 2001, S. 140, und Bedarff/Jakobeit (Fn. 10), S. 189 f. Hierzu nachfolgend Abschnitt V. 3. Insbesondere der Vertrag von Amsterdam verfolgte diesen Weg durch die Reform der Handlungsformen und die Ermöglichung der konstruktiven Enthaltung sowie qualifizierter Mehrheitsentscheidungen nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 2 EG; die verstärkte Zusammenarbeit wurde in Nizza auf die GASP erstreckt; Detailfragen erörtert jeder EU-Kommentar.
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In der Verfassungswirklichkeit waren diese Reformschritte nahezu wirkungslos.151 Die Ratspraxis zeigt, dass formale GASP-Maßnahmen nur dort angenommen werden, wo die Bereitstellung von Personal und Geldmitteln eine förmliche Rechtsgrundlage in Form einer Gemeinsamen Aktion erfordert; dagegen werden anstelle rechtsförmlicher Gemeinsamer Strategien und Positionen zumeist öffentlichkeitswirksame Ratsschlussfolgerungen, Erklärung der Präsidentschaft und informale Strategiepapiere angenommen, die man rechtlich allenfalls als soft law zu qualifizieren vermag.152 Ein Beispiel: Die in der Praxis überaus bedeutsame Europäische Sicherheitsstrategie ist gerade keine Gemeinsame Strategie im Sinne des Art. 13 EU, welche die Annahme von Durchführungsbeschlüssen mit qualifizierter Mehrheit erlaubt, sondern eine rechtlich unverbindliche Ausarbeitung des Hohen Vertreters, die vom Europäischen Rat gebilligt wurde.153 Die fehlende Relevanz der Entscheidungsverfahren und Handlungsformen der GASP mag daran liegen, dass die Mitgliedstaaten nicht zur Einschränkung ihrer Handlungsoptionen durch rechtsförmliche Beschlüsse bereit sind, zumal der EU-Vertrag bislang vor dem entscheidenden Schritt zurückschreckt, eine Beschlussfassung gegen den erklärten Willen eines Mitgliedstaats zu ermöglichen.154 Hauptursache für die weitgehende Bedeutungslosigkeit der Entscheidungsverfahren und Handlungsformen der GASP ist jedoch der sachliche Unterschied zwischen supranationaler Binnenrechtsetzung und auswärtigem diplomatischen Vorgehen. Die supranationale Gemeinschaftsmethode beruht auf einer Verrechtlichung der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten. Eine einseitige Übertragung dieses Modells auf die diplomatischen Beziehungen der Union mit Drittstaaten ist nicht möglich. Selbst wenn alle Mitgliedstaaten eine im Amtsblatt verkündete Gemeinsame Position der EU zu einer außenpolitischen Fragestellung in der Praxis befolgen, als ob es sich um einen unmittelbar anwendbaren supranationalen Rechtsakt handelte, ist das keine hinreichende Erfolgsbedingung europäischer Außenpolitik. Die internationalen Beziehungen erfordern häufig ein politisches Engagement und sind nur teilweise durch Rechtsetzung geprägt: Nordkorea wird nicht auf seine Atom151
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Zur Konsenssuche anstelle förmlicher Abstimmungen Regelsberger (Fn. 141), S. 118, und zum weitgehenden Rückgriff auf formlose Verständigungsformen anstelle formeller Rechtsakte HL Report of the Select Committee on the European Union (HL Paper (2005) Nr. 19), S. 26–36, unter www.parliament.uk. Während meines Referendariats bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EU (Politische Abteilung) im Jahr 2004 erlebte ich, wie insb. Ratsschlussfolgerungen in der genauen Wortwahl ebenso wie ein Rechtsakt umfassend diskutiert wurden, obgleich sie formal nur eine politische Meinungsäußerung des Rates darstellen. Europäischer Rat, Rats-Dok. 15895/03 (Fn. 14). Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen nach Art. 23 Abs. 2 EU greifen nur dort, wo zuvor einstimmig eine europäische Position vereinbart wurde und sind dauerhaft durch die Kodifizierung einer modifizierten Fassung des Luxemburger Kompromisses relativiert; weitergehende Mehrheitsentscheidungen ermöglicht die Evolutivklausel des Art. 31 Abs. 3 EUV-Liss.; die Grenzen rechtlicher Integration in der GASP bestätigt H.-J. Cremer, Anmerkungen zur GASP – eine rechtspolitische Perspektive, EuGRZ 2004, S. 587 (589–590); positiver A. Dashwood, The Law and Practice of CFSP Joint Actions, in: Cremona/de Witte (Fn. 60), S. 53.
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waffen verzichten, weil die Europäische Union eine Gemeinsame Position diesen Inhalts annimmt und im Amtsblatt veröffentlicht. Stattdessen verlangt erfolgreiche Außenpolitik ein politisches Engagement, das die Verständigung auf strategische Zielsetzungen verbindet mit der Entwicklung und beständigen Anpassung von Strategien und Methoden ihrer Durchsetzung. Diese Wesensart außenpolitischen Vorgehens mag mit dem Begriff „Diplomatie“ zutreffend beschrieben sein. Ihr Erfolg hängt an der politischen Bereitschaft der Mitgliedstaaten zur Unterstützung einer europäischen Außenpolitik und deren strategischer Außenwirkung gegenüber Drittstaaten – nicht an der Rechtsförmlichkeit der Binnenbeschlüsse. 2. Militärische Exekutivfunktion Besonders deutlich wird die Intergouvernementalität der Außen- und Sicherheitspolitik im Anwendungsbereich der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die rechtlich einen integralen Bestandteil der GASP darstellt.155 In den vergangenen Jahren gehörte die ESVP zu den großen Wachstumsfeldern europäischer Außenpolitik; zwischenzeitlich führte die Europäische Union ihre ersten Militäroperationen erfolgreich durch.156 Bedeutsam für die verfassungsrechtliche Beurteilung der ESVP ist der Umstand, dass ihre rasante Entwicklung nicht durch Vertragsänderungen angestoßen wurde, sondern auf Grundlage der allgemeinen Bestimmung des Art. 17 EU nach Maßgabe politischer Initiativen umgesetzt wird. Das Modell einer ausgreifenden textlichen Vorformung neuer Integrationsschritte findet keine Entsprechung. Erst der Verfassungsvertrag und in seiner Folge der Vertrag von Lissabon unternehmen den Versuch, die Entwicklungsdynamik der ESVP textlich einzufangen und in modifizierender Kodifikation im Wortlaut des Vertragstexts zu verankern; als Momentaufnahme begründen die neuen Bestimmungen jedoch keine Neuausrichtung der ESVP/GSVP.157 Die Vorgaben des gegenwärtigen Art. 17 EU hat Graf von Kielmannsegg überzeugend aufgearbeitet und den verfassungsrechtlichen Kern der Bestimmung durch die Begrifflichkeit des „Rückgriffs-“ und des „Freiwilligkeitsprinzips“ sprachlich auf den Punkt gebracht.158 Hiernach gilt als Grundregel, dass die Europäische Union über keine eigenen operativen Kapazitäten verfügt, sondern auf die militärischen Fähigkeiten der Mit155 156 157
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Vgl. Art. 2 Spstr. 2, Art. 17 EU. Einen guten und vor allem aktuellen Überblick über die stetig wachsende Zahl militärischer und ziviler Operationen bietet die Homepage des Rates unter www.consilium.europa.eu. Vgl. Art. 42–46 EUV-Liss., welche die ESVP zugleich in GSVP („Gemeinsame“ statt „Europäische“) umbenennen; der Schwerpunkt der Neuregelungen liegt bei Formen der flexiblen Zusammenarbeit, etwa der Europäischen Verteidigungsagentur, die allerdings keine Erfindung des Verfassungsprozesses begründen, sondern aus der allgemeinen politischen Debatte übernommen wurden; näher H. Bribosia, Les nouvelles formes de flexibilité en matière de défense, in: Amato u.a. (Fn. 53), S. 835–848, D. Thym, Ungleichzeitigkeit und europäisches Verfassungsrecht, 2004, S. 173–176, und ders., Außenverfassungsrecht nach dem Lissaboner Vertrag, in: I. Pernice (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2008, S. 173 (181 ff.). Zum Folgenden v. Kielmannsegg, Verteidigungspolitik (Fn. 146), S. 108–142, und ders., Die verteidigungspolitischen Kompetenzen der Europäischen Union, EuR 2006, S. 182.
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gliedstaaten zurückgreift („Rückgriffsprinzip“). Dementsprechend ist auch die Reform der Streitkräfte eine nationale Aufgabe, die europäisch nur koordiniert wird. Aufgrund freiwilliger politischer Absprachen werden Planziele zur Verbesserung der militärischen Fähigkeiten vereinbart, die ihren Ausgangspunkt in der Erkenntnis finden, dass die europäischen Streitkräfte nur im begrenzten Umfang auf friedenssichernde und friedensschaffende Militäreinsätze außerhalb Europas vorbereitet sind.159 Hierbei profitiert die ESVP von fortgesetzten Reformbemühungen der nationalen Streitkräfte im Rahmen der NATO sowie der Einrichtung bi- und multinationaler Militärverbände nach dem Vorbild des Eurokorps oder die Gründung Europäischen Rüstungsagentur OCCAR, die etwa die Anschaffung des Militärtransporters Airbus A400M koordiniert.160 Zuletzt begründete die Europäische Union zudem begrenzte eigene Fähigkeiten und Einrichtungen, etwa die Europäische Verteidigungsagentur sowie eine zivil-militärische Zelle als Keimzelle eines EU-Hauptquartiers.161 Angesichts des allgemeinen Charakters des Art. 17 EU dürfte dies keinen Verstoß gegen das „Rückgriffsprinzip“ begründen.162 Selbst wenn die Mitgliedstaaten im Rat für die Einleitung einer Militäroperation stimmten, sind sie verfassungsrechtlich nicht zur Truppenstellung verpflichtet. Vielmehr folgt aus dem „Freiwilligkeitsprinzip“, dass Ob und Umfang der Truppenstellung der autonomen Entscheidung der Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Hiernach besteht ausreichend Raum für die Beachtung des nationalen Verfassungsrechts einschließlich des Erfordernisses einer konstitutiven Zustimmung des Deutschen Bundestages und entsprechende Regeln in anderen Mitgliedstaaten.163 Sachlich erstreckt sich die ESVP auf die in Art. 17 Abs. 2 EU ausdrücklich genannten Petersberg-Aufgaben und umfasst hiernach auch Kampfeinsätze zur Friedenserzwingung; nur eine kollektive Verteidigung der Mitgliedstaaten ist gegenwärtig nicht vom Unionsvertrag umfasst, was den neutralen Mitgliedstaaten die Mitwirkung an der ESVP erleichtert.164 Allerdings umfasst der Vertrag von Lissabon eine 159
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Derzeit gilt das Headline Goal 2010, das anstelle quantitativer Vorgaben besonderen Wert auf qualitative Verbesserungen durch erhöhte Interoperabilität, schnelle Einsatzfähigkeit, verbesserte Transportkapazitäten und flexible Truppenstrukturen legt; vgl. S. Biscop, Able and Willing?, EFARev. 9 (2004), S. 509. Zu Truppenverbänden M. Kleine, Die militärische Komponente der ESVP, 2005, S. 199–238; zu OCCAR das Gründungsübereinkommen vom 09.09.1998, BGBl. 2000 II, S. 414. Zur Verteidigungsagentur in Ergänzung von OCCAR die Gemeinsame Aktion 2004/551/ GASP, ABl. 2004 L 245, S. 17, und zur zivil-militärischen Zelle Biscop (Fn. 159), S. 523–526. Näher Thym, Die völkerrechtlichen Verträge … (Fn. 30), S. 905; anders v. Kielmannsegg, Kompetenzen (Fn. 158), S. 196–199. Vgl. BVerfGE 90, 286 (387 ff.); für einen Rechtsvergleich siehe G. Nolte/H. Krieger, Europäische Wehrrechtssysteme, 2002, S. 60–70. Eine gemeinsame Verteidigung erfordert die Nutzung der Evolutivklausel des Art. 17 Abs. 1 EU; zur in Grenzsituationen fraglichen Abgrenzung zwischen erlaubten Petersberg-Einsätzen und einer der ESVP gegenwärtig untersagten gemeinsamen Verteidigung siehe v. Kielmannsegg, Verteidigungspolitik (Fn. 146), S. 114–136, und S. Dietrich, Die rechtlichen Grundlagen der Verteidigungspolitik der EU, ZaöRV 66 (2006), S. 663 (669–675). Zur Stellung der neutralen EU-Mitgliedstaaten ders. (Fn. 146), S. 419–426, und zur Nichtteilnahme Dänemarks Thym (Fn. 157), S. 176–179.
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kollektive Verteidigungsklausel, ohne dass hierbei den neutralen Mitgliedstaaten neue Pflichten auferlegt würden.165 In der Praxis hat sich die Europäische Union bislang auf friedenssichernde Militäreinsätze konzentriert, während gefährliche und politisch umstrittene Operationen aufgrund einer faktischen Arbeitsteilung auch in absehbarer Zukunft im Rahmen der NATO erfolgen dürften. Auf Dauer könnte das arbeitsteilige Nebeneinander von NATO und EU allerdings einem bereits heute spürbaren Konkurrenzverhältnis zwischen Union und Allianz weichen.166 Für die auswärtige Gewalt der Europäischen Union ist die ESVP eine wichtige Ergänzung bestehender Handlungsoptionen. Von der Handels-, Umwelt- und Entwicklungspolitik über diplomatische Aktivitäten bis hin zu Militäroperationen kann die Union heute auf das ganze Spektrum außenpolitischer Instrumente zurückgreifen. Aus der Sicht der europäischen Bürger waren diese Handlungselemente in den vergangenen Jahrzehnten auf verschiedene Ebenen und Organisationen verteilt und werden nun erstmals wieder in ihrer gesamten Bandbreite bei einem Akteur verbunden. Die einhergehende Möglichkeit, je nach Bedarf unterschiedliche außenpolitische Instrumente zu verbinden, könnte auf Dauer den größten Mehrwert europäischer Außenpolitik darstellen und wesentlich zu ihrem Erfolg beitragen. Die ESVP bewirkt hierbei keine „Militarisierung“ europäischer Außenpolitik, sondern ist nach den vertraglichen Vorgaben und der bisherigen Praxis fest der „Wahrung des Friedens … entsprechend den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen“ verpflichtet.167 Schon aufgrund dieser Selbstverpflichtung muss die ESVP das völkerrechtliche Gewaltverbot beachten.168 In der Praxis zeigt der große Erfolg des zivilen Krisenmanagements als nichtmilitärische Ergänzung der ESVP, dass diese die auswärtige Gewalt der Union militärisch ergänzt, nicht aber militaristisch neu ausrichtet.169 3. Rechtsnatur des Unionsrechts Die europäischen Verträge normieren kein einheitliches Rechtsregime der auswärtigen Gewalt. Vielmehr besteht eine verfassungsrechtliche Dichotomie zwischen 165 166
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Vgl. Art. 42 Abs. 7 EUV-Liss.; hierzu aus österreichischer Sicht J. Rehrl, Beistandsgarantie und Solidaritätsklausel, ZÖR 60 (2005), S. 31. Zu Rechtsaspekten der EU-NATO-Beziehungen, vor allem mit Blick auf die Berlin-plusVereinbarung zum Rückgriff der EU auf NATO-Mittel Dietrich (Fn. 146), S. 376–394; v. Kielmannsegg, Verteidigungspolitik (Fn. 146), S. 227–239; M. Reichard, Some Legal Issues Concerning the EU-Nato Berlin Plus Arrangement, Nordic Journal of International Law 73 (2004), S. 37, und, mit Blick auf die Verteidigungsklausel, H. Krieger, Common European Defence, in: M. Trybus/N. White (Hrsg.), European Security Law, 2007, S. 174. Art. 11 Abs. 1 Spstr. 3 EU; differenzierend I. Österdahl, Who Wages Who? The EU and the Use of Military Force in a Global Context, in: N. Wahl/P. Cremér (Hrsg.), Swedish Studies in European Law (2006), S. 279; zur Praxis der EU-VN-Zusammenarbeit die Beiträge zum dritten Teil von J. Wouters u.a. (Hrsg.), The United Nations and the European Union, 2006. Näher R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 207 ff. Zum überaus erfolgreichen zivilen Krisenmanagement der ESVP, das vor allem Polizeimissionen umfasst, R. Rummel, Die zivile Komponente der ESVP, SWP-Studie 16 (2006), unter www.swp-berlin.org.
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der Supranationalität des Gemeinschaftsrechts und der Intergouvernementalität des Unionsrechts, dessen Rechtsnatur bis heute nicht abschließend geklärt ist. Fest steht aus heutiger Sicht allerdings, dass die Europäische Union über eine eigene Völkerrechtspersönlichkeit verfügt, nachdem diese in Ermangelung einer klaren vertraglichen Regelung durch die völkerrechtliche Vertragsschlusspraxis auf Grundlage des Art. 24 EU begründet wurde. Allein im Geltungsbereich der ESVP hat die Union seit dem Jahr 2001 mehr als 80 Abkommen mit verschiedenen Drittstaaten und internationalen Organisationen geschlossen. Sie verfügt hiernach über eine eigene Völkerrechtspersönlichkeit in komplementärer Ergänzung der separaten Völkerrechtspersönlichkeit der Gemeinschaft und der originären Staatlichkeit der Mitgliedstaaten.170 Mit der Verschmelzung von EG und EU aufgrund des Vertrags von Lissabon wird das Nebeneinander der Rechtspersönlichkeiten von Union und Gemeinschaft beseitigt.171 Allerdings darf die Annahme einer Völkerrechtspersönlichkeit nicht gleichgesetzt werden mit einer umfassenden Supranationalisierung des Unionsrechts nach dem Vorbild des EG-Vertrags. Vielmehr muss in jedem Einzelfall untersucht werden, ob ein Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts auf das Unionsrecht übertragen werden kann. Diese Analyse kann und will dieser Beitrag nicht ersetzen. Mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen der auswärtigen Gewalt seien jedoch einige Grundannahmen aufgezeigt. Diese gelten auch nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, weil dieser im Rahmen der einheitlichen Organisation die intergouvernementalen Regelungsstrukturen der GASP fortführt.172 Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der GASP bekräftigen, dass die weitgehende Einordnung der Mitgliedstaaten in den europäischen Integrationsverbund keine umfassende Föderalisierung der auswärtigen Gewalt beinhaltet und ihren Status als originäre Völkerrechtssubjekte in letzter Konsequenz bewahrt.173 Allgemein stehen sich in Literatur und Rechtsprechung zwei Deutungslinien gegenüber, die das Unionsrecht entweder dem Gemeinschaftsrecht annähern174 oder
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Umfassender Thym, Die völkerrechtlichen Verträge … (Fn. 30), S. 863–899, sowie R. Wessel, The European Union as a Party to International Agreements, in: A. Dashwood/M. Maresceau (Hrsg.), Law and Practice of EU External Relations, 2008, S. 152. Vgl. Art. 1, 47 EUV-Liss. Im Gegensatz zur Zusammenarbeit in Strafsachen nach der dritten Säule wird die GASP nicht vergemeinschaftet und hätte ihre Intergouvernementalität auch unter Geltung des Verfassungsvertrags bewahrt; bekräftigend Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 EUV-Liss.: „Für die GASP gelten besondere Bestimmungen und Verfahren …“. Die Wahrung nationaler Souveränität nennen als Grund für die Intergouvernementalität der GASP Denza (Fn. 26), S. 19; Cremer (Fn. 154), S. 591, und C. Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 6), Bd. III, 2004, § 32, Rn. 91; differenzierend A. v. Bogdandy, Die Europäische Union als supranationale Föderation, Integration 1999, S. 95 (98 f.). Für eine „gemeinschaftsrechtsnahe“ Deutung EuGH, Rs. C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285, Rn. 31 ff., sowie aus der Literatur A. v. Bogdandy/M. Nettesheim, Die Europäische Union: Ein einheitlicher Verband mit eigener Rechtsordnung, EuR 1996, S. 1 (17–26).
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alternativ wie einen herkömmlichen völkerrechtlichen Vertrag auslegen175 – auch wenn die Unterscheidung insoweit relativiert ist, als je nach Standpunkt einzelne Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts nicht bzw. doch auf das Unionsrecht übertragen werden. Zudem betonen verschiedene Autoren anstelle einer strikten Trennung von Völker- und Gemeinschaftsrecht wieder verstärkt den völkerrechtlichen Ursprung des Europarechts in seiner Gesamtheit. Sie weisen darauf hin, dass nahezu alle Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts auch als besonderer Ausdruck eines entwickelten völkerrechtlichen Eigenregimes verstanden werden können. Diese Sichtweise hat den Charme, dass sie das Unionsrecht als konzeptionelle Zwischenstufe versteht und keine kategoriale Entscheidung zwischen Völker- oder Gemeinschaftsrecht verlangt.176 Eine charakterbildende Eigenschaft des Gemeinschaftsrechts ist seine supranationale Geltung; aufgrund einer Übertragung von Hoheitsrechten verfügt die Gemeinschaft über eigene Kompetenzen, die ihr einen „Durchgriff“ in den innerstaatlichen Rechtsbereich gestatten.177 Dagegen kennzeichnet die Intergouvernementalität der GASP, dass keine Kompetenzen übertragen wurden.178 Dies folgt bereits aus dem Wortlaut, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, Gemeinsame Aktionen „bei ihren Stellungnahmen und ihrem Vorgehen“ zu beachten.179 Ausdrücklich bestimmt der Vertrag von Lissabon: „Der Erlass von Gesetzgebungsakten ist ausgeschlossen.“180 Konzeptionell betrifft die GASP tatsächlich keine Gesetzgebung im Sinn eines direkten Zugriffs auf die Rechtspositionen von Individuen, sondern die Entwicklung und Durchsetzung außenpolitischer Positionen.181 Hiernach ist eine Übertragung eigenständiger Unionskompetenzen, die mit supranationaler Durch175
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Dezidiert für die völkerrechtliche Deutung: BVerfGE 113, 273 (301): „Teilrechtsordnung, die bewusst dem Völkerrecht zugeordnet ist“; aus der Literatur A. Haratsch/C. Koenig/ M. Pechstein, Europarecht, 2006, S. 35 f., und Koskenniemi (Fn. 26), S. 30. In diesem Sinn instruktiv A. Pellet, Le fondements juridiques internationaux du droit communautaire, in: Academy of European Law (Hrsg.), Collected Courses of the Academy of European Law, Bd. V 2, 1997, S. 193 (245–267), sowie E. Denza, Two Legal Orders: Divergent or Convergent?, ICLQ 48 (1999), S. 257; dies. (Fn. 26), S. 5–33; T. Hartley, International Law and the Law of the European Union, BYIL 72 (2001), S. 1 (10 ff.); R. Gosalbo Bono, Some Reflections on the CFSP Legal Order, CMLRev. 43 (2006), S. 337 (370–376), und C. Schönberger, Der Rahmenbeschluss, ZaöRV 67 (2007), S. 1107 (1123–1125). Stellvertretend Pernice (Fn. 35), Rn. 80 ff. So etwa F. Dehousse, La Politique étrangère et de sécurité commune, in: Dony/Louis (Fn. 9), S. 439 (469–479); Eeckhout (Fn. 9), S. 398–409; Denza (Fn. 26), S. 30; Koutrakos (Fn. 49), S. 393–404; Gosalbo Bono (Fn. 176), S. 364; I. Govaere, The External Relations of the EU, in: Mahncke u.a. (Fn. 134), S. 97 (105); anders S. Marquardt, Kompetenzgefüge und Handlungsinstrumentarien der GASP, in: Bruha/Nowak (Fn. 10), S. 195 (195–201). Art. 14 Abs. 3 EU in deutlichem Gegensatz zu Art. 249 EG; entsprechend Art. 28 f. EUVLiss.; der Vertrag von Amsterdam erstreckte die Reform der Handlungsformen der dritten Säule gerade nicht auf die GASP. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 3 EUV-Liss. Zur Sonderfrage der Einordnung nationaler Streitkräfte in EU-Kommandostrukturen Kleine (Fn. 160), S. 239–296; zu den ggf. erforderlichen Modalitäten der innerstaatlichen Umsetzung Thym (Fn. 162), S. 904–908.
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griffswirkung ausgeübt werden, nach dem geltenden und künftigen Vertragsrecht weder vorgesehen noch notwendig; eine unmittelbare und vorrangige Anwendung des Unionsrechts scheidet aus. Zwar sind Mitgliedstaaten rechtlich zur Einhaltung des Unionsrechtsakts verpflichtet, besitzen aber weiterhin die Regelungskompetenz, innerstaatlich oder im völkerrechtlichen Verkehr abweichende Regelungen zu treffen – allerdings zum Preis eines Rechtsbruchs, für den ein Mitgliedstaat gegenüber der Union und eventuell betroffenen Drittstaaten verantwortlich zeichnet. Entsprechend ist das unionsrechtliche Vorgehen nur ein Angebot konkurrierender Politikgestaltung, ohne dass nach Maßgabe der AETR-Rechtsprechung eine unionsrechtliche Ausschließlichkeit externer Handlungsmacht entstünde.182 Eine gerichtliche Kontrolle des Unionsrechts ist nicht vorgesehen und kann nur indirekt erreicht werden, soweit in Umsetzung einer GASP-Maßnahme die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten auf die Rechte von Einzelpersonen zugreifen.183 In diesen Fällen ist gegen den gemeinschaftlichen oder nationalen Umsetzungsakt Rechtsschutz vor den zuständigen Gerichten zu suchen.184 Zudem steht zu erwarten, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg in derartigen Konstellationen seine Residualkompetenz aktiviert und mangels EuGH-Zuständigkeit Unionsrechtsakte auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK überprüft.185 Eine besondere Bedeutung besitzt dies für zivile und militärische ESVPOperationen, wenn eine EU-Streitmacht unter der politischen und strategischen Kontrolle von Rat und PSK direkt auf individuelle Rechtspositionen zugreift. Hier wird der EGMR mangels EuGH-Zuständigkeit seine Rechtsprechung zur Anwendung der Konvention auf Militäreinsätze fortentwickeln müssen.186 Soweit der
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Zur fehlenden Ausschließlichkeit Thym (Fn. 162), S. 902–904. Zum Ausschluss der Gerichtsbarkeit gegen GASP-Beschlüsse eindeutig Art. 46 EU; nur gegen GASP-Sanktionsbeschlüsse ermöglicht Art. 275 Abs. 2 AEUV künftig direkte Klagen. Mangels Durchgriffswirkung von GASP-Maßnahmen ist immer eine Durchführungsmaßnahme von EG oder Mitgliedstaaten erforderlich, die vor Gericht angegriffen werden kann; vgl. zur Klage gegen eine EG-Verordnung in Umsetzung eines Gemeinsamen Standpunkts EuGH, Rs. C-229/05 P, PKK u.a./Rat, Slg. 2007, I-439; in gleicher Weise ist gegen eine nationale Umsetzung indirekter Rechtsschutz vor nationalen Gerichten zu suchen, sodass insoweit Art. 46 EU nicht mit Art. 47 GR-Charta oder Art. 6 EMRK in Konflikt gerät; dagegen für eine Ausweitung der EuGH-Zuständigkeit in richterlicher Rechtsfortbildung Eeckhout (Fn. 103), S. 17–22. Weiterführend R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 204 ff., und M.-G. Garbagnati Ketvel, The Jurisdiction of the ECJ in Respect of the CFSP, ICLQ 55 (2006), S. 77 (106–119). Siehe aber den weitgehenden Verzicht auf eine Überprüfung von Militäroperationen im Anwendungsbereich von Kapitel VII UN-Charta in EGMR (GK), Nr. 71412/01 und Nr. 78166/ 01, Behrami u.a./Frankreich u.a., EuGRZ 2007, S. 522. Eine instruktive Analyse der früheren Rechtsprechung leisten C. Eick, Die Reichweite der Bindung menschenrechtlicher Verträge für das auswärtige Handeln von Staaten, in: E. Klein/C. Menke (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2006, S. 115, und T. Rensmann, Die Anwendbarkeit von Menschenrechten im Auslandseinsatz, in: D. Weingärtner (Hrsg.), Einsatz der Bundeswehr im Ausland, 2007, S. 49.
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EGMR seine Zuständigkeit restriktiv handhabt, bleibt betroffenen Unionsbürgern oder Drittstaatsangehörigen die Klage gegen Durchführungsmaßnahmen vor nationalen Gerichten.187
V. Verbundcharakter auswärtiger Gewalt Die Europäische Union ist kein Staat, der die auswärtigen Befugnisse weitgehend auf föderaler Ebene zentralisiert. Jenseits der ausschließlichen EG-Verbandskompetenz besteht keine Pflicht zum auswärtigen Handeln im Rahmen der Europäischen Union. Insoweit verbleiben den Mitgliedstaaten eigene Aufgabenfelder zur außenpolitischen Entfaltung und Artikulation: Sei es weil der europäische Kompetenzrahmen erschöpft ist, die Verständigung auf eine europäische Position scheitert oder eine europäische Lösung nicht für notwendig erachtet wird. Allerdings kann die Europäische Union nicht einseitig ihre interne Kompetenzabgrenzung auf die internationalen Beziehungen übertragen und diese in getrennte Bereiche nationaler oder europäischer Zuständigkeit aufteilen. Vielmehr ist häufig ein gemeinsames Auftreten von Union, Gemeinschaft und Mitgliedstaaten notwendig, um ohne Aufgabe der jeweiligen Vorrechte „the strength inherent in united action“188 in den Dienst einer wirkungsvollen Außenpolitik zu stellen. Das Neben- und Miteinander europäischer und nationaler auswärtiger Gewalt begründet damit zugleich die externe Dimension des Europäischen Verfassungsverbunds, in welchem Mitgliedstaaten und Europäische Union zu einem einheitlichen Handlungsverbund verschränkter Autonomie und wechselseitiger Abhängigkeit verbunden sind.189 1. Vertikaler Verbund von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten Die auswärtige Verbandskompetenz der Gemeinschaft folgt dem Grundsatz einer Parallelität von Binnen- und Außenzuständigkeit; erst nach der Annahme eines Binnenrechtsakts wandelt sich die anfangs konkurrierende Zuständigkeit zu einer ausschließlichen Verbandskompetenz der Gemeinschaft.190 Hiernach ergibt sich das Gesamtbild eines Flickenteppichs europäischer und nationaler Zuständigkeiten, der aufgrund der Dynamik der Gemeinschaftsrechtsordnung einem stetigen Wandel unterworfen ist. Die Rechtssicherheit im völkerrechtlichen Verkehr erfordert dagegen klare und stabile Verantwortungssphären der Vertragsparteien; insbesondere umfassende Regelungswerke wie das Welthandelsrecht oder das Seerechtsübereinkommen können ihren sachlichen Zuschnitt nicht an die gemeinschaftsinterne 187
188 189 190
Näher, auch zur Anwendung europäischer Rechtmäßigkeitsstandards durch nationale Gerichte D. Thym, Europäisches Wehrverwaltungsrecht, in: J. P. Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Europäischen Union, im Erscheinen. Wegweisend J. H. H. Weiler, The External Legal Relations of Non-Unitary Actors, in: ders., The Constitution of Europe, 1999, S. 130 (185). Hierzu I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (163 ff.), und ders. (Fn. 35), Rn. 20–23. Zur AETR-Rechtsprechung näher in Abschnitt III. 1.
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Kompetenzaufteilung anpassen. Vielmehr müssen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten sich den Anforderungen des Völkerrechtsverkehrs stellen. Aus diesem Grund entwickelte sich die Praxis „gemischter Abkommen“, denen sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten als eigenständige Vertragsparteien angehören. Der Erfolg der gemischten Abkommen erklärt sich aus ihrem Pragmatismus. Sie ermöglichen ein einheitliches Auftreten von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten nach außen und entschärfen interne Streitigkeiten über den genauen Umfang der EG-Verbandskompetenz. Gemeinschaft und Mitgliedstaaten treten als einheitlicher Akteur auf. Allerdings verschwimmt im Neben- und Miteinander der Verantwortungssphären die aus verfassungsrechtlicher Sicht gebotene Zuweisung von abgegrenzter Zuständigkeit und Verantwortung. Entsprechende Schwierigkeiten bereitet der Europarechtswissenschaft die Lösung der zahlreichen Rechtsprobleme gemischter Abkommen bis heute. Nahezu alle Rechtsprobleme der EG-Außenbeziehungen finden im Recht der gemischten Abkommen eine Spiegelung mit einhergehenden Auslegungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten. Sie können und sollen an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden.191 Der Gerichtshof selbst hat den Abschluss gemischter Abkommen durch die Annahme einer „geteilten“ Zuständigkeit von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten wiederholt gefördert. Verfassungsrechtliche Abgrenzungsprobleme löste er pragmatisch durch die Annahme einer weitgehenden Kooperationspflicht von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten, welche die verfassungsrechtliche Unschärfe des gemischten Vertragsschlusses prozedural einfängt und gerichtlich durchgesetzt werden kann.192 Zuletzt eröffnete die völkervertragsrechtliche Praxis der Union eine neue Perspektive des gemischten Vertragsschlusses: Den Abschluss neuartiger, säulenübergreifender gemischter Abkommen unter Beteiligung von Europäischer Gemeinschaft und Europäischer Union. Letztere übernimmt hierbei die Stellung der Mitgliedstaaten bei herkömmlichen gemischten Abkommen aufgrund eines Vertragsschlusses nach Art. 24 und 38 EU. Der erste Anwendungsfall ist der Vertrag der Union und der Gemeinschaft mit der Schweiz über deren Anbindung an das Schengener Recht, der wegen seines sachlich begrenzten Anwendungsbereichs kein Problem aufwirft.193 Schwieriger ist die Situation, wenn Assoziierungs- oder Kooperationsabkommen die bilateralen Beziehungen Europas mit einem Drittstaat sachlich umfassend regeln. Der Verzicht auf einen eigenen Vertragsstaatenstatus 191
192 193
Siehe stattdessen J. Heliskoski, Mixed Agreements as a Technique for Organizing the International Relations of the European Community and its Member States, 2001; V. Rodenhoff, Die EG und ihre Mitgliedstaaten als völkerrechtliche Einheit bei umweltvölkerrechtlichen Übereinkommen, 2008; D. O’Keeffe/H. Schermers (Hrsg.), Mixed Agreements, 1983; J. Bourgeois u.a. (Hrsg.), La Communauté européenne et les accords mixtes, 1997; M. Dony, Les Accords mixtes, in: dies./Louis (Fn. 9), S. 167–200; Eeckhout (Fn. 9), S. 190–223; Koutrakos (Fn. 49), S. 150–182; Kaddous (Fn. 75), S. 360–369; MacLeod u.a. (Fn. 69), S. 142–163, und M. Nettesheim, in diesem Band, S. 432 ff. Für eine tiefgehende Analyse siehe M. Cremona, Defending the Community Interest: the Duties of Cooperation and Compliance, in: dies./de Witte (Fn. 60), S. 125. Näher Thym (Fn. 162), S. 894–898.
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der Mitgliedstaaten bewirkte hier eine Einschränkung der formalen völkerrechtlichen Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten – in Ergänzung zu Abgrenzungsproblemen zum Umfang der Unionszuständigkeit auch unter Geltung des Vertrags von Lissabon.194 Es ist daher zu begrüßen, dass die Mitgliedstaaten dem Ansinnen einer weitgehenden Ersetzung durch die Union widerstanden haben – auch wenn der gefundene Kompromiss eines dreifach gemischten Abkommens von Union, Gemeinschaft und Mitgliedstaaten neue Abgrenzungsprobleme mit sich bringt.195 2. Horizontale Kohärenz von Union und Gemeinschaft Die Trennung der GASP vom EG-Vertrag begründet die Sorge um widersprüchliche Entscheidungen zwischen den Säulen. Konsequent verpflichtet Art. 3 EU die Organe zur Achtung der „Kohärenz aller von ihr ergriffenen außenpolitischen Maßnahmen im Rahmen ihrer Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik“. Die Umsetzung dieser Rechtspflicht ist in erster Linie der politischen Entscheidungsfindung überantwortet, soweit über die Vermeidung direkter Konflikte hinaus (Konsistenz) eine positive Komplementarität von außenpolitischen Maßnahmen gefordert wird (Kohärenz).196 Erst wenn Entscheidungen der Gemeinschaft und der Union in einen direkten Konflikt geraten, stellt sich die Frage nach der richterlichen Überprüfung. Der Gerichtshof hat wiederholt verdeutlicht, dass er die Rolle eines Grenzschutzes zwischen EG- und EU-Vertrag zu übernehmen bereit ist und hierbei auch vor der Nichtigerklärung von Gemeinschafts- und Unionsrechtsakten nicht zurückschreckt. Verfassungsrechtlich handelt der Gerichtshof in solchen Fällen zur Durchsetzung der Kompetenzabgrenzungsnorm des Art. 47 EU.197 Die
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Gegenwärtig begrenzt Art. 47 EU die Unionszuständigkeit und schließt damit eine EU-Kompetenz in Bereichen aus, die der EG-Vertrag den Mitgliedstaaten vorbehält, zum Beispiel eine Rechtsharmonisierung in der Bildungspolitik. Künftig kann ein völkerrechtlicher Vertragsschluss nach Maßgabe des Art. 218 AEUV zugleich Sachbereiche der GASP und anderer Politiken umfassen, sein Umfang bleibt aber einheitlich nach Art. 4 f. EUV-Liss. begrenzt. Zum Streit um den Beitritt der Union zum neuen Kooperationsabkommen mit Thailand und den ASEAN-Freundschaftsvertrag Thym (Fn. 162), S. 908–912; zur eigenständigen Teilnahme am völkerrechtlichen Verkehr als Voraussetzung für die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten Hillgruber (Fn. 173), § 32 Rn. 91 und Denza (Fn. 26), S. 19; das Nebeneinander von Union und Mitgliedstaaten ist keine Besonderheit des Europarechts, sondern findet sich ähnlich in anderen Staatenbünden und Bundesstaaten; vgl. B. Fassbender, Der offene Bundesstaat, 2007, S. 40 ff. Ein Vergleich der Sprachfassungen des Art. 3 EU ergibt, dass nicht nur negative Konflikte (inconsistency der englischen Sprachfassung), sondern materielle Komplementarität verlangt wird (Kohärenz bzw. cohérence der deutschen und französischen Fassung); vgl. R. Wessel, The Inside Looking Out, CMLRev. 37 (2000), S. 1135 (1149–1152) und A. Missiroli, European Security Policy: The Challenge of Coherence, EFARev. 6 (2001), S. 177. So mit Blick auf erste und dritte Säule in jeweils umgekehrter Zielrichtung EuGH, Rs. C176/03, Kommission/Rat, Slg. 2005, I-7879, und Rs. C-317/04 (Fn. 103). Der direkte Widerspruch im Sinne einer Inkonsistenz stellt regelmäßig zugleich eine Kompetenzbeeinträchtigung dar, die nach Art. 47 EU der Jurisdiktion des EuGH unterfällt.
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verfassungsrechtliche Diskussion konzentriert sich in der Folge auf die Zuweisung supranationaler und intergouvernementaler Verantwortungssphären. Eine besondere Bedeutung besitzt die Abgrenzung zwischen intergouvernementalem Konfliktmanagement und supranationaler Entwicklungspolitik, wenn man letztere auch auf Maßnahmen der Konfliktprävention erstreckt.198 Der Gerichtshof unterstützt eine dynamische Auslegung der EG-Entwicklungspolitik, die heute auch Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Förderung von Sicherheit und Frieden als zweier Voraussetzungen für nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung umfasst.199 Tatsächlich betreffen die EG-Außenbeziehungen heute zahlreiche Materien, die zu Zeiten des Vertrags von Maastricht noch als wichtige Anwendungsfelder der GASP erachtet wurden. Man kann insoweit von einem konstruktiven Wettstreit zwischen Gemeinschaft und Union sprechen; Kommission und Parlament nutzen die Annahme neuer Gemeinschaftsinstrumente mit großzügiger Finanzausstattung, um eine mittelbare Supranationalisierung europäischer Außenpolitik durch die Hintertür zu erreichen.200 Dies gilt insbesondere für Maßnahmen zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten, die erst auf der Grundlage eines erweiterten Entwicklungsbegriffs in das Blickfeld der EG-Außenbeziehungen gerieten.201 Selbst in den Bereich des militärischen Krisenmanagements dringt die Gemeinschaft indirekt vor, wenn sie aufgrund der Friedensfazilität für Afrika Militäreinsätze der Afrikanischen Union finanziell unterstützt.202 Es scheint, dass der Konflikt um die Reichweite von Entwicklungspolitik und GASP schrittweise in eine Phase der friedlichen Koexistenz mündet. Das Urteil des Gerichtshofs zur Nichtigkeitsklage der Kommission gegen die GASP-Förderung der Einziehung von Kleinwaffen in Westafrika aufgrund paralleler EG-Aktivitäten führt die Rechtslage einer stabilisierenden Klärung zu.203 Künftig bekräftigt Art. 40
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So zur Entwicklungspolitik der Europäischen Union, Gemeinsame Erklärung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission: Der Europäische Konsens, ABl. 2006 C 46, S. 1. Vgl. EuGH, Rs. C-403/05, Parlament/Kommission, Slg. 2007, I-9045, Rn. 56–58; Rs. C-91/ 05, Kommission/Rat, Slg. 2008, I-3651, Rn. 64–70, unter Verweis auf die gemeinsame Erklärung „Der Europäische Konsens“ (ABl. 2006 C 46, S. 1). Näher I. Pernice/D. Thym, A New Institutional Balance for European Foreign Policy?, EFARev. 7 (2002), S. 369 (386–391); entsprechend Y. Gauttier, Horizontal Coherence and External Competences, ELJ 10 (2004), S. 23 (33–36); E. Cannizzaro, Unity and Pluralism in the EU’s Foreign Relations Power, in: C. Barnard (Hrsg.), The Fundamentals of EU Law Revisited, 2007, S. 193 (222 ff.), und Gosalbo Bono (Fn. 176), S. 376. Vgl. Verordnung (EG) Nr. 1889/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines Finanzierungsinstruments für die weltweite Förderung der Demokratie und der Menschenrechte, ABl. 2006 L 386, S. 1. Vgl. Beschluss Nr. 3/2003 des AKP-EG-Ministerrats, ABl. 2003 L 345, S. 108; bezahlt wird die Friedensfazilität nicht aus dem EG-Haushalt, sondern den nationalen Beiträgen zum Europäischen Entwicklungsfonds; hiernach können Militäreinsätze auch dann unterstützt werden, wenn man eine entsprechende EG-Kompetenz ablehnt. EuGH, Rs. C-403/05 (Fn. 199), Rn. 64 ff.; instruktiv im Vorfeld Dashwood (Fn. 154), und Garbagnati Ketvel (Fn. 185), S. 88 f.
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EUV-Liss. das gleichberechtigte Nebeneinander von supranationaler und intergouvernementaler Außenpolitik.204 Eine Klärung der Zuständigkeitsbereiche bereitet den Boden für ein sachorientiertes Miteinander zwischen den Säulen. Dies bekräftigt die Erfahrung mit früheren Auseinandersetzungen zur säulenübergreifenden Regelung von Wirtschaftssanktionen und Produkten mit einem doppelten militärisch-zivilen Verwendungszweck (dual use). Heute zeigt sich in diesen Bereichen eine weitgehend reibungsfreie Zusammenarbeit von Union und Gemeinschaft.205 Dies verdeutlicht, dass das Nebeneinander von Union und Gemeinschaft nicht zu einem dauerhaften Gegeneinander im Streit um sachliche Einflusssphären führen muss, sondern im Idealfall dem Bewusstsein um außenpolitische Stärke durch Einheit weicht. 3. Einheitlichkeit der Außenvertretung: Reformperspektiven Anders als innerstaatliche Gesetzgebung ist die Außenpolitik nicht durch die Bewirkung von Rechtsfolgen, sondern durch die Identifikation und Durchsetzung strategischer Positionen geprägt. Hieraus folgt, dass eine einheitliche Außenvertretung eine erfolgreiche Außenpolitik begünstigt; Personifizierung fördert die Wahrnehmung politischer Positionen und stärkt damit deren Einfluss. Dies führt zur Frage nach Gesicht und Stimme Europas in der Welt. Seit der Einrichtung des Postens des Hohen Vertreters durch den Vertrag von Amsterdam verleiht dieser der Reform der europäischen Außenpolitik einen symbolischen Ausdruck. Gewarnt sei jedoch vor einer Überschätzung seiner Bedeutung: Nach geltendem und künftigem Recht ist der Hohe Vertreter eher mit einem Staatssekretär als mit einem Außenminister vergleichbar; seine vertragliche Rolle ist gegenwärtig auf die Unterstützung des Ratsvorsitzes beschränkt und er darf auch künftig eigenständige Repräsentationsaufgaben nur „auf Ersuchen“ des Rates wahrnehmen.206 In der Praxis konnte Javier Solana als erster Hoher Vertreter der GASP gleichwohl Einfluss gewinnen und wurde vom Rat wiederholt mit wichtigen diplomatischen Missionen betraut, etwa zur Beilegung der Verfassungskrise in Serbien und Montenegro oder Nuklearverhandlungen mit dem Iran. Ergänzt wird das Zweigespann von Ratsvorsitz und Hohem Vertreter durch die Exekutivfunktion der Kommission im Anwendungsbereich des EG-Vertrags. Dies gilt insbesondere für den Kommissar mit der Zuständigkeit für die Außenbeziehungen und die Europäische Nachbarschaftspolitik, derzeit Benita Ferrero-Waldner 204
205 206
Anders als bei Art. 47 EU steht nicht mehr der Schutz der EG-Kompetenzen im Vordergrund; ergänzend wird die Entwicklungspolitik in Art. 208 Abs. 1 AEUV dem „Hauptziel“ der Armutsbekämpfung unterstellt; weiterführend F. Hoffmeister, Inter-pillar Coherence in the EU’s Civilian Crisis Management, in: Blockmans (Fn. 39), S. 157. Ausführlich M. Trybus, European Union Law and Defence Integration, 2005, S. 123–261; Koutrakos (Fn. 49), S. 415–452, und Cremona (Fn. 55), S. 166–174. Art. 26, 18 Abs. 3 EU; gegenwärtig obliegt die Vertretung der GASP im ersten Zugriff dem Vorsitz des Rates und damit vor allem dem Außenminister der Präsidentschaft; künftig weitergehend Art. 18, 27 EUV-Liss.
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(hinzu treten die Kommissare mit den Portfolios für Handel, Entwicklung und Erweiterung).207 Die einhergehende Gruppenlösung der „Troika“ versucht, durch ein Miteinander von Ratsvorsitz, Hohem Vertreter und Außenkommissar die aktuelle Vielfalt der Außenvertretung zu überwinden. Dies bewirkt jedoch interne Reibungsverluste und externe Missverständnisse. Es ist daher zu begrüßen, dass der Vertrag von Lissabon das Verfassungsprojekt eines europäischen Außenministers unter dem missverständlichen Namen eines „Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik“ fortführt. Dessen Aufgaben sind keineswegs auf die GASP beschränkt, sondern verschmelzen die Funktionen des gegenwärtigen Dreigespanns in einer Person. Konzeptionell zeichnet sich das Projekt eines Außenministers durch seinen institutionellen Pragmatismus aus. Das neue Amt erreicht eine Zusammenlegung der jeweiligen Befugnisse von Ratsvorsitz, Hohem Vertreter und Außenkommissar, ohne die zu Grunde liegende Kompetenzverteilung zwischen den beteiligten Organen zu verändern. In einer schlichten Personalunion wird die auswärtige Repräsentativfunktion gebündelt, ohne die verfassungsrechtliche Dichotomie zwischen intergouvernementaler GASP und supranationalen Außenbeziehungen aufzuheben. Aufgrund seines „Doppelhuts“ erhält der Außenminister im Anwendungsbereich der GASP seine Aufträge vom Rat, während er als Vizepräsident der Kommission in die supranationale Entscheidungsfindung der EG-Außenbeziehungen integriert ist.208 Es bleibt dem Praxistest vorbehalten, ob eine solche Konstruktion in der Verfassungswirklichkeit erfolgreich sein kann, wenn der Außenminister aufgrund seines „Doppelhuts“ zwischen den Organen in einer Grauzone unklarer Verantwortlichkeit und doppelter Loyalität verbleibt.209 Zusätzliche Komplikationen bewirkt der neue Präsident des Europäischen Rates. Wenn dieser „auf seiner Ebene“210 die Außenvertretung der GASP übernimmt und ergänzend der Präsident der Kommission seine supranationale Vertretungsmacht in Anspruch nimmt, gefährdet dies das Ziel einer einheitlichen Außenvertretung. Europas Gesicht und Stimme in der Welt kann nur dann erfolgreiche Außenpolitik betreiben, wenn aufgrund der vertraglichen Entscheidungsverfahren durch nationale und europäische Ministerialbürokratien überzeugende Politikansätze vorbereitet, beschlossen und umgesetzt werden. Die Existenz eines Außenministers hätte die Spaltung Europas während des Irak-Kriegs nicht verhindert; mangels Einigkeit 207
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Die Aufteilung der Portfolios kann jederzeit geändert werden; die Vielfalt bewahrt Art. 18 Abs. 4 EUV-Liss.; das Nebeneinander verschiedener außenpolitischer Vertreter ist kein EUSpezifikum und findet sich ähnlich etwa in den Vereinigten Staaten. Näher Art. 18, 27 EUV-Liss.; zur Analyse der Vorgängerbestimmungen Thym (Fn. 135), S. 60–65, H.-J. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-28, Rn. 1–45, und C. Grevi, The Institutional Framework of External Action, in: Amato u.a. (Fn. 53), S. 788–795. Näher D. Thym, Reforming Europe’s Common Foreign and Security Policy, ELJ 10 (2004), S. 5 (18–22). Art. 15 Abs. 6 EUV-Liss.; weiterführend S. Blavoukos u.a., A President for the European Union, JCMS 45 (2007), 231.
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im Rat wäre Europas Stimme stumm geblieben. Die Debatte um die Reform europäischer Außenpolitik sollte daher keinesfalls auf die greifbare Frage der Außenvertretung beschränkt bleiben, sondern die verfassungsrechtlichen Grundlagen der auswärtigen Gewalt gleichberechtigt in die Analyse einbeziehen. Dies umfasst auch die Vertretung der Union in Drittstaaten sowie bei Internationalen Organisationen, die gegenwärtig durch das Nebeneinander von Delegationen der Kommission, vereinzelten Sonderbeauftragten der GASP sowie den zahlreichen diplomatischen und konsularischen Missionen der Mitgliedstaaten getragen wird.211 Hier besteht ein Potential zur Effektuierung europäischer Außenvertretung durch eine Verbesserung der praktischen Kooperation vor Ort. Die rechtliche Verschmelzung der europäischen Dienststellen im Europäischen Auswärtigen Dienst nach Maßgabe der Vertrags von Lissabon und künftiger Durchführungsbeschlüsse legt die Grundlage für weitergehende Synergien und stärkt die Stimme Europas in Drittstaaten.212
VI. Fazit Nachhaltig geprägt wird das Verfassungsrecht der europäischen auswärtigen Gewalt durch die weitgehende Übertragung der supranationalen Gemeinschaftsmethode auf die EG-Außenbeziehungen durch den Gerichtshof. Diese Parallelität ist kein verfassungsrechtlicher Altruismus: Sowohl die Annahme einer ungeschriebenen AETR-Kompetenz als auch die Rechtsprechung zu den innergemeinschaftlichen Rechtswirkungen des Völkerrechts sind von dem höchstrichterlichen Bestreben geleitet, die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung gegenüber völkerrechtlichen Einflüssen abzuschirmen. Diese Orientierung am Binnenrechtsregime hat zur Folge, dass der Gerichtshof sich kaum mit den Besonderheiten der auswärtigen Gewalt auseinandersetzt. Der Rückgriff auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Völker- und Gemeinschaftsrecht würde der Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Völkerrechts und der reduzierten richterlichen Kontrolldichte für die materielle Rechtsbindung der auswärtigen Gewalt einen konzeptionellen Halt verleihen. Die Parallelität von interner und auswärtiger Gewalt findet ihre Grenze in den prozeduralen und materiellen Charakteristika des Völkerrechts im Vergleich zur verfassungsrechtlichen Beharrlichkeit europäischen Binnenrechts. Dies wird besonders deutlich bei der begrenzten Parlamentarisierung außenpolitischer Entscheidungsfindung. Bewusst entschied sich der Vertraggeber gegen eine Übertragung der supranationalen Gemeinschaftsmethode auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Dies zeugt vom Bestreben der Mitgliedstaaten, sich anstelle einer Föderalisierung der europäischen auswärtigen Gewalt als eigenständige Akteure in den 211 212
Rechtsfragen des EG-Gesandtschaftsrechts behandelt J.-V. Louis, La Personnalité juridique internationale, in: Dony/ders. (Fn. 9), S. 25 (29–39). Vgl. Art. 27 EUV-Liss.; näher Thym (Fn. 135), S. 58–60; Grevi (Fn. 208), S. 796–800, und J. Lieb/A. Maurer, Europas Rolle in der Welt stärken, SWP-Studie 15 (2007), unter www.swp-berlin.org.
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internationalen Beziehungen zu behaupten – unmittelbar aufgrund der verbleibenden Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten und mittelbar durch die intergouvernementale Ausrichtung der GASP. Dessen ungeachtet folgt die begrenzte Verrechtlichung der GASP dem Charakter diplomatischen Vorgehens, das die Union nicht einseitig nach dem Modell der Rechtsgemeinschaft umgestalten kann. Aus diesem Grund können Handlungen der auswärtigen Gewalt nur begrenzt dem innerstaatlichen Modell einer parlamentarischen Einflussnahme und richterlichen Kontrolle unterstellt werden. Das Nebeneinander von Gemeinschaft, Union und Mitgliedstaaten verlangt hierbei eine beständige Bereitschaft der beteiligten Akteure zu Kooperation und Kompromiss im Dienste einer inhaltlichen Kohärenz aller außenpolitischen Maßnahmen. Dies bekräftigt die verfassungsrechtliche Eigenart der europäischen auswärtigen Gewalt, die sich in der Hinwendung zur Außenwelt nicht einseitig am innereuropäischen Integrationsmodell orientieren kann.
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I.
Ausübung von Hoheitsgewalt und ihre gerichtliche Kontrolle als Verfassungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 II. Dogmengeschichtliche Skizzen: Handlungsformen- und Rechtsschutzdiskurse im Wechselspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 1. Die EGKS als Verwaltungsunion: Entscheidungen und direkter Rechtsschutz der Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 2. Die EWG als Rechtsetzungsunion: Verordnungen und indirekter Rechtsschutz . 495 3. Rechtsetzung und Verwaltung im föderalen Verbund: Richtlinien und der Schutz subjektiver Gemeinschaftsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 4. Die EU/EG im Reformjahrzehnt: Proliferation der Handlungsformen und Rechtsschutzdefizite? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 III. Dogmatische Analyse I: Der Weg zur Formenneutralität des Rechtsschutzsystems . 518 1. Anfechtbare Handlungen nach Art. 230 Abs. 1 EG: die Generalklausel judikativer Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 2. Anfechtbare Entscheidungen nach Art. 230 Abs. 4 EG: die Generalklausel direkten Individualrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 IV. Dogmatische Analyse II: Strukturentscheidungen zur Ordnung der Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 1. Strukturentscheidung für ein offenes Handlungsformensystem . . . . . . . . . . . . . . 525 2. Strukturentscheidung für die nicht-hierarchische Einheit des abgeleiteten Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 3. Strukturentscheidung für eine Differenzierung der Handlungsformen nach rechtlichen Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 V. Handlungsformen und Rechtsschutz nach dem Lissabonner Vertrag . . . . . . . . . . . . 544 1. Zur Neugestaltung der Handlungsformen: die Kreation des europäischen Gesetzes („Gesetzgebungsakte“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 2. Neuerungen für den Rechtsschutz des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554
I. Ausübung von Hoheitsgewalt und ihre gerichtliche Kontrolle als Verfassungsfragen Für den langjährigen Richter am EuGH Pescatore liegt das Geheimnis des Erfolgs der europäischen Integrationsgemeinschaft in ihren Rechtsquellen – im Auftreten
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Für hilfreiche Kommentare bei der Weiterentwicklung dieses Beitrags danke ich Jochen von Bernstorff, Philipp Dann, Anuscheh Farahat, Julia Heesen und Isabel Röcker.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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einer multinationalen Legislative, für deren Artikulationen ein ganzes Arsenal von hoheitlichen Handlungsformen zur Verfügung steht. Das „System der institutionellen Akte“ der Gemeinschaftsverträge, in dem die Einzelnen und die Mitgliedstaaten gleichermaßen den Platz von einseitig Verpflichteten einnehmen, markiert für ihn die qualitative Differenz zu den kontraktualistischen Formen des Völkerrechts.1 Wenn die Handlungsform die Grammatik der hoheitlichen Sprache ist, die sich an die Rechtsadressaten wendet, dann stellen die Rechtsschutzverfahren ein Forum zur Verfügung, in dem die so Angesprochenen ihrer Gegenrede Gehör verschaffen können. Beide Kanäle dieser gegenläufigen Kommunikation – von einseitiger Regelung im Gemeinwohlauftrag einerseits und Justizgewähr zugunsten des Betroffenen andererseits – sind für eine liberale Konzeption des Öffentlichen Rechts essentiell, die Forderung nach ihrer Äquivalenz bildet einen Kerngehalt des gemeineuropäischen Rechtsstaatsverständnisses: ubi potestas ibi remedium. Man könnte auf die Idee kommen, die Handlungsformen ganz der gestaltenden, den Rechtsschutz ganz der begrenzenden Funktion des Öffentlichen Rechts zuzuordnen. Dies wäre indes zu einfach, denn in der Idee der Formung hoheitlicher Gewalt liegt immer auch ein Moment der Disziplinierung, und gerichtliche Kontrolle hoheitlichen Handelns erfüllt immer auch die Funktion, dem Willen des Maßstabsnormgebers Beachtung zu verschaffen. Den Komplexitäten dieses Verhältnisses im spezifischen Kontext der Union nachzugehen, ist die Aufgabe dieses Beitrags. Nach der Konzeption des vorliegenden Buches sind die Handlungsformen der EU und der Rechtsschutzes des Einzelnen gegen ihre Handlungen Verfassungsfragen ersten Ranges: sie betreffen klassische Themen des Verfassungsorganisationsrechts und des Bürger-Staat-Verhältnisses. Bei einer Deutung der Verträge als formelle Verfassung der Union, wie sie hier zugrunde gelegt wird,2 werden beide Teilthemen überdies schon dadurch zum Gegenstand eines verfassungsrechtlichen Diskurses, dass sie eine detaillierte Regelung auf der Ebene des Primärrechts erfahren haben – mit den Folgeproblemen der Überdeterminierung und der Versteinerung. Dies gilt vor allem im Bereich des Rechtsschutzes, der sich durch einen Numerus clausus der Verfahrensarten (arg. ex Art. 240 EG) und das Fehlen einer allgemeinen Kompetenz zur legislativen Ausgestaltung des Prozessrechts auszeichnet. Im Bereich der Handlungsformen ist, wie noch zu zeigen sein wird, die Regelungslage fragmentarischer und auch die Kompetenzlage einer andere. Die Absicht dieses Beitrags ist es jedoch ohnehin nicht, die dogmatischen Wissensbestände aus Rechtsprechung und Literatur zu den einzelnen primärrechtlich vorgesehenen Formen und Verfahren zu präsentieren. Das Ziel ist vielmehr, die verfassungsrechtlichen Grundprinzipien und Strukturentscheidungen herauszuarbeiten, die den vertraglichen Normierungen und ihrer Auslegung zugrunde liegen. Der Stand der 1
2
P. Pescatore, L’ordre juridique des Communautés Européennes: Étude des sources du droit communautaire, 2. Aufl. 1973 (repr. 2006), S. 10 ff.; ders., Le droit de l’intégration, 1972 (repr. 2006), S. 55 ff. H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (35 ff.); mit Vorbehalten auch C. Möllers, in diesem Band, S. 255.
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Verwirklichung konstitutioneller Prinzipien und die Kohärenz einer Einzelregelung mit übergreifenden Strukturentscheidungen sind zugleich der Kritikmaßstab, der gegen das geltende Recht in Anschlag gebracht wird, wo immer nötig. Die Gegenstände dieses Beitrags sind vielgestaltig und verlangen nach Selbstbeschränkung. Was die Handlungsformen angeht, bleibt das Primärrecht ebenso außen vor wie völkerrechtliche Abkommen zwischen Mitgliedstaaten (das sog. Komplementärrecht). Die Rechtsetzung in völkerrechtlichen Handlungsformen, die Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind (externe Abkommen, Rechtsakte von internationalen Gremien) wird an anderen Stellen in diesem Band behandelt.3 Anders als in der Vorauflage soll jedoch nicht allein von den Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts die Rede sein, sondern auch von den Sonderformen unter dem EU-Vertrag, namentlich der dritten Säule. Im Hinblick auf den Rechtsschutz konzentriert sich der Beitrag auf justizförmige Verfahren, in denen die Interessen eines Einzelnen dadurch geschützt werden, dass ein Gericht den angegriffenen unrechtmäßigen Akt kassiert. Dem Verfasser ist bewusst, dass damit die Breite des Rechtsschutz-Begriffs verfehlt wird, durch Ausblendung nicht-judikativer Schutzmechanismen wie auch von Klagearten mit anderem Rechtsschutzziel.4 In der Folge wird vor allem von der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EG und dem Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG die Rede sein, nicht jedoch z.B. von einer Beschwerde beim Bürgerbeauftragten nach Art. 195 EG oder der Schadenersatzklage nach Art. 235, 288 Abs. 2 EG.5 Ebenfalls nur gestreift werden die Anforderungen, die das Unionsrecht an den Rechtsschutz durch nationale Gerichte formuliert. Die gerichtlichen Verfahren zur Durchsetzung des Unionsrechts in den und gegenüber den Mitgliedstaaten liegen insgesamt außerhalb des Untersuchungsfokus. Vorab sind noch einige terminologische Erläuterungen angebracht. Dieser Beitrag spricht von Handlungsform, um einen abstrakten Handlungstypus bzw. die entsprechende Gattung von Rechtsakten zu bezeichnen („die Verordnung“ oder „Verordnungen“). Handlungsform und Rechtsform werden synonym verwendet, ohne die Nützlichkeit der Formkategorie auch für Maßnahmen rein tatsächlicher Art in Frage zu stellen; im Folgenden aber geht es allein um die Ausübung von Rechtsetzungsbefugnissen und ihre Kontrolle. Als Handlung oder Rechtsakt wird das – im aller Regel in einem Dokument fixierte – Ergebnis eines formalisierten Entscheidungsprozesses bezeichnet; Rechtsetzung in diesem weiten Sinne schließt den Erlass von Einzelakten und unverbindlichen Verlautbarungen ein. Dieser Gebrauch der Begriffe stützt sich zum einen auf die Terminologie der Verträge, die „Rechts3
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Als Problem der Kompetenzen bei M. Nettesheim, S. 414 ff., 429 ff., als Mittel der Gestaltung der Außenbeziehungen bei D. Thym, S. 443 ff., als Quelle quasi-verfassungsrechtlicher Bindungen bei R. Uerpmann-Wittzack, S. 178 ff., 186 ff. Vgl. E. Schmidt-Aßmann, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 5, Rn. 70 ff. Zur Rechtsschutzfunktion A. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU (Stand: Sep. 2008), Art. 288 EG, Rn. 13 ff.; siehe auch R. W. Wegener, Der Numerus Clausus der Klagearten, EuGRZ 2008, S. 354.
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akte“, „Akte“ bzw. „Handlungen“ im übergreifenden Sinne für jegliches Organhandeln verwenden (unterschiedslos franz. actes, engl. acts), zum anderen auf ein theoretisches Verständnis, nach dem der Anspruch einer hoheitlichen Willensäußerung, verbindlich zu sein, keine notwendige Bedingung ihrer Geltung als Recht darstellt.6 Die Untersuchung erfolgt in vier Schritten (Teile II.–V.). Zunächst verschafft sich die Studie einen Überblick über den rechtswissenschaftlichen Erkenntnisstand, indem sie die Diskurse zu den einzelnen Formen und Verfahren historisch ordnet und in Beziehung zueinander setzt (II.). Die beiden folgenden Teile entwickeln die einschlägigen dogmatischen Grundbegriffe. Zunächst wird nach dem systematischen Zusammenhang zwischen Handlungsformen und Rechtsschutz gefragt. Dieser Teil zeichnet nach, wie sich diese beiden dogmatischen Kategorien des Unionsrechts schrittweise entkoppelt haben (III.). Hier schließt sich die Fragestellung an, welche Funktionen die Handlungsformen jenseits des Rechtsschutzes erfüllen können und welche verfassungsrechtlichen Vorgaben die Verträge hierfür enthalten. Dieser Teil identifiziert drei Strukturentscheidungen zur Ordnung der Handlungsformen, von denen die dritte, die für eine Differenzierung nach rechtlichen Wirkungen, die zentrale ist (IV.). Der letzte Teil evaluiert die Neuerungen, die der Lissabonner Vertrag für die behandelten Fragen bringen würde (V.).
II. Dogmengeschichtliche Skizzen: Handlungsformenund Rechtsschutzdiskurse im Wechselspiel Die rechtswissenschaftlichen Bemühungen um die Rechtsschutz- und Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts haben in den fünfzig Jahren seiner Existenz bemerkenswerte Konjunkturenwellen durchlebt. In unterschiedlichen Phasen galt das Interesse in Literatur und Rechtsprechung je bestimmten Handlungstypen, und zeitgleich standen jeweils auch bestimmte Verfahren des Rechtsschutzes im Zentrum der Diskussion. Es liegt darum nahe, beide Themen zunächst in einer diachronen Darstellung aufzubereiten und nach untergründigen Querverbindungen zu suchen. En passant können die folgenden dogmengeschichtlichen Skizzen weiterhin gültige dogmatische Erträge zu den betreffenden Formen und Verfahren aufsammeln und kritisch betrachten. 1. Die EGKS als Verwaltungsunion: Entscheidungen und direkter Rechtsschutz der Betroffenen Die unternehmensgerichtete Entscheidung dominierte die Diskussion zu den Handlungsformen der Montanunion.7 Mit diesem Instrument zur Regulierung der Kohle6
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F. v. Alemann, Die Notwendigkeit eines formalen Rechtsbegriffs der Unionsrechtsordnung, Der Staat 45 (2006), S. 383; J. Bast, Grundbegriffe der Handlungsformen der EU, 2006, S. 181 ff.; A. v. Bogdandy/P. Dann/M. Goldmann, Developing the Publicness of Public International Law, GLJ 9 (2008), S. 1375 (1381 ff.). Grundlegend B. Börner, Die Entscheidungen der Hohen Behörde, 1965.
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und Stahlmärkte hatte der EGKS-Vertrag die Hohe Behörde (den Vorläufer der Kommission) mit einem rechtlichen Potenzial ausgestattet, das bislang staatlichen Instanzen vorbehalten war.8 Gleichsam selbstverständlich orientierte sich die frühe europarechtliche Literatur an Erfahrungen des nationalen Verwaltungsrechts.9 Ungeachtet einer verbreiteten Qualifizierung der Montanunion als „bundesstaatsähnliches“ Gebilde10 schied nationales Verfassungsrecht als Referenzrahmen der Formendiskussion noch aus, galt doch die Hohe Behörde der gemeineuropäischen Staatsfunktionenlehre nicht als Gesetzgeber, sondern als Verwaltungsorgan, das folglich nur actes administratifs im Sinne des französischen Rechts erlassen konnte Der Einfluss des französischen Verwaltungsrechts hat den Vertragstext insgesamt tief geprägt.11 Als Beispiel können die vier Klagegründe (cas d’ouverture) des Art. 33 Abs. 1 KS genannt werden, die später in Art. 173 EWG-Vertrag (Art. 230 EG) übernommen werden. Ohne Rückgriff auf die althergebrachte Rechtsprechung des französischen Conseil d’Etat erschließt sich deren Systemlogik kaum. Auch die Individualanfechtbarkeit der Allgemeinen Entscheidung (der Vorläufer der EGVerordnung) ist hier zu nennen: Nach französischem Vorbild war die Nichtigkeitsklage gegen alle actes administratifs eröffnet, gleich ob actes règlementaires oder actes individuels. Eine dogmatische Unterscheidung von Individuellen (unternehmensgerichteten) Entscheidungen und Allgemeinen Entscheidungen war gleichwohl erforderlich, weil Klagen gegen Letztere waren auf den Klagegrund des Ermessensmissbrauchs (détournement de pouvoir) beschränkt waren.12 Die Abgrenzung erwies sich häufig als problematisch: Eine Zuordnung allein nach formellen Merkmalen wurde schon durch die einheitliche Bezeichnung als décision vereitelt, und auch materiell waren beide angesichts der oligopolistischen Struktur der Montanmärkte oftmals nur schwer zu unterscheiden.13 So französisch sich das Prozessrecht der ersten Gemeinschaft ausnahm – der Umstand, dass die Montanunion überhaupt über einen ständigen Gerichtshof verfügte, zu dessen Zuständigkeiten Direktklagen von betroffenen Wirtschaftsteilnehmern gehörten, geht in erster Linie auf deutsche Einflüsse zurück. In den Plänen Monnets und Schumans war eine solche Einrichtung ursprünglich nicht vorgesehen, 8
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H. Mosler, Der Vertrag über die europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, ZaöRV 14 (1951/52), S. 1 (35 f. et passim); G. Jaenicke, Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion), ZaöRV 14 (1951/52), S. 727 (730 f., 744 ff.). C. H. Ule, Der Gerichtshof der Montangemeinschaft als europäisches Verwaltungsgericht, DVBl. 1952, S. 66 (67 ff.); Börner (Fn. 7), S. 1 ff., 29 ff., 107 ff. C. F. Ophüls, Juristische Grundgedanken des Schumanplans, NJW 1951, S. 289; H.-J. Schlochauer, Der übernationale Charakter der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, JZ 1951, S. 289 (290). P. Becker, Der Einfluß des französischen Verwaltungsrechts auf den Rechtsschutz in den europäischen Gemeinschaften, 1963. A. Schüle, Grenzen der Klagebefugnis vor dem Gerichtshof der Montanunion, ZaöRV 16 (1955/56), S. 227 (230 ff.); B. W. Meister, Ermessensmissbrauch oder détournement de pouvoir als Fehlertatbestand der Nichtigkeitsklage des Montanvertrags, 1971. Vgl. EuGH, Rs. 8/55, Fédération Charbonnière de Belgique/Hohe Behörde, Slg. 1955/56, 199 (223 ff.).
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weil sie eine Beschneidung der wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume der Hohen Behörde befürchteten.14 Dagegen setzte sich ein Rechtsstaatsverständnis schließlich durch, wonach die Möglichkeit bestehen muss, belastende Hoheitsakte, die in die Rechtssphäre des Einzelnen eingreifen, von einer unabhängigen Gerichtsbarkeit auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen zu lassen. Die unmittelbare Wirkung der supranationalen Entscheidungen und die Parteifähigkeit privater Rechtssubjektive vor dem supranationalen Gerichtshof erscheinen diesem Verständnis als zwei Seiten einer Medaille.15 Im Rechtsschutzsystem der EGKS manifestierte sich mithin eine grundlegende Weichenstellung für die Konstituierung einer Rechtsgemeinschaft, wobei dem gerichtlichen Schutz des Einzelnen – auch wenn es sich hierbei zunächst ausschließlich um Unternehmen und Verbände des Montansektors handelte – eine zentrale, ja begriffsprägende Bedeutung zukommt.16 Die objektiv-rechtlich formulierte Aufgabe des Gerichtshofs zur Wahrung des Rechts (Art. 31 KS, heute in Art. 220 EG) schloss schon in ihrem frühen Verständnis eine individuelle Rechtsschutzgarantie ein, die Art. 19 Abs. 4 GG in der Substanz entspricht. Entsprechend groß war das wissenschaftliche Interesse an der Tätigkeit der neuen Rechtsprechungsinstanz, vor allem an den Problemen der Nichtigkeitsklage.17 Mit der Strukturentscheidung für die Rechtsgemeinschaft war nur über die generelle Möglichkeit der Anfechtung von supranationalen Rechtsakten entschieden, nicht jedoch darüber, gegen welche Arten von Handlungen Private direkten Rechtsschutz vor dem Gerichtshof suchen können. Das Thema dominierte von Beginn an die Rechtsprechung und ist seit diesen Tagen als dogmatischer Dauerbrenner erhalten geblieben. Neben der Unterscheidung von Allgemeiner und Individueller Entscheidung galt es vor allem, anfechtbare rechtsverbindliche Entscheidungen von unverbindlichen Stellungnahmen abzugrenzen. Nachdem sich in der Rechtsprechung die Linie abzeichnete, dass auch formlose Schreiben anfechtbar sein können,18 bemühte sich die Hohe Behörde um eigene Definitionshoheit, wann in einer 14
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Näher A. Boerger-De Smedt, La Cour de Justice dans les négociations du traité de Paris institutant la CECA, Journal of European Integration History Nr. 2, Jg. 14 (2008), S. 7; T. Tohidipur, Europäische Gerichtsbarkeit im Institutionensystem der EU, 2008, S. 17 ff.; E. Drewes, Entstehen und Entwicklung des Rechtsschutzes vor den Gerichten der Europäischen Gemeinschaften, 2000, S. 23 ff. Eindringlich B. Moser, Der überstaatliche Charakter der Montanunion, 1955, S. 71 ff. Tohidipur (Fn. 14), S. 68 ff.; M. Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545 (546). In Anlehnung an die englische Terminologie (community based on the rule of law) verwendet dieser Beitrag „Rechtsgemeinschaft“ und „Rechtsstaat“ als synonyme Attribute; zu weiteren Bedeutungsschichten I. Pernice, Begründung und Konsolidierung der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, in: M. Zuleeg (Hrsg.), Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas, 2003, S. 56. Neben den bereits zitierten Beiträgen etwa E. Steindorff, Die Nichtigkeitsklage im Recht der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 1952; D. G. Valentine, The Court of Justice of the European Coal and Steel Community, 1955; A. Bonaert u.a., Fragen der Nichtigkeitsund Untätigkeitsklagen nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 1961. EuGH, verb. Rs. 7/56 u.a., Algera u.a./Gemeinsame Versammlung, Slg. 1957, 85 (117).
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Verlautbarung eine décision zu sehen sei. Hierzu hatte sie in ihrer Allgemeinen Entscheidung Nr. 22/6019 verbindliche Festlegungen über die äußere Form der Rechtsakte getroffen, was die Bezeichnung der Handlungsform in der Überschrift einschloss. Diese Bemühungen wurden vom EuGH entschlossen durchkreuzt.20 Bereits in diesen frühen Urteilen offenbarte sich eine beharrlich rechtsschutzfreundliche Position des Gerichtshofs. Um der Gefahr einer willkürlichen Rechtsschutzverschließung durch politische Organe zu wehren, sollten Förmlichkeiten bei der Qualifizierung zulässiger Anfechtungsgegenstände nur eine geringe Rolle spielen. Die Konsequenz einer Abkopplung des Rechtsschutzsystems von der Systematik der Handlungsformen war der EuGH bereit hinzunehmen. So blieb der Entscheidung Nr. 22/60 die erhoffte Blitzkarriere als Instrument zur Strukturierung der Handlungsformen versagt, es dominierte der von der Rechtsprechung geprägte schillernde Begriff der „Rechtsnatur“. Immerhin entwickelte sich im Anschluss an Entscheidung Nr. 22/60 das äußere Erscheinungsbild und der Aufbau der Rechtsakte, wie man sie heute kennt und in Grundzügen im Anhang VI der Geschäftsordnung des Rates normativ fixiert findet.21 So hat die Rechtsprechung unter dem EGKS-Vertrag Weichenstellungen vorgenommen, die das Europäische Verfassungsrecht bis heute prägen. Auch nach der standesgemäßen Beerdigung des ersten Gemeinschaftswerks sollte man die Bergmannskluft dann und wann mit dem gleichen Stolz tragen wie das feste Schuhwerk, das zur Bewältigung der morastigen Erde des Agrarverwaltungsrechts jedem Europarechtler der frühen Stunde anzuempfehlen war. 2. Die EWG als Rechtsetzungsunion: Verordnungen und indirekter Rechtsschutz Denn aus dem Landwirtschaftssektor stammte die große Masse der Rechtsakte wie der Streitgegenstände nach Gründung der EWG. Wie kaum ein anderer Bereich steht die Gemeinsame Agrarpolitik paradigmatisch für die Veränderung der konstitutionellen Grundlagen der Integration: vom traité loi zum traité cadre, von der Verwaltungs- zur Rechtsetzungsunion, von der Kommission zum Rat als dominantem politischen Organ, vom direkten zum indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts – und damit auch von der Entscheidung zur Verordnung als Standardhandlungsform und von der Nichtigkeitsklage zum Vorabentscheidungsverfahren als Standardrechtsschutzverfahren. a) Die Verordnung als Standardhandlungsform Unter den Handlungsformen des EWG-Vertrags galt in dieser zweiten Phase die wissenschaftliche Aufmerksamkeit ganz überwiegend der Verordnung, dem weiter19 20 21
ABl. 1960 Nr. 61, S. 1248/60. EuGH, verb. Rs. 23/63, 24/63 und 52/63, Usines Émile Henricot u.a./Hohe Behörde, Slg. 1963, 467 (483 f.). Beschluss 2006/683/EG, Euratom des Rates zur Festlegung seiner Geschäftsordnung, ABl. 2006 L 285, S. 47.
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entwickelten Nachfolger der Allgemeinen Entscheidung.22 Bis Ende der 1960er Jahre erschien eine ganze Reihe von monographischen Veröffentlichungen zu diesem Instrument,23 herausragend unter ihnen die Studie von Louis.24 Mit ihrer Fähigkeit, gleich einem Gesetz auf die Rechtsstellung der Marktbürger regelsetzend einzuwirken, faszinierte die Verordnung die Autoren.25 Ihre Qualifizierung als „Europäisches Gesetz“ verhinderte nur das Gewaltenteilungsdogma mit seiner Zuordnung des Gesetzes zu einem parlamentarischen Erlassverfahren.26 Gleichwohl war von nun an das nationale Verfassungsrecht als Bezugspunkt und Begriffsfundus im Spiel. Thematisch stand das Rangverhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht im Zentrum. Unverkennbar war den nationalen Parlamenten in Gestalt des „Gemeinschaftsgesetzgebers“ – eine Formulierung des EuGH, die für Rat und Kommission gleichermaßen Verwendung findet27 – eine ernst zu nehmende Konkurrenz erwachsen. Namentlich die Verordnung und ihr Anspruch, in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar zu sein, warf das Problem der Kollision mit nationalem Recht auf, verschärft in den Mitgliedstaaten, die internationalen Abkommen gewöhnlich den internen Rang von Gesetzen zuweisen.28 Wirkungsmächtig theoretisierte Ipsen die vertragliche Definition der Verordnung als Ausdruck einer „Wert- und Qualitätsbestimmung des Gemeinschaftsrechts“, dessen Gemeinschaftscharakter in der „unantastbare[n] Eigenart, in der Gemeinschaft ganzheitlich und einheitlich zu gelten“29, bestehe. Zuleeg erblickte in Art. 189 Abs. 2 S. 2 EWGVertrag (Art. 249 Abs. 2 S. 2 EG) die positiv-rechtliche Lösung des Kollisionsproblems im Sinne eines Anwendungsvorrangs.30 Auch der EuGH verwies in Costa/ E.N.E.L. auf die unbedingte Verbindlichkeit der Verordnung.31
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Zur vertragsübergreifenden Einheit der gemeinschaftsrechtlichen Handlungsformen E. Grabitz, Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane, in: Kommission (Hrsg.), 30 Jahre Gemeinschaftsrecht, 1983, S. 91; vgl. EuGH, Rs. 221/88, Busseni, Slg. 1990, I-495, Rn. 21. H.-J. Rabe, Das Verordnungsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1963; G. L. Tosato, I regolamenti delle Comunità europee, 1965; J. R. Haase, Die Kompetenzen der Kommission im Verordnungsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1965; W. Möller, Die Verordnung der Europäischen Gemeinschaften, 1967; J. A. Perez Bevia, El reglamento como fuente de derecho en las Comunidades Europeas, 1973. J.-V. Louis, Les règlements de la Communauté économique européenne, 1969. Vgl. C. F. Ophüls, Staatshoheit und Gemeinschaftshoheit, in: FS Heymanns Verlag, 1965, S. 519 (550). Dazu noch näher unten, IV. 2. e). Etwa in EuGH, Rs. 25/70, Köster, Slg. 1970, 116, Rn. 26 und 40; anders wohl jetzt Rs. C-133/ 06, Parlament/Rat, Slg. 2008, I-3189, Rn. 63. Siehe K. Carstens, Der Rang europäischer Verordnungen gegenüber deutschen Rechtsnormen, in: FS Riese, 1964, S. 65; R. H. Lauwaars, Lawfulness and Legal Force of Community Decisions, 1973, S. 14 ff. H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, Kap. 10, Rn. 41. M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 154 f. EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 (1270).
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Zentrale Beiträge der Rechtsprechung zur Dogmatik der Verordnung beziehen sich auf ihre Unantastbarkeit durch nationale Maßnahmen, die „eine Änderung ihrer Tragweite oder eine Ergänzung ihrer Vorschriften zum Gegenstand haben“32. So ist es den Mitgliedstaaten verboten, durch normtextwiederholende Umsetzung in nationales Recht Unklarheit über den Geltungsgrund einer Verordnung und den Zeitpunkt ihres In-Kraft-Tretens zu stiften.33 Auch norminterpretierende Rechtsetzung, die für die Vollzugsbehörden verbindlich ist, bleibt den Mitgliedstaaten untersagt.34 Anderseits verpflichtet die Verordnungs-Form den Gemeinschaftsgesetzgeber nicht zu einer erschöpfenden Regelung,35 sodass eine Verordnung den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume belassen oder sie zu ergänzenden legislativen Aktivitäten verpflichten kann.36 Ihrem Einsatz als Instrument der Rechtsangleichung, einer vermeintlichen Domäne der Richtlinie, steht nichts im Weg.37 Generell hat der Gerichtshof einen multifunktionalen Gebrauch der Verordnung unbeanstandet hingenommen, etwa zur Genehmigung von Abkommen, zum Erlass von internen Regularien und sogar zu autonomen Vertragsänderungen,38 für die sonst regelmäßig die Form des Beschlusses Verwendung findet. Die in der Literatur vertretene These, aufgrund von Art. 189 Abs. 2 EWG-Vertrag sei die Verordnung für Vorschriften mit Rechtssatzcharakter reserviert,39 hat sich nicht durchsetzen können: Die „allgemeine Geltung“ (portée générale) ist eine typisches Merkmal einer Verordnung, kein notwendiges.40 Der Gerichtshof hat wenig Neigung erkennen lassen, den Rechtsetzungsorganen ein eigenes Leitbild eines formangemessenen Regulierungsgehalts entgegenzuhalten.41 b) Die Vorabentscheidung als Rechtsschutzverfahren Einen Schlüsselbegriff lieferte das Verordnungsmerkmal der allgemeinen Geltung für die Nichtigkeitsklage unter Art. 173 EWG-Vertrag (Art. 230 EG). Der EuGH akzeptierte den grundsätzlichen Ausschluss der Individualanfechtung von Verordnungen, verlangte aber, dass nach Gegenstand und Inhalt tatsächlich ein Akt mit
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EuGH, Rs. 40/69, Bollmann, Slg. 1970, 69, Rn. 4. EuGH, Rs. 39/72, Kommission/Italien, Slg. 1973, 101, Rn. 17; Rs. 34/73, Variola, Slg. 1974, 981, Rn. 10 f. EuGH, Rs. 94/77, Zerbone, Slg. 1978, 99, Rn. 22/27. EuGH, Rs. 237/82, Jongeneel Kaas, Slg. 1984, 483, Rn. 13. EuGH, Rs. 31/78, Bussone, Slg. 1978, 2429, Rn. 28/33; Rs. 230/78, Eridania, Slg. 1979, 2749, Rn. 34; näher R. Král, National Normative Implementation of EC Regulations, ELRev. 33 (2008), S. 243 (245 ff.). Zu den Implikationen R. Schütze, The Morphology of Legislative Power in the European Community, YEL 25 (2006), S. 91 (115 ff.) Vgl. EuGH, Rs. 185/73, König, Slg. 1974, 607, Rn. 5 ff. U. Everling, Die ersten Rechtsetzungsakte der Organe der Europäischen Gemeinschaften, BB 1959, S. 52 (53). Hierzu noch unten, III. 2. b). Vgl. EuGH, Rs. 5/73, Balkan-Import-Export, Slg. 1973, 1091, Rn. 18; Rs. C-163/99, Portugal/Kommission, Slg. 2001, I-2613, Rn. 20.
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„Verordnungscharakter“ (caractère réglementaire) in Rede steht.42 Auch die Anfechtbarkeit einer staatengerichteten Entscheidung beurteilte der EuGH danach, ob ein Akt von „allgemeiner Tragweite“ vorliegt (was nur eine andere Übersetzung von portée générale ist) oder aber ein Akt, der den Kläger individuell und mangels Ermessen der implementierenden Stellen auch unmittelbar betrifft.43 Es hat lange gedauert, bis sich der EuGH von den Fesseln dieser Konzeption gelöst hat, nach der Klagen von Einzelnen gegen Akte mit allgemeiner Geltung stets unzulässig ist.44 Der Ausschluss von direktem Rechtsschutz gegen Normativakte hat schon früh Kritiker auf den Plan gerufen, nicht zuletzt aus Deutschland.45 Der Vorwurf lautete, dass um der Effektivität gemeinschaftsrechtlicher Regelungsanliegen willen ein strukturelles Rechtsschutzdefizit in die Römischen Verträge eingebaut sei. Ganz verstummten diese Kritik und aus ihr resultierende Vorschläge für eine Änderung oder erweiterte Auslegung des Art. 173 Abs. 2 EWGV (Art. 230 Abs. 4 EG) nie.46 Nach und nach gewann jedoch die EuGH-Orthodoxie an Gewicht, die hierin keine Abkehr vom Prinzip der Rechtsgemeinschaft sehen wollte, sondern eine Strukturentscheidung für ein arbeitsteiliges Rechtsschutzsystem, in dem wesentliche Beiträge für den Schutz des Einzelnen gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber dezentral von den nationalen Gerichten zu leisten sind.47 Da die Gemeinschaft jedoch zugleich – zur Wahrung ihrer Autonomie wie aus Gründen der Rechts- und Wettbewerbsgleichheit – auf ein zentrales Verwerfungsmonopol für ihre Rechtsakte
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EuGH, verb. Rs. 16/62 und 17/62, Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u.a./Rat, Slg. 1962, 961 (978); zur Aufnahme des Begriffs in Art. 263 Abs. 4 AEUV unten, V. 2. b). EuGH, Rs. 231/81, Spijker Kwasten/Kommission, Slg. 1983, 2559, Rn. 10; Rs. 206/87, Lefebvre/Kommission, Slg. 1989, 275, Rn. 13. Dazu unten, III. 2. b). K. Zweigert, Hauptreferat: Empfiehlt es sich, Bestimmungen über den Rechtsschutz zu ändern?, in: Kölner Schriften zum Europarecht (KSE) Bd. 1, 1965, S. 580 (596); C. H. Ule, Gutachten: Empfiehlt es sich, die Bestimmungen des europäischen Gemeinschaftsrechts über den Rechtsschutz zu ändern oder zu ergänzen?, in: Verhandlungen des 46. DJT, 1966, Bd. I, Teil 4, S. 1 (13 ff. und 136); E.-W. Fuß, Die Europäischen Gemeinschaften und der Rechtsstaatsgedanke, 1967, S. 128. M. Wegmann, Die Nichtigkeitsklage Privater gegen Normativakte der Europäischen Gemeinschaften, 1976; U. Gesser, Die Nichtigkeitsklage nach Artikel 173 EGV, 1995; differenzierend etwa H.-W. Daig, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1985, Rn. 89 ff.; W. Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsgerichtsfunktionen – Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, 1987, S. 285 ff.; ferner L. Allkemper, Der Rechtsschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag: Möglichkeiten seiner Verbesserung, 1995, S. 57 ff. Vgl. EuGH, Rs. 16/65, Schwarze, Slg. 1965, 1152 (1165); Rs. 123/77, UNICME u.a./Rat, Slg. 1978, 845, Rn. 8/13; J. Schwarze, Rechtsschutz Privater gegenüber normativen Rechtsakten im Recht der EWG, in: FS Schlochauer, S. 927 (937 ff.); K. Lenaerts, The Legal Protection of Private Parties Under the EC Treaty, in: Scritti in onore di Guiseppe Federico Mancini, Bd. 2, 1998, S. 591 (595 ff.); umfassend M. Claes, The National Courts’ Mandate in the European Constitution, 2006, S. 58 ff.
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beharren muss, bedarf es eines Modus des Zusammenwirkens der beiden Gerichtsbarkeitsebenen. Ein solcher Modus lag mit dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag (Art. 234 EG) bereit. Schon der EGKS-Vertrag kannte eine obligatorische Gültigkeitskontrollvorlage, deren praktische Bedeutung jedoch gering blieb.48 Art. 177 EWG-Vertrag dagegen avancierte bald zum Markenzeichen des gemeinschaftsrechtlichen Justizsystems, indem er den Dialog und das arbeitsteilige Zusammenwirken der beiden Ebenen der dritten Gewalt im europäischen Rechtsverbund ermöglichte.49 Als Kernfunktionen des Vorlageverfahrens sah die rechtswissenschaftliche Doktrin die Wahrung der Rechtseinheit und der rechtlichen Selbständigkeit der Gemeinschaften: Die autoritative Auslegung durch den EuGH und dessen Verwerfungsmonopol für Akte der Organe werden als verfahrensmäßige Korrelate des Anspruchs auf einheitliche und vorrangige Anwendung des Gemeinschaftsrechts gewürdigt.50 Nach der wirkungsmächtigen Deutung Weilers ist das Vorabentscheidungsverfahren – mit seinem Angebot an die Instanzgerichte, im Tandem mit dem EuGH das Gemeinschaftsrecht für ihre Zwecke zu nutzen und ihm damit zugleich innerstaatliche Beachtung zu verschaffen – ein Schlüssel zum Verständnis der Konstitutionalisierung der Gemeinschaftsrechtsordnung.51 Aus dieser Perspektive erscheint es als Instrument der Rechtmäßigkeitskontrolle gegenüber den Mitgliedstaaten, mithin als funktionales Äquivalent und überlegene Alternative zum Vertragsverletzungsverfahren.52 Probleme werden in erster Linie bei dem für Kommunikationsstörungen anfälligen Dialog der Gerichte gesehen, namentlich bei der schwer zu sanktionierenden Missachtung der Vorlagepflicht.53 Hieran schließt in den 1990er Jahren,
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Die erste Vorabentscheidung nach Art. 41 KS ergeht erst in der Rs. 168/82, Ferriere Sant’Anna, Slg. 1983, 1681. P. Craig, The Jurisdiction of the Community Courts Reconsidered, in: G. de Búrca/J. H. H. Weiler (Hrsg.), The European Court of Justice, 2001, S. 177 (181); I. Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27 (33 ff.); J. Streil, Das Vorabentscheidungsverfahren als Bindeglied zwischen europäischer und nationaler Rechtsprechung, in: J. Schwarze (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983, S. 69. Siehe schon C. Tomuschat, Die gerichtliche Vorabentscheidung nach den Verträgen über die europäischen Gemeinschaften, 1964, insb. S. 6 ff.; R. Socini, La competenza pregiudiziale della Corte di giustizia delle Comunità europee, 1967; zur Vorrangfrage H. G. Schermers, The Law As It Stands on Preliminary Rulings, Legal Issues of European Integration 1 (1974), S. 93 (96 ff.). J. H. H. Weiler, The Community System: the Dual Character of Supranationalism, YEL 1 (1981), S. 267 (298 ff.). P. Pescatore, Le renvoi préjudiciel: l’évolution du système, in: ders., Études de droit communautaire européen 1962–2007, 2008, S. 851 (856 ff.); R. Dehousse, The European Court of Justice, 1998, S. 28 ff.; U. Haltern, Europarecht, 2007, Rn. 333 ff. D. Lieber, Über die Vorlagepflicht des Artikel 177 EWG-Vertrag und deren Mißachtung, 1986, S. 136 ff.; zahlreiche Beobachtungen und Vorschläge hierzu in H. G. Schermers u.a. (Hrsg.), Article 177 EEC: Experiences and Problems, 1987, etwa G. Bebr (S. 355), A. G. Toth (S. 398) und Lord Mackenzie Stuart (S. 337).
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nach dem Maastricht-Urteil des BVerfG, der Diskurs über die judikative „Kompetenz-Kompetenz“ und die Grenzen des Vorrangs an.54 Die Rechtsschutzfunktion des Vorabentscheidungsverfahrens wird erst mit gewisser Verzögerung entdeckt.55 Die 1962 erschienene große Rechtsschutz-Studie von Bebr behandelt das Verfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag nur am Rande; die Zweitauflage knapp zwei Jahrzehnte später räumt der „Indirect Judicial Control“ fast die Hälfte des Buches ein, davon 180 Seiten allein zu Art. 177 EWG-Vertrag.56 Auch in anderen Gesamtdarstellungen der 1970er Jahre hat sich der Rechtsschutz über das Vorabentscheidungsverfahren, ungeachtet fortbestehender Zweifel über seine Leistungsfähigkeit, einen festen Platz erobert.57 Ein „Leitfaden für die Praxis“, den Dauses 1986 vorlegt, nennt neben der Rechtsvereinheitlichung die Garantie individueller Rechte als gleichberechtigte zweite Funktion des Verfahrens.58 Skeptiker heben allerdings hervor, dass die Parteien des Ausgangsrechtsstreits eine Vorlage nicht erzwingen können, sie an der Formulierung der Vorlagefragen nicht beteiligt sind und auch der Verfahrensgang vor dem EuGH – ungeachtet der obligatorischen Anhörung der Parteien – nicht auf die Wahrung subjektiver Rechte ausgerichtet sei.59 Die Deutung als Rechtsschutzverfahren hängt wesentlich an der Befugnis des EuGH zur konkreten Normenkontrolle,60 also an der Zuständigkeit, mit präjudizieller Wirkung die Ungültigkeit eines Rechtsakts festzustellen und damit den nationalen Gerichten zu ermöglichen, Rechtsschutz gegen nationale Vollzugsakte zu gewähren.61 Funktional entspricht, mutatis mutandis, die Gültigkeitskontrollvorlage nach Art. 234 Abs. 1 lit. b EG der Inzidentrüge nach Art. 241 EG, diese für Fälle des Eigenverwaltungsrechts, jene für Fälle des indirekten Vollzugs bzw. für gestufte
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Dazu ausführlich F. C. Mayer, in diesem Band, S. 560 ff. Unerwähnt z.B. noch bei C. H. Ule, Der gerichtliche Rechtsschutz des Einzelnen gegenüber der vollziehenden Gewalt in den Europäischen Gemeinschaften, in: H. Mosler (Hrsg.), Gerichtsschutz gegen die Exekutive, 1970, Bd. 2, S. 1179. Vgl. G. Bebr, Judicial Control of the European Communities, 1962, S. 184 ff., mit ders., Development of Judicial Control of the European Communities, 1981, S. 366 ff. H. G. Schemers, Judicial Protection in the European Communities, 1976, §§ 366 ff.; A. G. Toth, Legal Protection of Individuals in the European Communites, Bd. II, 1978, S. 196 ff.; C. Harding, The Impact of Article 177 of the EEC Treaty on the Review of Community Action, YEL 1 (1981), S. 93. M. A. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag, 1986, S. 29 (in deutlicher Weiterentwicklung von R. M. Chevallier/D. Maidani, Guide pratique: Article 177 C.E.E., 1982, S. 33); ebenso der EuGH-Richter U. Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1986, S. 18 ff. Etwa Lieber (Fn. 53), S. 24 f. et passim; Bebr, Development (Fn. 56), S. 419 ff. H. P. Ipsen, Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs für die Integration, in: Schwarze (Fn. 49), S. 29 (35 und 46). Die Ungültigkeitserklärung wirkt erga omnes und ex tunc: EuGH, Rs. 66/80, International Chemical, Slg. 1981, 1191, Rn. 13; Rs. C-228/92, Roquette Frères, Slg. 1994, I-1445, Rn. 17; zum einstweiligen Rechtschutz: verb. Rs. C-143/88 und C-92/89, Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-415, Rn. 16 ff.
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Verwaltungsverfahren.62 Beide treten als Mechanismen des indirekten Rechtsschutzes gegen die Gemeinschaftsgewalt auf den Plan, wenn dem Betroffenen direkter Rechtsschutz über die Nichtigkeitsklage versagt ist.63 Das Ineinandergreifen gerade dieser drei prozessrechtlichen Institute – Nichtigkeitsklage, Vorabentscheidung, Inzidentrüge – wird vom EuGH als „umfassendes Rechtsschutzsystem“ interpretiert und mit der Qualität der EG als „Rechtsgemeinschaft“ in Verbindung gebracht. Dies geschieht erstmals 1986 in Les Verts, als der Gerichtshof in einer prinzipiengeleiteten Argumentation die primärrechtlich nicht vorgesehene Anfechtbarkeit von Handlungen des Europäischen Parlaments begründete,64 und wenig später erneut in Foto-Frost, um ein Verwerfungsmonopol des EuGH – und eine korrespondierende Vorlagepflicht auch der Instanzgerichte – für rechtswidrige Gemeinschaftsakte zu legitimieren.65 Das verfassungsrechtliche Leitbild einer lückenlosen Rechtmäßigkeitskontrolle und damit zugleich des Individualrechtsschutzes gegen belastende Hoheitsakte wird vom EuGH aber nicht als Argument für ein zentralisiertes Rechtsschutzsystems verstanden – im Gegenteil. Im verfassungsrechtlichen Normalfall, in dem eine nationale Behörde dem Einzelnen als Vollzugsbehörde der Gemeinschaft gegenübertritt, geht der Gerichtshof von der Subsidiarität des zentralen Individualrechtsschutzes aus66 und vertraut auf die loyale Zusammenarbeit mit den Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichten, wie sie sich in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt hat.67 3. Rechtsetzung und Verwaltung im föderalen Verbund: Richtlinien und der Schutz subjektiver Gemeinschaftsrechte Eine dritte Konjunkturwelle, die in den 1980er Jahren anschwillt und bis weit in die 1990er trägt, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Richtlinie. Dies reflektiert den erweiterten Aktionsradius der Gemeinschaft auf Feldern wie dem Umwelt- oder Verbraucherschutz sowie insgesamt die intensivierte Rechtsetzungsaktivität des Binnenmarktprogramms, die stärker durch Richtlinien geprägt waren als etwa das Wettbewerbs-, Handels- oder Agrarrecht. Es scheint, als waren die Rechtsprobleme, die Verordnung und Entscheidung aufwarfen, mittlerweile weitgehend abgearbeitet, 62
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Diese Parallelität führte zu einheitlichen Regeln für die Bestandskraft: EuGH, Rs. C-188/92, TWD Textilwerke Deggendorf, Slg. 1994, I-833, Rn. 17 f.; Rs. C-239/99, Nachi Europe, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37; kritisch M. Vogt, „Bestandskraft“ von EG-Rechtsakten und Anwendungsbereich des Art. 241 EGV, EuR 2004, S. 618 (623 ff.). EuGH, Rs. 92/78, Simmenthal/Kommission, Slg. 1979, 777, Rn. 39 und 41. EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 ff.; siehe C. Möllers, in diesem Band, S. 261 f. EuGH, Rs. 314/85, Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, Rn. 14 ff. C. Nowak, Zentraler und dezentraler Individualrechtsschutz in der EG im Lichte des gemeinschaftlichen Rechtsgrundsatzes effektiven Rechtsschutzes, in: ders./W. Cremer (Hrsg.), Individualrechtsschutz in der EG und der WTO, 2002, S. 47 (53 ff.). Eine Statistik der Vorlagepraxis 1961–1980 bei Chavallier/Maidani (Fn. 58), S. 12 f. Danach entstammte mehr als die Hälfte der Vorlagen dem Landwirtschafts- oder dem Sozialkoordinierungsrecht, gefolgt von zollrechtlichen Fragen.
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wohingegen Richtlinien an der Nahtstelle von europäischer und nationaler Rechtsordnung immer neue Fragen aufwarfen und über das trojanische Pferd des Umsetzungsrechts weit tiefere Einwirkungen zeitigten als die einstufigen, oftmals auf bloßen Vollzug angelegten Handlungsformen. Aus der Rechtsschutzperspektive rückt zeitgleich eine neue Konstellation in das Blickfeld: Nicht mehr der Schutz gegenüber der belastenden Hoheitsgewalt der Gemeinschaft, sondern der Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte prägte die Debatte. a) Die Entdeckung der Richtlinie als Form der Gesetzgebung Es hat lange gedauert, bis die Richtlinie von der Literatur als Instrument der Gesetzgebung beschrieben und erforscht wurde.68 Bis dahin galt sie „ihrem Wesen nach“ als eine „an die Mitgliedstaaten gerichtete Entscheidung“,69 mithin als Einzelakt, nicht Rechtssatz. Demgegenüber sprach der Gerichtshof schon 1984 von einem „Rechtsakt mit allgemeinem Anwendungsbereich“,70 und in den Diskussionen der 1990er Jahre über die Individualanfechtbarkeit der Richtlinie gehen EuGH und EuG ganz selbstverständlich von der Prämisse aus, sie sei „normalerweise eine Form der mittelbaren Gesetzgebung“, mithin als „allgemeingültige Handlung“ zu qualifizieren.71 Als Normativakt wird die Richtlinie erst entdeckt, als sich die europarechtliche Fachöffentlichkeit und erstmals auch ein breiteres juristisches Publikum der vom EuGH entwickelten Innovation individualbegünstigender Wirkungen von fehlerhaft umgesetzten Richtlinien72 zuwendet. So ist in der deutschen Literatur im Anschluss an den Konflikt zwischen Bundesfinanzhof und EuGH um die unmittelbare Anwendbarkeit der 6. Mehrwertsteuer-Richtlinie73 eine kontinuierliche Zunahme an Stellungnahmen zu verzeichnen.74 Dem Leberpfennig-Urteil,75 das einer staatengerichteten Entscheidung galt, war eine solche Aufmerksamkeit noch versagt geblieben, obwohl Grabitz schon 1971 die allfälligen Konsequenzen für die unmittelbare Wirkung der Richtlinie gezogen hatte.76 Weitere Nahrung zog die Debatte um 68
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Frühe dogmatische Bemühungen bei E.-W. Fuß, Die „Richtlinie“ des Europäischen Gemeinschaftsrechts, DVBl. 1965, S. 378; N. Weber, Die Richtlinie im EWG-Vertrag, 1974; ferner A. J. Easson, EEC Directives for the Harmonisation of Laws, YEL 1 (1981), S. 1. Everling (Fn. 39), S. 52; ebenso Lauwaars (Fn. 28), S. 32. EuGH, Rs. 37/83, Rewe, Slg. 1984, 1229, Rn. 13. EuGH, Rs. C-10/95 P, Asocarne/Rat, Slg. 1995, I-4149, Rn. 28; EuG, verb. Rs. T-172/98 u.a., Salamander u.a./Parlament und Rat, Slg. 2000, II-2487, Rn. 29. EuGH, Rs. 41/74, van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rn. 12; Rs. 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723, Rn. 49. BFHE 133, 470; EuGH, Rs. 8/81, Becker, Slg. 1982, 53, Rn. 21; Rs. 70/83, Kloppenburg, Slg. 1984, 1075, Rn. 14; BFHE 143, 383; schließlich BVerfGE 75, 223, 245 – Kloppenburg. U. Everling, Zur direkten innerstaatlichen Wirkung der EG-Richtlinien, in: FS Carstens, Bd. 1, 1984, S. 95; S. Magiera, Die Rechtswirkungen von EG-Richtlinien im Konflikt zwischen BFH und EuGH, DÖV 1985, S. 937; M. Hilf, Der Justizkonflikt um EG-Richtlinien: gelöst, EuR 1988, S. 1. EuGH, Rs. 9/70, Grad, Slg. 1970, 825. E. Grabitz, Entscheidungen und Richtlinien als unmittelbar wirksames Gemeinschaftsrecht, EuR 1971, S. 1.
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die Richtlinie aus dem Rechtsinstitut der richtlinienkonformen Auslegung77 und der staatshaftungsrechtlichen Relevanz fehlerhafter Umsetzungen.78 Gleichzeitig verschärfte der EuGH die Anforderungen an die Qualität der nationalen Umsetzung, wann immer die Richtlinie auf die Schaffung individueller Rechte abzielt.79 Gebannt verfolgte die juristische Öffentlichkeit in dieser Phase die Innovationen, die der Gerichtshof in das Gemeinschaftsrecht hineintrug. Für eine systematische Verarbeitung und kritische Würdigung mit Blick auf die Systemlogik der Handlungsformen und des Rechtsschutzes blieb kaum Zeit, zu rastlos erschien der Aktivismus des EuGH.80 So war aus Sicht vieler Beobachter der Schritt zur Anerkennung horizontaler Direktwirkungen von Richtlinien nur eine Frage der Zeit.81 Sie unterschätzten die Bereitschaft des Gerichtshofs, mit Blick auf die arbeitsteilige Differenzierung der Handlungsformen ein eigenes Profil der Richtlinie zu wahren.82 Die Hilfsinstitute, die der EuGH zu ihrer Stärkung entwickelt hat, knüpfen durchweg an eine (drohende) Verletzung der Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten an. Diese Anreicherung der Dogmatik der Richtlinie im Bereich der Fehlerlehre kann sich auf den in Art. 10 EG niedergelegten Auftrag stützen, die in den Rechtsetzungsorganen – häufig mühsam – erzielten Kompromisse gegen ihre einseitige Infragestellung zu schützen.83 Es lag daher eher fern, dass der Gerichtshof der Aufforderung nachkommen würde, auch einer Empfehlung unmittelbare Wirkungen zuzuerkennen. Bei dieser unverbindlichen kleinen Schwester der Richtlinie fehlt es gerade an einer Umsetzungsverpflichtung, sodass der Sanktions-
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EuGH, Rs. 14/83, von Colson, Slg. 1984, 1891, Rn. 26; Rs. C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Rn. 8; siehe S. Drake, Twenty Years After Von Colson, ELRev. 30 (2005), S. 329. EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich, Slg. 1991, I-5357, Rn. 31; verb. Rs. C-178/ 94 u.a., Dillenkofer, Slg. 1996, I-4845, Rn. 26 f.; R. Caranta, Governmental Liability After Francovich, Cambridge Law Journal 52 (1993), S. 272. EuGH, Rs. 361/88, Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-2567, Rn. 15 f.; Rs. C-59/89, Kommission/Deutschland, Slg. 1991, I-2607, Rn. 23 f.; I. Pernice, Kriterien der normativen Umsetzung von Umweltrichtlinien der EG, EuR 1994, S. 325. Die erste Monographie, die die Rechtsprechung zur Richtlinie systematisch verarbeitet, ist S. Prechal, Directives in European Community Law, 1995 (rev. 2. Aufl. 2005); zur Einordnung T. Jäger, Buchbesprechung, ZÖR 62 (2007), S. 156; aus dem jüngeren deutschen Schrifttum zur Richtlinie ragt C. Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, heraus; ferner etwa K. H. Prokopf, Das gemeinschaftsrechtliche Rechtsinstrument der Richtlinie, 2007; V. I. Gronen, Die „Vorwirkung“ von EG-Richtlinien, 2006. Als Element fortschreitender Konstitutionalisierung gelesen bei E. Stein, Lawyers, Judges and the Making of a Transnational Constitution, AJIL 75 (1981), S. 1; eine prononcierte Aufforderung an den Gerichtshof bei GA Lenz zu Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, Rn. 43 ff.; aus der umfangreichen Diskussion exemplarisch A. J. Easson, Can Directives Impose Obligation on Individuals?, ELRev. 4 (1979), S. 67; T. Tridimas, Horizontal Direct Effect of Directives, ELRev. 19 (1994), S. 621. Siehe EuGH, Rs. C-91/92 (Fn. 81), Rn. 24; Rs. C-192/94, El Corte Inglés, Slg. 1996, I-1281, Rn. 17. A. v. Bogdandy, Rechtsfortbildung mit Art. 5 EG-Vertrag, in: GS Grabitz, 1995, S. 17 (26 f.); zur Deutung aus der Perspektive des Rechtsstaatsprinzips ders., in diesem Band, S. 38 ff.
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gedanke nicht eingreift.84 Überdies hat der EuGH einige überspitzte Ansätze nicht weiter verfolgt, etwa die Idee eines eigenen Rechtsschutzfristen-Regimes des Umsetzungsrechts (sog. Emmott’sche Fristenhemmung).85 Dies mag dazu beigetragen haben, dass auch frühere Kritiker ihm heute bescheinigen, die Richtlinie zu einer plausibel konturierten Handlungsform entwickelt zu haben, die gegen systemwidrige Einzelentscheidungen in Schutz zu nehmen sei.86 Die größte dogmatische Baustelle, die einer endgültigen Abnahme noch harrt, dürfte in der Markierung der Grenze zwischen einer (verbotenen) horizontalen Direktwirkung und einer (zugelassenen) mittelbaren Belastung in Dreieckskonstellationen bestehen.87 Die Gründe für eine bleibende Unzufriedenheit mit den dogmatischen Konturen der Richtlinie sind nicht im Bereich der Fehlerlehre, sondern bei ihrer schwachen verfassungsrechtlichen Disziplinierung in Bezug auf die vertikale Kompetenzordnung zu suchen.88 Der untergründige Konflikt datiert zurück bis auf die frühen Tage des Gemeinschaftsrechts. Namentlich deutschsprachige Autoren leiteten aus dem Wortlaut des Art. 189 Abs. 3 EWG-Vertrag (Art. 249 Abs. 3 EG) ab, dass den Mitgliedstaaten ein substanzieller Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung verbleiben müsse.89 Konfrontiert mit diesem Anspruch, ein Instrument der Rahmengesetzgebung zu sein, erscheint die Karriere der Richtlinie tatsächlich als eine Geschichte von Formenmissbräuchen.90 Rechtsetzungspraxis und Rechtsprechung haben sich diese Sicht der Dinge, die auf eine bestimmte Regelungsdichte als immanente Kompetenzgrenze hinausläuft, nie zu eigen gemacht und die Richtlinie bei Bedarf schon immer als loi uniforme gehandhabt, das den Mitgliedstaaten detaillierte Vor-
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Siehe EuGH, Rs. 322/88, Grimaldi, Slg. 1989, 4407, Rn. 16. EuGH, Rs. C-208/90, Emmott, Slg. 1991, I-4269; korrigiert durch Rs. C-188/55, Fantask, Slg. 1997, I-6783; näher J. Gundel, Keine Durchbrechung nationaler Verfahrensfristen zugunsten von Rechten aus nicht umgesetzten EG-Richtlinien, NVwZ 1998, S. 910. T. v. Danwitz, Rechtswirkungen von Richtlinien in der neueren Rechtsprechung des EuGH, JZ 2007, S. 697 (704 ff.), mit Blick auf EuGH, Rs. C-144/04, Mangold, Slg. 2005, I-9981, Rn. 66 ff.; berechtigte Kritik bei GA Mazák zu Rs. C-411/05, Palacios de la Villa, Slg. 2007, I-8531, Nr. 105 ff.; klärend A. v. Oettingen/D. Rabenschlag, Europäische Richtlinien und allgemeiner Gleichheitssatz im innerstaatlichen Recht, ZEuS 2006, S. 363. Siehe EuGH, Rs. C-201/02, Wells, Slg. 2004, I-723, Rn. 56; verb. Rs. C-152/07 bis C-154/ 07, Arcor, Slg. 2008, I-0000, Rn. 35; aus der Literatur W. Hartisch, Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien in dreipoligen Rechtsbeziehungen, 2003; D. Colgan, Triangular Situations: the coup de grâce for the Denial of Horizontal Direct Effect of Community Directives, EPL 8 (2002), S. 545. Vgl. M. Hilf, Die Richtlinie der EG – ohne Richtung, ohne Linie?, EuR 1993, S. 1 (19 ff.). Zum Diskussionsstand der 1960er Jahre R. Oldekop, Die Richtlinien der EWG, 1968, S. 161 ff.; heute etwa H. Eberhard, Das Legalitätsprinzip im Spannungsverhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, ZÖR 63 (2008), S. 49 (107); M. Kaltenborn, Rahmengesetzgebung im Bundesstaat und im Staatenverbund, AöR 128 (2003), S. 412 (443); vgl. auch P. Kirchhof, in diesem Band, S. 1041. Vgl. B. Biervert, Der Mißbrauch von Handlungsformen im Gemeinschaftsrecht, 1999, S. 138 ff.
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gaben für den innerstaatlich herzustellenden Rechtszustand machen kann.91 Zusätzlichen Schub erhielt die Tendenz zur inhaltlichen Determinierung des Umsetzungsrechts noch durch die Intensivierung der Grundrechte-Judikatur des EuGH. Danach impliziert die Pflicht der Mitgliedstaaten zur primärrechtskonformen Auslegung des Richtlinienrechts, dass sie auch von ausdrücklich eingeräumten Ermessensspielräumen nur in grundrechtskonformer Weise Gebrauch machen dürfen.92 Aufgrund dieser Ausstrahlung der Grundrechte bei umsetzungsbedürftigen Rechtsakten93 kann auch eine vergleichsweise „flache“ legislative Harmonisierung zu einer „tiefen“ judikativen Überformung des nationalen Rechts führen.94 Ungeachtet der rechtspolitischen Forderung, die Richtlinie stärker „wieder“ in eine föderale Perspektive zu stellen,95 wird heute ihre Zweckmäßigkeit als „echtes“ Gesetzgebungsinstrument weithin anerkannt. Die Vorliebe von Regierungsvertretern für die Richtlinie scheint vor allem auf ihre zweistufige Normgebungsstruktur zurückzugehen,96 die Akteuren in den nationalen politischen Systemen Raum für öffentlich wahrnehmbare Aktivität selbst dort lässt, wo die sachlichen Gestaltungsspielräume gering sind.97 Im Gegenzug profitiert die Union von dieser Legitimationsentlastung ebenso wie von den Effektivitätsgewinnen, die von einer passgenauen Einfügung des europäischen Normprogramms in das nationale Rechtssystem ausgehen, wenn die fehleranfällige Hürde der Umsetzung erst einmal genommen ist. Im Hinblick auf ihren normativen Charakter oder ihre Regelungsdichte unterscheiden sich die unmittelbar anwendbaren Rechtsakte der Union (Verordnungen, Entscheidungen) von den umsetzungsbedürftigen (Richtlinien) nicht. Die maßgebliche Differenz, die auch im Bereich der Rechtsfolgen fehlerhafter Umsetzung zu
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Siehe etwa EuGH, Rs. 38/77, Enka, Slg. 1977, 2203, Rn. 11/12; dies findet heute überwiegende Unterstützung in der Literatur: M. Zuleeg, in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2003, Art. 5 EG, Rn. 20; M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Fn. 5), Art. 249 EG, Rn. 133. Zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei Umsetzung und Anwendung des Richtlinienrechts EuGH, Rs. C-107/97, Rombi, Slg. 2000, I-3367, Rn. 65; Rs. C-276/01, Steffensen, Slg. 2003, I-3735, Rn. 69 ff.; verb. Rs. C-20/00 und C-64/00, Booker Aquacultur, Slg. 2003, I-7411, Rn. 88; zur grundrechtskonformen Auslegung der Richtlinien-Ergebnisse Rs. C-540/03, Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5769, Rn. 61 ff., 104 f.; Rs. C-305/05, Ordre des barreaux francophones et germanophones, Slg. 2007, I-5305, Rn. 28; siehe auch J. Kühling, in diesem Band, S. 682 f. P. M. Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte, EuR 2008, S. 190 (191 f.); skeptisch M. Nettesheim, Normenhierarchien im EU-Recht, EuR 2006, S. 737 (750 ff.). Exemplarisch J. Bast, Internationalisierung und De-Internationalisierung der Migrationsverwaltung, in: C. Möllers u.a. (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, S. 279 (301 ff., 309 f.); zum „Paradox richterrechtlicher Übersteuerung“ E. Schmidt-Aßmann, Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht, in: P.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Perspektiven des Rechts in der EU, 1998, S. 131 (142). Plädoyer bei Schütze (Fn. 37), S. 150 f. Hierzu im Überblick A. Schramm, Zweistufige Rechtsakte, oder: Über Richtlinien und Grundsatzgesetze, ZÖR 56 (2001), S. 65. T. Koopmans, Regulations, Directives, Measures, in: FS Everling (Fn. 8), S. 691 (695).
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wahren ist, besteht darin, dass eine Richtlinie selbst keine Verpflichtungen für private Rechtssubjekte begründen kann, sondern nur Rechte.98 b) Der Rechtsschutzauftrag der nationalen Gerichte Es ist dieses subjektiv-rechtliche Potenzial der Richtlinie, das einen zeitlich parallelen Perspektivenwechsel in der Rechtsschutzdiskussion als keineswegs zufällig erscheinen lässt. Schwächen im arbeitsteiligen System des Individualrechtsschutzes wurden zunehmend eher auf nationaler Ebene verortet, und dabei geht es nicht um Rechtsschutz gegen rechtswidrige Akte der Gemeinschaft, sondern um den effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte, die das Gemeinschaftsrecht den Einzelnen verleiht.99 Als prozessrechtliches Institut ist es erneut das Vorabentscheidungsverfahren, das Rechtsschutzfunktionen übernehmen muss, indem es die nationalen Gerichte dazu anleitet, das vom EuGH konsequent subjektiv-rechtlich interpretierte Gemeinschaftrecht im nationalen Rechtskreis wirksam werden zu lassen.100 Diese wechselseitige Verstärkung von Effektivitätsanspruch und Individualrechtsgüterschutz hat besonders dort zu Irritationen geführt, wo sie – wie in Deutschland – auf eine dogmatisch gefestigte, für die Zwecke des Gemeinschaftsrechts aber zu eng gefasste Konzeption von gerichtlich durchsetzbaren Rechten traf.101 Als Referenzgebiet für die Bilanzierung der Gewinne und Verluste, die die funktionale Subjektivierung des Gemeinschaftsrechts mit sich bringt, hat sich in den 1990er Jahren vor allem das Umweltrecht hervorgetan.102 Gewiss kommen als Quellen individueller Rechte nicht nur Richtlinien, sondern alle unmittelbar wirksamen Bestimmungen des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts in Betracht, allen voran die Marktzugangsfreiheiten und Diskriminierungsverbote der Verträge. Die große Zahl von Veröffentlichungen, die sich um den Schutz von Rechten drehen, die gerade der Richtliniengeber kreiert hat, rezipiert die Rechtsetzungspraxis nur selektiv (die am häufigsten genutzten Handlungsformen sind weiterhin die Entscheidung und die Verordnung; die Richtlinie ist mit Anteilen von 9 % am geltenden Recht und 13 % an der Rechtsproduktion des Rates weit abgeschlagen103). Das anhaltend große Interesse an der Richtlinie ist zugleich 98 99
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EuGH, Rs. 152/84 (Fn. 72), Rn. 48; Rs. 14/86, Pretore di Salò, Slg. 1987, 2545, Rn. 19. M. Tonne, Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997, S. 191 ff.; A. Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998, S. 307 ff.; S. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, S. 64, 125 f., 135 ff. und 358 ff. Siehe EuGH, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 12. J. Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997, S. 175 ff. M. Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996; B. W. Wegener, Rechte des Einzelnen, 1998; S. Albin, Die Vollzugskontrolle des europäischen Umweltrechts, 1999; M. Nettesheim, Die mitgliedstaatliche Durchführung von EG-Richtlinien, 1999. Zum „Strukturprinzip der funktionalen Subjektivierung“ M. Ruffert, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Verfassung der EU, 2006, Art. I-6 VVE, Rn. 30. Bast (Fn. 6), S. 125 ff.; weitere empirische Erkenntnisse zur Formenwahlpraxis bei A. v. Bogdandy/J. Bast/F. Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht: Empirische Analysen und dogmatische Strukturen in einem vermeintlichen Dschungel, ZaöRV 62 (2002), S. 77 (87 ff.).
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aber ein Indikator für die qualitativen Tiefenwirkungen, die von dieser Handlungsform ausgehen, zumal wenn die Schaffung einklagbarer Individualrechte zu ihrem Umsetzungsprogramm gehört.104 Es ist daher durchaus angemessen, dass ein Gemeinschaftsgrundrecht auf effektiven gerichtlichen Schutz – das in diesem umfassenden Sinne in Art. 6 und 13 EMRK völkerrechtlich gerade nicht vorgesehen ist105 – erstmals in der Rechtssache Johnston anerkannt wird, in der sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens auf eine Gleichbehandlungs-Richtlinie berufen wollte.106 Hier wird eine Rechtsprechungslinie begründet, die die Qualitätsanforderungen an die Effektivität und Kohärenz des Rechtsschutzes nunmehr als Grundrecht begreift und so die weitreichenden Formulierungen in Art. 47 GR-Charta vorbereitet.107 Sie ergänzt eine ältere Linie, die die mitgliedstaatlichen Gerichte gestützt auf Art. 10 EG in die Pflicht nimmt, den Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsen.108 Seit der Rechtssache Unibet schließlich sind beide Linien miteinander verschmolzen und das Recht auf effektiven gerichtlichen Schutz umfassend zum grundrechtlichen Maßstab erhoben, dem die nationalen wie unionalen Prozessordnungen im Anwendungsbereich des Unionsrechts genügen müssen.109 4. Die EU/EG im Reformjahrzehnt: Proliferation der Handlungsformen und Rechtsschutzdefizite? Im langen Reformjahrzehnt, das durch die Verträge von Amsterdam und Lissabon markiert wird, sind es Zustand und Reformbedürftigkeit des unionalen Formenarsenals und des Rechtsschutzsystems in ihrer Gänze, die jetzt unter verfassungspolitischen Vorzeichen kritisch diskutiert werden. In der pluralisierten Diskurslandschaft sind drei Hauptdiskussionsstränge auszumachen. Ein erster Strang behandelt die neuen Handlungsformen, die mit der Säulenstruktur der Unionsverträge eingeführt wurden (a). Ein zweites Diskursfeld betrifft die Neuordnung der Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts, die sich am Vorwurf der fehlenden Kohärenz und Über104 105
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Exemplarisch EuGH, Rs. C-237/07, Janecek, Slg. 2008, I-0000. K. Pabel, The Right to an Effective Remedy Pursuant to Article II-107 Paragraph 1 of the Constitutional Treaty, in: P. Dann/M. Rynkowski (Hrsg.), The Unity of the European Constitution, 2006, S. 207 (209 ff.); C. Nowak, in: F. S. M. Heselhaus/C. Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 51, Rn. 16 und 29; H.-W. Rengeling/ P. Szczekalla, Grundrechte in der EU, 2004, Rn. 1155. EuGH, Rs. 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1651, Rn. 17 ff.; zum Zäsurcharakter V. Röben, Die Einwirkung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf das mitgliedstaatliche Verfahren in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten, 1988, S. 23 ff. und 410. EuGH, Rs. 222/86, Heylens, Slg. 1987, 4097, Rn. 14; Rs. C-424/99, Kommission/Österreich, Slg. 2001, I-9285, Rn. 45; Rs. C-50/00 P, UPA/Rat, Slg. 2002, I-6677, Rn. 39; zu den einzelnen Gewährleistungsgehalten Nowak (Fn. 105), Rn. 32 ff., und Rengeling/Szczekalla (Fn. 105), Rn. 1158 ff. EuGH, Rs. 33/76, Rewe, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; Rs. 106/77, Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rn. 21 f.; Rs. C-213/89, Factortame, Slg. 1990, I-2433, Rn. 19. EuGH, Rs. C-432/05, Unibet, Slg. 2007, I-2271, Rn. 37 ff.; Rs. C-268/06, Impact, Slg. 2008, I-2483, Rn. 42 ff.
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sichtlichkeit entzündet (b). Ein dritter Strang schließlich nimmt, diesmal mit Unterstützung aus dem Gerichtshof, die alte Diskussion um die Reform der Nichtigkeitsklage wieder auf (c). a) Rahmenbeschlüsse und die Rechtsschutzdefizite der Säulenstruktur Die Halbwertzeit der neuen Handlungsformen, die der EU-Vertrag dem Europäischen Verfassungsrecht beschert hat, war erstaunlich gering. Schon der Vertrag von Amsterdam sah sich zur Reform veranlasst und schuf mit Art. 12–15 EU für die GASP-Säule und mit Art. 34 EU für die auf eine Zusammenarbeit in Strafsachen geschrumpfte dritte Säule die heutige Nomenklatur. Was den Rechtsschutz angeht, war dieser zunächst praktisch ganz ausgeschlossen,110 bis für die dritte Säule das Sonderregime des Art. 35 EU etabliert wurde. Auch für die Teile der Justiz- und Innenpolitik, die in den EG-Vertrag überführt wurden, gelten mit Art. 68 EG gewisse Rechtsschutzbeschränkungen;111 sie stehen gemäß Art. 67 Abs. 2 EG unter dem Vorbehalt ihrer Aufhebung durch den Rat.112 Die Wissenschaft schenkte den neuen Handlungsformen zunächst eher wenig Beachtung.113 Dabei war doch die Absage des Vertragsgebers an die gemeinschaftsrechtlichen Standard-Handlungsformen ein wesentlicher Baustein in dem Verfassungskompromiss, der in der Säulenstruktur zum Ausdruck kommt: Allzu eng waren sie verknüpft mit der supranationalen Qualität des Gemeinschaftsrechts, unmittelbar auf die Rechtsstellung der Bürger einzuwirken. Bezeichnenderweise blieben auch nach Amsterdam unmittelbare Wirkungen von Rahmenbeschlüssen oder Beschlüssen nach Art. 34 EU ebenso ausgeschlossen wie Direktklagen von Einzelnen im Rahmen des Art. 35 EU. Erst das Pupino-Urteil114 entfachte eine lebhafte Debatte115 über das Sonderregime der Formen und Verfahren in der dritten 110
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Gerichtlicher Kontrolle unterlag allein die horizontale Kompetenzordnung: EuGH, Rs. C170/96, Kommission/Rat, Slg. 1998, I-2763, Rn. 12 ff.; näher M. Nettesheim, in diesem Band, S. 434 ff. Näher J. Hourle, Vergleich der Rechtsschutzverfahren für Justiz und Inneres und Art. 220 ff. EGV, 2005, S. 39 ff.; P. Baumeister, Effektiver Individualrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht, EuR 2005, S. 1 (24 ff.). Ein politisches Junktim bestand mit der Frage, wie besonders eilige Vorlagefragen in angemessener Frist beantwortet werden können, ohne die Mitwirkungsinteressen der Mitgliedstaaten zu stark zu beschneiden. Ein Kompromiss wurde gefunden in Gestalt des sog. Eilvorlageverfahrens für Vorabentscheidungen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ABl. 2008 L 24, S. 39 und 42); dazu O. Dörr, Das beschleunigte Vorabentscheidungsverfahren im RFSR, EuGRZ 2008, S. 349. Siehe aber F. Zeder, Der Rahmenbeschluss als Instrument der EU-Rechtsangleichung im Strafrecht, ÖJZ 2001, S. 81; D. Reichelt, Die Rechtmäßigkeitskontrolle von Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen gemäß Art. 35 Abs. 6 EU, 2004. EuGH, Rs. C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285. W. Schroeder, Neues vom Rahmenbeschluss, EuR 2007, S. 349; C. Schönberger, Der Rahmenbeschluss, ZaöRV 67 (2007), S. 1107; T. Giegerich, Verschmelzung der drei Säulen der EU durch europäisches Richterrecht?, ZaöRV 67 (2007), S. 351 (371 ff.); S. Peers, Salvation Outside the Church, CMLRev. 44 (2007), S. 919; M. J. Borgers, Implementing Framework Decisions, CMLRev. 44 (2007), S. 1361; A. Hinarejos, On the Legal Effects of Framework Decisions and Decisions, ELJ 14 (2008), S. 620.
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Säule.116 Kontrovers diskutiert wird seitdem die Richtungsentscheidung des Gerichtshofs, sich bei der Auslegung der Bestimmungen des Titels VI EU konsequent am Gemeinschaftsrecht als verfassungsrechtlichem Normalfall zu orientieren und dort entwickelte Rechtsinstitute – wie die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit oder die Geltung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze – als übergreifende Verfassungsprinzipien für die gesamte EU zu verstehen.117 Dieser weitreichende Schritt zur materiell-rechtlichen Einheitsbildung reagiert auf die ausgiebige Nutzung der Rechtsetzungsbefugnisse der reformierten dritten Säule, die durch die Ereignisse des 11. September 2001 noch beschleunigt wurde.118 Damit entfaltet die Union auf dem grundrechtssensiblen und politisch umstrittenen Bereich der Strafverfolgung und der präventiven Verbrechensbekämpfung rege legislative Aktivitäten, ohne die rechtsstaatlichen und demokratischen Kontrollmechanismen des Gemeinschaftsrechts bereitzuhalten.119 Besonders der Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl120 erwies sich nachträglich aus Sicht einiger Mitgliedstaaten als problematisch, wobei die Pflicht zur Auslieferung eigener Staatsangehöriger für identitätspolitischen und verfassungsrechtlichen Streitstoff sorgte.121 Ausgerechnet die dritte Säule mit ihrer schwächeren verfassungsrechtlichen Legitimationsbasis droht zum Testfall für die Austragung glücklich eingefrorener Grundsatz-Konflikte zwischen EuGH und nationalen Verfassungsgerichten zu werden.122 Dies lässt die Pupino-Entscheidung gewissermaßen als eine Flucht nach vorn erscheinen, um gleichzeitig Effektivität und Legitimität der unionalen Politik der inneren Sicherheit zu erhöhen. Für das Rechtsregime des Rahmenbeschlusses bedeutet dies die Pflicht nationaler Gerichte zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung123 sowie die Übertragung des auch für Richtlinien noch recht jungen Instituts der grundrechtskonformen Auslegung und Anwendung umsetzungsbedürftiger 116 117
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Die Handlungsformen der zweiten Säule und der Ausschluss judikativer Kontrolle ihres Gebrauchs provozieren weiterhin nur wenig Kritik, vgl. D. Thym, in diesem Band, S. 480 f. Zu diesem Prinzipienverständnis A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 33 ff.; in diese Richtung bereits U. Everling, Folgerungen aus dem Amsterdamer Vertrag für die Einheit der Europäischen Union und Gemeinschaften, EuR Beiheft 2/1998, S. 185 (192). S. Peers, EU Justice and Home Affairs Law, 2007, S. 382 ff.; zum Verfassungsziel der Gewährleistung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts siehe J. Monar, in diesem Band, insb. S. 753 ff. Zur unterentwickelten Rolle des EP im Bereich der dritten Säule J. Monar, in diesem Band, S. 767 f.; zur Unmöglichkeit, dies durch Aktivitäten der nationalen Parlamente angemessen zu kompensieren, P. Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004, S. 211 ff., sowie ders., in diesem Band, S. 378 ff. ABl. 2002 L 190, S. 1. Siehe O. Lagodny u.a. (Hrsg.), Probleme des Rahmenbeschlusses am Beispiel des Europäischen Haftbefehls, 2007, sowie F. Schorkopf (Hrsg.), Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, 2006; zur Rechtmäßigkeit aus Sicht des Unionsrechts EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633, Rn. 24 ff. Zu diesen ausführlich F. C. Mayer, in diesem Band, S. 572 ff.; zur weiteren Problematik der Gewährleistung eines angemessenen Grundrechtsschutzes mit Blick auf die EMRK siehe R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 206. EuGH, Rs. C-105/03 (Fn. 114), Rn. 43.
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Rechtsakte.124 In der Konsequenz dürften alle weiteren Elemente des Rechtsregimes der Richtlinie, soweit sie eine unmittelbare Wirkung tatbestandlich nicht voraussetzen, zur Anwendung kommen.125 Dies gilt insbesondere für die Staatshaftung bei fehlerhafter Umsetzung von Rahmenbeschlüssen, denn der Haftungsanspruch nach den Francovich-Grundsätzen verlangt keine unmittelbare Wirkung der verletzten Norm, sondern lediglich, dass sie die Verleihung individueller Rechte bezweckt.126 An ihre Leistungsgrenzen stößt diese Strategie des EuGH jedoch angesichts des Umstands, dass die dritte Säule – und erst recht die zweite – offenkundig über kein umfassendes Rechtsschutzsystem verfügt.127 Nur auf den ersten Blick mag es plausibel scheinen, dass ohne Durchgriff auf die Bürger gerichtlicher Individualschutz überflüssig ist128 – gewissermaßen in Umkehrung der Gleichung von supranationaler Entscheidungsgewalt und supranationaler Parteifähigkeit. Dieses Argument übersieht, dass die mittelbare Belastungswirkung bei zweistufiger Rechtsetzung sehr wohl ein Bedürfnis nach Rechtsschutzgewährleistung schon auf der ersten Stufe bedingt, jedenfalls dann, wenn den nationalen Stellen keine Entscheidungsspielräume verbleiben.129 Dies gilt für Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse nach Art. 34 EU nicht weniger als für Richtlinien oder staatengerichtete Entscheidungen. Die einzige verbleibende Möglichkeit, ein Rechtsschutzanliegen vor den EuGH zu bringen, ist das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 35 Abs. 1–4 EU. Dieses wird in Pupino in enger Anlehnung an Art. 234 EG interpretiert, im Wesentlichen unter Ausblendung seines optionalen Charakters.130 Die Urteile in den Rechtssachen Gestoras Pro Amnistía und Segi verlängern diese Linie, indem sie die Enumeration der vorlagefähigen Akte in Art. 35 Abs. 1 EU zu einer formenneutralen Generalklausel fortbilden: So wie unter Art. 230 Abs. 1 EG seit der Rechtssache AETR alle Handlungen eines Organs mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten mit der Nichtigkeitsklage angriffen werden können,131 so muss auch jede im Rahmen der dritten Säule erlassene Maßnahme mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten im 124
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Ebd., Rn. 60; Rs. C-303/05 (Fn. 121), Rn. 53; für Richtlinien siehe die Nachweise in Fn. 92; zur Parallelität J. Masing, Vorrang des Europarechts bei umsetzungsbedürftigen Rechtsakten, NJW 2006, S. 264; A. Egger, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der III. Säule, EuZW 2005, S. 652. Hierin liegt eine späte Rechtfertigung für die Zurückhaltung des EuGH, eine privatbelastende Direktwirkung von Richtlinien anzuerkennen, da dies die Parallelführung beider Formen erschwert hätte; vgl. die fast zeitgleich zu Pupino ergehende Entscheidung in den verb. Rs. C-387/02 u.a., Berlusconi, Slg. 2005, I-3565, Rn. 74. Wie hier Schroeder (Fn. 115), S. 368; V. Röben, in: Grabitz/Hilf (Fn. 5), Art. 34 EU, Rn. 22, 45; ablehnend etwa Schönberger (Fn. 115), S. 1126. So auch EuGH, Rs. C-105/03 (Fn. 114), Rn. 35; Rs. C-354/04, Gestoras Pro Amnistía u.a./ Rat, Slg. 2007, I-1579, und Rs. C-355/04, Segi u.a./Rat, Slg. 2007, I-1657, jew. Rn. 50. C. H. Ludwig, Die Rolle des Europäischen Gerichtshofes im Bereich Justiz und Inneres nach dem Amsterdamer Vertrag, 2001, S. 262 ff., 285 f. Vgl. J. Kühling, in diesem Band, S. 658 f. EuGH, Rs. C-105/03 (Fn. 114), Rn. 28 ff. Dazu unten, III. 1.
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Wege der Vorentscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden können.132 Nur unter dieser Prämisse kann der EuGH den mitgliedstaatlichen Prozessordnungen die Verantwortung zuweisen, etwaige Schutzlücken zu schließen,133 ohne das Verwerfungsmonpol für Akte der Unionsorgane nach der Foto-Frost-Doktrin aufzugeben.134 Mit dieser Argumentation reizt der EuGH die Handlungsspielräume judikativer Konstitutionalisierung aus und nimmt die zwischen den Mitgliedstaaten mittlerweile konsentierte Vergemeinschaftung der dritten Säule, wie sie der Verfassungsvertrag und der Lissabonner Vertrag gleichermaßen projektieren, so weit wie möglich vorweg.135 Diese prinzipiengeleitete Judikatur verdient Unterstützung. Akzeptiert man mit dem EuGH die Grundsätze des Art. 6 EU (bzw. die „Werte“ des Art. 2 EUV-Liss.) nicht als bloße Beschreibungen des Status quo, sondern als programmatischen Entwurf, verleiht dies den vertraglichen Regelungen in Titel VI EU einen prekären, vorläufigen Charakter: Sie sind im Lichte übergreifender Verfassungsprinzipien defizitär.136 Als in das Primärrecht eingebauter Maßstab reflexiver Kritik drängt das Rechtsstaatsprinzip darauf, das im Bereich des EG-Vertrag entwickelte Rechtsschutzmodell in allen Provinzen des Unionsrechts zur Geltung zu bringen.137 b) Systematisierung oder Vereinfachung? Wege zur Reform der Handlungsformen Während einerseits die Diskussion über die Sonderformen des EU-Vertrags stets unter dem Eindruck der „Normalität“ des EG-Vertrags geführt wurde, erklärt andererseits ab Mitte der 1990er Jahre eine wachsende Zahl von Autoren die gemeinschaftsrechtlichen Handlungsformen selbst zum Reformfall.138 Dabei können zwei gegensätzliche Strategien im Umgang mit der unsicher gewordenen Normalität der Trias „Verordnung, Richtlinie, Entscheidung“ und den auf sie bezogenen Wissensbeständen beobachtet werden.
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EuGH, Rs. C-354/04 und Rs. C-355/04 (Fn. 127), jew. Rn. 53. Ebd., Rn. 56. Letzteres hielt dagegen GA Mengozzi für unumgänglich: verb. Schlussanträge zu den Rs. C354/04 und C-355/04 (Fn. 127), Nr. 121 ff.; zum Ganzen U. Haltern, Rechtsschutz in der dritten Säule der EU, JZ 2007, S. 772, und T. v. Danwitz, Rechtsschutz im Bereich polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit der EU, 2008. Unten, V. 2. a). Es gehört zu den immanenten Leistungsgrenzen judikativer Konstitutionalisierung, dass sie sich bei der Verwirklichung demokratischer Anliegen weit schwerer tut als bei der Durchsetzung rechtsstaatlicher Standards, hierzu C. Möllers, in diesem Band, S. 265 ff. Zu diesem Modus reflexiver Konstitutionalisierung J. Bast, Einheit und Differenzierung der Europäischen Verfassung, in: Y. Becker u.a. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 2005, S. 34 (57 ff.); A. v. Bogdandy, Konstitutionalisierung des europäischen öffentlichen Rechts in der europäischen Republik, JZ 2005, S. 529 (537 f.). Für eine Liste der Reformthemen siehe G. Winter (Hrsg.), Sources and Categories of European Law, 1996, insb. in Teil C.
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aa) Der Ruf nach Hierarchisierung und Vereinfachung durch den Vertragsgeber Das erste der beiden Reformlager drängt auf eine Veränderung der vertraglichen Grundlagen. Nur ein grundlegender Neuansatz erscheint ihm geeignet, einer als anormal und unsystematisch empfundenen Situation zu begegnen.139 Hier sind wiederum zwei miteinander verbundene, aber nicht deckungsgleiche Reformanliegen zu erkennen: Hierarchisierung einerseits, Vereinfachung andererseits. Die Bemühungen um eine Hierarchie der Handlungsformen kommen ursprünglich aus der politischen Sphäre und lassen sich zurückverfolgen bis zur Einführung der Direktwahlen zum Europäischen Parlament.140 Forderungen nach einer „angemessenen“ Rangordnung der verschiedenen Arten von Normen sind Teil des politischen Kampfes um die nachholende Parlamentarisierung der Gemeinschaft bzw. Union. In der Sache geht es um eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den Organen entlang der Kategorien der Gewaltenteilungslehre, indem sich der legitimatorische Mehrwert parlamentarisch (mit-)verantworteter Rechtsetzung in einem Vorrang vor der „exekutiven“ Rechtsetzung durch Rat und Kommission ausdrücken soll. Nachdem das Hierarchisierungs-Anliegen in Maastricht politisch zunächst gescheitert war, immerhin aber zu den offiziellen left-overs der Regierungskonferenz gehörte,141 nahm sich die Wissenschaft des Themas an, erforschte Ansätze für Hierarchien im geltenden Recht und entwickelte Vorschläge für mögliche Abgrenzungen.142 Das Hierarchie-Motiv spielte in den Konferenzen von Amsterdam und Nizza keine Rolle, tauchte in der Laeken-Erklärung aber überraschend wieder auf 143 und entwickelte sich im Europäischen Konvent zu einer verfassungspolitischen Streitfrage ersten Ranges. Die resultierende Einführung eines „Europäischen Gesetzes“ im Verfassungsvertrag und die Restauration des Status quo der Bezeichnungen im Lissabonner Vertrag werden in einem eigenen Abschnitt gewürdigt (in Teil V.), ebenso die gegenwärtige Rechtslage einer nicht-hierarchischen Ordnung des abgeleiteten Rechts (in Teil IV.). 139
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Etwa A. D’Atena, L’anomalo assetto delle fonti comunitarie, Il Diritto dell’Unione Europea 2001, S. 587; K. Lenaerts/D. Gerard, The Structure of the Union According to the Constitution for Europe, ELRev. 29 (2004), S. 289 (309); M. Ruffert, in: W. Hoffmann-Riem/ E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 17, Rn. 9 und 38; R. Lukes, in: M. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Stand: Okt. 2007), B. II, Rn. 49. Vgl. T. U. Diedrichsen, The System of Legal Acts in the History of Drafts and Proposals, in: Winter (Fn. 138), S. 315 (327 ff.). Erklärung (Nr. 16) zur Rangordnung der Rechtsakte der Gemeinschaft. H. C. H. Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000; P.-Y. Monjal, Recherches sur la hiérarchie des normes communautaires, 2000; R. Kovar, La déclaration no 16 annexée au Traité sur l’Union européenne, Cahiers de Droit Européen 33 (1997), S. 3; G. Winter, Reforming the Sources and Categories of EU Law, in: ders. (Fn. 138), S. 13; A. Tizzano, The Instruments of Community Law and the Hierarchy of Norms, in: J. A. Winter u.a. (Hrsg.), Reforming the Treaty on EU, 1996, S. 207; R. Bieber/I. Salomé, Hierarchy of Norms in European Law, CMLRev. 33 (1996), S. 907; S. Magiera, Zur Reform der Normenhierarchie im Recht der EU, integration 1995, S. 197. Europäischer Rat, Erklärung von Laeken über die Zukunft der EU, 14./15. Dezember 2001, SN 300/1/01 REV 1.
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Die Forderung nach einer Vereinfachung der Instrumente, die sich ebenfalls im Laekener Mandat des Konvents niedergeschlagen hat, speist sich aus anderer Sorge. Sie ist nur lose mit dem selbstbewussten Anspruch der Union verknüpft, dass ihre Handlungsformen die Unterscheidung von legislativer und exekutiver Hoheitsfunktion reflektieren und sie sich so dem Erscheinungsbild eines Bundesstaates weiter annähern möge. Vielmehr ist in den Zwischentönen des vielstimmigen Rufes nach einem übersichtlicheren Bestand an Handlungsformen die tiefe Verunsicherung zu spüren, die die europäische Integration seit dem Fast-Scheitern des Maastrichter Vertrags in den Referenden in Dänemark und Frankreich befallen hat.144 Die Proliferation der Formen und Bezeichnungen, die konzeptlose Zuordnung von Organen, Kompetenzen und Instrumenten, die ganze babylonische Verwirrung der Brüsseler Rechtsmaschinerie stehen nun im Verdacht, zur Legitimationskrise der Union beizutragen.145 Welch ein Gezeitenwechsel gegenüber Pescatores stolzer Präsentation des „Systems der institutionellen Akte“! bb) Der Beitrag der Wissenschaft zur Reform der Handlungsformen Demgegenüber hält das zweite Reformlager, dem sich auch der Verfasser zurechnet, derartige Rufe nach grundlegender Neuordnung und Vereinfachung für vorschnell: ein Mangel an Übersicht kann auch einem ungünstigen Standort des Betrachters geschuldet sein. Nur ein Teil der Problemlagen der unionalen Handlungsinstrumente eignet sich für eine Thematisierung als verfassungspolitische Grundsatzfrage, wozu gewiss die Frage gehört, ob sich die unionalen Handlungsformen in ihren Semantiken an staatliche Vorbilder anlehnen sollten.146 Man darf allerdings bezweifeln, ob das europäische Konstrukt damit in den Augen seiner nicht-juristischen Betrachter entscheidend an Schönheit gewinnt.147 Entsprechende Diskussionen laufen nicht nur Gefahr, bereits im nationalen Kontext überholte Rechtsquellenlehren in das Unionsrecht einzuführen,148 sondern auch, die Kosten eines Umbaus zu unterschätzen. Vereinfachung ist kein plausibler Selbstzweck, vielmehr wird ein hinreichend komplexes Spektrum von Handlungsformen benötigt, um der Vielgestaltigkeit der von der Union erwarteten Regelungsleistungen gerecht zu werden.149 Erst auf einer empirisch gesättigten und dogmatisch gesicherten Grundlage kann zwischen prinzipienloser Proliferation und problemadäquater Ausdifferenzierung unterschieden werden. 144 145 146 147 148 149
Zur sozialpsychologischen Tiefenstruktur J. H. H. Weiler, Introduction: „We Will Do, and Hearken“, in: ders., The Constitution of Europe, 1999, S. 3. Exemplarisch Koopmans (Fn. 97), S. 691; Tizzano (Fn. 142), S. 211. Befürwortend v. Bogdandy/Bast/Arndt (Fn. 103), S. 153 f. Ebd., S. 159 f. Zur Kritik: A. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 41 ff.; Ruffert (Fn. 139), Rn. 1 ff. Zum steuerungstheoretischen Verständnis der Handlungsformenlehre W. Hoffmann-Riem, in: ders./E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), GVwR II, 2008, § 33, insb. Rn. 44 f., 78 ff.; C. Bumke, Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, in: G. F. Schuppert u.a. (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 643 (665 ff.); Bast (Fn. 6), S. 104 ff.
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Je weiter man sich vom Kernbestand der Handlungsformen entfernt, auf die sich die Diskussion der vergangenen Jahrzehnte konzentriert hat, umso weniger kann eine solche Grundlage als gegeben unterstellt werden. Fortschritte für Transparenz und Kohärenz im Bereich der Handlungsformen erwartet das zweite Reformlager deshalb in erster Linie von weiteren Bemühungen um wissenschaftliche Durchdringung und Ordnung der Vielfalt.150 In der Tat sind seit den skeptischen Formulierungen der Vorauflage zum Stand der Disziplin151 eine ganze Reihe von Veröffentlichungen zu bislang eher vernachlässigten Phänomenen erschienen. Hier ein kurzer Überblick über drei Themenfelder:152 (1) Da ist zum einen die staatengerichtete Entscheidung, der Untersuchungen schwerlich gerecht werden können, die die Entscheidung des Art. 249 EG als Gemeinschaftsverwaltungsakt konzipieren und dessen Rechtsregime in enger Anlehnung an das deutsche Verwaltungsrecht entwickeln.153 Seit Scherzbergs innovativer, aber zu weitgehender Bemerkung, es handele sich bei Richtlinie und staatengerichteter Entscheidung um Ausprägungen einer einheitlichen Handlungsform,154 ist die Dogmatik hier lange nicht vom Fleck gekommen.155 Mittlerweile ist die Erschließung der empirischen Pluralität der staatengerichteten Entscheidung durch Studien zum europäischen Verwaltungsverbund erheblich fortgeschritten.156 Zu einem Politikfeld und Funktionen übergreifenden Verständnis als Unterform der Entscheidung hat schließlich die monographische Schrift von Vogt Wesentliches beigetragen.157 (2) Noch größer war die Diskrepanz zwischen praktischer Relevanz und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit in Bezug auf den adressatenlosen Beschluss (décision 150
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Zur rechtsstaatlichen Funktion der Formenlehre E. Schmidt-Aßmann, Die Lehre von den Rechtsformen des Verwaltungshandelns, DVBl. 1989, S. 533 (540); ders., Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2004, 6. Kap., Rn. 35 ff. J. Bast, Handlungsformen, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2003), S. 479 (494 f.). Weitere Themen sind z.B. die Interorganvereinbarung – dazu F. v. Alemann, Die Handlungsform der interinstitutionellen Vereinbarung, 2006, sowie die Beiträge in Heft 1 des ELJ 13 (2007) – oder die bislang noch kaum untersuchten Sonder-Handlungsformen der EZB, siehe J.-V. Louis, The Economic and Monetary Union: Law and Institutions, CMLRev. 41 (2004), S. 575 (588 ff.). Vgl. D. Schroeder, Bindungswirkungen von Verwaltungsentscheidungen nach Art. 249 EG im Vergleich zu denen von Verwaltungsakten nach deutschem Recht, 2006; A. Bockey, Die Entscheidung der Europäischen Gemeinschaft, 1997, S. 31; C. Junker, Der Verwaltungsakt im deutschen und französischen Recht und die Entscheidung im Recht der Europäischen Gemeinschaft, 1990, S. 164. A. Scherzberg, Verordnung – Richtlinie – Entscheidung, in: H. Siedentopf (Hrsg.), Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, 1991, S. 17 (42); vgl. jetzt EuGH, Rs. C-80/06, Carp, Slg. 2007, I-4473, Rn. 21. Siehe aber U. Mager, Die staatengerichtete Entscheidung als supranationale Handlungsform, EuR 2001, S. 661. B. Schöndorf-Haubold, Die Strukturfonds der Europäischen Gemeinschaft, 2005, insb. S. 351 ff.; W. Schenk, Strukturen und Rechtsfragen der gemeinschaftlichen Leistungsverwaltung, 2006, insb. S. 135 ff.; M. Eeckhoff, Die Verbundaufsicht, 2006, insb. S. 304 ff. M. Vogt, Die Entscheidung als Handlungsform des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2005.
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sui generis). Spätestens seit den 1980er Jahren ergehen Beschlüsse mit großer Routine auf allen Politikfeldern und gestützt auf nahezu alle Rechtsgrundlagen der Verträge.158 Eine Rekonstruktion als eigenständige, primärrechtlich nicht kodifizierte Handlungsform – anstatt eines diffusen Phänomens „ungekennzeichneter“ oder „sonstiger“ Akte mit ungesicherten Rechtswirkungen – blieb dem Beschluss dennoch lange versagt.159 Beschlüsse sind verbindliche Rechtsakte, die ihre im Normtext bezeichneten Festsetzungen gegenüber jedermann eintreten lassen. Verpflichtungen für die Rechtsbürger und die Mitgliedstaaten vermag ein Beschluss nicht zu begründen, wohl aber individuelle Rechte gegenüber den Organen.160 Die Mitgliedstaaten trifft nötigenfalls eine Pflicht zur Förderung des durch den Beschluss herbeigeführten rechtlichen Erfolgs.161 Rechtsschutzfragen stellen sich vor allem in Gestalt von Konkurrentenklagen gegen eine Begünstigung, die einem Dritten durch Beschluss eingeräumt wurde, etwa im Antidumpingrecht.162 (3) Ein drittes Themenfeld, auf dem trotz einiger neuerer Ansätze noch große Forschungsaufgaben warten, sind die unverbindlichen Handlungsformen. Dank ihrer Erwähnung in Art. 249 EG genießen Stellungnahme und Empfehlung ein sachlich kaum gerechtfertigtes Aufmerksamkeitsprivileg. Vergleichsweise wenig beachtet wird die in der Praxis häufigste unverbindliche Handlungsform, die Entschließung.163 Die vielleicht intensivste Diskussion kreist um die Mitteilungen der Kommission und ihre Verwendung als föderale Verwaltungsvorschrift.164 Als tendenziell überwunden können Anleihen bei der Diskussion zum völkerrechtlichen soft law gelten.165 Die unterkomplexe Dichotomie hard versus soft versperrt 158
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Mit einer eigenen Anlautungsformel und dem charakteristischen Fehlen eines bezeichneten Adressaten in der Schlussformel wurden die Schwierigkeiten kompensiert, „Beschluss“ und „Entscheidung“ in allen Amtssprachen zu unterscheiden. Die Unterscheidung der Bezeichnung wird nur in Dänisch, Deutsch, Niederländisch und Slowenisch vorgenommen. Hierzu jetzt nicht nur die Bemühungen des Verfassers (Fn. 6), S. 109 ff., sondern auch S. Lefevre, Les actes communautaires atypiques, 2006; vgl. auch Vogt (Fn. 157), S. 19 und 335 f.; v. Alemann (Fn. 152), S. 146 ff. EuGH, Rs. C-58/94, Niederlande/Rat, Slg. 1996, I-2169, Rn. 38. EuGH, Rs. 242/87, Kommission/Rat (Erasmus), Slg. 1989, 1425, Rn. 11 und 19. Z.B. EuGH, Rs. 187/85, Fediol/Kommission, Slg. 1988, 4155, Rn. 6; EuG, Rs. T-188/99, Euroalliages/Kommission, Slg. 2001, II-1757; siehe auch EuGH, Rs. 297/86, CIDA u.a./Rat, Slg. 1988, 3531, Rn. 10 ff. Zur Genese J.-L. Dewost, Décisions des Institutions en vue du développement des Compétences et des Instruments juridiques, in: R. Bieber/G. Ress (Hrsg.), Die Dynamik des Gemeinschaftsrechts, 1987, S. 321 (327 ff.); näher v. Bogdandy/Bast/Arndt (Fn. 103), S. 120 ff. H. C. H. Hofmann, Negotiated and Non-negotiated Administrative Rule-making, CMLRev. 43 (2006), S. 153; T. Groß, Exekutive Vollzugsprogrammierung durch tertiäres Gemeinschaftsrecht?, DÖV 2004, S. 20; I. Schübel-Pfister, Kommissionsmitteilungen im Lebensmittelrecht, ZLR 2004, S. 403; A.-M. Tournepiche, Les Communications: instruments privilégiés de l’action administrative de la Commission européenne, Revue du Marché Commun et de l’UE Nr. 454 (2002), S. 55; H. Adam, Die Mitteilungen der Kommission, 1999. Vgl. M. Bothe, „Soft Law“ in den Europäischen Gemeinschaften?, in: FS Schlochauer, 1981, S. 761; K. C. Wellens/G. M. Borchardt, Soft Law in European Community Law, ELRev. 14 (1989), S. 267.
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im unionalen Kontext den Zugang zur funktionalen Ausdifferenzierung gleichermaßen unverbindlicher Handlungsformen. Dies zeigt gerade, ungeachtet ihres Titels, die Studie von Senden, die die Forschung einer kritischen Gesamtdarstellung der unverbindlichen Handlungsformen und ihrer Interaktionen mit den verbindlichen Rechtsformen ein großes Stück näher gebracht hat.166 c) Systemwechsel oder punktuelle Erweiterung? Wege zur Reform des Individualrechtsschutzes Der dritte aktuelle Themenkomplex, die Diskussion zur Reform der Individualnichtigkeitsklage, kann auf eine lange Geschichte zurückblicken.167 Ob man in der Plaumann-Formel des EuGH168 eine kaum zu rechtfertigende Immunisierung des EuGH gegenüber den Rechtsschutzanliegen der Betroffenen oder die dogmatische Ausformulierung einer Systementscheidung des Vertragsgebers zugunsten einer dezentralen Bearbeitung dieser Anliegen sehen soll, ist schon immer mit Leidenschaft diskutiert worden.169 Nicht nur, aber doch vor allem englischen Autoren fällt es angesichts der mediatisierten Rolle des Klägers im Vorabentscheidungsverfahren schwer, dieses überhaupt als judicial remedy zu akzeptieren, und mit Blick auf die Verfahrensdauer jedenfalls nicht als effective.170 Es ist daher sehr passend, dass gerade Francis G. Jacobs – nicht nur Generalanwalt am EuGH, sondern auch vormaliger Prozessanwalt und Autor zum europäischen Rechtschutz171 – im Jahr 2002 die Reihen der Kritiker prominent verstärkte und die Jégo-Quéré- und UPA-Saga einleitete.172 Der sichtbar gewordene Riss durch den Gerichtshof löste eine wahre Flut von Publikationen aus.173 Das Drama endete bekanntlich im Wesentlichen mit einer Bestätigung des Status quo ante: Das Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Schutz ist für die Auslegung der Klagevoraussetzungen relevant, mandatiert jedoch 166 167 168 169 170
171 172 173
L. Senden, Soft Law in EC Law, 2004. Dazu schon oben, II. 2. b). EuGH, Rs. 25/62, Plaumann/Kommission, Slg. 1963, 213 (238). Dokumentiert bei P. Cassia, L’accès des personnes physiques ou morales au juge de la légalité des actes communautaires, 2002. Exemplarisch P. Craig/G. de Búrca, EU Law, 2008, Kap. 14, insb. 525 ff.; A. Arnull, The EU and its Court of Justice, 2006, S. 91 ff. und 125 ff.; A. Ward, Judicial Review and the Rights of Private Parties in EC Law, 2000, S. 261 ff. und 323 ff.; ähnlich H. G. Schermers/ D. F. Waelbroeck, Judicial Protection in the EU, 2001, §§ 899 ff. L. Neville Brown/F. G. Jacobs, The Court of Justice of the European Communities, 1977, insb. S. 91 ff. GA Jacobs zu EuGH, Rs. C-50/00 P, Unión de Pequeños Agricultores/Rat, Slg. 2002, I-6677, Nr. 40 ff.; EuG, Rs. T-177/01, Jégo-Quéré/Kommission, Slg. 2002, II-2365, Rn. 50 f. Allein folgende dt. Diss. (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): N. Böcker, Wirksame Rechtsbehelfe zum Schutz der Grundrechte der EU, 2005; E. Schulte, Individualrechtsschutz gegen Normen im Gemeinschaftsrechts, 2005; H. Kirchhoff, Individualrechtsschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2005; A. Thiele, Individualrechtsschutz vor dem Europäischen Gerichtshof durch die Nichtigkeitsklage, 2006; C. Pilafas, Individualrechtsschutz durch Nichtigkeitsklage nach EG-Recht, 2006; D. Busse-Muskala, Normenkontrolle in der EU, 2007; C. Weber, Der europarechtliche Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes und das EG-Sekundärrecht, 2008.
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keinen Verzicht auf das Erfordernis der individuellen Betroffenheit; ein solcher Systemwechsel könnte nur durch eine Vertragsänderung legitimiert werden.174 Im Übrigen trifft jeden einzelnen Mitgliedstaat die Pflicht, eventuelle Schutzlücken zu schließen, indem er nationale Rechtsbehelfe vorsieht, an die sich ein Vorabentscheidungsverfahren anschließen kann.175 Die Meinungen zu Glaubwürdigkeit und Konsistenz dieser Position blieben geteilt. Immerhin besteht seit der UPA-Entscheidung Einigkeit über den Maßstab: die Garantie wirksamen Rechtsschutzes. Die Argumentation des EuGH beruht dezidiert nicht darauf, dass es für die Verwirklichung der Regelungsanliegen der Union vielleicht zweckmäßig wäre, wenn die Normativakte ihrer Organe – nach dem Vorbild des Gesetzes in manchen Rechtsordnungen – vor einer Infragestellung durch Klagen Privater abgeschirmt wären.176 Der eigentliche Kern des Streits besteht darin, ob wirksamer Rechtsschutz isoliert durch die EU-Gerichtsbarkeit sicherzustellen ist oder ob der Verbund von unionalen und nationalen Gerichten den Anforderungen genügen muss.177 Nur im letzteren Fall ist das Argument des EuGH plausibel, den einzelstaatlichen Prozessordnungen die Aufgabe zuzuweisen, etwaige Rechtsschutzdefizite gegenüber unionalen Hoheitsakten aufzufangen. Akzeptiert man diesen Ausgangspunkt, dann besteht nur punktuell Anlass zur Reform.178 Gewisse Probleme gibt es beim Rechtsschutz gegen unmittelbar anwendbare Rechtsakte mit allgemeiner Geltung (typischerweise in Form einer Verordnung), wenn diese Normen keiner nationalen Vollzugsakte mehr bedürfen – angesichts der Verbundstruktur der europäischen Verwaltung ein praktisch eher seltener Fall. Dass insoweit eine Modifikation des Art. 230 Abs. 4 EG zweckmäßig wäre, scheint mittlerweile konsentiert zu sein.179 Praktisch bedeutsamer dürften die Schwierigkeiten der Verantwortungszurechung und damit der Lokalisierung der zuständigen Rechtsschutzinstanz in komplexen, ebenenübergreifenden Verwaltungsverfahren sein.180 Es droht ein Leerlaufen der unionalen Rechtsschutzgarantie aufgrund wechselseitiger Verweisungen und Immunisierungen der beteiligten 174 175 176 177
178
179 180
EuGH, Rs. C-50/00 P (Fn. 172), Rn. 44 f. Ebd., Rn. 40 f. So aber z.B. noch Schwarze (Fn. 47), S. 932 f.; dagegen zu Recht J. D. Crooke, Conflict of Principle and Pragmatism, 1996, S. 34 f. C. Nowak, Das Verhältnis zwischen zentralem und dezentralem Individualrechtsschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR 2000, S. 724 (725 f.); M. Nettesheim, Effektive Rechtsschutzgewährleistung im arbeitsteiligen System europäischen Rechtsschutzes, JZ 2002, S. 928 (932); O. Dörr/C. Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006, Rn. 3. J. Gundel, Rechtsschutzlücken im Gemeinschaftsrecht?, VerwArch 92 (2001), S. 81; H. C. Röhl, Rechtsschutz gegen EG-Verordnungen, Jura 2003, S. 830 (835 ff.); C. D. Classen, Effektive und kohärente Justizgewährleistung im europäischen Rechtsschutzverbund, JZ 2006, S. 157 (168); Nowak (Fn. 105), Rn. 63. K. Lenaerts, The Rule of Law and the Coherence of the Judicial System of the EU, CMLRev. 44 (2007), S. 1625 (1627 ff.); zu Art. 263 Abs. 4 AEUV noch unten, V. 2. b). Schmidt-Aßmann (Fn. 4), § 5, Rn. 25 ff. und 80 ff.; J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung im Europäischen Verwaltungsverbund, 2004, S. 215 ff.; H. P. Nehl, Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, 2002, S. 413 ff.
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Hoheitsträger. Dem ist jedoch kaum mithilfe primärrechtlicher Regelungen zu begegnen, sondern nur durch die Entwicklung eines nachvollziehbaren Fallrechts. Im Übrigen spricht nach Ansicht des Verfassers Vieles für die Beibehaltung des gegenwärtigen Systems. Aus Sicht der potenziellen Individualkläger ist im Blick zu behalten, dass mit jeder Ausweitung ihrer direkten Anfechtungsrechte auch Anfechtungslasten einhergehen, die sie nach Ablauf der kurzen Frist des Art. 230 Abs. 5 EG dem „Risiko der Bestandskraft“ aussetzen.181 Demgegenüber ist die an keine Frist gebundene Gültigkeitskontrollvorlage, die in einer dem Kläger vertrauten Prozessordnung ihren Ausgang nimmt, letztlich die rechtsschutzfreundlichere Lösung. Um die Qualität der Rechtsprechung zu sichern, gewiss ihrerseits eine Forderung des Rechtsstaatsprinzips, dürfte schließlich die Zusammenarbeit des EuGH mit den nationalen Gerichten weiter unersetzbar sein, sowohl für die Vorklärung der streitigen Sachverhalte als auch zur Gewinnung eines „Stimmungsbilds“ über die Rezeption eines Gemeinschaftsrechtsakts in den nationalen Systemen.182
III. Dogmatische Analyse I: Der Weg zur Formenneutralität des Rechtsschutzsystems Im vorangegangenen Teil traten vielfache Verschränkungen und Parallelitäten von Handlungsformen- und Rechtsschutz-Diskursen zutage. Wie aber ist das systematische Verhältnis dieser beiden Kategorien des Europäischen Verfassungsrechts? Im Folgenden soll der hierfür zentralen dogmatischen Frage nachgegangen werden, ob und in welcher Weise die Handlungsform eines Rechtsakts für die gerichtliche Kontrolle seiner Rechtmäßigkeit von Belang ist. Die Formenbezogenheit des unionalen Rechtsschutzsystems scheint unbestreitbar, bedienen sich doch die einschlägigen Vertragsbestimmungen der Terminologie des Art. 249 EG. Auch die Rechtsprechung hat die Verklammerung von Art. 230 und 249 EG noch in jüngerer Zeit betont183 – und ist doch seit Beginn der 1970er Jahre einen anderen Weg gegangen. Dieser Prozess einer schrittweisen Entkopplung des Kontrollregimes der Rechtsakte von der Systematik der Handlungsformen gilt es nunmehr zu rekonstruieren. Es wird eine Konzeption der Rechtsprechung sichtbar werden, die von der programmatischen Idee der Formenneutralität des Rechtsschutzes geleitet ist. Dies wird an zwei Konzepten demonstriert, die für die Dogmatik des Art. 230 EG zentral sind: den „Handlungen“ nach Abs. 1 und den „Entscheidungen“ nach Abs. 4.184 181 182
183 184
H.-G. Kamann/M. Selmayr, Das Risiko der Bestandskraft, NVwZ 1999, S. 1041, unter Bezugnahme auf die TWD-Rechtsprechung (Fn. 62). Zur teilweisen Ungültigkeitserklärung der Richtline 2002/2/EG auf Vorlage zahlreicher Gerichte durch EuGH, verb. Rs. C-453/03 u.a., ABNA, Slg. 2005, I-10423, siehe J. Gundel, Der EuGH zwischen effektivem Grundrechtsschutz und gesundheitspolitischem Spielraum des Gemeinschaftsgesetzgebers, EWS 2006, S. 65. Etwa EuGH, Rs. C-298/89, Gibraltar/Rat, Slg. 1993, I-3605, Rn. 15. Für die übrigen formenbezogenen Rechtsschutzvorschriften siehe Bast (Fn. 6), insb. S. 406 ff.; zur Neutralisierung der nach Art. 35 EU vorlagefähigen Akte bereits oben, II. 4. a).
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1. Anfechtbare Handlungen nach Art. 230 Abs. 1 EG: die Generalklausel judikativer Kontrolle Der Begriff „Handlungen“ (franz. actes, engl. acts) wird sowohl in Art. 230 EG als auch in Art. 234 EG verwendet, um den Kreis der Maßnahmen zu definieren, die der gerichtlichen Legalitätskontrolle unterliegen. Bei seiner Auslegung sah sich der Gerichtshof mit einem Zielkonflikt konfrontiert. Auf der einen Seite galt es, einer Aufweichung der Gemeinschaftsrechtsordnung durch die Informalität völkerrechtlicher Praxis entgegenzutreten. Aus dieser Motivlage erklären sich Urteile, die Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten, die außerhalb der Verfahren der Gründungsverträge geschlossenen wurden, die Qualität einer Handlung im Sinne der Art. 230 bzw. 234 EG absprechen.185 Auf der anderen Seite würde ein an strengen Förmlichkeiten oder gar am Formenkatalog der Verträge orientierter HandlungsBegriff mit dem umfassenden Rechtswahrungsauftrag in Art. 220 EG kollidieren. Die zweite Sichtweise gewann tendenziell die Oberhand: Jegliche rechtserhebliche Aktivität der politischen Organe sollte der Jurisdiktion des Gerichtshofs unterstehen.186 Hierzu baute er den Wortlaut des Art. 230 Abs. 1 EG konsequent zu einer Generalklausel aus, nach der „alle Handlungen der Organe, die dazu bestimmt sind, Rechtswirkungen zu erzeugen, ohne Unterschied ihrer Rechtsnatur oder Form“, mit der Nichtigkeitsklage angefochten werden können (sog. AETR-Formel).187 Der Prüfungspunkt „Handlung eines Organs“ dient in erster Linie der Abgrenzung zu Handlungen der Mitgliedstaaten; diese sind einer Nichtigerklärung durch den EuGH entzogen.188 Der angesprochene Zielkonflikt bleibt virulent, wenn informelle Absprachen in Rede stehen, die im institutionellen Kontext des Rates getroffen werden. Einerseits sollen den inter-se-Abkommen der Mitgliedstaaten nicht die Weihen des Gemeinschaftsrechts verliehen werden, andererseits darf es auch nicht im Belieben des Rates stehen, sich der Rechtskontrolle des Gerichtshofs dadurch zu entziehen, dass sich seine Mitglieder ad hoc als Regierungskonferenz konstituieren. Eine Teillösung für dieses Problem fand der EuGH in der Dogmatik der Verbandskompetenzen. Definitiv liegt eine Handlung des Rates vor, wenn eine im Ratszusammenhang getroffene Absprache in eine ausschließliche Gemeinschaftskompetenz fällt.189 Wenn der betreffende Akt im Bereich nicht-ausschließlicher 185 186 187
188
189
Insb. EuGH, Rs. 44/84, Hurd, Slg. 1986, 29, Rn. 20. Siehe etwa EuGH, Rs. C-106/96, Großbritannien/Kommission, Slg. 1998, I-2729, Rn. 41 (Pressemitteilung der Kommission). Erstmals in EuGH, Rs. 22/70, Kommission/Rat (AETR), Slg. 1971, 263, Rn. 38/42; zur Erstreckung auf Einrichtungen, die nicht zu den in Art. 7 EG genannten Organen gehören, EuG, Rs. T-411/06, Sogelma/Europäische Agentur für den Wiederaufbau, Slg. 2008, II-0000, Rn. 37. EuGH, verb. Rs. 31/86 und 35/86, LAISA u.a./Rat, Slg. 1988, 2285, Rn. 17 f.; problematisch ist vor allem, ob bei gestuften Verwaltungsverfahren eine inzidente Rechtmäßigkeitskontrolle mitgliedstaatlicher Handlungsbeiträge erfolgen kann, dazu einerseits Rs. C-97/91, Oleificio Borelli/Kommission, Slg. 1992, I-6313, Rn. 9 ff., andererseits Rs. C-64/05 P, Schweden/Kommission u.a., Slg. 2007, I-11389, Rn. 91 ff. EuGH, Rs. 22/70 (Fn. 187), Rn. 3/4.
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Kompetenzen ergeht, ist eine Prüfung anhand der Umstände des Einzelfalls erforderlich, wobei das Fehlen einer Autoqualifikation als Organakt ein nur schwer widerlegbares Indiz gegen das Vorliegen einer anfechtbaren Handlung stiftet.190 Die Weite des Handlungs-Begriffs bedurfte eines Korrektivs, das der EuGH in der Kategorie der „Rechtswirkungen“ (franz. effects de droit, engl. legal effects) fand.191 In der Terminologie des Art. 249 EG kann dies mit „verbindlich sein“ übersetzt werden.192 Die methodischen Probleme, wie Verbindlichkeit unter Ausblendung formeller Kriterien ermittelt werden kann, übergeht der EuGH: Der an sich gebotene Schluss von der Handlungsform auf die rechtlichen Wirkungen hätte die Intentionen des Gerichtshofs konterkariert. Immerhin begründet eine Unverbindlichkeit anzeigende Bezeichnung eine Vermutung für das Fehlen von Rechtswirkungen.193 Auch hier spielt die Kompetenzdogmatik eine Rolle, indem der EuGH den Organen rechtmäßiges Handeln unterstellt: fehlende Befugnis eines Organs, einen verbindlichen Rechtsakt zu erlassen, streitet gegen das Vorliegen einer anfechtbaren Handlung,194 das Bestehen einer solchen Befugnis streitet dafür.195 Zuweilen lässt sich der EuGH jedoch von anderen Gesichtspunkten leiten, indem er anstelle einer Rechtmäßigkeits- eine Verbindlichkeitsunterstellung an den zu qualifizierenden Rechtsakt anlegt. Im juristischen Präsens formulierte Bestimmungen werden in diesem Fall „wörtlich“ genommen, mit der Folge, dass der Rechtsakt verbindliche Wirkungen – gegebenenfalls rechtswidrigerweise – entfaltet, auch wenn äußere Merkmale und Kompetenzlage auf das Gegenteil hindeuten. So hat der EuGH in Reaktion auf den ausufernden Einsatz von Auslegungs-Mitteilungen durch die Kommission argumentiert, die Verbindlichkeit erheischenden Formulierungen solcher Verlautbarungen über angebliche, tatsächlich aber nicht bestehende Rechtspflichten könnten Rechtswirkungen erzeugen, was gerade in Ermangelung einer Kompetenz Zulässigkeit und zugleich Begründetheit einer Anfechtung nach sich zieht.196 In kritischen Fällen lässt sich der Gerichtshof bei der Ermittlung der rechtlichen Wirkungen einer Handlung offenbar von der Frage leiten, ob die Eröffnung gerichtlicher Legalitätskontrolle als angemessene Rechtsfolge erscheint. Die AETR-For190 191
192 193 194 195 196
EuGH, verb. Rs. C-181/91 und C-248/91, Parlament/Rat und Kommission, Slg. 1993, I-3685, Rn. 17 ff. Diese Funktion erfüllt unter Art. 234 EG die Entscheidungserheblichkeit, die vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist; auch unverbindliche Handlungen können somit Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens sein: EuGH, Rs. 113/75, Frescassetti, Slg. 1976, 983, Rn. 8/9; Rs. C-188/91, Deutsche Shell, Slg. 1993, I-363, Rn. 18. K. Lenaerts/D. Arts/I. Maselis, Procedural Law of the EU, 2006, Rn. 7-007. EuGH, verb. Rs. 90/63 und 91/63, Kommission/Luxemburg und Belgien, Slg. 1964, 1331 (1344). EuGH, Rs. 182/80, Gauff/Kommission, Slg. 1982, 799, Rn. 18; Rs. 322/88 (Fn. 84), Rn. 15. EuGH, verb. Rs. 8/66 bis 11/66, Cimenteries C.B.R. Cementbedrijven u.a./Kommission, Slg. 1967, 100 (122); Rs. 175/84, Krohn/Kommission, Slg. 1986, 753, Rn. 21. EuGH, Rs. 366/88, Frankreich/Kommission, Slg. 1990, I-3571, Rn. 11–12, 23–25; näher J. Gundel, Rechtsschutz gegen Kommissions-Mitteilungen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 90 (97).
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mel bietet hierzu ein flexibles Instrumentarium.197 Der Preis ist die praktisch vollständige Abkopplung der Kriterien, wann eine anfechtbare Handlung vorliegt, von der Dogmatik der Handlungsformen. Eine Verbindungslinie besteht nur noch insofern, als Organe mit der Wahl einer der verbindlichen Formen des Art. 249 EG sicher der Legalitätskontrolle des EuGH unterstehen. 2. Anfechtbare Entscheidungen nach Art. 230 Abs. 4 EG: die Generalklausel direkten Individualrechtsschutzes Die „Entscheidung“ im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG erweist sich bei näherer Analyse ebenso als ein prozessualer Zweckbegriff wie die „Handlung“ nach Art. 230 Abs. 1 EG.198 Dies soll im Folgenden anhand der ersten beiden Alternativen des Abs. 4, der an den Kläger gerichteten Entscheidung (a) und der „als Verordnung“ ergangenen Entscheidung (b), gezeigt werden. a) Die an den Kläger gerichtete Entscheidung Blickt man allein auf die Charakterisierung der Entscheidung in den Art. 249 ff. EG, gewinnt man das Bild einer Handlungsform, für die Förmlichkeiten eine große Rolle spielen: Entscheidungen müssen ihren Adressaten bezeichnen, sind ihm individuell bekannt zu geben und mit einer qualifizierten Begründung zu versehen. Der Aspekt der Förmlichkeit ist besonders ausgeprägt in Art. 256 EG, wonach vor der Vollstreckung einer durch Entscheidung auferlegten Zahlungspflicht allein die Echtheit des Titels zu prüfen ist. Dass der Wortlaut des Vertrags in Art. 230 Abs. 4 EG den direkten Individualrechtsschutz so exklusiv an diese Handlungsform bindet, führt unvermeidlich zu Spannungen: Je strenger man die formellen Voraussetzungen formuliert, unter denen ein Akt einer Person verbindliche Anweisungen erteilen kann, die gegebenenfalls vollstreckt werden können, desto schmaler wird gleichzeitig der Korridor individuell anfechtbarer Handlungen. Optiert man hingegen rechtsschutzfreundlich für einen weiten Entscheidungsbegriff, drohen die formellen Garantien Schaden zu nehmen, die dem Empfänger eines Schriftstücks die gesicherte Feststellung ermöglichen, dass ein Rechtsakt mit den einschneidenden Wirkungen einer Entscheidung an ihn gerichtet wurde. Hier zeichnet sich ein Zielkonflikt ab ähnlich dem, mit dem sich der Gerichtshof beim Begriff der Handlung konfrontiert sah. Er optierte auch in diesem Fall für eine weite Auslegung, die den Begriff der Entscheidung primär von seiner Rechtsschutzfunktion her versteht. Angesichts der Vielzahl von mehr oder weniger informellen Handlungen, die nach Eröffnung von Individualrechtsschutz riefen, mussten die Förmlichkeitspostulate der Art. 249 ff. EG zurücktreten. Anderenfalls würde es den rechtsetzenden Organen allzu leicht fallen, die Rechtsfolge der Anfechtbarkeit zu umgehen. Alternative judikative Strategien waren zwar denkbar, aber wohl nicht 197 198
Vgl. EuG, Rs. T-212/02, Gemeinde Champagne u.a./Rat und Kommission, Slg. 2007, II-2017, Rn. 86 ff., zur internationalen Zuständigkeit des Unionsrichters. Grundlegend H. C. Röhl, Die anfechtbare Entscheidung nach Art. 230 Abs. 4 EGV, ZaöRV 60 (2000), S. 331.
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praktikabel: Weder ließen sich sämtliche unförmlichen Entscheidungen mit einer rigiden Rechtswidrigkeitssanktion belegen noch pauschal in unverbindliche Handlungen umdeuten, ohne die Handlungsfähigkeit der Organe über Gebühr einzuschränken. Wohl deshalb legte sich der Gerichtshof schon früh auf eine Linie fest, nach der das Fehlen einer formalen Qualifizierung als Entscheidung aus judikativer Perspektive irrelevant ist.199 Im Urteil IBM/Kommission aus dem Jahr 1981 findet der Prüfungsmaßstab für das Vorliegen einer an den Kläger gerichteten Entscheidung seine bis heute gültige Formulierung, wonach die Anfechtungsklage gegeben ist gegen „alle Maßnahmen, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen, welche die Interessen des Klägers durch einen Eingriff in seine Rechtsstellung beeinträchtigen“200. Der Entscheidungs-Begriff wird hier ganz von seiner prozessrechtlichen Funktion her definiert: „Die Form, in der diese Handlungen oder Entscheidungen ergehen, ist ohne Einfluss auf ihre Anfechtbarkeit.“201 Dieses Programm des Gerichtshofs steht in bemerkenswertem Kontrast zu dem des Vertragswortlauts, wonach die Handlungsform der Akte maßgeblich über ihre Anfechtbarkeit entscheiden sollte. Eine an den Kläger gerichtete förmliche Entscheidung nach Art. 249 EG wird zum bloßen Unterfall der anfechtbaren Entscheidung,202 für die als solche nur ein Minimum an Förmlichkeit gefordert ist.203 Die Wahl der Form einer privatgerichteten Entscheidung eröffnet für den bezeichneten Adressaten den sicheren Bereich offenkundiger Anfechtbarkeit gemäß Art. 230 Abs. 4 1. Alt. EG. Im Gegenzug muss der Entscheidungsadressat damit rechnen, dass ihm nach Ablauf der Frist des Art. 230 Abs. 5 EG die Bestandskraft des Akts entgegengehalten wird. Im Übrigen aber ist das handelnde Organ davon entlastet, mit seiner Formenwahl zugleich über den Rechtsschutz, den Art. 230 Abs. 4 EG für die Einzelnen vorsieht, zu disponieren. b) Die „als Verordnung“ ergangene Entscheidung Geht man vom Gleichlauf der Entscheidungsbegriffe in Art. 230 und 249 EG aus, benennt der zweite Fall des Art. 230 Abs. 4 EG eine schizophrene Situation: eine Entscheidung, die eine Verordnung ist. Seit der Leitentscheidung Confédération nationale204 war die Bestimmung so zu verstehen, dass es dieser anfechtbaren Entscheidung am Verordnungsmerkmal der „allgemeinen Geltung“ fehlt.205 Als maßgebliches Kriterium für dessen Fehlen definierte der EuGH die Geschlossenheit des Adressatenkreises zum Erlasszeitpunkt; auf die Zahl oder die Bestimmbarkeit der
199 200 201 202
203 204 205
Vgl. EuGH, verb. Rs. 8/66 bis 11/66 (Fn. 195), Ls. 1. EuGH, Rs. 60/81, IBM/Kommission, Slg. 1981, 2639, Rn. 9. Ebd. M. Burgi, in: H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, 2003, § 7, Rn. 37; a.A. M. Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, 2007, Rn. 368. Vgl. EuGH, Rs. C-521/06 P, Athinaïki Techniki, Slg. 2008, I-0000, Rn. 42 ff. EuGH, verb. Rs. 16/62 und 17/62 (Fn. 42). Hierzu schon oben, II. 2. b).
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Betroffenen soll es nicht ankommen.206 Stand dagegen die allgemeine Geltung eines Akts fest, war er der Individualanfechtung definitiv entzogen.207 Rekapituliert man die Methodik des Gerichtshofs, werden bereits bekannte Motive sichtbar. Die selektive Ausgestaltung des Individualrechtsschutzes im EWGVertrag legitimiert, ja verlangt aus Sicht des EuGH, die rechtliche Qualifizierung einer Maßnahme nicht allein von deren amtlicher Bezeichnung abhängig zu machen: „[D]ie Wahl der Form [kann] die Rechtsnatur einer Handlung nicht ändern“208, lautet auch hier das Credo. Eine „als Verordnung“ ergangene Entscheidung ist damit ein Rechtsakt, der seiner „Rechtsnatur“ nach einen Einzelnen individuell und unmittelbar betrifft und deshalb von ihm angefochten werden kann.209 Im Übrigen aber wendet der Gerichtshof die für Verordnungen einschlägigen Regeln an.210 Dies zeigt etwa der Fall einer verfahrensfehlerhaft erlassenen Verordnung, die erga omnes für nichtig erklärt wurde, also auch mit Wirkung für die weiteren Betroffenen, die keine Klage erhoben hatten.211 Mit der Qualifizierung als Entscheidung im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EG unterstellt der EuGH einen „als Verordnung“ ergangenen Akt einem bestimmten Rechtsschutzregime, verzichtet jedoch auf weiterreichende Umdeutungen.212 Die Privilegierung der „Rechtsnatur“ gegenüber der „Wahl der Form“ erfolgt aufgrund der Gefahr einer willkürlichen Rechtsschutzverschließung, aber auch nur soweit es zur Abwehr dieser Gefahr erforderlich ist. An der Rigidität des Schlusses von der Allgemeingültigkeit auf die Unanfechtbarkeit setzen die Modifikationen an, die sich in den 1980er Jahren abzeichneten. Die Perspektive verschiebt sich hin zu einer Analyse des Verhältnisses von Kläger und angegriffener Bestimmung – vom Streitgegenstand zur Klagebefugnis.213 Ein Paradigmenwechsel kündigte sich an, als der Gerichtshof erstmals anerkannte, dass eine Maßnahme „aufgrund ihrer Rechtsnatur und ihrer Tragweite normativen Charakter“ haben kann, und ihre Bestimmungen gleichwohl bestimmte Wirtschaftsteilnehmer individuell betreffen können.214 Dieser Dammbruch fand im Antidum206
207 208 209 210 211
212 213 214
EuGH, verb. Rs. 41/70 bis 44/70, International Fruit Company u.a./Kommission, Slg. 1971, 411, Rn. 16/22; verb. Rs. 87/77 u.a., Salerno u.a./Kommission und Rat, Slg. 1985, 2523, Rn. 30. EuGH, Rs. 6/68, Watenstedt/Rat, Slg. 1968, 612 (621); Rs. 45/81, Moksel/Kommission, Slg. 1982, 1129, Rn. 17. EuGH, Rs. 101/76, Scholten Honig/Rat, Slg. 1977, 797, Rn. 5/7; verb. Rs. 789/79 und 790/ 79, Calpak u.a./Kommission, Slg. 1980, 1949, Rn. 7. Etwa in EuGH, Rs. 100/74, CAM/Kommission, Slg. 1975, 1393, Rn. 21 ff. T. C. Hartley, The Foundations of European Community Law, 2007, S. 103. EuGH, Rs. 138/79, Roquette Frères/Rat, Slg. 1980, 3333, Rn. 37; anders bei einer SammelEntscheidung i.S.d. Art. 249 Abs. 4 EG, die für alle Adressaten, die keine Nichtigkeitsklage erhoben haben, bestandskräftig wird: Rs. C-310/97 P, Kommission/AssiDomaen Kraft Products u.a., Slg. 1999, I-5363, Rn. 52 ff. Wie hier W. Schroeder, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 249 EG, Rn. 8; für die Gegenansicht A. Lengauer, Nichtigkeitsklage vor dem EuGH, 1998, S. 72 ff. W. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 230 EG, Rn. 35. EuGH, verb. Rs. 239/82 und 275/82, Allied u.a./Kommission, Slg. 1984, 1005, Rn. 11; anders noch Rs. 307/81, Alusuisse Italia/Kommission und Rat, Slg. 1982, 3463, Rn. 13.
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pingsektor statt. Antidumpingzölle werden stets, wie in der einschlägigen Grundverordnung vorgeschrieben, durch Verordnungen festgesetzt, deren allgemeine Geltung nach den vom Gerichtshof entwickelten Maßstab schwerlich zu leugnen ist. Ein Festhalten an der etablierten Dogmatik hätte bedeutet, diesen Bereich der EUEigenverwaltung einer effektiven Rechtmäßigkeitskontrolle zu entziehen und die in der Grundverordnung eingeräumten Verfahrensrechte der betroffenen Unternehmen schutzlos zu stellen.215 Den endgültigen Übergang in die neue Ära vollzog der Gerichtshof mit der Rechtssache Codorniu im Jahr 1994.216 Die Feststellung, dass die angegriffene Verordnung allgemeine Geltung besitzt, führt nunmehr auch außerhalb des Antidumpingsektors nicht mehr automatisch zur Unzulässigkeit der Klage. Die PlaumannFormel dient nicht mehr dazu, den „normativen Charakter“ der angegriffenen Handlung zu widerlegen, sondern beschreibt die Voraussetzungen, unter denen eine Person ungeachtet der „Rechtsnatur“ der Maßnahme hinreichend individualisiert ist, um als Kläger auftreten zu dürfen.217 Die Zulässigkeitsprüfung unter Art. 230 Abs. 4 EG erfolgt jetzt in zwei Schritten. Zuerst wird (wie bisher) ermittelt, ob die Klage bereits deshalb zulässig ist, weil es sich um eine Verordnung mit geschlossenem Adressatenkreis handelt. Ist dies nicht der Fall, ist im zweiten Schritt zu prüfen, ob persönliche Eigenschaften oder besondere Umstände den Kläger aus dem Kreis der Betroffenen so herausheben, dass der Rechtsakt für ihn Entscheidungscharakter hat.218 Es blieb schließlich dem EuG überlassen, die Konsequenzen aus Codorniu zu ziehen und erstmals die Klage einer privaten Person gegen eine „echte“ Richtlinie grundsätzlich für zulässig zu erklären.219 Hier wird ein grundlegender Konsens der beiden Gerichte sichtbar, der vom Schlachtengetöse des Jahres 2002 über JégoQuéré und UPA nur zeitweilig überdeckt wurde. Codorniu sollte keinen Systemwechsel zugunsten eines zentraleren Rechtschutzsystems einleiten.220 Die fundamentale Bedeutung dieses Urteils liegt darin, der Formenneutralität des Rechtsschutzes an einer Schlüsselstelle des Systems zum Durchbruch verholfen zu haben. Mit einer gewissen Verzögerung zeigt sich an der anfechtbaren Entscheidung eine Parallelentwicklung zum Handlungs-Begriff des Art. 230 Abs. 1 EG: „Entscheidungen“ im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EG sind, unabhängig von Handlungsform und Rechtsnatur, alle Handlungen, die den Kläger „unmittelbar und individuell betreffen“. Diese Definition deckt sich ersichtlich nicht mit der in Art. 249 Abs. 4 EG. Mit Röhl ist davon auszugehen, dass die Qualifizierung eines Rechtsakts als anfechtbare Entscheidung im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EG ausschließlich 215 216 217 218 219 220
EuGH, Rs. 264/82, Timex/Rat, Slg. 1985, 849, Rn. 16, vorbereitet in Rs. 191/82, Fediol/ Kommission, Slg. 1983, 2913, Rn. 30. EuGH, Rs. C-309/89, Codorniu/Rat, Slg. 1994, I-1853. Ebd., Rn. 19 f. Für einen Atavismus hält D. Booß, in: Grabitz/Hilf (Fn. 5), Art. 230 EG, Rn. 56, den ersten Prüfungsschritt. EuG, Rs. T-135/96, UEAPME/Rat, Slg. 1998, II-2335, Rn. 63. So die Hoffnung mancher Kommentatoren, vgl. A. Arnull, Private Applicants and the Action for Annulment Since Codorniu, CMLRev. 38 (2001), S. 7.
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prozessrechtliche Bedeutung hat.221 Damit hat sich die Suche der Rechtsprechung nach einer rechtsschutzbezogenen Generalklausel gegen die ursprüngliche Konzeption der Vertragsautoren eines handlungsformenbezogenen Enumerationsprinzips durchgesetzt. Zu den Grunddaten des Europäischen Verfassungsrechts gehört heute die Formenneutralität des Rechtsschutzsystems.
IV. Dogmatische Analyse II: Strukturentscheidungen zur Ordnung der Handlungsformen Die dogmatische Entkopplung von Handlungsformen und Rechtsschutz wirft die Frage nach alternativen Funktionen auf, die die Handlungsformen im Unionsrecht erfüllen können, oder aus der Perspektive der Disziplin formuliert: Wenn sich die Handlungsformenlehre von ihrer Bindung an das traditionell dominante Rechtsschutzparadigma lösen muss, was kann an dessen Stelle treten? Den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Beantwortung dieser Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Zunächst wird die Strukturentscheidung des Vertragsgebers für ein offenes Formensystem rekonstruiert, die im nicht-abschließenden Charakter des Art. 249 EG zum Ausdruck kommt (1.). Der darauf folgende Abschnitt geht der Entscheidung zugunsten einer nicht-hierarchischen Struktur des abgeleiteten Rechts nach, die mit der Errichtung eines Handlungsformensystems ohne Gewaltenteilungsfunktion verbunden ist (2.). Der letzte Abschnitt ist der Strukturentscheidung für eine Differenzierung des Handlungsformensystem nach rechtlichen Wirkungen gewidmet. Er schließt mit der These, dass der Wirkungsmodus die zentrale Kategorie der unionalen Handlungsformen ist, nach deren nur scheinbar paradoxen Systemlogik die funktionale Stärke einer Handlungsform in ihrer rechtlichen Schwäche besteht (3.). 1. Strukturentscheidung für ein offenes Handlungsformensystem Das Arsenal der kodifizierten Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts zeichnet sich durch bemerkenswerte Stabilität aus. Nur einmal ist Art. 189 EWG-Vertrag geändert worden, als der Maastricht-Vertrag das Parlament in die Liste der Rechtsetzungsorgane des Abs. 1 einfügte. Für die durch eigene Beschlussorgane handelnde EZB wurde mit Art. 110 EG eine andere Regelungstechnik gewählt. Die dort beschriebenen Wirkungen der EZB-Handlungen sind (mit Ausnahme der Richtlinie) gleichwohl diejenigen des Art. 249 EG, es handelt sich um identische Handlungsformen.222 Um aber ermessen zu können, welche Implikationen diese verfassungs221
222
Röhl (Fn. 198), S. 333 f.; ebenso Schroeder (Fn. 212), Art. 249 EG, Rn. 8; Bumke (Fn. 149), S. 663; Vogt (Fn. 157), S. 28 ff. m.w.N.; anders zuletzt M. Borowski, Die Nichtigkeitsklage gem. Art. 230 Abs. 4 EGV, EuR 2004, S. 879 (882). C. Zilioli/C Kroppenstedt, in: Groeben/Schwarze (Fn. 91), Art. 110 EG, Rn. 2; die ESZBSatzung führt darüber hinaus die Leitlinie und die Weisung als Sonder-Handlungsformen der EZB ein. Sie können als eine unmittelbar an nationale Zentralbanken der Eurozone gerichtete Anordnungen beschrieben werden.
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rechtliche Normierung eines Formen-Inventars besitzt, sind die normativen Gehalte des Art. 249 EG näher zu beleuchten. Welche Voraussetzungen werden hier mit welchen Rechtsfolgen verknüpft?223 a) Die Normstruktur des Art. 249 EG Nach gängigen Formulierungen bezeichnet Art. 249 EG die „wesentlichen Merkmale“224 bzw. „Struktur und Wirkungen“225 seiner Formen. Art. 249 EG ordnet mithin einem Rechtsakt in der Form X die im einschlägigen Absatz bezeichneten Wirkungen A und B als Rechtsfolgen seiner formalen Identität zu. Allerdings stellt sich dann die Frage, an welchen Merkmalen die Handlungsform, der ein Rechtsakt angehört, erkennbar ist. Das übliche Verständnis kehrt, mit dieser Fragestellung konfrontiert, die Schlusslogik um und will aus dem Vorliegen formentypischer materieller Gehalte, die ebenfalls Art. 249 EG entnommen werden, die Handlungsform des untersuchten Akts folgern.226 Nach der ersten Lesart ist ein Rechtsakt für einen Einzelnen dann verbindlich, wenn es sich um eine Entscheidung handelt, nach der zweiten Lesart wäre es genau umgekehrt. Die Praxis der Rechtsetzungsorgane hat dieses Problem von Beginn an dadurch abgemildert, dass sie die formale Identität über die Bezeichnung des betreffenden Akts herstellt, ergänzt um charakteristische Anlautungs- und Abschlussformeln.227 Bezeichnenderweise besteht in praktisch allen Fällen, in denen vor Gericht über den Inhalt eines Akts gestritten wurde, ein Konsens über seine Handlungsform: sie steht ihm in aller Regel auf der Stirn geschrieben.228 Wenn ausnahmsweise die Handlungsform des Akts selbst im Streit steht, argumentiert der EuGH, den drohenden Zirkelschluss vor Augen, regelmäßig mit einem tertium, insbesondere mit einem Rekurs auf die Kompetenzlage.229 Aus dem puren „Inhalt“ einer Norm kann auch der EuGH deren formale Qualität nicht gewinnen. b) Kein Numerus clausus der Handlungsformen Die wechselseitige Zuordnung von Handlungsform und rechtlichen Wirkungen war nie so eng, dass die in Art. 249 Abs. 2 bis 5 EG beschriebenen Rechtswirkungen ausschließlich in den Katalog-Formen erzielt werden könnten. In Praxis und Wissenschaft herrscht große Übereinstimmung, dass ein derartiger Numerus clausus nie 223 224 225 226 227
228 229
Hierzu die auch für das Unionsrecht relevanten Überlegungen von P. Reimer, Zur Theorie der Handlungsformen des Staates, 2008. G. Schmidt, in: Groeben/Schwarze (Fn. 91), vor Art. 249–256 EG, Rn. 5. B. Biervert, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 249 EG, Rn. 1. Prononciert A. Scherzberg, Mittelbare Rechtssetzung durch Gemeinschaftsrecht, Jura 1992, S. 572 (573). Zur organübergreifenden Sicherung der Rechtsförmlichkeit siehe: Gemeinsamer Leitfaden des Parlaments, des Rates und der Kommission für Personen, die in den Gemeinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten mitwirken, unter http://europa.eu/eur-lex/de/ about/techleg/guide/index_de.htm (1.09.2008). Zur normativen Relevanz der Überschrift EuGH, Rs. C-255/99, Humer, Slg. 2002, I-1205, Rn. 48. Dazu schon oben, III. 1.
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intendiert gewesen ist.230 Art. 249 EG ist auch nicht in dem Sinne abschließend, dass eine atypische Formengestaltung ausgeschlossen ist, wenn verbindliche Rechtswirkungen gegenüber Mitgliedstaaten oder Bürgern erzielt werden sollen.231 Zwar lassen Wortlaut und Systematik der Verträge die Frage nach der Offenheit des Formenkanons unbeantwortet, jedoch sprechen sowohl historisch-genetische als auch teleologische Gesichtspunkte dafür, dass die Römischen Verträge den Organen einen Kernbestand an Handlungsformen zur Verfügung stellen wollten, dessen praktische Erprobung, Ausgestaltung und Ergänzung von vorne herein beabsichtigt war.232 Die gegenteilige Lesart verweigerte dem noch jungen Gemeinschaftssystem jene Flexibilität und Lernfähigkeit, die es um der Erfüllung der ihm zugedachten Aufgaben willen benötigte. Das gilt im Grundsatz für die heutige Union in gleicher Weise.233 Nur ein offenes Formensystem erlaubt es ihr, punktuell Handlungstypen aus den nationalen Rechtsordnungen zu rezipieren, wenn dies einem funktionalen Bedürfnis entspricht.234 Wo dagegen den Mitgliedstaaten vergleichbare Problemlagen unbekannt sind, kann die institutionelle Praxis eigene Wege gehen und Handlungsformen entwickeln, die spezifisch auf das verfassungsrechtliche Umfeld der Union zugeschnitten sind.235 Die Prägung neuer Handlungsformen ist damit als eine Befugnis der Rechtsetzungsorgane anzuerkennen, die stillschweigend mit der Zuweisung von Sachregelungsbefugnissen erteilt wurde. Aufruhend auf der relativen Stabilität der Kompetenzordnung können die Handlungsformen ein dynamisches Element des unionalen Verfassungsrechts bilden. Die Bereitschaft der Wissenschaft, den Dynamismus der Organe bei der Kreation neuer Formen hinzunehmen, steht in einem auffälligen Spannungsverhältnis zum traditionellen Selbstverständnis der gemeinschaftsrechtlichen Formenlehre, dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung zuzuarbeiten.236 Man interpretierte es lange als den Regelfall, dass die Verträge, wenn sie einem Organ eine Rechtsetzungsbefugnis zuweisen, zugleich die Handlungsform(en) festlegen, in denen diese 230
231
232
233 234 235 236
M. Kaltenborn, Gibt es einen numerus clausus der Rechtsquellen?, Rechtstheorie 2003, S. 459 (473 f.); K. Lenaerts/P. Van Nuffel, Constitutional Law of the EU, 2005, Rn. 17-140; J.-P. Jacqué, Droit institutionnel de l’UE, 2003, Rn. 881; Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Fn. 213), Art. 249 EG, Rn. 129; unklar T. Oppermann, Europarecht, 2005, § 6 Rn. 73, im Widerspruch zu ebd., § 6 Rn. 105. So aber D. Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, 1996, S. 74; Schroeder (Fn. 212), Art. 249 EG, Rn. 10; Nettesheim (Fn. 91), Art. 249 EG, Rn. 104 (vgl. aber ebd., Rn. 77); wie hier H. Hetmeier, in: C. O. Lenz/K.-D. Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, 2006, Art. 249 EG, Rn. 3. Aus zeitgenössischer Perspektive H. v. Meibom, Die Rechtsetzung durch die Organe der Europäischen Gemeinschaften, BB 1959, S. 127; zur entsprechenden Problematik im staatlichen Verfassungsrecht v. Bogdandy (Fn. 148), S. 217 ff. G. della Cananea, Procedures in the New (Draft) Constitution of the EU, European Review of Public Law 16 (2004), S. 221 (233). Etwa bei den Verwaltungsvorschriften der Kommission, siehe oben in Fn. 164. Vgl. nur v. Alemann (Fn. 152). Ipsen (Fn. 29), Kap. 20, Rn. 23 ff.; H.-P. Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrags, 1991, S. 26.
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ausgeübt werden soll.237 Rechtsgrundlagen ohne Formenwahlgebot seien Ausnahmen, bei denen im Einzelfall ermittelt werden müsse, ob sie den Einsatz der typisierten Formen zulassen oder nur sog. ungekennzeichnete Rechtshandlungen, wie die in diesem Kontext geprägte Bezeichnung für alle Rechtsakte jenseits der Formenkataloge lautete. Diese Interpretation war schon immer nur schwer mit dem positiven Recht in Einklang zu bringen, denn bereits in der Römischen Fassung der Verträge waren „formal gekennzeichnete“ Rechtsgrundlagen numerisch in der Minderzahl.238 Formenwahlgebote im Primärrecht sind heute singuläre und überwiegend anachronistische Phänomene, die sich als systematischer Anknüpfungspunkt für die Formenlehre nicht eignen. Verantwortlich für diese Entkopplung von Handlungsform und Kompetenz zeichnet der Vertragsgeber, der seit der Einheitlichen Europäischen Akte praktisch nur noch formneutrale Rechtsgrundlagen in die Verträge eingefügt hat.239 Paradigmatisch für die Strukturentscheidung zugunsten des Formenwahlermessens der Organe steht Art. 100a EWG-Vertrag, der bewusst auf das Richtliniengebot des Art. 100 EWG-Vertrag verzichtete (jetzt Art. 94, 95 EG).240 c) Grenzen der Entwicklungsoffenheit Selbstredend ist die Entwicklungsoffenheit des Systems der Handlungsformen nicht unbegrenzt. Eine implizite Organkompetenz zur Formenprägung ist nur akzeptabel, wenn sie die Kompetenzgrenzen des Verbands wahrt. Die Dynamik der Handlungsformen ist nach hier vertretener Ansicht darauf beschränkt, den Verträgen bekannte oder von ihnen als zulässig vorausgesetzte Rechtswirkungen miteinander zu kombinieren und diese Kreuzungen in der Praxis zu neuen Formen zu verdichten. Art. 249 EG erfüllt insoweit eine Begrenzungsfunktion, als er das Spektrum der Rechtswirkungen atypischer Handlungen umschreibt.241 Es ist daher beispielsweise unzulässig, wenn der Rat die Kommission zu einem neuen Typus von „Entscheidungen“ ermächtigt, in denen mitgliedstaatlichen Behörden oder Gebietskörperschaften direkte Weisungen erteilt werden.242 Die innerstaatliche Zuständigkeitsverteilung obliegt den Mitgliedstaaten, die als Zurechnungsgesamthei237 238 239 240
241 242
J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2006, S. 239; Ipsen (Fn. 29), Kap. 20, Rn. 24. So schon E. Wohlfarth, in: ders./U. Everling/H. J. Glaesner/R. Sprung (Hrsg.), Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 1960, Art. 189 EWG-Vertrag, Rn. 17. Wichtigste Ausnahme: Art. 118a Abs. 2 EWG-Vertrag, heute mit erweitertem Anwendungsbereich Art. 137 Abs. 2 EG; zum Hintergrund F. Rödl, in diesem Band, S. 878 ff. Der Lissabonner Vertrag kehrt diese Entwicklung teilweise um, indem der AEUV einen Flickenteppich aus formal gekennzeichneten Rechtsgrundlagen (mit und ohne Wahlmöglichkeit) und Rechtsgrundlagen mit formneutralen Begriffen aufweist. In Art. 296 Abs. 1 AEUV wird das Formenwahlermessen der Rechtsetzungsorgane grundsätzlich anerkannt. Wie hier Bumke (Fn. 149), S. 663. Zu den primärrechtlich (!) vorgesehenen Leitlinien und Weisungen der EZB oben in Fn. 222; problematisch deshalb Entscheidung 2008/222/EG und Beschluss 2008/334/JI der Kommission zur Annahme des SIRENE-Handbuchs und anderer Durchführungsbestimmungen für das SIS II, ABl. 2008 L 123, S. 1 bzw. 39: „Das SIRENE-Handbuch enthält Weisungen für die Bediensteten der SIRENE-Büros …“ (Pkt. 1.2).
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ten für das unionsrechtskonforme Verhalten ihrer Einrichtungen und Glieder einzustehen haben.243 Normativ verankert ist dies durch das Schweigen des Art. 249 EG, der die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten im Handlungsformensystem der Union abbildet. Als materieller Kontrollmaßstab für die Formenkreation kommt vor allem das Prinzip der Rechtssicherheit in Betracht,244 aus dem sich ein Prinzip der Formenklarheit ableiten lässt.245 Die Grenze zur rechtswidrigen Nutzung atypischer Handlungen ist dort überschritten, wo Unklarheiten über die erzielten Rechtswirkungen geschaffen werden.246 Ergänzende Abstützung erhält das Gebot der Formenklarheit durch das allgemeine Verbot missbräuchlicher Ermessensbetätigung.247 Dies kann sachlich mit dem Gebot der Formenklarheit überlappen, wenn ein handelndes Organ eine atypische Form gewählt hat, um auf diesem Weg bestimmte Rechtswirkungen zu verschleiern. Eigenständige Bedeutung erhält es als formenbezogenes Umgehungsverbot, das die Wahl einer atypischen Formengestaltung untersagt, wenn damit Gültigkeitsanforderungen einer kodifizierten Handlungsform vermieden werden sollen.248 Allerdings ist in solchen Fällen vorrangig zu prüfen, ob aufgrund der Vergleichbarkeit der Rechtswirkungen die vermeintlich umgangene Vorschrift nicht analog auf die atypische Handlung anzuwenden ist. Somit stehen ausreichende Sicherungsmechanismen zur Verfügung, damit die Strukturentscheidung für ein offenes Formensystem mit übergreifenden Verfassungsprinzipien nicht in Konflikt gerät. Zugleich dürfte in dieser Strukturentscheidung der wichtigste Grund liegen, warum der Gerichtshof so nachdrücklich auf die Formenneutralität des Regimes der judikativen Kontrolle hingewirkt hat: Einbußen beim Prinzip der Rechtsgemeinschaft wären sonst kaum vermeidbar.249 2. Strukturentscheidung für die nicht-hierarchische Einheit des abgeleiteten Rechts Art. 249 EG enthält ferner Aussagen über die Beziehung der Handlungsformen zur den Verfassungsorganen, die sich in wesentlichen Punkten von Konzeptionen unterscheidet, die aus dem staatlichen Kontext vertraut sind. Die Handlungsformenlehren des nationalen Verfassungsrechts übersetzen in aller Regel Anliegen der Gewaltenteilung in formale Normkategorien und ordnen diese einander hierarchisch
243 244 245 246 247 248 249
EuGH, Rs. C-33/90, Kommission/Italien, Slg. 1991, I-5987, Rn. 24; Rs. C-224/01, Köbler, Slg. 2003, I-10239, Rn. 32 und 46 f. Nettesheim (Fn. 91), Art. 249 EG, Rn. 75. In Anknüpfung an das Gebot der Normenklarkeit: EuGH, Rs. 169/80, Gondrand Frères, Slg. 1981, 1931, Rn. 17; Rs. C-143/93, Van Es Douane Agenten, Slg. 1996, I-431, Rn. 27. Vgl. GA Tesauro zu Rs. C-325/91, Frankreich/Kommission, Slg. 1993, I-3283, Nr. 21 f. Zu den Voraussetzungen EuGH, Rs. 69/83, Lux/Rechnungshof, Slg. 1984, 2447, Rn. 30. Vgl. Art. 7 Abs. 2 GO-Rat (Fn. 21), der ein spezielles Umgehungsverbot zum Schutz des Initiativrechts der Kommission normiert; konstitutionalisiert in Art. 296 Abs. 3 AEUV. Zum Zusammenhang von „Aktbezogenheit des Rechtsschutzsystems“ und „relativer Geschlossenheit des Rechtsquellensystems“ aus österreichischer Sicht Eberhard (Fn. 89), S. 82.
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zu.250 Dagegen sind nach der Konzeption des Art. 249 EG die Handlungsformen des Unionsrechts davon entlastet, Gewaltenteilungsfunktionen zu übernehmen. Die entsprechende Strukturentscheidung für die nicht-hierarchische Einheit des abgeleiteten Rechts soll im Folgenden diskutiert werden. a) Gleichrang der Rechtsetzungsorgane Ausweislich des Art. 249 Abs. 1 EG verfügt das Unionsrecht nicht über eines, sondern über mehrere rechtsetzende Organe. Das ist als solches nicht ungewöhnlich: Alle europäischen Staaten kennen neben parlamentarischer auch gubernative und exekutive Rechtsetzung, manche darüber hinaus Gesetzgebung durch subnationale Einheiten. Im nationalen Verfassungsrecht sind diesen Rechtsetzungsinstanzen jedoch regelmäßig eigene Rechtsformen zugeordnet, und selbst bei gleicher Bezeichnung unterscheiden sich die Rechtsregimes je nach Organ bzw. Körperschaft, denen sie zugerechnet werden.251 In Art. 249 EG findet sich für eine solche Differenzierung keinerlei Anhaltspunkt, und auch die Rechtsprechung hat alle Versuche zurückgewiesen, die Rechtswirkungen einer Handlung je nach Erlassorgan unterschiedlich zu qualifizieren.252 Das Unionsrecht kennt weder „Kommissionsverordnungen“ noch „Ratsverordnungen“, sondern nur Verordnungen. Es entkoppelt Genesis und Geltung seiner Formen und nimmt so einen ganz anderen Ausgangspunkt als die staatlichen Systeme, in denen sich die Pluralität der Rechtsquellen ausgehend von unterschiedlichen rechtsschöpfenden Instanzen entwickelte.253 Die Rechtsetzungsorgane der Union greifen nicht nur auf denselben Formenfundus zu, es besteht zwischen diesen Organen auch keine (Legitimations-)Hierarchie, die als Ordnungskriterium genutzt werden könnte. Vielmehr zeichnet sich die unionale Organstruktur durch ein „institutionelles Gleichgewicht“ aus.254 Kernaussage dieses in Art. 7 Abs. 1 EG verankerten Prinzips ist, dass jedes Organ nach Maßgabe der vertraglich zugewiesenen Befugnisse handelt und diese horizontale Kompetenzverteilung durch Organhandeln nicht verschoben werden darf.255 Das Interorganverhältnis beruht mithin auf der Autonomie und Gleichberechtigung der unmittelbar durch die Verträge errichteten Organe.256 Diese Nicht-Hierarchie hat 250
251 252 253 254
255 256
C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 86 ff.; R. Schütze, Sharpening the Separation of Powers Through a Hierarchy of Norms?, EIPA Working Paper Nr. 1 (2005), S. 6, unter http://aei.pitt.edu/5750/01/FC0501e.pdf (22.09.2008). Zur Pluralität der Gesetze F. B. Callejón, Das System der Rechtsquellen in der spanischen Verfassungsrechtsordnung, JöR n.F. 49 (2001), S. 413 (427). EuGH, Rs. 41/69, ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 661, Rn. 60/62; verb. Rs. 188/ 80 bis 190/80, Frankreich u.a./Kommission, Slg. 1982, 2545, Rn. 6. Vgl. A. Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: FS Kelsen, 1931, S. 252 (253). Zu den normativen Gehalten J.-P. Jacqué, The Principle of Institutional Balance, CMLRev. 41 (2004), S. 383; K. Lenaerts/A. Verhoeven, Institutional Balance as a Guarantee for Democracy in EU Governance, in: C. Joerges/R. Dehousse (Hrsg.), Good Goverance in Europe’s Integrated Market, 2002, S. 35 (44 ff.). EuGH, Rs. 138/79 (Fn. 211), Rn. 33; Rs. 70/88, Parlament/Rat, Slg. 1990, I-2041, Rn. 21. EuGH, verb. Rs. 7/56 u.a. (Fn. 18), 121; Rs. 204/86, Griechenland/Rat, Slg. 1988, 5323, Rn. 17.
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zur Folge, dass auch ihre Rechtsakte grundsätzlich auf derselben Rangstufe stehen.257 Hieraus resultiert, dass bei Normenkollisionen der Grundsatz lex posterior derogat legi priori zur Anwendung kommen kann:258 es besteht wechselseitiges Derogationsvermögen von Akten unterschiedlicher Rechtsetzungsorgane der EU.259 Diese Konsequenz wäre nur vermeidbar, wenn die horizontale Kompetenzverteilung die jeweiligen Befugnisse der Organe perfekt gegeneinander abgrenzen würde, sodass jede Abänderung eines „fremden“ Rechtsakts notwendig unzuständiges Handeln wäre. Das Unionsrecht ist vielfältig um eine solche trennscharfe Verteilung bemüht.260 Es finden sich jedoch auch Fälle, in denen die Kompetenzordnung konkurrierende Rechtsetzung verschiedener Organe zulässt. Das Verhältnis von Art. 137 Abs. 2 und Art. 139 Abs. 2 EG ist ein offensichtliches (und extremes) Beispiel, denn diese Bestimmungen stellen alternative Rechtsgrundlagen mit identischem sachlichen Anwendungsbereich zur Verfügung. Eine ähnliche Technik konkurrierender Kompetenzzuweisung wird routinemäßig bei der Rechtsetzung in Komitologieverfahren genutzt, wenn der Rat sich im Basisrechtsakt die Möglichkeit vorbehält, im Konfliktfall selbst Durchführungsrechtsakte zu erlassen und dabei frühere Akte der Kommission aufzuheben.261 b) Gleichrang der Rechtsetzungsverfahren Die Erkenntnis eines wechselseitigen Derogationsvermögens gilt ohne Einschränkung auch für Akte, die in unterschiedlichen Verfahren erlassen worden sind: Das Unionsrecht kennt keine Hierarchie von Rechtsetzungsverfahren.262 So kommt der lex-posterior-Grundsatz typischerweise zum Einsatz, wenn durch Revision der Verträge eine Veränderung der Kompetenzlage stattgefunden hat. Es ist auf die Befugnisnormen in ihrer zum Erlasszeitpunkt geltenden Fassung zurückzugreifen, auch wenn Rechtsakte geändert werden, die nach früherer Rechtslage in einem strengeren Verfahren (oder von einem anderen Organ) erlassen worden sind. Derselbe Mechanismus kann im Fall einer Überlappung der sachlichen Anwendungsbereiche zweier geltender Kompetenznormen beobachtet werden. Nach der Rechtsprechung zur Wahl der richtigen Rechtsgrundlage gilt dabei Folgendes: Ist der Anwendungsbereich einer Befugnisnorm hauptsächlich bzw. im Schwerpunkt betroffen, der einer anderen Norm nur nebensächlich bzw. als Nebenaspekt, so ist die Wahl derjenigen Rechtsgrundlage verlangt, die den zu erlassenden Rechtsakt allein zu tragen in 257 258 259
260 261 262
Der kritische Fall delegierter Rechtsetzung sei noch einen Moment zurückgestellt, siehe unten, d). Vgl. EuGH, Rs. C-64/98 P, Petrides/Kommission, Slg. 1999, I-5187, Rn. 40 f. Wie hier Nettesheim (Fn. 93), S. 763; Bieber/Salomé (Fn. 142), S. 915; für das Verhältnis der EZB zu den regulären Rechtsetzungsorganen auch C. Zilioli/M. Selmayr, The Constitutional Status of the European Central Bank, CMLRev. 44 (2007), S. 355 (380); anders G. Schmidt, in: Groeben/Schwarze (Fn. 91), Art. 249 EG, Rn. 24; Ruffert (Fn. 230), Art. 249 EG, Rn. 16; Biervert (Fn. 225), Art. 249 EG, Rn. 10. Siehe EuGH, Rs. C-110/02, Kommission/Rat, Slg. 2004, I-6333, Rn. 32 ff. Zur Zulässigkeit EuGH, Rs. 30/70, Scheer, Slg. 1970, 1197, Rn. 21. Bieber/Salomé (Fn. 142), S. 916; Nettesheim (Fn. 93), S. 763 f.; anders die verbreitete Ansicht: Schmidt (Fn. 259), Art. 249 EG, Rn. 24; Biervert (Fn. 225), Art. 249 EG, Rn. 10.
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der Lage ist.263 Die akzessorisch verfolgten Nebenzwecke zwingen nicht zu einer Doppelabstützung, was eine Kumulierung der materiellen und der Verfahrensvoraussetzungen beider Befugnisnormen zur Folge hätte.264 Unausgesprochen geht diese Kompetenzdogmatik von einer Annahme aus, die für die Struktur des abgeleiteten Rechts von größter Bedeutung ist: Ein kompetenzgemäß erlassener Rechtsakt besitzt die Fähigkeit, ältere Rechtsakte abzuändern, die dem Anwendungsbereich anderer geltender Ermächtigungsnormen zuzuordnen sind, und dies setzt nicht voraus, dass auch deren Erlassvoraussetzungen beachtet werden.265 Die Anwendung der lex-posterior-Regel verlangt offenbar gerade keine Parallelität der Rechtsetzungsverfahren, vielmehr besteht eine Parallelität von Rechtsetzungs- und Rechtsersetzungsbefugnis. Der Grundsatz der Parallelität der formellen Voraussetzungen von Erlass- und Änderungsakt (parallélisme des formes) ist im Unionsrecht nicht durchgängig anwendbar. Diese verfassungsrechtliche Lage ist durch die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens nicht angetastet worden. Vielmehr fügen sich die durch Rat und Parlament gemeinsam angenommenen Akte nahtlos in die Pluralität von gleichrangigen Rechtsetzungsorganen und -verfahren ein.266 Wie bereits angesprochen,267 hat sich der Maastrichter Vertragsgeber gegen eine normhierarchische Hochstufung der parlamentarisch (mit-)verantworteten Akte entschieden. Statt dessen öffnete er das bisherige Spektrum der Handlungsformen für das Mitentscheidungsverfahren, das sich schon wenige Jahre nach seiner Einführung als Standardmethode parlamentarisch legitimierter Rechtsetzung der EU etablierte.268 Die Maastrichter Lösung ermöglichte die schrittweise Ausdehnung des Art. 251 EG auf immer weitere Sachbereiche, ohne mit jeder Vertragsrevision zugleich die Grenzmarken einer Normenhierarchie provisorisch neu zu setzen.269 c) Gleichrang der verbindlichen Handlungsformen Wenn schon weder durch den Urheber noch unter anderen Verfahrensgesichtspunkten270 eine hierarchische Gliederung des abgeleiteten Rechts zu gewinnen ist, könnte eine solche vertikale Ordnung vielleicht durch die Handlungsformen selbst ge263 264
265 266 267 268 269 270
Etwa EuGH, Rs. C-491/01, BAT, Slg. 2002, I-11453, Rn. 94; näher M. Nettesheim, in diesem Band, S. 437. Ist eine Kumulierung ausgeschlossen, weil Rechtsgrundlagen mit unvereinbaren Verfahrensnormen in Rede stehen, muss ggf. sogar einer von mehreren Hauptzielen eines Akts unter einer anderen Rechtsgrundlage „mitverfolgt“ werden, EuGH, Rs. C-300/89, Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2867, Rn. 17 ff.; Rs. C-91/05, Kommission/Rat, Slg. 2008, I-3651, Rn. 76 f. EuGH, Rs. 165/87, Kommission/Rat, Slg. 1988, 5545, Rn. 17; dieser Gedanke findet sich bereits in Rs. 111/63, Lemmerz-Werke/Hohe Behörde, Slg. 1965, 893 (919) und Ls. 4. Dies bestätigt EuGH, Rs. C-259/95, Parlament/Rat, Slg. 1997, I-5303, Rn. 27. Oben, II. 4. b) aa). Zur heutigen Stellung des Parlaments P. Dann, in diesem Band, S. 360 ff. Zum Lissabonner Vertrag noch unten, V. 1. b). Der Rechtsakt wird demjenigen Organ zugerechnet, dessen Handlungsbeitrag den endgültigen Wortlaut fixiert; zu den Funktionen autorenschaftlicher Zurechnung v. Bogdandy/Bast/ Arndt (Fn. 103), S. 134.
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stiftet werden. Art. 249 EG sind Über- und Unterordnungsverhältnisse nicht zu entnehmen,271 auch wenn es manchen Autoren unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten dringend geboten erschien, Kriterien für eine hierarchische Ordnung der kodifizierten Formen zu entwickeln.272 Eine überzeugende Durchführung dieses Vorhabens wollte jedoch nicht recht gelingen. Anders als die nationalen Verfassungsrechte muss das europäische auf die Strukturierung durch eine dominante Handlungsform verzichten, zu der sich – vergleichbar dem nationalen Gesetz – der Rang aller übrigen Rechtsquellen relativ bestimmt.273 Apodiktische Vorgaben wie die, eine Richtlinie könne eine Verordnung nicht ändern,274 mögen dem Wunsch nach einer dem Gesetz vergleichbaren Königsstellung der Verordnung entsprechen, schränken das Formenwahlermessen der Organe aber über Gebühr ein, ohne dass eine normative Rechtfertigung in Sicht ist. Ein überzeugendes Argument gegen einen Formenwechsel anlässlich einer Novellierung ist nicht erkennbar.275 In der Praxis finden sich zahllose Beispiele für Verordnungen, Richtlinien, staatengerichtete Entscheidungen und Beschlüsse, die sich gegenseitig ergänzen, abändern oder aufheben.276 Es besteht mithin grundsätzlich auch wechselseitiges Derogationsvermögen von Akten in unterschiedlichen Handlungsformen. Ein gleichwohl in der Praxis zu beobachtender Konservatismus der Formenwahl drückt kein rechtliches Unvermögens zum Formenwechsel aus. Abweichungen von diesem Grundsatz der Austauschbarkeit der Formen können von der Unterschiedlichkeit der rechtlichen Wirkungen der involvierten Rechtsakte ausgehen. Solche Derogationsgrenzen sind insofern der unionsrechtlichen Kategorie der Handlungsform immanent, als diese die spezifische Fähigkeit eines Rechtsakts definiert, rechtliche Wirkungen zu entfalten, und damit eine qua Handlungsform zugewiesene „Leistungsobergrenze“ festlegt.277 Kein Rechtsakt kann allein dadurch, dass er sich im Konflikt mit einem älteren Rechtsakt durchsetzen soll, seinen eigenen Bestimmungen ein rechtliches Vermögen zusprechen, das über die von seiner Handlungsform gezogenen Grenzen hinausgeht – dies ist nur eine andere Formulierung für die Parallelität von Rechtsetzungs- und -ersetzungsbefugnis. Die hier besonders interessierende Kategorie ist die der Verbindlichkeit. Es gehört nicht 271 272 273 274
275 276
277
Bieber/Salomé (Fn. 142), S. 917; Schroeder (Fn. 115), S. 357; anders noch Louis (Fn. 24), S. 144. E.-W. Fuß, Rechtssatz und Einzelakt im Europäischen Gemeinschaftsrecht (Teil 1), NJW 1964, S. 327 (329 f.). Vgl. A. Ross, Theorie der Rechtsquellen (1929), 1989, S. 34 f. Biervert (Fn. 225), Art. 249 EG, Rn. 10; Schroeder (Fn. 212), Art. 249 EG, Rn. 21; wohl nur als Verbot einer stillschweigenden Derogation verstanden bei Nettesheim (Fn. 93), S. 765; wie hier Hetmeier (Fn. 231), Art. 249 EG, Rn. 23. Siehe auch Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (1997), Nr. 6. Beispiel: Richtlinie 2004/38/EG des Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien …, ABl. 2004 L 158, S. 77 (Hervorh. d. Verf.). Dazu noch unten, IV. 3. b).
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zum Leistungsvermögen einer unverbindlichen Handlung, einen in eine verbindliche Handlungsform gekleideten Rechtsakt abzuändern, denn hierzu nähme erstere eine Rechtswirkung in Anspruch, die sie nicht besitzt.278 d) Gleichrang von vertragsunmittelbaren und habilitierten Rechtsakten („Durchführungsrecht“) Die These vom einheitlichen Rang des abgeleiteten Rechts sieht sich mit dem gewichtigen Einwand konfrontiert, das „Durchführungsrecht“ sei generell nachrangig gegenüber Akten, die ihre Rechtsgrundlage unmittelbar im Vertrag finden.279 Einem „Durchführungsrechtsakt“ geht eine kompetenzbegründende Handlung voraus, die als Basisrechtsakt oder – in Anlehnung an die romanische Terminologie – als Habilitationsakt bezeichnet werden kann.280 Art. 202 und 211 EG sprechen diesen Vorgang der Befugnisübertragung als Normalfall gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung an.281 Demnach kommen als habilitierende Organe der Rat sowie, im Mitentscheidungsverfahren gemeinsam handelnd, Rat und Parlament in Frage. Als Organe habilitierter Rechtsetzung nennt Art. 202 EG die Kommission sowie den Rat, der sich vorbehalten kann, „Durchführungsbefugnisse … selbst auszuüben“.282 Die Praxis kennt darüber hinaus habilitierte Rechtsetzung der EZB.283 Die Rechtsprechung akzeptiert ein weites Verständnis von „Durchführung“, das einerseits die Entscheidung von Einzelfällen,284 andererseits normergänzende Rechtsetzung in allen Handlungsformen sowie Änderungen von nicht wesentlichen Bestimmungen der Grundvorschrift einschließt.285 Stets aber muss sich ein habilitierter Rechtsakt sowohl im Hinblick auf das Erlassverfahren als auch materiell-rechtlich an den Bestimmungen des Basisrechtsakts messen lassen, auch bei Identität der Erlassorgane.286
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EuGH, Rs. C-149/96, Portugal/Rat, Slg. 1999, I-8395, Rn. 56; Rs. C-110/03, Belgien/Kommission, Slg. 2005, I-2801, Rn. 33; Senden (Fn. 166), S. 56 und 245. Zu den – hier nicht behandelten – hierarchisierenden Wirkungen des Art. 300 Abs. 7 EG siehe R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 186 f. Hiervon zu unterscheiden ist die „Durchführung“ des Gemeinschaftsrechts durch nationale Stellen; diese beruht gerade nicht auf einer Befugnisübertragung. Unglücklich die Begriffskonfusion in Art. 291 AEUV. Hierzu C. Möllers, Durchführung des Gemeinschaftsrechts, EuR 2002, S. 483; intensiv diskutiert ist v.a. die Mitwirkung von Ausschüssen an der habilitierten Rechtsetzung der Kommission; monographisch C. F. Bergström, Comitology, 2005. Außerhalb des Art. 202 EG ist eine Selbsthabilitierung des Rates generell problematisch: EuGH, Rs. C-133/06 (Fn. 27), Rn. 54 ff. Siehe Art. 110 Abs. 1 Spstr. 2 EG. Zu den Problemen aus verwaltungsrechtlicher Sicht D. Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211 4. Sp. EG, EuR 2006, S. 512. EuGH, Rs. 16/88, Kommission/Rat, Slg. 1989, 3457, Rn. 11; Rs. C-417/93, Parlament/Rat, Slg. 1995, I-1185, Rn. 30. EuGH, Rs. 46/86, Romkes, Slg. 1987, 2671, Rn. 16; verb. Rs. 6/88 und 7/88, Spanien/Kommission, Slg. 1989, 3639, Rn. 15.
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Besteht damit nicht eine Zweiteilung des abgeleiteten Rechts, die sich im Sinne der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung287 als pyramidale Rangstufung deuten lässt? Das Verhältnis von vertragsunmittelbarem und habilitiertem Recht wäre dann entsprechend dem von Primär- und Sekundärrecht zu konzipieren, mit der Folge des Vorrangs der jeweils höheren Ebene (lex superior derogat legi priori). Eine Reihe von Autoren zieht diesen Schluss, ohne ihn ausdrücklich zu begründen.288 In der dogmatischen Konsequenz wäre jeder Akt auf vertragsunmittelbarer Rechtsgrundlage als Maßstabsnorm für einen Akt auf abgeleiteter Rechtsgrundlage geeignet. Unverkennbares Vorbild für diese Konzeption ist das Verhältnis von Gesetz und Verordnung, wie es gemeineuropäisch den nationalen Verfassungsordnungen bekannt ist.289 Diese Analogie scheint besonders attraktiv, weil sie die Möglichkeit der Übersetzung in die Terminologie der Gewaltenteilungslehre eröffnet: Das Durchführungsrecht wäre der exekutiven Hoheitsfunktion zuzuordnen, vertragsunmittelbare Rechtsetzung könnte als Handeln der Legislative gedeutet werden.290 Bei näherer Betrachtung erweist sich das Verhältnis von Gesetz und Verordnung jedoch als die falsche Referenz. Überzeugender zu lösen ist das Problem des habilitierten Rechts nach dem Vorbild des delegierten Regierungs-Gesetzes, wie es z.B. die spanische und die italienische Verfassung kennen (decreto legislativo).291 Ein hierarchisches Verhältnis besteht auch nach diesem Modell insofern, als ein habilitierter Rechtsakt die Bestimmungen seines Basisrechtsakts nicht ändern kann, es sei denn, dieser ermächtigt jenen hierzu ausdrücklich.292 Der so begründete Vorrang ist jedoch nur relativ und beinhaltet gerade kein allgemeines hierarchisches Verhältnis zu den übrigen Akten des abgeleiteten Rechts: Es handelt sich um eine partielle Hierarchisierung, wie sie für das Unionsrecht auch in anderen Konstellationen nachgewiesen werden kann.293 So wie das delegierte Regierungs-Gesetz dem Rang 287 288 289 290
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H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1992, S. 228 ff.; Ross (Fn. 273), S. 308 ff. Z.B. H. Schmitt v. Sydow, in: Groeben/Schwarze (Fn. 91), Art. 211 EG, Rn. 77; Schmidt (Fn. 259), Art. 249 EG, Rn. 24; wie hier dagegen Bumke (Fn. 149), S. 656. v. Bogdandy (Fn. 148), S. 227 ff., zum Sonderfall unter Art. 34 und 37 Constitution française ebd., S. 262 ff. K. Lenaerts, Some Reflections on the Separation of Powers in the European Community, CMLRev. 28 (1991), S. 11 (17 f. und 30 f.); S. Douglas-Scott, Constitutional Law of the EU, 2002, S. 125. Art. 82 Constitutión Española (CE), Art. 76 Constituzione italiana; E. Virgala Foruria, La delegación legislativa en la Constitución y los decretos legislativos como normas con rango incondicionado de ley, 1991, S. 33 ff.; G. Zagrebelsky, Manuale di diritto constituzionale, Bd. 1: Il sistema delle fonti del diritto, 1990, S. 208 ff. Anders als Art. 83 lit. a CE erlaubt die Unionsrechtsordnung die Ermächtigung zur Abänderung des Basisrechtsakts, solange es sich um „nicht wesentliche Bestimmungen“ handelt, Art. 2 lit. b Komitologie-Beschluss 1999/468/EG des Rates, ABl. 1999 L 184, S. 23; Art. 290 Abs. 1 AEUV übernimmt dies für die neue Kategorie der delegierten Rechtsakte in den Vertragstext. Wie hier Nettesheim (Fn. 93), S. 766; zu Begriff und Erscheinungsformen partieller Hierarchisierung Bast (Fn. 6), S. 297 ff.; ferner Bumke (Fn. 149), S. 654 ff.; zum relativen Vorrang des Komitologie-Beschlusses EuGH, Rs. C-378/00, Kommission/Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937, Rn. 39 f.
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nach ein Gesetz ist und außer dem delegierenden Parlaments-Gesetz alle übrigen Gesetze zu ändern vermag, gehört der habilitierte Unionsrechtsakt selbst der Rangstufe des abgeleiteten Rechts an. Akte des abgeleiteten Rechts sind deshalb als Maßstabsnormen für einen habilitierten Rechtsakts ungeeignet – mit Ausnahme desjenigen Rechtsakts, auf den er selbst gestützt ist. e) Fehlende Hierarchie als Systemanomalie? Sieht man vom randständigen Milieu der Unverbindlichen ab, präsentiert sich das organgeschaffene Recht als eine überraschend moderne Gesellschaft, in der Unterschiede nach Rang und Geburt unbekannt sind. Nicht wenigen ist diese egalitäre Ordnung suspekt, sie gilt als strukturelles Defizit des Europäischen Verfassungsrechts.294 Hiergegen sei zunächst daran erinnert, dass die hierarchische Ordnung der Formen im nationalen Verfassungsrecht einhergeht mit einer über die Handlungsformen geleisteten Verteilung hoheitlicher Aufgaben auf verschiedene Verfassungsorgane. Die generelle Höherstufung des Gesetzes erklärt sich historisch und systematisch aus der Regelzuordnung zu einem parlamentarischen Erlassverfahren.295 Die Gesetzesvorbehalte der Verfassungen sind funktional Parlamentsvorbehalte, das Leistungsprofil des Gesetzes ist untrennbar verbunden mit der unmittelbaren demokratischen Legitimation der Abgeordneten und mit Deliberativität und Öffentlichkeit des Gesetzgebungsverfahrens.296 Mithin findet die mit Art. 249 EG angeordnete Unabhängigkeit der Handlungsformen von korrespondierenden Erlassorganen und -verfahren in der rangmäßigen Einheit des abgeleiteten Rechts ihre folgerichtige Entsprechung. Dass das geltende Unionsrecht die Kopplung der Handlungsformen mit der horizontalen Kompetenz- und Funktionenordnung verweigert, erlaubt es ihm, sich einer Stellungnahme zur relativen „Wertigkeit“ seiner politischen Organe ebenso zu enthalten wie zum legitimatorischen Gehalt der verschiedenen Verfahren. Es kann die insoweit bestehenden Spannungslagen zwischen Integrations-, Souveränitäts- und Demokratieprimat auf Dauer stellen, ohne sie in Gestalt einer Normenhierarchie in eine Richtung auflösen zu müssen. Eine zukünftige Hierarchisierung wäre nur unter der Voraussetzung ein Gewinn, dass in der zu errichtenden Normeneine schlüssige Legitimationshierarchie zum Ausdruck kommt, die aus einer konsequenten Parlamentarisierung der vertragsunmittelbaren Rechtsetzung resultiert. Ob zu einem solchen Umbau wirklich der verfassungspolitische Wille besteht, darf mit Blick auf den Lissabonner Vertrag bezweifelt werden.297 294 295
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Hierzu die Nachweise in Fn. 142; auch C. Möllers, in diesem Band, S. 263. R. Carré de Malberg, La loi, expression de la volonté générale, 1931, S. 38 f.; H. Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, VVDStRL 4 (1928), S. 98 (118). Dies gilt ungeachtet des gubernativen Gesetzes und der Volksgesetzgebung, die manche Verfassungsordnungen kennen. v. Bogdandy (Fn. 148), S. 199 ff.; für die deutsche Rechtsordnung W. Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), S. 5; zur französischen Entwicklung R. Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, 1995, S. 93 ff. Dazu unten, V. 1. b).
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Eine weniger anspruchsvolle Konzeption hierarchischer Zuordnung von Rechtsnormen, namentlich der Gedanke abgeschichteter Problembewältigung durch gestufte Normkonkretisierung, wird bereits nach geltenden Recht gewährleistet, insbesondere durch die habilitierte Rechtsetzung. Auch mit dem Modell partieller Hierarchisierung können die jeweils aufwändigeren Verfahren für wesentliche Entscheidungen reserviert werden, sodass bei der Konkretisierung auf der nachfolgenden Rechtsetzungsstufe die im Basisrechtsakt fixierten Kompromisse nicht erneut in Frage gestellt werden können. Eine sektorenübergreifende Hierarchie ist dafür nicht erforderlich. 3. Strukturentscheidung für eine Differenzierung der Handlungsformen nach rechtlichen Wirkungen Die Umschau nach einem angemessenen Verständnis der unionalen Handlungsformen stößt schließlich auf eine eher von verwaltungsrechtlichen Vorbildern geprägte Konzeption, die auf die materiell-rechtlichen Rechtsfolgen der Formenwahl blickt.298 Grundlegend ist hier die Funktion von Handlungsformen, auch jenseits des Rechtsschutzes als Wissensspeicher für Erfahrungen und Regeln zu dienen, die mit der Formzuweisung abgerufen werden, ohne im einzelnen Fall expliziert und reflektiert werden zu müssen.299 Das konstruktive Ideal der Dogmatik besteht dabei in der Entwicklung eines forminternen Gleichgewichts, in dem rechtliche Wirkungen und rechtliche Absicherungen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.300 Im Weiteren wird untersucht, welche verfassungsrechtlichen Vorgaben für dieses Verhältnis von Wirkungen und Anforderungen an die Gültigkeit im unionalen Kontext bestehen. Es wird zu Tage treten, dass das Unionsrecht nur in überschaubarem Umfang seine Handlungsformen als Speicher für Gültigkeitsanforderungen nutzt. Im Übrigen wird die Adäquanz von Wirkungsmodus und Gültigkeitsregime gerade durch die Distanz von Handlungsformen und Maßstäben erreicht (a). Vor diesem Hintergrund wird der Wirkungsmodus als die Zentralkategorie der unionalen Handlungsformenlehre plausibel. Die Fähigkeit zur Verleihung und Beschränkung rechtlicher Wirkungen erweist sich als die wesentliche Rechtsfolge der Formenwahl und damit als der tragende Grund der Gliederung des abgeleiteten Unionsrechts nach Handlungsformen (b). a) Das Gültigkeitsregime: Formspezifische Anforderungen an Legalität und Wirksamkeit Um vorbehaltlos als legitimes Kind in die Unionsrechtsordnung aufgenommen zu werden, muss ein neuer Rechtsakt gewisse Voraussetzungen erfüllen, die speziell
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Siehe etwa den Vorschlag von Bumke, die Lehre von den Maßstäben für den Erlass von Rechtsakten als Teil der unionalen Handlungsformenlehre zu begreifen, ders. (Fn. 149), S. 665 ff. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 150), 6. Kap., Rn. 34. Ebd., Rn. 36.
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aus seiner Handlungsform fließen. Dabei ist zwischen Rechtmäßigkeits- und Wirksamkeitsanforderungen zu unterscheiden, da das Unionsrecht diese rechtstheoretisch vorgegebene Unterscheidung positiv-rechtlich nutzt.301 Zu fragen ist also, wo die Unionsrechtsordnung formenvariable Anforderungen daran formuliert, dass (aa) ein Rechtsakt seine Wirkungen entfalten kann, ohne (bb) als rechtswidrig qualifiziert zu werden. aa) Wirksamkeitsanforderungen Einheitlich für alle Formen gilt, dass ein ordnungsgemäßer Beschluss erfolgen muss, der den internen Willensbildungsprozess des Erlassorgans abschließt und den endgültigen Rechtstext festgelegt. Grundsätzlich tritt die Wirksamkeit eines Akts bereits zum Zeitpunkt des Erlasses ein, soweit nicht der Rechtsakt selbst einen abweichenden Zeitpunkt anordnet. Das Wirksam-Werden (In-Kraft-Treten) der meisten Handlungen aber ist aufschiebend bedingt, entweder durch Publikation im Amtsblatt oder durch Notifikation beim bezeichneten Adressaten (Art. 254 EG). Veröffentlichungsbedürftigkeit galt von jeher für Verordnungen, was sich aus ihrem Potenzial zu unmittelbar belastenden Wirkungen für einen unbestimmten Kreis von Betroffenen erklärt. Dies gilt als Ausdruck des grundlegenden Prinzips, nach dem ein hoheitlicher Rechtsakt den Bürgern nicht entgegengehalten werden darf, bevor sie die Möglichkeit hatten, von ihm Kenntnis zu nehmen.302 Seit der Neufassung durch den Vertrag von Maastricht kennt Art. 254 EG neben der Handlungsform weitere Ordnungsgesichtspunkte: das Verfahren, in dem der Rechtsakt erlassen wurde, sowie seinen Adressaten. Veröffentlichungspflichtig sind seitdem alle Richtlinien und Entscheidungen, die im Mitentscheidungsverfahren ergehen, sowie diejenigen Richtlinien, die an alle Mitgliedstaaten adressiert sind. Hinter diesen Regelungen scheint, wenngleich mit vagen Konturen, die Idee eines materiellen Gesetzesbegriffs auf.303 Bei Richtlinien und Entscheidungen, die nicht unter Art. 254 Abs. 1 oder 2 EG fallen, ist Rechtswirksamkeit grundsätzlich an die Bekanntgabe beim formellen Adressaten gebunden, Art. 254 Abs. 3 EG. Individuelle Notifikation ist aber keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung: Etwaige Zustellungsmängel werden durch tatsächliche Kenntnisnahme geheilt, können jedoch von Belang sein für den Lauf der Klagefrist des Art. 230 Abs. 5 EG.304 Eine bedenkliche Lücke scheint für den Beschluss zu bestehen, dessen Veröffentlichung auf freiwilliger Basis erfolgt, ohne dass seine Wirksamkeit davon abhängt. Eine analoge Anwendung des Art. 254 EG ist nur für die Beschlüsse zu
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Vgl. Reimer (Fn. 223), S. 144 ff. EuGH, Rs. 98/78, Racke, Slg. 1979, 69, Rn. 15; Rs. C-161/06, Skoma-Lux sro, Slg. 2007, I-10841, Rn. 37; die verspätete Veröffentlichung eines Rechtsakts berührt dessen Rechtmäßigkeit jedoch nicht, Rs. C-149/96, Portugal/Rat (Fn. 278), Rn. 54. Vgl. aber Art. 7 GO-Rat (Fn. 21), der für die begrenzten Zwecke der Aktenöffentlichkeit nach Art. 207 Abs. 3 EG eine andere Definition von „Gesetzgebung“ festgelegt hat. EuGH, Rs. 48/69, ICI/Kommission, Slg. 1972, 619, Rn. 39/43.
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bejahen, die von Parlament und Rat gemeinsam erlassen werden.305 Diese Zurückhaltung der Verträge erfährt eine gewisse Rechtfertigung durch das formspezifische Unvermögen eines Beschlusses, bürgerbelastende Wirkungen zu entfalten. Seinem Charakter als typische Form für Rechtsakte mit allgemeiner Geltung würde jedoch eine Regelung besser gerecht, die eine Pflicht zur informatorischen Veröffentlichung etablieren würde (dies ließe die ad-hoc-Wirksamkeit unberührt).306 bb) Rechtmäßigkeitsanforderungen Zu fragen ist nun nach den Tatbeständen, bei denen die Rechtmäßigkeit der Akte (auch) von der gewählten Handlungsform abhängt.307 Regelfolgen des Fehlens einer Rechtmäßigkeitsanforderung sind die judikative Vernichtbarkeit und erleichterte Aufhebbarkeit des Akts durch das für den Erlass zuständige Organ.308 Diese Fehlerfolgen sind ihrerseits nicht formspezifisch ausgestaltet.309 Insbesondere gelten einheitliche Kriterien für die Grenzziehung zwischen bloßer Rechtswidrigkeit und der Inexistenz eines Akts, die ihn als ipso jure nichtig der Anfechtung entzieht.310 Die hieraus folgende Bestandskraftfähigkeit einer rechtswidrigen Verordnung ist, verglichen mit dem nationalen Gesetz, ungewöhnlich,311 ebenso die Zulässigkeit einer rückwirkenden Aufhebung fehlerhafter Normativakte durch das Erlassorgan.312 Das Zentrum formenvariabler Rechtmäßigkeitsanforderungen bilden die Begründungspflichten des Art. 253 EG, die von je her zu den wesentlichen Formvorschriften i.S.d. Art. 230 Abs. 2 EG zählen.313 Art. 253 EG greift die Unterscheidung des Art. 249 EG in verbindliche und nicht-verbindliche Handlungsformen auf und 305 306
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In der Praxis werden im Mitentscheidungsverfahren ergangene Beschlüsse im Amtsblatt, Serie L, unter der Rubrik I „Veröffentlichungsbedürftige Rechtsakte“ publiziert. Nach dem Lissabonner Vertrag zählen adressatenlose Beschlüsse unterschiedslos zu den veröffentlichungsbedürftigen Rechtsakten, Art. 297 Abs. 2 AEUV, mit unklaren Konsequenzen für ihre organgerichtete Verpflichtungskraft vor der Publikation. Maßgeblich zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses, nicht des In-Kraft-Tretens: EuGH, verb. Rs. 15/76 und 16/76, Frankreich/Kommission, Slg. 1979, 321, Rn. 7; verb. Rs. 96/82 u.a., NV IAZ International Belgium u.a./ Kommission, Slg. 1983, 3369, Rn. 16. Nach einer verbreiteten Auffassung liegt die Aufhebungszuständigkeit bei dem Organ, das den Rechtsakt erlassen hat, A. Haratsch, Zur Dogmatik von Rücknahme und Widerruf von Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1998, S. 387 (401 ff.). X. Arzoz, Rechtsfolgen der Rechtswidrigkeit von Verordnungen der Europäischen Gemeinschaften, JöR n.F. 49 (2001), S. 299 (308). EuGH, Rs. 15/85, Consorzio Cooperative d’Abruzzo/Kommission, Slg. 1987, 1005, Rn. 10; eingehend C. Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts- und Unionsrecht, 1998, S. 81 ff. Kritik bei Arzoz (Fn. 309), S. 316 ff.; vgl. aber M. Breuer, Nichtiges Gesetz und vernichtbarer Verwaltungsakt, DVBl. 2008, S. 555. EuGH, Rs. C-248/89, Cargill, Slg. 1991, I-2987, Rn. 20. EuGH, Rs. 24/62, Deutschland/Kommission, Slg. 1963, 143 (155); im Überblick J. Sladi, Die Begründung der Rechtsakte des Sekundärrechts der EG in der Rechtsprechung des EuGH und des EuG, ZfRV 2005, S. 123; rechtsvergleichend M. Shapiro, The Giving Reasons Requirement, University of Chicago Legal Forum 1992, S. 179 (197 ff.).
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unterstellt nur erstere seinem Anwendungsbereich. Dieser Systematik folgend wird man auch Beschlüsse in analoger Anwendung als umfasst ansehen müssen.314 Es entspricht der Kontroll-Funktion der Begründungspflichten, dass diese für alle anfechtbaren Handlungen nach Art. 230 Abs. 1 EG gelten.315 Ob dies auch für Handlungen zutrifft, die in den sektorspezifischen Formen des EU-Vertrags ergehen, harrt bislang der Klärung.316 Als zweiter Komplex formenvariabler Anforderungen an die Rechtmäßigkeit ist das Sprachenregime der Rechtsakte zu nennen. Dieses ist nicht vertraglich festgelegt, sondern wird über Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1 gesteuert.317 In ihren Kerngehalten dürften deren Regelungen zur gleichrangigen Mehrsprachigkeit bestimmter Akte auch verfassungsprinzipiell geboten sein.318 In welchen Sprachen ein Akt zu formulieren ist, hängt davon ab, wem gegenüber seine Rechtswirkungen eintreten sollen. Für Verordnungen und „andere Schriftstücke von allgemeiner Geltung“ ordnet Art. 4 der Verordnung Nr. 1 an, sie in allen Amtssprachen abzufassen. Art. 5 Verordnung Nr. 1 erweitert indirekt den Kreis der mehrsprachig abzufassenden Rechtsakte auf alle gemäß Art. 254 EG veröffentlichungsbedürftigen Akte.319 Da die Akte in beiden Fällen simultan in mehreren Sprachen Geltung erlangen, müssen sie auch in allen Fassungen Gegenstand der Beschlussfassung durch das Erlassorgan sein; die Missachtung dieses Gebots stellt eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften, also eine Rechtswidrigkeit, dar.320 Ein dritter Komplex von Anforderungen ist zwar selbst nicht formenvariabel ausgestaltet, gehört der Sache nach jedoch hierher, weil auch insoweit die Rechtmäßigkeit von der gewählten Form abhängen kann: die Maßstäbe der Formenwahl.321 Im Regelfall stellen die Rechtsgrundlagen der Verträge die Wahl der Handlungsform in das Ermessen der Rechtsetzungsorgane. Für die Ausübung dieses Ermessens gilt das Prinzip des formenbezogenen Interventionsminimums, das als Ausdruck des allgemeinen Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu verstehen ist.322 Unter 314 315 316
317 318 319 320 321 322
Zweifelnd noch EuGH, Rs. 22/70 (Fn. 187), Rn. 98/99; anders EuG, Rs. T-382/94, Confindustria u.a./Rat, Slg. 1996, II-519, Rn. 49. Vgl. EuGH, verb. Rs. 8/66 bis 11/66 (Fn. 195), 124 f.; im Ergebnis wie hier Kaltenborn (Fn. 230), S. 474; Oppermann (Fn. 230), § 6 Rn. 115. Der Lissabonner Vertrags würde hier eine eindeutige Regelungslage schaffen, da nach Art. 296 Abs. 2 AEUV alle Rechtsakte in den typisierten Handlungsformen des Art. 288 AEUV (ex-Art. 249 EG) einer Begründungspflicht unterliegen, also auch Beschlüsse im Bereich der GASP. Verordnung Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage, ABl. 1958 Nr. 17, S. 385/58 (EWG) und S. 401/58 (Euratom). F. C. Mayer, Europäisches Sprachverfassungsrecht, Der Staat 44 (2005), S. 367 (394 ff.). EuGH, Rs. C-361/01 P, Kik/HABM, Slg. 2003, I-8283, Rn. 85 und 87. EuGH, Rs. C-137/92 P, Kommission/BASF u.a., Slg. 1994, I-2555, Rn. 76; Rs. C-107/99, Italien/Kommission, Slg. 2002, I-1091, Rn. 47. Siehe Reimer (Fn. 223), S. 146 ff. Nettesheim (Fn. 91), Art. 249 EG, Rn. 78 und 103; so auch das Verständnis von Art. 5 Abs. 4 EUV-Liss. und Art. 296 Abs. 1 AEUV; gegen ungeschriebene Formenwahlgebote Bumke (Fn. 149), S. 670 f.
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zwei gleichermaßen geeigneten Handlungsformen ist diejenige zu wählen, mit der geringere Eingriffe in rechtlich geschützte Interessen verbunden sind, wobei neben den Rechten Einzelner die Autonomie der Mitgliedstaaten als komplexes Rechtsgut in die Betrachtung einzustellen ist.323 Wegen der größeren Schonung privater Interessen verdient deshalb, ceteris paribus, eine Richtlinie den Vorzug vor einer Verordnung.324 Allerdings ist hier in Rechnung zu stellen, dass die Grenzen des gesetzgeberischen Ermessens bei der Wahl der Handlungsform regelmäßig weit gezogen sind. Soweit Rechtsgrundlagen ausnahmsweise Formenwahlgebote aufstellen, ist durch Auslegung zu ermitteln, ob die Wahl von nicht aufgeführten Handlungsformen mit einem weniger eingriffsintensiven Wirkungsmodus ebenfalls zugelassen ist.325 Zusammenfassend: Die Handlungsform der Akte hat zwar für die Regeln über ihr Inkrafttreten eine gewisse Bedeutung, aber nur auf wenigen Feldern – Begründungspflicht und Sprachenregime – disponieren die rechtsetzenden Organe mit der Formenwahl zugleich über die Maßstäbe, an denen die Rechtmäßigkeit des betreffenden Akts zu messen ist, und auch die Kompetenzordnung lässt der Ausübung des Formenwahlermessens weite Räume. Fragt man nach den Gründen, ist zum einen der Gesichtspunkt der leichteren Handhabbarkeit zu nennen, zum anderen die mangelnde Strukturierung der Formen nach Hoheitsfunktionen, von denen Differenzierungsdruck auf die Maßstäbe ausgehen könnte.326 Wie schon bei beim Regime der judikativen Kontrolle der Akte dürfte ein wesentlicher Gesichtspunkt zudem die Strukturentscheidung für ein offenes Formensystem sein. Unter dieser Prämisse entspricht es der Adäquanz von Wirkungen und Absicherungen am besten, die Maßstäbe der Rechtmäßigkeit möglichst formenneutral auszugestalten. Dies erlaubt zugleich, die Formenwahl des handelnden Organs nur zurückhaltend gerichtlich zu kontrollieren. b) Der Wirkungsmodus als Schlüsselkategorie der Formensystematik Entscheidungshilfen für gerichtsförmige Verfahren, die mit einem Urteil über Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Akts abgeschlossen werden, hat die unionale Handlungsformenlehre nur wenige zu bieten. Indes soll sie nach einem angemessenen Verständnis, wie die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht insgesamt, hoheitliches Handeln nicht nur begrenzen, sondern auch anleiten.327 Für eine Formenlehre des Europäischen Verfassungsrechts, die methodisch die ex-ante-Per323 324
325
326 327
Zuleeg, in: Groeben/Schwarze (Fn. 91), Art. 5 EG, Rn. 37. Im Ergebnis allg. Ansicht, etwa C. Calliess, in: ders./Ruffert (Fn. 213), Art. 5 EG, Rn. 56, allerdings zumeist mit Blick auf den Schutz mitgliedstaatlicher Autonomie; zu dieser Verkennung der Richtlinie bereits oben, II. 3. a). M. Zuleeg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR n.F. 20 (1971), S. 1 (14); anders die an Ipsen (Fn. 29), Kap. 20, Rn. 24, anschließende herrschende Meinung. Bumke (Fn. 149), S. 689 und 695. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 150), 1. Kap. Rn. 30–32; ders., Rechtsformen (Fn. 150), S. 537.
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spektive der rechtsetzenden Organe einnimmt und über alternative Gestaltungsoptionen informiert, eröffnet sich ein weites Aufgabenfeld. Das weite Ermessen der politischen Organe zur Formenprägung im Allgemeinen und zur Formenwahl im Einzelfall verlangt nach rechtswissenschaftlichen Orientierungs- und Systematisierungsleistungen, damit die jeweils erzielten rechtlichen Effekte vorhersehbar bleiben und die Kommunikation zwischen Rechtssetzer und Rechtsadressaten gelingt. Das Bemühen um beides – Berechenbarkeit und Steuerungseffektivität des Rechts – ist aus der Perspektive des Rechtsstaatsprinzips auch verfassungsrechtlich geboten.328 Nach hiesigem Verständnis ist der Wirkungsmodus deshalb die Schlüsselkategorie der Handlungsformen des Unionsrechts. Er bezeichnet die Gesamtheit der Rechtswirkungen, die einem Rechtsakt aufgrund seiner formalen Identität zukommen können. Folgende vier Aspekte des Wirkungsmodus sind zentral für eine systematische Ordnung der Handlungsformen: (1) Grundlegend ist die Unterscheidung, ob die ausgelösten Rechtswirkungen verbindlicher oder unverbindlicher Natur sind.329 Eine ganze Reihe von rechtlichen Eigenschaften, die Unionsrechtsakten zukommen können, setzt einen verbindlichen Wirkungsmodus voraus, etwa die Fähigkeit, individuelle Rechte zu begründen. Entsprechend differenziert sowohl das Gültigkeitsregime (Begründungsbedürftigkeit) als auch das Kontrollregime (Anfechtbarkeit).330 (2) Weiter ist danach zu unterscheiden, ob die Rechtswirkungen adressatenspezifisch oder adressatenunspezifisch eintreten. Richtlinien und Entscheidungen kennzeichnet ihr adressatenspezifischer Wirkungsmodus, wohingegen die Rechtswirkungen von Verordnungen und Beschlüssen gegenüber jedermann eintreten. Die Zuweisung eines adressatenspezifischen Wirkungsmodus ermöglicht die territoriale bzw. die personale Limitierung der Rechtswirkungen eines Akts. An die formelle Adressierung knüpfen das Sprachenregime der Akte an sowie Regeln über das In-Kraft-Treten an.331 (3) Ein dritter Ordnungsgesichtspunkt ist die Unterscheidung, ob die Handlung eine einstufige oder eine zweistufige Normgebungsstruktur aufweist. Die Rechtswirkungen von Verordnungen, Entscheidungen und Beschlüssen treten mit ihrem In-Kraft-Treten ein, wohingegen Richtlinien und Rahmenbeschlüsse einen mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt erfordern bzw. im Fall von staatengerichteten Empfehlungen vorschlagen. Diese „richtlinienförmigen“ Instrumente zeichnen sich gerade durch ihre Umsetzungsbedürftigkeit aus (sofern nicht bloßes Unterlassen vorgesehen ist). Verordnung und staatengerichtete Entscheidung können bei entsprechender inhaltlicher Ausgestaltung eine zweistufige Struktur vorsehen, dies gehört jedoch nicht zu ihren formdeterminierten Eigenschaften. 328 329 330 331
Näher A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 39 f. Zu Zwischenformen siehe EuGH, Rs. 148/73, Louwage u.a./Kommission, Slg. 1974, 81, Rn. 11/18; Rs. C-171/00 P, Libéros/Kommission, Slg. 2002, I-451, Rn. 35. Oben, III. 1 und IV. 3. a) bb). Oben, IV. 3. a) aa) und bb).
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(4) Als vierter Aspekt ist die unterschiedliche Fähigkeit zu nennen, rechtliche Verpflichtungen aufzuerlegen. Die Kategorie der Verpflichtungskraft ist ein Schlüssel zum Verständnis der Differenzen von gleichermaßen verbindlichen Handlungsformen: Während eine Verordnung oder eine Entscheidung jedermann, der der Herrschaftsgewalt der Union untersteht, unmittelbar verpflichten kann, fehlt es einem Beschluss generell an dem Vermögen, privaten Rechtssubjekten oder Mitgliedstaaten Verpflichtungen aufzuerlegen. Richtlinien (und Rahmenbeschlüsse) nehmen in Bezug auf ihren Verpflichtungsmodus eine charakteristische Mittelstellung ein: Sie verpflichten die Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet sind, unmittelbar, und besitzen zudem die Fähigkeit, über den mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt, aber auch nur über diesen, Private mittelbar zu verpflichten. Unverbindlichen Handlungen fehlt es an verpflichtender Kraft; sie kann sich allenfalls indirekt aus dem Zusammenspiel mit anderen Rechtsnormen ergeben, namentlich dem Vertrauensschutzgrundsatz oder der Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit.332 Bereits mithilfe der vier Variablen Verbindlichkeitsmodus, formelle Adressierung, Stufen der Normgebung und Verpflichtungsmodus können für die wichtigsten Handlungsformen des abgeleiteten Rechts trennscharfe Definitionen formuliert werden, die sie als ein charakteristisches Bündel von Rechtswirkungen präsentieren. Gewiss, eine Klassifizierung der Handlungsformen auf der Ebene ihres Wirkungsmodus bleibt abstrakt, verglichen mit einer Charakterisierung, die sich an ihren typischen Verwendungen in der Praxis orientiert und spezifische Regelungsmethoden in den Blick nimmt: Die Richtlinie beispielsweise scheint als Instrument der Rechtsangleichung, die Verordnung als Instrument der Rechtsvereinheitlichung gehaltvoller auf den Begriff gebracht.333 Das Plus an Plastizität wird jedoch mit einer erheblichen Unschärfe erkauft. Nicht nur, dass sich auch Verordnung und staatengerichtete Entscheidung zur Rechtsangleichung eignen und tatsächlich eingesetzt werden, dieser Funktionsbereich der Richtlinie also nicht exklusiv ist. Funktionale Beschreibungen der Handlungsformen geraten insgesamt unversehens in die Gefahr, bloße Ausschnitte der Empirie normativ zu überhöhen. Richtlinien können neben der Anleitung der nationalen Legislativen ebenso gut der Aktivierung planender Verwaltung dienen; sie können rechtsvereinheitlichende Vollregelung eines Sachbereichs ebenso vorsehen wie Mindeststandards setzen oder mitgliedstaatliche Berichtspflichten begründen. Die Empirie einer komplexen Rechtsordnung streitet dafür, sämtliche Handlungsformen als multifunktionale Instrumente anzuerkennen und ihr rechtliches Profil funktionenübergreifend zu entwickeln. Die Funktion folgt dem rechtlichen Potenzial, nicht umgekehrt. Aber ist die Auffächerung in Verordnung, Richtlinie, staatengerichteter Entscheidung und Beschluss überhaupt sinnvoll in einer Situation, in der die Verträge unter nahezu allen Rechtsgrundlagen, die Rechtsetzungstätigkeit erfordern, den Erlass von Verordnungen zulassen? Schließlich umfasst das Leistungsvermögen der Verordnung in ihrem gesetzesgleichen Wirkungsmodus das aller übrigen Hand332 333
Siehe etwa EuGH, Rs. 141/78, Frankreich/Großbritannien, Slg. 1979, 2923, Rn. 8 ff. Statt vieler Biervert (Fn. 225), Art. 249 EG, Rn. 18.
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lungsformen. Auch Verordnungen können unverbindliche oder inhaltlich verpflichtungsneutrale Bestimmungen enthalten, sich materiell an einen geschlossenen Adressatenkreis wenden oder von den Mitgliedstaaten Ausführungsrechtsetzung verlangen. Aber jenseits der Verordnung, die virtuell „alles“ kann, was in der Rechtsmacht der Union steht, beinhaltet der Wirkungsmodus der Handlungsformen je spezifische Wirkungsbegrenzungen, die sich die Rechtsetzungsorgane zu Nutze machen können, wenn sie bestimmte Rechtswirkungen nicht erzielen wollen. Das spezifische Leistungsvermögen, das etwa die Richtlinie der Verordnung voraus hat, liegt in ihrem Unvermögen, Private unmittelbar zu verpflichten. Die funktionalen Vorteile des Beschlusses liegen, um ein weiteres Beispiel zu nennen, in seiner Fähigkeit, gestaltend auf die Unionsrechtsordnung einzuwirken und die Union als organisatorische Gesamtheit verbindlich festzulegen, ohne zugleich gegenüber Bürgern und Mitgliedstaaten Verpflichtungen zu begründen. Diese Limitierungen seiner Verpflichtungskraft prädestinieren ihn z.B. zum Aufstellen von Förderprogrammen, die oftmals schon aus kompetenziellen Gründen „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung“ ergehen müssen. Hier zeigt sich ein (vermeintliches) Paradox, das für die Systemlogik der unionalen Handlungsformen fundamental ist: In der rechtlichen Schwäche einer Handlungsform, ihrem spezifischem Unvermögen, liegt eine funktionale Stärke. Mit der Wahl einer vermeintlich schwächeren Handlungsform können sich die rechtsetzenden Organe eine Speicherfunktion für Wirkungsbegrenzungen zu Nutze machen und ungewollte Wirkungen verlässlich ausschließen.334 Die Differenzierung des Unionsrechts nach Handlungsformen gibt den Rechtsetzungsorganen die Chance, nuanciert und kontrolliert von ihren Befugnissen Gebrauch zu machen – gegebenenfalls eben unverbindlich, adressatenspezifisch, umsetzungsbedürftig oder mit beschränkter Verpflichtungskraft zu handeln.
V. Handlungsformen und Rechtsschutz nach dem Lissabonner Vertrag Der letzte Teil des Beitrags wird die Neuerungen untersuchen, die die Lissabonner Neugestaltung der primärrechtlichen Grundlagen für Handlungsformen (1.) und Rechtsschutz (2.) bringen würde. Er schließt an die Reformthemen des letzten Jahrzehnts an, die in Teil II. identifiziert wurden: die problematische Säulenstruktur der EU, die Vereinfachung und Hierarchisierung der Handlungsformen und die Ausweitung der Individualnichtigkeitsklage.
334
Zu eng zur Speicherfunktion der unionalen Rechtsformen Röhl (Fn. 198), S. 363 f.; zutr. G. Sydow, Buchbesprechung, Die Verwaltung 39 (2006), S. 131 (133).
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1. Zur Neugestaltung der Handlungsformen: die Kreation des europäischen Gesetzes („Gesetzgebungsakte“) a) Vereinfachung Zunächst zum Topos der Vereinfachung, der sich in der politischen Dynamik des Konventsprozesses auf das etwas schlicht anmutende Ziel verengte, die Anzahl der Handlungsformen zu reduzieren.335 In den fachlichen Beratungen wurde jedoch deutlich, dass das Gros der vertraglich vorgesehenen Differenzierungen von praktischen Bedürfnissen getragen ist.336 Ungeachtet neuer Bezeichnungen fanden dann alle Handlungsformen des Art. 249 EG im Verfassungsvertrag ihre Nachfolger, andere wurden erstmals ausdrücklich anerkannt.337 Art. 33 VVE und ihm folgend Art. 288 AEUV kategorisieren die Rechtsakte weiterhin nach ihren rechtlichen Wirkungen. Auch ein Numerus clausus wird nicht angestrebt, die Strukturentscheidung für ein offenes Formensystem bleibt unangetastet.338 Der Lissabonner Vertrag kehrt schließlich sogar zu den vertrauten Bezeichnungen zurück.339 Um das Ziel der Vereinfachung nicht gänzlich aufzugeben, fasste man unterschiedliche Handlungsformen unter einer einzigen Bezeichnung zusammen. Dies betraf nach dem VVE die „Europäische Verordnung“, deren Wirkungen entweder 335
336
337 338
339
Vgl. den Schlussbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“, CONV 424/02, S. 3, unter http:// european-convention.eu.int; zum Vereinfachungsdiskurs P.-Y. Monjal, Simplifiez, simplifiez, il en restera toujour quelque chose …, Revue du Droit de l’Union Européenne Nr. 2 (2003), S. 343 (345 ff.). Zum gescheiterten Plan des Konvents-Präsidiums, nur noch vertragsunmittelbare Richtlinien zuzulassen, siehe CONV 724/03, S. 84; zur Richtlinie im VVE S. Prechal, Adieu à la Directive?, EuConst 1 (2005), S. 481. Vgl. Art. 295 AEUV; zum Beschluss sogleich. arg. ex Art. 296 Abs. 3 AEUV; J. P. Terhechte, Der Vertrag von Lissabon: Grundlegende Verfassungsurkunde der europäischen Rechtsgemeinschaft oder technischer Änderungsvertrag?, EuR 2008, S. 143 (178). Siehe A. C. Becker, Die Handlungsformen im Vertrag von Lissabon, in: I. Pernice (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2008, S. 145; zum VVE: H. C. H. Hofmann, A Critical Analysis of the New Typology of Acts in the Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe, European Integration online Papers Nr. 9 (2003), unter http://eiop.or.at/eiop; A. Hable, Handlungsformen und Kompetenzen in der Europäischen Verfassungsdebatte, IEF Working Paper Nr. 53 (2003), unter http://epub.wu-wien.ac.at; L. Albino, La fonti del diritto nella Constituzione per l’Europa, Diritto e cultura XIII (2003), S. 247; F. J. Carrera Hernández, Simplificación de los instrumentos jurídicos en el Proyecto de Tratado constitutional, Revista de Derecho Comunitario Europeo Nr. 16 (2003), S. 1041; D. M. Alves, La hiérarchie du droit dérivé unilateral à la lumière de la Constitution européene, Cahiers de Droit Européen 40 (2004), S. 691; K. Lenaerts/M. Desomer, Towards a Hierarchy of Legal Acts in the Union?, ELJ 11 (2005), S. 744; J. Santos Vara, La simplificación normativa en el proyecto de Constitución europea, Gaceta Jurídica Nr. 230 (2004), S. 3; P. Acconi, Quale gerarchia delle fonti nel nuovo diritto dell’Unione?, Il Diritto dell’Unione Europea 2005, S. 253; T. Blanchet, Les instruments juridiques de l’Union et la rédaction des bases juridiques, Revue Trimestrielle de Droit Européenne 41 (2005), S. 319; F. Donati, Le fonti del diritto dell’Unione, in: G. Moribidelli/F. Donati, Una constituzione per l‘Unione Europea, 2006, S. 109 (117 ff.).
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einer Verordnung oder einer Richtlinie entsprechen konnten; dieser Missgriff wird im Lissabonner Vertrag korrigiert. Auch dieser Vertrag belässt es jedoch bei einer Definition des „Beschlusses“ gemäß Art. 288 Abs. 4 AEUV, dessen Wirkungen entweder einer Entscheidung nach Art. 249 EG oder einem adressatenlosen Beschluss entsprechen. Immerhin wird letzterer damit erstmals vertraglich normiert. Unter dem Dach des neuen Beschlusses werden darüber hinaus die verschiedenen GASPHandlungsformen des heutigen Art. 12 EU zusammengefasst, ohne dass die Differenzierungen in der Sache aufgegeben werden (vgl. Art. 25 lit. b EUV-Liss.). Statt die rechtsetzende Gewalt der Union nachvollziehbar zu gliedern, führen solche Pseudo-Vereinfachungen zur Intransparenz des Systems.340 Eine „Vereinfachung“ besonderer Art verdient jedoch Zustimmung und stellt die wohl bedeutsamste Neuerung der gesamten Vertragsrevision dar: die Abschaffung der dritten Säule und damit der sektorspezifischen Handlungsformen des Art. 34 EU. Die verbleibenden Abweichungen in Art. 67 ff. AEUV betreffen die Verfahren der Rechtsetzung, nicht die Handlungsformen.341 Mit In-Kraft-Treten des Lissabonner Vertrags könnten die im Gemeinschaftsrecht entwickelten Handlungsformen endlich in allen Teilbereichen der Europäischen Innenpolitik eingesetzt werden, intersektorale Lernprozesse bei Rechtsgestaltung und -anwendung befördern und so zur Kohärenz der Verfassungsordnung beitragen. b) Hierarchisierung Mit dem Verfassungsvertrag sollte eine Begrifflichkeit in das Europäische Verfassungsrecht eingeführt werden, die die Vertragsautoren bislang sorgsam gemieden hatten: das Gesetz. Für das kontinentaleuropäische Verfassungsdenken stellt dies einen semantischen Quantensprung dar, der demjenigen in nichts nachsteht, der mit dem Begriff Verfassung einhergeht: Es gibt Internationale Organisation wie die UNESCO oder die International Labour Organization, die über eine „Verfassung“ verfügen; keine dieser Organisationen jedoch erlässt „Gesetze“, die eine volonté générale ihres Organisations-Volkes zum Ausdruck bringen würden.342 Als die politische Entscheidung fiel, die Substanz des gescheiterten Verfassungsvertrags nicht zuletzt durch einen Verzicht auf Verfassungsrhetorik zu retten, umfasste die semantische Abrüstung ganz selbstverständlich auch den Gesetzes-Begriff.343 Entsprechend ist im Lissabonner Vertrag von „Europäischen Gesetzen“ und „Europäischen Rahmengesetzen“ nicht mehr die Rede; die Unterscheidung zwischen Gesetzgebungsakten und Akten ohne Gesetzescharakter sollte jedoch beibehalten
340 341 342 343
Editorial comments, CMLRev. 41 (2004), S. 899 (901); ähnlich Bumke (Fn. 149), S. 691. C. Ladenburger, Police and Criminal Law in the Treaty of Lisbon, EuConst 4 (2008), S. 20 (29 ff.); J. Monar, in diesem Band, S. 771 f. Hierzu erneut R. Carré de Malberg, La loi, expression de la volonté générale, 1931; siehe auch C. Möllers, in diesem Band, S. 231. P.-C. Müller-Graff, Der Vertrag von Lissabon auf der Systemspur des Europäischen Primärrechts, integration 2008, S. 123 (134); aus angelsächsischer Perspektive siehe aber P. Craig, The Treaty of Lisbon: Process, Architecture and Substance, ELRev. 33 (2008), S. 137 (160).
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werden, so die Vorgabe des Europäischen Rates, unter Einschluss aller Rechtsfolgen, die ihr schon im Verfassungsvertrag zukam.344 Wie aber kann diese Quadratur des Kreises gelingen? Die Einfügung von Gesetz und Rahmengesetz in das Arsenal der unionalen Handlungsformen hatte doch gerade zum Ziel, einen qualifizierten Ausschnitt der Verordnungen und Richtlinien als Gesetzgebungsakte zu definieren und diese beiden neuen Handlungsformen von allen anderen abzugrenzen. Der Lissabonner Vertrag verzichtet notgedrungen ganz darauf, die Unterscheidung nach legislativen oder nicht-legislativen Handlungen in das System der Handlungsformen zu übersetzen. Zukünftig können Rechtsakte in allen verbindlichen Handlungsformen des Art. 288 AEUV „Gesetzgebungsakte“ im Sinne der EU-Verträge darstellen (Art. 289 Abs. 3 AEUV, franz. actes législatifs, engl. legislative acts). Dies stellt eine Änderung in der Sache dar, nicht bloß den Verzicht auf eine tabuisierte Terminologie: Nach dem Lissabonner Vertrag haben die Rechtsetzungsorgane insbesondere die Möglichkeit, adressatenlose Beschlüsse mit Gesetzescharakter zu erlassen – eine nützliche Option, die ihnen der Verfassungsvertrag versagen wollte. Aber worauf beruht das Konzept der „Gesetzgebung“, das der Verfassungskonvent entwickelt und der Vertragsgeber von Lissabon beibehalten hat? Kann es die Erwartungen erfüllen, die sich mit dem aufgeladenen Begriff verbinden – oder ist es Teil einer bloß symbolischen Konstitutionalisierung, die aus guten Gründen im Lissabonner Vertrag abgeschwächt wird? Eine Antwort mag sich aus einem vergleichenden Blick auf das nationale Verfassungsrecht ergeben (aa). Er legt einen vergleichsweise anspruchslosen und zudem mit Konstruktionsschwächen behafteten Gesetzes-Begriff des Lissabonner Vertrages frei (bb). aa) Vier Aspekte des Gesetzes-Begriffs im nationalen Verfassungsrecht Geht man vom staatlichen Verfassungskontext aus, erwartet man von einem „Gesetz“ zuallererst, dass es sich um einen parlamentarisch verantworteten Akt handelt (besonders deutlich die englische Bezeichnung als Act of Parliament). Diesbezüglich schneidet der Lissabonner Vertrag nicht schlecht ab, soweit es um das sog. ordentliche Gesetzgebungsverfahren, den Nachfolger des Mitentscheidungsverfahrens, geht. Art. 289 Abs. 1 AEUV legt als Grundsatz fest, dass ein „ordentlicher“ Gesetzgebungsakt von Parlament und Rat gemeinsam beschlossen wird. Dieser Gesetzesbegriff entspricht dem Zweikammersystem, das sich seit dem Maastrichter Vertrag schrittweise entwickelt hat, und spiegelt die beiden demokratischen Legitimationsstränge der Union.345 Hätte es der Vertragsgeber dabei belassen, ihm wäre eine überzeugende Klassifikation gelungen, die auf einem prozeduralen Gesetzesbegriff beruht. Indes kennt der Mitentscheidungs-Regelfall zahlreiche Ausnahmen, die sich „besonderes Gesetzgebungsverfahren“ nennen (Art. 289 Abs. 2 AEUV). Dabei handelt sich nicht um eine standardisierte Verfahrensalternative zur ordent344 345
Zum Mandat der Regierungskonferenz F. C. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung?, ZaöRV 67 (2007), S. 1141 (1172 f.). Siehe Art. 10 Abs. 2 EUV-Liss.
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lichen Gesetzgebung, sondern um eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Verfahren, die in den einschlägigen Rechtsgrundlagen des AEUV definiert werden.346 Für einige dieser „besonderen“ Gesetzgebungsbefugnisse ist die Zustimmung des Parlaments vorgesehen, in anderen erschöpft sich die „Beteiligung“, von der Art. 289 Abs. 2 AEUV spricht, in einem bloßen Anhörungserfordernis. Wenn der Rat als Gesetzgeber tätig wird, muss er also keineswegs in jedem einzelnen Fall eine gemeinsame Position mit dem Parlament finden.347 Damit besteht hinsichtlich des Erlassverfahrens kein zwingender Unterschied zwischen einem Gesetzgebungs- und einem anderen Akt.348 Der Gesetzesbegriff des Lissabonner Vertrags ist mithin weder handlungsformen- noch strikt verfahrensbezogen.349 Der Begriff des Gesetzes weckt ferner die Erwartung eines Gesetzesvorrangs, also der Existenz einer herausgehobenen Klasse von Normen, die dem Rang nach zwar der Verfassung untergeordnet sind, anderen Hoheitsakten dieser Rechtsordnung aber als Maßstab dienen und im Konfliktfall vorgehen. Nach verbreiteter Ansicht würde eine solche Normenhierarchie mit der Einführung des Europäischen (Rahmen-) Gesetzes350 bzw. seinem Lissabonner Nachfolger, dem „Gesetzgebungsakt“, implizit errichtet.351 Allerdings sollte man erwarten, dass eine derartige Umkehr einer Strukturentscheidung des geltenden Verfassungsrechts eindeutiger zum Ausdruck gebracht würde.352 Weder der VVE noch der Lissabonner Vertrag enthalten eine Rang-Klausel, die eine generelle Hierarchiesierung vorsieht, und bezeichnenderweise hat das Präsidium des Konvents entsprechende Änderungsvorschläge aus den Reihen der Konvents-Mitglieder nicht aufgegriffen.353 Selbst wenn man annimmt, dass der Gerichtshof gleichwohl die Existenz einer impliziten Hierarchie infolge der Lissabonner Innovationen anerkennen würde, ist noch keineswegs klar, wie der Bauplan für den Stufenbau aussehen würde. Bis zu fünf Kategorien von Rechtsakten mit allgemeiner Geltung kommen als eigene Rangstufen in Frage, von denen jede gleichermaßen Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse (mit und ohne bestimmten Adressaten) umfasst. Neben den beiden Kategorien von Gesetzgebungsakten, die ihre Rechtsgrundlage stets unmittelbar in den Verträgen finden („ordentliche“ und „besondere“), bestehen zwei Kategorien von habilitierten Rechtsakten („delegierte“ Rechtsakte der Kommission und 346 347 348 349 350
351 352 353
Vgl. E. Best, Legislative Procedures After Lisbon: Fewer, Simpler, Clearer?, MJ 15 (2008), S. 85 (86 f.). Die Formulierung des Art. 16 Abs. 1 EUV-Liss. ist insoweit irreführend. So z.B. Art. 23 Abs. 2 und Art. 109 AEUV. Er ist vielmehr kompetenznormbezogen, mehr dazu sogleich, bb). Etwa J. Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, EuR 2003, S. 535 (554); Monjal (Fn. 335), S. 367; Carrera Hernández (Fn. 339), S. 1058 ff.; siehe aber Alves (Fn. 339), S. 701 ff. S. Van Raepenbusch, La réforme institutionelle du Traité de Lisbonne, Cahiers de Droit Européen 43 (2007), S. 573 (620); Craig (Fn. 343), S. 160. Bumke (Fn. 149), S. 692. Siehe z.B. den Vorschlag der EP-Abgeordneten S.-Y. Kaufmann, unter http://europeanconvention.eu.int/Docs/Treaty/pdf/24/24_Art%20I%2032%20Kaufmann%20DE.pdf (20.08.2008).
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„Durchführungsakte“ der Kommission oder des Rates).354 Die fünfte, rangmäßig besonders unklare Kategorie sind Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, die von den Organen unmittelbar auf der Grundlage der Verträge erlassen werden.355 Handelt es sich hier um eine zweistufige Hierarchie zwischen Gesetzgebungsakten und nichtGesetzgebungsakten, oder um einen differenzierteren Stufenbau aus drei, vier oder gar fünf Hierarchieebenen? Die Definition der delegierten Rechtsakte als Akt „zur Ergänzung oder Änderung“ eines Gesetzgebungsakts legt keine untergeordnete Stellung nahe, ebenso wenig Rechtsgrundlagen wie Art. 43 Abs. 3 AEUV, der dem Rat bestimmte Befugnisse im Bereich der Agrarpolitik vorbehält, die er abweichend von der weit gefassten Gesetzgebungsbefugnis des Art. 43 Abs. 2 AEUV ohne Anhörung des Parlaments ausüben kann. Die Behauptung ungeschriebener Rang-Klauseln im Lissabonner Vertrag erweist sich als methodisch schwer kontrollierbar und inhaltlich unplausibel. Den Befund zu diesem Aspekt zusammenfassend kann man festhalten, dass die Rechtsaktkategorien, die der Lissabonner Vertrag unterscheiden will, nicht auf einer schlüssigen Skala prozeduraler Legitimation beruhen und damit auch keine geeignete Grundlage für eine allgemeine Normenhierarchie des abgeleiteten Unionsrechts bilden. Auch unter dem Lissabonner Vertrag bleibt die Ordnung der rechtsetzenden Gewalt im Wesentlichen eine horizontale, sie wird von den einzelnen Rechtsgrundlagen der Verträge und von partiellen Hierarchien zwischen Basisund habilitierten Rechtsakten bestimmt.356 In ihrem jeweiligen, durch die Verfassung definierten Anwendungsbereich genießen auch nicht-Gesetzgebungsakte Vorrang vor Gesetzgebungsakten – eine Konzeption, die im französischen Verfassungsrecht nicht unbekannt ist.357 Ein dritter Aspekt dessen, was ein „Gesetz“ im nationalen Kontext ausmacht, ist die Idee des Gesetzesvorbehalts, also eines Regelungsbereichs, der für Gesetzgebung im formellen Sinne reserviert ist.358 Zwischen den einzelnen Verfassungsordnungen bestehen erhebliche Unterschiede, was genau in diesen Bereich fällt. Ein gemeinsames Kennzeichen besteht darin, bestimmte verfassungsrechtlich geschützte Freiheiten in den Vorbehaltsbereich einzubeziehen, sodass Eingriffe in diese Grundrechte nur aufgrund eines Gesetzes zugelassen sind. Liest man die GrundrechteCharta der EU, gewinnt man zunächst den Eindruck, dass ein so definierter europäischer Gesetzesvorbehalt besteht, denn nach Art. 52 Abs. 1 muss jeder Eingriff in ein Charta-Grundrecht „gesetzlich vorgesehen“ sein (franz. prévue par la loi, engl. provided for by law). Unter dem Gesichtspunkt der Konsistenz sprach einiges dafür, dem Gesetzesbegriff in Teil II des Verfassungsvertrags (der GR-Charta) keine an354 355 356 357
358
Art. 290 und 291 AEUV. Siehe Best (Fn. 346), S. 93–95. Oben, IV. 2. e). Zu genetisch bedingten Ähnlichkeiten mit den règlements autonomes nach Art. 37 der französischen Verfassung J. Ziller, National Constitutional Concepts in the New Constitution for Europe, EuConst 1 (2005), S. 452 (469–470). Ausführlich H. Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007, S. 11 ff., zum VVE S. 117 ff.
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dere Bedeutung beizumessen als dem in Teil I (der die Nomenklatur der Rechtsakte enthielt).359 Dieses Argument hat bereits durch die terminologische Neuausrichtung von Lissabon an Gewicht verloren. Zwei weitere Gründe sind zu nennen, die gegen die Idee eines durch die Charta-Grundrechte definierten europäischen Gesetzesvorbehalts sprechen. Erstens nutzt auch der Straßburger Gerichtshof die vergleichbaren Klauseln der EMRK360 nicht dazu, Gewaltenteilungsgesichtspunkte zu thematisieren, sondern legt seiner Rechtsprechung einen materiellen Gesetzesbegriff zugrunde.361 Dem kommt schon wegen Art. 52 Abs. 3 GR-Charta Gewicht zu. Zweitens wären sonst in Sachgebieten, in denen den Unionsorganen der Zugriff auf Gesetzgebungsakte im technischen Sinne versagt ist, auch materiell gerechtfertigte Eingriffe in Grundrechte gänzlich ausgeschlossen. Dies gilt namentlich für die Wettbewerbspolitik. Zweifelsohne können und sollen mit den einschlägigen Verordnungen, Richtlinien und staatengerichteten Beschlüssen, die der Lissabonner Vertrag vorsieht, auch gezielte Beeinträchtigungen von Grundrechtspositionen einzelner Wirtschaftsteilnehmer verbunden sein.362 Wenn dies wegen Art. 52 Abs. 1 GR-Charta nur im Wege der Gesetzgebung möglich wäre, würde ein Titel der Verträge Befugnisse normieren, deren Ausübung ein anderer Teil unterdrückt – kaum ein plausibles Auslegungsergebnis. Insgesamt bleiben also bis auf Weiteres der Grundrechtsschutz und das System der Rechtsakte getrennte Abteilungen des Europäischen Verfassungsrechts. Schließlich würde man erwarten, dass sich ein „Gesetz“ durch ein erhöhtes Maß an Abschirmung gegenüber der Judikative auszeichnet. Soweit die Befugnis, ein nationales Gesetz für ungültig zu erklären, den Gerichten nicht gänzlich entzogen ist, ist sie doch zumeist speziellen Spruchkörpern oder qualifizierten Verfahrensarten zugewiesen. Im Unionsrecht ist eine solche selektive Abschirmung bislang unbekannt.363 Im Gegenteil, Art. 263 Abs. 1 AEUV zählt „Gesetzgebungsakte“ ausdrücklich zu den Handlungen, die im Wege der normalen Nichtigkeitsklage angefochten werden können, auch auf Klage eines Einzelnen hin. Allerdings führt der Lissabonner Vertrag an einem Punkt scheinbar doch dazu, dass die Qualifizierung als Gesetzgebungsakt für den Rechtsschutz relevant wird. Zukünftig kann eine Nichtigkeitsklage auch ohne die Individualbetroffenheit des Klägers zulässig sein, wenn die angefochtene Handlung „Verordnungscharakter“ besitzt (Art. 263 Abs. 4 AEUV, franz. contre les actes réglementaires, engl. against a regulatory act). Die Formulierung fand sich schon im Verfassungsvertrag und wurde von den Kommentatoren so verstanden, dass hier auf die im VVE vorgesehene „Europäische Verordnung“, also auf Handlungen ohne Gesetzescharakter Bezug genommen wurde. Der 359 360 361
362 363
Hofmann (Fn. 339), S. 11–12. Z.B. in Art. 6 Abs. 1, 8 Abs. 2 und 9 Abs. 2 EMRK. Exemplarisch EGMR, Nr. 37971/97, Societe Colas Est/France, E.H.R.R. 39 (2004), S. 17, Rn. 43; die abweichende Formulierung in Nr. 32492/96 u.a., Coëme u.a./Belgien, ECHR 2000-VII, Rn. 98, ist nicht repräsentativ für die Rechtsprechung des EGMR. Zu den zahlreichen vertragsunmittelbaren Rechtsetzungsbefugnissen von Rat und Kommission im Wettbewerbsrecht siehe Art. 101–109 AEUV. Vgl. oben, III. 1.
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vereinfachte Zugang zu direktem Rechtsschutz gelte demnach nicht für Gesetzgebungsakte in Sinne des Vertrages, so die Schlussfolgerung.364 Der Verfasser hat bereits für die Rechtslage nach dem Verfassungsvertrag die gegenteilige Ansicht vertreten.365 Jedenfalls aber im veränderten terminologischen Kontext des Lissabonner Vertrags wird man nur schwer argumentieren können, dass eine legislative „Verordnung“ nach Art. 288 AEUV a priori keinen „Verordnungscharakter“ besitzen kann.366 Auf die Auslegung dieser Bestimmung wird im abschließenden Abschnitt zum Rechtsschutz noch näher eingegangen. Für die hiesigen Zwecke genügt es festzuhalten, dass das Konzept des Gesetzgebungsakts keine Bedeutung für das System des Rechtsschutzes besitzt. bb) Verstärkung öffentlicher Kontrolle als Kennzeichen der „Gesetzgebung“ Aber bestehen dann überhaupt rechtliche Eigenschaften, die unionale „Gesetzgebungsakte“ von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter unterscheiden? In der Tat verknüpft der Lissabonner Vertrag nur sehr spärlich Rechtsfolgen an diese Unterscheidung – aber sie existieren. Es handelt sich zumeist um qualifizierte Anforderungen an das Rechtsetzungsverfahren; sie können somit systematisch dem Gültigkeitsregime der Akte zugeordnet werden.367 Die Verfahrensregeln, die ausschließlich für Gesetzgebungsakte gelten, betreffen die Transparenz der unionalen Entscheidungsprozesse. Nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch der Rat muss in öffentlicher Sitzung tagen und abstimmen, wenn er als Gesetzgeber tätig wird, also über einen Gesetzgebungsvorschlag im technischen Sinne entscheidet.368 Nach dem Protokoll Nr. 1 über die Rolle der nationalen Parlamente müssen Gesetzgebungsvorschläge (und nur diese) frühzeitig den nationalen Parlamenten zugeleitet werden.369 Das Frühwarnsystem, das das Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit errichtet, um die nationalen Parlamente in die Subsidiaritätskontrolle einzubeziehen, kommt ebenfalls nur zur Anwendung, wenn es um einen Gesetzgebungsvorschlag geht. Nach dem Lissabonner Vertrag soll also ein „Gesetzgebungsakt“ besonders intensiver öffentlicher Kontrolle unterworfen sein, wobei die nationalen Parlamente als eine Brücke zwischen den Unionsorganen und den Diskursen der Öffentlichkeit fungieren. Hier zeigt sich eine überraschende Parallele zu den staatlichen Verfassungssystemen. 364
365 366 367 368 369
So F. C. Mayer, Individualrechtsschutz im Europäischen Verfassungsrecht, DVBl. 2004, S. 606 (610 ff.); J. Temple Lang, Declarations, Regional Authorities, Subsidiarity, Regional Policy Measures, and the Constitutional Treaty, ELRev. 29 (2004), S. 94 (102); W. Cremer, Der Rechtsschutz des Einzelnen gegen Sekundärrechtsakte der Union gem. Art. III-270 Abs. 4 Konventsentwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa, EuGRZ 2004, S. 577 (579, 582); Borowski (Fn. 221), S. 910. A. v. Bogdandy/J. Bast, La loi européenne: Promise and Pretence, in: D. Curtin u.a. (Hrsg.), The EU Constitution: The Best Way Forward?, 2005, S. 171 (176). Wie hier U. Everling, Rechtsschutz in der EU nach dem Vertrag von Lissabon, EuR Beiheft 1/2009, S. 71 (74). Vgl. aber auch Art. 5 Abs. 2 AEUV. Art. 16 Abs. 8 EUV-Liss. und Art. 15 Abs. 2 AEUV. Bekräftigt durch Art. 12 lit. a EUV-Liss.
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Indem sie für ausgewählte Rechtsetzungsprojekte ein parlamentarisches Erlasserfahren vorschreiben, befördern die Gesetzesvorbehalte auch im nationalen Kontext eine öffentliche Auseinandersetzung und lenken die knappe Ressource ‚öffentliche Aufmerksamkeit‘ auf politisch bedeutsame Fragen.370 Wenn die Logik des unionalen Gesetzes-Begriffs die Intensivierung öffentlicher Kontrolle des Unionshandelns ist, dann kann es stimmigerweise nicht den Rechtsetzungsorganen selbst überlassen bleiben, ob ein Rechtsakt Gesetzescharakter besitzt oder nicht.371 Entsprechend eröffnen nur sehr wenige Rechtsgrundlagen dem Rat insoweit eine Wahlmöglichkeit, insbesondere die sog. Flexibilitätsklausel des Art. 352 Abs. 1 AEUV (derzeit Art. 308 EG).372 Im Übrigen erlaubt erst eine Gesamtschau der vertraglichen Rechtsgrundlagen, insbesondere eine detaillierte Analyse des AEUV, gehaltvolle Aussagen darüber, ob die Unterscheidung von Gesetzgebungs- und anderen Rechtsakten auf nachvollziehbaren Kriterien beruht. Angesichts dessen erstaunt es, dass in den Gremien des Konvents so gut wie keine Debatte darüber stattfand, welche Rechtsgrundlagen des Verfassungsvertrags Bestandteil der zukünftigen domaine de la loi européenne bilden und welche Rechtsgrundlagen als nicht-legislativ eingestuft werden sollen.373 Das Ergebnis der Klassifizierungsbemühungen jedenfalls ist, um es vorsichtig zu formulieren, nicht in vollem Umfang überzeugend. Die Wettbewerbspolitik wurde bereits als Beispiel angeführt: Erlässt der Rat wirklich einen Rechtsakt „ohne Gesetzescharakter“, wenn er die allgemeinen Regeln für die Durchführung der Wettbewerbsregeln festlegt, wie er dies etwa mit Verordnung Nr. 1/2003 getan hat?374 Wenn er die rechtlichen Voraussetzungen für die Verwaltungskooperation im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts festlegt, also z.B. für den grenzüberschreitenden Datenaustausch zwischen Polizeibehörden?375 Wenn der Rat die Grenzen und Bedingungen festlegt, unter denen die EZB Sanktionen gegenüber privaten Wirtschaftsteilnehmern erlassen darf?376 Dies alles wirkt, wie Dougan zu Recht kritisch bemerkt hat, „ziemlich willkürlich“.377 Gerade das erhöhte Maß an öffentlicher Kontrolle 370 371 372
373
374 375 376 377
Ausführlich v. Bogdandy (Fn. 148), S. 199 ff. Van Raepenbusch (Fn. 351), S. 618. Ferner Art. 203 und 349 Abs. 1 AEUV; (nur) bei einer solchen Rechtsgrundlage ist der Rat gehalten zu erklären, ob er im konkreten Fall einen Rechtsakt mit oder ohne Gesetzescharakter erlassen wollte. Bei habilitierten Rechtsakten, die niemals Gesetzgebungsakte im formellen Sinne sind, wird dies bereits durch die Bezeichnung signalisiert (vgl. Art. 290 Abs. 3 und 291 Abs. 4 AEUV). Eine detailierte Analyse der Beratungen des Konvents und der Inkonsistenzen ihrer Ergebnisse bei J. B. Liisberg, The EU Constitutional Treaty and Its Distinction Between Legislative and Non-Legislative Acts – Oranges into Apples?, Jean Monnet Working Paper Nr. 1 (2006), unter www.jeanmonnetprogram.org. Vgl. Art. 193 AEUV. Vgl. Art. 74 AEUV. Vgl. Art. 129 Abs. 4 und 132 Abs. 3 AEUV. M. Dougan, The Convention’s Draft Constitutional Treaty: Bringing Europe Closer to its Lawyers?, ELRev. 28 (2003), S. 763 (784): „rather arbitrary“; bekräftigt in ders., The Treaty of Lisbon 2007: Winning Minds, not Hearts, CMLRev. 45 (2008), S. 617 (647): „a combination of shallow conception and poor execution“.
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und parlamentarischer Beteiligung auf nationaler und europäischer Ebene, also die Folgen einer Klassifizierung als (besondere) Gesetzgebungsbefugnisse, scheinen die Vertragsautoren davon abgehalten zu haben, diese und andere vertragsunmittelbare Rechtsetzungsbefugnisse als nicht zum Bereich der Gesetzgebung gehörend einzustufen.378 Eine Gesamtbewertung der neuen Kategorie der „Gesetzgebungsakte“ fällt durchwachsen aus. Einerseits birgt, wie in den meisten anderen Abteilungen des Europäischen Verfassungsrechts auch, die vorgeschlagene Reform der Rechtsaktkategorien keine revolutionären Neuerungen, sondern entwickelt die vorgefundenen Strukturen weiter. Die Strukturentscheidungen der geltenden Verträge bleiben unangetastet, einschließlich derjenigen zugunsten der nicht-hierarchischen Einheit des organgeschaffenen Rechts. Im Bereich der Handlungsformen dürften Form und Inhalt in der Lissabonner Fassung besser im Einklang miteinander stehen als in der ambitionierteren Sprache des Verfassungsvertrags. Andererseits würde der Lissabonner Vertrag insofern eine beachtliche Neuerung bringen, als er erstmals die formale Kategorisierung von unionalen Rechtsakten dafür benutzt, über die Anwendbarkeit besonderer Transparenzregeln für die Rechtsetzung zu entscheiden. Dieser Ansatz ist zu begrüßen, weil er an das demokratische Ideal anschließt, dass das Gesetzgebungsverfahren für Fragen von allgemeinem Interesse reserviert sein sollte, über die eine intensive öffentliche Diskussion zu führen ist. Von hier aus wäre es nur ein kleiner Schritt für den EuGH, sich der neuen Unterscheidung zu bedienen und eine unterschiedliche Dichte judikativer Kontrolle zu etablieren, die wohl im umgekehrten Verhältnis zum Niveau der verfahrensmäßigen Garantien öffentlicher Kontrolle stünde. Die Idee des Vertragsgebers, das System der Rechtsakte mit bestimmten Transparenzregeln zu verknüpfen, könnte sich als Beginn einer langfristigen Entwicklungslinie herausstellen.379 Umso unglücklicher ist es, dass der Lissabonner Vertrag die Schwächen des Verfassungsvertrags fortschreibt, was die Durchführung der Unterscheidung angeht. Wichtige Rechtsgrundlagen des AEUV sind weiterhin prinzipienlos als nichtlegislativ klassifiziert, ganz abgesehen von den Aktivitäten des Europäischen Rates und des Rates in der GASP, die weiterhin vollständig vom Bereich der Gesetzgebung ausgeschlossen sein sollen (lies: für die die besonderen Mechanismen öffentlicher Kontrolle nicht greifen).380 Es mag zutreffen, wie Liisberg milde angemerkt hat, dass die diskursstrategische Bedeutung der „mission of distinction“ vor allem darin bestanden hat, dem verfassungspolitischen Anliegen des Europäischen Parlaments (und seiner Verbündeten) zum Durchbruch zu verhelfen, seine Befugnisse auszuweiten.381 Dies wiegt jedoch die konzeptionellen Schwächen einer rechtlichen 378 379 380 381
K. Lenaerts, A Unified Set of Instruments, EuConst 1 (2005), S. 57 (61); Lenaerts/Gerard (Fn. 139), S. 311, 313. Zur Bestätigung dieser Hypothese siehe Rs. C-133/06 (Fn. 27). Siehe Art. 15 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 EUV-Liss. Liisberg (Fn. 373), S. 42 f., unter 4.
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Unterscheidung nicht auf, die kaum ein „harmloses Ornament“382 des Europäischen Verfassungsrechts bleiben, sondern ein dogmatisches Eigenleben führen wird. 2. Neuerungen für den Rechtsschutz des Einzelnen Fragen des Rechtsschutzes standen nicht im Mittelpunkt der Diskussionen über den Verfassungsvertrag und seinen Nachfolger. Ein Grund dafür ist, dass bereits der Vertrag von Nizza durch Reformen der Gerichtsverfassung die „Erweiterungsfähigkeit“ des EuGH sichergestellt hatte. Zwei Fragen waren aber offen geblieben: die unbestrittenen Rechtsschutzdefizite der Säulenstruktur (a) und die mögliche Neujustierung der Individualnichtigkeitsklage (b). a) Ausweitung des Normalfalls: zur Demontage der dritten Säule Hinsichtlich des Rechtsschutzes in der vormaligen dritten Säule fällt die Entscheidung zugunsten des verfassungsrechtlichen Normalfalls ähnlich klar aus wie bei den Handlungsformen.383 Art. 35 EU entfällt zugunsten der allgemeinen Regeln über den Rechtsschutz, ebenso die Sonderbestimmungen des Art. 68 EG.384 Lediglich die in ihrer Reichweite ungeklärte Limitierung der Kontrollbefugnis des Gerichtshofs gegenüber der „Gültigkeit und Verhältnismäßigkeit“ bestimmter Maßnahmen der Polizei- und Strafverfolgungsorgane nach Art. 35 Abs. 5 EU wird in Art. 276 AEUV perpetuiert. Es handelt sich wohl um ein prozessuales Komplement zu der materiellen Aufgabenzuweisung an die Mitgliedstaaten, primär für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit Sorge zu tragen, die sich in verschiedenen Vorschriften niedergeschlagen hat (insb. Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss. und Art. 72 AEUV). Anders als der besonders problematische Art. 68 Abs. 2 EG, der sich auch auf Handlungen von Unionsorganen erstreckte, sind nach Art. 276 AEUV lediglich gewisse Handlungen der Mitgliedstaaten der Jurisdiktion des EuGH entzogen. Dies führt deshalb nicht in einen unlösbaren Konflikt mit dem Rechtsstaatsprinzip, weil insoweit eine Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte eingreifen kann.385 Eine weitere Ausweitung des Normalfalls ist an dieser Stelle noch zu vermerken, deren symbolische Bedeutung die praktische allerdings überragt. Erstmals sollen auch Handlungen des Europäischen Rates gerichtlich kontrollierbar sein, sogar auf Klage eines Einzelnen hin (Art. 263 Abs. 1, 4 AEUV). Dies ist konsistent mit 382 383 384
385
Ebd., S. 45. F. de Witte, The European Judiciary After Lisbon, MJ 15 (2008), S. 43 (49); J. Monar, in diesem Band, S. 771. Allerdings unterliegen gemäß Art. 10 des Protokolls Nr. 36 die nach Art. 34 EU erlassenen Rechtsakte einer fünfjährigen Übergangszeit, in der für sie das Regime des Art. 35 EU grundsätzlich weiter gilt. In der GASP bleibt es beim generellen Ausschluss der Zuständigkeit des Gerichtshofes (Art. 24 Abs. 1 EUV-Liss., Art. 275 Abs. 1 AEUV), wobei eine Rückausnahme für privatgerichtete Sanktionen besteht (Art. 275 Abs. 2 AEUV), kritisch T. Corthaut, An Effective Remedy for All?, Tilburg Foreign Law Rev. 12 (2005), S. 110. Vgl. R. Uerpmann-Witzack und D. Thym, beide in diesem Band, S. 221 f. bzw. S. 480 f.
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der Qualifizierung als Organ der Union (Art. 13 Abs. 1 EUV-Liss.) und für das rechtsstaatliche Selbstverständnis der EU im Sinne der Les Verts-Rechtsprechung unverzichtbar. Die Neuregelung stellt klar, dass an der Spitze des politischen Systems der Union kein verfassungsrechtliches Vakuum existiert, und stärkt so die Normativität der Europäischen Verfassung.386 b) Modifizierung des Normalfalls: zur Reform des Individualrechtsschutzes Die beiden Grundnormen des unionalen Rechtsschutzsystems nach dem Lissabonner Vertrag sind die individuelle Garantie des Art. 47 GR-Charta und der erneuerte Auftrag an den Gerichtshof in Art. 19 Abs. 1 EUV-Liss. zur Wahrung des Rechts im Sinne der rule of law. Hinzu tritt die eigens hervorgehobene Pflicht der Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen – und soweit damit die Gerichte angesprochen sind: sie zu nutzen –, damit im Anwendungsbereich des Unionsrechts effektiver Rechtsschutz gewährleistet ist (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV-Liss.). In diesen drei, teilweise überlappenden Bestimmungen findet der Wille des Vertragsgebers Ausdruck, die von der Rechtsprechung entwickelten Grundstrukturen des bestehenden Systems zu bekräftigen. Zu den politisch weniger sichtbaren Kontinuitätsbekenntnissen zählt die Sanktionierung der Politik des Gerichtshofs, das Rechtsschutzsystem möglichst handlungsformenneutral auszugestalten. Der Wortlaut der formenbezogen formulierten Bestimmungen wurde durchweg an die Interpretationen der Rechtsprechung angepasst. So verschwindet die Bezugnahme auf die Verordnung aus Art. 231 EG (in Art. 264 AEUV: „Handlung“) und Art. 241 EG (in Art. 277 AEUV: „Rechtsakt mit allgemeiner Geltung“). Übertrieben wird diese Tendenz zur Ent-Formalisierung in Art. 299 Abs. 1 AEUV, der anders als Art. 256 Abs. 1 EG alle „Rechtsakte“, die eine Zahlungspflicht auferlegen, zu vollstreckungsfähigen Handlungen erklärt. Es ist nicht recht verständlich, warum die Bewirkungssperre zugunsten der förmlichen Entscheidung bzw. nach neuer Terminologie des adressatenbezogenen Beschlusses aufgehoben wurde. Dass auch Verordnungen oder sogar informelle Handlungen Titelfunktion besitzen sollen, widerspricht dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Weit mehr Beachtung hat dagegen die Neufassung des Art. 230 Abs. 4 EG gefunden. Je nach dem, wie man das Verhältnis der Entscheidungs-Begriffe in Art. 230 und 249 EG sieht, liegt in Art. 263 Abs. 4 AEUV mit seinem formneutralen Begriff „Handlungen“ eine grundlegende Neukonzeption oder schlicht eine Kodifizierung der Rechtsprechung seit Codorniu.387 Das Enumerationsprinzip ist damit auch im Bereich des Individualrechtsschutzes ausdrücklich überwunden. Dass sich durch das Verschwinden des Entscheidungs-Begriffs aus den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Nichtigkeitsklage neue Spielräume für eine Überwindung der Plaumann-Formel ergeben, ist denkbar, aber keineswegs zwingend.388
386 387 388
Vgl. A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 44 f. Hierzu ausführlich oben, Teil III. 2. In diese Richtung Mayer (Fn. 364), S. 610.
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Interessant ist an dieser Stelle, dass Weiterentwicklungen dieser Art ganz der Rechtsprechung überantwortet bleiben. Der Konvent und die nachfolgenden Regierungskonferenzen haben sich, ungeachtet der UPA-Entscheidung des Gerichtshofs, gegen eine grundlegende Änderung der vertraglichen Bestimmungen über den Individualrechtsschutz entschieden. Konsensfähig war nur eine punktuelle Ausweitung der Direktklagemöglichkeiten. Es handelt sich um die bereits kurz angesprochene Spezialregelung für Rechtsakte „mit Verordnungscharakter“, bei denen die unmittelbare Betroffenheit des Klägers für die Klagebefugnis ausreicht, wenn die Akte „keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen“ (Art. 263 Abs. 4 AEUV, 3. Fall). Sie wird, je nach Positionierung in der Grundsatzdiskussion über die Reform des Individualrechtsschutzes, als (zu) kleiner Schritt in die richtige Richtung oder als passgenaue Feinjustierung begrüßt.389 Diejenigen Autoren, die den Begriff „Verordnungscharakter“ als Bezugnahme auf die Nomenklatur der Handlungsformen des VVE gedeutet haben (mit der Folge, dass Akte der Gesetzgebung von der erleichterten Anfechtbarkeit ausgeschlossen bleiben),390 müssten eigentlich eine grundlegende Inhaltsänderung konstatieren: Im Gegensatz zur Europäischen Verordnung des VVE steht die Verordnung des Lissabonner Vertrags ja durchaus für Gesetzgebungsakte zur Verfügung.391 Nach der hier vertretenen Ansicht handelt es sich bei Rechtsakten mit Verordnungscharakter – schon nach dem VVE und somit unverändert – um Handlungen mit Normcharakter, also um Rechtsakte mit allgemeiner Geltung unter Einschluss von Gesetzgebungsakten im formellen Sinne. Dies beruht auf den folgenden Überlegungen: Die Entstehungsgeschichte der Bestimmung ist bei näherer Betrachtung wenig eindeutig.392 Die vom Konventions-Präsidium durchgesetzte Verwendung eines undefinierten Begriffs trägt durchaus Züge eines dilatorischen Formelkompromisses, der der Rechtsprechung weite Konkretisierungsspielräume lässt.393 Dass „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ jedenfalls nicht gleichzusetzen sind mit „Verordnungen“, ergibt die Durchsicht der verschiedenen Sprachfassungen, wobei die 389
390 391
392
393
Siehe einerseits etwa C. Koch, Locus standi of Private Applicants Under the EU Constitution, ELRev. 30 (2005), S. 511 (527), andererseits J. A. Usher, Direct and Individual Concern: an Effective Remedy or a Conventional Solution?, ELRev. 28 (2003), S. 575 (599); zur Reformdiskussion oben, II. 4. c). Nachweise oben in Fn. 364. Für eine implizite Änderung Everling (Fn. 366), 74; für ein Festhalten an der bisherigen Lesart aber z.B. M. Schröder, Neuerungen im Rechtsschutz der EU durch den Vertrag von Lissabon, DÖV 2009, S. 61 (64). Vgl. CONV 636/03, Schlussbericht des Arbeitskreises über die Arbeitsweise des Gerichtshofs, Rn. 20–22; alle späteren Versuche einer technischen „Klarstellung“ scheiterten aus Mangel an Klarheit. Zum Ganzen M. Varju, The Debate on the Future of the Standing Under Article 230(4) TEC in the European Convention, EPL 10 (2004), S. 43 (48 ff.); Liisberg (Fn. 373), S. 38 f., unter 3.5.1.; Mayer (Fn. 364), S. 610 f. Für deren Nutzung: S. Flogatis/A. Pottakis, Judicial Protection Under the Constitution, EuConst 1 (2005), S. 108 (109); wohl auch R. Barents, The Court of Justice in the Draft Constitution, MJ 11 (2004), S. 121 (134).
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Ähnlichkeit der gewählten Begriffe je nach Amtssprache erheblich variiert.394 Konsultiert man die EuGH-Rechtsprechung zu der üblichen Verwendung des französischen Schlüsselbegriffs réglementaire, stellt man fest, dass er kein Gegegenbegriff, sondern ein positives Attribut eines Legislativakts ist; als gedachter Gegenbegriff zu actes règlementaires fungieren actes individuels. Die Übersetzungsvarianten zu caractère réglementaire lauten „Verordnungscharakter“ (engl. nature as a regulation),395 aber auch „Rechtsetzungscharakter“ (legislative nature)396 und „Normcharakter“ (nature of a regulation).397 Dass der Begriff „Verordnungscharakter“ im gemeinschaftsrechtlichen Kontext bislang gleichbedeutend mit „normativer Charakter“ ist, verdeutlicht nicht zuletzt die Lektüre des Urteils Confédération nationale, also jenes traditionsbegründenden Urteils zur Anfechtbarkeit von Verordnungen, auf dessen partielle Überwindung die Neufassung des Art. 230 Abs. 4 EG gerade abzielt.398 Unter teleologischen Aspekten schließlich sprechen zwei Überlegungen für eine Lesart, nach der die Unterscheidung zwischen Gesetzgebungs- und anderen Akten, die der Lissabonner Vertrag trifft, für die Festlegung der erleichtert anfechtbaren Rechtsakte ohne Bedeutung ist. Beide wurzeln im Rechtsstaatsprinzip und haben mit adäquater Formung und Kontrolle von Hoheitsgewalt zu tun. Erstens wäre es aus der Perspektive der Handlungsformen wenig glücklich, wenn just in dem Moment, in dem der lange Weg zur Formenneutralität des Rechtsschutzes zu seinem Ziel finden könnte, neue aktbezogene Unterscheidungen vorgenommen werden, die die Kohärenz eines offenen, nicht-hierarchischen und nach rechtlichen Wirkungen differenzierten Systems in Frage stellen könnten. Der ohnehin nicht durchgängig überzeugend durchgeführten Unterscheidung nach legislativen und nicht-legislativen Handlungen sollte deshalb keine Relevanz für den Rechtsschutz zukommen. Dieses Ergebnis wird noch von einer zweiten Überlegung getragen, die das Anliegen eines effektiven Rechtsschutzes für die Betroffenen verfolgt. Soweit die punktuelle Erweiterung der direkten Anfechtungsmöglichkeiten nötig ist, um Lücken im dezentralen System des Rechtsschutzes gegen Normativakte zu schließen, kann es nicht angehen, diese Lücken nur für einen Teil der problematischen Konstellationen zu schließen; Abschirmung gegen jeglichen Rechtsschutz verdienen rechtswidrige Gesetzgebungsakte jedenfalls nicht. Hier ist eine prinzipienorientierte Auslegung des Vertrags gefragt, um dem programmatischen Entwurf einer Union, die auf der rule of law beruht, besser gerecht zu werden und die verfassungsrechtlich geforderte Balance von Handlungsmacht und Justizgewähr zu halten. 394
395 396 397 398
Siehe die Hinweise auf Sprachfassungen, die von „regelfestsetzenden“ Rechtsakten sprechen: H. H. Fredriksen, Individualklagemöglichkeiten vor den Gerichten der EU nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, ZEuS 2005, S. 99 (120); dort auch zur Frage, ob Beschlüsse Verordnungscharakter haben können (119 ff.); dazu auch Cremer (Fn. 364), S. 579 ff. EuGH, Rs. 101/76 (Fn. 208), Rn. 24. EuGH, Rs. C-76/01 P, Eurocoton/Rat, Slg. 2003, I-10091, Rn. 68. EuGH, Rs. C-496/01, Kommission/Frankreich, Slg. 2004, I-2351, Rn. 13. EuGH, verb. Rs. 16/62 und 17/62 (Fn. 42), insb. Ls. 3 und 5.
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Verfassungsgerichtsbarkeit
Franz C. Mayer *
I.
Bestandsaufnahme: Der EuGH und nationale oberste Gerichte – Kollision oder Kooperation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prozedurale Perspektive: Die Vorlageverpflichtung nach Art. 234 EG (Art. 267 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materiell-rechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Analyse und theoretische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Möglichkeiten zur rechtlichen Gestaltung der Letztentscheidungsfrage . . . . . . . 2. Möglichkeiten einer theoretischen Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Neuere Entwicklungen im Verhältnis zwischen europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gerichte und die Kernthemen des Reformprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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„Der Richter war in Europa niemals lediglich ‚la bouche qui prononce les paroles de la loi‘.“1 Diese Feststellung des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahre 1987 gilt unabhängig von mitgliedstaatlichen Gerichtstraditionen auch für das europäische Verfassungsrecht. Entsprechend verbirgt sich hinter den Fragen nach der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit, nach der Letztentscheidung im Mehrebenensystem der Europäischen Union und dem Verhältnis zwischen dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und den obersten Gerichten in den Mitgliedstaaten zweierlei: Das Verhältnis zwischen den Gerichten ist einerseits Gegenstand einer europäischen Verfassungsrechtswissenschaft, zugleich sind die Gerichte Akteure in der Entwicklung eines europäischen Verfassungsrechts. Die Befassung mit dem Verhältnis zwischen den Gerichten steht also nachfolgend im Vordergrund der Thematik Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, weni-
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Ich danke Miriam Söhne und Imke Stanik, Bielefeld, für ihre Unterstützung bei der zweiten Auflage dieses Beitrages. BVerfGE 75, 223 (243) – Kloppenburg, unter Hinweis auf das berühmte Zitat von Montesquieu; siehe dazu auch I. Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27 (35).
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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ger eine Darstellung des Rechtsschutzsystems.2 Dieser Ansatz setzt eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme der Rechtsprechung voraus (I.). Die Analyse und theoretische Einordnung der Bestandsaufnahme (II.) lässt sich durch Überlegungen zu den jüngsten Entwicklungen im Verhältnis zwischen europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit ergänzen (III.).
I. Bestandsaufnahme: Der EuGH und nationale oberste Gerichte – Kollision oder Kooperation? Auf der europäischen Ebene ist oberstes Gericht der EuGH in Luxemburg.3 Weniger übersichtlich ist demgegenüber die Lage auf der nationalen Ebene, so dass die für den EuGH als „Gesprächspartner“ in Betracht kommenden Spruchkörper zunächst identifiziert werden müssen. Für den vorliegenden Untersuchungszusammenhang sind als gerichtliche Letztentscheidungsorgane Verfassungsgerichte und Obergerichte von Interesse.4 Spezielle Verfassungsgerichte finden sich, neben obersten Fachgerichten, in Deutschland (BVerfG), Österreich (Verfassungsgerichtshof), Italien (Corte Costituzionale), Portugal (Tribunal Constitucional), Spanien (Tribunal Constitucional) und seit 1996 auch Luxemburg (Cour constitutionnelle). Die meisten der 2004/2007 beigetretenen Mitgliedstaaten verfügen über ein Verfassungsgericht: Lettland (Satversmes tiesa), Litauen (Konstitucinio Teismo), Malta (Qorti Kostituzzjonali), Polen (Trybunal Konstytucyjny), Tschechische Republik (Ústavní soud), Slowakei (Ústavny súd), Slowenien (Ustavno sodi ), Ungarn (Alkotmánybíróság) sowie Bulgarien ( ǟǣǢǦǧǝǧǨǫǝǣǢǚǢǦǯǙǢǕǥǚǤǨǖǠǝǟǕǖǯǠǘǕǥǝǴ) und Rumänien (Curtea Constitutionale). Die Beitrittskandidaten Türkei und Kroatien verfügen mit dem Anayasa Mahkemesi und dem Ustavni sud Republike Hrvatske ebenfalls über Verfassungsgerichte. In Irland (Supreme Court) und Dänemark (Højesteret) finden sich oberste Gerichte, die gleichzeitig auch Verfassungsgerichte sind, oberste Gerichte finden sich auch in Estland (Riigikohus) und Zypern (Anotato Dikastirio tis Dimokratias5). In Großbritannien übt die zweite Kammer des Parlamentes, das House of Lords, die Funktionen eines Verfassungsgerichtes und eines obersten Gerichtes aus (ab Oktober 2009 gehen diese auf einen Supreme Court über). In den Niederlanden besteht 2
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Zu anderen Ansätzen siehe etwa M. Claes, The National Courts’ Mandate in the European Constitution, 2006, sowie S. Oeter und F. Merli, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 66 (2007), S. 361 bzw. S. 392 m.w.N. Art. 19 EUV-Liss. macht deutlich, dass zwischen dem Gerichtshof als Sammelbegriff für die europäischen Gerichte und als Bezeichnung für das oberste dieser Gerichte zu unterscheiden ist. Zu den Obergerichten und Verfassungsgerichten in den Mitgliedstaaten siehe F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 71 ff.; C. Tomuschat, Das Bundesverfassungsgericht im Kreise anderer nationaler Verfassungsgerichte, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 245. Ανωτατο Δικαστηριο της Δημοκρατιας.
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eine Reihe von gleichgeordneten obersten (Fach-) Gerichten, darunter der Raad van State und der Hoge Raad. Ähnlich ist die Verfassungslage in Schweden, wo es als oberste (Fach-) Gerichte ein Oberstes Gericht (Högsta domstolen) und ein Oberstes Verwaltungsgericht (Regeringsrätten) gibt, und Finnland (Korkein oikeus, Oberstes Gericht, und Korkein hallinto-oikeus, Oberstes Verwaltungsgericht). In Finnland besteht zudem ein Verfassungsausschuss des Parlamentes (Perustuslakivaliokunta), der eine Normentwurfskontrolle ausübt, in Schweden bilden Richter der beiden obersten Gerichte einen Rat (Lagrådet) zur nichtverbindlichen Normentwurfskontrolle. In Frankreich existiert formal neben den obersten Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Conseil d’Etat6) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Cour de cassation) kein Verfassungsgericht. Mit dem Conseil constitutionnel übt jedoch ein Organ im Bereich der Normentwurfskontrolle zunehmend Funktionen einer Verfassungsgerichtsbarkeit aus. In Belgien schließlich existierte neben den obersten Gerichten (Conseil d’Etat und Cour de cassation) seit 1983 eine zunächst auf die Kompetenzkontrolle spezialisierte Cour d’arbitrage. Seit 2007 heisst dieses Gericht Cour constitutionnelle und kann als vollwertiges Verfassungsgericht angesehen werden. In Griechenland besteht neben den obersten Fachgerichten Symvoulio Epikrateias (Staatsrat),7 Elegktiko Synedrio (Rechnungshof)8 und Areios Pagos (Oberstes Gericht)9 ein Oberster Sondergerichtshof (Anotato Eidiko Dikastirio),10 der aus Richtern der obersten Fachgerichte gebildet wird. Vergleichbare Einrichtungen finden sich vielfach in Systemen mit gleichrangigen obersten Fachgerichten, um eine Lösung von Konflikten und Widersprüchen zwischen solchen Gerichten zu ermöglichen. So existiert in Frankreich etwa ein Tribunal des Conflits zwischen Cour de cassation und Conseil d’Etat, in Deutschland ein Gemeinsamer Senat der obersten Bundesgerichte. Der summarische Überblick über die obersten Gerichte in den EU-Mitgliedstaaten ergibt ein heterogenes Bild.11 Es finden sich zwar durchaus Parallelen und Gemeinsamkeiten, bis hin zu Verwandtschaftsverhältnissen, etwa über die Vorbildrolle des österreichischen VfGH für das deutsche, italienische, spanische und polnische Verfassungsgericht oder die Orientierung am französischen Modell der Verwaltungsrechtspflege durch einen Staatsrat (Belgien, Niederlande, Griechenland, 6
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Dem französischen Modell entsprechend übt bei als Staatsrat (Conseil d’Etat) bezeichneten Obergerichten (Belgien, Niederlande, Griechenland, bis 1996 auch Luxemburg) regelmäßig nur eine spezielle Rechtsprechungsabteilung gerichtliche Funktionen aus, während andere Abteilungen im Normsetzungsverfahren beratende und gutachterliche Aufgaben wahrnehmen. Die nähere Bezeichnung der jeweiligen gerichtlichen Abteilung, etwa in Frankreich Section du Contentieux, in den Niederlanden (seit 1994) Afdeling Bestuursrechtspraak, wird hier nicht verwendet. Συμβουλιο τηζ Επικρατειας. Ελεγκτικο Συνεδριο. Αρειος Παγος. Ανωτατο Ειδικο Δικαστηριο. Diese Heterogenität erstreckt sich auf die Rolle des Richters in den verschiedenen Rechtskulturen, siehe P. Pernthaler, Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat, JBl. 2000, S. 691.
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Luxemburg). Es überwiegen jedoch die Kontraste: Traditionsreiche und altehrwürdige Institutionen (House of Lords, Conseil d’Etat) finden sich neben neu gegründeten Gerichten (in Belgien, Luxemburg oder Polen). Mit umfassenden Kompetenzen ausgerüstete Verfassungsgerichte (BVerfG, VfGH) stehen neben weniger umfassend ausgestatteten Gerichten. Teilweise bestehen überhaupt keine eigenständigen Verfassungsgerichte (Dänemark, Irland), teilweise ist bereits die Vorstellung einer Verfassungsgerichtsbarkeit nicht ohne weiteres mit dem jeweiligen nationalen Verfassungsverständnis vereinbar (Frankreich, Finnland, Niederlande). Ein erster Zugang zum Verständnis des Verhältnisses zwischen EuGH und diesen nationalen obersten Gerichten ergibt sich über eine bereits im Primärrecht vorgesehene Verbindung zwischen den Gerichtsebenen: das Vorlageverfahren zum EuGH (1.). Darüber hinaus bestehen mit der Frage nach dem Grundrechtsschutz sowie der Frage nach der Letztentscheidung über Kompetenzüberschreitungen der europäischen Ebene konkrete Themenfelder des materiellen europäischen Verfassungsrechts, die das Verhältnis zwischen den Gerichten geprägt haben (2.). 1. Prozedurale Perspektive: Die Vorlageverpflichtung nach Art. 234 EG (Art. 267 AEUV) Das Europarecht sieht in zwei Fällen für nationale Gerichte eine Pflicht zur Vorlage an den EuGH vor: einmal, wenn ein mitgliedstaatliches Gericht gleich welcher Instanz Zweifel an der Gültigkeit von Europarecht hat, weil der EuGH ein Verwerfungsmonopol über Europarecht beansprucht.12 Zum anderen besteht eine Pflicht zur Vorlage an den EuGH im Falle des Art. 234 Abs. 3 EG (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Danach ist ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können,13 auch für Auslegungsfragen des Europarechts zur Anrufung des EuGH verpflichtet. Damit bestehen auf Ebene des Primärrechts konkrete Handlungspflichten für die obersten nationalen Gerichte, die durch EuGH-Rechtsprechung noch weiter konkretisiert worden sind (a). Ob die nationalen obersten Gerichte diese Pflichten beachten, lässt sich rechtsempirisch überprüfen (b). a) Die Vorlageverpflichtung nationaler oberster Gerichte aus europarechtlicher Perspektive Nach Versuchen mitgliedstaatlicher Gerichte, insbesondere14 des französischen Conseil d’Etat,15 für Auslegungsfragen des Europarechts die Kategorie der offen-
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EuGH, Rs. 314/85, Foto-Frost, Slg. 1987, 4199. Dazu EuGH, Rs. C-99/00, Lyckeskog, Slg. 2000, I-4839, Rn. 10 ff.; siehe auch Art. 35 EU und Art. 369 VVE. Siehe auch BFH, EuR 1985, S. 191 – Kloppenburg; Der EGMR stand hier auf der Seite des EuGH, siehe EGMR, Nr. 36677/97, Dangeville/Frankreich, ECHR 2002-III. CE 9.01.1970, Sieur Cohn-Bendit, Rec. S. 15; CE Ass. 22.12.78, Ministre de l’Intérieur c. Sieur Cohn-Bendit, Rec. S. 524, Schlussfolgerungen Genevois, Revue Trimestrielle de Droit Européen 15 (1979), S. 157 = EuR 1979, S. 292 (deutsche Übersetzung).
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kundigen Auslegung (acte clair 16) zu etablieren, hat der EuGH die Frage der Vorlagepflicht mit einer eigenen, europarechtlichen acte-clair-Doktrin entschieden, die einen überaus strengen Maßstab formuliert.17 Keine Vorlagepflicht besteht danach nur dann, wenn eine Auslegungsfrage nicht entscheidungserheblich oder bereits entschieden ist oder die Auslegung des Europarechts offenkundig erscheint.18 Aus Sicht des Europarechts ist eine nationale Gerichtsentscheidung, die die vom EuGH aufgestellten Grundsätze zur Vorlagepflicht mißachtet, eine Vertragsverletzung im Sinne der Art. 226, 227 EG (Art. 258, 259 AEUV). Soweit ein letztinstanzliches Gericht die Vorlagepflicht missachtet, wird regelmäßig Art. 234 Abs. 3 EG (Art. 267 Abs. 3 AEUV) verletzt sein. Rechtsakte von Gerichten werden trotz des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit19 dem Mitgliedstaat zugerechnet.20 Nach Art. 228 EG (Art. 260 AEUV) kann der EuGH auf Antrag der Kommission unter bestimmten Voraussetzungen einen Pauschalbetrag oder ein Zwangsgeld verhängen, wenn die Vertragsverletzung anhält. Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten wegen Rechtsakten von nationalen Gerichten sind noch nicht vor den EuGH gelangt.21 Soweit es bisher überhaupt zu Vorverfahren nach Art. 226 EG (Art. 258 AEUV) gekommen ist,22 beschränkte sich die Kommission darauf, unter Anerkennung der richterlichen Unabhängigkeit auf die Verbreitung ihrer Rechtsauffassung gegenüber den jeweiligen 16
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Zum Begriff E. Laferrière, Traité de la juridiction administrative et des recours contentieux, Bd. I, 1887, S. 449 f.; B. Pacteau, Note, Recueil Dalloz Sirey 1979, S. 164; siehe auch Cour de cassation, chambre sociale, Madame X v CMSA, Urteil v. 16.01.2003, oder das spanische Tribunal Supremo, Entscheidungen Nr. 9156/1996 v. 7.03.2002 und Nr. 4517/1997 v. 15.07.2002. EuGH, Rs. 283/81, CILFIT, Slg. 1982, 3415, Rn. 18 f.; zu mitgliedstaatlichen (Dänemark) Einwänden gegen diese Strenge siehe GA Tizzano zu EuGH, Rs. C-99/00 (Fn. 13), Nr. 51 ff. Nach der CILFIT-Rechtsprechung ist Letzteres aber nur dann der Fall, wenn die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel bleibt. Dies ist zu bejahen, wenn das nationale Gericht davon ausgehen kann, dass auch für Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde. Dabei müssen die Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts, die besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und die unterschiedlichen Sprachfassungen ebenso wie die Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft berücksichtigt werden. Der EuGH nimmt dann grundsätzlich keine Kontrolle der Entscheidungserheblichkeit mehr vor. EuGH, Rs. C-369/89, Piageme, Slg. 1991, I-2971; außer in Missbrauchsfällen Rs. 244/80, Foglia, Slg. 1981, 3045. Siehe etwa Art. 97 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 47 Abs. 2 GR-Charta. Insoweit nimmt das Gemeinschaftsrecht gegenüber den Mitgliedstaaten gewissermaßen einen völkerrechtlichen Standpunkt ein; vgl. nur Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig Territory, StIGH Rep. 1932, Serie A/B Nr. 44, S. 24. Siehe zu einem Vorverfahren gegen Schweden allerdings E. Lenski/F. C. Mayer, Vertragsverletzung wegen Nichtvorlage durch oberste Gerichte?, EuZW 2005, S. 225; siehe dort auch zur EMRK-Dimension von Vorlageverweigerung. Dazu G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, S. 11; J. Sack, Verstoßverfahren und höchstrichterliche Vertragsverletzungen, EuZW 1991, S. 246; Editorial Comments, Use of the Preliminary Procedure, CMLRev. 28 (1991), S. 241 (243).
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Gerichten hinzuwirken und nur für den Fall von Wiederholungen gesetzgeberische Maßnahmen anzumahnen.23 Damit deuten sich für die nähere Bestimmung des Verhältnisses zwischen EuGH und nationalen obersten Gerichten bereits Grenzen einer ausschließlich positivistischen Argumentation mit der geltenden Rechtslage an.24 b) Die Vorlagepraxis der nationalen obersten Gerichte25 Das deutsche BVerfG hat bisher keine Vorlagefragen an den EuGH gerichtet.26 Es hat allerdings in der Solange I-Entscheidung 1974 und der Vielleicht-Entscheidung von 1979 seine grundsätzliche Bindung an Art. 177 EWG-Vertrag (jetzt Art. 234 EG bzw. Art. 267 AEUV) bejaht.27 Nach der CILFIT-Entscheidung des EuGH von 1982 (s.o.) hat das BVerfG jedoch eine mögliche eigene Vorlageverpflichtung überhaupt nicht mehr thematisiert und lediglich die Voraussetzungen, unter denen die obersten Fachgerichte zur Vorlage verpflichtet sind,28 ausgeformt. Besonders 23
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Hendrix GmbH (Pingo-Hähnchen), Vorverfahren nach Art. 169 EG-Vertrag (Art. 226 EG, Art. 258 AEUV) A/90/0406, Mahnschreiben der Kommission SG (90)/D/25672 v. 3.08.1990, Ziffer V (Nichtvorlage des BGH), siehe Meier (Fn. 22), S. 11 m.w.N. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage hat die Kommission schon 1983 geäußert, dass das Vertragsverletzungsverfahren keine geeignete Grundlage für die Kooperation zwischen EuGH und nationalen Gerichten darstelle, nicht als Verfahren zur Überprüfung nationaler Gerichtsentscheidungen konzipiert sei und daher nur bei systematischer und vorsätzlicher Nichtbeachtung der Vorlagepflicht durch Gerichte in Betracht komme, ABl. 1983 C 268, S. 25. Damit stellt die Kommission trotz Verpflichtung auf das Legalitätsprinzip für gerichtliche Vertragsverletzungen nicht vorgesehene Sonderkriterien auf. Der EuGH hat allerdings durch Eröffnung eines Staatshaftungsanspruchs gegen einen Mitgliedstaat bei Nichtvorlage von Gerichten neben das Vertragsverletzungsverfahren eine weitere Sanktionsmöglichkeit bei Vorlageverweigerung gestellt, bei der einmal mehr der Einzelne die Durchsetzung des Europarechts übernimmt, siehe dazu EuGH, Rs. C-224/01, Köbler, Slg. 2003, I-10239, und Rs. C-173/03, Traghetti del Mediterraneo, Slg. 2006, I-5177. Die Vorlagepraxis nationaler Gerichte ist dokumentiert in den Jahresberichten der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, siehe etwa 24. Jahresbericht 2006, KOM(2007) 398; 25. Jahresbericht 2007, KOM(2008) 777. Die deutschen Obergerichte haben frühzeitig begonnen, den EuGH anzurufen: BSG seit 1967 (EuGH, Rs. 14/67, Welchner, Slg. 1967, 444); BFH ebenfalls 1967 (Rs. 17/67, Neumann, Slg. 1967, 592); BAG seit 1969 (Rs. 15/69, Südmilch, Slg. 1969, 363); BVerwG seit 1970 (Rs. 36/70, Getreide-Import, Slg. 1970, 1107); BGH seit 1974 (Rs. 32/74, Haaga, Slg. 1974, 1201) und verwenden das Vorlagenverfahren regelmäßig. Für Landesverfassungsgerichte siehe HessStGH, EuGRZ 1997, S. 213. BVerfGE 37, 271 (282) – Solange I; BVerfGE 52, 187 (202) – Vielleicht. Siehe etwa BVerfG, EuZW 2001, S. 255 – Nichtvorlage BVerwG, sowie in der Folge EuGH, Rs. C-25/02, Rinke, Slg. 2003, I-8349, siehe auch BVerwGE 108, 289. Das BVerfG prüft eine Verletzung der Vorlagepflicht der Fachgerichte unter dem Aspekt des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG), wobei es – über die CILFIT-Rechtsprechung hinaus – auf eine willkürliche Verletzung der Vorlagepflicht ankommt, im Einzelnen dazu F. C. Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, EuR 2002, S. 239; zur Verdichtung mitgliedstaatlich-verfassungsrechtlicher und EMRK-rechtlicher Garantien zu einem gemeinschaftsrechtlichen Anspruch des Einzelnen auf Vorlage C. Grabenwarter, Die Europäische Union und die Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts, Verhandlungen des 14. Öst. Juristentages, Bd. I/2 (2001), S. 15 (65).
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auffällig war dies im Maastricht-Urteil des BVerfG von 1993. Bekanntlich hat das BVerfG im Maastricht-Urteil einen verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalt über die Kompetenzausübung der EU entwickelt.29 Im Maastricht-Verfahren selbst hatte das BVerfG zur Klärung europarechtlicher Auslegungsfragen die einigermaßen originelle Lösung gewählt, den Generaldirektor des Juristischen Dienstes der Kommission anzuhören, anstatt eben den EuGH nach Art. 177 EWG-Vertrag anzurufen.30 Im NPD-Beschluss von 2001 hat das BVerfG in einem Verfahren, in dem es eindeutig erste und letzte Instanz ist (Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 GG), die Chance nicht genutzt, grundsätzlich zu seiner eigenen Vorlageverpflichtung Stellung zu nehmen.31 Auch bei anderen obersten Gerichten findet sich eine Nichtvorlagepraxis, allerdings mit abnehmender Tendenz. Die italienische Corte Costituzionale hatte in der Giampaoli-Entscheidung 199132 immerhin erkennen lassen, dass sie für sich die Möglichkeit, wenn auch nicht die Pflicht zu einer Vorlage an den EuGH nach Art. 177 EWG-Vertrag anerkannte. In der Folge nahm die Corte Costituzionale diese prinzipielle Bereitschaft aber wieder zurück: Mit dem Hinweis darauf, dass sie keine Gerichtsbarkeit im Sinne von Art. 177 EG-Vertrag sei und daher nicht unmittelbar mit dem EuGH im Wege des Art. 177 EG-Vertrag in Kontakt treten könne, ging sie 1995 mit der Entscheidung Messagero Servizi33 dazu über, Art. 177 EGVertrag bzw. jetzt Art. 234 EG für sich nicht als verbindlich zu betrachten. Allerdings hat die Corte Costituzionale gleichzeitig die vorhergehende Instanz angewiesen, ihrerseits eine Vorlage an den EuGH zu richten. Im April 2008 legte die Corte Costituzionale dann erstmals dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor.34 Maßgebend für den Sinneswandel dürften nicht zuletzt die Beispiele von Vorlagen anderer Verfassunggerichte sowie eine Änderung der italienischen Verfassung von 2001 gewesen sein. Die Änderung betraf insbesondere Art. 117 der Verfassung, der nun für die Gesetzgebungsgewalt die Schranken des Europarechts nennt. Zumindest bei Direktklagen, d.h. ohne vorherige Befassung der Fachgerichte, ist danach nunmehr von einer Vorlagebereitschaft der Corte Costituzionale auszugehen.35
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BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht. Dazu M. Zuleeg, The European Constitution Under Constitutional Constraints, ELRev. 22 (1997), S. 19. BVerfGE 104, 214 – NPD-Verbot; dazu Mayer (Fn. 28); siehe auch BVerfGE 110, 141 (154 f.) – Kampfhunde. Entscheidung Nr. 168/91 – Giampaoli, Foro italiano, 1992, I, 660 Rn. 5 f. Entscheidung Nr. 536/95 – Messagero Servizi, Gazz. Uff. n. 1 I, 3.01.1996; ebenso die Entscheidung Nr. 319/96 – Spa Zerfin, Gazz. Uff. n. 34 I, 21.08.1996. Entscheidung Nr. 103/2008 – Legge della Regione Sardegna 11 maggio 2006/29 maggio 2007. Siehe im Einzelnen dazu F. Fontanelli/G. Martinico, Cooperative Antagonists: The Italian Constitutional Court and the Preliminary Reference, Eric Stein Working Paper Nr. 5 (2008), insbesondere S. 13, unter www.ericsteinpapers.eu; M. Dani, Tracking Judicial Dialogue: The Scope for Preliminary Rulings from the Italian Constitutional Court, Jean Monnet Working Paper Nr. 10 (2008), unter www.jeanmonnetprogram.org.
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Der spanische Tribunal Constitucional hat selbst noch nie vorgelegt und weigerte sich bisher, in Fällen der Nichtvorlage unter Verletzung von Art. 234 Abs. 3 EG (Art. 267 AEUV) gegenüber spanischen Gerichten Rechtsschutz zu gewähren.36 Hintergrund dieser Rechtsprechung ist, dass nach Auffassung des TC die korrekte Anwendung des Europarechts keine Frage der Verfassung ist, sie falle damit nicht in den Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit. Rechtsschutz gegen Europarecht verletzende spanische Rechtsakte werde durch die Fachgerichte und den EuGH gewährt.37 Der portugiesische Tribunal Constitucional sieht sich grundsätzlich an die Vorlagepflicht aus Art. 234 EG (Art. 267 AEUV) gebunden,38 hat aber bisher noch nicht vorgelegt. Der französische Conseil d’Etat hat vor und nach der Cohn-Bendit-Entscheidung immer wieder Vorlagen an den EuGH gerichtet (zuerst 197039), gleichwohl auch nach der CILFIT-Entscheidung von der Rechtsprechung des EuGH abweichende Entscheidungen mit der Missachtung von Art. 234 Abs. 3 EG (Art. 267 AEUV) verbunden.40 Die Cour de cassation legte bereits 1967 vor.41 Der Conseil constitutionnel hat 2006 deutlich gemacht, dass er in den Verfahren, in denen er binnen 60 Tagen entscheiden muss, keine Möglichkeit zur Vorlage sieht.42 Die belgischen obersten Gerichte Conseil d’Etat43 und Cour de cassation44 haben bereits früh (1967 bzw. 1968) begonnen, Vorlagefragen an den EuGH zu richten. Die seit 1983 bestehende Cour d’arbitrage – jetzt Cour constitutionnelle – hat 1997 erstmals vorgelegt.45 Die niederländischen obersten Gerichte legen seit Anfang der 70er Jahre (der Raad van State seit 1973,46 der Hoge Raad seit 197447) 36
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TC Entscheidung 111/1993 v. 25.03.1993, BOE 27.04.1993; TC Entscheidung 180/1993 v. 31.05.1993, BOE 5.07.1993 – FOGASA; TC Entscheidung 372/1993 v. 13.12.1993, BOE 19.01.1994 – Lao. TC Entscheidung 28/1991 v. 14.02.1991, BOE 15.03.1991 – EP-Wahlen; TC Entscheidung 64/1991 v. 22.03.1991, BOE 24.04.1991 – APESCO. TC Entscheidung 163/90 v. 23.05.1990, Moreira da Costa e Mulher, Diàrio da República, 2 Nr. 240, 18.10.1990. Die erste Vorlage von 1970: EuGH, Rs. 34/70, Syndicat national du commerce extérieur des céréales, Slg. 1970, 1233. Siehe zur abweichenden Konzeption des Conseil d’Etat zur Auslegung von Art. 249 Abs. 3 EG (Art. 288 ff. AEUV) und zur zeitlichen Beschränkung der Wirkung von EuGH-Entscheidungen Commissaire du gouvernement Savoie in seinen Schlussfolgerungen zum Verfahren Tête (CE Ass. 6.02.1998, Tête, Rec. S. 30, Schlussfolgerungen S. 32) sowie P. Cassia, Le juge administratif français et la validité des actes communautaires, Revue Trimestrielle de Droit Européen 35 (1999), S. 409. EuGH, Rs. 22/67, Goffart, Slg. 1967, 429. CC 27.6.2006, Droit d’auteur, Rec. S. 88; dazu m.w.N. F. C. Mayer u.a., Der Vorrang des Europarechts in Frankreich, EuR 2008, S. 63. Seit 1967, EuGH, Rs. 6/67, Guerra, Slg. 1967, 293. Seit 1968, EuGH, Rs. 5/68, Sayag, Slg. 1968, 589. EuGH, Rs. C-93/97, Fédération belge des chambres syndicales de médecins, Slg. 1998, I-4837. EuGH, Rs. 36/73, Nederlandse Spoorwegen, Slg. 1973, 1299. EuGH, Rs. 15/74, Centrafarm, Slg. 1974, 1147.
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mit großer Regelmäßigkeit vor. Die luxemburgische Cour de Cassation legt seit 196748 vor, der luxemburgische Conseil d’Etat erst seit 1981.49 Die luxemburgische Cour Constitutionnelle, ein jüngeres Gericht, hat bisher keine Vorlagefragen gestellt. Das britische House of Lords hat erstmals 1979 vorgelegt und dies seitdem mit Regelmäßigkeit wiederholt.50 Der dänische Højesteret gilt als eines der integrationskritischeren Gerichte, hat aber bereits zahlreiche Vorlagefragen an den EuGH gerichtet, zuerst 1978.51 Der irische Supreme Court hat 1983 begonnen vorzulegen52 und richtet seitdem immer wieder Vorlagen an den EuGH. Von den obersten griechischen Gerichten sind ebenfalls Vorlagen verzeichnet: durchaus regelmäßig und sehr früh seit 1983 vom Symvoulio Epikrateias (Staatsrat),53 vereinzelt seit 199354 vom Elegktiko Synedrio (Rechnungshof) und seit 1996 gelegentlich auch vom Areios Pagos (Oberstes Gericht).55 Der Oberste Sondergerichtshof (Anotato Eidiko Dikastirio) hat noch nicht vorgelegt. Der schwedische Högsta domstolen hat fast unmittelbar nach dem schwedischen Beitritt 1995 bereits eine Vorlagefrage an den EuGH gerichtet.56 Der schwedische Regeringsrätten folgte wenig später 1997.57 Der eine nichtverbindliche Normentwurfskontrolle durchführende Lagrådet hat bisher nicht vorgelegt. Das oberste finnische Verwaltungsgericht Korkein hallinto-oikeus hat seit 1996 regelmäßig vorgelegt.58 Für das oberste Gericht Korkein oikeus ist die erste Vorlage 1999 verzeichnet.59 Der Verfassungsausschuss des Parlamentes (Perustuslakivaliokunta) hat bisher nicht vorgelegt. Der österreichische VfGH hat die Möglichkeit einer Vorlagepflicht nach Art. 234 EG schon früh bestätigt60 und richtet seit 1999 regelmäßig Vorlagefragen an den EuGH.61 Für die 2004 und 2007 beigetretenen Mitgliedstaaten lässt sich teils mangels Gelegenheiten zur Vorlage noch keine verlässliche Aussage zur Vorlagefreudigkeit machen. Bedenklich erscheint allerdings, dass vereinzelt Gerichte trotz entspre48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
61
EuGH, Rs. 2/67, De Moor, Slg. 1967, 263. EuGH, Rs. 76/81, Transporoute, Slg. 1982, 417. EuGH, Rs. 34/79, Henn und Darby, Slg. 1979, 3795; bis 2001 sind siebenundzwanzig Vorlagen des House of Lords verzeichnet. EuGH, Rs. 151/78, Sukkerfabriken Nykøbing, Slg. 1979, 1. EuGH, Rs. 182/83, Fearon, Slg. 1984, 3677. EuGH, Rs. 142/83, Nevas, Slg. 1983, 2969. EuGH, Rs. C-443/93, Vougioukas, Slg. 1995, I-4033. EuGH, Rs. C-348/96, Calfa, Slg. 1999, I-11; Die folgende Vorlage von 1998, Rs. C-235/98, Pafitis, wurde nicht fortgeführt (ABl. 2000 C 3, S. 21). EuGH, Rs. C-43/95, Data Delecta, Slg. 1996, I-4661. EuGH, Rs. C-241/97, Försäkringsaktiebolaget Skandia, Slg. 1999, I-1879. EuGH, Rs. C-412/96, Kainuun Liikenne, Slg. 1998, I-5141. EuGH, Rs. C-172/99, Liikenne, Slg. 2001, I-745. VfGH, Beschluss v. 11.12.1995, Österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 23 (1996), S. 24 – Bundesvergabeamt; Siehe auch K. Heller/F. Sinnl-Piazza, Verfassungsrechtliche Aspekte der Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten der EU, JBl. 1995, S. 636 und S. 700 (711). EuGH, Rs. C-143/99, Adria-Wien Pipeline, Slg. 2001, I-8365.
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chender Gelegenheit von Vorlagen abgesehen haben. So erklärte das ungarische Verfassungsgericht Alkotmánybíróság ein Gesetz des ungarischen Parlaments über die Bevorratung landwirtschaftlicher Überschussproduktion, das zugleich eine Verordnung der Europäischen Kommission umsetzte, im Mai 2004 ohne Vorlage an den EuGH für verfassungswidrig,62 wobei die beanstandeten Gehalte europarechtlich vorgegeben waren. Das Gericht argumentierte, Gegenstand der Entscheidung sei allein die Verfassungsmäßigkeit ungarischen Rechts, nicht dagegen stünde die Gültigkeit oder die Auslegung von Unionsrecht in Frage.63 Das estnische oberste Gericht Riigikohus erklärte in Verfahren, die dieselbe Verordnung betrafen, das dortige nationale Umsetzungsgesetz für unanwendbar, und zwar wegen Verstoßes gegen Europarecht.64 Auch dies erfolgte ohne Vorlage an den EuGH – weil die Rechtslage hinreichend klar sei. Und schließlich hat auch das polnische Trybunal Konstytucyjny 2005 bei der Entscheidung über die Vereinbarkeit des Europäischen Haftbefehls mit polnischem Recht nicht an den EuGH vorgelegt, wie übrigens auch das BVerfG.65 Das tschechische Verfassungsgericht hat immerhin in einer Entscheidung von 2006 seine grundsätzliche Bereitschaft zur Vorlage an den EuGH bekundet.66 c) Stellungnahme Der Blick auf die Vorlagepraxis ergibt ein gemischtes Bild. Die sehr hohe europarechtliche Anforderungen formulierende CILFIT-Rechtsprechung wird durch eine Kommissionspraxis begleitet, die Nichtvorlagen nicht konsequent mit dem Instrument der Vertragsverletzungsverfahren verfolgt. Dem stehen auf der mitgliedstaatlichen Ebene Nichtvorlagen wichtiger Gerichte gegenüber. Neben der Nichtvorlagepraxis des BVerfG, die übrigens mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und 23 GG verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, fallen die Nichtvorlagen insbesondere des spanischen und lange Jahre des italienischen Verfassungsgerichts auf. Damit spielen ausgerechnet die im Anschluss an Diktaturen in Europa errichteten starken Verfassungsgerichte eine Sonderrolle, wobei mit der ersten Vorlage des italienischen Verfassungsgerichts 2008 diese Front Risse erhalten hat. Im europäischen Vergleich stehen nicht vorlegende Gerichte in einer Minderheit. Von dem sehr traditionsreichen britischen House of Lords und dem durchaus europakritischen dänischen Højesteret sind regelmäßige Vorlagen ebenso verzeichnet wie vom österreichischen VfGH, der sich als spezialisiertes Verfassungsgericht in einer ähnlichen Situation wie das spanische, italienische und deutsche Verfassungsgericht befindet. Ein genauerer Blick auf die nichtvorlegenden Gerichte legt die Vermutung nahe, dass aus dem Motivbündel aus Selbstverständnis, verfassungsrechtlichen 62 63 64 65
66
Entscheidung 17/2004 (V.25) AB v. 25.05.2004. Ebd., S. 6. Entscheidung Nr. 3-3-1-33-06 v. 5.10.2006, Hadleri Toidulisandite AS. Entscheidung K 18/04 v. 11.05.2005, siehe auch BVerfGE 113, 273 – Europäischer Haftbefehl; dass es Klärungsbedarf gab, zeigt dabei die Vorlage in der Haftbefehlsfrage seitens der belgischen Cour d’arbitrage: EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633. Entscheidung Pl. ÚS 50/04 v. 8.03.2006 (Zuckerquoten).
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Vorgaben und fehlender Gelegenheit zur Vorlage, das für die Gerichte den Nichtvorlagebefund erklärt, vor allem das Selbstverständnis als Hüter der (nationalen) Verfassung67 besonderes Gewicht hat. Dies dürfte gerade auch Positionen wie die Ungarische oder die Polnische erklären, wo junge Institutionen und Verfassungen sich noch in der Konsolidierung befinden. Zudem vertrauen offenbar nationale Gerichte nicht immer darauf, dass der EuGH sich wirklich – wie von diesem jedenfalls behauptet – auf Aussagen zum Europarecht beschränkt und keine Aussagen auch über nationales Recht trifft,68 was eine skeptische Haltung mitgliedstaatlicher Gerichte erklären helfen würde.69 Die Analyse der prozeduralen Berührungspunkte zwischen EuGH und nationalen obersten Gerichten deutet jedenfalls auf offene Fragen hin. Alleine aufgrund der binären rechtsempirischen Frage nach Vorlage oder Nichtvorlage ist allerdings nicht erklärbar, welche verfassungsrechtlichen Muster das Verhältnis zwischen den Gerichten und dem EuGH bestimmen. Dies kann nur eine materiell-rechtliche Analyse leisten. 2. Materiell-rechtliche Perspektive a) Die Sicht des EuGH Der EuGH nimmt für sich ein Verwerfungsmonopol über das (sekundäre)70 Europarecht in Anspruch.71 67 68 69
70
71
Siehe dazu bereits H. Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, Die Justiz 1931, S. 5 ff., gegen C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 12. Dazu K. Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, S. 10, mit Bezugnahme auf EuGH-Richter Mancini. Siehe in diesem Zusammenhang die Arsenal-Entscheidung in Großbritannien, wo der High Court eine Vorabentscheidung des EuGH ignorierte (Rs. C-206/01, Arsenal, Slg. 2002, I-10273), indem er dem EuGH das Recht absprach, über Tatsachen zu befinden oder die Tatsachenbefunde des nationalen Gerichts zu verwerfen, EWHC 2695/2002 (ch), AllER 2003 Vol. I, S.137. Diese Entscheidung wurde durch den Court of Appeal geändert (Court of Appeal, Entscheidung v. 21.05.2003, Arsenal Football Club v Matthew Reed, EWCA Civ 2003, 96). Das deutsche BVerfG betrachtet Nicht-Vorlagen nur dann als Verfassungsverletzung (siehe Fn. 28), wenn es um eine Auslegungs- und nicht um eine Anwendungsfrage geht, siehe BVerfG, NJW 2002, S. 1486 – Biobronch; siehe auch BVerfGE 82, 159 – Absatzfonds; BVerfG, Neue Zeitschrift für Baurecht und Vergaberecht 2004, S. 164 – Nichtvorlage. Zur Frage gemeinschaftsrechtswidrigen Primärrechts J. da Cruz Vilaca/N. Picarra, Y a-t-il des limites matérielles à la révision des Traités instituants les Communautés européennes?, Cahiers de Droit Européen 29 (1993), S. 3; U. Everling, Zur Stellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als „Herren der Verträge“, in: FS Bernhardt, 1995, S. 1169. Der EuGH überprüft europäische Rechtsakte auf ihre Rechtmäßigkeit im Verfahren nach Art. 230 EG (Art. 63 AEUV), als Inzidentfrage gemäß Art. 241 EG (Art. 277 AEUV) oder im Rahmen einer Vorlage. Nationale Behörden können nur vorlegen, wenn sie unter den gemeinschaftsrechtlichen Gerichtsbegriff fallen (für Vergabeüberwachungsausschüsse des Bundes EuGH, Rs. C-54/96, Dorsch Consult, Slg. 1997, I-4961); siehe hier auch Rs. C-431/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-2189, zur Bindung der Behörden an Gemeinschaftsrecht. Siehe dazu auch die Diskussion im Kontext der Doc Morris-Problematik um das Recht nationaler Behörden, nationales Recht als gemeinschaftsrechtswidrig zu verwerfen.
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Der EuGH entschied 1987 in der Rechtssache Foto-Frost,72 dass nationale Gerichte durchaus die Gültigkeit von Unionsakten prüfen und die Feststellung treffen könnten, dass ein Rechtsakt in vollem Umfang gültig ist, denn dann werde „die Existenz der Gemeinschaftshandlung nicht in Frage“ gestellt.73 Nationale Gerichte seien jedoch nicht befugt, Handlungen der Unionsorgane für ungültig zu erklären.74 Zur Begründung betont der EuGH die Einheit der Rechtsordnung der Gemeinschaft und Erfordernisse der Rechtssicherheit. Zudem wird auf die „notwendige Kohärenz“ des durch den EGV geschaffenen Rechtsschutzsystems verwiesen, das dem EuGH die ausschließliche Zuständigkeit für die Nichtigerklärung der Handlung eines Unionsorgans zuweise. Schließlich sei der EuGH auch am besten in der Lage, über die Gültigkeit von Unionshandlungen zu entscheiden, da sich die betroffenen Unionsorgane an Verfahren vor dem EuGH beteiligen und dem EuGH alle erforderlichen Auskünfte geben könnten. Der abschließende Charakter der im Vertrag vorgesehenen Verfahren über die Beilegung von Streitigkeiten folge aus Art. 219 EWG-Vertrag (jetzt Art. 292 EG bzw. 344 AEUV), nach dem sich die Mitgliedstaaten verpflichtet haben, Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung des Vertrags nicht anders als im Vertrag vorgesehen zu regeln.75 Die Bindung nationaler Gerichte an die Auslegung des Europarechts durch den EuGH ließe sich wohl auch über Art. 10 EG bzw. 4 Abs. 3 EUV-Liss. (Bindung der Mitgliedstaaten an die Verpflichtungen aus den Verträgen) begründen.76 Mögliche Erklärungen für die restriktive Linie des EuGH über die von ihm selbst verwendeten Begründungen hinaus richten sich auf das vermutete Selbstverständnis des EuGH als Motor der Integration. Ein solches Selbstverständnis des EuGH vorausgesetzt, sind schon daraus Zielkonflikte mit nationalen Gerichten unvermeidlich. Die zurückhaltende Position des EuGH gegenüber Entscheidungsspielräumen nationaler Gerichte lässt sich dann auch mit einem gewissen Mißtrauen des EuGH gegenüber den nationalen Gerichten erklären, die sich bei Einräumung weiterer Entscheidungsspielräume einer zunehmenden Integration durch Rechtsprechung entgegenstellen könnten.
72 73 74 75 76
EuGH, Rs. 314/85 (Fn. 12), Rn. 11 ff. Ebd., Rn. 14. Ebd., Rn. 15. Vgl. dazu auch EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 35. Festzuhalten ist, dass die Rechtsprechung des EuGH im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes nationalen Gerichten einen gewissen Spielraum für Gültigkeitsaussagen über Europarecht zugestanden hat, die Letztentscheidung über die Gültigkeit jedoch auch in diesen Fällen beim EuGH verbleibt: verb. Rs. C-143/88 und C-92/89, Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-415, Rn. 14 ff.; Rs. C-465/93, Atlanta, Slg. 1995, I-3761. Der EuGH ist wohl nicht bereit, nationalen Gerichten eine eigene Entscheidungskompetenz bei besonders schwerer und offensichtlicher Fehlerhaftigkeit für die Feststellung inexistenter Rechtsakte der Gemeinschaft zuzugestehen, vgl. immerhin verb. Rs. 1/57 und 14/57, Société des usines à tubes de la Sarre/Hohe Behörde, Slg. 1957, 213.
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Hinter dem Argument der einheitlichen Anwendung des Europarechts steht letztlich das Prinzip des Anwendungsvorranges77 von Europarecht im Kollisionsfall, wie es vom EuGH entwickelt wurde.78 Begründet wird der Vorrang des Europarechts dabei mit der Eigenständigkeit des Europarechts und dem Erfordernis einheitlicher Rechtsgeltung in den verschiedenen Mitgliedstaaten.79 Europarecht ist danach „vorrangiger Bestandteil“ der nationalen Rechtsordnungen, gegenüber Europarecht wird „jede entgegenstehende Bestimmung des geltenden staatlichen Rechts ohne weiteres unanwendbar“.80 Dies gilt auch für Bestimmungen des Verfassungsrechts.81 Die Kritik an der Vorrangkonzeption des EuGH ist vielfältig,82 sie reicht vom Hinweis auf Besatzungsrecht (!)83 bis zum Einwand der „rigorosen Simplizität“.84 Die Absolutheit, mit der seitens des EuGH ein Vorrang jeder Norm des Europarechts vor jeder Norm des nationalen Rechts, also auch vor Bestimmungen des nationalen Verfassungsrechts festgelegt wurde, hat die Frage aufgeworfen, ob der EuGH mit dieser Ausgestaltung des Vorrangprinzips nicht seine Kompetenzen überschritten hat.85 Danach besteht die Aufgabe des EuGH gerade auch aufgrund von Art. 234 EG (Art. 267 AEUV) darin, Europarecht auszulegen. Die Frage, wie nationale Rechtsordnungen Konflikte mit dem Europarecht lösen, sei möglicherweise keine Frage der Auslegung des Europarechts mehr.86 Der Geltungsgrund des Europarechts wird in diesem Kontext vom EuGH87 nicht eindeutig offengelegt, sondern durch die Aussagen zur Gestaltform nur angedeutet.
77
78 79 80 81 82
83 84 85 86 87
Auf Englisch wird Vorrang als „supremacy“ (von der Konnotation her näher am Geltungsvorrang) oder „primacy“ (Anwendungsvorrang) bezeichnet, etwa in EuGH, Rs. 14/68, Walt Wilhelm, Slg. 1969, 1, Rn. 5 („supremacy“). In Rs. 93/71, Leonesio, Slg. 1972, 287, ist von „precedence“ die Rede, ebenso in Rs. C-256/01, Allonby, Slg. 2004, I-873, Rn. 77. Im VVE wird „primacy“ verwendet (Art. 6 VVE). EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251. Zu Begriff und Typologie der Kollision S. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, S. 23 ff. EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125. EuGH, Rs. 106/77, Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rn. 21 ff.; siehe auch Rs. C-213/89, Factortame, Slg. 1990, I-2433, Rn. 20 f. EuGH, Rs. 11/70 (Fn. 79), Rn. 3; Rs. C-473/93, Kommission/Luxemburg, Slg. 1996, I-3207, Rn. 38; siehe auch Rs. C-285/98, Kreil, Slg. 2000, I-69. Siehe etwa H.-H. Rupp, Die Grundrechte und das Europäische Gemeinschaftsrecht, NJW 1970, S. 953; Alter (Fn. 68), S. 88 ff., beschreibt, wie dieser Beitrag eventuell die folgenden Entwicklungen über die EuGH-Entscheidung in Rs. 11/70 (Fn. 79), die offen den Vorrang des Europarechts selbst gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht einfordert, bis zur Solange I-Entscheidung des BVerfG ausgelöst hat. Rupp ist nie überzeugt worden, siehe H.-H. Rupp, Anmerkungen zu einer Europäischen Verfassung, JZ 2003, S. 18; siehe auch H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 267 ff.; prototypisch die Einwände bei T. Schilling, Zu den Grenzen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, Der Staat 33 (1994), S. 555. Siehe dazu die Nachweise bei Pernthaler (Fn. 11), S. 700. R. Abraham, L’application des normes internationales en droit interne, 1986, S. 155. Ebd., S. 154 f. Ebd. Zum knappen Stil des EuGH siehe auch Pernthaler (Fn. 11), S. 694.
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Dabei ist der EuGH von einer neuen „Rechtsordnung des Völkerrechts“ (1963)88 über die „eigene Rechtsordnung“ (1964)89 bis zum Konzept der Verträge als „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“ (1986)90 bzw. „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ (1991)91 gelangt. Mit dieser Verfassungsqualität wird die Gemeinschaftsrechtsordnung in ihrer Eigenständigkeit betont, zugleich aber auch nicht mehr als von den Mitgliedstaaten separierte Rechtsordnung konzipiert, sondern als übergreifende Rechtsordnung im Sinne einer Rechtsgemeinschaft, die durch die Mitgliedstaatenrechtsordnungen aufgenommen und ergänzt wird. Der Vorrang wäre im Verfassungsvertrag erstmals kodifiziert worden.92 Der Vertrag von Lissabon erwähnt dagegen den Vorrang nur in einer Erklärung, deren Zweck nicht klar ist. Diese will entweder die bisherige – weitreichende – EuGHRechtsprechung bestätigen oder schlicht die Aussage treffen, dass sich am Status quo in der Vorrangfrage nichts ändern soll – und dieser Status quo ist wegen der Widerstände auf mitgliedstaatlicher Ebene gegen einen Vorrang auch gegenüber der nationalen Verfassung etwas komplexer als die EuGH-Rechtsprechung, wie gleich zu sehen sein wird. b) Die Perspektive der nationalen obersten Gerichte aa) Das BVerfG Bereits in der ersten Entscheidung, in der das BVerfG sich detailliert zum Europarecht äußerte, dem Beschluss vom 5. Juli 1967,93 wurde die zentrale Funktion des deutschen Zustimmungsgesetzes94 als Brücke95 zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht im Sinne des aus deutscher Sicht maßgeblichen Rechtsanwendungsbefehls und Geltungsgrundes des Gemeinschaftsrechts deutlich. Noch im selben Jahr formulierte das BVerfG seine bis heute gültige Konzeption von der Gemeinschaft als eigenständiger Hoheitsgewalt in einer eigenständigen Rechtsordnung. Das BVerfG qualifizierte den EWGV dabei als „gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft“ und das Gemeinschaftsrecht als „eigene Rechtsordnung, deren Normen weder Völkerrecht noch nationales Recht der Mitgliedstaaten
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93 94 95
EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 25. EuGH, Rs. 6/64 (Fn. 78), 1269. EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23; in der französischen Fassung heißt es „Charte constitutionnelle de base“. EuGH, Gutachten 1/91 (Fn. 75), Rn. 21. Art. 6 VVE: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.“ BVerfGE 22, 134 (142). Zustimmungsgesetz nach Art. 23 GG (früher Art. 24 GG). So das Bild von Paul Kirchhof, siehe etwa ders., Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965 (966); zum European Communities Act als britische ‚Brücke‘ N. Bamforth, Courts in a Multi-Layered Constitution, in: ders./P. Leyland (Hrsg.), Public Law in a Multi-Layered Constitution, 2003, S. 277 (288).
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sind“.96 Dabei deutete das BVerfG die Möglichkeit verfassungsrechtlicher Kontrollvorbehalte an, indem es die Frage nach den Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten an die Gemeinschaft durch die Bindung etwa an Grundrechtsgewährleistungen des GG ansprach, im Ergebnis jedoch offen ließ.97 (1) Grundrechte: Solange I und II (1974/1986) Zur Verteidigung der Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes legte das BVerfG 1974 verfassungsrechtliche Grenzen des Vorrangs von Gemeinschaftsrecht und einen entsprechenden verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalt mit der Solange I-Entscheidung vom 29. Mai 1974 fest.98 Das Minderheitsvotum der unterlegenen Richter99 verfolgte zur Frage des Verhältnisses von deutschem Verfassungsrecht zu Gemeinschaftsrecht eine andere Konzeption, die der des EuGH deutlich näher steht als die Mehrheitsmeinung und auch über die später in der Solange II-Entscheidung100 erfolgte Abkehr des BVerfG von Solange I weit hinausgeht.101 Das Minderheitsvotum hält einen Kontrollvorbehalt des BVerfG – wie er sich auch in Solange II (s.u.) findet – für unzulässig. Die grundsätzlich angenommene Begrenzung der Übertragung von Hoheitsrechten an die Gemeinschaft wird nicht mit einem verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalt verbunden. Nachdem das BVerfG im Juli 1979,102 zweimal im Jahre 1981103 sowie dann erneut im Februar 1983104 eine Änderung der Solange I-Rechtsprechung angedeutet hatte, kam es mit der Solange II-Entscheidung vom 22. Oktober 1986105 zu der erwarteten Ergänzung der Solange I-Entscheidung, die ohne grundsätzliche Preisgabe der verfassungsrechtlichen Kontrollmöglichkeiten die Frage der Grundrechtsgewährleistungen „im Sinne nützlicher Pragmatik entschärft“ hat.106 Zwar hielt das BVerfG daran fest, dass die Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen verfassungsrechtlichen Grenzen unterliege. Es bestehe keine Ermächtigung, im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung in Deutschland 96
97 98 99 100 101 102 103 104 105 106
BVerfGE 22, 293 (296) – EWG-Verordnungen; der Hinweis auf die Eigenständigkeit der Rechtsordnung der EWG findet sich auch in BVerfGE 29, 198 (210), wo allerdings auch auf die „vielfältige Verschränkung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht“ hingewiesen wird. Zur Eigenständigkeit auch BVerfGE 31, 145 (174) – Lütticke; siehe in diesem Kontext A. Verdross, Règles générales du droit international de la paix, Recueil des Cours 30 (1929-V), S. 311. BVerfGE 22, 293 (298 f.) – EWG-Verordnungen. BVerfGE 37, 271 – Solange I. Ebd., 291 ff. BVerfGE 73, 339 – Solange II. Siehe für Einzelheiten die Vorauflage. BVerfGE 52, 187 (202 f.) – Vielleicht. BVerfGE 58, 1 – Eurocontrol I; E 59, 63 – Eurocontrol II. BVerfG, NJW 1983, S. 1258 – Mittlerweile. BVerfGE 73, 339 – Solange II. G. Hirsch, Kompetenzverteilung zwischen EuGH und nationaler Gerichtsbarkeit, NVwZ 1998, S. 907 (909).
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„durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben“.107 Nach ausführlicher Würdigung der Entwicklung auf europäischer Ebene hielt das BVerfG jedoch fest: Solange auf europäischer Ebene ein wirksamer Schutz der Grundrechte gewährleistet sei, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleichzuachten sei, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürge,108 werde das BVerfG „seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben“.109 Die grundrechtsbezogenen Passagen des Maastricht-Urteils von 1993110 sowie der Bananenbeschluss von 2000111 haben die Linie aus Solange II im Wesentlichen bestätigt.112 Dass das BVerfG – wenn auch nicht durch eigene Vorlagen (s.o.), aber doch durch Überwachung der Vorlagepflicht der Fachgerichte – den Grundrechtsschutz gewährleistet sieht, bestätigt es in ständiger Rechtsprechung.113 (2) Kompetenzen: Das Maastricht-Urteil (1993) Mit dem Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993114 begründete das BVerfG einen verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalt über die Kompetenzausübung der EU: Danach prüft es, ob Rechtsakte der europäischen Ebene aus den Grenzen der eingeräumten Hoheitsrechte ausbrechen.115 Das BVerfG begründet seine Prüfungskompetenz über ausbrechende Rechtsakte der Gemeinschaft (ultra-vires-Akte116) mit den Vorgaben des nationalen Verfassungsrechts. Es nimmt dabei aber eine eigenständige Auslegung des Gemeinschaftsrechts vor. Das im Zustimmungsgesetz und im EUV
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BVerfGE 73, 339 (375 f.) – Solange II; an dieser Stelle bezieht sich das Gericht auf die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes. Die Formel findet sich heute in Art. 23 GG. BVerfG (Fn. 105), 387. BVerfGE 89, 155 (175, Ls. 5, S. 3, 6 und 7) – Maastricht. BVerfGE 102, 147 – Bananenmarktordnung; danach besteht für Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen ein besonderes Zulässigkeitserfordernis „unzureichender Grundrechtsschutz auf EU-Ebene“. So auch R. Hofmann, Zurück zu Solange II!, in: FS Steinberger, 2002, S. 1207. Die SolangeFormel hat übrigens 1994 Eingang in die Schwedische Verfassung gefunden, Kapitel 10(5), siehe O. Ruin, Suède, in: J. Rideau (Hrsg.), Les Etats membres de l’Union européenne, 1997, S. 440. BVerfG, EuZW 2001, S. 255; siehe auch BVerwGE 108, 289 und zuletzt die Eilentscheidung in den Verfassungsbeschwerden gegen die Vorratsdatenspeicherung, BVerfG, EuGRZ 2008, S. 257. BVerfGE 89, 155 – Maastricht; Entscheidung und Verfahren sind dokumentiert in I. Winkelmann, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, 1994; weitere Nachweise bei Mayer (Fn. 4), S. 98 ff. BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht; für die Terminologie „ausbrechender Rechtsakt“ schon BVerfGE 75, 223 (242) – Kloppenburg. Zur Unterscheidung zwischen ultra-vires-Akten im engeren Sinne (Sachkompetenzüberschreitungen) und im weiteren Sinne (sonstige Rechtmäßigkeitseinwände): Mayer (Fn. 4), S. 24 f.
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angelegte Integrationsprogramm117 könne später durch kompetenzüberschreitende Rechtsakte nicht wesentlich geändert werden, ohne dass die Deckung durch das Zustimmungsgesetz verloren ginge. Generell sind damit über das (verfassungskonform auszulegende) deutsche Zustimmungsgesetz Gewährleistungen der deutschen Verfassung und das Europarecht selbst Prüfungsmaßstab: Es kommt zu einer Verdoppelung des Prüfungsmaßstabes. Das BVerfG überprüft nämlich Rechtsakte der EU am Maßstab einer „deutschen Version“ des Europarechts („Verfassungseuroparecht“). Die vorgebliche Beschränkung des Prüfungsmaßstabes auf das deutsche Recht erweist sich als Kunstgriff. Die Verfassungskonformität von Europarechtsakten hängt dabei von der Europarechtskonformität der Rechtsakte ab. Offen bleibt in der Entscheidung hinsichtlich von Rechtsakten des EuGH, wo genau das BVerfG im Einzelfall die Grenze zwischen (erlaubter) richterlicher Rechtsfortbildung und Auslegung einerseits und (unzulässiger) Vertragserweiterung andererseits bzw. wesentlichen und unwesentlichen Änderungen der Kompetenzbestimmungen ziehen will und wie diese im Einzelfall zu bestimmen ist.118 Rechtsfolge einer beanstandenden Prüfung von europäischen Rechtsakten wäre die fehlende Bindungswirkung von ausbrechenden Rechtsakten in Deutschland. Der Vorrang des Europarechts steht damit unter einem grundgesetzlichen Kompetenzmäßigkeitsvorbehalt, über den das BVerfG wacht. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Maastricht-Urteil in der Kontinuität der vorherigen Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrechtsschutz steht, soweit es einen verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalt formuliert und damit das Vorrangprinzip relativiert. Auffällig ist im Vergleich zu den vorhergehenden Entscheidungen der offensive Grundton der Entscheidung.119 Zu betonen ist allerdings ein grundlegender Unterschied zwischen der Grundrechtsdimension (Solange II) und der Kompetenzdimension (Maastricht). Der Fehlervorwurf an die europäische Ebene reicht bei der Kompetenzdimension über das Verhältnis deutsche Verfassungsordnung – europäische Rechtsordnung hinaus, weil die Kategorien „ausbrechender Rechtsakt“ und „grundgesetzgrundrechtsverletzender Rechtsakt“ verschieden sind: Der Ausfall einer bestimmten Grundrechtsgewährleistung seitens des EuGH kann sich schon aus prozeduralen Gründen ergeben oder aus einer auf europäischer Ebene abweichenden Schutzbereichsbestimmung für ein konkretes Grundrecht folgen, so dass die Formel des BVerfG vom Kooperationsverhältnis zwischen120 BVerfG und EuGH im Sinne einer Reservegewährleistung 117
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Merkwürdigerweise verwendet das BVerfG dieses Konzept des Integrationsprogramms auch im Kontext des NATO-Vertrages, BVerfGE 104, 151 – NATO-Strategiekonzept; siehe M. Rau, NATO’s New Strategic Concept, GYIL 44 (2001), S. 545 (570). Vgl. M. Zuleeg, Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europäischen Integration, JZ 1994, S. 1 (3); C. Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, S. 489 (494). In diesem Sinne auch U. Everling, BVerfG und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, in: GS Grabitz, 1995, S. 72. In der Entscheidung heißt es allerdings „Kooperationsverhältnis zum EuGH“, BVerfGE 89, 155 (175 und Ls. 7) – Maastricht.
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gemäß der Solange II-Rechtsprechung hier nachvollziehbar ist. Die prinzipielle Aufrechterhaltung des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes beinhaltet nicht zwangsläufig einen Fehlervorwurf an die europäische Ebene und weist über das Verhältnis zwischen deutscher und europäischer Rechtsordnung nicht hinaus. Anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsaktes: Bei der Frage der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken ist kein Raum für ein Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH.121 Durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktes würde das BVerfG stets zum Ausdruck bringen, dass es eine Fehlentwicklung korrigiert und damit einen entsprechenden impliziten, konfrontativen Fehlervorwurf an die Gemeinschaft und insbesondere den EuGH richten. Der Vorwurf eines kompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw. Anwendbarkeit des Europarechts in den anderen Mitgliedstaaten. Durch die verschärften Vorgaben an vom EuGH entwickelte Auslegungsprinzipien wird dessen Spielraum erheblich begrenzt. Insbesondere reichen diese Vorgaben über den EUV, den Gegenstand des Maastricht-Urteils, hinaus.122 Letztlich wird hier die richterliche Rechtsforbildung durch den EuGH angegriffen.123 Über die (implizite) Annahme einer Überwachungspflicht des EuGH hinsichtlich der Einhaltung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf der europäischen Ebene werden schwierige Abwägungsentscheidungen des EuGH ebenso wie die richterliche Rechtsfortbildung auf europäischer Ebene durch das BVerfG überprüfbar.124 Die unmittelbaren Auswirkungen des Urteils sind überschaubar geblieben. Immerhin hat mindestens ein Gericht, das FG Rheinland-Pfalz,125 bereits einmal einen ausbrechenden Rechtsakt der Gemeinschaft festgestellt. Andere Gerichte (BGH, OVG Münster, BFH und auch VG Frankfurt126) haben mit großer Selbstverständlichkeit das Vorliegen eines ausbrechenden Rechtsaktes geprüft, wenn auch im konkreten Fall jeweils verneint, wobei unterschiedlich weit reichende Verständnisse des „ausbrechenden Rechtsaktes“ deutlich geworden sind, die sich teilweise in Richtung einer allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle von Europarechtsakten bewegen. Im Schrifttum ist die Figur des ausbrechenden Rechtsaktes zwar Gegenstand heftiger Kritik gewesen,127 sie hat jedoch auch durchaus positive Aufnahme gefun121
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Anders R. Scholz, Zum Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verwaltungsverfahrensrecht, DÖV 1998, S. 261 (267); der Sache nach stellt Scholz jedoch ein Konkurrenzverhältnis der Kompetenzprüfungskompetenzen von EuGH und BVerfG fest. Vgl. Zuleeg (Fn. 118), S. 7. Dazu U. Everling, Richterliche Rechtfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, S. 217 (227). Winkelmann (Fn. 114), S. 52. FG Rheinland-Pfalz, EFG 1995, 378; siehe auch BFHE 180, 231 (236). Siehe die Nachweise bei Mayer (Fn. 4), S. 120 ff. J. A. Frowein, Kritische Bemerkungen zur Lage des deutschen Staatsrechts aus rechtsvergleichender Sicht, DÖV 1998, S. 806 (807 f.). Es fällt auf, mit welcher Schärfe zum Teil die Auseinandersetzung im deutschsprachigen Schrifttum geführt wurde: siehe zunächst den Bericht Sprengkraft der Banane, Focus 7/1999 v. 13.02.1999, S. 11; darauf U. Everling, Richterliche Unbefangenheit?, EuZW 1999, S. 225, sowie die Replik von P. Kirchhof, Der Weg Europas ist der Dialog, EuZW 1999, S. 353.
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den und ist dabei insbesondere als Argumentationsstütze gegen vorgebliche „ausbrechende Rechtsakte“ der Gemeinschaft bzw. des EuGH (Entscheidungen in den Rechtssachen Süderdithmarschen, Alcan und Kreil) verwendet worden.128 BVerwG und BVerfG sind jedenfalls im Alcan-Verfahren dem Argument, wonach das Alcan-Urteil des EuGH unwirksam und unbeachtlich sei, nicht gefolgt.129 Fragen lässt sich allerdings, welcher Kompetenzbegriff den genannten Vorwürfen der Kompetenzüberschreitung in den Entscheidungen Süderdithmarschen und Alcan zugrunde gelegt wird. Das Argument der fehlenden Sachkompetenz suggeriert unzutreffend, dass durch die fraglichen EuGH-Urteile die europäische Ebene einen Sachbereich (Prozessrecht, Verwaltungsverfahren) umfassend regelt, für den sie sachlich nicht zuständig ist – in Alcan geht es dabei schlicht um die Durchsetzung der Beihilfenkontrolle. Weiter lässt sich fragen, inwieweit das MaastrichtUrteil die erwähnten Argumentationen zu „ausbrechenden Rechtsakten“ deckt. Die Formulierung des Konzeptes vom ausbrechenden Rechtsakt im Maastricht-Urteil deutet darauf hin, dass das BVerfG den sachlich ausbrechenden Rechtsakt im Sinne einer Ebenenkompetenz und nicht die Frage der Organkompetenz oder gar der allgemeinen Rechtmäßigkeit von Europarecht im Blick hat. (3) Zusammenfassung: Das BVerfG auf der Brücke Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich für das BVerfG trotz Anerkennung der Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung die Verbindung zwischen Europarecht und nationalem Recht stets über Art. 24 GG bzw. heute Art. 23 GG und das entsprechende Zustimmungsgesetz ergibt – die Mitgliedstaaten bleiben „Herren der Verträge“.130 Dies bedeutet im Ergebnis eine sehr weitreichende mittelbare Kontrolle des Europarechts am Maßstab des GG. Die vorgebliche Selbstbeschränkung, wonach BVerfG und EuGH in unabhängigen Rechtskreisen judizieren, erscheint dabei als Kunstgriff, der die mittelbare Kontrolle von Europarecht über die unmittelbare Kontrolle der verfassungsrechtlichen Grenzen einer gesetzlichen Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23/24 GG letztlich nur verschleiert. Dementsprechend 128
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Für eine Verwendung der Argumentationsfigur „ausbrechender Rechtsakt“ siehe etwa Sondergutachten 28 der Monopolkommission, Kartellpolitische Wende in der Europäischen Union, 1999, Rn. 72 (gegen einen Systemwechsel zu einem System der gesetzlichen Ausnahme im europäischen Wettbewerbsrecht); dazu W. Möschel, Systemwechsel im Europäischen Wettbewerbsrecht, JZ 2000, S. 61 (62) m.w.N.; Scholz (Fn. 121) (gegen die AlcanEntscheidung), S. 267; ders., in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz (Stand: Juni 2007), Art. 12a, Rn. 189 ff. (gegen die Kreil-Entscheidung); F. Schoch, in: ders u.a., VwGO (Stand: Jan. 2008), § 80, Rn. 270 ff. (gegen die Süderdithmarschen-Entscheidung); Auch die Mangold-Entscheidung des EuGH von 2005 (Rs. C-144/04, Mangold, Slg. 2005, I-9981) wurde 2007 als ausbrechender Rechtsakt vor dem BVerfG angegriffen, 2 BvR 2661/06 – Honeywell (anhängig). BVerwG, Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht 1998, S. 503 – Alcan; BVerfG, EuZW 2000, S. 445 – Alcan. Das BVerfG hat weder die Bananenmarktordnung (BVerfGE 102, 147) noch die Rundfunkrichtlinie BVerfGE 92, 203 für ultra vires erklären wollen. BVerfGE 75, 223 – Kloppenburg.
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setzt das BVerfG dem europarechtlichen Vorrangprinzip verfassungsrechtliche Grenzen. Aus den verfassungsrechtlichen Grenzen folgt die Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts. In der Görgülü-Entscheidung zum Rang der EMRK in Deutschland hat das BVerfG 2004 nebenbei auch für das Recht der EU den eigentlichen Hintergrund seiner Argumentation enthüllt und von einem „Souveränitätsvorbehalt“ gesprochen.131 Die nüchtern distanzierte Haltung zur europäischen Integration, die sich nicht zuletzt in der latenten, mehr oder weniger abgestuften Gleichsetzung des Europarechts mit sonstigem Völkerrecht äußert, ist selbst im BVerfG nicht ohne Widerspruch geblieben.132 Das BVerfG hat die Beanspruchung einer eigenen Entscheidungskompetenz über den verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt einer Kontrolle zu keinem Zeitpunkt grundsätzlich aufgegeben. Es hat seine „Eingriffsschwelle“ lediglich variiert, wie insbesondere die Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses hinsichtlich der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle zwischen Solange I und Solange II illustriert. Allein das Minderheitsvotum in der Solange I-Entscheidung lässt die Bereitschaft erkennen, einen solchen verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalt völlig aufzugeben. Schließlich ist der Unterschied zwischen der Grundrechtsdimension und der Kompetenzdimension zu betonen, weil die Kategorien „ausbrechender Rechtsakt“ und „grundrechtsverletzender Rechtsakt“ verschieden sind. bb) Die anderen Obergerichte der EU 15133 Beanspruchungen von Letztentscheidungskompetenzen über die Rechtmäßigkeit von Europarecht finden sich in Italien (Corte Costituzionale in den Entscheidungen Frontini134 und Fragd135); Irland (Supreme Court-Rechtsprechung zur Schwangerschaftsunterbrechung136); Dänemark (Højesteret-Entscheidung Rasmussen 1998137); Griechenland (Staatsrat-Entscheidung DI.K.A.T.S.A. 1998138); Spanien (Tribunal Constitucional im Maastricht-Gutachten 1992139) sowie Frankreich (Conseil constitutionnel-Entscheidung zum Droit de l’auteur 2006 und Conseil d’Etat-Entscheidung Arcelor 2007140). 131 132
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BVerfGE 111, 307 (319) – Görgülü. Siehe dazu das Sondervotum des Richters M. Gerhardt in BVerfGE 113, 273 – Europäischer Haftbefehl, der der Mehrheit des Senats vorwirft, dass sie sich „einer konstruktiven Mitarbeit an europäischen Lösungen verweigert“. Zur Rechtsprechung dieser Gerichte im einzelnen Mayer (Fn. 4), S. 143–271. Entscheidung Nr. 183/73 – Frontini, Foro italiano, 1974, I, 314. Entscheidung Nr. 232/89 – Fragd, Foro italiano, 1990, I, 1855. SC SPUC (Ireland) Ltd. v Grogan, [1989] IR 753. Højesteret Entscheidung v. 6.04.1998, Carlsen u.a./Rasmussen, I 361/1997, UfR 1998, S. 800; eine deutsche Übersetzung findet sich in EuGRZ 1999, S. 49. Staatsrat Nr. 3457/98, Katsarou/DI.K.A.T.S.A.; siehe dazu auch das Gutachten Staatsrat 194/ 2000. TC Erklärung 108/1992 v. 1.07.1992 – Maastricht-Gutachten, RIE 1992, S. 633. CC 27.06.2006, Loi relative au droit d’auteur et aux droits voisins dans la société de l’information, Rec. S. 88 ; CE Nr. 287110 Ass. 8.02.2007, Arcelor (dazu Mayer u.a., Fn. 42); siehe auch CE 30.10.1998, Sarran, Revue française de droit administratif 14 (1998), S. 1081; Cass. 2.06.2000, Fraisse; CE 3.12.2001, SNIP sowie CE Cohn-Bendit, Fn. 15.
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Rechtsprechungsansätze, die sich in diese Richtung weiterentwickeln lassen können, bestehen in Belgien (Cour d’arbitrage-Rechtsprechung zu völkerrechtlichen Verträgen141). Anhaltspunkte außerhalb von Gerichtsentscheidungen, die die Beanspruchung einer Letztentscheidungskompetenz über Europarecht durch mitgliedstaatliche Gerichte zumindest möglich erscheinen lassen, bestehen in Schweden (Stellungnahme der obersten Gerichte zu beitrittsbedingten Verfassungsänderungen142) und in Österreich (Erläuterungen der Regierung zum Beitritt143). Bisher nicht weiter aktualisierte verfassungsrechtliche Möglichkeiten zur Überprüfung des Europarechts am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts bestehen in Portugal (verfassungsrechtliche Integrationsschranken144). Wegen des Vorrangs parlamentarischer Entscheidung kann der grundsätzlich bestehende verfassungsrechtliche Kontrollvorbehalt durch Gerichte in Großbritannien kaum eigenständig aktualisiert werden.145 Sowohl von den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen her als auch nach der allgemeinen Tendenz der Rechtsprechung zum Verhältnis Europarecht – nationales Recht ist eine Beanspruchung von Letztentscheidungskompetenzen im oben beschriebenen Sinne nahezu ausgeschlossen in Luxemburg (keine Prüfung des Europarechts durch Gerichte möglich, zudem europafreundliche Haltung der Gerichte) und den Niederlanden (Ausschluss gerichtlicher Kontrolle von internationalen Verpflichtungen und unbedingter Vorrang von internationalen Verpflichtungen auch gegenüber der Verfassung). Auch in Finnland (keine Prüfung des Europarechts durch Gerichte möglich) ist wegen der Verfassungslage eine Beanspruchung von Letztentscheidungskompetenzen über Europarecht durch finnische Gerichte nicht zu erwarten. Die Letztentscheidungskompetenz wird in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten, in denen eine solche Kompetenz beansprucht oder auch nur diskutiert wird, verfassungsrechtlich begründet. Damit erstreckt sich in diesen Staaten das Prinzip des 141
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Entscheidung 26/91 v. 16.10.1991 – Commune de Lanaken (Niederländisch-Belgisches Doppelbesteuerungsabkommen), Journal des Tribunaux 111 (1992), S. 6670; danach etwa Entscheidung 12/94 v. 3.02.1994, Ecole européenne (Schulgebühren an europäischen Schulen), MB 11.03.1994, S. 6142; Entscheidung 33/94 v. 26.04.1994 – CEDH (EMRK), MB 22.06.1994. EG och grundlagarna – sammanställning av remissyttranden över betänkandet SOU 1993:14 och departementspromemorian Ds 1993:36, Ds 1993:71. Erläuterungen zur Regierungsvorlage über das Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union, 1546 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates der Republik Österreich, XVIII. GP. Art. 7 Abs. 6 der portugiesischen Verfassung; Danach kann Portugal auf der Grundlage von Gegenseitigkeit, unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips und im Hinblick auf die Verwirklichung der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion die gemeinsame Ausübung der für den Aufbau der EU erforderlichen Gewalten vereinbaren. House of Lords, Factortame Ltd. v Secretary of State, [1991] 1 AC 603; siehe aber auch House of Lords, Macarthys Ltd. v Smith (No. 1), [1979] 1 All ER 325 (329); siehe auch den Fall der „metric martyrs”, High Court QBD, Thoburn v Sunderland City Council et al., [2002] 4 All ER 156; siehe dazu auch Bamforth (Fn. 95), S. 277.
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Anwendungsvorrangs von Europarecht gegenüber nationalem Recht nicht ohne weiteres auch auf die Verfassung. Aus dem Rahmen fallen die Niederlande, wo nicht nur die gerichtliche Prüfung von Europarecht mangels entsprechender gerichtlicher Kompetenzen, sondern auch jede Verfassungsbindung von Europarechtsakten ausgeschlossen ist, da die niederländische Verfassungsordnung den Vorrang des Europarechts vorbehaltlos anerkennt. Ein Zusammenhang zwischen der gerichtlichen Feststellung von kompetenzüberschreitenden Gemeinschaftsrechtsakten und der Verletzung eines qualifizierten Kernbestandes der Verfassung wird hergestellt in Deutschland (Demokratieprinzip146), Italien (als Gegenbeschränkungen gekennzeichnete Grundprinzipien der Verfassung, controlimiti147) und Spanien. Die Rechtsprechung des Højesteret in Dänemark deutet auf die hervorgehobene Stellung von Verfassungsbestimmungen über Freiheitsgewährleistungen und die staatliche Unabhängigkeit hin. Der französische Verfassungsrat nennt neuerdings ausdrücklich die Verfassungsidentität Frankreichs als Schranke für das Europarecht.148 Als spezifisches Gefährdungspotenzial für die einheitliche Auslegung des Europarechts lässt sich in der Rechtsprechung der obersten nationalen Gerichte das Phänomen der Auslegung des Europarechts aus der Sicht der nationalen Verfassung ausmachen, wobei gleichsam eine Parallelversion des Europarechts entsteht („Verfassungseuroparecht“). Eine Kompetenz zur eigenständigen, verfassungskonformen Parallelauslegung von Europarecht (Verdoppelung des Prüfungsmaßstabes) beanspruchen neben dem BVerfG in Deutschland (s.o.) die Corte Costituzionale in Italien (Frontini-Entscheidung149), der Supreme Court in Irland (u.a. Entscheidung CampusOil150) und der Højesteret in Dänemark (Entscheidung Carlsen/Rasmussen151) sowie neuerdings auch Conseil constitutionnel und Conseil d’Etat in Frankreich (s.o.). Zusammenfassend lässt sich eine bestimmte Tendenz in der Rechtsprechung einer nicht unerheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten ausmachen. Diese Tendenz ist gekennzeichnet durch die Betonung vorrangfester Verfassungsbestände, die Beschränkung des europarechtlichen Vorrangprinzips durch den mitgliedstaatlichen Verfassungsrahmen und die eigenständige Auslegung von Europarecht durch mitgliedstaatliche Gerichte, was zu von der Auslegung des EuGH abweichenden Ergebnissen führen kann (Parallelauslegung, „Verfassungseuroparecht“).152 Insoweit 146 147
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BVerfGE 89, 155 – Maastricht. M. Cartabia, Principi inviolabili e integrazione europea, 1995, S. 8 und S. 95 ff.; siehe zu den controlimiti die Entscheidung des italienischen Consiglio di Stato 4207/05 v. 19.04.2005, Admenta/Federfarma, C.M.L.R. 2/2006, S. 1177. CC 27.06.2006, Loi relative au droit d’auteur et aux droits voisins dans la société de l’information, Rec. S. 88; dazu Mayer u.a. (Fn. 42). Siehe oben Fn. 134. SC Campus Oil v Minister for Industry and Energy, [1983] IR 82, hier ist der SC „plus communautaire que les Communautés“ (D. R. Phelan/A. Whelan, Ireland, in: 17. FIDE Kongress, Bd. I, 1996, S. 292 (302). Siehe oben Fn. 137. Siehe aber O. Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire, 2001, S. 857 ff., der die nationalen Gerichte gerade mit gemeinschaftsrechtlicher Zuständigkeit ausstatten will.
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bestätigt sich die Einschätzung von Ulrich Everling über ein auf Ebene der Mitgliedstaaten bestehendes „Konfliktpotential“.153 cc) Die Obergerichte in den jüngsten Mitgliedstaaten der EU 27 und der Beitrittskandidaten In den Jahren 2004 bis 2007 hat sich die EU um insgesamt 12 neue Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa erweitert sowie Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und Kroatien eröffnet. Auch für diese Staaten stellt sich die Frage nach Rolle und Funktion ihrer obersten Gerichte im Verhältnis zum EuGH.154 In Polen entscheidet nach Art. 188 der polnischen Verfassung von 1997 der Verfassungsgerichtshof u.a. über die Vereinbarkeit von völkerrechtlichen Verträgen mit der Verfassung, wobei die Verfassung über den internationalen Verpflichtungen steht (Art. 90). Als der Verfassungsgerichtshof 2005 das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl für unvereinbar mit Art. 55 der polnischen Verfassung befand,155 wurde die Vorrangfrage nicht offen angesprochen. Nur wenige Tage später erklärte er indessen in seiner Entscheidung zur Vereinbarkeit des Beitrittsvertrags mit der polnischen Verfassung, dass es die polnische Verfassung sei, die in Polen gegenüber allem anderen Recht Anwendungs- und Geltungsvorrang genieße.156 In Ungarn hat sich das Verfassungsgericht bereits früh ausdrücklich auf das Maastricht-Urteil des deutschen BVerfG bezogen. Nach dem Beitritt erklärte das Gericht ein ungarisches Gesetz über die Bevorratung landwirtschaftlicher Überschussproduktion für nichtig,157 obwohl es sich um die explizite Umsetzung einer EG-Verordnung handelte und es Möglichkeiten gegeben hätte, eine solch direkte Konfrontation zwischen Europarecht und ungarischem Recht zu vermeiden.158 In der Tschechischen Republik bestimmt Art. 1 Abs. 2 der Verfassung, dass die Tschechische Republik ihre völkerrechtlichen Pflichten zu beachten hat. Nach Art. 10 besteht ein Vorrang von Völkerrecht vor Gesetzesrecht, nicht allerdings vor Verfassungsrecht. In seiner Entscheidung vom 8. März 2006 bezog sich das Gericht u.a. ausdrücklich auf die Rechtsprechung des BVerfG (Solange II) und der italienischen Corte Costituzionale. Die Tschechische Republik habe – wie dies Art. 10a 153 154
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Everling (Fn. 119), S. 68; siehe auch R. Streinz, Verfassungsvorbehalte gegenüber Gemeinschaftsrecht, in: FS Steinberger (Fn. 112), S. 1437. Siehe zum folgenden Überblick die Beiträge in: A. E. Kellermann u.a. (Hrsg.), EU Enlargement: The Constitutional Impact at EU and National Level, 2001, von J. Justynski (Polen), S. 279 (283 ff.); A. Harmathy (Ungarn), S. 315 (325); V. Balaš (Tschechien), S. 267 (273 ff.); T. Kerikmäe (Estland), S. 291 (299 f.); V. Vadapalas (Litauen), S. 347 (349 f.); P. Vehar (Slowenien) S. 369 (371 f.); P. G. Xuereb (Malta), S. 229 (239 ff.); N. Emiliou (Zypern), S. 243 (246 ff.); V. Kunová (Slowakei), S. 327 (335); E. Tanchev (Bulgarien), S. 301 (306); A. Ciobanu-Dordea (Rumänien), S. 311 (312); M. Soysal (Türkei), S. 259 (262 ff.). Entscheidung P 1/05 v. 27.04.2005. Entscheidung K 18/04 v. 11.05.2005. Entscheidung 17/2004 (V.25.) AB, unter www.mkab.hu/content/en/en3/03780404.htm (10.07.2008). Dazu A. Sajó, Learning Co-operative Constitutionalism the Hard Way, ZSE 3 (2004), S. 351.
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der tschechischen Verfassung gestattet – Hoheitsrechte auf die EU übertragen. Diese Kompetenzübertragung sei jedoch nicht unbedingt erfolgt, sondern könne nur so lange Bestand haben, wie die EU diese Kompetenzen in einer Weise ausübe, die die Souveränität der tschechischen Republik nicht in Frage stelle und nicht die Grundfesten des Rechtsstaats bedrohe.159 In seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon im November 2008 hat das Gericht diese Linie bestätigt.160 Das Gericht tariert hier die Integrationsklausel (Art. 10a) mit der Ewigkeitsklausel (Art. 9 Abs. 2) und dem Souveränitätsartikel (Art. 1) aus. Das Oberste Gericht von Estland hatte bereits in seiner Rechtsprechung zum Assoziierungsabkommen mit der EU die Bereitschaft erkennen lassen, Verfassungsauslegung und europarechtliche Verpflichtungen in Übereinstimmung zu bringen.161 In seiner Hadleri-Entscheidung aus dem Jahre 2006 vermied es dann folgerichtig die Kontrolle eines estnischen Umsetzungsgesetzes anhand der Verfassung, indem es als Kontrollmaßstab allein das Europarecht heranzog, auf Grund dessen es das Gesetz für unanwendbar erklärte.162 Die Debatte um die 2006 nachgeholte Änderung der Verfassung, die eigentlich schon zum Beitritt hätte erfolgen sollen, bot dem Gericht die Möglichkeit einer grundsätzlichen Positionsbestimmung. In seiner Stellungnahme vom 11. Mai 2006 postulierte es einen nahezu bedingungslosen Vorrang des Europarechts. Die Teile der Verfassung, die im Widerspruch zu Europarecht stünden, müssten unangewendet bleiben.163 In Lettland besteht erst seit 1996 ein Verfassungsgericht. Ein Gesetz über die Internationalen Abkommen Lettlands von 1994 sieht den Vorrang von internationalen Abkommen vor dem nationalen Gesetzesrecht, nicht aber gegenüber der Verfassung vor. Auch das lettische Verfassungsgericht scheint jedoch um eine integrationsfreundliche Linie bemüht zu sein.164 In Litauen wird die Verfassung durch den Verfassungszusatz zur Mitgliedschaft Litauens in der EU ergänzt, der zwar den Vorrang des Europarechts vor einfachem Gesetzesrecht, nicht aber vor Verfassungsrecht vorsieht. Das Verfassungsgericht hielt sich in seiner grundlegenden Entscheidung zur Vorrangfrage vom 14. März 2006165 an diesen Wortlaut und hat diese Linie in der Folge beibehalten.166 Auch in Slowenien steht die Verfassung über den internationalen Verpflichtungen, das slowenische Verfassungsgericht hat dies in verschiedenen Entscheidungen
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Entscheidung Pl. ÚS 50/04 v. 8.03.2006 (Zuckerquoten); siehe auch Pl. ÚS 66/04 v. 3.05.2006 (Europäischer Haftbefehl), C.M.L.R. 3/2007, S. 592. Entscheidung Pl. ÚS 19/08 v. 26.11.2008 (Vertrag von Lissabon). Entscheidung Nr. 3-4-1-11-03 v. 24.09.2003, Vilu and Estonian Voters Union; Entscheidung Nr. 3-4-1-12-03 v. 29.09.2003, Kulbok. Entscheidung Nr. 3-3-1-33-06 v. 5.10.2006, Hadleri Toidulisandite AS. Stellungnahme Nr. 3-4-1-3-06 v. 11.05.2006. Entscheidungen 119–123/2003. Entscheidung Nr. 13/2000-14/2000-20/2000-21/2000-22/2000-25/2000-31/2000-35/200039/2000-8/01-31/01 v. 14.03.2006. Entscheidungen 30/03 v. 21.12.2006 und 47/04 v. 8.05.2007.
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bekräftigt.167 Die Integrationsklausel des Art. 3a der slowenischen Verfassung regelt die Vorrangfrage darüber hinaus nicht. Für Malta stellen sich für das dortige Verfassungsgericht Fragen im Hinblick auf das Verhältnis zur EMRK. In Zypern stehen völkerrechtliche Verträge nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichts über dem Gesetzesrecht, aber unterhalb der Verfassung. Die zypriotische Verfassung löst in Art. 148 Abs. 2 die Vorrangfrage zugunsten des Europarechts, erwähnt dabei jedoch nicht das Verfassungsrecht. Das Oberste Gericht erkennt den Vorrang des Europarechts vor Gesetzesrecht an. Der Entscheidung über die Frage nach dem Vorrang gegenüber Verfassungsrecht konnte das Gericht in seinem Urteil zur Umsetzung des Europäischen Haftbefehls – ganz ähnlich wie die Gerichte in Polen und Deutschland, s.o. – unter Hinweis darauf, dass es lediglich nationales Recht überprüfe, das zudem nur einen Rahmenbeschluss der dritten Säule der EU umsetze, ausweichen. Dabei bezog es sich ausdrücklich auf die einschlägigen Entscheidungen in Deutschland, Polen, Griechenland und Frankreich.168 Insgesamt dürfte das Gericht der europäischen Integration aufgeschlossen gegenüberstehen.169 In der Slowakei besteht nach einer Verfassungsänderung von Februar 2001 zwar eine umfangreiche Integrationsklausel (Art. 7), die den Vorrang des Europarechts vor den einheimischen Gesetzen anordnet. Ob das dortige Verfassungsgericht damit auch einen Vorrang vor der Verfassung annehmen würde, ist offen. Immerhin setzte das Gericht Anfang 2006 das Ratifikationsverfahren zumVerfassungsvertrag bis zur weiteren verfassungsgerichtlichen Prüfung aus.170 In Bulgarien misst die Verfassung von 1991 internationalen Abkommen einen Rang über den Gesetzen, aber unterhalb der Verfassung zu,171 wodurch auch das bulgarische Verfassungsgericht gebunden sein dürfte. Für Rumänien bzw. für das rumänische Verfassungsgericht ist nach einer umfassenden Verfassungsänderung seit 2003 die Verfassungsgrundlage eindeutiger geworden. Ein neuer Titel VI regelt nun die Übertragung von Hoheitsrechten sowie die Fragen um die unmittelbare Anwendbarkeit und den Vorrang – zumindest vor Gesetzesrecht – des Europarechts. In der Türkei wird für das türkische Verfassungsgericht und den Fall eines EUBeitritts ausdrücklich eine Orientierung an der Solange I und II-Rechtsprechung 167 168
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Vgl. dazu Entscheidung Rm-1/97, S. 7. Vgl. Entscheidung Nr. 133(1)/04 v. 7.11.2005, englische Zusammenfassung unter www.supremecourt.gov.cy; siehe ferner aus der Fülle von Stimmen zum Europäischen Haftbefehl BVerfGE 113, 273 – Europäischer Haftbefehl; Polnischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung K 18/04 v. 11.05.2005; Griechisches Oberstes Gericht, Entscheidung 504/2005; Französischer Conseil d’Etat, CE 368282 v. 26.09.2002. Siehe den Vortrag von C. Artemides, Supreme Court of Cyprus, in: A. Mavi (Hrsg.), The Position of Constitutional Courts Following Integration into the European Union (2005), S. 159, auch unter www.us-rs.si/media/zbornik.pdf (7.01.2009). Entscheidung v. 18.01.2006 – Dostal u.a. Art. 5 Abs. 4 der bulgarischen Verfassung.
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des BVerfG und den Entscheidungen Frontini und Fragd der italienischen Corte Costituzionale angenommen. Der summarische Überblick ergibt, dass fast alle Neumitgliedstaaten wie auch die Türkei und Kroatien über ein Verfassungsgericht verfügen und dass ein Vorrang von Europarecht vor der Verfassung sich vielfach nicht mit der geltenden Verfassung vereinbaren lässt. Teilweise bemühen sich die nationalen Verfassungshüter um pragmatische Lösungen.172 Es zeichnet sich allerdings ab, dass auch für die meisten Obergerichte der jüngsten Mitgliedstaaten nicht von einer bedingungslosen Anerkennung des Letztentscheidungsanspruchs des EuGH ausgegangen werden kann. Am deutlichsten wird dies in der von Aussage und Stil her besonders drastischen Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofs zum Beitrittsvertrag von Mai 2005.173 3. Zwischenergebnis Das Verhältnis zwischen EuGH und nationalen obersten Gerichten ist nicht von offenen Konflikten geprägt. Fehlende Bereitschaft, im Wege des Vorlageverfahrens in einen Dialog mit dem EuGH zu treten, indiziert, in welchem Maße nationale Gerichte bereit sind, auf einer eigenen Position gegenüber dem EuGH zu beharren. Hier fallen das deutsche BVerfG und der spanische Tribunal Constitucional, aber auch Gerichte aus jüngeren Mitgliedstaaten wie der ungarische Alkotmánybíróság auf. Unterhalb der Schwelle offener Konflikte lassen sich Tendenzen in der Rechtsprechung der obersten Gerichte der Mitgliedstaaten ausmachen, die als Reibungsphänomene beschrieben werden können. Dazu gehört die Betonung vorrangfester Verfassungsbestände (Grundrechte, Grundprinzipien, nationale Verfassungsidentität) sowie die eigenständige Auslegung von Europarecht durch mitgliedstaatliche Gerichte (Kompetenzfragen), die zu von der Auslegung des EuGH abweichenden Ergebnissen führen kann (Parallelauslegung, „Verfassungseuroparecht“).174 Als Tendenz lässt sich weiter ausmachen, dass bei Bestehen eigenständiger Verfassungsgerichte regelmäßig auch Grenzen des Europarechts in besonderem Maße problematisiert werden (Deutschland, Italien, Spanien, wohl auch Polen). Umgekehrt erscheint aus der Perspektive des Europarechts das Fehlen eines zentralen mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichts, das als Hüter der (nationalen) Verfassung zumindest den Kern der Verfassung gegen das Europarecht verteidigt, von Vor-
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Vgl. A. Albi, Supremacy of EC Law in the New Member States, European Constitutional Law Rev. 3 (2007), S. 25 (28 f.). Siehe Fn. 156. Es fällt auf, dass die hier analysierten Äußerungen von nationalen Gerichten recht häufig jenseits konkreter zu entscheidender Rechtsfragen fielen (obiter dicta, Gutachtenverfahren). Eine naheliegende Deutung ist dazu, dass die Gerichte Signale aussenden wollten, die jedenfalls auch an den EuGH gerichtet waren; siehe dazu Alter (Fn. 68), S. 118, unter Bezugnahme auf E. Blankenburg.
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teil.175 Folgerichtig ist aus Mitgliedstaatensicht daher der Trend zum Verfassungsgericht in alten (siehe etwa Belgien) wie auch fast allen neuen Mitgliedstaaten. Das Fehlen eines eigenständigen Verfassungsgerichts schließt aber die Beanspruchung von Letztentscheidungskompetenzen letztlich nicht aus, wie etwa das dänische Beispiel belegt.
II. Analyse und theoretische Einordnung Auch wenn die Reibungsphänomene im Verhältnis zwischen EuGH und nationalen obersten Gerichten bisher unterhalb der Schwelle offener Konflikte liegen, lässt sich doch über Möglichkeiten zur Auflösung dieser Phänomene (1.) oder ihrer theoretischen Einordnung (2.) nachdenken. 1. Möglichkeiten zur rechtlichen Gestaltung der Letztentscheidungsfrage Es lässt sich der Versuch unternehmen, ein rechtliches Instrumentarium zusammenzustellen, mit dessen Hilfe der gerichtliche Konflikt um die Letztentscheidungszuständigkeit durch Einwirkung auf den rechtlich determinierten Kontext oder die rechtliche Determinierung der Gerichte in einen geordneteren Umgang überführt, in diesem Sinne rationalisiert und gelöst werden kann.176 Ein Beispiel dafür, wie Gegensätze zwischen europäischer und nationaler Rechtsordnung um die Letztentscheidung über Europarecht durch Änderungen von (im weitesten Sinne) Kompetenzbestimmungen bzw. den Maßstäben des erkennenden Gerichts entschärft werden können, findet sich auf europäischer Ebene bereits mit der „irischen Lösung“, wo auf der Ebene des Primärrechts (Protokoll) verankert wurde, dass das Europarecht nicht die Anwendung bestimmter irischer Verfassungsbestimmungen zur Schwangerschaftsunterbrechung berührt. Um einen ähnlichen Versuch der Kompetenzbegrenzung handelt es sich bei den so genannten Opt-outs Großbritanniens und Polens bezüglich der Grundrechte-Charta im Vertrag von Lissabon von 2007. Dabei ist zu differenzieren: Die Lösung eines aktuellen oder potenziellen Konfliktes lässt sich im Sinne der irischen Lösung für einzelne konkrete Sachbereiche bewerkstelligen. Im Hinblick auf die Letztzuständigkeit für Kompetenzüberschreitungen im engeren Sinne (Sachkompetenzüberschreitungen) können konkurrierende gerichtliche Ansprüche jedoch durch noch so detaillierte materielle Kompetenzbestimmungen alleine kaum ausgeschlossen werden. Die einfachste Erklärung für die begrenzte Problemlösungskapazität von Kompetenzformulierungen ist dabei, dass sich Auslegungsspielräume bei Rechtsregeln nie völlig ausschließen lassen.
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Ähnlich M. Claes/B. de Witte, Report on the Netherlands, in: A.-M. Slaughter u.a (Hrsg.), Constitutional Courts in the Member States of the European Union (1995), S. 190. Ausführlicher dazu F. C. Mayer, The European Constitution and the Courts, Jean Monnet Working Paper Nr. 9 (2003), unter www.jeanmonnetprogram.org.
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Denkbar ist ferner der Ansatz auf institutioneller Ebene durch Schaffung einer gerichtsförmigen oder politischen Kompetenzkontrolle. Die Errichtung eines Kompetenzgerichtes177 ist für die EU immer wieder vorgeschlagen worden,178 in jüngerer Zeit auch von Richtern am BVerfG (eigenes Vertragsschiedsgericht aus 15 Vertretern nationaler Gerichte und einem Vertreter des EuGH,179 „gemeinsames Verfassungsgericht“ „aus dem Kreis der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte“180). Andere Vorschläge richten sich in diesem Zusammenhang auf einen Europäischen Obersten Gerichtshof bzw. ein Europäisches Verfassungsgericht,181 einen Union Court of Review,182 einen Verfassungsrat (Constitutional Council)183 oder ein European Conflicts Tribunal.184 Als zuständige Institutionen einer politischen Kompetenzkontrolle kommen bestehende (Ministerrat, EP) und neu zu schaffende Einrichtungen wie etwa ein parlamentarischer Ausschuss185 in Betracht. Entwickelt man die Idee einer „weichen“ politischen Instanz weiter, so ließe sich auch über andere Verfahren nachdenken, bei denen die konkrete Streitentscheidung zugunsten des Gedankens der Konfliktvermeidung durch Verfahren und Diskurs in den Hintergrund tritt (Berichtsverfahren, Ombudsmannverfahren).186
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Die Idee ist dabei nicht neu sondern in den USA immer wieder diskutiert worden, siehe zuletzt den Vorschlag zur Errichtung eines Court of the Union von 1962, dazu im Einzelnen Mayer (Fn. 4), S. 308. Siehe dazu auch die Nachweise bei A. Schwartze, Kompetenzverteilung und Entscheidungsverfahren in einer Europäischen Verfassung, in: M. E. Streit/S. Voigt (Hrsg.), Europa reformieren, 1996, S. 136 f.; M. Hilf, Ungeschriebene EG-Kompetenzen im Außenwirtschaftsrecht, ZfV 1997, S. 295. S. Broß, Bundesverfassungsgericht – Europäischer Gerichtshof – Europäischer Gerichtshof für Kompetenzkonflikte, VerwArch 92 (2001), S. 425. U. Di Fabio, Ist die Staatswerdung Europas unausweichlich?, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 2.02.2001, S. 8. K. Friedrich, Bundesfinanzhof contra Europäischen Gerichtshof, RIW 1985, S. 794; S. Magiera, Kommentar zu T. Stein und P. Kirchhof, in: D. Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, 1990, S. 125 (127). European Constitutional Group, A Proposal for a European Constitution, 1993, S. 13. J. H. H. Weiler, The European Union Belongs to its Citizens, ELRev. 22 (1997), S. 150 (155); siehe dazu auch ders./U. R. Haltern/F. C. Mayer, European Democracy and Its Critique, West European Politics 18 (1995), S. 4 (38); Weiler u.a., Certain Rectangular Problems of European Integration, 1996, S. 14; ders., In der Unterwelt der Ausschüsse, Die Zeit v. 22.10.1998, S. 9. P. Lindseth, Democratic Legitimacy and the Administrative Character of Supranationalism, Columbia Law Rev. 99 (1999), S. 628 (731 ff.). I. Pernice, Kompetenzabgrenzung im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866 (874, 876), schlägt einen Subsidiaritätsausschuss vor. Ähnlich J. Schwarze, Kompetenzverteilung in der Europäischen Union und föderales Gleichgewicht, DVBl. 1995, S. 1265 (1267) (verbindliche Entscheidungen treffende Einrichtung). Siehe hier auch die Beratungen in der Arbeitsgruppe I des Konvents, CONV 286/02 (unter http://europeanconvention.eu.int). Dazu im Einzelnen F. C. Mayer, Die drei Dimensionen der Europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 577 (606 f.).
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Mit dem EuGH besteht freilich bereits ein Kompetenzkontrolleur, der seiner Aufgabe durchaus nachkommt.187 Der Vorschlag eines weiteren, umfassend zuständigen Kompetenzgerichtes zielt auf eine grundlegende Veränderung des Institutionengefüges in der EU ab. Der Vorschlag einer präventiven Kontrolle der Kompetenzen würde Rechtsakte des EuGH nicht erfassen. Ein paritätisch von nationaler und europäischer Ebene besetztes Kompetenzgremium könnte etwaige Konflikte möglicherweise auch nicht entscheiden oder unterbinden. Alle denkbaren Konfliktsituationen könnten also auch durch neue Institutionen nicht aufgefangen werden. Zudem geht es bei der Kompetenzfrage in nicht-unitarischen Systemen letztlich darum, bei allen Akteuren ein dauerhaft hohes Sensibilitätsniveau in Kompetenzangelegenheiten zu erreichen. Dies können für sich genommen weder detaillierteste Kompetenzbestimmungen noch institutionelle Arrangements leisten.188 Dies spricht eher für die angesprochenen „weichen“ Verfahren (Berichte o.Ä.), die auf einen strukturell anderen, vorsichtigen Umgang mit Kompetenzen abzielen. Immerhin würde eine (auch) mit Kompetenzfragen befasste Einrichtung, die ohne als zusätzliches Gericht ausgestaltet zu sein aus Richtern des EuGH und der nationalen Gerichte zusammengesetzt wäre, zumindest ein weiteres Forum für einen judiziellen Dialog189 zwischen den Gerichten der Ebenen bieten. Der judizielle Dialog bzw. das ständige Gespräch zwischen den Gerichten der verschiedenen Ebenen im Wege des Verfahrens nach Art. 234 EG (Art. 267 AEUV) hat sich bereits als tragendes Element der durch den EuGH in der Vergangenheit vorangetriebenen Konstitutionalisierung der Gemeinschaftsrechtsordnung erwiesen190 und dürfte auch für die Zukunft großes Konfliktlösungspotenzial aufweisen. In diesem Sinne wäre die Einrichtung eines „Gemeinsamen Senates der obersten Gerichte der Europäischen Union“ zu erwägen. Letztlich würden damit zahlreiche bereits bestehende informelle Kontakte191 zwischen den Gerichten lediglich einen formelleren Rahmen erhalten. Jenseits der Errichtung neuer Institutionen können zwei in den USA für das Verhältnis zwischen Bundesgewalt und Einzelstaaten entwickelte Erklärungsversuche auch für die europäische Situation Hinweise geben. Die Theorie der Political Safeguards of Federalism192 betont die Sicherung von Belangen der Einzelstaaten durch Strukturmerkmale der übergreifenden Ebene, was den Gerichten eine dies187 188
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Siehe dazu die seinerzeitige EuGH-Richterin N. Colneric, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Kompetenzgericht, EuZW 2002, S. 709. Anders jedenfalls zum letztgenannten Punkt wohl A. v. Bogdandy/J. Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441 (458), die die europäische Organstruktur für entscheidend halten. Zum Begriff Pernice (Fn. 1), S. 29. Siehe auch J. H. H. Weiler, The Autonomy of the Community Legal Order, in: ders., The Constitution of Europe, 1999, S. 286 (287 und 322): „constitutional discourse“. Siehe in diesem Kontext www.confcoconsteu.org; www.uepcsj.org; www.juradmin.eu. H. Wechsler, The Political Safeguards of Federalism, Columbia Law Rev. 54 (1943), S. 543; D. Shapiro, Federalism, 1995, S. 116 ff.; siehe auch US Supreme Court, Garcia v. San Antonio Metropolitan Transit Authority, 469 US 528 (1985).
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bezügliche Zurückhaltung (self-restraint) ermöglicht. Vereinzelt ist angenommen worden, dass dieser Ansatz den Verhältnissen in der EU eigentlich eher entspricht als den amerikanischen Verfassungsverhältnissen.193 Hier müssen freilich vor allem die letztentscheidenden Gerichte auf Mitgliedstaatenebene die Einschätzung teilen, dass die strukturellen Sicherungen der Mitgliedstaatenbelange auf europäischer Ebene ausreichen. Die Grundidee des judicial federalism in den USA ist die Gewährleistung von eigenständigen, abschließenden Kompetenzen der Einzelstaatengerichte in Mehrebenensystemen. Von den in den USA entwickelten Doktrinen und Mechanismen,194 könnte jedenfalls das Certification-Verfahren (Vorlagefragen der Bundesgerichte an die Einzelstaatengerichte zu Fragen des Einzelstaatenrechts) von konkretem Interesse für die EU sein: Ein vergleichbares Verfahren würde die Handhabung einzelner Bestimmungen auf Ebene der EU, die als Rechtmäßigkeitsverweisungen auf das nationale Recht gedeutet werden könnten, erleichtern. Ein solches Verfahren würde zudem die Eigenständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte unterstreichen und dem Eindruck einer Hierarchie zwischen den Gerichten der verschiedenen Ebenen entgegenwirken. Schließlich könnte eine differenzierte Behandlung der Vorrangfrage helfen, wird doch eine vorbehaltlose Anerkennung des Vorrangs von Europarecht vor allem nationalen Recht teilweise als die Schaffung föderaler Staatlichkeit auf europäischer Ebene gedeutet.195 Noch anschaulicher ist der in der schwedischen Debatte für die bedingungslose Anerkennung des Vorrangprinzips verwendete Begriff der Prostration,196 der eine demütige Unterordnung versinnbildlicht: Die Preisgabe von Möglichkeiten, dem Vorranganspruch des Europarechts verfassungsrechtliche Einwände entgegenzusetzen, erscheint als Unterordnung unter eine „äußere“ Gewalt. Immerhin ist eine solche Anerkennung keine lediglich theoretische Vorstellung, sondern beispielsweise in den Niederlanden geltendes Verfassungsrecht. Die irische Lösung, über ein auf Ebene des europäischen Primärrechts verankertes Protokoll sicherzustellen, dass die nationalen Verfassungsbestimmungen zur Schwangerschaftsunterbrechung unberührt bleiben, lässt sich zum einen als Beispiel für eine kompetenzgestaltende problemspezifische Lösung verstehen, die nicht über den Einzelfall des Schwangerschaftsunterbrechungsverbotes der irischen Verfassung hinausweist (s.o.). Zum anderen lässt sie sich aber auch allgemeiner so formulieren, dass von der Unionsebene aus der Vorranganspruch in Anbetracht bestimmter mitgliedstaatlicher Interessen zurückgenommen wird, wenn diese Interessen für einen Mitgliedstaat von besonderer Bedeutung sind. Die Rücksichtnahme auf Mitgliedstaateninteressen ist keine neue Idee, sondern findet sich bereits in den 193 194 195 196
K. Lenaerts, Constitutionalism and the Many Faces of Federalism, American Journal of Comparative Law 38 (1990), S. 205 (222). Siehe dazu ausführlich Mayer (Fn. 4), S. 310 ff. M. Herdegen, Maastricht and the German Constitutional Court, CMLRev. 31 (1991), S. 235 (240). Ruin (Fn. 112), S. 440.
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Gründungsverträgen, beispielsweise mit den Bereichsausnahmen zugunsten der öffentlichen Verwaltung (Art. 39 Abs. 4 EG, Art. 45 Abs. 4 AEUV) bzw. der Ausübung öffentlicher Gewalt (Art. 45 EG, Art. 51 AEUV) sowie den Ausnahmen von den Grundfreiheitsgewährleistungen (Art. 30, 46 und 55 EG bzw. 36, 52 und 62 AEUV),197 die unionsweit einheitlich als Begriffe des Europarechts bestimmt werden. Denkbar wäre, gemeinsame Bestände an mitgliedstaatlichen Verfassungsgrundlagen zu formulieren und diese dem Vorrang des Europarechts zu entziehen.198 Darüber geht Art. 6 Abs. 3 EU (Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss.) hinaus. Nach dieser Bestimmung achtet die Europäische Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten. Hier ergibt ein europarechtlicher, einheitlicher Begriff der nationalen Identität kaum Sinn. Vielmehr verweist diese Bestimmung auf die Mitgliedstaaten zurück. Da die nationale Identität auch die Verfassungsidentität umfasst, wie Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss. nun auch deutlich macht, der die ‚grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen‘ nennt, besteht mit Art. 6 Abs. 3 EU bzw. Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss. auf Ebene der EU ein Ansatzpunkt, um von der europäischen Ebene aus den Vorranganspruch gegenüber mitgliedstaatlicher Verfassungsidentität zurückzunehmen. Ergänzt wird Art. 6 Abs. 3 EU dabei durch das in Art. 10 EG (Art. 4 Abs. 3 EUV-Liss.) niedergelegte Prinzip der Gemeinschaftstreue, dem teilweise ebenfalls die Verpflichtung der Gemeinschaft zum Respekt nationaler Verfassungsstrukturen entnommen worden ist.199 Indessen stellt sich die Frage, wie von der Unionsebene aus der Begriff der nationalen Identität auch für die Mitgliedstaaten zufriedenstellend ausgefüllt werden kann. Eine Möglichkeit wäre hier, die Mitgliedstaatenebene in die Klärung dieses Begriffes mit einzubeziehen: Es vermag kaum zu überraschen, dass gerade ein irischer Beitrag den in Art. 6 Abs. 3 EU bzw. Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss. angelegten Gedanken eines Schutzes mitgliedstaatlicher (Verfassungs-) Grundentscheidungen so weiterentwickelt, dass die nationalen letztentscheidenden Gerichte den Inhalt von europarechtlich anerkannten und geschützten Verfassungsgrundentscheidungen bestimmen sollen,200 dabei könnte eine europäische Variante des amerikanischen Certification-Verfahrens (s.o.) hilfreich sein. 197 198
199
200
Vgl. die Übersicht bei D. R. Phelan, Revolt or Revolution, 1997, S. 422 ff. Siehe B. de Witte, Droit communautaire et valeurs constitutionnelles nationales, Droits 14 (1991), S. 87, der den Versuch unternimmt, solche gemeinsamen Bestände zu ermitteln, jedoch selbst eingestehen muss, dass als Problem die jedem Mitgliedstaat eigenen verfassungsrechtlichen Bestimmungen bleiben, die gerade die nationale Verfassungsidentität ausmachen („identité constitutionnelle nationale“, ebd., S. 95). Vgl. A. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU (Stand: Jan. 2008), Art. 10 EG, Rn. 82 ff.; allgemein zu Art. 10 EG bzw. Art. 5 EWG-Vertrag M. Blanquet, L’article 5 du Traité C.E.E., 1993. Phelan (Fn. 197), S. 416; Phelan erörtert verschiedene Szenarien für die künftige Entwicklung der EU und schlägt zur Vermeidung einer Revolte oder einer Revolution im Rechtssinne eine Vertragsergänzung vor, wonach Grundprinzipien der nationalen Verfassungen, die Leben, Freiheit, Religion, Familie, länderspezifische Menschenbilder oder Moralvorstellungen, Legitimitätsgrundlagen der nationalen Rechtsordnung sowie die Bewahrung der nationalen Rechtskonzeption betreffen, gegenüber dem Gemeinschaftsrecht Vorrang genießen.
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Der Grundgedanke der Rücksichtnahme der europäischen Ebene auf Verfassungsgrundsätze der Mitgliedstaaten ließe sich auch von Art. 6 Abs. 3 EU (Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss.) loslösen: Ein anderer Vorschlag richtet sich auf eine Ergänzung von Art. 10 EG um eine Verpflichtung für die Gemeinschaft, wonach diese bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen Rücksicht auf die nationalen Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten zu nehmen hätte.201 In diese Richtung geht nun Art. 4 Abs. 3 EUV-Liss. Einzelne Gerichte haben begonnen, den Topos der nationalen Verfassungsidentität aufzunehmen und damit eine Brücke zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht zu schlagen. Zu erinnern ist in diesem Kontext an den Hinweis auf die nationale Verfassungsidentität als Grenze des Vorrangs, wie ihn der französische Conseil constitutionnel 2004 implizit und 2006202 ausdrücklich gegeben hat, und der sich auch in der jüngsten Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts findet.203 Insgesamt lässt sich jedenfalls festhalten, dass es Möglichkeiten gibt, die offene Frage der Reichweite des Vorrangprinzips differenziert zu beantworten. Dies reicht von der vorbehaltlosen Anerkennung des Vorrangs des Rechts der übergreifenden Ebene (Unionsebene) durch die Mitgliedstaaten bis zu komplexeren Lösungen wie der unionsrechtlichen Absicherung von bestimmten Grundentscheidungen der Mitgliedstaaten. 2. Möglichkeiten einer theoretischen Einordnung a) Bestehende Einordnungs- und Lösungsversuche Wo Gegensätze zwischen nationalen obersten Gerichten und EuGH sichtbar werden, lässt sich versuchen, die eine oder die andere Position rechtlich zu falsifizieren. So ist beispielsweise für die Konfliktstellung des Maastricht-Urteils vielfach versucht worden, mit verfassungsrechtlichen204 und bzw. oder gemeinschaftsrechtli201
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nalen Rechtskonzeption betreffen, gegenüber dem Gemeinschaftsrecht Vorrang genießen. Die Reichweite dieses Grundwertevorbehaltes soll von nationalen (gerichtlichen) Letztentscheidungsorganen festgelegt werden, ebd., S. 417 ff. Kritisch zu Phelan M. P. Maduro, The Heteronyms of European Law, ELJ 5 (1999), S. 160, und N. MacCormick, Risking Constitutional Collision in Europe?, Oxford Journal of Legal Studies 18 (1998), S. 517; siehe in diesem Zusammenhang D. R. Phelan, The Right to Life of the Unborn v the Promotion of Trade in Services, Modern Law Rev. 55 (1992), S. 670. Siehe dazu auch H.-P. Folz, Demokratie und Integration, 1999, S. 387. CC 19.11.2004, Traité établissant une Constitution pour l’Europe (deutsche Übersetzung EuR 2004, S. 911); CC 27.06.2006, Loi relative au droit d’auteur et aux droits voisins dans la société de l’information; siehe dazu Mayer u.a. (Fn. 42). Tribunal constitucional, Urteil v. 13.12.2004, DTC 1/2004; deutsche Übersetzung EuR 2005, S. 343. Eine von verschiedenen möglichen Deutungen der Position des BVerfG bei Kirchhof (Fn. 95), S. 965; G. Hirsch, Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht, NJW 1996, S. 2457, versucht, die Position des BVerfG mit verfassungsrechtlichen Gründen zu widerlegen.
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chen205 Argumentationen, gelegentlich auch mit völkerrechtlichen206 Argumenten, den Nachweis zu führen, dass entweder das BVerfG oder der EuGH „im Recht“ ist. Letztlich führen diese Ansätze deswegen nicht weiter, weil nicht erkennbar ist, dass BVerfG oder EuGH sich von der jeweils entgegengesetzten Rechtsposition überzeugen lassen. Ein diese Einsicht aufnehmender anderer Ansatz berührt die Grenzen rechtlicher Argumentation, indem er die Konfliktstellung für rechtlich nicht auflösbar erklärt. Sowohl EuGH als auch BVerfG argumentieren danach aus ihrer rechtlichen Perspektive zutreffend, was rechtstheoretisch auf einen Konflikt von Grundnormen im Sinne von Kelsen zurückgeführt werden kann, für den es keine weitere rechtliche Lösung gibt.207 Diese Position verdient besondere Beachtung, weil sie einen Grundeinwand gegen jede nähere Beschäftigung mit dem potenziellen Letztentscheidungskonflikt darstellt, die über die Evaluierung der jeweiligen Rechtsstandpunkte hinausgehen möchte: Da für die Auflösung der widerstreitenden Positionen der beiden Gerichte gerade keine weitere „rechtliche“ Instanz in Sicht ist, ist etwa der im deutschen Maastricht-Urteil angelegte Konflikt um die Letztentscheidung möglicherweise gar kein rechtliches Problem im herkömmlichen Verständnis. EuGH und nationale oberste Gerichte könnten als „Grenzorgane“ im Verdross’schen Sinne betrachtet werden, die zwar an das Recht gebunden, jedoch keiner rechtlichen Kontrolle mehr unterworfen sind, so dass die Lösung eines Konfliktes eine politische oder eine soziologisch determinierte Frage wäre,208 letztlich eine „Sache der Macht“.209 Dies ist auch der Kern der Überlegungen, die die Letztentscheidungsfrage in der Schwebe halten wollen.210 Reizvoll an diesen letztgenannten Ansätzen ist zweifellos deren pragmatische Unaufgeregtheit. Allerdings bleibt der Vorwurf möglich, dass diese Ansätze sich möglicherweise gerade mit dem Hinweis auf einen Konflikt von Grundnormen bzw. eine Doppelgrundnorm zu hastig von einer etwas kleiner kalibrierten rechtlichen Argumentation verabschieden und nicht
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Siehe etwa Tomuschat (Fn. 118), S. 494 ff.; weitere Nachweise bei Mayer (Fn. 4), S. 117. T. Schilling, The Autonomy of the Community Legal Order, Harvard International Law Journal 37 (1996), S. 389; krit. Weiler (Fn. 190), S. 286 ff.; siehe auch A. Paulus, Kompetenzüberschreitende Akte von Organen der Europäischen Union, in: B. Simma/C. Schulte (Hrsg.), Akten des 23. Österreichischen Völkerrechtstages, 1999, S. 49; zu einer vermittelnden Auslegung der sich gegenüberstehenden Positionen etwa I. Pernice, Einheit und Kooperation, in: GS Grabitz (Fn. 119), S. 523 (534 f.). Siehe M. Heintzen, Die „Herrschaft“ über die Europäischen Gemeinschaftsverträge – Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof auf Konfliktkurs?, AöR 119 (1994), S. 564; N. MacCormick, The Maastricht-Urteil: Sovereignty Now, ELJ 1 (1995), S. 259; W.-D. Grussmann, Grundnorm und Supranationalität, in: T. v. Danwitz u.a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 47 ff. Vgl. dazu A. Verdross, Völkerrecht, 1950, S. 24 ff., unter Bezugnahme auf Hans Kelsen. J. Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte, in: FS Stern, 1997, S. 1265. Vgl. J. A. Frowein, Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, ZaöRV 54 (1994), S. 1 (7).
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zu dem, was Recht, gerade auch Verfassungsrecht, vordringlich leisten soll, beitragen: zu Rechtssicherheit und rechtlicher Einhegung von Macht. Schließlich findet sich in der Rechtsprechung des deutschen BVerfG eine Einordnungsperspektive mit der Argumentationsfigur des Kooperationsverhältnisses zwischen EuGH und obersten nationalen Gerichten. Dazu ist festzuhalten, dass das Kooperationsverhältnis im Maastricht-Urteil lediglich im Zusammenhang mit der Frage des Grundrechtsschutzes verwendet wurde.211 Damit ist an die Verschiedenheit der beiden Kategorien „ausbrechender Rechtsakt“ und „grundgesetzgrundrechtsverletzender Rechtsakt“ zu erinnern (s.o).212 Auch im Schrifttum aus der Zeit vor dem Maastricht-Urteil war die Kooperation von BVerfG und EuGH lediglich in Zusammenhang mit dem Grundrechtsschutz angeregt worden, nicht aber für den Fall der Überschreitung sachlicher Kompetenzen.213 Das BVerfG hat die Figur des Kooperationsverhältnisses in der Folge erneut herangezogen.214 Sie hat allerdings in der Rechtsprechung noch keine klareren Konturen erlangt und bedarf näherer Konkretisierung.215 b) Einbettung in eine zeitgemäße Verfassungskonzeption Oben ist gezeigt worden, dass durchaus Möglichkeiten bestehen, die Gegensätze zwischen den Gerichten rechtlich zu gestalten und aufzulösen.216 Dass dies nicht geschieht, lässt sich damit erklären, dass das Problem nicht gewichtig oder akut genug ist, um die Verträge zu ändern, oder schlicht von den Regierungen nicht verstanden wird.217 Es erklärt sich möglicherweise aber auch dadurch, dass den Gegensätzen zwischen den Gerichten eine bestimmte Funktion im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und EU zukommt, die man als mittelbare Interessenwahrung deuten kann: Die Beanspruchung einer Letztentscheidungskompetenz über Unions211 212
213 214 215
216 217
BVerfGE 89, 155 (175 und Ls. 7) – Maastricht. Anders R. Scholz, Zum Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verwaltungsverfahrensrecht, DÖV 1998, S. 261 (267); er überträgt das Kooperationsverhältnis vom Bereich der Grundrechtsgewährleistungen auf den Bereich der sachlichen Kompetenzen und geht dort von einem „entsprechenden ‚Kooperationsverhältnis‘“ aus. Der Sache nach stellt Scholz jedoch ein Konkurrenzverhältnis der Kompetenzprüfungskompetenzen von EuGH und BVerfG fest. R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 304 ff. Siehe die Nachweise unter Fn. 111 und 113. Vgl. in diesem Zusammenhang M. Zuleeg, in: E. Denninger u.a (Hrsg.), AK-GG, 2001, Art. 23 GG, Rn. 32 ff. („Verhältnis der Zusammenarbeit“), und die wiederkehrende Formulierung des EuGH seit dem ablehnenden Beschluss über die Zulassung als Streithelfer in Rs. 6/ 64 (Fn. 78), 1309, von der „Zusammenarbeit des Gerichtshofes mit den staatlichen Gerichten“ (in der englischen bzw. französischen Sprachfassung „cooperation“ bzw. „coopération“) bzw. die Bindung auch der nationalen Gerichte an den „Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“ aus Art. 10 EG (Art. 4 Abs. 3 EUV-Liss.), EuGH, Rs. C-50/00 P, UPA/Rat, Slg. 2002, I-6677, Rn. 42. Art. 35 EU und Art. 68 EG belegen im Übrigen, dass die Mitgliedstaaten sehr wohl über die Möglichkeit verfügen, dem EuGH ‚die Flügel zu stutzen‘; siehe Alter (Fn. 68), S. 197. Alter (Fn. 68), S. 182 ff., macht auf die unterschiedlichen Zeithorizonte und Schwerpunkte von Politikern und Richtern aufmerksam.
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rechtsakte durch letztentscheidende mitgliedstaatliche Gerichte kann den Mitgliedstaaten die Loslösung von interessewidrigen europarechtlichen Verpflichtungen ermöglichen. Die (mögliche) Beanspruchung einer Letztentscheidungskompetenz durch mitgliedstaatliche Gerichte erscheint gleichsam als Kompensation für immer weiter abnehmende Einflussmöglichkeiten auf die europäische Entscheidungsebene. Man könnte der Letztentscheidungsfrage daher auch stabilisierende Züge zuschreiben, weil die potenzielle Ausübung einer Letztentscheidungskompetenz die Berücksichtigung von Minderheitsinteressen auf europäischer Ebene begünstigt218 und damit die Balance zwischen den Ebenen wahren hilft. Die Herausforderung an eine europäische Verfassungsrechtswissenschaft besteht darin, die Phänomene der europäischen Verfassungswirklichkeit in einer zeitgemäßen Verfassungskonzeption aufzufangen. Reibungsphänomene zwischen den Gerichten und deren Funktion sind Teil dieser europäischen Verfassungswirklichkeit. aa) Vorklärung: Welche Verfassung? Verfassung, Verfassungsverbund und Mehrebenenverfassung Ob man von einer europäischen Verfassung bereits heute sprechen kann bzw. sollte, lässt sich kontrovers diskutieren. Der Verfassungsvertrag hätte diese Frage übrigens nicht entschieden,219 entsprechend führt auch die Abstandnahme von der Verfassungsrhetorik im Vertrag von Lissabon für die materielle Klärung der europäischen Verfassungsdimension nicht weiter.220 Kritisiert wird nicht nur die Lösung des Verfassungsbegriffs vom Staat.221 Darüber hinaus wird durch ein Konzept „Europäische Verfassung“ die Schwächung der nationalen Verfassung befürchtet, weil die in den nationalen Verfassungen angelegte strukturelle Sicherheit in Frage gestellt werde, zudem sei eine Verfassung die Festschreibung einer erreichten Rechtskultur, wovon bei der EU noch nicht ausgegangen werden könne.222 Ein solcher emphatischer Verfassungsbegriff mag zahlreiche Vorteile bieten, darunter nicht zuletzt die Vertrautheit der Verfassungsinterpreten mit ihm. In Anbetracht der Entwicklungen auf übernationaler Ebene in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird demgegenüber schon seit längerem ein „Neudurchdenken des Verfassungsbegriffs“223 gefordert. Spätestens mit den veränderten 218
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Zur Instrumentalisierung nationaler Verfassungsgerichtsrechtsprechung M. Hilf, Solange II: Wie lange noch Solange?, EuGRZ 1987, S. 1 (2): „In den politischen Beratungen vor allem des Rates wurde gelegentlich die Karte der Karlsruher Richter als letztes Mittel ausgespielt“. Technisch gesehen handelte es sich bekanntlich um einen völkerrechtlichen Vertrag. Vgl. zur Eliminierung der Verfassungsrhetorik F. C. Mayer, Die Rückkehr der europäischen Verfassung?, ZaöRV 67 (2007), S. 1141. Siehe nur J. Isensee, in: ders./P.Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 2004, §15, Rn. 1, 3 f., sowie die Nachweise bei C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2000), S. 290 (292). P. Kirchhof, Große Entwürfe und kleine Schritte, Handelsblatt v. 8.08.2001, S. 6. P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 34 (95).
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Rahmenbedingungen in der „postnationalen Konstellation“ (Jürgen Habermas, Michael Zürn)224 dürfte ein pragmatischerer Verfassungsbegriff, der betont, dass nur so viel Staat bzw. Hoheitsgewalt besteht, wie durch die Verfassung konstituiert,225 vorzugswürdig sein. Für die EU sind in diesem Zusammenhang zwei Beobachtungen von Bedeutung: Erstens besteht eine europäische Hoheitsgewalt, die den Einzelnen in seinem Rechtsstatus unmittelbar betrifft, bereits.226 Zweitens weist zumindest die deutsche Verfassung durch das Integrationsziel in der Präambel und in Art. 23 GG über sich selbst hinaus. Damit lässt sich jedenfalls die Frage nach einer Verfassungsdimension der europäischen Integration bejahen. Eine227 mögliche Konzeptualisierung dieser Verfassungsdimension ist die Annahme einer komplementären Struktur von nationaler und europäischer Verfasstheit (Verfassungsverbund),228 einer Mehrebenenverfassung (multilevel constitutionalism). Nach diesem Ansatz besteht eine Europäische Verfassung bereits heute, und zwar in der Verbindung von nationaler 224
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J. Habermas, Die postnationale Konstellation, 1998, S. 91 ff.; M. Zürn, The State in the PostNational Constellation, ARENA Working Papers 35 (1999), unter www.arena.uio.no; siehe auch D. Curtin, Postnational Democracy, 1997, S. 5, 48 ff., 51 ff.; J. Shaw, Postnational Constitutionalism in the European Union, Journal of European Public Policy 1999, S. 579 (586 ff.). A. Arndt, Umwelt und Recht, NJW 1963, S. 24 (25): „In einer Demokratie gibt es an Staat nicht mehr, als seine Verfassung zum Entstehen bringt“; vgl. auch P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1998, S. 620. Gemeinschaftsgewalt als Herrschaftsgewalt schon bei Badura (Fn. 223), S. 59. Siehe nur den Prinzipien-Ansatz von A. v. Bogdandy, in diesem Band; siehe ferner etwa das Konzept der Doppelverfassung (T. Öhlinger, Die Verfassung im Schmelztiegel der europäischen Integration: Österreichs neue Doppelverfassung, in: ders., Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union, 1999, S. 165; P. Pernthaler, Die neue Doppelverfassung Österreichs, in: FS Winkler, 1997, S. 773); dazu VfGH, EuZW 2001, S. 219 (222) – Inländerdiskriminierung; siehe zur Verfassungsdebatte auch die Nachweise bei A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001; P. Craig, Constitutions, Constitutionalism, and the European Union, ELJ 7 (2001), S. 125; L. S. Rossi, „Constitutionalisation“ de l’Union européenne et des droits fondamentaux, Revue Trimestrielle de Droit Européen 38 (2002), S. 27; D. Blanchard, La constitutionalisation de l’Union européenne, 2001. Der Begriff geht zurück auf I. Pernice, Bestandssicherung der Verfassungen: Verfassungsrechtliche Mechanismen zur Wahrung der Verfassungsordnung, in: R. Bieber/P. Widmer (Hrsg.), L’espace constitutionnel européen, 1995, S. 225 (261 ff.), siehe im Einzelnen ders., Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 163 ff. m.w.N.; siehe auch ders., Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, 2006; 1995 als Alternativ- und Gegenentwurf zum Staatenverbund des BVerfG entwickelt, wird der Begriff Verfassungsverbund zunehmend aus dieser Alternative gelöst verwendet, siehe etwa P. M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 194. Zum Verbund als Ordnungsidee E. Schmidt-Aßmann, Europäische Verwaltung zwischen Kooperation und Hierarchie, in: FS Steinberger (Fn. 112), S. 1375 (1381 ff.). Zum Begriff „multilevel constitutionalism“ siehe I. Pernice, Constitutional Law Implications for a State Participating in a Process of Regional Integration, in: E. Riedel (Hrsg.), German Reports: XV. International Congress on Comparative Law, 1998, S. 40. Für eine französische Konzeptualisierung als constitution composée siehe ders./F.C. Mayer, De la constitution composée de l’Europe, Revue Trimestrielle de Droit Européen 36 (2000), S. 623, für eine italienische Version siehe dies., La Costituzione integrata dell’Europa, in: G. Zagrebelsky (Hrsg.), Diritti e Costituzione nell’Unione Europea, 2003, S. 3.
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und europäischer Verfassungsebene. Europäisches und nationales Verfassungsrecht bilden zwei Ebenen eines materiell-rechtlich, funktional und institutionell zu einer Einheit verbundenen Systems.229 Das Prinzip des Anwendungsvorrangs impliziert in dieser Deutung keine Über- bzw. Unterordnung zwischen europäischem und nationalem (Verfassungs-) Recht im Sinne einer Normenhierarchie, hier liegt der Unterschied zwischen „supremacy“ und „primacy“:230 „Für den Verfassungsverbund ist gerade charakteristisch, dass er nicht hierarchisch strukturiert ist“.231 Der Geltungsgrund dieser Europäischen Verbundverfassung findet sich letztlich beim Einzelnen, auf den der nationalen und der europäischen Teilverfassung allozierte Hoheitsrechte zurückgeführt werden können,232 hier liegt auch die Begründung für den Anwendungsvorrang233 Jenseits einer solchen Konzeptualisierung von Europäischer Verfassung deutet Josef Isensees nach wie vor gültige Feststellung, wonach die EU den hergebrachten Typologien des Völkerrechts und des Staatsrechts entgleitet,234 bereits an, weshalb möglicherweise bei bestimmten Fragestellungen noch grundsätzlicher über die hergebrachten Typologien – und zu diesen zählt auch ‚Verfassung‘ – hinausgegangen werden muss.235 Auch der integrationsimmanente Kontext der rechtsvergleichenden Betrachtung spricht für die Einrichtung eines analytischen Konzepts, das möglichst neutral ist. Die Unterschiedlichkeit von Vorstellungen über Rechts- und Verfassungsbegriffe, wie sie schon in Europa das – je nach Sprach- und Rechtskulturkreis unterschiedliche – Verständnis etwa von Staat, Föderalismus, Souveränität und Verfassung illustriert, erzeugt für die Verwendung dieser Begriffe im europäischen Kontext enormen Vorklärungsbedarf. Allein die sprachliche Übertragung neuer Begriffe wie Staatenverbund oder auch Verfassungsverbund etwa ins Englische er229
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Vgl. in diesem Kontext A. v. Bogdandy/M. Nettesheim, Die Europäische Union: Ein einheitlicher Verband mit eigener Rechtsordnung, EuR 1996, S. 1; Pernice, VVDStRL (Fn. 228), S. 173. Zu Hierarchien R. Bieber/I. Salomé, Hierarchy of Norms in European Law, CMLRev. 33 (1996), S. 907 (912); vgl. auch das spanische Tribunal Constitucional, 6603/2004, Entscheidung 1/2004 v. 13.12.2004, C.M.L.R. 1/2005, S. 981, oder EuR 2005, S. 343. Pernice, VVDStRL (Fn. 228), S. 185, in Abgrenzung zum Verband; krit. M. Nettesheim, German Report for the XX. FIDE Conference 2002, EuR Beiheft 2/2004, S. 7. In diesem Sinne I. Pernice, Die Europäische Verfassung, in: FS Steinberger (Fn. 112), S. 1319 (1324); siehe auch ders. u.a., Renewing the European Social Contract, King’s College Law Journal 12 (2001), S. 61 (64 f., 68 f.); auf die Probleme dieser Argumentation mit dem Einzelnen macht u.a. U. K. Preuss, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 60 (2000), S. 384, aufmerksam. Dies kann hier nicht in allen Einzelheiten ausgeführt werden. Siehe zum Konzept der Europäischen Verfassung im Übrigen C. Möllers, in diesem Band. J. Isensee, Integrationsziel Europastaat?, in: FS Everling, 1995, S. 567; vgl. auch Schupperts Hinweis, wonach die Gemeinschaft „nur mit einer Denkweise und Begrifflichkeit erfasst werden kann, die der Eigenart und dem Prozesshaften der EG Rechnung trägt“, G. F. Schuppert, Zur Staatswerdung Europas, Staatswissenschaft und Staatspraxis, 1994, S. 35 (60). Siehe zu den Einwänden gegen das „überkommene Begriffsrepertoire“ Schuppert (Fn. 234), S. 53; siehe auch E.-W. Böckenförde, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 8; siehe im Übrigen die Nachweise in der Vorauflage.
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weist sich als problematisch: Wo für den Verfassungsverbund mit dem Begriff multilevel constitutionalism (s.o) immerhin die Idee des Konzeptes transportiert werden kann, bleibt die englische Fassung des Staatenverbundes, compound of states236, sperrig. Für Nuancierungen zwischen Verbund und Verband bleibt dabei kein Raum. Ein weitgehend neutrales Konzept, das hier verwendet werden kann, ist das des „Mehrebenensystems“.237 Besonders nützlich ist hier, dass das Bild von unterschiedlichen Ebenen nicht zwingend mit der Vorstellung von Über-/Unterordnung verbunden ist. Vielmehr lassen sich Ebenen als Plattformen vorstellen, die nebeneinander auf gleicher Höhe stehen können, in anderen Fällen auf unterschiedlichen Höhen angesiedelt sind, vielleicht sogar flexibel umeinander kreisen. Ferner muss Hoheitsgewalt im Mehrebenensystem nicht über das Gewaltmonopol definiert werden, dem herkömmlichen Definitionselement für Souveränitätsvorstellungen,238 sondern kann zunächst ohne die Frage nach der Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzung zu stellen über die Entscheidungskompetenz bestimmt werden, die in der Regel als Norm- bzw. Rechtsaktsetzungsbefugnis ausgestaltet ist. Die Entscheidungskompetenz stellt einen teilmengeartigen Ausschnitt aus den den klassischen Staatsbegriff (Staatsgewalt) prägenden Elementen Gewaltmonopol und ausschließliche Rechtsetzungsbefugnis239 dar. Insoweit erfolgt die Aktualisierung der als Kompetenz bezeichneten Rechtsmacht in einer Entscheidung. Ebenen im Sinne eines rechtlichen Mehrebenensystems sind Entscheidungsebenen.240 Entscheidung versteht sich dabei als Chiffre für rechtlich determinierte und organisierte Entscheidungsfindung.241 bb) Die Rolle von Gerichten im europäischen Mehrebenensystem Wenn sich die europäische Verfassung als komplementäre Struktur (Verfassungsverbund) verstehen lässt, liegt es nahe, eine europäische Verfassungsgerichtsbarkeit
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Vgl. G. Wegen/C. Kuner, Germany: Federal Constitutional Court Decision Concerning the Maastricht Treaty, International Legal Materials 33 (1994), S. 388; siehe aber in diesem Zusammenhang L. Siedentop, Democracy in Europe, 2000, S. 27 (Hinweis auf Madisons Wort von der „compound republic“). Siehe dazu ausführlicher die Vorauflage. Das Gewaltmonopol als Grundlage für Staat und hoheitliche Strukturen schon bei Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1985, S. 835 f. A. v. Bogdandy, Supranationale Union als neuer Herrschaftstypus, Integration 1993, S. 210 (215). Ähnlich F. W. Scharpf, Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, 1994, S. 25 (29), und R. Mayntz, Föderalismus und die Gesellschaft der Gegenwart, AöR 115 (1990), S. 232; vgl. auch die Beschreibung der Europäischen Gemeinschaft als politisches Gebilde mit mehreren Entscheidungsebenen durch Schuppert (Fn. 234), S. 39, oder als „Mehrebenenentscheidungssystem“ durch M. Zürn, Über den Staat und die Demokratie in der Europäischen Union, ZERP-Diskussionspapier 3 (1995), S. 19 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang den Staatsbegriff Hermann Hellers: Staatslehre, 1934, S. 228 ff., wonach der Staat als organisierte Wirkungs- und eben auch Entscheidungseinheit zu verstehen ist; siehe auch v. Bogdandy (Fn. 239), S. 217.
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entsprechend zu beschreiben.242 „Die“ europäische Verfassungsgerichtsbarkeit würde dann, in optimistischer Deutung,243 wahrgenommen durch die nationalen Obergerichte und den EuGH. Da sowohl die nationalen Gerichte wie auch der EuGH ihre Autorität als Verfassungsgericht auf den Einzelnen zurückführen, besteht zwischen den Gerichten kein vorgegebenes Vorrangverhältnis, sondern eine Verpflichtung zur Kooperation. Konfliktuelle Elemente in den Rechtsbeziehungen zwischen den Ebenen sind letzten Endes die Vorrangfrage und die Geltungsgrundfrage. Die Frage des Geltungsgrundes der europäischen Ordnung ist für das Konzept des Verfassungsverbundes streitig.244 Sie kann bei der Betrachtung der EU als Mehrebenensystem offen gelassen werden. Für die Vorrangproblematik macht die Mehrebenenbetrachtung den Blick frei auf die Grundvoraussetzungen, unter denen ein bedingtes Vorrangprinzip zwischen verschiedenen Ebenen von Hoheitsgewalten funktionieren kann: Die Vorrangfrage beantwortet sich eindeutig letztlich nur nach den Festlegungen, die auf der übergreifenden Ebene vorgenommen werden. In der EU ist dies das Prinzip des Anwendungsvorranges des Rechts der übergreifenden Ebene. Anwendungsvorrang impliziert dabei nicht notwendig eine Hierarchie. Vielmehr handelt es sich eher um eine Art Vorfahrtsregel. In anderen Sprachen ist der Unterschied zwischen hierarchischer und nicht-hierarchischer Vorfahrtsregel terminologisch besser greifbar, wenn zwischen (hierarchischer) Vorherrschaft (supremacy) oder nicht hierarchischem Vorrang (primacy) unterschieden wird.245 Wenn darüber hinaus für den Fall der Normenkollision bestimmte vorrangfeste Bestände eingefordert werden, kann dies nur dann konfliktfrei bleiben, wenn diese vorrangfesten Bestände auf beiden Rechtsebenen grundsätzlich anerkannt und im konkreten Fall von beiden Ebenen aus einvernehmlich festgestellt werden. Dies führt auf die Kernfrage nach der Verortung von Letztentscheidungsansprüchen der nationalen obersten Gerichte auf der europäischen Ebene. Die Antwort weist in prozeduraler Hinsicht auf Art. 234 EG (Art. 267 AEUV) und in materieller Hinsicht auf Art. 6 Abs. 3 EU (Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss.) – die Achtung mitgliedstaatlicher Verfassungsidentität. Die Ausfüllung dieser Norm ist dabei Aufgabe der obersten Gerichte und des EuGH. Dass die jeweiligen letztentscheidenden Gerichte als Hüter 242
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Das deutsche BVerfG beobachtete immerhin bereits in BVerfGE 73, 339 (367 f.) – Solange II – die „funktionelle Verschränkung der Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaften mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten“ mit einer „teilweisen funktionalen Eingliederung des Europäischen Gerichtshofs in die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit“. Die pessimistische Deutung wäre der Wettbewerb der Gerichte. Siehe etwa M. Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict, ELJ 11 (2005), S. 262. Siehe in diesem Zusammenhang H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung?, JZ 1999, S. 1065. In diesem Sinne insbesondere Tribunal Constitucional, Urteil v. 13.12.2004, DTC 1/2004, deutsche Übersetzung EuR 2005, S. 343; „primacía“ bedeutet danach Anwendungspriorität im Kollisionsfall, „supremacía“ ist der Anspruch auf die höchste hierarchische Stellung, vgl. dazu A. Becker, Vorrang versus Vorherrschaft, EuR 2005, S. 353.
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der Belange der jeweiligen Ebene sich schon heute geradezu dialogisch an den Kern eines auf beiden Ebenen anerkannten vorrangfesten Rechtsbestandes heranarbeiten, illustrieren die Grundrechtesaga von Solange I bis zu den Bananen-Entscheidungen von EuGH und BVerfG ebenso wie die Entscheidungen des französischen Conseil constitutionnel zu den in der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten liegenden Grenzen des Europarechts (s.o.). c) Komplementäre Verfassungsgerichtsbarkeit – Einwände246 aa) Asymmetrie der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit Die Heterogenität der obersten nationalen Gerichte ist eingangs erläutert worden. Die Vorstellung einer europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit mit Verbundcharakter führt wegen der verschiedenen Reichweiten von nationalen Obergerichten zu einer höchst unterschiedlichen Ausformung von europäischer Verfassungsgerichtsbarkeit je nach Mitgliedstaat. Konkret besteht beispielsweise die Möglichkeit, dass in einem Mitgliedstaat wie Deutschland durch ein starkes Verfassungsgericht über Letztentscheidungsansprüche die Anerkennung mitgliedstaatlicher Verfassungsfiguren als vorrangfeste Bestände eingefordert werden, in den Niederlanden mangels Verfassungsgericht dagegen nicht. Einerseits ist diese Asymmetrie in der Heterogenität der EU-Mitgliedstaaten, dem entscheidenden Verfassungsmerkmal der Union, bereits angelegt.247 Zudem deutet sich an, dass Reformüberlegungen hin zu einer Errichtung von Verfassungsgerichten im Sinne eines Konvergenzphänomens248 gerade durch die Letztentscheidungsproblematik motiviert sein können, wie das schwedische Beispiel belegt.249 Die jüngsten Mitgliedstaaten jedenfalls haben sich fast durchgehend mit einem Verfassungsgericht ausgestattet (s.o.). Allgemein wird hier einer der Vorzüge der Mehrebenenbetrachtung für die Frage des Verhältnisses zwischen nationalen Gerichten und EuGH deutlich: Die entscheidende Trennlinie ist die zwischen europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene. Gerade die Entwicklung in der Grundrechtefrage belegt, dass es ausreichen kann, wenn ein einziges Gericht der Ebene Ebenenbelange artikuliert. Dabei steht nicht 246
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Einwände, die sich grundsätzlich gegen das Konzept Verfassungsgerichtsbarkeit bzw. die Theoriebildung zu diesem Konzept richten, bleiben hier außer Betracht. Für die amerikanische Debatte A. Bickel, The Least Dangerous Branch, 1962; M. Tushnet, Taking the Constitution Away From the Courts, 1999. Siehe in diesem Zusammenhang J. Tully, Strange Multiplicity, 1995, S. 183 ff. (Verfassung als kontinuierliche interkulturelle Verhandlung). Von einer allgemeinen Konvergenz in Europa, hin zur Rechtskontrolle durch ausgewiesene Verfassungsgerichte, kann wegen zahlreicher Staaten mit grundsätzlichen Vorbehalten gegen die (ex post) Kontrolle des Parlamentes durch den Richter wohl noch nicht ausgegangen werden, siehe aber Tomuschat (Fn. 4), S. 245 ff. Die schwedische Regierung wollte bei der beitrittsbedingten Verfassungsänderung ausdrücklich sichergestellt wissen, dass die schwedischen Gerichte im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht dieselben Kompetenzen besitzen wie das deutsche BVerfG, Justitiedepartmentet, Våra Grundlagar och EG – förlag till alternativ, Ds 1993:36.
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die Beobachtung im Vordergrund, wonach das deutsche BVerfG auf der mitgliedstaatlichen Ebene für andere Gerichte Vorbild- oder doch zumindest Orientierungsfunktion ausübt. Vielmehr geht es darum, dass die aus den Vorbehalten des BVerfG zum Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene zumindest deutlicher gewordene Rechtsprechung des EuGH zum Grundrechtsschutz allen Mitgliedstaaten zugute kommt, auch wenn diese kein Verfassungsgericht kennen, das die mitgliedstaatlichen Grundrechtsbelange hätte artikulieren können. In diesem Sinne ist das BVerfG nicht nur Hüter der deutschen Verfassung, sondern wirkt darüber hinaus als Hüter von Belangen der Mitgliedstaatenebene. Entsprechendes gilt für die anderen nationalen Obergerichte in ihrer Positionierung zum EuGH. Der Einwand, wonach schon eine Vergleichbarkeit zwischen dem EuGH und den nationalen obersten Gerichten – trotz der gelegentlichen Bezeichnung des EuGH als Verfassungsgericht250 – nicht besteht, hat besonderes Gewicht. Er beschreibt möglicherweise eine Asymmetrie, die das Konzept einer europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit mit Verbundcharakter als solches ausschließt.251 Als Unterschied lässt sich beispielsweise nennen, dass in Verfahren vor dem EuGH nur in Ausnahmefällen Einzelne unmittelbar auftreten. Es sind die Mitgliedstaaten, die Kommission und die vorlegenden nationalen Gerichte, die den Dialog mit dem Gerichtshof führen.252 In der jüngsten Rechtsprechung hat der Gerichtshof dies gegen das Gericht erster Instanz und gegen den Generalanwalt ausdrücklich bestätigt.253 Diese Perspektive führt auf die integrationsspezifische Funktion des EuGH und der EuGH-Rechtsprechung, in Wahrheit womöglich weniger orientiert am Rechtsschutz des Einzelnen als am Fortgang der Integration.254 Die – letztlich erfolglose – Diskussion um eine Grundrechtsbeschwerde im Verfassungskonvent255 hätte hier eine Wende bedeuten können, wenn der EuGH stärker als Unionsbürger-
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J. Schwarze (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983; O. Due, A Constitutional Court for the European Communities, in: D. Curtin/ D. O’Keeffe (Hrsg.), Constitutional Adjudication in European Community and National Law, 1992, S. 3; K. Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, S. 225. Ähnlich letztlich der Einwand von P. Badura, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 60 (2000), S. 353, gegen das Mehrebenensystem (keine Vergleichbarkeit der Ebenen). Dazu H. Schepel/E. Blankenburg, Mobilizing the European Court of Justice, in: G. de Búrca/ J. H. H. Weiler (Hrsg.), The European Court of Justice, 2001, S. 9 (18 ff.); siehe auch die restriktive Linie des EuGH zur Zulassung von Streithelfern in Vorlageverfahren seit EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Beschl. vom 3. 6. 1964, Slg. 1964, 1307. EuGH, Rs. C-50/00 P (Fn. 215); dagegen (weite Auslegung des Kriteriums der individuellen Betroffenheit nach Art. 230 Abs. 4 EG) GA Jacobs, ebd., Nr. 59 ff., und EuG, Rs. T-177/01, Jégo-Quéré/Kommission, Slg. 2002, II-2365, Rn. 41 ff., 50 (unter Hinweis auf die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes in Art. 47 GR-Charta), kassiert in EuGH, Rs. C-263/02 P, Jégo-Quéré/Kommission, Slg. 2004, I-3425; siehe die minimale Besserstellung der Individuen nach Art. 263 AEUV, dazu J. Bast, in diesem Band, S. 555 ff. H. Rasmussen, The European Court of Justice, 1998, S. 198 ff.; siehe auch L. Hooghe/G. Marks, Multi-Level Governance and European Integration, 2001, S. 26 f. Dazu N. Reich, Zur Notwendigkeit einer Europäischen Grundrechtsbeschwerde, ZRP 2000, S. 375; siehe auch Konvents-Dokument CONV 72/02, S. 3, sub I.3.; CONV 354/02.
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gericht konzipiert worden wäre, mit allen damit verbundenen Folgen. Letztlich gab es zu diesem Punkt keine Verständigung im Konvent.256 Am schwerwiegendsten ist vielleicht der Einwand der unterschiedlichen demokratischen Legitimation zwischen EuGH einerseits und nationalen obersten Gerichten andererseits. Dass in vielen Mitgliedstaaten die Gerichte Recht „Im Namen des Volkes“ sprechen,257 nicht aber der EuGH, führt auf die Frage, wer und was den EuGH legitimiert. Nach Art. 223 EG (Art. 253 AEUV) werden die Richter von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt, eine parlamentarische Beteiligung etwa des EP ist dort nicht vorgesehen.258 Die Richter des deutschen BVerfG werden demgegenüber immerhin vom Parlament gewählt (Art. 94 GG). Allerdings wird man auch die Ernennung der EuGH-Richter durch ihrerseits demokratisch gewählte Regierungen über mehr oder weniger lange Legitimationsketten demokratisch absichern können. Im Übrigen steht das Unionsrecht einer parlamentarischen Mitwirkung an der Richterauswahl auf der mitgliedstaatlichen Ebene nicht entgegen, wie das österreichische Beispiel der parlamentarischen Beteiligung an den entsprechenden Personalentscheidungen belegt.259 Der Vertrag von Lissabon bringt hier eine gewisse Verbesserung, indem ein Ausschuss eingerichtet wird, der die Aufgabe hat, eine Stellungnahme zur Eignung der Bewerber für die Ausübung des Amts eines Richters oder Generalanwalts beim Gerichtshof oder beim Gericht abzugeben.260 256
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Siehe den Schlussbericht von Arbeitsgruppe II, CONV 354/02 Punkt C und die Erörterung in der Diskussionsrunde zum Gerichtshof (Circle I), CIRCLE I WD 08, Rn. 17 ff.; CONV 543/03. Siehe auch die Anhörung des Präsidenten des EuGH, Rodríguez Iglesias, in Circle I am 17. Februar 2003, CONV 636/03 (gegen die Einführung von Art. 230 Abs. 4 EG; die Anhörung des Präsidenten des EuG Vesterdorf am 24. Februar 2003, CONV 588/03 (zugunsten einer Ausweitung von Art. 230 Abs. 4 EG, ebenso GA Jacobs, WG II WD 20, siehe auch Richter Skouris, WG II WD 19)). Siehe auch U. Everling, Rechtsschutz im europäischen Wirtschaftsrecht auf der Grundlage der Konventsregeln, in: J. Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 263; F. C. Mayer, Individualrechtsschutz im Europäischen Verfassungsrecht, DVBl. 2004, S. 606; ferner J. Bast, in diesem Band, S. 556 f. Auf diesen Aspekt macht O. Dubos in seiner umfassenden Studie (Fn. 152), S. 855, aufmerksam. Sonderlich planvoll wirkt die deutsche Personalpolitik hinsichtlich der EuGH-Richter nicht, wurden doch die Richter Everling, Zuleeg, Hirsch und Colneric jeweils nach einer Amtszeit abgelöst. Alter (Fn. 68), S. 200, berichtet zwar, dass M. Zuleeg u.a. deswegen nicht erneut benannt, sondern durch G. Hirsch aus Bayern ersetzt wurde, weil ersterer zu sehr gewillt erschien, europäisches Recht extensiv zu interpretieren. Möglicherweise besteht aber schlicht auf Ebene der Regierungen nur begrenztes Interesse an der Richterfrage. Art. 23c der öst. Verf. (B-VG). Art. 255 AEUV, eines der 7 Mitglieder wird vom EP nominiert. Probleme bei der Richterauswahl bleiben, etwa wenn frühere Kommissionsbedienstete als Richter oder Mitarbeiter von Richtern tätig werden und sich die Frage nach informellen Informationskanälen zwischen Kommission und EuGH stellt. Letzteres ist bisher ebenso wenig Gegenstand europarechts- oder sozialwissenschaftlicher Analyse gewesen wie etwa die Rolle der Mitarbeiter am EuGH, der référendaires, die bisher weitgehend unsichtbar bleiben und nicht einmal auf der Internetseite des EuGH auftauchen. Möglicherweise liegen damit wichtige Elemente für das Verständnis der Funktionsweise des EuGH noch im Dunkeln.
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Allgemein wird man hier auch auf mitgliedstaatlicher Ebene auf zahlreiche ungeklärte Grundfragen der Richterlegitimation stoßen,261 und schließlich die Heterogenität mitgliedstaatlicher oberster Gerichte in je nach Mitgliedstaat höchst unterschiedlichen Vorstellungen über die Natur und den Umfang demokratischer Legitimation von Gerichten im Allgemeinen gespiegelt sehen. bb) Verflüchtigung von Verantwortung und Heimatlosigkeit der Gemeinwohlbestimmung Grundlegendere Einwände gegen eine komplementäre Verfassungsgerichtsbarkeit betreffen die Frage nach der Verantwortungszurechnung und danach, wie in einer solchen komplementären Ordnung die Gemeinwohldefinition geleistet werden kann. Wie im exekutivischen Bereich zwischen Rat, nationalen Regierungen und Administrationen Gemengelagen entstanden sind,262 kann eine gerichtliche Verbundstruktur zu Unschärfen in der Zuständigkeit bis hin zur Verflüchtigung der Verantwortung für den Grundrechtsschutz des Einzelnen führen, wie die Bananenproblematik263 es möglicherweise bereits angedeutet hat. Problematisch wäre es durchaus, wenn zwischen dem Einzelnen und der europäischen Ebene ein Forum der Gemeinwohlbestimmung,264 in dem sich auch ein Solidaritätsgedanke entfalten könnte, kaum mehr erkennbar wäre. Solidaritätsfreie Individualisierung hätte dann auch das Verfassungsrecht erreicht. cc) Erkenntniswert? Der Erkenntniswert einer nicht-hierarchischen Konstruktion der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit im Verfassungsverbund oder im Mehrebenensystem liegt vor allem in den prospektiven Möglichkeiten: Ausgehend von einer Konzeption, die nationale und europäische Ebene in die Verantwortung einer europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit einbindet, lässt sich die Horizontalität der Gerichte mit klareren Konturen ausstatten, mehr Verfassungsklarheit erzielen und eine gegenseitige Verstärkung der Verfassungsgebundenheit bewirken. Konkret kann die Mehrebenenbetrachtung als Ausgangspunkt für eine Entwicklung von Kriterien der Zuständigkeitsabgrenzung genommen werden und konzeptionelle Grundlage für den konstitutionellen Dialog zwischen den Gerichten sein, mit einer der Verfassungskonzeption entsprechenden Einordnung der Funktionen der verschiedenen Gerichte. Dies bedeutet eine Abkehr vom Kollisionsparadigma 261
262 263 264
So aus der deutschen Sicht A. Voßkuhle/G. Sydow, Die demokratische Legitimation des Richters, JZ 2002, S. 673; Pernice (Fn. 1), S. 36, argumentiert demgegenüber mit einer funktionalen Legitimation der Judikative. Siehe dazu F. C. Mayer, Nationale Regierungsstrukturen und europäische Integration, EuGRZ 2002, S. 111. Siehe oben Fn. 111. Zu „Mehrebenen-Gemeinwohl“ G. F. Schuppert, Die Zukunft der Daseinsvorsorge in Europa, in: H.-P. Schwintowski (Hrsg.), Die Zukunft der kommunalen EVU im liberalisierten Energiemarkt, 2002, S. 11 (20 ff.); siehe auch P. Häberle, Gibt es ein europäisches Gemeinwohl?, in: FS Steinberger (Fn. 112), S. 1153 (1166 ff.); R. Uerpmann, Das öffentliche Interesse, 1999, S. 266 f.
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und eine Absicherung des Kooperationsparadigmas. Die Nichtunterordnung der nationalen Gerichte, die etwa eine mitgliedstaatliche Verfassungsidentität wahren (Spanien, Frankreich, s.o.) wäre damit auch europaverfassungsrechtlich erklärbar und legitimiert und nicht mehr europarechtswidrig. Die Nichtunterordnung wäre jedenfalls aber auch mit klareren Grenzen für die nationalen Gerichte versehen, was irreführenden rechtlichen Argumentationen (etwa mit ausbrechenden Rechtsakten265) von vornherein den Boden entziehen würde. 3. Zwischenergebnis Die Reibungsphänomene zwischen den obersten nationalen Gerichten und dem EuGH sind einer rechtlichen Analyse zugänglich und rechtlich gestaltbar. Ihnen kommt im Verhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten eine Funktion zu. Es bestehen theoretische Ansätze, die helfen können, diese Funktion und den rechtsempirischen Befund der Existenz von Gegensätzen konstruktiv aufzunehmen und einzuordnen. Mit den Erklärungsansätzen des Verfassungsverbundes oder des Mehrebenensystems lässt sich das Kooperationsparadigma absichern.
III. Neuere Entwicklungen im Verhältnis zwischen europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit Mit dem Wegfall des Eisernen Vorhanges begann 1989/90 eine Entwicklung, in deren Verlauf sich die Zahl der Mitgliedstaaten von 12 auf 27 erhöht hat und die rechtlichen Grundlagen der europäischen Integration mehrfach geändert worden sind. Die jüngste Phase des Reformprozesses ist im Oktober 2007 mit dem Vertrag von Lissabon zu einem vorläufigen Ende gekommen.266 Diese Veränderungen der Bedingungen und Grundlagen der europäischen Integration berühren Grundfragen des europäischen Verfassungsrechts, die auch die Gerichte betreffen. So wird beispielsweise durch den Wegfall der Säulenstruktur mit dem Vertrag von Lissabon die Jurisdiktion des EuGH ausgeweitet. Die Gerichtsbarkeit auf europäischer und nationaler Ebene stand allerdings nicht im Mittelpunkt des Reformprozesses. Weder der Vertrag über eine Verfassung für Europa, wie ihn 2002/2003 der Verfassungskonvent entworfen hat,267 noch die anschließenden Änderungen an diesem Verfassungsvertrag durch die Regierungskonferenz 2003/2004 noch der Vertrag von Lissabon von 2007 enthalten unmittelbare substantielle Neuerungen, die den EuGH oder die nationalen Gerichte betref-
265 266 267
Siehe nur die Beispiele für vorgebliche ausbrechende Rechtsakte oben (Fn. 128). Der Vertrag von Lissabon bedarf noch der Ratifikation, er wird wohl nicht vor 2010 in Kraft treten. Siehe CONV 850/03. Erst zu einem sehr späten Stadium wurde eine „Diskussionsrunde über den Gerichtshof” (CIRCLE I) eingerichtet, wenn auch mit einem eher beschränkten Mandat, siehe CONV 543/03. Für den Schlussbericht siehe CIRCLE I WD 08.
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fen. Gleichwohl haben die Kernthemen des Verfassungsprozesses auch mit der Gerichtsbarkeit in der EU zu tun (1.). Offene Fragen bleiben (2.). 1. Die Gerichte und die Kernthemen des Reformprozesses Spätestens mit der dem Vertrag von Nizza von 2001 beigefügten „Erklärung zur Zukunft der Union“ war das Kompetenzthema als Dauerthema des Europäischen Verfassungsrechts ausgewiesen.268 Im weiteren Verlauf der Kompetenzdebatte wurde immer wieder auch über ein zusätzliches Kompetenzgericht nachgedacht,269 was sich aber nicht durchsetzen konnte. Die im Vertrag von Lissabon gewählte Lösung setzt vielmehr – ebenso wie bereits der Verfassungsvertrag – auf Kompetenzkategorien und eine verstärkte Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips, bei der auch die nationalen Parlamente eine Rolle spielen. Ob die wiederholten – so nicht berechtigten270 – Vorwürfe, der EuGH erfülle seine Aufgabe der Kompetenzkontrolle nicht, die Position des EuGH nachhaltig geschwächt haben, mit destabilisierenden Effekten für die gesamte europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, ist noch nicht abzusehen. Das Kompetenzthema ist aber ein Beispiel dafür, wie Verfassungsfragen, die an sich nicht unmittelbar mit den Gerichten zusammenhängen, mittelbar eben doch die Gerichte betreffen. Die Reformdebatte um die Institutionen ist dafür ein weiteres Beispiel. Sollte etwa die Kommission aufgrund ihrer Zusammensetzung oder wegen der Verschiebungen im institutionellen Gefüge in Zukunft immer weniger in der Lage sein, ihre Aufgabe als Hüterin der Verträge zu erfüllen, dann hätte das insofern Auswirkungen auf die Rolle des EuGH, als dessen Verantwortung für die Verteidigung der supranationalen Originalität und Unabhängigkeit des Integrationsprojektes sich steigern würde.Die Unterscheidung von europäischer Legislative und Exekutive verleitet zu der Annahme, dass Gewaltenteilungsvorstellungen aus den Mitgliedstaaten auf die EU übertragbar sind. Dies ist nicht ohne weiteres der Fall. Die Judikative könnte sich als letzte verbleibende Institution erweisen, die die Grundidee der europäischen Integration der letzten fünf Jahrzehnte weiter verfolgt, nämlich die Vermittlung politischer Gegensätze durch das Recht und seine (vorgebliche) Rationalität.271 268
269 270 271
In der Erklärung, die Grundlage für die folgenden Arbeiten am Verfassungsvertrag und damit auch am Vertrag von Lissabon war, hieß es, dass bei einer Vertragsreform „unter anderem“ die Frage zu behandeln sein wird, „wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten hergestellt und danach aufrechterhalten werden kann“. Siehe oben Fn. 179 und Fn. 180; zusammenfassend U. Everling, Quis custodiet custodes ipsos?, EuZW 2002, S. 357; zur Debatte im Konvent CONV 286/02. Siehe nur EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-8419; siehe auch Mayer (Fn. 186), S. 594 ff., sowie aus der Sicht einer EuGH-Richterin N. Colneric (Fn. 187). Die Carpenter-Entscheidung von Juli 2002 (Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279), in der der EuGH eindeutig jegliche Einschränkung ignorierte, die Art. 51 GR-Charta für seine ERTRechtsprechung bewirken könnte, scheint darauf hinzuweisen, dass es nicht einfach ist, den EuGH zu umgehen; I. Pernice/F.C. Mayer, in: Grabitz/Hilf (Fn. 199), nach Art. 6 EU, Rn. 32 ff.
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Noch ein Beispiel für mögliche mittelbare Auswirkungen von institutionellen Veränderungen auf den EuGH und wahrscheinlich auch das eigentliche Kernthema der Reformversuche der letzten 15 Jahre ist die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat. Der Bezug zum EuGH bzw. zur europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit lässt sich am Beispiel der Bananenmarktverordnung illustrieren:272 Die im Rat gegen Deutschland verabschiedete Verordnung führte ausgerechnet in Deutschland zu massiven Grundrechtsproblemen. Allgemeiner formuliert: Mit einer Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen fallen die Regierungen im Ministerrat als Hüter bestimmter Belange aus. Soweit diese Belange verfassungsrechtlich hinreichend verdichtet sind (Beispiel Grundrechte), könnten die nationalen Verfassungs- und Obergerichte zunehmend in eine aktivistischere Rolle von Hütern dieser Belange gegenüber der EU gedrängt werden, wobei diese teilweise womöglich als integrationsfester nationaler Verfassungsbestand ausgewiesen werden können. Hier kommt die weitere Verrechtlichung des Grundrechtsschutzes in der EU in den Blick. Durch einen Verweis in Art. 6 EUV-Liss. wird die Grundrechte-Charta mit dem Vertrag von Lissabon rechtlich verbindlich.273 Dies könnte mit einer höheren Sichtbarkeit der Divergenzen in der Kontrolldichte274 einhergehen. Allgemeiner betrachtet könnte die Verbindlichkeit der Charta fundamentale Veränderungen gerade auch für den EuGH nach sich ziehen. Auch ohne eine Grundrechtsbeschwerde zum EuGH275 lässt sich über einen grundlegenden Paradigmenwechsel von der Wirtschaftsgemeinschaft zur Grundrechtsgemeinschaft nachdenken.276 Vereinzelt wird erwartet, dass sich die Grundrechtsverantwortung von der politisch gestaltenden zur rechtsprechenden Gewalt verschiebt und die rechtsprechende Gewalt „erneut in die Rolle eines Motors der Integration gedrängt“ wird (Paul Kirchhof).277 Nicht auszuschließen ist dabei eine Überforderung des EuGH. 2. Offene Fragen Etliche Fragen, die die Zukunft der europäischen Gerichtsbarkeit betreffen, sind auch nach Verfassungsvertrag und Vertrag von Lissabon noch offen.278 Neben der 272 273 274
275 276 277 278
Siehe dazu F. C. Mayer, Grundrechtsschutz gegen europäische Rechtsakte, EuZW 2000, S. 685. Die Charta ist bisher lediglich eine feierliche Erklärung, siehe ABl. 2000 C 364, S. 1, bzw. in der Fassung des Lissaboner Vertrags ABl. 2007 C 303, S. 1. Dazu M. Nettesheim, Grundrechtliche Prüfdichte durch den EuGH, EuZW 1995, S. 106; P. Selmer, Die Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards durch den EuGH, 1998, S. 133 ff. Siehe oben Fn. 255. Siehe A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157. Kirchhof (Fn. 222). Zu der von der Verfassungsdiskussion weitgehend abgekoppelten, langjährigen Gerichtsreformdebatte siehe etwa J. H. H. Weiler, Epilogue: The Judicial Après Nice, in: G. de Búrca/ J. H. H. Weiler (Hrsg.), The European Court of Justice, 2001, S. 215; U. Everling, Zur Fortbildung der Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaften durch den Vertrag von Nizza, in: FS Steinberger (Fn. 112), S. 1103 ff. m.w.N.
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oben bereits angesprochenen Problematik der Gemeinwohlbestimmung in einem komplementär verfassten Europa sind logistisch-infrastrukturelle Hindernisse für die Funktionsfähigkeit des EuGH in einer EU mit 27 und mehr Mitgliedern absehbar, mit möglichen mittelbaren Auswirkungen auf die Verfassungsgerichtsbarkeit in der EU insgesamt. Dies betrifft die Sprachenfrage279 ebenso wie die Frage der nach Mitgliedstaaten ausgewogenen Zusammensetzung der Spruchkörper. Allgemein fragt sich, ob im Reformprozess nicht zentrale Fragen des Europarechts zu Unrecht ausgeblendet worden sind: So wäre möglicherweise eine politische Entscheidung darüber mehr als fällig gewesen, welche Grenzen dem Binnenmarkt gesetzt werden. Dies betrifft nicht nur sozio-kulturelle Besonderheiten der Mitgliedstaaten, sondern auch gesellschaftliche Grundentscheidungen zum Verhältnis Markt-Hoheitsgewalt mit Blick auf soziale und andere Präferenzen. Die PreussenElektra-Entscheidung des EuGH illustriert am Beispiel Warenverkehrsfreiheit versus Umweltschutz, dass der Gerichtshof bei der Bestimmung dieser Grenzen trotz der Keck-Entscheidung aus dem Tritt zu kommen droht.280 Ein jüngeres Beispiel für die Tragweite der Grundfreiheiten-Rechtsprechung des EuGH, das gesellschaftliche Grundentscheidungen und die Konzeption der Grundfreiheiten (hier: Drittwirkung) betrifft, sind die Entscheidungen in den Rs. Viking und Laval.281 Insgesamt ist die Betrachtung der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit eingebettet in den über die EU hinausreichenden Kontext der Konzeptualisierung von Hoheitsgewalt im Zeitalter der Globalisierung und Internationalisierung. Zwischen Mitgliedstaaten und EU aufgetretene Reibungsphänomene und Konfliktlinien wiederholen sich dort möglicherweise und können den EuGH gegenüber Gerichten jenseits der EU in eine ähnliche Position bringen, wie sie die nationalen obersten Gerichte gegenüber dem EuGH einnehmen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist hier zu nennen, der mit seiner Kontrolle auch gegenüber der EU282 in einem weiten Sinne ebenfalls ein Element Europäischer Verfassungs279
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Die steigende Zahl der Sprachen ist nicht nur ein logistisches Problem, sondern erhöht möglicherweise auch die Unschärfe von Urteilstexten, dazu I. Pernice/F. C. Mayer, in: Grabitz/ Hilf (Fn. 199), Art. 220 EG, Rn. 86 ff.; siehe F.C. Mayer, The Language of the European Constitution – Beyond Babel?, in: A. Bodnar u.a. (Hrsg.), The Emerging Constitutional Law of the European Union, 2003, S. 359; siehe auch ders., Europäisches Sprachenverfassungsrecht, Der Staat 44 (2005), S. 367. EuGH, Rs. C-379/98, PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099; siehe zu den Grundfreiheiten auch T. Kingreen, in diesem Band. EuGH, Rs. C-438/05, ITF (Viking Line), Slg. 2007, I-10779; Rs. C-341/05, Laval, Slg. 2007, I-11767. Siehe EGMR (GK), Nr. 45036/98, Bosphorus/Irland, NJW 2006, S. 197, wo eine Art Solange II-Formel im Hinblick auf die EU eingesetzt wird, allerdings mit der Möglichkeit einer Aktivierung der Kontrolle in jedem Einzelfall; siehe ferner EGMR (GK), Nr. 24833/94, Matthews/Großbritannien, EuGRZ 1999, S. 200; siehe auch EuGH, Rs. C-17/98, Emesa Sugar, Slg. 2000, I-665 (zum Recht, zu den Schlussanträgen des Generalanwaltes Stellung zu nehmen). Zu letzterem auch EGMR, Nr. 39594/98, Kress/Frankreich, ECHR 2001-VI; siehe ansonsten auch EGMR, Nr. 56672/00, Senator Lines/15 EU Mitgliedstaaten, EuGRZ 2000, S. 334; als Bestätigung der Entscheidungen EuG, T-191/98 R, Senator Lines/Kommission, Slg. 1999, II-2531, und EuGH, C-364/99 P (R), Senator Lines/Kommission, Slg. 1999, I-8733; Die EGMR-Verfahren wurden auf Grund der Entscheidung des EuG in den verb.
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gerichtsbarkeit ausmacht. Mit der Mitgliedschaft der EU im EMRK-System, wie sie durch den Vertrag von Lissabon ermöglicht wird (Art. 6 Abs. 2 EUV-Liss.), wird sich klären, ob EU-Akte dann immer noch nur ausnahmsweise vom EGMR untersucht werden.283 Daneben bestehen zahlreiche neue Grundfragen von der Frage nach der Einhegung neuer, bisher unbekannter Formen der Bedrohung individueller Freiheit durch wirtschaftliche Macht über die globalisierungsbedingten neuartigen Rechtsfragen des im Kampf gegen den Terror auch gegen Einzelne gerichteten VNRechts284 oder des Welthandelsrechts, bis zur Frage nach der Legitimation neuer Governance-Formen.285 Die Antworten auf diese Fragen werden sich auch auf Rolle und Funktion von nationalen oder supranationalen Gerichten auswirken.
IV. Zusammenfassung Die Analyse der Konflikte zwischen den obersten Gerichten auf europäischer und auf mitgliedstaatlicher Ebene reicht über das Verhältnis zwischen diesen Gerichten hinaus: Aus der Betrachtung des Verhältnisses zwischen den Gerichten lassen sich allgemeinere Aussagen darüber ableiten, wie einzelne Mitgliedstaaten mit dem Spannungsverhältnis zwischen mitgliedstaatlicher Rechtsordnung und Unionsrechtsordnung umgehen und wo Problemstellen im Gesamtgefüge der europäischen Integration liegen. Über das Rechtliche hinaus reflektieren Gerichte auch Meinungs- und Stimmungsumschwünge über die europäische Integration in den verschiedenen Mitgliedstaaten.286 Auch insoweit sind Gegensätze und Konflikte zwischen Gerichten „Stellvertreterkonflikte“. 283
283
284 285
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I-8733; Die EGMR-Verfahren wurden auf Grund der Entscheidung des EuG in den verb. Rs. T-191/98 u.a., Atlantic Container Line u.a./Kommission, Slg. 2003, II-3275, nicht fortgesetzt. Wenn man die gegenseitigen Bezugnahmen in den Entscheidungen des EuGH und des EGMR sowie Entscheidungen wie die in Dangeville/Frankreich in den Blick nimmt (EGMR, Nr. 36677/97, Dangeville/Frankreich, ECHR 2002-III, der EGMR stellte sich hier auf die Seite des EuGH), dann scheint das Verhältnis zwischen dem EuGH und dem EGMR in diesem Punkt durch Kooperation und gegenseitigen Respekt gekennzeichnet zu sein. Bemerkenswert ist, dass der EGMR schon vor dem EuGH Bezug auf die Grundrechte-Charta nahm, EGMR, Nr. 25680/94, I/Großbritannien, EGMR 2002-VI, § 80; Nr. 28957/95, Goodwin/Großbritannien, EGMR 2002-VI, § 10, unter Hinweis auf Art. 9 GR-Charta. Für das Verhältnis des EuGH zu den WTO-‚Gerichten‘ siehe EuGH, Rs. C-377/02, Van Parys, Slg. 2005, I-1465. Der EGMR stellt in der Bosphorus-Entscheidung (Nr. 45036/98, Fn. 282) bei der EU darauf ab, ob der EuGH einen der EMRK mindestens gleichwertigen Schutz gewährleistet – eine Testfrage, die beispielsweise dem BVerfG nicht gestellt wird. Siehe nur EuGH, Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi u.a./Rat und Kommission, Slg. 2008, I-0000. Siehe dazu J. Tully, The Unfreedom of the Moderns in Comparison to Their Ideals of Constitutional Democracy, Modern Law Rev. 65 (2002), S. 204 (209) m.w.N.; N. Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Modern Law Rev. 65 (2002), S. 317. J. H. H Weiler, The Reformation of European Constitutionalism, JCMS 35 (1997), S. 97 (107).
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Das Verhältnis zwischen EuGH und nationalen obersten Gerichten kann insgesamt noch nicht als konsolidiert bezeichnet werden, es befindet sich aber auf dem Wege der Konsolidierung, hin zu einer komplementär angelegten europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Dabei deutet sich eine Richtung an, die sich mit Kooperation statt Kollision umschreiben lässt und gekennzeichnet ist von Ansätzen eines – teilweise sehr mittelbaren – Gesprächs zwischen den Gerichten um Fragen des Grundrechtsschutzes, des Vorrangs von Europarecht oder die Wahrung der mitgliedstaatlichen Verfassungsidentität, wobei je nach Mitgliedstaat Differenzierungen vorzunehmen sind. Wie sich die Dinge nach der Erweiterung um 12 Mitgliedstaaten 2004/2007 und mit den durch den Vertrag von Lissabon erneuerten vertraglichen Grundlagen der europäischen Integration entwickeln werden, ist offen.287 Somit gilt in dieser Zeit des europäischen Umbruchs für das Verhältnis zwischen den Gerichten das gleiche, was auch für die gesamte europäische Integration unter den Bedingungen von 27 und mehr Mitgliedstaaten gilt: An einem Scheideweg stehend geht es darum, Erreichtes zu sichern und zu bewahren. Dafür Konzepte und Ideen anzubieten, ist auch und gerade eine Aufgabe für die Europäische Verfassungsrechtswissenschaft.
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Soweit der Verfassungsvertrag bzw. der Vertrag von Lissabon Gegenstand mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichtsentscheidungen war bzw. sein wird, entwickelt sich mit diesen Entscheidungen das europäische Verfassungsrecht weiter. Die Verfahren zum Verfassungsvertrag vor dem BVerfG (2 BvR 839/05 und 2 BvE 2/05 – Gauweiler) sind nicht weiter verfolgt worden, siehe hier auch das slowakische Verfassungsgericht, Entscheidung v. 14.07.2005, Aufschub der Ratifikation, und das Tschechische Verfassungsgericht, Antrag des Präsidenten Vaclav Klaus v. 2.02.2005. Siehe ansonsten zum Verfassungsvertrag in Großbritannien Court of Appeal of England and Wales, R v Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs, ex parte Southall and Anor, C.M.L.R. 3/2003, S. 562 (kein Referendum zum Verfassungsvertrag); in Frankreich Conseil constitutionnel, Entscheidung 2004/505 DC v. 19.11.2004, Journal Officiel 273 (2004), S. 19885 (dazu F.C. Mayer, Europarecht als französisches Verfassungsrecht, EuR 2004, S. 925), und in Spanien das Tribunal Constitucional, 6603/2004, Entscheidung 1/2004 v. 13.12.2004, C.M.L.R. 1/2005, S. 981 oder EuR 2005, S. 353 (siehe dazu Becker, Fn. 245). Zur Vereinbarkeit des Vertrags von Lissabon mit der französischen Verfassung siehe Conseil constitutionnel, Entscheidung 2007-560 DC v. 20.12.2007, JO No. 302 v. 29.12.2007, S. 21813 (deutsche Übersetzung unter www.conseilconstitutionnel.fr/decision/2007/2007560/index.htm (10.07.2008)), vgl. hier auch Mayer u.a. (Fn. 42). In Deutschland sind mehrere Verfahren gegen den Vertrag von Lissabon vor dem BVerfG anhängig gemacht worden (2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 182/09).
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III. Die Rechtsstellung des Einzelnen
Unionsbürgerschaft
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Unionsbürgerschaft
Stefan Kadelbach*
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 II. Die Idee der Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 1. Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 2. Die Konstruktion des europäischen Bürgerstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 III. Die rechtlichen Komponenten der Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 1. Individualrechte auf der Grundlage des EG-Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 2. Unionsbürgerrechte im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 3. Unionsbürgerrechte und Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 4. Das Verhältnis der Unionsbürgerschaft zu den Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . 639 5. Unionsbürgerliche Pflichten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 6. Zwischenbewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 IV. Die Zukunft der Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 1. Unionsbürger im europäischen Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 2. Unionsbürgerschaft und demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 3. Unionsbürgerschaft und europäische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 V. Abschließende Bemerkungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
I. Einleitung Das Recht der Europäischen Gemeinschaften ist mit Hilfe der Rechtsprechung im Laufe der Zeit von einer Reihe völkerrechtlicher Verträge in eine eigenständige Rechtsordnung transformiert worden. Vertragliche Zielvorgaben wurden unmittelbar anwendbares Recht,1 aus an die Staaten gerichteten Vertragsbestimmungen wurden subjektive Rechte,2 und der EWG-Vertrag, das Kerndokument der europäischen Integration, wurde in eine Verfassung umgedeutet.3 Für den Europäischen Gerichtshof war das Recht der Europäischen Gemeinschaft, heute der Union, zu einer Rechtsordnung geworden, „deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren Bürger sind“.4 Die Aufnahme des zweiten, mit „Unionsbürgerschaft“ überschriebenen Teils in den EG-Vertrag (Art. 17–22 EG) verspricht die Fortsetzung dieses Weges mit der Schaffung eines europäischen Bürgerrechts. Der *1 1 2 3 4
Der Verf. dankt David Rabenschlag für zahlreiche Anregungen. EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 (1270). EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (25). EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23; BVerfGE 22, 293 (296). EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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EuGH misst der Unionsbürgerschaft einen hohen Stellenwert zu, indem er sie zum „grundlegende[n] Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten“ erklärt, der es ihnen erlaubt, „unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit … die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.“5 Der Einzelne scheint zum Zentrum des Unionsrechts geworden zu sein.6 Die zahllosen Untersuchungen zum juristischen Gehalt der Unionsbürgerschaft haben indessen sehr heterogene Bewertungen hervorgebracht, die nach dem jeweils gewählten Bezugspunkt variieren.7 Wer sich auf eine Analyse der bestehenden Regelungen des EG-Vertrages beschränkte, kam anfangs zu einem reservierten Ergebnis.8 Die Basis solcher Wertungen war in vielen Fällen ein Vergleich mit Rechten, die dem Staatsbürger zustehen. Er muss zu Enttäuschungen führen, wird aber durch die Wortwahl der Unionsverträge bewusst nahegelegt.9 Andere Bewertungen betrachteten die Unionsbürgerschaft im Hinblick auf ihre künftigen Möglichkeiten. Auch in ihnen ist der Staatsbürger als Idealbild gegenwärtig und ermutigt zu vielfältigen Projektionen. Sie spiegeln die Debatte zu Bestand und Aussichten eines „europäischen Volkes“ und einer europäischen Verfassung.10 Eine Richtung sucht die Grundlagen der Bürgerschaft in vorrechtlichen Identitäten; die Bewertung der Unionsbürgerschaft ist dann abhängig von dem, was im Hinblick auf präexistente, identitätsstiftende Gemeinsamkeiten für erforderlich gehalten wird.11 Hiervon unterscheiden sich Beiträge, die die Unionsbürgerschaft als etwas rechtlich Gestaltbares ansehen; dann kann sie der Anfang einer euro-
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EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 31. Vgl. N. Reich, Bürgerrechte in der Europäischen Union, 1999, S. 5 und 450 ff. Siehe die Gegenüberstellung der verschiedenen in der Literatur vorgestellten Modelle bei N. Prentoulis, On the Technology of Collective Identity, ELJ 7 (2001), S. 196; D. Kostakopoulou, Ideas, Norms and European Citizenship, Modern Law Rev. 68 (2005), S. 233; S. Besson/A. Utzinger, Introduction: Future Challenges of European Citizenship, ELJ 13 (2007), S. 573 (577 ff.). H. U. Jessurun d’Oliveira, European Citizenship: its Meaning, its Potential, in: R. Dehousse (Hrsg.), Europe After Maastricht: An Ever Closer Union?, 1994, S. 126 (135 ff.); S. O’Leary, European Union Citizenship, 1996, S. 44 ff.; J.-D. Mouton, La citoyenneté de l’Union: passé, présent et avenir, 1996, S. 18 f.; J. H. H. Weiler, European Citizenship and Human Rights, in: J. A. Winter u.a. (Hrsg.), Reforming the Treaty on European Union, 1996, S. 57 (65 ff.); siehe auch A. Bodnar, The Legitimacy of European Citizenship, in: ders. u.a. (Hrsg.), The Emerging Constitutional Law of the European Union, 2003, S. 287; nach einzelnen Rechten differenzieren bspw. V. Constantinesco, La citoyenneté de l’Union, in: J. Schwarze (Hrsg.), Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, 1993, S. 25; J. Verhoeven, Les citoyens de l’Europe, Annales de droit de Louvain 53 (1993), S. 165 (172 ff.). A. Wiener, Zur Verfassungspolitik jenseits des Staates, ZIB 8 (2001), S. 73; krit. gegenüber der Rezeption nationalstaatlicher Symbolik N. W. Barber, Citizenship, Nationalism and the European Union, ELRev. 27 (2002), S. 241 (bes. 256 ff.); J. Vollmeyer, Rechtskritik als Kritik des Gebrauchs von Rechtsbegriffen, in: J. Bung u.a. (Hrsg.), Normativität und Rechtskritik, 2007, S. 193. A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 41 ff., 63 ff. Vgl. D. Grimm, Braucht Europa ein Verfassung?, JZ 1995, S. 581 (587 ff.).
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päischen Aktivbürgerschaft sein, deren fortlaufende Entwicklung mit einer schrittweisen Aufwertung des rechtlichen Status beeinflusst werden wird.12 Unter dem Eindruck der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs scheint die anfängliche Skepsis gegenüber Gehalt und Potenzial der Unionsbürgerschaft gewichen zu sein;13 doch bezieht sich diese Neubewertung nicht auf deren ganze Reichweite, sondern in erster Linie auf den Schutzbereich der Freizügigkeit (Art. 18 EG) und die mit ihr einhergehenden sozialen Teilhaberechte.14 In der Rezeption der deutlicher als zuvor am Einzelnen orientierten Sprache des Verfassungsvertrages hat sich hingegen die Kontroverse um die Beurteilung der Unionsbürgerrechte wiederholt.15 Der Vertrag von Lissabon hat an der Rechtslage insoweit nichts geändert, die Debatte also nicht erledigt. Die positiv-rechtliche und die verfassungstheoretische Perspektive auf die Bürgerschaft nebeneinander zu halten ist daher aus zwei Gründen nach wie vor reizvoll. Der erste ist methodischer Art. Bei den beiden Sichtweisen handelt es sich genau besehen um zwei verschiedene wissenschaftliche Diskurse, die zueinander nicht in Beziehung stehen. Es fragt sich, ob dies so sein muss oder ob es Berührungspunkte gibt, die wechselseitig für größeres Interesse sorgen könnten. Der zweite Grund liegt in der Vorreiterrolle, die die Unionsbürgerschaft für die Diskussion um eine europäische Verfassung hat. Die Idee, Identifikation und Integration durch Recht zu schaffen, ist beiden Initiativen gemeinsam. Die übergeordnete Frage lautet, welcher Wert staatstheoretisch besetzten Begriffen auf Unionsebene zukommen kann. Im Folgenden soll zunächst das Ziel rekonstruiert werden, das die Regelungen zur Unionsbürgerschaft erreichen sollen (II.). Sodann werden die positiv-rechtlichen Regelungen zur Unionsbürgerschaft untersucht, um die Gründe für die schlechte Presse zu erfahren, die diese bislang vor allem in der Rechtswissenschaft gefunden hat (III.). Anhand der sozialwissenschaftlichen Debatte soll anschließend der Horizont der verfassungspolitischen Erwartungen betrachtet werden, den die Einführung der Unionsbürgerschaft eröffnet hat (IV.). Der Vergleich des Standes beider Diskussionen kann für die künftige Gestaltung der Unionsbürgerrechte von Interesse sein (V.).
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C. Tomuschat, Staatsbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Weltbürgerschaft, in: J. Drexl u.a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 73 (84 ff.); S. Kadelbach, Staatsbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Weltbürgerschaft, ebd., S. 89 (104 ff.); zu den Möglichkeiten einer auf Individualrechte gegründeten Gesellschaft grundlegend R. Grawert, Die demokratische Gesellschaft der Union, Der Staat 46 (2007), S. 33. D. H. Scheuing, Freizügigkeit als Unionsbürgerrecht, EuR 2003, S. 744; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, 2007, S. 355 ff.; E. Spaventa, Seeing the Wood Despite the Trees?: On the Scope of Union Citizenship and its Constitutional Effects, CMLRev. 45 (2008), S. 13 (16 ff.). Dazu noch unten, III. 3. Vgl. M. Nettesheim, Die Unionsbürgerschaft im Verfassungsentwurf, integration 2003, S. 428, mit I. Pernice, Der verfassungsrechtliche Status der Unionsbürger im Vorfeld des Vertrags über eine Verfassung für Europa, in: FS Rodríguez Iglesias, 2003, S. 177.
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II. Die Idee der Unionsbürgerschaft 1. Geschichte Die Geschichte von der Verwandlung des Individuums in der Gemeinschaftsrechtsordnung ist oft erzählt worden.16 Sie beginnt mit der Retortengeburt des „Marktbürgers“,17 einem „funktionalistisch reduzierten Personenkonzept“,18 für das der Einzelne Träger ökonomischer Grundfreiheiten ist, deren gerichtliche Durchsetzung der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes dient. Die Niederlegung der Unionsbürgerrechte im EG-Vertrag bildet das open end dieser Geschichte, da sie als entwicklungsoffen eingeführt wurde (Art. 8e EG-Vertrag, jetzt Art. 22 EG), ein vollwertiger Status des Einzelnen im neuen Gemeinwesen der Europäischen Union also erst noch zu definieren ist. Die Gegenüberstellung des Marktbürgers und des Unionsbürgers hat ihren heuristischen Wert. Ob sie in dieser Klarheit die Entwicklung richtig wiedergibt, darf man jedoch bezweifeln. Zum einen waren die Subjekte der Gemeinschaftsrechtsordnung nie bloße Marktbürger. Schon im EWG-Vertrag war mit der vorgesehenen Wahl zu einem Europäischen Parlament ein Potential für die Entfaltung politischer Rechte angelegt (Art. 138 Abs. 3 EWG-Vertrag). Im Jahre 1962, noch bevor der Gerichtshof die Direktwirkung der Grundfreiheiten anerkannte, vertrat die Kommission den Standpunkt, dass Einzelne in der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht lediglich als Produktionsfaktoren, sondern als Inhaber von Freiheitsrechten von ihren Grundfreiheiten Gebrauch machten.19 Die Rechtsprechung zu den Grundrechten der Gemeinschaft begann 1969 mit dem Fall Stauder, in dem es um das Persönlichkeitsrecht eines Sozialhilfeempfängers ging, der den verbilligten Bezug aus EG-Mitteln subventionierter Agrarprodukte begehrte, ohne dabei seine Identität preisgeben zu müssen;20 abgesehen von seiner Eigenschaft als Begünstigter eines Programms zum Abbau von Agrarüberschüssen konnte er beim besten Willen nicht als aktueller Träger von Wirtschaftsfreiheiten des EG-Vertrages angesehen werden. Zur gleichen Zeit setzte die Rechtsetzung zum europäischen koordinierenden Sozialrecht ein, die auch 16
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E. Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970, S. 65 ff.; T. Oppermann, Vom Marktbürger zum EG-Bürger?, in: G. Nicolaysen/ H. Quaritsch (Hrsg.), Lüneburger Symposion für Ipsen, 1988, S. 87; E. Marias, From Market Citizen to Union Citizen, in: ders. (Hrsg.), European Citizenship, 1994, S. 1; A. Randelzhofer, Marktbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Staatsbürgerschaft, in: GS Grabitz, 1995, 580; W. Maas, Creating European Citizens, 2007. H. P. Ipsen/G. Nicolaysen, Haager Kongreß für Europarecht und Bericht über die aktuelle Entwicklung des Gemeinschaftsrechts, NJW 1964, S. 339 (340, in Fn. 2); H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 187, 250 ff. und 742 f. J. Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation, 1998, S. 91 (142). ABl. 1962 Nr. 75, S. 2118/62; zum politischen Potenzial W. Hallstein, Rede vor dem Europäischen Parlament, Konstituierende Sitzung am 19.03.1958, in: T. Oppermann (Hrsg.), Walter Hallstein – Europäische Reden, 1979, S. 48; siehe auch schon P. Duclos, L’Européen: Exploration d’une catégorie juridique naissante, RGDIP 65 (1961), S. 260. EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, 419.
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Ruheständlern und Familienangehörigen von Arbeitnehmern und Selbständigen außerhalb ihres Herkunftsstaates den diskriminierungsfreien Zugang zu den nationalen Systemen sozialer Sicherheit am Wohnsitzort verschaffte.21 Erste Initiativen der Staats- und Regierungschefs mit dem Ziel eines „Europa der Bürger“ datieren bereits von 1969,22 einem Zeitpunkt also, zu dem die Zollunion vorzeitig verwirklicht, die Direktwirkung einiger Grundfreiheiten aber noch nicht gerichtsfest anerkannt war.23 Außerdem verleitet die Gegenüberstellung von Markt- und Unionsbürger dazu, die Grundfreiheiten als ein Privileg der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten aufzufassen, deren natürliche Fortsetzung die Unionsbürgerschaft wäre: Unionsbürger ist (nur), wer die Staatsangehörigkeit eines Unionsstaates besitzt (Art. 17 Abs. 1 S. 2 EG). Träger der Grundfreiheiten sind dagegen alle, denen die Gemeinschaftsrechtsordnung diese Rechte zugesteht. Der freie Warenverkehr ist von der Staatsangehörigkeit der Handelspartner nicht abhängig. Die Freiheiten des Personenverkehrs, obwohl nach dem EG-Vertrag den Unionsangehörigen vorbehalten, können durch völkerrechtliche Verträge der Gemeinschaft auch auf Drittstaatsangehörige erstreckt werden, wie dies im Verhältnis zu den Staaten des EWR und den Beitrittsländern einschließlich der Türkei auch geschehen ist.24 Ein engerer Zusammenhang besteht nur insofern, als die personenbezogenen Grundfreiheiten Unionsbürgern nicht vorenthalten werden dürfen.25 Der Statusvergleich zwischen Markt- und Unionsbürger macht aber anschaulich, dass in der Rechtsetzung und in den politischen Initiativen der Gemeinschaft die Abhängigkeit individueller Rechte von den Grundfreiheiten immer weiter gelockert wurde. Ansätze hierfür gab es von Anfang an, so das Verbot einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG). Die weiteren Impulse gingen vom Arbeits- und Sozialrecht aus, dessen subjektive Gewährleistungen zunächst eine Funktion der Arbeitnehmerfreizügigkeit waren, aber allmählich vom Bestehen eines Arbeitsvertrages unabhängig wurden.26 Zugleich entstand die Forderung nach 21
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A. C. Evans, European Citizenship, Modern Law Rev. 45 (1982), S. 496; U. Everling, Von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zum Europäischen Bürgerrecht?, EuR Beiheft 1/1990, S. 81; S. O’Leary, The Evolving Concept of Community Citizenship, 1996, S. 65 ff.; B. Laubach, Bürgerrechte für Ausländer und Ausländerinnen in der Europäischen Union, 1998, S. 21 ff.; U. Becker, Freizügigkeit in der EU, EuR 1999, S. 522. Dritter Gesamtbericht über die Tätigkeit der EG, 1969, S. 527 ff.; dazu P. Magnette, La Citoyenneté Européenne, 1999, S. 109 ff. Vgl. EuGH, Rs. 41/74, van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rn. 5/7 (Freizügigkeit der Arbeitnehmer); Rs. 2/74, Reyners, Slg. 1974, 631, Rn. 29/31 (Niederlassungsfreiheit); Rs. 33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, 1299, Rn. 24/26 (Dienstleistungsfreiheit). Vgl. insbes. Art. 28, 31 und 36 des EWR-Übereinkommens, ABl. 1994 L 1, S. 3; zur Türkei das Assoziationsabkommen, ABl. 1964 Nr. 217, S. 3687/64, Zusatzprotokoll, ABl. 1972 L 293, S. 3; zum Problem einer unzulässigen Privilegierung gegenüber Unionsbürgern EuGH, Rs. C-325/05, Derin, Slg. 2007, I-6495, Rn. 62 ff. Durch Art. 17 EG wird im Übrigen nicht gesagt, dass die Unionsbürgerrechte allein den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates vorbehalten bleiben müssen, siehe zum Europawahlrecht EuGH, Rs. C-145/04, Spanien/Großbritannien, Slg. 2006, I-7917, Rn. 76. Nachw. in Fn. 21.
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einem politischen Status. Der Rat von Paris erteilte der Kommission 1974 den Auftrag zu prüfen, welche besonderen Rechte den Bürgern der Mitgliedstaaten als „Angehörigen der Gemeinschaft“ zuerkannt werden könnten.27 Auf diese Zeit geht die Idee des aktiven und passiven Kommunalwahlrechts am Wohnsitzort zurück.28 Der 1975 vorgelegte Tindemans-Bericht empfahl weitere Bürgerrechte, u.a. den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern, den Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen, die Förderung des Schüler- und Studentenaustauschs, die gegenseitige Anerkennung von Diplomen und einen verbesserten Verbraucherschutz.29 Vorerst waren jedoch der Direktwahlakt zum Europäischen Parlament und ein einheitlicher Reisepass die einzigen sichtbaren Kennzeichen eines „Europa der Bürger“.30 Der unter Altiero Spinelli erarbeitete Vertragsentwurf zur Gründung einer Europäischen Union, den das Parlament 1984 verabschiedete, verwendete erstmals den Begriff der Unionsbürgerschaft.31 Der Europäische Rat von Fontainebleau setzte den nach seinem Vorsitzenden so genannten Adonnino-Ausschuss ein, der den Auftrag hatte, Maßnahmen der Gemeinschaft vorzubereiten, „durch die ihre Identität gegenüber den europäischen Bürgern und der Welt gestärkt und gefördert wird.“32 In den folgenden Berichten der Gruppe finden sich bereits die meisten der Rechte, die den Unionsbürgern nun im EG-Vertrag zuerkannt werden.33 Im selben Jahr erkannte der EuGH Touristen das Recht zu, sich auf die (passive) Dienstleistungsfreiheit zu berufen und setzte mit dieser Ausweitung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten einen wichtigen Schritt zur Entfunktionalisierung der Personenfreizügigkeit.34 Der Erasmus-Beschluss des Rates über den Studentenaustausch aus dem Jahre 1987 erwähnt als erster Rechtsakt das „Europa der Bürger“.35 Im folgenden Jahr legte die Kommission ihren Vorschlag zum Kommunalwahlrecht vor.36 27 28 29 30 31
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Achter Gesamtbericht über die Tätigkeit der EG, 1974, S. 337 ff.; hier setzt die nach vier Phasen differenzierende Darstellung bei Wiener (Fn. 9), S. 79 ff., an. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europa für die Bürger, Bulletin EG 7-1975, S. 5 (23 ff.). Bulletin EG Beil. 1/1976, S. 29 ff. Direktwahlakt ABl. 1976 L 278, S. 1; zur Passunion ABl. 1981 C 241, S. 1, mit Änderungen, zul. ABl. 1995 C 200, S. 1. ABl. 1984 C 77, S. 33, Art. 3: „Die Bürger der Mitgliedstaaten sind als solche Bürger der Union. Die Unionsbürgerschaft ist an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates gebunden; sie kann nicht selbständig erworben oder verloren werden. Die Unionsbürger nehmen am politischen Leben der Union in den durch diesen Vertrag vorgesehenen Formen teil, genießen die ihnen durch die Rechtsordnung der Union zuerkannten Rechte und unterliegen den Normen dieser Rechtsordnung.“ Bulletin EG Beil. 7/1985, S. 5. Bulletin EG Beil. 7/1985, S. 9 ff., 19 ff. EuGH, verb. Rs. 286/82 und 26/83, Luisi, Slg. 1984, 377. ABl. 1987 L 166, S. 20; zum Kompetenzproblem EuGH, Rs. 242/87, Kommission/Rat, Slg. 1989, 1425. Touristen und Studenten gelten als erste Unionsbürger, siehe zu den europäischen „Bildungsbürgern“ Oppermann (Fn. 16), S. 91; D. Düsterhaus, Studierende Unionsbürger, integration 2006, S. 122; siehe ferner zu Erasmus GA Colomer zu EuGH, verb. Rs. C-11/06 und C-12/06, Morgan, Slg. 2007, I-9161, Nr. 37 ff. ABl. 1988 C 246, S. 3, wegen der Vorarbeiten zum Unionsvertrag zurückgestellt.
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Wenig später, im Jahre 1990 erließ der Rat drei Richtlinien über das Aufenthaltsrecht nicht erwerbstätiger Personen außerhalb ihres Heimatstaates.37 Als wichtigste Elemente der Unionsbürgerschaft wurden also im Verlaufe ihres Entstehungsprozesses die Freizügigkeit und die Zuerkennung politischer Rechte angesehen. Etwas jüngeren Datums ist ein dritter Bestandteil, der unmittelbar aus dem Bemühen der Unionsorgane um stärkere Identifikation der Bürger mit Europa und um mehr Bürgernähe hervorgegangen ist. Erkennbar wird dies an Art. 1 Abs. 2 EU, der „eine immer engere Union der Völker Europas“ zum Ziel erklärt; Entscheidungen sollen „möglichst bürgernah getroffen werden“. In Art. 2 Spstr. 3 EU wird die „Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Angehörigen der Mitgliedstaaten durch Einführung einer Unionsbürgerschaft“ auf die Agenda der Union gesetzt. Alle drei Elemente finden sich in Gestalt subjektiver Rechte im EG-Vertrag wieder: die Freizügigkeit (Art. 18 EG), das Wahlrecht (Art. 19 EG) und Kontroll- und Informationsrechte gegenüber den Unionsorganen (Art. 21 und 255 EG). Die Grundrechte-Charta,38 die durch Verweis in Art. 6 Abs. 1 EUV-Liss. in das Primärrecht inkorporiert werden soll, führt zudem in ihrem Abschnitt über die Bürgerrechte das mit der dritten Gruppe in engem Zusammenhang stehende Recht auf eine „gute Verwaltung“ an (Art. 41 GR-Charta). Hinzu tritt als weiterer Bestandteil das Recht auf Schutz im Ausland durch die diplomatischen und konsularischen Vertretungen der anderen Mitgliedstaaten (Art. 20 EG). Die Unionsbürgerschaft soll sich nicht in diesen Rechten erschöpfen. Sie setzt sich aus allen unionsrechtlichen Rechten und Pflichten zusammen (Art. 17 Abs. 2 EG). Dazu gehört in erster Linie das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG, das sich vor dem Hintergrund der Bestimmungen über die Unionsbürgerrechte als Garantie gleicher bürgerlicher Rechte lesen lässt. Freiheitsrechte der gemeinsamen Verfassungstraditionen (Art. 6 EU) und soziale Rechte, die bisher auf sekundärrechtlicher Basis stehen und durch die Grundrechte-Charta aufgewertet werden (Art. 24–38 GR-Charta), zählen gleichfalls dazu.39 Die in den Art. 17 bis 21 EG garantierten Rechte haben aber einen darüber hinausgehenden, besonderen Symbolwert. In der Regel genießen innerhalb eines Staates nur die eigenen Staatsangehöri-
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Richtlinie 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht von Nichterwerbstätigen, ABl. 1990 L 180, S. 26; Richtlinie 90/365/EWG über das Aufenthaltsrecht von Rentnern, ABl. 1990 L 180, S. 28; Richtlinie 90/366/EWG über das Aufenthaltsrecht von Studenten, ABl. 1990 L 180, S. 30, wurde vom EuGH wegen falscher Wahl der Kompetenzgrundlage für nichtig erklärt (Rs. C-295/90, Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4193) und neu erlassen als Richtlinie 93/ 96/EWG, ABl. 1993 L 317, S. 59; inzwischen alle ersetzt durch Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl. 2004 L 158, S. 77. ABl. 2001 C 364, S. 1; als Selbstverpflichtung proklamiert durch die Präsidenten von Parlament, Rat und Kommission, ABl. 2007 C 303, S. 1; zur Entstehung G. de Búrca, The Drafting of the Union Charter of Fundamental Rights, ELRev. 26 (2001), S. 126, sowie J. Kühling, in diesem Band, S. 664 ff. Schlussfolgerungen des Rates von Rom, Bulletin EG Beil. 2/1991.
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gen die volle Freizügigkeit.40 Ebenso ist ihnen gewöhnlich das aktive und passive Wahlrecht vorbehalten. Der diplomatische und konsularische Schutz, Ausdruck der staatlichen Personalhoheit, bildet eine Komponente des Gegenseitigkeitsverhältnisses von Schutz und Gehorsam, das nach der klassischen politischen Theorie zwischen Staatsbürgern und Staat besteht.41 Seit Verleihung der Marktbürgerrechte sind den Bürgern Europas also viele Attribute zuerkannt worden, die staatsbürgerlichen Rechten ähnlich sehen. Eine Untersuchung, wie weit die Parallelen zwischen Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft gehen und wie sich beide zur Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten verhalten, drängt sich danach förmlich auf.42 2. Die Konstruktion des europäischen Bürgerstatus a) Staatsangehörigkeit Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft sind voneinander abhängig, aber nicht deckungsgleich.43 Staatsangehörigkeit ist ein juristischer Begriff. Er bezeichnet, je nach der gewählten Sprachregelung, einen Status oder ein Rechtsverhältnis, auf dessen Grundlage der Einzelne der Personalhoheit eines Staates untersteht.44 Sie hat völkerrechtliche und staatsrechtliche Konsequenzen. Völkerrechtlich bildet die Staatsangehörigkeit die Grundlage der Personalhoheit, also eine Anknüpfung für die Jurisdiktion des Herkunftsstaates, und eine entscheidende Voraussetzung für die Ausübung diplomatischen Schutzes gegenüber Drittstaaten.45 Im Wesentlichen sind die Staaten in der Festlegung der Voraussetzungen, 40
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Vgl. Art. 11 Abs. 1 GG; Art. 5 Abs. 4 griech., Art. 16 ital., Art. 32 lit., Art. 44 malt., Art. 52 poln., Art. 44 port., Art. 32 slwn., Art. 119 span. und Art. 14 lit. f. zyp. Verf.; Vorbehalt für Immobilienerwerb in § 44 Abs. 2 der dän. Verfassung, der primärrechtlich durch ein Protokoll zugelassen ist. § 7 finn., § 34 estn. und Art. 23 slk. Verf. sowie Art. 14 tschech. GR-Charta stellen Staatsbürger und rechtmäßig im Inland lebende Ausländer gleich. In einigen Mitgliedstaaten ist die innerstaatliche Freizügigkeit nicht verfassungsrechtlich verankert. Hobbes, Leviathan, hier nach I. Fetscher (Hrsg.), 1966, S. 544; die moderne Herleitung geht von den Grundrechten aus, siehe T. Kleinlein/D. Rabenschlag, Auslandsschutz und Staatsangehörigkeit, ZaöRV 67 (2007), S. 1277. Die Kommission schätzt derartige Vergleiche nicht, siehe Dritter Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft, KOM(2001) 506, S. 9. R. Grawert, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft, Der Staat 23 (1984), S. 179 (182); vgl. auch T. Wobbe, Soziologie der Staatsbürgerschaft, StWStP 8 (1997), S. 205 (207 ff.); die engl./frz. Begriffspaare citizenship/nationality bzw. citoyenneté/nationalité entsprechen dem nicht ganz, siehe B. Guiguet, Citizenship and Nationality: Tracing the French Roots of the Distinction, in: M. La Torre (Hrsg.), European Citizenship, 1998, S. 95; D. Gosewinkel, Untertanschaft, Staatsbürgerschaft, Nationalität, Berliner Journal für Soziologie 1998, S. 507 ff. A. Makarov, Allgemeine Regeln des Staatsangehörigkeitsrechts, 1962, S. 21 ff.; O. Kimminich, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Stand: Okt. 1984), Art. 16, Rn. 4 ff. A. Randelzhofer, Nationality, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. III, 1997, S. 501 (502); C. Gloria, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 2004, § 24 Rn. 33.
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unter denen die Staatsangehörigkeit durch Geburt oder Einbürgerung erworben werden kann, frei. Allerdings genügt die rechtliche Begründung der Staatsangehörigkeit allein noch nicht, um ein auch von dritten Staaten anzuerkennendes Rechtsverhältnis zu schaffen. In einem Urteil, in dem die Ausübung diplomatischen Schutzes für einen eingebürgerten Staatsangehörigen in Rede stand, befand der Internationale Gerichtshof, dass das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit auch der sozialen Wirklichkeit entsprechen müsse. Steht hinter der Staatsangehörigkeit nicht auch eine genuine, existenziell und emotional verwurzelte Bindung zum Staat, ist sie nicht effektiv und löst für dritte Staaten keine Verpflichtungen aus.46 Bedeutung hat diese Einschränkung vor allem für Personen, die mehrere Staatsangehörigkeiten besitzen. So entspricht es dem internationalen Privatrecht vieler Staaten, in derartigen Fällen die effektive Staatsangehörigkeit als Anknüpfung zu wählen.47 Die Staatsangehörigkeit hat völkerrechtlich also die Funktion, Jurisdiktionsbereiche der Staaten gegeneinander abzugrenzen. Staatsrechtlich begründet die Staatsangehörigkeit allein dagegen keinerlei Rechte oder Pflichten. Sie kann aber für einige von ihnen wie das Wahlrecht, den Zugang zu öffentlichen Ämtern oder die Wehrpflicht eine notwendige Bedingung darstellen. Man kann insoweit von einem Rahmenrechtsverhältnis sprechen, das durch das innerstaatliche Recht ausgefüllt werden muss.48 b) Staatsbürgerschaft Die Staatsbürgerschaft bezeichnet demgegenüber die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Gemeinwesen in einer Form, die ihn als dessen vollwertiges Mitglied ausweist.49 Die „citoyens“, Geschöpfe der Aufklärung, verbindet Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.50 In Rechten ausgedrückt gehören dazu notwendig die Schutzbürgerrechte des bourgeois, die sich auf Abwehr willkürlicher Beeinträchtigungen durch die Staatsgewalt richten. Diese waren aber historisch nur in relativ kurzen Perioden auf die eigenen Staatsangehörigen beschränkt.51 Konstituierend sind für den Staatsbürger die Rechte des Aktivbürgers, also vor allem das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Sie bilden im historischen Vergleich und in der politischen Theorie das Ausschließungskriterium, das den vollwertigen Staatsbürgerstatus von anderen Formen der Zugehörigkeit, insbesondere vom blo-
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Nottebohm Case (Liechtenstein/Guatemala) IGH Rep. 1955, S. 4 (23). So auch in Art. 5 Abs. 1 EGBGB. Siehe Grawert (Fn. 43), S. 183; vgl. auch A. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz (Stand: Jun. 2007), Art. 16, Rn. 9. Grawert (Fn. 43), S. 182 ff., 197 ff. M. Stolleis, Untertan – Bürger – Staatsbürger, in: R. Vierhaus (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, 1980, S. 65. Zur Beschränkung der Freiheitsrechte auf Staatsangehörige im 19. Jahrhundert G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, 1978, S. 81 ff.; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 177 f., 182 f.
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ßen Untertanen unterscheidet.52 Auf die englische Soziologie geht schließlich die mit Blick auf die Folgen der Industrialisierung gewonnene Erkenntnis zurück, dass zum Bürgerstatus auch die sozialen Rechte gehören.53 Die Herkunft der Idee aus der politischen Philosophie bedeutet nicht, dass Staatsbürgerschaft kein rechtlicher Begriff wäre. Das Grundgesetz verwendet ihn zweimal. In Art. 33 Abs. 3 GG unterscheidet es zwischen bürgerlichen und staatsbürgerlichen, d.h. freiheitlichen und politischen Rechten, und stellt klar, dass beide vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein sollen. Art. 33 Abs. 1 GG sichert allen Deutschen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte zu. Nach dem herrschenden Verfassungsverständnis besteht das Volk, von dem nach Art. 20 Abs. 2 GG die Staatsgewalt ausgeht, aus den (wahlberechtigten) deutschen Staatsangehörigen (Art. 116 GG).54 In den meisten übrigen Unionsstaaten ist dies nicht anders.55 Der Vollbesitz aller staatsbürgerlichen Rechte steht also empirisch und rechtlich nur den eigenen Staatsangehörigen zu. Auf diesen Zusammenhang zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft nimmt Bezug, wer mit Blick auf Angehörige anderer Staaten von der Ausschließungsfunktion der Staatsangehörigkeit spricht.56 Wenn in der politischen Philosophie davon die Rede ist, dass Staatsbürger diejenigen seien, die unter derselben Ordnung leben wollen,57 so ist dies verfassungsrechtlich ohne den Akt der Einbürgerung nicht möglich.58 52
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Aristoteles, Politik, 1275 a: „Ein Bürger im eigentlichen Sinne wird nun aber durch kein anderes Recht mehr bestimmt als durch die Teilhabe an der Entscheidung und der Bekleidung eines Staatsamtes“, hier zit. nach: E. Grumlach/H. Flashar, Aristoteles Werke, Bd. 9, 1991, S. 50; zu den einzelnen Epochen W. Eder, Who Rules?: Power and Participation in Athens and Rome, in: A. Molho u.a. (Hrsg.), City-States in Classical Antiquity and Medieval Italy, 1991, S. 169; E. Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250–1500, 1988, S. 93 ff.; R. Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, 1992, S. 21 ff.; M. Troper, The Concept of Citizenship in the Period of the French Revolution, in: La Torre (Fn. 43), S. 27; P. Magnette, La citoyenneté. Une histoire de l’idée de participation civique, 2001; zu Unterschieden in den Mitgliedstaaten U. K. Preuß u.a., Traditions of Citizenship in the European Union, Citizenship Studies 7 (2003), S. 3. T. H. Marshall, Citizenship and Social Class, 1949, hier nach: ders., Bürgerrechte und soziale Klassen, 1992, S. 33 ff.; R. Dahrendorf, The Changing Quality of Citizenship, in: B. van Steenbergen (Hrsg.), The Condition of Citizenship, 1994, S. 10 (13). BVerfGE 83, 37 (59). Zu Art. 88-3 S. 2 i.V.m. Art. 24 und Art. 3 frz. Verf. Conseil constitutionnel, CC Nr. 92-308 DC, Rec. S. 55 (Maastricht I), dt. in EuGRZ 1993, S. 187 mit Anm. Ch. Walter, ebd., S. 183; siehe etwa auch Art. 48 it. Verf.; Art. 23, 13 span. Verf. Siehe z.B. D. M. Smith/E. Wistrich, Citizenship and Social Exclusion in the European Union, in: M. Roche/R. v. Berkel (Hrsg.), Citizenship and Social Exclusion, 1997, S. 227; R. Bellamy u.a., Lineages of European Citizenship, 2004; L. Nuzzo, Cittadinanza: un percorso di lettura, Rechtsgeschichte 8 (2006), S. 129. E. Meehan, Citizenship and the European Community, 1993, S. 123 ff.; J. Habermas, Citizenship and National Identity, in: v. Steenbergen (Fn. 53), S. 20 (23); C. Closa, Citizenship of the Union and Nationality of Member States, CMLRev. 32 (1995), S. 487 (488 ff., 507 ff.). BVerfGE 83, 60 (72 f.); siehe zu einer demokratietheoretischen Begründung der Staatsangehörigkeit B. Aláez Corral, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft vor den Herausforderungen des demokratischen Verfassungsstaates, Der Staat 46 (2007), S. 349.
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c) Unionsbürgerschaft aa) Staatsangehörigkeit als Voraussetzung der Unionsbürgerschaft Betrachtet man die vertraglichen Gewährleistungen der Art. 17–21 EG, wird deutlich, dass eine Parallele zur Staatsangehörigkeit nicht gezogen werden kann und auch nicht beabsichtigt ist.59 Art. 17 Abs. 1 S. 2 EG setzt sie voraus, indem er die Unionsbürgerschaft denjenigen zuspricht, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind. Beide sind untrennbar: Weder kann die Unionsbürgerschaft isoliert erworben werden,60 noch ist ein Verzicht ohne Aufgabe der Staatsangehörigkeit möglich.61 Der Begriff der Staatsangehörigkeit ist nicht autonom gemeinschaftsrechtlich, sondern nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts zu bestimmen, wie eine Protokollerklärung zur Schlussakte des Vertrages von Maastricht deutlich macht.62 Die Mitgliedstaaten bestimmen darüber, wer Unionsbürger ist. Eine Besonderheit gegenüber dem allgemeinen Völkerrecht besteht darin, dass derartige Entscheidungen durch die anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen sind. Im Fall eines italienisch-argentinischen Doppelstaaters, der sich nach dem Studium in seinem Herkunftsstaat Argentinien in Spanien als Zahnarzt niederlassen wollte, hat es der EuGH als mit dem Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten unvereinbar angesehen, dass das spanische Recht auf die effektive Staatsangehörigkeit abstellte.63 Daraus dürfte folgen, dass auch Inländer, die eine weitere EU-Staatsangehörigkeit besitzen, gegenüber den Begünstigten der personenbezogenen Grundfreiheiten aus anderen Mitgliedstaaten nicht benachteiligt werden dürfen; die nach der Rechtsprechung des EuGH sonst nicht beanstandete sog. Inländerdiskriminierung ist in derartigen Fällen also unzulässig.64 Die äußerste Grenze zieht die Gemeinschaftstreuepflicht 59
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Closa (Fn. 57), S. 488 ff., 515 ff.; M. Benlolo Carabot, Les fondements juridiques de la citoyenneté européenne, 2006, S. 70 ff.; siehe auch S. Magiera, Die neuen Entwicklungen der Freizügigkeit für Personen, EuR 1992, S. 433 (446), mit Parallele zum Indigenat, der durch die Bundesstaaten vermittelten Staatsangehörigkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts; ebenso S. Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht, Der Staat 32 (1993), S. 245; R. Hofmann, German Citizenship Law and European Citizenship, in: La Torre (Fn. 43), S. 149 (163 f.); zum Indigenat als horizontale Dimension einer europäischen Bundesangehörigkeit C. Schönberger, Unionsbürger, 2005, S. 301 ff.; zum föderalen Charakter der Unionsbürgerschaft noch unten, IV. 1. Vgl. Kommission, Dritter Bericht (Fn. 42), S. 8 bei Fn. 4. Bay. VGH, NVwZ 1999, S. 197; zu mögl. gemeinschaftsrechtlichen Grenzen für den Entzug der Staatsangehörigkeit S. Hall, Loss of Union Citizenship in Breach of Fundamental Rights, ELRev. 21 (1996), S. 129. Schlussakte zum Vertrag von Maastricht, Teil III, 2. Erklärung; siehe auch Schlussfolgerungen des Rates von Edinburgh, Bulletin EG 12-1992, S. 26 ff.; zur Bestimmung des Staatsangehörigkeitsbegriffs im Vereinigten Königreich EuGH, Rs. C-192/99, Kaur, Slg. 2001, I-1237; Rs. 145/04 (Fn. 25), Rn. 74 ff. EuGH, Rs. C-369/90, Micheletti, Slg. 1992, I-4239. Vgl. EuGH, Rs. 235/87, Matteucci, Slg. 1988, 5589; zu einem Fall mit frz.-dt. Staatsangehörigkeit EuGH, Rs. 292/86, Gullung, Slg. 1988, 111; allgemein M. Haag, in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2003, Art. 17 EG, Rn. 7 f.
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(Art. 10 EG), die es den Mitgliedstaaten untersagt, durch ihre Staatsangehörigkeitspraxis eine gemeinsame Einwanderungspolitik (Art. 63 EG) unmöglich zu machen.65 Keine unionsrechtlichen Maßstäbe gibt es für den umgekehrten Fall, in dem einem erheblichen Anteil der Wohnbevölkerung die Staatsangehörigkeit vorenthalten wird, wie dies in einigen neu beigetretenen Staaten Ost- und Mitteleuropas geschehen ist. So haben die Staatsangehörigkeitsgesetze Estlands und Lettlands dazu geführt, dass eine beachtliche Zahl von Angehörigen der jeweiligen russischen Minderheiten staatenlos geworden ist und voraussichtlich auch bleiben wird. Sie sind damit im Sinne des Schengen-Besitzstandes als Drittstaatsangehörige anzusehen und von allen Unionsbürgerrechten ausgeschlossen.66 Auch für ein Recht auf Einbürgerung finden sich keine europarechtlichen Anhaltspunkte; aus Art. 8 EMRK kann sich aber ein Recht auf Legalisierung des Aufenthalts ergeben.67 bb) Unionsbürgerschaft als Ergänzung der Staatsbürgerschaft Die Unionsbürgerschaft beruht also auf vertrauter Grundlage, wenn sie die Entstehung von Bürgerrechten von der Staatsangehörigkeit abhängig macht. Dass die gewährleisteten Rechte denen des Staatsbürgerstatus angelehnt sind, macht Art. 17 Abs. 1 S. 3 EG deutlich: „Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale Staatsbürgerschaft, ersetzt sie aber nicht.“ Neben der Akzessorietät gegenüber der Staatsangehörigkeit ist diese Komplementarität eines ihrer entscheidenden Merkmale.68 Ein Ziel der Unionsbürgerschaft besteht darin, im Hinblick auf die Hoheitsbefugnisse der Union politische Mitwirkungsrechte zu schaffen, die im Staat den staatsbürgerlichen Rechten entsprechen. Allerdings erschöpft sie sich darin nicht, da sich die Unionsbürgerrechte nicht allein gegen die Union und ihre Organe richten. Für die grundsätzliche Berechtigung, an den Europawahlen teilzunehmen (Art. 190 Abs. 4 EG) sowie die Petitions-, Informations- und Dokumentenzugangsrechte (Art. 21 und 255 EG) trifft dies zwar zu. Dagegen sind Adressaten des Freizügigkeitsrechts (Art. 18 EG) und des Teilnahmerechts an Europa- und Kommunalwahlen am Wohnsitzort (Art. 19 EG) die Mitgliedstaaten. Insoweit soll die Unionsbürgerschaft für Gleichberechtigung zwischen Inländern und Angehörigen anderer Unionsstaaten im gesamten Unionsgebiet sorgen. Die Bestimmung über den diplomatisch-konsularischen Schutz (Art. 20 EG), die ebenfalls an die Mitgliedstaaten
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Dies ist die Konsequenz des Hinweises des EuGH (Fn. 63, Rn. 10), dass die Mitgliedstaaten von ihren Befugnissen „unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts Gebrauch zu machen“ haben; siehe auch A. Hatje, in: J. Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar, 2000, Art. 17 EG, Rn. 4. Dazu N. Reich, The Constitutional Relevance of Citizenship and Free Movement in an Enlarged Union, ELJ 11 (2005), S. 675 (691 ff.). EGMR, Nr. 60654/00, Sisojeva/Lettland, EuGRZ 2006, S. 554, mit Anm. D. Thym, ebd., S. 541. Die neue Formulierung in Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV ändert daran nichts; zur Komplementarität C. Closa, The Concept of Citizenship in the Treaty on European Union, CMLRev. 29 (1992), S. 1137; D. O’Keefe, Union Citizenship, in: ders./P. M. Twomey (Hrsg.), Legal Issues of the Maastricht Treaty, 1994, S. 87 (102 f.).
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adressiert ist, erweitert diesen Status auf den intergouvernementalen Bereich der auswärtigen Angelegenheiten. Die Union ist also nach diesen Vertragsbestimmungen nicht nur als supranationale Organisation, sondern als Gesamtheit von Dachverband, Europäischen Gemeinschaften und Mitgliedstaaten, mithin als „Verbund“ zu verstehen.69 Nur vor diesem Hintergrund ergeben Parallelbetrachtungen zwischen Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft einen Sinn. Zunächst ist aber der rechtliche Gehalt der einzelnen Gewährleistungen zu ermitteln.
III. Die rechtlichen Komponenten der Unionsbürgerschaft 1.
Individualrechte auf der Grundlage des EG-Vertrages
Nach Art. 17 Abs. 2 EG haben die Unionsbürger die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten. Wenn im EG-Vertrag von „diesem Vertrag“ gesprochen wird, ist auch das auf seiner Grundlage erlassene Sekundärrecht gemeint.70 Die Unionsbürgerrechte sind also nicht auf die Art. 18 bis 20 EG beschränkt. a) Grundfreiheiten Da die Warenverkehrsfreiheit nicht nur auf Personen, sondern auch auf Produkte bezogen ist, steht sie allen zu, deren wirtschaftliche Betätigung in den Anwendungsbereich des EG-Vertrages fällt. Sie ist von der Unionsbürgerschaft nicht abhängig. Gleiches gilt mit gewissen Einschränkungen für den freien Zahlungs- und Kapitalverkehr. Im Gegensatz dazu knüpfen die personenbezogenen Grundfreiheiten an die Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten an (Art. 39 Abs. 2, Art. 43 und Art. 49 EG). Kraft völkerrechtlichen Vertrages können sie jedoch in im Einzelnen zu bestimmendem Umfang auf Drittstaatsangehörige erstreckt werden. Für die weiteren Überlegungen zur Unionsbürgerschaft ist von Bedeutung, dass die Grundfreiheiten71 nach der Rechtsprechung des EuGH einen grenzüberschreitenden Bezug verlangen. Gegenüber dem eigenen Staat können sich die Unionsbürger also nur dann auf die Grundfreiheiten berufen, wenn dieser sie daran hindern will, von ihnen Gebrauch zu machen.72 Im Übrigen bleibt die sogenannte Inländerdiskriminierung zulässig.73 Auch nach Einführung der Unionsbürgerschaft hat sich
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Vgl. BVerfGE 89, 155 (184, 190: „Staatenverbund“); die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Ebenen bringt die Idee des Verfassungsverbundes besser zum Ausdruck, siehe I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (163 ff.). Vgl. Art. 220 und 226 EG. Hierzu T. Kingreen, in diesem Band. EuGH, Rs. 175/78, Saunders, Slg. 1979, 1129, Rn. 11; Rs. C-112/91, Werner, Slg. 1993, I429, Rn. 17. Übersicht und weitere Nachw. bei J. Gundel, Die Inländerdiskriminierung zwischen Verfassungs- und Europarecht, DVBl. 2007, S. 269.
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diese Rechtsprechung nicht geändert.74 Hieran wird deutlich, dass die Grundfreiheiten noch immer als Funktionen der Errichtung des Gemeinsamen Marktes aufgefasst werden. Mit der Idee der Gleichheit aller Bürger vor dem Recht verträgt sich dies nicht. Ob die Bestimmungen, die im engeren Sinne die Unionsbürgerschaft gestalten, auch die eigenen Staatsangehörigen berechtigen und damit auf mittlere Sicht zu einer Beseitigung der Inländerdiskriminierung führen, hängt von einer Untersuchung der jeweiligen Gewährleistung ab. Jedenfalls gibt es keinen Grund dafür, in den Grundfreiheiten eine konstituierende Dimension europäischer Bürgerrechte zu sehen. Sie sind nicht mehr als deren historischer Beginn, einer von mehreren Bestandteilen, haben aber in ihrem Kern die ursprüngliche funktionalistische Stoßrichtung nicht verloren. b) Sekundäres Recht: Unionsbürger als Steuerzahler, Leistungsempfänger und Verbraucher Ein weit verstandenes Konzept der Unionsbürgerschaft bezieht auch das sekundäre Recht ein.75 Wie Staatsbürger innerhalb der staatlichen Rechtsordnung, besitzen auch die Unionsbürger Rechte, für die der Besitz der Staatsangehörigkeit und damit der Unionsbürgerschaft nicht Voraussetzung ist. Unionsbürger sind daher nicht nur als Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, sondern auch in weiteren Rollen und Identitäten durch gemeinschaftsrechtlich gewährleistete Rechte begünstigt. In ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer kommen sie in den Genuss von arbeitsrechtlichen Schutznormen und besitzen, ebenso wie Selbständige, das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu den nationalen Systemen sozialer Sicherheit. Normen anderer europäisierter Rechtsgebiete betreffen sie als Steuerzahler, Verbraucher, Studenten, Leidtragende von Umweltbeeinträchtigungen, Adressaten ausländerrechtlicher Maßnahmen, Angehörige von Minderheiten oder einfach als Menschen, die Geld in Gestalt der gemeinsamen europäischen Währung zur Hand haben, brauchen oder ausgeben. Warum sollte sich nicht der Unionsbürgerstatus aus der Summe dieser Rechte ergeben? Hinter alldem steht keine geschlossene Idee darüber, welche Rechte ein Mensch von Natur aus hat oder von Rechts wegen haben sollte. Denn die Gründe für die Gewährleistung von Rechten sind verschieden. Die Harmonisierung indirekter Steuern ebenso wie die Errichtung von Arbeits- und Umweltschutzstandards sollen gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen, die Bestimmungen über Verbrauchergeschäfte zusätzlich grenzüberschreitend die Transparenz im Preis- und Konditionenwettbewerb verbessern. Das europäische koordinierende Sozialrecht ist eine Funktion der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Bewegungsfreiheit der Auszubildenden und Studenten eine ihrer Vorwirkungen. Dementsprechend stehen einige Rechte allen zu, die innerhalb der Gemeinschaft ansässig sind, Handel treiben oder Produkte kaufen. Andere Rechte sind auf Inländerbehandlung gerichtet, können also nur von Ausländern mit einer EU-Staatsangehörigkeit angerufen werden. 74
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EuGH, verb. Rs. C-64/96 und C-65/96, Uecker, Slg. 1997, I-3171, Rn. 23; Rs. C-212/06, Regierung der Communauté française, Slg. 2008, I-1683, Rn. 33 ff.; Rs. C-127/08, Metock, Slg. 2008, I-0000, Rn. 77 f.; Spaventa (Fn. 13), S. 36 ff. Reich (Fn. 6), S. 76 ff.
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Mit einem Bürgerstatus hat all dies nur so viel zu tun, als dieser den Genuss der genannten Rechte auf der Basis eines allgemeinen Diskriminierungsverbotes einschließen muss (Art. 12 EG). Ein Unterschied zu den auf gesetzlicher Basis gewährten subjektiven Rechten in staatlichen Rechtsordnungen besteht insoweit nicht. Die Verbindung zu den Unionsbürgerrechten, die Art. 17 Abs. 2 EG herstellt, ist daher irreführend. Man kann kaum von einem „System der Rechte“ des Bürgers sprechen, auf das diese Vertragsklausel verwiese. 2. Unionsbürgerrechte im engeren Sinne Spricht man von der Unionsbürgerschaft als eigenständiger rechtlicher Institution, entscheiden in erster Linie die Bestimmungen der Art. 18 ff. EG über ihre Ausgestaltung.76 Ihre Bedeutung ist schwer einzuschätzen, da über sie in sehr verschiedenen Bereichen wissenschaftliche Diskurse eröffnet worden sind. Die Frage ihrer Implementierung berührt, wie sich sogleich zeigen wird, neben dem Europarecht die Teildisziplinen des Verfassungsrechts, Kommunalrechts, Verwaltungsverfahrensrechts, Völkerrechts und Sozialrechts. a) Freizügigkeit Dem Recht, sich auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Art. 18 EG), wird für die Unionsbürgerschaft zentrale Bedeutung beigemessen, da es für die Ausübung der meisten Grundfreiheiten und Grundrechte die Voraussetzung bildet.77 Die Zielrichtung liegt in einer allgemeinen, von ökonomischen Freiheiten unabhängigen Bewegungsfreiheit. Eine nähere Betrachtung erweist, dass dieses Ziel keineswegs erreicht worden ist. Der mit Einführung dieser Bestimmung ausgebrochene Streit darüber, ob Art. 18 EG unmittelbar anwendbar sei, ist inzwischen entschieden. Die Rechtsprechung, die diese Frage anfangs umgangen hatte, hat sich nunmehr eindeutig in diesem Sinne festgelegt.78 Allerdings führt diese Erkenntnis allein noch nicht weit, denn Art. 18 EG geht seinem Wortlaut nach über den sekundärrechtlichen acquis communautaire nicht hinaus. Zur Lösung des Problems der Inländerdiskriminierung trägt er daher nichts bei,79 und bestehende „Bedingungen und Beschränkungen“ gelten fort. Schutzbereichsbegrenzende Bedingungen sind beispielsweise die sekundärrechtlich geforderten Nachweise zureichender Existenzmittel und einer Krankenversicherung.80 Soweit sich ein Unionsbürger außerhalb des Schutzbereichs der Grundfreiheiten auf Art. 18 76
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Siehe Fn. 8; zur juristischen Analyse statt Vieler noch J.-M. Acker u.a., Citoyenneté européenne, in: Ecole nationale d’administration (Hrsg.), Mise en œuvre du traité de Maastricht et construction européenne, Bd. 1, 1994, S. 323 ff. Vgl. Kommission, Dritter Bericht (Fn. 42), S. 15; siehe auch S. Magiera, Der Rechtsstatus der Unionsbürger, in: FS Delbrück, 2005, S. 429 (436 ff.); Benlolo Carabot (Fn. 59), S. 477 ff. Offen noch in EuGH, Rs. C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691, Rn. 60; siehe nunmehr EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast, Slg. 2002, I-7091, Rn. 84. Dazu bereits Fn. 73 und Fn. 74. Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EG (Fn. 37); siehe auch EuGH, Rs. C-466/01, Kaba, Slg. 2003, I-2219, Rn. 46.
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EG berufen kann,81 stellen zudem die a fortiori fortgeltenden Vorbehalte des ordre public in den Art. 39 Abs. 3, Art. 46 und Art. 55 EG Schranken auf, die von den Mitgliedstaaten konkretisiert werden. Auch mit zwingenden Gründen des Gemeinwohls können Beschränkungen der Freizügigkeit gerechtfertigt werden, wenn sie verhältnismäßig sind.82 Darüber hinaus fragt sich, welche Folgen es für den Stand der Freizügigkeit in Europa hat, dass das Primärrecht in Verbindung mit dem Recht einiger Mitgliedstaaten ganze Völker innerhalb der Europäischen Union für eine bis zu sieben Jahren dauernde Übergangszeit von wichtigen ökonomischen Aspekten des Rechts auf Freizügigkeit ausnimmt. Die Beitrittsverträge mit den zum 1. Mai 2004 und zum 1. Januar 2007 neu hinzugekommenen Staaten Ost- und Mitteleuropas sehen vor, dass die Altmitgliedstaaten Beschränkungen für die Ausübung der Personenfreizügigkeit und des Dienstleistungsverkehrs festlegen können; von dieser Befugnis haben u.a. Deutschland und Österreich Gebrauch gemacht.83 Den Beitrittsländern ist es im Gegenzug gestattet, ihrerseits Einschränkungen für Angehörige der Staaten vorzusehen, die diese Befugnis genutzt haben. Davon bleibt Art. 18 EG zwar rechtlich unberührt, doch ist dieser Zustand mit der hinter dieser Bestimmung stehenden Idee einer diskriminierungsfreien Bewegungsfreiheit in Europa nicht vereinbar. Auf einem anderen Blatt stehen Restriktionen, die sich aus der faktischen Teilung Zyperns ergeben, da diese nur teilweise durch den Staat Zypern beeinflusst werden können; sofern dies aber der Fall ist, verstößt die Praxis zum Teil bereits gegen den Buchstaben des Art. 18 EG.84 Damit sieht es so aus, als habe die eine Hand gewährt, was die andere wieder nehme. Art. 18 EG hätte gegenüber dem Sekundär- und Beitrittsvertragsrecht lediglich deklaratorische Bedeutung. Dieser Befund steht scheinbar im Gegensatz zur Rechtsprechung des EuGH, die Art. 18 EG ein konstitutives Aufenthaltsrecht entnimmt.85 Im Vergleich zur früheren Rechtslage sind jedoch drei Unterschiede festzustellen; sie machen dieses zunächst verwirrende Bild verständlicher. Der erste besteht in einer Konstitutionalisierung der Freizügigkeit: Nunmehr können sich auch Personen, die keine Grundfreiheiten ausüben, wie Arbeitssuchende, Studierende und Ruheständler, deren Aufenthaltsrechte bisher auf sekundärrechtlicher Basis beruhten, auf eine vertraglich zugesicherte Gewährleistung berufen, die man als Grundrecht bezeichnen kann;86 Sekundärrecht ist in seinem Lichte 81 82 83 84 85 86
Vgl. etwa EuGH, Rs. C-92/01, Stylianakis, Slg. 2003, I-1291, Rn. 18. EuGH, Rs. C-406/04, De Cuyper, Slg. 2006, I-6947, Rn. 40; Rs. C-192/05, Tas-Hagen, Slg. 2006, I-10451, Rn. 35 ff. Dazu K. Dienelt, Freizügigkeit nach der Osterweiterung, 2004, S. 11 ff., 42 ff., 61 ff., zu Art. 18 EG ebd., S. 33, Rn. 84; A. Domaradzka, Unionsbürger im Übergang, 2006, S. 113 ff. M. Uebe, Cyprus in the European Union, GYIL 46 (2003), S. 375 (390 ff.). Siehe etwa EuGH, Rs. C-413/99 (Fn. 78), Rn. 84; Rs. C-200/02, Zhu, Slg. 2004, I-9925; Rs. C-408/03, Kommission/Belgien, Slg. 2006, I-2647, Rn. 34, 62 ff. Art. 45 GR-Charta; siehe auch T. Giegerich, Unionsbürgerschaft, politische Rechte, in: R. Schulze/M. Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, 2006, § 9 Rn. 45 ff.; entsprechende Konsequenzen für die richterliche Prüfdichte bei Eingriffen zieht M. Dougan, The Constitutional Dimension of the Case Law on Union Citizenship, ELRev. 31 (2006), S. 613.
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auszulegen, was eine enge Interpretation der Ausnahmetatbestände nach sich ziehen muss.87 Schranken müssen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und den übrigen europäischen Grundrechten entsprechen, was im Ergebnis zu einer Art Schutzbereichsverstärkung führen kann.88 Diese Aufwertung hat einstweilen eine deutliche Anlehnung der Rechtsprechung zu Art. 18 EG an die Dogmatik der Grundfreiheiten mit sich gebracht. Das heißt aber nicht, dass Art. 18 EG nun selbst zu einer „Grundfreiheit ohne Markt“ geworden wäre,89 denn die Grundfreiheiten sind nun einmal auf den Binnenmarkt bezogen (Art. 14 EG). Plausibler scheint es, die Freizügigkeitsgarantie als normgeprägtes Grundrecht zu verstehen. Inhalt und Schranken des Art. 18 EG werden vom primären und sekundären Gemeinschaftsrecht bestimmt, das seinerseits in dessen Lichte auszulegen ist. So ergibt sich das Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Art. 18 EG, sein Umfang wird jedoch andernorts konkretisiert. Zweitens bietet Art. 18 EG der Rechtsprechung des EuGH den Anknüpfungspunkt für eine richterrechtliche, am allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG orientierte Erstreckung staatlich gewährter sozialer und kultureller Rechte auf alle, die sich rechtmäßig auf dem Gebiet des betreffenden Mitgliedstaates aufhalten.90 Eine dritte Neuerung besteht darin, dass Art. 18 Abs. 2 EG nur noch Erleichterungen der Freizügigkeit, aber keine neuen Beschränkungen mehr vorsieht.91 Auch diese Finalität trägt die grundrechtskonforme Auslegung sekundären Rechts, die der EuGH entwickelt hat. Art. 18 EG hat also der Rechtsprechung das Signal für eine Aufwertung und Erweiterung der Freizügigkeitsgarantie gegeben, am acquis communautaire des Freizügigkeitsrechts hingegen nur wenig geändert. Nach wie vor gibt es keine unbeschränkte Bewegungsfreiheit innerhalb der Union. b) Politische Rechte und Zugang zu öffentlichen Ämtern Mit Art. 19 EG wird Unionsbürgern mit Wohnsitz in Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen (Art. 19 Abs. 1 EG) und Europawahlen (Art. 19 Abs. 2 EG) zuerkannt. Die Bezüge zum Unionsrecht sind in beiden Fällen unterschiedlich. Während Art. 19 Abs. 1 EG in engem Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht (Art. 18 EG) steht, hat Art. 19 Abs. 2 EG darüber hinaus eine – wenn auch eher versteckte – Bedeutung für die Legitimation der Union.
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EuGH, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulos, Slg. 2004, I-5257, Rn. 65. Ebd., Rn. 96 f. So J. Kokott, Die Freizügigkeit der Unionsbürger als neue Grundfreiheit, in: FS Tomuschat, 2006, S. 207 (214 ff.); Wollenschläger (Fn. 13), S. 373 ff.; C. Calliess, Der Unionsbürger: Status, Dogmatik und Dynamik, EuR Beiheft 1/2007, S. 7 (23 ff.); die Unterschiede betont GA Cosmas zu EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6207, Nr. 86, 101. EuGH, Rs. C-85/96 (Fn. 78), Rn. 60; dazu noch unten, III. 3. c). Haag (Fn. 65), Art. 18 EG, Rn. 17; Hatje (Fn. 65), Art. 18 EG, Rn. 13.
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aa) Kommunalwahlrecht Das Kommunalwahlrecht wird als eine Funktion der Freizügigkeit betrachtet. Es soll auf lokaler Ebene den Verlust an politischer Mitwirkung ausgleichen, der durch das Verlassen des Herkunftsstaates entstanden ist und durch Gleichberechtigung mit den Angehörigen der Wohnsitzstaaten die Integration erleichtern.92 Die Möglichkeit zur Mitwirkung an Entscheidungen auf der lokalen Ebene, die für die Bürger von allen Ebenen der Staatsorganisation wohl die am deutlichsten sichtbaren Folgen hat, kann die Einordnung in ein anderes Lebensumfeld erleichtern. Das Kommunalwahlrecht hat darüber hinaus eine verfassungsrechtliche Dimension. Zur Verwirklichung des Kommunalwahlrechts war in Deutschland, wie auch in Frankreich, Spanien und Portugal, eine Änderung der Verfassung notwendig.93 Nach der herrschenden Interpretation der maßgeblichen Bestimmungen des Grundgesetzes ist für die Ausübung des Wahlrechts die deutsche Staatsangehörigkeit Voraussetzung.94 Die Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2, Art. 28 Abs. 1 GG), die sich auf das deutsche Volk bezieht, ist zwar nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderbar, doch gehört das Junktim zwischen Staatsangehörigkeit und Kommunalwahlrecht nicht zu diesem änderungsfesten Bestand.95 Der Grund liegt im Wesentlichen darin, dass die kommunalen Vertretungskörperschaften nicht als Teil der Legislative angesehen, sondern zur Exekutive gerechnet werden.96 Durch den 1992 eingefügten Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG konnte das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger daher zugelassen werden. Die Umsetzung der Kommunalwahlrichtlinie97 fällt in die Zuständigkeit der Länder und ist inzwischen abgeschlossen. Den Literaturstreit, ob das kommunale Wahlrecht auch lokale Abstimmungen umfassen dürfe,98 haben die Länder im Sinne eines Teilnahmerechts entschieden.99
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Vgl. M. Degen, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag über die Europäische Union unter besonderer Berücksichtigung des Wahlrechts, DÖV 1993, S. 749. Zu Frankreich R. Kovar/D. Simon, La citoyenneté européenne, CDE 29 (1993), S. 285 (304 ff.); Benlolo Carabot (Fn. 59), S. 321 ff.; zu Spanien M. Fraile Ortiz, El significado de la ciudadanía europea, 2003, S. 170 ff.; zu Portugal Lopes Marinho, in: F. Laursen/ S. Vanhoonacker (Hrsg.), The Ratification of the Maastricht Treaty, 1994, S. 231; im Übrigen J. Shaw, The Transformation of Citizenship in the European Union, 2007, S. 147 ff. BVerfGE 83, 37 (Ausländerwahlrecht in Schleswig-Holstein); E 83, 60 (Ausländerwahlrecht in Hamburg). BVerfGE 83, 37 (59); BVerfG (Kammer), NVwZ 1998, S. 52. Vgl. BVerfGE 65, 283 (289). Richtlinie 94/80/EG, ABl. 1994 L 368, S. 38, geändert durch Anhang II 2. D zur Beitrittsakte, ABl. 2003 L 236, S. 334, und Richtlinie 2006/106/EG, ABl. 2006 L 363, S. 409 (Bulgarien und Rumänien). Dagegen der Bundesminister des Innern in einem Vermerk an die Länder vom 30.01.1995, unveröff., zit. bei K. Engelken, Einbeziehung der Unionsbürger in kommunale Abstimmungen (Bürgerentscheide, Bürgerbegehren)?, NVwZ 1995, S. 432 (433, in Fn. 6); dafür H.-U. Erichsen, Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, 1997, S. 84; K. Barley, Das Wahlrecht der Ausländer nach der Neuordnung des Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG, 1999, S. 73 ff. Vgl. Art. 72 bad.-württ. Verf.; § 30 hess. GemO; §§ 17 a, 13 rh.-pf. GemO; §§ 26, 21 GemO, § 7 KWahlG NW; §§ 24, 16 sächs. GemO; §§ 25, 20 sachs.-anh. GemO.
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Die Einführung des Kommunalwahlrechts war lange geplant worden.100 Rechtlich gesehen beeinflusst sie die Staatsorganisation und bedeutet einen klaren Bruch mit der Verfassungstradition einiger Mitgliedstaaten. Ungeachtet der praktischen Bedeutung, die das Kommunalwahlrecht für rund 5 Mio. Bürger mit Wohnsitz außerhalb ihres Herkunftsstaates hat, lässt sich an ihm ablesen, dass die Union zum konstituierenden Faktor bei der Organisation von Hoheitsgewalt im europäischen Mehrebenensystem geworden ist. bb) Europawahlrecht Das Europawahlrecht hat mit dem Kommunalwahlrecht nur so viel zu tun, als es gewisse politische Partizipationsrechte am Wohnsitzort garantiert. Mit Art. 19 Abs. 2 EG wurde es möglich, dass eine in Deutschland wohnhafte Portugiesin die 99 Abgeordneten mitwählt, die der Bundesrepublik im Europaparlament zustehen (Art. 190 Abs. 2 EG). Damit differenziert das europäische Wahlrecht nur noch gegenüber Drittstaatsangehörigen nach der Staatsangehörigkeit, im Übrigen aber nach dem Wohnsitz. Der Rechtsprechung des EuGH zufolge sind die Mitgliedstaaten bei einer hinreichend engen Verbindung befugt, den Kreis der Wahlberechtigten über die Unionsbürger hinaus zu erweitern.101 Die Wählerschaft bilden die Unionsbürger und eventuell weitere Personen mit genuiner Verbindung zu einem Mitgliedstaat, aber nicht die je vereinzelt gedachten Völker Europas. Art. 10 EUV-Liss. bringt dies zum Ausdruck: „Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten.“ Diese Regelanknüpfung des Wahlrechts an der Unionsbürgerschaft (so auch Art. 14 Abs. 2 EUV-Liss.) ist eine natürliche Konsequenz der Einrichtung direkter Wahlen zum Europäischen Parlament. Gegen sie wurden Bedenken geltend gemacht, da der zwischen den Mitgliedstaaten ohnehin ungleich verteilte Erfolgswert weiter zu Lasten der unterrepräsentierten Staaten herabgesetzt werde.102 Das Bundesverfassungsgericht ist derartigen Überlegungen jedoch nicht gefolgt.103 Sie sind auch angesichts der insignifikanten Wahlbeteiligung nicht haltbar.104 Wie das Kommunalwahlrecht erfasst auch das Europawahlrecht seinem Wortlaut nach nur Unionsbürger, die außerhalb ihres Herkunftsstaates leben. Allerdings kann es nicht in der Absicht des Art. 19 Abs. 2 EG liegen, Bürger mit Auslandswohnsitz zu privilegieren; es setzt ein Wahlrecht der Inländer voraus, das seine unionsrechtliche Grundlage im Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl hat.105 Diese 100 101
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Fn. 36; zur bis 1972 zurückreichenden Vorgeschichte R. Bieber, „Besondere Rechte“ für die Bürger der Europäischen Gemeinschaften, EuGRZ 1978, S. 203 (204). EuGH, Rs. C-145/04 (Fn. 25), Rn. 76 (Wahlrecht für Bewohner Gibraltars); dazu L. Burgorgue-Larsen, L’identité de l’Union européenne au coeur d’une controverse territoriale tricentenaire, RTDE 43 (2007), S. 25. Vgl. etwa M. Dürig, Das neue Wahlrecht für Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, NVwZ 1994, S. 1180 (1181 f.). Vgl. BVerfG (Kammer), EuGRZ 1995, S. 566. Siehe die Zahlen bei Kommission, Dritter Bericht (Fn. 42), S. 18. EuGH, Rs. C-300/04, Eman, Slg. 2006, I-8055, Rn. 46 ff.; GA Tizzano zu dieser Rs., ebd., Nr. 69.
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Schlussfolgerung legt auch die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK nahe, der zufolge das Europäische Parlament als gesetzgebende Körperschaft anzusehen ist, deren Wahl die Vertragsstaaten zu gewährleisten haben.106 Über Art. 6 EUV gehört dieses Recht zum Verfassungsrecht der Union. Die Modalitäten sind in der Richtlinie zur Europawahl niedergelegt.107 Indem sie es zulässt, dass das Wahlrecht statt am Wohnort auch am Herkunftsort ausgeübt wird, unterstreicht sie die hinter Art. 19 EG stehende Absicht, die Rechte der Unionsbürger zu erweitern. Allerdings war es nicht ihr Ziel, das geplante einheitliche Wahlverfahren einzurichten (Art. 190 Abs. 4 EG). Vielmehr bleiben hierzu weitgehend die Mitgliedstaaten zuständig. Die Richtlinie beschränkt sich auf die mit dem subjektiven Wahlrecht verbundenen Fragen wie das Antragsprinzip und den Ausschluss mehrfacher Wahl und Kandidatur. Die Bedeutung des Art. 19 Abs. 2 EG liegt darin, dass er dem auf europäischer Ebene bisher allein institutionell konzipierten Europawahlrecht (vgl. Art. 190 Abs. 1 und 3 EG: „die Abgeordneten werden … gewählt“) in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EU und Art. 3 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK eine subjektive Komponente verleiht.108 Innerhalb des Kreises der Unionsbürger kommt es auf die Staatsangehörigkeit nicht mehr an. Damit nähert sich der EG-Vertrag der Vorstellung einer europäischen Legitimationsgemeinschaft an.109 Vor allem durch diese Bestimmung werden Überlegungen über die Rolle angestoßen, die die Unionsbürger bei der Organisation der Willensbildung in Europa spielen könnten. Auf sie wird unter IV. näher eingegangen. c) Petition, Information, Zugang zu Dokumenten Den Unionsbürgern wird – ebenso wie allen anderen, die auf dem Gebiet der Union ansässig sind – eine Reihe von Rechten zugestanden, denen im Zusammenhang mit Aktivbürgerrechten eine Hilfsfunktion zukommen kann und auch soll. Dies gilt für das Petitionsrecht und das Recht auf Zugang zu einem Bürgerbeauftragten (Art. 21 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 194 und 195 EG), das durch den Vertrag von Amsterdam eingeführte Informationsrecht (Art. 21 Abs. 3 EG) und für den zeitgleich in den EG-Vertrag aufgenommenen Zugang zu Dokumenten (Art. 255 EG), die in der Grundrechte-Charta im Zusammenhang aufgeführt werden (Art. 42 bis 44 GRCharta). Art. 21 Abs. 1 EG enthält mit dem Recht, an das Europäische Parlament eine Petition zu richten, eine Gewährleistung, die in staatlichem Kontext eine mehrfache
106 107 108 109
EGMR (GK), Nr. 24833/94, Matthews/Großbritannien, ECHR 1999-I, Rn. 52. Richtlinie 93/109/EG, ABl. 1993 L 329, S. 34. Vgl. Kovar/Simon (Fn. 93), S. 307. Vgl. A. Rosas, Union Citizenship and National Elections, in: ders./E. Antola (Hrsg.), A Citizen’s Europe, 1995, S. 135; Weiler (Fn. 8), S. 74; R. Rubio Marín, Equal Citizenship and the Difference Residence Makes, in: La Torre (Fn. 43), S. 201; M.-J. Garot, A New Basis for European Citizenship: Residence?, ebd., S. 229.
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Funktion erfüllt. Zum einen wird das Petitionsrecht als Bindeglied zwischen den Bürgern und ihrem Parlament betrachtet, das eine gewisse Chance auf politische Einflussnahme eröffnet.110 Außerdem kommt ihm eine Rechtsschutzfunktion zu, da es Gelegenheit bietet, außerhalb der förmlichen Rechtsbehelfe eigene Interessen zu verfolgen. Sachlich bezieht es sich auf alle Angelegenheiten, für die die Gemeinschaft zuständig ist, wird aber in der Praxis des Parlaments auf die gesamte Union erweitert.111 Der Gewährleistungsgehalt ist also weit gezogen. Gleichwohl überwindet über die Hälfte der Eingaben die Zulässigkeitsschwelle nicht.112 Zumeist wird es an der geforderten persönlichen Betroffenheit fehlen. Bei dem Recht, sich an einen Bürgerbeauftragten zu wenden, steht ganz der Rechtsschutzaspekt des Beschwerderechts im Vordergrund. Da es dessen Aufgabe ist, Missständen in der Tätigkeit der Unionsorgane nachzugehen, erfüllt dieser Verfahrensweg die Funktion einer Kontrolle über die Verwaltung, von der man sich mehr Transparenz und disziplinierende Effekte im Hinblick auf die Amtsführung verspricht.113 Auf der subjektiv-rechtlichen Seite konkretisiert er sich im Recht auf eine „gute Verwaltung“,114 das Art. 41 GR-Charta kodifiziert. Über die Gemeinschaftszuständigkeiten hinaus erstreckt sich das Aufgabengebiet des Bürgerbeauftragten auch auf die sog. Dritte Säule, die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Im Verlaufe der letzten Jahre ist das Beschwerderecht immer häufiger genutzt worden.115 Das Informationsrecht des Art. 21 Abs. 3 EG bietet auf den ersten Blick nicht mehr als das Recht, sich gegenüber den Organen der Gemeinschaft oder dem Bürgerbeauftragten der eigenen Sprache zu bedienen und in ihr eine Antwort zu erhalten, sofern es sich dabei um eine der Gemeinschaftssprachen (Art. 314 EG) handelt.116 Ob es sich darauf beschränkt, hängt davon ab, welche Anforderungen an die zu erteilende Antwort zu stellen sind. Die Union hat sich ausdrücklich auf mehr Bürgerrechte und Transparenz verpflichtet (Abs. 12 der Präambel, Art. 1 Abs. 2 EU, Art. 255 EG), so dass eine Auslegung angezeigt ist, die über das Versprechen des Gebrauchs der eigenen Muttersprache hinausgeht. Man wird hierin einen Anspruch auf
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H. Bauer, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 2004, Art. 17, Rn. 13. Art. 191 Geschäftsordnung EP (16. Aufl.), ABl. 2005 L 44, S. 1 („Angelegenheiten, die in die Tätigkeitsbereiche der Union fallen“). Kommission, Vierter Bericht über die Unionsbürgerschaft, KOM(2004) 695, S. 10. S. Kadelbach, Verwaltungskontrollen im Mehrebenen-System der Europäischen Gemeinschaft, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungskontrolle, 2001, S. 205 (220). A. Tsadiras, The Position of the European Ombudsman in the Community System of Judicial Remedies, ELRev. 32 (2007), S. 607. Der Europäische Bürgerbeauftragte, Jahresbericht 2005, Zusammenfassung und Statistiken, 2006, S. 10, 21. Das Recht bezieht sich auf die in Art. 21 Abs. 2 und Art. 7 EG genannten Organe, kann also nicht gegenüber Agenturen ausgeübt werden, siehe EuG, Rs. T-120/99, Kik/HABM, Slg. 2001, II-2235, Rn. 64; EuGH, Rs. C-361/01 P, Kik/HABM, Slg. 2003, I-8283, Rn. 83.
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Auskunft zu sehen haben,117 dessen Inhalt von dem vorgebrachten Anliegen, aber auch von berechtigten Geheimhaltungsinteressen (vgl. Art. 287 EG) abhängt. Der Auskunftsanspruch überschneidet sich mit dem Recht auf Zugang zu Dokumenten, die sich im Besitz der in Art. 255 EG bezeichneten Organe Rat, Kommission und Parlament befinden. Das in Art. 255 EG enthaltene subjektive Bürgerrecht bildet ein verhältnismäßig neues Instrument der Verwaltungskontrolle.118 Es hat seinen Ursprung in Selbstverpflichtungen der Organe und wird inzwischen in einer auf Art. 255 Abs. 2 EG gestützten Transparenzverordnung präzisiert.119 Der Zugang muss ohne Nachweis eines besonderen Interesses gewährt werden. Die Geheimhaltungsinteressen, die diesem Recht entgegengesetzt werden können, sind im Einzelnen in der Transparenzverordnung festgelegt. Zu ihnen gehören die öffentliche Sicherheit, Verteidigung, auswärtige Beziehungen sowie die Finanz-, Währungs- und Wirtschaftspolitik, ferner der Schutz der Privatsphäre, insbesondere der Datenschutz.120 Darüber hinaus wird der Zugang verweigert, wenn der Schutz geschäftlicher Interessen, eines gerichtlichen Verfahrens oder eines Untersuchungsverfahrens entgegenstehen. Schließlich besteht kein Recht auf Zugang zu vorläufigen Dokumenten oder solchen Informationen, die nur mit Zustimmung eines Mitgliedstaates verbreitet werden dürfen. Die Verordnung wurde als zu restriktiv kritisiert,121 doch legt die Rechtsprechung ihre Ausnahmetatbestände eng aus.122 Der EuGH betont ihre Bedeutung für den Aktivstatus der Unionsbürger, für die Legitimität, Effektivität und Transparenz der Verwaltung in einer demokratischen Ordnung und für die Wahrung der Grundrechte.123 Alle diese Kontroll- und Informationsrechte sind ihrer Anlage nach für eine bürgernahe Verwaltung unabdingbar, einige von ihnen können auch für die Verwaltungstradition mancher Mitgliedstaaten, die nur einen eingeschränkten Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen kennen, neue Impulse geben. Ähnlich wie bei der 117 118 119
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Hatje (Fn. 65), Art. 21 EG, Rn. 4; M. Hilf, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU (Stand: Jan. 2008), Art. 21 EG, Rn. 1. Zum Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft J. Shaw, European Citizenship: The IGC and Beyond, EPL 3 (1996), 413 (430 ff.). Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. 2001 L 145, S. 43; zur Überprüfung KOM(2007) 185. Art. 4 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 (Fn. 119) i.V.m. der Richtlinie 95/46/EG zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. 1995 L 281, S. 31, sowie Art. 16 AEUV; siehe B. Siemen, Datenschutz als europäisches Grundrecht, 2006. M. E. de Leeuw, The Regulation on Public Access to European Parliament, Council and Commission Documents, ELRev. 28 (2003), S. 324. EuG, Rs. T-264/04, WWF European Policy Programme/Rat, Slg. 2007, II-911; Rs. T-194/04, The Bavarian Lager/Kommission, Slg. 2007, II-4523; EuGH, Rs. C-266/05 P, Sison/Rat, Slg. 2007, I-1233, Rn. 38. EuGH, Rs. C-41/00 P, Interporc, Slg. 2003, I-2125, Rn. 39; Rs. C-64/05 P, Schweden/Kommission u.a., Slg. 2007, I-11389, Rn. 66; zur älteren Rspr. siehe die Anm. S. Kadelbach, CMLRev. 38 (2001), S. 179; zur neueren Rspr. J. Heliskoski/P. Leino, Darkness at the Break of Noon, CMLRev. 43 (2006), S. 735.
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Wahlbeteiligung der Unionsbürger liegt das Defizit bei einigen dieser Rechte darin, dass sie in vergleichsweise geringem Umfang in Anspruch genommen werden.124 Insbesondere gilt das für den Zugang zu Informationen. Die Kommission ist sich dieses Problems bewusst und versucht schon seit einiger Zeit, ihm durch Förderung des Bekanntheitsgrades der Rechte auf Bürgerbeteiligung zu begegnen.125 Letztlich dürfte hier die Annäherung der Union an ihre Bürger an außerrechtliche Grenzen stoßen, deren Ursachen näherer Analyse bedürfen. Weiter unten wird hierauf noch einmal eingegangen werden (IV.). d) Diplomatischer und konsularischer Schutz Eine völlig andere Dimension subjektiver Rechte soll Art. 20 EG eröffnen. Jeder Unionsbürger soll in Staaten außerhalb der Union, in denen sein Herkunftsstaat nicht vertreten ist, „diplomatischen und konsularischen“ Schutz durch andere Mitgliedstaaten der Union genießen.126 Die Kooperation diplomatischer und konsularischer Vertretungen gehört zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 20 EU). Durch Art. 20 EG soll also die gemeinsame Verantwortung der Unionsstaaten für ihre Bürger im Ausland zum Ausdruck gebracht werden. Zum Verständnis dieser Vorschrift ist es nützlich, sich zu vergegenwärtigen, dass es bei In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrages nur fünf Staaten gab, in denen alle Unionsstaaten vertreten waren; im Europa der 27 ist dies nur mehr in drei Staaten der Fall.127 Das Anliegen, die Stellung Fernreisender im Ausland zu verbessern, scheint „bürgerfreundlich“. Allerdings sind Reichweite und Anwendbarkeit dieser Gewährleistung mit einigen Unklarheiten behaftet, die ihre Wirksamkeit schmälern. Es ist schon nicht ganz klar, was „diplomatischer und konsularischer Schutz“ bedeuten soll. Konsularischer Schutz umfasst in der völkerrechtlichen Praxis vor allem Verwaltungstätigkeit wie das Ausstellen von Ausweisen, die Unterstützung in familien- und erbrechtlichen Angelegenheiten, Vermittlung einer Vertretung vor Gericht, Rechtshilfe usw.128 Diese Aufgaben können ohne weiteres stellvertretend durch andere Staaten erledigt werden.129 124 125 126
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Siehe die Zahlen im Dritten Bericht der Kommission (Fn. 42), S. 20, 22, wo sie aber optimistischer bewertet werden; siehe auch KOM(2007) 548. Kommission, Discussion Paper on Public Access to Commission Documents v. 23.04.1999, SG.C.2/VJ/CD D (99) 83. Nicht umfasst sind der sog. funktionale Schutz, den internationale Organisationen für ihre Bediensteten ausüben können, oder sonst ein Tätigwerden durch die Organe der EU oder EG; siehe zu einem solchen Fall EuG, Rs. T-572/93, Odigitria, Slg. 1995, II-2025, Rn. 77; umfassend C. Storost, Diplomatischer Schutz durch EG und EU?, 2005. Kommission, Zweiter Bericht über die Unionsbürgerschaft, KOM(97) 230, S. 11; Kommission, Grünbuch: Der diplomatische und konsularische Schutz des Unionsbürgers in Drittländern, ABl. 2007 C 30, S. 9 (Volksrepublik China, Russland und die USA). Siehe Art. 5 Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen v. 24.04.1963 (WÜK), UNTS vol. 596, S. 261, ferner §§ 1–17 des Gesetzes über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse (Konsulargesetz), BGBl. 1974 I, S. 2317, i.d.F. v. BGBl. 2003 I, S. 3022. Art. 8 WÜK.
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Diplomatischer Schutz dagegen besteht in der Unterstützung eigener Staatsangehöriger gegenüber Verletzungen des Völkerrechts durch einen anderen Staat.130 Der Schwerpunkt dieser Tätigkeit liegt bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen, die aus der Unterschreitung des gewohnheitsrechtlichen Minimums im Hinblick auf den Schutz der Person und ihres Eigentums entstehen. Macht der Heimatstaat sich die Ersatzforderung eines Staatsangehörigen zu Eigen und richtet ihn gegen den schädigenden Staat, erhebt er, zumindest nach traditionellem Völkerrechtsverständnis, einen eigenen Anspruch.131 Soll dieser Anspruch von einem dritten Staat geltend gemacht werden, bedarf es eines Einverständnisses des Schädigerstaates.132 Damit wird deutlich, dass Art. 20 EG Einzelnen ein derartiges Recht gar nicht zusichern kann. Allerdings erstreckt sich sein Gewährleistungsgehalt – entgegen dem scheinbar eindeutigen, aber irreführenden deutschen Wortlaut – auch nicht auf diplomatischen Schutz im klassischen Sinne.133 Dies belegen die Fassungen in den anderen Vertragssprachen, die von Schutz durch diplomatische Vertretungen sprechen („protection par la part des autorités diplomatiques et consulaires“, „protection by diplomatic or consular authorities“ usw.). Auch der Zusammenhang, in dem der Begriff „diplomatischer Schutz“ verwendet wird, spricht gegen diese Deutung. Denn weder ist für dessen Ausübung eine Vertretung des Heimatstaates des Geschädigten im Schädigerstaat notwendig, noch muss dies in dessen Hoheitsgebiet geschehen. Schutz durch diplomatische Vertretungen kann dagegen auch konsularischer Schutz sein.134 Auf ihn beschränkt sich denn auch das bisher gesetzte Umsetzungsrecht.135 Zum anderen kann der zu gewährende Schutz in Maßnahmen beste130 131 132 133
134 135
K. Hailbronner, Völkerrecht und staatliches Recht, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2007, S. 157 (201), Rn. 110 ff. Case concerning Mavrommatis Palestine Concessions (Griechenland/Großbritannien), PCIJ Rep. 1924, Series A, Nr. 2 (12); Nottebohm Case (Liechtenstein/Guatemala) Fn. 46, 24. Barcelona Traction Light and Power (Belgien/Spanien) IGH Rep. 1970, S. 2 (47). Zur Intention C. Jiménez Piernas, La protección diplomática y consular del ciudadano de la Unión Europea, Revista de las Instituciones Europeas 20 (1993), S. 9 (17 ff.); J. Weyland, La protection diplomatique et consulaire des citoyens de l’Union européenne, in: Marias (Fn. 16), S. 63 (64); wie hier M. Ruffert, Diplomatischer und konsularischer Schutz zwischen Völker- und Europarecht, AVR 35 (1997), 459 (465, 472, 476); a.A. Hatje (Fn. 65), Art. 20 EG, Rn. 9; Hilf (Fn. 117), Art. 20 EG, Rn. 15; T. Stein, Die Regelung des diplomatischen Schutzes im Vertrag über die Europäische Union, in: G. Ress/T. Stein (Hrsg.), Der diplomatische Schutz im Völker- und Europarecht, 1996, S. 97 ff.; S. Magiera, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 20 EG, Rn. 6. Art. 3 S. 2 WÜK; Art. 3 Abs. 2 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen v. 18.04.1961, UNTS vol. 500, S. 95. Art. 5 Abs. 1 Beschluss 95/553 über den Schutz der Bürger der Europäischen Union durch die diplomatischen und konsularischen Vertretungen, ABl. 1995 L 314, S. 73; Beschluss über die von den Konsularbeamten anzuwendenden Durchführungsbestimmungen, unveröff.; Beschluss 96/409 über die Ausstellung eines Rückkehrausweises, ABl. 1996 L 168, S. 4; siehe auch die Guidelines for the Protection of Unrepresented EC Nationals by EC Missions in Third Countries, veröff. als Dok. 7142/94 v. 24.05.1994, sowie die Leitlinien der Arbeitsgruppe COCON des Europäischen Rates, Rats-Dok. 10109/06.
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hen, die bei Ausübung diplomatischen Schutzes im völkerrechtlichen Sinne an Ort und Stelle ergriffen werden können. Nicht nur der Gehalt, auch die Wirkung des Art. 20 EG ist begrenzt. Sein Satz 2 verpflichtet die Mitgliedstaaten, die „notwendigen Regeln“ zu vereinbaren und die „erforderlichen internationalen Verhandlungen“ einzuleiten. Die Auffassung, die Art. 20 EG unmittelbare Wirkung zumisst, ist angesichts dieses Vorbehalts schwer haltbar.136 Daran ändert auch die vorgesehene Erhebung dieser Bestimmung zum Grundrecht nichts (Art. 46 GR-Charta): Vor der Anwendung dieser Garantie stehen die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten und die Zustimmung des jeweiligen Drittlandes. Die ersten Schritte zur Verwirklichung des Schutzanspruchs waren drei Beschlüsse der Regierungsvertreter, die ihrerseits der Übernahme in nationales Recht bedürfen; dies ist bisher noch nicht überall geschehen.137 Ein Anspruch auf gleiche Teilhabe an einem auch eigenen Staatsangehörigen gewährtem Schutz lässt sich somit allenfalls auf der Basis des allgemeinen Diskriminierungsverbotes (Art. 12 i.V.m. Art. 20 EG) denken, soweit der betroffene Drittstaat dem zustimmt.138 Auch nach über einem Jahrzehnt, das seit In-Kraft-Treten des Art. 20 EG verstrichen ist, sind die Mitgliedstaaten also noch nicht in der Lage gewesen, ihm Wirksamkeit zu verleihen. Demnach scheint Art. 20 EG vorläufig mehr zu versprechen als er halten kann. Der Vertrag von Lissabon enthält nunmehr eine Rechtsetzungskompetenz zur „Erleichterung dieses Schutzes“ (Art. 20 Abs. 2 AEUV). Konsularischer Schutz und Hilfsdienste des diplomatischen Schutzes können allerdings bereits nach dem gegenwärtigen Stand des Völkerrechts durch andere Staaten geleistet werden. 3. Unionsbürgerrechte und Diskriminierungsverbot a) Verbindungen zwischen Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG) zählt zu den Unionsbürgerrechten. Die Gleichheit vor dem Recht gehört zu den ent136
137
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Ebenso Closa (Fn. 57), S. 502 f.; W. Kaufmann-Bühler, in: C. O. Lenz/K.-D. Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 20 EG, Rn. 3; a.A. U. Everling, in: R. Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa, 1994, S. 49 (62); Ruffert (Fn. 133), S. 471 f.; P. Szczekalla, Die Pflicht der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten zum diplomatischen und konsularischen Schutz, EuR 1999, S. 325 (327 f.). Beim Beschluss 95/533 soll dies ausweislich des Vierten Berichts (Fn. 112), S. 9 zum Mai 2002 der Fall gewesen sein. Im deutschen Konsulargesetz (Fn. 128) hat sich dies zumindest nicht niedergeschlagen; es beschränkt den Schutz auf Deutsche und – soweit es „im Einzelfall der Billigkeit entspricht“ (§ 5 Abs. 2) – deren nichtdeutsche, mit ihnen in Hausgemeinschaft lebende Familienangehörige. Dass eine Gesetzesänderung erforderlich ist, verneint W. Kluth, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 20 EG, Rn. 18, da der Anspruch nur auf Inländerbehandlung gerichtet sei; gegen diese Ansicht spricht, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, den Unionsbürgern subjektive Rechte zu verschaffen. Skeptisch dagegen Giegerich (Fn. 86), Rn. 102; zu Recht, denn nationales Recht ist in solchen Fällen aus Gründen der Rechtsklarheit anzupassen, siehe EuGH, Rs. 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359, Rn. 41 f. (zur Arbeitnehmerfreizügigkeit). Kleinlein/Rabenschlag (Fn. 41).
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scheidenden Elementen eines Bürgerstatus.139 Die Kommission bezieht darüber hinaus auch die Initiativen der Union gegen Diskriminierungen aus anderen Gründen als der Staatsangehörigkeit in die Unionsbürgerschaft ein.140 Zur genaueren Kennzeichnung des Stellenwertes des Art. 12 EG kommt es auf dessen Wortlaut an. Danach ist „unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages … in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten“. Die meisten der Unionsbürgerrechte richten sich ihrer sprachlichen Fassung (Art. 19 und 20 EG) oder ihrem Sinne nach (Art. 18 EG) auf Inländerbehandlung, stellen also ebenso wie Art. 12 EG für die Mitgliedstaaten ein Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf. Regelungstechnisch sind somit die Gleichbehandlungsgebote der Art. 18 ff. EG als „besondere Bestimmungen“ gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 12 EG vorrangig. Andererseits zählen auch sie zum „Anwendungsbereich“ „dieses Vertrages“, und Art. 17 Abs. 2 EG verweist auf die „in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten“, zu denen auch Art. 12 EG gehört.141 Aus dieser wechselseitigen Verklammerung hat der EuGH weitreichende Folgen abgeleitet. Leitidee seiner Rechtsprechung ist, dass sich Unionsbürger, die sich rechtmäßig im Gebiet eines Unionsstaates aufhalten, in allen vom sachlichen Anwendungsbereich des EG-Vertrages erfassten Fällen auf Art. 12 EG berufen können.142 Im Laufe der letzten Jahre hat der EuGH diese Rechtsprechung aus wechselnden Grundlagen abgeleitet, so teils aus der Verknüpfung der Art. 18 und 12 EG, teils aus einer Verbindung aus Art. 17 und Art. 12 EG, teils auch aus Art. 18 EG allein;143 Unterschiede in der Sache ergeben sich daraus nicht. Die Konsequenzen sind kaum zu überblicken. Sie betreffen vorläufig vor allem soziale und kulturelle Rechte. b) Derivative soziale Rechte Das Gemeinschaftsrecht gewährt keine originären sozialrechtlichen Ansprüche, sondern gebietet unter nach Rechtsgrundlage variierenden Voraussetzungen die Einbeziehung bestimmter Personenkreise in die nationalen Leistungssysteme. Notwendig war dafür bislang eine Erwerbstätigkeit oder ein verwandtschaftliches Verhältnis zu einer erwerbstätigen Person. Vergleichbares kann für Arbeitssuchende, Auszubildende oder Personen im Ruhestand gelten, doch war stets ein Zusammenhang mit einer der personenbezogenen Grundfreiheiten erforderlich. In seiner Rechtsprechung seit der Martínez Sala-Entscheidung entkoppelt der EuGH diese Leistungsansprüche vom Erfordernis eines Aufenthaltsrechts, das mit 139 140 141 142 143
Betont von Schönberger (Fn. 59), S. 385 ff.; R. White, Free Movement, Equal Treatment, and Citizenship of the Union, ICLQ 54 (2005), S. 885 (894 ff.). Dritter Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft (Fn. 42), S. 4, 26 ff. Siehe auch A. Epiney, Zum „Anwendungsbereich des Vertrages“ in Art. 12 EGV, in: FS Bieber, 2007, S. 661. EuGH, Rs. C-85/96 (Fn. 78), Rn. 62; krit. Anm. C. Tomuschat, CMLRev. 37 (2000), S. 449. Dazu A. v. Bogdandy/S. Bitter, Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot, in: FS Zuleeg, 2005, S. 309 (312 ff.).
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den Grundfreiheiten in Zusammenhang steht, und bindet sie an den Unionsbürgerstatus an. Auf Art. 18 EG in Verbindung mit Art. 12 EG hat er einen Anspruch auf Teilhabe an sozialen Rechten für alle Unionsbürger gestützt, die sich rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten.144 Da der Aufenthaltstitel, wie im Fall Martínez Sala, auch auf nationalem Recht beruhen kann, bleibt es den Mitgliedstaaten unbenommen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu ergreifen. Die Kehrseite dieser Rechtsprechung kann also eine restriktivere Praxis der Ausländerbehörden in den Mitgliedstaaten sein.145 Dabei ist aber zu beachten, dass das nationale Ausländerrecht ebenfalls gemeinschaftsrechtlich determiniert ist. Hier kommen die „Bedingungen und Beschränkungen“, auf die Art. 18 EG verweist, zum Zuge.146 Allerdings genügt die Sozialhilfebedürftigkeit allein nicht ohne weiteres. Der EuGH hat einem französischen Studenten, der nach drei Jahren Eigenfinanzierung im vierten Studienjahr fürsorgeabhängig geworden war, zugestanden, dass die automatische Ausweisung nicht die Folge sein dürfe, wenn der Bezug von Sozialhilfe nur vorübergehender Natur sei.147 In solchen Härtefällen sind die Mitgliedstaaten zur sozialen Solidarität verpflichtet. Doch dürfen sie derartige Leistungsansprüche an eine Mindestaufenthaltsdauer binden, wenn damit ein legitimer Zweck verfolgt wird, die Kriterien klar und vorhersehbar sind und effektiver Rechtsschutz zur Verfügung steht.148 Für den Bereich des Rechts der Sozialleistungen könnten die Konsequenzen beträchtlich sein.149 Das Diskriminierungsverbot des Art. 12 bildet gemeinsam mit Art. 18 EG eine umfassende Generalklausel, die alle Bereiche erfasst, in denen die 144 145
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EuGH, Rs. C-85/96 (Fn. 78), Rn. 63; siehe auch Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573, Rn. 36 ff. H. Toner, Judicial Interpretation of European Union Citizenship: Transformation or Consolidation?, MJ 7 (2000), S. 158 (179 f.); zur Ausweisung rumänischer Roma aus Italien Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. November 2007 zu der Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG (Fn. 37), über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, P6_TA(2007)0534. Nach K.-D. Borchardt, Der sozialrechtliche Gehalt der Unionsbürgerschaft, NJW 2000, S. 2057 (2059 f.), nur, wenn das Aufenthaltsrecht genutzt wird, um höhere Sozialleistungen zu erhalten; enger A. Randelzhofer/A. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf (Fn. 117), Art. 39 EG, Rn. 193. EuGH, Rs. C-184/99 (Fn. 5), Rn. 34 ff., unter Aufgabe von Rs. 197/86, Brown, Slg. 1988, 3205, wonach die Gewährleistung von Lebensunterhalt für Studenten nach damaligem Stand des Gemeinschaftsrechts nicht in den Anwendungsbereich des heutigen Art. 12 EG fiel; dazu Anm. C. Jacqueson, Union Citizenship and the Court of Justice, ELRev. 27 (2002), S. 260 (268 ff.). EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703, Rn. 61 ff.; siehe auch Rs. C-258/04, Ioannidis, Slg. 2005, I-8275, Rn. 29 ff.; zu einem Modell nach Aufenthaltsdauer abgestufter Solidarpflichten Schönberger (Fn. 59), S. 349 ff.; Wollenschläger (Fn. 13), S. 343 ff. Weitreichende Konsequenzen zieht Borchardt (Fn. 146), S. 2057; zurückhaltend Randelzhofer/Forsthoff (Fn. 146), Rn. 189 ff.; von einer „Sozialbürgerschaft“ spricht mit Bezug auf T. H. Marshall (Fn. 53) T. Kingreen, Die Universalisierung sozialer Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR Beiheft 1/2007, S. 43 (50 ff.); siehe auch U. Becker, Migration und soziale Sicherheit, ebd., S. 95.
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Anwendung nationalen Rechts an die rechtmäßige Anwesenheit anknüpft. Die Staatsangehörigkeit ist als Kriterium des Sozialhilferechts150 gegenüber Unionsbürgern dem Wohnsitzprinzip gewichen. Auch im Bereich der Ausbildungsförderung hat sich diese Tendenz bemerkbar gemacht, wenn die Freizügigkeit der Unionsbürger Diskriminierungen nach dem Ort des Hochschulabschlusses oder des Studienortes ausschließt.151 Inzwischen kann man von einem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Gründen des Grenzübertritts sprechen, das sich auch gegen den eigenen Staat richten kann.152 Die soziale Dimension der Unionsbürgerschaft hat damit Konturen gewonnen.153 Der Vertrag von Lissabon greift die sozialrechtliche Komponente dieser Rechtsprechung auf und sieht eine Unionskompetenz für „Maßnahmen, die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen“ vor, über die der Rat einstimmig beschließen kann (Art. 21 Abs. 3 AEUV).154 c) Derivative kulturelle Rechte Ein weiteres Beispiel für das nahezu grenzenlose Potenzial dieser Rechtsprechung bietet das Recht auf Gebrauch der eigenen Sprache. Der EuGH hat deutschen und österreichischen Beschuldigten, gegen die in der Region Trentino-Südtirol Strafverfahren eingeleitet worden waren, einen Anspruch darauf zugesprochen, dass das Verfahren in ihrer Muttersprache geführt wird.155 Der Ansatzpunkt für das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 i.V.m. Art. 18 EG bestand im italienischen Recht, 150
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Dazu J. Kokott, Die Staatsangehörigkeit als Unterscheidungsmerkmal für soziale Rechte von Ausländern, in: K. Hailbronner (Hrsg.), Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts, 1999, S. 25. EuGH, Rs. C-256/99, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191, Rn. 27 ff.; Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, mit krit. Anm. K. Hailbronner, JZ 2005, S. 1138, und teils zust. Anm. S. Kadelbach, JZ 2005, S. 1163; EuGH, verb. Rs. C-11/06 und C-12/06 (Fn. 38); siehe auch F. David, La citoyenneté de l’Union, statut fondamental des ressortissants des Etats membres, RTDE 39 (2003), S. 561; S. Bode, Europarechtliche Gleichheitsansprüche Studierender und ihre Auswirkungen in den Mitgliedstaaten, 2005. Vgl. EuGH, Rs. C-224/02, Pusa, Slg. 2004, I-5763, Rn. 29 ff.; verb. Rs. C-502/01 und C-31/ 02, Gaumain-Cerri, Slg. 2004, I-6483; Rs. C-192/05 (Anm. 82), Rn. 30; Rs. C-520/04, Turpeinen, Slg. 2006, I-10685, Rn. 20; Rs. C-76/05, Schwarz, Slg. 2007, I-6849, Rn. 90; Rs. C-318/05, Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-6957, Rn. 127. Ungleichbehandlungen, die sich aus der Verschiedenheit der nationalen Rechtsordnungen ergeben, sind grundsätzlich zulässig, siehe Rs. C-365/02, Lindfors, Slg. 2004, I-7183; Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421, Rn. 34. Zum systematischen Stellenwert T. Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003, S. 402 ff., 411 ff.; dies ist verbreitet auf Kritik gestoßen, siehe nur F. Sander, Unionsbürgerschaft als Türöffner zu mitgliedstaatlichen Sozialversicherungssystemen?, DVBl. 2005, S. 1014; in diesen Zusammenhang gehört auch die auf die Grundfreiheiten gestützte Rechtsprechung des EuGH zu Leistungen der Krankenversicherung; skeptisch etwa C. Newdick, Citizenship, Free Movement and Health Care, CMLRev. 43 (2006), S. 1645. Krit. R. Kanitz/P. Steinberg, Grenzenloses Gemeinschaftsrecht?, EuR 2003, S. 1016. EuGH, Rs. C-274/96, Bickel, Slg. 1998, I-7637, Rn. 16, 23 ff.; Anm. von A. Gattini, Riv. Diritto Internazionale 82 (1999), S. 106; Anm. C. Novak, EuZW 1999, S. 84.
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das einen derartigen Anspruch Angehörigen der deutschsprachigen Volksgruppe mit Wohnsitz in der Provinz Bozen zugesteht. Ein Unterschied zur sozialrechtlichen Rechtsprechung besteht darin, dass das Strafrecht sachlich nicht in den Anwendungsbereich des EG-Vertrages fällt. Anscheinend trägt der Unionsbürgerstatus diese Rechtsfortbildung allein. Über die Konsequenzen dieser Erstreckung von Minderheitenrechten wird spekuliert. Sie sollten aber nicht überbewertet werden. Insbesondere bestehen für die Annahme eines umfassenden Anspruchs auf Gebrauch der Muttersprache vor nationalen Gerichten anderer Mitgliedstaaten keinerlei Anhaltspunkte.156 Es gilt zu betonen, dass die Unionsbürgerschaft keine originären Leistungsrechte geschaffen hat. 4. Das Verhältnis der Unionsbürgerschaft zu den Grundrechten Aus dem Vorstehenden ist bereits deutlich geworden, dass die Regelungen der Art. 18–21 EG die Unionsbürgerschaft nicht abschließend beschreiben. Auf den Generalverweis des Art. 17 Abs. 2 EG auf alle gemeinschaftsrechtlichen Rechte und Pflichten wurde bereits im Zusammenhang mit dem Sekundärrecht hingewiesen. Es wurde ferner festgehalten, dass sich aus dem geschriebenen Primär- und Sekundärrecht allein keine Anreicherung des Bürgerstatus ergibt. Hierzu bedurfte es erst einer Anknüpfung an Art. 12 EG durch die Rechtsprechung. In Art. 12 EG, einem der wenigen im EG-Vertrag niedergelegten Grundrechte, liegt denn auch die wichtigste rechtliche Querverbindung zwischen der Unionsbürgerschaft und den Grundrechten.157 Sie wirft grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis beider zueinander auf. Dabei kann es nicht darum gehen, alle Grund-, insbesondere Freiheitsrechte den Unionsbürgern vorzubehalten.158 Der Stellenwert der Grundrechte gibt jedoch Auskunft darüber, wie ein Gemeinwesen konstituiert ist. Insbesondere ist zu fragen, ob der Anerkennung Einzelner als Bürger echte Freiheitsrechte korrespondieren, die Begriff und Ziel der Unionsbürgerschaft Substanz verleihen.159 Historisch bestehen zwischen der Grundrechte-Rechtsprechung und der Unionsbürgerschaft keine Berührungspunkte. Während die Unionsbürgerschaft auf Initiativen des Rates und der Kommission zurückgeht, verdanken die Gemeinschaftsgrundrechte ihre Entstehung einer Korrektur der Rechtsprechung zum Anwendungsvorrang, nämlich dem Umstand, dass einerseits nationale Grundrechte die 156
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In diese Richtung P. Hilpold, Unionsbürgerschaft und Sprachenrechte in der EU, JBl. 2000, S. 93 (99); N. Reich, Union Citizenship – Metaphor or Source of Rights?, ELJ 7 (2001), S. 4 (13 f.); krit. F. Palermo, The Use of Minority Languages, MJ 8 (2001), S. 299 (312 f.). Den Mindeststandard stellt weiterhin das Recht auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers nach Art. 6 Abs. 3 lit. a und e EMRK dar. K. Lenaerts/E. de Smijter, A „Bill of Rights“ for the European Union, CMLRev. 38 (2001), S. 273 (275). So zu Recht I. Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, DVBl. 2000, S. 847 (856). Vgl. die Deutung des „civis europeus“ bei GA Jacobs zu EuGH, Rs. C-168/91, Konstantinides, Slg. 1993, I-1191, Nr. 46.
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einheitliche Geltung insbesondere des Sekundärrechts nicht in Zweifel stellen sollten, dieser Verlust jedoch andererseits einer Kompensation bedurfte, wenn nicht die Legitimität der Gemeinschaftsrechtsordnung Schaden nehmen sollte.160 Auch in den Vertragswerken beziehen sich Unionsbürgerschaft und Grundrechte nicht aufeinander. Auf die Grund- und Menschenrechte wird im Unionsvertrag in eher allgemeiner Form verwiesen (Art. 6 und 7 EU), während die Unionsbürgerschaft im EG-Vertrag geregelt wurde – angesichts der jeweiligen gegenwärtigen Bedeutung eine fast schon paradoxe Verteilung. Der hinter diesem bisher eher losen Zusammenhang offenbar werdende Mangel an einer Konzeption von Rechten der Bürger ist auf Kritik gestoßen. Trotz grundsätzlicher Anerkennung der Verdienste des EuGH und seiner Grundrechte-Judikatur wird gegen sie eingewandt, subjektive Rechte nicht um ihrer selbst willen zu schützen, sondern nur dann durchzusetzen, wenn dies der Effektivität des Gemeinschaftsrechts dienlich sei, sie im Übrigen aber den Interessen der Gemeinschaft unterzuordnen.161 Hinter solchen Einwänden steht der Wunsch, den Schutz der Grundrechte zu intensivieren und sie zu einem Vertragsziel der Gemeinschaft zu machen, so dass sie, ebenso wie andere Normen, die Vertragsziele konkretisieren, am effet utile teilhätten.162 Entsprechenden Vorstößen des Parlaments blieb bislang der Erfolg versagt.163 Ihre Verwirklichung würde eine Umgestaltung der Union von einem Zweckverband wirtschaftlicher und politischer Integration zu einer echten Grundrechte- und Wertegemeinschaft, einer supranationalen Version des Europarats, mit sich bringen, die aufgrund der Rollenverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Union nicht auf der Tagesordnung steht. Die Grundrechte-Charta164 hat hieran nichts Grundsätzliches geändert. Mit ihr wurde versucht, die Menschenrechte aufzuwerten, ohne die Funktionalität der Union zu beeinflussen. Zwar bringt sie die Grundrechte mit den Bürgern in Verbindung. Die Union will ausweislich ihrer Präambel „die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns“ stellen und „den Schutz der Grundrechte … stärken, indem sie in einer Charta sichtbarer gemacht werden.“ Dies geschah jedoch nicht durch eine Änderung der Verträge, sondern durch die Schaffung eines Referenzdokuments, das aus sich heraus nicht rechtlich verbindlich ist. Kritikern der Unionsbürgerschaft wird auffallen, dass diese mit der Grundrechte-Charta ein vergleichbares Bedürfnis nach
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Siehe BVerfGE 37, 271 – Solange I, und EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, Rn. 3; Rs. 106/77, Simmenthal, Slg. 1978, 729. S. O’Leary, The Relationship Between Community Citizenship and the Protection of Fundamental Rights in Community Law, CMLRev. 32 (1995), S. 519 (544 f.). Vgl. P. Alston/J. H. H. Weiler, An „Ever Closer Union“ in Need of a Human Rights Policy, in: P. Alston (Hrsg.), The EU and Human Rights, 1999, S. 658; krit. A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157 (158 ff.). Bulletin EG Beil. 2/1991; Bindi-Bericht über die Unionsbürgerschaft an das EP, PE Dok. A3-0300/91, S. 4; vgl. auch U. K. Preuß, Grundrechte in der Europäischen Union, KJ 1998, S. 1 (4). Siehe Fn. 38.
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symbolischer Rechtsetzung verbindet, nämlich der Wunsch, die Identifikation der Bürger mit der Union durch die Formulierung von Rechten zu fördern, deren praktische Wirksamkeit man zugleich in Grenzen zu halten bestrebt ist.165 Für die weitere Ausgestaltung der Unionsbürgerschaft eröffnet die Charta in dem ihr gewidmeten Kapitel V keine zusätzlichen Perspektiven. Es enthält in paraphrasierter Form die Bürgerrechte des Zweiten Teils des EG-Vertrages, erweitert um das bereits in der Rechtsprechung fest etablierte Recht auf eine „gute Verwaltung“ (Art. 41 GR-Charta) und den Zugang zu Dokumenten (Art. 42 GR-Charta), der bisher außerhalb der Unionsbürgerschaft im institutionellen Teil des EG-Vertrages geregelt ist (Art. 255 EG).166 Auch einige andere Bestimmungen benennen Unionsbürger als Berechtigte, gehen hierbei aber nicht über den Stand des positiven Rechts hinaus. Die personenbezogenen Grundfreiheiten werden zu einer Art Recht auf grundfreiheitliche Betätigung zusammengefasst (Art. 15 Abs. 2 GR-Charta). Außerdem bezieht sich ein Absatz des Artikels über die Vereinigungsfreiheit auf die politische Willensbildung durch die Unionsbürger in europäischen Parteien (Art. 12 Abs. 2 GR-Charta, der Art. 191 EG entspricht). Die Charta schreibt also den status quo fest. Allerdings könnten sich manche Verbindungen zwischen Bürgerstatus und Grundrechten im Laufe der Zeit ergeben. Soweit Art. 19 EG ein aktives und passives Wahlrecht gewährt, müssen alle Rechte hinzutreten, die für Wahlbeteiligung und Wahlkampf erforderlich sind: Recht der freien Meinungsäußerung, Informationsrecht, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Chancengleichheit im Hinblick auf den Medienzugang und die Ausübung von Amt und Mandat. Der Schlüssel des Art. 12 EG kann diese in den nationalen Verfassungen oft Staatsangehörigen vorbehaltenen Rechte den Unionsbürgern öffnen, und zwar ohne dass es hierbei auf den Status der Charta ankäme. Auch wenn der begonnene Trend der Rechtsprechung, die Charta als Rechtsquelle zu nutzen, nicht zu einer Intensivierung der mitgliedstaatlichen Bindung an die Grundrechte führen sollte,167 ist eine allgemeine Öffnung der Bürgerrechte in den nationalen Verfassungen für alle Unionsbürger über Art. 12 EG möglich geworden. So hat der EuGH einem spanischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Belgien das Recht zugebilligt, in die Geburtsurkunden seiner Kinder, die beide Staatsangehörigen besaßen, nach spanischer Übung und entgegen belgischem Recht die Nachnamen beider Eltern als Nachnamen eintragen zu lassen. Der Wohnsitzwechsel dürfe nicht zur Folge haben, dass Doppelstaater je nach betroffe-
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Das EuG hat sich die Grundrechte-Charta als Quelle europäischer Grundrechte erschlossen, siehe Rs. T-54/99, Maxmobil/Kommission, Slg. 2002, II-313, Rn. 48, 57; ebenso jetzt der EuGH, Rs. C-432/05, Unibet, Slg. 2007, I-2271, Rn. 37; Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633, Rn. 46. Das Freizügigkeitsrecht (Art. 45 GR-Charta) scheint auf den ersten Blick weiter gezogen als in Art. 18 EG, weil der Vorbehalt zugunsten von Bedingungen und Beschränkungen fehlt; dieser ist jedoch in der generellen Schranke des Art. 52 Abs. 2 GR-Charta enthalten. Vgl. Fn. 165; zur Skepsis gibt das Protokoll Nr. 30 zum Vertrag von Lissabon über die Anwendung der Grundrechte-Charta auf Polen und das Vereinigte Königreich Anlass.
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ner Rechtsordnung verschiedene Nachnamen tragen müssen.168 Das Diskriminierungsverbot wirkt sich so auf den Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in den staatlichen Rechtsordnungen aus. Einen weiteren Hebel für die Aufwertung der Grundrechte für Unionsbürger bieten die Europäische Menschenrechts-Konvention (EMRK) und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). In einem Fall unterbliebener Öffentlichkeitsbeteiligung, die aufgrund einer umweltrechtlichen Richtlinie notwendig gewesen wäre, hat er den Zusammenhang mit diesem Verfahrensschritt und den substanziellen Garantien der EMRK deutlich gemacht.169 Der Verwaltungsöffentlichkeit wird im Zusammenhang mit mehr Bürgernähe, wie oben dargelegt, besondere Bedeutung beigemessen. Der EGMR hat entschieden, dass Unionsbürger keine Ausländer im Sinne des Art. 16 EMRK sind, deren politische Rechte beschränkt werden könnten.170 In der Matthews-Entscheidung hat er das Europäische Parlament als gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK angesehen und Bewohnern Gibraltars ein gegen das Vereinigte Königreich gerichtetes Recht auf Wahlteilnahme zugebilligt.171 5. Unionsbürgerliche Pflichten? Art. 17 Abs. 2 EG unterstellt, dass Unionsbürger nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben. Derartige Grundpflichten besitzen in den Texten staatlicher Verfassungen je nach Tradition unterschiedliches Gewicht, treten aber zumeist hinter den Grundrechten zurück. Als Ausprägungen der den Staatsbürgern als Beitrag abgeforderten republikanischen Grundpflichten liegen sie den Verfassungen zumeist implizit zugrunde. Als Beispiele werden die Pflicht, Verfassung und Gesetz zu achten (Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 Abs. 2 und 4 GG), zu arbeiten (Art. 58 port. Verf., Art. 35 span. Verf.), Steuern zu zahlen (Art. 31 span. Verf.) und Wehrdienst zu leisten (Art. 12 lit. a GG, 30 span. Verf.) genannt.172 Wenn sich Art. 17 Abs. 2 EG an diesem Verständnis orientiert, weckt er Assoziationen zum Leitbild des Staates. Es ist fraglich, ob sie plausibel mit Inhalt gefüllt werden können.
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EuGH, Rs. 148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613, Rn. 35 ff. Zum Zusammenhang zwischen Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Anlagenüberwachung nach der sog. Seveso-Richtlinie, zur Informationsfreiheit (Art. 10 EMRK) und dem Recht auf Privatsphäre (Art. 8 EMRK): EGMR (GK), Nr. 116/96/735/923, Guerra u.a./Italien, ECHR 1998-I, S. 210. Zu Art. 10 EMRK (Meinungsfreiheit) EGMR, Nr. 15773/89 und 15774/89, Piermont/Frankreich, Ser. A Nr. 314, Rn. 64; dazu Anm. J.-F. Flauss, Revue trimestrielle des droits de l’homme 25/28 (1996), S. 364. Das Urteil stützt sich allerdings nicht nur darauf, dass die Bf. die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EG besaß, sondern auch auf deren Status als Mitglied des Europäischen Parlaments; auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts kam es nicht an (siehe Rn. 44, 49). EGMR (GK), Nr. 24833/94 (Fn. 106); zur Umsetzung EuGH, Rs. C-145/04 (Fn. 25). J. Shaw, Citizenship of the Union: Towards Post-National Membership?, in: Collected Courses of the Academy of European Law, Bd. VI-1, 1998, S. 237 (343).
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Abgesehen von der jeder Rechtsordnung zugrunde liegenden Vereinbarung, die rechtlichen Normen einzuhalten, die sie ausmachen, lässt sich dem EG-Recht nichts entnehmen, was den staatsbürgerlichen Pflichten vergleichbar wäre. Die Gemeinschaftsrechtsordnung kennt weder direkte Steuern noch Dienstpflichten. Auch das Verbot des Rechtsmissbrauchs ist nur eine immanente Grenze von Rechten, keine eigenständige Pflicht.173 Ebenso wie die Erwartung diplomatischen Auslandsschutzes entstehen staatsbürgerliche Pflichten, wie sie üblicherweise beschrieben werden, im Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Loyalität.174 In der Union gibt es Impulse für eine solche Sphäre des Schutzes, sichtbar am Entwurf für einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 2 Spstr. 4, Art. 29 EU) und der Ausrufung eines „Europäischen Sozialmodells“.175 Auf Loyalitätsseite ist wenig zu erkennen, was sich den Bürgern als Pflichten zuordnen ließe. So lässt sich Art. 10 EG lediglich als Bundestreue innerhalb eines föderalen Systems, die Strukturpolitik und andere Beihilfenprogramme womöglich als eine Art Finanzausgleich begreifen, jedenfalls aber nicht als Solidarpflicht zwischen Bürgern.176 Und so sehr sich die Union auch mit staatsähnlichen Attributen wie Flagge, Hymne usw. umgibt, die Erfüllung individueller Loyalitätspflichten verlangt sie nicht. Das Werben der Union um ihre Bürger zielt denn auch nicht darauf ab, von ihnen die Erfüllung von Pflichten einzufordern, sondern als Gemeinwesen angenommen zu werden, für das alle eine Art ethische Verantwortung empfinden. Dies als Grundpflicht zu bezeichnen wäre unglücklich. Eine Lancierung unionsbürgerlicher Pflichten ist zur Verwirklichung der Ziele, die mit der Unionsbürgerschaft verfolgt werden sollen, d.h. der Stärkung individueller Rechte, der Förderung der Freizügigkeit und mit ihr der Integration der Völker Europas sowie der Erhöhung der Legitimation der Union, auch gar nicht nötig. Ein am Staat orientierter Verfassungsstil führt auch hier nur zu Missverständnissen, an deren Vermeidung die beteiligten Akteure ein Interesse haben sollten. 6. Zwischenbewertung Die vorstehende Untersuchung ergibt ein zwiespältiges Bild. Eine einheitliche rechtswissenschaftliche Analyse der Unionsbürgerschaft scheint danach nicht möglich, wenn man nicht von vornherein entschlossen ist, sie an einer vordefinierten Vision der Rolle der Bürger in Europa zu messen. Vielmehr ist es nötig, jede der – trotz ihrer gemeinsamen Orientierung an staatsbürgerrechtlichen Leitbildern – eher disparaten Gewährleistungen getrennt zu beurteilen. 173 174
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Reich (Fn. 156), S. 21 f. Zu „Resten republikanischer Grundpflichten“ H. Hofmann, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2000, § 114, Rn. 20; krit. G. Frankenberg, Die Verfassung der Republik, 1997, S. 117 ff. J. Shaw, The Many Pasts and Futures of Citizenship in the European Union, ELRev. 22 (1997), S. 554 (565 ff.). Vgl. L. Osterloh, Harmonization and Public Finance in Germany and Europe, Columbia Journal of European Law 2 (1996), S. 519 (529 f.).
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Das Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EG positiviert den acquis communautaire, verhilft ihm aber zu verfassungsrechtlicher Wertigkeit, einer einheitlichen Kompetenzgrundlage für das Sekundärrecht und einer Aussicht auf weitere Entwicklung (Art. 18 Abs. 2 EG). Das Wahlrecht (Art. 19 EG) bietet einen Ansatz für weiterführende Betrachtungen zur Legitimierung von Hoheitsgewalt auf lokaler und europäischer Ebene. Die Aktivbürgerschaft wird nicht mehr nach Staatsangehörigkeit, sondern nach Wohnsitz bestimmt. Allerdings ist die reale Bedeutung zurzeit eher gering. Die Petitions-, Auskunfts- und Dokumentenzugangsrechte (Art. 21, Art. 255 EG) verweisen im Wesentlichen auf andere Bestimmungen des EG-Vertrages und bestätigen den ohnehin bestehenden Besitzstand. Dabei brachte das Recht auf Zugang zu Dokumenten innovative Akzente, da es manchen Rechtsordnungen bisher unbekannt war. Gleichwohl handelt es sich hier um Hilfsfunktionen für die Wahrnehmung der Aktivbürgerrechte, die zudem nicht in signifikantem Umfang genutzt werden. Das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art. 20 EG) erschöpft sich bei genauer Betrachtung weitgehend im Symbolischen. Es fügt dem, was nach geltendem Völkerrecht bereits möglich ist, kaum etwas hinzu, und auch dieser Minimalismus wird die Stufe praktischer Verwirklichung in absehbarer Zeit nicht erreichen. Von erheblicher Sprengkraft ist die durch die Rechtsprechung zustande gebrachte Verknüpfung zwischen Diskriminierungsverbot (Art. 12 EG) und Freizügigkeitsrecht (Art. 18 EG), die den der Unionsbürgerschaft eigenen Gedanken der Inländerbehandlung auf soziale und auf kulturelle Rechte überträgt. Sie zeigt deutlich die Entschlossenheit des EuGH, die lange weitgehend an wirtschaftlichen Freiheiten orientierte Zielrichtung der Individualrechte zu überwinden. Der begrenzte Handlungswillen der politischen Organe der Union wird hier, nicht zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Integration, durch richterliche Fortbildung konterkariert.177 Auch zwischen Unionsbürgerschaft und Grundrechten haben sich in der Rechtsprechung des EuGH, aber auch des EGMR Berührungspunkte ergeben. Hier könnte es zu einer Erweiterung der Aktivbürgerrechte um bürgerliche Freiheiten kommen, wenn der EuGH den auf Art. 12 EG beruhenden Leitgedanken der Martínez Sala-Rechtsprechung auf diese übertragen sollte. Betrachtet man die Inhalte der einzelnen Gewährleistungen, so ist deren Gemeinsamkeit das Bestreben, in ihrem Anwendungsbereich alle Unionsbürger gleichzustellen. Dieser Gedanke ist der Gleichheit vor dem Recht verpflichtet, die ein echtes Attribut jeglicher neuzeitlichen Bürgerschaftsidee bedeutet.
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Zu dieser Rollenverteilung und ihren Gründen klassisch J. H. H. Weiler, The Transformation of Europe, Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403.
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IV. Die Zukunft der Unionsbürgerschaft 1. Unionsbürger im europäischen Mehrebenensystem Die Unionsbürgerschaft ist, wie sich erwiesen hat, nach wie vor fragmentarisch und bedarf weiterer Ausformung (Art. 22 EG). Sie ist in jeder Hinsicht ein offenes Konzept. Darum kann ihr Potenzial auch nicht allein im Wege einer Analyse des positiven Rechts ermittelt werden. Die vielseitigen Projektionen, die ihren unterschiedlichen Bewertungen zugrunde liegen, gehen auf unterschiedliche Grundannahmen über die Zukunft Europas zurück. Es fällt auf, dass diese Diskussion ausschließlich normativ geführt wird und empirische Beiträge kaum berücksichtigt.178 Im Folgenden soll versucht werden, einige Verbindungen herzustellen. a) Bürgerstatus und Identität Ob die Unionsbürgerschaft eine bloße rechtliche Konstruktion ist oder ob sie auch in der sozialen Wirklichkeit existiert, ist eine Frage, die von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen methodisch unterschiedlich behandelt wird. Fachübergreifend lassen sich im Wesentlichen zwei Positionen unterscheiden. Die Fronten verlaufen in den Auseinandersetzungen um die Demokratie in Europa, die Unionsbürgerschaft und eine europäische Verfassung im Wesentlichen parallel. Vereinfachend lassen sich „multinationale“ und „universalistische“ Modelle unterscheiden.179 aa) Multinationales Modell Ein multinationales Europabild, dem eine völkerrechtliche Optik auf die Union entspricht, setzt auf die Mitgliedstaaten der Union als maßgebliche Akteure. Die Union ist legitimatorisch eine Hervorbringung der Staatsvölker. Die sozialen Voraussetzungen und absehbaren Entwicklungsmöglichkeiten eines sie überspannenden europäischen pouvoir constituant mit eigener Verfassung, einer europäischen Demokratie und einer Aktivbürgerschaft werden skeptisch dargestellt. Das Legitimationssubjekt der Union bedürfe einer gemeinsamen Bindung, die es nicht gebe.180 Das für maßgeblich befundene Kriterium variiert. Das Bundesverfassungsgericht, das sich dieser Richtung zuordnen lässt, stellt mit Blick auf das Demokratieprinzip auf geistige, soziale und politische Homogeni178
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Wissenschaftstheoretisch wird, zeitgleich zur Einführung der Unionsbürgerschaft, eine normative Wende der Europawissenschaften festgestellt, siehe R. Bellamy/D. Castiglione, Legitimizing the Euro-Polity and its Regime, European Journal of Political Theory 2 (2003), S. 7 ff. Vgl. jew. die Antithetik bei E. Balibar, Kann es ein europäisches Staatsbürgertum geben?, Das Argument 36 (1994), S. 621 (623); M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 110; P. A. Kraus, Von Westfalen nach Kosmopolis?, Berliner Journal für Soziologie 10 (2000), S. 203 (204 f.). Sog. „no demos thesis“, siehe J. H. H. Weiler/U. Haltern/F. Mayer, European Democracy and its Critique, West European Politics 18 (1995), S. 4; vgl. dazu auch S. Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStRL 62 (2003), 117 (151 ff.).
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tät als Voraussetzung der Legitimationsgemeinschaft „Volk“ ab.181 Das Staatsvolk des Grundgesetzes müsse einen zureichenden Bestand eigener Aufgabenfelder behalten. Komplementäre Legitimationsstränge für die Bereiche, in denen die Union Hoheitsgewalt ausübt, betrachtet das BVerfG dabei nicht nur nicht als ausgeschlossen, sondern als notwendige Folge weiterer Integrationsschritte. Allerdings wird der Zeitpunkt, zu dem dies geschehen kann oder soll, in einer nicht näher bestimmbaren Zukunft gesehen. Folgt man dem, kann die als „Staatenverbund“ verstandene Union derzeit keine eigene Legitimationsgemeinschaft besitzen; die Legitimation der Union wird von den Völkern Europas durch die jeweiligen nationalen Parlamente und lediglich ergänzend durch die jeweiligen Sitzkontingente zum Europäischen Parlament hergestellt. Die Unionsbürgerschaft kann dann nur eine Hilfskonstruktion sein, die den bestehenden Grad europäischer Politikgestaltung auf individualrechtlicher Ebene zum Ausdruck bringt.182 Auch in der Literatur wird auf die Bedeutung soziokultureller Voraussetzungen für eine europäische Bürgerschaft hingewiesen.183 Dieter Grimm zufolge fehlt es an einer europäischen Öffentlichkeit mit europaweiten, grenzüberschreitenden Diskursen zu „europäischen“ Themen; kultureller Pluralismus und Sprachenvielfalt gelten als wesentliche Hindernisse.184 Für andere kommt es auf den Nachweis einer europäischen Solidarität an, die allein das „Überstimmtwerden“ durch Mehrheitsentscheidungen über die Grenzen hinweg erträglich mache, der aber nicht zu erbringen sei.185
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BVerfGE 89, 155 (186); vgl. auch P. Kirchhof, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR Beiheft 1/1991, S. 11; Kritik bei B.-O. Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, StWStP 5 (1994), S. 305. Die Formulierungen, die das BVerfG hier wählt, deuten an, dass es die Unionsbürgerschaft als Komplementärbegriff zur Staatsangehörigkeit und nicht (wie der EG-Vertrag) zur Staatsbürgerschaft versteht (oben II. 2), siehe BVerfGE 89, 155 (184 f.); siehe auch die Entscheidung zum europäischen Haftbefehl: E 113, 273 (298: „Die Unionsbürgerschaft ist … ein abgeleiteter und die mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit ergänzender Status.“). Aus dieser Warte betrachtet, scheint sie etwas potenziell Bedrohliches sein zu können, siehe die Versicherung ebd.: „Insbesondere wird dadurch das Institut der Staatsbürgerschaft weder aufgegeben noch substanziell entwertet.“ Vgl. etwa Grimm (Fn. 11), S. 587 ff.; F. Scharpf, Regieren in Europa, 1999, S. 167 f.; systematische Betrachtung der verschiedenen Ansätze bei Augustin (Fn. 10); zur Kritik etwa A. Utzinger, Mythen oder Institutionen?, in: F. Cheneval (Hrsg.), Legitimationsgrundlagen der Europäischen Union, 2005, S. 235 (bes. 245). Grimm (Fn. 11); vgl. dagegen P. Häberle, Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?, ThürVBl. 1998, S. 121 (124 f.). Zu dieser Anforderung F. J. Scharpf, Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus, StWStP 3 (1992), S. 293 (296 f.); zur Diskussion U. K. Preuß, Nationale, supranationale und internationale Solidarität, in: K. Bayertz (Hrsg.), Solidarität, 1998, S. 399; W. Kersting, Internationale Solidarität, ebd., S. 411; R. Bieber, Solidarität als Verfassungsprinzip der Europäischen Union, in: A. v. Bogdandy/S. Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und Europäische Integration, 2002, S. 38.
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Aus allen diesen Blickwinkeln erscheint die bestehende Form der demokratischen Legitimation in der Union als die einzig denkbare. Die Verbindung zwischen den Unionsbürgern besteht ausschließlich im Recht, genauer: in ihren subjektiven Rechten.186 Die Bürger Europas bilden danach einen lockeren Personenverband, der mit der Union selbst gar nicht verbunden ist. Demokratie in Europa wäre dann eine durch die Mitgliedstaaten in ihrem Zusammenwirken in der Union organisierte und durch deren Völker legitimierte Veranstaltung, die jederzeit auch wieder abgesetzt werden kann. Die Grundannahmen dieses Modells sind zwar empirisch formuliert, aber normativ gemeint. Sie bauen auf für evident Gehaltenem auf und lassen daher Ergebnisse empirischer Sozialforschung unberücksichtigt. Ihre Schwäche besteht darin, dass mit derselben Berechtigung mit entgegengesetzten Thesen erwidert werden kann. Eingewendet wird, dass die aus einem vorgefertigten Gesellschaftsbild abgeleitete Forderung nach geistiger, sozialer und politischer Homogenität schon innerhalb der Nationalstaaten kaum mehr erfüllt werden könne.187 Eine gewisse Immunisierung gegen solche Kritik wird allerdings dadurch erreicht, dass die Kriterien, auf die es ankommen soll, vage bleiben. Eine Ausnahme macht das Argument, es fehle mangels eines europäischen Publikums an der Möglichkeit eines gemeinsamen politischen Diskurses.188 Ihm steht aber wiederum das Axiom gegenüber, dass der geforderte Diskurs durch Besetzung bestimmter Politikfelder189 und Institutionenbildung hergestellt und beeinflusst werden könne.190 Ein weiterer Einwand richtet sich gegen die Ausschließlichkeit, in der auf die Bedingungen einer staatlichen Demokratie als Referenzmodell verwiesen wird. Bei der Parallelbetrachtung Staat/Union werden die Eigenheiten der Union als supranationaler Verband vernachlässigt. Volkssouveränität wird als unteilbar betrachtet, der Gedanke aber nicht weiterverfolgt, dass es sich bei der Union und ihren Mitgliedstaaten um komplementäre, einander ergänzende Bestandteile eines Verbundes han-
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P. M. Huber, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker?, in Drexl u.a. (Fn. 12), S. 27 (33 ff.); M. Heintzen, Die Legitimation des Europäischen Parlaments, ZEuS 2000, S. 377 (384 ff.). Zum in diesem Zusammenhang immer wieder angeführten Beispiel der Schweiz B. Schoch, Eine mehrsprachige Nation, kein Nationalitätenstaat, Friedens-Warte 2000, S. 349. Grimm (Fn. 11). Vgl. W. Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 49 ff. J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 643 ff.; M. Zuleeg, What Holds a Nation Together?, AJCL 45 (1997), S. 505 (524 f.); U. K. Preuß, The Relevance of the Concept of Citizenship for the Political and Constitutional Development of the EU, in: ders./F. Requejo (Hrsg.), European Citizenship, Multiculturalism, and the State, 1998, S. 11 (22 ff.); M. La Torre, European Identity and Citizenship, ebd., S. 87 (96); H. Huget, Demokratisierung der EU, 2007, S. 47 ff.; aus positiv-rechtlicher Sicht ähnlich E. Pérez-Vera, Citoyenneté de l’Union Européenne, nationalité et condition des étrangers, RdC 261 (1996), S. 243 (391 ff.); empirisch zeigt sich nur eine zögerliche Europäisierung, siehe S. Sifft u.a., Segmented Europeanization, JCMS 45 (2007), S. 127.
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deln könnte, in dem, wie in föderalen Systemen nicht ungewöhnlich,191 Souveränität auf mehreren Herrschaftsebenen ausgeübt wird.192 bb) Universalistische Theorie Vertreter der entgegengesetzten Denkrichtung sehen den Staat als Identifikationsmuster überwunden und setzen auf die Möglichkeit, ein Gemeinwesen durch eine spezielle bürgerschaftliche Legitimationsgemeinschaft jenseits der Staatlichkeit zu begründen.193 Dieser „liberalen“ Vorstellung zufolge ist die freie Verständigung auf die konstituierenden Elemente der Ursprung eines Gemeinwesens. Die Unionsbürgerschaft kann nach aus ihr abgeleiteten Modellen in der „postnationalen Konstellation“ die Keimzelle eines föderalen Systems mit einer europäischen Verfassung sein. Allerdings gibt es von der gedanklichen Basis dieser Theorie aus besehen keinen Grund, die personale Abgeschlossenheit des Staates durch die der Union zu ersetzen. Vielmehr gründen sie auf der Idee des Universalismus subjektiver Rechte, deren Zuschreibung von als „objektiv“ beschriebenen, traditionalen Mitgliedschaften nicht abhängt. Auf dieser Grundlage ist es rechtfertigungsbedürftig, wenn politische Rechte auf der Staatsebene ausschließlich eigenen Staatsangehörigen zugestanden werden.194 Kritiker wenden ein, dass sich auf liberale Theorien und Bekenntnisse zu abstrakten Normen kein Gemeinwesen gründen lasse, und die Wirkkraft gemeinsamer, integrationsbildender Faktoren unterschätzt werde.195 Sie bringen viele Argu-
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Siehe zu den USA das Urteil des US Supreme Court in Garcia v. San Antonio Metropolitan Transit Authority, 469 US 528, 549 (1985): „The States unquestionably do retain a significant measure of sovereign authority. They do so, however, only to the extent that the Constitution has not divested them of their original powers to the Federal Government.“ In U.S. Term Limits, Inc. v. Thornton, 115 S Ct 1842 (1995) war sich der Supreme Court nicht einig, ob Träger der Souveränität ein amerikanisches Volk oder die Völker der Staaten der USA seien; das Sondervotum der Richter Thomas, Rehnquist, O’Connor und Scalia entschied sich im letzteren Sinne; dazu Anm. K. M. Sullivan, Dueling Souvereignties, Harvard Law Review 109 (1995), S. 78. Siehe aber N. MacCormick, Questioning Sovereignty, 1999. Vgl. J.-M. Ferry, Die Relevanz des Postnationalen, in: N. Dewandre/J. Lenoble (Hrsg.), Projekt Europa, 1994, S. 30; J. Linklater, Citizenship and Sovereignty in the Post-Westphalian State, European Journal of International Relations 2 (1996), S. 77; Habermas (Fn. 18), S. 91; zu weiteren Ebenen U. Beck, Politik der Globalisierung, 1998, S. 7 ff.; D. Held, Rethinking Democracy: Globalization and Democratic Theory, in: W. Streeck (Hrsg.), Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie?, 1998, S. 59. H. Lardy, The Political Rights of Union Citizenship, ELRev. 21 (1996), S. 611 (619 ff.); im Ansatz auch F. Dell’Olio, The Europeanization of Citizenship, 2006, S. 33 ff.; zu einem „human right to membership“ S. Benhabib, The Rights of Others, 2004, S. 134 ff, zur Unionsbürgerschaft S. 147 ff.; die Unionsbürgerschaft kann aber als Vorbild für andere regionale Erweiterungen nationaler Bürgerschaften von Interesse sein, um dem Kantischen Ideal einer freien Föderation republikanischer Staaten näher zu kommen, siehe R. Bauböck, Why European Citizenship?, Theoretical Inquiries in Law 8 (2007), 453. Kraus (Fn. 179), S. 206.
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mente vor, die in der Kommunitarismusdebatte eine Rolle gespielt haben.196 Die Auseinandersetzung mündet an dieser Stelle in einen alten Glaubensstreit. Den Kontingenzen einer kosmopolitischen Erweiterung des Bürgerschaftsstatus wird hier nicht nachgegangen. Für die folgenden Überlegungen ist entscheidend, dass die Unionsbürgerschaft in ihrer augenblicklichen Gestalt gar nicht den Bezugspunkt der Theorie darstellt, ersetzt sie doch bestenfalls nur ein Ausschließungskriterium, die Zugehörigkeit zu einem Staat, durch ein neues, die Angehörigkeit zu einem der Mitgliedstaaten. b) Bürgerschaftliche Identitäten in mehrstufigen Systemen Einwänden, die republikanische Grundlage des Staates überzubetonen oder zu vernachlässigen, können Ansätze entgehen, die versuchen die Unionsbürgerschaft in den Rahmen der gegebenen vertikalen Struktur einzuordnen.197 Auch sie folgen, wie einige der besprochenen Ansätze, einem föderalistischen Paradigma, vermeiden es aber, normative Forderungen an die Unionsbürgerschaft bereits in deren Voraussetzungen zu projizieren. Ausgangspunkt ist die Hypothese, dass ein Bürgerstatus auf der Unions- und der staatlichen Ebene zugleich möglich ist. Es bedarf dann des Nachweises, dass mit Blick auf die derzeitigen Zuständigkeiten der Union ein für eine einheitliche Willensbildung zureichender Grad von Gemeinsamkeiten besteht. Eine entscheidende Rolle wird seit jeher einer gemeinsamen Kultur der Mitgliedstaaten zugesprochen.198 Hier wiederholt sich der Versuch, den präexistenten sozialen Grundlagen eines Gemeinwesens nachzuspüren. Das Leitmotiv der Kultur im Sinne einer fortschreitenden Homogenisierung zu verstehen wäre allerdings ein Missverständnis,199 da die Union auf die Diversität der Kulturen Europas setzt und diese als wichtigsten Daseinsgrund des Subsidiaritätsprinzips akzeptiert hat.200 Auch die Sprachenvielfalt gehört zum acquis culturel der Union.201 Zur Nationalität des Staates mag kulturelle Vielfalt in ständiger Spannung stehen, für die Unionsbür-
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Siehe die Beiträge bei A. Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 1995; ferner M. Reddig, Bürger jenseits des Staates?, 2005, S. 158 ff. m.w.N. Meehan (Fn. 57), S. 150 ff.; D. Heater, What is Citizenship?, 1999, S. 87 ff. Vgl. Art. 151 Abs. 1 EG („gemeinsames kulturelles Erbe“). Erinnert sei auch an den bekannten Ausspruch Monnets: „Wenn ich es noch einmal zu tun hätte, würde ich mit der Kultur beginnen“, siehe im gegebenen Kontext T. Oppermann, Europarecht, 2005, § 28 Rn. 53. Vgl. H. Lübbe, Europas Identität und die europäische Einigung, in: M. Bahr (Hrsg.), Das geistige Erbe Europas, 1994, S. 193; M. Nettesheim, Das Kulturverfassungsrecht der Europäischen Union, JZ 2002, S. 157 (158 f.). R. Lepsius, Bildet sich eine kulturelle Identität in der Europäischen Union?, Blätter für deutsche und internationale Politik 1997, S. 948; zum Einfluss regionaler Kulturelemente auf eine gemeinsame „lifestyle-Kultur“ im Binnenmarkt R. Münch, Between Nation-State, Regionalism and World Society, JCMS 34 (1996), S. 379 (394 ff.); U. Beck/E. Grande, Das kosmopolitische Europa, 2004, S. 136 ff. F. C. Mayer, Europäisches Sprachenverfassungsrecht, Der Staat 44 (2005), S. 367 (394 f.).
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gerschaft ist sie konstituierend. Nur unter dieser Voraussetzung kann nach ihrer „eigenen (sich selbst gleichen) Identität“202 gefragt werden. Eher am Ziel bürgerschaftlicher Mitwirkung orientierte Ansätze gehen davon aus, dass das Bewusstsein einer Identität dazu führt, dass die Angehörigen einer Gruppe, die sich ihrer Zugehörigkeit bewusst sind, an deren gemeinsamem Schicksal Anteil nehmen und Gestaltungsrechte nutzen, die ihnen zu dessen Beeinflussung zugestanden werden. Von Interesse sind dann Modelle, die kulturelle Verschiedenheit mit der Anerkennung von Gleichheits- und politischen Rechten sowie der Ausgestaltung demokratischer Willensbildung verbinden.203 Für die Union wären sie auf deren eigenes Herrschaftssystem zu übertragen, für deren Bezeichnung verschiedene Disziplinen den für sehr verschiedene Modelle aufnahmefähigen Begriff des Mehrebenen-Systems oder auch des föderalen Systems verwenden.204 Sucht man nach den empirischen Voraussetzungen für ein derartiges Herrschaftsmodell, stößt man auf Forschungsfelder der Soziologie und der Sozialpsychologie, die nach der europäischen Identität der Unionsbürger fragen. Unter Identität wird die Selbstwahrnehmung und -darstellung eines Menschen verstanden, die Folge des Wissens ist, einer bestimmten Gruppe anzugehören. Identität ist in hohem Maße kontextabhängig, gründet sich also für viele auf „inhomogene“ und nach Identifikationsebenen gestufte Zusammenhänge. Dabei sind mehrere Identitäten kumulativ möglich, ohne dass eine von ihnen notwendig Vorrang beanspruchen müsste.205 Identität kann (außer geschlechts-, alters-, religions-, biographie-, berufsspezifisch usw.) auch kulturell und regional differenziert sein, also lokale, regionale, nationale und eben europäische Bezugspunkte aufweisen. Überträgt man diese Annahme auf die Union, lässt sich empirisch feststellen, dass das bestehende System mehrerer Ebenen im Bewusstsein der Europäer durchaus reflektiert
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E.-W. Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz, in: K. Michalski (Hrsg.), Identität im Wandel, 1995, S. 129 (134, 145 f.). M. Walzer, Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, 1992. Siehe Kommission, Europäisches Regieren – Ein Weissbuch, KOM(2001) 428, S. 29; für die Politikwissenschaften M. Jachtenfuchs/B. Kohler-Koch, Regieren im dynamischen Mehrebenensystem, in: dies. (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, S. 27; M. Zürn, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem, Politische Vierteljahresschrift 37 (1996), S. 27; Scharpf (Fn. 183), S. 81 ff.; für die Rechtswissenschaft E. SchmidtAßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1999, S. 324; I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?, CMLRev. 36 (1999), S. 703; S. Kadelbach, Autonomie und Bindung der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2007), S. 7 (10 ff.); siehe auch C. Schönberger, European Citizenship as Federal Citizenship, Revue Européenne de Droit Public 19 (2007), S. 61; zum Föderalismus-Begriff S. Oeter, in diesem Band, S. 76 ff., zum Begriff des Mehrebenensystems F. C. Mayer, ebd., S. 593 ff. Die Erkenntnis ist nicht neu, siehe die Hinweise auf Durkheim bei W. Gephart, Zwischen „Gemeinsamkeitsglaube“ und „solidarité sociale“, Zeitschrift für Rechtssoziologie 14 (1993), S. 190 (195 ff.); auf Burke, Laski und T. H. Marshall bei J. Monar, Die Unionsbürgerschaft als konstitutives Element des Unionssystems, in: R. Hrbek (Hrsg.), Die Reform der Europäischen Union, 1997, S. 203 (209).
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wird.206 Auch die regelmäßigen Erhebungen des sog. Eurobarometer zeigen, dass viele Unionsbürger sowohl in ihren Herkunftsstaaten als auch in „Europa“ wesentliche Bestandteile ihrer Identität sehen.207 Normative Postulate, d.h. zunächst moralisch verwurzelte Gebote der Solidarität, können aus empirischen Befunden nicht abgeleitet werden. Es wird aber auch, so weit erkennbar, nicht behauptet, dass die verfassungsrechtliche Rolle der Bürgerschaft in Europa aus dem Befund mehrstufiger Identitäten allein entfaltet werden kann. Wichtig sind drei Ergebnisse, die es festzuhalten gilt: – Die Auffassung von der notwendig exklusiven Natur der staatsbürgerschaftlichen Stellung des Einzelnen wird den empirischen Gegebenheiten nicht gerecht, auf sie gestützte normative Schlussfolgerungen sind problematisch. – Es kann nicht von der Annahme ausgegangen werden, dass es an jeglicher sozialen Grundlage einer Unionsbürgerschaft fehle. – Es ist auf derartigen Studien aufbauend gezeigt worden, dass Identitäten durch Diskurse insbesondere politischer Art beeinflusst werden, wenn sie in den Medien ihren Niederschlag finden.208 Identität und Diskurs beeinflussen sich also wechselseitig.209 Eine europäische öffentliche Meinung muss nicht eine im Vorhinein existierende Voraussetzung für eine europäische Aktivbürgerschaft sein, sondern kann zu ihr parallel entstehen. Eine Unionsbürgerschaft kann daher auch durchaus mit den Mitteln des Rechts geschaffen werden. Maßgeblich ist nicht, ob eine Aktivbürgerschaft mit zureichenden Identifikationsmerkmalen im sozialen Sinne bereits existiert hat, sondern ob Identifikationschancen eröffnet und auch angenommen werden. Die Frage lautet nun, welche Legitimationsmodelle jenseits des Nationalstaates für die Union zur Verfügung stehen, die die soziale Wirklichkeit und ihre Entwicklungsmöglichkeiten hinreichend reflektieren.
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J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 324 (328: „differentity“); A. v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStRL 62 (2003), S. 156 (168 ff.); E. Guild, The Legal Elements of European Identity, 2004; P. Magnette, How Can One be European?, ELJ 13 (2007), S. 664; siehe auch Beiträge in J. Nida-Rümelin/W. Weidenfeld (Hrsg.), Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien, 2007. Zuletzt erklärten 63 % aller Befragten in der Union ihre Verbundenheit mit „Europa“, 50 % mit der EU 25; die Daten schwanken regional erheblich, von einem Zuspruch von 84 % zu Europa in Polen und 64 % zur EU in Luxemburg und Italien bis hin zu Werten von jeweils 27 % in Zypern. Quelle: Eurobarometer 65, S. 70 ff., erhoben März bis Mai 2006, veröff. Januar 2007 unter www.ec.europa.eu./public_opinion (10. 03. 2008). O. Angelucci, Europäische Identitätsbildung aus sozialpsychologischer Sicht, in: R. Elm (Hrsg.), Europäische Identität: Paradigmen und Methodenfragen, 2002, S. 111; Reddig (Fn. 196), S. 181 ff., 194 f. Vgl. auch Shaw (Fn. 175), S. 563.
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c) Komplementarität des Bürgerstatus und politische Mitwirkung Eine Möglichkeit wird darin gesehen, identitätsbildende Faktoren als grundsätzlich gleichwertig zu setzen und die Zuschreibung von staatsbürgerlichen Rechten in erster Linie als Gleichheitspostulat zu begreifen. Diese Konsequenz ergibt sich insbesondere für Theorien multikultureller Gesellschaften, die auf Unionsebene projiziert werden. Sie sind die Fortführung der universalistischen Theorie, die die Unionsbürgerschaft in ihrer gegenwärtigen Form als neuen Mechanismus der Ausschließung (nämlich derer, die sie nicht besitzen) auffasst. Gefordert wird stattdessen eine „post-nationale Bürgerschaft“, für die nicht die rechtlich festgelegte Zugehörigkeit, sondern der Aufenthaltsort das maßgebliche Anknüpfungskriterium für die Zuteilung von Rechten ist.210 Einen Ansatz bietet Art. 63 Abs. 4 EG, dem zufolge der Rat Rechte festlegen kann, die Drittstaatsangehörige mit Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat auch in den übrigen Unionsstaaten genießen.211 Diese Ansicht kann aus gewissen Tendenzen zur Abkoppelung individueller Rechte und Pflichten von der Staatsangehörigkeit Argumente ableiten. Menschenrechte stehen allen zu, die sich im Hoheitsbereich eines Staates aufhalten, der sich zu ihnen bekennt (Art. 1 EMRK). Ähnlich knüpfen manche Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation und andere völkerrechtliche Verträge, die soziale Rechte vermitteln, allein an der Arbeitnehmereigenschaft an. Für die hin und wieder als Beispiel für eine Staatsbürgerpflicht angeführte Steuerpflichtigkeit kommt es vor allem auf den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt an (§ 1 EStG). Allerdings waren diese Rechte oder Pflichten auch im nationalen Kontext, soweit überhaupt, allenfalls vorübergehend konstituierende Elemente eines Bürgerstatus.212 Jedenfalls haben solche Thesen akademischen Charakter. Sie argumentieren gegen geltendes Recht, da die Unionsbürgerschaft für die Zuerkennung politischer Rechte neben dem Wohnsitz in einem Mitgliedstaat (Art. 19 EG) die Staatsbürgerschaft voraussetzt (Art. 17 Abs. 1 S. 2 EG). Politisch haben sie keine Zukunft. Für die Union scheint die andere Option, ein Mehrebenen-Modell mit unterschiedlichen Legitimationsgemeinschaften (δημοι), realistischer.213 Je nach der 210
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Y. N. Soysal, Limits of Citizenship, 1994; M. Martiniello, European Citzenship, European Identity and Migrants, in: R. Miles/D. Thränhardt (Hrsg.), Migration and European Integration, 1995, S. 37 (49 f.); M. J. Garot, La citoyenneté de l’Union européenne, 1999, S. 304; H. Staples, The Legal Status of Third Country Nationals Resident in the European Union, 1999, S. 335 ff.; R. Davis, Citizenship of the Union: Rights for All?, ELRev. 27 (2002), S. 121 (135 f.); T. Kostakopoulou, European Union Citizenship: Writing the Future, ELJ 12 (2007), S. 623 (642 ff.); zu solchen Modellen V. Ferrari, Citizenship: Problems, Concepts and Policies, in: La Torre (Fn. 43), S. 51; J. D. Galloway, Citizenship: A Jurisprudential Paradox, ebd., S. 65. Reich (Fn. 156), S. 18 f. Siehe oben, II. 2 b). Siehe bspw. R. Koslowski, Intra-EU Migration, Citizenship and Political Union, JCMS 32 (1994), S. 369 (389 ff.); D. N. Chrysochou, Europe’s Could-Be Demos, West European Politics 19 (1996), S. 787 (793 ff.); S. Besson, Deliberative Demoi-cracy in the European Union, in: dies./J. L. Marti (Hrsg.), Deliberative Democracy and its Discontents, 2006, S. 181.
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Ebene, um die es geht, setzt sich der Kreis der Aktivbürger nach einzelnen oder mehreren unterschiedlichen Kriterien zusammen. Die Staatsangehörigkeit entscheidet auf der staatlichen Ebene über die Zuordnung politischer Rechte, ansonsten kommt es unter Unionsbürgern allein auf den Lebensmittelpunkt an, für den der Wohnsitz das entscheidende Indiz darstellt. Die im Unionsrecht vorgezeichnete, auf die europäische Ebene erweiterte Bürgerschaft kann aber deren soziale Wirklichkeit nur fördern, wenn sie echte, durch Institutionen vermittelte politische Partizipationschancen schafft.214 Hier liegt das eigentliche Problem ihrer rechtlichen Konstruktion. 2. Unionsbürgerschaft und demokratische Legitimation Will man einen Bezug zur Diskussion um die Demokratie in Europa herstellen, können für die rechtswissenschaftliche Debatte zwei Optionen ausgeschieden werden: (1) Niemandem in der derzeitigen Diskussion geht es mehr um die Utopie eines europäischen Bundesstaates, deren demokratische Organisation zu entwerfen wäre.215 (2) Von der universalistischen Moralphilosophie gespeiste Modelle einer Demokratie, deren Stimmbürger diejenigen bilden, die sich für ein Leben in der Union entschieden haben und die Spielregeln der gemeinsamen Willensbildung akzeptieren,216 übersteigen bereits das Konzept der Unionsbürgerschaft. Nach dem zu 1. Gesagten wird davon ausgegangen, dass eine europäische Bürgerschaft mit nationalen Bürgerschaften koexistieren kann.217 Bürger müssen auf beiden Ebenen am Zustandekommen der Entscheidungen partizipieren. Verbesserungsvorschläge gegenüber den bestehenden Regelungen orientieren sich an diesem Ziel und richten sich auf die Stärkung aktivbürgerlicher Elemente mit den Mitteln des Rechts, um durch sie ihrerseits wieder gemeinsame Identität, Verantwortung und Solidarität zu fördern.218 Im kleinen Maßstab ist dies die Strategie der Europäischen Kommission, die mit verschiedenen Initiativen Transparenz, Einbindung Interessierter und Betroffener, Kontrolle und gute Verwaltung zu Leitideen ihrer Verwaltungspolitik gemacht hat 214 215 216
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Zu diesem Zusammenhang U. K. Preuß, Problems of a Concept of European Citizenship, ELJ 1 (1995), S. 267 (276 ff.). F. Mancini, Europe: the Case for Statehood, ELJ 4 (1998), S. 29. J. Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 277; D. Curtin, Postnational Democracy: The European Union in Search of a Political Philosophy, 1997. Vgl. etwa Weiler (Fn. 206), S. 324: die nationale Ebene als Sphäre der affinitiven, emotional verwurzelten Identität, die europäische Ebene als Reich des Rationalen, bestimmt von der Einsicht, dass Aufgaben gemeinsamen Interesses nur friedlich und in rechtlich geordneten Verfahren zu lösen sind; krit. Barber (Fn. 9), S. 250 ff. Vorschläge bspw. bei J. H. H. Weiler, The European Union Belongs to its Citizens, ELRev. 22 (1997), S. 150 (152 ff.); A. Héritier, Elements of Democratic Legitimation in Europe, Journal of European Public Policy 6 (1999), S. 269; F. Cheneval, ‘Caminante, no hay camino, se hace camino al andar’: EU Citizenship, Direct Democracy and Treaty Ratification, ELJ 13 (2007), S. 647 (659 ff.).
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(vgl. Art. 15 AEUV).219 Vor allem aber hat der Verfassungsvertrag, nun in der Gestalt des Reformvertrags von Lissabon, neue Elemente der partizipativen Demokratie aufgenommen wie öffentliche Anhörungen durch die Kommission und das Bürgerbegehren, mit dem die Kommission zur Ausübung ihres Vorschlagsrechts aufgefordert werden kann (Art. 11 Abs. 4 EUV-Liss.).220 Zudem betont er die Rolle von Verbänden (Art. 11 Abs. 1 und 2 EUV-Liss.) und Religionsgemeinschaften (Art. 17 AEUV). Ein als entscheidend erkannter Punkt ist die Förderung unionsbürgerlicher, rechtlicher Gleichheit (Art. 9 EUV-Liss.), die die Achtung der Verschiedenheit ergänzen muss.221 Sie durchzieht als Leitmotiv den gesamten Reformvertrag, der zahllose Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote aufgenommen hat. Darüber hinaus könnte der Bürgerstatus nur weiter aufgewertet werden, wenn das Institutionengefüge verändert würde, insbesondere wenn das Europäische Parlament innerhalb der Bereiche, für die die Union zuständig ist, die Funktion eines den nationalen Parlamenten entsprechenden gleichwertigen Elements einer dualen Legitimationsstruktur übernähme. Diese Forderung wird durch die im Vertrag gewählte, an der Staatsbürgerschaft orientierte Wortwahl nahegelegt. Denn wenn politische Rechte das Ausschließungskriterium für den Bürgerstatus bilden, sich ferner die europäische Bürgeridentität nur durch die Schaffung europäischer Diskurse konstituieren und weiter entfalten kann, dann müssen dem auch substanzielle Gestaltungsmöglichkeiten entsprechen. Eine systemimmanente Option bestünde in der Erstreckung des Mitentscheidungsverfahrens auf sämtliche Politikbereiche. An der institutionellen Architektur der Union verlaufen indessen die politischen Grenzen der weiteren Fortbildung des politischen Unionsbürgerstatus. Das Auseinanderklaffen zwischen den in der Vertragssprache gewählten Symbolen und der institutionellen Architektur der Union führt in eine Aporie, die auch weiterhin ein Grund für die Bürgerferne der Union bleiben wird, ungeachtet der Versuche der Kommission und des Parlaments, sie zu überwinden. 3. Unionsbürgerschaft und europäische Verfassung In der europäischen Verfassungsdebatte222 haben sich Erfahrungen aus der Unionsbürgerschaft wiederholt: Der Begriff „Verfassung“ hat Assoziationen ausgelöst, die weder berechtigt noch beabsichtigt waren. Das Konventsverfahren bestand im Wesentlichen aus einer Parlamentarisierung des Entwurfsstadiums einer Vertragsrevision und war im Ansatz ein Weg zu einer besseren Legitimationsbasis für die Gründungsverträge. Welche Rolle die Bürger in der europäischen Verfassungsgebung 219
220 221 222
P. Craig, EU Administrative Law, 2006, S. 313 ff., 349 ff.; S. Smismans, New Governance: The Solution for Active European Citizenship, Or the End of Citizenship?, Columbia Journal of European Law 13 (2007), S. 595. Dazu A. Epiney, Europäsche Verfassung und Legitimation durch die Unionsbürger, in: S. Kadelbach (Hrsg.), Europäische Verfassung und direkte Demokratie, 2006, S. 33 (45 ff.). Sie bildete einen Schwerpunkt des Dritten Berichts der Kommission (Fn. 42), S. 2, 4, 26 ff. C. Möllers, in diesem Band, insb. S. 240 ff.
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letztlich haben sollten, ist eine Frage, deren Beantwortung auf ihre europäische Identität Einfluss hat. Verfassungen wurden kaum jemals real von den Bürgern beschlossen. Sozialverträge sind philosophische Fiktionen, in deren Sinne die Verfassungspraxis später gedeutet werden kann.223 Aber darauf zu vertrauen, dass die Annahme einer Verfassung durch die Bürger im Laufe der Zeit durch die Praxis stattfinden wird, führt in die Gefahr, eine Fiktion zur Grundlage der Union zu machen.224
V. Abschließende Bemerkungen und Ausblick In der Europarechtswissenschaft werden zwei Diskussionen um die Unionsbürgerschaft geführt, die voneinander unabhängig sind: Die eine gilt dem positiven Recht des EG-Vertrages und der hierzu ergangenen Rechtsprechung, die andere der künftigen Rolle der Aktivbürgerschaft in der Union. Analysen des rechtlichen Gehalts der Unionsbürgerschaft, so wie er in den Gründungsverträgen niedergelegt wurde, ergeben regelmäßig deren Begrenztheit. Sie führen die Entwicklungslinien der Personenfreizügigkeit und der politischen Teilhabe- und Kontrollrechte zusammen, müssen aber auch beim besten Willen zugestehen, dass sich nur unwesentliche Aufwertungen des europäischen Individualstatus ergeben haben. Treibende Kraft ist der EuGH, getreu seiner Tradition einer an den Rechten des Einzelnen orientierten Fortbildung schwach konzipierter Rechtsinstitute. Die durch ihn hergestellte Verknüpfung der Unionsbürgerschaft mit sozialen und kulturellen Teilhaberechten hat ihr neue Substanz verliehen. Die wissenschaftliche Diskussion über die künftige Gestalt der Unionsbürgerschaft kann an der grenzüberschreitenden Legitimationsgemeinschaft der Union anknüpfen, deren Entstehen Art. 19 Abs. 2 EG vorwegzunehmen scheint. Sie ist sehr voraussetzungsreich, weil in sie nicht nur Stellungnahmen über den Fortgang des Integrationsprozesses, sondern auch der kommunitaristisch/liberale Streit über die Stellung des Individuums und die Debatte um die Verfasstheit von Gemeinwesen ohne sozio-kulturelle Einheit eingehen. Sie belegt zunächst einmal nur, welche Projektionen der Bürgerbegriff zulässt. Geht man vom Definitionskriterium der Verleihung politischer Rechte für den Bürgerstatus aus, ergeben sich zwangsläufig Querverbindungen zur normativen Frage nach der gesellschaftlichen Basis, der demokratischen Verfasstheit und der Mehrebenenarchitektur der Union. Die empirischen Beiträge, die in der normativen Debatte eine untergeordnete Rolle spielen, lassen zwar keine zwingenden Schlüsse für die Aussichten europäischer Aktivbürgerschaft zu, zeigen aber, dass Identitäten wandelbar sind und durch Institutionen mit geprägt werden können. 223 224
Siehe Pernice (Fn. 69), S. 167 f.; G. Frankenberg, Die Rückkehr des Vertrages, in: FS Habermas, 2001, S. 507. Vgl. i.d.Z. auch R. Bellamy, Between Past and Future: The Democratic Limits of EU Citizenship, in: R. Bellamy u.a. (Hrsg.), Making European Citizens, 2006, S. 238; zur Verfassungsdebatte K.-H. Ladeur, ‘We, the People …’ – Relâche?, ELJ 14 (2008), 147.
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Souveränität, Volk und individuelle bürgerschaftliche Identität sind mehrschichtig und voneinander abhängig. Sie können sich jeweils zugleich auf die europäische und die staatliche Ebene beziehen. Das bedeutet für weitere Initiativen in der Tradition der Lancierung einer „europäischen Identität“, dass die Union ihren Bürgern nur näher kommt, wenn sie ihnen mit reellen Teilhabechancen Identifikationsangebote machen kann. Anderenfalls bleibt die Unionsbürgerschaft hinter ihrer anspruchsvoll gestalteten Fassade eine schwache Konstruktion.
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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Stationen der Entwicklung des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entwicklung des prätorischen Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundrechtsdiskussion in der Ära der Grundrechte-Charta . . . . . . . . . . . . . III. Kernelemente einer Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung: Funktionen und notwendige Fortentwicklung der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzdimensionen der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundrechtsverpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundrechtsberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Struktur der Grundrechtsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ausblick: Materiellrechtliches und institutionelles Arbeitsprogramm . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Seit Erscheinen der Erstauflage dieses Buches sind zwei wesentliche Entwicklungen erfolgt. Zum einen ist mit dem Lissabonner Vertrag die primärrechtliche Verankerung des Grundrechtskataloges in greifbare Nähe gerückt. Dies stellt einen Meilenstein auf dem Weg zu einem effektiven Grundrechtsschutz auf Unionsebene dar. Dass die Charta, anders als noch im Verfassungsvertrag geplant, nicht selbst in den Vertragstext aufgenommen wurde, ist dabei lediglich ein Schönheitsfehler.1 Mit der Verbindlicherklärung erhält eine neue grundrechtliche Textschicht Vertragsrang, die wesentliche Impulse für die Entfaltung eines gemeineuropäischen Grundrechtsschutzes geben wird. Zum anderen haben sich die möglichen grundrechtlichen Reibungsflächen nochmals deutlich vermehrt, so dass die teilweise von einer unangemessenen Dramatisierung der Grundrechtskonflikte gekennzeichnete deutsche Grundrechtsdebatte2 das ‚empirische Material‘ mit zunehmender Beschleunigung nachgeliefert 1 2
Weit problematischer ist das „Exit-Protokoll“, siehe dazu unten, II. 2. c). Siehe nur exemplarisch zur Solange-III-Debatte mit Blick auf begrenzte Eingriffe in die Rechte von Unternehmen R. Scholz, Grundrechtsprobleme im europäischen Kartellverfahren, Wirtschaft und Wettbewerb 1990, S. 99 (107 f.), mit der Behauptung eines unzureichenden Schutzes der Wohnung durch den EuGH; ferner R. Scholz, Wie lange bis „Solange III“?, NJW 1990, S. 941, zur Behauptung eines unzureichenden Schutzes der negativen Meinungsfreiheit in Bezug auf den Inhalt der Warnhinweispflichten für Tabakprodukte.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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bekommt.3 Dies hängt vor allem mit den gewachsenen Kompetenzen der EG und EU insbesondere in der zweiten und dritten Säule zusammen, die auch verstärkt genutzt werden.4 Das gilt insbesondere für Maßnahmen im Bereich des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, denen angesichts eines reduktionistischen Freiheitskonzepts5 eine Gefährdung der Grundrechte immanent ist. Auf entsprechende Konflikte hat der EuGH unlängst reagiert und die (Grund-)Rechtskontrolle im Rahmen der dritten Säule erheblich erweitert.6 Aber auch in der ersten Säule führt ein teils interventionistischer Ansatz der Gemeinschaftsorgane zu einer Zunahme der Schärfe von Grundrechtskonflikten. Ein besonders plastisches Beispiel ist insoweit die Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie der EG.7 Inhaltlich verlangt die Richtlinie von den Mitgliedstaaten den Erlass von Rechtsvorschriften, mit denen die Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste oder Kommunikationsnetze verpflichtet werden, alle bei ihnen anfallenden elektronischen Kommunikationsspuren der Dienstenutzer über den betrieblich erforderlichen Zeitraum hinaus mindestens sechs Monate und höchstens zwei Jahre zu speichern. Das führt u.a. dazu, dass Lokalisationsdaten von Personen – während sie telefonieren – gespeichert werden. Anhand dieser Daten können anschließend Bewegungsprofile Telefonierender erstellt werden. Hintergrund der massiven Speicherverpflichtungen sind vorrangig Gründe der Terrorismusabwehr. Formell wurde die Richtlinie gleichwohl auf die Binnenmarktkompetenz aus Art. 95 EG ge-
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Siehe als Startpunkt EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, zur Frage des angemessenen Schutzes der Menschenwürde im Hinblick auf die Patentierbarkeit isolierter Bestandteile des menschlichen Körpers. Hinzu kommen die organisationsverfassungsrechtlichen Veränderungen beim gemeinschaftsrechtlichen Gesetzgebungsprozess, der durch eine Verlagerung vom Einstimmigkeitsprinzip auf das Mehrheitsprinzip gekennzeichnet ist. Damit wird die Durchsetzung mitgliedstaatlicher Grundrechtsstandards in der gemeinschaftlichen Gesetzgebung erschwert; siehe zu diesem Zusammenhang F. C. Mayer, Grundrechtsschutz gegen europäische Rechtsakte durch das BVerfG: Zur Verfassungsmäßigkeit der Bananenverordnung, EuZW 2000, S. 685 (687). Zu dem implizierten Freiheitskonzept kritisch J. Monar, in diesem Band, S. 758 f. EuGH, Rs. C-354/04 P, Gestoras Pro Amnistía u.a./Rat, Slg. 2007, I-1579, Rn. 53 f., und Rs. C-355/04 P, Segi u.a./Rat, Slg. 2007, I-1657, Rn. 53 f.; siehe dazu U. Haltern, Rechtsschutz in der dritten Säule der EU, JZ 2007, S. 772, und ders., Gemeinschaftsgrundrechte und Antiterrormaßnahmen der UNO, JZ 2007, S. 537, sowie G. della Cananea, Return to the Due Process of Law: the European Union and the Fight Against Terrorism, ELRev. 32 (2007), S. 896. Richtlinie 2006/24/EG des Parlaments und des Rates über die Vorratsspeicherung von Daten, ABl. 2006 L 105, S. 54; kritisch zu der Richtlinie D. Westphal, Die Richtlinie zur Vorratsspeicherung von Verkehrsdaten, EuR 2006, S. 706; vgl. jetzt auch die kritischen Hinweise zu einer Vorratsdatenspeicherung GA Kokott zu EuGH, Rs. C-275/06, Promusicae, Slg. 2008, I-271, Nr. 82, mit Verweis auf die strenge Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: „Man kann daran zweifeln, ob die Speicherung von Verkehrsdaten aller Nutzer – gewissermaßen auf Vorrat – mit Grundrechten vereinbar ist, insbesondere da dies ohne konkreten Verdacht geschieht.“
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stützt.8 Gerade angesichts ihrer Eingriffsintensität9 würden diese Speicherpflichten außerhalb eines Umsetzungsgesetzes gemessen am deutschen Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und insbesondere am Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 Var. 3 GG vor dem Bundesverfassungsgericht kaum als verhältnismäßig angesehen werden.10 Aber nicht nur die Interventionen des Gemeinschaftsgesetzgebers, sondern auch die gemeinschaftsgrundrechtskonforme Anwendung der Richtlinien und Grundfreiheiten stellt den EuGH vor zunehmend grundrechtssensible Auslegungsfragen. So hat der EuGH jüngst das Recht einer gewerkschaftlichen Organisation verneint, durch Baustellenblockaden ausländische Dienstleister zu Lohnverhandlungen für die von ihnen entsandten Arbeitnehmer sowie zu einem Tarifbeitritt zu bewegen. Ein entsprechender Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit sei nicht durch das Streikrecht der Gewerkschaften gerechtfertigt. Selbst wenn das im Ergebnis zutreffen mag, überrascht doch, dass der EuGH die dem Konflikt zugrunde liegenden Interessen kaum angemessen aufbereitet hat. So fehlt es insbesondere an jeglicher näherer Analyse der Reichweite des Streikrechts.11 Die Gemeinschaftsorgane produzieren demnach harte Grundrechtskonflikte bzw. sind mit diesen konfrontiert. Daraus lassen sich aber keine Solange-III-Rufe ableiten, sondern vielmehr der Ruf nach einem umfassenderen Grundrechtsschutz auf Gemeinschafts- und Unionsebene mit dem EuGH als Grundrechtsinterpreten an der Diskursspitze. Dieser Erwartungshaltung wird der EuGH auch zunehmend gerecht und mutiert dabei zu einem Grundrechtsgericht. Hinzu tritt eine verstärkte Positionierung des Europäischen Parlamentes als Grundrechtsgarant insbesondere in den Bereichen, in denen es nur über Anhörungsrechte verfügt. Gerade die vom Europäischen Parlament angestrengten Klagen gegen Grundrechtseingriffe des Rates im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zeigen dies eindrucksvoll.12 Das Parlament verstärkt damit seinerseits die Rolle des EuGH als Grundrechtsgericht. Schließlich wurde zu Beginn des Jahres 2007 eine Europäische Agentur für Grundrechte geschaffen, die diese Entwicklungen reflektierend ein ge-
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Die gegen die Richtlinie gerichtete Nichtigkeitsklage Irlands beim EuGH ist erfolglos geblieben. Mit ihr wurde allerdings nur ein Kompetenzverstoß geltend gemacht. Vgl. EuGH, Rs. C-301/06, Irland/Parlament und Rat, Slg. 2009, I-0000. Diese ist wegen der Streubreite des Eingriffs, der Verdachtsunabhängigkeit der Speicherung und der von der Speicherung ausgehenden massiven Abschreckungswirkung äußerst hoch. Entsprechende Klagen gegen das deutsche Umsetzungsgesetz sind bereits als Sammel-Verfassungsbeschwerde unter dem Aktenzeichen 1 BvR 256/08 beim Bundesverfassungsgericht anhängig und haben in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren bereits einen Teilerfolg errungen, vgl. den entsprechenden Beschluss vom 11.3.2008, NVwZ 2008, 543; vgl. zu entsprechenden strengen Kontrollmaßstäben des Gerichts exemplarisch die Entscheidung zur Rasterfahndung, BVerfGE 115, 320. Vgl. EuGH, Rs. C-341/05, Laval, Slg. 2007, I-11767, Rn. 86 ff.; dazu auch F. Rödl, in diesem Band, S. 683 f. Siehe insb. EuGH, Rs. C-540/03, Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5769, Rn. 52 ff.
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wichtiges Wort bei der Ausgestaltung der EG als Grundrechtsgemeinschaft mitreden kann.13 Ganz im Vordergrund muss dabei die Kontrolle der Tätigkeit der EU- bzw. EGOrgane am Maßstab der Unions- bzw. Gemeinschaftsgrundrechte stehen. Das Ende der Ära einer Planverfassung erfordert insoweit eine strengere Prüfungsintensität. Dabei steht der Terminus der Planverfassung für einen Vorrang der Verwirklichung der Integrationsziele,14 unabhängig davon, in welchem Umfang die Zielverwirklichung „Umwälzungen im Recht der Mitgliedstaaten“15 und negative Auswirkungen auf grundrechtsrelevante Bereiche bedingt. Als Gegenreaktion bildete sich insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussion um die Richtlinien für Tabakerzeugnisse16 in Deutschland die Forderung aus, dass das Bundesverfassungsgericht das Gemeinschaftsrecht an den nationalen Grundrechten messen und gegebenenfalls für unanwendbar erklären soll.17 Dieser Streit wurde mit Blick auf die erste Säule in Form der Solange-II-Rechtsprechung entschärft und in den Folgeentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu einer einzelfallunabhängigen Pauschalprüfung des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene relativiert.18 Das Eingreifen nationaler Grundrechte begegnet dem beschriebenen Problem demnach auf der falschen Ebene. Die Lösung des Konflikts zwischen der Verwirklichung der Integrationsziele und der Achtung der Grundrechte ist auf EU-Ebene durch den Ausbau gemeinschaftsrechtlicher Grundrechte zu suchen.19 Der bisherige Vorrang der Verwirklichung der Integrationsziele muss also dadurch eingeschränkt werden, dass diese Ziele nur in den Grenzen eines gemeinschaftsweiten Grundrechtsschutzes verfolgt werden können. Diese Einschränkung trifft den Integrationsprozess zu einem Zeitpunkt, zu dem dieser bereits ein hohes Niveau erreicht hat. Das Ende der Ära einer Planverfassung und die damit einhergehende Stärkung des Grundrechtsschutzes zieht daher keine Gefährdung der Verwirklichung der Integrationsziele nach sich. Die beschriebene Entwicklung könnte mittel-
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Zum Konzept einer Grundrechtsgemeinschaft A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157 ff.; zu der Grundrechtsagentur siehe unten, II. 2. a). Dazu insb. J. H. H. Weiler, Eurocracy and Distrust, Washington Law Rev. 61 (1986), S. 1103 (1108); siehe auch K. Bahlmann, Der Grundrechtsschutz der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1982, S. 1 (3), der von einem „Spannungsverhältnis von Grundrechten und Integration“ spricht; ferner A. Clapham, A Human Rights Policy for the European Community, YEL 16 (1990), S. 309 (359); C. Turner, Human Rights Protection in the European Community, EPL 5 (1999), S. 453 (460). U. Everling, Brauchen wir „Solange III“?, EuR 1990, S. 195 (196). Vgl. insb. R. Scholz, Europäisches Gemeinschaftsrecht und innerstaatlicher Verfassungsrechtsschutz, in: K. H. Friauf/R. Scholz (Hrsg.), Europarecht und Grundgesetz, 1990, S. 53. Exemplarisch dazu Scholz, Wie lange bis „Solange III“? (Fn. 2), S. 943 ff. Zur Prüfung des Umsetzungsspielraums am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes: BVerfGE 102, 147; BVerfG, NVwZ 2007, 942; BVerfG, NVwZ 2007, 937; zur Rechtsprechung im Bereich der dritten Säule siehe unten, Fn. 193. Everling (Fn. 15), S. 199.
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bis langfristig zudem zu einer Verlagerung vom Ausbau der Grundfreiheiten hin zu einer Verstärkung der Grundrechte führen.20 Die teils konfliktreiche Diskussion um einen angemessenen Grundrechtsschutz auf Unionsebene hat jedenfalls gezeigt, wie wichtig dieser für die Absicherung und Festigung der Integrationserfolge ist. Die Erörterung des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union ist daher von zentraler Bedeutung. Der Grundrechtsdiskurs ist dabei von einer querelle allemande zum zentralen Anliegen der Gemeinschaft mutiert. Der folgende Beitrag nähert sich dem wichtigen Thema des Grundrechtsschutzes im EU-Verfassungsrecht in drei Schritten: Während sich der erste Teil (II.) der Entwicklung und dem gegenwärtigen Rang der Grundrechte im Unionsrecht widmet, soll im zweiten, umfangreicheren Teil eine Grundrechtsdogmatik entfaltet werden (III.). Damit sind die Hauptstoßrichtung und das Hauptanliegen der folgenden Ausführungen benannt. Es soll ein Beitrag zu einer angemessenen gemeineuropäischen Grundrechtsdogmatik geleistet werden. Methodisch wird so ein der deutschen Grundrechtstradition verpflichteter Ansatz gewählt. Dem liegt die feste Überzeugung zu Grunde, dass wesentliche Impulse für den Grundrechtsschutz in Europa künftig vom EuGH ausgehen müssen und dass dazu eine verbesserte Grundrechtsdogmatik eine wichtige Grundlage bildet. Im Fokus des Interesses liegt demzufolge der Grundrechtsschutz durch Gerichte, wobei die Rechtswissenschaft dazu im Wege der Entfaltung einer Grundrechtsdogmatik einen begleitenden Beitrag leisten kann. Vor diesem Hintergrund soll vor der Entfaltung einer Grundrechtsdogmatik eine Reflektion auf die Bedeutung der Dogmatik im Gemeinschaftsrecht erfolgen.21 Ein knapper Ausblick auf den institutionellen Anpassungsbedarf schließt den Beitrag (IV.). In terminologischer Hinsicht wird der Begriff Unionsgrundrecht als umfassender Terminus verwendet, der sich sowohl auf die Grundrechtskontrolle der unionalen wie der gemeinschaftlichen Handlungen sowie der mitgliedstaatlichen Tätigkeit im Rahmen des Gemeinschaftsrechts bezieht. Die Verwendung des Terminus Unionsgrundrecht statt Gemeinschaftsgrundrecht wird nicht zuletzt durch die Grundrechte-Charta nahe gelegt, die als eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union firmiert. Geht es allerdings spezifisch um gemeinschaftsrelevantes Handeln wird gleichermaßen der Terminus Gemeinschaftsgrundrecht verwendet. Der zweite Begriffsteil (Grundrecht) kann mit derselben Begründung verwendet werden und entspricht im Übrigen Art. 6 Abs. 2 EU als zentraler Rechtsquelle der Unionsgrundrechte. Auch in der Rechtsprechung des EuGH ist regelmäßig von „Grundrechten“ und nicht von „Menschenrechten“ o.Ä. die Rede.
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Zu diesem Zusammenhang ausführlich T. Kingreen, in diesem Band, S. 727 ff. Dazu ausführlich J. Kühling/O. Lieth, Dogmatik und Pragmatik als leitende Parameter der Rechtsgewinnung im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 371.
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II. Stationen der Entwicklung des Grundrechtsschutzes Die Schubwirkung der Proklamation der Grundrechte-Charta erlaubt eine zweischrittige Darstellung der Stationen der Entwicklung des Grundrechtsschutzes. Dabei wird die Charta-Verabschiedung als Zäsur eingestuft, auch wenn sich der Zäsurcharakter erst mit der Integration der Charta in das unionsrechtliche Primärrecht im Rahmen der Ratifikation des Lissabonner Vertrages vollständig offenbaren wird. Ein Grundrechtskatalog verschafft den Grundrechtsverbürgungen Visibilität und Publizität und führt damit zu einem höheren Maß an Rechtssicherheit.22 Er erleichtert den europaweiten Grundrechtsdiskurs und verstärkt die legitimierende Kraft von Grundrechten. 1. Die Entwicklung des prätorischen Grundrechtsschutzes Die Entwicklung des prätorischen Grundrechtsschutzes ist weithin bekannt und erfolgte von einer Phase der Ablehnung23 über eine solche der Anerkennung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze24 hin zu einer solchen der Ausdehnung ihrer Reichweite im Hinblick auf die Mitgliedstaaten als Grundrechtsadressaten.25 Es ist bekannt, dass der Gerichtshof zu dieser richterlichen Rechtsfortbildung nicht zuletzt aufgrund des kritischen Dialogs mit den nationalen (Verfassungs-)Gerichten und unterstützt durch Anstöße der übrigen Institutionen der Gemeinschaft, namentlich durch solche des Europäischen Parlaments,26 angesetzt hat. Der EuGH hatte erkannt, dass die bedrohliche Lücke der fehlenden Grundrechtssicherung im Gemeinschaftsrecht dessen Legitimität, Vorrang und einheitliche Anwendung in Frage stellte. Im Hinblick auf jene Entwicklung und den inzwischen recht stattlichen Katalog der auf prätorischem Wege entfalteten Grundrechtsgehalte genügt ein Hinweis auf die ausführlichen Darstellungen in zahlreichen Aufsätzen und neueren Monographien.27 Die Rechtsquellendogmatik der Unionsgrundrechte bleibt dabei mit Fragezeichen verbunden.28 Auch Art. 6 Abs. 2 EU hat insoweit keinesfalls für vollständige 22
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C. Starck, Ein Grundrechtskatalog für die Europäischen Gemeinschaften, EuGRZ 1981, S. 545 (548); auf die Vorteile geschriebener Grundrechtsverbürgungen gegenüber ungeschriebenen Grundrechtsstandards macht aus allgemeiner theoretischer Sicht auch W. J. Waluchow, A Common Law Theory of Judicial Review, 2007, S. 243 f., aufmerksam. Besonders deutlich EuGH, verb. Rs. 36/59–38/59 und 40/59, Geitling u.a./Hohe Behörde, Slg. 1960, 920. EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, 419, Rn. 7; dann grundlegend Rs. 25/70, Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1970, 1161, Rn. 22. Siehe dazu unten, III. 3. b). ABl. 1989 C 120, S. 52, und ABl. 1994 C 61, S. 155. Vgl. exemplarisch E. Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, insb. S. 47 ff.; zu der dreiphasigen Entwicklung der Rechtsprechung in Bezug auf die Grundrechte (Ablehnung – Anerkennung – Ausdehnung gegenüber Handlungen der Mitgliedstaaten) auch H. Schermers, Protection of Human Rights in the European Community, 1994, S. 3 ff. Vgl. auch die weiteren Hinweise in der Vorauflage dieses Bandes, S. 587 ff.
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Klarheit gesorgt. Die Norm schreibt die Achtung der Grundrechte, wie sie in der EMRK und den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen verbürgt sind, als allgemeine Rechtsgrundsätze für die EU fest und ist damit zentrale Rechtsquelle. Als Rechtserkenntnisquellen zieht der EuGH vornehmlich die EMRK und die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten heran.29 Als Erkenntnismethode hat sich dabei eine gemeinschaftsautonome Konkretisierung auf der Grundlage der gemeinsamen Verfassungstraditionen und der EMRK entwickelt. Während insoweit zunächst die rechtsvergleichenden Ausführungen im Vordergrund standen, hat sich nicht zuletzt angesichts der mittlerweile 27 Mitgliedstaaten deren Bedeutung relativiert und an deren Stelle ist der Rückgriff auf die EMRK getreten.30 Auch die Orientierung an der Judikatur des EGMR hat sich in jüngerer Zeit verstärkt. Dabei geht der EuGH in seiner Rechtsprechung von keiner wie auch immer gearteten rechtlichen Bindung an die mitgliedstaatlichen Grundrechtsverbürgungen und die EMRK aus und will sich eine möglichst weitgehende Flexibilität für die Grundrechtskonkretisierung bewahren. Dennoch bilden die Rechtsvergleichung und die EMRK den Wertungshintergrund für die spätere Konkretisierung. Insoweit geht es darum, einen Standard zu entwickeln, der den nationalen Wertungen ebenso wie denen der EMRK gerecht wird und sich ferner in die Gemeinschaftsstruktur und -ziele einfügt. Eine den zentralen Werten eines Mitgliedstaates zuwiderlaufende Lösung ist nicht haltbar, wie nicht zuletzt auch aus dem Gebot der Wahrung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten aus Art. 6 Abs. 3 EU abgeleitet werden kann. In der Tendenz sichert dieser Weg eher eine Orientierung hin auf einen weitreichenden Standard, obschon nicht einen Maximalstandard im Sinne der Gewährleistung sämtlicher nationaler Schutzmaxima. Denn auch im Gemeinschaftsrecht ist ein vernünftiger Kompromiss zwischen den berechtigten Anliegen der Gemeinschaft, z.B. an einer funktionierenden Verwaltung, und einem möglichst weitreichenden Schutz des Einzelnen durch Grundrechte zu finden. Überdies kollidieren die Grundrechte des Einen in mehrpoligen Konstellationen mit denen des Anderen (Meinungsfreiheit eines Beamten versus Ehrenschutz eines anderen Beamten), so dass eine ‚Maximal-Expansion‘ ohnehin an ihre Grenzen stößt. Die Herausarbeitung gemeineuropäischer Grundrechtsstandards durch die Analyse der nationalen Rechtsordnungen und die Orientierung an der Konvention in der Interpretation durch den EGMR bildet jedoch ohnehin nur das Fundament der Grundrechtskonkretisierung. Der Konkretisierungsprozess ist gleichfalls zu einem erheblichen Teil durch den zweiten Schritt des Einpassens des Grundrechts in die
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Zu dieser Konzeption vgl. die Vorauflage dieses Bandes, S. 589, m.w.N. auch aus dem ausländischen Schrifttum. Zum Schutz der Grundrechtstraditionen der Mitgliedstaaten durch den EuGH grundlegend H.-J. Papier, Die Rezeption allgemeiner Rechtsgrundsätze aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, EuGRZ 2007, S. 133. Vgl. auch die Hinweise in der Vorauflage und zur jüngsten Statistik der Bezugnahme auf den EGMR und die EMRK bei R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 217 f.
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Strukturen und Ziele der Gemeinschaft geprägt.31 Dabei geht es aber auch um das Einfügen in die Besonderheiten einer supranationalen Rechtsordnung. Im Übrigen ist hier der Raum für teleologische Überlegungen vor dem Hintergrund der Aufgaben und Ziele der EG und damit für gemeinschaftseigene Wertungen gegeben. Eine kritische Analyse der jüngsten Rechtsprechung wirft die Frage auf, ob der EuGH sich nicht zu stark an der Konventionsrechtsprechung des EGMR ausrichtet und die Besonderheiten der supranationalen Integrationsgemeinschaft dabei zu vernachlässigen droht.32 2. Die Grundrechtsdiskussion in der Ära der Grundrechte-Charta a) Neue Diskussionsimpulse durch die Verabschiedung der Grundrechte-Charta – Zeit für eine radikale Neuausrichtung der Grundrechtsentwicklung? Die Grundrechte-Charta hat zu einer wahren Flut an Stellungnahmen zum Grundrechtsschutz in der Europäischen Union geführt.33 Die Verkündung der Charta stellt eine Zäsur im System des Grundrechtsschutzes der Gemeinschaft dar, die Anlass gab, eine fundamentale Neuausrichtung der Grundrechtsentwicklung zu reflektieren. Am weitesten gingen insoweit Alston und Weiler, die eine progressive und energische Grundrechtspolitik für die Europäische Union anmahnten und dabei eine Verlagerung vom Grundrechtsschutz durch Gerichte hin zu einem solchen durch die Exekutive und Legislative einforderten.34 Dieser Grundansatz entspricht – trotz 31 32 33
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So zuerst formuliert in EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, Rn. 4. Vgl. dazu insbesondere unten, III. 5. c) cc) (4). Siehe neben den in den folgenden Fußnoten Zitierten exemplarisch aus der „ersten Welle“ L. Besselink, The Member States, the National Constitutions and the Scope of the Charter, MJ 8 (2001), S. 68; G. de Búrca, The Drafting of the European Union Charter of Fundamental Rights, ELRev. 26 (2001), S. 126; W. Dix, Charte des droits fondamentaux et convention – de nouvelles voies pour réformer l’UE?, Revue du Marché commun et de l’UE Nr. 448 (2000), S. 305; C. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte und die Europäische Union, DVBl. 2001, S. 1; P. Lemmens, The Relation between the Charter of Fundamental Rights of the European Union and the European Convention on Human Rights – Substantive Aspects, MJ 8 (2001), S. 49; N. F. Sola, À quelle nécessité juridique répond la négociation d’une charte des droits fondamentaux de l’Union européenne?, Revue du Marché commun et de l’UE Nr. 442 (2000), S. 595; A. Vitorino, La Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, Revue du droit de l’UE Nr. 1 (2001), S. 27; J. Wouters, The EU Charter of Fundamental Rights – Some Reflections on its External Dimension, MJ 8 (2001), S. 3; hinzu kommen inzwischen allein in Deutschland fünf umfassende Kommentare C. Calliess u.a., in: ders./M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 1 ff. GR-Charta; J. Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2006; H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Vorb. GR-Charta, Rn. 1 ff.; P. J. Tettinger/K. Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006. P. Alston/J. Weiler, An ‘Ever Closer Union’ in Need of a Human Rights Policy: The European Union and Human Rights, in: P. Alston (Hrsg.), The EU and Human Rights, 1999, S. 3; dagegen überzeugend v. Bogdandy (Fn. 13), S. 159 ff.; differenzierend aber ders., in diesem Band, S. 60 f.
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manch berechtigter Kritik35 – in zahlreichen Einzelaspekten wie in der Gesamttendenz allerdings nicht den überwiegenden Traditionen der Mitgliedstaaten. So stellt beispielsweise die Einführung einer eigenen Generaldirektion für Grundrechte36 ein Novum dar, da den Mitgliedstaaten ‚Grundrechtsministerien‘ fremd sind.37 Mit der Schaffung einer Europäischen Agentur für Grundrechte ist zwischenzeitlich gleichwohl ein kleiner Schritt in Richtung ‚Grundrechtsverwaltung‘ vollzogen worden, der angesichts der Selbständigkeit der Agentur und der leichteren Emanzipation gegenüber der Kommission insoweit eine sinnvollere institutionelle Ausgestaltung darstellt.38 Die Grundrechteagentur geht aus der 1998 in Wien eingerichteten Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit hervor. Sie dient nicht dem subjektiven Rechtsschutz in Form von individuellen Beschwerden, sondern dem allgemeinen Schutz eines Grundrechtsstandards. Sie soll grundrechtsrelevante Daten sammeln, zu grundrechtsrelevanten Themen Stellung nehmen und kann dies auch eigeninitiativ tun. Ihre Durchschlagskraft bleibt damit von den harten Kompetenzen her betrachtet begrenzt. Daher wird viel davon abhängen, inwieweit es der Agentur gelingt, sich eine Reputation aufzubauen und sich dadurch Gehör zu verschaffen, dass ihre unabhängigen gutachterlichen Stellungnahmen v.a. durch die Überzeugungskraft des Arguments Einfluss auf das Handeln der EG-Organe erlangen. Unterschätzt werden sollte dieser erste Schritt einer Grundrechtsverwaltung durch die Gemeinschaft nicht. Gerade in der Kombination mit einer verbindlichen Grundrechte-Charta kann sich die Grundrechteagentur zu einem wichtigen Grundrechtsinterpreten neben dem EuGH entwickeln, die v.a. im Rahmen der legislativen Grundrechtsverwirklichung flankierend aktiv ist. Im Übrigen dürfte es sehr zweifelhaft sein, gerade bei den Gemeinschafts- bzw. Unionsorganen die Legitimation für eine expansive Grundrechtspolitik verortet zu sehen.39 Die kontraproduktiven Desintegrationspotenziale dieses Ansatzes sind jedenfalls nicht zu übersehen. Zudem wird die mittlerweile etablierte, komplementäre Aufgabenwahrnehmung beim Grundrechtsschutz zwischen mitgliedstaatlichen, internationalen und supranationalen Organen40 leichtfertig überspielt. Es spricht 35 36 37 38
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Siehe insb. die Kritik am Zugang zum EuGH im Fall der Verletzung von Grundrechten, Alston/Weiler (Fn. 34), S. 53 f. Ebd., S. 21 f. und S. 40 ff. So auch v. Bogdandy (Fn. 13), S. 159. Die Agentur nahm am 1. März 2007 ihre Tätigkeit auf: Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, ABl. 2007 L 53, S. 1; zur Agentur J. M. Schlichting/J. Pietsch, Die Europäische Grundrechteagentur, EuZW 2005, S. 587. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass es im Beitrag von Alston und Weiler zu gleichen Teilen um eine ‚Grundrechtsaußenpolitik‘ geht. Vorliegend wird dagegen allein die ‚Grundrechtsinnenpolitik‘ analysiert. Für erstere dürften in der Tat Kommission, Rat und Parlament die Hauptrolle spielen und nicht die Judikative. Anders liegen die Dinge dagegen bei der Grundrechtskontrolle interner hoheitlicher Gewalt, die sich gerade durch ein Spannungsverhältnis der Judikative mit den übrigen Gewalten auszeichnet. Dazu unten, IV.
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daher vieles dafür, den Schwerpunkt auf die Stärkung und Fortentwicklung der bisherigen Ansätze zum Grundrechtsschutz zu setzen, wobei der gerichtliche Grundrechtsschutz mit der Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte-Charta einen erheblichen Schub erfahren dürfte. Dennoch sind die Hinweise von Alston und Weiler, die vor einer Fixierung auf die Judikative beim Grundrechtsschutz warnen, bei der Entwicklung der Grundrechtsdogmatik zu berücksichtigen. So ist gerade mit Blick auf den Versuch, den gerichtlich orientierten Grundrechtsschutz deutscher Prägung kurzerhand auf die Gemeinschafts- bzw. Unionsebene zu übertragen, in Erinnerung zu rufen, dass jede judikative Grundrechtsexpansion zugleich eine Machtverlagerung von der legislativen und exekutiven Gewalt auf die Rechtsprechungsgewalt in der Verfassungsrealität bewirkt. Dieser Hinweis erscheint vor allem wichtig mit Blick auf einer aus der deutschen, verfassungsgerichtlich geprägten Grundrechtsbedeutung heraus entstehenden Erwartungshaltung an einen entsprechenden Grundrechtsdiskurs des EuGH. Die Bedeutung, die grundrechtliche Argumentationen in Deutschland bei der Kontrolle gerade des demokratisch legitimierten Gesetzgebers genießen, entsprechen keineswegs einem gemeineuropäischem Standard, ohne dass dies für den Schutz der Grundrechte in der Verfassungsrealität notwendiger Weise von Nachteil sein müsste. Diese Erkenntnis hindert gleichwohl nicht daran, sich für eine stärkere Relevanz grundrechtlicher Prüfungen und für eine damit einher gehende größere Bedeutung der Grundrechtsdogmatik angesichts entsprechender positiver Erfahrungen in Deutschland auch in der Europäischen Union stark zu machen. b) Fehlende Rechtsverbindlichkeit aber Katalysatorwirkung Der Grundrechte-Charta fehlt bislang die rechtliche Verbindlichkeit. Erst mit der erfolgreichen Ratifikation des Lissabonner Vertrages wird sie gemäß dessen Art. 6 Abs. 1 S. 1 Vertragsrang erlangen. Bis dahin darf die Charta vom EuGH nur als bloßes Erkenntnismittel herangezogen werden,41 was so auch geschieht.42 Dennoch darf die schon jetzt erkennbare Wirkung der Charta für die Grundrechtsentfaltung in der Europäischen Union nicht unterschätzt werden. Zunächst greift eine, gerichtlich allerdings nicht durchsetzbare Selbstbindung der der Rechtsprechung des EuGH unterliegenden Organe der Europäischen Gemeinschaft.43 Ferner stellt die Charta das Kondensat eines rechtsvergleichenden Status quo dar. Dies wurde vor allem durch die Zusammensetzung des Konvents gewährleistet, da 45 der 62 Mit41 42 43
T. Schmitz, Die EU-Grundrechtecharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, S. 833 (835 f.). Vgl. die Nachweise in Fn. 46. Diese können die mangelnde primärrechtliche Verankerung allerdings nicht überspielen, da andernfalls in Bezug auf das Parlament ein Form- und Verfahrensmissbrauch vorläge und auch die Kommission nicht eigenständig Bindungen an Normen aussprechen und damit „autolegislativ“ tätig werden darf. Denkbar ist insoweit allerdings eine Bindung soweit eine Verwaltungspraxis begründet wird. Zur Selbstbindung der Organe und ihrer Kontrolle durch den EuGH siehe S. Alber, Die Selbstbindung der europäischen Organe an die Europäische Charta der Grundrechte, EuGRZ 2001, 345 (350 ff.).
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glieder aus den mitgliedstaatlichen Parlamenten stammten bzw. von den mitgliedstaatlichen Regierungen benannt worden sind. Das verleiht der Charta faktisch zugleich eine mit den bisherigen Grundrechtskatalogen des Europäischen Parlaments nicht zu vergleichende neuartige Legitimationskraft. Daher verwundert es nicht, dass die Charta zunächst von den Generalanwälten,44 dann vom EuG45 und schließlich auch vom EuGH selbst46 zur Bestätigung des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes herangezogen wurde. Insoweit war auch der ‚Als-ob‘-Ansatz wichtig, der die Erarbeitung der Grundrechte-Charta geprägt hat. Diesem Ansatz folgend hat der Konvent die Charta so ausgearbeitet, als ob diese anschließend in die Verträge inkorporiert werden und damit primärrechtliche Verbindlichkeit erlangen würde.47 Auch wenn die Grundrechte-Charta in Teilaspekten eine dogmatische Stringenz vermissen lässt, kann von einer Katalysatorwirkung der Charta für die Fortentwicklung der unionalen Grundrechtsdogmatik ausgegangen werden. Ein Impuls für die Grundrechtsdogmatik könnte etwa von der einheitlichen Schrankensystematik nach Art. 52 Abs. 1 GR-Charta ausgehen, obgleich die Charta Durchbrechungen aufweist.48 Mit diesem Konzept hat der Konvent zu einem großen Wurf angesetzt. Die einheitliche Schrankensystematik49 soll der Entwicklung einer undurchsichtigen und in vielen Fällen inkonsistenten Schrankensystematik vorbeugen, wie sie beispielsweise für die EMRK50 aber auch in Bezug auf das deutsche Grundgesetz51 festzustellen ist. Die Kritik an der einheitlichen Schrankensystematik mit dem Hinweis auf die zusätzliche Direktivkraft einer auf einzelne Grundrechte abgestimmten 44
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Zuerst GA Alber zu EuGH, Rs. C-340/99, TNT Traco, Slg. 2001, I-4112, Nr. 94; jüngst GA Maduro zu EuGH, Rs. C-305/05, Ordre des barreaux francophones und germanophone, Slg. 2007, I-5305, Nr. 48 ff., und GA Colomer zu EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633, Nr. 76 ff. m.w.N. zu weiteren Schlussanträgen. EuG, Rs. T-54/99, max.mobil/Kommission, Slg. 2002, II-313; auch die Richter am EGMR greifen in ihrer Rechtsprechung auf die Charta zurück, siehe das Sondervotum von Richter Costa im Fall EGMR (Kammer), Nr. 36022/97, Hatton u.a./Großbritannien, (2002) 34 E.H.R.R. 1 (7. Abs.). EuGH, Rs. C-540/03 (Fn. 12), Rn. 38; Rs. C-438/05, ITF (Viking Line), Slg. 2007, I-10779, Rn. 43 f. Mitteilung der Kommission zum Status der Grundrechtscharta der Europäischen Union, KOM(2000) 664, Nr. 7; dazu auch B. de Witte, The Legal Status of the Charter: Vital Questions or Non-Issues?, MJ 8 (2001), S. 81. Art. 8 Abs. 2 GR-Charta, der Eingriffe in das Recht auf Datenschutz nur unter besonderen Qualifikationen vorsieht; gravierender sind allerdings die ungeklärten Ausgestaltungsvorbehalte wie in Bezug auf die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GR-Charta, die lediglich „nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt“ wird. Vgl. dazu jetzt auch monographisch M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 212 ff. Beachte nur die von historischen Zufälligkeiten geprägten Schrankenformulierungen der Absätze 2 der Art. 8–11 EMRK: so erwähnt Art. 8 Abs. 2 EMRK, anders als die Religions-, Kommunikations- und Demonstrationsfreiheit, Eingriffe in die Privatsphäre aus wirtschaftlichen Gründen explizit. Siehe die exemplarische Kritik von K. A. Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 1976, S. 3, der von einem „Schrankenwirrwarr“ spricht.
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Ausgestaltung der Schranken52 wird von den bisherigen Erfahrungen widerlegt.53 Allerdings wirft Art. 52 Abs. 3 S. 1 GR-Charta die Frage auf, wie konsistent sich die einheitliche Schrankensystematik wird durchhalten lassen. Denn das Gebot der Auslegung der EMRK-gleichen Charta-Grundrechte am EMRK-Standard bezieht sich dem Wortlaut nach auch auf die Schrankensystematik („gleiche Bedeutung und Tragweite“; „leur sens et leur portée sont les mêmes“). Dies folgt daraus, dass sich die ‚Tragweite‘ (portée) der Grundrechte vor allem aus der Anwendung der Schranken ergibt. Auch die ‚Meistbegünstigungsklausel‘ des Art. 52 Abs. 3 S. 2 GR-Charta wirkt einer Ausdifferenzierung der Schrankensystematik nicht entgegen, sondern beflügelt diese. So wird eine nach EMRK-gleichen und sonstigen Charta-Grundrechten differenzierende Schrankensystematik erforderlich. Von dogmatischem Interesse ist ferner die thematische Klassifizierung der Grundrechte in sechs Kapitel (Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte, Justizielle Rechte). Zwar wurde in der Literatur bereits auf die teils fragwürdige Aufteilung im Einzelfall hingewiesen,54 dennoch ist der Versuch einer Ordnung positiv zu beurteilen. Gelöst wurde damit allerdings nicht das Problem einer Klassifikation der Grundrechte nach Schutzfunktionen. Insoweit bedarf es entsprechender Impulse aus der Rechtsprechung und Literatur. Die mangelnde Ordnung nach Schutzdimensionen wird im Kapitel „Solidarität“ besonders deutlich: Dieses Kapitel enthält ein buntes Gemisch aus Freiheitsrechten (Recht auf Kollektivhandlungen und Kollektivmaßnahmen, Art. 28), Teilhaberechten (Recht auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, Art. 36), staatlichen Schutzpflichten (Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung, Art. 30) und Staatszielbestimmungen (Umweltschutz, Art. 37), wobei weitere Zuordnungen in Bezug auf einzelne Garantien durchaus problematisch sind.55 Insoweit bedarf es noch einer erheblichen grundrechtsdogmatischen Aufarbeitung. Diese Fragen werden jedoch künftig in einem gemeineuropäischen Grundrechtsdiskurs erörtert, dessen Grundlage die Charta als exponierter Text bilden wird. Bereits jetzt hat die Charta dazu beigetragen, dass sich die Entwicklung einer gemeineuropäischen grundrechtsdogmatischen ‚Sprache‘ beschleunigt. Schließlich ist zu betonen, dass die Charta in ihren Inhalten teilweise – zumindest potenziell – über die Schutzgehalte der bislang als Allgemeine Rechtsgrund52 53
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So aber offensichtlich Schmitz (Fn. 41), S. 838. Vgl. insoweit die treffende Formulierung von T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 33), Art. 52 GR-Charta, Rn. 59 mit Fn. 105, gegen entsprechende Kritik an der einheitlichen Schrankensystematik von M. Kenntner, Die Schrankenbestimmungen der EU-Grundrechtecharta – Grundrechte ohne Schutzwirkung?, ZRP 2000, S. 423 (424 f.), wonach Kenntner differenzierte Schrankenregelungen „ausgerechnet in Anlehnung an die wenig geglückte Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Grundfreiheiten“ fordere. Dies gilt namentlich für den Schutz der Familie, der über mehrere Grundrechteklassen der Charta verstreut wurde (Art. 7, 24 und 33 GR-Charta), dazu kritisch Schmitz (Fn. 41), S. 834. So stellt sich die Frage, ob es sich beim Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst nach Art. 29 lediglich um ein derivatives Teilhaberecht oder gegebenenfalls auch um ein originäres Leistungsrecht handelt, wenn in einem Mitgliedstaat kein derartiger Dienst angeboten wird, siehe dazu unten, III. 2. c)/d).
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sätze etablierten Grundrechte hinausgeht. Insofern wird sich für zahlreiche Grundrechte die Frage stellen, inwieweit auf unionsrechtlicher Ebene diese für die jeweiligen Sachbereiche Entwicklungsimpulse verleihen können.56 c) Grundrechte-Charta und ‚Exit-Protokoll‘ – Risse in der Wertegemeinschaft? Sollte der Lissabonner Vertrag in den Mitgliedstaaten erfolgreich ratifiziert werden, wird zwar jene explizite textliche Grundlage der Entwicklung des Grundrechtsschutzes maßgebliche Impulse verleihen. Zugleich werden jedoch eine ganze Reihe neuer Auslegungsfragen auf den EuGH zukommen. So wird der EuGH insbesondere das Verhältnis der Grundrechte der Grundrechte-Charta zu den als allgemeine Rechtsgrundsätze geschützten Grundrechten klären müssen. Denn für letztere bestimmt Art. 6 Abs. 3 EUV-Liss. (entsprechend Art. 6 Abs. 2 EU), dass sie, so wie sie sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind. Die Unterscheidung zwischen Charta-Grundrechten und Grundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen muss dabei v.a. deshalb dogmatisch ausdifferenziert werden, weil das Vereinigte Königreich und Polen die Anwendung der Charta-Grundrechte auf ihre Territorien im Rahmen einer Protokollerklärung dem Grunde nach ausgeschlossen haben. So heißt es in Art. 1 Abs. 1 des Protokolls über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, dass die Charta „keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs“ dahin gehend bewirke, „dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen.“ Die Ausdifferenzierung von Grundrechten als allgemeinen Rechtssätzen und Charta-Grundrechten hat damit stets unmittelbare Bedeutung für den Grundrechtsschutz im Vereinigten Königreich und in Polen. Dieses ‚Exit-Protokoll‘ zeigt im Übrigen deutlich, dass das Vereinigte Königreich – und das später zum Protokoll hinzu gestoßene Polen – keine Integration im Wege einer Grundrechts-Judikatur durch den EuGH wünschen. Die Stoßrichtung der diesbezüglichen Ablehnung zeigt sich besonders deutlich in Art. 1 Abs. 2 des Protokolls. Dieser Bestimmung zufolge sollen insbesondere durch den Titel IV der Charta, also durch die sozialen Grundrechte, für Polen und das Vereinigte Königreich keine einklagbaren Rechtspositionen geschaffen werden, die über den durch das innerstaatliche Recht geschaffenen status quo hinausgehen. Art. 2 referenziert diesen Grundsatz in letztlich redundanter Form nochmals explizit auf diejenigen Bestimmungen der Charta, die auf das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis Bezug nehmen, wie etwa die arbeitnehmerbezogenen Anhörungsrechte in 56
Siehe exemplarisch optimistisch für das Recht auf gute Verwaltung aus Art. 42 GR-Charta M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Fn. 33), Art. 42 GR-Charta, Rn. 21; skeptisch mit überzeugenden Gründen für die Fortentwicklung der Arbeitsverfassung F. Rödl, in diesem Band, S. 883 ff.
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Art. 27, das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen in Art. 28 und den Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung in Art. 30.57 Damit soll über die ohnehin schon in jenen Grundrechtsbestimmungen selbst erfolgte weitgehende Aushebelung grundrechtstypischer Schutzgehalte58 hinaus gesichert werden, dass keine weiter als der innerstaatliche status quo reichenden Schutzinhalte judikativ geschaffen werden. Diese Ablehnung einer Integration durch die Judikative ist gerade für das Vereinigte Königreich vor dem Hintergrund zu sehen, dass dort ein dezidiert anderer Ansatz des Grundrechtsschutzes greift, der die Gewährung sozialer Rechte eben nicht durch judikativ entfaltete Grundrechte, sondern durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorsieht.59 Vor diesem Hintergrund ist auch vor einer Über-Dramatisierung des ‚Exit-Protokolls‘ zu warnen.60 Hier zeigt sich keinesfalls ein grundlegender Dissens über die fundamentalen Werte in Europa. Vielmehr artikuliert sich eine dezidiert kritische Haltung gegenüber einem judicial acitivism des EuGH, der durch eine Grundrechte-Charta befeuert werden könnte. Diese Position ist durchaus nachvollziehbar. Es bleibt gewiss der bittere Beigeschmack, dass die Charta gerade mit Blick auf die Wünsche des Vereinigten Königreiches mehrfach überarbeitet und tendenziell relativiert worden ist, so dass das anschließende ‚Exit-Protokoll‘ umso misslicher ist.61 Auch stellt es einen Schönheitsfehler dar, dass nunmehr im Bereich des Grundrechtsschutzes als Kernbereich der Verfassung ein partielles Opt-out eines Mitgliedstaates erfolgt ist. Dies wird jedoch in zweifacher Hinsicht deutlich relativiert. Zum einen ist in Erinnerung zu rufen, dass die Funktion der Unionsgrundrechte primär in der Bändigung der Unions- und Gemeinschaftsgewalt zu sehen ist. Zum anderen greift das Protokoll nur für die spezifischen Zusatzverbürgungen der Charta und nicht für die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts. Allerdings steht das Protokoll einer Fokussierung auf eine Entwicklung der Grundrechte aus der Grundrechte-Charta im Weg und wird die an sich wenig glückliche Zweispurigkeit aus Grundrechten aus der Charta und solchen als allgemeine Rechtsgrundsätze unnötig verstärken. Unabhängig davon besteht jedoch die Hoffnung, dass der Streit um die Grundrechte-Charta den EuGH beflügeln könnte, diese künftig auch gerade in der genannten primären Stoßrichtung zu aktivieren. Das Beispiel der Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie zeigt, dass insoweit durchaus Anlass zu einer strengen Kontrolle besteht. 57
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Hintergrund dieser doppelten Absicherung dürfte die Rechtsprechung des EuGH sein, dass „die Mitgliedstaaten, wenn eine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verweist, keine Maßnahmen erlassen, die geeignet sind, die praktische Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Regelung, in die sich diese Vorschrift einfügt, zu beeinträchtigen“, vgl. zuletzt EuGH, Rs. C-385/05, CGT, Slg. 2007, I-611, Rn. 35. Dazu exemplarisch S. Krebber, in: Calliess/Ruffert (Fn. 33), Art. 27 GR-Charta, Rn. 8 ff. Eine ausführliche und dezidierte Verteidigung dieser Form des Grundrechtsschutzes findet sich bei J. Waldron, Law and Disagreement, 1999, S. 282 ff. Sehr kritisch F. C. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Reformvertrag, ZaöRV 67 (2007), S. 1141 (1157 ff., 1162 ff.). Darauf weist zu Recht auch Mayer hin: ebd., S. 1159.
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Dabei wird sich zeigen, dass die Grundrechte-Charta eine ganze Reihe von Schutzgehalten aufweist, die tendenziell über den bisherigen Schutz auf der Basis der EMRK und der mitgliedstaatlichen Traditionen hinausgehen. Gerade das Datenschutzgrundrecht ist insoweit ein gutes Beispiel.62
III. Kernelemente einer Grundrechtsdogmatik 1.
Vorbemerkung: Funktionen und notwendige Fortentwicklung der Grundrechtsdogmatik
a)
Funktionen der Grundrechtsdogmatik vor dem Hintergrund divergierender Grundrechtskulturen
Die notwendig weite und offene sowie durch historische Sonderkonstellationen teils divergierende Formulierung von Grundrechten in den Verfassungen der Mitgliedstaaten, der EMRK und den Grundrechtskatalogen des Europäischen Parlaments erschwerte bislang eine inhaltliche Konturierung der Unionsgrundrechte. Dasselbe gilt in abgeschwächter Form für die Grundrechte-Charta. Der Grundrechtskonkretisierung sind weite Spielräume eröffnet, die die Entwicklung eines allgemeinen Konsenses über eine Grundrechtsjudikatur behindern. Im Rahmen systemtranszendenter Kritik hinsichtlich der Behandlung von Grundrechten könnte man vor diesem Hintergrund die Position beziehen, die Grundrechtsinterpretation komme allein den damit befassten Gerichten von Fall zu Fall zu.63 Eine Dogmatik begriffen als rechtswissenschaftliche Durchdringung und Systematisierung von Rechtsproblemen durch die Bereitstellung von Lehrsätzen, Grundregeln und Prinzipien im Rahmen eines rationalen Diskurses wäre insoweit überflüssig. Ein klarer Vorteil dogmatischen Arbeitens liegt jedoch auf der Hand. Eine transparente, fundierte und entschiedene Grundrechtsjudikatur, die auf eine kohärente Dogmatik gestützt ist, setzt für den Normgeber und Normanwender unabdingbare Orientierungspunkte und schafft für den Normadressaten Rechtssicherheit. Der Vielseitigkeit und Komplexität neuer Problemkonstellationen kann eine entwickelte Dogmatik mit der Bereitstellung von Lösungsmustern und Einordnungshilfen begegnen. Zudem setzt die Dogmatik mit ihren Lösungsfiguren einen Standard, der erst dann abgelöst werden kann, wenn bessere Lösungen angeboten werden. Dogmatisches Arbeiten führt daher langfristig zu einer Optimierung der zur Problembehandlung bereitgestellten Muster und Figuren. Die einmal erreichte Qualität kann nicht mehr gemindert werden, weil sich neue Figuren immer an dem alten Standard messen lassen müssen.64 62 63
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Siehe auch den Hinweis von J. Monar, in diesem Band, S. 795. Zu unterscheiden ist diese systemtranszendente Kritik von einer Kritik, die beispielsweise das Schema von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung für untauglich hält, wenn es um die Erfassung objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte geht. Diese Kritik ist systemimmanent, weil sie die Berechtigung von Dogmatik prinzipiell anerkennt, aber einzelne von dieser zur Verfügung gestellte Figuren und Methoden kritisiert. Zu den einzelnen Funktionen der Dogmatik vgl. R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1996, S. 326 ff.
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Dies bedeutet freilich nicht, dass der alte Standard konserviert wird. Im Gegenteil: Er dient vielmehr als Anreiz, bessere Lösungen zu entwickeln. Eine Dogmatik stellt sich dabei gleichsam als gemeinsame Sprache zur Beurteilung der verfassungsrechtlichen Richtigkeit von ergangenen Entscheidungen der Exekutive und Legislative einerseits, aber auch der Judikative in Form einer Kontrolle und Selbstkontrolle der Kontrollinstanz andererseits dar. Die Dogmatik ist das Medium, über das die gemeinsamen und divergierenden Werte kommuniziert werden können. Sie ermöglicht überhaupt erst eine explizite Analyse der Übereinstimmungen und Divergenzen. So trägt die Dogmatik zu erheblichen Rationalitätsgewinnen und in deren Gefolge zu Legitimationsgewinnen bei. Auf Gemeinschaftsebene steckt die Entwicklung einer kohärenten Grundrechtsdogmatik jedenfalls auf der Ebene der EuGH-Rechtsprechung noch in den Kinderschuhen.65 Neben dem bisherigen Fehlen eines rechtsverbindlichen Grundrechtskatalogs liegt hierin ein wesentlicher Grund für die tatsächlichen oder vermeintlichen Defizite im unionsrechtlichen Grundrechtsschutz. Die Entwicklung einer gemeineuropäischen Grundrechtsdogmatik muss dabei nicht von Grund auf erfolgen. Zwar existieren sehr heterogene mitgliedstaatliche Traditionen hinsichtlich der Ausprägung einer Rechtsdogmatik im Allgemeinen und einer Grundrechtsdogmatik im Besonderen. Neben Deutschland verfügen jedoch auch andere Mitgliedstaaten über einen entsprechenden Grundrechtsdiskurs – wie etwa Italien und Spanien – oder sind zumindest im Begriff, einen solchen zu entwickeln – wie z.B. Österreich und zunehmend auch Belgien –, so dass insoweit auf mitgliedstaatliche Erfahrungen zurückgegriffen werden kann. Daneben steht dem unionsrechtlichen Grundrechtsdiskurs der reiche Fundus der Rechtsprechung zur Europäischen Menschenrechtskonvention zur Verfügung, der zahlreiche hochentwickelte dogmatische Figuren und ausdifferenzierte Prüfungsraster enthält. Dabei soll aber die Bedeutung der Dogmatik auch nicht überschätzt werden. Sie ist zum einen nur ein Baustein auf dem Weg zu einem erfolgreichen Grundrechtsschutz in der Europäischen Union. Zum anderen sind die unterschiedlichen Grundrechtskulturen der Mitgliedstaaten bei der Entwicklung des Grundrechtsschutzes zu berücksichtigen. Diese weisen beispielsweise auf eine im Vergleich zur deutschen Grundrechtstradition höhere Zurückhaltung im Hinblick auf die Grundrechtskontrolle der Legislative hin.66
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Bemühungen, deutsche dogmatische Grundrechtsfiguren auf die Gemeinschaftsgrundrechte zu übertragen, gibt es dagegen inzwischen eine ganze Vielzahl, vgl. exemplarisch am Beispiel der Kommunikationsfreiheit J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, 1999, S. 359, und allgemein D. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2005, § 14, Rn. 1 ff. Siehe insb. die französische Tradition, dazu Kühling (Fn. 65), S. 252 ff.
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b) Notwendigkeit der Fortentwicklung der bisherigen Grundrechtsdogmatik des EuGH Nach alledem ist eine Fortentwicklung der bisherigen Grundrechtsdogmatik des EuGH zwingend geboten. Zunächst sprechen insoweit verschiedene rechtliche Erwägungen dafür, in Bezug auf die Erkenntnisquellen eine deutliche Orientierung am Konventionsstandard vorzunehmen, auch wenn – bislang – weder die EG noch die EU unmittelbar an die EMRK gebunden sind. Eine Orientierungsnotwendigkeit ergibt sich aber daraus, dass die EG-Mitgliedstaaten an die EMRK gebunden sind.67 Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Gemeinschaftstreue nach Art. 10 EG, der auch die Gemeinschaftsorgane dazu verpflichtet, auf die Verfassungsstrukturen und völkerrechtlichen Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten Rücksicht zu nehmen,68 ist eine weitgehende Berücksichtigung des Konventionsstandards bei der Entwicklung der Unionsgrundrechte geboten. Dies verpflichtet zwar lediglich dazu, den Konventionsstandard als Minimalstandard zu gewährleisten, spricht jedoch zugleich dafür, aus pragmatischen Gründen auch die Konventionsdogmatik soweit zu übernehmen, wie nicht spezifische Anpassungen an die Besonderheiten der EG erforderlich sind. Auch der leicht ermittelbare und reiche Fundus an Konventionspraxis sowie die in zahlreichen Punkten hohe Güte der konventionsrechtlichen Dogmatik sprechen für ihre weitgehende Übernahme. Außerdem gewährleistet die Orientierung am EMRK-Standard als Minimalstandard eine weit höhere Berechenbarkeit als die nur beschränkt nachvollziehbare Entwicklung der Grundrechtsmaßstäbe aus einer Rechtsvergleichung der mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen heraus. Diese verstärkte Orientierung am EMRK-Standard entspricht auch der gegenwärtigen Rechtsprechungspraxis des EuGH.69 Die Funktionsunterschiede zwischen der auf einen Minimalkonsens angelegten EMRK und der eine höhere Integrationsdichte anstrebenden EU dürfen dabei jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Dies erfordert die zusätzliche Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Grundrechtstraditionen sowie eine Konturierung grundrechtlicher Inhalte, die den Systemimperativen der Unionsverfassung gerecht wird, um so tendenziell eine Grundrechtsverstärkung zu erzielen. Die Grundrechtskonkretisierung muss dabei in kritischer Auseinandersetzung mit der legal community70 erfolgen, wobei gerade die Rechtswissenschaft dazu beitragen muss, die in nationalen Grundrechten verkörperten Werte aufzubereiten und bei der kritischen Begleitung der Grundrechtskonkretisierung durch den EuGH zur Geltung zu brin67
68 69 70
Vgl. zu der Rechtsprechung des EGMR zur Bindung der EU an die EMRK über die Bindung der Mitgliedstaaten EGMR, Nr. 24833/94, Matthews/Großbritannien, ECHR 1999-I, § 32 (= EuZW 1999, S. 308), und v.a. EGMR, Nr. 45036/98, Bosphorus/Irland, ECHR 2005-VI, §§ 149 ff. (= NJW 2006, S. 197); R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 204 ff.; siehe ferner A. H. Parga, Bosphorus v Ireland and the Protection of Fundamental Rights in Europe, ELRev. 31 (2006), S. 251. W. Kahl, in: Calliess/Ruffert (Fn. 33), Art. 10 EG, Rn. 72 m.w.N. Vgl. dazu die statistische Übersicht bei R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 217 f. Eine Aufzählung der zur legal community zählenden Personen gibt J. Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice, 1993, S. 126.
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gen. Im Zentrum der künftigen dogmatischen Entwicklung stehen dabei insbesondere die Bestimmung der horizontalen und vertikalen Reichweite der Grundrechte, d.h. ihre Bindungskraft in Bezug auf die EU- und EG-Organe einerseits ebenso wie in Bezug auf mitgliedstaatliches Handeln andererseits. Seit Erscheinen der Erstauflage sind eine Reihe von Urteilen ergangen, in denen eine erhöhte dogmatische Diskursbereitschaft des EuGH zu erkennen ist. Besonders deutlich wird dies etwa im Urteil zur Familiennachzugs-Richtline.71 In dem Fall ging es um Rechte minderjähriger Kinder von Drittstaatsangehörigen auf Familienzusammenführung und die entsprechende Auslegung der einschlägigen Richtlinie 2003/86/EG am Maßstab des Rechts auf Achtung des Familienlebens. Das Parlament hatte eine Nichtigkeitsklage gegen einige Bestimmungen der Richtlinie beim EuGH eingereicht. 2. Schutzdimensionen der Grundrechte Im Hinblick auf die Klassifikation der Schutzdimensionen kann zwischen Abwehrrechten und Leistungsrechten unterschieden werden.72 Die Leistungsrechte lassen sich weiter in die Schutzgewährrechte, derivative Teilhaberechte und originäre Leistungsrechte ausdifferenzieren. Auch wenn es sich insoweit um Kategorien handelt, die der deutschen Grundrechtsdogmatik entlehnt sind und den Grundrechtslehren anderer Mitgliedstaaten nur bedingt entsprechen, zeigt die bisherige Dogmatik des EuGH, aber insbesondere des EGMR, dass eine parallele Entfaltung auf internationaler und damit auch auf supranationaler Ebene möglich ist. Dies wurde zuletzt im Urteil zur Familiennachzugs-Richtlinie auch vom EuGH klar gestellt. Hier hat das Gericht in ausdrücklicher Anknüpfung an die Rechtsprechung des EGMR deutlich zwischen negativen (Abwehrrechten) und positiven Pflichten (Leistungsrechten) aus Grundrechten unterschieden.73 a) Subjektives Abwehrrecht Im Hinblick auf die Freiheitsrechte steht die klassische Abwehrdimension des Grundrechts im Vordergrund. Die Bezeichnung als ‚klassisch‘ rechtfertigt sich dadurch, dass die Abwehrfunktion auf eine lange Tradition zurückgreifen kann, die erste wesentliche Impulse aus der Aufklärung und dem Liberalismus des 18. Jahrhunderts erhalten hat und die Abwehr unzulässiger Eingriffe der Hoheitsgewalt zum europäisch-atlantischen Kern jeglicher Grundrechtsverbürgung entwickelt hat. Nach den Erfahrungen faschistisch-totalitärer Herrschaft in verschiedenen Staaten Europas hat jene Dimension in diesem Jahrhundert zusätzliche Bekräftigung er71 72
73
EuGH, Rs. C-540/03 (Fn. 12), Rn. 52 ff. Vgl. so auch inzwischen der Ansatz der meisten deutschsprachigen Autoren mit Blick auf die Gemeinschaftsgrundrechte T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 33), Art. 51 EU, Rn. 19 ff.; Ehlers (Fn. 65), § 14 Rn. 22 ff.; H.-D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 5 Rn. 10. EuGH, Rs. C-540/03 (Fn. 12), Rn. 52 ff; dabei soll hier dahinstehen, ob vorliegend die Ermöglichung der Einreise eine positive Pflicht darstellt oder als Eingriffsabwehrkonstellation rekonstruiert werden muss.
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fahren. Dies ist in Form von nachdrücklich subjektivrechtlich ausgerichteten Grundrechtskatalogen besonders offensichtlich in Deutschland, Griechenland, Italien und Spanien.74 Im gemeineuropäischen Rahmen wird dieser Aspekt sinnfällig durch die EMRK, die von dem Gedanken der Abwehr hoheitlicher Grundrechtsgefährdungen des Individuums und durch die entsprechende Gewährung subjektiver Rechte geprägt ist. Demnach kann die Abwehrdimension als klassisch in einem historischen und in einem wesensmäßigen Sinne bezeichnet werden: Sie entspricht nicht nur einer unbestrittenen Tradition, sondern führt den Grundrechtsschutz zu seinem wesentlichen Ziel. Die Grundrechte erreichen in dieser Funktion ihre volle Wirkkraft. Allerdings zeigen die Erkenntnisquellen auch, dass die Verwirklichung der Abwehrdimension keinesfalls in allen Ländern über den konsequenten Weg der Gewährung subjektiver Rechte verwirklicht wird. Insbesondere in Frankreich wird der Individualschutz grundsätzlich über die Reflexwirkung objektiver Rechtsprinzipien erreicht. Die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung ist aus historischen Gründen an einem objektiven Schutzzweck ausgerichtet. Schließlich ist in der Verfassungstradition Frankreichs der Gesetzgeber lange Zeit uneingeschränkt als Garant und nicht als potenzielle Bedrohung der Grundrechte angesehen worden, obschon sich insoweit ein Wandel vollzieht.75 Dennoch kann auch der Rechtsprechung des EuGH diese subjektivrechtliche Prägung des Grundrechtsschutzes entnommen werden.76 Von fundamentaler Bedeutung ist insoweit das Grundsatz-Urteil des EuGH im Fall van Gend & Loos, in dem der Gerichtshof feststellte, dass das Gemeinschaftsprimärrecht den Einzelnen als Rechtsinhaber ansieht.77 Denn erst die Anerkennung der Rechtsubjektsqualität des Individuums ermöglicht die Entwicklung entsprechender grundrechtlicher Individualrechtspositionen. b) Schutzpflichten und ihre gerichtliche Durchsetzbarkeit (Schutzgewährrechte) Trotz der primär abwehrrechtlichen Funktion der Freiheitsrechte weisen diese zugleich eine objektive Schutzpflichtendimension auf. Dabei bestehen zwei unterschiedliche dogmatische Konstruktionsmöglichkeiten. Zum einen kann der Eingriffsbegriff ausgedehnt und die staatliche Billigung privater Grundrechtsbeeinträchtigung als staatlicher Eingriff qualifiziert werden. Zum anderen können objektive Schutzpflichten aus den Grundrechten abgeleitet werden, die sich in spezifischen Fällen zu konkreten Handlungspflichten verdichten und dann mit entsprechenden Rechten des Individuums auf hoheitliches Tätigwerden korrespondieren
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Vgl. die Hinweise bei Kühling (Fn. 65), S. 207, 303, 310 f., 338. Siehe die Ausführungen bei Kühling (Fn. 65), S. 252 ff. Dazu ausführlich mit zahlreichen Nachweisen T. Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, S. 3 (25 ff.), demzufolge allerdings die besseren Gründe für den Schluss sprechen, dass der EuGH doch der französischen, objektivrechtlichen Konstruktion folgt, was künftig zu ändern sei, ebd., S. 42. EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 3, 23 ff.
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(Schutzgewährrechte). Dann können auch dogmatische Verbindungslinien zu Leistungsrechten gezogen werden. Der EGMR hat in seinem Urteil Hatton zu staatlichen Handlungspflichten diese beiden Konstruktionsoptionen explizit thematisiert und zu Recht darauf hingewiesen, dass die jeweiligen Rechtfertigungsmaßstäbe für den hoheitlichen Grundrechtseingriff bzw. den möglichen Verstoß gegen staatliche Handlungspflichten vergleichbar sind.78 Dennoch bevorzugt der EuGH die Schutzpflichtenkonstruktion.79 Dieser Konstruktion ist auch für die Unionsgrundrechtsdogmatik zu folgen, da so die Besonderheit jener Konstellation und damit zugleich die besonderen Grenzen der diesbezüglichen Grundrechtskontrolle thematisiert werden. Der EuGH kann bei der Entwicklung der Schutzpflichtendimension auf seine parallele Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten zurückgreifen.80 Im Übrigen lassen sich auch einige Ansätze in der bisherigen Grundrechtsjudikatur in dieser Hinsicht interpretieren, wie etwa das Urteil Familiapress zur Pluralismussicherung.81 Auch im Promusicae-Urteil hat der EuGH jüngst die Möglichkeit einer Schutzpflicht aus der Eigentumsfreiheit jedenfalls dem Grunde nach anerkannt, auch wenn er im konkreten Fall den Ausgleich zwischen einer eigentumsrechtlich begründeten Schutzpflicht und einem gegenläufigen Datenschutzgrundrecht bzw. einem allgemeinen Persönlichkeitsrecht den innerstaatlichen Gerichten und Behörden überlassen hat.82 Damit können den Grundrechten auch Schutzpflichten entnommen werden, die sich im Einzelfall zu gerichtlich einklagbaren Schutzgewährrechten verdichten lassen. In diesem Kontext ist auch die Frage der so genannten Drittwirkung der Grundrechte, also ihrer Bindungswirkung gegenüber Privaten, zu betrachten. So können hoheitliche Schutzpflichten gegenüber Handlungen Privater aktiviert werden, ohne dass es der fragwürdigen Konstruktion einer Bindung Privater bedürfte.83 In horizontaler Gewaltenteilungsperspektive muss jedoch berücksichtigt werden, dass es sich bei der Formulierung derartiger Pflichten um einen empfindlichen Eingriff in die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bzw. der Exekutive handelt. Es besteht die Gefahr, dass diese zum Ausführungsorgan verfassungsrecht78
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EGMR (Kammer), Nr. 36022/97 (Fn. 45), § 96; EGMR (GK), Nr. 36022/97, Hatton u.a./ Großbritannien, EuGRZ 2005, S. 584, Rn. 98 und 119; vorher bereits EGMR, Nr. 16798/90, López Ostra/Spanien, Ser. A Nr. 303-C, § 51. EGMR (Kammer), Nr. 36022/97 (Fn. 45), § 95; EGMR (GK), Nr. 36022/97 (Fn. 78), § 98. Siehe grundlegend EuGH, Rs. C-265/95, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-6959, Rn. 30 ff.; dazu P. Sczczekalla, DVBl. 1998, S. 219 (221 ff.); siehe ferner später EuGH, Rs. C-112/ 00, Schmidberger, Slg. 2003, I-5659, Rn. 57; C. Calliess, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR II, 2006, § 44, Rn. 17; M. Borowsky, in: J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2006, Art. 51, Rn. 31. EuGH, Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, I-3689, Rn. 26; J. Kühling, Grundrechtskontrolle durch den EuGH: Kommunikationsfreiheit und Pluralismussicherung im Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 1997, S. 296 (301). EuGH, Rs. C-275/06, Promusicae, Slg. 2008, I-271, Rn. 61 ff. Dies ist auch der Ansatz im erwähnten Urteil EGMR (Kammer), Nr. 36022/97 (Fn. 45), des EGMR; siehe dazu auch Kühling (Fn. 65), S. 379 ff.; noch strenger Kingreen (Fn. 72), Rn. 18 m.w.N. auch zur gegenteiligen Auffassung.
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licher Schutzimperative herabgestuft werden.84 Daher kann grundsätzlich nur die Pflicht zur Ergreifung effektiver Maßnahmen, nicht aber zur Durchführung bestimmter Handlungen angenommen werden, sofern nicht nur eine Handlung effektiv ist. Die Entfaltung konkreter Schutzpflichten muss dabei allerdings in Bezug auf die einzelnen Grundrechte erfolgen und deren jeweilige Bedeutung für das Individuum ebenso wie die betroffenen Aktivitäten berücksichtigen. Insoweit ist auch die Entwicklung eines Grundrechtsschutzes durch Verfahrensvorkehrungen angezeigt. So kann etwa in Bezug auf das wichtige Grundrecht auf eine gesunde Umwelt eine Untersuchungspflicht im Fall von erwarteten Grundrechtsgefährdungen angenommen werden, wie dies der EGMR anerkannt hat.85 Allerdings dürfte die in Art. 37 GR-Charta formulierte Umweltschutzbestimmung als bloße Zielbestimmung aufzufassen sein, die lediglich eine allgemeine Zielvorgabe enthält und nur begrenzt als Anknüpfungspunkt für konkrete hoheitliche Handlungspflichten fungieren kann.86 In der Perspektive der vertikalen Gewaltenteilung ist darauf hinzuweisen, dass die Union anders als ein Staat keine umfassende Schutzpflicht gegenüber den der Unionsgewalt unterliegenden Bürgern trifft, da sie nur über einen beschränkten Kompetenzkanon verfügt. Dies verhindert zwar nicht die Berücksichtigung von Schutzpflichten bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, auch wenn die EU insoweit über keine Kompetenzen verfügt. So kann beispielsweise die Pflicht zur Pluralismussicherung im Rahmen der Grundfreiheiten wie im Fall Familiapress87 oder etwa in der Fusionskontrolle88 und der Telekommunikations-Rahmenrichtlinie89 berücksichtigt werden. Allerdings können die EU- bzw. EG-Organe zu konkreten Handlungen nur im Rahmen ihrer Kompetenzen und die Mitgliedstaaten nur im Rahmen des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts verpflichtet werden.
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So C. D. Classen, Die Ableitung von Schutzpflichten des Gesetzgebers aus Freiheitsrechten, JöR n.F. 36 (1987), S. 44, in Bezug auf die Legislative. Vgl. EGMR (Kammer), Nr. 36022/97 (Fn. 45), §§ 97 ff.; EGMR (GK), Nr. 36022/97 (Fn. 78), §§ 99 ff. und § 128. Die Unionsgrundrechtsdogmatik wird auch hier gefordert sein, die verschiedenen Bedeutungsgehalte der unterschiedlich formulierten Bestimmungen der Art. 35, 37 und 38 GRCharta zum Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz zu entwickeln. So sieht Art. 35 S. 1 GR-Charta eine schärfere Formulierung vor, da sie von einem „Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorgabe und auf ärztliche Versorgung“ spricht. In Art. 35 S. 2 GR-Charta ist dagegen wie in den übrigen Normen nur von einem hohen Gesundheitsschutzniveau bei den Politiken der Union die Rede. EuGH, Rs. C-368/95 (Fn. 81). Siehe dazu D. Frey, Die europäische Fusionskontrolle und die Medienvielfalt, ZUM 1998, S. 985. Siehe zu Art. 8 Abs. 2 lit. d der Richtlinie 2002/21/EG J.-D. Braun/R. Capito, in: C. Koenig u.a. (Hrsg.), EC Competition and Telecommunications Law, 2002, S. 310 mit Fn. 6.
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c) Derivatives Teilhaberecht Aus der Gleichheitsrechtsdogmatik des EuGH lässt sich die teilhaberechtliche Komponente als weitere Funktion der Grundrechte ableiten. So hat der EuGH darauf verwiesen, dass die Anerkennung eines bestimmten Rechtes unter dem Blickwinkel des Gleichheitssatzes die Ausdehnung des Rechtes auf eine vergleichbare Gruppe verlangt.90 Es handelt sich um derivative Teilhaberechte, weil erst und nur aus der Berechtigung einer Gruppe die eigene Berechtigung abgeleitet werden kann. Die Grundrechte-Charta sieht eine ganze Reihe von Normen vor, die als derartige derivative Teilhaberechte gelesen werden können. Dies gilt etwa für das Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst nach Art. 29 und das Recht auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse gemäß Art. 36. Aber auch die klassischen Abwehrrechte können teilhaberechtliche Komponenten aufweisen. So hat der EGMR im Urteil VDSÖ in Bezug auf die Kommunikationsfreiheit ausgeführt, dass die behördliche Verweigerung des Rechts auf Beteiligung an einem Zeitschriftenverteilsystem den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 10 EMRK verletzt.91 Damit ist zumindest eine derivative Teilhabedimension impliziert.92 Es kann also festgehalten werden, dass auch für die Grundrechtsdogmatik der Union teilhaberechtliche Elemente aus den einzelnen Grundrechten entwickelt werden können. d) Originäres Leistungsrecht Einen Schritt weiter gehen originäre Leistungsrechte. Diese gewähren Ansprüche auf hoheitliche Leistungen, auch wenn diese bislang rechtlich nicht vorgesehen sind. Die genannten Bestimmungen der Art. 29 und 36 GR-Charta, die sich als Teilhaberechte lesen lassen, können auch als originäre Leistungsrechte verstanden werden. Das gilt für die in Art. 47 Abs. 3 GR-Charta genannte Gewährung von Prozesskostenhilfe oder das in Art. 34 Abs. 3 GR-Charta normierte Recht auf soziale Unterstützung gleichermaßen. Ähnliche Schutzkomponenten lassen sich auch den allgemeinen Grundrechten entnehmen, wie die Ableitung des Anspruchs auf Prozesskostenhilfe aus dem Recht auf gerichtliches Gehör nach Art. 6 EMRK zeigt.93 Danach begründen die betreffenden Normen entsprechende Ansprüche, auch wenn
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Siehe exemplarisch in Bezug auf das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EG EuGH, Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, Rn. 10 ff.; dazu kritisch M. Rossi, Das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EG, EuR 2000, S. 197 (215), der darauf hinweist, dass alternativ der Ausschluss beider Gruppen von dem Recht ebenso wie eine gleiche aber andersartige Behandlung in Betracht kommt und dass das Vorgehen des EuGH diese mitgliedstaatlichen Handlungsspielräume unnötig einschränkt; vgl. jetzt auch M. Rossi, in: Calliess/Ruffert (Fn. 33), Art. 20 GR-Charta, Rn. 29 f. EGMR, Nr. 15153/89, Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs/Österreich, Ser. A Nr. 302, §§ 37 ff., 49. So auch M. Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997, S. 62. EGMR, Nr. 11932/86, Granger/Großbritannien, Ser. A Nr. 174, §§ 44 ff.; EGMR, Nr. 18711/ 91, Boner/Großbritannien, Ser. A Nr. 300-B, §§ 30 ff.; EGMR, Nr. 19380/92, Benham/Großbritannien, ECHR 1996-III, §§ 60 ff.
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derartige Garantien im übrigen Gemeinschaftsrecht bzw. im Recht der Mitgliedstaaten nicht vorgesehen sind. Hier ist die Grundrechtsdogmatik besonders gefordert, den teilhaberechtlichen Kern von der originär leistungsrechtlichen Schicht zu unterscheiden und verschiedene Standards zu entwickeln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass originäre Leistungsrechte auf nur beschränkte verfassungsrechtliche Traditionen zurückblicken können. Sie bedingen besonders empfindliche Eingriffe in die exekutive, vor allem aber legislative Einschätzungsprärogative, da sie zu Belastungen öffentlicher Haushalte führen und damit die parlamentarische Budgethoheit beschränken. Daher ist bei ihrer Entfaltung besondere Zurückhaltung geboten. Im Übrigen gelten ebenso wie im Hinblick auf die Ausführungen zu den Schutzpflichten die Kompetenzschranken in vertikaler Perspektive. Ferner wird im Zuge der Rechtsprechung zur Grundrechte-Charta die Frage zu beantworten sein, wie streng die bereits angesprochenen Schutzklauseln in einer Reihe von Charta-Grundrechten aufzufassen sind. So wird sich etwas mit Blick auf das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen in Art. 28 GRCharta die Frage stellen, ob der EuGH hier entgegen der dem Wortlaut nach bewussten Beschränkung auf den status quo im Gemeinschaftsrecht bzw. im innerstaatlichen Recht im Wege einer Aktivierung von Grundrechtspositionen jenen status quo ausbauen wird. Insoweit dürfte es jedoch näher liegen, dass der EuGH diesbezüglich auf die Grundrechte in Form der allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückgreift.94 3. Grundrechtsverpflichtete Als Grundrechtsverpflichtete kommen neben den Organen der EU und EG (a) auch die mitgliedstaatlichen Gewalten in Betracht (b). Die Bindung Privater (so genannte Drittwirkung) lässt sich dagegen dogmatisch überzeugender im Rahmen der hoheitlichen Schutzpflichten rekonstruieren.95 a) Bindung der Organe der EG und der EU Ohne Widerstand der Gemeinschaftsorgane hat sich ihre Bindung an die Unionsgrundrechte in der Rechtsprechung des EuGH etabliert. Die Verpflichtung gilt dabei sowohl für abstrakt-generelles als auch für konkret-individuelles Gemeinschaftshandeln.96 Von den nationalen Instanzen, insbesondere von den Gerichten wie dem BVerfG und der italienischen Corte Costituzionale, wurde diese Entwicklung nicht
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Vgl. dazu auch S. Krebber, in: Calliess/Ruffert (Fn. 33), Art. 28 GR-Charta, Rn. 8. Siehe dazu oben die Hinweise in Abschn. 2. b). Im Hinblick auf abstrakt-generelles Gemeinschaftshandeln grundlegend die Urteile EuGH, Rs. 11/70 (Fn. 31), Rn. 4, und Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727, Rn. 13 ff., in denen es um die Kontrolle von Verordnungen ging; hinsichtlich konkret-individuellen Gemeinschaftshandelns grundlegend Rs. 4/73, Nold/Kommission, Slg. 1974, 491, Rn. 12 ff.; hier war eine Kommissions-Entscheidung zu prüfen.
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nur begrüßt, sondern sogar mitinspiriert und eingefordert.97 Die Bindung der EUOrgane ist nunmehr in Art. 6 Abs. 2 EU festgelegt.98 b) Bindung der Mitgliedstaaten als Determinante der vertikalen Reichweite der Unionsgrundrechte aa) Die Position des EuGH – Grundrechte im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts: agency situation und Beschränkungen der Grundfreiheiten Erst in einer späteren Phase der Grundrechtsjudikatur des EuGH ist dagegen die schwieriger zu beurteilende Frage aufgeworfen worden, inwieweit auch die Mitgliedstaaten in ihrem Handeln an Unionsgrundrechte gebunden sind. Diese Frage ist der Dreh- und Angelpunkt der wichtigen Diskussion um die künftige Reichweite der Unionsgrundrechte in vertikaler Perspektive.99 Die Rechtsprechungsentwicklung des EuGH ist in dieser Hinsicht offensichtlich noch nicht an ihrem Endpunkt angelangt.100 Dennoch deuten sich bereits wichtige Grundlinien an. Zunächst folgt der EuGH weder dem Ansatz einer vollständigen Grundrechtskontrolle mitgliedstaatlichen Handelns noch einer vollständigen Abweisung einer derartigen Prüftätigkeit. Vielmehr beschreitet der EuGH einen Mittelweg und geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass dann, wenn eine Regelung „in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt“, eine Grundrechtskontrolle am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte zu erfolgen hat.101 Damit stellt sich als zentrale Frage, wann eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt. Die potenzielle Reichweite der Bindung der Mitgliedstaaten ist angesichts der ausufernden Regelungsbreite des Gemeinschaftsrechts außerordentlich umfangreich. Zwei Situationen, in denen eine solche Bindung zu bejahen ist, zeichnen sich bislang in der Rechtsprechung des EuGH ab. Der eine Fall betrifft die Umsetzung sekundären Gemeinschaftsrechts ebenso wie den Verwaltungsvollzug von Gemeinschaftsrecht. Weiler spricht insoweit griffig von einer „agency situation“102. Die mitgliedstaatlichen Organe handeln in Ausführung oder Umsetzung eines vom Gemeinschaftsrecht initiierten Aktes. Explizit formuliert hat der EuGH diese Recht97
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Im Hinblick auf das BVerfG ist vor allem die bekannte Solange-Formulierung des SolangeI-Beschlusses vom 29.05.1974 zu nennen, BVerfGE 37, 271 (285) – Solange I. Sie impliziert eine solche Forderung, vgl. Kühling (Fn. 81), S. 299 bei Fn. 37. Siehe oben, II. 1. Dazu grundlegend W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2003, S. 35. Vgl. auch ausführlich J. Cirkel, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2000, S. 27. Erstmals in EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Rn. 42; bestätigt unter anderem in Rs. C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children Ireland, Slg. 1991, I-4685, Rn. 31, und Rs. C-2/92, Bostock, Slg. 1994, I-955, Rn. 16. J. H. H. Weiler, Fundamental Rights and Fundamental Boundaries: On Standards and Values in the Protection of Human Rights, in: N. A. Neuwahl u.a. (Hrsg.), The European Union and Human Rights, 1995, S. 51 (67 ff.).
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sprechung zuerst im Fall Wachauf, in dem es um die Durchführung einer Verordnung im Milchsektor ging.103 Letztlich lag dieser Ansatz aber schon dem ersten Urteil der Grundrechtsjudikatur des EuGH zugrunde, in dem der Gerichtshof nur in einem obiter dictum eine Grundrechtskontrolle andeutete und den Mitgliedstaat zu einer Anwendung einer Kommissionsentscheidung verpflichtete, die nicht die Grundrechte des Individuums verletzt.104 Jene Bindung der Mitgliedstaaten muss dann aber ebenso für die Umsetzung einer Richtlinie gelten.105 Im Hinblick auf mitgliedstaatliche Maßnahmen beim Verwaltungsvollzug kann das Urteil Hoechst angeführt werden. Hier wies der EuGH darauf hin, dass bei der Unterstützung des Verwaltungsvollzugs der Kommission durch mitgliedstaatliche Behörden auch Letztere in ihrem Handeln an die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte gebunden sind.106 Schon früh hat sich sodann die Frage gestellt, inwieweit diese Kategorie dahin ausgedehnt werden kann, dass die angefochtene staatliche Maßnahme zwar nicht die Umsetzung sekundären Gemeinschaftsrechts zum Inhalt hat, aber ein klarer Bezug dazu vorliegt.107 Seit dem Urteil ERT unterliegt eine zweite Kategorie von mitgliedstaatlichen Maßnahmen der Grundrechtskontrolle durch den EuGH. So stellte der Gerichtshof fest, dass im Fall einer mitgliedstaatlichen Berufung auf die Ausnahmeklausel einer Grundfreiheit die Rechtfertigung im Lichte der Grundrechte ausgelegt werden müsse.108 Diese Rechtsprechung hat der EuGH auf den Fall der immanenten Schranken der Grundfreiheiten, d.h. der „zwingenden Erfordernisse“ im Rahmen des Art. 28 EG und dem „überwiegenden Allgemeininteresse“ im Rahmen des Art. 49 EG ausgedehnt.109
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EuGH, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, 2609, bestätigt im Urteil Bostock: Rs. C-2/92 (Fn. 101). EuGH, Rs. 29/69 (Fn. 24), Rn. 4 ff. In diese Richtung kann auch schon das frühere Urteil im Fall Johnston verstanden werden, EuGH, Rs. 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1651, in dem es um die Kontrolle der Effektuierung einer Richtlinie im nationalen Recht ging; dazu J. H. H. Weiler/N. Lockhart, „Taking Rights Seriously“ Seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence, CMLRev. 32 (1995), S. 579 (609). EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, 5. Leitsatz und Rn. 33. Vgl. Fn. 105; dazu R. Lawson, The European Court of Justice and Human Rights, Leiden Journal of International Law 5 (1992), S. 99 (105 f.); vgl. ferner die Ausführung des EuGH in Rs. C-299/95, Kremzow, Slg. 1997, I-2629, Rn. 15 ff., dass die angewandten innerstaatlichen Bestimmungen „nicht dazu bestimmt sind, die Beachtung gemeinschaftsrechtlicher Normen sicherzustellen“; diese Passage stellt auch M. Holoubek, Anmerkungen zum Urteil des EuGH vom 29.05.1997, JBl. 1998, S. 237, heraus und sieht darin eine mögliche allgemeine Kategorie angelegt. EuGH, Rs. C-260/89 (Fn. 101), Rn. 42 ff.; bestätigt in Rs. C-62/90, Kommission/Deutschland, Slg. 1992, I-2575, Rn. 23. EuGH, Rs. C-23/93, TV10, Slg. 1994, I-4795, Rn. 22 ff.; Rs. C-368/95 (Fn. 81), Rn. 24.
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bb) Künftige Festigung des EuGH-Standpunktes Die Grundrechtskontrolle im Fall der agency situation ist weitgehend anerkannt. Umstritten ist allerdings die Prüfung bei der Richtlinienumsetzung.110 Zum Teil wird bei der bloßen Ausschöpfung von Umsetzungsspielräumen der mitgliedstaatliche Grundrechtsschutz als genügend angesehen, während im Hinblick auf den zwingend vorgegebenen Teil der Richtlinie auf die Bindung der Gemeinschaftsorgane verwiesen wird. Während Letzteres zutrifft, ist Ersteres zumindest fragwürdig. So spricht zwar die Konzeption der Richtlinie, die nach Art. 249 Abs. 3 EG den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Zielvorgaben einen Spielraum lässt, für einen Raum zur Berücksichtung nationaler – auch grundrechtsrelevanter – Eigenheiten. Auch kommt man so zu einer klaren Abtrennung der Rechtssphären mit einer allein nationalstaatlichen Kontrolle des Umsetzungsspielraums und einer (allein) gemeinschaftsrechtlichen Kontrolle des richtliniendeterminierten Teils.111 Dennoch handelt es sich bei richtlinienbedingten mitgliedstaatlichen Maßnahmen um solche, die durch das Gemeinschaftsrecht veranlasst wurden. Ohne den gemeinschaftsrechtlichen Ausgangsakt käme es in zahlreichen Fällen nicht zu einem grundrechtsgefährdenden mitgliedstaatlichen Handeln. Dies spricht dafür, dass die Mitgliedstaaten auch bei den im Rahmen der Ausschöpfung des Umsetzungsspielraums von Richtlinien erfolgenden Grundrechtseingriffen den Gemeinschaftsgrundrechtsstandard wahren müssen, unabhängig von dem (nicht notwendig vorhandenen) Parallelschutz durch mitgliedstaatliche Grundrechte. Nur so wird ein unionsweiter, einheitlicher Grundrechts(mindest)standard gegenüber gemeinschaftsrechtlich veranlassten Grundrechtseingriffen gewährleistet. In der agency situation erlangt der Betroffene einen Grundrechtsschutz nicht nur gegenüber direkten Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane, sondern auch gegenüber solchen, die von den Gemeinschaftsorganen zwar veranlasst worden sind, die aber für ihre Realisierung nationale Organe benötigen. Ebenso erhält der Bürger die Garantie dafür, dass Rechte, die ihm durch das Gemeinschaftsrecht gewährt werden, in einer gemeinschaftsgrundrechtskonformen Art und Weise in nationales Recht umgesetzt werden. Von diesem Ansatz ausgehend ist auch der Rechtsprechung zu der Gemeinschaftsgrundrechtskontrolle im Rahmen der Schranken-Schranken der Grundfreiheiten zu folgen. Zwar ist einzuräumen, dass die allgemein angeführten Argumente (Vorrang des Gemeinschaftsrechts; Einheitlichkeit der Rechtsanwendung; effektiver Rechtsschutz112) dieses Ergebnis nicht zwingend begründen. Aber auch das Argument, dass es sich bei den Schranken um Ausnahmebereiche der Mitgliedstaaten und damit um gemeinschaftsgrundrechtsfreie Räume handelt,113 entpuppt sich bei 110 111 112 113
Hierzu auch J. Bast, in diesem Band, S. 505. Prononciert insoweit Kingreen (Fn. 53), Rn. 12. Dazu M. Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, EuGRZ 1995, S. 518 (523). So aber T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 168.
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näherem Hinsehen als ein Zirkelschluss, da das zu Begründende vorausgesetzt wird. Letztlich ist darauf abzustellen, dass die Grundfreiheiten Rechte verleihen, die Bestandteil des Gemeinschaftsrechts sind, und damit – wie das übrige Gemeinschaftsrecht – einer gemeinschaftsgrundrechtskonformen Auslegung auch im Hinblick auf ihre Beschränkungsmöglichkeiten unterliegen.114 Der notwendige Spielraum der Mitgliedstaaten kann hier wie bei der Kontrolle des Ausfüllens der Umsetzungsspielräume bei Richtlinien im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gewahrt werden. Die Ausdifferenzierung des Kontrollstandards kann insoweit im Wege einer adaptierten Übernahme des konventionsrechtlichen Konzepts der margin of appreciation erfolgen.115 Diese Auseinandersetzung wird im Rahmen der Anwendung der GrundrechteCharta einen neuen Akzent dadurch bekommen, dass Art. 51 Abs. 1 S. 1 GR-Charta lediglich auf die „Durchführung des Rechts der Union“ Bezug nimmt und damit möglicherweise den Fall der Beschränkungen der Grundfreiheiten nicht erfassen möchte. Andererseits verweisen die nach Art. 52 Abs. 7 GR-Charta zu berücksichtigenden Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtskonvents ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EuGH, was für eine Beibehaltung beider Konstellationen spricht.116 Sollte Art. 51 Abs. 1 S. 1 GR-Charta dagegen tatsächlich entgegen der bisherigen Rechtsprechung interpretiert werden, gäbe es einen weiteren Anlass, parallel auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die dazu etablierte Rechtsprechung zurückzugreifen. Dies würde die unerfreuliche Zweiteilung von Chartagrundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen weiter forcieren. cc) Erweiterung der bisherigen Fallkategorien? Über die Festigung dieses bisherigen Standpunktes hinaus zeichnet sich gegenwärtig ein Ausbau der Rechtsprechungslinie durch den EuGH ab. Dabei sind beide Situationen betroffen. Interessant und durchaus überzeugend ist insoweit das Urteil Steffensen.117 Hier ging es um die Frage der prozessrechtlichen Konsequenzen bei der Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben. Der EuGH hat in seiner Entscheidung an die etablierten Prüfungsschritte der Gleichwertigkeit und Effektivität des mitgliedstaatlichen Prozessrechts eine grundrechtliche Prüfung angeschlossen. Damit wird eine durchaus vertretbare Erweiterung der Ausführungskonstellation bewirkt.118 Zudem werden Gesichtspunkte, die bisher verdeckt im Rahmen der Gleichwertigkeits- und Effektivitätsprüfung von Prozessgrundrechten zur Durch114 115
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Siehe auch Schilling (Fn. 76), S. 34 f. Siehe dazu mehr unten, 5. c) cc) (4); abzulehnen ist dagegen die von Ruffert (Fn. 112), S. 529, vorgeschlagene Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle. Vielmehr muss jedenfalls der EMRK-Standard gewahrt werden; noch weitergehend hält U. Schildknecht, Grundrechtsschranken in der Europäischen Gemeinschaft, 2000, S. 225, die Anwendung einheitlicher Standards für sinnvoll. Dazu Kingreen (Fn. 53), Rn. 17 m.w.N., und D. H. Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, S. 162 (181 ff.). EuGH, Rs. C-276/01, Steffensen, Slg. 2003, I-3735, Rn. 69 ff. Positiv auch die Bewertung von Scheuing (Fn. 116), S. 179, der insoweit von einer „Rechtsschutzgefährdungskonstellation“ spricht.
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setzung gemeinschaftsrechtlich induzierter Rechte berücksichtigt wurden, in einen expliziten Grundrechtsdiskurs verlagert. Das ist zu begrüßen. Während Fälle wie Carpenter119 die Logik der zweiten Konstellation fortschreiben, bleibt der Fall Karner rätselhaft.120 Hier ist der Gerichtshof zu einer – im Übrigen äußerst oberflächlichen – Prüfung der Grundrechte gelangt, obwohl er zuvor die Anwendung der Grundfreiheiten unter Aktivierung der Keck-Formel abgelehnt hat. Woher kommt dann aber die Verbindung zum Gemeinschaftsrecht? Bislang war die Keck-Rechtsprechung ja so zu verstehen, dass schon gar nicht der Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit eröffnet ist. In diesem Sinne formuliert auch der EuGH im Fall Karner, in dem er darauf hinweist, dass die vorliegende Regelung gerade nicht geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel zu behindern. Dann besteht aber auch kein Anlass, eine Grundrechtsprüfung durchzuführen. Denn die Grundrechte finden ja auch dann keine Anwendung, wenn der Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit aus anderen Gründen als jenen der Keck-Rechtsprechung nicht eröffnet ist. Rechtfertigen könnte man die Grundrechtsprüfung nur dann, wenn der EuGH der – wenig überzeugenden – Ansicht wäre, dass in der Keck-Konstellation sehr wohl zunächst der Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit eröffnet ist und erst in einem zweiten Schritt durch die Keck-Rechtsprechung wieder eingeschränkt wird.121 Sollte dies nicht der tragende Grund gewesen sein, kann man nur hoffen, dass insoweit ein Missgriff vorliegt. Dieser ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen zum Fall Karner eine hilfsweise Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Warenverkehrsfreiheit für den Fall durchgeführt hat,122 dass der Gerichtshof zu einer anderen Beurteilung der Eröffnung des Anwendungsbereichs der Warenverkehrsfreiheit kommt.123 Völlig unabhängig davon zeigen sich jedoch an dieser Stelle besonders plastisch die negativen Konsequenzen des Dogmatikdefizits beim EuGH. 119
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EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279, Rn. 40 ff; hier mag man darüber streiten, ob die Dienstleistungsfreiheit überhaupt eröffnet war, die anschließende Grundrechtsprüfung ist jedoch nur konsequent. Scheuing (Fn. 116), S. 165 f., deutet das Urteil wohl angemessen dahin, dass es im Ergebnis darum ging, einen Einstieg in eine Grundrechtsprüfung zu konstruieren; siehe dort auch die zutreffende Einordnung des Urteils verb. Rs. C-465/00 und C-139/01, ORF, Slg. 2003, I-4989, Rn. 68 ff., als Fall einer grundrechtskonformen Richtlinienauslegung, Scheuing (Fn. 116), S. 172 f. Auch in der Rs. C-144/04, Mangold, Slg. 2005, I-9981, Rn. 75, ist keine Erweiterung vorgenommen worden, da es auch hier um die Wirkung einer Richtlinie (im Wege einer Vorwirkung) und damit um eine Ausführungssituation ging; unklar ist, ob die Fälle Rs. C-458/03, Parking Brixen, Slg. 2005, I-8612, Rn. 47 ff. und Rs. C410/04, ANAV, Slg. 2006, I-3303, Rn. 19 ff. eine Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung insoweit darstellen, als hier das Gleichheitsrecht vom EuGH offensichtlich nicht als Schranken-Schranke, sondern bereits auf Schutzbereichsebene parallel zur Grundfreiheit geprüft wird. EuGH, Rs. C-71/02, Karner, Slg. 2004, I-3025, Rn. 44. So J. Stuyck, Anm. zu Rs. C-71/02, CMLRev. 41 (2004), S. 1683 (1695). GA Alber zu EuGH, Rs. 71/02 (Fn. 121), Nr. 68 ff. Zu einer solchen Spekulation auch Scheuing (Fn. 116), S. 174 f.
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Letztlich fehlt der gesamten Rechtsprechung des EuGH zur vertikalen Reichweite der Grundrechte jegliche explizite Reflektion der sie tragenden Gründe. So ist die künftige Entwicklung dieser Rechtsprechung kaum zu extrapolieren, ein kritischer Diskurs wird nachhaltig erschwert und sogar Spekulationen über eine ‚ungewollte‘ Rechtsprechungsentwicklung erhalten Nahrung. In der Sache ist jegliche Ausdehnung der Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte über die aufgezeigten Fallkonstellationen hinaus beim gegenwärtigen Stand der Integration im Übrigen grundsätzlich abzulehnen. Das gilt insbesondere für die von Generalanwalt Jacobs im Fall Konstantinidis vorgeschlagene Erweiterung auf eine umfassende Bindung mitgliedstaatlicher Handlungen gegenüber Angehörigen fremder Mitgliedstaaten, die sich auf dem nationalen Territorium bewegen.124 Erst recht würde aber eine vollständige Bindung der mitgliedstaatlichen Handlungen, wie sie sich in den U.S.A. seit dem Urteil Gitlow v. New York etabliert hat,125 einen fundamentalen Schritt hin zu einer föderalen Ordnung bedeuten, der sich nicht aus dem Primärrecht herleiten lässt. Er müsste von einem politischen Impuls in Form eines gleichfalls die Reichweite entsprechend weit ziehenden Grundrechtskatalogs getragen sein. Andernfalls sind erhebliche Desintegrationsgefahren zu erwarten.126 Auch die inzwischen eingespielte komplementäre Aufgabenwahrnehmung zwischen den nationalen, internationalen und supranationalen Grundrechtsinterpreten würde unnötig gefährdet.127 Die Grundrechte-Charta bindet aber in Art. 51 Abs. 1 die Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte nur bei der Durchführung des Rechts der Union. Aus dieser Formulierung lassen sich jedenfalls keine Erweiterungstendenzen ableiten. Eine Ausdehnung der beiden Kategorien etwa in der agency situation auf solche Konstellationen, in denen zwar nicht eine Richtlinie umgesetzt wird, aber ein enger 124
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GA Jacobs hatte dann einen hinreichenden Bezug zum Gemeinschaftsrecht angenommen, wenn sich ein Unionsbürger in einem fremden Mitgliedstaat aufhält. Jener migrierende civis europaeus solle in jedem Mitgliedstaat die vollen Gemeinschaftsgrundrechte geltend machen können, ohne dass ein weiterer Bezug zum Gemeinschaftsrecht gegeben sein müsse: zu EuGH, Rs. C-168/91, Konstantinidis, Slg. 1993, I-1198, Nr. 46; ebenso F. Jacobs, European Community Law and the European Convention on Human Rights, in: N. Blokker (Hrsg.), Towards More Effective Supervision by International Organizations, Bd. II, 1994, S. 561 (564); der EuGH nahm zu dieser Auffassung nicht Stellung und folgte ihr im Ergebnis nicht, da der Gerichtshof einen wirtschaftlichen Nachteil als Verbindung zum Gemeinschaftsrecht verlangte, Rs. C-168/91, Konstantinidis, Slg. 1993, I-1191, Rn. 13 ff.; dazu kritisch R. Lawson, Anm. zu Rs. C-168/91, CMLRev. 31 (1994), S. 395 (406 f.). Gitlow v. People of the State of New York, 268 US 652, 45 S.Ct. 625, 69 L.Ed. 1138 (1925); vgl. dazu ausführlich M. Shapiro, Freedom of Expression – Transnational and State Interactions in the American Experience, in: M. Cappelletti u.a. (Hrsg.), Integration Through Law, Bd. I/3, 1986, S. 249. Dies hat zuletzt die vehemente Kritik von R. Herzog/L. Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ, 8.9.2008, S. 8, deutlich gemacht, die bei ihrem Vorwurf, dass der EuGH seine Kompetenzen überschreite, auch auf das Mangold-Urteil (Rs. C-144/04, Mangold, Slg. 2005, I-9981) und damit auf den Fall einer ihres Erachtens expansiven Grundrechtskontrolle gegenüber den Mitgliedstaaten verweisen. Dazu unten, IV.
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Bezug zu ihr besteht, wie dies der EuGH in den Fällen Johnston und Steffensen vertrat,128 sollte vor diesem Hintergrund mit großer Vorsicht betrieben werden. Der entscheidende Aspekt, der in diesen Fällen eine Grundrechtskontrolle rechtfertigte, dürfte die Tatsache gewesen sein, dass die Richtlinie Rechte verliehen hatte, deren Durchsetzung die prozeduralen Bestimmungen des Mitgliedstaats, die nicht zur Richtlinienumsetzung erfolgten, gefährdeten. 4. Grundrechtsberechtigte a) Natürliche Personen Die Grundrechte finden ihre Sinnmitte im Schutz natürlicher Personen gegen hoheitliche Übergriffe. Diese allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wie der EMRK zugrunde liegende Erkenntnis gilt gleichermaßen für das Unionsrecht. Demnach sind die natürlichen Personen die ‚geborenen‘ Grundrechtsberechtigten der Unionsgrundrechte. Es ist aber weiter zu fragen, ob alle natürlichen Personen Berechtigte sein sollen oder nur die Unionsbürger. So differenzieren einige mitgliedstaatliche Rechtsordnungen für die Gewährleistung der Grundrechte nach der Staatsangehörigkeit der Personen.129 Dies widerspricht jedoch dem System der EMRK, die auf den Schutz aller der staatlichen Hoheitsgewalt ausgesetzten Individuen ausgelegt ist (Art. 1 EMRK), auch wenn für den Bereich der politischen Betätigung von Ausländern eine Ausnahmevorschrift besteht (Art. 16 EMRK). Im Unionsrecht wird die prinzipielle Grundrechtsberechtigung Drittstaatsangehöriger vom überwiegenden Teil der Literatur gleichermaßen angenommen.130 Auch der EuGH hat sie sich schon früh implizit zu eigen gemacht, indem er beispielsweise im Fall Oyowe und Traore im Hinblick auf Gemeinschaftsbeamte, die Angehörige von Drittstaaten sind, die Kommunikationsfreiheit angewendet hat.131 Dies entspricht auch der GrundrechteCharta, die nur im Hinblick auf einige Bürgerrechte und die grundfreiheitlichen Schutzgarantien personale Differenzierungen vornimmt, dabei aber regelmäßig beschränkte Gewährleistungen auch für Drittstaatsangehörige vorsieht (s. etwa das Petitionsrecht in Art. 43 und die Berufsfreiheit in Art. 15 sowie die Freizügigkeit in Art. 45; s. ferner die soziale Sicherung in Art. 34 Abs. 2). Damit sind grundsätzlich auch Drittstaatenangehörige grundrechtsberechtigt. Gewisse Differenzierungen, insbesondere in Bezug auf die Staatsbürgerrechte wie das Wahlrecht (s. Art. 39 128
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EuGH, Rs. 222/84 (Fn. 105); Rs. C-276/01 (Fn. 117), siehe Lawson (Fn. 107), S. 105 f.; J. Temple Lang, The Sphere in which Member States are Obliged to Comply with the General Principles of Law and Community Fundamental Rights Principles, Legal Issues of European Integration 19 (1991), S. 23 (27). Vgl. etwa die sogenannten Deutschengrundrechte in Art. 8, 9 Abs. 1, 11, 12 Abs. 1, 16, 20 Abs. 4, 33 Abs. 1 bis 3 und 38 Abs. 1 S. 1 GG. Vgl. dazu ausführlich C. Nowak, in: F. S. M. Heselhaus/C. Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 6, Rn. 8 ff.; ferner Rengeling/Szczekalla (Fn. 33), § 4, Rn. 364 ff. EuGH, Rs. C-100/88, Oyowe/Kommission, Slg. 1989, 4285, Rn. 13 ff.
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Abs. 1 GR-Charta), aber auch hinsichtlich der grundfreiheitlichen Grundrechte sind dadurch nicht ausgeschlossen. Auch insoweit bedarf es allerdings noch weiterer Konkretisierungen. Der Fall Oyowe und Traore zeigt im Übrigen zugleich, dass auch im Sonderstatusverhältnis des Beamten, ebenso wie in anderen Sonderstatusverhältnissen, die Unionsgrundrechte greifen.132 b) Juristische Personen Auch wenn natürliche Personen als ‚geborene‘ Grundrechtsberechtigte deren primäre Träger sind, können auch juristische Personen ‚gekorene‘ Träger der Grundrechte sein. Unproblematisch ist die Berechtigung von juristischen Personen des privaten Rechts. Sie ist im Rahmen der EMRK mit Blick auf Art. 34 EMRK grundsätzlich anerkannt, sofern es sich nicht um solche Grundrechte handelt, die dem Inhalt nach nur auf natürliche Personen anwendbar sind (etwa das Recht auf Leben oder das Folterverbot nach Art. 2 bzw. Art. 3 EMRK). Dies gilt unabhängig von der Rechtspersönlichkeit der Personenvereinigung, ihrer Organisationsform, ihrem Gründungsort und ihrem Sitz. Ausschlaggebend ist allein, dass die juristische Person der Herrschaftsgewalt eines Konventionsstaats unterfällt. Auch in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wird die Grundrechtsberechtigung privater juristischer Personen überwiegend angenommen.133 Dies entspricht auch der Judikatur des EuGH.134 Schwieriger ist dagegen die Frage zu beurteilen, ob juristische Personen des öffentlichen Rechts gleichermaßen als grundrechtsberechtigt zu qualifizieren sind.135 Es spricht einiges dafür, dies in bestimmten Fallkonstellationen anzunehmen. Obschon die primäre Funktion der Grundrechte in der Abwehr hoheitlicher Übergriffe gegenüber natürlichen Privatpersonen liegt, ist nicht zu verkennen, dass bestimmte juristische Personen des öffentlichen Rechts, wie etwa öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, zwar einen öffentlichen Auftrag erfüllen, im Wesentlichen jedoch in einer staatsfernen Position stehen, ihre Unabhängigkeit gegenüber der Hoheitsgewalt bewahren und insofern gleichfalls gegen staatliche Übergriffe geschützt werden müssen.136 Dies wird durch den Ansatz der EMRK bestätigt, die im Fall einer gewissen Staatsdistanz in Anlehnung an die entsprechend konzipierte Beschwerdebefugnis in Art. 34 EMRK (Befugnis von „nichtstaatlichen Organisationen und Vereinigungen“) juristische Personen des öffentlichen Rechts durchaus als Grund132 133 134
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Vgl. auch den späteren Fall EuGH, Rs. C-274/99 P, Connolly/Kommission, Slg. 2001, I-1611, Rn. 43. Siehe Art. 19 Abs. 3 GG für Deutschland, und das insoweit einschlägige Urteil des Conseil Constitutionnel vom 16.7.1971, Vereinigungsfreiheit, Rec. 1971, S. 29, für Frankreich. So hat der EuGH etwa die Berücksichtigung der Kommunikationsfreiheit des Unternehmens Heinrich Bauer Verlag im Urteil Familiapress ohne weitere Prüfung angenommen, Rs. C368/95 (Fn. 81), Rn. 26; siehe auch explizit für das Recht auf einen fairen Prozess für Unternehmen Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe, Slg. 1998, I-8417, Rn. 21. Siehe dazu jetzt ausführlich Nowak (Fn. 130), Rn. 23 ff., auch mit Hinweisen zum Schutz gemischtwirtschaftlicher Unternehmen. Zu einer entsprechenden beschränkten Geltung für juristische Personen des öffentlichen Rechts unter dem Grundgesetz M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 2007, Art. 19, Rn. 89 ff. m.w.N.
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rechtsberechtigte ansehen kann.137 Darüber hinaus ist eine Grundrechtsberechtigung für die Justizgrundrechte grundsätzlich plausibel.138 Auch hier bedarf es jedoch noch der weiteren grundrechtsdogmatischen Aufbereitung. 5. Struktur der Grundrechtsprüfung a) Überblick über die Prüfungssystematik Ein wesentlicher Grund der Kritik an der bisherigen Grundrechtsjudikatur des EuGH ist darin zu sehen, dass es der Gerichtshof regelmäßig an einer angemessen Prüfungsstruktur der Grundrechte fehlen lässt. Daher ist es häufig schwer nachzuvollziehen, ob eine hinreichende Wertung der betroffenen Interessen tatsächlich erfolgt ist. Teilweise bleibt im Bereich der Schutzbereichsanalyse unklar, welches Grundrecht konkret betroffen ist.139 Dies hat für die fallübergreifende Orientierungsfunktion der Grundrechtskontrolle negative Auswirkungen und kann auch zu problematischen Ergebnissen im Einzelfall führen. Die notwendige Fortentwicklung der Grundrechtsdogmatik des EuGH muss daher auch zu einer Verbesserung der Prüfungsstruktur führen, die sich in jüngeren Urteilen des EuGH bereits abzeichnet.140 Dabei ist eine weitgehende Orientierung an der konventionsrechtlichen Prüfungssystematik zu empfehlen. Dies setzt in einem ersten Schritt eine Beschreibung des Schutzbereichs des in Betracht kommenden Grundrechts voraus. Der zweite Prüfungsschritt zielt darauf ab, einen Eingriff in das Grundrecht festzustellen. Der EGMR fasst diese beiden Schritte meist zusammen (dazu b). In einem dritten Schritt ist sodann zu prüfen, ob der Eingriff gerechtfertigt werden kann (dazu c). Auch die Grundrechte-Charta impliziert in Art. 52 Abs. 1 ein solches Widerspiel von Grundrechtsausübung, Beschränkung und Rechtfertigung der Beschränkung. Eine Rechtfertigung der Beschränkung ist nach dieser Bestimmung nur möglich, wenn diese gesetzlich vorgesehen ist und den Wesensgehalt des Grundrechts sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Wendet man die in der deutschen Grundrechtsdogmatik überwiegende Terminologie141 entsprechend an, stellen die Rechtfertigungsgründe 137
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Zur bisher vorsichtigen Praxis siehe den Fall der Anwendung der Eigentumsfreiheit des Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls auf Kirchen in EGMR, Nr. 13092/87, Heilige Klöster/Griechenland, Ser. A Nr. 301-A, § 49, in dem der EGMR explizit feststellte, dass der Kirche keine Verwaltungsbefugnisse zukommen; vgl. auch D. Ehlers, in: ders. (Fn. 65), § 2 IV, Rn. 26. Dafür auch Kingreen (Fn. 53), Rn. 54. Siehe für den ersten Fall EuGH, Rs. C-280/93, Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973, Rn. 94 ff.; zum zweiten Fall siehe das Urteil EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88 (Fn. 106), Rn. 19; zur Kritik in der deutschen Literatur exemplarisch M. Nettesheim, Grundrechtliche Prüfdichte durch den EuGH, EuZW 1995, S. 106; relativierend U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380. Siehe etwa das Urteil EuGH, Rs. C-274/99 P (Fn. 132), Rn. 40 ff., oder den ausdrücklichem Hinweise auf eine umfassende Alternativenprüfung im Fall verb. Rs. C-465/00 und C-139/ 01 (Fn. 119), Rn. 82 ff. Exemplarisch B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, 2007, § 6 Rn. 206 f. und 274 ff.; vgl. auch Ehlers (Fn. 65), § 14 VI 2, Rn. 44 ff.
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für Beeinträchtigungen (die dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder die Rechte und Freiheiten anderer) Schranken der Grundrechte dar. Die Anforderungen an die Rechtsgrundlage können hingegen als formelle, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Wesensgehaltsgarantie als materielle Schranken der hoheitlichen Beschränkungsmaßnahme und damit als Schranken-Schranken bezeichnet werden. b) Schutzbereich der Grundrechte und Eingriff in den Schutzbereich Der Schutzbereich umschreibt denjenigen Handlungsbereich, der durch das Grundrecht prinzipiell gewährleistet wird und dessen hoheitliche Beschränkung einen Rechtfertigungsbedarf auslöst. Die bislang knappen Ausführungen des EuGH zu Fragen des Schutzbereichs sind misslich, dürften jedoch mit der primärrechtlichen Verankerung der Grundrechte-Charta der Vergangenheit angehören. Der Einfluss eines schriftlich fixierten Grundrechtstextes für die Schutzbereichsanalyse ist nicht zu unterschätzen. Die Schutzbereichsanalysen bei den Grundfreiheiten einschließlich entsprechender Konkurrenzbetrachungen142 zeigen, dass der EuGH dem Grunde nach sehr wohl derartige Untersuchungen anzustellen bereit ist. Daher sollte der EuGH auch ohne primärrechtliche Grundrechte-Charta deutlicher die sachlich geschützten Rechtspositionen entwickeln, deren Einschränkbarkeit geprüft wird. Zum einen kann der Gerichtshof bei der Konkretisierung der Unionsgrundrechte auf die Grundrechte-Charta als Kondensat der mitgliedstaatlichen Traditionen zurückgreifen. Zum anderen bietet sich wiederum eine Orientierung an der EGMR-Rechtsprechung an. Ansätze sind der EuGH-Rechtsprechung durchaus zu entnehmen.143 Noch völlig vernachlässigt ist die Eingriffs- bzw. Beschränkungsdogmatik. Die Gefahren eines diesbezüglichen Dogmatikdefizits zeigen sich im Urteil ORF – als einem der ersten Fälle, in dem explizit das Vorliegen eines Eingriffs geprüft wird – besonders deutlich. Denn hier verneint der EuGH kurzerhand die Eingriffsqualität des bloßen Speicherns von Daten.144 Wollte der EuGH an dieser Auffassung mit Blick auf die Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie pauschal festhalten, würde er den wesentlichen Kern des Problems schon dem Grunde nach nicht zutreffend erfassen. Die fehlende Entfaltung einer entsprechenden Dogmatik ist im Übrigen deshalb umso problematischer, weil durchaus gemeinschaftsspezifische Sonderprobleme bestehen, die die Entwicklung einer eigenständigen Dogmatik verlangen. Unter einem Eingriff kann dabei zunächst jede Beeinträchtigung der durch das Grundrecht prinzipiell geschützten Rechtspositionen verstanden werden, wobei der EuGH bei mittelbaren Auswirkungen eine hinreichende Direktheit und Bedeutsamkeit verlangt.145
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Siehe exemplarisch aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-71/02 (Fn. 120), Rn. 46 f. So etwa EuGH, verb. Rs. C-174/98 P und C-189/98 P, Niederlande/Kommission, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 ff.; Rs. C-7/98, Krombach, Slg. 2000, I-1935, Rn. 39; Rs. C-274/99 P (Fn. 132), Rn. 39 ff. EuGH, verb. Rs. C-465/00 und C-139/01 (Fn. 119), Rn. 74. EuGH, Rs. C-435/02, Springer, Slg. 2004, I-8663, Rn. 49; vgl. dazu auch Kingreen (Fn. 53), Rn. 57.
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Fraglich kann sodann in Einzelfällen sein, inwieweit einer bloßen Gefährdung von Grundrechtspositionen bereits Eingriffscharakter zukommt. Dieses Problem besteht insbesondere im Hinblick auf die Kontrolle von Richtlinienrecht. Hier stellt sich die Frage, ob bereits die Richtlinienbestimmung selbst oder erst der nationale Umsetzungsakt Eingriffsqualität aufweist. Sofern es sich um einen umsetzungspflichtigen Teil handelt, geht bereits von der Richtlinienformulierung das zwingende Gebot aus, bestimmte Grundrechtseingriffe vorzunehmen. Die Umsetzungspflicht löst damit eine eingriffsgleiche Grundrechtsgefährdung aus, die sich im Rahmen der mitgliedstaatlichen Umsetzung zwangsläufig realisiert.146 Ungeklärt ist bislang, ob dies auch in dem Fall angenommen werden kann, dass von mehreren klar vorgegebenen Umsetzungsoptionen nur eine Variante als Eingriff in die Gemeinschaftsgrundrechte zu qualifizieren ist. Ein Beispiel stellt insoweit die Möglichkeit des Verzichts auf eine Urheberangabe im Fall der in der TabakproduktRichtlinie vorgesehen Warnhinweise dar.147 Hier besteht gleichermaßen eine Grundrechtsgefährdung, die durch einen mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt jederzeit realisiert werden kann. Geht man entgegen der hier vertretenen Meinung148 allerdings davon aus, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinienrecht im Bereich des Umsetzungsspielraums nicht an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind, kann in der bloßen Verstoßmöglichkeit des Richtlinienrechts kaum ein Eingriff in Gemeinschaftsgrundrechte erblickt werden. Denn insoweit greift allein der mitgliedstaatliche Grundrechtsstandard. Vertritt man dagegen wie hier die gegenteilige Ansicht, bleibt die Frage offen. Insoweit spricht angesichts der Schwerfälligkeit des gemeinschaftsrechtlichen Klagesystems vieles für die Annahme einer eingriffsgleichen Grundrechtsgefährdung, jedenfalls für den Fall, dass eine klar vorgesehene Umsetzungsoption zwangsläufig einen Eingriff bedingt. Denn nach Art. 230 Abs. 1 EG sind Richtlinien Gegenstand der Organ- und Staatennichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 2 EG. Angesichts der zweimonatigen Klagefrist nach Art. 230 Abs. 5 EG ist regelmäßig die noch nicht umgesetzte Richtlinie Klagegegenstand. Würde die bereits erfolgte Umsetzung in der gemeinschaftsgrundrechtswidrigen Variante für die Prüfung von Grundrechtsverstößen verlangt, wäre die in Art. 230 Abs. 2 EG angelegte, umfassende abstrakte Kontrolle der Handlungen der Gemeinschaftsorgane am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte (als Bestandteil des primären Gemeinschaftsrechts) nicht möglich, da die zweimonatige Klagefrist stets abgelaufen wäre. Stattdessen müsste zunächst eine Umsetzung abgewartet werden. Anschließend könnte nur das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG aktiviert werden, das jedoch wesentlich schwerfälliger ist. Denkbar wäre jedoch auch, insoweit eine Differenzierung nach 146
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Davon geht auch GA Fennelly aus: verb. Schlussanträge zu Rs. C-376/98 und Rs. C-74/99, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Nr. 146 ff., insb. Nr. 165 („Beschränkungen der Freiheit von Informationen wirtschaftlicher Natur, die die Werberichtlinie verhängt“). Siehe Art. 5 Abs. 8 der Richtlinie, ABl. 2001 L 194, S. 26; dazu C. Koenig/J. Kühling, Der Streit um die neue Tabakproduktrichtlinie, EWS 2002, S. 12 (14 f.). Siehe oben, 3. b).
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der Qualität des betroffenen Gemeinschaftsgrundrechts und des Ausmaßes der Gefährdung einschließlich der im konkreten Fall bestehenden Rechtschutzmöglichkeiten vorzunehmen. Dadurch wird nichtsdestotrotz die im Rahmen der Organ- und Staatennichtigkeitsklage angelegte, umfassende abstrakte Normenkontrolle beschränkt. Die weitere Entwicklung der Eingriffsdogmatik dürfte jedenfalls auch von der primärrechtlichen Fortentwicklung des Individualrechtsschutzes gegen Gemeinschaftsrecht (etwa im Wege einer Verfassungsbeschwerde) abhängen. c) Rechtfertigung des Eingriffs in die Grundrechte Die Prüfungsstruktur der Rechtfertigung von Eingriffen in Grundrechte schwankt in der bisherigen EuGH-Judikatur erheblich. In der Konventionspraxis hat sich dagegen im Bereich zentraler Freiheitsrechte eine einheitliche Prüfungssystematik herauskristallisiert, die von den jeweiligen Schrankenbestimmungen gesteuert wird (s. insbesondere die jeweiligen Absätze 2 der Art. 8–11 EMRK). Danach ist zunächst die formelle Voraussetzung zu prüfen, ob der Eingriff von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist (aa). In materieller Hinsicht ist als Zweites festzustellen, ob der Eingriff ein legitimes Ziel verfolgt (bb). Sodann ist in einem dritten Schritt die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu untersuchen (cc). Diese Erfordernisse sind auch von der allgemeinen Schrankenklausel des Art. 52 Abs. 1 GR-Charta vorgegeben. Hinzu tritt in Art. 52 Abs. 1 S. 1 GR-Charta die Wesensgehaltsgarantie (dd). aa) Eingriff von gesetzlicher Grundlage gedeckt Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage (Art. 52 Abs. 1 S. 1 GR-Charta „gesetzlich vorgesehen“/„provided for by law“) wurde auch vom EuGH bereits aufgegriffen. Im Fall Hoechst führte der EuGH aus, dass in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hoheitliche Eingriffe „in die Sphäre der privaten Betätigung jeder – natürlichen oder juristischen – Person einer Rechtsgrundlage“ bedürfen und dass dieses Erfordernis als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen sei.149 Als Eingriffsgrundlagen kommen im Unionsrecht neben dem Primärrecht Verordnungen, vor allem aber Richtlinien in Verbindung mit den nationalen Umsetzungsakten in Betracht. Sofern mitgliedstaatliche Maßnahmen überprüft werden, die nicht Gemeinschaftsrecht ausführen, greift allerdings der von den Konventionsorganen entwickelte Gesetzesbegriff, der sehr weit gefasst ist und auch ungeschriebene Rechtsregeln des Common Law erfasst.150 In der Konventionspraxis wurden die weiteren formellen Anforderungen an die Rechtsgrundlage im Kontext der genannten Freiheitsrechte im Hinblick auf zwei auch für die Unionsgrundrechtsdogmatik relevante Aspekte verschärft: Die Eingriffsermächtigung hat hinreichend bestimmt und zugänglich zu sein. Danach müssen die Adressaten der Regelung imstande sein, ihr Verhalten mit Blick auf entsprechende Gebote und potenzielle Sanktionen einzurichten. Dafür wird einerseits die ‚Zugänglichkeit‘ verlangt. Das bedeutet, dass die einschlägigen Regelungen hinreichend publik sein müssen, so dass sich der Betroffene ohne größere (auch finan149 150
EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88 (Fn. 106), Rn. 19 (im Original nicht kursiv). Exemplarisch EGMR, Nr. 6538/74, Sunday Times/Großbritannien, Ser. A Nr. 30, § 47.
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zielle) Mühen von ihnen Kenntnis verschaffen kann. Andererseits muss die Norm so genau bestimmt sein, dass deutlich wird, zu welchem Zweck und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden kann. Generalklauseln müssen durch die Rechtsprechung genügend konkretisiert sein. In der Anfangszeit nach ihrer Einführung muss jedenfalls ersichtlich sein, mit welcher Tendenz ihr Eingreifen zu erwarten ist. Dass diese Grundsätze von steigender Bedeutung sind, hat die Rechtsprechungsentwicklung der Konventionsorgane gezeigt.151 Diese strengen Anforderungen, die sich in Deutschland und anderen Ländern ähnlich entwickelt haben,152 sind auf das Unionsrecht übertragbar. In Bezug auf die Zugänglichkeit hat der EuGH bereits für Verordnungen entschieden, dass ihre Anwendung wegen des Grundsatzes der Rechtssicherheit erst nach der Veröffentlichung in dem im Mitgliedstaat des Betroffenen verfügbaren Amtsblatt erfolgen kann.153 Ebenso muss der Gemeinschaftsbürger Zugang zu den Umsetzungsakten von Richtlinien haben, bevor diese belastende Rechtswirkungen entfalten können. Ferner hat der Luxemburger Gerichtshof im Fall Könecke festgestellt, dass „eine Sanktion, selbst wenn sie keinen strafrechtlichen Charakter besitzt, nur dann verhängt werden darf, wenn sie auf einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage beruht.“154 Dies hat für die Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage jeglichen hoheitlichen Handelns zu gelten.155 Die Anforderungen an die Handlungsermächtigung greifen im Hinblick auf die isolierte Prüfung der Grundlage selbst (z.B. für die Prüfung von Richtlinienbestimmungen) ebenso wie bei der Prüfung der auf ihr beruhenden Ausführungsmaßnahmen. Danach ist allerdings für den Fall von Richtlinien wie folgt zu differenzieren: Die Bestimmtheitsanforderungen gelten im vollen Umfang nur für die Formulierung des Richtlinienziels. Was die Art und Weise der nationalen Umsetzungsmöglichkeiten anbelangt, so ist es gerade das Charakteristikum der Richtlinie, dass sie den Mitgliedstaaten nach Art. 249 Abs. 3 EG die „Wahl der Form und der Mittel“ freistellt. Dies bedingt eine gewisse Offenheit in der Tatbestandsformulierung. Die Bestimmtheit muss dann allerdings in den nationalen Umsetzungsakten gewährleistet sein. bb) Legitimer Zweck Einschränkungen der Grundrechte sind nach Auffassung des EuGH nur zulässig, sofern sie von „tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft“ gedeckt sind.156 Die Spannbreite möglicher eingriffslegitimierender Gemeinschaftsinteressen ist in der bisherigen Luxemburger Judikatur sehr weit gefasst und reicht von wirtschaftlichen Erwägungen157 bis hin zu organisatorischen Interes151 152 153 154 155 156 157
Siehe dazu am Beispiel des Art. 10 Abs. 2 EMRK Kühling (Fn. 65), S. 168 ff. m.w.N. Vgl. statt vieler exemplarisch für Deutschland Pieroth/Schlink (Fn. 141), § 6 Rn. 312. EuGH, Rs. 98/78, Racke, Slg. 1979, 69, Rn. 19 f. EuGH, Rs. 117/83, Könecke, Slg. 1984, 3291, Rn. 11. Vgl. EuGH, Rs. 169/80, Gondrand Frères, Slg. 1981, 1931, Rn. 17. Grundlegend EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, 491, Rn. 14; Rs. 5/88 (Fn. 103), Rn. 18. EuGH, verb. Rs. C-143/88 und C-92/89, Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-415, Rn. 76, unter Berufung auf das Ziel zu verhindern, „dass Verluste eines Wirtschaftssektors von der Gemeinschaft getragen werden“.
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sen.158 In einigen Schlussanträgen zeichnen sich aber zumindest strengere Ansätze im Hinblick auf die Prüfung der tatsächlichen Einschlägigkeit der vorgebrachten Ziele ab. So zweifelt Generalanwalt van Gerven in den Schlussanträgen zum Aidstest-Fall daran, dass das wirtschaftliche Wohl des Landes in der konkreten Situation als legitimierender Zweck eines Eingriffs in die geschützte Privatsphäre des Individuums herangezogen werden kann.159 Für die Unionsgrundrechte empfiehlt sich eine sorgfältige Prüfung der vorgebrachten Beschränkungsgründe. Dies entspricht auch der Formulierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Art. 52 Abs. 1 S. 2 GR-Charta, der verlangt, dass die Einschränkungen „den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“ Dieser Test einer „tatsächlichen“ Zielförderung eröffnet eine strenge Prüfung, ob die vorgebrachten legitimen Zwecke auch wirklich den Eingriff zu begründen vermögen. Damit ist aber bereits die Geeignetheit der Maßnahme als Teilaspekt der Verhältnismäßigkeit angesprochen. Insgesamt stellt sich die Frage, ob die Prüfung des legitimen Zwecks nicht ohnehin in die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu integrieren ist. Für eine eigenständige Prüfung spricht jedoch, dass sie eine schärfere Herausarbeitung der verfolgten Zwecke ermöglicht, wie gerade die Konventionsrechtsprechung belegt. cc) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit In Bezug auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bestehen nach wie vor eine ganze Reihe wichtiger, bislang aber ungeklärter dogmatischer Fragen. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung spielt eine zentrale Rolle bei der Fortentwicklung der Grundrechtsdogmatik. Es bietet sich eine Anpassung der Prüfungsstruktur an die allgemeine, dreigliedrige Verhältnismäßigkeitsprüfung an (Geeignetheit, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit i.e.S.), die in der deutschen Grundrechtsprüfung üblich ist, die aber auch der EuGH teils sogar bei der Grundrechtsprüfung, vor allem jedoch im Rahmen der Untersuchung von etwaigen Verletzungen der Grundfreiheiten ebenso wie bei einer isolierten Untersuchung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anwendet.160 In der Konventionspraxis überwiegt dagegen eine einschrittige Prüfung, die unmittelbar auf eine Abwägung der konfligierenden Interessen und Rechte, also auf 158 159
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EuGH, Rs. C-404/92 P, X/Kommission, Slg. 1994, I-4737, Rn. 19 f. GA van Gerven zu EuGH, Rs. C-404/92 P (Fn. 158), Nr. 27; von einer faktischen Verengung der zulässigen Eingriffsgründe anhand der Vorgaben der EMRK geht im Übrigen Schildknecht (Fn. 115), S. 164, 197 f., aus. Kritisch zu den Defiziten der Verhältnismäßigkeitsprüfung in Bezug auf die Grundrechte S. Storr, Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union, Der Staat 36 (1997), S. 547 (564 ff.) m.w.N.; relativierend Kischel (Fn. 139), S. 380 ff.; allgemein zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausführlich G. de Búrca, The Principle of Proportionality and its Application in EC Law, YEL 13 (1993), S. 105 (113 f. speziell zur Prüfungsstruktur); E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1033; ferner Schildknecht (Fn. 115), S. 51 ff., 95 ff., 165 ff., 198 ff. und 217 ff.; grundlegend O. Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2002, S. 198 ff., 252 ff.
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die Verhältnismäßigkeitsprüfung i.e.S. zusteuert. Allerdings sind auch vereinzelt Fälle anzutreffen, in denen Elemente der ersten zwei Prüfungsstufen zu erkennen sind.161 Die dreischrittige Prüfung hat sich als hilfreicher Rahmen erwiesen, da bereits auf den Stufen der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung die tatsächliche Fähigkeit der Zielerreichung sowie der Rückgriff auf eingriffsschwächere Alternativen zum konkreten hoheitlichen Handeln untersucht werden können. Sie trägt damit bereits auf diesen Stufen zu einer umfangreichen Rationalitätskontrolle hoheitlicher Grundrechtseingriffe bei und leistet zugleich einen wesentlichen Beitrag für die anschließende Verhältnismäßigkeitsprüfung i.e.S., sofern diese noch erforderlich sein sollte. Ihr ist damit auch für die Unionsgrundrechtsdogmatik zu folgen. Allerdings kommt dem Herausarbeiten der Abwägungsparameter im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit i.e.S. die größte Bedeutung zu. Hier bestehen zugleich die größten Versäumnisse in der bisherigen Kontrolltätigkeit des EuGH, der allzu oft in einem Schritt zugleich untersucht, ob in den Wesensgehalt des Grundrechts eingegriffen wird. Dies wird dann grundsätzlich knapp verneint, ohne dass eine hinreichende Interessenanalyse und genaue Untersuchung der Tragfähigkeit der hoheitlichen Maßnahme erfolgt.162 Im Übrigen ist eine vollständige Integration des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in die Grundrechtsprüfung angezeigt, da nur so eine grundrechtsspezifische Kontrolle im Einzelfall erfolgen kann. Die historisch bedingte, teils getrennte Prüfung des frühzeitig in der EuGH-Rechtsprechung anerkannten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist angesichts der stärkeren Orientierung an den Konventionsrechten und des Art. 51 GR-Charta überholt. (1) Geeignetheit Demnach ist als Erstes zu prüfen, ob die hoheitliche Maßnahme geeignet ist, d.h. die Fähigkeit besitzt, das angestrebte Ziel zu erreichen. Hier zeigt sich die Bedeutung der genauen Untersuchung der Eingriffsgründe (oben bb), die nunmehr daraufhin kontrolliert werden, ob sie mit den angewandten Mitteln verwirklicht werden können und dabei auch tatsächlich zu diesem Zweck eingesetzt werden.163 Allerdings ist auf dieser Prüfungsstufe den hoheitlichen Organen, namentlich der Legislative, ein weiter Spielraum bei der Beurteilung der Geeignetheit einzuräumen. Dies gilt vor allem, wenn es nicht um Fragen der Denknotwendigkeit geht, sondern empirische Forschung zur Beurteilung der Wirksamkeit notwendig ist und auch diese wenig Sicherheit bietet. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass von einer prozeduralen Grundrechtsgewährleistung her gedacht die hoheitliche Pflicht 161
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Siehe für eine Prüfung der Erforderlichkeit in Bezug auf die Kommunikationsfreiheit EGMR, Nr. 3914/88, 15041/89, 15717/89, 15779/89 und 17207/90, Informationsverein Lentia/Österreich u.a., Ser. A Nr. 276, § 39 (= EuGRZ 1994, S. 549). Siehe die Nachweise in Fn. 139. Dieser „Tatsächlichkeitstest“ entspricht sowohl dem Ansatz in Art. 52 Abs. 1 S. 2 GR-Charta als auch der Rechtsprechung des EuGH zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in anderen als den Grundrechtsbereichen, EuGH, Rs. C-157/99, B.S.M. Smits, Slg. 2001, I-5473, Rn. 75, 90 f.; Rs. C-262/99, Paraskevas Louloudakis, Slg. 2001, I-3547, Rn. 69 f.
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bestehen kann, empirische Kenntnisse über die Geeignetheit der Eingriffe zu vertiefen, die Maßnahmen zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.164 (2) Erforderlichkeit Im zweiten Schritt ist zu untersuchen, ob das eingesetzte Mittel erforderlich ist. Das ist der Fall, wenn bei Erlass der Maßnahme kein anderes gleich wirksames, aber weniger eingriffsintensives Mittel zur Verfügung stand. Die Prüfung erfolgt aus einer Ex-ante-Perspektive. Auf dieser Stufe sind die hoheitlichen Organe bei der Beurteilung der Effizienz alternativer Handlungsoptionen erneut in der Vorhand. Ihnen kommt die Einschätzungsprärogative zu. Dies entspricht dem Vorgehen unter der EMRK, in Deutschland und den Ansätzen im Gemeinschaftsrecht.165 Hier kann die Rechtsvergleichung insofern von Hilfe sein, als alternative Regelungsmöglichkeiten aufgezeigt werden können, die trotz geringerer Eingriffsintensität ebenso effektiv die angestrebten Ziele zu erreichen vermögen. Ein Beleg für die Relevanz einer solchen Untersuchung ist die Argumentation des EGMR im Fall Informationsverein Lentia.166 In der neueren Rechtsprechung ist zumindest in einigen Entscheidungen die Bereitschaft des EuGH zu erkennen, eine intensivere Erforderlichkeitsprüfung vorzunehmen.167 (3) Verhältnismäßigkeit i.e.S. Im Zentrum der Verhältnismäßigkeitsprüfung im weiteren Sinn steht die Feststellung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn, d.h. die Untersuchung, ob das eingesetzte Mittel in angemessener Relation zum angestrebten Ziel steht. Die auf den bisherigen Stufen erarbeiteten Ergebnisse liefern erste Ansatzpunkte für die Prüfung. So hat die Geeignetheitskontrolle den Grad der Wirksamkeit der Maßnahme aufgezeigt. Anschließend muss eine weitere Bewertung des angestrebten Ziels erfolgen. Durch welche öffentlichen oder privaten Interessen ist es legitimiert? Danach ist die Schwere des Eingriffs zu bemessen. Erkenntnisse aus der Erforderlichkeitsprüfung geben hier Orientierung. Es ist zu untersuchen, ob es sich um eine erhebliche Reduzierung geschützter und zentraler Positionen handelt. Nach einer Bewertung der betroffenen Interessen ist eine Abwägung möglich. Die Abwägung einschließlich der Bestimmung angemessener Einschätzungsspielräume für die Legislative und Exekutive kann dabei maßgeblich durch die Rechtsfigur der margin of appreciation gesteuert werden. (4) Kontrolldichte und Bewertungsspielräume (margin of appreciation) Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zeigen sich jedoch zugleich die Grenzen einer Dynamisierung der Grundrechtsjudikatur, da die Grundrechte ihren Rahmencharak164
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Zu derartigen Untersuchungspflichten aus dem Grundrecht auf eine gesunde Umwelt siehe das Urteil EGMR (Kammer), Nr. 36022/97 (Fn. 45), §§ 97 ff.; EGMR (GK), Nr. 36022/97 (Fn. 78), §§ 99 ff. und § 128. Siehe dazu Kühling (Fn. 65), S. 402 f. m.w.N. Siehe den Nachweis in Fn. 161. EuGH, verb. Rs. C-465/00 und C-139/01 (Fn. 119), Rn. 82 ff.
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ter für die gesamte Rechtsordnung nicht verlieren dürfen. Hier empfiehlt sich im Grundsatz und in verschiedenen Details eine umfangreiche Berücksichtigung der Konventionsdogmatik und insbesondere des Konzepts der margin of appreciation (bzw. marge d’appréciation). Nach dieser Kontrolldichte-Konzeption wird den Mitgliedstaaten der Konvention grundsätzlich ein Spielraum bei der Bestimmung des angemessenen Ausgleichs privater Interessen inter se oder privater mit öffentlichen Interessen zugestanden.168 Dabei wird der Einschätzungsspielraum keinesfalls in einem engen Sinn so verstanden, dass lediglich bei der Wahl der angemessenen Maßnahme ein Spielraum besteht, sondern ebenso bei der Beurteilung etwaiger Gefährdungspotenziale oder sonstiger Faktoren, von denen die zulässige Eingriffsintensität abhängt, und weiter bei der Zuordnung geschützter Werte. Darüber, dass sich die hoheitlichen Maßnahmen innerhalb des Spielraums bewegen, wachen die Konventionsorgane. Diese Konzeption spielt eine wesentliche Rolle bei der Etablierung gemeineuropäischer Standards. So hat der EGMR anhand der margin of appreciation Bereiche herausgearbeitet, in denen bereits eine stärkere Entwicklung gemeineuropäischer Standards gewährleistet ist, so dass den Konventionsstaaten ein geringerer Bewertungsspielraum eingeräumt wird. Fehlt es hingegen an einer solchen gemeinsamen Tradition oder geht es beispielsweise um umstrittene Fragen der Moral, verfügen die Konventionsstaaten über einen größeren Spielraum.169 Die Rechtsfigur der margin of appreciation ist auch für das Gemeinschaftsrecht fruchtbar zu machen. Sie kann die gesamte Verhältnismäßigkeitsprüfung aber insbesondere die Abwägung im dritten Prüfungsschritt steuern. Die margin of appreciation ermöglicht – wie unter der Herrschaft der Konvention – eine Differenzierung nach Sachgebieten ebenso wie eine auf der Zeitschiene variierende Kontrolldichte, die der Tatsache zwischenzeitlich erstarkter gemeinsamer Auffassungen genügend Beachtung schenkt. Im Gemeinschaftsrecht hat die Konzeption des variablen Einschätzungsspielraums überdies einen weiteren wesentlichen Vorteil: Sie ermöglicht Unterscheidungen zwischen strengeren Maßstäben im Hinblick auf das Handeln von Gemeinschaftsorganen und mitgliedstaatlichen Organen bei der Ausführung von Gemeinschaftsrecht einerseits und vorsichtigeren Standards für das sonstige mitgliedstaatliche Handeln mit Bezug zum Gemeinschaftsrecht andererseits. Denn es wurde bereits hervorgehoben, dass insoweit nicht die gleichen Standards gelten können, will man Konflikte mit zentralen nationalen Auffassungen über den angemessenen Ausgleich zwischen privaten und öffentlichen Interessen vermeiden und eine organische Entwicklung gemeineuropäischer Standards sichern.170 Ein insofern gelungenes Beispiel einer Zurücknahme der Kontrolldichte stellt das Omega-Urteil des EuGH dar, in dem das Gericht den Mitgliedstaaten im 168
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Zu diesem Konzept ausführlich E. Brems, The Margin of Appreciation Doctrine in the Case-law of the European Court of Human Rights, ZaöRV 56 (1996), S. 240 ff.; C. Picheral/A.-D. Olinga, La théorie de la marge d’appréciation dans la jurisprudence récente de la Cour Européenne des droits de l’homme, Revue trimestrielle de droit droits de l’homme 6 (1995), S. 564. Vgl. in jüngerer Zeit etwa EGMR, Nr. 31611/96, Nikula/Finland, ECHR 2002-II, § 46. Siehe oben, 3. b) bb).
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Ergebnis einen entsprechenden Einschätzungsspielraum mit Blick auf die Interpretation der Menschwürde als allgemeinen Rechtsgrundsatz eingeräumt hat.171 In dem Fall ging es um das Verbot eines sog. Laserdromes in Bonn, in dem simulierte Tötungsspiele angeboten wurden. Im Kern war dabei ein Konflikt zwischen der Dienstleistungsfreiheit des Spielhallenbetreibers und dem Menschenwürdeschutz zu lösen. Gerade im Rahmen dieser Beschränkungskonstellationen ist eine Zurückhaltung gegenüber der mitgliedstaatlichen Konfliktauflösung der kollidierenden Interessen sinnvoll. Gleichwohl muss auch hier eine Aufbereitung der kollidierenden Interessen durch den EuGH erfolgen, soll nicht letztlich eine bloß formale Grundrechtsprüfung abgespult werden.172 Die Konzeption des variablen Einschätzungsspielraums kann nicht nur bei der vertikalen Kompetenzabschichtung, sondern auch auf der Ebene horizontaler Gewaltenteilung eine Rolle spielen. Bereits die Darstellung der einzelnen Prüfungsschritte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hat aufgezeigt, dass dem Gemeinschaftsgesetzgeber in bestimmten Fragen die Einschätzungsprärogative mit Blick auf die Beurteilung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit von Maßnahmen zukommt.173 Diese geht wesentlich weiter in Bezug auf die Legislative als bei der Kontrolle der Exekutive. Hier ist es künftig von Bedeutung, ein Konzept zur Beantwortung der Frage zu entwickeln, bei der Beurteilung welcher Aspekte die Gemeinschaftsorgane in der Vorhand sind. Es ist daher zu begrüßen, wenn die Konzeption des variablen Einschätzungsspielraums im Gemeinschaftsrecht Anwendung findet, was auch bereits in einigen Schlussanträgen und in jüngeren Urteilen des EuGH anklingt.174 Allerdings ist bei der Übernahme des völkerrechtlichen Konzepts einer margin of appreciation in das supranationale Gemeinschaftsrecht zu berücksichtigen, dass zum einen der Kreis der Mitgliedstaaten trotz der jüngsten Erweiterungen nach wie vor überschaubarer und homogener ist als der der Konventionsstaaten und zum anderen eine ungleich ausgeprägtere Integrationsdichte besteht. Daher ist mit einem höheren Grad an gemeinsamen Standards zu rechnen. Ferner ist danach zu differenzieren, welche Art von Maßnahmen zu untersuchen ist. Mit Blick auf das exekutive
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EuGH, Rs. C-36/02, Omega, Slg. 2004, I-9609, Rn. 34 ff; allerdings fehlt es insoweit an einer entsprechenden expliziten Analyse. Das Stichwort „Beurteilungsspielraum“ fällt vielmehr im Rahmen der grundfreiheitlichen Schrankenanalyse (vgl. Rn. 31). Das gilt erst recht dann, wenn kein entsprechender Einschätzungsspielraum gewährt und die Grundrechtsposition wie im Fall Laval im Ergebnis zurückgedrängt wird, vgl. dazu bereits oben bei Fn. 11. Dazu ausführlich Schildknecht (Fn. 115), S. 51 ff. Früh bereits GA van Gerven zu EuGH, Rs. C-159/90, Grogan, Slg. 1991, I-4703, Nr. 37; siehe deutlich später der EuGH im Urteil Connolly, Rs. C-274/99 P (Fn. 132), Rn. 49; es ist allerdings sehr zweifelhaft, ob im vorliegenden Fall tatsächlich ein entsprechender Einschätzungsspielraum angemessen war, da es um die Beschränkungen von Äußerungen eines Beamten ging, für die ein gemeineuropäischer Standard entwickelt werden muss und keine Gründe ersichtlich sind, einen solchen Spielraum zu gewähren; siehe dazu sogleich im Text; vgl. auch F. Schorkopf, in: Ehlers (Fn. 65), § 15, Rn. 61 ff.
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Handeln der Gemeinschaftsorgane besteht etwa ein zwingendes Bedürfnis, einen einheitlichen Maßstab zu entwickeln. Von diesem Ansatz ausgehend kann das Bild einer „demokratischen Gesellschaft“ Orientierung geben, auf das sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung verschiedener Konventionsrechte bezieht (siehe insbesondere die jeweiligen Absätze 2 der Art. 8 bis 11 EMRK).175 Eine weitere Differenzierung ist nach den betroffenen Grundrechten denkbar. Allerdings ist eine pauschale Unterscheidung zurückzuweisen, die zu einer Evidenzkontrolle für Wirtschaftsgrundrechte und einer erhöhten Kontrolldichte in Bezug auf sonstige Grundrechte führt.176 Auch eine Argumentation, die eine höhere Eingriffsintensität gerade in Bezug auf Wirtschaftsgrundrechte angesichts des planverfassungsrechtlichen Charakters der Gemeinschaftsverträge zugesteht,177 ist abzulehnen. Angesichts der gegenwärtig erreichten Integrationstiefe ist eine erhöhte Eingriffsintensität nicht durch Integrationszwecke zu rechtfertigen. Dies verhindert es allerdings nicht, primärrechtlich gesteuerte Sachdifferenzierungen zu wahren. So geht die zulässige grundrechtliche Eingriffstiefe in einem stärker durch planwirtschaftliche Elemente geprägten Wirtschaftszweig wie der Landwirtschaft weiter als in anderen Wirtschaftssektoren. Dennoch kann auch insoweit nicht auf einen angemessenen Grundrechtsschutz verzichtet werden, was insbesondere für eine strenge Kontrolle bei eingriffsintensiven Maßnahmen spricht.178 Weiterführend ist darüber hinaus eine Ausdifferenzierung innerhalb der einzelnen Grundrechte, die insbesondere einen grundrechtsspezifischen Kernschutz herausarbeitet. Dies wäre für die Kommunikationsfreiheit etwa für kommunikative Inhalte zu erwägen, die die res publica betreffen.179 Zurückzuweisen ist dagegen eine Differenzierung in Bezug auf legislative Eingriffe danach, ob die betreffende Maßnahme im Wege des Mehrheitsbeschlusses getroffen wurde oder nicht.180 Die Kontrolldichte eines hoheitlichen Eingriffs kann nicht von der gemeinschaftsvertraglich vorgesehenen Wahl eines Beschlussverfahrens abhängig gemacht werden. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass im Fall des Einstimmigkeitsbeschlusses eine geringere Grundrechtsgefährdung zu erwarten ist. Denn die prüfende Beteiligung sämtlicher Mitgliedstaaten schließt keinesfalls grundrechtsgefährdende Kompromisse aus.
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Dazu grundlegend Ch. Engel, Die Schranken der Schranken in der Europäischen Menschenrechtskonvention, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht 1986, S. 261 (268 ff.). Zur Frage, ob diese Tendenz der Rechtsprechung des EuGH zu entnehmen ist, bejahend Schildknecht (Fn. 115), S. 259. Zu entsprechenden Ansätzen in der Rechtsprechung des EuGH, die einen zu weiten Einschätzungsspielraum für den Gesetzgeber in Bereichen besonderer politischer Verantwortung einräumen, kritisch im Ergebnis Schildknecht (Fn. 115), S. 261; siehe auch oben bei Fn. 14. Siehe Kischel (Fn. 139), S. 386 f. m.w.N. Siehe dazu Kühling (Fn. 65), S. 406 f. So aber Mayer (Fn. 4), S. 687.
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In der jüngeren Rechtsprechung ist im Übrigen eine eher unkritische Anwendung des konventionsrechtlichen Konzepts bei der Kontrolle gemeinschaftlichen Handelns zu beobachten. Dies wird besonders deutlich im jüngsten Tabakwerbeurteil. Hier wird nicht deutlich, ob der EuGH beim Verweis auf den Entscheidungsspielraum181 an die Konventionsrechtsprechung anknüpft, die im Kontext einer geringeren Integrationsdichte der Konventionsordnung zu sehen ist, oder ob eine materiell-rechtliche Wertung dahin gehend greift, dass lediglich kommerzielle Kommunikationen und nicht solche mit res publica-Bezug betroffen sind. Letzteres ist auf die Gemeinschaftsordnung übertragbar, Ersteres kaum. Denn gerade im Geschäftsverkehr ist ja innerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine hohe Integrationsdichte erreicht. Einmal mehr wird klar, dass die Unionsgrundrechte einer eigenständigen Dogmatik bedürfen. dd) Wesensgehaltsgarantie Der Inhalt der Wesensgehaltsgarantie wird trotz seiner expliziten Normierung in Art. 52 Abs. 1 S. 1 der GR-Charta im praktischen Grundrechtsalltag kaum über eine Warnfunktion gegenüber dem in die Grundrechte eingreifenden Organ hinausgehen.182 d) Besonderheiten bei der Prüfung besonderer Grundrechtstypen und Schutzpflichten Noch geringer ausgeprägt als im Fall der Freiheitsrechte als Kernbestand der Abwehrrechte ist die Prüfungssystematik bei den übrigen Grundrechtstypen und Schutzdimensionen, ausgenommen dem Gleichheitsgrundsatz. Zum Gleichheitsgrundsatz gibt es eine umfangreichere EuGH-Judikatur, da Art. 141 EG verschiedene Teilaspekte des Gleichheitsgrundsatzes in Bezug auf die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Arbeitswelt enthält und der EG-Vertrag eine Reihe weiterer Gleichheitsgebote aufweist, wie insbesondere das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EG in Bezug auf die Staatsangehörigkeit.183 Diese Gleichheitsgebote stellen Ausformungen des vom EuGH anerkannten allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes dar. Dieser verbietet, dass vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich behandelt werden, ohne dass eine hinreichende Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung vorliegt.184 Danach ist ein Eingriff dann gegeben, wenn eine Ungleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte oder eine Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte vorliegt. Ferner muss ein zulässiger Differen181 182 183
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EuGH, Rs. C-380/03, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573, Rn. 155. Vgl. dazu die Hinweise auf S. 624 f. der Vorauflage. Für einen Überblick zu den übrigen Gleichheitsgrundsätzen siehe T. Kingreen/ R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, S. 263 (265 ff.); U. Kischel, Zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, EuGRZ 1997, S. 1; vgl. jetzt auch T. Kingreen, in: Ehlers (Fn. 65), § 18, Rn. 1 ff. Grundlegend EuGH, verb. Rs. 17/61 und 20/61, Klöckner-Werke/Hohe Behörde, Slg. 1962, 653 (692 f.); später etwa Rs. C-306/93, SMW Winzersekt, Slg. 1994, I-5555; zum Ganzen siehe auch Kischel (Fn. 183), S. 1.
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zierungszweck vorliegen, wobei bestimmte Differenzierungsgründe unzulässig sind (etwa die Staatsangehörigkeit nach Art. 12 EG). Schließlich muss sich die Differenzierung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen lassen.185 Damit können wesentliche Aspekte der Freiheitendogmatik übernommen werden. Dies gilt auch für die Gleichheitsgebote im dritten Kapitel der Grundrechte-Charta. Besondere dogmatische Aufbereitung bedarf allerdings die in Art. 23 Abs. 2 GR-Charta eröffnete positive Diskriminierung zur Angleichung der Chancen des unterrepräsentierten Geschlechts. Insoweit ist an die bereits bestehende EuGH-Judikatur anzuknüpfen.186 Das derivative Teilhaberecht ähnelt in seiner Prüfungsstruktur regelmäßig einem Gleichheitsrecht. Denn auch hier ist erstens zu prüfen, ob ein bestimmter Personenkreis über einen bestimmten Anspruch verfügt und ob der Petent zu diesem Personenkreis zählt, bzw. mit der anderen Personengruppe vergleichbar ist. Zweitens ist zu untersuchen, ob eine etwaige Differenzierung gerechtfertigt werden kann. Die Prüfung eines originären Leistungsrechts sieht dagegen regelmäßig eine einschrittige Untersuchung dahin gehend vor, ob ein entsprechender Anspruch besteht. Diese Prüfungsstruktur greift auch für einen Teil der Justizgrundrechte187 und verschiedene leistungsrechtliche Bürgerrechte. In Bezug auf die Leistungsrechte bedarf es allerdings noch erheblicher grundrechtsdogmatischer Aufbereitungen. Die Prüfungssystematik von Verstößen gegen Schutzpflichten muss ebenfalls eigenständig entwickelt werden. Auf die Parallele der Prüfung eines Schutzgewährrechts zur Untersuchung, ob ein – regelmäßig originäres – Leistungsrecht vorliegt, wurde bereits hingewiesen,188 so dass auf die entsprechende (Entwicklungsbedürftigkeit einer) Dogmatik verwiesen werden kann. Ein konkretes Schutzgewährrecht ist allerdings nur in dem (Ausnahme-)Fall begründet, dass eine Reduktion des staatlichen Handlungsspielraums auf die Vornahme einer spezifischen Handlung gegeben ist. Im Übrigen dürfte eher parallel zur Abwehrrechtsprüfung die Verletzung von den aus Schutzpflichten entwickelten Verfahrenspflichten (Untersuchungs-, Hinweis- und Beratungspflichten) untersucht werden. Ähnlich kann parallel zur Abwehrrechtsprüfung ein Verstoß gegen eine Schutzpflicht angesichts einer völligen Untätigkeit oder angesichts des Ergreifens völlig untauglicher Maßnahmen festgestellt werden. Dies entspricht den Ansätzen in der Rechtsprechung des EuGH zu grundfreiheitlichen Schutzpflichten.
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Siehe zu dieser ständigen Prüfungsstruktur des EGMR exemplarisch EGMR (GK), Nr. 29515/95, Larkos/Zypern, ECHR 1999-I, § 29, und EGMR, Nr. 34406/97, Mazurek/ Frankreich, ECHR 2000-II, § 48. EuGH, Rs. C-450/93, Kalanke, Slg. 1995, I-3051; Rs. C-409/95, Marschall, Slg. 1997, I-6363; Rs. C-158/97, Badeck, Slg. 2000, I-1875; Rs. C-407/98, Abrahamsson, Slg. 2000, I-5539. Siehe zu dieser regelmäßigen Prüfungsstruktur des EGMR in Bezug auf die leistungsrechtlichen Justizgrundrechte exemplarisch EGMR, Nr. 15919/89, Urteil vom 30.11.2000, Palumbo/Italien, §§ 42, 47. Oben, III. 2. b).
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IV. Ausblick: Materiellrechtliches und institutionelles Arbeitsprogramm Das materiellrechtliche Programm eines Ausbaus der Grundrechtsdogmatik ist damit ebenso wie die bereits bestehenden Grundlagen umrissen. Besonders die Frage der horizontalen und vertikalen Reichweite der Grundrechte wird in der künftigen EuGH-Judikatur weiter geklärt werden müssen. Dabei wird die Entwicklung der jeweiligen Kontrollstandards im Vordergrund stehen. Hier kann ein Ausbau des Konzepts der margin of appreciation von großem Nutzen sein. Darüber hinaus werden zahlreiche dogmatische Einzelfragen wie die Inhaltsbestimmung der Teilhabe- und Leistungsrechte oder der Schutz juristischer Personen des öffentlichen Rechts zu klären sein. Zudem sind weitere hier noch gar nicht angesprochene Aspekte zu erörtern. Von der Grundfreiheitendogmatik ausgehend wird sich insbesondere die Frage stellen, inwieweit diese grundrechtliche Elemente enthalten. Die Beantwortung dieser Frage hängt maßgeblich davon ab, ob die Grundfreiheiten weiter als Beschränkungsnormen ausgebaut werden und inwieweit sie sich dabei von ihren funktionalistischen (Binnenmarktbezug) und transnationalen (Grenzüberschreitung) Wurzeln emanzipieren.189 Je stärker dies der Fall ist, desto größer werden die Überschneidungsflächen mit den Grundrechten. Sollten die Grundfreiheiten dagegen vorwiegend als Diskriminierungsverbote aktiviert werden, dürfte ihre Bedeutung mit zunehmender Binnenmarktintegration abnehmen, während die Grundrechte im gleichen Zuge als Kontrollmaßstäbe sekundärrechtlicher Harmonisierung in den Vordergrund treten. Neben der mit der Ratifikation des Lissabonner Vertrages erreichten primärrechtlichen Verankerung der Grundrechte-Charta stellt sich auch in institutioneller Hinsicht die Frage, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um dem EuGH die Erfüllung seiner grundrechtsschützenden Aufgaben zu erleichtern. Die Antwort auf diese Frage ist gleichermaßen innerhalb des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystems wie in den außergemeinschaftlichen Koexistenzverhältnissen zu suchen. So sind innergemeinschaftlich die Klagemöglichkeiten von Individuen und gegebenenfalls auch von Gruppen vor dem EuGH zu verbessern.190 In letzter Konsequenz ist dabei auch die Einführung einer Verfassungs- bzw. Grundrechtsbeschwerde sinnvoll.191 Dies gäbe dem EuGH die Möglichkeit, seine Rolle als Verfassungsgericht zu stärken. In diese Richtung zielt auch die zunehmende Aufgabenverlagerung 189
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Dazu grundlegend T. Kingreen, in diesem Band, S. 727 ff.; vgl. im Übrigen monographisch A. Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV, 2005. Hierzu ausführlich und mit abweichendem Ergebnis J. Bast, in diesem Band, S. 517 f. Wie hier, auf Grundlage von Art. 6 Abs. 1 EMRK: T. Corthaut/F.Vaneste, Waves between Strasbourg and Luxembourg: The Right of Access to a Court to Contest the Validity of Legislative or Administrative Measures, YEL 32 (1996), S. 475 (504 ff.). Dazu H.-W. Rengeling, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Gemeinschaftsebene?, in: FS Everling, 1995, Bd. II, S. 1187; N. Reich, Zur Notwendigkeit einer europäischen Grundrechtsbeschwerde, ZRP 2000, S. 375.
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an das EuG, das überdies durch verstärkte Kammerbildung zu einem umfassenden Fachgericht ausgebaut wird. In Bezug auf die Koexistenzbeziehungen verschiedener Grundrechtsinterpreten192 im europäischen Verfassungsverbund zwischen dem EuGH, dem EGMR und den nationalen Verfassungsgerichten bedarf es des weiteren Ausbaus der komplementären, teils parallelen Aufgabenwahrnehmung. Dabei dürfte nach einer durchaus fruchtbaren Phase der Konfliktbeschwörung das gegenwärtige Bemühen um den gemeinsamen Ausbau eines angemessenen Grundrechtsschutzes auf Gemeinschafts- bzw. Unionsebene zu intensivieren sein. Das Ausmaß derzeitig noch denkbarer Konflikte sollte insoweit nicht überschätzt werden. So hat sich aus deutscher Sicht das Verhältnis zwischen dem BVerfG und dem EuGH in grundrechtlicher Perspektive angesichts der Rücknahme der Kontrolle durch das BVerfG weitgehend entspannt. Auch im viel diskutierten Urteil des BVerfG zum deutschen Umsetzungsgesetz zum Europäischen Haftbefehl ist das Gericht keineswegs von dieser Linie abgerückt.193 Insbesondere kann das Urteil kaum als Kampfansage an den EuGH verstanden werden.194 So ist der Hinweis des Gerichts in einem obiter dictum, dass die mitgliedstaatlichen Legislativorgane gegebenenfalls auch eine (grundrechtswidrige) Umsetzung von Rahmenbeschlüssen verweigern können,195 solange nicht problematisch, wie sie nicht mit einer entsprechenden Vorrang-Rechtsprechung des EuGH kollidiert und nur die Möglichkeit einer Nicht-Umsetzung von offensichtlich primärrechtswidrigem Sekundärrecht thematisiert.196 Aber selbst wenn die obiter dicta und der Subtext des Urteils problematisch wären, entschärft der Haupttext doch entsprechende Konflikte, in dem das Gericht lediglich eine grundrechtsschonende Nutzung der mitgliedstaatlichen Spielräume vorgibt. Es darf daher bezweifelt werden, dass das Bundesverfassungsgericht insoweit ernstlich einen Konflikt mit dem EuGH anstrebt. Es dürfte allenfalls darum gehen, wie schon mit der Solange-Rechtsprechung, den EuGH zu einer effektiven Grundrechtskontrolle auch in der zweiten und dritten Säule zu bewegen. Im Übrigen ist die Wahrnehmung komplementärer Aufgaben im Bereich der ersten Säule eindeutig geklärt. Das BVerfG beschränkt sich dem Auftrag des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG entsprechend auf die Mitarbeit an einem vereinten Europa, 192
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Zum Verhältnis des EuGH zum EGMR siehe H. C. Krüger/J. Polakiewicz, Vorschläge für ein kohärentes System des Menschenrechtsschutzes in Europa, EuGRZ 2001, S. 92; E. Pache, Der Grundsatz des fairen gerichtlichen Verfahrens auf europäischer Ebene, EuGRZ 2001, S. 601 (606); Turner (Fn. 14), S. 453 ff.; vgl. ferner zum Ganzen F. C. Mayer, in diesem Band, S. 605 f. BVerfGE 113, 273 (insb. 300 f.); zur Frage, ob im Bereich der Umsetzungsverpflichtung auch in der zweiten und dritten Säule eine Solange-Rechtsprechung greifen soll, siehe einerseits bejahend J. Masing, Vorrang des Europarechts bei umsetzungsgegebundenen Rechtsakten, NJW 2006, S. 264 (265), und andererseits ablehnend S. Mißling, Die bundesverfassungsrechtliche Kontrolle so gen. umsetzungsgebundener Rechtsakte im Bereich der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit nach dem EUV, EuR 2007, S. 261 (269 ff.). So aber M. v. Unger, „So lange“ nicht mehr: Das BVerfG behauptet die normative Freiheit des deutschen Rechts, NVwZ 2005, S. 1266 (1268 ff.). BVerfGE 113, 273 (301). Vgl. dazu EuGH, Rs. C-475/01, Kommission/Griechenland, Slg. 2004, I-8923, Rn. 19.
Grundrechte
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das einen dem „Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“ Dies reduziert das BVerfG auf die Überprüfung, ob im Einzelfall oder insgesamt Anzeichen dafür ersichtlich sind, dass strukturelle Defizite im Grundrechtsschutz durch den EuGH existieren.197 Selbst in dem Fall, dass das BVerfG derartige Defizite feststellen sollte, wären jedoch vor der Wahrnehmung einer Verwerfungskompetenz und damit der „sehr theoretischen Reservekompetenz“ (Limbach198) angesichts des Entwicklungsauftrags des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zunächst sämtliche Kooperationsmöglichkeiten auszuschöpfen. Das bedeutet insbesondere, dass das BVerfG seine Bedenken entweder selbst oder im Wege der Verpflichtung der Fachgerichtsbarkeit im Vorlageverfahren nach Art. 234 EG vor dem EuGH zu artikulieren hätte.199 Auch die (vermeintlichen) Konflikte zwischen der EMRK und den Unionsgrundrechten lösen sich bei näherer Betrachtung weitgehend auf. Zunächst reduziert die faktische Orientierung des EuGH an der Konventionsauslegung durch den EGMR das denkbare Konfliktpotenzial erheblich.200 Ganz in diesem Sinne läuft auch die Günstigkeitsregelung der Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 GR-Charta darauf hinaus, dass sich der EMRK-Standard in Konfliktfällen durchsetzt.201 Auch die ‚Solange‘-ähnliche Rechtsprechung des EGMR zur Kontrolle von Unionshandeln über die Brücke der Verantwortung der Konventions- bzw. Unionsstaaten hat die Konfliktlage zwischen Konventionsordnung und Unionsordnung weitgehend entschärft, auch wenn sich der EGMR im Bosphorus-Urteil202 eine Überprüfung des vergleichbaren Grundrechtsschutzes auf Unionsebene im Einzelfall grundsätzlich vorbehält.203 Im Übrigen werden die Konfliktpotenziale künftig dadurch entschärft, dass ein Beitritt der Union zur EMRK erfolgen kann. Mit der Ratifikation des Lissabonner Vertrages sind dazu jedenfalls die kompetenziellen Grundlagen auf der Seite der Union geschaffen.204 Sobald dieser erfolgt, wird dies die wechselseitige Befruchtung von EGMR und EuGH in Grundrechtsfragen erleichtern.205
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199 200 201 202 203
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Zuletzt deutlich BVerfGE 102, 147 (164). Vgl. zur Äußerung der damaligen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts J. Limbach, Die Kooperation der Gerichte in der zukünftigen europäischen Grundrechtsarchitektur, EuGRZ 2000, S. 417 (420). Dass sich der EuGH einem solchem Warnruf verschließen würde, dürfte ebenso wie die Frage der rechtlichen Konsequenzen ins Reich der juristischen Konfliktphantasien gehören. Die bisherigen vermeintlichen Diskrepanzen haben sich als harmlos herausgestellt, siehe dazu exemplarisch Kühling (Fn. 65), S. 57 f. Dazu Grabenwarter (Fn. 33), S. 340 ff.; zu weiteren Überlegungen vgl. im Übrigen die Vorauflage dieses Bandes, S. 629, sowie R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 223 ff. Siehe den Nachweis in Fn. 67. R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 206; kritisch zu dieser Rechtsprechung und mit der Warnung vor „doppelten Standards“ C. Eckes, Does the European Court of Human Rights Provide Protection from the European Community?, EPL 13 (2007), S. 47 (65 ff.). Vgl. dazu R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 222 f. Vgl. dazu auch grundlegend S. Douglas-Scott, A Tale of Two Courts, CMLRev. 2006, S. 629.
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Denn im Vordergrund der Alltagsarbeit der verschiedenen Grundrechtsinterpreten steht schließlich die wechselseitige Kooperation und Anregung mit dem Ziel, einen optimalen Grundrechtsschutz des Bürgers zu gewährleisten. Der stets punktuelle Dialog über das Urteilsverfahren sollte insoweit durch institutionelle Austauschmöglichkeiten verstärkt werden, deren mildeste, gleichwohl effektive Form des informellen Gedankenaustauschs bereits genutzt wird.206 Unabhängig davon kann die Rechtswissenschaft gerade im Grundrechtsbereich mit ihren dogmatischen Beiträgen die Grundrechts-Judikatur des EuGH beflügeln. Die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt eine diesbezügliche Öffnung immer deutlicher.
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Zu denkbaren, weitergehenden institutionalisierten Kooperationsverhältnissen zwischen dem EGMR und dem EuGH siehe S. Alber/U. Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 497 (507 ff.), die sich aber auch optimistisch zur Wirkung informeller Kontakte äußern, vgl. S. 510; Pache (Fn. 192), S. 606, der davon ausgeht, dass die informalen Rücksichtnahmen in der Zukunft nicht mehr ausreichen werden; Turner (Fn. 14), S. 466 f., schlägt vor, eine „Chamber of Human Rights“ beim Europäischen Gerichtshof zu installieren, die den informellen Austausch verbessern und zu einem einheitlichen Standard des Menschenrechtsschutzes führen soll. Zudem soll diese Kammer auf Anfrage im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren Stellung zu der Menschenrechtsrelevanz des geplanten legislativen Vorhabens nehmen.
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Grundfreiheiten
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I. Die Grundfreiheiten im rechtswissenschaftlichen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Grundfreiheiten im Prozess der Europäisierung und Konstitutionalisierung . . . 1. Der politisch-institutionelle Kontext I: Das Horizontalverhältnis zwischen EuGH und europäischem Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der politisch-institutionelle Kontext II: Das Vertikalverhältnis zwischen EuGH und mitgliedstaatlichem Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Transnationale Integration oder (supra-)nationale Legitimation? . . . . . . . . . . . . III. Dogmatische Umsetzung der Kontextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Struktur und Reichweite der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Bindung der Union an die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Unionsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten . . . . . . . . IV. Die sog. Privatwirkung der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmittelbare Privatwirkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Alternative: Das Recht auf hoheitliche Schutzgewähr . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die Grundfreiheiten im rechtswissenschaftlichen Diskurs Der Begriff der Grundfreiheiten ist eine der wenigen erfolgreichen rechtsdogmatischen Schöpfungen zum Gemeinschaftsrecht. Obwohl er als Oberbegriff für die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28, 29 EG = Art. 34, 35 AEUV), die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EG = Art. 45 AEUV), die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EG = Art. 49 AEUV), die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EG = Art. 56 AEUV) und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art. 56 EG = Art. 63 AEUV) in den geltenden Verträgen überhaupt nicht1 und in der Rechtsprechung des EuGH nur beiläufig auftaucht,2 gehört er heute im deutschsprachigen Raum zum klassischen eu-
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Die Verträge handeln von „Grundfreiheiten“ nur mit anderer Bedeutung, nämlich als Begriffsbestandteil der EMRK (vgl. Art. 177 Abs. 2 EG, Art. 6 Abs. 2 EU). EuGH, Rs. 203/80, Casati, Slg. 1981, 2595, Rn. 8; Rs. 205/84, Kommission/Deutschland, Slg. 1986, 3755, Rn. 54; vgl. auch W. Pfeil, Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegriffs der „Vier Grundfreiheiten“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1998, S. 3 ff.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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roparechtlichen Repertoire. Andere Sprachen kennen hingegen keine auch nur annähernd so gebräuchliche Bezeichnung.3 Wer das Copyright für den Begriff Grundfreiheiten besitzt, ist ungewiss.4 Man kann aber sein vermehrtes Auftreten immerhin zeitlich, nämlich etwa in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, einigermaßen genau fixieren. Die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten war seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend inkonsistent geworden. Die Abgrenzung zwischen binnenmarktbezogenen Maßnahmen und solchen Maßnahmen, die sich nicht spezifisch auf den Binnenmarkt auswirkten, war zunehmend unklar geworden: Von nationalen Ladenschlussregelungen5 über Beschäftigungsverbote von Arbeitnehmern an Sonntagen6 bis zur altehrwürdigen zivilrechtlichen Figur der culpa in contrahendo7 musste sich jede wirtschaftsregulierende Maßnahme vor den Grundfreiheiten rechtfertigen. Rechtsunsicherheit breitete sich aus. Nachdem sich die deutsche europarechtliche Literatur über Jahrzehnte hinweg auf die Exegese von EuGH-Entscheidungen beschränkt hatte, läutete, jedenfalls im Bereich der Grundfreiheiten, das den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten beschränkende Urteil Keck 1993 das Ende des EuGH-Positivismus ein. Dazu trug neben der bis heute nicht geklärten Frage, ob die für die Warenverkehrsfreiheit entwickelten Keck-Grundsätze auch auf die anderen Grundfreiheiten übertragen werden können, eine ziemlich hilflos anmutende Begründung des EuGH für die Rechtsprechungswende bei, die geradezu als Aufforderung verstanden werden musste, über den Einzelfall hinausgehende dogmatische Konzepte zu entwickeln. Dass sich nämlich „die Wirtschaftsteilnehmer immer häufiger auf Art. 30 EWGVertrag berufen, um jedwede Regelung zu beanstanden, die sich als Beschränkung
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Im Englischen werden als Entsprechungen „fundamental freedoms“ (D. Ehlers, European Fundamental Rights and Freedoms, 2007; P. Oliver/S. Enchelmaier, Free Movement of Goods, CMLRev. 44 (2007), S. 649 (666 ff.)) und „The four freedoms“ (C. Barnard, The Substantive Law of the EU: The four freedoms, 2007) verwendet, allerdings nach wie vor eher selten (keine Erwähnung etwa bei J. H. H. Weiler, The Constitution of the Common Market Place, in: P. Craig/G. de Búrca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, 1999, S. 349 ff.; A. Arnull u.a., Wyatt & Dashwood’s European Union Law, 2000, S. 317 ff.) Bei den „four freedoms“ mag das auch daran liegen, dass diese mit dem Titel einer berühmten Rede Franklin D. Roosevelts vor dem amerikanischen Kongress besetzt sind, in der er, mitten im 2. Weltkrieg, die Vision einer zukünftigen Welt skizzierte, die auf der Freiheit der Menschen (1. Meinungsfreiheit, 2. Religionsfreiheit, 3. Freiheit vor Not, 4. Freiheit vor Furcht) gründen sollte (in Peace and War: United States Foreign Policy 1931–1941, 1943, S. 611, unter www.ibiblio.org/hyperwar/Dip/PaW/index.html (25.11.2008). Als französische Entsprechung bietet sich „Les quatre libertés“ (vgl. J. Boulouis, Droit institutionnel des communautés européennes, 1993, S. 211) an. In einem spanischen Lehrbuch (J. N. A. Solís, Fundamentos y políticas de la Unión Europea, 1998, S. 91) findet sich der Oberbegriff „Las libertades básicas“. Die früheste mir bekannte Quelle ist H. Runge, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, JuS 1964, S. 305 (307). EuGH, Rs. 145/88, B & Q, Slg. 1989, 3851. Vgl. etwa EuGH, Rs. C-312/89, Conforama, Slg. 1991, I-997. EuGH, Rs. C-93/92, CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009.
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ihrer geschäftlichen Freiheit auswirkt“,8 war zwar ein Grund für die zunehmende Belastung des EuGH, aber noch keine Grundlage für ein methodisches Konzept, das sich nicht am nächsten Einzelfall wieder bricht. So lässt sich in der deutschsprachigen Literatur nach dem Keck-Urteil eine veränderte Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand beobachten, die für die Konjunktur des Begriffes Grundfreiheiten verantwortlich ist. Neben die Behandlung von Einzelthemen treten Veröffentlichungen, die sich um die Herausarbeitung der gemeinsamen dogmatischen Grundlagen der Warenverkehrsfreiheit, der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und der Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs bemühen. Oberbegriffe werden geboren, weil man meint, dass das, was ihnen unterfällt, einer einheitlichen, Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellenden Betrachtung zugänglich ist. So steht der neue Begriff für die Erkenntnis, dass es allgemeiner Lehren der Grundfreiheiten bedarf, in denen übergreifende, nicht auf die einzelne Grundfreiheit und ihre spezifischen Probleme beschränkte, gemeinsame dogmatische Grundlagen der Grundfreiheiten zusammengetragen, also quasi vor die Klammer gezogen werden. Bestärkt wird die Literatur dabei von der Rechtsprechung des EuGH, der ebenfalls vermehrt betont, dass die Grundfreiheiten auf gemeinsamen dogmatischen Grundsätzen beruhen.9 Die seit der Mitte der 1990er Jahre veränderte, übergreifende Herangehensweise an die Grundfreiheiten zeigt sich in allen Literaturgattungen. In der Lehrbuchliteratur kann man sie etwa an der Entwicklung des Standardwerkes von Rudolf Streinz schön nachvollziehen. Nicht nur hat sich der Umfang der den Grundfreiheiten gewidmeten Seiten zwischen der 1. Auflage im Jahre 1992 und der 4. Auflage aus dem Jahre 1999 nahezu verdoppelt, sondern es hat sich auch die Struktur der Darstellung in dieser Dekade grundlegend gewandelt: Während in der 1. Auflage die einzelnen Grundfreiheiten noch nach Kapiteln getrennt behandelt und nur bei den Personenverkehrsfreiheiten auf drei Seiten einige Gemeinsamkeiten zusammengetragen wurden,10 enthält die 4. Auflage ein einheitliches Kapitel zum Untersuchungsgegenstand, das mit „Die Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes/ Binnenmarktes“ überschrieben ist und fast die Hälfte der Darstellung den allgemeinen Lehren der Grundfreiheiten widmet.11 Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich in der Kommentarliteratur beobachten: In den älteren Kommentaren nur am Rande erwähnt, findet sich der Begriff Grundfreiheiten heute in jedem Stichwort8 9 10 11
EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck, Slg. 1993, I-6097, Rn. 14; näher unten, II. 1. c). EuGH, Rs. C-106/91, Ramrath, Slg. 1992, I-3351, Rn. 17; Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37. R. Streinz, Europarecht, 1. Aufl. 1992, Rn. 701–713. R. Streinz, Europarecht, 4. Aufl. 1999, Rn. 652–710; ders., Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rn. 779–952: „Gemeinsame Prinzipien und Unterschiede“. Neuere Lehrbücher, wie das erstmals 1997 erschienene von M. Herdegen, stellen der Darstellung der Grundfreiheiten bereits seit der 1. Aufl. eine Darstellung allgemeiner Lehren voran, M. Herdegen, Europarecht, 1. Aufl. 1997, § 15; vgl. ders., Europarecht, 10. Aufl. 2008, § 15.
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verzeichnis.12 Trotz der immanenten Grenzen des an der einzelnen Norm ansetzenden Konzepts des Kommentars wird auch hier an einer an die deutsche Grundrechtsdogmatik angelehnten systematisch-dogmatischen Durchdringung der Grundfreiheiten gearbeitet.13 Gleiches gilt für die Fachaufsätze: Nachdem erstmals 1992 Peter Behrens, übrigens ein Zivilrechtler, eine „Konvergenz der wirtschaftlichen Freiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht“ vermerkt hatte,14 erscheinen seit 1995 regelmäßig Aufsätze, die „allgemeine Lehren“15 bzw. die „Konvergenz“ der Grundfreiheiten thematisieren.16 Auch einzelne dogmatische Fragen, insbesondere die Privatwirkung und die Rechtfertigungsdogmatik, werden nunmehr einheitlich für alle Grundfreiheiten behandelt.17 Ein den Grundfreiheiten gewidmetes Handbuch, mehrere Dissertationen und sonstige Monographien runden das Bild ab.18 Der theoretisch-systematische Zugriff auf die Grundfreiheiten ist sicherlich der Beitrag, den man von der deutschen Europarechtswissenschaft erwartet/erhofft/befürchtet hat. Der in der deutschen Grundrechtsdogmatik groß gewordene Jurist hat nicht nur die Grundrechte, sondern die gesamte Rechtswissenschaft als den Versuch kennen gelernt, die Fülle von Einzelregelungen des positiven Rechts und der daraus entwickelten Entscheidungen und Meinungen zu ordnen und zu systematisieren. In diesem Lernprozess geht es nicht primär um die Angemessenheit eines bestimmten Systems, sondern zunächst einmal um die Konstruktion eines solchen. Dogmatik
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Vgl. als neuere Kommentare C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 3. Aufl. 2007; J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009; R. Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003. Vgl. U. Becker, in: Schwarze (Fn. 12), Art. 28 EG, Rn. 5 ff.; T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 12), Art. 28–30 EG, Rn. 2–116. P. Behrens, Die Konvergenz der wirtschaftlichen Freiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR 1992, S. 145. D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2005, § 7; H. D. Jarass, Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten, EuR 1995, S. 202 und ders., Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten II, EuR 2000, S. 705. C.-D. Classen, Auf dem Weg zu einer einheitlichen Dogmatik der EG-Grundfreiheiten?, EWS 1995, S. 97; M. Eberhartinger, Konvergenz und Neustrukturierung der Grundfreiheiten, EWS 1997, S. 43; T. Eilmansberger, Zur Reichweite der Grundfreiheiten des Binnenmarktes, JBl. 1999, S. 345 sowie 434; M. Nettesheim, Die europarechtlichen Grundrechte auf wirtschaftliche Mobilität, NVwZ 1996, S. 342; P. Steinberg, Zur Konvergenz der Grundfreiheiten auf der Tatbestands- und Rechtfertigungsebene, EuGRZ 2002, S. 13. Zwei der Aufsätze (Eberhartinger, Eilmansberger) stammen von österreichischen Autoren, wie überhaupt ein sehr starkes Interesse an der Thematik in Österreich zu konstatieren ist, vgl. etwa noch C. Ranacher, Grundfreiheiten und Spürbarkeitstheorie, ZfR 42 (2001), S. 95. Vgl. die Nachweise unten, III. 1. b) und IV. Vgl. W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1: Europäische Grundfreiheiten, 2004; M. Hoffmann, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als koordinationsrechtliche und gleichheitsrechtliche Abwehrrechte, 2000; T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; K. Mojzesowicz, Möglichkeiten und Grenzen einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten, 2001; A. Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, 2004; S. Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003.
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will abstrakte Muster für zusammengehörende Normkomplexe erarbeiten, um die Rechtsanwendung zu erleichtern, Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen prognostizierbar zu machen und damit zugleich zur Effektivierung dieser Normen beizutragen.19 Diese in der deutschen Europarechtswissenschaft verbreitete Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand steht unter Rechtfertigungsdruck. Sie lebt mit der Kritik, dass sie eine introvertierte Nabelschau betreibe, die in der europäisierten Europarechtswissenschaft nicht anschlussfähig sei. Diese Kritik ist berechtigt, wenn, unbesehen und ohne Abstrahierung, dogmatische Figuren aus dem innerstaatlichen in den europäischen Diskurs übernommen werden, wenn juristische Dogmatik sich gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlichen Kontexten verschließt und sich auf diese Weise disziplinär und national „geschlossene Diskurskreise“20 bilden, die fehlende Bereitschaft zu gemeinsamer Methodenreflexion signalisieren.21 Sie ist unberechtigt, wenn und soweit sie sich aus einem übertriebenen Antagonismus zwischen einer eher kasuistisch analysierenden Methode im angelsächsischen Rechtskreis22 und der im deutschsprachigen Rechtskreis verbreiteten systematisch-analytischen Methode speist und daraus, bisweilen übrigens ebenfalls eher aus einer Binnensicht, ableitet, dass diese von den Einzelfällen abstrahierende Herangehensweise für die wissenschaftliche Durchdringung des Europarechts ungeeignet ist. Dogmatische Konzepte entstehen nicht aus dem Nichts. Die Phantasie des Juristen wird angeregt durch Fälle, die Rechtswissenschaft lebt von Fällen, die Gerichte falsch oder richtig entscheiden; das gilt zumal für das Europarecht, „das seine wesentlichen Inhalte und Strukturen erheblich stärker aus der fortschreitenden Verzweigung der EuGH-Rechtsprechung zieht als aus den Vorgaben des rahmenartigen Primärrechts und des oft kompromisshaften Sekundärrechts.“23 Auf dem Fallmaterial, auf dem Vergleich und der Vergleichbarkeit der Fälle bauen systematisch-dogmatische Konzepte auf, die versuchen, einen Wissensbestand jenseits von Einzelfällen aufzubauen. Dogmatik ist also nicht Doktrin, sondern „Hilfe beim Konkretisieren von Normen des geltenden Rechts“,24 der gleichsam positivistisch motivierte Versuch, den vorhandenen Bestand zu ordnen. Sie macht das Recht, das nicht nur anhand von Fällen einfach auswendig gelernt werden soll, lehr- und lern-
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J. Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 189 f. F. Mayer, Europa als Rechtsgemeinschaft, in: G.-F. Schuppert/I. Pernice/U. Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 429 (480). Vgl. dazu A. v. Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht: Strukturen, Debatten und Entwicklungsperspektiven der Grundlagenforschung zum Recht der Europäischen Union, Der Staat 40 (2001), S. 3 (6 ff.), und I. Pernice, Europarechtswissenschaft oder Staatsrechtslehre?, DV Beiheft 7/2007, S. 225 (227 ff.). Repräsentant dieser Methode im Europarecht etwa S. Weatherill, Cases & Materials on EU Law, 2007. M. Ruffert, Was kann die deutsche Europarechtslehre von der Europarechtswissenschaft im europäischen Ausland lernen?, DV Beiheft 7/2007, S. 253 (257 f.). F. Müller, Juristische Methodik, 1997, S. 229; vgl. ferner K. F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2001, S. 414 ff.
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bar.25 Dogmatik indes, die sich vom Anspruch, einen Rahmen für die Lösung von Rechtsfällen anzubieten, verabschiedet, ist ebenso unergiebig wie ein kritikloser EuGH-Positivismus. Die Grundfreiheiten sind eine wichtige, ja vielleicht die beste Bestärkung für die Vermutung, dass konkret-kasuistischer Zugang und abstrakt-dogmatische Analyse keinen unüberbrückbaren Gegensatz bilden müssen.26 Auf der einen Seite kann kein anderer Rechtsbereich des europäischen Verfassungsrechts aus einem derart reichhaltigen Fallmaterial schöpfen, das Grundlage jeder rechtswissenschaftlichen Bearbeitung sein muss. Auf der anderen Seite ist kein anderer Rechtsbereich in seinen dogmatischen Strukturen so umstritten, ja beruht die Vielfalt des Fallmaterials auf dem Umstand fehlender Voraussehbarkeit von Entscheidungen und diese wiederum auf einer unterentwickelten theoretisch-dogmatischen Reflexion. Der nachfolgende Beitrag erarbeitet zunächst den historisch-politischen Kontext für eine Dogmatik der Grundfreiheiten (II.) und bereitet diese danach auf der Grundlage eines theoretischen Konzepts dogmatisch auf (III.). Ein kurzer Blick auf die Diskussion um die Privatwirkung der Grundfreiheiten (IV.) und einige abschließende Bemerkungen (V.) runden den Beitrag ab.
II. Die Grundfreiheiten im Prozess der Europäisierung und Konstitutionalisierung Der dogmatische Zugriff auf die Grundfreiheiten muss sich vor allem mit der Frage auseinandersetzen, was die Grundfreiheiten überhaupt sind. Man ahnt, dass sie so etwas Ähnliches sind wie die Grundrechte, aber doch irgendwie anders. Dieses „Anders-Sein“ gewinnt deutlichere Konturen durch die Einbindung der Grundfreiheiten in ihr verfassungsrechtliches Umfeld: Die Grundfreiheiten sind, wie jeder Rechtssatz, kontextabhängig. Die Erschließung ihres Kontextes vermag ihre historische Rolle im Europäisierungs- und Konstitutionalisierungsprozess und ihre aktuelle verfassungsrechtliche Funktion zu beleuchten. Sie ist, als Element der systematischen Auslegung,27 unverzichtbare Voraussetzung für die Erarbeitung der dogmatischen Struktur der Grundfreiheiten.
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Vgl. den Beitrag von A. v. Bogdandy in diesem Band sowie das engagierte Plädoyer für mehr Dogmatik im Gemeinschaftsrecht von J. Kühling/O. Lieth, Dogmatik und Pragmatik als leitende Parameter der Rechtsgewinnung im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 371. Bedeutende Beiträge aus der deutschen Europarechtswissenschaft zu den Grundfreiheiten sind in diesem Sinne U. Haltern, Europarecht, 2007, § 14, und F. Mayer, Die Warenverkehrsfreiheit im Europarecht: Eine Rekonstruktion, EuR 2003, S. 793. Klassisch: C. F. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840, S. 214; vgl. zur systematischen Auslegung im Gemeinschaftsrecht EuGH, Rs. 283/81, C.I.L.F.I.T, Slg. 1982, 3415, Rn. 20, wonach „jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts … auszulegen [ist].“
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1. Der politisch-institutionelle Kontext I: Das Horizontalverhältnis zwischen EuGH und europäischem Gesetzgeber a) Die Grundfreiheiten in der Krise der Gemeinschaft Historisch verdankt sich der herausragende Beitrag der Grundfreiheiten zum Gelingen des Binnenmarktprojekts der Funktionsschwäche der europäischen Rechtsetzungsorgane einerseits und dem Selbstverständnis des EuGH als Motor der Integration andererseits. Daraus entwickelte sich das auch für das Verfassungsrecht typische Komplementärverhältnis zwischen Akteur und Souffleur: In dem Maße, in dem den Rechtsetzungsorganen, in den Anfangsjahren also im Wesentlichen dem Rat, die politische Fähigkeit zur Erfüllung des Integrationsauftrages fehlte, sprang der EuGH in die Bresche, um Hindernisse auf dem Weg zum großen Ziel „Gemeinsamer Markt“ aus dem Weg zu räumen. Als der EuGH 1963 in van Gend en Loos – getreu dem Motto Monnets, dass nicht Staaten, sondern Menschen vereinigt werden – den Einzelnen zum Rechtssubjekt des Gemeinschaftsrechts beförderte28 und 1964 im Urteil Costa/E.N.E.L. den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor jeder Norm des nationalen Rechts postulierte,29 war der politische Integrationsprozess gerade im Begriff, in seine erste tiefe Krise zu schlittern. Nach der Anfangseuphorie des Aufbruchs in ein neues Europa wurden bereits zu Beginn der 1960er Jahre die grundlegenden Differenzen zwischen den Hauptakteuren über den Fortgang des Integrationsprozesses erkennbar, die schließlich 1965 mit der französischen „Politik des leeren Stuhls“ offen zutage traten.30 Der französische Widerstand galt nur vordergründig der Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik; tatsächlich und grundsätzlicher richtete er sich gegen die Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Rat und die Stärkung von Kommission und Parlament, letztlich also insgesamt gegen Veränderungen des verfassungsrechtlichen Gefüges der Gemeinschaft.31 Die Krise wurde durch die sog. Luxemburger Beschlüsse vom 29. Januar 1966 zwar beigelegt, doch nur um den politisch hohen Preis, dass es faktisch beim Einstimmigkeitserfordernis im Rat blieb (Art. 100 EWG-Vertrag, heute Art. 94 EG), welches fortan die für die Herstellung des Binnenmarktes erforderliche Rechtsangleichung in der Gemeinschaft nachhaltig behinderte.32 Das Problem spitzte sich zu durch den 1973 erfolgten Beitritt neuer Mitgliedstaaten (England, Irland und Dänemark), der die Harmonisierungsprobleme nochmals vergrößerte und den Entscheidungsprozess noch schwerfälliger machte.
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EuGH, Rs. 26/62, van Gend, Slg. 1963, 1 (25). EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L, Slg. 1964, 1253 (1269 f.). Chronik und Analyse der Ereignisse: J. Kaiser, Das Europarecht in der Krise der Gemeinschaften, EuR 1966, S. 4. Haltern (Fn. 26), § 2 Rn. 68 ff. R. Lukes, in: M. A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, (Stand: April 2008), B. II, Rn. 87 konstatiert für die 70er Jahre einen „praktischen Stillstand der Rechtsangleichung“.
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Je deutlicher die Funktionsschwäche der Legislative zutage trat, desto mehr wurde das Bewusstsein für die funktionalen Vorteile des Gerichtshofs geschärft, natürlich auch bei den Mitgliedern desselben. Eine obligatorische Gerichtsbarkeit jenseits des Nationalstaates war ohnehin bereits eine für internationale politische Gebilde geradezu revolutionäre Innovation. Und sie war funktional noch am ehesten in der Lage, dem ins Stocken geratenen Integrationszug neuen Schwung zu geben: Anders als der Rat muss der EuGH entscheiden, wenn er gefragt wird, und immerhin war es seit jeher unumstritten, dass Urteile des Gerichtshofs anders als politische Entscheidungen grundsätzlich – wenn auch bisweilen mit Murren – zu akzeptieren sind.33 In der Situation des Stillstands der Harmonisierungsbemühungen müssen daher zwei Urteile des EuGH, die die Dogmatik der Grundfreiheiten bis heute prägen, wie ein Silberstreif am Horizont gewirkt haben: Seit der Entscheidung Dassonville aus dem Jahre 1974 sieht der EuGH grundsätzlich in jeder nationalen Handelsregelung, die „geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“,34 einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit. Das war ein doppelter Durchbruch: Zum einen wird der Einzelne seither in die Lage versetzt, Eingriffe in die unmittelbar geltenden Grundfreiheiten vor allen mitgliedstaatlichen Gerichten geltend zu machen. Und zum anderen enthält die Dassonville-Formel keine Beschränkung auf bestimmte Beeinträchtigungsformen, schützt also nicht nur vor Diskriminierungen, sondern auch vor allen anderen Beschränkungen. Mit der Entscheidung Dassonville wird also der Anspruch erhoben, grundsätzlich alle Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Handels am Maßstab der Grundfreiheiten zu prüfen. Und dies waren und sind natürlich primär diejenigen Hindernisse, die durch gesetzgeberische Harmonisierung zunächst nicht hatten beseitigt werden können. Zwar sind nationale Maßnahmen, die solche ungerechtfertigten Hindernisse enthalten, nicht nichtig, sondern nur im grenzüberschreitenden Verkehr unanwendbar. Doch üben die Entscheidungen des EuGH auch nach innen einen Harmonisierungsdruck auf den zuständigen Gesetzgeber aus, der den inländischen Sachverhalt nicht schlechter stellen will als den grenzüberschreitenden.35 So bedeutet „jede Justierung des Prüfungsmaßstabes zugleich eine Austarierung verfassungsrechtlich intendierter Gewaltenbalance“:36 Je weiter der EuGH die Grundfreiheiten auslegt, desto stärker verlagert sich das Gewicht von den Rechtsangleichungs33 34
35 36
A. Wolf-Niedermaier, Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik, 1997, S. 259. EuGH, Rs. 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837, Rn. 5. Entsprechendes gilt für die Dienstleistungsfreiheit: EuGH, Rs. 33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, 1299, Rn. 10/12. Nach anfänglicher Zurückhaltung wendet der EuGH mittlerweile wohl auch die Personenverkehrsfreiheiten auf alle transnationalen Beeinträchtigungen an. Als Nachweise dafür gelten: EuGH, Rs. 107/83, Klopp, Slg. 1984, 2971, Rn. 19, für die Niederlassungsfreiheit und Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 90, 96, für die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Dazu eindrücklich U. Everling, Rechtsvereinheitlichung durch Richterrecht in der Europäischen Gemeinschaft, RabelsZ 50 (1986), S. 193 (214 ff.). G.-F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 3.
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ermächtigungen (vor allem Art. 95 EG) weg hin zu den Grundfreiheiten, vom Gesetzgeber zum EuGH. Diese verfassungsrechtliche Gewichtsverlagerung wurde aber im europäischen Zusammenhang zunächst mehr als Chance denn als Problem wahrgenommen. Dies umso mehr, als die Rechtsetzungsbefugnisse bei der Exekutive konzentriert waren und es an einem unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgeber fehlte, auf dessen politischen Primat hätte Rücksicht genommen werden müssen. In dem zweiten bedeutenden Urteil Cassis de Dijon aus dem Jahre 1979 schlüpfte der EuGH noch weiter in die Rolle des Souffleurs im politischen Integrationsprozess. Aus der Warenverkehrsfreiheit leitete er nunmehr die Forderung ab, dass die Einfuhr von Waren, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, grundsätzlich nicht verhindert werden darf.37 Das war eine deutliche Absage an die bis dahin verbreitete Ansicht, dass diese Hemmnisse bis zu einer Harmonisierung durch die Gemeinschaft hinzunehmen seien.38 Zugleich hat sich der EuGH zum Vorreiter des Prinzips gegenseitiger Anerkennung gemacht (sog. Herkunfts- oder Ursprungslandprinzip), das fortan auch von den anderen Organen als „neue Strategie“ entdeckt und praktiziert wurde.39 Und auch dogmatisch war die Entscheidung Cassis de Dijon ein Meilenstein. Der Gerichtshof hat nämlich in Art. 28 EG immanente Schranken hineingelesen, die er seitdem in ständiger Rechtsprechung bei allen Grundfreiheiten neben die kodifizierten Rechtfertigungsgründe (etwa Art. 30 EG) stellt: Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Erzeugnisse ergeben, müssen danach hingenommen werden, „soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden.“40 Diese Formel genügte den Ansprüchen der Zeit: Einerseits musste zwar der weite Anwendungsbereich der Dassonville-Formel auf der Rechtfertigungsebene gleichsam wieder eingefangen werden; andererseits durfte die in dieser kritischen Phase des Integrationsprozesses notwendige Flexibilität bei der mitgestaltenden Rechtsangleichung nicht verloren gehen. Der Tatbestand des Art. 28 EG hatte damit zwar nur schemenhafte Konturen, denn mehr als die Aussage, dass alle ungerechtfertigten Hemmnisse für den Binnenmarkt verboten waren, ließ sich der Rechtsprechung nicht entnehmen. Doch erschienen dogmatische Festlegungen in einer Zeit der stockenden legislativen Rechtsangleichung als nicht opportune Beschränkungen der prätorischen Rechtsangleichung. Das dogmatische Fundament für die Grundfreiheiten ist also bereits in den 1970er Jahren gelegt worden. Mit den Entscheidungen Dassonville und Cassis de Dijon waren die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Grundfreiheiten zu Frei37 38 39 40
EuGH, Rs. 120/78, Rewe, Slg. 1979, 649, Rn. 14. Vgl. I. Schwartz, 30 Jahre EG-Rechtsangleichung, in: FS von der Groeben, 1987, S. 333 (355 f.). Vgl. das Binnenmarkt-Weißbuch der Kommission, KOM(1985) 310, Rn. 61 ff., unter http://ec.europa.eu/comm/off/pdf/1985_0310_f_de.pdf (25.11.2008). EuGH, Rs. 120/78 (Fn. 37), Rn. 8.
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heitsrechten auszubauen, die vor allen unverhältnismäßigen Beeinträchtigungen grenzüberschreitender Transaktionen schützen. Der EuGH war zum Motor der Rechtsangleichung geworden, und die Grundfreiheiten waren sein Treibstoff. Die Anerkennung subjektiver Rechte (nicht nur im Primär-, sondern auch im Sekundärrecht) beförderte den Bürger zum „Funktionär der Integration“;41 sie mobilisierte und funktionalisierte seine Eigeninteressen zur Leistung eines Beitrags zur Etablierung der über den nationalen Rechtsordnungen stehenden Gemeinschaftsrechtsordnung.42 Das alles ist allerdings weit weniger bemerkenswert als der Umstand, dass die Entscheidungen Dassonville und Cassis de Dijon in ihrer Weite und blassen dogmatischen Kontur an sich nur aus der besonderen politischen Konstellation der 1970er Jahre verständlich sind, gleichwohl aber die Dogmatik der Grundfreiheiten auch in einem grundlegend veränderten politischen Umfeld bis heute prägen. Darauf ist im Folgenden einzugehen. b) Die Grundfreiheiten nach der Einheitlichen Europäischen Akte Ohne einen sich ständig erneuernden politischen Willen zur Integration war das europäische Einigungswerk natürlich auf lange Sicht nicht lebensfähig, und dieser Wille musste sich gerade in einer fortlaufenden Gesetzgebung manifestieren.43 So haben vor allem die institutionellen Reformen im Bereich der Rechtsetzung der Gemeinschaft den Weg aus der Krise der 1960er und 1970er Jahre gewiesen. Ein wesentlicher Fortschritt war der Aufstieg des Europäischen Parlaments zu einem demokratisch legitimierten Mitgesetzgeber. Die erste Direktwahl im Jahre 1979 veränderte zwar nicht seine geringen Befugnisse, aber doch immerhin seine Legitimationsbasis und damit auch sein Selbstverständnis. Dieses äußerte sich insbesondere in einer Verfassungsinitiative,44 die ein wesentlicher Anstoß für die am 1. Juli 1987 in Kraft getretene Einheitliche Europäische Akte war, die das Parlament erstmals in den Rechtsetzungsprozess der Gemeinschaft aktiv einbezog. Seither ist die Beteiligung des Parlaments bei der Rechtsetzung im Rat, insbesondere durch die Ausweitung des Verfahrens der Mitentscheidung (Art. 251 EG),45 stetig ausgeweitet und intensiviert worden. Die zweite grundlegende institutionelle Veränderung betraf das Entscheidungsverfahren im Rat bei der Rechtsangleichung. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte wurde erstmals vom Einstimmigkeitsprinzip für Maßnahmen der Rechtsangleichung abgerückt (Art. 100a EWG-Vertrag, heute Art. 95 EG), um das ehrgei41 42 43 44 45
C.-D. Classen, Der einzelne als Instrument zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, VerwArch 88 (1997), S. 645 (671). J. Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997, S. 175 ff. J. Schwarze, Funktionen des Rechts in der Europäischen Gemeinschaft, in: ders. (Hrsg.), Gesetzgebung in der Europäischen Gemeinschaft, 1985, S. 9 (26 f.). Entschließung zum Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union, ABl. 1984 C 77, S. 53. Vgl. die Übersicht bei W. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Fn. 12), Art. 251 EG, Rn. 9; zur Entwicklung ausführlich W. Wessels, Wird das Europäische Parlament zum Parlament?, in: GS Grabitz, 1995, S. 879 (888 ff.).
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zige Binnenmarktprogramm der Kommission aus dem Jahre 198546 in die Tat umzusetzen. Damit war eine weitere wesentliche Ursache für die in den 1960er und 1970er Jahren nur schleppend verlaufende Rechtsangleichung beseitigt: Bis zum 31. Dezember 1992 gelang es tatsächlich, über 90 % der im Weißbuch avisierten Rechtsakte in die Tat umzusetzen.47 Nun könnte man vermuten, dass sich die Effektuierung des Rechtsetzungsprozesses und die verstärkte Rechtsetzungsaktivität des europäischen Gesetzgebers auch auf die Bedeutung und Dogmatik der subjektiv-öffentlichen Rechte ausgewirkt haben müssten. Für die Grundrechte lässt sich dies in der Tat auch nachweisen: Nachdem sie sich bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre hinein an zwei Händen abzählen ließen, ist die Anzahl der Grundrechtsentscheidungen des EuGH seit Beginn der 1990er Jahre deutlich angestiegen.48 Ein prätorischer Grundrechtskatalog, der sich nicht mehr nur auf die wirtschaftlichen Grundrechte beschränkte, nahm Gestalt an, und mit ihm erste Elemente einer europäischen Grundrechtsdogmatik.49 Die Gründe liegen auf der Hand: Mit der verstärkten Rechtsetzungsaktivität wurde die Gemeinschaft als Widerpart grundrechtlich geschützter Lebensräume deutlicher wahrgenommen und wuchs das Bedürfnis nach supranationaler Legitimation, nachdem der EuGH schon früh klargestellt hatte, dass die nationalen Grundrechte als Maßstab für Rechtsakte der Gemeinschaft ausscheiden.50 Man hätte erwarten können, dass vergleichbare Gewichtsverlagerungen auch bei den Grundfreiheiten stattfinden würden, weil sich die bisherige Doktrin nur aus der besonderen verfassungsrechtlichen Situation der 1960er und 1970er Jahre erklären ließ. Doch weit gefehlt: Die bereits in den Entscheidungen Dassonville und Cassis de Dijon herausgearbeiteten Grundlagen der Grundfreiheiten blieben bis zu Beginn der 1990er Jahre hinein unverändert. Mit weitgehender Unterstützung der Literatur wurden alle Grundfreiheiten zu Freiheitsrechten ausgebaut.51 Zwar wurde formal an dem Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezuges festgehalten.52 Weil sich aber jede nationale Regulierung potentiell immer auch auf grenzüberschreitende Transaktionen auswirkt und die uferlose Dassonville-Formel keine Filterwirkung entfalten konnte,53 strandeten in zunehmendem Maße mitgliedstaatliche Regelungen beim EuGH, deren belastende Wirkungen mit dem Problem der nationalen Grenzen innerhalb des Binnenmarktes überhaupt nichts mehr zu tun hatten. 46 47 48 49 50 51 52
53
Kommission (Fn. 39). A. Hatje, in: Schwarze (Fn. 12), Art. 14 EG, Rn. 18. Ausführliche Aufstellung: T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 6 EU, Rn. 93 ff. Vgl. den Beitrag von J. Kühling in diesem Band. EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, Rn. 3. Übersicht über die Entwicklung in Rechtsprechung und Literatur: Kingreen (Fn. 18), S. 40 ff. Betonung der Unanwendbarkeit der Grundfreiheiten auf „interne Sachverhalte“ etwa in EuGH, Rs. C-41/90, Höfner, Slg. 1991, I-1979, Rn. 37; Rs. C-332/90, Steen, Slg. 1992, I-341, Rn. 9. Zur Bedeutung des Diskriminierungsbegriffes für eine Dogmatik der Grundfreiheiten noch unten, III. 1. a).
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Die Marktteilnehmer hatten die Grundfreiheiten als ein scharfes Schwert entdeckt, das ihnen die ungeahnte Möglichkeit eröffnete, auch diejenigen „alten Zöpfe“ abzuschneiden, deren Entfernung man im nationalen politischen Prozess nicht hatte durchsetzen können. Oft ließ sich der belastende Charakter überhaupt nur noch mit der Unterschiedlichkeit der Rechtsordnungen begründen: So wurde das deutsche Verbot der Preisgegenüberstellung (§ 6e UWG a.F.) als Eingriff angesehen, weil die unterschiedlichen Systeme der Werbung und Absatzförderung dazu führten, dass sich der Unternehmer in jedem Mitgliedstaat wieder auf ein neues System umstellen müsse.54 Letztlich entschied der Gerichtshof damit darüber, welches Normsystem das Beste ist.55 c) Die Grundfreiheiten in der Phase der Konstitutionalisierung Spätestens mit dem Vertrag von Maastricht ist der Integrationsprozess in eine neue Phase getreten, die man als Konstitutionalisierung bezeichnen kann. Zugleich mit der Vertiefung der wirtschaftlichen Integration durch die Wirtschafts- und Währungsunion wurde die Notwendigkeit artikuliert, Europa auch als politisches Gemeinwesen zu begreifen, wurden EG- und EU-Vertrag zu einer verfassungsrechtlichen Ordnung befördert, die den traditionellen Konnex zwischen Staat, Staatsvolk und Verfassung überwindet.56 Die Dogmatik der Grundfreiheiten verharrt dennoch im Wesentlichen auf dem Stand der 1970er Jahre. Diese Einschätzung wird durch das Urteil Keck aus dem Jahre 199357 nicht wirklich erschüttert. Allenfalls kann man von einer „behutsamen Wende“58 sprechen, denn die durch Dassonville und Cassis de Dijon gezogenen Grundlinien sind letztlich nicht wesentlich korrigiert worden. Der EuGH unterscheidet seit dem Keck-Urteil zwischen Regelungen, die Vorschriften über die Ware selbst (etwa hinsichtlich ihrer Bezeichnung, ihrer Form, ihrer Abmessungen, ihres Gewichts, ihrer Zusammensetzung, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung und ihrer Verpackung) enthalten, und solchen, die nur bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten. Während die produktbezogenen, unterschiedslos geltenden Vorschriften danach wie schon zuvor unter Art. 28 EG fallen, stellen Maßnahmen, die Verkaufsmodalitäten betreffen, keine Beeinträchtigungen von Art. 28 EG mehr dar. Voraussetzung ist freilich, dass die angegriffene Regelung inländische und ausländische Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berührt.59 Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist vor allem der Umstand, dass das bereits vorschnell verabschiedete Diskriminierungserfordernis für die Ver54 55 56 57 58 59
EuGH, Rs. C-126/91, Yves Rocher, Slg. 1993, I-2361, Rn. 10. R. Joliet, Das Recht des unlauteren Wettbewerbsrechts und der freie Warenverkehr, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Internationaler Teil 1994, S. 1 (14). Nachweise zur Debatte bei C. Calliess, in: ders./Ruffert (Fn. 12), Art. 1 EU, Rn. 20 ff. EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Fn. 8). W. Möschel, Kehrtwende in der Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit, NJW 1994, S. 429 (430). EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Fn. 8), Rn. 16 f.; seitdem ständige Rechtsprechung.
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kaufsmodalitäten eine Renaissance erlebt. Denn nicht-diskriminierende Verkaufsmodalitäten sind seither nicht mehr tatbestandsmäßig. Bis heute ungeklärt ist aber die Übertragbarkeit der Keck-Formel auf die anderen Grundfreiheiten und die Konsequenzen auf der Rechtfertigungsebene, wo der EuGH teilweise ebenfalls zwischen diskriminierenden und nicht-diskriminierenden Maßnahmen differenziert.60 Über den Hintergrund der Entscheidung Keck ist viel spekuliert worden. Es lag natürlich nahe, sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen und das gewandelte verfassungsrechtliche Umfeld zu bemühen. So wird etwa die Einführung des Subsidiaritätsprinzips durch den Vertrag von Maastricht (nunmehr Art. 5 Abs. 3 EG) für das als „dramatic judgment“61 oder gar „November Revolution“62 empfundene Urteil verantwortlich gemacht63 und die Rückkehr zu einer „eher traditionellen Freihandelssicht des Binnenmarktes“64 diagnostiziert. Nahe liegend ist der Zusammenhang mit der Einführung des Mehrheitsprinzips im Rat, das die Funktionsdefizite der europäischen Rechtsetzung reduziert hat und den EuGH veranlasst haben könnte, sich aus seiner Rolle als Rechtsangleichungsinstanz gleichsam selbst zu entlassen. Die Begründung des EuGH selbst für seinen Sinneswandel ist aber weitaus pragmatischer: Es ist schlicht die Kapitulation vor der Zahl der Fälle.65 Und tatsächlich mag Keck kurzfristig zu einer Arbeitsentlastung des Gerichtshofes beitragen, weil ein Teil der nationalen Regulierung mit einer – wenn auch unpraktikablen66 – Fiktion dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten entzogen wird. Im Übrigen, d.h. für produktbezogene Regelungen, bleibt aber alles beim Alten. Und das bedeutet eben auch, dass die in Dassonville und Cassis de Dijon entwickelte Doktrin der Grundfreiheiten unangetastet bleibt: Die Grundfreiheiten reichen über den Schutz vor spezifisch grenzüberschreitenden Belastungen hinaus, werden vom EuGH also weiterhin als allgemeine Deregulierungsansprüche begriffen, soweit es um produktbezogene Belastungen geht.67 Man kann also festhalten, dass die in den 1970er Jahren gelegten Fundamente der Struktur der Grundfreiheiten die grundlegenden verfassungsrechtlichen Reformen der Folgezeit praktisch unbeschadet überstanden haben. Die aus der Not der stockenden legislativen Rechtsangleichung geborenen weiten und konturlosen Formeln, die in der Krise der Gemeinschaft die notwendige Flexibilität garantierten, haben erstaunlicherweise bis in die heutige Zeit überlebt. Erstaunlich deshalb, weil die Grundfreiheiten wie jeder Rechtssatz kontextabhängig sind und auch nur in die60 61 62 63
64 65 66 67
Vgl. im Einzelnen unten, III. 1. b). P. Oliver, Free Movement of Goods in the European Community, 2003, S. 122. N. Reich, The „November Revolution“ of the European Court of Justice: Keck, Meng and Audi Revisited, CLMRev. 31 (1994), S. 459 (459). M. Petschke, Die Warenverkehrsfreiheit in der neuesten Rechtsprechung des EuGH, EuZW 1994, S. 107 (111); E. Steindorff, Unvollkommener Binnenmarkt, ZHR 158 (1994), S. 149 (149). N. Reich, Urteilsanmerkung, ZIP 1993, S. 1815 (1816). EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Fn. 8). Dazu unten, III. 1. a) bb). Beispiel: EuGH, Rs. C-415/93 (Fn. 34).
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sem Kontext interpretiert werden können. Richterliche Verfassungsinterpretation justiert das verfassungsrechtliche Gewaltengefüge und ist zugleich durch dieses begrenzt. Sie ist dabei dem Gewaltenteilungsgrundsatz nicht als abstrakter Idee verpflichtet, sondern in der konkreten Gestalt, die dieser in der jeweiligen Verfassung angenommen hat. Jede Theorie subjektiver Rechte thematisiert ihren allgemeinen Charakter, ihre normative Zielrichtung und ihre inhaltliche Reichweite also immer vor dem Hintergrund einer bestimmten Verfassung und auf der Grundlage einer bestimmten Verfassungstheorie oder Staatsauffassung.68 Aus dieser Kontextabhängigkeit erwächst die theoretisch und dogmatisch zentrale Frage, ob ein Konzept subjektiver Rechte lediglich auf eine bestimmte Verfassung und ihre historischen Bedingungen bezogen ist oder ob es eine verfassungsübergreifende Werkidee enthält, die geeignet ist, die verfassungsrechtliche Situation, in der es entstanden ist, zu überdauern. Vor dem Versuch einer Antwort soll zunächst der vertikale politischinstitutionelle Kontext beleuchtet werden. 2. Der politisch-institutionelle Kontext II: Das Vertikalverhältnis zwischen EuGH und mitgliedstaatlichem Gesetzgeber Die Kontextabhängigkeit der Grundfreiheiten wird auch deutlich, wenn man den Blick weiter schweifen lässt: weg vom horizontalen Verhältnis zwischen EuGH und Parlament/Rat hin zur Vertikalrelation zwischen EuGH und den Gesetzgebungsorganen in den Mitgliedstaaten. a) Die Grundfreiheiten als Mehrebenennormen Wirtschaftsverfassungsrechtlich sind die Grundfreiheiten nach Art. 14 Abs. 2 EG (Art. 26 Abs. 2 AEUV) Komponenten des Binnenmarktes. Mit dem Binnenmarktkonzept wird das nach wie vor aktuelle Ziel verfolgt, alle Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel zu beseitigen und die nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt zu verschmelzen.69 Auf diesem Markt soll sich individuelle wirtschaftliche Betätigungsfreiheit ohne Rücksicht auf die durch die Nationalstaaten gezogenen Grenzen entfalten können. Der Einzelne soll sich beim Gebrauchmachen von dieser Freiheit grundsätzlich nicht an den Grenzen zwischen den nationalen Rechtsordnungen, sondern an der ökonomischen Effizienz ihres Einsatzes orientieren. Das wirtschaftsverfassungsrechtliche Konzept des Binnenmarktes beinhaltet daher das Ziel, den in der Territorialität des nationalstaatlich geprägten Rechts angelegten Rechtsunterschieden – von Walter Hallstein im Vergleich mit den Schlagbäumen an den Binnengrenzen als „unsichtbare Grenzen“ bezeichnet70 – die Relevanz für das privatautonome Handeln so weit wie möglich zu nehmen. Hier setzen die Grundfreiheiten an: Sie sind gewissermaßen das subjektiv-rechtliche 68 69 70
Vgl. E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 (1529). EuGH, Rs. 15/81, Gaston Schul, Slg. 1982, 1409, Rn. 33; vgl. dazu den Beitrag von A. Hatje in diesem Band. W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 94.
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Trampolin, das den Wirtschaftsteilnehmern die Möglichkeit eröffnet, die normativen Schlagbäume zwischen den nationalen Teilmärkten zu überspringen. Diese Funktion der Grundfreiheiten verweist auf ein grundsätzlicheres Problem: Die föderale Gliederung eines politischen Verbandes ist für die Gleichheit der Rechtsunterworfenen eine „offene Flanke“.71 Föderalistisch bedingte Spannungen entstehen entweder dadurch, dass jeder Gliedstaat den Wettbewerb mit anderen Gliedstaaten durch Bevorzugung seiner Mitglieder zu beeinflussen sucht, oder durch schlichte Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen, die Umstellungsaufwand verursachen. Man kann insoweit von föderalen Gefährdungslagen sprechen. Die meisten föderal gegliederten Staaten kennen daher subjektiv-öffentliche Mehrebenennormen, die spezifisch auf diese Gefährdungslagen zugeschnitten sind. Mehrebenennormen gehören immer der Gesamtrechtsordnung an. Kraft ihres daraus folgenden Vorranganspruches erklären sie die Zugehörigkeit zu einem Gliedstaat für die Behandlung durch einen anderen Gliedstaat für irrelevant. Ungleichbehandlungen durch einen Gliedstaat, die auf der Zugehörigkeit zu einem anderen Gliedstaat beruhen, sind damit verboten. Mehrebenennormen übernehmen somit die aus dem Völkerrecht bekannte Figur der Inländerbehandlung: Alle Mitglieder des Gesamtstaates sollen in allen Ländern unabhängig von ihrer personalen Bindung an einen Einzelstaat grundsätzlich gleich behandelt werden. Auf diese Weise sollen auch die Defizite kompensiert werden, die daher rühren, dass Nichtmitgliedern eines Gliedstaates durch das fehlende Wahlrecht ein wesentliches Element der demokratischen Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung dieses Gliedstaates fehlt. Sie vermitteln wirtschaftliche und soziale Teilhabe und kompensieren die fehlende politische Teilhabe. Der Anspruch auf innerföderale oder innerregionale Gleichbehandlung fordert zwar nicht zwingend, dass jede Teilrechtsordnung gleiche Regeln aufstellen muss. Dennoch wirkt er tendenziell rechtsvereinheitlichend, weil sich die Gleichbehandlung der eigenen mit den Einwohnern aus anderen Gliedstaaten vielfach am besten durch vereinheitlichte gliedstaatliche (Mindest-) Standards realisieren lässt.72 Aufgrund ihrer Ausrichtung auf föderale Gefährdungslagen finden Mehrebenennormen nur in politischen Systemen „mit ausgeprägt föderativem Charakter“73 eine verfassungsrechtliche Heimat, etwa in den USA (Art. IV Sect. 2.1 – sog. interstate privileges and immunities clause), in der Schweiz (Art. 39 Abs. 3 und 4 BV), in Art. 139 Abs. 1 der spanischen Verfassung und in Art. 33 Abs. 1 GG (sog. gemeinsames Indigenat). Mehrebenennormen sind allerdings nicht auf Bundesstaaten beschränkt; sie finden sich vielmehr überall dort, wo föderale Gefährdungslagen existieren, also auch in supranationalen und internationalen Zusammenhängen. Auch die Grundfreiheiten kann man daher jedenfalls dann als Mehrebenennormen
71 72 73
G. Dürig, in: T. Maunz/G. Dürig, Kommentar zum Grundgesetz (Stand: Dez. 2007), Art. 3 Abs. 1, Rn. 233 (Komm. 1973). Zu dieser Sogwirkung – für die Grundfreiheiten – bereits oben, 1. a). J. Masing, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2006, Art. 33, Rn. 24.
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bezeichnen, wenn man das Bild des Mehrebenensystems für alle politischen Einheiten mit polyzentrischer Herrschaftsausübung verwendet. Die Grundfreiheiten werden ergänzt durch weitere der transnationalen Integration dienende besondere Diskriminierungsverbote (Art. 12 Abs. 1 EG; ferner etwa den für Kommunalwahlen geltenden Art. 19 Abs. 1 S. 1 EG, Art. 75 Abs. 1 EG für die Verkehrs- und Art. 90 Abs. 1 EG für die Steuerpolitik). Eine zunehmend bedeutsame internationale Mehrebenennorm enthält schließlich Art. III Abs. 4 GATT. Das Verbot, die personale Zugehörigkeit zu einem Gesamtstaat zum Anknüpfungspunkt für Differenzierungen zu machen, setzt also das Nebeneinander von unterschiedlichen Einzelrechtsordnungen, die durch eine gesamtstaatliche Ordnung überlagert werden, voraus. Daraus erwächst eine Abhängigkeit zwischen der konkreten subjektiv-öffentlichen Mehrebenennorm und der Ausgestaltung der Kompetenzverteilung zwischen gesamt„staatlicher“ und einzelstaatlicher Ebene. Die Mehrebenennormen schlagen die Brücke zwischen den unterschiedlichen Einzelrechtsordnungen: In dem Maße, in dem das Recht durch die gesamtstaatliche Ordnung vereinheitlicht wird, verlieren sie daher an praktischer Relevanz. Deshalb fristet heute Art. 33 Abs. 1 GG im „unitarischen Bundesstaat“ (Konrad Hesse) anders als seine Vorgängernormen Art. 3 Abs. 1 RV 1871 und Art. 110 Abs. 2 WRV ein „Mauerblümchendasein“.74 Hingegen ist etwa die US-amerikanische interstate privileges and immunities clause auch heute noch praktisch bedeutsam und in ihrer Reichweite nicht minder umstritten als die Grundfreiheiten75 und wird bei Art. III Abs. 4 GATT kontrovers diskutiert, ob und inwieweit die für die Grundfreiheiten entwickelte Doktrin auf die WTO übertragen werden kann.76 Für alle Mehrebenennormen gilt daher, was Paul Laband bereits für Art. 3 Abs. 1 RV 1871 konstatierte, dass nämlich ihre praktische Bedeutung „in materieller Hinsicht die Fortdauer der Partikularrechte der Einzelstaaten zur wesentlichen Voraussetzung hat und dass die praktische Bedeutung in demselben Umfange aufhört, als die Ausbildung des gemeinen Rechts voranschreitet“.77 Diese Interdependenz zwischen Mehrebenennorm und dem politisch-institutionellen Umfeld erscheint als das wesentliche Problem für die Erarbeitung einer übergreifenden Theorie der Mehrebenennormen. Sie zeigt aber auch, dass die einzelne Mehrebenennorm ohne Rückkoppelung mit dem konkreten verfassungsorganisatorischen Kontext nicht verstanden werden kann. b) Die Grundfreiheiten im europäischen Verfassungsverbund Der Abbau föderaler Gefährdungslagen wirkt tendenziell rechtsvereinheitlichend, was gerade in den Anfangsjahren der Gemeinschaft wesentlich zur Etablierung der neuen Rechtsordnung beigetragen hat.78 Diese Sogwirkung ist aber nicht nur Chan74 75 76 77 78
Ausführlicher: U. Pfütze, Die Verfassungsmäßigkeit von Landeskinderklauseln, 1998, S. 14 ff., 40 ff. Dazu L. Tribe, American Constitutional Law, 2000, S. 1250 ff. Zu Recht zurückhaltend A. v. Bogdandy, Verfassungsrechtliche Dimensionen der Welthandelsorganisation, KJ 2001, S. 255 (278 ff.) sowie S. 425 (433 ff.). P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 1911, S. 186. Vgl. oben, 1. a).
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ce, sondern kann auch zum Problem werden. Denn der gliedstaatenübergreifende Gleichbehandlungsanspruch steht in einem Spannungsverhältnis zu den gliedstaatlichen Kompetenzen, und dieses wird natürlich dort am deutlichsten wahrgenommen, wo, wie etwa in der Sozial- oder Verteidigungspolitik, die gliedstaatlichen Kompetenzen besonders ausgeprägt sind. Die Grundfreiheiten befinden sich also in einem eigenartigen, für Mehrebenennormen aber typischen Kräftefeld: Sie sollen den unter ihrem Dach koexistierenden Teilrechtsordnungen ihre diskriminierenden Effekte nehmen, ohne die föderale Vielfalt und Unterschiedlichkeit einzuebnen. Das klingt nach der Quadratur des Kreises. Spannt man den Bogen etwas weiter, so erweist sich diese Spannung nicht nur als ein Problem der Abgrenzung von Kompetenzen zwischen den verschiedenen politischen Ebenen, sondern auch der Verwirklichung des Primats der Politik in trans- und supranationalen Zusammenhängen. In der Politikwissenschaft wird in diesem Zusammenhang von der „Asymmetrie zwischen positiver und negativer Integration“ gesprochen.79 Während die negative Integration die zur Herstellung des freien Binnenmarktes notwendige Beseitigung nationaler Handelshemmnisse meint, sind Maßnahmen der positiven Integration Folge einer positiv gestaltenden Politik der Gemeinschaft, etwa im Bereich des Umwelt- und Verbraucherschutzes. Der (vermeintliche) Vorteil der negativen gegenüber der positiven Integration bestand darin, dass sie gewissermaßen hinter dem Rücken der Politik die Implementierung des Gemeinschaftsrechts in den nationalen Rechtsordnungen vorantreiben und damit ganz wesentlich zur Etablierung des Binnenmarktes beitragen konnte. Denn negative Integration vollzieht sich jenseits von Kompetenzverteilungsnormen und mühseliger politischer Konsenssuche allein nach Maßgabe der Binnenmarktrechte. Ihre Reichweite hängt dabei nur von der Justierung des Prüfungsmaßstabes ab; jede Veränderung führt hier daher zu einer neuen Austarierung der vertikalen und horizontalen Gewaltenbalance. Die Asymmetrie zwischen der immer weiter fortschreitenden negativen Integration und der etwa in der Sozialpolitik kaum vorankommenden positiven Integration könnte – so heißt es oft – zu einer problematischen „Aufspaltung der Gemeinwohlvorsorge“80 führen, die sich als Abbild der abnehmenden Steuerungsfähigkeit der Nationalstaaten im Internationalisierungsprozess darstellt: Der Gemeinschaft fehlt die Kompetenz zu positiver Rechtsetzung, die Mitgliedstaaten verlieren aber als „local heroes“81 aufgrund des weiten Verständnisses der Grundfreiheiten zunehmend die Fähigkeit, den Primat der Politik auch im supranationalen Kontext zu behaupten und auf sozial und ökologisch unerwünschte Nebenfolgen grenzüberschreitender Transaktionen zu reagieren. Ernst-Wolfgang Böckenförde etwa mutmaßt, dass diese Asymmetrie „die einstmals mühsam erkämpfte
79 80 81
F. Scharpf, Politische Optionen im vollendeten Binnenmarkt, 1996, S. 109 ff. E.-W. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, 1997, S. 25. H. Willke, Ironie des Staates, 1992, S. 362 ff.
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Einheit von Staatsraum, geregeltem Wirtschaftsraum und Sozialraum, eine Geschäftsgrundlage des modernen Wohlfahrtsstaates und sozialer Marktwirtschaft“,82 gefährdet.83 Diese Dichotomie zwischen europäischer und mitgliedstaatlichen Rechtsordnung(en) sowie zwischen Sozial- und Wettbewerbspolitik ist in dieser Zuspitzung nicht gerechtfertigt. Denn negative Integration kann auch Vorstufe zur positiven Integration sein und damit dazu beitragen, transnationale politische Institutionen auszubilden, die den Primat der Politik in überstaatlichen Zusammenhängen sicherstellen. Gleichwohl haben dogmatisch ungezähmte Grundfreiheiten das Potential, die Mobilität einer europäischen bürgerlichen (Teil-)Gesellschaft den in den Mitgliedstaaten verwirklichten Allgemeininteressen überzuordnen. Eine supranationale Interpretation, die die Grundfreiheiten von ihrer spezifisch transnationalen Schutzfunktion ablöst, verallgemeinert sie zu umfassenden Deregulierungsansprüchen.84 Der normative Vorrang des primär ökonomisch ausgerichteten Gemeinschaftsrechts mutiert zu einer Vorordnung ökonomischer Individualinteressen vor den im Nationalstaat verantworteten kulturellen, sozialen und ökologischen Allgemeininteressen.85 Eine solche Eindimensionalität widerspricht der europäischen Werkidee des „spill over“ in eklatanter Weise: Zu keiner Zeit wurde der Primat der ökonomischen Integration im Sinne einer solchen Vorordnung begriffen; im Gegenteil beruhte etwa der Verzicht auf die Vergemeinschaftung der Sozialpolitik schlicht auf der Uneinigkeit der Protagonisten Frankreich und Deutschland über deren Einfluss auf das Binnenmarktprojekt, nicht aber auf einer Geringschätzung der Sozialpolitik.86 Daher wurden transnationale Freiheit und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge stets als zwei aufeinander bezogene Teile eines Ganzen und die ökonomische immer auch als Schlüssel zur politischen und sozialen Integration verstanden. Zu Recht betont die Kommission daher, dass es das Ziel der Gemeinschaft bleiben muss, ein gleichgewichtiges Verhältnis zwischen den Binnenmarkterfordernissen und der Berücksichtigung von Gemeinwohlzielen zu finden. Und sie konzediert, dass dieses Gleichgewicht „nur schwer zu halten“ ist: „Der Binnenmarkt wird zunehmend ausgebaut, die gemeinwohlrelevanten Aufgaben wandeln sich unter dem Druck neuer Bedürfnisse“. Auch die Marktmechanismen stießen „mitunter an 82 83
84 85
86
Böckenförde (Fn. 80). Wobei man sicherlich fragen kann, ob die hier anklingende Hegel’sche Vorstellung einer hierarchischen Gesamtsteuerung der bürgerlichen Gesellschaft durch den Staat nicht schon seit Langem nur noch ein Mythos ist; vgl. dazu weiterführend U. Haltern, Europäischer Kulturkampf, Der Staat 37 (1998), S. 591 (600 ff.). Zu den Kategorien der Transnationalität und der Supranationalität gleich unter 3. So wird etwa durch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts aus dem Verhältnis der Gleichordnung zwischen Kartellrecht (GWB) und Sozialrecht (SGB) ein Über- und Unterordnungsverhältnis, in dem auch sozialrechtliche Parlamentsgesetze am Maßstab des Kartellrechts (Art. 81 f., 86 EG) gemessen werden. Dazu R. Sprung, in: E. Wohlfahrt/U. Everling/H.-J. Glaesner/R. Sprung, Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 1960, Vorb. vor Art. 117 EWG-Vertrag, Rn. 4.
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ihre Grenzen: Sie bewirken unter Umständen, dass ein Teil der Bevölkerung von den damit verbundenen Vorteilen ausgeschlossen bleibt und die Festigung des sozialen und territorialen Zusammenhalts behindert wird. Der Staat muss dann dafür sorgen, dass dem Gemeinwohl Rechnung getragen wird“. Die Gemeinschaft müsse daher die Wirtschafts- und Sozialordnungen der Mitgliedstaaten respektieren: „Die wichtigsten gesellschaftspolitischen Entscheidungen liegen in den Händen der Mitgliedstaaten; die Gemeinschaft prüft lediglich, ob die eingesetzten Mittel mit den europäischen Verpflichtungen vereinbar sind.“87 Dem entspricht es, dass die Rechtsprechung des EuGH zur Einwirkung der Grundfreiheiten etwa auf die sozialen Sicherungssysteme von insgesamt kluger Zurückhaltung geprägt ist: Diese äußert sich insbesondere darin, dass der EuGH die Grundfreiheiten hier allein als Diskriminierungsverbote behandelt.88 Eine dogmatische Begründung für diesen erstaunlichen Sonderweg, der sich auch in der Rechtfertigungsprüfung fortsetzt,89 ist zwar nicht ersichtlich. Immerhin lässt sich nur so verhindern, dass die gesamte sozialstaatliche Regulierung über die Grundfreiheiten unter einen (zusätzlichen) Rechtfertigungszwang gerät; vielmehr werden hier transnationale Freiheit und ihr sozialstaatliches Fundament als zwei aufeinander bezogene Teile eines Ganzen akzeptiert.90 In einer verfassungstheoretischen Übersetzung findet sich ein solcher, eher ganzheitlicher Ansatz, der die Interdependenz zwischen transnationaler Freiheit und sozialstaatlicher Daseinsvorsorge, zwischen bürgerlichem und sozialem Bürgerstatus betont, wieder in der Figur des europäischen Verfassungsverbundes. Ganzheitlich deshalb, weil sie Union und Mitgliedstaaten nicht mehr als separate politische Systeme versteht, sondern als aufeinander bezogene Teile eines Ganzen. Der Verfassungsverbund soll „die gestufte Verfassungsstruktur und Einheit der durch nationale Verfassungen und Unionsvertrag konstituierten Ordnung auf einen Begriff bringen“91 und damit der Tatsache Rechnung tragen, dass europäische wie mitgliedstaatliche Verfassungen jeweils nur fragmentarische (Verfassungs-)Ord87 88 89 90
91
Alle Zitate aus der Mitteilung der Kommission, Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa, ABl. 1996 C 281, S. 3 (5). EuGH, Rs. 238/82, Duphar, Slg. 1984, 523, Rn. 20 f.; Rs. C-70/95, Sodemare, Slg. 1997, I-3395, Rn. 27 ff. Vgl. etwa C. Nowak/J. Schnitzler, Erweiterte Rechtfertigungsmöglichkeiten für mitgliedstaatliche Beschränkungen der EG-Grundfreiheiten, EuZW 2000, S. 627. Ausführlicher als hier möglich T. Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund: Gemeinschaftsrechtliche Einflüsse auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, S. 354 ff., 378 ff., sowie ders., Die sozialen Sicherungssysteme als Elemente der Daseinsvorsorge in Europa, in: R. Hrbek/M. Nettesheim (Hrsg.), Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, 2002, S. 96. Begriffsprägend: I. Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27 (29 f.), auch als vom Bürger ausgehendes Gegenkonzept zum bundesverfassungsgerichtlichen Begriff „Staatenverbund“ (BVerfGE 89, 155 (188)). Das ganzheitliche Verständnis des Verfassungsverbundes findet in der Literatur zunehmend Gefolgschaft: H. Bauer, Europäisierung des Verfassungsrechts, JBl. 2000, S. 750 (752); A. v. Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer Herrschaftsform, 1999, S. 13; C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 1999, S. 189;
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nungen bilden, die beide nicht mehr das Ganze der Hoheitsausübung gegenüber dem Bürger repräsentieren, aber auf vielfältige Art und Weise miteinander verzahnt sind.92 So ist der Verfassungsverbund auch der Versuch, komplexere Formen politischer Einheit jenseits des Staates zu konstruieren, um die durch die Europäisierung bewirkte Fragmentierung des Bürgerstatus verfassungstheoretisch zu fassen. Wesentliche materielle Ausprägungen des Verbundgedankens finden sich, ohne dass dies hier vertieft und erschöpfend behandelt werden könnte,93 auch im EG-Vertrag: So zeigt Art. 16 EG, dass mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge und supranationale Wettbewerbsordnung als aufeinander bezogene Elemente des europäischen Gesellschaftsmodells94 zusammengehören und wird in Art. 17 EG das dichotome Gegeneinander der beiden Rechtsordnungen aufgebrochen, indem innerstaatliche und supranationale Elemente des Status des Einzelnen mit der Bürgerschaft in einem Begriff zusammengefasst werden, der für Zugehörigkeit und Identitätsbildung steht.95 Sie zeigt, dass das Gemeinschaftsrecht die in den Mitgliedstaaten verwirklichten Elemente des Bürgerstatus nicht in Frage stellen, sondern vielmehr als Bestandteil des gemeineuropäischen Verfassungsrechts anerkennen will, m.a.W., dass „die Stellung des Einzelnen in der Welt jenseits des Staates nicht adäquat umschrieben werden kann, ohne dass die Stellung des Einzelnen im Staat bedacht wird“.96 Diese enge Verzahnung erhöht natürlich die Anforderungen auch an eine Dogmatik der Grundfreiheiten. Je komplexer das Gesamtsystem wird, je mehr es vom reibungslosen Zusammenspiel seiner Teilsysteme abhängt, sprich: politische Vor92
92 93 94
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C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 1999, S. 189; M. Heintzen, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht in der Europäischen Union, EuR 1997, S. 1 (15 f.); S. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, S. 22; D. König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses, 2000, S. 563 ff.; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 207 ff.; vgl. ferner bereits BVerfGE 73, 339 (385): „normative Verklammerung des Gemeinschaftsrechts mit den Verfassungen der Mitgliedstaaten“ und A. Schmitt Glaeser, Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts, 1996, S. 184 ff., insb. 187: in der Gemeinschaft der Verfassungsstaaten gehe es darum, „eine Europäische Gemeinschaft zu gestalten, in der die Verfassungsstaaten und die Union unter Beachtung der Errungenschaften europäischer Verfassungsstaatlichkeit nebeneinander das Gemeinwohl verwirklichen“. v. Bogdandy (Fn. 91), S. 11 ff. Vgl. Kingreen, Sozialstaatsprinzip (Fn. 90), S. 390 ff. Vgl. zum „europäischen Gesellschaftsmodell“ die Mitteilung der Kommission, Die Zukunft des Sozialschutzes; Ein Rahmen für eine europäische Debatte, KOM(1995) 466: „Der Sozialschutz ist ein grundlegender Bestandteil und Unterscheidungsmerkmal des europäischen Gesellschaftsmodells“; ferner die Mitteilungen der Kommission (Fn. 87), S. 3, und KOM(2000) 580. A. Hatje, in: Schwarze (Fn. 12), Art. 17 EG, Rn. 10: Die Unionsbürgerschaft spiegelt die Konzeption der geteilten Souveränität und der geteilten Verantwortung zwischen Union und Mitgliedstaaten für den Einzelnen wider; zum Ganzen ausführlicher der Beitrag von S. Kadelbach in diesem Band. R. Wahl, Der Einzelne in der Welt jenseits des Staates, Der Staat 40 (2001), S. 45.
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gänge ineinander greifen und aufeinander aufbauen, desto anfälliger wird es gegen Funktionsstörungen eines seiner Elemente und desto schwieriger wird es auch, ein Element durch ein anderes zu ersetzen: Die Standfestigkeit und Wohnlichkeit des europäischen Hauses hängt eben auch davon ab, dass der Maler nicht auch für die Statik verantwortlich ist. Das klassische, bundesstaatlichem Denken entstammende Mittel zur Reduktion dieser Komplexität, die (Normen-)Hierarchie, kann dabei aufgrund der Interdependenz der Teilsysteme nur bei maßvollem Einsatz systemstabilisierende Wirkungen entfalten.97 Das Potential der Grundfreiheiten, Systemstörungen durch Eingriffe in die nationalen Teilsysteme zu verursachen, ist ebenso groß wie die fortbestehende Notwendigkeit, nationalem Protektionismus zu begegnen. Der Prozess des multi-level constitutionalism macht damit die Aufgabe einer genauen Justierung der Grundfreiheiten dringlich, die die polyzentrische Grundverfasstheit der Union berücksichtigt, ohne ihre nach wie vor aktuelle Aufgabe, „dysfunktionale Fragmentiertheit und Diffusität zu beheben“,98 zu vernachlässigen. 3. Transnationale Integration oder (supra-)nationale Legitimation? Die Dogmatik der Grundfreiheiten kann also einen wesentlichen Beitrag zu dem Ziel leisten, die für die „verfassungsrechtliche Vernetzung“99 erforderliche Kompatibilität zwischen europäischer und mitgliedstaatlichen Verfassungen sowie zwischen Individualinteressen und Gemeinwohlgütern herzustellen. Ihre Einordnung in dieses verfassungsrechtliche Netzwerk setzt allerdings eine deutlichere Positionsbestimmung voraus, als dies bislang in der Rechtsprechung des EuGH geschehen ist. Die Dogmatik der Grundfreiheiten hat den Anschluss an die verfassungsrechtliche Entwicklung der Gemeinschaft vom Zweckverband zum Verfassungsverbund verpasst. Gerade weil die Grundfreiheiten als Mehrebenennormen nur in einem konkreten verfassungsrechtlichen Kontext verstanden und strukturiert werden können, sind die blassen Formeln aus den 1970er Jahren heute nicht mehr zu gebrauchen. Die Einbeziehung der Grundfreiheiten in das Verbundkonzept setzt vor allem eine deutlichere Profilierung der Unterschiede zu den Grundrechten voraus. Die funktionalen Unterschiede zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten lassen sich im Begriffspaar „transnationale Integration – supranationale Legitimation“ abbilden.100 Der Vorgang der transnationalen Integration ist im Unionsrecht der historisch ältere. Transnationale Integration zielt darauf ab, den territorialen und kompetenziellen Grenzen innerhalb eines Gemeinwesens die Erheblichkeit für individuelle Ent97
98 99 100
Vgl. F. Snyder, General Course on Constitutional Law of the European Union, 1995, S. 55: „The task of the makers of EU constitutional law is how to organize relations of authority in a non-hierarchical und polycentric polity.“ Für eine kooperative und dialogische Supranationalität auch v. Bogdandy (Fn. 91), S. 48. Vgl. allgemein ebd., S. 50. R. Bieber, Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung, in: H. Wildemann (Hrsg.), Staatswerdung Europas?, 1991, S. 396. Vgl. jetzt auch E. Pache, Begriff, Geltungsgrund und Rang der Grundrechte, in: F. S. M. Heselhaus/C. Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 4, Rn. 56 ff.
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scheidungen zu nehmen.101 „Supranationale Legitimation“ wird in einem grundrechtlich-rechtsstaatlichen Sinne verwendet: Die Ausübung von Hoheitsgewalt ist auch auf supranationaler Ebene nur legitim, wenn sie grundrechtlich begrenzt ist (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, Art. 6 Abs. 1, 2 EU, Art. 2, 6 Abs. 1, 2 EUV-Liss.). Als der EuGH in den 1970er Jahren die grundlegenden Entscheidungen zu den Grundfreiheiten fällte, steckte die Rechtsprechung zu den Grundrechten noch in den Kinderschuhen. Mehr als die Aussage, dass das Gemeinschaftsrecht Grundrechte kennt und diese aus den internationalen Erklärungen zu den Menschenrechten und den Verfassungen der Mitgliedstaaten ableitet, war der Rechtsprechung bis in die 1980er Jahre hinein nicht zu entnehmen.102 Zu sehr stand die Frage nach der supranationalen grundrechtlichen Legitimation der erst im Entstehen begriffenen neuen Hoheitsgewalt im Schatten des Ziels transnationaler Integration der Teilmärkte durch die Grundfreiheiten. Das Verhältnis zwischen Verfassung und einfachem Gesetz war daher, anders als im nationalen Recht, nur eindimensional: Während Verfassungen nach herkömmlichem Verständnis nicht nur die Regeln für den Prozess der Erzeugung des einfachen Rechts enthalten, sondern auch Normen, die diesen Prozess legitimieren und begrenzen, diente der EG-Vertrag nicht der Legitimation einer bereits bestehenden, gleichsam vorkonstitutionellen Ordnung, sondern zunächst allein der Integration bestehender Teilordnungen durch Etablierung einer neuen Gesamtordnung. Das Ziel, föderale Gefährdungslagen abzubauen,103 erklärt die frühe Existenz zahlreicher transnationaler Integrationsnormen und das anfängliche Fehlen supranationaler Legitimationsnormen. Nachdem aber mit der einsetzenden Rechtsetzungsaktivität der Gemeinschaft die grundrechtlichen Reibungsflächen zunahmen, entstand ein Bedürfnis nach rechtsstaatlicher supranationaler Legitimation, die in einer deutlich gestiegenen Zahl von Grundrechtsentscheidungen in den 1990er Jahren zum Ausdruck kommt. Während also die Gemeinschaftsgrundrechte heute auf den Legitimationsbedarf antworten, den die sich etablierende europäische Rechtsordnung ausgelöst hat, waren und sind die Grundfreiheiten gleichsam umgekehrt an der Ausbildung eben dieser Rechtsordnung beteiligt, indem sie vor allem in den Anfangsjahren der Gemeinschaft den Prozess der Rechtsangleichung vorangetrieben haben. Waren die Grundfreiheiten wesentliche Voraussetzung für die Etablierung des Binnenmarktes, so waren die Grundrechte deren Folge. Oder noch einfacher: Was die Grundfreiheiten mit geschaffen haben, müssen die Grundrechte nunmehr legitimieren.
III. Dogmatische Umsetzung der Kontextanalyse Die theoretische Unterscheidung zwischen transnationalen Integrationsnormen und supranationalen Legitimationsnormen hat rechtsdogmatische Konsequenzen für 101 102 103
Überblick über die Integrationstheorien bei C. Calliess, in: ders./Ruffert (Fn. 12), Art. 1 EU, Rn. 11 ff. Vgl. zur Entwicklung Kingreen (Fn. 48), Art. 6 EU, Rn. 20 ff. Vgl. dazu oben, II. 2. a).
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die Struktur und Reichweite der Grundfreiheiten (1.), die Frage nach der Notwendigkeit des Gesetzesvorbehaltes (2.), die Bindung der Union an die Grundfreiheiten (3.) und schließlich für die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte (4.). 1. Die Struktur und Reichweite der Grundfreiheiten a) Die Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote aa) Kritik des freiheitsrechtlichen Verständnisses der Grundfreiheiten Die theoretische Frage, ob die Grundfreiheiten nur die spezifischen Schutzbedürfnisse grenzüberschreitender Transaktionen abdecken (transnationale Integration) oder eine, den nationalen und supranationalen Grundrechtsschutz ergänzende, allgemeine Liberalisierung (supranationale Legitimation) bezwecken, lässt sich in der dogmatischen Diskussion darüber spiegeln, ob die Grundfreiheiten lediglich auf die Abwehr von Diskriminierungen beschränkte Gleichheitsrechte oder auch Freiheitsrechte enthalten, die vor allen unverhältnismäßigen Beschränkungen grenzüberschreitender Transaktionen schützen. Diese Parallelität rührt aus der unterschiedlichen Struktur von Gleichheits- und Freiheitsrecht: Für die gleichheitsrechtliche Prüfung ist entscheidend, ob ein Hoheitsträger zwei Sachverhalte, konkret also den inländischen und den grenzüberschreitenden, unterschiedlich behandelt; diese Dreipoligkeit ermöglicht eine Konzentration auf die Frage, ob eine Maßnahme spezifisch den grenzüberschreitenden Verkehr beeinträchtigt (dann liegt eine Diskriminierung vor) oder diesen nur ebenso belastet wie den inländischen (dann fehlt es an einer Diskriminierung). Für das zweipolige Freiheitsrecht kommt es hingegen nur darauf an, ob die Belastung ohne die angegriffene Maßnahme nicht eingetreten wäre. Seine Perspektive ist allein das Verhältnis zwischen Hoheitsträger und Träger der Grundfreiheit. Belastungen grenzüberschreitender Transaktionen sind daher auch dann Beeinträchtigungen, wenn es inländischen nicht anders geht. Als transnationale Integrationsnormen dienen die Grundfreiheiten dem Abbau der spezifisch grenzüberschreitenden Schutzdefizite im Binnenmarkt (föderale Gefährdungslagen). Sie erheben aber nicht den grundrechtlichen Anspruch, vor allen unverhältnismäßigen Freiheitsbeeinträchtigungen zu schützen. Die Unterscheidung zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten wird daher nivelliert, wenn die Grundfreiheiten in Rechtsprechung und Schrifttum zu einer zweiten Grundrechtsschicht befördert werden. Der EuGH hat zwar mit der Keck-Formel den Versuch unternommen, die Grundfreiheiten spezifischer auf den Schutz vor föderalen Gefährdungslagen zuzuschneiden. Gleichwohl verwendet er nach wie vor die blasse, aus einer verfassungspolitisch anderen Epoche stammende Dassonville-Formel.104 Diese war in den Zeiten der Krise der legislatorischen Rechtsangleichung ein politisch legitimes Mittel der dogmatischen Nichtfestlegung. Ihr Überleben unter veränderten ver104
Dazu oben, II. 1.
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fassungsrechtlichen Rahmenbedingungen ist aber problematisch, weil mit ihr der grundsätzliche Anspruch aufrechterhalten bleibt, alle Beeinträchtigungen grenzüberschreitend ausgeübter Freiheit am Maßstab der Grundfreiheiten zu prüfen. Die Dassonville-Formel ist damit zugleich geeignet, die Keck-Formel zu relativieren. Das belegen diejenigen Entscheidungen, in denen der EuGH die Grundfreiheiten von ihrer transnationalen Integrationsfunktion löst und sie wie Grundrechte einsetzt. So betraf das Verbot des Versandhandels von Arzneimitteln in der Entscheidung DocMorris nicht das Produkt Arzneimittel selbst, sondern eine Form ihres Vertriebs; es hätte mithin als Verkaufsmodalität im Sinne der Keck-Rechtsprechung eingeordnet werden müssen. Als solche hatte der EuGH zuvor jedenfalls eine griechische Regelung eingeordnet, die den Verkauf von Säuglingsnahrung auf Apotheken beschränkte105 und damit auch den Versandhandel dieses Produktes ausschloss.106 Obwohl damit ausländische Apotheker in Griechenland keine Säuglingsnahrung vertreiben durften, wurde das Gesetz als nicht diskriminierend und daher nicht als Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit eingestuft. In auffälligem Gegensatz dazu vermeiden Generalanwältin und EuGH eine eindeutige Einordnung des Versandhandelsverbotes als Verkaufsmodalität. Während sich der EuGH mit der genannten Vorgängerentscheidung überhaupt nicht auseinandersetzt, findet sich in den Schlussanträgen der Generalanwältin der wenig erhellende Hinweis, die Prüfung der Voraussetzungen des Art. 28 EG dürfe sich „nicht auf eine mechanische Anwendung der beiden traditionellen Voraussetzungen der Keck-Formel“107 beschränken. Tatsächlich steht vor allem in den Schlussanträgen der Generalanwältin weniger die Frage der Ungleichbehandlung zwischen In- und Ausländern als vielmehr das auch im Schrifttum favorisierte Kriterium des Marktzugangs108 im Mittelpunkt. Entscheidend sei, dass die vom Verbot betroffene Vertriebsform für die Erschließung eines Marktes wichtig sei.109 Viel gewonnen ist mit dieser Feststellung nicht, denn für welchen Markt und für welchen Marktteilnehmer sollte das räumliche Entfernungen überwindende Internet nicht wichtig sein? Wie wären etwa Verbote ärztlicher oder anwaltlicher Beratung in einem Chatroom zu beurteilen? Wenn das Kriterium des Marktzugangs daher tatsächlich die Keck-Formel auch im Hinblick auf die Verkaufsmodalitäten umsetzen will, so kann sich seine Prüfung nicht von der Frage abkoppeln, wie sich die regulierende Maßnahme auf inländische Marktteilnehmer auswirkt. Die Aussagen des EuGH dazu sind indes eher dürftig: Er prüft zwar, ob eine Diskriminierung ausländischer Marktteilnehmer vorliegt, beschränkt sich aber auf die apodiktische Feststellung, dass das Verbot des Versandhandels diese härter treffe als inländische Marktteilnehmer, die die Möglichkeit hät105 106 107 108 109
EuGH, Rs. C-391/92, Kommission/Griechenland, Slg. 1995, I-1621, Rn. 15. B. Koch, Eine erste Bewertung der Entscheidung „DocMorris“ des EuGH, EuZW 2004, S. 50 (51). GA Stix-Hackl zu EuGH, Rs. C-322/01, Dt. Apothekerverband, Slg. 2003, I-14887, Nr. 73. Vgl. U. Becker, in: Schwarze (Fn. 12), Art. 28 EG, Rn. 49. GA Stix-Hackl zu EuGH, Rs. C-322/01 (Fn. 107), Nr. 88.
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ten, Arzneimittel in ihren Apotheken zu verkaufen.110 Diese pauschale Behauptung wird indes der Komplexität einer Vergleichsgruppenbildung,111 die spezifisch grenzüberschreitende Marktzugangshindernisse erfassen soll, nicht gerecht.112 Eine nähere Betrachtung der Auswirkungen des Versandhandelsverbotes zeigt nämlich, dass hier nicht ausländische gegenüber inländischen Apothekern, sondern auswärtige gegenüber vor Ort ansässigen Apothekern benachteiligt werden:113 Das Erfordernis eines persönlichen Kontaktes zwischen Apotheker und Verbraucher trifft nämlich den Münchener Apotheker, der über den Versandhandel auf dem Trierer Apothekenmarkt Fuß fassen will, ebenso hart wie seinen Kollegen in Athen, aber wesentlich härter als die Betreiber von Apotheken in Trier und Luxemburg.114 Und die Transferregelungen der nationalen Fußballverbände, die den EuGH in der Entscheidung Bosman beschäftigten,115 behinderten eben nicht nur den Wechsel von Schalke nach Turin, sondern auch nach Dortmund. Die unsaubere Vergleichsgruppenbildung löst die Grundfreiheiten von der Keck-Formel, für die das Erfordernis einer spezifischen Schlechterstellung des ausländischen Sachverhalts bei Verkaufsmodalitäten konstitutiv ist. Nur das Festhalten am Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezuges vermittelt aber die vom EuGH selbst gewünschte Filterwirkung, die verhindert, dass die Marktteilnehmer „jedwede Regelung beanstanden, die sich als Beschränkung ihrer geschäftlichen Freiheit auswirkt, auch wenn sie nicht auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet ist.“116 Das Ziel, spezifisch grenzüberschreitende Belastungen zu erfassen, wird hingegen verfehlt, wenn auch Maßnahmen als Eingriffe angesehen werden, die inländische und ausländische Marktteilnehmer gleichermaßen treffen. Denn natürlich hat jede wirtschaftsregulierende Maßnahme immer auch grenzüberschreitende Auswirkungen. Wenn das allerdings für die Annahme eines Eingriffs ausreichen sollte, dann werden aus Marktzugangsrechten allgemeine Marktgestaltungsrechte; die Grundfreiheiten mutieren zu Grundrechten auf Abwehr gegen alle Beschränkungen der wirtschaftlichen Betätigung. So wirkt etwa in der Entscheidung DocMorris die Warenverkehrsfreiheit nicht anders als das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG): Es wird geprüft, ob die Berufsausübungsfreiheit der Apotheker durch das Versandhandelsverbot unverhältnismäßig beeinflusst wird.
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114 115 116
EuGH, Rs. C-322/01 (Fn. 107), Rn. 74. Zu ihrer Bedeutung für die Prüfung einer Diskriminierung allgemein B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, 2008, Rn. 431 ff.; für die europäischen subjektiv-öffentlichen Rechte S. Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 41 ff. Vgl. auch die grundsätzliche Kritik bei W. Schroeder, in: Streinz (Fn. 12), Art. 28 EG, Rn. 46 ff. Das ist der wesentliche Unterschied etwa zu den Fällen von Werbeverboten, die den inländischen Markt gegenüber ausländischen Produkten abschotten; vgl. etwa EuGH, Rs. C-405/ 98, Gourmet International Products, Slg. 2001, I-1795. Gegen diese Vergleichsgruppenbildung aber, wenn auch ohne Begründung, GA Stix-Hackl zu EuGH, Rs. C-322/01 (Fn. 107), Nr. 88. EuGH, Rs. C-415/93 (Fn. 34). EuGH, Rs. C-267/91 und C-268/91 (Fn. 8).
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bb) Ein neuer Angriff auf die Keck-Formel: Die Schlussanträge von Generalanwalt Maduro in Alfa Vita Vassilopoulos Die transnationale Integrationsfunktion der Grundfreiheiten wurde zuletzt auch von Generalanwalt Maduro in seinem Schlussanträgen zum „Bake-off“-Fall hervorgehoben117 Es ging um eine Vorschrift über das Inverkehrbringen von Backwaren nach dem „Bake-off“-Verfahren. Dieses besteht im schnellen Auftauen und anschließenden Aufwärmen oder Backen vollständig oder teilweise vorgebackener und tiefgefrorener Waren in den Verkaufsstellen. Zwei griechische Großmarktketten nahmen an der Praxis der griechischen Behörden Anstoß, die das Aufbacken nach dem „Bake-off“-Verfahren als Teil der Brotherstellung ansahen, was zur Folge hatte, dass die Betreiber dieser Öfen eine Erlaubnis zum Betrieb einer Bäckerei vorweisen mussten. Da diese fehlte, wurden die in den Supermärkten betriebenen Backöfen durch die zuständigen Behörden stillgelegt. Das angerufene nationale Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob eine nationale Regelung, die den Verkauf von „Bakeoff“-Erzeugnissen von denselben Erfordernissen abhängig macht, wie sie für das vollständige Verfahren der Herstellung und des Inverkehrbringens von herkömmlichem Brot und herkömmlichen Backwaren gelten, gegen Art. 28 EG verstoße. Obwohl der Generalanwalt, ebenso wie später der EuGH, einen Verstoß bejaht, nimmt er den Fall zum Anlass für eine Fundamentalkritik an der Keck-Rechtsprechung, insbesondere an der undurchführbaren Unterscheidung zwischen produktund vertriebsbezogenen Maßnahmen.118 Tatsächlich wird die Keck-Formel seit ihren Anfängen von der Kritik begleitet, die formale Unterscheidung zwischen produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen werde dem Binnenmarktziel nicht gerecht. Sie suggeriere eine Abgrenzbarkeit zwischen der Produktion einer Ware und ihrem Vertrieb, die den Umstand vernachlässige, dass Produktgestaltung und -vermarktung regelmäßig ineinander greifen.119 Ein Beleg für diese These ist die Rechtsprechung zum Recht der Werbung.120 Werbung ist zwar meist nicht Teil des Produkts selbst, sondern seiner Vermarktung, also seines Vertriebes. Dennoch können Werbebeschränkungen oder -verbote den Marktzugang in einer für den Binnenmarkt relevanten Weise unterbinden. So ist ein Werbeverbot für Erzeugnisse, „deren Genuss mit herkömmlichen gesellschaftlichen Übungen sowie örtlichen Sitten und Gebräuchen verbunden ist“, geeignet, „den Marktzugang für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten stärker zu behindern, als er dies für inländische Erzeugnisse tut, mit denen der Verbraucher unwillkürlich 117 118 119
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GA Maduro zu EuGH, verb. Rs. C-158/04 und C-159/04, Alfa Vita Vassilopoulos, Slg. 2006, I-8135. Ebd., Nr. 24–52; vgl. ferner GA Kokott zu EuGH, Rs. C-142/05, Mickelsson, Slg. 2009, I-0000, Nr. 38–56. T. Ackermann, Warenverkehrsfreiheit und „Verkaufsmodalitäten“, Recht der internationalen Wirtschaft 1994, S. 189 (193); U. Becker, in: Schwarze (Fn. 12), Art. 28 EG, Rn. 48; P.-C. Müller-Graff, in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zu EU-/EG-Vertrag, 2003, Art. 28 EG, Rn. 247. Ausführlicher zum Folgenden T. Kingreen, in: Callies/Ruffert (Fn. 12), Art. 28–30 EG, Rn. 177 ff.
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besser vertraut ist.“121 Diese Begründung lässt sich noch mit der Keck-Formel vereinbaren, wenn man sie im Sinne einer diskriminierenden vertriebsbezogenen Maßnahme interpretiert.122 Doch davon löst sich der Gerichtshof, wenn er unter Hinweis auf seine Rechtsprechung vor dem Urteil Keck formuliert, „dass es ein Einfuhrhindernis darstellt, wenn ein Wirtschaftsteilnehmer ein Werbesystem aufgeben muss, das er für besonders wirksam hält.“123 Dieser Schluss von der diskriminierungsfreien Vertriebsbeschränkung auf die Behinderung des Produktzugangs untergräbt die Grundlagen der Keck-Rechtsprechung: Wenn es eine kategoriale Unterscheidung zwischen dem Produkt und seinem Vertrieb geben soll, so kann nicht von einer Vertriebs- auf die Produktbeschränkung geschlossen werden. Die Ungeeignetheit der Keck-Formel wird auch durch den Umstand belegt, dass der EuGH nach wie vor diverse Fälle löst, ohne auf die Keck-Kategorien überhaupt einzugehen. In einigen Entscheidungen stellt er schlicht auf die „Verringerung der Einfuhren“ ab.124 Oftmals verneint er auch eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit unter Hinweis auf die „zu ungewissen und mittelbaren Auswirkungen“ auf den innergemeinschaftlichen Handel, was schon deshalb verwundert, weil die nach wie vor eingesetzte Urformel aus der Entscheidung Dassonville125 auch potenzielle (und damit tendenziell ungewisse) Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Handel erfasst.126 Obwohl jeweils mit zusätzlichen Kosten auch für die Einfuhr verbunden, ist daher das Verbot, bestimmte schädliche Stoffe in die Hoheits- und Binnengewässer eines Mitgliedstaates einzuleiten,127 ebenso „zu ungewiss und mittelbar“ wie die Festlegung von Tarifen für den Güterverkehr128 und Verpflichtungen zur Versorgung eines bestimmten Gebietes mit Mineralölerzeugnissen129 und zur Inanspruchnahme örtlicher Festmacherdienste in Häfen.130 Dieser Begründungsansatz stammt aus der Phase vor dem Urteil Keck. Der Grund für seine weitere Verwendung bleibt unklar, wenn man unterstellt, dass es nunmehr entscheidend auf den Produkt- oder Vertriebsbezug ankommt.131 Schließlich zeigt der „Bake-off“-Fall selbst, dass die Unterscheidung zwischen produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen alles andere als klar ist. Die einschlägige griechische Vorschrift bezieht sich nämlich nicht auf die Ware selbst, sondern 121 122
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EuGH, Rs. C-405/98 (Fn. 113), Rn. 21. Kritischer GA Maduro zu EuGH, verb. Rs. C-158/04 und C-159/04 (Fn. 117), Nr. 29, wonach sich der Gerichtshof bereits in dieser Entscheidung „von den Vorgaben der Rechtsprechung Keck und Mithouard entfernt“. EuGH, Rs. C-239/02, Douwe Egberts, Slg. 2004, I-7007, Rn. 52. Etwa EuGH, Rs. C-473/98, Toolex, Slg. 2000, I-5681, Rn. 36. EuGH, Rs. 8/74 (Fn. 34), Rn. 5. Kritisch auch GA Kokott zu EuGH, Rs. C-142/05 (Fn. 118), Nr. 42–46; T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 146; vgl. auch Mayer (Fn. 26), S. 816 f. EuGH, Rs. C-379/92, Peralta, Slg. 1994, I-3453, Rn. 24. EuGH, Rs. C-96/94, Centro Servizi Spediporto, Slg. 1995, I-2883, Rn. 41. EuGH, Rs. C-134/94, Esso Española, Slg. 1995, I-4223, Rn. 24. EuGH, Rs. C-266/96, Corsica Ferries France, Slg. 1998, I-3949, Rn. 31. Vgl. für ausführliche Nachweise zur inkohärenten Post-Keck-Rechtsprechung T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 12), Art. 28–30 EG, Rn. 169 ff.
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nur auf den Ort, an dem ihr Herstellungsprozess abgeschlossen wird. Sie regelt nicht, im Sinne der Keck-Formel, die Bezeichnung, die Form, die Abmessungen, das Gewicht, die Zusammensetzung, die Aufmachung, die Etikettierung oder die Verpackung132 des Brotes, sondern enthält Bestimmungen über den Produktionsort. Es geht also nicht um das „Wie“ des Brotes, sondern um das „Wie“ und „Wo“ seiner Fertigstellung. Es wird nicht die Einfuhr des (noch tiefgefrorenen) Brotes behindert, sondern nur normiert, wie und wo es im Bestimmungsstaat aufgebacken werden soll – eine an sich typische vertriebsbezogene Maßnahme.133 Auch der Sinn und Zweck der Keck’schen Differenzierung spricht hier für die Annahme einer vertriebsbezogenen Maßnahme. Die Kategorisierung soll nämlich, wie der EuGH selbst immer wieder herausstellt, die unterschiedlichen Auswirkungen produkt- und vertriebsbezogener Maßnahmen auf den Marktzugang abbilden.134 Produktbezogene Regelungen verhindern, dass ein bestimmtes Produkt, so wie es ist, auf einen nationalen Markt gelangen kann, wenn es nicht speziell für eben diesen nationalen Markt hergestellt wird: Bier kann nicht nach Deutschland eingeführt werden, wenn es nicht dem deutschen Reinheitsgebot entspricht,135 und Nudeln erreichen Italien nur, wenn sie zu 100% aus Hartweizen136 bestehen. Produktbezogene Regelungen wirken sich also bereits negativ auf den Marktzugang aus. Sie segmentieren den Binnenmarkt, indem sie an Eigenschaften anknüpfen, die dem Produkt bereits beim Grenzübertritt anhaften. Verkaufsmodalitäten wirken sich hingegen grundsätzlich nicht auf den Marktzugang aus, sondern betreffen alle Marktteilnehmer nach erfolgtem Zugang. Der Grenzübertritt liegt also gewissermaßen bereits hinter ihnen. Verkaufsmodalitäten regulieren daher zwar, sie segmentieren aber nur dann, wenn sie ihrerseits Import- gegenüber Inlandsware benachteiligen; daher sind nur diskriminierende, nicht aber diskriminierungsfreie Verkaufsmodalitäten für die Grundfreiheiten relevant. Der „Bake-off“-Fall zeichnet sich durch die Besonderheit aus, dass der Produktionsvorgang im Zeitpunkt des Grenzübertritts noch nicht abgeschlossen ist. Selbst wenn man also der gewagten Konstruktion des Generalanwaltes folgen würde, dass der Ort des Aufbackens des Brotes ein Merkmal desselben ist137 und die Vorschrift damit das Brot selbst und nicht nur seinen Vertrieb beträfe, würde es sich um eine produktbezogene Regelung ohne marktzugangshindernde Wirkungen handeln. Denn das Brot kann ja ohne Veränderung seiner Eigenschaften nach Griechenland eingeführt werden und unterliegt dort der gleichen Regulierung wie das in Griechenland produzierte tiefgefrorene Brot.138 Mit einer vergleichbaren Konstellation 132 133 134 135 136 137 138
So die Beispiele für produktbezogene Regeln in EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Fn. 8), Rn. 15. Vgl. H.-C. Röhl, Die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 EGV), Jura 2006, S. 321 (326). Bereits EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Fn. 8), Rn. 17; ferner etwa EuGH, Rs. C416/00, Morellato, Slg. 2003, I-9343, Rn. 31. EuGH, Rs. 178/84, Kommission/Deutschland, Slg. 1987, 1227. EuGH, Rs. 407/85, Drei Glocken, Slg. 1988, 4233. GA Maduro zu EuGH, verb. Rs. C-158/04 und C-159/04 (Fn. 117), Nr. 15. Es fehlt also an einer Diskriminierung.
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hatte es der EuGH in der Rechtssache Morellato zu tun.139 Streitgegenstand war eine italienische Regelung, die vorsah, dass tiefgefrorenes Brot, das in Italien aufgebacken wurde, dort vor dem Verkauf nochmals verpackt werden musste. Der EuGH referiert hier seine Rechtsprechung, in der er Verpackungsvorschriften stets als produktbezogen eingeordnet habe und hier daher keine bloße Verkaufsmodalität vorliege. Er stellt aber die auch den „Bake-off“-Fall prägende Besonderheit heraus, dass das Brot im Zeitpunkt des Grenzübertritts noch nicht fertig gestellt ist. Die angegriffene Verpackungsvorschrift behindere daher nicht den Grenzübertritt, weil das vorgebackene Brot für den Import nicht an die Vorschriften des Bestimmungsstaates Italien angepasst werden müsse: „Unter diesen Umständen fällt das Erfordernis der vorherigen Verpackung, das nur die Vermarktung von Brot betrifft, das durch zusätzliches Backen von vorgebackenem Brot hergestellt wird, grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich des Art. 30 EG-Vertrag [Art. 28 EG], sofern es nicht in Wirklichkeit eine Diskriminierung der eingeführten Erzeugnisse darstellt.“140 Man kann förmlich zwischen den Zeilen die Schwierigkeiten des EuGH herauslesen, die Begründung an die Keck-Kategorien anzupassen. Denn produktbezogene Regelungen sind nach seiner eigenen Rechtsprechung stets und nicht nur bei Vorliegen einer Diskriminierung Eingriffe in Art. 28 EG. Noch bemerkenswerter ist aber der Umstand, dass das „Bake-off“-Urteil die Morellato-Entscheidung mit keinem Wort erwähnt. Die Entscheidungen passen auch nicht zusammen: Denn für das nach Griechenland eingeführte Brot ist auch nicht ersichtlich „dass es erforderlich wäre, das vorgebackene Brot so, wie es … eingeführt wird, anzupassen.“141 Es bleibt ein Rätsel, warum das Erfordernis einer Verpackung (bei der nach der Keck-Formel der Produktbezug ja noch näher liegt) anders behandelt wird als Anforderungen an den Ort, an dem das Brot aufgebacken wird. Beide Anforderungen greifen nach einem ungehinderten Grenzübertritt und betreffen alle tiefgefrorenen Brote unabhängig von ihrer Herkunft. Blendet man angesichts dieser wenig kohärenten Rechtsprechung zurück, so wird man Zeuge eines juristischen Wiedersehens: In seinen Schlussanträgen zur Vereinbarkeit eines Verbotes der Werbung für apothekenübliche Waren außerhalb von Apotheken hatte Generalanwalt Tesauro darauf hingewiesen, der EuGH habe auf die Frage, ob derartige Regelungen die Warenverkehrsfreiheit beeinträchtigten, in der Vergangenheit verschiedene Antworten gegeben, wobei die Lösung jeweils auch durch die Wahl des Begründungsansatzes bestimmt worden sei.142 Deshalb hatten sich auch nach Erkenntnis des EuGH „die Wirtschaftsteilnehmer immer häufiger auf Artikel 30 EWG-Vertrag [Art. 28 EG] berufen, um jedwede Regelung zu beanstanden, die sich als Beschränkung ihrer geschäftlichen Freiheit auswirkt, auch 139 140 141 142
EuGH, Rs. C-416/00 (Fn. 134). Ebd., Rn. 36. So die Begründung ebd., Rn. 35. GA Tesauro zu EuGH, Rs. C-292/92, Huenermund, Slg. 1993, I-6787, Nr. 20 ff.; vgl. dazu die Rechtsprechungsauswertung bei T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 12), Art. 28–30 EG, Rn. 161 ff.
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wenn sie nicht auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet ist.“143 15 Jahre später scheint die Rechtsprechung wieder dort angekommen zu sein, wo sie 1993 zu neuen rechtsdogmatischen Ufern hatte aufbrechen wollen. Die Kategorien der Keck-Formel verschwimmen, und es mehren sich erneut die Entscheidungen, in denen die spezifische Beschränkung von „Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten“ kaum mehr erkennbar ist.144 Auch in der „Bake-off“-Entscheidung fehlt jegliche Erörterung darüber, ob und in welchem Maße sich die angegriffene Regelung spezifisch auf importierte Erzeugnisse auswirkt. Der Ausgangssachverhalt mit griechischen Klägern zeigt vielmehr, dass es sich zumindest auch um ein innergriechisches Problem handelt. Die Bilanz der Keck-Jahre ist daher auch für Generalanwalt Maduro ernüchternd: „Das Urteil Keck und Mithouard, das die Zahl der Klagen verringern und die Auswüchse, zu denen die Anwendung des Grundsatzes des freien Warenverkehrs geführt hatte, eindämmen sollte, [hat] letztlich die Anfragen über die genauen Konturen dieses Grundsatzes vervielfacht”.145 Maduro, selbst kritischer literarischer Begleiter der Rechtsprechung des EuGH,146 profiliert daher zu Recht die transnationale Integrationsfunktion der Grundfreiheiten.147 Er gesteht zu, dass die Grundfreiheiten in bestimmten Fällen auch die Wirkung einer Liberalisierung der nationalen Volkswirtschaften haben könnten. Letztlich sei es aber „das Hauptziel des Grundsatzes des freien Warenverkehrs, zu gewährleisten, dass die Hersteller in die Lage versetzt werden, effektiv von ihrem Recht auf grenzüberschreitende Ausübung ihrer Tätigkeit Gebrauch zu machen, während die Verbraucher in die Lage versetzt werden, tatsächlich Zugriff auf Produkte aus anderen Mitgliedstaaten unter denselben Voraussetzungen wie auf nationale Produkte zu haben.“148 Er zieht daraus den zutreffenden und für die Dogmatik der Grundfreiheiten entscheidenden Schluss, dass die Grundfreiheiten allein Diskriminierungsverbote sind: Es sei nicht Aufgabe des Gerichtshofes, „systematisch die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten in Frage zu stellen. Seine Aufgabe ist vielmehr, sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten keine Maßnahmen ergreifen, die in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, dass die grenzüberschreitenden Sachverhalte ungünstiger als die rein nationalen Sachverhalte behandelt werden.“149 Zwar setzt Maduro das ambitionierte dogmatische Konzept im konkreten Fall nicht konsequent um.150 Dennoch handelt es sich um einen bedeutenden Beitrag zur 143 144 145 146 147 148 149 150
EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Fn. 8), Rn. 14. Vgl. etwa neben der hier besprochenen Entscheidung EuGH, Rs. C-322/01 (Fn. 107), Rn. 71 ff. GA Maduro zu EuGH, verb. Rs. C-158/04 und C-159/04 (Fn. 117), Nr. 34. M. Poiares Maduro, We, the Court, 1998, insbes. S. 173 f. GA Maduro zu EuGH, verb. Rs. C-158/04 und C-159/04 (Fn. 117), Nr. 36 ff.; kritisch: Oliver/Enchelmaier (Fn. 3), S. 676 ff. GA Maduro zu EuGH, verb. Rs. C-158/04 und C-159/04 (Fn. 117), Nr. 39. Ebd., Nr. 41 (Hervorhebung im Original). Dazu näher T. Kingreen, Keine neue Frische in der Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten: Der EuGH und das aufgebackene Brot, EWS 2006, S. 488 (492 f.).
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Wiederbelebung der wissenschaftlichen Diskussion darüber, was die Grundfreiheiten sind und was nicht. Denn Maduro arbeitet überzeugend heraus, dass im Begriff der Diskriminierung und seiner fallgruppenbezogenen Konkretisierung der Schlüssel für die dogmatische Umsetzung der transnationalen Integrationsfunktion der Grundfreiheiten liegt. b) Auswirkungen auf die Rechtfertigungsprüfung Die fehlende dogmatische Konsistenz auf der Tatbestandsebene wirkt bei der Prüfung der Rechtfertigung als „weiterfressender Mangel“. Dieser beruht auf der Wechselwirkung zwischen Tatbestands- und Rechtfertigungsprüfung. In dem Maße nämlich, in dem der Tatbestand ausgeweitet wird, steigt auf der Rechtfertigungsebene das Bedürfnis, diese Weite gleichsam wieder einzufangen, um „die Demarkationslinie zwischen Markt und Staat, zwischen wettbewerblicher Allokation und autoritativer Verantwortung“151 zu ziehen. Dieser Zusammenhang wird bei den Grundfreiheiten mehr als deutlich: Weil es auf der Tatbestandsebene letztlich kein brauchbares Kriterium mit Filterwirkung gibt, müssen die Rechtfertigungstatbestände ausgedehnt werden.152 Aufgrund dieses Zusammenhanges ist die Schrankenprüfung des EuGH janusköpfig. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten können nicht nur durch die kodifizierten Schrankentatbestände (Art. 30, 39 Abs. 3, 46 Abs. 1, 55 EG), sondern auch durch die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt werden, die der EuGH im Urteil Cassis de Dijon für die Warenverkehrsfreiheit entwickelt und mittlerweile auf alle Grundfreiheiten ausgedehnt hat.153 Die Notwendigkeit, ungeschriebene Allgemeininteressen in die Prüfung der Grundfreiheiten einfließen zu lassen, folgt zum einen aus der weiten Dassonville-Formel, die es durch die Formulierung von entgegenstehenden Allgemeininteressen gewissermaßen wieder einzufangen galt, zum anderen aus dem sehr engen Verständnis der kodifizierten Rechtfertigungsgründe, insbesondere der Generalklausel „öffentliche Sicherheit und Ordnung“.154 Die Cassis-Formel ist also gleichermaßen Korrektiv für ein weites Tatbestandsverständnis und die enge Auslegung der Rechtfertigungsgründe. Das stellt sie allerdings in ein dogmatisch kaum zu verortendes Niemandsland zwischen Tatbestandsund Rechtfertigungsebene: Teils werden die „zwingenden Erfordernisse“ als tatbe-
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P. Genschel, Markt und Staat in Europa, PVS 39 (1998), S. 55 (57). In diesem Sinne etwa auch R. Streinz, Konvergenz der Grundfreiheiten, in: FS Rudolf, 2001, S. 199 (201). EuGH, Rs. 120/78 (Fn. 37), Rn. 8; vgl. ferner EuGH, verb. Rs. 110/78 und 111/78, van Wesemael, Slg. 1979, 35, Rn. 35, für die Dienstleistungsfreiheit („Allgemeininteresse“); Rs. C255/97, Pfeiffer, Slg. 1999, I-2835, Rn. 19, für die Niederlassungsfreiheit („zwingende Gründe des Gemeinwohls“); vgl. auch Rs. C-237/94, O’Flynn, Slg. 1996, I-2617, Rn. 19, für die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Näher Kingreen (Fn. 18), S. 155.
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standsbegrenzende Merkmale,155 teils als Rechtfertigungsgründe eingeordnet.156 Die Rechtsprechung lässt sich für keine der beiden Meinungen in Anspruch nehmen. In einigen Entscheidungen spricht der EuGH die „zwingenden Erfordernisse“ zwar im Zusammenhang mit der Auslegung des Art. 30 EG-Vertrag bzw. Art. 28 EG157 an, sagt aber dann an anderer Stelle (im Falle Wurmser sogar innerhalb einer Entscheidung), eine nationale Regelung dürfe nur dann „von den Anforderungen des Art. 28 EG abweichen, wenn sie dadurch gerechtfertigt werden kann, daß sie notwendig ist, um zwingenden Erfordernissen … gerecht zu werden.“158 Befriedigend sind beide Varianten nicht. Die Tatbestandslösung ist fragwürdig, weil der EuGH der Sache nach eine Rechtfertigungsprüfung vornimmt, die schon aus Gründen der Transparenz des Prüfungsvorgangs auf der Tatbestandsebene schlecht aufgehoben ist. Auch die Rechtfertigungslösung ist nicht überzeugend. Es erscheint widersinnig, neben die nach ständiger Rechtsprechung eng auszulegenden kodifizierten Rechtfertigungsgründe weitere ungeschriebene Ausnahmetatbestände zu stellen, die diese enge Auslegung faktisch konterkarieren.159 Das zeigt bereits, dass sich die ungeschriebenen „zwingenden Erfordernisse“ nicht widerspruchsfrei in die Struktur der Grundfreiheiten einfügen und auch keinerlei Legitimation aus dem EG-Vertrag erhalten. Die Cassis-Formel verursacht aber nicht nur dogmatische Einordnungsschwierigkeiten, sondern stiftet auch inhaltliche Verwirrung. Unklar ist nämlich, welche Beeinträchtigungsformen nicht nur über die Art. 30, 39 Abs. 3, 46 Abs. 1, 55 EG, sondern zusätzlich über die „zwingenden Erfordernisse“ zu rechtfertigen sind. Diese Frage hat erhebliche praktische Bedeutung, weil der EuGH die kodifizierten Rechtfertigungsgründe, insbesondere auch den in allen Schranken enthaltenen Tatbestand der öffentlichen Ordnung, sehr eng auslegt160 und daher so wichtige Gemeinschaftsgüter wie den Umweltschutz nur bei den „zwingenden Erfordernis-
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Dafür etwa M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 81 f.; I. Millarg, Die Schranken des freien Warenverkehrs der EG, 2001, S. 93 ff. So die wohl h.M.: U. Becker, Von „Dassonville“ über „Cassis“ zu „Keck“, EuR 1994, 162 (166); Ehlers (Fn. 15), Rn. 63; Jarass (Fn. 15), S. 719; W. Schroeder, in Streinz (Fn. 12), Art. 30 EG, Rn. 33. EuGH, verb. Rs. C-1/90 und C-176/90, Aragonesa, Slg. 1991, I-4151, Rn. 13; vgl. ferner EuGH, Rs. 25/88, Wurmser, Slg. 1989, 1105, Rn. 11. Vgl. etwa EuGH, Rs. 113/80, Kommission/Irland, Slg. 1981, 1625, Rn. 10 (Hervorhebung d. Verf.); vgl. ferner z.B. EuGH, Rs. 25/88 (Fn. 157), Rn. 11. Kingreen (Fn. 18), S. 52; W.-H. Roth, Diskriminierende Regelungen des Warenverkehrs und Rechtfertigung durch die „zwingenden Erfordernisse“ des Allgemeininteresses, Wettbewerb in Recht und Praxis 2000, S. 979 (984). Vgl. etwa EuGH, Rs. 177/83, Kohl, Slg. 1984, 3651, Rn. 19. Der EuGH begründet dies mit dem – methodisch zweifelhaften (Kingreen (Fn. 18), S. 154; S. Leible, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, (Stand: Jan. 2008), Art. 30 EG, Rn. 2; Roth (Fn. 159), S. 983) – Ausnahmecharakter der Schranken, vgl. etwa EuGH, Rs. C-205/89, Kommission/Griechenland, Slg. 1991, I-1361, Rn. 9.
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sen“ einordnen kann. Das Problem rührt daher, dass die Cassis-Formel bereits einen Geburtsfehler hat: Sie ließ nämlich, was oft übersehen wird, die entscheidende Frage nach den von ihr erfassten Beeinträchtigungsformen zunächst offen. Erst später hat der EuGH die Cassis-Formel um einen – im Folgenden herausgehobenen – Halbsatz ergänzt, ohne kenntlich zu machen, dass das Cassis-Urteil diesen noch gar nicht enthält: Danach sind nämlich „Hemmnisse für den freien Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen ergeben, hinzunehmen, soweit eine solche Regelung, die unterschiedslos für einheimische wie für eingeführte Erzeugnisse gilt, … notwendig ist, um zwingenden Erfordernissen … gerecht zu werden.“161 Später spricht der EuGH nicht mehr von „unterschiedslos gelten“, sondern meist von „unterschiedslos anwendbar“.162 Man hat dies in der Literatur zum Teil so verstanden, dass (offen oder versteckt) diskriminierende Vorschriften allein durch die kodifizierten Schrankentatbestände zu rechtfertigen sind, während für diskriminierungsfreie Maßnahmen auch die ungeschriebenen Gründe des Allgemeinwohls zur Verfügung stehen.163 Und in der Tat finden sich etwa in der Rechtsprechung zu Art. 28 EG Fälle, in denen sich der Gerichtshof mit der differenzierenden Wirkung einer unterschiedslos anwendbaren Maßnahme befasst, diese bejaht und sodann nur noch eine Rechtfertigung über Art. 30 EG zulässt.164 In anderen Fällen wirft der EuGH allerdings trotz der Feststellung einer versteckten Diskriminierung die Frage nach den „zwingenden Erfordernissen“ auf.165 Schließlich gibt es Entscheidungen, in denen der EuGH den diskriminierenden Charakter einer Maßnahme mit zweifelhaften Argumenten gleichsam weginterpretiert. Zu diesem Kunstgriff muss der EuGH greifen, wenn offene Diskriminierungen mit dem Schutz von solchen Rechtsgütern (etwa dem Umweltschutz) legitimiert werden sollen, die er wegen seiner engen Auslegung nicht unter die kodifizierten Rechtfertigungsgründe (Art. 30, 39 Abs. 3, 46 Abs. 1, 55 EG) subsumieren kann, die aber wegen der Begrenzung der Cassis-Formel auf diskriminierungsfreie Maßnahmen und – möglicherweise – auf versteckte Diskriminierungen auch nicht über die „zwingenden Erfordernisse“ zu rechtfertigen sind.166 Aber selbst im Hinblick auf offene Diskriminierungen ist der EuGH inkon161 162 163 164
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Erstmals – soweit ersichtlich – EuGH, Rs. 261/81, Rau, Slg. 1982, 3961, Rn. 12. Vgl. etwa EuGH, Rs. 25/88 (Fn. 157), Rn. 10; verb. Rs. C-1/90 und C-176/90 (Fn. 157), Rn. 12. Vgl. etwa L. Defalque, Le concept de discrimination en matière de libre circulation des marchandises, CDE 23 (1987), S. 471 (478). EuGH, Rs. 177/83 (Fn. 160), Rn. 15, 19; Rs. 229/83, Leclerc, Slg. 1985, 1, Rn. 26, 29. Sehr deutlich auch EuGH, Rs. 25/88 (Fn. 157), Rn. 11; verb. Rs. C-1/90 und C-176/90 (Fn. 157), Rn. 13; Rs. C-224/97, Ciola, Slg. 1999, I-2517, Rn. 16. EuGH, Rs. 16/83, Prantl, Slg. 1984, 1299, Rn. 22 ff.; vgl. auch EuGH, Rs. 207/83, Kommission/Großbritannien, Slg. 1985, 1201, Rn. 19 ff.; vgl. ferner EuGH, verb. Rs. C-34/95, C-35/ 95 und C-36/95, De Agostini, Slg. 1997, I-3843, Rn. 44 f. für diskriminierende vertriebsbezogene Regelungen im Sinne der Keck-Formel. Vgl. EuGH, C-2/90, Kommission/Belgien, Slg. 1992, I-4431, Rn. 34, 36, wo unter Berufung auf die „Besonderheit der Abfälle“ (Art. 174 Abs. 2 S. 2 EG) eine Diskriminierung verneint wurde, obwohl Abfälle aus Belgien anders behandelt wurden als solche aus anderen Mit
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sequent: So misst der Gerichtshof etwa die ohne Zweifel offen diskriminierenden Ausländerklauseln im Berufsfußball an den ungeschriebenen Schranken im Sinne der Cassis-Formel, ohne den geschriebenen Rechtfertigungsgrund Art. 39 Abs. 3 EG überhaupt anzusprechen.167 Dennoch betont er in der Entscheidung Ciola aus dem Jahre 1999 nochmals, dass sich innerstaatliche diskriminierende Vorschriften „mit dem Gemeinschaftsrecht nur dann vereinbaren [lassen], wenn sie unter eine ausdrücklich abweichende Bestimmung, wie z.B. Art. 56 EWG-Vertrag [Art. 46 Abs. 1 EG], fallen.“168 Im Schrifttum wird die inkonsistente Rechtsprechung seit einiger Zeit thematisiert. Selbst ein ehemaliger EuGH-Richter räumt ein, dass der EuGH auf „schwankendem Boden“ stehe und sich auf die „Suche nach einer Rechtfertigungsdogmatik“169 begeben müsse. Teilweise wird gefordert, die Grenze zwischen offenen und versteckten Diskriminierungen zu ziehen und nur Letztere auch für die Cassis-Formel zu öffnen.170 Damit wird aber letztlich der versteckte Protektionismus prämiert, denn warum sollte eine versteckt diskriminierende Vorschrift leichter zu rechtfertigen sein als eine offen an ein verbotenes Differenzierungskriterium anknüpfende Norm? Deshalb setzt sich zunehmend die Einsicht durch, dass die Cassis-Formel für alle Beeinträchtigungsformen gelten sollte.171 Im Prinzip leuchtet das ein: Denn warum sollte etwa der Schutz des in Art. 30 EG genannten nationalen Kulturgutes gar offene Diskriminierungen rechtfertigen, der wohl kaum weniger wichtige Umweltschutz hingegen nicht?
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wurde, obwohl Abfälle aus Belgien anders behandelt wurden als solche aus anderen Mitgliedstaaten und der Generalanwalt deshalb die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 28 EG empfohlen hatte; bestätigt durch EuGH, Rs. C-379/98, PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099, Rn. 73 ff., obwohl GA Jacobs die bisherige Rechtsprechung ausdrücklich als „fehlerhaft“ (GA Jacobs zu EuGH, Rs. C-379/98, PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099, Nr. 225) rügt. Kritisch auch W. Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, 1993, S. 182; C. Nowak, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages und der Umweltschutz, VerwArch 93 (2002), S. 368 (389); S. Heselhaus, Rechtfertigung unmittelbar diskriminierender Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit, EuZW 2001, S. 645 (646); R. Streinz, Urteilsbesprechung, JuS 2001, S. 596 (597): „ungeordnetes Konglomerat von Rechtfertigungsgründen“, „Beitrag zur weiteren Verwirrung der Dogmatik der Schranken der Grundfreiheiten“. EuGH, C-415/93 (Fn. 34), Rn. 121 ff. Ebenso verfährt der EuGH etwa bei Beschränkungen der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, die sich nur als offene Diskriminierungen einordnen lassen; dazu Nowak/Schnitzler (Fn. 89), S. 629. EuGH, Rs. C-224/97 (Fn. 164), Rn. 16. G. Hirsch, Die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit, ZeuS 1999, S. 503 (510). J. Gundel, Die Rechtfertigung von faktisch diskriminierenden Eingriffen in die Grundfreiheiten des EGV, Jura 2001, S. 79 (82 f.); Nowak (Fn. 166), S. 392 f. U. Becker, in: Schwarze (Fn. 12), Art. 30 EG, Rn. 43; S. Leible, in: Grabitz/Hilf (Fn. 160), Art. 28 EG, Rn. 20; W. Weiß, Nationales Steuerrecht und Niederlassungsfreiheit, EuZW 1999, S. 493 (497 f.); einen „Gleichlauf in der Rechtfertigungsfrage“ beobachtet auch P.-C. Müller-Graff, Die Verdichtung des Binnenmarktrechts zwischen Handlungsfreiheiten und Sozialgestaltung, EuR Beiheft 1/2002, S. 7 (53 ff.).
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Die eigentliche Wurzel des Problems wird allerdings kaum thematisiert: Es ist die Cassis-Formel selbst.172 Diese kritiklose Hinnahme der prätorischen Kreierung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe ist jedenfalls für einen im deutschen Verfassungsrecht groß gewordenen Juristen erstaunlich: Wenn man es etwa in einer Veröffentlichung zu den Grundrechten des Grundgesetzes wagen würde, neben die ausdrücklichen Gesetzesvorbehalte noch ungeschriebene Schranken zu stellen, wäre man sich der breiten Ablehnung der Kollegenschaft sicher; Studierende, die dies in Übungsarbeiten versuchen würden, fänden sich im unteren Teil des Notenspektrums wieder. Bei der Cassis-Formel hingegen ist die Zahl der amici curiae groß. Dabei ist es schlicht nicht nachvollziehbar, wenn der EuGH den Ausnahmecharakter der geschriebenen Rechtfertigungsgründe behauptet und damit deren enge Auslegung begründet, dann aber qua eigener Rechtsfortbildung ständig neue ungeschriebene Rechtsgüter erfinden darf, die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten rechtfertigen und das selbst auferlegte singularia non sunt extendenda faktisch konterkarieren. Immer wieder werden neue „zwingende Erfordernisse“ behauptet, für die es im Vertragstext keinerlei Anhaltspunkte gibt. Ein abschließender Katalog dieser Allgemeinwohlgründe wird bei keiner Grundfreiheit präsentiert,173 und es entsteht der Eindruck, dass es kaum einen Aspekt des öffentlichen Lebens gibt, der nicht unter diesen Tatbestand subsumiert werden kann.174 Das geht so weit, dass zu den „zwingenden Erfordernissen“ auch Rechtsgüter gezählt werden, die bereits in Art. 30 EG genannt werden.175 Hier stünde der Rechtsprechung etwas mehr Positivismus nicht schlecht an: Es sollten sämtliche Rechtfertigungsgründe dort angesiedelt werden, wo der Vertrag sie auch anspricht, nämlich in den Art. 30, 39 Abs. 3, 46 Abs. 1, 55 EG. Sie alle enthalten mit dem thematisch nicht begrenzten Tatbestand der „öffentlichen Ordnung“ das klassische „Sicherheitsventil für nationale Interessen“176 in völkerrechtlichen Verträgen, das die zwingenden Erfordernisse integrieren und normativ legitimieren kann und sie sodann in die anschließend durchzuführende Verhältnismäßigkeitsprüfung aufzunehmen vermag.177 Zusammenfassend zeigt die inkonsistente Rechtsprechung des EuGH, dass die ungeschriebenen „zwingenden Erfordernisse“ einen Fremdkörper nicht nur in der Rechtfertigungsprüfung, sondern überhaupt in der Gesamtstruktur der Grundfrei172 173
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Kingreen (Fn. 18), S. 104 f., 162 ff. Dementsprechend die Formulierung in EuGH, Rs. 120/78 (Fn. 37), Rn. 8: „insbesondere“. Vgl. hingegen die Zusammenstellung in EuGH, C-353/89, Kommission/Niederlande, Slg. 1991, I-4069, Rn. 18, für Art. 49 EG. W. Schroeder, Kein Glücksspiel ohne Grenzen, EuGRZ 1994, S. 373 (378). Etwa der Gesundheitsschutz, den EuGH, Rs. 120/78 (Fn. 37), Rn. 8 zunächst zu den zwingenden Erfordernissen zählte, dann aber entdeckte, dass dieser bereits in Art. 30 EG aufgeführt ist: EuGH, verb. Rs. C-1/90 und C-176/90 (Fn. 157), Rn. 13. Dazu eingehend H. Schneider, Die öffentliche Ordnung als Schranke der Grundfreiheiten im EG-Vertrag, 1998, S. 57 ff. (auch zu den unterschiedlichen Konkretisierungsversuchen). Vgl. auch Art. 6 EGBGB. Vgl. T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 12), Art. 28–30 EG, Rn. 85.
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heiten bilden. Die Cassis-Formel versucht zu korrigieren, was nicht zu korrigieren ist, nämlich den Verzicht auf das Erfordernis einer Ungleichbehandlung auf der Beeinträchtigungsebene. So bleibt das Konzept des EuGH und der herrschenden Meinung letztlich halbherzig: Die Grundfreiheiten sollen nicht gegenüber allen Belastungen grenzüberschreitender Transaktionen schützen, sondern nur vor einigen. Sie sollen zwar Freiheitsrechte sein, aber doch irgendwie anders als die Grundrechte. Wie dieses „Anders-Sein“ aber aussehen soll, bleibt weithin offen, und so verwundert es nicht, dass die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten weitgehend durch weiche Formeln gesteuert wird, denen eine gewisse Beliebigkeit anhaftet. Die inkonsequente Rechtfertigungsdogmatik steht damit paradigmatisch für die These, dass die Formeln Dassonville und Cassis de Dijon auf Dauer keine verlässliche Grundlage für eine konsistente Dogmatik der Grundfreiheiten bilden können. 2. Der Gesetzesvorbehalt Eher selten wird die Frage thematisiert, ob für die Grundfreiheiten der Gesetzesvorbehalt gilt, ob also Eingriffe in die Grundfreiheiten einer gesetzlichen Grundlage bedürfen. Der EuGH hat den Gesetzesvorbehalt bislang nur bei den Grundrechten,178 nicht aber bei den Grundfreiheiten etabliert. Im deutschen Schrifttum wird die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage bei Beeinträchtigungen tendenziell bejaht.179 Der dafür bemühte Wortlaut einzelner Grundfreiheiten ist freilich wenig ergiebig, zumal die Grundfreiheiten von den vertragschließenden Parteien nicht als subjektive, ggfs. den Gesetzesvorbehalt auslösende Rechte konzipiert worden sind.180 Grundsätzlicher ist zu fragen, ob der Gesetzesvorbehalt überhaupt eine grundfreiheitliche Kategorie ist. Jedenfalls in Deutschland ist er historisch aufs Engste mit der Grundrechtsidee verbunden, damit also, dass Eingriffe in Freiheit und Eigentum nur legitim sind, wenn ihre wesentlichen Voraussetzungen in einem Rechtsakt der Volksvertretung festgelegt worden sind.181 Dem englischen Recht hingegen ist dieser Zusammenhang eher fremd. Letztlich geht es auch bei den Grundfreiheiten nicht um dieses Zusammenspiel von rechtsstaatlicher Freiheit und demokratischer Legitimation. Denn die Grundfreiheiten schützen ja nicht primär gegenüber der Hoheitsgewalt des eigenen Staates, auf dessen politische Willensbildung durch das Wahlrecht Einfluss genommen wird und der Grundrechtseingriffe nicht ohne Gesetz vornehmen darf. Sie gewährleisten Rechte vielmehr, wo demokratische Mitwirkung endet, und gerade weil sie endet: Föderale Gefährdungslagen beruhen auf der Neigung der Mitgliedstaaten zum Protektionismus zugunsten der eigenen Staatsangehörigen, und es ist Aufgabe der Grundfreiheiten, dieser auch
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EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rn. 19; vgl. auch EuGH, Rs. C-66/04, Großbritannien/Parlament und Rat, Slg. 2005, I-10553, Rn. 47; S. Röder, Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte der Union im Lichte einer europäischen Wesentlichkeitstheorie, 2007. Ehlers (Fn. 15), Rn. 82; Jarass (Fn. 15), S. 222. Vgl. oben, II. 1. H. Maurer, Staatsrecht I, 2007, § 8 Rn. 19 ff.
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durch fehlende demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten begründeten Benachteiligung entgegenzuwirken. Zur transnationalen Integrationsfunktion passt der Gesetzesvorbehalt mithin nicht. Vielmehr gilt diejenige Rechtsordnung, der die beschränkende Maßnahme entstammt. Für Maßnahmen der Mitgliedstaaten gilt das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht, das etwa im Rechtskreis des Common Law keine geschriebene Rechtsgrundlage fordern wird, während etwa in Deutschland der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt gilt. Wenn also mit der Beeinträchtigung der Grundfreiheit ein Eingriff in die Grundrechte des Grundgesetzes einhergeht, so resultiert schon (aber auch nur!) daraus die Notwendigkeit einer parlamentsgesetzlichen Grundlage. Und soweit eine Drittwirkung der Grundfreiheiten bejaht wird,182 lässt sich die Frage gar nicht sinnvoll beantworten, denn der Einzelne bedarf keiner Gesetze, um sein durch die Grundrechte geschütztes Handeln zu legitimieren. 3. Die Bindung der Union an die Grundfreiheiten Die Unterscheidung zwischen transnationaler Integration und supranationaler Legitimation lässt sich auch für die Frage der Adressaten der Grundfreiheiten fruchtbar machen. Problematisch ist hier insbesondere die in Rechtsprechung183 und Literatur184 meist eher beiläufig bejahte Bindung der Union. Als transnationale Integrationsnormen kompensieren die Grundfreiheiten föderale Gefährdungslagen, die Folge der polyzentrischen (= mitgliedstaatlichen) Ausübung von Hoheitsgewalt im europäischen Verfassungsverbund sind. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hingegen baut regelmäßig keine Zugangshindernisse zwischen den nationalen Märkten auf, sondern ab. Schon gar nicht geht von ihm eine spezifische Gefahr aus, grenzüberschreitende gegenüber inländischen Sachverhalten zu diskriminieren. Zwar muss auch er sich für jeden Eingriff in individuelle Freiheiten und für Ungleichbehandlungen ebenso rechtfertigen wie die Mitgliedstaaten. Doch ist das eine Frage der supranationalen Legitimation der Gemeinschaft, nicht aber der transnationalen Legitimation: Es gelten die Gemeinschaftsgrundrechte, nicht aber die Grundfreiheiten. 4. Die Unionsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten Die Kategorien von transnationaler Integration und supranationaler Legitimation verschwimmen schließlich auch, wenn, wie von Rechtsprechung und Teilen der Literatur vertreten, die in die Grundfreiheiten eingreifenden Mitgliedstaaten zu-
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Vgl. unten, IV. EuGH, Rs. 15/83, Denkavit Nederland, Slg. 1984, 2171, Rn. 15, 17; Rs. C-51/93, Meyhui, Slg. 1994, I-3879, Rn. 11 ff.; Rs. C-114/96, Kieffer, Slg. 1997, I-3629, Rn. 29 ff.; Rs. C341/95, Bettati, Slg. 1998, I-4355, Rn. 60; Rs. C-169/99, Schwarzkopf, Slg. 2001, I-5901, Rn. 37 ff.; verb. Rs. C-154/04 und C-155/04, Alliance for Natural Health, Slg. 2005, I6451, Rn. 47. U. Becker, in: Schwarze (Fn. 12), Art. 28 EG, Rn. 101 f.; Oliver (Fn. 61), S. 71 ff.; W. Schroeder, in: Streinz (Fn. 12), Art. 28 EG, Rn. 29.
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gleich an die Unionsgrundrechte gebunden werden.185 Die Unionsgrundrechte verstärken damit die Wirkung der Grundfreiheiten auf der Ebene der Rechtfertigung. Ist der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten eröffnet, so wird zugleich der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte erschlossen und derjenige der nationalen Grundrechte verschlossen. Das geht so weit, dass der EuGH etwa die Ausweisung einer Drittstaatsangehörigen an der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49, 50 EG) ihres britischen Ehemannes misst und über diese Brücke die Ausweisung selbst einer Grundrechtsprüfung unterwirft.186 Kaum nachvollziehbar ist auch, selbst bei Zugrundelegung der Prämissen des EuGH, eine Grundrechtsprüfung für den Fall, dass nach Maßgabe der Keck-Formel gar keine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten vorliegt.187 Dieser durch den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten angestoßene Dominoeffekt ist angesichts der vom EuGH vertretenen Weite der Grundfreiheiten von erheblicher Brisanz. Denn wenn die Grundfreiheiten jegliche nationale Regulierung erfassen, die auch grenzüberschreitende Auswirkungen hat, dann sind die Mitgliedstaaten letztlich in weiten Bereichen auch an die Unionsgrundrechte gebunden und sind die nationalen Grundrechte nicht mehr anwendbar. So recht einzuleuchten vermochte diese Rechtsprechung noch nie: Denn ein Bedürfnis der Bindung der Mitgliedstaaten besteht nur, wenn und soweit dies zur Sicherung der einheitlichen Anwendung des EU-Rechts erforderlich ist.188 Wenn aber ein Mitgliedstaat von den Ausnahmeklauseln Gebrauch macht und deren Voraussetzungen vorliegen, nimmt das Gemeinschaftsrecht gerade uneinheitliche Regelungen hin.189 Letztlich verschwimmen durch diese Doppelung die Kategorien von transnationaler Integration und supranationaler Legitimation: Die Grundfreiheiten schützen vor spezifisch grenzüberschreitenden Belastungen; ihre Legitimation ziehen die Mitgliedstaaten, die in die Grundrechte eingreifen, hingegen aus der Bin-
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EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Rn. 42 f.; Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, I-3689, Rn. 24 ff.; vgl. aus der Literatur J. Kühling, Grundrechtskontrolle durch den EuGH, EuGRZ 1997, S. 296 (299 f.); T. Jürgensen/I. Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 200 (213 ff.); differenzierend M. Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, EuGRZ 1995, S. 518 (528 f.), nunmehr modifizierend ders., Schlüsselfragen der europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, S. 165 (178 f.). EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279, Rn. 37 f. EuGH, Rs. C-71/02, Karner, Slg. 2004, I-3025, Rn. 43, 48 ff. Vgl. zu den anerkannten Fallgruppen T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 12), Art. 51 GRCharta, Rn. 7 ff. Vgl. bereits J. Coppel/A. O’Neill, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, CMLRev. 29 (1992), S. 669 (672); T. Kingreen/R. Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, S. 263 (281 ff.). Mittlerweile findet diese Ansicht zunehmend Anhänger: W. Cremer, Rechtfertigung legislativer Eingriffe in Grundrechte des Grundgesetzes und Grundfreiheiten des EG-Vertrags nach Maßgabe objektiver Zwecke, NVwZ 2004, S. 668 (669); M. Gellermann, Das Stromeinspeisungsgesetz auf dem Prüfstand des Europäischen Gemeinschaftsrechts, DVBl. 2000, S. 509 (516 f.); K. Ritgen, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, ZRP 2000, S. 371 (373); F. Schorkopf, Nationale Grundrechte in der Dogmatik der Grundfreiheiten, ZaöRV 64 (2004), S. 125 (138).
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dung an die nationalen Grundrechte. Einer Bindung an die Unionsgrundrechte bedarf es nicht. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GR-Charta beschränkt nunmehr die Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf die Durchführung des Unionsrechts. Wenn aber ein Mitgliedstaat berechtigterweise von den Ausnahmeklauseln der Grundfreiheiten Gebrauch macht, führt er kein Unionsrecht durch, sondern wird gerade, so weit die Rechtfertigungstatbestände reichen, aus dem Anwendungsbereich des Vertrages entlassen. Der Eingriff eines Mitgliedstaates in eine Grundfreiheit ist daher keine Durchführung des Unionsrechts i.S.v. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GR-Charta.190 Die Diskussion um die beschränkte Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte ist mit einem erheblichen Engagement geführt worden; allerdings fast durchweg ohne Einbeziehung der Grundfreiheiten. Dabei haben gerade die „unendliche Weite der Grundfreiheiten“191 und die an die Eröffnung ihres Anwendungsbereichs anknüpfende Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte das Potenzial, den Grundrechtsverbund aus Unions- und mitgliedstaatlichen Grundrechten auszuhebeln. Grundfreiheits- sind immer auch Grundrechts- und Grundrechts- immer auch Grundfreiheitsfragen.
IV. Die sog. Privatwirkung der Grundfreiheiten Neben der vertikalen Reichweite der Grundfreiheiten gegenüber den Mitgliedstaaten werden auch die horizontalen Auswirkungen der Grundfreiheiten auf privatautonome Verhaltensweisen zunehmend diskutiert. Es geht um die Frage, ob die Grundfreiheiten nur subjektiv-öffentliche Rechte vermitteln oder in bestimmten Fällen auch Privat- bzw. Drittwirkung gegenüber Privaten entfalten. In der Rechtsprechung des EuGH lassen sich zwei gegenläufige Entwicklungen beobachten. 1. Unmittelbare Privatwirkung? Tendenziell neigt der EuGH am ehesten bei Privatpersonen, die aufgrund ihrer besonderen Stellung Teile des Wirtschaftslebens autonom regeln können (etwa Sportverbände), zur Annahme einer Privatwirkung.192 Dahinter steht die Überlegung, dass der Einzelne Verbandsregelungen oft ebenso wenig ausweichen kann wie 190 191 192
So auch W. Cremer, Der programmierte Verfassungskonflikt, NVwZ 2003, S. 1452 (1454 ff.). S. Puth, Die unendliche Weite der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, EuR 2002, S. 860. EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19; Rs. 13/76, Donà, Slg. 1976, 1333, Rn. 17/18; Rs. C-415/93 (Fn. 34), Rn. 82 ff.; verb. Rs. C-51/96 und C-191/97, Deliège, Slg. 2000, I-2549, Rn. 47; Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, I-2681, Rn. 47 ff. Ausführliche Analysen in der Literatur: M. Burgi, Mitgliedstaatliche Garantenpflicht statt unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, EWS 1999, S. 327; U. Forsthoff, Drittwirkung der Grundfreiheiten: Das EuGH-Urteil Angonese, EWS 2000, S. 389; T. O. Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000, S. 33 ff.; Kingreen (Fn. 18), S. 192 ff.; W. Kluth, Die Bindung privater Wirtschaftsteilnehmer an die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, AöR 122 (1997), S. 557; T. Körber, Innerstaatliche Anwendung und Drittwirkung der Grundfreiheiten?, EuR 2000, S. 932; M. Pießkalla, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrags bei Boykottaufrufen durch Gewerkschaften, NZA 2007, S. 1144; B. Remmert, Grundfrei
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staatlichen Normen und die Grenzziehung zwischen privater und staatlicher Funktionsausübung in den Mitgliedstaaten oft unterschiedlich ausgestaltet ist.193 Um die Vergleichbarkeit mit der staatlichen Rechtsetzung sicherzustellen, wird in der Literatur allerdings meist gefordert, dass der betreffende Verband eine gewisse „soziale Macht“ oder gar Monopolstellung haben müsse.194 Ob der EuGH diese Beschränkung allerdings akzeptiert oder nicht von einer letztlich uneingeschränkten unmittelbaren Privatwirkung ausgeht, ist ungeklärt. Insbesondere die Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit weist einige Volten auf. Zunächst schien der Gerichtshof von einer unmittelbaren Privatwirkung auszugehen. Im sog. Tonträger-Urteil heißt es etwa, dass der Zusammenschluss der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt nicht erreichbar sei, „wenn Privatpersonen aufgrund der verschiedenen Rechtssysteme der Mitgliedstaaten die Möglichkeit hätten, den Markt aufzuteilen und willkürliche Diskriminierungen oder verschleierte Beschränkungen im Handel zwischen den Mitgliedstaaten herbeizuführen.“195 Nun ist diese Aussage noch recht allgemein gehalten und könnte auch so verstanden werden, dass nur die privatrechtsgestaltende Rechtsnorm, nicht aber die private Ausübung des Rechtes selbst an Art. 28 EG gemessen wird.196 In der Folgezeit unterscheidet der EuGH aber zunächst regelmäßig zwischen dem durch eine Norm vermittelten Bestand eines Schutzrechtes und seiner Ausübung und misst allein Letztere an Art. 28 EG.197 Recht eindeutig für eine uneingeschränk193te Privatwirkung spricht das Urteil Dansk Supermarked aus dem Jahre 1981. Dort heißt es: „Vereinbarungen zwischen Privaten dürfen in keinem Fall von den zwingenden Bestimmungen über den freien Warenverkehr abweichen.“198 Im weiteren Verlauf tauchen derartig weit gehende Aussagen allerdings nicht mehr auf; einschlägige Entscheidungen berufen sich auch nicht mehr auf Dansk Supermarked.199 Es wird vielmehr deutlich, dass der EuGH jedenfalls im Bereich des Art. 28 EG nicht die
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bei Boykottaufrufen durch Gewerkschaften, NZA 2007, S. 1144; B. Remmert, Grundfreiheiten und Privatrechtsordnung, Jura 2003, S. 13; A. Röthel, Grundfreiheiten und private Normgebung, EuR 2001, S. 908; W.-H. Roth, Drittwirkung der Grundfreiheiten?, in: FS Everling, 1995, S. 1231; D. Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Grundrechten, 2001, S. 62 ff.; E. Steindorff, Drittwirkung der Grundfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS Lerche, 1993, S. 576; R. Streinz/S. Leible, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, EuZW 2000, S. 459. Vgl. etwa Kingreen (Fn. 18), S. 199; Roth (Fn. 192), S. 1246 f.; J.-C. Séché, Quand les juges tirent au but: l’arrêt Bosman du 15 décembre 1995, Cahiers de Droit Europeén 32 (1996), S. 355 (377). F. Kainer, Grundfreiheiten und staatliche Schutzpflichten, JuS 2000, S. 431 (432): „staatsähnlich“; Roth (Fn. 192), S. 1246: „intermediäre Gewalten“. EuGH, Rs. 78/70, Deutsche Grammophon, Slg. 1971, 487, Rn. 12. Roth (Fn. 192), S. 1233. EuGH, Rs. 16/74, Centrafarm, Slg. 1974, 1183, Rn. 4 ff.; Rs. 119/75, Terrapin, Slg. 1976, 1039, Rn. 4 ff. EuGH, Rs. 58/80, Dansk Supermarked, Slg. 1981, 181, Rn. 17 f. Vgl. EuGH, Rs. 311/85, VVR, Slg. 1987, 3801, Rn. 30; Rs. C-9/93, IHT Internationale Heiztechnik, Slg. 1994, I-2789, Rn. 33 ff.
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privaten Vereinbarungen selbst treffen will, sondern nur die zugrunde liegenden Rechtsnormen, die mit Art. 28 EG unvereinbare Rechtspositionen einräumen. Im Jahre 1988 heißt es zu einer Nichtangriffsabrede in einem Patentlizenzvertrag, dass die Art. 28 ff. EG „zu den Vorschriften gehören, durch die der freie Warenverkehr gesichert werden soll und durch die zu diesem Zweck die Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die den freien Warenverkehr in irgendeiner Weise behindern könnten, beseitigt werden sollen. Dagegen gelten für Vereinbarungen zwischen Unternehmen die durch die Art. 85 ff. EWG-Vertrag [Art. 81 ff. EG] aufgestellten Wettbewerbsregeln.“200 Damit schien jedenfalls für die Warenverkehrsfreiheit die unmittelbare Privatwirkung außerhalb der privaten Rechtsetzung durch Verbände vom Tisch zu sein. Privatpersonen sollen allerdings unmittelbar an die Personenverkehrsfreiheiten (Art. 39, 43 EG) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EG) gebunden sein. Insbesondere bindet er die privatautonome Rechtsetzung der nationalen Sportverbände an diese beiden Grundfreiheiten. Tragend ist insoweit die Begründung, daß die private der staatlichen Normsetzung funktional entspricht. Die Verwirklichung der Grundfreiheiten sei gefährdet, „wenn die Beseitigung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, daß privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten.“201 Gebunden sind darüber hinaus auch die Gewerkschaften, etwa bei Boykottaufrufen: „Nach ständiger Rechtsprechung gelten die Art. 39 EG, 43 EG und 49 EG nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstrecken sich auch auf Regelwerke anderer Art, die die abhängige Erwerbstätigkeit, die selbständige Arbeit und die Erbringung von Dienstleistungen kollektiv regeln sollen.“202 Offenbar soll die Privatwirkung aber nicht auf die private Rechtsetzung und sonstige Maßnahmen durch Verbände beschränkt sein. Der EuGH hat jedenfalls die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Entscheidung Angonese auch auf privatrechtliche Vereinbarungen erweitert.203 Gegenstand des Verfahrens war eine Stellenausschreibung einer privaten Bankgesellschaft in Südtirol, die als Bedingung für die Zulassung zum Auswahlverfahren den – durch eine Prüfung in der Provinz Bozen zu führenden – Nachweis der deutsch-italienischen Zweisprachigkeit verlangte. Der EuGH bejahte die Bindung der Privatbank: Art. 39 EG sei „allgemein formuliert“ und richte „sich nicht speziell an die Mitgliedstaaten“.204 Er solle „eine nichtdiskriminierende Behandlung auf dem Arbeitsmarkt gewährleisten“, was nur sichergestellt werden könne, wenn er „alle die abhängige Erwerbstätigkeit kollektiv regelnden Tarifverträge und alle Verträge zwischen Privatpersonen“205 erfasse. Ohne 200 201
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EuGH, Rs. 65/86, Bayer, Slg. 1988, 5249, Rn. 11. So EuGH, Rs. 36/74 (Fn. 192), Rn. 16/19; ferner: EuGH, Rs. 13/76 (Fn. 192); Rs. C-415/93 (Fn. 34), Rn. 82 ff.; verb. Rs. C-51/96 und C-191/97 (Fn. 192), Rn. 47; Rs. C-176/96 (Fn. 192), Rn. 9 f. EuGH, Rs. C-438/05, ITF, Slg. 2007, I-10799, Rn. 33. EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, I-4139, Rn. 34. Ebd., Rn. 30. Ebd., Rn. 34 f.
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weitere Differenzierung heißt es sodann abschließend: „Das in Art. 48 des [EG-] Vertrages [Art. 39 EG] ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gilt somit auch für Privatpersonen.“206 Eine rechte Erklärung für die Unterschiede zwischen der Warenverkehrsfreiheit auf der einen und der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit auf der anderen Seite ist nicht ersichtlich. Für die abweichende Sicht auf die Warenverkehrsfreiheit könnte sprechen, dass insoweit die Anwendung des Kartellrechts näher liegt.207 Doch ließe sich dieses Argument auch für die Dienstleistungsfreiheit ins Feld führen, die ebenso wie die Warenverkehrsfreiheit eine Produktverkehrsfreiheit ist. Dort wird aber die Privatwirkung bejaht. 2. Die Alternative: Das Recht auf hoheitliche Schutzgewähr Interessanterweise vollzieht sich parallel zu der in jüngster Zeit wieder vermehrt forcierten unmittelbaren Privatwirkung eine andere Entwicklung. Im Jahre 1998 hat der EuGH nämlich erstmals auch eine Pflicht der Mitgliedstaaten bejaht, den freien Produkt- und Personenverkehr durch aktive Maßnahmen vor Störungen durch Privatpersonen zu schützen: In der Entscheidung zu den gewaltsamen Protestaktionen französischer Landwirte gegenüber Obst- und Gemüsehändlern aus anderen Mitgliedstaaten erkennt der Gerichtshof an, dass Art. 28 EG auch Anwendung finden müsse, „wenn ein Mitgliedstaat keine Maßnahmen ergriffen hat, um gegen Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs einzuschreiten, deren Ursachen nicht auf den Staat zurückzuführen sind.“208 Art. 28 EG verpflichte die Mitgliedstaaten daher in Verbindung mit Art. 10 EG dazu, „alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung dieser Grundfreiheit sicherzustellen.“209 Der Mitgliedstaat ist hier also als Garant der Grundfreiheiten gefordert, der Gefahren durch Dritte für die Träger der Grundfreiheiten durch positives Handeln beseitigen muss. Die Ungleichbehandlung ist dabei in der Nichtgewährung des Schutzes zugunsten der ausländischen Marktteilnehmer zu sehen. Der Mitgliedstaat hat aber immerhin eine Einschätzungsprärogative. Es ist – so der EuGH – grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, über die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Maßnahmen zu entscheiden.210 Er könne aber überprüfen, ob der Mitgliedstaat zur Sicherstellung des freien Warenverkehrs geeignete Maßnahmen ergriffen habe. Der Gerichtshof hat im konkreten Fall die Verletzung der Schutzpflicht und damit einen Schutzgewähranspruch bejaht, da es über viele Jahre hinweg immer wieder zu gravierenden Gewalttaten gegenüber Händlern aus anderen Mitgliedstaaten gekommen sei, ohne 206 207 208 209 210
Ebd., Rn. 36. K. Vieweg/A. Röthel, Verbandsautonomie und Grundfreiheiten, ZHR 166 (2002), S. 6 (20 ff.). EuGH, Rs. C-265/95, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-6959, Rn. 30; ferner Rs. C-112/ 00, Schmidberger, Slg. 2003, I-5659, Rn. 57. EuGH, Rs. C-265/95 (Fn. 208), Rn. 32. Ebd., Rn. 33.
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dass Frankreich – trotz mehrfacher Aufforderung durch die Kommission – ausreichende Gegenmaßnahmen ergriffen habe.211 Das Verhältnis zwischen privatbezogener Privatwirkung und staatlicher Schutzpflicht ist ungeklärt. Warum wird gegenüber Sportverbänden und zum Boykott aufrufenden Gewerkschaften die Privatwirkungskonstruktion gewählt, gegenüber den randalierenden Bauern aber das Schutzpflichtkonzept? Der Umstand, dass die wütenden Bauern anders als der belgische Fußballverband und die finnischen Gewerkschaften für Seeleute über keine ladungsfähige Anschrift verfügen, über die man ihrer habhaft werden kann, mag eine tatsächliche Erklärung bilden, ist aber rechtsdogmatisch unbefriedigend. Das Konzept des Rechts auf hoheitliche Schutzgewähr ist m.E. letztlich überzeugender.212 Es schont die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die zwar Schutzaufträge haben, aber selbst darüber entscheiden können, wie diese umzusetzen sind. So lassen sich unmittelbare Eingriffe in die nationalen Privatrechtssysteme und damit auch deren Kohärenz bewahren.213 Das Privatwirkungskonzept leidet im Übrigen grundsätzlich darunter, dass es die Rechte des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt zu Pflichten gegenüber allen Mitbürgern umfunktioniert.214 Strukturell sind die Grundfreiheiten nicht auf die Verpflichtung von Privatpersonen zugeschnitten: Wenn man der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft überhaupt noch einen Sinn abgewinnen kann, dann doch wohl den, dass an die Grundfreiheiten gebundene Privatpersonen in der Rechtfertigungsprüfung keine Kompetenz haben, eigene Verhaltensweisen mit dem Hinweis auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu rechtfertigen.215 Offenbar sieht auch der EuGH dieses Problem: Denn in vielen Privatwirkungsfällen bleibt der Rechtfertigungsgrund, auf den er seine Erwägungen stützt, nebulös: Die Rechtfertigungsprüfung beginnt schlicht mit der Frage, ob die Beeinträchtigung „objektiv gerechtfertigt“ ist.216 Die Schutzpflichtkonstruktion vermeidet schließlich auch prozessuale Brüche. Im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EG können nämlich nur Vertragsverletzungen staatlicher Körperschaften und Organe, nicht aber solche durch Private geltend gemacht werden. Die Privatwirkungskonstruktion verschlechtert daher die Klagemöglichkeiten der Kommission ganz erheblich, denn sie kann nach bislang herrschender Meinung in diesen Fällen nur über Art. 226 EG vorgehen, wenn sie einen Einfluss des Mitgliedstaates auf die schädigende natürliche oder juristische Person nachweist.217 Diese Differenzierung zwischen privaten und hoheitlichen Beschränkungen vermag nicht einzuleuchten,218 denn wenn tatsächlich im 211 212 213 214 215 216 217 218
Ebd., Rn. 38 ff. Ausführlicher als hier möglich T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 12), Art. 28–30 EG, Rn. 114 ff.; i.E. wie hier Burgi (Fn. 192), S. 330 ff.; Streinz/Leible (Fn. 192), S. 464 ff. Burgi (Fn. 192), S. 330; Streinz/Leible (Fn. 192), S. 466. Vgl. etwa für die Grundrechte des Grundgesetzes Pieroth/Schlink (Fn. 111), Rn. 175. Roth (Fn. 192), S. 1241. Vgl. exemplarisch EuGH, Rs. C-176/96 (Fn. 192), Rn. 51. W. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Fn. 12), Art. 226 EG, Rn. 27 f. A.A. Vieweg/Röthel (Fn. 207), S. 19 f.
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hoheitlichen Unterlassen eine Diskriminierung liegt, kann sie prozessual nicht anders behandelt werden als eine Beschränkung, die unmittelbar von einem Hoheitsträger ausgeht.
V. Schluss Die Grundfreiheiten bleiben ein faszinierender Forschungsgegenstand für die Wissenschaft vom europäischen Verfassungsrecht. Diese schönen Aussichten sind einer Rechtsprechung zu verdanken, die nach wie vor viele Angriffsflächen bietet, die dazu einladen, über die Exegese einzelner Entscheidungen hinaus eigene Konzepte zu entwickeln. Der hier entwickelte gleichheitsrechtliche Ansatz profiliert die Grundfreiheiten als besondere, von den Grundrechten zu unterscheidende Kategorie subjektiv-öffentlicher Rechte. Dieses Plädoyer für ein back to the roots in der Grundfreiheitsdogmatik darf allerdings nicht im Sinne einer Forderung nach Verlangsamung des Integrationsprozesses missverstanden werden. Um ein solches dichotomes „Entweder-Oder“ von Euromantik oder Europhobie kann es nicht mehr ernsthaft gehen. Gerade der Umstand, dass die Union mittlerweile zu einem handlungsfähigen politischen Gemeinwesen geworden ist und mitgliedstaatliche und europäische Rechtsordnung in ein auf Homogenität und gegenseitige Ergänzung angelegtes Stadium des „Aufeinander-Angewiesenseins“ eingetreten sind, erlaubt es vielmehr, die Grundfreiheiten auf ihre eigentliche Funktion als der transnationalen Integration dienende Mehrebenennormen zurückzuführen. Das Forschungsinteresse an den Grundfreiheiten reicht aber über dogmatische Einzelfragen hinaus. Ein lohnender Forschungsansatz bestünde darin, in verfassungsrechtsvergleichender und -historischer Perspektive die Funktion und Wirkungsweisen von subjektiven Rechten in Mehrebenensystemen zu analysieren. Eine solche übergreifende Dogmatik subjektiver Rechte in Mehrebenensystemen, die insbesondere auch das Welthandelsrecht einbeziehen müsste,219 steht noch aus. Sie wird rechtsvergleichend und auf der Grundlage von Einzelfällen die Interdependenz zwischen subjektivem Recht und föderaler Kompetenzverteilung näher in den Blick nehmen müssen und könnte so wesentliche Erkenntnisse über die verfassungsrechtliche Funktion auch der Grundfreiheiten zutage fördern.
219
Zu den diesbezüglichen Tendenzen der Konstitutionalisierung v. Bogdandy (Fn. 76), S. 265 sowie 425.
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I.
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750 1. Die verfassungsrechtlichen Bedeutung des RFSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750 2. Thematische Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 3. Methodologische Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 II. Das grundlegende Vertragsziel und seine konzeptionelle Dimension . . . . . . . . . . . . 753 1. Der RFSR als grundlegendes Vertragsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 2. Der Begriff des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 3. Der Begriff der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758 4. Der Begriff der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 5. Der Begriff des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 III. Der RFSR in der Vertragsarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 1. Die Aufteilung zwischen den Säulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 2. Konsequenzen der Aufteilung zwischen den Säulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 3. Fragen der Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 4. Die Aufhebung der Säulenteilung durch den Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . 771 IV. Differenzierte Beteiligungsformen als verfassungsrechtliche Komponente des RFSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 1. Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 2. Die Opt-outs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 3. Die Opt-in-Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774 4. Die Möglichkeiten zur „verstärkten Zusammenarbeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776 5. Die Stellung der assoziierten Schengen-Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 V. Ein Raum der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 1. Die kooperative Orientierung des gegenwärtigen vertraglichen Rahmens . . . . . 779 2. Die Kommission und der Gerichtshof als (begrenzte) Faktoren der Integration . 781 3. Die Beibehaltung der Logik der Zusammenarbeit im Vertrag von Lissabon . . . . 785 VI. Die Stellung des Einzelnen in einem Raum zusammenarbeitender Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786 1. Der Einzelne als passiver Begünstigter des RFSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786 2. Zwei versäumte Gelegenheiten: Die Charta der Grundrechte und die Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788 3. Der Schutz der Rechte des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789 VII. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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I. Einführung 1. Die verfassungsrechtlichen Bedeutung des RFSR Noch vor einem Jahrzehnt wären die Bereiche Inneres und Justiz, die den materiellen Gehalt des heutigen Raums der Freiheit der Sicherheit und des Rechts (RFSR) ausmachen, kaum ein geeignetes Feld für ein Kapitel in einem Band zum Europäischen Verfassungsrecht gewesen. In der Periode des Vertrages von Maastricht (1993–1999) beruhten EU-Maßnahmen in diesem Bereich noch auf den Bestimmungen des ‚alten‘ Titels VI EUV (sog. dritte Säule), der für die nur als „Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse“1 beschriebenen Materien der Innen- und Justizpolitik weder präzise Zielbestimmungen noch inhaltliche Definitionen vorgab und sich auf die Festlegung zwischenstaatlicher Formen der Zusammenarbeit ähnlich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschränkte. Zudem waren die inhaltlich bedeutendsten Fortschritte in dieser Periode im Rahmen des Schengen-Systems – auf der Grundlage des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 und des Schengener Durchführungsabkommens vom 19. Juni 1990 – zu verzeichnen, das sich damals rechtlich noch vollauf außerhalb des Gefüges der EGund EU-Verträge befand. Erst seit dem 1999 erfolgten Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam – der unter anderem neue Zieldefinitionen, Zuständigkeiten und Instrumente sowie eine teilweise Vergemeinschaftung der Materien der ‚alten‘ dritten Säule und die Eingliederung des Schengener Besitzstands brachte – haben die Bereiche Inneres und Justiz, nun unter dem Obertitel des RFSR, eine Position von verfassungsrechtlicher Bedeutung erlangt. Diese neue Bedeutung wurde auch im Rahmen des jüngsten EU-Reformprozesses deutlich. Da der RFSR zu Beginn des 2002 eingeleiteten Verfassungsprozesses bereits zu den am raschesten expandierenden Politikbereichen der Union gehörte und Themen wie Terrorismus und illegale Zuwanderung einen wichtigen Platz auf der politischen Agenda eingenommen hatten, widmete der Europäische Konvent dem RFSR beträchtliche Aufmerksamkeit. Das Präsidium definierte zunächst eine Reihe von spezifischen Fragen und Herausforderungen für die Felder Inneres und Justiz,2 eine besonders eingesetzte Arbeitsgruppe („X“) erarbeitete dann eine Reihe gehaltvoller Reformvorschläge,3 die durch zusätzliche Initiativen (wie die ambitionierten Fischer/Villepin-Vorschläge vom November 2002)4 ergänzt wurden, und am Ende wurden dann auch zahlreiche den RFSR betreffende Änderungen und Neuerungen in den vom Konvent im Juli 2003 angenommenen Verfassungsentwurf integriert.5 Einige dieser Reformen erwiesen sich in der nachfolgenden Regierungskonferenz als recht umstritten. Die galt insbesondere für die Einführung von Mehr1 2 3 4 5
Ehemaliger Art. K.1 EU-Vertrag. CONV 69/02 und CONV 206/02 (die Dokumente des Europäischen Konvents sind verfügbar unter http://european-convention.eu.int/). CONV 462/02. CONV 435/02. CONV 850/03.
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heitsentscheidungen in der strafrechtlichen Zusammenarbeit und für die Einführung einer Europäischen Staatsanwaltschaft. Ergebnis der sowohl im Konvent als auch in der Regierungskonferenz von 2004 deutlich gewordenen erheblichen Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten waren zahlreiche komplexe Kompromisse im Rahmen des Verfassungsvertrages, die dann – nach neuerlichen Verhandlungen in der Regierungskonferenz von 2007 – mit nochmals einigen zusätzlichen Änderungen in den Vertrag von Lissabon übernommen worden sind. Mit Inkrafttreten des Reformvertrages wird die Zahl der den RFSR betreffenden vertraglichen Änderungen die jedes anderen grundlegenden Vertragsziels und Politikbereichs übersteigen. Doch neben der Tatsache, dass der RFSR mittlerweile einen so prominenten Platz in den Vertragsreformen gefunden hat, verleihen dem RFSR noch drei weitere Aspekte eine besondere Bedeutung für die Verfassungsordnung der Union: (1) Die Einführung des RFSR berührt grundlegenden Funktionen und Prärogativen des modernen Nationalstaats. Die Gewährleistung der Sicherheit der eigenen Bürger, die Kontrolle des Zugangs zum und der öffentlichen Ordnung innerhalb des Staatsgebiets sowie die Gewährleitung eines funktionierenden Justizsystems gehören seit der Herausbildung des modernen Staates im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur zu den Grundfunktionen des Staates, sondern auch zu den zentralen Gründen für seine Rechtfertigung, wie dies in der staatstheoretischen Literatur seit Hobbes, Locke, Montesquieu und Rousseau auch immer wieder unterstrichen worden ist. Die Tatsache, dass die Union seit den neunziger Jahren eine sich ständig ausweitende Rolle in der Innen- und Justizpolitik übernommen hat, bedeutet eine Ausweitung des Integrationsprozesses auf einen der letzten Bereiche die traditionell ausschließlich einzelstaatlicher Kompetenz vorbehalten waren und den Wesensgehalt staatlicher Existenz berühren. Auch wenn die Union keineswegs die Mitgliedstaaten als primäre ‚Gewährleister‘ von Recht und Ordnung ersetzt hat, so ist ihre Entwicklung zu einem zusätzlichen ‚Gewährleister‘ dieser grundlegenden öffentlichen Güter doch als ein Wandel von beträchtlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung zu werten. (2) Obwohl den EU-Organen und -Agenturen bislang keinerlei Vollstreckungsbefugnisse übertragen worden sind, können Maßnahmen im Bereich des RFSR doch gravierende Folgen für die Rechte des Einzelnen haben. Um nur einige Beispiele zu geben: Die gegenseitige Anerkennung von richterlichen Entscheidungen, die Angleichung von Bestimmungen des materiellen Strafrechts, der verstärkte grenzüberschreitende Austausch personenbezogener Daten, die Standardisierung von Personenkontrollen an den Außengrenzen, die Mindestharmonisierung von Teilen des Asyl- und Asylverfahrensrechts berühren allesamt wesentlich das Ausmaß und die Art und Weise, wie Einzelne der Ausübung öffentlicher Gewalt durch die Behörden der Mitgliedstaaten unterworfen sind. Der eher allgemein und unbestimmt anmutende Begriff des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ betrifft einige der am weitesten in die Rechte des Einzelnen eingreifenden Formen staatlichen Handelns, wie etwa Freiheitsentzug, Einreiseverweigerung, Ausweisung und Weitergabe von persönlichen Daten. Diese Formen staatlichen Handelns
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bedürfen auf der einzelstaatlichen Ebene beträchtlicher verfassungsrechtlicher Absicherung – und haben daher auch auf Unionsebene eine verfassungsrechtliche Bedeutung. (3) Gerade weil durch Maßnahmen im Bereich des RFSR sowohl grundlegende Funktionen des Staates als auch Rechte des Einzelnen berührt werden können, stellen sich für den RFSR besondere Fragen der verfassungsmäßigen Legitimität von EU-Maßnahmen. Dies gilt für die Kompetenzaufteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten ebenso wie für die parlamentarische oder richterliche Kontrolle hinsichtlich der Wahrung der Rechte des Einzelnen. Zusammengenommen rechtfertigen diese drei Erwägungen die Platzierung dieses Kapitels zum RFSR im Rahmen des Teiles, der mit der Stellung des Einzelnen im Rahmen der EU-Verfassungsordnung befasst ist. Obwohl der RFSR unmittelbar keine Rechte des Einzelnen begründet, ist er als Verfassungsziel doch essentiell auf den Einzelnen ausgerichtet, und zwar insofern er diesem bestimmte öffentliche Güter wie innere Sicherheit, Freizügigkeit und Zugang zum Recht sichern soll – zumindest in subsidiärer Form. Darüber hinaus ist der Einzelne durch dieses Verfassungsziel dadurch besonders betroffen, dass Maßnahmen zur Verfolgung dieses Zieles direkt oder – über die ausführenden einzelstaatlichen Behörden – indirekt erheblich in seine Rechte eingegriffen werden kann. 2. Thematische Abgrenzung Aufgrund der dynamischen Entwicklung des RFSR als politisches Projekt der Union erscheinen seine Grenzen zu anderen Bereichen der EU-Verfassungsordnung in politischen Dokumenten der Union vielfach unscharf und fluktuierend. So enthält etwa das laufende Mehrjahresprogramm zur Weiterentwicklung des RFSR, das Haager Programm, auch Abschnitte zum Schutz der Grundrechte und zur Unionsbürgerschaft.6 Obwohl hier fraglos bedeutende rechtliche und politische Querverbindungen vorliegen, sind diese die Position des Einzelnen besonders betreffenden Materien in anderen als den RFSR direkt betreffenden Vertragsteilen geregelt – und werden in diesem Band an anderer Stelle behandelt.7 Das vorliegende Kapitel wird sich daher auf die in den Titeln IV EG und VI EU (Titel IV AEUV) geregelten, vertraglich spezifisch dem RFSR zugeordneten Materien8 konzentrieren: Asyl, Einwanderung, Grenzkontrollen, justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und in Strafsachen und polizeilichen Zusammenarbeit. Fragen des Schutzes der Grundrechte und der Unionsbürgerschaft werden nur insoweit behandelt, als sie von besonderer Relevanz für den RFSR sind.
6 7 8
Europäischer Rat, Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl. 2005 C 53, S. 1, Abschn. II.1. und III.1. Siehe u.a. die Beiträge von S. Kadelbach und J. Kühling. Die Titel IV EG und VI EU sind gemäß Art. 61 EG und Art. 29 EU die einzigen Vertragsteile, die dem Vertragsziel des RFSR direkt zugeordnet sind.
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3. Methodologische Vorbemerkung Dieses Kapitel verfolgt einen law-in-context-Ansatz, der zur Erhellung der verfassungsrechtlichen Dimensionen des RFSR neben der Analyse der relevanten vertraglichen Bestimmungen und der Rechtsprechung auch in erheblichem Maße EU-Programmdokumente, politische Erklärungen und die von der Union zur Erreichung der vertraglichen Ziele ergriffenen Maßnahmen berücksichtigt. Wir sind der Auffassung, dass die verfassungsrechtliche Auslegung des RFSR nur in dem weiteren politischen Rahmen der Umsetzung dieses Vertragsziels hinreichend gewürdigt werden kann. Diese Auffassung erscheint nicht nur deshalb gerechtfertigt, weil auf diesem Wege die volle verfassungsrechtliche Bedeutung des RFSR besser erhellt werden kann, sondern auch weil sowohl der rechtliche Besitzstand des RFSR als auch die diesen betreffende Rechtsprechung bislang deutlich weniger umfangreich sind als in anderen, älteren Bereichen des EG/EU-Rechts. Zumindest teilweise gründen sich die Argumente dieses Kapitels folglich mehr auf eine Berücksichtigung der politischen Interessenskonstellationen, Zielerklärungen und die Praxis der Umsetzung des RFSR als die systematisch-abstrakte Betrachtung der maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen und Rechtsprechung.
II. Das grundlegende Vertragsziel und seine konzeptionelle Dimension 1. Der RFSR als grundlegendes Vertragsziel Mit der Auflistung in Art. 2 EU ist „die Erhaltung und Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ Teil der grundlegenden Zielbestimmungen der Union. Als Zielvorgabe kann der RFSR durchaus mit übergreifenden Staatszielbestimmungen für Rechtsetzung und Politikgestaltung in staatlichen Verfassungsgefügen verglichen werden.9 Der Begriff des Raums im Verein mit den bedeutungsschwangeren Termini „Freiheit“, „Sicherheit“ und „Recht“ hat 1999 die im Vertrag von Maastricht verwendete, weniger ambitionierte Benennung dieses Tätigkeitsfeldes der Union als „Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz“ ersetzt. Zumindest formal hat die Vertragsreform von 1999 diese vormaligen Gegenstände eines bloßen „gemeinsamen Interesses“10 in den Rang eines der Grundziele des Integrationsprozesses erhoben, das nunmehr auf derselben hohen Stufe wie andere in Art. 2 EU aufgelistete Ziele angesiedelt ist, etwa die Wirtschafts- und Währungsunion und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Der Vertrag von Lissabon setzt den formalen Aufstieg des RFSR insoweit fort, als dieser unter den grundlegenden Vertragszielen von der vierten auf die zweite Posi-
9 10
Zum Konzept der Staatszielbestimmungen siehe K. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997. Ehemaliger Art. K.1 EU-Vertrag.
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tion aufrückt.11 Zudem „bietet“ die Union den RFSR nunmehr anstatt diesen nur zu „erhalten“. Diese neuen Formulierungen stellen erstmals einen ausdrücklichen Bezug her zwischen der Union als dem Gewährleister des RFSR und dem Einzelnen (dem „Bürger“) als dem Begünstigten. Art. 2 EU (und Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss.) enthält keine präzise Definition des RFSR, sagt aber über diesen aus, dass es sich um einen Raum „ohne Binnengrenzen“ handelt, und verbindet diesen mit dem Ziel der Freizügigkeit, da im Rahmen des RFSR „in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist“. Obwohl kein direkter Bezug zu Art. 14 Abs. 2 EG (Art. 26 Abs. 2 AEUV) hergestellt wird, wird dem RFSR damit die Aufgabe zugewiesen, zu dem alten EG-Ziel der Freizügigkeit durch die genannten Ausgleichsmaßnahmen beizutragen. Dies macht den freien Personenverkehr zu einem konstituierenden Bestandteil des RFSR als Vertragsziel, und die Freiheit, sich unbehindert über die Binnengrenzen zu bewegen, zu einem wichtigen Teil dessen, was der RFSR gemäß Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss. den Bürgern „bietet“. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der freie Personenverkehr hier ausschließlich im Sinne der Abwesenheit von Personenkontrollen an den Binnengrenzen (Art. 62 Abs. 1 EG; Art. 67 Abs. 2 AEUV) definiert ist,12 ohne direkten Bezug auf die wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts, die in einem weiteren Sinne zu einem „Raum ohne Binnengrenzen“ beitragen. Die Bezugnahme auf wichtige Aktionsfelder in den Bereichen Inneres und Justiz als Mittel zur Sicherung des freien Personenverkehrs hat starke historische Wurzeln. Sowohl die Zusammenarbeit im Rahmen von Schengen seit 1985 als auch die Einführung der Bereiche Inneres und Justiz durch den Vertrag von Maastricht 1993 waren in erheblichem Maße durch die Absicht bedingt, potenzielle Risiken für die innere Sicherheit, die sich aus der Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen und andere Formen der grenzüberschreitenden Liberalisierung im Rahmen des Binnenmarktes ergeben, durch innen- und justizpolitische Maßnahmen zu ‚kompensieren‘.13 Diese Kompensationslogik ist auch durch den EuGH in Wijsenbeek (1999) anerkannt worden, wo der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt hat, die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen setze „die Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Gesetzgebung hinsichtlich der Überschreitung der Außengrenzen der Gemeinschaft, der Einwanderung, der Visa-Erteilung, des Asyls und des Datenaustausches über diese Fragen voraus“.14
11
12 13 14
Unmittelbar nach dem Ziel, „den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“ (Art. 3 EUV-Liss.). Bislang gingen dem RFSR die Ziele der Förderungen des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, die Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene und die Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Angehörigen ihrer Mitgliedstaaten durch Einführung einer Unionsbürgerschaft voraus. Siehe den Beitrag von T. Kingreen in diesem Band. Siehe W. de Lobkowicz, L’Europe de la sécurité intérieure, 2002, S. 17–41. EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6207, Rn. 40.
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Die Verbindung zwischen dem RFSR und dem Ziel der Sicherung des freien Personenverkehrs ist allerdings auf die lokalisierenden Termini „in dem“ begrenzt, sodass dieser Bezug den RFSR keinesfalls erschöpfend definiert. Als politische Zielvorgabe hat sich der RFSR in der Tat längst deutlich über eine bloße Logik kompensierender Maßnahmen hinaus entwickelt und ist zu einem selbständigen Integrationsziel geworden. Dies zeigt sich am deutlichsten in den beiden bisherigen Mehrjahresprogrammen zur Entwicklung des RFSR, dem Tampere-Programm (1999–2004)15 und dem gegenwärtigen Haager Programm (2004–2010)16, das inmitten der Vielzahl anderer justiz- und innenpolitischer Zielvorgaben nur noch sehr wenige Hinweise auf den freien Personenverkehr und hierauf bezogene Ausgleichsmaßnahmen enthält. In den Verträgen ergibt sich die größere inhaltliche Reichweite des RFSR unter anderem aus Art. 29 EU, in dem es heißt, dass die Union im Rahmen des RFSR das Ziel verfolgt, ihren Bürgern „ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten“, und aus Art. 61 lit. e EG, in dem die zu ergreifenden Maßnahmen in den Bereichen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen „auf ein hohes Maß an Sicherheit abzielen“ (zusammengezogen in Art. 67 Abs. 3 AEUV). Damit wird der Union im Rahmen des RFSR ein breit gefasstes Sicherheitsmandat zugunsten ihrer Bürger übertragen, das an diesen Stellen im Vertrag in keiner Weise kompensierend mit der Freiheit des Personenverkehrs verbunden oder gar dieser untergeordnet wird. Der Vertrag von Lissabon geht in der Bestätigung der Selbständigkeit des Integrationszieles des RFSR sogar noch einen Schritt weiter, indem Art. 67 Abs. 4 AEUV ausdrücklich vorsieht, dass die Union im Rahmen des RFSR – insbesondere durch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung – „den Zugang zum Recht“ erleichtert. Auch dieser verbesserte „Zugang zum Recht“ geht über eine bloße Logik der Ausgleichsmaßnahmen hinaus und kann – neben der Sicherung der Abwesenheit von Personenkontrollen an den Binnengrenzen und der Gewährleistung eines hohen Maßes an Sicherheit als ein drittes konkretes öffentliches Gut gelten, das die Union ihren Bürgern im Rahmen des RFSR „bietet“. Die eher allgemeinen Vertragsbestimmungen, die bislang behandelt wurden, sind zwar von verfassungsrechtlicher Bedeutung, können aber in nur unvollkommener Weise zur Klärung des Bedeutungsgehalts der Schlüsselbegriffe „Raum“, „Freiheit“, „Sicherheit“ und „Recht“ beitragen. Hierzu bedarf es der Berücksichtigung einer Reihe anderer Bestimmungen und Interpretationshilfen. 2. Der Begriff des Raums Der Begriff der Raums ist für das Verständnis des RFSR als grundlegendes Vertragsziel und politisches Projekt von einiger Bedeutung. Dieser Begriff erfreute sich vor allem in den 90er Jahren auf europäischer politischer Ebene einiger Beliebtheit, wie dies die Beispiele des „Europäischen Sozialraums“, des „Europäischen For15 16
Schlussfolgerungen der Präsidentschaft, Europäischer Rat von Tampere, Bulletin EU 101999, Ziff. I.2–I.16 (ferner unter www.europarl.europa.eu/summits/tam_de.htm). Europäischer Rat, Haager Programm (Fn. 6).
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schungsraums“, des „Europäischen Hochschulraums“ und – außerhalb der EU – das des „Europäischen Wirtschaftsraums“ zeigen. In allen diesen Fällen bezeichnet „Raum“ einen breiten Rahmen für engere Formen der Zusammenarbeit, die über die bisherige zwischenstaatliche Zusammenarbeit hinausgehen, aber zugleich in der Intensität hinter einer „gemeinsamen Politik“ im Sinne des Gemeinschaftsmodells zurückbleiben. Diese Logik lässt sich auch in der Wahl des Raumbegriffs für das durch den Vertrag von Amsterdam neu eingeführte Vertragsziel für den Bereich der Innen- und Justizpolitik nachvollziehen: Da mehrere Mitgliedstaaten eindeutig nicht bereit waren, sich in diesem sensitiven Bereich auf „gemeinsame Politiken“ im Sinne der Gemeinschaftsmethode festzulegen, andere aber unbedingt über die bisherige, weitgehend zwischenstaatliche Zusammenarbeit hinausgehen wollten, einigte man sich in der Regierungskonferenz von 1996/97 auf den „Raum“ als eine Kompromissformel, die offen ließ, welche Gestalt und Intensität gemeinsame Maßnahmen zur Erreichung des neuen Vertragsziels annehmen würden. Ein besonderer Vorteil war – und ist –, dass der Begriff des Raums es erlaubt, sowohl die primär zwischenstaatlichen Formen der Zusammenarbeit in den Bereichen der so genannten dritten Säule (Titel VI EU) als auch die vergemeinschafteten Politikfelder der so genannten ersten Säule (Titel IV EG) zu erfassen. Der Begriff des Raums ist auch hinreichend flexibel, um die stark unterschiedlichen Anforderungen an die Politikgestaltung in den verschiedenen Feldern des RFSR abdecken zu können. Sowohl die Zielsetzungen als auch die zu deren Erreichung erforderlicher Instrumente unterscheiden sich in der Tat erheblich in der ganzen Bandbreite von der Asyl- über die Einwanderungspolitik, die Grenzkontrollen und die justizielle Zusammenarbeit bis hin zur polizeilichen Zusammenarbeit. Ein einfacher Vergleich zwischen der Asylpolitik und der polizeilichen Zusammenarbeit macht dies deutlich: Im ersten Fall handelt es sich vor allem um die gemeinsame Definition von Rechts- und Verfahrensgarantien für Asylsuchende, im zweiten um verbesserten Informationsaustausch und die Erleichterung der operativen Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden. In jedem der Teilbereiche des RFSR sind nicht nur die Zielsetzungen verschiedene, sondern auch die Instrumente zu deren Erreichung. So sieht – um bei den genannten Beispielen zu bleiben – der Vertrag im Bereich der Asylpolitik vor allem Gesetzgebungsinstrumente vor (Art. 63 Abs. 1 EG; Art. 78 Abs. 2 AEUV), während in der polizeilichen Zusammenarbeit ein Schwerpunkt bei Maßnahmen zur Erleichterung der operationellen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Behörden über die Analyse- und Verbindungsfunktionen von Europol gesetzt wird (Art. 30 EU; Art. 88 AEUV). Der RFSR verfügt von daher über eine relativ geringe materielle Homogenität, was allerdings durch die historische Kohärenz der Entwicklung dieser Domäne seit Beginn der 90er Jahre, den politischen Willen der Mitgliedstaaten, diese Bereiche zusammenzuführen, und den gemeinsamen rechtlichen und institutionellen Rahmen teilweise ausgeglichen wird.17 Der Raum-Begriff bietet auch hierfür einen hinreichend flexiblen terminologischen Rahmen. 17
Siehe hierzu N. Walker, In Search of the Area of Freedom, Security and Justice, in: ders. (Hrsg.) Europe’s Area of Freedom, Security and Justice, 2004, S. 3 (5 ff.).
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Der Begriff des Raums hat zusätzlich eine territoriale Bedeutung. Da Art. 2 EU das Ziel definiert, die Union als RFSR zu „erhalten“ (und Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss. vorsieht, diesen RFSR den Bürgern zu „bieten“), geht der Vertrag offenkundig davon aus, dass dieser „Raum“ bereits existiert. Dies ist von einiger Relevanz, da hiermit impliziert wird, dass die Territorien der Mitgliedstaaten, die aufgrund der Sensitivität der innen- und justizpolitischen Materien vom Standpunkt der nationalen Souveränität und des Territorialitätsprinzips weiterhin einzelstaatliche „Räume“ bilden, zum Zweck des RFSR zu einem gemeinsamen EU-„Raum“ zusammengeführt worden sind. Das Verständnis des „Raums“ als eines die Territorien der Mitgliedstaaten integrierenden Gebildes erleichtert es, diesen gemeinsamen Raum insgesamt betreffende Herausforderungen und insofern auch notwendige gemeinsame Antworten zu identifizieren – ein politischer Diskurs, der seit 1999 in zahlreichen Texten des Rates und der Kommission zu finden ist. Die Verbindung des RFSR mit der bereits betrachteten Freizügigkeit verstärkt das Konzept des einen Raums ebenso wie die Kennzeichnung als eines durch die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen geschaffenen „Raum[s] ohne Binnengrenzen“ (Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss.). Eine weitere konzeptionelle Ausgestaltung des territorialen Elements findet sich in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere (1999), wo die Staats- und Regierungschefs im Zusammenhang mit den Herausforderungen in den Bereichen Asyl und Einwanderung in Bezug auf den RFSR zum ersten Mal die Formulierung „unser Gebiet“ (statt dem Plural „unsere Gebiete“) verwendet haben.18 Das vielfach unterstrichene Ziel der Schaffung eines „Europäischen Rechtsraums“, in dem richterliche Entscheidungen grenzüberschreitend anerkannt werden und EU-Bürger überall gleichwertigen Zugang zum Recht haben sollen, ist ein weiteres Beispiel für den einheitlichen territorialen Anspruch des Raum-Begriffes. Insgesamt kann das Konzept des RFSR als eines „Raums“ somit als in zweierlei Hinsicht spezifisch und charakteristisch betrachtet werden: Zum einen ist dieses Konzept flexibel genug, um hinreichend Raum für die stark unterschiedlichen Ambitionen der Mitgliedstaaten und unterschiedlichen Anforderungen an die Politikgestaltung in den einzelnen Feldern zu bieten, zum anderen wird dem RFSR damit eine einheitliche territoriale Dimension zugewiesen, die mit Blick auf gemeinsame Herausforderungen und Antworten zumindest dem Anspruch nach die Aufspaltung in 27 nationale Territorien überwindet. Als grundlegendes Vertragsziel ist der RFSR dadurch ausgezeichnet, dass er den Raum-Begriff mit nicht weniger als drei fundamentalen öffentlichen Gütern verbindet: Freiheit, Sicherheit und Recht. Es gibt kein zweites Beispiel in den Verträgen für die Verbindung eines einzigen Vertragsziels mit einer solchen Vielzahl grundlegender öffentlicher Güter. Es stellt sich daher die Frage, wie diese ambitionierte Terminologie verfassungsrechtlich mit Inhalt ausgefüllt wird.
18
Europäischer Rat, Tampere-Programm (Fn. 15), Nr. 3.
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3. Der Begriff der Freiheit In Bezug auf den Begriff der Freiheit enthalten die Verträge nur ein klares Definitionselement: Art. 2 EU (Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss.), der den RFSR als Vertragsziel vorgibt, definiert die Sicherstellung des freien Personenverkehrs als eines der zentralen Elemente des RFSR. Verstärkt wird dies durch eine Wiederholung dieser Zielvorgabe in Art. 61 lit. a EG, der die allgemeinen Zielsetzungen für die vergemeinschafteten Bereiche des Titels IV EG vorgibt, und durch die besondere Betonung der Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen in Art. 62 Abs. 1 EG (Art. 67 Abs. 2 AEUV). Die Möglichkeit, die Binnengrenzen ohne Kontrollen zu überschreiten, kann fraglos als ein positives Element der Freiheit für EUBürger betrachtet werden, zu dessen Sicherung der RFSR beitragen kann. Freiheit allerdings ausschließlich im Sinne der Freizügigkeit zu verstehen, käme einem sehr begrenzten Freiheitsverständnis gleich, und dies um so mehr, als die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen ja bislang nicht die gesamte Union, sondern nur die Schengen-Mitglieder betrifft (siehe unten, IV.). Die Mitgliedstaaten haben es deshalb denn auch nicht dabei belassen. Im Wiener Aktionsplan von Dezember 1998, dem ersten Programmdokument zur Entwicklung des RFSR, wurde vom Rat ein Versuch unternommen, Freiheit im Rahmen des RFSR eine breitere Bedeutung zu geben. In Nr. 6 des Aktionsplans heißt es, dass der Vertrag von Amsterdam dem Begriff der „Freiheit“ eine über den freien Personenverkehr hinausgehende Bedeutung verleiht, die „auch die Möglichkeit [beinhaltet], in einem Rechtsraum zu leben, sowie die Gewissheit, dass die Behörden (auf nationaler Ebene, auf Ebene der Union und darüber hinaus) alles in ihrer individuellen und kollektiven Macht Stehende tun, um gegen diejenigen vorzugehen, die diese Freiheit nicht anerkennen oder sie missbrauchen.“19
Diese Freiheit, so der Aktionsplan weiter, müsse zudem durch die „ganze Palette der Grundrechte“ – eine etwas saloppe Formulierung – ergänzt werden. Das Ergebnis dieses, auf der Ebene des Rates selten vorkommenden Ausfluges in staatsphilosophische Reflexionen ist eine in der Substanz negative Definition des Freiheitsbegriffs, da Freiheit hier in ihrem Grundgehalt als die Abwesenheit von einer Bedrohung durch Kriminalität definiert wird. Diese Definition stellt offenkundig eine starke Verbindung zwischen Freiheit und dem zweiten öffentlichem Gut des RFSR, der Sicherheit her, auf deren angestrebtes „hohes Maß“ Art. 61 lit. e EG und Art. 29 EU (Art. 67 Abs. 3 AEUV) verweisen. Eine positivere Bedeutung wird dem Freiheitsbegriff auch anderer Stelle in den Verträgen nicht gegeben, was unter anderem durch seine Verbindung der Unionsbürgerschaft (siehe unten, VI. 2.) oder mit dem Ziel eines verbesserten Zugangs zum Recht (erst durch Art. 67 Abs. 4 EUV-Liss. kodifiziert) für EU-Bürger hätte erreicht werden können. Folglich ist der 19
Aktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ABl. 1999 C 19, S. 1.
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Freiheitsbegriff des RFSR essentiell auf ein positives, aber inhaltlich recht begrenztes Definitionselement – die Sicherung der Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen als Element der Freizügigkeit – und ein negatives, aber inhaltlich deutlich breiteres Definitionselement – repressive Maßnahmen zur Reduzierung der Bedrohung durch Kriminalität – beschränkt. Im Hinblick auf diese, bereits im Vertrag von Amsterdam angelegte konzeptionelle Eingrenzung ist es kaum verwunderlich, dass der Rat sich seitdem schwer daran getan hat, den Freiheitsbegriff des RFSR mit einem positiveren Bedeutungsgehalt zu füllen. Dies zeigt sich auch im jüngsten Programmdokument zur Weiterentwicklung des RFSR, dem Haager Programm, in dem sich unter der Kapitelüberschrift „Stärkung der Freiheit“ eine ganze Reihe von Zielsetzungen in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Grenzkontrollen finden, die primär auf eine Reduzierung der Einwanderung und eine bessere Sicherung der Außengrenzen ausgerichtet sind,20 Zielsetzungen, die wohl die meisten EU-Bürger – und sicherlich Drittstaatsangehörige – nicht mit dem Begriff der Freiheit assoziieren würden. In seinem Bericht zum Haager Programm hat der EU-Ausschuss des britischen Oberhauses dem Programm denn auch einen „erstaunlichen Mangel an Ambition hinsichtlich der Bestimmungen zur ‚Freiheit‘, wie etwa zu Rechten der Unionsbürgerschaft, Nichtdiskriminierung, Kampf gegen Rassismus, und rechtmäßig ansässigen Drittstaatsangehörigen“, attestiert.21 Dies entspricht vollauf der Abwesenheit ähnlicher Ambitionen in den Verträgen. 4. Der Begriff der Sicherheit Unter den drei den RFSR kennzeichnenden öffentlichen Gütern hat das der Sicherheit wahrscheinlich die Bedeutung, die inhaltlich am konkretesten ist und traditionellem Verständnis am nächsten kommt. Art. 29 EU und Art. 61 lit. e EG (zusammengezogen in Art. 67 Abs. 3 AEUV) machen deutlich, dass es sich um innere Sicherheit im Sinne der Kriminalitätsbekämpfung handelt, da das „hohe Maß an Sicherheit“, das den Bürgern im Rahmen des RFSR geboten werden soll, durch ein „gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit“ mit dem Ziel der Verhütung und Bekämpfung einer Liste schwerwiegender Formen grenzüberschreitender Kriminalität erreicht werden soll. Nicht-kriminalitätsbezogene Sicherheitsrisiken werden weder in den Verträgen noch in den RFSR-Programmdokumenten erwähnt, aber die große Zahl von Maßnahmen im Bereich der Bekämpfung der illegalen Einwanderung macht deutlich, dass die Mitgliedstaaten letztere zumindest als eine Herausforderung für die ‚gesellschaftliche Sicherheit‘ betrachten.22 20 21
22
Siehe Europäischer Rat, Haager Programm (Fn. 6), Abschn. III.1. HL Report of the European Union Committee (HL Paper (2005) Nr. 10), Rn. 11, unter www.publications.parliament.uk/pa/ld200405/ldselect/ldeucom/84/84.pdf (25.03.2008); eigene Übersetzung. Zum Konzept der gesellschaftlichen Sicherheit siehe B. Buzan u.a., Security: A New Framework for Analysis, 1998, S. 119–140.
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Der Wiener Aktionsplan hat der Zielbestimmung Sicherheit ausdrücklich auch eine freiheitssichernde Funktion zugewiesen, heißt es dort doch: „Die Vorteile eines Raums der Freiheit können in vollem Umfang nur in einem Umfeld genossen werden, in dem sich die Menschen völlig sicher fühlen.“23 In gewissem Sinne wird Sicherheit damit Freiheit als Zielbestimmung übergeordnet, da letztere nach dieser Formulierung von ersterer abhängt. Sowohl die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere als auch das Haager Programm haben diese Prädominanz der Sicherheit verstärkt, in dem in beiden Texten betont wird, die Bürger hätten das Recht, von der Union zu erwarten, dass sie der durch schwere Kriminalität verursachten Bedrohung ihrer Freiheit durch unionsweite Maßnahmen entgegenwirkt.24 Ein ähnlicher Bezug auf Erwartungen der Bürger wird bezeichnenderweise weder für Freiheit noch für Recht hergestellt. Inhaltlich lässt sich der Sicherheitsbegriff des RFSR somit weitgehend auf den Schutz der Bürger vor Bedrohungen durch Kriminalität zurückführen. Dieser Begriff unterscheidet sich jedoch von ähnlichen Verständnissen der inneren Sicherheit auf einzelstaatlicher Ebene dadurch, dass der Union in diesem Bereich nur eine subsidiäre Rolle zugewiesen ist. Die Aufgaben und Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten im Bereich der inneren Sicherheit werden durch Art. 33 EU und Art. 64 Abs. 1 EG (Art. 72 AEUV) ausdrücklich geschützt, nach denen Titel VI EU und IV EG „nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit [berührt].“ Der neue Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss. verstärkt diesen Schutz zusätzlich durch die Verpflichtung der Union zur Achtung der „grundlegenden Funktionen des Staates“ im Bereich der „nationalen Sicherheit“, die „weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten [fällt].“ Die vom Europäischen Rat angenommenen Programmdokumente unterstreichen diese Beschränkung der Unionsmaßnahmen. Im bereits erwähnten Wiener Aktionsplan wird zum Beispiel betont, dass es nicht die Absicht des RFSR sei, „einen Europäischen Raum der Sicherheit zu schaffen, in dem alle Strafverfolgungsbehörden in Europa in Sicherheitsfragen einheitliche Ermittlungs- und Fahndungsverfahren anwenden“ und dass „die jeweiligen Kompetenzen der Mitgliedstaaten zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und zur Gewährleistung der inneren Sicherheit“ nicht berührt werden dürften.25 Die Union soll folglich die Mitgliedstaaten keinesfalls in deren Sicherheitsgewährleistungs-Funktionen ersetzen. In diesem Kontext ist auch die Unterwerfung des RFSR unter das verfassungsrechtliche Prinzip der Subsidiarität gemäß Art. 5 EG und Art. 2 EU (Art. 5 Abs. 3 EUV-Liss.), das die Autonomie der Mitgliedstaaten schützt, zu berücksichtigen.26 Subsidiarität ist in der Praxis für die Ausgestaltung der Sicherheitsdimension des 23 24 25 26
Aktionsplan des Rates und der Kommission (Fn. 19), Nr. 9. Europäischer Rat, Tampere-Programm (Fn. 15), Nr. 6 und 40; Europäischer Rat, Haager Programm (Fn. 6), Abschn. I. Aktionsplan des Rates und der Kommission (Fn. 19), Nr. 10. Hierzu A. von Bogdandy, in diesem Band.
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RFSR von beträchtlicher Bedeutung, da die Mitgliedstaaten – zur Wahrung ihrer primären Rolle und Autonomie als Gewährleister von Sicherheit – der Union in aller Regel nur dann eine Rolle zuzugestehen bereit sind, wenn gewissen Herausforderungen aufgrund ihrer grenzüberschreitenden Natur durch gemeinsame Maßnahmen besser begegnet werden kann. Konsequenz hiervon ist, dass Kriminalitätsformen ohne grenzüberschreitende Dimension – wie etwa Jugendkriminalität und Einbruchsdelikte – bislang weitgehend außerhalb der Reichweite des RFSR geblieben sind. Dessen sicherheitsbezogene Maßnahmen beschränken sich auf schwerwiegende Formen grenzüberschreitender Kriminalität wie internationale organisierte Kriminalität und Terrorismus. Der Vertrag von Lissabon verstärkt die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips dadurch, dass nunmehr die einzelstaatlichen Parlamente dafür Sorge tragen sollen, dass bei Gesetzgebungsvorschlägen und -initiativen in den Bereichen der polizeilichen und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen das Subsidiaritätsprinzip nach Maßgabe des „Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ unter Nutzung des dort definierten Frühwarnmechanismus gewahrt wird (Art. 69 AEUV). Auch diese Bestimmung muss als Ausdruck der Befürchtungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich einer potenziellen Erosion einzelstaatlicher Befugnisse und Funktionen im Bereich der inneren Sicherheit gewertet werden. Der dem RFSR zugrundeliegende Sicherheitsbegriff ist somit nicht nur durch seine Konzentration auf Kriminalitätsrisiken – andere Sicherheitsdimensionen wie etwa Lebensmittel- oder Umweltsicherheit bleiben unberücksichtigt – begrenzt, sondern auch aufgrund der rein subsidiären Rolle, die der Union aufgrund des starken Schutzes der primären Rolle der Mitgliedstaaten im Bereich der inneren Sicherheit zugewiesen ist, und die in der Praxis einer Begrenzung auf schwerwiegende Formen der grenzüberschreitenden Kriminalität bedeutet. Dies sollte aber nicht zu einer Unterschätzung der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Europäisierung der inneren Sicherheit führen, bei der es sich durchaus um einen Paradigmenwechsel im Hinblick auf das traditionell rein einzelstaatliche Verständnis der inneren Sicherheit handelt.27 5. Der Begriff des Rechts In Bezug auf die Dimension des Rechts des RFSR finden man in den Verträgen keine übergreifende Definition, sondern nur eine Zahl recht spezifischer Einzelziele – wie etwa die Vermeidung von richterlichen Kompetenzkonflikten – und Aktionsformen – hauptsächlich gegenseitige Anerkennung und Mindestharmonisierung –, und dies separat für die Bereiche der zivilrechtlichen und der strafrechtlichen Zusammenarbeit (Art. 65 EG und Art. 31 EU; Art. 81–86 AEUV). Der Wiener Aktionsplan ging über diese eher technischen Bestimmungen deutlich hinaus, wurde darin doch er27
Siehe hierzu B. Walter, Europäisierung der inneren Sicherheit – ein Paragdigmenwechsel im Gravitationsfeld zwischen Souveränitätsdenken und Systemeffizienz, Die Polizei 2002, S. 33, und, in einem breiteren historischen Kontext, W. Knelangen, Das Politikfeld innere Sicherheit im Integrationsprozess, 2001.
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klärt, dass es das Ziel des Raums des Rechts sei, „den Bürgern in der gesamten Union eine gemeinsame Vorstellung davon zu vermitteln, was Recht ist“.28 Im Hinblick darauf, dass die Verträge unter dem Oberbegriff des Rechts nur Maßnahmen zu Verbesserung der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten vorsehen und nicht etwa den Aufbau eines integrierten Rechts- und Justizsystems, erscheint diese Formulierung reichlich ambitioniert. In einem etwas bescheideneren Sinne ist die Dimension des Rechts im RFSR allerdings in der Tat darauf ausgerichtet, einen Unterschied in der Rechtserfahrung dadurch zu bewirken, dass von Einzelpersonen (und Unternehmen) – wie dies in den Schlussfolgerungen von Tampere formuliert worden ist – „nicht durch die Unvereinbarkeit oder die Komplexität der Rechtsordnungen und der Verwaltungssysteme in den Mitgliedstaaten daran gehindert oder davon abgehalten werden, von ihren Rechten Gebrauch zu machen“.29 Wie auch im Haager Programm erneut vorgesehen, soll dies auf der einen Seite durch einen besseren Zugang zum Recht in grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten erreicht werden, und auf der anderen durch die Sicherstellung der grenzüberschreitenden Gültigkeit und Anwendbarkeit richterlicher Entscheidungen durch gegenseitige Anerkennung.30 Ziel ist letztlich die Schaffung eines Raumes des Rechts, in dem die fortbestehenden Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtssystemen keine Hindernisse mehr sowohl für den grenzüberschreitenden Zugang zum Recht als auch für die grenzüberschreitende Anwendung und Durchsetzung des Rechts darstellen. Wie auch im Fall des Sicherheitsbegriffs des RFSR ist der des Rechts durch das Subsidiaritätsprinzip gemäß Art. 2 EU und Art. 5 EG (Art. 5 Abs. 3 EUV-Liss.) einer gewissen Beschränkung unterworfen. In der Praxis fungiert das Prinzip häufig als Entscheidungskriterium dafür, ob und inwieweit EU-Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit erforderlich sind. Ein rezentes Beispiel sind die Schlussfolgerungen des Rates zur Abänderung der EG-Richtlinie zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums vom 21. Februar 2007, in denen die Notwendigkeit strafrechtlicher Maßnahmen in diesem Bereich ausdrücklich einer Überprüfung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips unterworfen wird.31 Das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-176/03,32 das den Rahmenbeschluss 2003/80/JI des Rates vom 27. Januar 2003 über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht aufgrund einer Verletzung der durch Art. 47 EU geschützten Gemeinschaftskompetenzen für nichtig erklärt, ist von der Kommission dahingehend interpretiert worden, dass EGMaßnahmen im strafrechtlichen Bereich in erheblichem Umfang zulässig sind, falls diese zur Erreichung von EG-Vertragszielen notwendig erscheinen.33 Die negative Reaktion mehrerer Mitgliedstaaten auf diesen neuen Ansatz der Kommission und seine möglichen Auswirkungen auf die einzelstaatlichen Strafrechts28 29 30 31 32 33
Aktionsplan des Rates und der Kommission (Fn. 19), Nr. 15. Europäischer Rat, Tampere-Programm (Fn. 15), Nr. 28. Europäischer Rat, Haager Programm (Fn. 6), S. 3 ff. Rats-Dok. 9446/07 vom 29.03.2007, unter http://register.consilium.europa.eu. EuGH, Rs. C-176/03, Kommission/Rat, Slg. 2005, I-7879. Siehe KOM(2005) 583.
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systeme34 hat die Kommission allerdings mittlerweile zu einer vorsichtigeren Vorgehensweise bewegt, und es hat bislang auch keine förmlichen Vorschläge zur Entwicklung eines Europäischen Zivil- oder Strafgesetzbuches gegeben. Der Begriff des Rechts im Rahmen des RFSR ist somit bislang sowohl aufgrund des Subsidiaritätsprinzips als auch der politischen Grundlinie der EU-Organe eindeutig nicht auf die Schaffung eines einheitlichen integrierten Rechtssystems ausgerichtet, sondern ‚nur‘ auf die weitgehende Reduzierung der zwischen diesen Systemen bestehenden Hindernisse hinsichtlich des grenzüberschreitenden Zugangs zum Recht und der grenzüberschreitenden Wirksamkeit der Justiz durch Nutzung von Instrumenten der justiziellen Zusammenarbeit. Trotz der dadurch bedingten konzeptionellen Begrenzung des Begriffs des Rechts im RFSR ist der potenzielle Nutzen für den Einzelnen erheblich, dies insbesondere wegen des Ziels eines verbesserten Zugangs zum Recht (ausdrücklich formuliert in Art. 67 Abs. 4 AEUV), das unter anderem in der Richtlinie vom 27. Januar 2003 zur Verbesserung des Zugangs zum Recht bei Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug35 bereits einen konkreten Ausdruck gefunden hat. Der so gefasste Begriffs des Rechts im RFSR hat wie der der Freiheit eine starke Verbindung mit dem der Sicherheit. Diese Verbindung ergibt sich formell aus der Unterwerfung der strafrechtlichen Zusammenarbeit unter das Ziel eines hohen Maßes an Sicherheit für die Bürger (Art. 29 EU und Art. 61 lit. e EG; Art. 67 Abs. 3 AEUV). Der Wiener Aktionsplan erklärt in sehr viel konkreterer Form, dass es die Absicht des „Raums des Rechts“ sei, „dass jene, welche die Freiheit und Sicherheit des einzelnen und der Gesellschaft gefährden, zur Rechenschaft gezogen werden“.36 Die Strafverfolgungsdimension des Rechtsraumes ist von daher stark ausgeprägt. Diese beschränkt sich jedoch wiederum im Wesentlichen auf die Grenzlinien zwischen den einzelstaatlichen Systeme überschreitenden Aspekte, da sichergestellt werden soll, dass „Straftäter … keine Möglichkeiten finden, die Unterschiede in den Justizsystemen der Mitgliedstaaten auszunutzen“.37 Betrachtet man die drei RFSR-Begriffe Freiheit, Sicherheit und Recht zusammengenommen, so wird deutlich, dass Sicherheit das primär verbindende Element ist: Sicherheit ist zugleich konzeptionell ein wesentliches Element des Raums des Rechts und eine wesentliche Bedingung für den Raum der Freiheit. Diese zentrale Bedeutung des öffentlichen Guts der Sicherheit entspricht weitgehend der Bedeutung dieses Gutes in staatlichen Verfassungsordnungen.38 Auch dort ist in der Praxis 34
35 36 37 38
Siehe zum Beispiel die Aussagen von Rechtsexperten der dänischen Regierung, des irischen Justizministers Michael McDowell und des Unterstaatssekretärs im britischen Innenministerium Gerry Sutcliffe vor dem Europaausschuss des House of Lords im Juni 2006: HL Report of the European Union Committee (HL Paper (2006) Nr. 42), unter www.publications.parliament.uk/pa/ld200506/ldselect/ldeucom/227/227.pdf (25.03.2008). Richtlinie 2002/8/EG des Rates, ABl. 2003 L 26, S. 41. Aktionsplan des Rates und der Kommission (Fn. 19), Nr. 15. Europäischer Rat, Tampere-Programm (Fn. 15), Nr. 5. Hierzu allgemein M. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002.
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die Entwicklung des RFSR durch eine wachsende Prädominanz der Ziele der inneren Sicherheit gekennzeichnet, die durch die Terroranschläge von New York (2001), Madrid (2004) und London (2005) verstärkt worden ist. Dies verleiht dem Argument von der wachsenden „Sekuritarisierung“ des RFSR und der damit verbunden Kritik an einem fehlenden Gleichgewicht zwischen Sicherheit auf der einen Seite und Freiheit und Recht auf der anderen einige Berechtigung.39
III. Der RFSR in der Vertragsarchitektur 1.
Die Aufteilung zwischen den Säulen
Wenn die Verbindung zwischen den grundlegenden öffentlichen Gütern Freiheit, Sicherheit und Recht dem RFSR als Verfassungsziel der Union bereits eine gewisse Sonderposition verleiht, so gilt dies zumindest ebenso für seine besondere Positionierung in der Vertragsarchitektur. Während andere grundlegende Vertragsziele des Art. 2 EU, wie etwa die Wirtschafts- und Währungsunion oder die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, im Rahmen der Verfahren und Instrumente jeweils einer einzigen der vertraglichen ‚Säulen‘ zu verfolgen sind, ist der RFSR ein säulenübergreifendes Ziel: Die Erhaltung und Weiterentwicklung des RFSR gemäß Art. 2 EU dient als Klammer für die detaillierteren Zielbestimmungen, Verfahrensweisen und Instrumente, die sich einerseits im Bereich der ersten Säule (Titel IV EG) und andererseits in dem der dritten Säule (Titel VI EU) finden. In Titel IV EG sind die vergemeinschafteten Handlungsbereiche zusammengefasst. Der Titel beginnt mit einem Bezug auf das Vertragsziel des RFSR in Art. 61 EG, zu dessen schrittweisen Erreichung Maßnahmen zur Gewährleistung des freien Personenverkehrs sowie zu den Kontrollen an den Außengrenzen, Asyl, Einwanderung und im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen zu erlassen sind. Art. 61 lit. e EG verweist zusätzlich auf Maßnahmen im Bereich der polizeilichen und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen gemäß den Bestimmungen des EU-Vertrages, der einzige säulenübergreifende Querbezug in den RFSRBestimmungen. Hieran schließen sich die detaillierten Bestimmungen zu Zielsetzungen und Maßnahmenkategorien in den Bereichen Grenzkontrollen und Visapolitik (Art. 62 EG), Asyl und Einwanderung (Art. 63 EG) und justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen an (Art. 65 EG) an. Die übrigen Bestimmungen des Titels IV EG behandeln Aspekte von allgemeiner Bedeutung für die Felder der ersten Säule: Art. 64 schützt – wie schon erwähnt – die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit und ermöglicht den Erlass von Notmaßnahmen im Falle eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen, die nicht zuletzt unter dem Eindruck der Flüchtlingsprobleme im Zu39
Hierzu u.a. E. Guild, Crime and the EU’s Constitutional Future in an Area of Freedom, Security, and Justice, ELJ 10 (2004), S. 218, und I. Loader, Policing, Securitization and Democratization in Europe, Criminal Justice 2 (2002), S. 125.
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sammenhang mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien eingeführt wurde. Art. 66 EG behandelt die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten und der Kommission, und Art. 67 regelt die Entscheidungsverfahren im Rat vor und nach des „Übergangszeitraums“ von fünf Jahren (der am 30. April 2004 endete). Art. 68 EG enthält die verbleibenden Sonderregelungen für die Rolle des EuGH und Art. 69 EG die in Protokollen näher geregelten Opt-outs des Vereinigten Königreichs, Irlands und Dänemarks (auf die weiter unten näher eingegangen wird). Gemeinsam ist allen diesen Bestimmungen, dass sie Ausnahmeregelungen für die RFSR-Felder des Titels IV EG vom allgemeinen System des EG-Vertrages vorsehen, Ausnahmen, die bedeutend genug sind, um den Titel IV EG einen gewissem Sonderstatus im Rahmen der ersten Säule zu geben. Die Bestimmungen des Titels VI EU, die die polizeiliche und die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen betreffen, folgen einer ähnlichen Struktur wie die des Titels IV EG: Ein einführender allgemeiner Art. 29 EU stellt den Bezug zum Vertragsziel des RFSR her und definiert das zentrale Ziel der Kriminalitätsbekämpfung sowie die hierfür erforderlichen primären Kooperationsformen. Art. 30 und 31 EU enthalten dann die Einzelbestimmungen zu den jeweiligen Zielen und Maßnahmenkategorien in den Bereichen der polizeilichen und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Hieran schließt sich wiederum eine Reihe allgemeiner Bestimmungen an: zu den Bedingungen, unter denen Behörden im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten tätig werden können (Art. 32 EU), zum Schutz der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten in Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit (Art. 33 EU), zu den zu nutzenden rechtlichen Instrumenten (Art. 34 EU), zur Zuständigkeit des EuGH (Art. 35 EU), zur Rolle des für Titel VI EU einzusetzenden Koordinierungsausschusses (Art. 36 EU), zu Maßnahmen auf der internationalen Ebene (Art. 37 und 38 EU), zur Beteiligung des Parlaments (Art. 39 EU), zur Möglichkeit einer „verstärkten Zusammenarbeit“ zwischen den Mitgliedstaaten (Art. 40–40b EU), zur Nutzung des EG-Haushaltes (Art. 41 EG) und zu der Möglichkeit, die Materien des Titels IV EU ganz oder teilweise in den vergemeinschafteten Bereich des Titels IV EG zu überführen (Art. 42 EU, oft auch als Passerelle-Klausel bezeichnet). Die teilweise höchst detaillierten und spezifischen prozeduralen und institutionellen Regelungen des Titels VI EU und die starke Sicherheitsorientierung, die dem Titel durch Art. 29 EU und 61 lit. e EG verliehen wird und die nicht für den Titel IV EG gilt, machen Titel VI EU zu einem deutlich eigenständigen Teil der Vertragsarchitektur, sodass die geläufige Bezeichnung als „dritte Säule“ durchaus gerechtfertigt erscheint. Abgesehen von der Passerelle-Klausel des Art. 42 EU enthält Titel VI EU keinerlei Querbezug auf die vergemeinschafteten Bereiche des Titels IV EG. Vertraglich verklammert werden die beiden RFSR-Säulen mit ihren unterschiedlichen Teilzielen, Verfahrensweisen und Instrumenten nur durch das gemeinsame Grundziel des RFSR in Art. 2 EU und den gemeinsamen institutionellen Rahmen. In der Vertragsarchitektur erscheint der RFSR somit in Gestalt einer Dreieckskonstruktion, deren Spitze die Zieldefinition gemäß Art. 2 EU bildet, die in unmittelbarem Bezug zu den Bereichen des Titels IV EG und Titels VI EU jeweils an ei-
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nem Ende der Grundseite steht, wobei letztere untereinander allerdings nur schwach verbunden sind:
2. Konsequenzen der Aufteilung zwischen den Säulen Die als Folge politischer Kompromisse während der Verhandlungen über den Vertrag von Amsterdam eingeführte Säulenteilung des RFSR hat beträchtliche Konsequenzen für dessen bisherige Ausgestaltung und Entwicklung. Als Folge dieser Teilung kommen je nach Materie stark unterschiedliche Rechtsgrundlagen, Verfahrensweisen und Instrumente zur Anwendung, die zudem unterschiedlichen Entscheidungssträngen in der Ausschuss- und Arbeitsgruppenstruktur des Rates unterliegen. Dies gestaltet die Entscheidungsfindung im Bereich des RFSR komplizierter als in vielen anderen Bereich der EU und kann bei säulenübergreifenden Fragen dazu führen, zum selben Zweck getrennte Rechtsetzungsakte unter Titel IV EG und Titel VI EU verabschieden zu müssen. Ein Beispiel hierfür ist die Verhinderung von unerlaubter Einreise und unerlaubtem Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen, ein zentrales Element der EU-Strategie gegen die illegale Einwanderung: Aufgrund der EG-Zuständigkeit für Einwanderung und Grenzkontrollen musste der Rat am 28. November 2002 eine EG-Richtlinie zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt beschließen und zugleich – aufgrund der unter Titel VI EU fallenden strafrechtlichen Kompetenz – einen Rahmenbeschluss der dritten Säule zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung dieser Beihilfedelikte verabschieden.40 Die unterschiedlichen Mehrheitserfordernisse unter Titel IV EG und Titel VI EU – qualifizierte Mehrheit für die meisten Materien im ersten Fall,41 generell Einstimmigkeit im zweiten – 40
41
Richtlinie 2002/90/EG des Rates zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt, ABl. 2002 L 328, S. 17; Rahmenbeschluss 2002/946/ JI des Rates betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt, ABl. 2002 L 328, S. 1. Als Folge des gemäß Art. 67 Abs. 2 EG angenommenen Beschluss des Rates 2004/927/EG (ABl. 2004 L 396, S. 45) ist seit dem 1. Januar 2005 das Mitentscheidungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit im Rat auf alle vergemeinschafteten Materien des Titels IV EG anwendbar, mit Ausnahme von Maßnahmen im Bereich der legalen Zuwanderung und des Familienrechts, für die nach wie vor Einstimmigkeit erforderlich ist.
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können zu unterschiedlichen Längen der Entscheidungsverfahren und Problemen der Kohärenz zwischen parallelen Rechtsakten der ersten und der dritten Säule führen. Die Tatsache, dass die Kommission im Bereich des Titels VI EU gemäß Art. 34 Abs. 2 EU ihr Initiativrecht mit den Mitgliedstaaten zu teilen hat, bedeutet zudem, dass für ein und dieselbe Materie die treibenden politischen Kräfte unter beiden Säulen unterschiedlich ausfallen können, was zusätzliche Kohärenz-Probleme zur Folge haben kann.42 Aus verfassungsrechtlicher Perspektive wohl noch problematischer sind die Folgen der Säulenteilung für die richterliche und parlamentarische Kontrolle. Mit nur einer bedeutenden Ausnahme – der Begrenzung der Möglichkeit, ein Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten, auf letztinstanzliche Gerichte (Art. 68 EG)43 – entsprechen die richterlichen Kontrollmöglichkeiten des EuGH im Bereich des Titels IV EG denen in anderen Teilen des EG-Vertrages. Im Bereich des Titels VI EU sind diese jedoch teilweise deutlich reduziert. Gemäß Art. 35 Abs. 1 und 2 EU kann der Gerichtshof Ersuchen um Vorabentscheidungen nur aus Mitgliedstaaten annehmen, die eine entsprechende Erklärung abgegeben haben,44 und dies auch nur in Bezug auf Rahmenbeschlüsse, Beschlüsse und Übereinkommen, nicht jedoch hinsichtlich „gemeinsamer Standpunkte“ und primärrechtlicher Bestimmungen. Nach Art. 35 Abs. 6 EU können Nichtigkeitsklagen gegen Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse nur von der Kommission oder einem Mitgliedstaat erhoben werden, nicht aber, wie in Art. 230 EG vorgesehen, von natürlichen oder juristischen Personen, die von derartigen Rechtsakten unmittelbar und individuell betroffen sind.45 Obwohl der Gerichtshof in seiner jüngsten Rechtsprechung seine Rolle als säulenübergreifende Rechtsschutzinstanz systematisch bekräftigt hat, bestehen somit doch deutliche Unterschiede zwischen der ersten und der dritten Säule des RFSR hinsichtlich der richterlichen Kontrollmöglichkeiten – und daher auch des Rechtsschutzes des Einzelnen. Die Säulenteilung hat auch problematische Auswirkungen hinsichtlich der parlamentarischen Kontrolle. Gemäß Art. 39 Abs. 1 EU muss das Parlament zu rechtsverbindlichen Akten im Bereich des Titels VI EU nur „angehört“ werden. Dies steht im Gegensatz zu dem Mitentscheidungsrecht, über das das Parlament in den Bereichen des Titels IV EG verfügt.46 Als Folge hiervon hat das Parlament sehr unterschiedliche Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten unter den beiden Säulen, womit 42
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Nicht ohne ein deutliches Interesse in eigener Sache hat die Kommission argumentiert, das geteilte Initiativrecht im Bereich des Titels VI EU begünstige weder eine wahrhaft „europäische Dimension“ noch die Verantwortlichkeit der Initiativen, da Gesetzgebungsvorschläge der Mitgliedstaaten keiner Ex-ante-Folgenabschätzung unterzogen würden: KOM(2006) 331, S. 12. Eine weitere Besonderheit des RFSR; siehe C. Cheneviere, L’article 68 CE – Rapide survol d’un renvoi préjudiciel mal compris, CDE 40 (2004), S. 567. Bis Ende 2006 hatten nur 16 von damals 25 Mitgliedstaaten eine solche Erklärung abgegeben. Näher J. Bast, in diesem Band, S. 510 f. So geregelt durch Beschluss 2004/927/EG (Fn. 41).
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eine weitere Dimension verfassungsrechtlicher Asymmetrie hinsichtlich des RFSR gegeben ist.47 3. Fragen der Abgrenzung Die Säulenteilung des RFSR hat zahlreiche Fragen der Abgrenzung und der Durchlässigkeit aufgeworfen. In einer Reihe Fällen, die durch die Kommission, das Parlament und Einzelne initiiert wurden, hat der Gerichtshof Gelegenheit gehabt, wichtige Aspekte der Teilung zu klären und diese teilweise zu überbrücken. Zunächst hat der Gerichtshof systematisch seine Zuständigkeit in bestimmten säulenübergreifenden Fragen bekräftigt, beginnend mit dem Urteil in der Rechtssache C-170/96 betreffend eine Nichtigkeitsklage der Kommission gegen eine Gemeinsame Maßnahme des Rates zu Flughafen-Transitvisa, die nach Auffassung der Kommission anstatt der gewählten Rechtsgrundlage der dritten Säule (Art. K.3 EUVertrag) einer Rechtsgrundlage in der ersten Säule bedurft hätte (Art. 100c EG-Vertrag). Der Gerichtshof gab dem Antrag der Kommission zwar nicht statt, wies aber zugleich den Einwand des Rates zurück, der Gerichtshof sei gar nicht zuständig. Seine Zuständigkeit ergebe sich vielmehr aus dem seiner Jurisdiktion unterworfenen Art. M EU-Vertrag (heute Art. 47 EU), wonach Maßnahmen im Bereich des Titels VI EU nicht die Bestimmungen des EG-Vertrages berühren dürfen und über die der Gerichtshof folglich zu wachen habe.48 Das Gericht erster Instanz hat eine ähnliche Position in der Rechtssache T-228/ 02 eingenommen, in der es um finanzielle Sanktionen gegen die der Unterstützung terroristischer Aktivitäten verdächtigten Organisation Mojahedines du peuple d’Iran ging.49 Diese Sanktionen waren auf der Grundlage der EG-Verordnung Nr. 2580/200150 vom Rat erlassen worden, die wiederum einen Gemeinsamen Standpunkt des Rates auf der Grundlage der Art. 15 (GASP) und Art. 34 EU (RFSR) vom 27. Dezember umsetzte,51 der den ursprünglichen Beschluss zur Einfrierung von Vermögenswerten enthielt. Das Gericht räumte zwar ein, dass Gemeinsame Standpunkte als solche außerhalb seiner Zuständigkeit liegen, es aber durchaus zuständig für eine Nichtigkeitsklage sei, falls und insoweit der Kläger – wie im vorlie-
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Das Parlament hat denn auch wiederholt eine Ausdehnung seiner Mitentscheidungsbefugnisse auf die Bereiche der polizeilichen und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen durch Nutzung der „Passerelle“-Klausel des Art. 42 EU gefordert. Siehe beispielsweise die Entschließung des Europäischen Parlaments zu den im Jahr 2004 erzielten Fortschritten bei der Schaffung eines RFSR (P6_TA(2005)0227), ABl. 2006 C 124 E, 398. EuGH, Rs. C-170/96, Kommission/Rat, Slg. 1998, I-2763, Rn. 14–17. EuG, Rs. T-228/02, Mojahedines du peuple d’Iran/Rat, Slg. 2006, II-4665. Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 des Rates über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, ABl. 2001 L 344, S. 70. Gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP des Rates über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, ABl. 2001 L 344, S. 93.
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genden Fall – unter den Klagegründen eine Verletzung der Gemeinschaftskompetenzen anführe.52 Mit seinem Urteil in der Rechtssache Modjahedines hat das Gericht erster Instanz allerdings nicht nur seine Zuständigkeit für die Überprüfung von Maßnahmen der ersten Säule, die solche der dritten Säule umsetzen, bekräftigt, sondern auch seine übergreifende Aufgabe als Schutzinstanz rechtsstaatlicher Prinzipien. Das Gericht erklärte die EG-Entscheidung zur Einfrierung der Vermögenswerte für nichtig, da durch die unzureichende Begründung und mangels Möglichkeit der Betroffenen, zu den ihnen zur Last gelegten Umständen Stellung zu nehmen, zwei wesentliche Verteidigungsrechte verletzt worden seien.53 Diese rechtsstaatliche ‚Überbrückung‘ der Säulen hat der EuGH in zwei jüngeren Entscheidungen – in Gestoras pro Amnistía und Segi – weiterentwickelt, in denen die Kläger die Aufhebung von Beschlüssen des Gerichts erster Instanz beantragt hatte. Das Gericht hatte die Schadenersatzanträge der Kläger im Zusammenhang mit den finanziellen Sanktionen, die aufgrund des bereits erwähnten Gemeinsamen Standpunktes vom 27. Dezember 2001 zur Terrorismusbekämpfung gegen sie ergriffenen worden waren, abgewiesen.54 Der Gerichtshof räumte zwar ein, dass der EU-Vertrag im Bereich des Titels VI EU keine Schadenersatzklagen zulasse und insoweit eine Beschränkung des EURechtsschutzsystems vorläge,55 machte zugleich aber geltend, dass die Union gemäß Art. 6 EU auf dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit beruhe und sie die Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts achte. Folglich unterliegen, so der EuGH, „die Organe der Kontrolle, ob ihre Handlungen mit den Verträgen und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen vereinbar sind“, und „Gleiches gilt für die Mitgliedstaaten, wenn sie das Recht der Union durchführen“.56 Auf dieser Grundlage erklärte der EuGH grundsätzlich, dass alle von Organen der Union ergriffenen Maßnahmen, die Rechtswirkungen gegenüber Einzelnen zur Folge haben können – unabhängig von der die Rechtsgrundlage liefernden Säule – Gegenstand von Vorabentscheidungsverfahren sein können, dies somit auch im Falle Gemeinsamer Standpunkte, obwohl Art. 35 EU eine solche Anwendung des Vorabentscheidungsverfahrens nicht ausdrücklich vorsieht.57 Die Grenze zwischen den Säulen ist somit für die Rechtsprechung des EuGH überschreitbar, insofern und insoweit es um die Wahrung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte geht. Von ähnlicher Bedeutung ist die Rechtsprechung des EuGH zur Definition der Grenzlinie zwischen der ersten und der dritten Säule. Das bereits erwähnte Urteil in der Rechtssache C-176/03,58 in dem der EuGH entschieden hat, das strafrechtliche Maßnahmen durchaus auf Rechtsgrundlagen im Bereich der ersten Säule gegründet 52 53 54 55 56 57 58
EuG, Rs. T-228/02 (Fn. 49), Rn. 55. Ebd., Rn. 173. EuGH, Rs. C-354/04 P, Gestoras pro Amnistía u.a./Rat, Slg. 2007, I-1579, und Rs. C-355/04 P, Segi u.a./Rat, Slg. 2007, I-1657. EuGH, Rs. C-354/04 P und Rs. C-355/04 P (Fn. 54), jew. Rn. 47 und 50. Ebd., Rn. 51. Ebd., Rn. 54. EuGH, Rs. C-176/03 (Fn. 32).
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werden können,59 hat die Grenze zwischen den Säulen im Bereich des Strafrechts fraglos verschoben und erhebliche Möglichkeiten zur Entwicklung von EG-Strafrecht geschaffen – eine Vergemeinschaftung von Teilen des Strafrechts, die eindeutig im Widerspruch zur ursprünglichen Absicht der Mitgliedstaaten steht, diesen Bereich dem Titel VI EU vorzubehalten.60 Der Gerichtshof hat in dem gegebenen Fall allerdings sehr stark die spezifischen EG-Ziele des betreffenden Rahmenbeschlusses betont, sodass diese Öffnung der ersten Säule für strafrechtliche Maßnahmen auch nicht überinterpretiert werden sollte. Der Gerichtshof hat denn auch in im Zusammenhang mit dem umstrittenen Abkommen mit den USA zur Speicherung und Übermittlung von Flugpassagierdaten (Passenger Name Records, PNR) eine Klärung der Grenzlinie zwischen den Säulen in umgekehrter Richtung vorgenommen. Im Mai 2004 hatte das Parlament vor dem EuGH eine Nichtigkeitsklage gegen das Abkommen eingereicht, die sowohl durch Einwände gegen die für ungenügend erachteten Datenschutzregelungen als auch mit einer angeblichen Verletzung der Mitentscheidungsrechte des Parlaments begründet worden war. Am 30. Mai 2006 erklärte der Gerichtshof den Beschluss des Rates über den Abschluss des Abkommens dann in der Tat für nichtig,61 wodurch die Union zur Aufkündigung des Abkommens und einer Neuverhandlung mit den USA gezwungen wurde. In seinem Urteil ging der Gerichtshof allerdings nicht auf die vom Parlament vorgebrachten datenschutzrechtlichen Argumente ein, sondern erklärte sowohl die Entscheidung der Kommission über das Bestehen eines angemessenen Datenschutzes als auch den Ratsbeschluss zum Abschluss des Abkommens aufgrund einer unzureichenden Rechtsgrundlage (Art. 95 EG) für nichtig. Nach Auffassung des EuGH handelt es sich bei der PNR-Daten-Übermittlung nicht um eine Übermittlung zu Dienstleistungszwecken, sondern um „eine Verarbeitung, die die öffentliche Sicherheit und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich betrifft“,62 woraus sich die Notwendigkeit einer Rechtsgrundlage in der dritten Säule ergibt. Der Abschluss des neu verhandelten PNR-Abkommens im Oktober 2006 – das die USA zur Durchsetzung ungünstigerer Konditionen für die Union nutzte – erfolgte dann denn auch auf einer entsprechend veränderten Rechtsgrundlage.63 Mit seinem Pyrrhussieg, der aufgrund der veränderten Rechtsgrundlage das Parlament jeglicher Mitentscheidungsmöglichkeit beraubte, hat es unfreiwillig zu einer Bekräftigung des Prinzips beigetragen, dass der primäre Zweck eines Gesetzgebungs-
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Ebd., Rn. 52. Siehe hierzu u.a. K. Apps, Anm. zu Case C-176/03, Columbia Journal of European Law 12 (2006), S. 625; T. Pohl, Verfassungsvertrag durch Richterspruch, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2006, S. 213; D. Spinellis, Anm. zu Case C-176/03, European Constitutional Law Rev. 2 (2006), S. 293; C. Tobler, Anm. zu Case C-176/03, CMLRev. 43 (2006), S. 835. EuGH, verb. Rs. C-317/04 und C-318/04, Parlament/Rat, Slg. 2006, I-4721. Ebd., Rn. 57. Zum Hintergrund siehe J. Monar, Justice and Home Affairs, JCMS Annual Review 45 (2007), S. 107 (118 f.).
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aktes – im vorliegenden Fall ein Sicherheitsziel im Rahmen der dritten Säule – für die Wahl der einen oder anderen Säule als Kompetenzgrundlage entscheidend ist.64 4. Die Aufhebung der Säulenteilung durch den Vertrag von Lissabon Vieles von dem im obigen Abschnitt Ausgeführten wird mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon Teil der Geschichte der Komplexität des EU-Integrationsprozesses werden – aber nicht alles. Im Rahmen der neuen Vertragsarchitektur werden die Materien der bisherigen Titel IV EG und VI EU in einem neuen Titel V Dritter Teil AEUV zusammengezogen. Die bisherige Säulenstruktur mit der artifiziellen Trennung der betreffenden Handlungsbereiche wird formell aufgehoben. Damit wird unter anderem die Notwendigkeit zur Annahme paralleler Rechtsakte im Falle säulenübergreifender Materien wegfallen, das Potenzial für Streitigkeiten hinsichtlich der Rechtsgrundlage wird reduziert und die Aushandlung von Abkommen mit Drittstaaten zu säulenübergreifenden Materien erleichtert. Mit der Aufhebung der Säulenstruktur wird ein Beitrag zur Rechtssicherheit und Transparenz im Rahmen des RFSR geleistet, da fortan die gleichen Rechtsinstrumente für alle Handlungsbereiche zur Anwendung kommen werden. Die Aufhebung der dem EuGH gegenwärtig im Bereich des Titels VI EU auferlegten Beschränkungen wird sowohl die richterliche Kontrolle insgesamt als auch die Kohärenz des verfassungsrechtlichen Rahmens des RFSR stärken. Der durch den Verfassungsvertrag anvisierte einheitliche vertragliche Rahmen wird allerdings nicht erreicht: Das grundlegende Vertragsziel des RFSR (Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss.) und die Charta der Grundrechte bleiben von den operativen Bestimmungen des AEUV durch den separaten vertraglichen Rahmen des EU-Vertrages getrennt. Doch wird zumindest die bestehende Dreiecksarchitektur durch eine einfachere hierarchische Beziehung zwischen den grundlegenden Bestimmungen des EU-Vertrages und den operativen Bestimmungen des AEUV ersetzt. Einige Elemente der Säulenteilung werden jedoch fortbestehen, und dies hauptsächlich im Bereich der Entscheidungsverfahren. Der Vertrag von Lissabon erhebt das gegenwärtige Mitentscheidungsverfahren mit ausschließlichem Initiativrecht der Kommission, Mitentscheidung des Parlaments und qualifizierter Mehrheitsentscheidung im Rat – unter dem neuen Namen des „ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens“ (Art. 294 AEUV) – zum Standard-Entscheidungsverfahren auch im Bereich des RFSR. Es gibt jedoch eine Reihe von Ausnahmen: Wie gegenwärtig im Bereich des Titels VI EU wird die Kommission nach wie vor über kein Initiativmonopol in den Bereichen der polizeilichen und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen verfügen. Art. 76 AEUV sieht vor, dass Gesetzgebungsvorschläge auch kollektiv von einem Viertel der Mitgliedstaaten eingebracht werden können. Zudem bleibt das Einstimmigkeitserfordernis im Rat für die folgenden Materien erhalten: für die Ausübung der Freizügigkeit relevante Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente (Art. 77 64
Zur Wahl der richtigen Rechtsgrundlage allgemein: M. Nettesheim, in diesem Band, S. 434 ff.
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Abs. 3 AEUV), Maßnahmen zum Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug (Art. 81 Abs. 3 AEUV), Mindestvorschriften für „sonstige“ (d.h. nicht bereits ausdrücklich vorgesehene) spezifische Aspekte des Strafverfahrens (Art. 82 Abs. 2 lit. d AEUV), die Bestimmung „anderer“ (d.h. nicht bereits ausdrücklich erwähnter) Bereiche schwerwiegender Kriminalität, für die der Rat Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen erlassen kann (Art. 83 Abs. 1 AEUV), die Einsetzung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Art. 86 Abs. 1 AEUV), Maßnahmen zur operativen Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden der Mitgliedstaaten (Art. 87 Abs. 3 AEUV) und die Festlegung der Bedingungen und Grenzen, innerhalb derer Polizeibehörden der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats in Verbindung und in Absprache mit dessen Behörden tätig werden dürfen (Art. 89 AEUV). Es Bedarf keiner Erläuterung, dass es sich hier in der Tat um besonders sensible Materien hinsichtlich der staatlichen Souveränität und Territorialität handelt. Tatsache aber bleibt, dass damit bedeutende nationale Vetomöglichkeiten vor allem im Bereich der bisherigen dritten Säule fortbestehen werden. Ähnliche Ausnahmeregelungen bestehen auch hinsichtlich der Beteiligung des Parlaments fort, das zwar Mitentscheidungsrechte für die meisten Materien des RFSR erhält, aber zu den oben erwähnten, der Einstimmigkeit im Rat vorbehaltenen Materien auf Zustimmungs- bzw. bloße Anhörungsrechte beschränkt wird. Institutionell und prozedural wird die alte Säulenteilung daher zu einem gewissen Grad fortbestehen. Diese versteckte Fortexistenz der dritten Säule könnte aufgrund der unterschiedlichen Verfahrensregeln und Beteiligungsformen des Parlaments weiterhin Probleme bei bestimmten übergreifenden Maßnahmen zur Folge haben.65 Es gibt jedoch noch eine weitere Dimension des Nachlebens der dritten Säule: Gemäß Art. 9 des dem Vertrag von Lissabon beigefügten Protokolls über die Übergangsbestimmungen werden die auf der Grundlage des Titels VI EU vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon angenommenen Rechtsakte ihre Rechtswirkung behalten, bis diese aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden. Während diese Regelung noch als technische Notwendigkeit verstanden werden kann, sind die Bestimmung des Art. 10 desselben Protokolls eindeutig durch einen politischen Willen inspiriert, einige der zwischenstaatlichen Elemente der dritten Säule deren formale Aufhebung überdauern zu lassen. Gemäß Art. 10 gelten für eine Übergangsperiode von fünf Jahren die Befugnisse der Kommission zur Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) nicht für die Bereiche der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, und es bleiben auch die unter Titel VI EU gegenwärtig bestehenden Beschränkungen der Befugnisse des EuGH für diese Bereiche erhalten. Auch in dieser Hinsicht wird somit das ancien régime bis tief in das zweite Jahrzehnt des Jahrhunderts erhalten bleiben.
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Diese Ausnahmeregelungen waren größtenteils bereits im Entwurf des Verfassungsvertrages vorgesehen. Siehe J. Monar, Justice and Home Affairs in the EU Constitutional Treaty, European Constitutional Law Rev. 1 (2005), S. 226.
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IV. Differenzierte Beteiligungsformen als verfassungsrechtliche Komponente des RFSR 1.
Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Differenzierung
Der RFSR ist bereits heute aufgrund der den Mitgliedstaaten zugestandenen Optout- und Opt-in-Regelungen durch ein hohes Maß an differenzierter Beteiligung gekennzeichnet. Diese Regelungen sind größtenteils, aber nicht ausschließlich, durch die Eingliederung des Schengen-Besitzstands durch den Vertrag von Amsterdam bedingt. Hinzu kommen RFSR-spezifische Bestimmungen zur „verstärkten Zusammenarbeit“ sowie die Schengen-Assoziierung von Nicht-Mitgliedstaaten.66 Durch den Vertrag von Lissabon werden diese Differenzierungsformen nicht nur beibehalten, sondern sogar noch erweitert, dies vor allem durch erweiterte Opt-outs und erleichterte Zugangsmöglichkeiten zur „verstärkten Zusammenarbeit“ in mehreren Bereichen. Diese starke Differenzierung, die im RFSR größer und vielfältiger ist als in jedem anderen Politikbereich der Union, ist insofern als eine verfassungsrechtlich bedeutsame Komponente des RFSR zu betrachten, als sie Mitgliedstaaten teilweise von grundlegenden, den RFSR betreffenden Vertragszielen und -regelungen ausnimmt und damit abgestufte Formen der Mitgliedschaft ermöglicht. Sie schafft für einige Mitgliedstaaten eine Optionalität der Beteiligung, die dem Konzept eines einheitlichen Raums ebenso entgegensteht wie dem eines einheitlichen und kohärent auf alle Mitgliedstaaten gleichermaßen anwendbaren verfassungsrechtlichen Rahmens. Die Einführung dieser Differenzierungsformen waren zwar als Teil des Amsterdamer Kompromisspakets eine politische Notwendigkeit zur Erreichung des heutigen vertraglichen Rahmens,67 kann aber zugleich als Beleg für einen mangelnden Verfassungskonsens hinsichtlich der Grundlagen und der Finalität des RFSR gewertet werden. 2. Die Opt-outs Opt-outs im Bereich des RFSR sind auf der Grundlage von dem durch den Vertrag von Amsterdam dem EG- und EU-Vertrag beigefügten Protokollen insgesamt drei Mitgliedstaaten eingeräumt worden: dem Vereinigten Königreich, Irland und Dänemark (der Begriff wird aufgrund seines negativen politischen Beiklangs offiziell natürlich nicht verwendet). Protokoll Nr. 368 garantiert dem Vereinigten Königreich das Recht, Personenkontrollen an den Grenzen zu anderen Mitgliedstaaten beizubehalten und nimmt Irland und das Vereinigten Königreich zum Zweck der Aufrecht-
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Zu diesen Differenzierungsformen insgesamt siehe P. Berthelet, Le droit institutionnel de la sécurité intérieure, 2003, S. 215–271. Siehe J. Monar, Justice and Home Affairs in the Treaty of Amsterdam: Reform at the Price of Fragmentation, ELRev. 23 (1998), S. 320. Protokoll (Nr. 3) über die Anwendung bestimmter Aspekte des Artikels 14 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf das Vereinigte Königreich und auf Irland (1997).
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erhaltung ihrer Common Travel Area von den betreffenden Teilen des SchengenBesitzstands aus. Als Folge sind das Vereinigte Königreich und Irland von allen die Grenzkontrollen betreffenden Teilen des Schengen-Besitzstands ausgenommen und nehmen insbesondere nicht an der Aufhebung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen teil, die als eines der Kernelemente des RFSR zu betrachten ist, nicht zuletzt im Hinblick auf die Kennzeichnung des RFSR in Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss. als ein „Raum ohne Binnengrenzen“. Protokoll Nr. 469 gewährt diesen beiden Mitgliedstaaten zusätzlich ein vollständiges Opt-out hinsichtlich der vergemeinschafteten Felder des Titels IV EG. Protokoll Nr. 570 schließlich sichert Dänemark ein ähnliches Opt-out hinsichtlich des Titels IV EG, dies aber im Verbund mit spezifischen Opt-inMöglichkeiten (siehe unten), die der besonderen Position Dänemarks als eines Schengen-Mitgliedstaates Rechnung tragen, der ‚nur‘ durch vergemeinschaftete Schengen-Maßnahmen nicht gebunden sein will (die dänische Regierung war im Vorfeld der zweiten dänischen Volksbefragung zum Vertrag von Maastricht 1993 die politische Verpflichtung eingegangen, sich an der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nur auf zwischenstaatlicher Basis zu beteiligen). Als Ergebnis dieser drei Protokolle können sich somit im Prinzip drei Mitgliedstaaten aus der Entwicklung des RFSR im Bereich der ersten Säule vollständig heraushalten. Da ein vollständiger Selbstausschluss die betreffenden Mitgliedstaaten allerdings auch der Möglichkeit berauben würde, an in ihrem Interesse liegenden Maßnahmen teilzunehmen, sieht die Amsterdamer Kompromisslösung zugleich Möglichkeiten für ein Opt-in vor. 3. Die Opt-in-Möglichkeiten Art. 3 des erwähnten Protokolls Nr. 4 gewährt Irland und dem Vereinigten Königreich eine Opt-in-Möglichkeit hinsichtlich jeder unter Titel IV EG vorgeschlagenen Maßnahme bis zu drei Monaten nach Vorlage des betreffenden Vorschlags. Diese Möglichkeit besteht gemäß Art. 4 auch später noch, hängt dann aber von einer positiven Stellungnahme der Kommission ab. Art. 8 desselben Protokolls gibt Irland die Möglichkeit zu einem Ausstieg aus diesem Protokoll – eine Art Opt-out aus dem Opt-out. Gemäß Art. 4 des Protokolls Nr. 271 zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands können beide Mitgliedstaaten auch jederzeit beantragen, dass einzelne oder alle Bestimmungen dieses Besitzstands auf sie Anwendung finden sollen, worüber der Rat dann einstimmig ohne deren Stimmen entscheidet. Das Vereinigte Königreich und Irland verfügen demnach sowohl hinsichtlich des Titels IV EG als auch des Schengen-Besitzstands über einen Opt-out-Status, der mit einer selektiven Opt-in-Möglichkeit verbunden ist. Von dieser Möglichkeit haben beide Mitgliedstaaten reichlichen Gebrauch gemacht, vor allem bei Maßnahmen in den Bereichen
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Protokoll (Nr. 4) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands (1997). Protokoll (Nr. 5) über die Position Dänemarks (1997). Protokoll (Nr. 2) zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union (1997).
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Asyl und Einwanderung, nicht aber in den Bereichen Grenzkontrollen, Visa-Politik und legale Zuwanderung.72 Auch Dänemark verfügt über eine Opt-in-Möglichkeit, aber der dänische Fall ist komplizierter, da Dänemark als Schengen-Mitglied besonderen Notwendigkeiten hinsichtlich der Übernahme von auf den Schengen-Besitzstand aufbauenden Maßnahmen im Bereich des Titels IV EG ausgesetzt sein kann. Art. 5 des Protokolls Nr. 5 sieht vor, dass Dänemark, nachdem der Rat über einen Vorschlag zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands im Bereich des Titels IV EG entschieden hat, innerhalb von sechs Monaten beschließt, ob es diesen Beschluss in innerstaatliches Recht umsetzt. Fasst es einen solchen Beschluss, so begründet dieser eine völkerrechtliche Verpflichtung zwischen Dänemark und den übrigen Mitgliedstaaten. Dies ist zweifellos eine der fragwürdigsten Regelungen der gesamten EURechtsordnung, da Dänemark damit ein Opt-out hinsichtlich der besonderen rechtlichen Wirkungen des EG-Rechts im Hinblick auf die betreffenden EG-Rechtsakte gewährt wird.73 Die besonderen Bestimmungen zu Dänemark werden durch eine Möglichkeit zum Opt-out aus dem Opt-out – ähnlich der irischen – vervollständigt. Der Vertrag von Lissabon behält die beschriebenen Opt-out- und Opt-in-Regelungen für die drei Mitgliedstaaten nicht nur bei, sondern dehnt diese Regelungen – mit einer Reihe von prozeduralen Veränderungen und Variationen74 – auf die Bereiche der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, d.h. die gegenwärtige dritte Säule, aus. Diese erweiterten Opt-outs sind Teil der politischen Konzessionen, die in den Verhandlungen über den Vertrag von Lissabon gemacht wurden, um die Zustimmung aller Mitgliedstaaten zur faktischen Vergemeinschaftung der Felder des Titels VI EU (mit Mehrheitsentscheidung und Mitentscheidung des Parlaments) im Rahmen des neuen Titels V Dritter Teil AEUV sicherzustellen. Die Opt-in-Möglichkeiten bieten den drei ‚Outs‘ ein großes Maß an Flexibilität hinsichtlich ihrer Beteiligung am RFSR. Sie können nicht nur während des Gesetzgebungsverfahrens jederzeit ein Opt-in erklären, sondern auch noch – wenn sich ihre Auffassung ändert – nach der Annahme des betreffenden Aktes durch die anderen Mitgliedstaaten. Zwar können sie nicht über Maßnahmen abstimmen, denen sie nicht ‚beigetreten‘ sind, aber sie nehmen an allen Beratungen hierüber teil – und erhalten natürlich volles Stimmrecht im Falle eines Opt-ins. Wie der Gerichtshof in 72
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Siehe S. Peers, Statewatch Briefing: Vetoes, Opt-outs, and EU Immigration and Asylum Law, 2004, unter http://www.statewatch.org/news/2004/nov/eu-immig-opt-outs2.pdf (25.03.2008). Siehe hierzu die Analyse in D. Thym, Ungleichzeitigkeit und europäisches Verfassungsrecht, 2004, S. 103–107. Der dänische Opt-out wird sich beispielsweise nicht auf die Festlegung der Bedingungen und Grenzen innerhalb derer Polizeibehörden der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats in Verbindung und in Absprache mit dessen Behörden tätig werden dürfen (Art. 89 AEUV) erstrecken. Anscheinend wurde von der dänischen Regierung die Beibehaltung der Einstimmigkeit im Rat und die bloße Anhörung des Parlaments als hinreichendes Element der Gewährleistung von Zwischenstaatlichkeit angesehen, um auf eine Anwendung des Opt-outs auch auf diesen Bereich verzichten zu können.
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den Rs. C-77/05 und Rs. C-137/05 allerdings deutlich gemacht hat, können das Vereinigte Königreich und Irland nicht einzelnen Maßnahmen beitreten, die, wie etwa die Errichtung der Grenzagentur FRONTEX, auf dem Schengener Grenzkontroll-acquis aufbauen, von dem beide Staaten gemäß dem erwähnten Protokoll Nr. 3 vollommen ausgenommen sind.75 4. Die Möglichkeiten zur „verstärkten Zusammenarbeit“ Die bestehenden und die durch den Lissabonner Vertrag erweiterten Opt-out-Regelungen machen deutlich, dass es im Rahmen des RFSR grundsätzliche Differenzen zwischen Mitgliedstaaten gibt, die es in einigen Bereichen unmöglich machen können, Fortschritte gemeinsam zu erzielen. Um zu verhindern, dass hierdurch die Weiterentwicklung des RFSR massiv behindert werden kann, bieten die Verträge – gleichsam als Sicherheitsventil – das Instrument der so genannten verstärkten Zusammenarbeit als Option für eine Gruppe von Mitgliedstaaten an, die weitergehende Maßnahmen in Teilbereichen des RFSR anstreben. Die Art. 11 EG und Art. 40 EU erlauben es einer solchen Pioniergruppe von Mitgliedstaaten, untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit sowohl im Rahmen des Titels IV EG als auch des Titels VI EU einzuleiten und hierfür uneingeschränkt die EG/EU-Organe und Handlungsmöglichkeiten zu nutzen. Art. 43 lit. a EU sieht jedoch vor, dass eine solche Zusammenarbeit nur „als letztes Mittel“ eingeführt werden kann, und ihre Aktivierung ist an eine ganze Reihe von Bedingungen geknüpft, wie beispielsweise ein Minimum von acht sich beteiligenden Mitgliedstaaten, das Offenstehen gegenüber allen anderen, die Beachtung des Besitzstands der EG, des einheitlichen institutionellen Rahmens und der Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten der nicht beteiligten Mitgliedstaaten. Das Schengen-System stellt den formell bislang ersten und einzigen Fall einer solchen Form differenzierter Integration im Rahmen des RFSR dar, obwohl es bereits einige Zeit vor der Einführung der verstärkten Zusammenarbeit durch den Vertrag von Amsterdam bestand.76 Obwohl ansonsten nicht formell angewendet, ist dieses Instrument gelegentlich dazu genutzt worden, um Druck auf Mitgliedstaaten in isolierter Position auszuüben. So deutete etwa die belgische Präsidentschaft der zweiten Hälfte des Jahres 2001 an, dass sie eine verstärkte Zusammenarbeit anstreben könnte, falls Italien nicht seine Einwände gegen bestimmte Elemente des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehls zurückziehen würde – ein politisches Druckmittel, das seine Wirkung nicht verfehlte. Wie auch im Falle der Opt-outs behält der Vertrag von Lissabon nicht nur die bestehenden Möglichkeiten der verstärkten Zusammenarbeit bei (Art. 20 EUVLiss. und Art. 326–334 AEUV), sondern erhöht das mit diesen gegebene Differenzierungspotenzial weiter. Der neue Vertrag sieht in einer Reihe von Fällen eine gleichsam automatische Einführung einer verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen 75 76
EuGH, Rs. C-77/05, Großbritannien/Rat, Slg. 2007, I-11459, und Rs. C-137/05, Großbritannien/Rat, Slg. 2007, I-11593. Zum Kontext siehe G. Papagianni, Flexibility in Justice and Home Affairs, in: B. de Witte u.a. (Hrsg.), The Many Faces of Differentiation in EU Law, 2001, S. 101.
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des RFSR vor: bei Richtlinien zur Festlegung von Mindestvorschriften im Bereich des Strafverfahrensrechts (Art. 82 Abs. 3 AEUV) und bei Richtlinien mit Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität (Art. 83 Abs. 3 AEUV). Hier kann ein Mitgliedstaat, der der Auffassung ist, dass der betreffende Richtlinienentwurf „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ berührt, beantragen, dass der Europäische Rat befasst wird. In diesem Fall wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt.77 Gelingt es dem Europäischen Rat nicht, binnen vier Monaten ein Einvernehmen herzustellen, so kann eine Gruppe von mindestens neun Mitgliedstaaten dem Parlament, dem Rat und der Kommission mitteilen, dass sie die betreffende Richtlinie im Wege einer verstärkten Zusammenarbeit annehmen möchte, woraufhin die entsprechende Ermächtigung als erteilt gilt. Von vergleichbarer Bedeutung sind die neuen Möglichkeiten einer Gruppe von mindestens neun Mitgliedstaaten, ein ähnliches Verfahren zu nutzen, falls im Rat keine Einstimmigkeit hinsichtlich der Einsetzung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Art. 86 Abs. 1 AEUV) oder der operativen Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden der Mitgliedstaaten (Art. 87 Abs. 3 AEUV) erreicht werden kann.78 In beiden Fällen kann die 9-plus-Gruppe beantragen, dass der Europäische Rat mit dem entsprechenden Entwurf befasst wird. Gelingt es dem Europäischen Rat nicht, binnen vier Monaten ein Einvernehmen herzustellen, so kann die Gruppe dem Parlament, dem Rat und der Kommission mitteilen, dass sie die betreffende Maßnahme auf dem Weg verstärkter Zusammenarbeit annehmen möchte, woraufhin die Ermächtigung wiederum als erteilt gilt. Die Möglichkeiten der verstärkten Zusammenarbeit sind im Grunde nur eine andere Variante – wenngleich eine potenziell konstruktivere – der Logik des getrennten Verfolgens unterschiedlicher Interessen im Rahmen des RFSR, die auch den Opt-outs zugrunde liegt. Während sich im Falle der Opt-outs einige Mitgliedstaaten das Recht vorbehalten haben, nur an den Maßnahmen zur Weiterentwicklung des RFSR teilzunehmen, die ihren Interessen entsprechen, bietet die verstärkte Zusammenarbeit Gruppen von Mitgliedstaaten die Möglichkeit, gewisse Maßnahmen ohne die Unterstützung und Beteiligung der anderen vorzuschlagen und gegebenenfalls auch umzusetzen.79 Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist dies von einiger Bedeutung, da damit der RFSR – obwohl ein gemeinsames grundlegendes Vertragsziel – in Teilen zu einem Projekt für nur einige Mitgliedstaaten werden kann und dann nicht allen Bürgern der Union überall in der Union dasselbe Maß an „Frei77 78 79
Ein mittlerweile gemeinhin als „Notbremse“ bezeichnetes Verfahren. Einer der wenigen Veränderungen, die der Vertrag von Lissabon im Bereich des RFSR gegenüber dem Verfassungsvertrag bringt. Zu berücksichtigen ist hier, dass der Vertrag von Lissabon – wie bereist erwähnt – im Bereiche der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen die Möglichkeit von Gesetzgebungsinitiativen seitens (mindestens) eines Viertels der Mitgliedstaaten vorsieht. Dies eröffnet die Möglichkeit, dass eine 9-plus-Gruppe eine Gesetzgebungsinitiative einbringt, die von Anfang an so formuliert ist, dass sie für andere Mitgliedstaaten eindeutig unannehmbar ist und folglich einen direkten Weg zur Autorisierung einer entsprechenden verstärkten Zusammenarbeit ebnet.
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heit, Sicherheit und Recht“ bietet. Wenn man beispielsweise davon ausgeht, dass EU-Gesetzgebung zur Verbesserung der operativen Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden der Mitgliedstaaten gemäß Art. 87 Abs. 3 AEUV zur Erreichung des Zieles „eines hohen Maßes an Sicherheit“ im Sinne des Art. 67 Abs. 3 AEUV beiträgt, so würde eine Nutzung der verstärkten Zusammenarbeit dieses Mehr an Sicherheit nur (oder zumindest primär) für die Bürger der beteiligten Mitgliedstaaten erbracht. Dem Einzelnen würde, so betrachtet, nicht überall derselbe RFSR „geboten“ (wie es in Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss. heißt) und auch nicht im selben Maß das grundlegende Gut der Sicherheit. 5. Die Stellung der assoziierten Schengen-Mitglieder Eine besondere Dimension der Differenzierung im Rahmen des RFSR ist durch die Beteiligung von drei Nicht-EU-Staaten, Island, Norwegen und der Schweiz, gegeben, die Assoziierungsabkommen mit der Union zwecks ihrer Beteiligung am Schengen-Grenzkontrollsystem geschlossen haben. Liechtenstein hat ein Beitrittsprotokoll zum Assoziierungsabkommen der Schweiz unterzeichnet. Diese Abkommen sehen die Aufhebung der Kontrollen an den Grenzen zu den EU-Schengen-Staaten und die Umsetzung weiter Teile des Schengen-Besitzstands durch die assoziierten Staaten vor.80 Norwegen und Island sind daher seit dem 25. März 2001 Teil der Schengen-Zone, die Schweiz wird voraussichtlich bis Ende 2008 und Liechtenstein bis Ende 2009 voll integriert werden. Ein beträchtlicher Teil des Schengen-Besitzstands gilt somit für vier Nicht-EU-Staaten, obwohl wesentliche Teile davon nicht auf das Vereinigte Königreich und Irland anwendbar sind. Dies ist nicht ohne Konsequenzen für die verfassungsrechtliche Stellung des Einzelnen. So genießen etwa Unionsbürger, die von einem der beiden Opt-out-Staaten in ein Schengen-Land einreisen, eindeutig nicht dieselben Rechte hinsichtlich der kontrollfreien Einreise wie zwei Nicht-EU-Bürger aus den assoziierten Staaten, wenn diese aus einem der letzteren in ein EU-Schengen-Land einreisen. Dies widerspricht zumindest dem Geist des mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Konzepts des Freizügigkeit als eines grundlegenden Rechts der Unionsbürger. Island und Norwegen sind in das Schengen-System als Folge des SchengenBeitritts der EU-Mitglieder Dänemark, Finnland und Schweden aufgenommen worden, da deren Nichtaufnahme das Funktionieren der Nordischen Passunion zwischen den skandinavischen Ländern in Frage gestellt hätte. Die Schweiz hat sich für einen ähnlichen Assoziierungs-Status aufgrund der Vorteile der Eingliederung in das Schengen-System für die innere Sicherheit sowie aus asyl- und einwanderungspolitischen Erwägungen entschieden. Alle drei assoziierten Staaten mussten jedoch einen politischen Preis für diesen Schengen-Beitritt ohne EU-Beitritt zahlen: Als 80
Text des Abkommens mit Norwegen und Island: ABl. 1999 L 176, S. 36. Das Abkommen mit der Schweiz wurde mit Beschluss 2008/146/EG im Namen der EG und Beschluss des Rates 2008/149/JI im Namen der EU angenommen und ist am 1. März 2008 in Kraft getreten: ABl. 2008 L 53, S. 1 und 50. Text des Protokolls mit Liechtenstein: Rats-Dok. 16402/06 vom 13.02.2008 und ABl. 2008 L 83, S. 3 (Unterzeichnung).
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nur assoziierte Staaten haben sie die Verpflichtung, alle betreffenden Teile des Schengen-Besitzstands umzusetzen, ohne über formale Mitentscheidungsrechte im Rat der EU zu verfügen. Nach den in den Abkommen vorgesehenen Verfahren können sie zwar an den Beratungen über die betreffenden Schengen-Aspekte und neue Schengen-Gesetzgebungsakte teilnehmen (so genannte gemischte Agenda-Punkte), aber hinsichtlich der formellen Annahme von Schengen-Maßnahmen verfügen sie über keinerlei Stimmrecht.81 Diese verfassungsrechtlich interessante Form asymmetrischer Beteiligung ist nicht nur eine Folge der politischen Präferenzen der EUMitgliedstaaten, sondern auch der Notwendigkeit, die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung zu wahren, die vom EuGH in seinem Gutachten 1/91 zum Europäischen Wirtschaftsraum unterstrichen worden war.82
V. Ein Raum der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten 1. Die kooperative Orientierung des gegenwärtigen vertraglichen Rahmens Die dritte Säule des Vertrages von Maastricht – vor ihrer Reform durch den Vertrag von Amsterdam – stand unter dem Obertitel der „Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres“, womit die zwischenstaatliche Natur dieses neuen EU-Politikbereiches unterstrichen wurde. Obwohl der Vertrag von Amsterdam weitreichende Veränderungen und – mit dem RFSR – ein zumindest dem Anspruch nach gehaltvolleres Grundziel eingeführt hat, bleibt Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten das dominierende Prinzip des RFSR. Da die durch den RFSR abgedeckten Materien allgemein als sensible Bereiche für die staatliche Souveränität betrachtet werden,83 zumindest einige Mitgliedstaaten beträchtliche Besorgnisse hinsichtlich der potenziellen Auswirkung von Harmonisierungsmaßnahmen auf ihre nationalen Rechtssysteme hegen84 und viele Felder des RFSR – wie etwa Asyl und Einwanderung – im nationalen Rahmen politisch hochgradig besetzte Themen darstellen, bestehen auf Seiten der Mitgliedstaaten nach wie vor erhebliche Vorbehalte gegenüber der Übertragung von RFSR-relevanten Kompetenzen auf die EU-Ebene und eine damit einhergehende Aufgabe einzelstaatlicher Kontrolle über Maßnahmen und Strukturen in diesen Bereichen. Der RFSR ist daher durch eine starke politische Präferenz der Mitgliedstaaten für die Stärkung der Zusammenarbeit zwischen ihren einzelstaatlichen Systemen gekennzeichnet – und eine entsprechend geringe Bereitschaft, statt dessen die einzelstaatlichen Systeme in einem enger integriertem System mit entwickelten gemeinsamen Regelsystemen und mit gemeinsamen Institutionen, die mit operativen Befugnissen ausgestattet sind, zu verschmelzen. Diese 81 82 83 84
Zu Einzelheiten siehe P. Cullen, The Schengen Agreement with Iceland and Norway, ERAForum 2 (2001), S. 71. EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079. Siehe hierzu E. Barbe, Justice et affaires intérieures dans l’Union européenne, 2002, S. 23. Dies gilt insbesondere für Irland und das Vereinigte Königreich, für deren common-lawSysteme Harmonisierungsbemühungen auf EU-Ebene besondere Herausforderungen darstellen können.
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Betonung von Kooperation statt Integration85 ist in den Vertragsbestimmungen selbst angelegt. Besonders stark ausgeprägt ist die Logik der Zusammenarbeit ist im Rahmen des Titels VI EU. Art. 29 EU definiert „gemeinsame Maßnahmen“ – und nicht etwa „gemeinsame Politiken“ – als das primäre Instrument zur Erreichung des Ziels eines hohen Maßes an Sicherheit. Europol und Eurojust, als vornehmliche neue Strukturen des RFSR, dienen ausdrücklich dem Ziel der „engeren Zusammenarbeit“ zwischen den einzelstaatlichen Behörden (Art. 29 EU), und der Vertrag sieht denn auch keine andere näher definierte Rolle oder Befugnis für diese Agenturen vor, als die betreffenden einzelstaatlichen Behörden zu „unterstützen“ und deren Koordination zu „erleichtern“ (Art. 30 Abs. 2 lit. a und Art. 31 Abs. 2 lit. a EU). Eine „Annäherung“ der Strafvorschriften soll nur „soweit dies erforderlich ist“ (Art. 29 EU) stattfinden und ist auf die „schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in den Bereichen organisierte Kriminalität, Terrorismus und illegaler Drogenhandel“ begrenzt (Art. 31 Abs. 1 lit. e EU). Um der Möglichkeit tieferer Eingriffe in die einzelstaatlichen Systeme noch wirksamer vorzubeugen, enthält der EU-Vertrag zwei weitere Schutzklauseln für die einzelstaatlichen Systeme: Art. 33 EU bestimmt, dass Titel VI EU „nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit [berührt]“, und gemäß Art. 35 Abs. 5 EU ist der Gerichtshof „nicht zuständig für die Überprüfung der Gültigkeit oder Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats oder der Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“. Gleichfalls dem Schutz der einzelstaatlichen Rechtssysteme dient offenkundig der Ausschluss der unmittelbaren Wirksamkeit von Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen im strafrechtlichen Bereich (Art. 34 Abs. 2 lit. b und lit. c EU). Das Risiko ungewollter Integrationsschritte reduzieren weiter die bereits erwähnte Einstimmigkeitserfordernis im Rat und die Beschränkung der Beteiligung des Parlaments auf die Anhörung, ebenso wie das – wie oben analysiert – strikt subsidiäre Konzept der Leitbegriffe „Sicherheit“ und „Recht“. Auch in den vergemeinschafteten Feldern des Titels IV EG gehört das Prinzip der Zusammenarbeit zu den Grundlagen. Obwohl es sich hier um Politikfelder der „Gemeinschaft“ handelt, sieht der Titel IV EG keinerlei „gemeinsame Politik“ wie in anderen Bereichen des EG-Vertrages vor. Der Gemeinschaft wird für keines dieser Felder eine generelle Zuständigkeit übertragen, und selbst in den recht ambitio85
„Integration“ wird hier – in sehr ähnlichem Sinne wie in der Definition der wirtschaftlichen Integration in B. Belassa, Towards a Theory of Economic Integration, Kyklos 14 (1961), S. 1 – mit der Bedeutung eines Prozesses zur Bildung eines neuen Systems durch die Verschmelzung zuvor getrennt existierender Systeme verwendet, im Unterschied zu „Kooperation“ als ein Prozess, in dessen Verlauf diese Systeme interagieren, aber wesentlich getrennt weiterbestehen.
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nierten Bestimmungen im Bereich Asyl beschränkt sich der Vertrag auf eine Auflistung der zu ergreifenden Maßnahmen. Die möglichen Auswirkungen auf die einzelstaatlichen Systeme sollen weiterhin durch eine Begrenzung auf Mindestregelungen reduziert werden, so etwa hinsichtlich der „Mindestnormen“ in der Asylund Flüchtlingspolitik (Art. 63 Nr. 1 und Nr. 2 EG) und der Maßnahmen im zivilrechtlichen Bereich zur „Vereinfachung“ der Zusammenarbeit und zur „Förderung der Vereinbarkeit der in den Mitgliedstaaten geltenden Kollisionsnormen und Vorschriften zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten (Art. 65 EG). Wie bereits erwähnt ist im Bereich des Titels IV EG auch das Einstimmigkeitserfordernis – das vielleicht wirksamste Instrument zu Blockierung unerwünschter Integration – für die beiden besonders sensiblen Bereiche der legalen Zuwanderung und des Familienrechts beibehalten worden. Wenn man einen kurzen Blick über die ‚geschriebene Verfassung‘ im Bereich des RFSR hinaus auf die ‚lebende‘ wirft, so lässt sich rasch feststellen, dass das Prinzip der Zusammenarbeit in letzterer gleichfalls bei weitem dominiert. Seit dem Europäischen Rat von Tampere von 1999, der die gegenseitige Anerkennung zum „Eckstein“ des „Raums des Rechts“ erhob hat,86 wurde bei den Maßnahmen im zivil- und strafrechtlichen Bereich in der Tat ein deutlicher Schwerpunkt bei der gegenseitigen Anerkennung gesetzt, die eine Methode zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Rechtssystemen darstellt, die zumindest im Ansatz keine Harmonisierung des materiellen Rechts und entsprechend tiefere Eingriffe in die einzelstaatlichen Systeme voraussetzt. Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich des Asylrechts sind der Zielvorgabe von „Mindestnormen“ im Sinne des Art. 61 EG so weit gefolgt, dass man in vielen Fällen bestenfalls von ‚minimalistischer‘ Harmonisierung sprechen kann, und im Bereich der Einwanderungspolitik ist ein umfassenderer ‚integrationistischer‘ Vorschlag der Kommission im Bereich der legalen Zuwanderung zu Arbeitszwecken vom Juli 200187 im Rat vollständig gescheitert und mittlerweile durch eine neue Strategie zur Koordinierung nationaler Politiken mit nur sektoraler und begrenzter Rechtsangleichung88 ersetzt worden. Ein weiterer Indikator ist die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten bislang den RFSR-Agenturen Europol, Eurojust und Frontex neben ihren Informationsaustausch-, Analyse- und Unterstützungsfunktionen keinerlei operative Befugnisse übertragen haben, diese vielmehr nach wie vor ausschließlich den einzelstaatlichen Behörden vorbehalten sind. 2. Die Kommission und der Gerichtshof als (begrenzte) Faktoren der Integration Aufgrund der Vielfalt einander widersprechender Interessen sowohl auf der EU- als auch der einzelstaatlichen Ebene ist die Union ein hochgradig dynamisches System, 86 87 88
Europäischer Rat, Tampere Programm (Fn. 15), Nr. 33. KOM(2001) 386. KOM(2005) 669.
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in dem vorherrschende Prinzipen – selbst wenn sie von verfassungsrechtlicher Bedeutung sind – nicht selten Herausforderungen und einem gewissen Wandel unterworfen sind. Dies gilt auch für die vorherrschende Logik der Zusammenarbeit im Bereich des RFSR. Die politisch weitgehendste Herausforderung für die Dominanz von Formen der (bloßen) Zusammenarbeit statt der Integration im Bereich des RFSR nach Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam ist von der Kommission unternommen worden. Im Juni 2006 schlug die Kommission formell vor, das Verfahren des Art. 42 EU (die Passerelle) zur Vergemeinschaftung der gegenwärtig im Bereich des Titels VI EU angesiedelten Felder (einschließlich Übergang zur Mitentscheidung durch das Parlament und qualifizierter Mehrheitsentscheidung im Rat) zu nutzen und zugleich – auf der Grundlage des Art. 67 Abs. 2 EG – auch den Bereich der legalen Zuwanderung unter das Mitentscheidungsverfahren zu ziehen sowie die Zuständigkeiten des Gerichtshofes vollauf in Einklang mit den im EG-Rahmen üblichen zu bringen.89 Dieser Vorschlag der Kommission ging hinsichtlich der Vergemeinschaftung (und in diesem Sinne hinsichtlich mehr Integration) über die Reformen des Vertrags von Lissabon insoweit noch deutlich hinaus, als er keinen der die einzelstaatlichen Interessen schützenden Sonderregelungen des Vertrages von Lissabon wie vor allem die ‚Notbremsen‘ der Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV im strafrechtlichen Bereich und die verbleibenden Einstimmigkeitserfordernisse vorsah (siehe oben, III. 4). Es kann kaum überraschen, dass dieser Vorschlag, der der einstimmigen Annahme durch die Mitgliedstaaten bedurft hätte, im Rat auf einigen dezidierten Widerstand stieß, darunter auch seitens der deutschen Regierung, die besorgt war, dass diese Initiative ihre Absicht unterminieren könnte, während der deutschen Präsidentschaft von 2007 den Verfassungsvertrag wiederzubeleben. Obwohl der Kommissionsvorschlag starke Unterstützung von der Finnischen Präsidentschaft von 2006, einer Mehrheit der Mitgliedstaaten und des Parlaments erhielt, wurde er im Dezember 2006 vom Europäischen Rat auf Eis gelegt und ist seitdem durch den Vertrag von Lissabon obsolet geworden. Da der Versuch der Kommission, eine größere verfassungsrechtliche Revision des RFSR im Sinne stärkerer Integration ohne Vertragsreform zu erreichen, 2006 gescheitert ist, erscheint der integrationsfördernde Einfluss des Gerichtshofs um so deutlicher. Einige Elemente der RFSR-bezogenen Rechtsprechung des Gerichtshofs, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, wurden in Abschnitt III. 3. bereits behandelt: Mit der Bekräftigung seiner Zuständigkeit zur Kontrolle von Maßnahmen im Bereich der dritten Säule hinsichtlich ihrer möglichen Auswirkungen auf den Besitzstand der ersten Säule und seiner übergreifenden Aufgabe der Wahrung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte hat der Gerichtshof das besonders im Bereich des Titels VI EU dominierende Prinzip der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zumindest einer gewissen integrativen richterlichen Kontrolle im Sinne der anerkannten Rechtsgrundsätze des Gemein89
KOM(2006) 331 und – hinsichtlich der Ausdehnung der Befugnisse des Gerichtshofs – KOM(2006) 346.
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schaftsrechts unterworfen. Doch hat der Gerichtshof noch eine Reihe von weiteren Grundsatzpositionen entwickelt, die zumindest teilweise ein Gegengewicht zur dominierenden Logik der Zusammenarbeit bilden. Eine dieser Positionen ergibt sich aus der Entscheidung des Gerichtshofes in der Rechtssache Pupino,90 die die rechtliche Wirkung eines Rahmenbeschlusses unter Titel VI EU betraf. Der Rahmenbeschluss91 sieht Maßnahmen zum Schutz besonders verwundbarer Opfer in Strafverfahren vor, in diesem Fall für Minderjährige. Das italienische Strafgesetzbuch (Codice Penale) enthielt zwar auch derartige Schutzbestimmungen, doch gingen diese weniger weit als die des Rahmenbeschlusses. Die Frage des vorlegenden italienischen Gerichts war daher, ob die italienischen Bestimmungen aufgrund der weitergehenden Schutzbestimmungen des Rahmenbeschlusses entsprechend erweitert ausgelegt werden müssten. Obwohl Art. 34 Abs. 2 lit. b EU die unmittelbare Wirksamkeit von Rahmenbeschlüssen ausdrücklich ausschließt, entschied der EuGH, dass „der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung in Bezug auf Rahmenbeschlüsse, die im Rahmen von Titel VI [EU] anzuwenden ist“ und dass „soweit das vorlegende Gericht das nationale Recht bei dessen Anwendung auszulegen hat, … es seine Auslegung so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses ausrichten [muss], um das mit ihm angestrebte Ergebnis zu erreichen“.92 Obwohl der Gerichtshof in seiner Entscheidung nicht so weit ging, das Bestehen unmittelbarer Wirksamkeit des Rahmenschlusses zu erklären – dies hätte zur einer Auslegung contra legem des betreffenden italienischen nationalen Gesetzes geführt –, hat der Gerichtshof mit seiner Argumentation die rechtliche Wirkung von Rahmenbeschlüssen im stark kooperativen Kontext des Titels VI EU dem mehr integrierten des EG-Rahmens angenähert. Tatsächlich entwickelte der Gerichtshof seine Position in dieser Frage denn auch in einem breiteren argumentativen Zusammenhang, indem er erläuterte, dass „unabhängig von dem durch den Vertrag von Amsterdam angestrebten Integrationsgrad bei der Verwirklichung einer immer engeren Union zwischen den Völkern Europas“ es „völlig verständlich“ sei, „dass die Verfasser des Vertrages über die Europäische Union es für angebracht hielten, im Rahmen von Titel VI dieses Vertrages den Rückgriff auf Rechtsinstrumente mit analogen Wirkungen wie im EG-Vertrag vorzusehen, um einen wirksamen Beitrag zur Verfolgung der Ziele der Union zu leisten“.93 Mit dieser Entscheidung hat der Gerichtshof die Notwendigkeit einer übergreifenden Uniformität der Wirkung von EU-Rechtsinstrumenten zur Erreichung der Ziele der Union bekräftigt, eine Logik der Effektivität, die im vorliegenden Fall der in die einzelstaatlichen Rechtssysteme so wenig wie möglich eingreifenden Logik der Zusammenarbeit für übergeordnet erachtet wurde.
90 91 92 93
EuGH, Rs. C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285. Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, ABl. 2001 L 82, S 1. EuGH, Rs. C-105/03 (Fn. 90), Rn. 43 f. Ebd., Rn. 36.
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Eine eher ‚integrative‘ als ‚kooperative‘ Logik in Bezug auf den RFSR hat der Gerichtshof auch in seiner Rechtsprechung zur Anwendung des ne bis in idem-Prinzips verfolgt, das zweifellos über eine verfassungsrechtliche Dimension verfügt. Das Verbot der Doppelbestrafung ist in Art. 54 des Übereinkommen vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Schengener Übereinkommens (SDÜ) vorgesehen, das 1999 in den EG/EU-Besitzstand eingegliedert wurde. Im seinem Urteil in den Rechtssachen Gözütok und Brügge,94 die ersten einer Reihe von Fällen zur Anwendung des Doppelbestrafungsverbots, erklärte der Gerichtshof grundsätzlich, dass Art. 54 SDÜ ein „gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme [impliziert] und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationales Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde“.95 Folglich könne die Anwendung des ne bis in idem-Grundsatzes durch einen Mitgliedstaat auch auf ein zum Strafklageverbrauch führendes Verfahren, das in einem anderen Mitgliedstaat ohne Mitwirkung eines Gerichts stattgefunden hat, nicht davon abhängen, dass dessen eigene Rechtsordnung keine solche richterliche Mitwirkung verlangt (siehe auch unten, VI. 3.). Mit dieser Entscheidung hat der Gerichtshof einem EU-rechtlich ausformulierten Prinzip, das von beträchtlicher Relevanz sowohl für den RFSR als auch die Rechte des Einzelnen ist,96 einen deutlich übergeordneten Stellenwert gegenüber den fortbestehenden Unterschieden zwischen den einzelstaatlichen Rechtssystemen zugewiesen und somit die Logik der Integration gegenüber der diese Unterschiede gewöhnlich schützenden Kooperation gestärkt. Im Licht der obigen Ausführungen erscheint der Gerichtshof eine zumindest leichte Korrektur des dominierenden Prinzips der Zusammenarbeit im Rahmen des RFSR zugunsten einer mehr integrierten Auslegung dieses „Raums“ fördern zu wollen. Im Hinblick auf die fortbestehenden starken Vorbehalte seitens der Mitgliedstaaten hinsichtlich weiterer Integrationsschritte – insbesondere im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen – ist dem Gerichtshof denn auch mehr Zurückhaltung nahegelegt worden,97 und der Gerichtshof kann natürlich nicht grundlegend die primär kooperative Ausrichtung sowohl der Verträge als auch der Politik der Mitgliedstaaten revidieren. Tatsächlich kann dem Gerichtshof auch keinesfalls eine systematisch pro-integrationistische Einstellung gegenüber dem RFSR unterstellt werden: In der erst kürzlich entschiedenen Rechtssache Advocaten voor de Wereld 98 hat der Gerichtshof das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung – ein Kernprinzip des 94 95 96
97 98
EuGH, verb. Rs. C-187/01 und C-385/01, Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I-1345. Ebd., Rn. 33. Zur Bedeutung und zu den Probleme dieser Entscheidung siehe die Besprechungen von J.A.E. Vervaele, CMLRev. 41 (2004), S. 795, Y. Gautier, Europe Nr. 4/2003, S. 10, und J. Vogel, Europäisches ne bis in idem, NJW 2003, S. 1173. Siehe G. Conway, Judicial Interpretation and the Third Pillar, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 13 (2005), S. 278. EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633.
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kooperativen Ansatzes im Rahmen des RFSR – gegen den Einwand verteidigt, dass dessen Anwendung einen höheren Grad an Harmonisierung voraussetze. Der EuGH wies das Argument, dass der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vom 13. Juni 2002 nicht den Anforderungen des Legalitätsprinzips in Strafsachen genüge, da er keine Straftaten mit ausreichend klarem und bestimmtem normativen Inhalt definiere, ab: Der Rat habe „auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung und angesichts des hohen Maßes an Vertrauen und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten davon ausgehen [können], dass die betroffenen Arten von Straftaten entweder bereits aufgrund ihrer Natur oder aufgrund der angedrohten Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren zu den Straftaten gehören, bei denen es aufgrund der Schwere der Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt ist, nicht auf der Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zu bestehen.“99 Der Gerichtshof akzeptierte damit, dass „Vertrauen und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ zumindest im vorliegenden Fall eine weitergehende Harmonisierung der einzelstaatlichen Vorschriften ersetzen können, eine Position, die eindeutig mehr der Logik der Zusammenarbeit als der der Integration entspricht. 3. Die Beibehaltung der Logik der Zusammenarbeit im Vertrag von Lissabon Der Vertrag von Lissabon setzt die Dominanz des Prinzips der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fort. Art. 67 Abs. 1 AEUV unterwirft den RFSR der „Achtung“ der „verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten“, eine zusätzliche Absicherung gegenüber integrativen Maßnahmen, die zu ungewünschten tieferen Eingriffen in nationale Rechtsordnungen und -traditionen führen könnten. Wie erwähnt, verpflichtet Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss. die Union auch zur Achtung der „grundlegenden Funktionen des Staates“ im Bereich der „nationalen Sicherheit“, die „weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten [fällt].“ In den Bereichen der polizeilichen und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen wird statt „gemeinsamer Politik“ nach wie vor systematisch der Begriff der „Zusammenarbeit“ verwendet (Art. 82–85 AEUV), die Beschränkung auf „Mindestvorschriften“ im strafrechtlichen Bereich ist beibehalten (Art. 83 AEUV), es ist nach wie vor die primäre Rolle von Europol und Eurojust, die Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Behörden „zu unterstützen und zu verstärken“ (Art. 85 Abs. 1 und Art. 88 Abs. 1 AEUV), der Schutz der Aufgaben der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit bleibt uneingeschränkt erhalten (Art. 72 AEUV), und der Gerichtshof verfügt nach wie vor über keine Zuständigkeit hinsichtlich der Wahrnehmung dieser Zuständigkeiten durch einzelstaatliche Behörden (Art. 276 AEUV). In den bereits zuvor vergemeinschafteten Feldern Asyl und Einwanderung führt der neue Vertrag zwar den Begriff der „gemeinsamen
99
Ebd., Rn. 57.
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Politik“ ein, definiert aber nach wie vor nur eine Liste von zu ergreifenden Maßnahmen, keine allgemein gefasste Zuständigkeit der Union. Die einzige Entwicklung in Richtung auf einen mehr integrativen Ansatz ist die Streichung der Art. 34 Abs. 2 lit. b und lit. c EU mit ihrem Ausschluss der unmittelbaren Wirksamkeit für die betreffenden Rechtsakte des Titels VI EU. Diesbezüglich ist allerdings anzumerken, dass die einer Logik der notwendigen Effektivität von EU-Rechtsakten folgenden Entscheidung des EuGH in Pupino (siehe oben) diesen Ausschluss zumindest teilweise bereits aufgeweicht hatte und dass dieser Ausschluss angesichts der formellen Aufhebung der Säulenteilung und der künftigen Einheitlichkeit der anwendbaren rechtlichen Instrumente ohnehin schwer aufrechtzuerhalten gewesen wäre. Während der Vertrag von Lissabon hier durchaus einer Logik der größeren Effektivität zu folgen scheint, enthält er ansonsten kaum Elemente, die das Prinzip der Integration gegenüber dem der Zusammenarbeit zwischen in ihrem rechtlichen Bestand weitgehend geschützten einzelstaatlichen Systemen stärken könnten. Die Frage, ob die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten als das dominierende Prinzip des RFSR ausreicht, um die recht ambitionierten Ziele der Union hinsichtlich dieses grundlegenden Vertragsziels zu erreichen, liegt außerhalb der Thematik dieses Beitrags. Es kann allerdings kein Zweifel daran bestehen, dass diese Dominanz den RFSR verfassungsrechtlich prägt und von anderen, enger integrierten Politikbereichen, wie etwa der gemeinsamen Wettbewerbs- oder der Handelspolitik, unterscheidet. Die Tatsache, dass es sich bei dem RFSR wesentlich um einen Raum der Zusammenarbeit handelt, hat auch Auswirkungen auf die Stellung des Einzelnen.
VI. Die Stellung des Einzelnen in einem Raum zusammenarbeitender Mitgliedstaaten 1.
Der Einzelne als passiver Begünstigter des RFSR
Auf der Grundlage der vorangegangenen Ausführungen wird deutlich, dass die Union ihren Bürgern100 den RFSR im Sinne des Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss. wesentlich durch die Erleichterung und Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten „bietet“. Dies entspricht vollkommen der rein subsidiären Rolle, die der Union im Bereich des RFSR zugewiesen ist, dies insbesondere in dem sensiblen Feld der inneren Sicherheit, in dem die Zuständigkeiten und die Autonomie der Mit100
Die Verwendung des Begriffs „ihre[n] Bürger[n]“ impliziert eine klare Trennung zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen als potenziell Begünstigte des RFSR. Die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen erstreckt sich aber auf Unionsbürger und Drittstaatsangehörige gleichermaßen (Art. 62 Abs. 1 EG), und der neue Art. 61 Abs. 2 AEUV sieht vor, dass die gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen „gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist“ (die englische Fassung geht mit „fair treatment“ von Drittstaatsangehörigen sprachlich noch einen kleinen Schritt weiter).
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gliedstaaten in sehr umfassender Form geschützt sind (Art. 33 EU; Art. 72 AEUV). Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Beseitigung von Hindernissen für die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten – die sich primär aus den fortbestehenden Grenzen und Unterschieden zwischen den einzelstaatlichen Systemen ergeben – für den einzelnen Bürger einen echten Mehrwert bedeuten können, dies vor allem hinsichtlich der in den Verträgen ausdrücklich genannten öffentlichen Güter der Sicherung des freien Personenverkehrs über die Binnengrenzen hinweg, der Gewährleistung eines hohen Maßes an innerer Sicherheit und der Erleichterung des Zugangs zum Recht (siehe oben, II. 1.). In diesem Sinne ist der Einzelne auch der hauptsächliche Begünstigte des RFSR, obwohl die meisten der angenommenen Maßnahmen nicht ihn unmittelbar, sondern die Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Behörden betreffen. Die kooperative Logik, auf die sich der RFSR bislang primär gründet, bedeutet auch, dass der Mehrwert, den der RFSR dem Einzelnen bringt, nach wie vor im Wesentlichen durch die Mitgliedstaaten auf dem Wege ihrer erleichterten und intensivierten Zusammenarbeit erbracht wird – und nicht unmittelbar durch die Union und ihre Strukturen. Dies reduziert erheblich das Potenzial der Union, durch den RFSR unmittelbar an Output-Legitimation zu gewinnen, da sichtbare Gewährleister für den Bürger primär die Behörden der Mitgliedstaaten bleiben. Zudem verbleibt der Einzelne ein passiver Begünstigter in dem Sinne, als ihm der RFSR und seine Vorteile „geboten“ werden, ohne dass er diese allerdings als individuelle Rechte einfordern könnte. Tatsächlich enthält weder der Titel IV EG noch der Titel VI EU (und ebenso wenig der neue Titel V AEUV) irgendeine Bestimmung, die unmittelbar einklagbare Rechte des Einzelnen begründen würden.101 Die Bestimmung, die einem solchen Recht am nächsten kommt, ist Art. 62 Abs. 1 EG (Art. 67 Abs. 2 AEUV), dem zufolge die Union die Abwesenheit von Personenkontrollen an den Binnengrenzen „sicherstellt“, aber diese Sicherstellung ist nicht als Individualrecht ausformuliert, unterliegt den ordre-public-Klauseln der Art. 64 Abs. 1 EG und Art. 33 EU (Art. 72 AEUV) und wird durch die im Schengener Grenzkodex102 vorgesehenen – allerdings an eine Reihe von Bedingungen gebundenen – Ausnahmemöglichkeiten teilweise eingeschränkt. Als uneingeschränkt einklagbares Individualrecht kann das kontrollfreie Überqueren der Binnengrenzen daher nicht betrachtet werden, und ebensowenig wird es dem Bürger der Union möglich sein, das in Aussicht gestellte (und nicht weiter definierte) „hohe Maß an Sicherheit“ oder den „erleichterten Zugang zum Recht“ als Individualrechte einzuklagen. Der in Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss. gewählte Begriff, dass die Union den RFSR dem Bürger „bietet“, beschreibt die Stellung des Einzelnen im Rahmen des RFSR daher recht treffend, indem dessen rein passive Stellung, als Empfänger von hoheitlichen 101 102
Siehe hierzu P.-Ch. Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, 2005, S. 11 (21). Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. 2006 L 105, S. 1.
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Wohltaten herausgestellt wird. Es handelt sich hier um einen Begriff, der einen in kurioser Weise an die Gewährung königlicher Gnade an die Untertanen im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus erinnert. Eine solche Assoziation erscheint umso mehr gerechtfertigt, als sich der Europäische Rat, der auch im neuen Rahmen des Vertrages von Lissabon außerhalb der normalen rechtlichen und politischen Kontrollmöglichkeiten der Verträge verbleibt und daher – wie bisher – „ähnlich wie der König in den konstitutionellen Regimen des 19. Jahrhunderts … unverantwortlich“ ist,103 das Recht vorbehalten hat, „die strategischen Leitlinien für die gesetzgeberische und operative Programmplanung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts fest[zulegen]“ (Art. 68 AEUV). 2. Zwei versäumte Gelegenheiten: Die Charta der Grundrechte und die Unionsbürgerschaft Aufgrund der bislang im RFSR vorherrschenden Zielsetzungen hinsichtlich der inneren Sicherheit und der daraus resultierenden ‚Sekuritarisierung‘ wird dem RFSR oft ein mangelndes Gleichgewicht zwischen Sicherheit einerseits und der Gewährleistung der Rechte des Einzelnen andererseits angelastet.104 Die restriktive Ausrichtung von EU-Maßnahmen im Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik – oft unter dem Stichwort „Festung Europa“ Gegenstand der Kritik – trägt das ihrige zu einem Erscheinungsbild des RFSR bei , in dem der Schwerpunkt statt bei „Freiheit“ und „Recht“ bei repressiven Maßnahmen liegt.105 Derartige kritische Bewertungen versäumen es zumeist, den RFSR im Kontext der einzelstaatlichen Politiken in den Bereichen Inneres und Justiz zu betrachten, die in vielen Fällen deutlich repressivere Formen annehmen und noch tiefer in die Rechte des Einzelnen eingreifen106 als RFSR-bezogene Maßnahmen auf EU-Ebene, die sich zudem kaum von den Zielen der Mitgliedstaaten abkoppeln lassen. Dennoch hat die Kritik zumindest teilweise ihre Berechtigung, sodass es umso bedauerlicher erscheint, dass zwei Gelegenheiten versäumt wurden, verfassungsrechtlich ein besseres Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Rechten des Einzelnen herzustellen. Einer dieser Gelegenheiten ist anlässlich der rechtlichen Kodifizierung der Charta der Grundrechte durch den Vertrag von Lissabon versäumt worden.107 Ob103 104 105
106
107
Eine von A. von Bogdandy verwendete, höchst treffende Formulierung, in diesem Band, S. 44. So etwa nachdrücklich S. Lavenex/W. Wagner, Which European Public Order?, European Security 16 (2007), S. 225. Diese kritische Sicht ist jüngst in ausführlicher Weise und aus verschiedenen Blickwinkeln entwickelt worden in H. Toner u.a. (Hrsg.), Whose Freedom, Security and Justice?: EU Immigration and Asylum Law and Policy, 2007. Ein Beispiel unter vielen ist der britische Anti-Terrorism, Crime and Security Act von 2001, der dem britischen Innenminister ermöglichte, ausländische Staatsangehörige in Erwartung ihrer Abschiebung unbegrenzt und ohne Prozess in Sicherheitsverwahrung zu nehmen (nach seiner Verwerfung durch das House of Lords am 16. Dezember 2004 mittlerweile ersetzt durch den Prevention of Terrorism Act von 2005). Siehe hierzu J. Kühling in diesem Band, S. 666 ff.
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wohl einige der Rechte der Charta von unmittelbarer Bedeutung für den RFSR sind (siehe unten, VI. 3.), enthalten die Vertragsbestimmungen zum RFSR keinerlei direkten Bezug zur Charta oder einer ihrer Bestimmungen. Der Hinweis in Art. 67 Abs. 1 AEUV, dass im Rahmen des RFSR „die Grundrechte … geachtet werden“ hätte kaum vager formuliert und in dieser Form auch ohne die Existenz der Charta eingeführt werden können. Hier ist eindeutig die Gelegenheit versäumt worden, die Rechte der Charta zu einem integralen Bestandteil des RFSR als grundlegendes Vertragsziel zu machen, mit direkten Bezügen auf bestimmte Rechte der Charta, wo immer dies in den operativen Bestimmungen des Titels V Dritter Teil AEUV sinnvoll wäre. Dies hätte zumindest verfassungsrechtlich die Komponenten „Freiheit“ und „Recht“ des RFSR erheblich gestärkt. Die andere versäumte Gelegenheit betrifft die Unionsbürgerschaft.108 Im Hinblick darauf, dass die Union gemäß Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss. den RFSR formell ihren Bürgern „bietet“, erscheint es bezeichnend für die geringe Bedeutung, die in der jüngsten Runde der Vertragsreformen dem Status der Unionsbürgerschaft beigemessen wurde, dass in Art. 20 AEUV keinerlei Bezug auf das hergestellt wird, was den Unionsbürgern im Rahmen des RFSR „geboten“ wird. Ein nicht weniger offenkundig fehlendes Bindeglied ist das zwischen den RFSR-Bestimmungen zur Freizügigkeit und zur Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen (Art. 3 Abs. 2 EUV-Liss, Art. 67 Abs. 2 und Art. 77 Abs. 1 lit. a AEUV) und dem Unionsbürgerrecht auf Freizügigkeit gemäß Art. 20 Abs. 2 lit. a AEUV (gegenwärtig Art. 18 Abs. 1 EG). Hier ist im Hinblick auf den RFSR als bedeutendes Verfassungsziel die Gelegenheit versäumt worden, diesem durch Bezugnahme auf das, was ihnen die Union als Teil ihrer Unionsbürgerschaft bietet, eine weitere positive, nicht-sekuritäre und nicht-repressive Dimension zu verleihen. 3. Der Schutz der Rechte des Einzelnen Der Unionsbürger mag der primäre Begünstigte des RFSR sein, er kann aber auch potenziell zu einem seiner Opfer werden. Maßnahmen im Bereich des RFSR können ohne Zweifel Rechte von Einzelnen in sehr viel intensiverer Form berühren als beispielsweise wirtschaftliche Regelungen im Bereich des Binnenmarkts. Der RFSR umfasst in seinem potenziellen Maßnahmenbereich immerhin einige der stärksten Formen staatlicher Machtausübung gegenüber dem Einzelnen, wie etwa Verhaftung, Gefängnisstrafen, das Einfrieren von Vermögenswerten und die Speicherung und Auswertung von persönlichen Daten. Dies gilt auch für Drittstaatsangehörige, die – als Asylsuchende oder illegale Einwanderer – der restriktiven Seite der EU-Asyl- und Einwanderungspolitik (reduzierte Verfahrensgarantien bei „offensichtlich unbegründeten Asylanträgen“, Rückführungsabkommen mit Drittstaaten usw.) ausgesetzt sein können. Die möglichen Risiken hinsichtlich der Wahrung der Rechte des Einzelnen werden durch die Tatsache erhöht, dass der RFSR wesentlich ein Raum der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bleibt, der nach 108
Zur Unionsbürgerschaft allgemein S. Kadelbach in diesem Band.
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wie vor durch erhebliche Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtssystemen und Strukturen gekennzeichnet ist, die in vielen Bereichen keine oder nur geringe gemeinsame Mindeststandards gewährleisten. Die Frage nach dem Schutz der Rechte des Einzelnen ist daher im Falle des RFSR von besonderer Bedeutung. Der RFSR ist mit der Union als Ganzes an die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 und 2 EU mit den Bezügen auf die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gebunden. Diese Bindung wird durch Art. 6 EUV-Liss. mit dem Hinweis auf die nunmehr rechtsverbindliche Charta der Grundrechte und den beabsichtigten Beitritt zur EMRK weiter verstärkt. In Bezug auf finanzielle und andere vermögenswertbezogene Sanktionen, die mutmaßlichen Terroristen und terroristischen Vereinigungen auferlegt wurden (siehe oben, III. 3.), hat der Gerichtshof in Gestoras pro Amnestía und Segi keinen Zweifel daran gelassen, dass sowohl die Organe der Union als auch – im Falle der Anwendung von EU-Recht – die Mitgliedstaaten der richterlichen Kontrolle hinsichtlich der Vereinbarkeit ihrer Maßnahmen mit der Beachtung der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte unterworfen sind, und dies auch dann, wenn – wie gegenwärtig im Bereich des Titels VI EU – der Vertrag eine solche Kontrolle nicht in ausdrücklich vorsieht.109 Die umstrittenen ‚Terroristenlisten‘ der Union, die für die darin Aufgeführten erhebliche Konsequenzen über die Einfrierung ihrer Vermögenswerte hinaus haben können,110 haben den EU-Richtern Gelegenheit gegeben, zumindest einige Elemente des Individualrechtsschutzes gegenüber Maßnahmen der EU-Organe zu Zwecken der inneren Sicherheit weiterzuentwickeln. In drei jüngst entschiedenen Fällen – Modjahedines, Sison und Al-Aqsa111 – hat das Gericht erster Instanz drei vom Rat auf der Grundlage der EG-Verordnung 2580/2001112 erlassene Beschlüsse zur Einfrierung der Vermögenswerte der Betroffenen wegen ihrer unzureichenden Begründung und mangels Möglichkeit der Betroffenen, zu den ihnen zur Last gelegten Umständen Stellung zu nehmen, für teilweise nichtig erklärt. Unter Hinweis auf die Notwendigkeit, einen Ausgleich zwischen dem Schutz der in den Listen Aufgeführten und den Erfordernissen der Terrorismusbekämpfung herzustellen, erkannte das Gericht zwar das Recht des Rates an, derartige Sanktionen auf vorläufiger Basis ohne Anhörung des Betroffenen zu verhängen,113 stellte aber auch die Verpflichtung des Rates fest, zur Wahrung der Verteidigungsrechte den Betroffenen – entweder gleichzeitig mit oder so bald wie möglich nach Annahme der ursprünglichen Entscheidung – in klarer und unmissverständlicher Weise die Gründe für die Sanktio109
110 111 112 113
EuGH, Rs. C-354/04 P und Rs. C-355/04 P (Fn. 54), jew. insb. Rn. 51 und 53. Zur Bedeutung für den richterlichen Schutz im Bereich des Titels VI EU siehe U. Haltern, Rechtsschutz in der dritten Säule der EU, JZ 2007, S. 772. Siehe hierzu F. Meyer/J. Macke, Rechtliche Auswirkungen der Terroristenlisten im deutschen Recht, HRRS Nr. 12/2007, S. 445, unter www.hrr-strafrecht.de. EuG, Rs. T-228/02 (Fn. 49); Rs. T-47/03, Sison/Rat, Slg. 2007, I-73; Rs. T-327/03, Stichting Al-Aqsa/Rat, Slg. 2007, II-79. Oben bei Fn. 50. EuG, Rs. T-228/02 (Fn. 49), Rn. 128; Rs. T-47/03 (Fn. 111), Rn. 174 f.
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nen mitzuteilen und die Möglichkeit zu rechtlichem Gehör zu gewähren.114 Das Gericht bemängelte nicht nur, dass es den Betroffenen unmöglich gemacht worden sei, gegenüber dem Rat zu den ihnen zur Last gelegten Umständen sachgerecht Stellung zu beziehen, sondern auch, dass es ihnen mangels Erklärung der Gründe für die Ratsentscheidung auch unmöglich gemacht worden sei, ihre Klage vor dem Gericht sachgerecht zu führen – aufgrund des Zusammenhanges zwischen der Gewährleistung der Verteidigungsrechte, der Begründungspflicht und dem Anspruch auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsbehelf.115 Die Notwendigkeit, Eingriffe in die Rechte von Einzelnen zu Zwecken der inneren Sicherheit zumindest ausreichend zu begründen, ist auch vom EuGH in der Rechtssache C-503/03 bekräftigt worden.116 Auf Antrag der Kommission entschied der Gerichtshof darin, dass Spanien durch seine wiederholte Verweigerung des zur Einreise erforderlichen Schengen-Visums für zwei algerische Staatsangehörige gegen seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen hat. Deutschland hatte diese gemäß Art. 96 SDÜ aus Gründen der nationalen Sicherheit und Ordnung zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben.117 Die beiden Betroffenen, Herr Farid und Herr Bouchair, verfügten aufgrund ihres Status als Ehegatten von Unionsbürgern nach den geltenden gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeits-Regelungen das Recht, in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und den dazu erforderlichen Sichtvermerk zu erhalten. Zwar sah auch die betreffende Richtlinie ein mögliches Verbot der Einreise aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit vor,118 aber der Gerichtshof führte unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung aus, dass einer solchen Begründung enge Grenzen gesetzt seien und in jedem Einzelfall sichergestellt werden müsste, „dass außer der sozialen Störung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“.119 Der Beschluss der spanischen Behörden, den Sichtvermerk (und damit die Einreise) zu verweigern, sei aber nur auf die bloße Tatsache der durch Deutschland vorgenommenen Auflistung im SIS gegründet gewesen, die „ein Indiz für das Vorliegen eines Grundes“ darstelle, aber 114 115 116 117
118
119
EuG, Rs. T-228/02 (Fn. 49), Rn. 91, 138 und 173; Rs. T-47/03 (Fn. 111), Rn. 141 und 226; Rs. T-327/03 (Fn. 111), Rn. 65. Ebd., Rn. 165, Rn. 219 bzw. Rn. 64. EuGH, Rs. C-503/03, Kommission/Spanien, Slg. 2006, I-1097. Nach Art. 96 Abs. 2 SDÜ können derartige Ausschreibungen „auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale Sicherheit, die die Anwesenheit eines Drittausländers auf dem Hoheitsgebiet der Vertragspartei bedeutet, gestützt werden“, was etwa bei Drittausländern, die wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden sind oder der Planung schwerer Straftaten verdächtigt werden, der Fall sein kann (Art. 96 Abs. 2 lit. a SDÜ), aber auch ‚nur‘ wegen der Nichtbeachtung des nationalen Rechts über die Einreise oder den Aufenthalt von Ausländern (Art. 96 Abs. 3 SDÜ). Art. 2 der Richtlinie 64/221/EWG zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, ABl. 1964 Nr. 56, S. 850. EuGH, Rs. C-503/03 (Fn. 116), Rn. 48.
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nicht die notwendige sorgfältige Prüfung, „ob ihre Anwesenheit eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellte“, ersetzen könne, sodass im vorliegenden Fall die spanischen Behörden ihren gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nicht genügt hätten.120 Der Schutz der Recht des Einzelnen seitens des Gerichtshofs vor möglichen Verletzungen durch Maßnahmen der Union im Bereich der inneren Sicherheit hat jedoch seine Grenzen. Zwar hat das Gericht erster Instanz in den bereits erwähnten Rechtssachen Modjahedines, Sison und Al-Aqsa die Ratsbeschlüsse zur Einfrierung der Vermögenswerte der Betroffenen aus Mangel an Begründung und Gewährung eines effektiven rechtlichen Gehörs für nichtig erklärt, aber die betreffenden Nichtigerklärungen betreffen nur die gemeinschaftsrechtlichen Einfrierungsbeschlüsse und nicht die ursprüngliche Gemeinsame Maßnahme des Rates auf der Grundlage von Art. 15 (GASP) und 34 EU (RFSR), die hierdurch umgesetzt wird und ihrerseits auf die Resolution 1373(2001) des UN-Sicherheitsrats121 beruht. In Modjahedines hat das Gericht deutlich gemacht, dass die obengenannten Beeinträchtigungen der Verteidigungsrechte nur deshalb als Grundlage für die Nichtigerklärung dienen kann, weil die Identifizierung der in der genannten Resolution des UN-Sicherheitsrats genannten Personen, Vereinigungen und Einrichtungen und die anschließenden Einfrierungsbeschlüsse „in Ausübung einer eigenen Befugnis aufgrund einer Ermessensentscheidung der Gemeinschaft erfolgen“, sodass entsprechend alle gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien anzuwenden seien.122 Das Gericht hat in diesem Zusammenhang ausdrücklich das „weite Ermessen“ des Rates „bei der Beurteilung der Umstände, die bei der Verhängung von wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen“ anerkannt, und erklärt, dass sich der „Gemeinschaftsrichter insbesondere nicht seine Beurteilung der Beweise, Tatsachen und Umstände, die der Verhängung solcher Sanktionen zugrunde liegen, an die Stelle der Beurteilung des Rates setzen darf“. Folglich müsse „sich die Rechtmäßigkeitskontrolle der Beschlüsse über das Einfrieren von Geldern durch das Gericht auf die Prüfung beschränken, ob die Verfahrensvorschriften und die Begründungspflicht beachtet worden sind, der Sachverhalt richtig ermittelt wurde und kein offensichtlicher Fehler in der Beurteilung der Tatsachen oder Ermessensmissbrauch vorliegt“.123 Damit wird dem Rat ein recht breiter Ermessensspielraum hinsichtlich der Ausschreibung von Einzelnen in den EU-‚Terroristenlisten‘ belassen. Im Falle der Ausschreibung als angeblicher Terrorist durch den UN-Sanktionsausschuss verbleibt dem Einzelnen aufgrund der durch das Gericht anerkannter Vorrangwirkung des UN-Rechts gegenwärtig offenbar keinerlei Rechtsbehelf im Rahmen der EU-Rechtsordnung. Das Gericht erster Instanz hat sich nicht nur in den gerade genannten Fällen als recht zögerlich erwiesen, die Begründetheit von Sanktionen, die der Rat Einzelnen 120 121 122 123
Ebd., Rn. 54 f.; dieser Fall zeigt Spannungslinien zwischen der restriktiven Ausrichtung der Schengen-Grenz- und Einreiseregeln und den EG-Freizügigkeitsrechten auf. UN Doc. S/RES/1373 (2001). EuG, Rs. T-228/02 (Fn. 49), Rn. 107. Ebd., Rn. 159; ähnlich in Rs. T-47/03 (Fn. 111), Rn. 206.
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gegenüber verhängt hat, zu überprüfen. In zwei früheren Rechtssachen – Yusuf und Kadi 124 – hatte sich das Gericht unter Hinweis auf die rechtliche Vorrangigkeit der Resolution des UN-Sicherheitsrats, die die Ausschreibung der Betroffenen als Terroristen zum Zweck der Einfrierung ihres Vermögens vorsah, gar nicht erst auf eine Prüfung der Begründungslage eingelassen, was zu einigen sehr kritischen Kommentaren geführt hat.125 In den zwei unmittelbar nachfolgenden Rechtssachen – Ayadi 126 und Hassan 127 – wies das Gericht die Nichtigkeitsklagen gegen die erlassenen Sanktionen gleichfalls ab, diesmal allerdings unter Hinweis auf die Verantwortung der Mitgliedstaaten einen ausreichenden Schutz der Rechte der Betroffenen im Rahmen ihrer jeweiligen Rechtssysteme sicherzustellen, der gegebenenfalls auch Bemühungen um eine Streichung ihrer Namen aus der Liste des UN-Sanktionsausschusses einschließen sollte. Eine weniger zurückhaltende Position hinsichtlich des Schutzes der Rechte des Einzelnen im Rahmen des RFSR hat der Gerichtshof bezüglich des Verbots der Doppelbestrafung (ne bis in idem) eingenommen, das als wesentliches Recht des Einzelnen in der Herausbildung des EU-„Raums des Rechts“ begriffen werden kann. In dem schon erwähnten Urteil Gözütök und Brügge128 entschied der Gerichtshof zugunsten einer weiten Auslegung des in Art. 54 SDÜ formulierten Verbots der Doppelbestrafung, indem er dieses auch auf zum Strafklageverbrauch führende Verfahren, in denen kein Gericht tätig wird und die nicht in Form eines Urteils enden, für anwendbar erklärte. In beiden Fällen hatte nach Auffassung des Gerichtshofes die Einstellung des Strafverfahrens durch die zuerst tätig werdende Staatsanwaltschaft eines der betroffenen Mitgliedstaaten129 nach Entrichtung einer von der Staatsanwaltschaft festsetzten Geldbuße durch den jeweiligen Beklagten einen vollen Strafklageverbrauch zur Folge, der eine Strafverfolgung wegen derselben Delikte (Drogenhandel im ersten Fall, Körperverletzung im zweiten) in den beiden anderen betroffenen Mitgliedstaaten130 ausschloss. Die Entscheidung des EuGH bewahrte beide Beklagte vor einem höheren Strafmaß in den letztgenannten Mitgliedstaaten – Herrn Gözütök, dessen Geldbuße in der Niederlanden 3.500 Gulden betragen hatte, sogar vor einer Gefängnisstrafe. Der Gerichtshof begründete seine Entscheidung insbesondere damit, dass es das Ziel des Art. 54 SDÜ sei zu verhindern, dass eine Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat in mehreren Mitgliedstaaten verfolgt wird. Dieses Ziel 124 125
126 127 128 129 130
EuG, Rs. T-306/01, Yusuf/Rat und Kommission, Slg. 2005, II-3533; Rs. T-315/01, Kadi/Rat und Kommission, Slg. 2005, II-3649. Etwa D. Simon/F. Mariatte, Le Tribunal de première instance des Communautés: Professeur de droit international, Europe 2006, S. 6, und H. Labayle, Architecte ou spectatrice, la Cour de justice de l’Union dans l’espace de liberté, sécurité et justice, Revue trimestrielle de droit européen 2006, S. 38. Näher R. Uerpmann-Wittzack, in diesem Band, S. 211 ff. EuG, Rs. T-253/02, Ayadi/Rat, Slg. 2006, II-2139. EuG, Rs. T-49/04, Hassan/Rat und Kommission, Slg. 2006, II-52. EuGH, verb. Rs. C-187/01 und C-385/01 (Fn. 94). Die Niederlande im ersten Fall, Deutschland im zweiten. Deutschland im ersten Fall, Belgien im zweiten.
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könne nur dann vollständig verwirklicht werden, wenn Art. 54 SDÜ auch auf Entscheidungen anwendbar sei, mit denen die Strafverfolgung in einem Mitgliedstaat endgültig beendet wird, auch wenn sie ohne Mitwirkung eines Gerichts und nicht in Form eines Urteils ergehen.131 In Van Straaten entschied der Gerichtshof auf ähnlicher Argumentationsgrundlage, und wiederum unter Hinweis auf das Recht auf Freizügigkeit, dass Art. 54 SDÜ auch auf Freisprüche aus Mangel an Beweisen anwendbar sei.132 Diese Urteile sind mit einem gewissen Recht als Schritte auf dem Wege einer Weiterentwicklung des Doppelbestrafungsverbots zu einem „transnationalen Menschenrecht“ gesehen worden.133 Einschränkend anzumerken ist allerdings, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung bislang das ne bis in idem argumentativ nur mit dem Recht der Freizügigkeit verbunden und nicht in einem breiteren grundrechtlichen Zusammenhang interpretiert hat.134 Der Vertrag von Lissabon stärkt die Position des Gerichtshofs im Bereich des RFSR. Als Folge der Aufhebung der Säulentrennung wird das Vorabentscheidungsverfahren – mit der erwähnten Beschränkung während des fünfjährigen Übergangszeitraums – auch in den Bereichen der dritten Säule für alle Mitgliedstaaten verbindlich. Zugleich entfällt gemäß Art. 267 AEUV die gegenwärtig auf die Materien der ersten Säule im Bereich des RFSR anwendbare Beschränkung der Einleitung von Vorabentscheidungsverfahren auf letztinstanzliche nationale Gerichte sowie auch der auf die dritte Säule anwendbare Ausschluss von Entscheidungen des Gerichtshofes zu primärrechtlichen Fragen. Damit werden die Schutzmöglichkeiten der Rechte des Einzelnen im Bereich des RFSR gestärkt. Noch bedeutsamer ist die durch Artikel 263 Abs. 4 AEUV erweiterte und nunmehr auf alle Bereiche des RFSR ausgedehnte Möglichkeit der Einleitung von Nichtigkeitsklagen durch natürlichen oder juristischen Person gegen an sie gerichtete oder sie unmittelbar und individuell betreffende Handlungen der Einrichtungen der Union sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter. Diese Erweiterung der Klagemöglichkeiten von Einzelnen ist nicht zuletzt auch als notwendige Antwort auf die im Zusammenhang mit den Terroristenlisten offenkundig gewordenen Rechtsschutzlücken im Bereich der dritten Säule zu werten. Die rechtsverbindliche Eingliederung der Charta der Grundrechte durch den Vertrag von Lissabon wird den Rahmen für den Schutz der Rechte des Einzelnen 131 132
133 134
Ebd., Rn. 38. EuGH, Rs. C-150/05, Van Straaten, Slg. 2006, I-9327, Rn. 57–61. Zur Verbindung mit dem Recht auf Freizügigkeit siehe auch Rs. C-436/04, Van Esbroeck, Slg. 2006, I-2333, Rn. 34, wo der Gerichtshof erklärt hat, dass das „Recht auf Freizügigkeit nur dann effektiv gewährleistet (wird), wenn der Urheber einer Handlung weiß, dass er sich, wenn er in einem Mitgliedstaat verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Gebiet bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Mitgliedstaat deshalb verfolgt wird, weil diese Handlung in der Rechtsordnung des letztgenannten Mitgliedstaats einen unterschiedlichen Verstoß darstellt“. Siehe auch H. Kühne, ‘Ne bis in idem im Gemeinschaftsrecht’, JZ 2006, S. 1019. J. Vervaele, The Transnational ne bis in idem Principle in the EU, Utrecht Law Rev. 1 (2005), S. 117. Siehe hierzu V. Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl, 2007, S. 94.
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durch – und wann immer notwendig auch gegen – die Organe und Agenturen im Rahmen des RFSR stärken. Dies gilt insbesondere für einige RFSR-Materien von bislang geringerer Schutzdichte hinsichtlich der Tätigkeit von EU-Organen und -Strukturen. So stellt beispielsweise die recht umfassende Formulierung des Rechts auf den Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 der Charta) im Hinblick auf die Proliferation von EU-Datenaustausch und -analysesystemen (SIS II, Europol, Eurodac, VIS usw.) und die sich rasch entwickelnde Zusammenarbeit mit Drittstaaten im Bereich des Datenaustauschs (ein Beispiel ist das Europol-USA Abkommen vom 20. Dezember 2002, das den Austausch von personenbezogenen Daten vorsieht135) fraglos einen Fortschritt für den Rechtsschutz auf EU-Ebene dar.136 Von beträchtlicher Bedeutung für den RFSR sind auch die justiziellen Rechte in Kapitel VI der Charta. Die Charta geht unter anderem durch die Aufnahme eines Rechtes auf Prozesskostenhilfe (Art. 47), des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen (Art. 49) und eines erweitert formulierten Doppelbestrafungsverbots (Art. 50) deutlich über eine Minimalausstattung mit klassischen Verteidigungsrechten hinaus.137 Zusammengenommen definieren diese Rechte wesentliche Elemente einer gemeinsamen Plattform der Mitgliedstaaten im Bereich des Strafrechts, die den Ausgangspunkt für die allmähliche Entwicklung eines EU-Strafrechtssystems mit einem Grundrechtsschutzstandard bilden können. Es bleibt allerdings abzuwarten, inwieweit die von Polen und dem Vereinigten Königreich aufrechterhaltenen Vorbehalte hinsichtlich der Auswirkungen der Charta auf ihre nationalen Rechtssysteme und -praktiken138 die positive Reichweite der Charta über den gesamten RFSR hinweg einschränken werden.
VII. Schlussfolgerungen Seit seiner Einführung durch den Vertrag von Amsterdam ist der RFSR zu einem wichtigen Bestandteil der Verfassungsordnung der Europäischen Union geworden und hat dem Verhältnis zwischen der Union und ihren Bürgern eine neue Dimension hinzugefügt. Er verdient durchaus seinen Platz unter den grundlegenden Vertragszielen des Art. 2 EU (Art. 3 EUV-Liss.) aufgrund seiner Relevanz sowohl für die politische und rechtliche Integration als auch die Interessen seiner Bürger hinsichtlich eines hohen Maßes an innerer Sicherheit, der Gewährleistung der Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen und eines verbesserten Zugangs zum 135 136
137
138
Text verfügbar auf der Website von Europol: http://www.europol.europa.eu/legal/agreements/Agreements/16268-1.pdf (6.09.2008). Bei Abfassung dieses Beitrages war es dem Rat immer noch nicht gelungen, den längst überfälligen und seit 2005 verhandelten Rahmenbeschluss zum Datenschutz in der polizeilichen und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zu verabschieden. Zur Bedeutung der justiziellen Rechte der Charta siehe J. Vogel, The European Integrated Criminal Justice System and its Constitutional Framework, Maastricht Journal 12 (2005), S. 125. Gemäß dem Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl. 2007 C 306, S. 156.
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Recht. Der Einzelne ist der intendierte primäre Begünstigte der öffentlichen Güter, die der RFSR ihm „bietet“, aber sein Status als Begünstigter bleibt ein passiver, da der RFSR bislang keinerlei einklagbare Rechte begründet. Die Möglichkeiten, den RFSR verfassungsrechtlich eng mit den Rechten der Charta der Grundrechte und der Unionsbürgerschaft zu verbinden und damit seinen positiven Gehalt auszuweiten, sind auch durch den Vertrag von Lissabon nicht genutzt worden. Der Schwerpunkt des RFSR liegt bislang eindeutig im Bereich der inneren Sicherheit, der traditionell der einzelstaatlichen Souveränität und Territorialität vorbehalten ist. Die Mitgliedstaaten haben daher der Union in diesem Bereich eine rein subsidiäre Rolle zugewiesen, die auf grenzüberschreitende Herausforderungen der inneren Sicherheit beschränkt und einer Reihe von die Zuständigkeiten und Autonomie der Mitgliedstaaten schützenden Bestimmungen untergeordnet ist. All dies trägt wesentlich dazu bei, dass der RFSR bislang ein Raum der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten mit nur geringen Elementen wirklicher Integration bildet. Obwohl dies die Handlungsfähigkeit der Union oft einschränkt, zeigen die zahlreichen Maßnahmen zur Erleichterung und Verstärkungen der Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Systemen und Behörden, dass wichtige Resultate im Hinblick auf die Zielsetzungen des RFSR auch erzielt werden können, ohne tiefer in die einzelstaatlichen Rechtssysteme und -strukturen einzugreifen. Die Säulenteilung des RFSR – mit ihren eindeutigen Nachteilen hinsichtlich Kohärenz sowie parlamentarischer und richterlicher Kontrolle – ist gleichfalls ein Ergebnis des fehlenden Willens zumindest einiger Mitgliedstaaten, sich auf eine umfassendere gemeinsame Politikgestaltung in den sensibleren Bereichen des RFSR einzulassen. Diese Teilung wird mit dem Vertrag von Lissabon zwar formell aufgehoben, dies allerdings nicht ohne deutliche Spuren der ehemaligen dritten Säule in den Entscheidungsverfahren zu einigen Materien der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zu hinterlassen und die kooperative Ausrichtung des RFSR insgesamt beizubehalten. Ein spezifischer Aspekt des RFSR ist der hohe Grad seiner Differenzierung aufgrund der Opt-outs und Opt-ins sowie der Möglichkeiten verstärkter Zusammenarbeit, die zusammengenommen einen mangelnden Konsens der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Natur und Finalität des RFSR als politischem Projekt der Union belegen.139 Dies hat auch Auswirkungen auf die Stellung des Einzelnen, dessen Anteil an der von der Union gebotenen Gütern der „Freiheit“, der „Sicherheit“ und des „Rechts“ abhängig von der Beteiligung der einzelnen Mitgliedstaaten variieren kann. Der Vertrag von Lissabon erhöht das Differenzierungspotenzial durch eine Erweiterung der Opt-out-Regelungen und eine Erleichterung des Zugangs zu Formen der verstärkten Zusammenarbeit. Dies war ein notwendiger Teil des politischen Kompromisses, der im Vertrag von Lissabon die Aufhebung der Säulenteilung und die weitgehende Vergemeinschaftung der polizeilichen und justiziellen 139
Zu diesen in diesem Zusammenhang wesentlichen grundlegenden Spannungen und Finalitätsfragen im Rahmen des Verfassungsgefüges der Union siehe U. Everling und U. Haltern, in diesem Band.
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Zusammenarbeit in Strafsachen ermöglicht hat, untergräbt aber noch tiefer als bisher die politische und rechtliche Einheit und Glaubwürdigkeit des RFSR als eines alle Unionsbürgern gleichermaßen und nicht nur selektiv den Mitgliedstaaten dienenden Vertragsziels. Da in den potenziellen Maßnahmenbereichen des RFSR einige der stärksten möglichen Formen staatlicher Machtausübung gegenüber dem Einzelnen fallen, ist der Schutz der Rechte des Einzelnen fraglos von zentraler Bedeutung für die Legitimität des RFSR als politisches und rechtliches Grundziel der Union. Dies gilt umso mehr, als eine wachsende ‚Sekuritarisierung‘ des RFSR, beschleunigt durch die terroristische Bedrohungslage nach dem 11. September 2001, nicht zu leugnen ist. Trotz der ihm im Rahmen des Titels VI EU auferlegten Beschränkungen hat der Gerichtshof systematisch seine Aufgabe, alle Maßnahmen im Bereich des RFSR auf ihre Vereinbarkeit mit der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Grund- und Menschenrechte zu prüfen, bekräftigt. Dennoch belässt die bisherige Rechtsprechung dem Rat noch einen weiten Ermessensspielraum hinsichtlich Maßnahmen im Bereich der inneren Sicherheit, wie dies am Beispiel der ‚Terroristenlisten‘ deutlich geworden ist. Die rechtsverbindliche Eingliederung der Charta der Grundrechte durch den Vertrag von Lissabon kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, den Unionsbürger vor dem Risiko zu schützen, dass er als der eigentliche Begünstigte des RFSR durch Maßnahmen der Organe und Agenturen der Union auch zu deren Opfer werden kann.
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IV. Gesellschaftsverfassung
Wirtschaftsverfassung im Binnenmarkt
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Wirtschaftsverfassung im Binnenmarkt
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I.
Wirtschaftsverfassung und europäische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 1. Aktualität des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 2. Begriff und Funktionen der Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 3. Die europäische Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805 4. Wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 II. Systementscheidung und Funktionsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809 1. Die Entscheidung für eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb . . . . 809 2. Funktionsgarantien einer marktwirtschaftlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 3. Funktionsgarantien des Marktes und Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821 III. Wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 823 1. Asymmetrien der Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 2. Rechtsformen der Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825 3. Bereiche gemeinschaftlicher Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826 4. Gestaltungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836 5. Die Währungsunion in der Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841 IV. Wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . 842 1. Verfassungsrechtliche Ausgangspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842 2. Marktrelevante Gestaltungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844 3. Gestaltungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848 V. Bilanz und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852
I. Wirtschaftsverfassung und europäische Integration 1. Aktualität des Themas Die Frage nach der europäischen Wirtschaftsverfassung ist von unveränderter Aktualität. In der horizontalen Dimension sieht sich die Systementscheidung des EGVertrages für eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verschiedenen Relativierungen ausgesetzt, deren juristische Konsequenzen für das Wirtschaftssystem und die politische Verfassung insgesamt noch nicht hinreichend geklärt sind. Insbesondere zeigen die Diskussionen über den Stellenwert der Daseinsvorsorge1 1
Vgl. dazu etwa P. Badura, Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand zur Gewährleistung von Daseinsvorsorge, in: J. Schwarze (Hrsg.), Daseinsvorsorge im Lichte des Wettbewerbsrechts, 2001, S. 25; W. Frenz, Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse – Neuerungen durch Art. 16 EG, EuR 2000, S. 901; siehe auch die Mitteilung der Kommission zu den Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa, KOM(2000) 580.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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und die Grenzen der Liberalisierung regulierter Märkte2 exemplarisch, dass sich die Gewährleistungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung in einem spannungsreichen Geflecht wirtschafts- und sozialpolitischer Zielsetzungen behaupten müssen.3 Insofern gilt es im Folgenden, das Verhältnis sozialstaatlicher und sonstiger regulativer Politiken zur grundlegenden Systementscheidung und die sie absichernden Funktionsgarantien in Gestalt der Grundfreiheiten und Grundrechte sowie der Gewährleistung unverfälschten Wettbewerbs dogmatisch möglichst präzise zu erfassen. Allerdings haben sich im Vertrag die rechtlichen Sedimente höchst unterschiedlicher wirtschaftspolitischer Konzeptionen abgelagert.4 Der Entwicklung verallgemeinerungsfähiger Lösungen für mögliche Konflikte zwischen Markt und Intervention sind daher von vornherein Grenzen gezogen. In der vertikalen Dimension trifft die europäische Wirtschaftsverfassung infolge der Erweiterung der EU auf Volkswirtschaften, die sich zumeist noch im Prozess der Transformation von planwirtschaftlichen zu marktwirtschaftlichen Systemen befinden. Aus der Perspektive dieser Länder dürfte es von erheblichem Interesse sein, welche rechtlichen Zwänge und welche politischen Spielräume bei der Anpassung an den verschärften Wettbewerb im Binnenmarkt bestehen. Diese Problematik verweist auf das umstrittene Verhältnis des europäischen Wirtschaftsverfassungsrechts zu seinen nationalen Entsprechungen und dort zu solchen Gewährleistungen, die mit dem Marktkonzept des EG-Vertrages nur schwer vereinbar sind. Aber auch in der Gegenrichtung wirken nationale Konzeptionen auf die europäische Wirtschaftsverfassung ein. Hier wäre von Interesse, welcher Veränderungsdruck – erkennbar an verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen – auf die EU ausgeübt werden könnte. Deshalb ist eine zumindest grobe Sichtung der nationalen Verfassungen angezeigt, um ein einigermaßen vollständiges Bild der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Lage in der EU gewinnen zu können. Obwohl sie vordergründig auf den Funktionszusammenhang der Wirtschaft bezogen ist, bleibt die Wirtschaftsverfassung integraler Bestandteil der allgemeinen rechtlichen Grundordnung des europäischen Mehrebenensystems, also seiner bereits heute zumindest materiell existierenden Verfassung.
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Siehe dazu nur die Urteile des EuGH hinsichtlich ausschließlicher Einfuhrrechte für Elektrizität, Rs. C-157/94, Kommission/Spanien, Slg. 1997, I-5699; Rs. C-158/94, Kommission/ Italien, Slg. 1997, I-5789; Rs. C-159/94, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-5815; Rs. C160/94, Kommission/Spanien, Slg. 1997, I-5851. Dieses Thema findet in jüngerer Zeit verstärkte Aufmerksamkeit, vgl. dazu etwa U. Becker, EU-Beihilfenrecht und soziale Dienstleistungen, NZS 2007, S. 169; C. Koenig/J. Paul, Die Krankenhausfinanzierung im Kreuzfeuer der EG-Beihilfenkontrolle, EuZW 2008, S. 359; P.-C. Müller-Graff, Die Verdichtung des Binnenmarktrechts zwischen Handlungsfreiheiten und Sozialgestaltung, EuR Beiheft 1/2002, S. 7. T. Oppermann, Europarecht, 2005, § 13 Rn. 3.
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2. Begriff und Funktionen der Wirtschaftsverfassung Zwar gehört der von Walter Eucken und Franz Böhm5 maßgeblich geprägte Begriff der Wirtschaftsverfassung seit Jahrzehnten zum festen Inventar der deutschen Rechtswissenschaft, insbesondere auch der Europarechtswissenschaft.6 Jedoch sind Inhalt und Nutzen des Begriffs nach wie vor umstritten. a) Annäherung Der Begriff der Wirtschaftsverfassung liegt im Schnittfeld von Ökonomie und Jurisprudenz. Deshalb fällt seine inhaltliche Ausdeutung unterschiedlich aus je nachdem, in welchen Verwendungszusammenhang er gestellt wird. Gemeinsamer Ausgangspunkt aller Definitionsbemühungen ist ein ordnungspolitisches Denken, welches Wirtschaftssysteme als institutionen- und regelgeschützt ansieht und daher fast zwangsläufig dem Staat und seiner Rechtsordnung eine besondere Garantiefunktion zuweisen muss. Im weitesten Sinne lässt sich unter der Wirtschaftsverfassung die „politische Gesamtentscheidung über die Ordnung des nationalen Wirtschaftslebens“7 verstehen, also jener Sach- und Funktionszusammenhang, welcher die Verteilung knapper Güter mittels eines Preissystems zum Gegenstand hat.8 Insofern kann der Begriff etwa dazu dienen, verschiedene volkswirtschaftliche Modelle idealtypischer Wirtschaftssysteme zu unterscheiden, was aber für juristische Zwecke wenig ertragreich ist. Auch ein Verständnis der Wirtschaftsverfassung im Sinne der Gesamtheit aller Rechtsregeln, welche die ökonomischen Aktivitäten einer Volkswirtschaft steuern, kommt über eine bloße Beschreibung des rechtlichen
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Siehe dazu nur W. Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 1965; F. Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf: Eine Untersuchung zur Frage des wirtschaftlichen Kampfrechts und zur Frage der rechtlichen Struktur der geltenden Wirtschaftsordnung, 1933; ders., Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1950; W. Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Bd. II, 1983, S. 21 f., datiert die Entstehung des Begriffs in das Jahr 1919; wichtige theoretische Erkenntnisse verdankt die Wirtschaftsverfassungsdiskussion E.-J. Mestmäcker; aus seinem umfangreichen Werk siehe insbesondere die Sammlung von Aufsätzen „Recht und ökonomisches Gesetz“ aus dem Jahr 1984. Vgl. etwa aus den 1960er Jahren die Beiträge von C. F. Ophüls, Grundzüge europäischer Wirtschaftsverfassung, ZHR 124 (1962), S. 136; H. Zacher, Aufgaben einer Theorie der Wirtschaftsverfassung, in: FS Böhm, 1965, S. 63; eine gute Übersicht über die Diskussion dieser Zeit gibt J. Scherer, Die Wirtschaftsverfassung der EWG, 1970; siehe aus jüngerer Zeit M. Poiares Maduro, We the Court, 1998; J. Baquero Cruz, Between Competition and Free Movement – The Economic Constitutional Law of the European Community, 2002. Nach F. Böhm/W. Eucken/H. Grossmann-Doerth, Unsere Aufgabe, in: F. Böhm (Hrsg.), Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, 1937, XIX; wieder abgedruckt bei F. A. Lutz, Politische Überzeugungen und nationalökonomische Theorie, 1971, S. 87; siehe auch W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Neudruck 1990, S. 250: „ordnungspolitische Gesamtentscheidung“. Zum Knappheitsproblem als zentraler Frage des Wirtschaftens siehe P. Behrens, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: G. Brüggemeier (Hrsg.), Verfassungen für Europa, 1994, S. 73 (74).
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Rahmens wirtschaftlicher Tätigkeit nicht hinaus.9 Dies mag für eine ökonomische Analyse des geltenden Rechts sinnvoll sein, die juristische Debatte der letzten Jahrzehnte über eine Theorie der Wirtschaftsverfassung verfolgt indes speziellere Ziele. Sie bezieht sich auf einen normativ herausgehobenen Ausschnitt des Wirtschaftsrechts als dem Recht der Wirtschaftsordnung, in dem es darum geht, wer zu welchen Bedingungen über die knappen Güter und Leistungen verfügen darf.10 Gleichzeitig markiert die Wirtschaftsverfassung den Bereich der Wirtschaftspolitik, welcher weitgehend änderungsfest und daher dem laufenden politischen Prozess entzogen sein soll. b) Definitionen Bei dem juristischen Konzept der Wirtschaftsverfassung geht es zum einen darum, die systematischen Bezüge zwischen Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung zu klären, wobei die ökonomischen Funktionsbedingungen des Wirtschaftssystems und seine rechtlichen Sicherungen im Mittelpunkt stehen. Zum anderen sollen Wirtschaft und Wirtschaftspolitik einander nach rechtlichen Kriterien zugeordnet werden, um allgemeine Aussagen über das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Freiheit und hoheitlicher Intervention zu gewinnen.11 Dadurch soll nicht nur der gegenwärtige Zustand erfasst und rechtlich beschrieben, sondern auch für die Zukunft festgelegt werden, welche Ziele anzustreben und wie Konflikte zwischen divergierenden Optionen zu lösen sind. Im Kern geht es dabei, unabhängig vom konkreten Wirtschaftssystem, um eine Machtkontrolle und Machtbegrenzung durch Recht, einer Macht, die von hoheitlichen Akteuren ebenso ausgeübt werden kann wie von Privaten.12 Die Lösung der Machtfrage, welche zu den fundamentalen Aufgaben jeder Verfassung gehört, ist daher auch der Schlüssel zum Verständnis der juristischen Funktion der Wirtschaftsverfassung. Denn sie weist der Wirtschaftsverfassung nicht nur eine wichtige Maßstabsfunktion für private und staatliche Akteure zu, sondern verbindet auch die rechtliche Grundordnung des Sach- und Funktionsbereichs Wirtschaft mit dem politischen Teil der Verfassung.13 Dementsprechend ist die Formel von der juristischen Wirtschaftsverfassung als „Summe der verfassungsrechtlichen Gestaltungselemente der Ordnung der Wirtschaft“14 heute weithin anerkannt. Diese Formel erweist sich indes als erweiterungsbedürftig. Denn der europäische Integrationsprozess hat auf der Basis eines Gemeinsamen Marktes mit unverfälschtem Wettbewerb die Gewichte zwischen den konstitutionellen Ebenen deutlich verschoben. Die Frage nach der Wirtschaftsverfassung richtet sich nunmehr in erster Linie an die rechtliche Grundordnung der 9 10 11 12 13 14
Übersicht zu den Verwendungsformen des Begriffs der Wirtschaftsverfassung bei F. Rittner, Wirtschaftsrecht, 1987, S. 25 ff. E.-J. Mestmäcker, Wirtschaftsrecht, RabelsZ 54 (1990), S. 409 (410, 415). Dazu prägnant Behrens (Fn. 8), S. 74 ff. Dazu insb. J. Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, 1992, S. 10. Siehe dazu nur Behrens (Fn. 8), S. 75. So R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 1990, S. 70.
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Europäischen Union. Vor allem dem EG-Vertrag lassen sich wesentliche Aussagen über die ordnenden Prinzipien und Garantien wirtschaftlicher Tätigkeit entnehmen, so dass seine geschriebenen und ungeschriebenen Normen die heute für die Mitgliedstaaten maßgeblichen Gestaltungselemente der Wirtschaft enthalten.15 c) Abgrenzung Die Funktion der europäischen Wirtschaftsverfassung besteht allerdings nicht darin, ein ganz bestimmtes wirtschaftspolitisches Modell mit rechtlicher Bestandskraft auszustatten.16 Was eine Wirtschaftsverfassung rechtlich ausmacht, welche Grenzen sie Hoheitsträgern und Privaten zieht, lässt sich nicht vorrangig aus einem bestimmten Wirtschaftsmodell, sondern nur aus dem konkreten Normbestand ableiten.17 Die einschlägigen Vorschriften sind, namentlich im Gemeinschaftsrecht, weniger Ausdruck eines in sich stimmigen wirtschaftspolitischen Konzepts, sondern vielmehr das Ergebnis unterschiedlicher, im Verlauf der Jahrzehnte wechselnder ökonomischer und gesellschaftlicher Zielvorstellungen. Zwar lassen sich Elemente ordoliberaler und sozial-marktwirtschaftlicher Konzeptionen ausmachen. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass selbst die ausdrückliche Entscheidung für eine Marktwirtschaft in Art. 4 EG durch gegenläufige Prinzipien und Eingriffsbefugnisse relativiert wird, so dass sich der unmittelbare Rückgriff auf bestimmte wirtschaftliche Modelle als Hilfsmittel der Auslegung verbietet.18 Soweit ein bestimmtes Wirtschaftsmodell rechtlich garantiert wird, beschränkt sich die normative Relevanz derartiger Festlegungen regelmäßig darauf, in sehr allgemeiner Form auf die grundlegenden Funktionsbedingungen des jeweiligen Modells zu verweisen, nicht aber die staatlichen oder die europäischen Organe auf einen bloßen Vollzug bestimmter wirtschaftspolitischer Grundsätze zu beschränken. 3. Die europäische Wirtschaftsverfassung Durch die Einbindung des Grundgesetzes in den Verfassungsverbund der Europäischen Union stellt sich die Frage nach der Wirtschaftsverfassung in einem neuen und übergeordneten Rechtssystem, welches strukturelle und funktionelle Besonderheiten aufweist, die auch die europäische Wirtschaftsverfassung kennzeichnen. a) Erweiterung der Debatte auf ein übergeordnetes Referenzsystem Die namentlich in Deutschland lange Zeit geführte Diskussion über die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes fand mit der Mitgliedschaft Deutschlands in den Europäischen Gemeinschaften ein neues und übergeordnetes Referenzsystem. Die Frage, ob eine Zentralverwaltungswirtschaft oder Vorformen derselben zulässig oder die soziale Marktwirtschaft oder andere Formen der Marktwirtschaft festgeschrieben seien, richtete sich nun an die Gründungsverträge der drei Gemeinschaf15 16 17 18
Siehe dazu auch Oppermann (Fn. 4), § 13 Rn. 2 ff. In diesem Sinne auch G. Nicolaysen, Europarecht II, 1996, S. 318. Ebd. Dazu näher unten, II. 1.
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ten. Interessanterweise wurde in diesem Zusammenhang deren Verfassungscharakter überwiegend nicht ernsthaft in Frage gestellt.19 Insbesondere der EWG-Vertrag erwies sich als prototypische Wirtschaftsverfassung, er ist zwar eine Rumpfordnung ohne wirklich politischen Teil, aber im Verbund mit den nationalen Verfassungen die maßgebliche Rechtsgrundlage für die Gestaltung des Wirtschaftslebens.20 Aus deutscher Perspektive war der EWG-Vertrag – Montan- und Euratom-Vertrag behandelten letztlich spezielle Fragen – mit seiner unverkennbaren Präferenz zugunsten des Marktes ein deutlicher Kontrast zur „wirtschaftspolitischen Neutralität“ des Grundgesetzes.21 So konnte das Gemeinschaftsrecht gegen planwirtschaftliche Konzepte in Stellung gebracht werden, als zum Ende der sechziger Jahre das Wirtschaftswunder abflaute und planifikatorische Wirtschaftsformen als Option der Politik eine Renaissance erlebten.22 Heute haben sich die Akzente verschoben.23 Es geht in der aktuellen Diskussion insbesondere um die Frage, welche sozialstaatlichen Sicherungen die nationale Verfassung für unabdingbar erklärt, um sie nicht einem „entfesselten Kapitalismus“24 im europäischen Binnenmarkt opfern zu müssen,25 oder welchen Stellenwert der Verbraucher- und Gesundheitsschutz haben, wenn sie die Freiverkehrsrechte beschränken sollen. Als Konstante dieser Diskussion erweist sich die Einsicht in den fragmentarischen Charakter des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet des Wirtschaftsverfassungsrechts,26 der heute allerdings nicht ohne weiteres als ein Konstruktionsfehler gesehen wird. b) Der Verbundcharakter der europäischen Wirtschaftsverfassung Auf der einen Seite enthält der EG-Vertrag eine Reihe maßgeblicher Gestaltungselemente der Wirtschaft, die insbesondere durch die unmittelbare Geltung und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber abweichenden nationalen Konzepten abgesichert werden. Andererseits bleibt der EG-Vertrag auch nach den letzten
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Vgl. dazu etwa Ophüls (Fn. 6), S. 140, der den Verfassungscharakter des EWG-Vertrages insoweit selbstverständlich voraussetzt. Es wurde auch vom EWG-Vertrag als „Wirtschaftsverfassung schlechthin“ gesprochen, Scherer (Fn. 6), S. 82. Vgl. BVerfGE 4, 7 (17 f.). Vgl. dazu W. von Simson, Die Marktwirtschaft als Verfassungsprinzip in den Europäischen Gemeinschaften, in: Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg (Hrsg.), Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften, 1967, S. 55. Vgl. zur aktuellen Diskussion des Binnenmarktkonzepts die Beiträge in A. Hatje/J. P. Terhechte (Hrsg.), Das Binnenmarktziel in der europäischen Verfassung, EuR Beiheft 3/2004. Diese Gefahr sieht E.-W. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 68 (100), bei einem unkritischen Festhalten an der Logik einer ökonomischfunktionalen Integration. Zur Sozialstaatlichkeit der Europäischen Union jüngst T. Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund – gemeinschaftsrechtliche Einflüsse auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003. Aufschlussreich auch insofern Ophüls (Fn. 6), S. 141 und 175 ff., der von „Lücken“ und nationalen „Reservaten“ in der gemeinschaftlichen Wirtschaftsverfassung spricht.
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Reformen eine fragmentarische Ordnung, welche wesentliche Bereiche der allgemeinen Wirtschaftspolitik weitgehend in nationaler Regelungsverantwortung belässt. Unter dem Aspekt der Machtentfaltung müssen daher nicht nur der Gemeinschaft und den privaten Einflussgrößen rechtliche Grenzen gesteckt werden. Vielmehr sind auch die Mitgliedstaaten selbst betroffen, die einer rechtlichen und politischen Kontrolle unterworfen werden müssen.27 Diese Aufgabe ist im europäischen Verbund der Verfassungen zu lösen, der insofern auch ein Verbund der Wirtschaftsverfassungen ist.28 c) Funktionelle Besonderheiten der europäischen Wirtschaftsverfassung Hinzu kommt eine spezielle Funktion der gemeinschaftlichen Wirtschaftsverfassung: Sie ist nach wie vor der Kern des europäischen Rechts, der Motor des Integrationsprozesses, welcher die Wirtschaft zwar zum Ausgangspunkt einer staatenübergreifenden Einheitsbildung nimmt, jedoch an den Grenzen des Ökonomischen nicht Halt machen soll. In ihr verbinden sich die Konzepte einer negativen Integration durch staatengerichtete Behinderungsverbote und einer positiven Integration durch aktive politische Gestaltung.29 Der EuGH hat wiederholt unterstrichen, dass Binnenmarkt und Wettbewerb nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck der Erreichung der übergeordneten Integrationsziele sind, die über die Wirtschaft als speziellen Funktionszusammenhang hinaus weisen.30 Insofern hat die europäische Wirtschaftsverfassung nicht nur eine konservierende, kanalisierende Funktion, sondern einen betont dynamischen Charakter. Dieses Ziel prägt indes auch die regulativen und sonstigen Ermächtigungen des Gemeinschaftsrechts, woraus sich Konflikte mit wirtschaftspolitischen Grundentscheidungen ergeben können. 4. Wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume Die europäische Wirtschaftsverfassung bildet keine statische Ordnung, sondern ein durchaus flexibles Normenraster, welches den Organen und den Mitgliedstaaten bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften teils beträchtliche wirtschaftspolitische Beurteilungs- und Gestaltungsspielräume eröffnet. a) Formen der Zuweisung Eine Form der Zuweisung besteht in der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und der Einräumung von Ermessensbefugnissen, welche als „offen gelassene Gesetzgebung“ den Gemeinschaftsorganen und Mitgliedstaaten Spielräume verschaf-
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Dazu etwa W. Mussler, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft im Wandel, 1998, S. 86. Zum Verbundgedanken allgemein I. Pernice, Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 29; zum europäischen Wirtschaftsverfassungsrecht Mussler (Fn. 27), S. 58. Zu dieser auf J. Tinbergen, International Economic Integration, 1954, zurückgehenden Differenzierung siehe insbesondere Mussler (Fn. 27), S. 62 ff. EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 50.
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fen.31 Darüber hinaus werden entsprechende Befugnisse im Wege ausdrücklicher Handlungsermächtigungen zugewiesen, welche zwar die Ziele, die formellen und materiellen Voraussetzungen der Maßnahmen sowie vereinzelt auch die Handlungsformen festlegen, jedoch den politischen Organen die Entscheidung überlassen, ob und wie sie die Ermächtigung konkret nutzen wollen. Die entsprechenden Befugnisse beziehen sich zum einen auf den Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit, also die Ordnungspolitik der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten. So bieten die für den Binnenmarkt zentralen Grundfreiheiten zumindest im Ansatz weite Auslegungsspielräume, welche der EuGH nicht zuletzt rechtsfortbildend ausgestaltet hat. Auch im Wettbewerbsrecht verfügt die Gemeinschaft über Konkretisierungs- und Ermessensspielräume unterschiedlichen Ausmaßes, ebenso bei der Rechtsangleichung (z.B. Art. 94 und 95 EG), deren primäres Ziel die Öffnung der Märkte ist. Ermessensspielräume ergeben sich zum anderen aber auch aus Vorschriften, welche es der Gemeinschaft oder den Mitgliedstaaten erlauben, den Ablauf der Wirtschaftstätigkeit zu beeinflussen oder verteilungs- und sozialpolitische Maßnahmen zu treffen.32 Buchstäblich quer zu diesen Ermächtigungen liegen die sog. Querschnittsklauseln, welche die Gemeinschaftsorgane verpflichten, bei ihrer Tätigkeit bestimmte Schutzgüter zu berücksichtigen. So müssen gemäß Art. 6 EG „die Erfordernisse des Umweltschutzes“ bei der Festlegung und Durchführung der Gemeinschaftspolitiken „einbezogen werden“. Vergleichbares gilt nach Art. 153 Abs. 2 EG für die Belange des Verbraucherschutzes. Für die Rechtsangleichung im Rahmen des Binnenmarktes schreibt Art. 95 Abs. 3 EG vor, dass von einem hohen Schutzniveau in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umwelt- und Verbraucherschutz ausgegangen werden muss. Die konkrete Entscheidung über Art und Ausmaß des Schutzes dieser Schutzgüter steht wiederum prinzipiell im Ermessen der Gemeinschaftsorgane. b) Dogmatische Konsequenzen Der EuGH hat stets die wirtschaftspolitischen Beurteilungs- und Gestaltungsspielräume von Rat, Parlament und Kommission respektiert, entsprechend der in Art. 33 Abs. 1 des EGKS-Vertrags verankerten Kontrollmaxime, wonach sich die gerichtliche Nachprüfung grundsätzlich nicht auf „die Würdigung der sich aus den wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen ergebenden Gesamtlage erstreckt“.33 Auch den Mitgliedstaaten bleibt, was noch genauer zu erörtern sein wird, ein nicht unbeträchtlicher Gestaltungsspielraum. Aus dem prinzipiellen Kontrollverzicht folgt ein 31
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Zur gemeinschaftlichen Ermessensdogmatik eingehend J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2005, S. 280 ff.; W. A. Adam, Die Kontrolldichte-Konzeption des EuGH und deutscher Gerichte, 1993; zur Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe siehe K. Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1988, S. 183, Bezug nehmend auf J. W. Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, 1933, S. 58. Zu diesem Systematisierungsansatz für die Wirtschaftspolitik siehe etwa U. Teichmann, Wirtschaftspolitik, 2001, S. 189 ff.; maßgebend ist der Ansatzbereich des Instrumentariums, dazu E. Tuchtfeldt, Bausteine zur Theorie der Wirtschaftspolitik, 1983, S. 261. Vgl. etwa EuGH, Rs. C-233/94, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 1997, I-240, Rn. 55 f.
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rechtlich nur begrenzt determiniertes, gleichsam elastisches Verhältnis von Wettbewerb und Intervention. Das Gestaltungsermessen ist daher die zentrale dogmatische Kategorie der europäischen Wirtschaftsverfassung, das Scharnier zwischen den Prinzipien des Marktes und den politischen Kompetenzen der Verträge. Damit wäre aber für eine juristische Dogmatik der Wirtschaftsverfassung noch zu wenig gewonnen. Denn rechtlich ist entscheidend, ob der Vertrag einen Vorrang von Markt und Wettbewerb vor solchen Zielen verankert, welche nur durch Eingriffe in den Markt zu erreichen sind, oder ob andere Grundsätze der wechselseitigen Zuordnung gelten. Das europäische Wirtschaftsverfassungsrecht benötigt daher eine „Spielraum-Dogmatik“,34 um die wechselseitige Zuordnung von Marktwirtschaft und hoheitlicher Intervention juristisch berechenbar erfassen zu können.
II. Systementscheidung und Funktionsgarantien Kennzeichnend für das Gemeinschaftsrecht ist die Grundentscheidung für eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. Sie wird durch eine Reihe von Funktionsgarantien35 weiter ausgestaltet, welche einen hinreichend präzisen Maßstab für die Kontrolle durch den EuGH und nationale Gerichte bereitstellen. Gleichzeitig sind beträchtliche Kompetenzpotenziale der Gemeinschaftsorgane und Mitgliedstaaten zu verzeichnen, die ihnen erhebliche Eingriffe in den Wirtschaftsprozess erlauben.36 Der normative Gehalt der Wirtschaftsverfassung der EU ergibt sich erst in der Zusammenschau der marktwirtschaftlichen Garantien einerseits und den wirtschaftspolitischen Befugnissen gemeinschaftlicher und staatlicher Akteure andererseits. Sie wird zu Recht als „gemischte Verfassung“ apostrophiert.37 Freilich ist dies juristisch unbefriedigend, denn entscheidend sind die Mischungsregeln und Mischungsverhältnisse, nach denen sich bestimmt, wie viel Markt geboten und wie viel wirtschaftspolitische Gestaltung zulässig ist. 1. Die Entscheidung für eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb Die Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten ist nach Art. 4 Abs. 1 und Art. 98 EG ausdrücklich an den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ gebunden. Ebenso muss die europäische Währungspolitik nach Art. 4 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 1 EG an diesem Prinzip ausgerichtet werden. Die Vertragsreform von Lissabon erhält diese grundlegende Systement34 35
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In Anlehnung an R. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 8 (13). Zur Unterscheidung von „Systementscheidung“ im Sinne der normativen Verankerung eines Wirtschaftsmodells und „Funktionsgarantien“ als Normen, welche die Funktionsfähigkeit eines Wirtschaftsmodells rechtlich sichern, siehe Schmidt (Fn. 14), S. 73 f. Siehe dazu die kritischen Analysen von Behrens (Fn. 8), S. 86 ff.; H.-U. Petersmann, Thesen zur Wirtschaftsverfassung der EG, EuZW 1993, S. 593; aus der Perspektive der Wirtschaftswissenschaft Mussler (Fn. 27), insb. S. 166 ff. Nicolaysen (Fn. 16), S. 320.
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scheidung aufrecht (vgl. Art. 120 AEUV sowie für die Währungspolitik Art. 127 Abs. 1 AEUV), wenngleich sie in die Zielbestimmungen erstmals den Begriff der sozialen Marktwirtschaft einführt (vgl. Art. 3 Abs. 3 EUV-Liss.). a) Rechtsqualität Allerdings ist die juristische Bedeutung der Systementscheidung für eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb umstritten. Überwiegend wird ihre rechtliche Bedeutung eher gering eingeschätzt.38 Hierbei werden häufig die Fragen der Justiziabilität und Spezialität nicht genügend auseinander gehalten. Der „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ ist ein Rechtsbegriff und damit prinzipiell justiziabel.39 Er bietet, etwa verglichen mit dem Subsidiaritätsprinzip, keine größeren Schwierigkeiten bei der Rechtsanwendung, denn es lassen sich den Begriffsteilen durchaus bestimmte rechtliche Merkmale zuordnen, die ihm normative Substanz verleihen. Sie mögen sehr allgemein und unbestimmt sein, dies ist aber kein Problem der Justiziabilität, sondern eine Frage der Spezialität im Verhältnis zu Bestimmungen, welche diese Merkmale präziser normieren. Allerdings kann sich der Einzelne mangels hinreichender Bestimmtheit nicht unmittelbar auf die Systementscheidung berufen. Sie allein begründet daher kein subjektives Recht des Unionsbürgers auf Erhalt einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Als objektives Prinzip hat die Systementscheidung hingegen eine materielle und eine strukturelle Komponente. b) Inhalte Materiell verweist die Systementscheidung auf die Funktionsbedingungen einer wettbewerbsgesteuerten Marktwirtschaft. Dazu gehören, ungeachtet möglicher Systemvarianten, die Wirtschaftsfreiheit, die Koordination von Angebot und Nachfrage im Wettbewerb sowie der freie Markteintritt und Marktaustritt.40 Die ausdrücklich genannte Offenheit des europäischen Wirtschaftsraumes bezieht sich prinzipiell auf den Innen- und Außenbereich.41 Der fehlende Hinweis auf die soziale Ausrichtung ist nicht mit einer Indifferenz des Vertrages gegenüber den damit verbundenen Schutzgütern gleichzusetzen. Dieser Aspekt der europäischen Wirtschaftspolitik ist bereits in Art. 2 EG grundlegend verankert, wonach ein hohes Maß an sozialem Schutz angestrebt wird. Die explizite Bezeichnung der Marktwirtschaft 38 39
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Vgl. ebd. Im Gegensatz dazu hat es das Bundesverfassungsgericht bekanntlich abgelehnt, dem Grundgesetz eine Wirtschaftsverfassung im Sinne einer eigenständigen Maßstabsnorm zu entnehmen, BVerfGE 50, 290 (336 ff.) – Mitbestimmung. F. v. Estorff/B. Molitor, in: H. v. d. Groeben/J. Thiesing/C.-D. Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5. Aufl. 1997, Art. 3a EG-Vertrag, Rn. 19–20; H. Wittelsberger, in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2003, Art. 98 EG, Rn. 6. v. Estorff/Molitor (Fn. 40), Art. 3a EG-Vertrag, Rn. 20; a.A. Wittelsberger (Fn. 40), Art. 98 EG, Rn. 13, demzufolge sich die „offene Marktwirtschaft“ nur auf die Verhältnisse im Innern der Gemeinschaft bezieht und keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft gegenüber Drittstaaten begründet.
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als „sozial“ im Zuge der Vertragsreform von Lissabon betont somit die bestehenden Strukturen. Ihr liegt keine neue wirtschaftsverfassungsrechtliche Ausrichtung zugrunde, sondern lediglich eine veränderte Akzentsetzung.42 Dafür spricht auch, dass die anzustrebende soziale Marktwirtschaft eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige“ sei.43 Strukturell begründet die Festlegung auf eine wettbewerbsgesteuerte Marktwirtschaft zum einen ein Verbot des Systemwechsels.44 Danach dürfen verbindlich überplante oder zentral verwaltete Wirtschaftsordnungen weder von den Mitgliedstaaten noch von der Gemeinschaft eingeführt werden, es sei denn, die Ausschaltung oder Einschränkung des Marktprinzips wird vom Gemeinschaftsrecht ausdrücklich zugelassen, wie es insbesondere in der Agrarpolitik und im EAG-Bereich der Fall ist. Ferner begründet die Systementscheidung ein generelles RegelAusnahme-Verhältnis, welches jeden Eingriff in die wirtschaftliche Handlungsfreiheit einem Rechtfertigungszwang am Maßstab der Verhältnismäßigkeit unterwirft.45 Schließlich ist der Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb vor allem als Leitprinzip der Auslegung der wirtschaftlich relevanten Garantien und Ermächtigungen des Primärrechts sowie der Maßnahmen des Sekundärrechts bedeutsam.46 2. Funktionsgarantien einer marktwirtschaftlichen Ordnung Die Grundprinzipien der Marktwirtschaft werden im Verfassungsrecht der Gemeinschaft, wie namentlich Jürgen Basedow prägnant herausgearbeitet hat, in einer Reihe von Funktionsgarantien justiziabel ausgestaltet.47 Sie betreffen einerseits Kernelemente einer marktwirtschaftlichen Ordnung, andererseits wird durch sie auch die spezifische Integrationsfunktion der europäischen Wirtschaftsverfassung rechtlich abgebildet. a) Privatautonomie als Grundbedingung eines marktwirtschaftlichen Systems Eine marktwirtschaftliche Ordnung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Wirtschaftssubjekte dezentral wirtschaften und dabei privatautonom selbst gesteckte Ziele verwirklichen.48 Die Privatautonomie betrifft zum einen insbesondere die Verfügung über die eigene Arbeitskraft und das Einkommen, zum anderen die Entscheidung darüber, wo und wie viel Kapital eingesetzt werden und was an Gütern und Dienstleistungen produziert werden soll. Juristisch wird sie vor allem durch die Rechtssubjektivität, die individuelle bzw. unternehmerische Handlungsfreiheit so42
43 44 45 46 47 48
Vgl. zu vergleichbaren Regelungen des Verfassungsvertrags J. Schwarze, Das wirtschaftsverfassungsrechtliche Konzept des Verfassungsentwurfs des Europäischen Konvents, EuZW 2004, S. 135 (136). Vgl. auch ebd. A. Hatje, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 4 EG, Rn. 9 m.w.N. Wittelsberger (Fn. 40), Art. 98 EG, Rn. 6. Zur Funktion und Rechtsqualität des Grundsatzes EuGH, Rs. C-9/99, Échirolles Distribution, Slg. 2000, I-8207, Rn. 25. Für das Folgende grundlegend Basedow (Fn. 12), S. 15 ff. und 26 ff. Vgl. etwa Mussler (Fn. 27), S. 35.
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wie durch eine wechselseitige Zuordnung der Freiheitssphären nach Maßgabe des Gleichheitssatzes auch im europäischen Recht gewährleistet. aa) Wirtschaftsteilnehmer als Rechtssubjekte Die Rechtssubjektivität wird vom Gemeinschaftsrecht vorausgesetzt und anerkannt. Sie besteht für natürliche Personen in allen Mitgliedstaaten der EU seit über hundert Jahren und ermöglicht die selbstbestimmte Teilnahme am Wirtschaftsverkehr.49 Insofern ist die rechtliche Handlungsfähigkeit, über ihre menschenrechtliche Bedeutung hinaus, zu Recht als ein wesentliches Element einer marktwirtschaftlichen Ordnung gewürdigt worden. Die Verträge enthalten allerdings keine, etwa § 1 BGB entsprechende, allgemeine Regelung der Rechtsfähigkeit natürlicher Personen. Jedoch deutet die Unionsbürgerschaft der Art. 17 ff. EG auf eine umfassende Rechtssubjektivität des Einzelnen hin. Aufschlussreich ist auch die Judikatur des EuGH zu den (ungeschriebenen) Grundrechten. Danach zählt der Gerichtshof, wie etwa im Stauder-Urteil, die „Rechte der Person“ ausdrücklich zum Bestand der gemeinschaftlichen Garantien.50 Weitere Belege lassen sich der Rechtsprechung zur Vermittlung subjektiver Rechte durch die unmittelbar geltenden Grundfreiheiten des Binnenmarktes entnehmen.51 Für die Wirtschaft von kaum geringerer Bedeutung ist die Möglichkeit natürlicher Personen, sich unter dem Dach juristischer Personen zu organisieren, die den individuellen Freiheitsbereich erweitern und die Teilnahme am Rechtsverkehr erleichtern. Sie werden vom Gemeinschaftsrecht ebenfalls anerkannt, wie etwa Art. 48 EG über die Gleichstellung der Gesellschaften zeigt. Zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit werden danach Gesellschaften, die auch als juristische Personen organisiert sein können, den natürlichen Personen gleichgestellt, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind. Ein weiterer Beleg ist Art. 230 Abs. 4 EG, wonach auch juristische Personen um Rechtsschutz durch den EuGH nachsuchen können. bb) Individuelle und unternehmerische Handlungsfreiheit Mit der Rechtssubjektivität verbunden sind die individuelle und unternehmerische Handlungsfreiheit, welche auch im Gemeinschaftsrecht grundrechtlichen Schutz genießen. Vor allem die – einstweilen unverbindliche, mit der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon jedoch im Vertragsrang stehende52 – Grundrechte-Charta der EU kodifiziert eine Reihe von Rechten, die wirtschaftsrelevant sind, wie die Berufsfreiheit (Art. 15 GR-Charta), die unternehmerische Freiheit (Art. 16 GR-Charta) und das Eigentumsrecht (Art. 17 GR-Charta). Diese bzw. verwandte Rechte sind heute bereits als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt. Insbesondere aus den vertraglichen Bestimmungen über den Gemeinsamen Markt wird 49 50 51 52
Dazu insb. Basedow (Fn. 12), S. 33. EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, 419, Rn. 7. Grundlegend EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (27). Allerdings mit Einschränkungen für Polen und das Vereinigte Königreich (vgl. das Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte); dazu A. Hatje/A. Kindt, Der Vertrag von Lissabon – Europa endlich in guter Verfassung?, NJW 2008, S. 1761.
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sogar eine „allgemeine Wirtschaftsfreiheit“ hergeleitet, welche subjektiv-rechtlichen Charakter besitzt und gleichzeitig objektiv die Systementscheidung für eine Marktwirtschaft rechtlich abstützt.53 Durch Art. 6 Abs. 1 EU werden diese Freiheitsrechte zu verpflichtenden Inhalten der nationalen Wirtschaftsverfassungen. Sie bilden das notwendige Fundament, damit sich individuelle wirtschaftliche Initiative und Verantwortung auf allen Ebenen des europäischen Verfassungsverbundes entfalten können. Der rechtliche Rahmen, innerhalb dessen sich die wirtschaftlichen Vorgänge abspielen, ist demgemäß vor allem das Privatrecht.54 Auch seine Existenz wird vom Gemeinschaftsrecht vorausgesetzt und anerkannt, es unterliegt aber verstärkt europarechtlichen Einflüssen.55 cc) Gleichheit der Marktteilnehmer Ein weiteres Kennzeichen wettbewerbsverfasster Marktwirtschaften ist die rechtliche Gleichheit der Wirtschaftsteilnehmer. Sie wird durch den ungeschriebenen allgemeinen Gleichheitssatz sowie durch spezielle Diskriminierungsverbote gewährleistet.56 Dazu gehören etwa das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG) und das unmittelbar wirtschaftsrelevante Gebot der gleichen Bezahlung von Männern und Frauen bei gleicher Arbeit (Art. 141 EG). Hinzu kommen die Grundfreiheiten, die im Ursprung und unbestrittenen Kern jedenfalls Diskriminierungsverbote enthalten.57 Sie gelten allerdings, wie etwa die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, zum Teil unmittelbar nur für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, abgesehen von Sonderregelungen des Sekundärrechts oder internationalen Verpflichtungen. Dies ändert nichts am grundlegenden Befund einer auf Gleichheit der Akteure beruhenden Wirtschaftsordnung.58 b) Koordination durch Tausch auf offenen Märkten Im Zentrum des marktwirtschaftlichen Systems steht der Ausgleich von Angebot und Nachfrage für knappe Güter und Dienstleistungen durch zahlreiche individuelle 53 54
55 56 57 58
T. Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff: Die allgemeine Wirtschaftsfreiheit des EG-Vertrages, 1999, S. 333 ff., speziell zur Systemgarantie S. 403. Zur „strukturellen Entsprechung von marktwirtschaftlichem System und Privatrechtsordnung“ siehe insb. E.-J. Mestmäcker, Macht – Recht – Wirtschaftsverfassung, in: ders., Die sichtbare Hand des Rechts, 1978, S. 9 (13); F. Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, Ordo 17 (1966), S. 7. Siehe etwa E. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996; P.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Union, 1993 und 2. Aufl. 1999. Dazu eingehend Schwarze (Fn. 31), S. 529 ff. Zu diesem ursprünglichen Verständnis der Grundfreiheiten siehe etwa Scherer (Fn. 6), S. 110; für eine Revitalisierung T. Kingreen, in diesem Band, S. 727 ff. In diesem Sinne auch die Charakterisierung der Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaften durch H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 567, Ziff. 31: „Als Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaften könnten also begriffen werden: die normative Gesamtentscheidung der Gemeinschaftsverträge zur Verwirklichung der Gemeinschaftsziele, die in der Zollunion des Gemeinsamen Marktes unter Planung der Gemeinschaftsorgane im rechtlich geordneten Wettbewerb national nicht unterschiedener, in ihrer Wirtschaftstätigkeit freier und gleicher Marktbürger verfolgt werden.“
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Entscheidungen der Marktpartner. Es handelt sich um ein anonymes Koordinationsverfahren, durch welches festgestellt werden kann, wer zu welchem Preis über knappe Güter und Dienstleistungen verfügen darf. aa) Sichere Verfügbarkeit der Tauschobjekte Voraussetzung privatautonomer Entscheidungen ist insofern die sichere Verfügbarkeit der Tauschobjekte, also von Waren, Leistungen und einer stabilen Währung.59 (1) Eigentum Hierzu gehört in erster Linie das private Eigentum an Produktionsmitteln als konstituierendes Element einer marktwirtschaftlichen Ordnung.60 Das europäische Recht kennt insoweit zwei Gewährleistungsebenen, die in einem offensichtlichen Spannungsverhältnis stehen: Zum einen lässt der Vertrag gem. Art. 295 EG „die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt“, was nach einhelliger Ansicht einen Kompetenzvorbehalt begründet, welcher es den Mitgliedstaaten insbesondere erlaubt, über die Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln entsprechend den jeweiligen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Präferenzen zu disponieren.61 Der Vorbehalt gilt, was gerade auch aus gemeinschaftlicher Sicht von Interesse ist, nicht nur für das bürgerlich-rechtliche Sacheigentum, sondern auch für alle anderen eigentumsrechtlich geschützten Positionen, wie z.B. gewerbliche Schutzrechte, Urheberrechte und Gesellschaftsanteile.62 Große praktische Bedeutung hat diese Bestimmung – von Ausnahmen abgesehen – in der Vergangenheit allerdings nicht gewinnen können. Der Konflikt um den gemeinschaftsrechtlichen Stellenwert der Daseinsvorsorge hat sie nun aber vor nicht allzu langer Zeit aus dem Jahrzehnte währenden Dornröschenschlaf geweckt. Nun spielt sie in der aktuellen wirtschaftspolitischen und wirtschaftsverfassungsrechtlichen Debatte eine bemerkenswerte Rolle als Bollwerk nationaler Gestaltungsansprüche in der Wirtschaftspolitik. Ihre Implikationen für die europäische Wirtschaftsverfassung werden im Zusammenhang mit den hoheitlichen Eingriffsbefugnissen der EU und der Mitgliedstaaten näher zu erörtern sein. Trotz der neuerlichen Mobilisierung dieses Vorbehalts ist unbestritten, dass die Gemeinschaft durch Art. 295 EG nicht gehindert wird, ihrerseits eigentumsbezogene Maßnahmen zu treffen. Andernfalls würde, wie zu Recht bemerkt wurde, das Vertragsprogramm ins Leere laufen.63 Zum anderen muss die Eigentumsgarantie des Gemeinschaftsrechts respektiert werden. Sie bindet nicht nur die Gemeinschaftsorgane, sondern auch die Mitgliedstaaten, sofern sie im Anwendungsbereich des Vertrages handeln. Das Grundrecht auf Eigentum wurde vom Gerichtshof eingehend im Hauer-Urteil entfaltet.64 Danach 59 60 61 62 63 64
Zum Erfordernis einer stabilen Währung siehe insb. Eucken (Fn. 7), S. 256, wenngleich nur eine „gewisse Stabilität“ verlangt wird. Siehe nur Eucken (Fn. 7), S. 271. I. Brinker, in: Schwarze (Fn. 44), Art. 295 EG, Rn. 1. Vgl. etwa EuGH, Rs. C-10/89, CNL-SUCAL, Slg. 1990, I-3711, Rn. 12. Basedow (Fn. 12), S. 35. EuGH, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727, Rn. 15.
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gewährleistet das europäische Recht – in Anlehnung an Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK – das Recht jeder natürlichen oder juristischen Person auf Achtung ihres Eigentums. Zwar sind auch danach Eingriffe in das Eigentum zulässig, sie bedürfen jedoch einer Rechtfertigung und müssen verhältnismäßig sein. Die GrundrechteCharta der EU greift dieses Konzept in Art. 17 auf, erweitert es sogar um den ausdrücklichen Schutz geistigen Eigentums, und lässt ausdrücklich den Entzug des Eigentums nur gegen Entschädigung zu.65 Privates Eigentum steht daher keineswegs zur unbegrenzten Disposition der Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaft. (2) Stabile Währung Zur sicheren Verfügbarkeit der Tauschobjekte gehört auch eine stabile Währung. Das Ziel des EG-Vertrages ist eine Währungsunion zwischen den Mitgliedstaaten, sofern keine Ausnahme vereinbart wurde und sie die sog. Konvergenzkriterien erfüllen. Mit der Einführung der gemeinsamen Währung in gegenwärtig 15 der 27 Mitgliedstaaten wurde dieses Ziel weitgehend, aber nur vorläufig erreicht. Zwar sind die institutionellen und rechtlichen Vorkehrungen für eine stabile gemeinsame Währung beachtlich. Sie reichen von der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) von Weisungen der nationalen Regierungen (Art. 108 EG) und ihr Banknotenmonopol (Art. 106 EG), über die Ausrichtung der gemeinschaftlichen Geldpolitik auf das primäre Ziel der Geldwertstabilität (Art. 105 Abs. 1 EG), bis hin zur Pflicht der Mitgliedstaaten, übermäßige Haushaltsdefizite zu vermeiden. Aus der Perspektive einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung sind mehr rechtliche Sicherungen kaum denkbar, um eine stabile Währung zu garantieren.66 Allerdings haben die im Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) mit der EZB zusammengeschlossenen Notenbanken auch die Pflicht, unter Wahrung des Stabilitätsziels die übrigen wirtschaftspolitischen Ziele der Gemeinschaft nach Art. 2 EG zu unterstützen, namentlich also auch die Wachstums- und Beschäftigungspolitik (Art. 105 Abs. 1 EG). Welche Friktionen sich daraus im Gefüge der europäischen Wirtschaftsverfassung ergeben können, wird an anderer Stelle zu erörtern sein. bb) Abbau staatlicher Marktschranken durch die Grundfreiheiten Ein wesentliches Anliegen der europäischen Wirtschaftsverfassung ist die Öffnung der nationalen Märkte für Angebot und Nachfrage von Waren und Leistungen aus allen Mitgliedstaaten. Es geht um einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem – wie Art. 14 EG formuliert – der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist. Die Offenheit der Märkte sichert mithin die grenzüberschreitende Wahrnehmung der Privatautonomie.67 65
66 67
Eingehend C. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBl. 2001, S. 1, mit dem wichtigen Hinweis auf den eingeschränkten Geltungsbereich der Charta (Organhandeln/Durchführung). Kritisch allerdings M. Seidel, Konstitutionelle Schwächen der Währungsunion, EuR 2000, S. 861. P.-C. Müller-Graff, in: Groeben/Schwarze (Fn. 40), Vorb. Art. 28–31 EG, Rn. 3.
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(1) Stetige Ausdehnung der Schutzbereiche Die hierauf bezogenen Grundfreiheiten des Güter-, Personen- und Leistungsaustausches folgen zum einen der ökonomischen Einsicht, dass politisch definierte Territorien nicht unbedingt einen wirtschaftlich optimalen Zuschnitt haben. Sie sollen neben dem Freiverkehr zugleich den gemeinschaftsweiten Wettbewerb fördern und damit die vom Binnenmarkt nach dem Prinzip des komparativen Kostenvorteils erwarteten Wohlstandseffekte auslösen.68 Zudem bilden sie gleichsam die Speerspitze des eigentlichen Integrationszieles, welches die Erosion ökonomischer Schutzwälle voraussetzt, um politische Einheitsbildung zu ermöglichen. Insofern sind sie ebenso Teil der Wirtschaftsverfassung wie der politischen Verfassung der Union. Die Grundfreiheiten vermitteln dem Einzelnen ein unmittelbar geltendes subjektives Recht69 auf diskriminierungsfreie wirtschaftliche Betätigung über staatliche Grenzen hinweg.70 Darüber hinaus verbieten sie, was freilich nicht unbestritten ist, praktisch jede staatliche, gemeinschaftliche und private Behinderung grenzüberschreitender Aktivitäten, soweit nicht rechtfertigende Gründe vorliegen.71 Vor allem der Ausbau der Grundfreiheiten zu Behinderungsverboten, welcher vor allem durch den EuGH geleistet wurde, hat den Geltungsbereich der gemeinschaftlichen Wirtschaftsverfassung erheblich erweitert. Danach liegt ein Eingriff in eine Grundfreiheit – in Abwandlung der berühmten Dassonville-Formel des Gerichtshofs – bereits dann vor, wenn eine Maßnahme ein durch die Grundfreiheit geschütztes Verhalten „tatsächlich oder potentiell, unmittelbar oder mittelbar behindert“.72 Auch die als Korrektive dieser Ausweitung im Bereich des freien Warenverkehrs eingeführten „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Rechtsprechung und die „Verkaufsmodalitäten“ der Keck-Judikatur haben letztlich nicht verhindern können, dass sich potentiell alle Regelungsbereiche der nationalen Wirtschafts- und Sozialordnung am Prüfungsmaßstab der Grundfreiheiten legitimieren müssen.73 Die aktuelle Diskussion über die Stellung der sozialen Sicherungssysteme im Binnenmarkt, wie etwa bei der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen in anderen Mitgliedstaaten, zeigt exemplarisch diese Tendenz.74 68 69
70 71
72 73 74
Ebd. Siehe dazu nur EuGH, Rs. 83/78, Pigs Marketing Board, Slg. 1978, 2347, Rn. 66/67 (Warenverkehr); Rs. 41/74, van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rn. 5, 7 (Personenfreizügigkeit); Rs. 2/74, Reyners, Slg. 1974, 631, Rn. 29/31 (Niederlassungsfreiheit); Rs. 33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, 1299, Rn. 24/26 (Dienstleistungsfreiheit); verb. Rs. C-163/94, 165/94 und 250/94, Sanz de Lera, Slg. 1995, I-4821, Rn. 691. Siehe dazu nur R. Streinz, Europarecht, 2005, Rn. 811. Für eine Interpretation als Diskriminierungsverbote etwa T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999, insb. S. 115 ff.; ders., in diesem Band, S. 727 ff.; dagegen MüllerGraff (Fn. 3), S. 45 f. Dazu unter Hinweis auf Differenzierungen zwischen den Grundfreiheiten Streinz (Fn. 70), Rn. 828. Kingreen (Fn. 71), S. 104. Siehe dazu etwa EuGH, Rs. C-157/99, Smits, Slg. 2001, I-5473, mit. Anm. C. Nowak, EuR 2001, S. 741; Rs. C-372/04, Watts, Slg. 2006, I-4325; zu letzterem H.-U. Dettling, Ethisches Leitbild und EuGH-Kompetenz für die Gesundheitssysteme?, EuZW 2006, S. 519.
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Auch der Gerichtshof hat diese Linie jüngst gestärkt, als er darüber zu befinden hatte, ob das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme einschließlich des Streikrechts dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten entzogen sei. Der Gerichtshof entschied, dass weder Art. 137 Abs. 5 EG, der die Vereinigungsfreiheit, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht von der Zuständigkeit der Gemeinschaft ausnimmt, noch der Grundrechtscharakter der Maßnahme diese dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zu entziehen vermag.75 Unter Verweis auf seine vorhergehende Rechtsprechung betonte er, dass der Grundrechtsschutz vielmehr ein berechtigtes Interesse sei, das grundsätzlich geeignet ist, eine Beschränkung der aus den Grundfreiheiten fließenden Verpflichtungen zu rechtfertigen.76 Die Ausübung der betroffenen Grundrechte sei mit den Erfordernissen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte in Einklang zu bringen und müsse dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen.77 Somit sind auch Grundrechtsbeeinträchtigungen am Maßstab der Grundfreiheiten zu bewerten. Zudem hat der Gerichtshof die Ausnahmen von den Grundfreiheiten stets eng interpretiert. Aus der Perspektive der Systementscheidung für eine Marktwirtschaft ist diese Ausdehnung einer Funktionsgarantie offener Märkte positiv, mit Blick auf den politischen Gestaltungsspielraum, namentlich der Mitgliedstaaten, allerdings auch Kritik naheliegend. (2) Einschränkende Aspekte Indes zeigen weitere Urteile, dass der Gerichtshof die Verkehrsfreiheiten nicht nur unter dem Aspekt einer Marktöffnung interpretiert. Insbesondere in der Vorabentscheidung PreussenElektra, in der es um die Bedeutung des Art. 28 EG (damals noch Art. 30 EG-Vertrag) für eine Regelung aus dem deutschen Energierecht ging, wurden die nach Art. 6 EG bestehende Pflicht der Gemeinschaftsorgane, die Erfordernisse des Umweltschutzes bei ihrer Tätigkeit einzubeziehen, sowie umweltpolitische Vorentscheidungen zur Interpretation des Verbotes von Maßnahmen gleicher Wirkung herangezogen.78 Im Mittelpunkt stand die Frage, ob Art. 28 EG einer Regelung des deutschen Stromeinspeisungsgesetzes entgegensteht, wonach die Netzbetreiber verpflichtet sind, die im Bundesgebiet erzeugte elektrische Energie aus regenerierbaren Quellen abzunehmen und mit einem staatlich festgelegten (subventionierenden) Betrag zu vergüten. Dem naheliegenden Vorwurf einer Marktabschottung durch Ausschluss ausländischer Erzeuger begegnete der EuGH u.a. mit der Erwägung, das deutsche Fördermodell entspreche der Gemeinschaftspolitik in diesem Bereich. Deshalb wurde ein Eingriff in Art. 28 EG verneint.79 Gleichwohl wäre es 75 76 77 78 79
Vgl. EuGH, Rs. C-438/05, ITF (Viking Line), Slg. 2007, I-10779, Rn. 39 ff. Vgl. EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, I-5659, Rn. 74; Rs. C-36/02, Omega, Slg. 2004, I-9609, Rn. 35. Vgl. EuGH, Rs. C-438/05 (Fn. 75), Rn. 46. EuGH, Rs. C-379/98, PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099. Ebd., Rn. 72 ff.; eine ähnliche Tendenz, außerökonomische Aspekte bei der Interpretation der Grundfreiheiten zu berücksichtigen, weist auch das Urteil Konstantinidis (Freizügigkeit) auf: Rs. C-168/91, Slg. 1993, I-1191.
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verfrüht, aus diesem Urteil eine neue Tendenz abzuleiten.80 Die Entscheidung zeigt aber denkbare Entwicklungslinien der primär marktfunktional angelegten Grundfreiheiten.81 cc) Kommunikationsfreiheit Darüber hinaus ist die Kommunikationsfreiheit für die Offenheit der Märkte und die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs von grundlegender Bedeutung.82 In einem hoch differenzierten Wirtschaftssystem erweist sich die Freiheit der Kommunikation als wesentliche Voraussetzung des Wettbewerbs, weil anders die Kontaktaufnahme und der Informationsaustausch zwischen Anbietern und Nachfragern kaum möglich ist. Denn Wettbewerb funktioniert nur, wenn der „konstitutive Wissensmangel“ der Wirtschaftssubjekte83 durch Informationen beseitigt werden kann. Dennoch wird die wichtigste Ausprägung ökonomischer Kommunikation in Gestalt der Werbung verbreitet lediglich als – relativ leicht einschränkbarer – Annex der Wirtschaftsfreiheit begriffen, was weder den Besonderheiten von Kommunikationsprozessen noch ihrer Bedeutung für eine wettbewerblich verfasste Wirtschaft gerecht wird.84 Deshalb sollte insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Schutz kommerzieller Kommunikation durch die Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK vom EuGH rezipiert werden.85 Bislang sieht der EuGH namentlich Werbung vor allem als Schutzgut der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit.86 dd) Begrenzte Offenheit nach Außen Im Vergleich zum Innenbereich ist die Offenheit des europäischen Marktes nach Außen wesentlich schwächer ausgeprägt.87 Denn die Zollunion zwischen den Mitgliedstaaten setzt begriffsnotwendig eine Abgrenzung des Heimatmarktes gegenüber dritten Ländern voraus. Zumindest erfordert jede rechtmäßige Einfuhr- und Ausfuhr ein Verwaltungsverfahren, welches die ordnungsgemäße zollrechtliche Behandlung der Waren gewährleisten soll. Auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungsfreiheit sowie die Dienstleistungsfreiheit sind Unionsbürgern vorbehalten.88 Die Freiheit des Kapitalverkehrs ist zwar auch im Verhältnis zu 80 81 82 83 84
85 86 87 88
Siehe allerdings auch ebd. Ausführlich zu den Grundfreiheiten T. Kingreen, in diesem Band. Auf diesen Aspekt hat namentlich Basedow (Fn. 12), S. 17 f., aufmerksam gemacht. M. Streit, Theorie der Wirtschaftspolitik, 1991, S. 82. Vgl. dazu etwa A. Hatje, Werbung und Grundrechtsschutz in rechtsvergleichender Perspektive, in: J. Schwarze (Hrsg.), Werbung und Werbeverbote im Lichte des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 37 (48 ff.); umfassend J. Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, 1999. EGMR, Nr. 15450/89, Casado Coca/Spanien, Ser. A Nr. 285; Nr. 15088/89, Jacubowski/ Deutschland, Ser. A Nr. 291. Siehe insbesondere C. Timmermans, Werbung und Grundfreiheiten, in: Schwarze (Fn. 84), S. 26. Dazu aus ökonomischer Sicht Mussler (Fn. 27), S. 123 f. Vgl. dazu Streinz (Fn. 70), Rn. 786–788, mit einem Überblick.
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Drittstaaten gewährleistet, unterliegt jedoch weitergehenden Einschränkungsmöglichkeiten als der interne Kapitalverkehr.89 Insofern hat die bekannte Formel von Hans Peter Ipsen, der Gemeinsame Markt sei durch „Freiheit im Innern und Einheit nach Außen“ gekennzeichnet, durchaus ihre Berechtigung.90 Diese Einheit im Verhältnis zu Drittstaaten hat bisher auch der Gerichtshof gesichert, indem er die unmittelbare Geltung internationaler Abkommen im innergemeinschaftlichen Rechtsraum nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen zulässt. Im Regelfall können Wirtschaftsteilnehmer aus diesen Verträgen daher keine Rechte herleiten, mit denen sich etwa die Gültigkeit sekundärrechtlicher Akte der Gemeinschaft in Frage stellen ließe. Dies gilt namentlich für die Vorschriften der WTO-Vereinbarungen. Hier dominiert die politische Einschätzungsprärogative von Rat und Kommission.91 Sie kommt auch in den – freilich nicht alltäglichen – Fällen eines gemeinschaftlichen Wirtschaftsembargos gegenüber Drittstaaten zum Tragen. Der Außenhandel kann gem. Art. 301 EG beschränkt werden, wenn dies im Rahmen der GASP oder – was allerdings umstritten ist – im Rahmen der Gemeinsamen Handelspolitik nach Art. 133 EG beschlossen wurde.92 Nach der Reform von Lissabon sieht der Vertragstext nunmehr auch eine ausdrückliche Ermächtigung für den Erlass restriktiver Maßnahmen gegen natürliche oder juristische Personen sowie Gruppierungen oder nichtstaatliche Einheiten vor (vgl. Art. 215 Abs. 2 AEUV, der um diese Regelung erweitert Art. 301 EG ersetzt).93 Die Offenheit des Marktes, insoweit ohnehin begrenzt, wird hier zu einem Instrument der Außenpolitik, namentlich der Terrorismusbekämpfung. c) Wettbewerb als Instrument der Koordination Das Wettbewerbsrecht der Art. 81 ff. EG sichert die Offenheit der Märkte in der Gemeinschaft gegen Marktbeschränkungen und Verfälschungen durch Unternehmen und staatliche Urheber. Es ist Ausdruck des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, insbesondere die Konkretisierung der Aufgabe des Art. 3 Abs. 1 lit. g EG, wonach ein System unverfälschten Wettbewerbs errichtet werden soll. Mit der Vertragsreform von Lissabon ist die Errichtung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs auf Drängen Frankreichs aus den Zielbestimmungen 89 90 91 92 93
Dazu näher Nicolaysen (Fn. 16), S. 398 f. Ipsen (Fn. 58), S. 551. Vgl. dazu M. Hilf/F. Schorkopf, WTO und EG: Rechtskonflikte vor dem EuGH?, EuR 2000, S. 74. Zur Kompetenzverteilung siehe nur H.-J. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, 2007, Art. 301 EG, Rn. 13. Mit der Ausdehnung des Anwendungsbereichs von Art. 301 EG durch den Vertrag von Lissabon wurde auf die vom Gerichtshof mittlerweile entschiedene Rs. C-402/05 P, Kadi u.a./ Rat und Kommission, Slg. 2008, I-0000, reagiert. Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens war die Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates, die ein Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen vorsah und auf der Grundlage der Art. 60, 301 und 308 EG erlassen wurde. Streitig war unter anderem, inwieweit Sanktionen gegen Personen auf Art. 301 EG gestützt werden können. Nach dem Urteil des Gerichtshofs ist das Heranziehen von Art. 60, 301 und 308 EG als gemeinsame Rechtsgrundlage jedoch nicht zu beanstanden.
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der Union gestrichen worden. Die Aufzählung der Ziele in Art. 3 EUV-Liss. sieht jedoch eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft vor. Das Wettbewerbsziel hat außerdem Aufnahme in das Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb gefunden, wonach der Binnenmarkt ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt. Damit ist der unverfälschte Wettbewerb ein dem Binnenmarkt immanentes Ziel, das mit dem Protokoll gleichzeitig auf Primärrechtsebene verankert wurde. Die Art. 81 ff. EG sind auch nach Lissabon nicht verändert worden, so dass insgesamt keine grundlegende Neuausrichtung des wirtschaftspolitischen Konzepts im Wettbewerbsrecht zu verzeichnen ist. Hier kann es im Folgenden nur skizzenhaft um den prinzipiellen Beitrag des europäischen Wettbewerbsrechts zur Absicherung der Systementscheidung für eine Marktwirtschaft durch entsprechend justiziable Funktionsgarantien gehen.94 aa) Funktion und Begriff Geschützt wird der „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“95, welches Wissen über alternative Verwendungsmöglichkeiten knapper Ressourcen erschließt und eine Voraussetzung dafür ist, dass der Preismechanismus als Medium der Koordination von Angebot und Nachfrage funktioniert. Insofern wirkt Wettbewerb, wie namentlich Walter Eucken und Ernst-Joachim Mestmäcker hervorgehoben haben, auch der Konzentration von Macht in wenigen Händen entgegen. Gleichzeitig verkörpert der Wettbewerb als Schutzgut dieser Vorschriften die individuelle wirtschaftliche Handlungsfreiheit, welche die Konkurrenz auf dem Markt einschließt. Der Vertrag definiert den Begriff des Wettbewerbs nicht. Es handelt sich um einen unbestimmten Begriff, der einer Konkretisierung bedarf, um anwendungsfähig zu sein.96 Seit jeher ist umstritten, welches die konstituierenden Merkmale des gemeinschaftlichen Wettbewerbs sind. Die Praxis der Kommission und die Rechtsprechung des EuGH/EuG zu Art. 81 EG lassen sich dahin gehend zusammenfassen, dass es um den Schutz des freien, redlichen, unverfälschten und wirksamen Wettbewerbs geht, welcher vor staatlichen und privaten Eingriffen bewahrt werden muss, nicht mit unlauteren oder leistungsfremden Mitteln geführt werden darf und sich auf der Grundlage von Marktstrukturen entwickeln soll, die eine hinreichende Wettbewerbsintensität gewährleisten.97 Dieser Zielvorgabe entsprechen die Vorschriften der Art. 81 ff. EG, die bestimmte Verhaltensweisen und ihre Wirkung auf den zwischenstaatlichen Handel einer gemeinschaftlichen Kontrolle unterwerfen.
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Zur Wettbewerbsverfassung und zum Wettbewerbsrecht siehe J. Drexl, in diesem Band. So die bekannte Formulierung von F. A. von Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Walter Eucken Institut Freiburg (Hrsg.), Freiburger Studien – Gesammelte Aufsätze von F. A. von Hayek, 1969, S. 249. Vertiefend J. P. Terhechte, Die ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale des europäischen Wettbewerbsrechts, 2004, S. 145 ff. H. Schröter, in: Groeben/Schwarze (Fn. 40), Art. 81 EG, Rn. 84; I. Brinker, in: Schwarze (Fn. 44), Art. 81 EG, Rn. 36.
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bb)Bereichsausnahmen vom Wettbewerbsprinzip Allerdings werden bestimmte Wirtschaftsbereiche, Produkte und Leistungen vom Wettbewerbsprinzip ausgenommen und einem Sonderregime unterworfen. Dazu gehört insbesondere die Gemeinsame Agrarpolitik (Art. 32 ff. EG), die nur insoweit den Wettbewerbsregeln folgen muss, als der Rat dies bestimmt (Art. 36 EG). Der Vertrag steht mithin einer stärker marktgesteuerten Landwirtschaft nicht entgegen, knüpft diesen Kurswechsel aber an eine vorherige gesetzgeberische Entscheidung. Das Wettbewerbsprinzip gilt ferner nur mit Einschränkungen in der Verkehrspolitik (Art. 70 ff. EG)98 und für das Verteilungsregime für spaltbare Stoffe gemäß dem EAG-Vertrag (Art. 52 ff.). Gründe hierfür sind etwa die Versorgungssicherheit, die Verwaltung knapper Ressourcen, aber auch Rücksichtnahme auf gewachsene Strukturen und politische Widerstände in den Mitgliedstaaten. Die Sonderlage der Kohle- und Stahlindustrie wurde mit Außerkrafttreten des EGKS-Vertrages weitgehend in die Normalität des EG-Binnenmarktes überführt. cc) Wettbewerb und Marktversagen Das System unverfälschten Wettbewerbs, welches der Vertrag zu den Grundlagen seines Marktkonzepts rechnet (Art. 3 Abs. 1 lit. g EG), kann aus den unterschiedlichsten Gründen gestört sein. So können etwa Informationsdefizite, negative externe Effekte, eine ruinöse Konkurrenz oder natürliche bzw. technische Monopole zu einem mehr oder weniger ausgeprägten „Marktversagen“ führen, welches sich durch die Wettbewerbsaufsicht allein nicht beseitigen lässt.99 Diese Defizite in der allokativen Effizienz des Marktes lassen sich vielfach nur durch regulative oder andere Eingriffe korrigieren. Sie können durchaus den Marktmechanismus stärken und sind daher, entsprechend konzipiert, nicht von vornherein ein Fremdkörper in der marktwirtschaftlichen Verfassung der EU. Allerdings sind die Korrekturen rechtlich ein Teil der wirtschaftspolitischen Kompetenzen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, was konzeptionelle Konsequenzen für den Markt haben kann. Mit der Zuweisung einer ausschließlichen Kompetenz der Union für die Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln durch den Vertrag von Lissabon legitimiert der Vertrag die Union nun ausdrücklich, die beschriebenen Korrekturen vorzunehmen. 3. Funktionsgarantien des Marktes und Wirtschaftspolitik Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten können zu unterschiedlichen Zwecken in die Marktprozesse eingreifen und dadurch die freie wirtschaftliche Entfaltung der Marktbeteiligten sowohl empfindlich beschränken als auch nachhaltig fördern. Den rechtlichen Rahmen bilden einerseits die Systementscheidung für eine offene 98
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Der Gerichtshof hat in seinem Urteil zur gemeinschaftlichen Verkehrspolitik hervorgehoben, dass dieser Bereich prinzipiell auch in das Regime des Gemeinsamen Marktes integriert werden soll, EuGH, Rs. 13/83, Parlament/Rat, Slg. 1985, 1513, Rn. 62. Zur wirtschaftsverfassungsrechtlichen Bedeutung des Marktversagens, Basedow (Fn. 12), S. 14.
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Marktwirtschaft und die sie absichernden Garantien, andererseits die politischen Gestaltungsziele und die jeweiligen Ermächtigungen, die vielfach ein weites Ermessen eröffnen, welches freilich seinerseits an rechtliche Grenzen gebunden ist. a) Ziele der Gemeinschaftstätigkeit Die grundlegenden Ziele der gemeinschaftlichen Tätigkeit werden von Art. 2 EG normiert. Aus dem vergleichsweise bescheidenen Kanon des Gründungsvertrages der EWG von 1957, welcher nach seinem Art. 2 eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten anstrebte, sind weit gefächerte Hauptziele geworden, die das Handeln der Gemeinschaft bestimmen. Zu den unmittelbar wirtschaftsbezogenen Aufgaben der EG gehören danach eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens in der ganzen Gemeinschaft, ein hohes Beschäftigungsniveau, ein beständiges, nichtinflationäres Wachstum, ein hoher Grad an Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität sowie die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts. Weitere Ziele sind ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein hohes Maß an Umweltschutz und Umweltqualität sowie die Förderung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. b) Instrumente Entsprechend dem wirtschaftlichen Schwerpunkt sind gemäß Art. 2 EG die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes sowie einer Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 4 EG) die wesentlichen Instrumente zur Verwirklichung dieser Ziele.100 Vor allem soll als Grundlage der gemeinsamen Währung eine Wirtschaftspolitik eingeführt werden, welche die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse verwirklichen. Unter Wirtschaftspolitik lässt sich im weitesten Sinne die Gesamtheit der Maßnahmen verstehen, mit denen der Wirtschaftsprozess um bestimmter Ziele willen beeinflusst und gesteuert werden soll.101 Dieses Begriffsverständnis liegt auch den vertraglichen Vorschriften der Art. 4 und 98 EG zugrunde.102 Daneben werden allerdings auch die Tätigkeiten des Art. 3 EG genannt, die teils eigenständige Politikfelder der Gemeinschaft bezeichnen, auf denen sie regulierend, fördernd oder koordinierend tätig werden kann. Auch der Tätig100 101 102
Zum instrumentellen Charakter dieser Politiken, die allerdings gleichzeitig als Ziele angesprochen werden können M. Zuleeg, in: Groeben/Schwarze (Fn. 40), Art. 2 EG, Rn. 13. Vgl. nur A. Heertje/H.-D. Wenzel, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre, 2001, S. 369. Vgl. dazu C. C. Steinle, Europäische Beschäftigungspolitik, 2001, S. 79, mit weiteren Nachweisen zu abweichenden, aber zu engen Ansichten, welche die Wirtschaftspolitik im Sinne des Vertrages auf die Globalsteuerung beschränken wollen. Dies ist aber mit Blick auf die wenigen Kompetenzen der Gemeinschaft in diesem Bereich nicht überzeugend, wenn gleichzeitig die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft eine Wirtschaftspolitik entwickeln sollen.
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keitskatalog des Art. 3 EG ist in den letzten Jahrzehnten stetig ausgebaut worden.103 In seiner Entwicklung spiegeln sich die unterschiedlichsten Interventionsanliegen der Mitgliedstaaten wider, die sich in einem „entgrenzten Markt“ mit staatenübergreifendem Wettbewerb und vor allem im Rahmen einer Währungsunion zumindest nicht mehr ausschließlich national verfolgen lassen. Ungeachtet der sachlichen Zuordnung zu bestimmten Politikbereichen erlauben die meisten dieser Aktivitäten Eingriffe in wirtschaftliche Vorgänge. Ob diese Eingriffe marktkonform oder wettbewerbsverzerrend sind, hängt insbesondere von ihrer konkreten Ausgestaltung und den Umständen ab. In jedem Fall bergen sie ein Ingerenzpotenzial, welches für eine Dogmatik der europäischen Wirtschaftsverfassung von zentraler Bedeutung ist. c) Wirtschaftsverfassungsrechtliche Konsequenzen Die zentrale juristische Aufgabe, das Verhältnis der Funktionsgarantien einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu den wirtschaftspolitischen Gestaltungsermächtigungen und Ausnahmeklauseln systematisch zu erfassen, lässt sich nur bewältigen, wenn der Zuständigkeitsverteilung entsprechend zwischen der Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft und der nationalen Wirtschaftspolitik unterschieden wird. Beide Ebenen treffen im Verbund der europäischen Wirtschaftsverfassungen jeweils Maßnahmen, die sich auf den Sach- und Funktionszusammenhang der Wirtschaft auswirken. Allerdings hat das Gemeinschaftsrecht – das Unionsrecht spielt in diesem Zusammenhang keine wesentliche Rolle – kraft seiner sachlichen Reichweite und seines Vorrangs eine Maßstabsfunktion für das Handeln der Mitgliedstaaten. Freilich sind die Grenzen dort nicht scharf zu ziehen, wo beide Akteure ihre jeweiligen Politiken koordinieren oder nationale Maßnahmen einer gemeinschaftlichen Kontrolle unterliegen. Diese Überschneidungen sind in Rechnung zu stellen, sie ändern aber nichts an der prinzipiellen Dominanz des Gemeinschaftsrechts, welches in unterschiedlicher Weise die Organe einerseits und die Mitgliedstaaten andererseits bei marktrelevanten Maßnahmen anleitet und begrenzt.
III. Wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume der Gemeinschaft Das rechtliche Profil der gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik ergibt sich aus den Asymmetrien der Kompetenzordnung (dazu 1.), den Rechtsformen des Handelns (dazu 2.), den Politikbereichen (dazu 3.) und den rechtlichen Gestaltungsgrenzen (dazu 4.). Eine gesonderte Betrachtung erfordert die final und institutionell verselbständigte Währungspolitik (dazu 5.). 1. Asymmetrien der Kompetenzordnung Einer Dogmatik der wirtschaftspolitischen Befugnisse der Gemeinschaft sind bereits durch ihren Gegenstand Grenzen gesetzt. Denn die europäische Kompetenzordnung 103
Kritisch zu dieser politischen Anreicherung des Vertrages etwa L. Vollmer, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftspolitik der EG nach „Maastricht“, Der Betrieb 1993, S. 25.
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zeichnet sich durch Lücken und Asymmetrien aus, welche von unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Traditionen und aktuellen Prioritäten der Mitgliedstaaten ebenso geprägt sind wie durch machtpolitische Vorbehalte, die sich naturgemäß gerade auf diesen Politikbereich beziehen, der als wesentlicher Gradmesser für den Erfolg einer Regierung dient. Die konzeptionellen Brüche schlagen sich in den Vertragsbestimmungen nieder und erschweren ihre rechtliche Einordnung in den Normenkreis einer wettbewerbsgesteuerten Marktwirtschaft. a) Tendenzen der bisherigen Entwicklung Kennzeichnend für die bisherige Entwicklung ist ein stetiger Ausbau der gemeinschaftlichen Interventionsbefugnisse. Während der EWG-Vertrag im Ursprung vor allem das Ziel des Gemeinsamen Marktes anstrebte und die Gesetzgebungsorgane – von der Agrar- und Verkehrspolitik abgesehen – im Wesentlichen nur zu solchen Maßnahmen ermächtigte, die unmittelbar einer Verwirklichung dieses Zieles dienten, wurde der Normbestand mit jeder Vertragsänderung um vor allem weitere – aus der Marktperspektive – regulative Kompetenzen angereichert. Zum einen handelte es sich nicht selten um die primärrechtliche Verankerung von Politiken, die bereits informell oder sekundärrechtlich – etwa auf der Grundlage von Art. 308 EG – eingeführt worden waren,104 zum anderen waren die Kompetenzausdehnungen häufig Teile von Kompromisspaketen, die einen Interessenausgleich zwischen unterschiedlichen Konzepten der Politik, insbesondere der Wirtschaftspolitik anstrebten. So wurde mit dem Binnenmarktziel 1992 der Einheitlichen Europäischen Akte (Art. 8a EWG-Vertrag, heute Art. 14 EG) die Öffnung der nationalen Märkte durch eine Rechtsangleichung mit qualifizierter Mehrheit wesentlich dynamisiert, gleichzeitig aber auch z.B. eine Kohäsionspolitik und eine Umweltpolitik eingeführt, welche die Wettbewerbsfähigkeit weniger entwickelter Volkswirtschaften verbessern bzw. außerökonomische Interessen sichern sollten. Der ausdrücklichen Verankerung der Systementscheidung für eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb sowie einer vorrangig an der Preisstabilität ausgerichteten Währungsunion durch den Vertrag von Maastricht steht die industriepolitische Kompetenz der EG gegenüber. Sie entspricht konzeptionell der Wirtschaftspolitik von Staaten wie Frankreich, die eine aktive Förderung bestimmter Industriezweige betreiben, durch eine unabhängige europäische Währungspolitik aber konjunkturpolitische Steuerungsmöglichkeiten eingebüßt haben. Ergänzt wurden diese Befugnisse 1997 durch die Amsterdamer Vertragsreform um Bestimmungen über die Sozial-105 und Beschäftigungspolitik106 sowie eine Bestandsgarantie zugunsten der öffentlichen Daseinsvorsorge.107 104 105
106 107
Ein Musterbeispiel hierfür ist die Regionalpolitik. Zur Sozialpolitik nach Amsterdam siehe etwa U. Runggaldier, Der neue Beschäftigungstitel des EG-Vertrages und die Übernahme des sog. Sozialabkommens in den EG-Vertrag, in: W. Hummer (Hrsg.), Die Europäische Union nach dem Vertrag von Amsterdam, 1998, S. 197; eine ausführliche Analyse findet sich im Sammelband von J. Shaw (Hrsg.), Social Law and Policy in Evolving European Union, 2001. Dazu eingehend Steinle (Fn. 102), S. 132 ff. Vgl. A. Hatje, in: Schwarze (Fn. 44), Art. 16 EG, Rn. 3.
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b) Das Verhältnis von Wirtschafts- und Währungsunion Eine grundlegende Zäsur bedeutete allerdings die Einführung der Währungsunion durch den Vertrag von Maastricht. Sie überführt mit der Geld- und Währungspolitik ein wesentliches Instrument der Wirtschaftspolitik in gemeinschaftliche Verantwortung. Zudem wurde die Wahrnehmung der damit verbundenen Befugnisse – von den Besonderheiten der Wechselkurspolitik gegenüber Drittstaaten abgesehen – durch die Übertragung auf eine unabhängige Europäische Zentralbank organisatorisch verselbständigt und dem Einfluss der politischen Gemeinschaftsorgane zumindest rechtlich entzogen. Die gleichzeitig geschaffene Wirtschaftsunion ist hingegen deutlich schwächer ausgeprägt, obwohl die Notwendigkeit einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik in dem skizzierten umfassenden Sinne als notwendige Voraussetzung der Währungsunion stets betont wird.108 Allerdings ist eine differenzierte Betrachtung notwendig.109 Ausgangspunkt jeder Dogmatik in diesem Bereich muss die systematische Erfassung der Regelungspotenziale der Gemeinschaft sein. Sie ergeben sich insbesondere aus den Rechtsformen und den Bereichen gemeinschaftlicher Einflussnahme auf den Wirtschaftsprozess. 2. Rechtsformen der Wirtschaftspolitik Ein erster Parameter, welcher es erlaubt, das Ingerenzpotenzial der Verträge einzuschätzen, sind die Rechtsformen der wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Insofern lassen sich regulierende Eingriffe durch gemeinschaftliche Rechtsetzung und die Koordination aufgrund unverbindlicher Empfehlungen unterscheiden. Hinzu kommen Beihilfen in Gestalt finanzieller Zuwendungen, die entweder an die Mitgliedstaaten oder private Wirtschaftsbeteiligte geleistet werden.110 Im Vordergrund der juristischen Betrachtung steht naturgemäß die Rechtsetzung der Gemeinschaft, weil sie den gesetzlichen Rahmen der Wirtschaftstätigkeit im Binnenmarkt auskleiden und den Ablauf des Wirtschaftsprozesses beeinflussen kann. An die Rechtsetzung ist der spezifische Wirkungsmodus des Gemeinschaftsrechts geknüpft, insbesondere die unmittelbare Geltung bzw. Wirksamkeit, der Vorrang und die Haftung der Mitgliedstaaten. Hinzu kommen subjektive Rechte der Unionsbürger, die nicht nur zur Verteidigung der Marktfreiheiten eingesetzt werden können, sondern auch die Durchsetzbarkeit allgemeiner Interessen gewährleisten, was namentlich im Bereich des Umweltschutzes praktisch bedeutsam geworden ist.111 Eine besondere Form ist die Koordination bestimmter Politikbereiche, na108 109 110
111
Siehe nur Wittelsberger (Fn. 40), Art. 4 EG, Rn. 2. Vgl. nur Nicolaysen (Fn. 16), S. 336 ff., mit einer ausführlichen Analyse der Bestimmungen. Auch insoweit herrscht eine fast unübersehbare Vielfalt von Einteilungen und Begriffsbildungen, wobei es vor allem darum geht, hoheitliche Eingriffe im weitesten Sinne von den faktischen Folgen privaten Verhaltens abzugrenzen; zu einer anderen Einteilung etwa W. Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2003, Rn. 223–225 (Regulierung/Beihilfen). Insofern ist der Ausbau subjektiv-rechtlicher Positionen im Gemeinschaftsrecht nicht mehr auf die Durchsetzung des Binnenmarktes beschränkt, siehe dazu etwa A. Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998, S. 307 ff. m.w.N.
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mentlich der allgemeinen Wirtschaftspolitik aufgrund gemeinschaftlicher Empfehlungen, die zwar nicht rechtsverbindlich sind, gleichwohl aber Rechtfertigungslasten der abweichenden Partei begründen. Schließlich haben gemeinschaftliche Beihilfen für die steuernde Einflussnahme auf bestimmte Sach- und Lebensbereiche zumindest eine sektorielle Bedeutung, insbesondere im Agrarbereich und in der Regionalförderung. Da sie durch finanzielle Anreize und nicht durch normative Bindungen auf die jeweiligen Akteure einwirken, lässt sich ihr Ingerenzpotenzial mit juristischen Methoden jedoch kaum bestimmen. Allenfalls die empirische Erkenntnis, dass der Lenkungseffekt des „goldenen Zügels“ ebenso wirksam sein kann wie die autoritative Anordnung, mag einen Hinweis auf die Möglichkeiten der Gemeinschaften geben, durch finanzielle Zuwendungen ihre Interventionsziele zu erreichen. 3. Bereiche gemeinschaftlicher Wirtschaftspolitik Im Zentrum der Ingerenzpotenziale stehen die Bereiche gemeinschaftlicher Wirtschaftspolitik und die zugehörigen Ermächtigungen, welche sich trotz mancher Überschneidungen nach dem Zielgebiet des Instrumentariums in die Kategorien der Ordnungspolitik, Verlaufspolitik sowie Verteilungs- und Sozialpolitik einteilen lassen. a) Ordnungspolitik Ein wesentliches Kennzeichen der europäischen Wirtschaftsverfassung ist die vergleichsweise präzise Festlegung des Rahmens der Wirtschaftstätigkeit in Form der Systementscheidung des Art. 4 Abs. 1 EG und der sie absichernden Garantien einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. Jedoch handelt es sich nicht um ein geschlossenes, nachträglichen Modifikationen unzugängliches System, welches die Wirtschaftspolitik auf einen strikten Normvollzug festlegt. Vielmehr werden die Organe ermächtigt, den marktwirtschaftlichen Rahmen ordnungspolitisch auszugestalten. aa) Marktöffnung durch Rechtsangleichung Eine wichtige Gruppe von Vorschriften soll eine Öffnung der Märkte durch Rechtsangleichung bewirken. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ziel der Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes. Dazu gehören insbesondere die allgemeinen Ermächtigungen der Art. 94 und 95 EG sowie spezielle Kompetenzen im Rahmen der Grundfreiheiten und im Bereich der Steuerharmonisierung.112 Diese Vorschriften erweisen sich allerdings als ordnungspolitisch ambivalent. Sie setzen dort an, wo die Grundfreiheiten unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen des Wirtschaftsverkehrs in den Mitgliedstaaten zulassen, welche aber die Offenheit der Märkte einschränken und daher einem „Raum ohne Binnengrenzen“ entgegenstehen. Die Rechtsangleichung fördert – zumindest idealtypisch –
112
Einen guten Überblick gibt W. Kahl, in: Calliess/Ruffert (Fn. 92), Art. 95 EG, Rn. 5 f.
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die grenzüberschreitende Offenheit der Märkte durch Abbau rechtlicher Hindernisse und damit die Gleichheit der Marktteilnehmer. Zwar treten dabei an die Stelle nationaler Reglementierungen gemeinschaftliche Bestimmungen, die aus der Perspektive der Wirtschaftsbeteiligten gleichwohl die ökonomische Handlungsfreiheit beschränken können.113 Jedoch resultiert aus der gewonnenen Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen in der Regel zugleich auch ein liberaler Mehrwert, welcher sich positiv auf den Markt auswirkt. Als problematisch erweist sich die Tendenz, welche unten näher zu würdigen ist, die Rechtsangleichung unter dem Einfluss sog. Querschnittsklauseln mit außerökonomischen Zielen aufzuladen, wie etwa dem Gesundheits- oder dem Umweltschutz. Sie kann damit, ungeachtet der ohnehin von ihr ausgehenden Eingriffswirkung, in der Hand eines interventionsfreudigen Gesetzgebers zum Vehikel wettbewerbsfremder Gestaltungsinteressen werden.114 Das Beispiel der – allerdings für nichtig erklärten – Richtlinie über ein absolutes Werbeverbot für Tabakerzeugnisse markiert einen vorläufigen – negativen – Höhepunkt dieser Tendenz.115 Das Tabakrichtlinien-Urteil des EuGH beschränkt allerdings die Kompetenz der Gemeinschaft auf die Angleichung solcher Unterschiede, die sich nicht nur hypothetisch, sondern „tatsächlich“ bzw. „spürbar“ auf den innergemeinschaftlichen Wirtschaftsverkehr auswirken.116 Dies begrenzt einerseits die Sozialgestaltung durch den europäischen Gesetzgeber, eröffnet andererseits aber neue Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten.117 bb) Liberalisierung regulierter Märkte Ein weiteres Feld ordnungspolitischer Maßnahmen ist die Liberalisierung regulierter Märkte. Die Liberalisierungspolitik beruht zum einen auf Art. 86 Abs. 3 EG, welcher neben Art. 95 EG die Grundlage einer Reihe von Richtlinien zur Liberalisierung der Telekommunikationsdienstleistungen war.118 Darüber hinaus erlaubt die Vorschrift den Erlass einzelner Entscheidungen, die bestimmte Probleme regulierter Leistungen bzw. der Tätigkeit öffentlicher Unternehmen in einzelnen Mitgliedstaaten zum Gegenstand haben.119 Zum anderen werden derartige Maßnahmen auf die Binnenmarktkompetenz des Art. 95 EG gestützt, die etwa für die Liberalisierung der Postdienste genutzt wurde.120
113 114
115 116 117 118 119 120
Zu dieser Problematik gemeinschaftlicher Rechtsangleichung in Konkurrenz zum Systemwettbewerb unterschiedlicher nationaler Regulierungen Mussler (Fn. 27), S. 134 ff. Zu dem insoweit bestehenden weiten Beurteilungsspielraum C.-D. Ehlermann, The Internal Market Following the Single European Act, CMLRev. 24 (1987), S. 361 (389); P.-C. MüllerGraff, Die Rechtsangleichung zur Verwirklichung des Binnenmarktes, EuR 1989, S. 107 (136). Siehe EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419. Ebd., Rn. 106. Vgl. dazu auch Müller-Graff (Fn. 3), S. 58; C. Calliess, Nach dem „Tabakwerbung“-Urteil des EuGH, Jura 2001, S. 311. Überblick bei C. Jung, in: Calliess/Ruffert (Fn. 92), Art. 86 EG, Rn. 60 f. Ebd. Rn. 63, 64. Einzelheiten ebd., Art. 86 EG, Rn. 62.
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cc) Aufbau eines Raumes der Freiheit und der Sicherheit Ein wenig beachteter Aspekt der europäischen Wirtschaftsverfassung ist die angestrebte weitgehende Liberalisierung des Personenverkehrs im Rahmen der dritten Säule.121 Sie umfasst zwar nicht alle Mitgliedstaaten, da Großbritannien, Irland und Dänemark insofern Ausnahmen für sich reklamiert haben. Dennoch wird die Personenmobilität durch einen kontrollfreien Grenzübertritt zweifellos erleichtert, was auch Rückwirkungen auf die Allokation des Produktionsfaktors Arbeit haben wird. b) Verlaufspolitik Die Einflussmöglichkeiten der Gemeinschaft auf den Ablauf des Wirtschaftsprozesses bedürfen einer differenzierten Betrachtung. Die in diesen Zusammenhang gehörende Geld- und Währungspolitik wird in einem gesonderten Abschnitt behandelt. aa) Finanzpolitik Die Finanzpolitik spielt in der gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik keine entscheidende Rolle. Zum einen ist das Budgetvolumen der Gemeinschaft zu gering, um als wirksames Instrument finanzieller Globalsteuerung eingesetzt werden zu können. Zum anderen fehlt der Gemeinschaft insbesondere die Befugnis, über die Art und Höhe der Einnahmen selbst disponieren zu können. Die eigenen Einnahmen gemäß Art. 269 EG sind der Gemeinschaft primärrechtlich zugewiesen, ihr Erhebungsschlüssel sowie die Obergrenzen stehen nicht zur Disposition der Organe.122 Auch die Zölle unterliegen rechtlichen Bindungen im Rahmen der WTO. Allenfalls die vom EuGH zugestandene Befugnis, auf der Grundlage einer Sachkompetenz wirtschaftspolitisch motivierte Lenkungsabgaben einzuführen, vermittelt den Organen einen gewissen finanzpolitischen Aktionsradius.123 Praktische Bedeutung größeren Ausmaßes haben diese Instrumente bisher jedoch nicht erlangt. bb) Maßnahmen der Strukturförderung Eine weitere Gruppe von Vorschriften ermächtigt die Gemeinschaft – zum Teil in Kooperation mit den Mitgliedstaaten – zu Maßnahmen der Strukturförderung. Einerseits ist Strukturpolitik das Korrelat zu einer auf dem Verbotsprinzip basierenden Wettbewerbskontrolle, welches durch marktbelebende Initiativen den Wettbewerb aktiv stärken soll. Sie lässt sich daher als „ordnungsergänzende Wirtschaftspolitik“ verstehen, welche den Rahmen des wirtschaftlichen Geschehens beeinflusst. Andererseits gehören Fördermaßnahmen zum ablaufspolitischen Instrumentarium, da sie nicht zuletzt das wirtschaftliche Wachstum anregen sollen. Diese Doppelfunktion zeigt sich auch in den einschlägigen Ermächtigungen des Vertrages.124
121 122 123 124
So zu Recht Müller-Graff (Fn. 3), S. 29 ff. Vgl. dazu etwa Oppermann (Fn. 4), § 11 Rn. 2. Vgl. insb. EuGH, Rs. 138/78, Stölting, Slg. 1979, S. 713; Rs. 108/81, Amylum/Rat, Slg. 1982, 3109. Zu dieser Doppelfunktion Teichmann (Fn. 32), S. 208.
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(1) Sektorielle Strukturpolitik Beispiele hierfür sind die Industriepolitik (Art. 157 ff. EG), die Forschungs- und Entwicklungspolitik (Art. 163 ff. EG) sowie die Förderung transeuropäischer Netze (Art. 154–156 EG), welche die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und die infrastrukturellen Rahmenbedingungen stärken sollen. Vor allem die Industriepolitik, eingeführt mit dem Vertrag von Maastricht, wurde als ordnungspolitischer Sündenfall angesehen, als Schlussstein einer Integration durch Intervention.125 Aus wettbewerblicher Sicht ist mit einer Förderung bestimmter Unternehmen oder Wirtschaftszweige stets eine Ungleichbehandlung gegenüber den nichtgeförderten Wirtschaftsteilnehmern verbunden, die schon deshalb einer Rechtfertigung bedarf. Die Industriepolitik ist gemäß Art. 157 Abs. 1 EG eine Angelegenheit der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, die jeweils dafür sorgen sollen, dass „die notwendigen Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft gewährleistet sind“. Dieses Ziel wird in Unterziele aufgefächert, die aber gleichfalls sehr allgemein gehalten sind (Strukturanpassung, Weiterentwicklung der KMU, Unternehmenskooperation, Innovation u.v.m.). Sie sollen durch koordinierte Maßnahmen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten (Art. 157 Abs. 2 EG) erreicht werden, wobei die Gemeinschaft sowohl speziell durch gesonderte Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele beiträgt (Art. 157 Abs. 3 EG) als auch durch eine Querschnittsklausel verpflichtet ist, den Belangen der Industriepolitik generell bei ihrer Tätigkeit Rechnung zu tragen (Art. 157 Abs. 3 EG). Ein besonders wichtiger Bereich industriepolitischer Einflüsse sind dabei die Fusionskontrolle und die Beihilfenaufsicht. Der systemgefährdenden Kraft des hoheitlichen Gestaltungsanspruchs auf diesem Feld wird allerdings die Spitze genommen, indem die Aktivitäten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten an Funktionsbedingungen einer wettbewerbsgesteuerten Marktwirtschaft gebunden und durch das Verbot einer Verzerrung des Wettbewerbs begrenzt werden.126 In der praktischen Anwendung, die hier freilich nicht eingehend gewürdigt werden kann, haben sich zwar bisher – soweit ersichtlich – die beschworenen Gefahren dieses Titels nicht eingestellt.127 Nennenswerte Erfolge sind aber gleichfalls ausgeblieben, was die brüchige Rechtfertigung der mit gezielten Fördermaßnahmen verbundenen Ungleichheiten im Wettbewerb deutlich macht. (2) Regionale Strukturpolitik Der regionalen Wettbewerbsfähigkeit dienen in erster Linie die Strukturfonds (Regional-, Sozial-, Agrarfonds – Abt. Ausrichtung, Kohäsionsfonds). Gleichzeitig sind sie als Instrumente gemeinschaftlicher Solidarität gedacht, wobei es verfehlt wäre, 125
126 127
Allerdings reichen die Wurzeln der gemeinschaftlichen Industriepolitik weit zurück, siehe dazu etwa das Memorandum der Kommission an den Rat „Die Industriepolitik der Gemeinschaft“, 1970. Eine neuere Bewertung dieser Kompetenz findet sich bei Müller-Graff (Fn. 3), S. 23 ff. Ein Beispiel verfehlter Industriepolitik ist die misslungene Durchsetzung des hochauflösenden HDTV-Fernsehens, welches sich gegen Konkurrenztechnologien aus Japan und den USA nicht behaupten konnte.
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in ihnen das Surrogat eines föderalen Finanzausgleichs zu sehen.128 Hierfür ist die Umverteilungswirkung der Fonds zu unbedeutend.129 Das Finanzierungsvolumen ist gleichwohl nennenswert. Für den Förderzeitraum von 2007 bis 2013 sind insgesamt 347 Mrd. Euro eingeplant. Die Fonds sind mittlerweile Gegenstand eines eigenen Teilrechtsgebiets, welches sich durch hohe Technizität sowie durch komplexe Regelungs- und Entscheidungsstrukturen auszeichnet. Das Prinzip der Ko-Finanzierung vergrößert das finanzielle Volumen der Maßnahmen erheblich, die Anreizwirkung gemeinschaftlicher Förderversprechen verleiht den Fonds erheblichen Einfluss auf die nationale Strukturpolitik.130 Allerdings ist die Erfolgskontrolle eine Herausforderung für die EU und die Mitgliedstaaten. (3) Aktionen der Europäischen Investitionsbank Schließlich hat die Europäische Investitionsbank (EIB) nach Art. 267 EG die Aufgabe, Vorhaben zur Erschließung weniger entwickelter Gebiete und zur Modernisierung von Unternehmen zu finanzieren, ebenso Vorhaben von gemeinsamem Interesse, die von den einzelnen Mitgliedstaaten wegen der Art oder des Umfangs nicht allein finanziert werden können. Einer ihrer Schwerpunkte ist der Aufbau transeuropäischer Netze in den Bereichen Verkehr, Energie und Telekommunikation, daneben werden auch Projekte in Drittländern gefördert. Der Gesamtumfang ihrer Finanzierungstätigkeit betrug zwischen 2002 und 2006 rund 218 Mrd. Euro,131 was letztlich aber nicht ausreicht, um mit den Finanzierungsmöglichkeiten vor allem der wohlhabenden Mitgliedstaaten konkurrieren zu können. Das Interventionspotenzial ist daher als relativ gering einzuschätzen. cc) Beschäftigungspolitik Der Titel „Beschäftigung“ (Art. 125–130 EG) wurde durch den Vertrag von Amsterdam eingefügt. Zwar hatte es zuvor bereits beschäftigungspolitische Initiativen auf europäischer Ebene gegeben, eine vertragliche Anerkennung erfuhr diese Materie erst mit In-Kraft-Treten der Änderungen im Jahr 1999. Die Vorschriften wurden vor allem unter dem Eindruck wachsender Arbeitslosigkeit in der EU konzipiert. Sie statten das Beschäftigungsziel des Art. 2 EG mit einem Instrumentarium aus, welches auf eine koordinierte Beschäftigungsstrategie und Fördermaßnahmen beschränkt ist. Die Zuständigkeit für die Beschäftigungspolitik bleibt bei den Mitgliedstaaten, sie betrachten allerdings die Förderung der Beschäftigung als „Angelegenheit gemeinsamen Interesses“ (Art. 126 Abs. 2 EG) und koordinieren ihre nationalen Strategien durch „Beschäftigungspolitische Leitlinien“, die vom Rat auf128 129 130 131
Grundlegend A. Glaesner, Der Grundsatz des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts im Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1990. Zu dieser Frage T. Hieronymi, Solidarität als Rechtsprinzip in der EU, 2003. Zur Bedeutung im Einzelnen R. Priebe, in: Schwarze (Fn. 44), Art. 158 EG, Rn. 1–5. Siehe dazu Europäische Investitionsbank-Gruppe, Jahresbericht 2006: Tätigkeitsbericht, Statistischer Bericht und Finanzbericht, Bd. II, S. 9; im Vergleich dazu betrug der Umfang ihrer Finanzierungstätigkeit zwischen 1996 und 2000 nur rund 147 Mrd. Euro, Jahresbericht 2000, Bd. II, S. 4.
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grund eines Berichts über die Lage in der EU erlassen werden. Diese Leitlinien sind kein durchsetzbares Recht, vielmehr handelt es sich um Maßnahmen mit Empfehlungscharakter, die von den Mitgliedstaaten lediglich berücksichtigt werden müssen.132 dd) Umweltpolitik Die Umweltpolitik hat durch die Verankerung des Umweltschutzes in Art. 2 EG sowie durch die Querschnittsklausel des Art. 6 EG ein besonderes Gewicht erhalten. Umweltpolitik kann man allgemein als die Summe aller wirtschaftspolitischen Maßnahmen definieren, welche zur Verbesserung oder Aufrechterhaltung der Umweltqualität beitragen sollen. Die gemeinschaftliche Umweltkompetenz bezieht sich nicht nur auf Maßnahmen zum Schutz der Umweltmedien (Boden, Luft, Wasser) oder der menschlichen Gesundheit zur Gewährleistung einer umsichtigen und rationellen Verwendung natürlicher Ressourcen (Art. 175 Abs. 1 EG), sondern umfasst auch die infrastrukturell bedeutsamen Entscheidungen, welche etwa die Raumordnung oder die Wahl eines Mitgliedstaates zwischen verschiedenen Energiearten berühren (Art. 175 Abs. 2 lit. c EG).133 Als zentrale Leitmaximen sind das Verursacherprinzip und der Grundsatz der Nachhaltigkeit hervorzuheben.134 Die Handlungsermächtigungen erlauben Maßnahmen der Rechtsangleichung durch jede Handlungsform des Art. 249 EG, wobei in der Praxis allerdings die Richtlinie dominiert.135 Darüber hinaus verleiht die Querschnittsklausel des Art. 6 EG dem Umweltschutz zusätzliche Durchschlagskraft. In der CECED-Entscheidung aus dem Jahr 1999 wurde eine Vereinbarung europäischer WaschmaschinenHersteller vom Kartellverbot freigestellt, die energiesparende gemeinsame Produktionsnormen vorsah, welche allerdings den Wettbewerb auf diesem Markt beschränkten und den zwischenstaatlichen Handel beeinträchtigten.136 Den fraglichen Gewinn für den Verbraucher, der nunmehr gezwungen war, für die technisch anspruchsvolleren Geräte höhere Preise zu bezahlen, sah die Kommission durch den Mehrwert im Bereich des Umweltschutzes (Art. 6 EG) kompensiert. Die Entscheidung zeigt auch bei vorsichtiger Bewertung die Ingerenzpotenziale der Querschnittsklauseln in Kernbereichen der gemeinschaftlichen Wirtschaftsverfassung.
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Einzelheiten bei Steinle (Fn. 102), S. 351 ff. Zur Bedeutung siehe J. Jahns-Böhm, in: Schwarze (Fn. 44), Art. 174 EG, Rn. 2. Vgl. M. Schröder, Umweltschutz als Gemeinschaftsziel und Grundsätze des Umweltschutzes, in: H. W. Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum deutschen und europäischen Umweltrecht, Bd. I, 2003, § 9, insb. Rn. 15 und 42 ff. Siehe dazu G. Lübbe-Wolff, Der Vollzug des europäischen Umweltrechts und seine Bedeutung für die Umweltpolitik der EU, in: dies. (Hrsg.), Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, 1996, S. 1. Entscheidung 1999/475/EG der Kommission in einem Verfahren nach Art. 81 EG (CECED), ABl. 2000 L 187, S. 47; eingehend zu dieser Problematik J. P. Terhechte, Der Umweltschutz und die Wettbewerbspolitik in der Europäischen Gemeinschaft, ZUR 2002, S. 274.
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ee) Weitere Politikbereiche Von den weiteren Politikfeldern seien hier solche exemplarisch hervorgehoben, die aufgrund des hohen Stellenwerts ihrer primären Schutzgüter bedeutsam sind und vor allem durch Querschnittsklauseln in zahlreiche andere Sektoren der gemeinschaftlichen Politik ausstrahlen. Auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik „ergänzt“ die Gemeinschaft lediglich die Politik der Mitgliedstaaten (Art. 152 Abs. 1 EG) und sie „fördert“ deren Zusammenarbeit (Art. 152 Abs. 2 EG) „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ (Art. 152 Abs. 4 lit. c EG).137 Allerdings befinden sich die gemeinsamen Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit in geteilter Zuständigkeit zwischen Union und Mitgliedstaaten (vgl. nun auch Art. 4 Abs. 2 lit. k AEUV), zu deren Verwirklichung die Union Maßnahmen zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards zum Schutz der Gesundheit gemäß dem Katalog des Art. 152 Abs. 4 EG (bzw. dem geringfügig erweiterten und systematisch neu geordneten Katalog des Art. 168 Abs. 4 AEUV) erlässt. Außerdem ist bei Maßnahmen nach Art. 95 EG, welche der Errichtung des Binnenmarktes oder seinem Funktionieren dienen, von einem hohen Schutzniveau in diesem Bereich auszugehen (Art. 95 Abs. 3 EG). c) Verteilungs- und Sozialpolitik Die Zuständigkeiten der Gemeinschaft im Bereich der Verteilungspolitik, verstanden als Vermögens-, Einkommens- und Sozialpolitik, bedürfen einer differenzierten Betrachtung.138 In diesem Bereich ist „das Soziale“ des europäischen Marktmodells verankert, weshalb eine ausführlichere Untersuchung lohnender wäre als sie hier vorgenommen werden kann. Kennzeichnend für diesen Sektor ist eine Verantwortungsteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, rechtlich verkörpert in einer gemeinsamen Zielperspektive und einer Zuständigkeitsordnung, welche die soziale Bindung der europäischen Wirtschaftspolitik sicherstellt, die konkrete Ausgestaltung der Instrumente aber weitgehend den Mitgliedstaaten überlässt. aa) Verteilungspolitische Ziele der Gemeinschaft Die Gemeinschaft strebt nach Art. 2 EG unter anderem ein „hohes Maß an sozialem Schutz“ und eine „Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität“ an. Das Bekenntnis des Vertrages zu einem hohen Maß an sozialem Schutz sichert wesentliche Elemente der Sozialstaatlichkeit, ohne zwangsläufig mit dem deutschen Sozialstaatsprinzip inhaltlich identisch zu sein.139 Auch das gemeinschaftliche Solidaritätsprinzip, welches insbesondere in Art. 1 EU sowie in Art. 2 EG angesprochen wird, bezieht sich vorrangig auf das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander,
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Eingehend dazu W. Berg, Gesundheitsschutz als Aufgabe der EU, 1997. Zu pauschal daher Böckenförde (Fn. 24), S. 79. Eingehend dazu Kingreen (Fn. 25).
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nicht jedoch auf wechselseitige Einstandspflichten einer Gemeinschaft von Unionsbürgern.140 Gleichwohl bietet gerade die Unionsbürgerschaft der Art. 17 ff. EG ein bisher noch wenig erschlossenes Potenzial.141 Sie begründet – trotz ihres derivativen Charakters – einen europäischen Status bürgerlicher Freiheits- und Gleichheitsrechte, dessen Tragweite als soziales Teilhaberecht sich immer deutlicher herausbildet. So hat der Gerichtshof entschieden, dass die Unionsbürgerschaft in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG) einer Regelung entgegen steht, welche die Gewährung von Unterstützung zum Lebensunterhalt von der Staatsangehörigkeit abhängig macht.142 Jedoch geht es dabei um den Zugang zu nationalen Leistungssystemen, über deren Bestand die Mitgliedstaaten prinzipiell frei disponieren können. Einer eigenständigen und vollumfänglichen europäischen Sozialpolitik steht aber, von der Frage nach ihrer Wünschbarkeit abgesehen, vor allem entgegen, dass die Gemeinschaft nicht über die Instrumente verfügt, um sozialstaatliche Ziele wie die Bereitstellung sozialer Leistungen, die Gewährleistung von Chancengleichheit oder eine gerechte Sozialordnung in eigener Zuständigkeit erreichen zu können. Dies gilt auch für das Ziel einer zu hebenden Lebenshaltung, welches im Sinne einer Erhöhung des Einkommensdurchschnitts zu verstehen ist. Insbesondere ist die finanzielle Autonomie der Gemeinschaft zu begrenzt, um nennenswerte Umverteilungseffekte durch ihre Budgetpolitik erzielen zu können. Aber auch die Schwerfälligkeit der Rechtsangleichungskompetenzen im steuerlichen Bereich, die einstimmige Beschlüsse erfordern, limitiert den gemeinschaftlichen Zugriff auf diese Instrumente sozialer Verteilungsgerechtigkeit.143 Ungeachtet dessen wurden die Befugnisse der Gemeinschaft in diesen Bereichen in den letzten Reformrunden kontinuierlich ausgebaut und um Instrumente ergänzt, die jedenfalls auf europäischer Ebene eine neue Dimension sozialer Intervention eröffnen.144 bb) Ergänzende Sozialpolitik Nach Art. 3 Abs. 1 lit. j EG gehört zu den Tätigkeiten der Gemeinschaft „eine Sozialpolitik mit einem Europäischen Sozialfonds“. Durch den Titel XI werden die sozialpolitischen Vorschriften gleichwertig neben die anderen Politiken der Ge-
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Vgl. etwa Kingreen (Fn. 25); ferner auch E. A. Marias, Solidarity as an Objective of the European Union and the European Community, Legal Issues of European Integration 2 (1994), S. 85. Hierzu näher S. Kadelbach, in diesem Band, S. 635 ff. EuGH, Rs. C-184/99, Grzelcyk, Slg. 2001, I-6193; Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573; bzgl. der Beihilfe zur Deckung der Unterhaltskosten eines Studenten Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2055, I-2119; siehe außerdem Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl. 2004 L 158, S. 77. Vgl. Art. 93 EG (indirekte Steuern) und Art. 94 EG (direkte Steuern). Vgl. auch Badura (Fn. 1), S. 28, der von der inneren Notwendigkeit einer Fortentwicklung zur „Wohlfahrts- und Umverteilungsgemeinschaft“ spricht.
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meinschaft gestellt. Der Schwerpunkt sozialpolitischer Zuständigkeiten liegt indes auf der nationalen Ebene. Dies gilt insbesondere für die sozialen Leistungssysteme, wie Kranken-, Renten- und Sozialversicherung, aber auch für die verschiedenen Formen eines Beitrages zum Lebensunterhalt (z.B. Sozialhilfe). Die Gemeinschaft ist in diesem Bereich lediglich koordinierend tätig, vor allem zur Verwirklichung der Freizügigkeit von Personen wurden Maßnahmen zur gegenseitigen Anerkennung von Versicherungszeiten, Leistungsansprüchen u.v.m. erlassen. Sie sind jedoch funktional auf die Freiverkehrsrechte bezogen, nicht aber Ausdruck eines besonderen sozialpolitischen Gestaltungsanspruchs der EG.145 Der Gerichtshof hat im Gegenteil – beginnend mit den Rechtssachen Kohll und Decker146 – die grundsätzliche Geltung der Binnenmarktregeln für die nationalen Sozialversicherungen, namentlich die Krankenversicherung unterstrichen und nur solche Einschränkungen zugelassen, welche die Funktionsfähigkeit der jeweiligen Leistungsträger gewährleisten sollen.147 Der Sozialfonds (Art. 146–148 EG) soll die Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitskräfte im Binnenmarkt verbessern und damit zur Hebung der Lebenshaltung beitragen. Seine Tätigkeit besteht in erster Linie in der Unterstützung nationaler Maßnahmen (Prinzip der Zusätzlichkeit). Sein sozialpolitisches Ziel ist ebenfalls auf den Binnenmarkt bezogen, lässt also die Funktionsgarantien einer offenen Marktwirtschaft prinzipiell unberührt. Gleichzeitig gehört er in den Kontext des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (Art. 159 Abs. 1 EG), welcher allgemein darauf abzielt, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen zu verringern (Art. 3 Abs. lit. k, Art. 158 EG). cc) Ansätze einer europäischen Arbeits- und Sozialordnung Wesentlich einschneidender für die marktwirtschaftliche Ausrichtung der europäischen Wirtschaftsverfassung sind die gemeinschaftlichen Befugnisse aufgrund der „Sozialvorschriften“ der Art. 136–145 EG, die aufgrund des Vertrages von Amsterdam eingefügt wurden.148 Die Vorschriften der Art. 137 ff. EG betreffen in erster Linie das individuelle Arbeitsrecht, vor allem die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sowie Fragen des Kollektivarbeitsrechts. Daneben werden auch sozialrechtliche Fragen geregelt, wobei für die soziale Sicherheit (Art. 42, 137 Abs. 3, 140, 144 EG) und den sozialen Schutz (Art. 137 Abs. 3 EG) besondere Vorschriften zu beachten sind. Die Sozialvorschriften schaffen einen selbständigen Kompetenztitel für die Sozialpolitik. Sie wird dadurch aus ihrer funktionellen Verklammerung mit der Binnenmarktpolitik gelöst, in deren Rahmen sozialpolitische Fragen vor allem unter
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EuGH, Rs. C-158/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931; Rs. C-120/95, Decker, Slg. 1998, I-1831. Vgl. dazu U. Becker, Brillen aus Luxemburg und Zahnbehandlung in Brüssel, NZS 1998, S. 359. Siehe die Nachweise in Fn. 74. Hierzu auch F. Rödl, in diesem Band, S. 869 ff.
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dem Aspekt der Wettbewerbsverfälschung behandelt wurden.149 Hierin liegt ein erster Schritt zu einer eigenständigen europäischen Sozialpolitik, deren konzeptionelle Ausrichtung aber noch relativ unbestimmt ist. Subjektive Rechte verleiht nur das Gebot gleicher Bezahlung von Männern und Frauen bei gleicher Arbeit (Art. 141 EG). Im Übrigen stellen die Vorschriften der Art. 137 bis 140 EG ein reichhaltiges Instrumentarium zur Verfügung. Es erlaubt zum einen Richtlinien hinsichtlich des Arbeitsschutzes, der Arbeitsbedingungen, der Arbeitnehmerrechte, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von Problemgruppen, der Chancengleichheit von Männern und Frauen am Arbeitsplatz, die jedoch auf Mindeststandards beschränkt sein müssen. Durch einstimmigen Ratsbeschluss können dagegen auch etwa Fragen der betrieblichen Mitbestimmung geregelt werden. Ausgenommen sind gem. Art. 137 Abs. 5 EG allerdings die Bereiche Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht. Interessant sind die Regelungsverfahren der Art. 137 bis 139 EG. Unter dem Stichwort des Dialogs zwischen den Sozialpartnern (insb. Art. 139 EG) können namentlich Gewerkschaften und Unternehmerverbände in den zugewiesenen Bereichen der gemeinschaftlichen Sozialpolitik vertragliche Beziehungen eingehen (Art. 139 Abs. 1 EG) und ihre Vereinbarungen auf Antrag durch einen Ratsbeschluss in allgemeinverbindliches Recht (Richtlinien) transformieren lassen (Art. 139 Abs. 2 EG). Dieses korporatistische Rechtsetzungsmodell eröffnet also die Möglichkeit einer Selbstregulierung der jeweiligen Wirtschaftskreise.150 Als Grenze sind in jedem Fall die Zielvorgaben des Art. 136 EG zu beachten, wonach insbesondere die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in der Gemeinschaft nicht beeinträchtigt werden darf. d) Prinzipielle Wahlfreiheit im Rahmen der Generalklausel Schließlich verfügt der Gemeinschaftsgesetzgeber mit Art. 308 EG über eine generelle Ermächtigung, die auch für wirtschaftsrelevante Maßnahmen genutzt werden kann. Wie die Anwendungspraxis der letzten Jahrzehnte zeigt, hat der Rat Art. 308 EG nicht selten für die Einführung von Politiken genutzt, die erst wesentlich später in den Kreis primärrechtlicher Kompetenzen eingegliedert wurden. Als Beispiele seien die Umwelt- und Regionalpolitik erwähnt.151 Die restriktiven Voraussetzungen, unter denen die Generalklausel des Art. 308 EG mobilisiert werden kann, ändern daher nichts an ihrer prinzipiellen Bedeutung für die effektive Reichweite der marktwirtschaftlichen Funktionsgarantien.
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R. Rebhahn, in: Schwarze (Fn. 44), Art. 136 EG, Rn. 5; a.A. hinsichtlich der Ablösung S. Krebber, in: Calliess/Ruffert (Fn. 92), Art. 136 EG, Rn. 6, der im Grundsatz immer noch ein wettbewerbspolitisches Konzept als maßgebliche Leitlinie hinter der europäischen Sozialpolitik sieht, genauer die Vorstellung, dass eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik sich positiv auf die soziale Integration auswirkt. Vgl. dazu etwa R. Birk, Vereinbarungen der Sozialpartner im Rahmen des sozialen Dialogs und ihre Durchführung, EuZW 1997, S. 453. Übersicht zum Beispiel bei M. Rossi, in: Calliess/Ruffert (Fn. 92), Art. 308 EG, Rn. 9.
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4. Gestaltungsgrenzen Angesichts eines weitgespannten Tableaus der wirtschaftspolitischen Ziele und korrespondierender Ermächtigungen bilden die Gestaltungsgrenzen den Kern einer „Spielraumdogmatik“ des europäischen Wirtschaftsverfassungsrechts. Im Mittelpunkt steht die Suche nach übergreifenden Grundsätzen und Regeln, die das Verhältnis zwischen den Funktionsgarantien des Marktes und den Eingriffsermächtigungen der Gemeinschaft bestimmen. Gleichsam vor die Klammer gezogen werden konnte das in Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 98 EG verankerte Verbot des Systemwechsels, verbunden mit einem Regel-Ausnahme-Prinzip, welches Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit und andere Funktionsgarantien einer wettbewerbsverfassten Marktwirtschaft zu rechtfertigungsbedürftigen Ausnahmen macht. Über diese allgemeinen Grenzen hinaus lassen sich dem Vertrag weitere geschriebene und ungeschriebene Direktiven für die wechselseitige Zuordnung von Wettbewerb und Intervention entnehmen. a) Zielpräferenzen In diesem Zusammenhang spielt die These von der Zielhierarchie eine wichtige Rolle in der Diskussion über die europäische Wirtschaftsverfassung. So nehmen Teile des Schrifttums einen Vorrang der marktintegrativen Ziele des Vertrages gegenüber den nichtwirtschaftlichen Zielen an,152 während der EuGH von der prinzipiellen Gleichrangigkeit der Zielvorgaben ausgeht und den Organen insofern ein weites Auswahlermessen einräumt.153 Der Wert dieser Diskussion ist allerdings begrenzt. Denn bei den vermeintlichen Zielkonflikten, etwa Umweltschutz kontra hohen Beschäftigungsstand, geht es in Wahrheit nicht um die Gewichtung von abstrakten Zielen, sondern um eine Abwägung zwischen den Schutzgütern der jeweiligen Zielnormen in einer konkreten Situation. Es wäre hochgradig spekulativ und fiktiv, dem europäischen Recht gleichsam eine Werteordnung entnehmen zu wollen, die im Voraus mit normativ bindender Kraft derartige Rechtsgüterkollisionen aufzulösen hilft. Allerdings sind die Instrumente des Vertrages, die Art. 3 EG als „Tätigkeiten“ (actions/activities) der Gemeinschaft bezeichnet, von unterschiedlicher Durchschlagskraft.154 Zwar lassen sich diese Tätigkeiten ihrerseits als Ziele begreifen, indes ändert diese Betrachtungsweise nichts an ihrem instrumentellen Charakter im Hinblick auf die Hauptziele des Integrationsprozesses. Es geht daher um die Frage eines Vorrangs marktwirtschaftlicher Mittel bei der Aufgabenerfüllung, nicht hin152 153
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Vgl. insb. J. Basedow, Zielkonflikte und Zielhierarchien im Vertrag über die Europäische Gemeinschaft, in: FS Everling, 1995, S. 49. Vgl. etwa EuGH, Rs. 9/56, Meroni/Hohe Behörde, Slg. 1958, 9 (43); Rs. 139/79, Maizena/ Rat, Slg. 1980, 3393, Rn. 23; Rs. C-44/94, National Federation of Fishermen’s Organisations, Slg. 1995, I-3115, Rn. 37; ebenso Ipsen (Fn. 58), S. 559; Zuleeg (Fn. 100), Art. 2 EG, Rn. 12. Insofern hat Basedow (Fn. 152) durchaus Recht, wenn er von einem Vorrang der marktintegrativen „Ziele“ spricht, die allerdings – bezogen auf die Primärziele – lediglich Mittelcharakter haben.
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gegen um eine absolute Zielpräferenz zugunsten des Marktes, die ihn in den Rang eines Selbstzwecks der Gemeinschaft erheben würde. Insofern weist bereits der Wortlaut des Art. 2 EG darauf hin, dass die Primärziele der Gemeinschaft in erster Linie durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes sowie der Wirtschafts- und Währungsunion als Mittel erreicht werden sollen. b) Erhöhte Effektivität marktintegrativer Instrumente Insbesondere verfügen die marktintegrativen Garantien, jedenfalls tendenziell, über eine höhere Durchsetzungsfähigkeit als die Kompetenztitel, welche eine interventionistische Tendenz aufweisen. Dies wird an der abgestuften Autonomie der Regelungsbereiche, den prozeduralen Sicherungen und, wenn auch in abnehmendem Maße, an den verfügbaren Handlungsformen sichtbar.155 aa) Abgestufte Autonomie Ein erstes Indiz für den Vorrang marktintegrativ-wettbewerblicher Mittel ist die erhöhte Eigenständigkeit der marktintegrativen Gemeinschaftspolitiken.156 Sie bilden eine eigene Aufgabe, die insbesondere mit Hilfe der Grundfreiheiten, des Wettbewerbsrechts und der Rechtsangleichungskompetenzen durchgesetzt werden kann. Dagegen beschränken sich etwa die Gesundheits- und Verbraucherpolitik auf einen unterstützenden oder ergänzenden Beitrag. Auch die Industriepolitik hat einen – wenngleich mit Abstrichen – komplementären Charakter, welcher sich vor allem dann zeigt, wenn die Gemeinschaft spezifische Maßnahmen ergreifen will: Sie müssen nach Art. 157 Abs. 3 EG der „Unterstützung“ nationaler Anstrengungen dienen. Die schwächste Form ist die Koordinierung, wie etwa im Bereich der Beschäftigungspolitik, da sie Politiken prinzipiell eigenständiger Entscheidungsträger lediglich aufeinander abstimmen soll. bb) Prozedurale Sicherungen Auch prozedurale Sicherungen sind ein Mittel, um die Entscheidung für eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb rechtlich vor wettbewerbsverzerrenden Einflüssen zu schützen. Ein wesentlicher Fortschritt war die Einführung des Art. 100a EWG-Vertrag (heute Art. 95 EG), welcher für Beschlüsse, die der Errichtung und dem Funktionieren des Binnenmarktes dienen, eine qualifizierte Mehrheit ausreichen lässt. Umgekehrt werden besonders umstrittene Politikbereiche wie die Harmonisierung der direkten Steuern (Art. 94 EG), in denen das Konfliktpotenzial der unterschiedlichen nationalen Wirtschaftsphilosophien offen zu Tage tritt, in der Regel durch das Einstimmigkeitsprinzip unter Kontrolle gehalten. Dies gilt auch für die Generalklausel des Art. 308 EG, die in der Vergangenheit wiederholt als Grundlage wirtschaftspolitischer Maßnahmen, wie der Einführung einer gemeinsamen Regionalpolitik, gedient hat. Außerdem müssen etwa der Wirtschafts- und Sozialausschuss oder der Ausschuss der Regionen beteiligt werden, woraus den Organen eine Rechtfertigungslast für ihre Maßnahmen erwachsen kann. Jedoch verblasst 155 156
Zutreffend Basedow (Fn. 152), S. 60 ff. Dazu grundlegend: ebd.
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dieses Indiz einer größeren Durchsetzungsfähigkeit des Marktkonzepts zusehends, denn in allen Bereichen des Vertrages – wie die Reform von Nizza gezeigt hat – besteht eine Tendenz zum Ausbau der Mehrheitsentscheidungen.157 Dies gilt auch für den Vertrag von Lissabon. Er dehnt die Beschlussfassung nach den Regeln der qualifizierten Mehrheit im Rat von 21 Politikbereichen nach dem Stand von Nizza auf dann 23 Politikbereiche aus.158 cc) Rechtswirkungen der Handlungsformen Ein letztes, allerdings eher schwaches Element in der Kette von Sicherungen des Marktes gegen funktionsgefährdende Interventionen ist die Beschränkung der verwendbaren Handlungsformen. Insofern geht es nicht um den Unterschied zwischen Verordnung und Richtlinie, die zwar unterschiedliche Rechtswirkungen entfalten, aber dennoch eine vergleichbare Eingriffswirkung haben können.159 Außerdem stehen den Organen zum Schutz etwa der Umwelt oder der Verbraucher beide Handlungsformen zur Verfügung. Vielmehr machen insbesondere die Vorschriften über die Wirtschaftsunion bereits durch ihr Instrumentarium deutlich, dass von diesen Ermächtigungen kein wesentlicher Einfluss der Gemeinschaft auf die Rahmenbedingungen der Wirtschaft ausgehen soll. Neben der als Koordination umschriebenen Tätigkeit der Gemeinschaft steht dem Rat lediglich die unverbindliche Empfehlung zur Verfügung, um die von ihm beschlossenen „Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten“ bekannt zu geben (Art. 99 Abs. 2 UAbs. 3 EG). Dies gilt auch für die gemeinschaftliche Kulturpolitik, die außer Fördermaßnahmen lediglich Empfehlungen erlaubt (Art. 151 Abs. 5 EG), ebenso für die Beschäftigungspolitik (Art. 125 ff. EG). c) Tatbestandliche Sicherungen Wesentlich konkreter sind eine Reihe tatbestandlicher Sicherungen der wettbewerbsverfassten Marktwirtschaft. Insoweit lassen sich die Subsidiarität, die Funktionalität und die Effektivität als begrenzende Prinzipien unterscheiden. aa) Subsidiaritätsprinzip Bei zahlreichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen ist das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 2 EG zu beachten. Zwar hat sich seine Wirksamkeit in der bisherigen Anwendungspraxis als relativ begrenzt erwiesen, es steuert gleichwohl – und sei es als rechtspolitische Maxime – die Tätigkeit der Gemeinschaft vor allem aufgrund solcher Kompetenzen, die sachlich außerhalb der unmittelbaren Binnenmarktverwirklichung liegen und daher nicht ausschließlich sind.160 Dazu gehören Teile der 157 158 159 160
Eingehend dazu A. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union – der Vertrag von Nizza auf dem Prüfstand, EuR 2001, S. 143 (154 ff.). Vgl. A. Hofmann/W. Wessels, Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?, integration 2008, S. 3 (13). Näher J. Bast, in diesem Band, S. 505 f., 543 f. Insofern haben sich weder die Befürchtungen der ersten Zeit (siehe etwa P. Pescatore, Mit der Subsidiarität leben, in: FS Everling (Fn. 152), S. 1071), noch die Hoffnungen erfüllt, so dass heute eher nüchterne bis negative Kommentare vorherrschen.
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Förderzuständigkeiten und die Vorschriften zum Schutz kollektiver Rechtsgüter und Interessen. bb) Schutz durch Funktionsvorbehalte Die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes und des Systems unverfälschten Wettbewerbs wird außerdem durch Vorbehalte gesichert, die sich in einer Vielzahl von Bestimmungen finden. (1) Vorbehalte zugunsten der Errichtung und des Funktionierens des Binnenmarktes So müssen die Maßnahmen der Rechtsangleichung auf die Verwirklichung der Grundfreiheiten oder auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes abzielen.161 Diese tatbestandlichen Voraussetzungen enthalten gleichzeitig ein Konformitätsgebot hinsichtlich der Funktionsgarantien offener Märkte. Dies gilt auch insoweit, als Querschnittsklauseln die Rechtsangleichung mit Zielen aufladen, welche außerökonomische Interessen wie den Gesundheits- oder Umweltschutz betreffen, deren Verfolgung nicht selten die Einschränkung wirtschaftlicher Freiheiten erfordert.162 Sie räumen den Organen zwar einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum ein, gestatten es aber nicht, die Rechtsangleichungskompetenzen zur Errichtung neuer Marktschranken oder gar zur Ausschaltung des Marktes zu nutzen.163 Deshalb sind etwa gemeinschaftliche Werbeverbote, die auf Art. 95 EG gestützt werden, als Kommunikationsbeschränkungen grundsätzlich problematisch, denn sie greifen in eine Funktionsgarantie der marktwirtschaftlichen Ordnung ein. (2) Vorbehalte zugunsten des unverfälschten Wettbewerbs Darüber hinaus begrenzen einige Ermächtigungen die gemeinschaftlichen Ingerenzen in Marktprozesse auf solche Maßnahmen, die keine Wettbewerbsverzerrung zur Folge haben. Insbesondere die kontroverse Industriepolitik der Art. 157 ff. EG bindet der Vertrag ausdrücklich an das „System offener und wettbewerbsorientierter Märkte“ (Art. 157 Abs. 1 S. 2 EG) und sperrt die Nutzung dieser Kompetenz für Maßnahmen, die zu „Wettbewerbsverzerrungen“ führen könnten (Art. 157 Abs. 3 UAbs. 2 EG). Ebenso ist der gemeinschaftliche Beitrag zum Aufbau transeuropäischer Netze in den Bereichen der Verkehrs-, Telekommunikations- und Energieinfrastruktur (Art. 154 EG) in den „Rahmen eines Systems offener und wettbewerbsorientierter Märkte“ eingebunden und insofern – zumindest rechtlich – kompatibel mit den Funktionsgarantien der Marktwirtschaft zu konzipieren. Auch die gemein161
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Vgl. dazu etwa GA Jacobs zu EuGH, Rs. C-350/92, Spanien/Rat, Slg. 1995, I-1985, Rn. 4; das Erfordernis einer geeigneten und nicht nur bei Gelegenheit bewirkten Harmonisierung betont der Gerichtshof etwa in EuGH, Rs. C-15/91, Kommission/Rat, Slg. 1993, I-939, Rn. 19. Siehe zur notwendigen Abstimmung mit den Erfordernissen des Binnenmarktes C. Tietje, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU (Stand: Jan. 2008), Art. 95 EG, Rn. 18. I. Schwartz, EG-Kompetenz für das Verbot der Tabakwerbung?, AfP 1998, S. 553 (558).
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schaftliche Sozialpolitik muss dort Halt machen, wo die „Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Gemeinschaft“ beeinträchtigt würde (Art. 136 Abs. 2 EG). Der Gerichtshof hat darüber hinaus Art. 3 lit. g EG, welcher die Errichtung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs vorschreibt, eine Art Bestandsgarantie entnommen, die sogar die richterliche Fortbildung des Wettbewerbsrechts legitimiert.164 Diese Garantie wird auch nicht, wie oben erläutert, durch die Kompromisslösung des Vertrages von Lissabon in Frage gestellt. cc) Rechtliche Wirksamkeit Die Unbestimmtheit dieser Vorbehalte steht ihrer rechtlichen Effektivität nicht entgegen. Wie die Entscheidungspraxis des Gerichtshofs zeigt, vermag er sowohl den Binnenmarkt-Klauseln als auch den verschiedenen Formulierungen des Wettbewerbsprinzips durchaus kontrollwirksame Konturen zu geben.165 Allenfalls die Wettbewerbsfähigkeit als Schranke europäischer Sozialpolitik eröffnet den politischen Organen einen wirtschaftlichen Beurteilungsspielraum, welcher sich richterlicher Nachprüfung weitgehend entzieht. In jedem Fall begründet diese Schranke eine Rechtfertigungslast bei Maßnahmen, die objektiv geeignet sind, bestimmte Bereiche oder die europäische Wirtschaft als Ganzes in ihrer Fähigkeit zu beeinträchtigen, an einem Leistungswettbewerb auf dem Binnenmarkt teilzunehmen.166 d) Rechtfertigungslasten Die Rechtfertigungslasten knüpfen an den Funktionsgarantien des offenen Marktes mit freiem Wettbewerb an, welche überwiegend subjektive Berechtigungen schaffen, die bei Eingriffen in die Marktfreiheit nur zur Duldung verhältnismäßiger Beschränkungen verpflichten. aa) Subjektive Rechte als Grundlage von Rechtfertigungslasten Vor allem müssen die Organe die Grundrechte der Betroffenen wahren. Sie bilden nicht nur die Basis einer marktwirtschaftlichen Verfassung, sondern auch die negativen Kompetenzschranken für hoheitliche Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit. Der namentlich von Walter Eucken betonte Zusammenhang zwischen freiheitlicher Verfassung und Marktwirtschaft167 besteht auch im Gemeinschaftsrecht. Die Grundrechte lassen den Organen zwar einen weiten Gestaltungsspielraum, jedoch begründen sie zusammen mit der objektiven Entscheidung für eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb eine Rechtfertigungslast dergestalt, dass die freie 164 165
166 167
Vgl. EuGH, Rs. 6/72, Europemballage Corp. u.a./Kommission, Slg. 1973, 215, Rn. 24. Das Urteil zum Verbot der Tabakwerbung zeigt den kontrollierenden Zugriff des EuGH auf gemeinschaftliche Rechtsangleichungsmaßnahmen, die aus der Perspektive der Funktionsgarantien einer marktwirtschaftlichen Ordnung als Eingriff in die wirtschaftliche Freiheit erscheinen; zur Rechtsangleichung siehe auch die kritische Bestandsaufnahme von J. van Scherpenberg, Ordnungspolitische Konflikte im Binnenmarkt, in: M. Jachtenfuchs/B. Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, S. 345 (insb. 350). Zu den Rechtfertigungslasten der Organe bei derartigen Ermächtigungen siehe etwa J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2005, S. 1359 ff. Eucken (Fn. 7), S. 130 ff.
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wirtschaftliche Tätigkeit die vorausgesetzte Regel, der hoheitliche Eingriff hingegen – zu welchen Zwecken auch immer – die begründungsbedürftige Ausnahme darstellt.168 Hinzu kommt das Diskriminierungsverbot, das sowohl bei Eingriffen in subjektive Rechte als auch bei Fördermaßnahmen beachtet werden muss.169 Aber seine Wirkung hält sich in Grenzen, da der Gerichtshof die Prüfung grundsätzlich darauf beschränkt, ob ein sachlicher Grund für die differenzierenden Maßnahmen vorliegt. Allerdings beruht eines der wenigen Beispiele für die Aufhebung einer gemeinschaftlichen Verordnung im Wirtschaftsrecht wegen eines Grundrechtsverstoßes auf einer Verletzung des Diskriminierungsverbotes.170 Schließlich bilden auch die Grundfreiheiten als subjektive Rechte mit Verfassungsrang eine Schranke gemeinschaftlicher Eingriffe in die Freiheiten des Marktes. bb) Verhältnismäßigkeit – Gebot des Interventionsminimums Die Feinabstimmung zwischen den beeinträchtigten Funktionsgarantien, wie etwa den Grundrechten und Grundfreiheiten oder dem Kartellverbot, sowie den Schutzgütern der gemeinschaftlichen Maßnahmen erfolgt im Wege einer Verhältnismäßigkeitsprüfung.171 Sie wird vom EuGH mit unterschiedlicher Strenge je nachdem vorgenommen, ob es sich um legislative oder administrative Interventionen handelt. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat dabei den erwähnten weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum, welcher dogmatisch bei der Zielauswahl und auf den Ebenen der Geeignetheit und der Erforderlichkeit angesiedelt ist.172 Soweit eine Prüfung der Angemessenheit stattfindet, was nicht regelmäßig der Fall ist, werden die Schutzgüter konkret abgewogen. Dadurch kann im Einzelfall die Wirtschafts- und Wettbewerbsfreiheit hinter den Interessen an ihrer Beschränkung zurücktreten.173 Dennoch führt die Rechtfertigungslast für Eingriffe in die wirtschaftlichen Freiheiten zu einem relativen Interventionsminimum. 5. Die Währungsunion in der Wirtschaftsverfassung Eine Sonderrolle kommt der Währungsverfassung zu. Sie ist zwar integraler Bestandteil des Primärrechts, jedoch wird sie durch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und des Europäischen Systems der Zentralbanken vom restli168 169
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In allgemeiner Form lässt sich diese Rechtfertigungslast bei Eingriffen etwa EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rn. 19, entnehmen. Zum Diskriminierungsverbot im insoweit besonders verdichteten gemeinschaftlichen Agrarrecht R. Priebe, in: M. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Stand: Okt. 2007), G., Rn. 285–289. EuGH, Rs. 114/76, Bela-Mühle, Slg. 1977, 1211, Rn. 7. EuGH, Rs. C-284/95, Safety Hi-Tech, Slg. 1998, I-4301, Rn. 65/66. Vgl. EuGH, Rs. 37/83, Rewe-Zentral, Slg. 1984, 1229, Rn. 19/20; siehe auch die eingehende Analyse bei U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380 (insb. 386 ff.). Markante Beispiele sind die „BSE-Fälle“: EuGH, Rs. C-180/96, Großbritannien/Kommission, Slg. 1998, I-2265, Rn. 96 ff.; Rs. C-157/96, National Farmers’ Union, Slg. 1998, I-2211, Rn. 60 ff.
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chen Institutionensystem sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene getrennt.174 Darüber hinaus formuliert der Vertrag mit dem Vorrang der Preisstabilität als Leitmaxime der Währungsunion eine klare Zielpräferenz, welche ein beträchtliches Konfliktpotenzial mit den Zielen der gemeinschaftlichen und nationalen Wirtschaftspolitik birgt.175 Deshalb lässt sich die Währungsverfassung nicht ohne Reibungen in die übrige Wirtschaftsverfassung integrieren. Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten kommt hinzu, dass letztere weiterhin für die allgemeine Wirtschaftspolitik zuständig sind. Die Vorschriften der Art. 98 bis 104 EG über die Wirtschaftsunion sind lediglich ein äußerer Rahmen, innerhalb dessen die Mitgliedstaaten insbesondere ihre nationale Haushaltspolitik weitgehend frei gestalten können.176
IV. Wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten Im Verbund der europäischen Wirtschaftsverfassung kann die Grundentscheidung für offene Märkte mit freiem Wettbewerb außerdem und vor allem durch die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eingeschränkt werden. Auch insoweit ist für die rechtliche Zuordnung von Wettbewerb und hoheitlichem Eingriff ein weiter Ermessensspielraum der dogmatische Ausgangspunkt, von dem aus sich die Konturen einer Dogmatik der vertikalen Bindungen entwickeln lassen. 1. Verfassungsrechtliche Ausgangspositionen Die europäische Wirtschaftsverfassung bildet die Klammer zwischen den rechtlichen Grundordnungen der Mitgliedstaaten und dort solchen Vorschriften, welche ihrerseits als Gestaltungselemente der nationalen Wirtschaftsverfassung die Möglichkeiten und Grenzen der staatlichen Wirtschaftspolitik gleichsam von unten begrenzen. Eine genauere Analyse würde den Rahmen dieser Studie übersteigen, vor allem müssten die Bedingungen der Justiziabilität des nationalen Wirtschaftsverfassungsrechts einbezogen werden. Hier können lediglich Tendenzen und markante Gestaltungsformen des materiellen Verfassungsrechts herausgestellt werden, verbunden mit der Anregung, sich dieses Fragenkreises gesondert anzunehmen.177 a) Systementscheidungen Keine der Verfassungen der – bis zu den Beitritten 2004 – fünfzehn Mitgliedstaaten trifft eine ausdrückliche Systementscheidung, vergleichbar den Bestimmungen der
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Vgl. nur die Art. 107, 108 EG sowie Art. 7 und 14 des Protokolls über die Satzung des Systems der Europäischen Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank. Art. 105 Abs. 1 EG. Siehe dazu etwa A. Hatje, Die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, DVBl. 2006, S. 597. Einen wichtigen Beitrag stellt die Studie von P.-C. Müller-Graff, Die wettbewerbsverfaßte Marktwirtschaft als gemeineuropäisches Verfassungsprinzip, EuR 1997, S. 433, dar.
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Art. 4 und 98 EG.178 Lediglich Art. 38 der spanischen Verfassung erkennt „die Unternehmensfreiheit im Rahmen der Marktwirtschaft“ an, was immerhin als ordnungspolitische Grundaussage bemerkenswert ist. Im Gegensatz dazu enthalten einige Verfassungen der neu beigetretenen Staaten eine ausdrückliche Entscheidung für ein bestimmtes Wirtschaftssystem. So erklärt etwa die Verfassung der Republik Polen in Art. 20, dass eine „soziale Marktwirtschaft, die auf der Freiheit der wirtschaftlichen Entfaltung, privatem Eigentum, Solidarität und Dialog sowie Kooperation zwischen den Sozialpartnern beruht“, die Basis des polnischen Wirtschaftssystems sein soll.179 Eine ähnliche Formulierung enthält Art. 55 Abs. 1 der slowakischen Verfassung, wonach die „Wirtschaft der Slowakischen Republik auf den Prinzipien einer sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft“ beruht. Darüber hinaus „schützt und unterstützt“ die Slowakische Republik nach Art. 55 Abs. 2 der Verfassung „den wirtschaftlichen Wettbewerb“. Auch Ungarn bekennt sich in Art. 9 Abs. 1 seiner Verfassung zur Marktwirtschaft, fügt allerdings hinzu, dass „Gemeineigentum und Privateigentum einen gleichberechtigten und gleichen Schutz“ genießen. b) Funktionsgarantien einer marktwirtschaftlichen Ordnung Die Verfassungen aller Mitgliedstaaten enthalten außerdem rechtliche Garantien, die eine grundsätzlich justiziable Basis zum Schutz einer marktwirtschaftlichen Ordnung sind. Insofern sind sie zumindest prinzipiell mit der europäischen Marktverfassung vereinbar. Dies gilt für die individuelle oder unternehmerische Handlungsfreiheit, aber auch für die Garantie des privaten Eigentums. Die ungarische Verfassung unterstreicht zudem in Art. 9 Abs. 2 das „Recht auf Unternehmung“ und die „Freiheit des wirtschaftlichen Wettbewerbs“, letzteres aber nur – soweit ersichtlich – als Staatsziel. Auch in der irischen Verfassung ist der Wettbewerb als Schutzgut anerkannt. Nach Art. 45 Abs. 1 lit. c ist die Politik des Staates insbesondere darauf zu richten, dass zum „allgemeinen Schaden der freie Wettbewerb nicht in eine Zusammenballung des Eigentums und der Kontrolle wesentlicher Güter in den Händen weniger ausarten darf“. Diese normativen Leitlinien lassen den Staatsorganen einen weiten wirtschaftspolitischen Spielraum, der allerdings durch gegenläufige, hoheitliche Interventionen erfordernde Ziele staatlicher Politik eingeschränkt sein kann. c) Interventionistische Tendenzen Insofern stehen die Garantien einer marktwirtschaftlichen Ordnung in Konkurrenz und bisweilen auch im Konflikt mit interventionistischen Zielen staatlicher Politik 178
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Siehe für die Bundesrepublik Deutschland aber den viel zitierten Art. 1 Abs. 3 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR, wonach die „soziale Marktwirtschaft“ als verbindlich im Sinne eines normativen Bekenntnisses zur praktizierten Wirtschaftsordnung festgelegt worden ist; eingehend M. Schmidt-Preuß, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz vor dem Hintergrund des Staatsvertrages zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, DVBl. 1993, S. 236. Siehe dazu A. Kimmel (Hrsg.), Die Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 2005.
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und den entsprechenden Ermächtigungen. So gewährleistet die eingangs zitierte Vorschrift des Art. 38 der spanischen Verfassung nicht nur die Unternehmensfreiheit im Rahmen der Marktwirtschaft, sondern stellt deren Förderung unter den Vorbehalt eines Einklanges mit den „Erfordernissen der Planung“. Ferner verbürgen die Verfassungen einer Reihe von Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten soziale Rechte und enthalten Kataloge staatlicher Ziele, die als Rechtfertigung markt- und wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen dienen können.180 Eine erste Durchsicht der Verfassungstexte spricht mithin für weite wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume der nationalen Gesetzgeber, die ersichtlich – wie im Falle Spaniens oder Frankreichs – gewisse planerische Elemente einschließen. 2. Marktrelevante Gestaltungsspielräume Welches effektive Ausmaß diese Gestaltungsspielräume im Verbund der europäischen Wirtschaftsverfassung haben, erschließt sich erst durch die Freiräume, die von den Gründungsverträgen gelassen werden. Insoweit kann – freilich vergröbernd – danach unterschieden werden, ob der betreffende Bereich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt oder durch eine Ausnahme von gemeinschaftlichen Politiken eröffnet wird. In der Sache bilden sie mithin das Gegenstück zu den Bereichen, die von der Gemeinschaft nicht geregelt werden dürfen oder bisher noch nicht geregelt wurden. a) Ordnungspolitische Vorbehalte Die ordnungspolitischen Vorbehalte der gemeinschaftlichen Wirtschaftsverfassung zugunsten der Mitgliedstaaten betreffen vor allem die Bereiche der Eigentumsordnung und der Daseinsvorsorge. aa) Autonome Gestaltung der Eigentumsordnung Die Garantie des Art. 295 EG, wonach der Vertrag die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt lässt, sichert nationale Gestaltungsspielräume im Bereich der Güterordnung. Der weite Umfang des Eigentumsbegriffs, welcher nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs neben dem Sacheigentum vor allem auch die Immaterialgüterrechte einschließt, eröffnet ein prinzipiell weites Gestaltungsermessen der Mitgliedstaaten, die insbesondere nicht an der Verstaatlichung von Unternehmen gehindert sind.181 Ein praktischer Anwendungsfall war die Verstaatlichungswelle in Frankreich nach dem Wahlsieg der sozialistischen Partei Anfang der 1980er Jahre.182 Umgekehrt sind die Mitgliedstaaten auch nicht daran gehindert, bisher staatliche Unternehmen zu privatisieren. Insoweit garantiert Art. 295 EG die Neutralität des 180 181
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Weitere Beispiele bei Müller-Graff (Fn. 177), S. 454 ff. W. Berg, in: Schwarze (Fn. 44), Art. 295 EG, Rn. 3; aus der älteren Literatur immer noch lesenswert G. Burghardt, Die Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten und der EWG-Vertrag, 1969, S. 107, der die Vorschrift sogar als „integrationsfeindlich“ qualifiziert. Hierzu H. Weis, Verstaatlichungen aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht, NJW 1982, S. 1910.
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Gemeinschaftsrechts gegenüber diesen ordnungspolitischen Entscheidungen der Mitgliedstaaten, deren Wirkungen allerdings ins Zentrum der Funktionsgarantien einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb vordringen können.183 Indes ist es nicht Zweck des Art. 295 EG den Mitgliedstaaten ein Opting-out aus der gemeinschaftlichen Marktverfassung zu ermöglichen, obwohl er vorbehaltlos formuliert ist. Deshalb unterliegen zumindest die Ausübung und die Wirkung von staatlichen und privaten Eigentumsrechten den allgemeinen Gestaltungsgrenzen des Vertrages. Vor allem wäre eine umfassende Verstaatlichung der nationalen Wirtschaftsbetriebe von Art. 295 EG nicht mehr gedeckt, weil sie zwangsläufig eine Planung nach sich zöge, die weder mit den Grundfreiheiten noch den Wettbewerbsvorschriften vereinbar wäre.184 bb) Bestandsgarantie zugunsten der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse Die Konfliktlinien zwischen den unterschiedlichen Konzepten der nationalen Wirtschaftspolitik werden in der aktuellen Diskussion über die Stellung der öffentlichen Daseinsvorsorge in einer wettbewerbsgesteuerten Marktwirtschaft wie in einem Brennspiegel zusammengeführt.185 Es geht dabei um solche Unternehmen, denen die Mitgliedstaaten bestimmte öffentliche Aufgaben – der Vertrag spricht von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse – übertragen haben. Um ihre Position zu stärken, nicht zuletzt auch mit Blick auf eine restriktivere Interpretation des Art. 86 EG durch Kommission und Gerichtshof, wurde Art. 16 EG anlässlich der Vertragsreform von Amsterdam eingefügt. Gleichsam spiegelbildlich, nämlich aus der Nutzerperspektive, unterstreicht Art. 36 der einstweilen unverbindlichen Grundrechte-Charta das Recht der Unionsbürger auf Zugang zu Einrichtungen und Leistungen der Daseinsvorsorge und damit ihre Existenzberechtigung. Regelungsgegenstand sind besagte „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“. Hinsichtlich dieser Dienste bzw. Unternehmen tragen nach Art. 16 EG „die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse im Anwendungsbereich des Vertrages dafür Sorge, dass die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können“. Dies gilt allerdings „unbeschadet“ der Art. 73, 86 und 87 EG, wonach diese Formen der Aufgabenerfüllung einer gemeinschaftlichen Kontrolle am Maßstab des Wettbewerbsrechts unterworfen sind. Sowohl der Inhalt als auch die Rechtswirkungen dieser Norm sind alles andere als klar. Sie soll, wie auch die Vorgeschichte zeigt, gemeinwohlorientierte Wirtschaftsformen im Rahmen der gemeinschaftlichen Wirtschaftsverfassung gegen183 184 185
T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 92), Art. 295 EG, Rn. 2. Ebenso A. Bleckmann, Europarecht, 1997, Rn. 751; E. Klein, in: ders. u. a., Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union (EUV/EGV), 1998, Art. 222 EG-Vertrag, Rn. 10. Einen guten Überblick zur aktuellen Diskussion über die grundlegenden Probleme dieses Bereichs vermittelt der Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Daseinsvorsorge im Lichte des Wettbewerbsrechts, 2001; zur Entstehungsgeschichte des Art. 16 EG siehe etwa F. Löwenberg, Service public und öffentliche Daseinsvorsorge in Europa, 2001, insb. S. 207 ff.
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über dem Modell einer allein wettbewerbsgesteuerten Marktwirtschaft stärken.186 Insofern legt Art. 16 EG eine Aufgabe der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten fest, ohne selbst konkrete Befugnisse bereit zu stellen.187 Die Vorschrift vermittelt weder Leistungsansprüche des Bürgers noch Abwehrrechte von betroffenen Unternehmen. Sie macht lediglich deutlich, wie insbesondere der Hinweis auf den „Stellenwert innerhalb der gemeinsamen Werte der Union“ und neuerdings Art. 36 GRCharta belegen, dass diese Wirtschaftsformen ein eigenständiges Schutzgut des EGVertrages sind und nicht nur geduldete Relikte einer interventionistischen Wirtschaftspolitik einiger Mitgliedstaaten. Die Vorschrift begründet indes keine gleichrangige Alternative zum Marktkonzept, wie dies vereinzelt unterstellt wurde, sondern lässt durch den Vorbehalt der Wettbewerbskonformität (Art. 73, 86 und 87 EG) erkennen, dass auch die Daseinsvorsorge prinzipiell wettbewerbs- und marktkompatibel sein muss. Nichts anderes gilt für Art. 36 GR-Charta, welcher den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse unter den Vorbehalt der Vereinbarkeit mit dem EG-Vertrag stellt. cc) Bereitstellung öffentlicher Güter Die Debatte über die Eigentumsordnung und Daseinsvorsorge in den Mitgliedstaaten berührt ferner die rechtliche Stellung öffentlicher Güter im Binnenmarkt. Darunter fallen nach der ökonomischen Theorie solche Güter, von deren Konsum kraft Natur der Sache niemand ausgeschlossen werden kann und deren Konsum durch einen Nutzer den Konsum durch einen anderen nicht schmälert. Beispiele sind etwa die Landesverteidigung oder eine Küstenschutzanlage. In einem weiteren Sinne lässt sich darunter das gesamte Angebot an staatlichen Gütern und Dienstleistungen verstehen.188 Öffentliche Güter haben eine wichtige Funktion bei der Korrektur eines Marktversagens, wenn etwa negative externe Effekte (z.B. Verschmutzung von Wasser) nicht in die Kosten einfließen und daher die Preisbildung verfälschen. Dann kann ein entsprechendes staatliches Rechtsregime das Steuerungsdefizit des Wettbewerbs korrigieren, etwa durch kostenpflichtige Genehmigungen. Öffentliche Güter können aber auch verteilungspolitischen Zwecken dienen, wenn etwa die Exklusivität der Nutzung – z.B. bedingt durch einen hohen Preis – weite Bevölkerungskreise vom Konsum ausschließen würde und dies den herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspricht.189 Grundsätzlich steht es den Mitgliedstaaten frei, nach ihren rechtlichen und politischen Maßstäben über die öffentliche Güterpalette zu entscheiden, soweit sie dabei nicht die oben skizzierten Grenzen der gemeinschaftlichen Wirtschaftsverfassung verletzen. 186 187 188 189
Dazu ausführlich S. Rodrigues, Les services publics et le Traité d’Amsterdam, Revue du Marché commun et de l’UE Nr. 414 (1998), S. 37 (40). C. O. Lenz, in: ders./K.-D. Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 16 EG, Rn. 10; A. Hatje, in: Schwarze (Fn. 44), Art. 16 EG, Rn. 7. Zum Begriff der öffentlichen Güter siehe etwa Teichmann (Fn. 32), S. 13 f., 281 und 336. Zu konzeptionellen Rechtsfragen sog. Gemeinschaftsgüter, welche öffentliche Güter im Sinne der ökonomischen Theorie sind, grundlegend C. Engel, Recht der Gemeinschaftsgüter, Die Verwaltung 1997, S. 429.
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b) Verlaufspolitische Gestaltungsspielräume Den Mitgliedstaaten stehen für die Beeinflussung des Wirtschaftsgeschehens vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung. Die Instrumente der Gemeinschaft sind auf diesem Feld, von der allerdings bedeutsamen Währungspolitik abgesehen, auf ergänzende oder fördernde Interventionen begrenzt. Insbesondere die haushaltspolitischen Maßnahmen, wie etwa forcierte öffentliche Investitionen, und die nationale Steuerpolitik können den Konjunkturverlauf beeinflussen oder außerfiskalischen Interessen dienen. Allerdings müssen auch hierbei, wie im Falle der sog. Öko-Steuer oder Verschuldungspolitik, die Rahmenbedingungen der gemeinschaftlichen Wirtschaftsverfassung beachtet werden. Insbesondere die Haushaltsüberwachung durch die Kommission nach Art. 104 EG sowie der ergänzend beschlossene Stabilitäts- und Wachstums-Pakt190 zur Vermeidung eines „übermäßigen Defizits“ der öffentlichen Haushalte begrenzen den nationalen Gestaltungsspielraum nicht unerheblich, wie die Diskussion über eine Verwarnung der Bundesrepublik Deutschland und Portugals wegen einer grenzwertigen bzw. zu hohen Neuverschuldung illustriert hat. Jedoch bleibt ein weites Spektrum von Instrumenten übrig, welche etwa auch in Form einer gezielten Arbeitsmarktpolitik auf den Wirtschaftsverlauf einwirken sollen.191 Ein weiterer Bereich staatlicher Regulierung ist der Schutz allgemeiner öffentlicher Belange durch die Mitgliedstaaten. Die Vorschriften über den Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltschutz, aber auch die Bestimmungen zur Kultur- und Bildungspolitik gehen davon aus, dass der Schutz der mit ihnen verbundenen Interessen grundsätzlich den Mitgliedstaaten vorbehalten bleibt. Nichts anderes ergibt sich aus den Ausnahmen zu den Grundfreiheiten und den Harmonisierungskompetenzen. Allerdings sind damit verbundene Eingriffe in die Offenheit der Märkte oder den unverfälschten Wettbewerb im Binnenmarkt an den Vorschriften des Vertrages zu messen. c) Verteilungspolitische Gestaltungsspielräume Die verteilungspolitischen Spielräume sind insofern noch weiter, als namentlich die Gestaltung der Steuertarife im Bereich der direkten Steuern, etwa der Einkommenssteuern, einstweilen dem nationalen Gesetzgeber überlassen bleibt.192 Auch im 190
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Dieser Pakt besteht aus insgesamt drei Akten: Entschließung des Europäischen Rates von Amsterdam über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 16./17.06.1997 (ABl. 1997 C 236, S. 1); Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitik (ABl. 1997 L 206, S. 1); Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit (ABl. 1997 L 209, S. 6). Eine sorgfältige Analyse der beschäftigungspolitischen Instrumente liefert etwa Steinle (Fn. 102), S. 45 ff. Eine Angleichung direkter Steuern, wenn sie überhaupt volkswirtschaftlich sinnvoll ist, könnte nur über Art. 94 EG erfolgen, der einen einstimmigen Ratsbeschluss erfordert. Auch die Angleichung der indirekten Steuern gem. Art. 93 EG unterliegt dieser prozeduralen Restriktion.
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Bereich der Gestaltung sozialer Sicherungssysteme bleiben die Mitgliedstaaten grundsätzlich frei, wenngleich die Koordination und die Erweiterung der Leistungsansprüche auf Leistungen aus anderen Mitgliedstaaten insoweit eine Öffnung bewirkt haben. Dennoch bleibt die grundlegende Entscheidung darüber, ob und wie bestimmte soziale Leistungen (Krankenversicherung, Renten u.ä.) erbracht werden, den Mitgliedstaaten vorbehalten. Insofern haben die Mitgliedstaaten, soweit sie nicht den oben skizzierten – moderaten – Einflüssen der gemeinschaftlichen Sozialvorschriften unterliegen, einen weiten Verteilungsspielraum, welcher durch autonome nationale Politikentwürfe ausgefüllt werden kann.193 d) Das Problem des Systemwettbewerbs In diesen Sektoren autonomer Gestaltung findet ein „Systemwettbewerb“ statt, dessen rechtliche Einordnung in den Rahmen des EG-Vertrages überaus umstritten ist. Der vornehmlich in der Wirtschaftswissenschaft vertretenen These, in der Gemeinschaft werde die Unternehmenskonkurrenz durch den Wettbewerb der nationalen Wirtschaftspolitiken ergänzt,194 stehen insbesondere die vertraglichen Ziele (siehe Art. 2 EG) einer harmonischen, ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung des Wirtschaftslebens, eines hohen Maßes an sozialem Schutz sowie die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten entgegen. Ein so verstandener Systemwettbewerb ist daher rechtlich nicht geboten, er ist auch nicht verboten, aber dieser Wettbewerb unterliegt einer gemeinschaftlichen Kontrolle am Maßstab der Vertragsziele und gesonderter Bestimmungen über die Koordination der nationalen und europäischen Wirtschaftspolitik. 3. Gestaltungsgrenzen Die Gestaltungsgrenzen staatlicher Wirtschaftspolitik werden einerseits durch die marktwirtschaftliche Ausrichtung der europäischen Wirtschaftsverfassung gebildet, welche das Verbot des Systemwechsels auf die nationale Ebene erstreckt. Andererseits werden die Grenzen durch quantitative und qualitative Maßstäbe des europäischen Rechts definiert. a) Marktwirtschaftliche Ausrichtung Die staatliche Wirtschaftspolitik muss sich, ebenso wie die gemeinschaftliche, nach Art. 4 und Art. 98 EG am Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb ausrichten. Die Systementscheidung wird damit zum Bestandteil der nationalen Wirtschaftsverfassungen, die mit ihr vereinbar sein müssen. Einen Sys-
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Ein Musterbeispiel sind die verschiedenen Ansätze zur Gewährleistung sozialer Sicherheit in Europa, siehe dazu etwa U. Becker, Staat und autonome Träger im Sozialleistungsrecht, 1996, insb. S. 494 ff., und ihre unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Umfelder. Ausführlich dazu Mussler (Fn. 27), S. 77 ff.; speziell zum Steuerwettbewerb und seinen Grenzen J. Wieland, Steuerwettbewerb in Europa, EuR 2001, S. 119, der mit einer eher restriktiven Tendenz, auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 23 Abs. 1 GG vor allem die Steuergerechtigkeit als Prüfstein zulässigen Wettbewerbs sieht.
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temwechsel zur Plan- oder zentralen Verwaltungswirtschaft darf es daher auch angesichts weiter Gestaltungsspielräume nicht geben. Positiv soll durch die Ausrichtung an diesem Grundsatz ein „effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert“ werden, was eine rechtlich allerdings schwer operationalisierbare Verpflichtung darstellt.195 Ferner ist die nationale Wirtschaftspolitik gem. Art. 98 EG an die Ziele des Art. 2 EG gebunden, wonach insbesondere ein nachhaltiges, nichtinflationäres Wachstum angestrebt werden soll.196 Mit dieser vergleichsweise groben Orientierung kann indes nicht verhindert werden, dass staatliches Handeln unterhalb der Schwelle zum Systemwechsel empfindliche Störungen des Marktmechanismus verursacht. Der Vertrag sieht daher eine Reihe weiterer Sicherungen vor, die sich insofern als System begreifen lassen, als sie durch das Ziel des Schutzes von Markt und Wettbewerb verbunden sind. Sie begrenzen sowohl das finanzielle wie auch das regulative Interventionspotenzial der Mitgliedstaaten. b) Quantitative Begrenzung des finanziellen Interventionspotenzials Das finanzielle Interventionspotenzial ist vor allem durch die Haushaltsdisziplin aufgrund des Art. 104 EG begrenzt, wonach die Mitgliedstaaten „übermäßige öffentliche Defizite“ vermeiden müssen. Sie dient dem Stabilitätsziel der Währungsunion, welches durch eine expansive Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten zum Ausgleich für die vergemeinschafteten geldpolitischen Instrumente gefährdet wäre. Die zu diesem Zweck installierte Überwachung des öffentlichen Schuldenstandes durch die Kommission engt den wirtschaftspolitischen Spielraum der meisten Mitgliedstaaten spürbar ein. Insbesondere die im sog. Defizitprotokoll genannte 3 %-Marke für die Neuverschuldung der Haushalte, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen, erweist sich als durchaus wirksame Grenze vor allem kurzfristiger konjunkturpolitisch motivierter Interventionen der Mitgliedstaaten. c) Verhältnismäßigkeit als qualitative Schranken finanzieller und regulativer Eingriffe Im Sinne eines Markt- und Wettbewerbsschutzes beschränkt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die finanziellen und regulativen staatlichen Interventionen wesentlich zielgenauer. Seine Anwendung beruht auf dem Regel-Ausnahme-Prinzip, wonach die Offenheit der Märkte und der unverfälschte Leistungswettbewerb die Regel sind, während Eingriffe in diese Funktionsgarantien der europäischen Wirtschaftsverfassung einer Rechtfertigung bedürfen. Der Gerichtshof hat, vielfach beschrieben, aus der Verhältnismäßigkeit ein feinmaschiges Prüfungsprogramm für 195
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Für eine normative Verpflichtung, im Gegensatz zu einer Erläuterung des Merkmals der offenen Wettbewerbswirtschaft, plädiert etwa D. Hattenberger, in: Schwarze (Fn. 44), Art. 98 EG, Rn. 7. In erster Linie soll die Wirtschaftsunion eine Stabilitätsgemeinschaft sein, wie auch der Verweis des Art. 98 Abs. 2 auf Art. 4 EG zeigt, welcher als „richtungweisende Grundsätze“ stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz vorsieht; siehe dazu R. Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Fn. 162), Art. 98 EG, Rn. 6.
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die Kompatibilität staatlicher Wirtschaftspolitik mit den Vorgaben der gemeinschaftlichen Rahmenordnung und ihren systemerhaltenden Garantien entwickelt. aa) Legitimation anhand europäischer Maßstäbe Staatliche Eingriffe in die Marktfreiheiten und den Wettbewerb müssen durch vertragslegitime Zwecke gerechtfertigt sein. Dies gilt für die Grundfreiheiten ebenso wie für die Wettbewerbsvorschriften der Art. 81 ff. EG. Gleichgültig, ob es sich um ausdrückliche Schutzgüter der Ausnahmebestimmungen von den Verkehrsfreiheiten handelt oder um ungeschriebene zwingende Gründe, die für die Rechtfertigung des Eingriffs herangezogen werden, stets handelt es sich um gemeinschaftsrechtlich anzuerkennende Schutzgüter. Für die Grundfreiheiten kommt einschränkend hinzu, dass es sich um Gründe nichtwirtschaftlicher Art handeln muss. Auch die Genehmigung staatlicher Beihilfen gem. Art. 87 Abs. 3 EG erfolgt am Maßstab europäisch definierter Förderziele.197 Lediglich im Bereich der Daseinsvorsorge nach Art. 86 EG haben die Mitgliedstaaten einen letzten Rest an staatlicher Definitionsmacht über die Ziele und die Formen der Erledigung öffentlicher Aufgaben, für die eine relative Freistellung der Leistungsträger von den Wettbewerbsvorschriften beansprucht werden kann. Indes unterliegt das Ausmaß der Freistellung wiederum auch hier einer Kontrolle am Maßstab des gemeinschaftlichen Interesses an einem Binnenmarkt mit unverfälschtem Wettbewerb.198 bb) Eignung und Erforderlichkeit als Gebote des Interventionsminimums Die Eingriffe müssen außerdem geeignet und erforderlich sein. Zwar eröffnet die Eignung einer Maßnahme zu gemeinschaftslegitimen Zwecken den Mitgliedstaaten einen gewissen Beurteilungsspielraum, jedoch muss unter Umständen dargelegt werden, weshalb die Maßnahme die angestrebte Wirkung haben dürfte.199 Die entscheidende Hürde staatlicher Interventionen ist freilich die Erforderlichkeit. Vor allem bei Eingriffen in die Grundfreiheiten hat der Gerichtshof betont, dass eine derartige staatliche Maßnahme nur dann erforderlich ist, wenn zur Verfolgung der gemeinschaftsrechtlich geschützten Interessen kein milderes Mittel zur Verfügung steht. Erlaubt ist eine Maßnahme danach nur, wie der Gerichtshof für den Warenverkehr hervorgehoben hat, wenn „das gleiche Ziel nicht mit anderen, unter dem Gesichtspunkt des freien Warenverkehrs weniger einschneidenden Maßnahmen erreicht werden kann.“200 Auch die Genehmigung von Beihilfen erfolgt in einem ähnlichen Prüfprogramm, welches insbesondere einen Vergleich mit den mutmaßlichen Ergebnissen eines „unverfälschten Selbstlaufs des Wettbewerbs“201 beinhaltet. Erst wenn sich ein allerdings prognostischer Mehrwert zugunsten der staatlichen Intervention ergibt, kann die Erforderlichkeit bejaht werden. Darüber hinaus muss es sich unter 197 198 199 200 201
Vgl. zur wirtschaftsverfassungsrechtlichen Bedeutung etwa Müller-Graff (Fn. 177), S. 443. F. v. Burchard, in: Schwarze (Fn. 44), Art. 86 EG, Rn. 77. Vgl. Kischel (Fn. 172), S. 386 ff. EuGH, Rs. 216/84, Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 793, Rn. 7. Müller-Graff (Fn. 177), S. 443.
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den geeigneten Fördermaßnahmen oder Eingriffen in den Freiverkehr um die am wenigsten beeinträchtigende Maßnahme handeln. Auch die Ausnahmen insbesondere für Unternehmen der Daseinsvorsorge (Art. 86 Abs. 2 EG) von den Wettbewerbsvorschriften des Vertrages gelten nur in den Grenzen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit. Zwar lassen sich jüngere Urteile des Gerichtshofs dahin deuten, dass er entsprechend der allgemeinen Gemeinschaftspolitik und dem Grundsatz des Art. 16 EG den Mitgliedstaaten einen relativ weiten Spielraum gewährt, innerhalb dessen sie entscheiden können, auf welche Art und Weise derartige Leistungen erbracht werden sollen.202 Jedoch ändert dieser Umstand nichts an der grundsätzlichen Rechtfertigungsbedürftigkeit dieser Ausnahmen vom „reinen“ Marktprinzip. Im Zuge der Vertragsreform von Lissabon ist Art. 16 EG um eine eigenständige Gesetzgebungskompetenz der EU für den Bereich der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse – wie bereits vom Verfassungsvertrag vorgesehen – erweitert worden.203 Danach legt die EU die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren der Dienste fest. Damit kommt ihr eine ähnliche Funktion wie im Wettbewerbsrecht zu, die es ihr erlaubt Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer die Mitgliedstaaten für die Ausfüllung verantwortlich bleiben. Trotz des deklaratorischen Hinweises, dass die Festlegung unbeschadet der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten erfolgt, dürfte mit dieser Erweiterung der Norm eine Einschränkung des weiten Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten verbunden sein. Dieser Einengung wird zwar mit dem Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse entgegen gewirkt, indem die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden bei der Regelung dieser Dienste als gemeinsame Werte der Union im Sinne des Art. 16 hervorgehoben werden. Ob im Zuge der Reform für die Ausnahme vom „reinen“ Marktprinzip erhöhter Rechtfertigungsdruck für Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse entstehen wird, bleibt abzuwarten, eine Erweiterung des mitgliedstaatlichen Spielraums ist mit der Reform jedoch nicht verbunden. cc) Konkordanz von Wettbewerb und Intervention? In diesem Zusammenhang wird das Prinzip der praktischen Konkordanz eingeführt, welches insbesondere die Abwägung zwischen dem Schutz des Wettbewerbs und der Gestaltungsbefugnis der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge leiten soll.204 Es stellt sich die weitergehende Frage, ob dieser Grundsatz allgemein das Verhältnis zwischen den europäischen Marktfreiheiten und staatlichen Beschränkungen bestimmt. Der aus dem deutschen Verfassungsrecht entlehnte Gedanke praktischer Konkordanz beruht auf der Annahme, dass die Verfassung eine Einheit bildet und jede Norm insofern gleiche Verwirklichungschancen haben 202 203 204
Vgl. EuGH, Rs. C-320/91, Corbeau, Slg. 1993, I-2533; Rs. C-393/92, Almelo, Slg. 1994, I-1477; Rs. C-159/94, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-5815. Vgl. A. Kallmayer/C. Jung, in: Calliess/Ruffert (Fn. 92), Art. 16 EG, Rn. 6. Vgl. insbesondere J. Schwarze, Daseinsvorsorge im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts, EuZW 2001, S. 334 (339).
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muss. Bei Kollisionen auf der gleichen Normebene kann es daher nicht um ein Entweder-Oder gehen, sondern nur um einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den betroffenen Verfassungsgütern mit dem Ziel, ihnen jeweils zu optimaler Wirksamkeit zu verhelfen.205 Die damit verbundene Offenheit der Ergebnisse würde für eine prinzipielle Neutralität der europäischen Wirtschaftsverfassung gegenüber wettbewerblichen und regulativen bzw. interventionistischen Optionen der europäischen Wirtschaftspolitik sprechen. Indes hat die bisherige Untersuchung der gemeinschaftlichen wie auch der nationalen Interventionspotenziale erwiesen, dass eine relativ klare Präferenz zugunsten der grenzüberschreitenden Wettbewerbsfreiheit besteht. Diese abwägungsrelevante Voreinstellung der wirtschaftsbezogenen Normenordnung des Gemeinschaftsrechts wird an zwei systemprägenden Schaltstellen deutlich: So bestimmt Art. 86 EG, dass insbesondere der unverfälschte Wettbewerb auch im Bereich der Daseinsvorsorge grundsätzlich nicht beeinträchtigt werden darf, es sei denn, es bestehen überwiegende Gründe für diese Einschränkung. Der Vertrag stellt auch die Unternehmensformen – privat oder öffentlich – als solche einander gleich und ist insofern neutral. Jedoch findet die Neutralität dort ihre Grenze, wo die Unternehmenstätigkeit auf den Wettbewerb im Binnenmarkt negativ ausstrahlt. Es handelt sich daher nicht um ein Verhältnis der Gleichrangigkeit von wettbewerbskonformer und wettbewerbswidriger Tätigkeit, sondern nur um die Möglichkeit, im öffentlichen Interesse den an sich verbotenen Eingriff in den Wettbewerb im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu rechtfertigen. Vergleichbares gilt für die Freiverkehrsrechte, die nur unter der Voraussetzung einer strikten Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden dürfen.
V. Bilanz und Perspektiven Versucht man die vorstehenden Überlegungen zusammenzufassen, so ergeben sich differenzierte Antworten auf die gestellten Fragen. Die gemeinschaftliche Systemgarantie zugunsten einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb wird durch einklagbare Ansprüche abgesichert, die sich auf die grundrechtlich gewährleistete Wirtschaftsfreiheit als solche, die grenzüberschreitende Offenheit der Märkte und den unverfälschten Wettbewerb beziehen. Umgekehrt schützt die marktwirtschaftliche Ausrichtung der europäischen Wirtschaftsverfassung auch die individuelle Freiheit, ohne die Wettbewerb nicht existieren kann. Sie beendet darüber hinaus für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Debatte über planwirtschaftliche Wirtschaftsmodelle. Allerdings bleiben beträchtliche Spielräume für die europäischen und die mitgliedstaatlichen Organe, die mit unterschiedlichen Regelungsanliegen ausgefüllt werden können. Soweit ersichtlich, fügen sich die Verfassungen der Mitgliedstaaten in den Rahmen der europäischen Wirtschaftsverfassung ein. Konflikte sind angesichts der bestehenden wirt205
K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rn. 72, zur praktischen Konkordanz, die nur ein Verfahren der Verfassungskonkretisierung darstellt.
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schaftspolitischen Gestaltungsspielräume selbstverständlich nicht auszuschließen. Diese Gestaltungsspielräume sind keine Fremdkörper in der Wirtschaftsverfassung, sondern lediglich Ausdruck ihres Rahmencharakters. Während der Gebrauch wirtschaftlicher Freiheit innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems vom Vertrag als legitim vorausgesetzt wird, muss die Nutzung politischer Gestaltungsspielräume demokratisch verantwortet werden. Die mit beinahe jeder Regierungskonferenz erweiterten Regelungsbefugnisse der Gemeinschaft führen daher auch zu einem stetig wachsenden Legitimationsbedarf.206 Nicht der Markt, welcher Ausdruck individueller Freiheit ist, bedarf einer Rechtfertigung, sondern seine Beschränkung oder Lenkung muss begründet und verantwortet werden. Insofern ist die europäische Wirtschaftsverfassung keineswegs neutral.
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Zu den konzeptionellen Fragen siehe C. Joerges, Good Governance im Europäischen Binnenmarkt, EuR 2002, S. 17.
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Florian Rödl
I.
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Europäische Verfassung und gesellschaftliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Begriff der Arbeitsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die EWG-Arbeitsverfassung und der soziale Integrationskompromiss . . . . . . . . . . 1. Die Grundnormen der Arbeitsverfassung der EWG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundlage und Funktion der EWG-Arbeitsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gestalt der europäischen Arbeitsverfassung im gesellschaftlichen Wandel . . . . . III. Die positiv-rechtliche Gestalt der EU-Arbeitsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übersicht über den Normbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Kernproblem der fehlenden Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Form der europäischen Arbeitsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eine integrierte europäische Arbeitsverfassung „im Werden“? . . . . . . . . . . . . . . 2. Eine post-regulatorische Arbeitsverfassung für die EU? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die EU-Arbeitsverfassung im europäischen Arbeitsverfassungsverbund . . . . . . V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einführung 1. Europäische Verfassung und gesellschaftliche Ordnung Der vorliegende Band verfolgt das Projekt, das europäische Primärrecht als Verfassungsrecht zu lesen.1 Dies ist ein begrifflich anspruchsvolles Vorhaben, denn damit ist die Entscheidung verbunden, den Begriff der Verfassung von seiner hergebrachten Bindung an den des Staates zu lösen. Auf diese Weise werden Verfassung und Verfassungsrecht auch jenseits des Staates möglich,2 und das bedeutet zugleich, dass die staatsrechtliche Dichotomie von Staaten(ver)bund oder Bundesstaat3 nicht mehr gültig ist. Als Begriff für diejenige rechtliche Einheit, die neben und über dem Staat eine eigene Verfassung haben kann, wird inzwischen der des Bundes wiederentdeckt.4 Den suprastaatlichen Bund zeichnet aus, dass er Ursprung autonomen Rechts sein kann, das dem Recht seiner Gliedstaaten vorgeht, ohne zugleich die Autonomie der Rechtsordnungen jener Gliedstaaten aufzuheben. Die Europäische Union als 1 2 3 4
A. v. Bogdandy/J. Bast, in diesem Band, S. 1 ff. C. Möllers, in diesem Band, S. 240 ff. P. Kirchhof, in diesem Band, S. 1019 ff. C. Schönberger, Die Europäische Union als Bund, AöR 129 (2004), S. 81.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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Bund begriffen kann insofern eine Verfassung haben, die selbständig neben den Verfassungen ihrer Mitgliedstaaten steht und mit diesen einen Verbund eingeht.5 Der Begriff der Verfassung wird hier zu Recht anspruchsvoll gehalten als rechtliche Begründung und Formung öffentlicher Gewalt.6 Doch mit diesen Funktionen ist das moderne Verständnis des Verfassungsbegriffs noch nicht erschöpft. Denn neben der öffentlichen Gewalt konstituiert die Verfassung zugleich eine soziale Ordnung. Sie liefert eine „Gesellschaftsverfassung“ oder „gesellschaftliche Gesamtverfassung“.7 Namentlich die Begrenzung öffentlicher Gewalt in Gestalt von Grundrechten stiftet zugleich einen gesellschaftlichen Raum und verleiht ihm spezifische normative Strukturen. „Drittwirkung von Grundrechten“8 und „institutionelle Verfassungsgarantien“9 bilden die Stichworte der klassischen Verfassungsdogmatik, mit denen diese gesellschaftliche Verfassungsdimension gewöhnlich zum Ausdruck gebracht wird. Die Herausforderung europäischer Verfassungstheorie besteht daher darin, auch die Idee einer Verfassung als Konstitution gesellschaftlicher Ordnung von der Folie eines staatlichen Rahmens abzulösen und für den Verfassungsverbund neu zu artikulieren. Die für die Verfassung öffentlicher Gewalt durchaus instruktive Rede ihrer Teilung zwischen der mitgliedstaatlichen und der europäischen Ebene10 passt für die Verbundverfassung gesellschaftlicher Ordnung allerdings nicht, weil die korrespondierende Vorstellung von einer gesellschaftlichen Sphäre, die in eine europäische und in eine mitgliedstaatliche aufgeteilt wäre, keinen verständlichen Sinn hat. Vielmehr muss die Theorie europäischer Verfassung erläutern können, dass und wie die gesellschaftliche Sphäre von mitgliedstaatlicher und unionaler Verfassung im Zusammenwirken konstituiert wird, und sie muss die besondere normative Struktur dieser Sphäre zum Ausdruck bringen. Die Frage nach der gesellschaftlichen Gesamtverfassung der EU bildet gegenwärtig wohl nichts weniger als den Zentralnerv des europäischen Integrationsprozesses. Sie wird gestellt in Gestalt der Forderung nach einem „sozialen Europa“, hinter der sich inzwischen so viele Bürger versammeln, dass die den europäischen Integrationsprozess tragenden pro-europäischen Mehrheiten in den Mitgliedstaaten nicht mehr ungefährdet erscheinen.11 Diese Forderung beruht auf der erfahrungsge5
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I. Pernice, Bestandssicherung der Verfassungen, in: R. Bieber/U. Widmer (Hrsg.), Der europäische Verfassungsraum, 1995, S. 225 (261 ff.); siehe auch S. Oeter, in diesem Band, S. 116 ff. („Verbundverfassung“). C. Möllers, in diesem Band, S. 229 ff. R. Scholz, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, 2001, § 151, A. II. (Rn. 21–35) („Gesellschaftsverfassung“); H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 40 („gesellschaftliche Gesamtverfassung“). Der nachfolgend unter 2. entfaltete Begriff der Arbeitsverfassung fokussiert einen wichtigen Teilbereich der „gesellschaftlichen Gesamtverfassung“. H.-J. Papier, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR II, 2006, § 55. M. Kloepfer, in: Merten/Papier (Fn. 8), § 43. So S. Oeter, in diesem Band, S. 90 ff. Der Verfassungsvertrag war nicht im Stande, diese Forderungen überzeugend aufzugreifen und einzulösen, und dies hat ihn bei der Volksabstimmung in Frankreich offenbar „den Kopf gekostet“.
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sättigten Diagnose, dass die volkswirtschaftlichen Wohlstandsgewinne durch europäische Marktintegration mit der Steigerung sozialer Ungleichheit erkauft werden. Während in der Phase relativ geschlossener Volkswirtschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1970er Jahre hinein die Faktoren wirtschaftlichen Wachstums und steigender Arbeitseinkommen miteinander gekoppelt waren, sind sie inzwischen über die Prozesse europäischer und globaler Marktintegration für alle sichtbar auseinander getreten. Jene goldene Phase des modernen Staates12 erlaubte jedenfalls in der Mehrheit der alten Mitgliedstaaten einen gesellschaftlichen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit, in dem die wirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse nicht in Frage gestellt wurden und die abhängig Beschäftigten im Gegenzug an dem auf diesen Verhältnissen beruhenden steigenden Wohlstand angemessen beteiligt wurden. Die Grundlage dieser Kompromisse ist seit den 1970er Jahren mit zunehmender Marktintegration schrittweise erodiert. Die positive Vision eines „sozialen Europas“ besteht für viele mithin darin, auf europäischer Ebene einen vergleichbaren gesellschaftlichen Kompromiss neu zu konstituieren, wobei dessen institutionelle Konturen alles andere als klar auf der Hand liegen. Die gesellschaftliche Anerkennung der Union als legitime Ordnung und damit die Zukunft des europäischen Integrationsprojektes werden aber mutmaßlich davon abhängen, ob es gelingt, der Chiffre eines „sozialen Europas“ klaren Gehalt zu verleihen.13 Die Frage nach der gesellschaftlichen Gesamtverfassung im Allgemeinen und nach der europäischen Arbeitsverfassung im Besonderen ist nicht zuletzt ein Beitrag zu dieser gesellschaftspolitischen Suchbewegung, die den maßgeblichen verfassungsrechtlichen Rahmen und dessen realistische Entwicklungspotenziale freilegen soll. Ein wichtiger Anfang zu diesem Unternehmen wurde in der Vorauflage dieses Bandes gemacht, die bereits zwei Beiträge zur Wirtschafts- und Wettbewerbsverfassung der Union enthielt.14 Mit dem vorliegenden Beitrag zur Form der europäischen Arbeitsverfassung15 wird nun ein zweiter Schritt unternommen. Allerdings begegnet dieses Unternehmen gleich zu Beginn der Schwierigkeit, dass die Arbeitsverfassung in der rechtswissenschaftlichen Diskussion nur vergleichsweise bescheiden präsent ist.16 Das gilt sowohl für die arbeitsrecht12
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Vom „goldenen Zeitalter“ der Staatlichkeit sprechen S. Leibfried/M. Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg.), Transformation des Staates, 2006, S. 19 (23), dabei anknüpfend an E. Hobsbawm, The Age of Extremes, 1994, S. 225 ff., der für die Periode von etwa 1950–1975 vom „golden age“ des 20. Jahrhunderts spricht. Siehe auch U. Haltern, in diesem Band, S. 283 ff. In fortentwickelter Fassung A. Hatje und J. Drexl, jeweils in diesem Band. Dieser Ansatz kritischer Rechtswissenschaft, nach dem die Form eines Rechtsgebietes einen grundlegenden kritischen Maßstab geltenden Rechts liefert, ist am Beispiel des Zivilrechts näher expliziert bei F. Rödl, Normativität und Kritik des Zivilrechts, ARSP Beiheft Nr. 114 (2007), S. 167. So wurde die Arbeitsverfassung im deutschen Grundgesetz erst deutlich später als die Wirtschaftsverfassung überhaupt entdeckt (Scholz (Fn. 7), § 151, Rn. 24). Die erste monographische Abhandlung zur Arbeitsverfassung des Grundgesetzes stammt aus dem Jahr 1965 (D. Conrad, Freiheitsrechte und Arbeitsverfassung). Der einschlägige Band „Die Wirtschafts- und Arbeitsverfassung“ des von Bettermann u.a. herausgegebenen Handbuchs (K. Bettermann u.a., Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958) führte sie hingegen nur im Titel.
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liche17 als auch für die verfassungsrechtliche18 Sparte der Rechtswissenschaft. Allzu oft fungiert „Arbeitsverfassung“ nur als Überschrift und wohlklingendes Schlagwort. Der Begriff muss darum an dieser Stelle in gebotener Knappheit noch einmal neu entfaltet werden. 2. Zum Begriff der Arbeitsverfassung Der Begriff der Arbeitsverfassung geht auf den Weimarer Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer zurück. Die Arbeitsverfassung stand ihm zufolge neben dem Arbeitsvertrag.19 Während der Arbeitsvertrag die Grundlage der Arbeitsleistung liefert, ist es die Funktion der Arbeitsverfassung, eine Gemeinschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern zur Ausübung der Verfügungsrechte des Arbeitgebers zu stiften.20 Die Arbeitsverfassung besteht mithin in den kollektiven Ebenen des Arbeitsrechts, das heißt der Ebene der Betriebs- und Unternehmensverfassung und der Ebene der Tarifordnung, samt Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht. Sinzheimers Rede von der Arbeitsverfassung hat dabei in erster Linie einen materiellen Sinn, auch wenn sich die Grundlagen des kollektiven Arbeitsrechts in der Weimarer Reichsverfassung fanden (Art. 159, 162 Abs. 1, 2 WRV). Die kollektiven Ebenen des Arbeitsrechts heißen nicht deswegen Arbeitsverfassung, weil sich ihre Grundlage formell in der geschriebenen Verfassung fände, sondern weil sie in materieller Hinsicht Verfassungsfunktion erfüllen. Gegenstand der Sinzheimerschen Arbeitsverfassung ist die Herrschaftsposition des Unternehmers kraft seines Eigentums an den Produktionsmitteln. Dabei vermittele die Stellung als Eigentümer von Produktionsmitteln nicht nur eine sachenrechtliche Herrschaftsposition, sondern über deren ungleiche Verteilung zugleich eine Position der Herrschaft über Personen.21 Die Funktion dieser Verfassung der Sach- und Personenherrschaft des Eigentümers entspricht mithin der Funktion der begrenzenden Formung öffentlicher Herrschaft.22 Denn ebenso wenig wie die lediglich formende Staatsverfassung die souveräne Herrschaft ihres Inhabers antastete und nur ihre Ausübung rechtlich band, sollte auch die Arbeitsverfassung die Stellung des Unternehmers als Eigentümer, das Haben und die Verwertung des Eigentums, nicht antasten, sondern lediglich die Verwaltung des Eigentums dem Willen einer Gemeinschaft zwischen Beschäftigen und Unternehmer unterstellen.23 17
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Die Ausnahme liefert R. Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, 1968; ders., Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung, 2002; daneben noch E. Picker, Die Tarifautonomie in der deutschen Arbeitsverfassung, 2000. Die Ausnahme liefert R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971; ders., Pressefreiheit und Arbeitsverfassung, 1979; ders., Die Aussperrung im System von Arbeitsverfassung und kollektivem Arbeitsrecht, 1980. H. Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, 1927, S. 107. Beide zusammen bilden den „Arbeitsverband“. Ebd. Ebd., S. 22 ff. C. Möllers, in diesem Band, S. 234 ff. Sinzheimer (Fn. 19), S. 208 ff.
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In dieser Prägung durch Sinzheimer ist jedoch die Arbeitsverfassung festgelegt auf eine Rolle als begriffliches Komplement einer marktwirtschaftlich-liberalen Wirtschaftsverfassung,24 in deren Zentrum die Garantie des Eigentums an Produktionsmitteln steht. Dies ändert sich, wenn man im Unterschied zu Sinzheimer auch die verfassungsrechtlichen Grundlagen des individuellen Arbeitsverhältnisses in den Begriff der Arbeitsverfassung hineinzieht, sodass zugleich die Interdependenz beider Ordnungen transparent wird. Die Arbeitsverfassung begrenzt dann nicht nur die Herrschaft des vorgefundenen privaten Eigentümer-Unternehmers, sondern konstituiert erst die sozialen Akteure im gesellschaftlichen Feld der Arbeit und bestimmt ihr Verhältnis zueinander. Eigentumsgarantie und Vertragsfreiheit bilden in diesem Verständnis nicht nur die Grundsteine einer liberalen Wirtschaftsverfassung, sondern als Garantie des Eigentums an Produktionsmitteln und als Arbeitsvertragsfreiheit25 zugleich die Grundsteine einer gleichfalls liberalen Arbeitsverfassung.26 Vor dem Hintergrund der hiesigen Fragestellung empfiehlt sich überdies eine Beschränkung auf einen formellen Verfassungsbegriff. Denn während Sinzheimer vor allem auf die Beschränkung der Herrschaft des Eigentümers fokussierte, geht es an dieser Stelle um eine Analyse der kraft Verfassungsrang stabilisierten (europäischen) Ordnung gesellschaftlicher Verhältnisse. Zur Arbeitsverfassung rechnen hier darum all diejenigen Normen mit formellem Verfassungsrang, die Grundentscheidungen über die Konstitution sozialer Kräfte und ihr Verhältnis zueinander im gesellschaftlichen Feld abhängiger Arbeit darstellen. Das Fundament der Arbeitsverfassung bilden die individuellen und kollektiven Rechte der sozialen Akteure. Logisch am Anfang stehen dabei die individuellen Rechte. Das sind unter liberalen Bedingungen die Garantie des Privateigentums an Produktionsmitteln einerseits und die Arbeitsvertragsfreiheit andererseits, die die Rollen des Unternehmers und des abhängig Beschäftigten konstituieren. Daneben treten kollektive Rechte der Beschäftigten im Bereich betrieblicher und unternehmerischer Mitwirkung, die die Verfügungsgewalt des Unternehmers beschränken. Schließlich gehören diejenigen Rechte zur Arbeitsverfassung, die eine kollektive 24
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Demgegenüber ist die Konjunktur bemerkenswert, die der Begriff der Arbeitsverfassung in der nationalsozialistischen Arbeitsrechtslehre erfuhr (etwa A. B. Krause, Die Arbeitsverfassung im neuen Reich, 1934 und W. Siebert, Die deutsche Arbeitsverfassung, in: E. R. Huber (Hrsg.), Idee und Ordnung des Reichs, Bd. II, 1943. Seine Verwendung sollte offenbar den Abschied vom freiheitlichen Paradigma des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts anzeigen. Zu diesem Kontrast M. Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis während der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, 2005, S. 382 ff. Das Zusammentreffen von Privateigentum an Produktionsmitteln mit der Arbeitsvertragsfreiheit ist dabei alles andere als zwingend. An die Stelle der Arbeitsvertragsfreiheit kann, wie die Geschichte gezeigt hat, auch Sklaverei, Leibeigenschaft oder Zwangsarbeit treten. Im österreichischen Arbeitsrecht hat sich das engere Verständnis der „Arbeitsverfassung“ als Gesamtheit des kollektiven Arbeitsrechts bis heute erhalten. Vgl. das österreichische Arbeitsverfassungsgesetz vom 14.12.1973 (österreichisches BGBl. Nr. 22/1974) und die Definition des Österreichers T. Mayer-Maly, Stichwort „Arbeitsverfassung“, in: A. Klose u.a. (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon, 1980, S. 126.
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Vertretung der Beschäftigten in Bezug auf ihre vertraglichen Arbeitsbedingungen zum Gegenstand haben, also die verfassungsrechtliche Garantie der Tarifautonomie. Neben diesen Grundrechten stehen die arbeitsverfassungsrechtlichen „Leitnormen“. Unter dem Ausdruck „Leitnormen“ sollen alle übrigen Verfassungsnormen gefasst sein, die Einfluss auf die rechtlichen Strukturen des Feldes abhängiger Arbeit haben können, womit Prinzipien ebenso wie Ziel- und Aufgabennormen eingeschlossen sind. Das wichtigste Beispiel einer Leitnorm aus der deutschen Verfassung bildet das Prinzip der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 GG).27 Zur Arbeitsverfassung sind schließlich die legislativen Kompetenzen im Bereich des Arbeitsrechts und die judikativen Zuständigkeiten für arbeitsrechtliche Streitigkeiten zu zählen. Denn wie alle verfassungsrechtlichen Normen bedürfen auch diejenigen der Arbeitsverfassung ihrer „Artikulation“. Dieser Ausdruck soll im hiesigen Zusammenhang sämtliche Leistungen der Konkretisierung von Grundrechten und Leitnormen in verschiedenen historischen Kontexten und für spezifische soziale Konstellationen bezeichnen.28 Sie können sowohl vom Gesetzgeber als auch von Gerichten erbracht werden. Die Rede von der Artikulation soll also legislative und judikative Akte gleichermaßen erfassen. Inwieweit und unter welchen Bedingungen Gesetzgeber und Gerichte zur Artikulation und mithin zur Gestaltung des Feldes abhängiger Arbeit berufen sind, ist von grundlegender Bedeutung für die Wirkung und Dynamik der zu artikulierenden Normen, die entsprechenden Kompetenznormen sind darum selbst als Teil der Arbeitsverfassung zu begreifen. Der dem Folgenden zugrunde liegende Begriff der Arbeitsverfassung umfasst also die individuellen und kollektiven Grundrechte der sozialen Akteure im gesellschaftlichen Feld abhängiger Arbeit, die für die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse maßgeblichen verfassungsrechtlichen Leitnormen und schließlich die Kompetenzen von Gesetzgeber und Gerichten zur Artikulation jener verfassungsrechtlichen Grundnormen.29
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Eine Definition, die ebenfalls die für das Arbeitsrecht maßgeblichen Prinzipien einschließt, bei Scholz (Fn. 7), § 151, Rn. 24. Die Rede von der Artikulation soll dabei das kreative Moment der Konkretisierung von Grundrechten gegenüber einer schlichten deduktiven Vorstellung einholen, ohne dabei die Idee aufzugeben, dass die Grundrechte dennoch den Maßstab jener kreativen Leistungen bilden. Dieser Begriff der Arbeitsverfassung enthält einen einstweilen mit den begrenzten Ressourcen des Autors zu erklärenden blinden Fleck, nämlich den äußerst relevanten staatlich-administrativen Beitrag zur Konstitution des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses in Gestalt der Kontrolle der Arbeitsmigration (zur gesellschaftlichen Funktion der Kontrolle der Arbeitsmigration siehe K. Dohse, Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat, 1981, S. 412). Dieser Bereich ist gerade auch in der EU zu einem umkämpften Terrain geworden, siehe C.-U. Schierup u.a., Migration, Citizenship, and the European Welfare State, 2006, S. 48 ff.
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II. Die EWG-Arbeitsverfassung und der soziale Integrationskompromiss Die ursprüngliche Arbeitsverfassung der EWG liefert der folgenden Abhandlung nicht einfach den Ausgangspunkt eines chronologischen Berichts. Vielmehr lässt sich über die Erläuterung der konkreten Gestalt der EWG-Arbeitsverfassung die gesellschaftliche Funktion einer europäischen Arbeitsverfassung rekonstruieren, die auch für die Gegenwart maßgeblich ist. Also werden nachfolgend zunächst die wesentlichen Normen der Arbeitsverfassung der EWG dargestellt (1.). Anschließend wird entfaltet, dass sich die Normen der EWG-Arbeitsverfassung aus ihrer Funktion erklären, einen die Gründung des europäischen Integrationsprojektes ermöglichenden „sozialen Integrationskompromiss“ einzulösen. (2.). Vor diesem Hintergrund lassen sich schließlich Implikationen für Form und Gestalt der europäischen Arbeitsverfassung heute angeben (3.). 1. Die Grundnormen der Arbeitsverfassung der EWG Die zentrale Norm der EWG-Arbeitsverfassung bildete Art. 117 EWG-Vertrag. Sie lautete: „Die Mitgliedstaaten sind sich über die Notwendigkeit einig, auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken, und dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen. Sie sind der Auffassung, dass sich eine solche Entwicklung sowohl aus dem eine Abstimmung der Sozialordnung begünstigenden Wirken des Gemeinsamen Marktes als auch aus den in diesem Vertrag vorgesehenen Verfahren sowie aus der Angleichung ihrer Rechts- und Verwaltungsvorschriften ergeben wird.“
Die Norm enthält also in erster Linie ein soziales Versprechen, nämlich das eines angleichenden Fortschritts der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Damit verknüpft wird die Voraussage, dass die Einlösung dieses Versprechens ein Effekt des Gemeinsamen Marktes sein wird. Darüber hinaus sollten die „in diesem Vertrag vorgesehenen Verfahren“ eine Rolle spielen, womit etwa der Europäische Sozialfonds (Art. 123–128 EWG-Vertrag) oder die europäische Kooperation der Mitgliedstaaten (Art. 118 EWG-Vertrag) in Bezug genommen wurde,30 die das Feld der Arbeitsverfassung im hier entfalteten Sinne verlassen.31 Schließlich sollte noch die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften zum Tragen kommen. Allerdings sah der EWG-Vertrag in den nachfolgenden Vorschriften des Kapitels „Sozialvorschriften“ (Art. 117–122 EWG-Vertrag) keinerlei Kompetenzen zur Angleichung mitgliedstaatlichen Arbeitsrechts vor. Insofern verwies der Teilsatz auf Angleichungskompetenzen in anderen Kapiteln des Vertrages und insbesondere auf 30 31
J. Pipkorn, in: H. v. d. Groeben u.a. (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 3. Aufl. 1983, vor Art. 117–122 EWG-Vertrag, Rn. 7 f. Zur Idee einer post-regulatorischen Arbeitsverfassung, deren Kern in Formen „weicher“ politischer Koordinierung bestehen soll, unten IV. 2.
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die Kompetenz nach Art. 100 EWG-Vertrag, der die europäische Ebene generell zur Angleichung von Rechtsvorschriften ermächtigte, sofern Errichtung oder Funktionieren des Gemeinsamen Marktes es erforderten. Eine umfassende europäische Angleichung mitgliedstaatlichen Arbeitsrechts war also kein Ziel für sich, vielmehr sollte europäisches Arbeitsrecht nur punktuell und marktfunktional begründet auftreten. Keine umfassende europäische Arbeitsverfassung, sondern der Gemeinsame Markt fungierte mithin letztlich als Garant des versprochenen sozialen Fortschritts. Indem Art. 117 EWG-Vertrag die Grundentscheidung repräsentiert, dass es neben der europäischen Wirtschaftsverfassung keiner vergleichbar integrierten europäischen Arbeitsverfassung bedarf, liefert er die Zentralnorm der EWG-Arbeitsverfassung. Daneben enthielt der EWG-Vertrag lediglich noch zwei weitere Normen, die seiner Arbeitsverfassung zuzurechnen sind und bis heute im Wesentlichen unverändert fortbestehen. Die erste ist die Norm zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 48 EWG-Vertrag (Art. 39 EG, Art. 45 AEUV). Sie schuf für die abhängig beschäftigten Staatsbürger der Mitgliedstaaten ein Grundrecht, das dem europäischen Arbeitnehmer eröffnete, seine Berufsfreiheit mit Ablauf der Übergangsperiode (Ende 1969) nicht nur im Heimatstaat, sondern auch innergemeinschaftlich grenzüberschreitend wahrzunehmen. Dieses Recht berührt auch das arbeitsverfassungsrechtliche Feld, insofern als Art. 48 Abs. 2 EWG-Vertrag Schutz vor unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung im Verhältnis zum Gesetzgeber, zu den Tarifparteien und auch zum einzelnen Arbeitgeber gewährt.32 Die zweite Norm, Art. 119 EWG-Vertrag, enthielt das Gebot, gleiches Entgelt für Männer und Frauen zu gewährleisten (Art. 141 EG, Art. 157 AEUV). Von seinem Wortlaut her an die Mitgliedstaaten gerichtet sah der Europäische Gerichtshof darin schon früh ein auch horizontal gegen private Arbeitgeber wirkendes Recht auf gleiches Entgelt.33 Art. 48 und 119 EWG-Vertrag sind keinesfalls zufällig als einzige aus der größeren Zahl denkbarer arbeitsverfassungsrechtlicher Rechte in die EWG-Arbeitsverfassung geraten. Vielmehr sind sie Teil des Programms in Art. 117 EWG-Vertrags: Art. 48 EWG-Vertrag diente der Errichtung des Gemeinsamen Marktes, nämlich eines europäischen Marktes für Arbeitskräfte, und Art. 119 EWG-Vertrag diente marktfunktional der Beseitigung von Wettbewerbsvorteilen von Unternehmen am europäischen Markt, die Frauen kraft gesetzlicher, tariflicher oder vertraglicher Vorschriften kein gleiches Entgelt zahlen. Den Kern der Arbeitsverfassung der 32
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Inwieweit das Diskriminierungsverbot aus Art. 48 EWG-Vertrag (Art. 39 EG) die Tarifparteien und die Arbeitgeber unmittelbar bindet, steht nicht fest. Für Kollektivvereinbarungen und Einzelarbeitsverträge folgt diese Bindung jedenfalls aus Art. 7 Abs. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. 1968 L 257, S. 2) für Bestimmungen in Tarif- und Einzelarbeitsverträgen. Ausgebaut hat der EuGH die unmittelbare Bindung privater Arbeitgeber an das Diskriminierungsgebot in EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, I-4139. Allerdings scheint er im Gegenzug die Rechtfertigungshürden für Private niedriger einzustellen (Rn. 42); siehe A. Randelzhofer/U. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU (Stand: Jan. 2008), vor Art. 39–55 EG, Rn. 80. EuGH, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 38 f.
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EWG bildete mithin ein kohärentes Ensemble bestehend aus der programmatischen Leitnorm des Art. 117 EWG-Vertrag, den marktfunktionalen Rechten nach Art. 48 und 119 EWG-Vertrag und der gleichfalls marktbezogenen Kompetenznorm des Art. 100 EWG-Vertrag. 2. Grundlage und Funktion der EWG-Arbeitsverfassung a) Das Versprechen der neo-klassischen Ökonomie Mit seinem Versprechen einer progressiven Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten als Folge der Errichtung des Gemeinsamen Marktes verdichtete Art. 117 EWG-Vertrag ein ökonomisches Narrativ der in der Volkswirtschaftslehre seinerzeit herrschenden neo-klassischen „reinen Außenhandelstheorie“. Nachlesen lässt es sich in dem Experten-Bericht der International Labour Organisation (ILO), der – wie noch zu erläutern sein wird – für die Gestalt der EWG-Arbeitsverfassung maßgeblich war.34 Schon vor der Gründung der EWG bestand die Besorgnis, freier grenzüberschreitender Handel würde den Unternehmen in den Mitgliedstaaten mit besseren Arbeitsbedingungen ökonomisch schaden und damit ein in diesen Staaten erreichtes soziales Niveau unter ökonomischen Druck setzen.35 Denn, so wurde befürchtet, Unternehmen in anderen Mitgliedstaaten würden dieselben Waren aufgrund schlechterer Arbeitsbedingungen billiger produzieren, sodass die eigene Produktion bei geöffneten Grenzen im In- und Ausland nicht mehr konkurrenzfähig wäre. Zu dieser Besorgnis über die sozialen Effekte eines gemeinsamen europäischen Marktes erteilte die neo-klassische Ökonomie dreierlei Auskünfte. Die erste lautete, dass die seinerzeit zwischen den Mitgliedstaaten tatsächlich bestehenden Differenzen der durchschnittlichen nominellen Arbeitskosten keine Wettbewerbsvorteile für die Unternehmen in den Mitgliedstaaten mit den niedrigeren Kosten begründeten. Die Differenz der durchschnittlichen nominellen Arbeitskosten, das ist der für geleistete Arbeitsstunden zu zahlende Geldpreis, spiegele lediglich die Differenz der durchschnittlichen Produktivität der Arbeitskraft, die unter anderem vom Ressourcenaufkommen, der Qualifikation der Beschäftigten und dem Kapitalangebot im jeweiligen Mitgliedstaat abhänge, während die durchschnittlichen realen Arbeitskosten, in die die unterschiedliche Produktivität eingerechnet ist („Lohnstückkosten“), in allen Mitgliedstaaten weitgehend gleich seien.36 Dies würde auch zukünftig gelten, jedenfalls unter der Annahme, dass die Kapitalmobilität trotz des Gemeinsamen Marktes gering bliebe.37 Sofern im Zuge ökonomischen Strukturwandels doch einmal Differenzen der realen Arbeitskosten entstehen sollten, sei es die Aufgabe der nationalen Zentralbanken, im Rahmen ihrer Orientierung an langfristig ausgegli34 35 36 37
International Labour Office, Social Aspects of European Economic Co-operation: Report of a Group of Experts, Studies and Reports, New Series 46 (1956). Ebd., §§ 1 f. Ebd., § 99. Ebd., §§ 261 f.
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chenen Außenhandelsbilanzen (vgl. Art. 104 EWG-Vertrag) den Wechselkurs der eigenen Währung entsprechend anzupassen.38 Diese erste Auskunft war geeignet, die Besorgnisse um einen durch den Gemeinsamen Markt ausgelösten sozialen Rückschritt auszuräumen. Allerdings machte die neo-klassische Außenhandelstheorie eine zweite Voraussage, die diese Botschaft scheinbar wieder in Frage stellte. Sie lautete, dass die realen Arbeitseinkommen in den Staaten mit den bis zur Grenzöffnung höheren Löhnen sinken würden. Diese Voraussage ging auf die wesentliche theoretische Innovation der neo-klassischen gegenüber der klassischen Außenhandelstheorie zurück. Diese betraf die Erklärung, wie es zu den für die Wohlstand steigernden Effekte freien Handels zentralen „komparativen Kostenvorteilen“ kommt. In der klassischen Theorie Ricardos bildete die nationale Arbeitsproduktivität die Grundlage der „komparativen Kostenvorteile“.39 Unterschiedliche Arbeitsproduktivität schlägt sich von Ware zu Ware unterschiedlich nieder (in Ricardos bekanntem Beispiel bei englischem Tuch stärker als bei portugiesischem Wein). Dadurch entstehen selbst in einer Volkswirtschaft, die insgesamt unproduktiver ist als der Handelspartner, komparative Kostenvorteile in Bezug auf solche Güter, die im Vergleich mit der Produktion des Handelspartners relativ, das heißt im Verhältnis zu anderen Gütern der eigenen Gesamtproduktion, günstig produziert werden.40 Weil sich beide Handelspartner auf die Produktion der Güter konzentrieren werden, bei denen komparative Kostenvorteile bestehen, um die Mehrproduktion anschließend miteinander zu tauschen, ist freier Handel für beide von Vorteil. Beide Staaten haben bei unverändertem Ressourceneinsatz hinterher mehr Güter als ohne Handel. Die neo-klassische Theorie hatte daneben herausgebracht, dass auch ein von Staat zu Staat unterschiedliches Angebot an Produktionsfaktoren, das sind Grund, Kapital und Arbeit, komparative Kostenvorteile begründen kann.41 Die durch das unterschiedliche Angebot begründeten unterschiedlichen Preise der Produktionsfaktoren schlagen sich nämlich ebenfalls von Ware zu Ware je nach deren Faktorzusammensetzung unterschiedlich nieder. In diesen Fällen muss die Folge freien Handels nun aber gerade darin bestehen, dass sich die relativen Faktorpreise, das ist das Verhältnis der Faktorpreise in einem Staat, in den beteiligten Staaten einander annähern (so genanntes Faktorpreisausgleichstheorem).42 Denn – veranschaulicht am Faktor Arbeit – ein Staat, in dem die Arbeitskosten im Verhältnis zu den Kapitalkosten hoch sind, wird bei freiem Handel verstärkt arbeitsintensive Güter importieren. Dadurch wird im Inland die Nachfrage nach Arbeit und mithin auch ihr Preis sinken. Und das bedeutet nichts anderes
38 39 40 41 42
Ebd. D. Ricardo, Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung (1817), 1959, S. 114 ff. Kurze Einführung bei M. Heine/H. Herr, Volkswirtschaftslehre, 2003, S. 616 ff., 634 ff. B. Ohlin, Interregional and International Trade, 1933, S. 7. International Labour Office (Fn. 34), § 210. Das Theorem ist am besten erläutert von P.-A. Samuelson, International Trade and the Equalization of Factor Prices, Economic Journal 58 (1948), S. 163.
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als ein Sinken der realen Arbeitseinkommen in den Staaten mit den zuvor höheren Arbeitseinkommen. Doch die dritte Auskunft besagte schließlich, dass die über den Gemeinsamen Markt ermöglichte vertiefte grenzüberschreitende Arbeitsteilung und die damit verknüpften positiven Skaleneffekte (d.h. die Menge der Produktion steigt stärker als die Menge der eingesetzten Produktionsfaktoren) zu erheblichen Wohlstandsgewinnen für alle beteiligten Volkswirtschaften führen würden.43 Aufgrund der sozialen Ambitionen der mitgliedstaatlichen Regierungen und der Stärke der nationalen Gewerkschaften würden die Handelsgewinne intern auch so umverteilt, dass sie sich in den Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten niederschlagen würden.44 Damit war die kritische Implikation des Faktorausgleichstheorems in das frohe Versprechen des Art. 117 EWG-Vertrag gewendet: Angleichung im Fortschritt als Folge des Gemeinsamen Marktes. b) Der soziale Integrationskompromiss Der soeben explizierte Zusammenhang der neo-klassischen Voraussagen über die sozialen Effekte des Gemeinsamen Marktes mit der Gestalt der EWG-Arbeitsverfassung ist keinesfalls bloß historisch von Interesse. Vielmehr steht er für einen sozialen Kompromiss, der das Projekt europäischer Integration ermöglichte und auf den das Fortkommen des Projektes bis heute und auch in Zukunft angewiesen ist. Wie gezeigt wurde, ist die genaue Fassung des Art. 117 EWG-Vertrag nur vor dem Hintergrund der neo-klassischen Außenhandelstheorie verständlich. Man wird also anerkennen müssen, dass die neo-klassischen Theoreme im Wege der Verankerung ihres prognostischen Kerns im Vertrag selbst verfassungsnormative Relevanz erhalten haben. Aber nicht nur auf den Vertragswortlaut lässt sich diese These stützen, sondern auch auf den Spaak-Bericht von 1956.45 Der belgische Außenminister Spaak war auf der Regierungskonferenz von Messina 1955 von den Gründungsstaaten der EGKS mit der Leitung eines Ausschusses betraut worden, dessen Bericht die Grundlage für die Gestalt der weiteren Wirtschaftsintegration sein sollte und auch wurde.46 Damit repräsentiert der Spaak-Bericht so etwas wie Verfassungsmaterialien zum EWG-Vertrag, die heranzuziehen sind, um den tieferen Sinn seiner Vorschriften herauszuarbeiten. Der Spaak-Bericht stützte sich nun aber, was die sozialen Effekte eines Gemeinsamen Marktes anging, weitgehend auf den Bericht der ILO.47 Die von der ILO berufene Expertenkommission wiederum war von Bertil Ohlin geleitet worden, der nicht nur profiliertester Vertreter der neo-klassischen
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International Labour Office (Fn. 34), § 210. Ebd. Comité intergouvernemental créé par la conférence de Messine: Rapports des chefs des délégations aux ministres des Affaires étrangères, 1956. R. Streinz, Europarecht, 2008, Rn. 20. Siehe z.B. Comité intergouvernemental (Fn. 45), Titre II Chapitre 2 Section 2; vgl. P. Davies, The Emergence of European Employment Law, in: W. McCarthy (Hrsg.), Legal Intervention in Industrial Relations, 1993, 313 (318 ff.).
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Außenhandelstheorie seiner Zeit,48 sondern zugleich Vorsitzender der sozial-liberal ausgerichteten liberalen Volkspartei Schwedens war. Als Dokument, das von einer tripartistischen, also Gewerkschaften, Unternehmen und Staat einschließenden Organisation verantwortet und unter Vorsitz eines Mannes der (seinerzeit) politischen Mitte erarbeitet worden war und das darüber hinaus noch höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügte, musste der Ohlin-Bericht eine hohe gesellschaftliche Glaubwürdigkeit und Akzeptanz haben. Verknüpft mit seiner Funktion als wesentliche Vorarbeit für den die Gründung des Integrationsprojektes insgesamt tragenden Spaak-Bericht verkörpert der Ohlin-Bericht damit alles andere als eine Meinung einer zufälligen Expertenrunde, sondern eine legitimatorische Grundlage des Projektes der wirtschaftlichen Integration Europas. Noch ein weiterer Aspekt verschafft den neo-klassischen Versprechen eine verfassungsnormative Relevanz. Die Gestalt der EWG-Arbeitsverfassung wird nämlich auch als politischer Kompromiss zwischen der deutschen und der französischen Verhandlungsdelegation beschrieben. Demzufolge forderte die französische Seite eine umfangreichere Angleichung der Arbeits- und Sozialvorschriften der Mitgliedstaaten als Voraussetzung der Marktintegration, während dies die deutsche Seite ablehnte. Im Kompromiss erreichte die französische Seite dann immerhin die Einfügung des Gebots der Entgeltgleichheit (Art. 119 EWG-Vertrag), eine Absichtserklärung in Bezug auf die mitgliedstaatlichen Arbeits- und Urlaubszeitregelungen (Art. 120 EWG-Vertrag) und den Verweis auf die generelle Harmonisierungskompetenz (Art. 100 EWG-Vertrag).49 Doch obgleich es sich nach jener Beschreibung um ein politisches Verhandlungsergebnis handelt, spiegelte die Aufnahme genau dieser Vorschriften in den EWG-Vertrag zugleich die Position des Ohlin-Berichts. Denn dieser hatte nicht nur befunden, dass eine Marktöffnung keine Angleichung der Arbeits- und Sozialvorschriften voraussetzte, sondern auch empfohlen, Differenzen der Arbeitszeiten in Grenzen zu halten und die geschlechtliche Entgeltdiskriminierung gleichwohl als Wettbewerbsverzerrung zu untersagen, sowie schließlich eine Harmonisierungskompetenz für Einzelfälle weiterer Wettbewerbsverzerrung vorzubehalten.50 Der Ohlin-Bericht lieferte mithin dem für den politischen Durchbruch entscheidenden Kompromiss eine sachliche Rationalität. Nach alledem ist freilich noch zu klären, worin die nun belegte verfassungsnormative Relevanz des Zusammenhangs neo-klassischer Voraussagen und der Gestalt der EWG-Arbeitsverfassung konkret bestehen kann. Schließlich werden ökonomische Voraussagen durch die reale Entwicklung zunächst einmal nur bestätigt oder widerlegt, ohne dass ihr konstitutioneller Status hieran etwas änderte. Verfassungs-
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Siehe dazu sein in Fn. 41 zitiertes Hauptwerk; für seinen Beitrag zur Theorie des internationaler Handels- und Kapitalbewegungen erhielt Ohlin 1977 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Pipkorn (Fn. 30), Rn. 18 ff. Die Einführung der deutschen Rentenversicherung war ein wichtiger Blockadebrecher, dazu A. S. Milward, The European Rescue of the Nation-State, 2000, S. 212 f. International Labour Office (Fn. 34), § 180, §§ 167/269, §§ 155/273.
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normativer Sinn lässt sich indes aus dem Umstand gewinnen, dass das Projekt umfassender europäischer Wirtschaftsintegration ohne die neo-klassischen Prognosen nicht hätte gestartet werden können. Und dafür steht eben ihre Verankerung in Art. 117 EWG-Vertrag, ihre prominente Präsenz in den Verfassungsmaterialien des Spaak-Berichts und ihre Rolle als rationale Grundlage des deutsch-französischen Kompromisses. Aus dieser Perspektive kann und muss das neo-klassische Versprechen eine normative Wendung erfahren. Wird die neo-klassische These, dass die mitgliedstaatlichen Differenzen der Arbeitskosten keine Wettbewerbsfaktoren bilden werden, normativ aufgegriffen, so bedeutet das nichts weniger, als dass der durch den Gemeinsamen Markt eröffnete Wettbewerb nicht auf der Basis von Arbeitskosten ausgetragen werden darf. Da Arbeitskosten auf Löhne und andere Arbeitsbedingungen zurückgehen, die ihrerseits ein Ergebnis der durch die mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen eröffneten gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen darstellen, bedeutet dies auf einer zweiten Ebene, dass die Funktionsweise der mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen durch den Gemeinsamen Markt nicht angetastet werden darf. Die mitgliedstaatliche Arbeitsverfassung soll also gegenüber der Verfassung des Gemeinsamen Marktes rechtlich und gegenüber den Effekten des Marktes faktisch autonom bleiben. Auf einer dritten Ebene bedeuten der Ausschluss des Arbeitskostenwettbewerbs und die Autonomie mitgliedstaatlicher Arbeitsverfassung schließlich, dass die wirtschaftliche Integration Europas die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit nicht parteilich zugunsten der Kapitalseite verschieben darf. Dies ist der normative Gehalt des historischen Zusammenhangs von neo-klassischer Außenhandelstheorie und EWG-Arbeitsverfassung, und er repräsentiert – mit einem bewusst im Anschluss an die verfassungstheoretische Rede von den Verfassungskompromissen der Weimarer Republik und des Bonner Grundgesetzes gewählten Wort51 – den der europäischen Einigung zugrunde liegenden sozialen Integrationskompromiss.
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Zu Weimar siehe H. Heller, Grundrechte und Grundpflichten, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, 1971, S. 281 (312); ders., Genie und Funktionär in der Politik, ebd., S. 611 (621); F. Neumann, Die soziale Bedeutung der Grundrechte in der Weimarer Verfassung (1930), in: ders., Wirtschaft, Staat, Demokratie, 1978, S. 57; ders., Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der Bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, 1968, S. 31 (55). Zum Grundgesetz: W. Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates, in: ders., Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, 1972, S. 109 (125 f., 139 f.).
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3. Gestalt der europäischen Arbeitsverfassung im gesellschaftlichen Wandel Der eben inhaltlich entfaltete soziale Integrationskompromiss erklärt nicht nur historisch die Gestalt der EWG-Arbeitsverfassung, sondern er liefert als außerrechtliche, gesellschaftliche Grundlage des europäischen Integrationsprojektes zugleich einen politisch-normativen Maßstab für die Arbeitsverfassung der Union heute. Sinn der europäischen Arbeitsverfassung ist es, den sozialen Integrationskompromiss einzulösen, und die konkrete Gestalt der geltenden Arbeitsverfassung beurteilt sich kritisch danach, ob und inwieweit sie diesen Sinn im Rahmen des Möglichen tatsächlich einlöst. Unter neo-klassischen Prognosen war der soziale Integrationskompromiss rechtlich in Gestalt der EWG-Arbeitsverfassung zu institutionalisieren. Die drei oben bereits genannten wesentlichen Realitätsannahmen dieser Prognosen sind jedoch inzwischen, sofern sie je gegolten haben, vollständig überholt.52 Die dauernde Korrelation von Kosten abhängiger Arbeit mit ihrer Produktivität setzte eine niedrige Kapitalmobilität und ein System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse voraus. Heute wird die innereuropäische Kapitalfreiheit, sowohl in Gestalt von Anlagekapital (Art. 56 ff. EG, Art. 63 ff. AEUV) als auch in Gestalt von fixem Kapital (als Standortverlagerung, Art. 43 ff. EG, Art. 49 ff. AEUV) effektiv genutzt. Die einst an den jeweiligen Produktivitätsschritt anpassungsfähigen nationalen Währungen sind 1999 mit der Einführung des Euro im Rahmen der Währungsunion untergegangen. Die innermitgliedstaatliche Umverteilung der Handelsgewinne setzte sozial ambitionierte Regierungen und starke Gewerkschaften voraus, was Ende der 1950er Jahre zum Beginn der Blütezeit keynesianisch-fordistischer Makrosteuerung eine berechtigte Erwartung gewesen sein mag. Aber sie trug eben nur so lange wie das zugrunde liegende Steuerungsparadigma, und das war spätestens seit den 1980er Jahren nicht mehr der Fall.53 Damit ist aber auch die Begründung dafür entfallen, dass die EWG-Arbeitsverfassung die angemessene Institutionalisierung des sozialen Integrationskompromisses liefert. Es war und ist darum Aufgabe einer kritischen europäischen Verfassungslehre, den historischen Wandel der europäischen Arbeitsverfassung und des europäischen Arbeitsrechts im Lichte des sozialen Integrationskompromisses zu analysieren. In diesem Zusammenhang mag sich empirisch herausstellen, dass der Kompromiss heute aufgrund veränderter sozio-ökonomischer Kontexte nicht mehr vollständig verwirklicht werden kann. Schließlich können die mitgliedstaatlichen Unternehmen heute ohne wesentliche Schwierigkeiten in einem europäischen Rahmen operieren. Die Freiheiten für Waren, Dienstleistungen und Kapital ermögli52
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Gänzlich ausgespart bleiben muss an dieser Stelle die Kritik der vollmundigen Versprechen der neo-klassischen Außenhandelstheorie durch die ebenfalls neo-klassische „neue Außenhandelstheorie“ (P. R. Krugman/M. Obstfeld, Internationale Wirtschaft, 2006) und erst recht eine Kritik des neo-klassischen Paradigmas im Außenhandel an sich. Zu letzterem Heine/ Herr (Fn. 40), S. 639 ff. B. Jessop, Die Zukunft des Nationalstaates, in: S. Becker u.a. (Hrsg.), Jenseits der Nationalökonomie?, 1997, S. 50 (60 f.); Milward (Fn. 49), S. 439 ff.
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chen es ihnen, hohe Produktivität mit niedrigen Arbeitskosten zu verbinden.54 So wird aufgrund der inzwischen erreichten Beweglichkeit der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital ein gewisser arbeitskostenbasierter Wettbewerb regulativ nicht mehr vollständig aufzuheben sein, was zugleich eine grundlegende Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit nach sich zieht.55 Dieser Umstand entwertet jedoch nicht die normative Relevanz des sozialen Integrationskompromisses, sondern verstärkt nur die Notwendigkeit seiner Einlösung, soweit es unter den gegebenen Bedingungen eben noch möglich ist.
III. Die positiv-rechtliche Gestalt der EU-Arbeitsverfassung Nach der Entfaltung der arbeitsverfassungsrechtlichen Normen der EWG als Umsetzung des europäischen sozialen Integrationskompromisses erfolgt nun eine Bestandsaufnahme des geltenden Arbeitsverfassungsrechts der Union56 (1.). Im Anschluss daran ist auf das Kernproblem dieses Normbestandes einzugehen, nämlich die fehlende Kongruenz der Rechte und Leitnormen einerseits und der Kompetenzen andererseits (2.). 1. Übersicht über den Normbestand a) Rechte Wie einst zählt das Recht der in einem Mitgliedstaat beheimateten Arbeitnehmer auf Freizügigkeit und Gleichbehandlung (Art. 39 Abs. 1, 2 EG)57 und ebenso die rechtliche Garantie gleichen Entgelts für Männer und Frauen (Art. 141 Abs. 1 EG)58 zu den grundlegenden Normen der EU-Arbeitsverfassung. Daneben hat bisher keine weitere individuelle oder kollektive Rechtsposition Aufnahme in das Primärrecht
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H. Flassbeck/F. Spieker, Die Irrlehre vom Lohnverzicht, Blätter für deutsche und internationale Politik 2005, S. 1071. Einer von vielen empirischen Belegen ist etwa die wachsende Ungleichheit der Einkommensverteilung (hierzu: U. Klammer, Armut und Verteilung in Deutschland und Europa, WSI-Mitteilungen 2008, S. 19) oder die europaweite Verringerung der Lohnquote (hierzu: F. Breuss, Globalization, EU Enlargement and Income Distribution, WiFo Working Paper 296 (2007), unter: www.wifo.ac.at/wwa/jsp/index.jsp (19.08.2008), sogar mit neoklassischem Erklärungsansatz). Es folgt die Darstellung der verfassungsrechtlichen Lage vor einem etwaigen Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages. Zu den Änderungen siehe unten IV. 1. a) dd). Freizügigkeitsrecht und Diskriminierungsverbot nach Art. 39 EG ist lex specialis sowohl zu Art. 18 EG (M. Hilf, in: Grabitz/Hilf (Fn. 32), Art. 18 EG, Rn. 5), als auch zu Art. 12 EG (EuGH, Rs. C-131/96, Romero, Slg. 1997, I-3659, Rn. 10–12). Art. 141 Abs. 3, 4 EG setzen weitergehend einen allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsatz geschlechtlicher Gleichbehandlung voraus (S. Krebber, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 141 EG, Rn. 75 f.). In der Entscheidung EuGH, Rs. C-144/04, Mangold, Slg. 2005, I-9981, Rn. 75 f., hat der Europäische Gerichtshof noch darüber hinaus einen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz (Art. 6 Abs. 2 EU) der altersmäßigen Gleichbehandlung festgestellt.
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der Verträge gefunden.59 Die Situation ändert sich erst mit der Grundrechte-Charta, deren Status der Gerichtshof inzwischen zu einer Quelle der Erkenntnis von Grundrechten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts (Art. 6 Abs. 2 EU, Art. 6 Abs. 3 EUV-Liss.) erhöht hat.60 Arbeitsverfassungsrechtlich bedeutsam sind dabei vor allem die Vorschriften zu Eigentumsrecht (Art. 17 Abs. 1 GR-Charta), zur Berufsfreiheit (Art. 15 Abs. 1), zu den Rechten auf Kündigungsschutz (Art. 30) und auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen (Art. 31 Abs. 1), zu Mitwirkungsrechten in Betrieb und Unternehmen (Art. 27) sowie zur Tarifautonomie (Art. 12 Abs. 1, Art. 28).61 Die Garantien der für das soziale Kräfteverhältnis zentralen kollektiven Rechte (Art. 27, 28 GR-Charta) und des Kündigungsschutzes (Art. 30) erfolgen dabei „nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“. Die Bedeutung dieser Formulierung ist bislang nicht aufgeklärt. Drei Positionen haben sich heraus kristallisiert. Nach der ersten Auffassung würden die betroffenen Rechte durch den Vorbehalt eines eigenständigen Inhalts weitgehend beraubt62 und fungierten allenfalls noch verdünnt als „teleologische Ausle-
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Einige Darstellungen des europäischen Arbeitsrechts stellen unter dem Gliederungspunkt kollektiven Arbeitsrechts den sozialen Dialog (Art. 138, 139 EG) heraus (M. Fuchs/F. Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 2006, S. 202 ff.; D. Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 2001, Rn. 599 ff.; E. Szyszczak, EC Labour Law, 2000, S. 31 f.; R. Blanpain, European Labour Law, 2006, S. 643 ff.). Der soziale Dialog verleiht den europäischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden vor allem besondere politische Rechte innerhalb der europäischen Gesetzgebung, darunter das bemerkenswerte Recht normvertraglicher Rechtssetzung (dazu O. Deinert, Partizipation europäischer Sozialpartner an der Gemeinschaftsrechtssetzung, Recht der Arbeit 2004, S. 211). Auf den wesentlichen Gegenstand der Arbeitsverfassung, nämlich das Kräfteverhältnis der sozialen Akteure untereinander, haben diese Rechte indes keinen Einfluss, insbesondere weil die Normverträge zwischen den Sozialpartnern nicht über Arbeitskämpfe erzwingbar sind (E. Eichenhofer, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 139 EG, Rn. 9; B. Bercusson, European Labour Law, 1996, S. 542; K. W. Wedderburn, Consultation and Collective Bargaining in Europe, Industrial Law Journal 26 (1997), S. 1 (29 f.)). Zur Frage, ob Art. 139 Abs. 1, 2 EG bereits heute Tarifvertragsfreiheit auf europäischer Ebene gewährt, siehe unten bei Fn. 186. Aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633, Rn. 46; Rs. C-432/05, Unibet, Slg. 2007, I-2271, Rn. 37; Rs. C-540/03, Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5769, Rn. 38; Zur Änderung der Lage durch die förmliche Verankerung der Grundrechte-Charta im Reformvertrag: J. Kühling, in diesem Band, S. 669 ff. Die Charta enthält noch eine Reihe weiterer konkreterer individueller Rechte, etwa ein Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit (Art. 31 Abs. 2 GR-Charta) und ein Recht auf Mutterschaftsurlaub (Art. 33 Abs. 2 GR-Charta). Sie reflektieren mit wenigen Ausnahmen Gegenstände des bestehenden sekundärrechtlichen acquis im europäischen Individualarbeitsrecht – was freilich Probleme für die normative Reichweite der Grundrechte aufwerfen kann (dazu ein anschauliches Beispiel bei E. Riedel, in: J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2006, Art. 31, Rn. 19 f.). Krebber, in: Calliess/Ruffert (Fn. 58), Art. 27 GR-Charta, Rn. 5; P. Goldsmith, A Charter of Rights, Freedoms and Principles, CMLRev. 38 (2001), S. 1201 (1212 f.); E. Pache, Die Europäische Grundrechtscharta ein Rückschritt für den Grundrechtsschutz in Europa?, EuR 2001, S. 475 (481).
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gungsdirektive“63 anderer europarechtlicher Vorschriften. Nach einer zweiten Position handelt es sich um einen so genannten Ausgestaltungsvorbehalt, wobei die Ausgestaltungen gleichwohl einen selbständigen Garantiegehalt des Grundrechts zu achten haben sollen.64 Auf Grundlage dieser Position wäre also aus den betroffenen Grundrechten ein Kernbestand herauszuarbeiten,65 wie es im deutschen Verfassungsrecht, nicht zuletzt gerade bei Art. 9 Abs. 3 GG,66 vertraut ist. Der dritten Position zufolge handelt es sich um eine Schrankenregelung, die mit der allgemeinen Schrankenregelung nach Art. 52 Abs. 1 GR-Charta konkurriert. Die Konkurrenz sei danach aufzulösen, welche Schrankenregelung den anspruchsvolleren Grundrechtsschutz verkörpert, weil nur dies dem Nebeneinander beider Schranken gerecht würde.67 Richtig erscheint hingegen, dass der zitierte Verweis für den normativen Gehalt der betroffenen Rechte ohne Bedeutung ist. Vielmehr handelt es sich um einen Verweis auf die Verteilung der Kompetenzen zur ermöglichenden und begrenzenden Artikulation jener Rechte zwischen der europäischen und der mitgliedstaatlichen Ebene. Für die sensiblen Bereiche kollektiver Rechte und des Kündigungsschutzes wird noch ein weiteres Mal – zusätzlich zur bereits redundanten Reihung von Verweisen in Art. 51 Abs. 1 S. 2, Art. 51 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 6 GR-Charta – betont, dass die Verteilung der Kompetenzen zwischen europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene durch die neue europäische Garantie dieser Rechte nicht überschrieben wird. Denn nach den im Grundrechte-Konvent maßgeblichen Begründungen war in erster Linie die Kompetenzordnung entscheidend für die Aufnahme jenes Verweises,68 während sich niemand dafür aussprach, dass die Rechte lediglich einen Kerngehalt oder gar nichts garantieren sollten. Für diese Deutung als erneuten deklaratorischen Kompetenz(wahrungs)verweis sprechen darüber hinaus die Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechte-Konvents. Auch 63 64
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H. Lang, in: P. Tettinger/K. Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 27 GR-Charta, Rn. 8. S. Rixen, in: Tettinger/Stern (Fn. 63), Art. 28 GR-Charta, Rn. 14; für außerordentlich weites Gestaltungsermessen des nationalen Gesetzgebers R. Rebhahn, Überlegungen zur Bedeutung der Charta der Grundrechte der EU für den Streik und die kollektive Rechtsgestaltung, in: GS Heinze, 2005, S. 649 (654 f.); siehe auch J. Kühling, in diesem Band, S. 669 f. Ansätze bei C. Hilbrandt, in: F. S. M. Heselhaus/C. Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 35 Rn. 42 f. BVerfGE 84, 212 (225); E 92, 365 (393 f.); W. Höfling, in: M. Sachs, Kommentar zum Grundgesetz, 2007, Art. 9, Rn. 71 ff.; H. Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 4 Rn. 20 ff. S. Peers, Taking Rights Away?, in: ders./A. Ward (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights, 2004, S. 141 (165): „higher standard approach“. Allerdings ändere sich die Lage mit der im Reformvertrag tatsächlich erfolgten Einfügung von Art. 62 Abs. 6 GR-Charta (S. 177). CHARTE 4192/00 CONVENT 18, S. 7, unter http://www.europarl.europa.eu/charter/activities/docs/pdf/convent18_fr.pdf (12.12.2008); vgl. auch den Beitrag des für die Aufnahme der sozialen Rechte maßgeblichen Konventsmitglieds Jürgen Meyer, der den Verweis für äquivalent mit den horizontalen Klauseln in Art. 51 f. GR-Charta erklärte und darum für verzichtbar hielt: N. Bernsdorff/M. Borowsky (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 370; wie hier Riedel (Fn. 61), Rn. 9 ff.
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sie enthalten keinen Hinweis dahin, dass dem Verweis auf die zur Artikulation zuständige Rechtsebene ein anderer als ein kompetenzbezogener, namentlich ein den normativen Gehalt einschränkender Sinn zukäme.69 Das bedeutet im Ergebnis, dass sich alle, auch mitgliedstaatliche Einschränkungen an Art. 52 Abs. 1 GR-Charta messen lassen müssen. Diese Prüfung steht allerdings unter der bedeutsamen allgemeinem Voraussetzung, dass der Anwendungsbereich der Charta (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GR-Charta) überhaupt eröffnet ist. Dies macht die eigentliche Problematik sämtlicher arbeitsverfassungsrechtlichen Rechte der Grundrechte-Charta aus (dazu sogleich). b) Leitnormen Wie eingangs erläutert werden hier unter „Leitnormen“ alle diejenigen Verfassungsnormen gefasst, die jenseits der konstitutiven Grundrechte der sozialen Akteure juridische Effekte im gesellschaftlichen Feld abhängiger Arbeit entfalten können. An Leitnormen, die generell für eine soziale Dimension Europas stehen, besteht schon im geltenden europäischen Verfassungsrecht kein Mangel. Wenige beziehen sich aber unmittelbar auf das Feld der Arbeitsbeziehungen. In Art. 136 Abs. 1 EG verpflichten sich nicht mehr nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Gemeinschaft auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und auf den sozialen Dialog. In Art. 2 EU wird allgemein als Ziel der Union die Förderung des sozialen Fortschritts festgeschrieben, was wohl auch im Recht der Arbeitsbeziehungen zum Tragen kommen könnte. Während die Tragweite der deutschen Referenznorm, des Sozialstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 1 GG, im arbeitsverfassungsrechtlichen Bereich seit langem klare Konturen hat,70 ist der normative Effekt der sozialen europäischen Leitnormen insgesamt noch nicht erschlossen.71 Soweit in der Literatur ein übergreifendes europäisches Rechtsprinzip der Solidarität erörtert wird,72 liegt der Schwerpunkt in einer Charakterisierung des Verhältnisses der Mitgliedstaaten untereinander als solidarisch, nicht hingegen in einem solidarischen Selbstverhältnis einer europäischen Gesellschaft als Ganzer. c) Kompetenzen Bei der Bestandsaufnahme über die heute bestehenden legislativen Kompetenzen der Union im Bereich der Arbeitsverfassung muss differenziert werden. Es bestehen
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CHARTE 4473/00 CONVENT 49, S. 26 ff, unter www.europarl.europa.eu/charter/pdf/ 04473_de.pdf (7.10.2008). Nur beispielhaft: A. Hueck, Der Sozialstaatsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, in: E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 411. In der Rechtsprechung relevant geworden ist in Einzelfällen namentlich Art. 136 EG, etwa EuGH, Rs. 43/75 (Fn. 33), Rn. 14/15 (Angleichung nach oben im Fall von Entgeltdiskriminierung). Hierzu A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 69 m.w.N.
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zum einen diejenigen Kompetenzen, deren Gegenstand explizit das Feld abhängiger Arbeit betreffen. Hierunter fallen zunächst die Kompetenzen nach Art. 137 Abs. 2 lit. b, Abs. 1 EG, der unter Verweis auf die Ziele aus der Leitnorm des Art. 136 EG der Union erlaubt, Mindestvorschriften im Bereich des technischen und sozialen Arbeitsschutzes, der Arbeitsbedingungen, des Kündigungsschutzes, der Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer und der Vertretung von kollektiven Interessen festzulegen. Weitere Kompetenzen eröffnen Art. 141 Abs. 3 EG im Bereich der geschlechtlichen Gleichbehandlung73 und Art. 40 EG im Bereich der innereuropäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit. Auszuüben sind die eröffneten Kompetenzen dabei regelmäßig im Mitentscheidungsverfahren (Art. 251 EG). Eine wichtige Ausnahme bildet die Kompetenz im Bereich des Kündigungsschutzes und der kollektiven Interessenvertretung (Art. 137 EG): Dort kommt das Anhörungsverfahren zur Anwendung, wobei Einstimmigkeit im Rat erforderlich ist. Neben diesen so genannten autonomen arbeitsrechtlichen Kompetenzen können auch noch andere Kompetenzen des Vertrages zum Zuge kommen. Im Lichte der bislang erfolgten europäischen Gesetzgebung sind hervorzuheben die Kompetenz zu Anti-Diskriminierungsmaßnahmen (Art. 13 EG), zur marktbezogenen Rechtsangleichung (Art. 94, 95 Abs. 1 EG), zur Regulierung der Wahrnehmung der übrigen Grundfreiheiten (Art. 44, 47, 55 EG), im Internationalen Arbeits- und Arbeitsprozessrecht (Art. 65 lit. c EG), sowie die Auffangkompetenz (Art. 308 EG). Dabei greift das Mitentscheidungsverfahren nur für markt- und grundfreiheitsbezogenes Arbeitsrecht, alle übrigen Kompetenzen werden im Anhörungsverfahren bei einstimmiger Ratsentscheidung ausgeübt. Vor dem Hintergrund der zuletzt genannten Kompetenzen ist die Bedeutung der Sperrnorm in Art. 137 Abs. 5 EG näher zu beleuchten. Art. 137 Abs. 5 EG sperrt die in Art. 137 Abs. 2 lit. b EG eingeräumten Kompetenzen für Arbeitsentgelt, Koalitionsrecht und Arbeitskampfrecht. Damit wird zum Beispiel ausgeschlossen, dass ein einheitlicher europäischer Mindestlohn auf der Grundlage der Kompetenz für Mindestarbeitsbedingungen (vgl. Art. 137 Abs. 1 lit. b EG) eingeführt wird. Ungeklärt ist aber das Verhältnis dieser Norm für die Wahrnehmung von Kompetenzgrundlagen jenseits von Art. 137 Abs. 2 lit. b EG. Man könnte die Sperrnorm einerseits als allen Kompetenzen vorgreifliche negative Kompetenznorm ansehen.74 Doch stünde dies im Widerspruch zum Wortlaut („Dieser Artikel gilt nicht für …“).75 Man kann die Sperrnorm andererseits lediglich als negatives Tatbestandsmerkmal von Art. 137 Abs. 2 lit. b EG lesen und ihr damit jede Überwirkung 73 74
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Art. 137 Abs. 1 lit. i) EG hat neben Art. 141 Abs. 3 EG keinen eigenständigen Gehalt und ist darum eigentlich überflüssig: Eichenhofer (Fn. 59), Art. 137 EG, Rn. 21. In diesem Sinne C. W. Hergenröder, in: H. Oetker/U. Preis (Hrsg.), Europäisches Arbeitsund Sozialrecht (Stand: Juli 2000), B 8400, Rn. 39, 41, jedenfalls im Verhältnis zu Art. 94 und 308 EG. A. v. Bogdandy/J. Bast, in: Grabitz/Hilf (Fn. 32), Art. 5 EG, Rn. 27. Auf einer ähnlichen Position beruht auch der Vorschlag einer europäischen Tarifvertragsgesetzgebung auf der Grundlage von Art. 308 EG von R. Kowanz, Europäische Kollektivvertragsordnung, 1999, S. 313 ff.
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auf andere Kompetenzen absprechen.76 Eine dritte Position besagt, der Sperrnorm sei ein gewisses Gewicht bei der Auslegung der anderen Kompetenznormen zuzusprechen.77 Das wird man präzisieren können: Regelungen zu Gegenständen des Art. 137 Abs. 5 EG auf anderer Grundlage als Art. 137 Abs. 2 lit. b EG sind dann zulässig, wenn ihre Regelung in notwendigem Zusammenhang mit der Regelung des eigentlich betroffenen Gegenstandes aus der wahrgenommenen Kompetenzgrundlage steht.78 Die Begründung liefert eine historisch-teleologische Auslegung der Vorschrift: Mit Art. 137 EG sollten die Kompetenzen der Union in den Bereich des Arbeitsrechts hinein erweitert werden, Art. 137 Abs. 5 EG schnitt aus dieser Erweiterung wiederum einen Bereich aus. Beides geschah vor dem Hintergrund, dass die Gegenstände des Art. 137 EG dem sozialen Integrationskompromiss entsprechend ohnehin nicht in den Kompetenzbereich der Gemeinschaft fallen sollten. Art. 137 Abs. 5 EG macht damit eine dem EWG-Vertrag insgesamt unterliegende Kompetenzstruktur explizit, was erst mit der Einführung von Art. 137 EG erforderlich wurde. Mit Blick auf den Wortlaut der Norm und die Offenheit der übrigen Kompetenznormen wird Art. 137 Abs. 5 EG dadurch nicht zu einer echten negativen Kompetenznorm, aber er strahlt im bezeichneten Sinn auf die übrigen Kompetenzen aus. Europäische Rechtssetzung für Mindestentgelt, Koalitions- und Arbeitskampfrecht ist darum nur punktuell und nur im Ausnahmefall zulässig. Ein Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages wird hieran nichts ändern. 2. Das Kernproblem der fehlenden Kongruenz Die Arbeitsverfassung der Union enthält also einen umfassenden Katalog arbeitsverfassungsrechtlicher Rechte, einige Leitnormen und auch eine Reihe von Kompetenzen. Man könnte darum meinen, dass sie den Arbeitsverfassungen der Mitgliedstaaten heute in nichts mehr nachsteht. Das grundlegende Problem besteht jedoch im Fehlen der Kongruenz der arbeitsverfassungsrechtlichen Normen der Union.79 Der EU-verfassungsrechtliche Bestand an Rechten und Leitnormen steht zwar auch inhaltlich für eine Arbeitsverfassung der Union, die nach dem Vorbild der mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen entworfen zu sein scheint. Der Bestand an EU-verfassungsrechtlichen Kompetenzen konterkariert diesen Anschein jedoch, denn wie eingangs ausdrücklich betont wurde, besteht eine Arbeitsverfassung nicht nur aus ihren Rechten und Leitnormen, sondern auch in den Kompetenzen zu deren Artikulation. Im nationalen Verfassungsstaat sind die erforderlichen Kompetenzen der na-
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v. Bogdandy/Bast (Fn. 75), mit der Begründung, das Unionsrecht statuiere generell keine „bipolare“ Kompetenzordnung. C. Langenfeld/M. Benecke, in: Grabitz/Hilf (Fn. 32), Art. 137 EG, Rn. 97; R. Rebhahn, in: J. Schwarze, EU-Kommentar, 2000, Art. 137 EG, Rn. 22. In diesem Sinne GA Mengozzi zu EuGH, Rs. C-341/05, Laval, Slg. 2007, I-11767, Rn. 57. Im breiteren Rahmen des Europäischen Sozialmodells ebenso R. Blanpain, The EU Competence Regarding Social Policies, in: ders. u.a. (Hrsg.), The European Social Model, 2006, S. 57 (82 f.).
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tionalen Gesetzgeber und Gerichte regelmäßig nicht fraglich, und darum wird ihre etwaige Kongruenz auch gar nicht erst thematisch. Anders stehen die Dinge im föderalen Bund der EU, in dem die europäische Ebene nur auf der Grundlage gesondert verliehener Kompetenzen tätig werden kann.80 Die Problematik sei zunächst mit Bezug auf den europäischen Gesetzgeber erläutert. Der europäische Grundrechtsbestand enthält wesentliche Rechte einer modernen Arbeitsverfassung: individuelle Berufsfreiheit, kollektive Mitwirkungsrechte, Tarif- und Arbeitskampfautonomie. Die Reihe dieser Rechte, die mit ihrer Verankerung in der Grundrechte-Charta als europäische erscheinen sollen, ist aber in der Ordnung der Kompetenzen des europäischen Gesetzgebers nicht kongruent repräsentiert, vielmehr nehmen die Kompetenzen mit der gesellschaftlichen Relevanz des Gegenstandes ab. Zur Artikulation individueller Berufsfreiheit besteht eine Kompetenz für Mindestarbeitsbedingungen samt Kündigungsschutz (Art. 137 Abs. 2 lit. b, Abs. 1 lit. b und lit. c EG),81 wobei letzteres schon einstimmige Beschlussfassung im Rat erfordert. Für die kollektive Mitwirkung der Arbeitnehmer besteht eine Kompetenz (Art. 137 Abs. 2 lit. b, Abs. 1 lit. e und f EG), die im gewichtigeren Bereich der Mitbestimmung ebenfalls nur durch einstimmigen Ratsbeschluss ausgeübt werden kann. Zur regulativen Verwirklichung der Tarifautonomie schließlich besteht allenfalls punktuelle Kompetenz kraft notwendigem Sachzusammenhang.82 Es gibt also eine Reihe europäischer arbeitsverfassungsrechtlicher Rechte, wesentliche unter ihnen kann der europäische Gesetzgeber aber nur unter erschwerten Bedingungen oder überhaupt nicht artikulieren. Daneben könnten die Normen der EU-Arbeitsverfassung durch den Gerichtshof artikuliert werden. Dies geschieht zunächst einmal in einer Konkurrenz zum europäischen Gesetzgeber, soweit der Gerichtshof über Auslegung oder Gültigkeit von legislativen Akten im Lichte der arbeitsverfassungsrechtlichen Grundrechte entscheidet. Auch wenn, wie sich gezeigt hat, diese Konstellation durchaus auftreten kann,83 reicht die Artikulationsmöglichkeit des EuGH aber insoweit nicht viel wei-
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Grundsätzlich könnte es sich beim föderalen Staat ebenso verhalten. Es ist aber mutmaßlich kein Zufall, sondern aus der Entwicklungslogik des modernen Wohlfahrtsstaates begreifbar, dass auch föderale Staaten wie die Bundesrepublik oder die USA die Kompetenz für das Arbeitsrecht auf Bundesebene angesiedelt haben. Das individuelle Arbeitsrecht wird hier als materialisierende Artikulation der Arbeitsvertrags- und mithin der Berufsfreiheit verstanden. (Zur Einordnung der Arbeitsvertragsfreiheit in Art. 12 GG siehe BVerfGE 81, 242 (254); ebenso R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz (Stand: Juni 2007), Art. 12, Rn. 58). Zur Reichweite der Sperrwirkung von Art. 137 Abs. 5 EG siehe oben, 1. c). So soll etwa die Entsenderichtlinie (Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 1997 L 18, S. 1) – nach der in der Sache überraschenden Lesart des Gerichtshofes in EuGH, Rs. C-341/05 (Fn. 78) – einen Eingriff in das mitgliedstaatliche Streikrecht darstellen. Darum hätte der Gerichtshof die Entsenderichtlinie eigentlich am Maßstab der Schrankenregelung in Art. 52 Abs. 1 GR-Charta messen müssen. Das hat er aber einfach unterlassen.
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ter als die des europäischen Gesetzgebers.84 Darüber hinaus kann der EuGH aber gerade nicht in gleicher Weise an die Stelle des kompetenzlosen europäischen Gesetzgebers treten, wie dies die nationalen Gerichte im Fall des untätigen nationalen Gesetzgebers tun (müssen). Zwar mögen im Zuge des Vorlageverfahrens (Art. 234 EG) auch Rechtsstreitigkeiten zur Entscheidung anstehen, in denen arbeitsverfassungsrechtliche Rechte im Streit stehen, die sich auch in der Grundrechte-Charta finden. Doch kann der Gerichtshof diese Charta-Rechte neben den eben erwähnten Fällen, in denen Sekundärrecht eine Rolle spielt, nur dann rechtlich zur Geltung bringen, wenn der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts auf andere Weise eröffnet ist.85 Dies begrenzt aber die potenzielle Artikulation arbeitsverfassungsrechtlicher Grundrechte durch den EuGH auf grenzüberschreitende Arbeitsbeziehungen. Mitgliedstaatsinterne individuelle und kollektive Arbeitsbeziehungen können von der Rechtsprechung des Gerichtshofs mithin kraft seiner begrenzten rechtlichen Artikulationsmöglichkeiten nicht berührt werden. Auch der EuGH wird mithin nicht zum Urheber einer integrierten europäischen Arbeitsverfassung werden können. Das bedeutet im Ergebnis, dass die arbeitsverfassungsrechtlichen Rechte und Leitnormen zwar den Eindruck einer Arbeitsverfassung der Union erwecken, die den vom mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht konstituierten Arbeitsverfassungen vergleichbar wäre.86 Doch im Lichte ihrer fehlenden Kongruenz mit den arbeitsver84
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Die Artikulationsmöglichkeit deckt sich nicht, sondern reicht weiter, weil nationales Recht, das einmal auch der Umsetzung einer auch nur partiell harmonisierenden Richtlinie gedient hat, vollumfänglich an europäischen Grundrechten gemessen wird (sehr anschaulich etwa in EuGH, Rs. C-144/04 (Fn. 58), Rn. 75: Die unbeschränkte Möglichkeit mit Beschäftigten nach Vollendung des 52. Lebensjahres sachgrundlose Befristungen zu vereinbaren, ist am europäischen Gleichbehandlungsgrundsatz zu messen – und eine Prüfung an Art. 3 GG durch das Bundesverfassungsgericht hätte daher auszufallen –, weil das diese Möglichkeit eröffnende Teilzeit- und Befristungsgesetz einstmals auch der Umsetzung einer europäischen Richtlinie diente). Ob diese Landnahme des europäischen Grundrechtsschutzes insgesamt für alle Mitgliedstaaten eine begrüßenswerte Entwicklung darstellt, muss an dieser Stelle dahin gestellt bleiben (positiv die Beurteilung durch J. Kühling, in diesem Band, S. 682 ff.; kritisch hingegen T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 58), Art. 51 GR-Charta, Rn. 11, 16, sowie U. Haltern, Europarecht, 2007, Rn. 1090 ff.) Dessen ungeachtet führt die punktuelle Kontrolle nationaler Normen aber freilich nicht zu einer einheitlichen Artikulation der europäischen Rechte. Diese Frage wird zumeist unter dem Stichwort der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte erörtert, siehe etwa G. de Búrca/P. Craig, EU Law, 2008, S. 395 (dort auch zum Problem, dass die Rechtsverbindlichkeit des Art. 51 GR-Charta den normativen Einfluss der Gemeinschaftsgrundrechte auf das Recht der Mitgliedstaaten tatsächlich reduzieren könnte). Zum Ganzen auch J. Kühling, in diesem Band, S. 680 f. Eine mögliche Funktion der sozialen Grundrechte wurde darin gesehen, die Rechtfertigungsbasis für nationale Grundfreiheitsbeschränkungen zu stärken (und Gleiches ließe sich für die Leitnormen annehmen): siehe J. E. Fossum/A. J. Menéndez, Still Adrift in the Rubicon?, in: E. O. Eriksen u.a. (Hrsg.), The European Constitution, ARENA Report 3/05, S. 97 (135 f.); O. De Schutter, La garantie des droits et principes sociaux dans la Charte des droits fondamentaux de l’Union Européenne, in: J.-Y. Carlier/ders., La Charte des droits fondamentaux de l’Union Européenne, 2002, S. 117 (119 ff.). Daran wird man aber noch hart arbeiten müssen. Bisher nimmt der Europäische Gerichtshof zumindest den sozialen Grundrechten
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fassungsrechtlichen Artikulationskompetenzen des europäischen Gesetzgebers und des EuGH erweist sich dieser Eindruck als falscher Schein.
IV. Die Form der europäischen Arbeitsverfassung Es ist nun aufzuklären, in welchem Sinn und auf welche Weise die EU-Arbeitsverfassung den sozialen Integrationskompromiss einlöst. Die oben berichtete Erosion der tragenden Voraussetzungen der Umsetzung des sozialen Integrationskompromisses in Gestalt der EWG-Arbeitsverfassung wird im rechtlichen Wandel hin zur geltenden EU-Arbeitsverfassung anschaulich. Letztere scheint das Bild einer marktfunktionalen Arbeitsverfassung hinter sich gelassen zu haben, ohne dass sich darum schon ein klares neues Bild ergäbe. Der folgende Abschnitt (1.) behandelt die für viele sicher nahe liegende Idee, die bestehende EU-Arbeitsverfassung sei eine Stufe einer Entwicklung hin zu einer die mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen integrierenden und ihnen in der Form entsprechenden einheitlichen europäischen Arbeitsverfassung. Anschließend (2./3.) ist auf alternative Entwürfe einzugehen. 1. Eine integrierte europäische Arbeitsverfassung „im Werden“? Eben hieß es, die EU-Arbeitsverfassung erzeuge zwar den Schein einer integrierten europäischen Arbeitsverfassung, löse ihn aber nicht ein. Es stellt sich insofern die prognostische Frage, ob jener Schein Vorbote einer künftigen Wirklichkeit ist, mit anderen Worten: ob die heutige EU-Arbeitsverfassung eine integrierte europäische Arbeitsverfassung „im Werden“ darstellt. Um dies zu beurteilen, ist ein Blick auf die historische verfassungspolitische Entwicklung hilfreich, die sich in Bezug auf die drei Kategorien arbeitsverfassungsrechtlicher Normen je unterschiedlich vollzogen hat. a) Marksteine der Entwicklung der europäischen Arbeitsverfassungsnormen aa) Aufbau autonomer arbeitsrechtlicher Kompetenzen: Einheitliche Europäische Akte (1987) und Sozialabkommen von Maastricht (1993) Lange kam der europäische Gesetzgeber auch im Bereich der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung mit der im EWG-Vertrag vorgesehenen Kompetenz aus Art. 100 EWG (Art. 94 EG, Art. 115 AEUV) zurecht, nämlich bis zur Einheitlichen Europäischen Akte. Deren Hintergrund bildete das Anliegen, die wirtschaftliche Integrations-
müssen. Bisher nimmt der Europäische Gerichtshof zumindest den sozialen Grundrechten nämlich schon dadurch jedes überschießende Potential, dass er sie zu Institutionen zur Verwirklichung von Allgemeininteressen verformt und darüber an seine bisherige Grundfreiheitsdogmatik assimiliert. Vgl. anschaulich EuGH, Rs. C-438/05, Viking, Slg. 2007, I-10779, Rn. 77; dazu noch unten, IV. 3. a) aa).
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dynamik neu zu beleben.87 Ihr Herzstück bestand darin, wesentliche Bereiche der Marktregulierung nur noch einer qualifizierenden Mehrheit zu unterwerfen (Art. 100a EWG-Vertrag, heute Art. 95 EG, Art. 114 AEUV). Es wurde schon damals gesehen, dass die damit verknüpfte Verengung der europäischen Integration auf das Binnenmarktprojekt den Druck auf die Beschäftigten erheblich erhöhen würde.88 Dessen ungeachtet nahm Art. 100a Abs. 2 EWG-Vertrag die „Rechte und Interessen der Arbeitnehmer“ von der neu eingeführten prozeduralen Erleichterung marktfunktional begründbarer Harmonisierung wieder aus, insoweit blieb es bei der Einstimmigkeitsregel aus Art. 100 EWG-Vertrag. Im Gegenzug wurde mit Art. 118a EWG-Vertrag (Art. 137 Abs. 1 lit. a EG, Art. 153 AEUV) die erste formell autonome arbeitsrechtliche Kompetenz der Gemeinschaft im Bereich des technischen und sozialen Arbeitsschutzes geschaffen. Im Grunde genommen aber handelte es sich um eine Gegenausnahme zur Sperrnorm aus Art. 100a Abs. 2 EWG-Vertrag, was durch die Anwendung derselben Entscheidungsverfahren bei Art. 100a Abs. 1 und Art. 118a EWG-Vertrag unterstrichen wird: „Rechte und Interessen“ der Arbeitnehmer waren demnach von erleichterter Harmonisierung ausgenommen, es sei denn, es handelte sich um Fragen des technischen oder sozialen Arbeitsschutzes. Zwar bedurfte es für die Wahrnehmung der neuen Kompetenz aus Art. 118a EWGVertrag keines Nachweises einer Marktfunktionalität der Regelung mehr. Doch dies ging gerade nicht auf eine neue verfassungsrechtliche Entscheidung für eine schrittweise zu integrierende europäische Arbeitsverfassung zurück.89 Vielmehr war in der Vergangenheit die formale Tragfähigkeit der Rechtsgrundlage aus Art. 100 EWG-Vertrag immer wieder zweifelhaft gewesen, obgleich Einigkeit bestand, dass ein europäischer Rechtsakt erlassen werden sollte.90 Die Form der Arbeitsverfassung änderte sich erst mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht. Der Vertrag vertiefte die ökonomische Integration über die Ergänzung des Binnenmarkts um die Wirtschafts- und Währungsunion. Im Vorfeld und im Rahmen der Vertragsverhandlungen wurden große Anstrengungen unternommen, auch die soziale Dimension materiell und öffentlich sichtbar auszubauen.91 Das wichtigste Stück sollte dabei ein umfangreicher Ausbau der arbeitsrechtlichen Kompetenzen bilden. Doch dieser Plan scheiterte aufgrund eines Vetos des Vereinigten Königreichs. Die eigentlich anvisierten neuen Kompetenznormen 87 88
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Dazu C.-D. Ehlermann, The Internal Market Following the Single European Act, CMLRev. 24 (1987), S. 361. Die Einheitliche Europäische Akte bildete ein Rumpfprojekt gegenüber dem anspruchsvolleren und schon damals von Parlament und Rat ins Auge gefassten Vertrag über die Europäische Union. Vgl. den sog. Spinelli-Entwurf, ABl. 1984 C 77, S. 34. Siehe A. J. Menéndez (Hrsg.), Altiero Spinelli: From Ventotene to the European Constitution (2007), unter www.reconproject.eu/projectweb/portalproject/Report1_Spinelli.html (8.04.2008). Vgl. J. Curall, in: H. v. d. Groeben u.a. (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Aufl. 1991, Art. 118 EWG-Vertrag, Rn. 62: „keine Erweiterung des materiellen Geltungsbereichs der Gemeinschaftsbefugnisse“. J. Pipkorn, in: v. d. Groeben u.a. (Fn. 89), Art. 118a EWG-Vertrag, Rn. 2. J. Kenner, EU Employment Law, 2003, S. 219 ff.
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konnten darum nur als Abkommen zwischen den übrigen elf Mitgliedstaaten vereinbart werden, das über das „Protokoll über die Sozialpolitik“ noch formalen Anschluss an den Vertrag von Maastricht erhielt.92 Das Sozialabkommen enthielt neben der Integration europäischer Sozialpartner in den europäischen Gesetzgebungsprozess93 vor allem zwei Neuerungen. Die erste bestand in einem markanten Ausbau der autonomen arbeitsrechtlichen Kompetenzen über den Arbeitsschutz hinaus. Dabei erfassten die Kompetenzen nach dem Sozialabkommen dieselben Gegenstände wie heute, also unter Aussparung des Entgelts sowie des Koalitions- und des Arbeitskampfrechts, und waren nach denselben Verfahren wie heute wahrzunehmen (Art. 2 Abs. 2, Abs. 1 Spstr. 2–4 und Abs. 3 Spstr. 2 und 3 des Maastrichter Sozialabkommens, heute Art. 137 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 lit. b, d bis f und i EG, Art. 153 AEUV). Die zweite Neuerung lag in der Festlegung der Form etwaiger europäischer Regulierung auf Mindestvorschriften.94 Die bis dahin eröffnete marktfunktionale Regulierung arbeitsrechtlicher Vorschriften in Art. 100 EWG-Vertrag machte nämlich keine formale Vorgabe. Der Artikel (heute Art. 95 EG, Art. 114 AEUV) trägt darum bis heute auch Höchstvorschriften und Vollharmonisierungen, wenn es der europäische Markt denn erfordert. Damit wurde auf der Ebene des Verfassungsrechts angenommen, dass die nationalen Arbeitsstandards unter dem Druck des Binnenmarkts unter den verschärften Bedingungen einer Währungsunion Unterstützung von europäischer Ebene benötigen. Dies ist eine ganz andere Begründung europäischen Arbeitsrechts als diejenige marktfunktionaler Angleichungen zur Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen. Insofern dokumentierte die Einfügung autonomer arbeitsrechtlicher Kompetenzen zum Erlass von Mindestvorschriften die verfassungspolitische Intention eines Abschieds vom marktfunktionalen Paradigma der EWG-Arbeitsverfassung. Durch die Amsterdamer Integration des Sozialabkommens in den Text des EG-Vertrags wurde diese Intention noch einmal bekräftigt.95 bb) Konstitutionalisierung von Rechten: Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (1989) und die EU-Charta der Grundrechte (2001) Nicht erst mit der Währungsunion sondern schon im zeitlichen Umfeld der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte hielten europäische Akteure die Repräsentation einer sozialen Dimension im Prozess der europäischen Integration 92 93 94
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Ebd., S. 223; siehe auch D. Thym, Ungleichzeitigkeit und europäisches Verfassungsrecht, 2004, 194 ff. Dazu oben Fn. 59. A. Lyon-Caen/Sp. Simitis, Community Labour Law, in: P. L. Davies u.a. (Hrsg.), European Community Labour Law, 1996, S. 1 (8); S. Giubboni, Social Rights and Market Freedoms the European Constitution, 2006, S. 238. Auch Art. 118a EWG-Vertrag ermächtigte nur zum Erlass von Mindestnormen. Der Vertrag von Nizza eröffnete die Möglichkeit, im Bereich des Kündigungsschutzes und der kollektiven Vertretung von Arbeitnehmerinteressen ohne Vertragsänderung zum Mitentscheidungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit im Rat überzugehen (Art. 137 Abs. 2 a.E. EG). Hiervon ist allerdings kein Gebrauch gemacht worden.
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allgemein für unterentwickelt.96 In diesem Zusammenhang entstand die bis heute für viele maßgebliche Idee, diese Repräsentation durch die Konstitutionalisierung sozialer Rechte zu leisten.97 Erstmalig geschah dies mit der 1989 von den Mitgliedstaaten gemeinsam, zunächst aber ohne das Vereinigte Königreich feierlich proklamierten Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer.98 Auch wenn der Gemeinschafts-Charta keine verbindliche Wirkung zukommt, ist sie in der Sprache individueller und kollektiver Rechte abgefasst. Sie spricht in ihrem ersten Teil eine Reihe wesentlicher Rechte an, namentlich die individuelle Berufsfreiheit (Art. 4 GemSozGR), daneben sogar ein Recht auf „gerechten Lohn“ (Art. 5 GemSozGR), im kollektiven Bereich kollektive Mitwirkungsrechte (Art. 17, 18 GemSozGR) sowie die Tarifautonomie (Art. 11–13 GemSozGR). In Bezug auf die Artikulation dieser Rechte bekennt sich die Gemeinschaftscharta jedoch ausdrücklich zur damaligen primärrechtlichen Kompetenzverteilung: Die Gewähr der Gemeinschaftscharta-Grundrechte sei in erster Linie Aufgabe der Mitgliedstaaten (Art. 27 GemSozGR). Davon unberührt erhielt die Kommission den Auftrag, im Rahmen der Zuständigkeit der europäischen Ebene gesetzgeberische Vorschläge zur effektiven Umsetzung der in der Gemeinschaftscharta genannten Rechte zu unterbreiten (Art. 28 GemSozGR). So geschah es auch: Das auf die Gemeinschaftscharta folgende sozialpolitische Aktionsprogramm der Kommission99 bildete den Ausgangspunkt für eine außerordentliche legislative Aktivität der europäischen Ebene im Bereich des Arbeitsrechts. Allerdings waren die europäischen Institutionen für die gesetzgeberische Umsetzung des Programms darauf angewiesen und auch in der Lage, bis zum Inkrafttreten des Maastrichter Vertrags samt dem Sozialabkommen (1993) auf der Grundlage der seit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 bestehenden Kompetenzen (Art. 100a, 118a EWG-Vertrag) zu agieren.100 Nach der Umsetzung des sozialpolitischen Arbeitsprogramms der Kommission erschien das politische Potenzial der rechtlich unverbindlichen Gemeinschaftscharta erschöpft,101 was vor allem Akteure aus der Rechtswissenschaft zu neuen Anläufen 96
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J. Curall/J. Pipkorn, in: v. d. Groeben u.a. (Fn. 89), Vorb. zu Art. 117–128 EWG-Vertrag, Rn. 38; als institutionelle Äußerung siehe Opinion of the Economic and Social Committee on the Social Aspects of the Internal Market (European Social Area), 19.11.1987, CES(87) 1069. Von der Kommission aufgegriffen in Europäische Kommission, Arbeitsdokument der Kommission – Die soziale Dimension des Binnenmarktes, SEC(88) 1148, Ziff. 104, unter http://aei.pitt.edu/1346/01/social_internal_market_SEC_88_1148.pdf. Programmatisch seinerzeit wegweisend: W. Däubler, Sozialstaat EG? Notwendigkeit und Inhalte einer Europäischen Grundrechtsakte, in: ders. (Hrsg.), Sozialstaat EG?, 1989, S. 35. KOM(89) 248; das Vereinigte Königreich unterzeichnete die Gemeinschafts-Charta 1998. Mitteilung der Kommission über ihr Aktionsprogramm zur Anwendung der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte, KOM(89) 568. M. Rhodes, Das Verwirrspiel der Regulierung, in: S. Leibfried/P. Pierson, Standort Europa, 1998, S. 100. Giubboni (Fn. 94), S. 102; M. Rodríguez-Pinero/E. Casas, In Support of a European Social Constitution, in: Davies/Wedderburn (Fn. 94), S. 23 (35).
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zu verbindlichen sozialen Rechten auf europäischer Ebene motivierte.102 Hierauf erfuhren soziale Rechte eine gewisse Präsenz mit einer Änderung des alten Art. 117 EWG-Vertrag im Amsterdamer Vertrag (Art. 136 EG, Art. 151 AEUV). Die Ziele des Art. 117 EWG-Vertrag sollten künftig „eingedenk der sozialen Grundrechte“ nach der Europäischen Sozialcharta des Europarates von 1961103 und der Gemeinschaftscharta von 1989 verfolgt werden. Das erschien immer noch zu wenig, denn das Ziel war und blieb ein konstitutioneller Eigenbestand an sozialen Rechten.104 Dieses Bestreben konnte sich mit dem allgemeinen Prozess alliieren, der normativ frei schwebenden Grundrechts-Rechtsprechung des Gerichthofes auf der Basis einer Charta eine positivrechtliche Grundlage zu schaffen. Zwar hatte der EuGH in dieser Rechtsprechung völkerrechtlich garantierte soziale Rechte nur als Inspirationsquelle genannt, aber gerade noch keine sozialen Grundrechte entscheidungsrelevant zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts erklärt.105 Gleichwohl war angesichts der fortdauernd empfundenen sozialen Asymmetrie des Integrationsprozesses gewiss, dass eine europäische Charta der Grundrechte nicht nur bürgerliche und demokratische, sondern auch soziale Grundrechte enthalten musste.106 Die Proklamation der Grundrechte-Charta in 2001 wurde darum von vielen gerade aufgrund der in ihr festgeschriebenen sozialen Rechte grundsätzlich sehr begrüßt. Wie oben bereits dargestellt, spricht sie in der Tat eine Reihe wichtiger individueller und kollektiver arbeitsverfassungsrechtlicher Rechte an. Ihr Mangel liegt darum für viele Beobachter bis heute (allein) in ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit.107 cc) Vermehrung der Leitnormen: Sozialabkommen von Maastricht (1993) und Amsterdamer Vertrag (1999) Wie bereits dargestellt enthielt Art. 117 EWG-Vertrag die arbeitsverfassungsrechtliche Leitnorm des Gründungsvertrages. Die Einheitliche Europäische Akte brachte insoweit keine Veränderungen. Die Gründung der EU in Maastricht brachte dann in Art. B EU-Vertrag die Festlegung, die Union setze sich die Förderung eines ausgewogenen und nachhaltigen sozialen Fortschritts zum Ziel. Art. 117 E(W)G-Vertrag erfuhr Änderungen nicht bereits im Maastrichter Vertrag, sondern erst im Sozial102 103 104 105 106
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Lyon-Caen/Simitis (Fn. 94), S. 14; R. Blanpain u.a., Fundamental Social Rights, 1996; B. Bercusson u.a., A Manifesto for Social Europe, 1996. Europäische Sozialcharta (1961), ETS Nr. 35. Giubboni (Fn. 94), S. 105 f. E. Szyszczak, Social Rights as General Principles of Community Law, in: N. A. Neuwahl/A. Rosas (Hrsg.), The European Union and Human Rights, 1995, S. 211. Diesen Tenor hatten auch die beiden Experten-Berichte der Kommission: Europäische Kommission (GD V), For a Europe of Civic and Social Rights, Report by the Comité des Sages, 1996, sowie Europäische Kommission (GD V), Affirming Fundamental Rights in the European Union, Report of the Expert Group on Fundamental Rights, 1999 („Simitis-Bericht“), unter http://ec.europa.eu/employment_social/labour_law/docs/affirmingfundamentalrights _en.pdf (10.12.2008). Statt vieler: M. Weiß, Grundrechte-Charta der Europäischen Union auch für Arbeitnehmer?, Arbeit und Recht 2001, S. 374 (378), U. Zachert, Die Arbeitnehmergrundrechte in einer Europäischen Gemeinschaftscharta, NZA 2001, S. 1041 (1046).
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abkommen. Nach dessen Art. 1 werden die Ziele des Art. 117 EG-Vertrag nicht mehr nur als geteilte Anliegen der Mitgliedstaaten gefasst, deren Übereinstimmung man sich versichert, sie werden zugleich als Ziele der Gemeinschaft ausgegeben. Als arbeitsverfassungsrechtlich einschlägiges neues Ziel erscheint zudem der „soziale Dialog“. Als gemeinsame Zielstellung von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten fungieren sämtliche Gegenstände dann auch seit Amsterdam in Art. 136 Abs. 1 EG. Im Übrigen ergeben sich weder hier noch mit dem Vertrag von Nizza weitere Änderungen. dd) Neuerungen durch den Lissabonner Vertrag Die arbeitsverfassungsrechtlichen Änderungen im Vertrag von Lissabon sind schnell berichtet. Auf der Ebene der Kompetenzen ergeben sich erneut keinerlei Änderungen, weder im Hinblick auf die Gegenstände noch im Hinblick auf die Entscheidungsverfahren. Die Grundrechte-Charta wird förmlich in das Verfassungsrecht der Union inkorporiert werden.108 Bemerkenswerte Änderungen ergeben sich nur auf der Ebene der arbeitsverfassungsrechtlichen Leitnormen, deren Bestand variiert und weiter ausgebaut wird. Art. 136 EG wird allerdings unverändert als Art. 151 AEUV fortgeschrieben. Art. 3 AEUV über die Ziele der Union, in dem Art. 2 EG und Art. 2 EU fusionieren, enthält in Absatz 3 weiterhin das Ziel des sozialen Fortschritts, der neuerdings aber durch das Ziel einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“109 mediatisiert wird (UAbs. 1 S. 2), daneben soll die Union nunmehr auch soziale Gerechtigkeit fördern (UAbs. 2). Hinzu tritt schließlich eine neue Norm über die Werte der Union (Art. 2 AEUV), in der es das Prinzip der „Solidarität“ zwar nicht in die Reihe derjenigen Werte geschafft hat, auf die sich die Union gründet, aber doch zu den Prinzipien zählt, durch die sich die europäische Gesellschaft auszeichnet.110 b) Eine historisch und polit-ökonomisch verfestigte Asymmetrie Seit der Vertragsrevision von Amsterdam hat die Bedeutung arbeitsverfassungsrechtlicher Rechte und Leitnormen stetig zugenommen. Im Bereich der Rechte wäre das politische Projekt ihrer Konstitutionalisierung mit ihrer förmlichen Verankerung im Vertrag von Lissabon wohl endgültig abgeschlossen. Vergleichbares gilt von den arbeitsverfassungsrechtlichen Leitnormen. Ihr Ausbau begann mit dem Sozialabkommen von Maastricht, setzte sich in wenn auch bescheidenem Maße in Amsterdam fort und erfährt mit dem Reformvertrag einen neuen Höhepunkt. Zwar lässt sich der Bestand vergleichbarer Leitnormen letztlich ins Endlose steigern, doch wird man auch hier sagen können, dass das Projekt einer konstitutionellen Festlegung der EU auf Aufgaben, Ziele und Prinzipien, die dem Sozialstaatsprinzip zumindest der Intention nach korrespondieren sollen, nunmehr weitgehend erreicht ist. 108 109 110
Zum Protokoll über die Anwendung der Charta auf Polen und das Vereinigte Königreich siehe C. Möllers und J. Kühling, in diesem Band, S. 268 bzw. S. 669 f. Zu diesem Kuriosum F. Rödl, Europäisches Verfassungsziel „Soziale Marktwirtschaft“, Integration 2005, S. 150. C. Calliess, in: ders./M. Ruffert, Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-2 VVE, Rn. 34.
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Im Gegensatz zur expansiven Bewegung von Rechten und Leitnormen einer europäischen Arbeitsverfassung haben sich die autonomen arbeitsrechtlichen Kompetenzen über den Stand nach dem Sozialabkommen von Maastricht hinaus nicht weiter entwickelt.111 Das Sozialabkommen von Maastricht stellt die erst- und zugleich einmalige Erweiterung der europarechtlichen Kompetenzen in das Feld der Arbeitsverfassung dar, und das gilt gerade auch unter Einschluss des Reformvertrages. Mit kurzen Worten lässt sich die arbeitsverfassungsrechtliche Entwicklung der EU seit Maastricht also zusammenfassen als asymmetrische Entwicklung einer Expansion der Rechte und Leitnormen und einer Stagnation der Kompetenzen. Die historische Entwicklung spricht selbst dafür, dass sich an diesem Bild auch künftig wenig ändern wird. Denn auf allen Vertragskonferenzen wurden durchaus Vorstöße für umfangreichere arbeitsrechtliche Kompetenzen gemacht, doch mit Ausnahme von Maastricht sind alle gescheitert. Selbst im Verfassungskonvent, der grundlegenden Vorstößen sicherlich bislang das fruchtbarste Terrain bot, war eine Erweiterung der Kompetenzen nicht ernsthaft in Reichweite.112 Allerdings mögen einige darauf gebaut haben, dass sich eine integrierte europäische Arbeitsverfassung auch auf der Grundlage der seit Maastricht bestehenden Kompetenzen errichten lässt. Wenn nämlich ein dynamischer europäischer Gesetzgeber die formellen Kompetenzen in ihrer Bedeutung weit und in ihrer Funktion kreativ auslegen würde, ließen sich, unterstützt und beflügelt gerade durch die sozialen Rechte der Grundrechte-Charta und neuer Leitnormen, die von den Herren der Verträge ursprünglich gewollten Grenzen überschreiben. Das Vorbild für solche Erwartungen lieferte die Gemeinschaftscharta der Grundrechte der Arbeitnehmer, die in der Tat ein ambitioniertes Gesetzgebungsprogramm unter kreativer Nutzung der vorhandenen Kompetenzen trug.113 Die sozialen Grundrechte der GrundrechteCharta haben demgegenüber keine auch nur im Ansatz vergleichbare gesetzgeberische Aktivität ausgelöst.114 Vielmehr hat der Umfang arbeitsrechtlicher Gesetzgebung schon seit dem Vertrag von Amsterdam stetig abgenommen, zudem wurden die neuen autonomen Kompetenzen aus Art. 137 EG dabei nur wenig genutzt. Auch für die kommenden Jahre sehen die gesetzgeberischen Programme der Kommission keine relevante gesetzgeberische Tätigkeit im Bereich des Arbeitsrechts vor.115
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Dies ist auch der Fokus der scharfzüngigen Analyse von W. Streeck, Vom Binnenmarkt zum Bundesstaat?, in: Leibfried/Pierson (Fn. 100), S. 369. Vgl. den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Soziales Europa“, CONV 516/1/3 REV 1, unter http://european-convention.eu.int. Siehe Kommission, Aktionsprogramm zur Anwendung der Gemeinschaftscharta, KOM(89) 568. So auch B. de Witte, The Trajectory of Fundamental Rights in the EU, in: G. de Búrca/ders., Social Rights in Europe, 2005, S. 153 (166 f.). Siehe Europäische Kommission, Grünbuch: Ein modernes Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, KOM(2006) 708, und Europäische Kommission, Sozialpolitische Agenda 2006–2010, ABl. 2006 C 117, S. 256. Eine Ausnahme soll die – freizügigkeitsund wettbewerbsbezogene und darum auf Art. 42, 94 EG gestützte – Richtlinie zum Schutz zusätzlicher betrieblicher Altersversorgung bilden, KOM(2007) 603.
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Hoffnungen auf eine katalysatorische Wirkung der sozialen Rechte der Grundrechte-Charta erscheinen darum von heute aus gesehen als vergeblich. Beides, sowohl die Stagnation der Kompetenzen an sich als auch ihre Wahrnehmung durch den Gesetzgeber, ist indes nicht (allein) das Ergebnis kontingenter politischer Kompromissbildungen, sondern hat polit-ökonomische Gründe. Im besonders relevanten Bereich der reinen Arbeitskosten ist schlicht zu bedenken, dass in die Differenzen von Arbeitskosten Produktivitätsdifferenzen eingehen.116 Einheitliche europäische Mindestlöhne etwa lassen sich darum nicht sinnvoll festlegen. Richten sie sich nach dem Mitgliedstaat mit dem niedrigsten Lohnniveau, sind sie für alle anderen Mitgliedstaaten ineffektiv, richten sie sich nach dem Mitgliedstaat mit dem höchsten Lohnniveau, wirken sie schädlich für alle anderen als Wettbewerbsnachteil, liegen sie dazwischen, treten beide Fälle auf.117 Fast alle Mitgliedstaaten hätten darum die Sorge, dass sie zu den mit Nachteilen Belasteten zählen würden. Darüber hinaus sind die europäischen Wohlfahrtsstaaten inzwischen eingehend als komplexe Systeme analysiert worden, die verschiedenen Grundmodellen folgen.118 Die für das jeweilige Modell typischen internen Regelungsformen und ihre vielfältigen Interdependenzen machen es problematisch, von übergeordneter europäischer Ebene in partikulare Bereiche harmonisierend zu intervenieren. Auch die Normen des nationalen individuellen und kollektiven Arbeitsrechts stehen in vielfältiger Wechselbeziehung zu anderen sozial- und öffentlich-rechtlichen Regelungsfeldern (Sozialversicherung, Arbeitsförderung, soziale Fürsorge, berufliche Bildung) und diese wiederum zum jeweiligen nationalen Produktionsregime,119 sodass von tiefer gehenden europäischen Interventionen in das nationale Arbeitsrecht als Folge einer integrierten EU-Arbeitsverfassung desintegrative und dysfunktionale Effekte zu erwarten wären.120 Im Kontrast zum Bild eines langsamen, aber stetigen Fortschritts lässt die vorstehende Analyse erkennen, dass es in der historischen Entwicklung tatsächlich nur eine Phase echter arbeitsverfassungsrechtlicher Dynamik gab. Es ist die Phase, die mit Vor- und Nachläufern von der Einheitlichen Europäischen Akte bis zur Übernahme des Sozialabkommens in den Amsterdamer Vertrag reicht, also von 1986 bis 116 117
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Dieses Theorem des Ohlin-Berichts ist ungeachtet seiner überholten ökonomischen und rechtlichen Implikationen (siehe oben, II. 2./3.) weiter gültig. F. Scharpf, Regieren in Europa: Effektiv und demokratisch?, 1999, S. 76 f.; K. Busch, Perspektiven des Europäischen Sozialmodells, HBS-Arbeitspapier 92 (2005), S. 44, unter www.boeckler.de/pdf/p_arbp_092.pdf (1.09.2008). Die grundlegende Arbeit von G. Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990, zählt in Europa drei, die kritische Auseinandersetzung von M. Ferrera, A New Social Contract? The Four Social Europes, RSCAS Working Papers 36 (1996) vier Grundmodelle. Ebenso B. Amable, The Diversity of Modern Capitalism, 2003. P. Hall/D. Soskice, An Introduction to Varieties of Capitalism, in: dies. (Hrsg.), Varieties of Capitalism, 2001, S. 1 (38 ff.). W. Streeck, Industrial Citizenship Under Regime Competition, Journal of European Public Policy 4 (1997), S. 643; C. Offe, Demokratie und Wohlfahrtsstaat, in: W. Streeck (Hrsg.), Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie, 1998, S. 99.
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1996.121 Die Dynamik dieser Phase flankierte diejenigen Umwälzungen, denen das europäische Verfassungsrecht mit dem Start des Projekts Binnenmarkt 1986 und der Gründung der Währungsunion 1993 unterlag. Beide Schritte machten Quantensprünge wirtschaftlicher Integration aus, die nach arbeits- (und sozial-)verfassungsrechtlicher Kompensation verlangten. Doch die blieb am Ende auch aus polit-ökonomischen Gründen schmal, und die Versuche, sie in Amsterdam, Nizza und auch im Verfassungsvertrag nachzuholen, sind dementsprechend gescheitert. Vergleichbare Quantensprünge in der Verfassung wirtschaftlicher Integration, die neuen politischen Kompensationsdruck auslösen könnten, sind wohl auch auf lange Sicht nicht zu erwarten. Zu der Idee, die Arbeitsverfassung der EU repräsentiere eine integrierte europäische Arbeitsverfassung im Werden, bedarf es also einer Alternative. Hierfür gibt es zwei Kandidaten: die Idee einer post-regulatorischen Arbeitsverfassung der Union (2.) und die hier neu zu entfaltende eines europäischen Arbeitsverfassungsverbunds (3.). 2. Eine post-regulatorische Arbeitsverfassung für die EU? Die Vertragsänderung von Amsterdam brachte neben der Einbeziehung des Vereinigten Königreiches Großbritanniens in die Vorschriften des Sozialabkommens im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik vor allem ein neues Kapitel über Beschäftigung (Art. 125–130 EG, Art. 145–150 AEUV). Das Kapitel enthält keine arbeitsverfassungsrechtlichen Normen im hiesigen Sinne von das Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit konstituierenden und gestaltenden Rechten, Leitnormen und Kompetenzen. Vielmehr betreffen sie die Koordination mitgliedstaatlicher Beschäftigungspolitik (vgl. Art. 126 Abs. 2 EG, Art. 146 AEUV) und sind damit für den hiesigen Zusammenhang nicht unmittelbar relevant. Gleichwohl galt das Beschäftigungskapitel vielen nach gerade als erster Nachweis, dass die soziale Dimension europäischer Integration neben der wirtschaftlichen deutlich erstarkt sei.122 Die europäische Koordination der Beschäftigungspolitik vollzieht sich in turnusmäßiger Abfolge von europäischen beschäftigungspolitischen Leitlinien, jährlichen Berichten der Mitgliedstaaten, Prüfungen dieser Berichte und rechtlich unverbindlichen Empfehlungen an die Mitgliedstaaten sowie eines gesamteuropäischen Beschäftigungsberichts (Art. 128 EG, Art. 148 AEUV). Dabei kann die europäische Ebene die mitgliedstaatliche Zusammenarbeit zusätzlich befördern durch Initiativen, „die darauf abzielen, den Austausch von Informationen und bewährten Verfahren zu entwickeln, vergleichende Analysen und Gutachten bereitzustellen sowie in121 122
Noch kritischer Wolfgang Streeck, für den schon diese Phase die „Niederlage der sozialen Dimension“ verkörpert: Streeck (Fn. 111), S. 377 ff. Etwa I. Pernice, Mulitlevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?, CMLRev. 36 (1 999), S. 703 (733 f.). Zur politischen Entstehungsgeschichte des Beschäftigungskapitals: J. Goetschy, The European Employment Strategy: Genesis and Development, European Journal of Industrial Relations 5 (1999), S. 117.
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novative Ansätze zu fördern und Erfahrungen zu bewerten“ (Art. 129 EG, Art. 149 AEUV). Beides zusammen kennzeichnet einen von vielen als neu und bahnbrechend angesehenen modus operandi der europäischen Ebene, in den hohe normative Erwartungen gesetzt sind.123 Er wurde mit dem Europäischen Rat von Lissabon auf mehrere Felder der Sozialpolitik ausgedehnt124 und erhielt in diesem Zusammenhang auch den heute gängigen Namen des „offenen Koordinierungsverfahrens“. Das offene Koordinierungsverfahren im Bereich von Beschäftigung und Arbeitsrecht125 verdient an dieser Stelle deswegen eine knappe Behandlung, weil es von einigen Beobachtern vor dem Hintergrund der sozio- und polit-ökonomischen Differenzen der Mitgliedstaaten als echte Alternative zu einer vollständigen EUArbeitsverfassung, als eine post-regulatorische126 Erneuerung der sozialen Versprechen der europäischen Integration angesehen wird. Eine nach Stil und Inhalt nicht untypische Sicht aus arbeitsrechtlicher Perspektive lässt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen:127 Das offene Koordinierungsverfahren eröffne einen Raum, in dem die Mitgliedstaaten in den Bereichen Arbeitsrecht und Beschäftigungspolitik im Wege deliberativer Auseinandersetzung voneinander lernten und dabei normativ durch den Bestand der einschlägigen sozialen Rechte angeleitet werden sollten. Auf der Grundlage gemeinsamer Ziele werde nach spezifischen Lösungen für die Mitgliedstaaten gesucht, die die Besonderheiten der tradierten mitgliedstaatlichen Verfassung der Arbeitsbeziehungen reflektieren. Vieles spricht dagegen, dass damit eine gegenwärtige oder wenigstens eine kommende Realität richtig beschrieben sein könnte. Erstens sind koordinierende Prozeduren, die nun den ganz neuen Integrationsmodus des offenen Koordinierungsverfahrens ausmachen sollen, für Arbeitsrecht (sogar unter Einschluss des kollektiven Arbeitsrechts) und Beschäftigung seit Gründung der EWG vorgesehen (Art. 118 EWG-Vertrag), ohne dass dieses Koordinationsmandat der europäischen Ebene relevante Ergebnisse produziert und mit diesen größeres Aufsehen erregt hätte. Insofern wäre die Frage zu beantworten, aufgrund welcher Umstände eine im Grundsatz vergleichbare Koordinierungsbefugnis der europäischen Ebene heute zu ganz anderen Ergebnissen führen sollte. Viel näher liegt die These, dass die Ein123
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Exemplarisch seien genannt: C. de la Porte/P. Pochet (Hrsg.), Building Social Europe Through the Open Method of Coordination, 2002; J. Zeitlin/D. M. Trubek (Hrsg.), Governing Work and Welfare in a New Economy, 2003; C. F. Sabel/J. Zeitlin, Learning From Difference, ELJ 14 (2008), S. 271. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Lissabon, 23. und 24. März 2000, Rn. 37–40, unter www.europarl.europa.eu/summits/lis1_de.htm (2.06.2008); von der Kommission prominent aufgenommen in: Europäische Kommission, Europäisches Regieren – ein Weißbuch, KOM(2001) 428, S. 28 f. Vgl. auch den mit dem Vertrag von Nizza eingefügten Art. 137 Abs. 2 lit. a EG, dessen Potenzial wohl hinter Art. 140 EG (einst Art. 118 EWG-Vertrag) zurückbleibt, so auch Krebber, in: Calliess/Ruffert (Fn. 58), Art. 137 EG, Rn. 36. C. de la Porte u.a., Social Benchmarking, Policy Making and New Governance in the EU, Journal of European Social Policy 11 (2001), S. 291 (293). Giubboni (Fn. 94), S. 245 ff., 266 ff. und 277 ff.,
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richtung des offenen Koordinierungsverfahrens vor allem den fehlenden Willen der Mitgliedstaaten dokumentiert, die eigenen Systeme europäisch induzierten Veränderungen zu unterwerfen.128 Zweitens unterliegt jener Beschreibung die irrige Vorstellung, im Bereich von Arbeitsrecht und Beschäftigungspolitik ginge es in erster Linie um Probleme unzureichenden Wissens, deren Lösung man durch fruchtbare kognitive Lernprozesse näher kommen könnte.129 Stattdessen sind beide Felder in hohem Maße von normativen Vorstellungen geprägt, und zugleich sind die Möglichkeiten ihrer politischen Bearbeitung durch soziale und politische Kräfteverhältnisse vorstrukturiert. Es ist darum ein reales Problem mit überdies hohem Potenzial zur Ideologiebildung, wenn mit dem offenen Koordinierungsverfahren gerade keine europäischen Arenen für gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen, sondern nur Räume für – bestenfalls – ein wechselseitiges Lernen nationaler Arbeitsbürokratien geschaffen werden. Völlig im Leeren hängt schließlich die Idee, soziale Rechte sollten die koordinierenden Prozesse von Arbeitsrecht und Beschäftigungspolitik normativ anleiten. Da diese normative Anleitung nicht im Wege rechtlicher Bindung und Kontrolle erfolgt und so auch nicht erfolgen kann, handelt es sich bestenfalls um einen gut gemeinten Wunsch.130 Die Idee einer postregulatorischen Arbeitsverfassung der Union erscheint mithin im Grundsatz verfehlt.131
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A. Schäfer, Die neue Unverbindlichkeit, 2005, S. 179 ff. und S. 215. Wichtige Protagonisten des Konzeptes europäischer Politik als Prozess experimentellen Lernens, in dem gesellschaftliche Widersprüche und diesen unterliegende Kräfteverhältnisse keine Rolle zu spielen haben, sind Joshua Cohen, Charles Sabel und Jonathan Zeitlin. Vgl. etwa J. Cohen/C. Sabel, Directly-Deliberative Polyarchy, ELJ 3 (1997), S. 313, und J. Zeitlin, Introduction: Governing Work and Welfare in a New Economy, in: J. Zeitlin/D. Trubek (Fn. 123), S. 5. Kritisch hierzu etwa C. Offe, The European Model of „Social“ Capitalism, Journal of Political Philosophy 11 (2003), S. 437 (462 ff.). Die normativ aufgeladenen Verzeichnungen des offenen Koordinierungsverfahrens drohen nüchternere Einsichten zu verstellen: Die europäische Beschäftigungspolitik ist gekennzeichnet durch eine Wende vom Paradigma der „Vollbeschäftigung“ hin zu dem der „Beschäftigungsfähigkeit“ (Erläuterung der paradigmatischen Differenz bei R. Salais, Reforming the European Social Model and the Politics of Indicators, in: M. Jepsen/A. Serrano (Hrsg.), Unwrapping the European Social Model, 2006, S. 189). Für diese Wende sind nicht zuletzt die Strukturen der europäischen Arbeits- und Sozialverfassung selbst ursächlich: Der Union stehen nahezu keine Instrumente für eine eigene Vollbeschäftigungspolitik zur Verfügung und eine europäische Koordination mitgliedstaatlicher Vollbeschäftigungspolitiken ist aufgrund politischer und polit-ökonomischer Differenzen ausgeschlossen. Als auf europäischer Ebene thematisierbarer Gegenstand verbleibt darum nur die individuelle Beschäftigungsfähigkeit. So etwa Offe (Fn. 129), S. 457 ff.; A. Somek, Concordantia Catholica: Exploring the Context of European Anti-Discrimination Law and Policy, Transnational Law and Contemporary Problems 15 (2005), S. 959 (982 ff.). Ausgespart sei an dieser Stelle die Problematik, dass mit den Ideen „post-regulatorischer“ Politik eine problematische Entrechtlichung einhergeht (dazu C. Joerges, Integration durch Entrechtlichung?, ZERP-Diskussionspapier 1 (2007), unter www.zerp.eu), die diametral zu den theoretischen Bemühungen um eine verfassungsförmige Bindung von Politik auch jenseits des Staates steht.
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3. Die EU-Arbeitsverfassung im europäischen Arbeitsverfassungsverbund Wie in der Einführung angekündigt, soll hier der für die Verfassung öffentlicher Gewalt entwickelte Begriff des Verfassungsverbunds auch für die Arbeitsverfassung fruchtbar gemacht werden. Die Analyse der EWG-Arbeitsverfassung hat ergeben, dass es die grundlegende Funktion der unionalen Ebene des europäischen Arbeitsverfassungsverbunds ist, den sozialen Integrationskompromiss unter den geänderten sozialen und ökonomischen Bedingungen einzulösen. Dabei besteht der soziale Integrationskompromiss darin, dass am Binnenmarkt kein Wettbewerb auf der Basis von Arbeitskosten stattfindet, dass die Arbeitsverfassungen der Mitgliedstaaten in der Festlegung der mitgliedstaatlichen Arbeitskosten autonom bleiben und dass die europäische Wirtschaftsintegration die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nicht parteilich zugunsten der Kapitalseite verschiebt. Im Folgenden wird entfaltet, dass die EU-Arbeitsverfassung vor diesem Hintergrund heute dreierlei Leistungen erbringen kann: Erstens stützt sie rechtlich die Autonomie der mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen. Zweitens harmonisiert sie die mitgliedstaatlichen Arbeitsrechte, wenn und soweit deren Differenz im Einzelfall zu arbeitskostenbezogenen Wettbewerbsverzerrungen führen. Drittens sorgt sie schließlich dafür, dass die Reichweite der sozialen Rechte der Beschäftigten im innereuropäischen Zusammenhang nicht hinter dem Aktionsradius der Unternehmen zurück bleibt. In arbeitsverfassungsrechtlichen Begriffen ausgedrückt unterstützt die EU-Arbeitsverfassung die effektive Entfaltung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten im arbeitsverfassungsrechtlichen Bereich (a), sie verfügt selbst über legislative Kompetenzen zu marktfunktionaler Harmonisierung (b), und sie garantiert die transnationale Dimension der arbeitsverfassungsrechtlichen Rechte der Beschäftigten (c). a) Schutz der Autonomie mitgliedstaatlicher Arbeitsverfassung Der soziale Integrationskompromiss verlangt, dass die den Mitgliedstaaten mit guten Gründen überlassenen Kompetenzen effektiv ausgeübt werden können. Das bedeutet vor allem anderen, dass die auf arbeitsverfassungsrechtlicher Grundlage generierten Normen der Mitgliedstaaten keine neuen Grenzen zu gewärtigen haben sollen, die vor Eintritt in das Projekt europäischer Integration nicht bestanden. Erforderlich ist demnach ein effektiver Schutz der Autonomie mitgliedstaatlicher Arbeitsverfassungen. Dieser Schutz mitgliedstaatlicher Autonomie ist dabei in zwei Richtungen erforderlich: in horizontaler Richtung im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten und in vertikaler Richtung im Verhältnis zur Union. aa) Horizontale Schutzrichtung: Arbeitskollisionsrecht und Grundfreiheiten Die Öffnung der innereuropäischen Grenzen für Waren (Art. 28 EG, Art. 34 AEUV), Personen (Art. 39, 49 EG, Art. 45, 56) und Kapital (Art. 43, 56 EG, Art. 49, 63 AEUV) über die Grundfreiheiten zieht die Frage nach dem transnationalen Anwendungsbereich mitgliedstaatlichen Arbeitsrechts und damit nach der horizontalen Reichweite der mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassung nach sich. Bildlich gesprochen geht es darum, ob und inwieweit Waren, Personen oder Kapital das Recht der Arbeitsbeziehungen in Wahrnehmung der einschlägigen Grundfreiheit aus dem
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einen Mitgliedstaat in den anderen Mitgliedstaat hineintragen können. Über die Grundfreiheiten wurde also letztlich ein Konflikt eröffnet über die jeweilige horizontale Reichweite der mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen im Verhältnis zueinander.132 Es ist die Funktion der EU-Ebene im Arbeitsverfassungsverbund, diesen horizontalen Konflikt durch ein übergeordnetes Kollisionsrecht in einer Weise zu regulieren, die dem sozialen Integrationskompromiss der Union gerecht wird. Diese Funktion wird von der europäischen Ebene in der Tat erfüllt, zum einen mithilfe des Rechts der Rechtfertigung von Grundfreiheitsbeschränkungen, zum anderen mithilfe des europäischen internationalen Arbeitsvertragsrechts. Dabei gibt der Integrationskompromiss auch den wesentlichen Inhalt des europäischen Arbeitskollisionsrechts vor: Zur Meidung von Arbeitskostenkonkurrenz muss stets das Recht am Ort der Arbeitsleistung maßgeblich sein, sodass am gleichen Ort gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird. Art. 8 der neuen Rom I-Verordnung133 (entspricht insoweit dem bisherigen Art. 6 EVÜ134) setzt diesen Grundsatz technisch in Gestalt des so genannten Günstigkeitsprinzips um, das dem Beschäftigten das Niveau der Arbeitsbedingungen am gewöhnlichen Arbeitsort garantiert, aber diesem günstigere Arbeitsbedingungen eines von den Parteien gewählten Rechts gelten lässt. Für diejenigen nationalen arbeitsrechtlichen Normen, die nicht zum Arbeitsvertragsstatut zählen, darunter auch die „Eingriffsnormen“ (vgl. Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO), aber auch die Normen des kollektiven und öffentlich-rechtlichen Arbeitsrechts, ist es das Recht der Grundfreiheiten, welches das autonomieschützende Kollisionsrecht für die Lösung der horizontalen Konflikte liefert. Zwar wurde vertreten, dass die Geltung nationalen Arbeitsrechts von vorne herein aus dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten ausgeschlossen sei,135 und dieser Vorschlag steht eigentlich ganz im Einklang mit der hier entfalteten Idee eines Schutzes mitgliedstaatlicher Autonomie im Bereich der Arbeitsverfassung. Der EuGH hat sich jedoch anders entschieden, und auch die Normen nationalen Arbeitsrechts einer Prüfung am Maßstab der Grundfreiheiten unterworfen. Damit ist aber der hier vertretenen Auffassung an sich keine Absage erteilt. Vielmehr dient die Prüfung richtig begriffen letztlich nur einer Kontrolle von etwaigem Missbrauchs des mitgliedstaatlichen Arbeitsrechts zu protektionistischen Zwecken. Darum wird das nationale Arbeitsrecht zwar einer Prüfung anhand der Grundfreiheiten unterstellt, doch da der Schutz der Arbeitnehmer, die Grundfunktion jeden Arbeitsrechts, ein Ziel ist, das die Beschränkung der einschlägigen Grundfreiheit tragen kann,136 sichert die weitere Prü132 133 134
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Dazu F. Rödl, Weltbürgerliches Kollisionsrecht, Ms., Diss. 2008 EUI Florenz, S. 225 ff. Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 L 177, S. 6. Das Europäische Schuldvertragsübereinkommen (EVÜ) von 1980 wurde in Form eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen den Mitgliedstaaten geschlossen und ist ohne förmlichen Halt in den Verträgen: ABl. 1980 L 226, S. 1. B. Hepple, Labour Laws and Global Trade, 2005, S. 214 f.; S. Deakin, Labour Law as Market Regulation, in: Davies u.a. (Fn. 94), S. 63 (73). EuGH, Rs. 279/80, Webb, Slg. 1981, 3305, Rn. 19, seitdem ständige Rechtsprechung (siehe Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf (Fn. 32), vor Art. 39–55 EG, Rn. 161).
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fung der Eignung und der Erforderlichkeit lediglich ab, dass der Schutzzweck nicht vorgeschoben ist. Dieser Test läuft auf eine bloße Missbrauchskontrolle hinaus. Nur aufgrund von Besonderheiten in Einzelfällen137 käme es zu weiter reichenden Korrekturen des nationalen Rechts. Ein wichtiges Anschauungsbeispiel liefert in diesem Zusammenhang die Arbeitnehmerentsendung. Im Falle der vorübergehenden Entsendung von Arbeitnehmern liegt der für das anwendbare Vertragsrecht nach Art. 8 Rom I-VO maßgebliche gewöhnliche Arbeitsort nicht im Aufnahmestaat, sondern im Herkunftsstaat (Art. 8 Abs. 2 S. 2 Rom I-VO), sodass die Arbeitnehmerentsendung die Möglichkeit zu einem reinen Lohnkostenwettbewerb eröffnet. Dem traten betroffene Mitgliedstaaten schon im Anschluss an die Zweite Süderweiterung der Union um Portugal und Spanien im Jahr 1986 mit nationalen Entsendgesetzen entgegen und erklärten ihre arbeitsrechtlichen Normen auch für Entsendearbeitsverhältnisse für international zwingend. Der Gerichtshof erklärte solche Gesetze, beginnend mit der Entscheidung Rush Portuguesa im Grundsatz für vereinbar mit dem Recht der Dienstleistungsfreiheit.138 Zumindest für eine gewisse Periode des rechtlichen Integrationsprozesses geriet die Autonomie nationaler Arbeitsverfassung durch Instrumentalisierungen der Grundfreiheiten insbesondere gegen öffentlich-rechtliche arbeitsrechtliche Normen unter Druck. Referenzfälle bilden im Bereich der Warenverkehrsfreiheit die Entscheidung Nachtbackverbot139 zum deutschen Nachtarbeitsverbot in Bäckereien und Konditoreien und Conforama140 zum arbeitsrechtlichen Verbot der Sonntagsbeschäftigung nach französischem Recht. In beiden Fällen sah der EuGH allerdings die Arbeitszeitregelungen als gerechtfertigt an.141 Gleichfalls ohne Erfolg blieb ein Vorstoß, selbst die Arbeitnehmerfreizügigkeit zur Begrenzung mitgliedstaatlicher Autonomie zu mobilisieren.142 Im Fall Graf 143 war eine österreichische Regelung zum Verlust des Abfindungsanspruchs des Beschäftigten im Falle einer Eigenkün137
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Es betrifft vor allem Fälle von Doppelbelastungen der Unternehmen, die wohlgemerkt auch nicht auf den sozialen Integrationskompromiss gestützt werden könnten, etwa EuGH, verb. Rs. C-369/96 und C-376/96, Arblade, Slg. 1999, I-8498, Rn. 34, sowie EuGH, Rs. C-165/98, Mazzoleni, Slg 2001, I-2213, Rn. 25. EuGH, Rs. C-113/89, Rush Portuguesa, Slg. 1990, I-1417, Rn. 18; bestätigt u.a. in EuGH, Rs. C-164/99, Portugaia Construçiõnes, Slg. 2002, I-787, Rn. 21. EuGH, Rs. 155/80, Oebel, Slg. 1981, I-1993. EuGH, Rs. C-312/89, Conforma, Slg. 1991, I-1021; ebenso EuGH, Rs. C-332/89, Merchandise, Slg. 1991, I-1027, für ein vergleichbares Verbot nach belgischem Recht. Dabei stellte der Gerichtshof nicht auf den „Schutz der Arbeitnehmer“, sondern in eher kompetenzbezogenem Vokabular darauf ab, dass es – ausgesprochen zu einem Zeitpunkt vor Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht samt Sozialabkommen – Sache der Mitgliedstaaten sei, die Verteilung der Arbeitszeiten und arbeitsfreie Zeiten zu regeln. Gleichfalls unter dem Gesichtspunkt der Warenverkehrsfreiheit ging es im Fall EuGH, Rs. 188/84, Kommission/ Frankreich, Slg. 1986, 419, um technische Arbeitsschutzbestimmungen als Importhindernis. S. Roloff, Das Beschränkungsverbot des Art. 39 EG (Freizügigkeit) und seine Auswirkungen auf das nationale Arbeitsrecht, 2003, insb. S. 149 ff. EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493. Aus der Perspektive der Dogmatik des Rechts der Grundfreiheiten zu Recht kritisch T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 58), Art. 28–30 EG, Rn. 55.
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digung zu beurteilen. Dieser Verlust erst macht die Abfindung zu einem Instrument des Schutzes der Arbeitnehmer vor Kündigung. Ihn für europarechtswidrig zu erklären, hätte diesen Sinn aufgehoben, die Abfindung wäre in eine allgemeine (und als solche völlig sinnlose) Beendigungsprämie transformiert worden. Der EuGH hielt diese Regelung, obgleich auch sie durchaus nach den Grundfreiheiten zu prüfen war, aber nicht einmal für geeignet, die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu beschränken, sodass eine Rechtfertigungsprüfung entfallen konnte. Obgleich also das nationale Arbeitsrecht dem Prüfungsprogramm des Rechts der Grundfreiheiten unterstellt wurde, ist es in den einzelnen Prüfungen weitgehend intakt geblieben. Bis hierhin war darum auch die Deutung der Funktion dieser Prüfung als bloße Missbrauchskontrolle gegenüber verschleiertem Protektionismus plausibel. Einen klaren Bruch mit dieser Lage markiert die Entscheidung Viking.144 Der Gerichtshof hatte zu beurteilen, ob Kampfmaßnahmen einer finnischen Gewerkschaft und damit verbundene Koordinierungsmaßnahmen eines internationalen gewerkschaftlichen Dachverbands, die sich gegen die zur Arbeitskostensenkung anvisierte Ausflaggung eines Fährschiffs von Finnland nach Estland richteten, gegen die Niederlassungsfreiheit verstoßen. Nachdem der Gerichtshof in seiner Antwort zunächst vollmundig das Streikrecht als europäisches Grundrecht anerkannte,145 stellte er es anschließend – mithilfe einer erstaunlichen Ausdehnung der horizontalen Wirkung der Grundfreiheiten146 – unter den Vorbehalt seiner verhältnismäßigen Ausübung mit Blick auf damit verbundene Grundfreiheitsbeschränkungen. Ein solcher Verhältnismäßigkeits-Vorbehalt ist nicht nur in vielen mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen an sich unbekannt.147 Auch dort, wo der Vorbehalt an sich bereits besteht,148 erhält die Position der Unternehmerseite durch die Grundfreiheit zusätzliches Gewicht. Auf diese Weise werden die in den mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen bereits einmal austarierten Kräfteverhältnisse unmittelbar zugunsten der Unternehmen verschoben. Deutlicher lässt sich der Sinn der europäischen Arbeitsverfassung nicht verfehlen. bb) Vertikale Schutzrichtung: Wettbewerbs- und Binnenmarktrecht Die mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen, insbesondere die effektive Ausübung mitgliedstaatlicher Kompetenzen, bedarf nicht nur des Schutzes in horizontaler Richtung, sondern auch in vertikaler Richtung gegenüber dem materiellen Sekundärrecht der EU, einschließlich des europäischen Wettbewerbsrechts.149 144 145
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EuGH, Rs. C-438/05 (Fn. 86). Die Entscheidung enthält noch weitere problematische Verkürzungen des Grundrechts auf Streik; dazu C. Joerges/F. Rödl, Das soziale Defizit des europäischen Integrationsprojektes, KJ 2008, S. 149. Hierzu T. Kingreen, in diesem Band, S. 743 ff. Zum Beispiel in Großbritannien: N. Countouris, La Corte di giustizia e il vaso di Pandora del diritto sindacale europeo, in: A. Vimercati (Hg.), Il conflitto sbilanciato, im Erscheinen. Zum Beispiel in Deutschland: BAG (Großer Senat), AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Zum Status des europäischen Wettbewerbsrechts als materielles Sekundärrecht: J. Bast, Einheit und Differenzierung der Europäischen Verfassung, in: Y. Becker u.a. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 2005, S. 34 (44 f.).
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Das systematische Grundproblem resultiert in diesem Zusammenhang aus der Figur des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts. Zwar ist der Vorrang der höheren Rechtsebene aus dem Verfassungsrecht des deutschen Bundesstaates gut bekannt.150 Doch seine umstandslose Übertragung auf das Verhältnis zwischen Mitgliedstaat und Union, wobei letztere auf der Basis begrenzter und begründet ausgewählter Kompetenzen agiert (Art. 5 EG), ist prekär. Viele primär- und sekundärrechtliche Vorschriften der Union reichen in gesellschaftliche Felder hinein, in denen sie nach den Kompetenzvorschriften nicht zuständig ist. Eine schlichte Durchsetzung des Vorrangs bedeutet in diesen Konstellationen151 eine Ausweitung der gesellschaftlichen Funktionslogiken, die dem Unionsrecht und den unionalen Kompetenzen unterliegen (Wettbewerb und Binnenmarkt) zu Lasten derjenigen Funktionslogiken, die nach den Kompetenzvorschriften weiter in erster Linie unter mitgliedstaatlicher Gestaltungshoheit stehen sollen. Diese allgemeine Problematik hat sich natürlich auch und gerade im Bereich der Arbeitsverfassung gezeigt. Aus dem Primärrecht waren es namentlich die europäischen Wettbewerbsvorschriften, deren Reichweite im Verhältnis zur mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassung zu bestimmen war. So stellte der Gerichtshof etwa fest, dass Ausnahmeregelungen innerhalb des nationalen Arbeitsrechts keine nach Art. 88 Abs. 3 EG bzw. Art. 108 AEUV anzeigepflichtige staatliche Beihilfen darstellen.152 Den zentralen Konfliktfall zwischen europäischem Wettbewerbsrecht und mitgliedstaatlicher Arbeitsverfassung bildet jedoch der Fall Albany.153 Die Auseinandersetzung betraf die gesetzliche Pflichtmitgliedschaft in einem tariflich errichteten Betriebsrentenfonds. In diesem Zusammenhang hatte der EuGH auch die Frage zu beantworten, ob bereits der zugrunde liegende Tarifvertrag gegen Art. 81 EG bzw. Art. 101 AEUV verstieß. Dies wurde vom Gerichtshof auf grundlegender Stufe verneint: Tarifverträge, die den sozialpolitischen Zielen des EG-Vertrages dienen, fallen von vorne herein nicht unter das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen.154 Gleiches gilt von Allgemeinverbindlicherklärungen.155 Vom Ergebnis her konnte die Albany-Entscheidung nicht anders lauten. Es wäre undenkbar gewesen, nationale Tarifverträge zu Abreden im Sinne des Art. 81 EG zu
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Vgl. Art. 31 GG: „Bundesrecht bricht Landesrecht“ – vom Bundesverfassungsgericht als Grundsatznorm des Grundgesetzes bezeichnet, BVerfGE 36, 342 (365 f.). Christian Joerges hat für diese den Begriff der „diagonalen Konflikte“ geprägt, erstmals ders., Challenges of European Integration to Private Law, in: Collected Courses of the Academy of European Law VII-1, 1996, S. 182 (311); vgl. auch Ch. Schmid, Vertical and Diagonal Conflicts in the Europeanisation Process, in: C. Joerges/O. Gerstenberg (Hrsg.), Private Governance, Democratic Constitutionalism and Supranationalism, 1998, S. 185–191. EuGH, Rs. C-189/91, Kirsammer-Hack, Slg. 1993, I-6185, zur Ausnahme von Kleinstunternehmen vom deutschen allgemeinen Kündigungsschutz, und EuGH, verb. Rs. C-72/91 und C-73/91, Sloman Neptun, Slg. 1993, I-887, zu den Kollisionsregeln des deutschen Flaggenrechtsgesetzes. EuGH, Rs. C-67/96, Albany, Slg. 1999, I-5751. Ebd., Rn. 60. Ebd., Rn. 66.
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erklären, die nur noch Bestand hätten haben können, wenn sie sich ausnahmsweise einmal nicht auf den Gemeinsamen Markt ausgewirkt hätten. Es hätte eine offene Aufkündigung des sozialen Integrationskompromisses bedeutet, die das europäische Integrationsprojekt politisch gesprengt hätte, wenn der Gerichtshof mit dem Tarifvertrag die Grundfeste jeder nationaler Arbeitsverfassung eingerissen hätte. Dogmatisch leitete der Gerichtshof seine Lösung allerdings allein auf Grundlage des Textes des Unionsrechts ab und griff dabei methodisch recht freihändig auf die Leitnormen in Art. 2, Art. 3 lit. j und Art. 136 EG, sowie die Kompetenz- bzw. Aufgabennormen in Art. 137 und Art. 138 EG (damals noch in Gestalt der Vorschriften des Maastrichter Sozialabkommens) zurück.156 Umstrittener als der aus Albany abzuleitende Vorrang mitgliedstaatlichen Tarifrechts vor europäischem Wettbewerbsrecht sind die Lösungen von Konflikten mitgliedstaatlicher Arbeitsverfassung mit europäischem Sekundärrecht insbesondere in Gestalt von Richtlinien. Einen höchst zugespitzten Konflikt dieser Art stellt der Fall Laval dar, in dem ein lettisches Unternehmen von schwedischen Gewerkschaften Ersatz für Schäden als Folge von Arbeitskampfmaßnahmen verlangt.157 Ausschlaggebend für den Ausgang des Verfahrens war nicht zuletzt die Frage, welchen Regelungsgehalt die europäische Entsende-Richtlinie158 entfaltet. Die Richtlinie war auf Grundlage von Art. 55 und 47 Abs. 2 EG (Art. 62 und 53 Abs. 1 AEUV) ergangen, also auf Grundlage der Kompetenz zur Koordinierung der mitgliedstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Erbringung von Dienstleistungen. Die Richtlinie statuierte unter Bezug auf die oben referierte Rechtsprechung beginnend mit Rush Portuguesa eine Pflicht der Mitgliedstaaten, gesetzliche Mindestarbeitsbedingungen generell und allgemeinverbindliche Tarifverträge der Baubranche auf Entsendearbeitsverhältnisse auszudehnen, soweit sie einen Kernbereich von Arbeitsbedingungen betreffen (vgl. Art. 3 Abs. 1 Entsende-Richtlinie). In Laval transformierte der Gerichtshof die Entsende-Richtlinie überraschend in eine Streikrechtsbegrenzungs-Richtlinie. Er sah in ihr eine Vollharmonisierung des mitgliedstaatlichen Rechts grenzüberschreitender Arbeitskämpfe gegenüber fremden Dienstleistern, die den Gewerkschaften nur unter äußerst restriktiven Bedingungen Möglichkeiten zum Arbeitskampf belässt. Die Entscheidung Laval stellt mithin einen eklatanten Bruch mit dem Grundsatz des Schutzes mitgliedstaatlicher Arbeitsverfassung vor europäischem Recht dar, das funktional anderen Zielen und Grundlagen verpflichtet ist. Der politisch-legitimatorische Schaden der Entscheidung ist heute noch nicht abzusehen.159 Jedenfalls
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An dieser Stelle sei die Vermutung notiert, dass die Entscheidung Albany die Auffassung befördert hat, die soziale Dimension Europas ließe sich relevant mithilfe von sozialen Wert-, Ziel- und Aufgabenvorschriften stärken. EuGH, Rs. C-341/05 (Fn. 78). Richtlinie 96/71/EG (Fn. 83). Als geradezu mutwillige Verschärfung der Situation erscheint die nachfolgende Entscheidung EuGH, Rs. C-346/06, Rüffert, Slg. 2008, I-1989, zur Unzulässigkeit von Tariftreuegesetzen.
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aber erscheint es als ein dringendes Desiderat europäischen Verfassungsrechts, der Kompetenzabgrenzung das Primat vor dem technischen Anwendungsvorrang europäischen Rechts einzuräumen, das ihr gerade auch mit Blick auf den sozialen Integrationskompromiss gebührt.160 b) Legislative Kompetenzen für marktfunktionale Harmonisierung Nach der EWG-Arbeitsverfassung sollte materielles europäisches Arbeitsrecht nichts anderes als marktfunktionales Arbeitsrecht sein.161 Wie unter Darlegung der historischen Entwicklung und ihrer polit-ökonomischen Grundlagen gezeigt wurde, kann es auch heute kaum anders sein. Marktfunktionales Arbeitsrecht auf der Basis entsprechender Kompetenzen ist darum als zweite Leistung der EU-Ebene im europäischen Arbeitsverfassungsverbund festzuhalten. Innerhalb dieses Bereiches lassen sich wiederum vier Gruppen einteilen. Die erste Gruppe bilden die arbeitsrechtlichen Teile des europäischen Antidiskriminierungsrechts, die zweite bilden europäische Harmonisierungen arbeitsrechtlicher Normen, die für die Funktionsweise spezifischer Märkte erforderlich sind. Arbeitsschutznormen stehen für die dritte Gruppe, und die vierte besteht aus Normen im Bereich der Arbeitnehmermitbestimmung, die einen notwendigen Annex zum europäischen Unternehmensrecht bilden. aa) Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz Den relativ größten Teil des materiellen europäischen Arbeitsrechts liefert das AntiDiskriminierungsrecht. Die Marktfunktionalität von arbeitsrechtlichem Anti-Diskriminierungsrecht wurde bereits erläutert, soweit es die Entgeltdiskriminierung betrifft: Diskriminierung bedeutet Unterbewertung von Arbeit und liefert damit die Grundlage für einen rein arbeitskostenbasierten, also unfairen Wettbewerbsvorteil. Dieser Gesichtspunkt trägt mithin sämtliche europäische Anti-Diskriminierungsvorschriften,162 soweit sie das Entgelt, die Kosten sozialer Sicherheit und andere kostenrelevante Arbeitsbedingungen betreffen. Gleiches gilt von den Richtlinien zur Teilzeitarbeit und zu befristeten Arbeitsverhältnissen, die ebenfalls eine Unterbewertung der in atypischen Arbeitsverhältnissen erbrachten Arbeitsleistung verhindern sollen. Gegenüber der ursprünglichen EWG-Arbeitsverfassung ist insoweit lediglich der Kreis der verbotenen Diskriminierungsmerkmale erweitert worden.
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Hilfreich wäre in diesem Zusammenhang auch die Rückbesinnung auf die einst behutsamer vorgenommene Justierung der Sperrwirkung von Richtlinienrecht durch den EuGH, vgl. A. Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen, 1994, S. 90 ff. Siehe oben, II. 1. Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2006 L 204, S. 23 (Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen); Richtlinie 2000/78/EG des Rates, ABl. 2000 L 303, S. 16 (Rahmen für die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf); Richtlinie 2000/43/EG des Rates, ABl. 2000 L 180, S. 22 (Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse und der ethnischen Herkunft).
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Unbeschadet dieser Kategorisierung des Anti-Diskriminierungsrechts als marktfunktionales Recht ist allerdings zu gewärtigen, dass das europäische Anti-Diskriminierungsrecht eine weitere auch arbeitsverfassungsrechtlich relevante Funktion erfüllt. Verdichtet gesprochen handelt es sich um ein Instrument gegen eine mitgliedstaatliche und dort oftmals korporatistisch abgesicherte Dominanzkultur,163 die namentlich durch den sozio-kulturellen Vorrang des Nationalen, Weißen und Männlichen gekennzeichnet ist. In dieser Funktion wirkt das Anti-Diskriminierungsrecht, das nur wenige Mitgliedstaaten aus eigener Kraft hätten hervorbringen können, auch zugunsten der Seite der Beschäftigten, indem es nämlich einer Spaltung der Belegschaften entlang der Dominanzkriterien entgegen arbeitet.164 bb) Harmonisierungen für Maschinen, Produktionsstoffe und Anlagen-Märkte Es gibt besondere Märkte, für die arbeitsrechtliche Normen auf andere Weise eine Rahmenbedingung darstellen als im Fall der gewöhnlichen Märkte für Waren und Dienstleistungen. Die wichtigsten Beispiele sind die Märkte für Maschinen und Produktionsstoffe einerseits und für produktive Kapitalanlagen andererseits, das heißt ganze Unternehmen, Betriebsstätten oder abtrennbare Teile davon. Für Betriebsanlagen, Maschinen und Produktionsstoffe relevant sind die Vorschriften des technischen Arbeitsschutzes. Die Einhaltung arbeitsschutzrechtlicher Vorschriften ist zunächst wesentliche Voraussetzung ihrer Marktfähigkeit. Für diese Güter, Maschinen und Produktionsstoffe, ermöglicht darum erst eine europäische Harmonisierung des technischen Arbeitsschutzes echte europäische Märkte.165 Darum ist das Feld des technischen Arbeitsschutzes auf europäischer Ebene entstanden166 und wird bis heute stetig ausgebaut.167 Im Fall der Märkte für produktive Kapitalanlagen spielen diejenigen arbeitsrechtlichen Vorschriften eine Rolle, die im Zusammenhang mit unternehmerischen Umstrukturierungen wie etwa Betriebsänderungen oder Betriebsveräußerungen stehen. Diese Vorschriften fungieren nämlich als Transaktionskosten solcher Umstrukturierungen. Divergieren der soziale Schutz der Beschäftigten und mithin die Transaktionskosten von Mitgliedsstaat zu Mitgliedstaat zu sehr, überlagern die Differenzen diejenigen ökonomischen Gesichtspunkte, die unternehmerisch eigentlich den Ausschlag geben sollten. Dies ist der Hintergrund für die europäischen
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Zum Begriff: B. Rommelspacher, Dominanzkultur, 1998. Diesen Aspekt übersieht auch die im Übrigen eindrucksvolle Kritik der europäischen AntiDiskriminierungspolitik als neoliberal kompatiblen Ersatz für echte Sozialpolitiken von Somek (Fn. 130). Streeck (Fn. 111), S. 383; F. Scharpf, Politische Optionen im vollendeten Binnenmarkt, in: M. Jachtenfuchs/B. Kohler-Koch, Europäische Integration, 2003, S. 219 (230). Wegweisend die nach Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte verabschiedeten Richtlinien 89/391/EWG des Rates, ABl. 1989 L 183, S. 1 (Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit) und 89/392/EWG des Rates, ABl. 1989 L 183, S. 9 (Angleichung der Rechtsvorschriften für Maschinen). Siehe die enzyklopädischen Darstellungen von W. Kothe u.a., in: Oetker/Preis (Fn. 74), B 6100–6400.
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Vorgaben im Recht des Betriebsübergangs, des Massenentlassungsschutzes und des Insolvenzschutzes.168 cc) Harmonisierung des übrigen technischen und des sozialen Arbeitsschutzes Die Bereiche des technischen Arbeitsschutzes, die nicht auf ihre funktionale Relevanz besondere Märkte für Produktstoffe, Anlagen und Maschinen zurückzuführen sind, lassen sich ebenfalls marktfunktional deuten. Sie verhindern Wettbewerbsvorteile auf Grundlage niedriger Arbeitsschutzstandards.169 Anders als im Fall arbeitsvertraglicher Bedingungen lassen sich Arbeitsschutzstandards, in denen es nicht um die Kosten der Arbeitsleistung, sondern um Sicherheit und Gesundheit geht, europäisch einheitlich festlegen. Denn es geht insoweit nicht um den produktivitätsabhängigen Preis der Arbeitsleistung, sondern um den Preis von Produktions- und Dienstleistungsbedingungen. Weiterhin wird man den umfangreichen technischen Arbeitsschutz auf europäischer Ebene als Fall eines echten Überschusses (spillover) europäischer Regulierung ansehen können, insofern eine funktionale Aufteilung der Kompetenzen praktische Schwierigkeiten bringen würde. Zum Bereich des sozialen Arbeitsschutzes zählen vor allem die europäischen Richtlinien zu Arbeitszeit, Mutter- und Jugendschutz.170 Die individuelle vertragliche Arbeitszeit der Beschäftigten ist zwar zunächst einmal eine Teilgröße zur Bestimmung der Arbeitskosten. Insofern erschiene eine europäische Regelung der regelmäßigen betrieblichen Arbeitszeiten auf den ersten Blick ähnlich unplausibel wie eine europäische Regelung des Arbeitsentgeltes insgesamt. Anders steht es jedenfalls mit Höchstarbeitszeiten, sowie mit besonderen Arbeitszeitregelungen für Mütter und Jugendliche, denn exzessive Arbeitszeiten gefährden sowohl die Gesundheit der betroffenen Beschäftigten und in vielen Fällen auch die Sicherheit Dritter. Aber auch größere Differenzen der mitgliedstaatlichen regelmäßigen Arbeitszeiten führen zu Wettbewerbsverzerrungen, auch wenn eigentlich der für die geleistete kürzere oder längere Arbeitszeit gezahlte Lohn entscheidend ist.171 Denn die Lohnfindung orientiert sich zumindest auch an den legitimen Ansprüchen und Bedürfnissen eines Vollzeitbeschäftigten in gewisser Unabhängigkeit davon, wie viele Arbeitsstunden eine Vollzeitbeschäftigung ausmacht. Eine nationale Kultur exzessiv langer Vollzeitarbeitszeiten beinhaltet darum einen unfairen Wettbewerbs-
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Richtlinie 2001/23/EG des Rates, ABl. 2001 L 82, S. 16 (Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Betriebsübergang); Richtlinie 98/59/EG des Rates, ABl. 1998 L 225, S. 16 (Angleichung der Rechtsvorschriften über Massenentlassung); Richtlinie 80/987/EWG des Rates, ABl. 1980 L 283, S. 23 (Schutz der Arbeitnehmer bei Insolvenz des Arbeitgebers). Krimphove (Fn. 59), Rn. 517. Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2003 L 299, S. 9 (Arbeitszeitgestaltung); Richtlinie 92/85/EWG des Rates, ABl. 1992 L 348, S. 1 (Mutterschutz); Richtlinie 94/33/EG des Rates, ABl. 1994 L 216, S. 12 (Jugendarbeitsschutz). Dies macht auch die im Ohlin-Bericht empfohlene Aufnahme des Art. 120 in den EWG-Vertrag (heute Art. 142 EG, Art. 158 AEUV) verständlich, demzufolge die Mitgliedstaaten bestrebt seien, die Gleichwertigkeit der Ordnungen über die bezahlte Freizeit beizubehalten.
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vorteil, der wie im Fall der Diskriminierung letztlich auf unterbewerteter Arbeit beruht.172 dd) Arbeitsrechtlicher Annex europäischen Gesellschaftsrechts Das vierte Feld bildet die unternehmerische Mitbestimmung als kollektiv-arbeitsrechtlicher Annex des europäischen Gesellschaftsrechts. Ohne eine europäische Regelung der unternehmerischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer wäre eine Gesetzgebung zu originär europäischen Unternehmensformstatuten, namentlich in Gestalt der Europäischen Gesellschaft (SE) und der Europäischen Genossenschaft (SCE), politisch nicht möglich gewesen.173 Es ist allerdings bezeichnend, dass sich der europäische Gesetzgeber bei diesen Regelungen nicht auf echte materielle Vorgaben verständigen konnte. Hiergegen stand erneut die Disparität der tradierten arbeitsverfassungsrechtlichen Regelungsbestände der Mitgliedstaaten gerade im Bereich der unternehmerischen Mitbestimmung. Vor diesem Hintergrund durchaus findig wurde die Idee einer „verhandelten Mitbestimmung“ entwickelt.174 Verhandelte Mitbestimmung ist dadurch gekennzeichnet, dass das Recht selbst keine materiellen Mitbestimmungsregeln enthält, sondern sich beschränkt auf Vorgaben zum Verhandlungsverfahren und zum Mindestinhalt, und zur Konstitution von Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer eine Auffangregelung und, für Fälle von Umwandlungen und Verschmelzungen, Verschlechterungsverbote festlegt. Dies sind also die vier Gruppen, in die sich das marktfunktionale materielle Arbeitsrecht einteilen lässt, das im europäischen Arbeitsverfassungsverbund die EUEbene zu liefern hat. Wie eben vorgeführt ist es gerade diese Konzeption und nicht die einer sozialen Union mit integrierter Arbeitsverfassung „im Werden“, welche die Existenz und den Gehalt fast sämtlicher arbeitsrechtlicher Gesetzgebung der EU verständlich macht. Die positive Bestätigung jener Vorstellung, die bereits für den Verweis in Art. 117 EWG-Vertrag auf die marktfunktonale Rechtsharmonisierung nach Art. 100 EWG-Vertrag tragend war, hat mithin einen guten Sinn in der Rekonstruktion der Funktionen der EU-Ebene im europäischen Arbeitsverfassungsverbund.
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Allerdings ist der marktfunktionale Zusammenhang von allgemeinen und besonderen Höchstarbeitszeiten weniger zwingend als in den zuvor erörterten Fällen. Insofern ist es bezeichnend, dass die Richtlinien zur Arbeitszeitgestaltung (ursprünglich als Richtlinie 93/ 104/EG des Rates, ABl. 1993 L 307, S. 18), zum Mutterschutz und zum Jugendarbeitsschutz sämtlich in der einmaligen dynamischen Phase im Anschluss an die Verabschiedung der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte und im zeitlichen Umfeld des Vertrages von Maastricht (dazu oben 1. c)) verabschiedet wurden. Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates, ABl. 2001 L 294, S. 1 (Europäische Gesellschaft SE) mit Richtlinie 2001/86/EG des Rates, ABl. 2001 L 294, S. 22 (Beteiligung der Arbeitnehmer SE); Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates, ABl. 2003 L 207, S. 1 (Europäische Genossenschaft SCE) mit Richtlinie 2003/72/EG des Rates, ABl. 2003 L 207, S. 25 (Beteiligung der Arbeitnehmer SCE). T. Blanke, Dynamik und Konturen des europäischen Sozialmodells, NZA 2006, S. 1304 (1306).
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c) Transnationalisierung arbeitsverfassungsrechtlicher Rechte Die normativen Effekte der Rechte der europäischen Grundrechte-Charta dürfen nicht überschätzt werden.175 Für die gesellschaftliche Sphäre abhängiger Arbeit bleiben darum die auf mitgliedstaatlicher Ebene eröffneten arbeitsverfassungsrechtlichen Rechte maßgeblich. Doch diese Rechte sind eben für den nationalen Kontext entworfen. Sie konstituieren ein System nationaler Arbeitsbeziehungen und sind nicht ausgelegt, als Rahmen für grenzüberschreitende Arbeitsbeziehungen zu dienen. Nun hat die europäische Marktintegration die grenzüberschreitende unternehmerische Orientierung gewissermaßen zum Programm gemacht. Wenn nun das europäische Recht im Einklang mit dem sozialen Integrationskompromiss mit Blick auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nicht unmittelbar parteiisch auftreten will, muss es einen Ausgleich für die Europäisierung des unternehmerischen Bewegungsradius schaffen.176 Da dieser Ausgleich gerade nicht in einem einheitlichen System europäischer Arbeitsbeziehungen liegen kann, bleibt nur die Alternative, in die mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen eine transnationale Dimension innerhalb europäischer Grenzen einzutragen. Die Transnationalisierung zielt dabei vor allem auf die grundlegenden Rechte mitgliedstaatlicher Arbeitsverfassung, also individuelle Berufsfreiheit, kollektive Mitwirkung in Betrieb und Unternehmen, sowie Tarifautonomie samt Arbeitskampfrecht. Soweit die mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen dazu nicht allein in der Lage sind, muss diese Leistung im europäischen Arbeitsverbund von Seiten der übergeordneten unionalen Ebene erbracht werden. Im Folgenden sind darum die für diese Transnationalisierung einschlägigen europäischen Rechte und zugehörigen Kompetenzen zu ihrer Artikulation zu entfalten. aa) Transnationale Berufsfreiheit Während sich das Erfordernis einer Transnationalisierung der kollektiven Rechte leicht als Gegengewicht zur europäischen Reichweite unternehmerischer Möglichkeiten begreifen lässt, erfordert die systematische Einbeziehung der Transnationalisierung der Berufsfreiheit eine zusätzliche Erläuterung. Denn historisch ist sie als Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 48 EWG-Vertrag) gestartet, der die Intention unterlag, durch die grenzüberschreitende Einsatzmöglichkeit die Effizienz des Faktors Arbeit insgesamt zu steigern. Gleichwohl dient die Transnationalisierung individueller Berufsfreiheit zugleich dazu, eine einheitliche und also nicht intern gespaltene Gruppe der europäischen Beschäftigten zu konstituieren. Da dies nach allem bisher Gesagten nicht durch die Verleihung materieller europäischer Rechte ge175
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Siehe oben, III. 2. Die europäischen Gewerkschaften scheinen diese Einsicht inzwischen zu teilen und setzen sich darum seit Neuestem für ein neues vertragsergänzendes Sozialprotokoll ein, in dem unter anderem der Vorrang der sozialen Rechte vor den Grundfreiheiten festgeschrieben werden soll. Selbst die mittelfristigen Aussichten dieses Vorhabens erscheinen jedoch – vorsichtig formuliert – recht ungewiss. In dieser Zuspitzung auch F. W. Wedderburn, European Community Law and Workers’ Rights After 1992, in: ders., Labour Law and Freedom, 1995, S. 247 (249).
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schehen kann, muss jede mitgliedstaatliche Arbeitsverfassung jene Einheit für sich abbilden. Dies geschieht, indem das mitgliedstaatliche Recht kraft europäischen Gebotes die nach eigenem Recht bestehende Berufsfreiheit auf potenziell alle europäischen Beschäftigten ausdehnen muss. Im Normalfall wird Berufsfreiheit als Recht zur Berufsausübung in abhängiger Beschäftigung innerhalb der eigenen staatlichen Grenzen nur den eigenen Staatsangehörigen gewährt.177 Dem fremden Staatsangehörigen wird Einlass allenfalls nach politischem Ermessen gewährt. Innerhalb der Union jedoch wurde die Berufsfreiheit mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit innereuropäisch transnationalisiert. Als europäische Bürger sind alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten berechtigt, überall im Unionsgebiet abhängig beschäftigt zu arbeiten. In Verbindung mit dem umfassenden in die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschriebenen Diskriminierungsverbot (Art. 39 Abs. 2 EG) kommen die Beschäftigten damit zugleich in den Genuss all derjenigen Rechte, die der jeweilige Mitgliedstaat im individuellen Arbeitsverhältnis intern garantiert. Für diese bereits primärrechtlich garantierte Transnationalisierung der Berufsfreiheit bestehen auch legislative Kompetenzen der EU-Ebene (Art. 40 EG, Art. 46 AEUV). Auf dieser Grundlage wurde namentlich die Freizügigkeitsverordnung Nr. 1612/68 verabschiedet,178 deren für den hiesigen Zusammenhang wichtigste Vorschriften Art. 7, 8 die Gleichbehandlung mit Inländern sowohl für die Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen als auch für die individuellen gewerkschaftlichen Rechte verlangen. bb) Transnationale Mitwirkungsrechte Das geltende Verfassungsrecht der Verträge enthält keine Norm, die für kollektive Mitwirkungsrechte eine vergleichbare Leistung erbringen würde wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die Berufsfreiheit. Insofern hat die Transnationalisierung der Mitwirkungsrechte noch keine echte Konstitutionalisierung erfahren.179 Darum richtet sich der Blick sogleich auf die europäischen Kompetenzen zu legislativer Regelung, denn aufgrund seines Vorrangs auch vor nationalem Verfassungsrecht kann auch einfaches europäisches Gesetzesrecht Äquivalentes leisten. Wie bereits referiert ist es insoweit aber auch um die Kompetenzen der Union schmal bestellt. Eine Kompetenz, die im vergleichsweise dynamischen normalen Rechtssetzungsverfahren ausgeübt werden kann, besteht lediglich für die generelle Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer (Art. 137 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 lit. e EG), die natürlich auch die Regelung transnationaler Anhörungsrechte einschließt. Für die für das Kräfteverhältnis weitaus relevantere (transnationale) unternehmerische und betriebliche Mitbestimmung besteht zwar auch noch eine legislative Kompetenz, 177 178 179
Vgl. Art. 12 Abs. 1 GG. Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates (Fn. 32). Art. 27 GR-Charta kann aufgrund der vorrangigen Kompetenzordnung keine große Kraft entfalten; daneben ist das in der Charta versprochene Recht auf rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung nicht besonders stark. Anders bei Art. 28 GR-Charta, zu dessen Potential darum sogleich, cc).
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doch erfordert ihre Ausübung Einstimmigkeit im Rat (Art. 137 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 lit. f EG). Dementsprechend sind die Ergebnisse der bisherigen Gesetzgebung bescheiden geblieben. Jenseits der schon genannten Vorschriften zur Beteiligung der Beschäftigten in originär europäischen Gesellschaften wurden die Richtlinien über die Einsetzung eines europäischen Betriebsrates180 und die Richtlinie über die grenzüberschreitende Verschmelzung181 verabschiedet. Ebenso wie im Recht der originäreuropäischen Gesellschaftsformen konnte der Gesetzgeber keine andere Lösung finden als die der verhandelten Mitbestimmung, in dem die Verhandlungsmacht der Seite der Beschäftigten durch eine Auffanglösung konstituiert wird, die zur Geltung kommt, wenn kein Verhandlungsergebnis erzielt wird. Diese Auffanglösung wird im Fall grenzüberschreitender Verschmelzungen durch das stärkste involvierte mitgliedstaatliche Mitbestimmungsrecht gestellt,182 im Fall der Europäischen Betriebsräte aber durch das Recht des Staates mit Sitz der zentralen Leitung, das wiederum ein vom europäischen Gesetzgeber bestimmtes materielles Auffangniveau nicht unterschreiten darf.183 In beiden Richtlinien verwirklichen also die verhandlungsdispositiven Auffangregelungen eine Transnationalisierung mitgliedstaatlicher Rechte, wie sie soeben als kennzeichnend für den europäischen Arbeitsverfassungsverbund expliziert wurden: Es ist nicht die EU-Ebene, sondern ein mitgliedstaatliches Recht, das die für transnationale kollektive Arbeitsbeziehungen in Betrieb und Unternehmen maßgeblichen Rechte bereitstellt. Die EU-Ebene sorgt lediglich für eine entsprechende rechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten. Was die Europäischen Betriebsräte anbelangt, bleibt allerdings ein Problem mit Blick auf den Gehalt der Auffanglösung bestehen. Das mitgliedstaatliche Recht dehnt dort nämlich nicht die im internen Kontext geltenden Rechtspositionen auf den transnationalen Kontext aus, sondern schafft besondere Normen, die sich nach einem wiederum von EU-Ebene vorgegebenen Minimalstandard richten.184 Dieser europäische Standard repräsentiert zwar nicht ganz den kleinsten gemeinsamen Nenner, aber er siedelt doch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau.185 Darum muss die Verhandlungsposition der Beschäftigten durch einen anderen Mechanismus gestärkt werden, und zwar indem Vereinbarungen zu Europäischen Betriebsräten zum Gegenstand grenzüberschreitender Arbeitskämpfe werden können. Der abschließend zu erörternden 180 181 182 183 184
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Richtlinie 94/45/EG des Rates, ABl. 1994 L 254, S. 64 (Europäische Betriebsräte). Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2005 L 310, S. 1, Art. 16 (Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten). Art. 16 Richtlinie 2005/56/EG (Fn. 181). Art. 7 Richtlinie 94/45/EG (Fn. 180). Richtlinie 94/45/EG (Fn. 180), Anhang: Subsidiäre Vorschriften nach Artikel 7. Die mitgliedstaatliche Umsetzung könnte darüber hinausgehen, aber dies ist nur in unwesentlichen Aspekten geschehen. Übersicht bei Europäischer Gewerkschaftsbund (Hrsg.), Die Umsetzung der EBR-Richtlinie in nationales Recht, 1998 (Tabellarische Übersicht Nr. 8 bis Nr. 14). A. Höland, Mitbestimmung in Europa, 2000, S. 135.
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Transnationalisierung der Tarifautonomie im europäischen Arbeitsverfassungsverbund kommt darum eine überragende Bedeutung zu. cc) Transnationale Tarifautonomie Die Verträge selbst bieten einer Transnationalisierung der Tarifautonomie keine Grundlage. Zwar wird das Recht der Sozialpartner anerkannt, untereinander vertragliche Beziehungen herzustellen und autonom durchzuführen (Art. 139 Abs. 1, 2 1. Alt. EG), und einige rechtswissenschaftliche Aufmerksamkeit richtet sich daher auf die Frage, ob diese Beziehungen europäische Tarifverträge darstellen könnten.186 Die Frage nach einer über Art. 139 EG statuierten europäischen Tarifvertragsautonomie ist jedoch für sich allein genommen nicht von allzu hoher praktischer Relevanz, solange die arbeitskampfrechtliche Seite ungelöst bleibt.187 Freiwillig wird auf lange Sicht eine europäische Arbeitgebervereinigung weder eine europäische Tarifvertragsordnung noch einen europäischen Tarifvertrag abschließen.188 Tarifvertragsfreiheit und Arbeitskampfrecht bilden eine Einheit, erstere ohne letztere ist in Bezug auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ohne Belang.189 Auf dem Vermögen zum Arbeitskampf basiert die Verhandlungsmacht der Beschäftigten und damit auch die Möglichkeit, überhaupt zu transnationalen Tarifvereinbarungen zu kommen. Eine legislative Kompetenz der Union für eine innereuropäische Transnationalisierung der Tarifautonomie unter Einschluss von Koalitions-, Tarifvertrags-190 und Arbeitskampfrecht aber ist für die Union nach geltendem Verfassungsrecht 186
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Ein innovativer Vorschlag besagt, dass die europäischen Sozialpartner über die normative Wirkung europäischer Tarifverträge durch Vereinbarung einer europäischen Tarifvertragsordnung selbst entscheiden könnten, D. Schiek, in: W. Däubler, Tarifvertragsgesetz, 2006, Einleitung Rn. 790 ff.; Krimphove (Fn. 59), Rn. 604. Näher am Vertragstext und darum überzeugender ist die Position, die Rechtswirkungen eines europäischen Tarifvertrages bestimmten sich nach nationalem Tarifrecht und fielen insoweit von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich aus (Lehre vom parallelen Wirkungsstatut): O. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, 1999. Dazu oben in Fn. 59. Die bisher unter Art. 139 EG zustande gekommenen autonomen Vereinbarungen der Sozialpartner bestätigen dies eindrucksvoll. Es handelt sich um drei „Rahmenvereinbarungen“, zu Telearbeit (2002), arbeitsbezogenem Stress (2004) sowie Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz (2007), und zwei „Handlungsrahmen“ zur lebenslangen Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen (2002) und zur Gleichstellung der Geschlechter (2005). Sie sind nicht einmal ihrem äußeren Anschein nach rechtsnormativ gedacht und auch die förmliche Kontrolle ihrer Umsetzung zeigt keine Anzeichen, dass es sich hierbei um rechtliche Verpflichtungen im statu nascendi handeln soll. BAG, 1 AZR 822/79, NJW 1980, S. 1642. Dies ist streitig. Dafür (und richtig): U. Preis/M. Gotthardt, in: Oetker/Preis (Fn. 74), B 1100, Rn. 43. A.A. Langenfeld/Benecke (Fn. 77), Art. 137 EG, Rn. 97; Rebhahn (Fn. 77) Art. 137, Rn. 19; E. Högl, in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2003, Art. 137 EG, Rn. 43. Neben dem engen Sachzusammenhang der drei Felder besteht die größte Schwierigkeit für die Gegenansicht darin, dass Mindestvorschriften – zu denen Art. 137 Abs. 2 lit. b EG allein ermächtigt (zu recht betont etwa bei Langenfeld/Benecke (Fn. 77), Art. 137 EG, Rn. 7) – für die Rechtswirkungen von Kollektivvereinbarungen kaum konzipierbar sein dürften.
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ausgeschlossen.191 Eine europäische Tarifvertrags- und Arbeitskampfordnung kann darum auch nicht aufgrund europäischer Gesetzgebung entstehen. Das bedeutet nichts anderes, als dass die mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen diejenigen Normen entwickeln müssen, die innereuropäischen transnationalen Arbeitskämpfen und transnationalen Tarifverträgen einen rechtlichen Rahmen eröffnen. Im europäischen Arbeitsverfassungsverbund müssen grenzüberschreitende Arbeitskämpfe um transnationale Tarifverträge nach mitgliedstaatlichem Recht grundsätzlich zulässig sein, und europäische Tarifverträge müssen als solche rechtliche Anerkennung finden. Dabei wird es nahe liegen, transnationale kollektive Arbeitsbeziehungen so weit wie möglich den internen gleichzustellen.192 Denn anders als im Bereich der kollektiven Mitwirkungsrechte werden europäische Vorgaben, die zu einem besonderen mitgliedstaatlichen Recht der transnationalen Arbeitsbeziehungen führen könnten, aufgrund fehlender EU-Kompetenzen ausbleiben. Letztlich dürften transnationale Arbeitskämpfe dann keinen strengeren Anforderungen unterliegen als interne Arbeitskämpfe, europäischen Tarifverträgen müsste dieselbe Rechtswirkung zukommen wie internen Tarifverträgen. Die verfassungsrechtliche Anknüpfung der Transnationalisierung mitgliedstaatlicher Tarifautonomie findet sich in Art. 28 GR-Charta.193 Dieser garantiert das Recht, „auf den geeigneten Ebenen“ Tarifverträge auszuhandeln. Mit Blick auf die Funktion kollektiver Arbeitsbeziehungen wird man nicht behaupten können, dass die transnationale keine geeignete Ebene darstellt. Das Recht Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen, wird sogar bewusst ohne diese etwaige Einschränkung gewährt. Isoliert betrachtet verlangt Art. 28 GR-Charta also, einen rechtlichen Rahmen für europäische Arbeitskämpfe und Tarifverträge bereitzustellen. Solange die europäische Ebene aufgrund fehlender Kompetenz, jedenfalls aber aufgrund fehlender Kompetenzwahrnehmung ausscheidet, muss die Transnationalisierung der Tarifautonomie eine Leistung der mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen sein.194 Mitgliedstaatliches Recht, das grenzüberschreitende Arbeitskämpfe und Tarifverträge ausschlösse oder unverhältnismäßigen beschränkte (Art. 52 GR-Charta), stellt darum im Ergebnis einen Verstoß gegen Art. 28 GR-Charta dar. Noch zu klären bleibt, inwieweit in Rechtsstreitigkeiten um transnationale Arbeitskämpfe oder Tarifverträge der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist, so dass Art. 28 GR-Charta rechtlich zum Tragen kommt. Die Lösung dürfte in einer Analogie zur Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft195 liegen: 191 192 193 194
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Siehe oben, III. 1. c). Für das Tarifvertragsrecht zuerst entwickelt von Deinert (Fn. 186). Rixen (Fn. 64), Art. 28, Rn. 14 a.E.; Fuchs, in: Fuchs/Marhold (Fn. 59), S. 152, 158. Diese Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassung für die Artikulation transnationaler Tarifautonomie wird von den Erläuterungen des Präsidiums des Chartakonvents bestätigt, denen zufolge die Modalitäten und Grenzen grenzüberschreitender Kollektivmaßnahmen durch mitgliedstaatliches Recht zu bestimmen ist. CHARTE 4473/00 CONVENT 49, S. 27, unter www.europarl.europa.eu/charter/pdf/04473_de.pdf (29.07.2008). EuGH, Rs. C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691, und Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193.
Arbeitsverfassung
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Soweit das europäische Verfassungsrecht grundrechtliche Positionen enthält, die auf nationaler Ebene keine Entsprechung haben können, eröffnet deren Verletzung schon für sich den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Das gilt für die Unionsbürgerschaft ebenso wie für die Garantie einer die mitgliedstaatlichen Grenzen überschreitenden unionsweiten Tarifautonomie.
V. Schluss Das europäische Integrationsprojekt basiert auf einem sozialen Integrationskompromiss, dessen Erneuerung heute im Interesse der gesellschaftlichen Akzeptanz und damit des künftigen Fortschritts der Integration dringend geboten erscheint. Nach der vorstehend entfalteten Rekonstruktion dieses Kompromisses unter heutigen Bedingungen besteht die EU-Arbeitsverfassung aus drei Elementen: verfassungsrechtliche Figuren zur Stützung der Autonomie der mitgliedstaatlichen Arbeitsverfassungen, legislative Kompetenzen zur harmonisierenden arbeitsrechtlichen Regulierung im Fall von arbeitskosteninduzierten Wettbewerbsverzerrungen, sowie Transnationalisierungen der grundlegenden arbeitsverfassungsrechtlichen Rechte der Beschäftigten. Die präzise Bestimmung der Form der EU-Arbeitsverfassung als verfassungsrechtliche Institutionalisierung des sozialen Integrationskompromisses verwirklicht indes die systemische Funktion des modernen Arbeitsrechts im transnationalen Kontext. Arbeitsrecht soll den unfairen und unsozialen Wettbewerb um niedrige Arbeitskosten so weit wie möglich eindämmen, um fairen und produktiven Wettbewerb in allen anderen Feldern, um Ideen, Technik und Organisation, nicht zu stören. Bei identischer Funktion ändert sich jedoch die Form des Arbeitsrechts je nach dem, ob es um Wettbewerb zwischen Unternehmen in ein- und derselben Volkswirtschaft oder in verschiedenen Volkswirtschaften geht, also je nach dem, ob internes oder supranationales Arbeitsrecht in Rede steht. Im ersten Fall sorgt internes Arbeitsrecht für einheitliche allgemeine oder branchenspezifische Mindestarbeitsbedingungen. Im zweiten Fall geht es darum, über supranationales Arbeitsrecht wettbewerbsbezogene Abwertungen der bestehenden internen Mindestarbeitsbedingungen zu hindern. Das absolute Niveau der Löhne und Arbeitsbedingungen bleibt dabei eine Frage der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, deren rechtlicher Rahmen auch in der supranationalen Union weiterhin primär auf nationaler Ebene konstituiert wird und die durch das Verfassungsrecht der Union nicht parteilich verschoben werden dürfen. Der europäische Arbeitsverfassungsverbund konstituiert im Zusammenwirken der mitgliedstaatlichen und der unionalen Ebene einen europäischen gesellschaftlichen Raum abhängiger Arbeit, indem er die national-volkswirtschaftliche Fragmentierung des europäischen Marktes reflektiert, aber es dieser Fragmentierung doch nicht erlaubt, die in jenen Raum eingelassenen gesellschaftlichen Widersprüche zu überschreiben. In künftigen Auseinandersetzungen um die Form der europäischen Arbeitsverfassung wird es darum gehen, das irreführende Leitbild einer der nationalen Arbeitsverfassung nachgebildeten EU-Arbeitsverfassung fallen zu
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lassen, welches sich über eine lange Periode im Streit für soziale Rechte und Leitnormen auf europäischer Ebene niedergeschlagen hat. Wem an einer Stärkung der sozialen Dimension der europäischen Integration gelegen ist, wird statt dessen umso entschiedener auf denjenigen Leistungen zu bestehen haben, die die Arbeitsverfassung der EU als Teil des europäischen Arbeitsverfassungsverbunds tatsächlich erbringen kann. Diese Aufgabe ist intellektuell und praktisch anspruchsvoll genug.
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I. Einführung: Zwischen Reformvertrag und Ökonomisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905 II. Die Auswirkungen des Lissabonner Reformvertrages auf das Wettbewerbsrecht . . 908 1. Der Schutz des unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt – noch ein Ziel des Unionsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908 2. Die Verschiebung der Systemgarantie der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ im Lissabonner Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 916 III. Die Ökonomisierung des Wettbewerbsrechts als Antwort auf ein Rechtsanwendungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 918 1. Historische Entwicklung und Charakterisierung des more economic approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 2. Mangelnde Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933 3. Erforderlichkeit von Prognoseentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935 4. Anmaßung von Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 5. Missachtung der institutionellen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939 6. Plädoyer für einen „even more economic approach“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 940 IV. Die Ziele des Kartellrechts aus ökonomischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 940 1. Verbraucherwohlfahrt als Ziel des europäischen Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . 941 2. Der consumer surplus standard im europäischen Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . 943 3. Das Vorliegen eines Verbrauchernachteils als Voraussetzung der Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 948 4. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 951 V. Die Ökonomisierung im Lichte eigener Ziele der europäischen Verfassungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 952 1. Das grundrechtliche Freiheitsparadigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953 2. Das gemeinschaftsrechtliche Ziel wirtschaftlicher Integration . . . . . . . . . . . . . . 955 VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 956
I. Einführung: Zwischen Reformvertrag und Ökonomisierung Fünfzig Jahre nach dem Inkrafttreten der Römischen Verträge bestünde hinreichend Anlass, auf die unbestreitbare Erfolgsgeschichte des Europäischen Wettbewerbsrechts zurückzublicken.1 Anstatt Feierlaune ist freilich bei vielen Wettbe1
Zur Entwicklung des Wettbewerbsrechts nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa siehe vor allem D. J. Gerber, Law and Competition in Twentieth Century Europe, 1998; zur Geschichte des europäischen Wettbewerbsrechts seit 1958 siehe A. Weitbrecht, From Freiburg to Chicago and Beyond, European Competition Law Review 29 (2008), S. 81.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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werbsrechtlern – nicht zuletzt in Deutschland – Ernüchterung und Unsicherheit über die Zukunft eingetreten. Dies liegt vor allem an zwei Entwicklungen: Zum einen nimmt der Lissabonner Reformvertrag den Schutz des unverfälschten Wettbewerbs – bislang Art. 3 Abs. 1 lit. g EG – aus dem Zielkatalog des neuen Unionsrechts heraus und erwähnt ihn nur noch in einem Protokoll.2 Zum anderen ist unter dem Stichwort des „neuen ökonomischen Ansatzes“ (more economic approach) eine Neuausrichtung der europäischen Wettbewerbspolitik zur Kenntnis zu nehmen.3 Im Lichte dieser Entwicklungen stellt sich die Frage nach der europäischen Wettbewerbsverfassung in ganz neuem Licht. Aus Verfassungsperspektive ist eine Analyse der genannten beiden Entwicklungen auch vor allem deshalb interessant, weil sich insgesamt drei Strömungen unterscheiden lassen, denen ein unterschiedliches Verständnis von der Rolle des Staates im Verhältnis zur Wirtschaft zugrunde liegt und die sich – zugegebenermaßen in gewisser Vergröberung – bestimmten nationalstaatlichen Traditionen innerhalb der EU zuordnen lassen: An erster Stelle zu nennen ist der ordoliberale Ansatz deutscher Prägung. Für ihn charakteristisch ist das Ziel des Schutzes der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit aller Marktbeteiligten und der Freiheit des Wettbewerbs. Ihm geht es also nicht zentral um den Schutz der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit der Unternehmen gegen obrigkeitsstaatliche Eingriffe der Kartellbehörden,4 sondern gerade im Gegenteil um die Begründung der Notwendigkeit des Eingriffs. Der staatliche Wettbewerbsschutz reagiert im Ordoliberalismus auf ein Freiheitsparadox im Sinne Karl Poppers.5 Wer dem Wettbewerbsbeschränker alle Freiheit belässt, gefährdet die
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Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, abgedruckt in ABl. 2008 C 115, S. 309. Aus dem reichen Schrifttum siehe etwa D. Hildebrand, Der „more economic approach“ in der Wettbewerbspolitik, Wirtschaft und Wettbewerb 2005, S. 513; U. Immenga, Ökonomie und Recht in der europäischen Wettbewerbspolitik, Zeitschrift für Wettbewerbsrecht 2006, S. 346; R. Kovar, La transformation du droit de la concurrence par le recours à l’analyse économique, 2007; A. Pera, Changing Views of Competition, Economic Analysis and EC Antitrust Law, European Competition Journal 4 (2008), S. 127; D. Schmidtchen, Der „more economic approach“ in der Wettbewerbspolitik, Wirtschaft und Wettbewerb 2006, S. 6. Zu den Auswirkungen auf das deutsche Kartellrecht siehe J. Drexl, Europäisierung und Ökonomisierung des deutschen Kartellrechts, in: K. J. Hopt/D. Tzouganatos (Hrsg.), Europäisierung des Handels- und Wirtschaftsrechts, 2006, S. 223. Siehe generell auch W. Kerber/ U. Schwalbe, Ökonomische Grundlagen des Wettbewerbsrechts, in: G. Hirsch u.a. (Hrsg), Münchner Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), Bd. I, 2007, Einl. H. Diese Ausprägung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit wird auch von Ökonomen anerkannt, siehe M. Hellwig, Wirtschaftspolitik als Rechtsanwendung, Preprint of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods, Bonn 2007/19, S. 33, unter www.coll.mpg.de/pdf_dat/2007_19online.pdf (6.06.2008). Zur zentralen Bedeutung des Freiheitsparadoxons im Sinne Poppers für die ordoliberale Freiburger Schule siehe W. Fikentscher, Die Freiheit und ihr Paradox, 1997, S. 25 f.
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Freiheit der anderen Marktteilnehmer.6 Wer umgekehrt die Freiheit aller Marktteilnehmer optimieren möchte, muss die Aufhebung der Freiheit durch sich selbst verhindern. Wer heute zumal auf europäischer Ebene auf die Sicherung wirtschaftlicher Handlungsfreiheit als Ziel des Wettbewerbsrechts verweist, handelt sich schnell den Vorwurf des Ewiggestrigen ein. Kritiker des ordoliberalen Ansatzes finden ihr eigenes Paradigma in der ökonomischen Theorie. Die Industrieökonomik, die als eine Disziplin der Volkswirtschaftslehre die Wettbewerbspolitik dominiert, orientiert sich dazu am Ziel der ökonomischen Effizienz und der Verbraucherwohlfahrt (consumer welfare). Der Diskurs zur Ökonomisierung des Kartellrechts auf europäischer Ebene ist angelsächsisch geprägt, was sich nicht notwendig aus der nationalen Herkunft der Proponenten der Ökonomisierung, sondern eher aus ihrer spezifisch ökonomischen Sozialisierung mit Wurzeln vor allem in den USA ergibt.7 In diese Zeit des „ökonomischen“ Umbruchs des europäischen Kartellrechts fällt die Verbannung des Wettbewerbsziels aus dem Zielkatalog des Unionsrechts. Diese Änderung in den normativen Grundlagen geht zurück auf die Initiative des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy.8 Im Raume steht der Vorwurf, Frankreich komme es darauf an, sein eigenes Verständnis des dirigistischen Staates durchzusetzen. Dieses französische Verständnis von der Rolle des Staates gegenüber der Wirtschaft9 muss auf Widerspruch sowohl der Ordoliberalen als auch der Vertreter der Ökonomisierung des Kartellrechts stoßen. Beiden ist es ein Anliegen, der Wettbewerbspolitik jeden Spielraum für staatliche Willkür zu nehmen, wobei sich die Ordoliberalen stärker auf die Rationalität des Rechts und die Vertreter der Ökonomisierung auf die Überzeugungskraft des ökonomischen Arguments im Lichte des Effizienzziels stützen. Im Folgenden soll zunächst versucht werden, die Auswirkungen der Änderungen infolge des Lissabonner Reformvertrages, unter besonderer Berücksichtigung der Herausnahme des Wettbewerbsziels aus dem Zielkatalog des Gemeinschaftsrechts auszuleuchten (II.). Indem die Neuregelung das Ziel des unverfälschten Wettbewerbs tendenziell schwächt, schafft sie Raum für eine Neubestimmung der 6
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Anschaulich machen lässt sich dies an einer Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1897 (RGZ 38, 155). Das Gericht gab der Klage auf Einhaltung einer Preisabsprache statt, indem es der Geltung des Vereinbarten – und damit der Privatautonomie der Vertragsparteien – höhere Bedeutung beimaß als der Erhaltung des Wettbewerbs. Die Grenze sei erst dort erreicht, wo der Wettbewerb zur Gänze oder doch in gewisse Richtungen für immer vernichtet werde (ebd., S. 158 f.). Manche sprechen deshalb bei der Ökonomisierung gar von einer Amerikanisierung; siehe Weitbrecht (Fn. 1), S. 85. Siehe dazu A. Graupner, A Question of Protocol – Competition and the June 2007 European Council, Competition Law Insight, July 2007, S. 3 (4). Tatsächlich sind industriepolitische Tendenzen, etwa in Form von Versuchen, im Widerspruch zum Wettbewerbsgedanken nationale Champions aufzubauen, mehr oder weniger stark in allen Mitgliedstaaten anzutreffen. Zur Problemlage in Deutschland siehe nur: Monopolkommission, Wettbewerbspolitik im Schatten „Nationaler Champions“, Hauptgutachten XV für den Berichtszeitraum 2002/2003, BT-Drs. 15/3610, 2004.
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Ziele des europäischen Wettbewerbsrechts. Hierzu können dann auch solche Ziele gehören, die heute von der ökonomischen Lehre vertreten werden, also insbesondere die Förderung der Verbraucherwohlfahrt und der ökonomischen Effizienz. Sodann ist aus einer wirtschaftsverfassungsrechtlichen Sicht der Prozess der Ökonomisierung zu analysieren. Der more economic approach reagiert zunächst auf ein „Anwendungsproblem“ (III.). Er soll erklärtermaßen keine Änderung des materiellen Rechts bewirken, sondern lediglich die Anwendungsergebnisse verbessern. Freilich muss auch gesehen werden, dass das ökonomische Argument nicht ohne eine Festlegung auf die Ziele der Wettbewerbspolitik auskommt (IV.). Solche Ziele werden von der ökonomischen Theorie aus sich heraus durchaus vorgeschlagen, nämlich in Form des Effizienzkriteriums und der Verbraucherwohlfahrt. Solche Ziele bedürfen aber der normativen Begründung, um die Auslegung der Bestimmungen des europäischen Rechts lenken zu können. Spätestens hier wird die Ökonomisierung zum verfassungsrechtlichen Thema. Abschließend wird zu klären sein, in welchem Verhältnis die Ziele der europäischen Verfassungsordnung, nämlich das Freiheitspostulat und das Integrationsziel, die die Entwicklung des europäischen Wettbewerbsrechts wesentlich geprägt haben, zur Ökonomisierung des Kartellrechts stehen (V.). Aufgabe der nachfolgenden Darstellung ist es nicht, die Ökonomisierung abzuwehren, sondern im Gegenteil sie unter Anerkennung der Leistungsfähigkeit und der Grenzen des ökonomischen Arguments in die europäische Verfassungsordnung zu integrieren.
II. Die Auswirkungen des Lissabonner Reformvertrages auf das Wettbewerbsrecht Die bisherigen Vorschriften des Wettbewerbstitels des EG-Vertrages (Art. 81 ff. EG) finden sich in fast unveränderter Form in den Art. 101 ff. AEUV wieder. Der Lissabonner Vertrag ersetzt in den Wettbewerbsvorschriften lediglich den Begriff des Gemeinsamen Marktes durch jenen des Binnenmarktes und beseitigt damit ein seit der Annahme der Einheitlichen Europäischen Akte und der Einführung des Binnenmarktbegriffes bestehendes Defizit. Im Folgenden zu diskutieren sind die vom Reformvertrag vorgenommenen Veränderungen in Bezug auf die beiden Systemgarantien zum Schutze des unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt (Art. 3 Abs. 1 lit. g EG) und der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 4 Abs. 1 EG; Art. 119 Abs. 1 AEUV). 1. Der Schutz des unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt – noch ein Ziel des Unionsrechts? Nach Art. 3 Abs. 1 lit. g EG ist die Tätigkeit der Gemeinschaft u.a. auf ein „System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschung schützt“, verpflichtet. Der Lissabonner Vertrag führt zu einer Neuregelung der Zielsetzungen, die die Formulierung des Art. 3 Abs. 1 lit. g EG nicht mehr enthält.
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a) Analyse der Neuregelung Die bisherigen Regelungen über die Aufgaben und Tätigkeitsfelder der Gemeinschaft (Art. 2 und 3 EG) werden teilweise in die Vorschrift über die Zielbestimmungen der Europäischen Union im reformierten EUV integriert. Dieser Schritt ist konsequent, da es mit der Abschaffung der Europäischen Gemeinschaft keine eigenen Ziele der EG mehr geben kann. Der neue Zielkatalog des Art. 3 EUV-Liss. enthält nun in Absatz 3 eine eigene Aussage zu den ökonomisch geprägten Zielen. Dabei heißt es in Bezug auf den Binnenmarkt in Satz 1 nur noch lapidar: „Die Union errichtet einen Binnenmarkt.“ Es fehlt die in Art. 3 Abs. 1 lit. g EG enthaltene Systemgarantie des Schutzes des Binnenmarktes gegen Wettbewerbsverfälschungen. Das Zustandekommen dieser Neuregelung lässt sich anschaulich durch einen Vergleich mit der bisherigen Regelung der Ziele im EG-Vertrag erklären.10 Art. 3 Abs. 3 EUV-Liss. entspricht funktional nicht dem Art. 3 EG, sondern dem Art. 2 EG. Dort wird gleich eingangs die Errichtung „eines Gemeinsamen Marktes“ ohne Bezugnahme auf den Schutz des Wettbewerbs als Aufgabe der Gemeinschaft beschrieben. Art. 3 Abs. 3 EUV-Liss. behält diese Aufgabenbeschreibung bei, ersetzt aber den veralteten Begriff des Gemeinsamen Marktes durch jenen des Binnenmarktes. Da Art. 3 EG keine Entsprechung im Reformvertrag finden sollte, war der Schutz des Wettbewerbs gegen Verfälschungen ohne besondere rechtspolitische Überlegung aus dem Zielkatalog getilgt worden. Erst als dieses „Versehen“ entdeckt wurde, scheint sich Widerstand von französischer Seite gegen die Einfügung der Bezugnahme auf den unverfälschten Wettbewerb in Art. 3 Abs. 3 EUV-Liss. entwickelt zu haben. Natürlich enthält der neue AEUV weiterhin Bestimmungen zum Binnenmarkt und zum Wettbewerbsschutz. Jedoch können diese die Systemgarantie des unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt in den Zielbestimmungen des EUV-Liss. nicht ersetzen. Dass der Binnenmarkt auch gegen privat veranlasste Wettbewerbsbeschränkungen zu schützen ist, ergibt sich weiterhin explizit aus den Wettbewerbsvorschriften (Art. 101 ff. AEUV). Jedoch ginge es zu weit, diesen Vorschriften eine Charakterisierung des Binnenmarktes auch für das Verständnis der Zielbestimmung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 EUV-Liss. zu entnehmen. Die Art. 101 ff. AEUV beschreiben den Binnenmarkt gerade nicht begrifflich. Dies geschieht – in Übereinstimmung mit dem bisherigen Art. 14 Abs. 2 EG – durch Art. 26 Abs. 2 AEUV, wobei nur auf die Gewährleistung der Grundfreiheiten und nicht den Wettbewerbsschutz abgestellt wird. Unmittelbare Auswirkungen hätte die Verbannung des unverfälschten Wettbewerbs aus dem Zielkatalog des Unionsrechts für die Anwendung der Zuständigkeitsvorschrift von Art. 352 AEUV (Art. 308 EG). Danach kann die Union bei Fehlen anderer Befugnisnormen im Rahmen der ihr zugewiesenen Politikbereiche nur tätig werden, „um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen“. Die Vorgänger-
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Zur Entstehung siehe Graupner (Fn. 8).
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vorschrift des Art. 308 EG wurde gerade auch für die Regelung der Zusammenschlusskontrolle herangezogen.11 Das französische Anliegen, den unverfälschten Wettbewerb aus dem Katalog der Ziele der Union herauszuhalten, war natürlich nicht darauf gerichtet, der europäischen Zusammenschlusskontrolle die Rechtsgrundlage zu entziehen. Diese Konsequenz wird denn auch durch das „Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb“ vermieden. Das Protokoll hat folgenden Wortlaut: „DIE HOHEN VERTRAGSPARTEIEN – UNTER BERÜCKSICHTIGUNG der Tatsache, dass der Binnenmarkt, wie er in Artikel 2 [sic] des Vertrages über die Europäische Union beschrieben wird, ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt – SIND ÜBEREINGEKOMMEN, dass für diese Zwecke die Union erforderlichenfalls nach den Bestimmungen der Verträge, einschließlich Art. 352 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union tätig wird.“12
Indem hier in allgemeiner Weise klargestellt wird, dass der Binnenmarkt im Sinne der Ziele der EU ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt, geht das Protokoll deutlich über die bloße Sicherung der Anwendbarkeit der Kompetenz nach Art. 352 AEUV für das Wettbewerbsrecht hinaus. Klargestellt werden soll offensichtlich, dass das Inkrafttreten des Reformvertrages an der bisherigen Rechtslage nichts ändern soll. Hierfür spricht auch, dass die Protokolle gemäß Art. 51 EUV-Liss. einen Bestandteil der Verträge bilden.13 Diese Sichtweise teilt die Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes. Sie erklärte in einer ersten Stellungnahme zum Reformvertrag:14 „The Internal Market and Competition Protocol is a legally binding confirmation that a system of ensuring undistorted competition is an integral part of the Internal Markt. The Protocol paraphrases the current Treaty provisions: competition is not an end in itself – but it is the best means anyone has found to create the conditions for growth and jobs. Integrating competition into the very concept of the ‚Internal Market‘ clarifies that the one simply cannot exist without the other – which is a fact.“
Dagegen vertrat der französische Präsident Sarkozy anlässlich einer Pressekonferenz im unmittelbaren Anschluss an die Einigung des Europäischen Rates eine grundsätzliche Neuausrichtung der Ziele der Union trotz der Protokollerklärung:15
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Siehe Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle der Zusammenschlusskontrolle („EG-Fusionskontrollverordnung“), ABl. 2004 Nr. L 24, S. 1. Das Protokoll nimmt Bezug auf Art. 2 EUV-Liss., indem der Binnenmarkt allerdings überhaupt nicht erwähnt wird. Gemeint ist offensichtlich Art. 3 EUV-Liss. Ebenso R. Streinz, Europarecht, 2008, Rn. 971a. N. Kroes, Competition Policy: Achievements in 2006; Work Programm in 2007; Priorities for 2008; European Parliament Economic and Monetary Affairs Committee, Speech/07/425, Brussels, 26th June 2007, unter http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference= SPEECH/07/425&format=HTML&aged=0&language=EN&guiLanguage=en (6.06.2008). N. Sarkozy, Conseil européen à Bruxelles, 21–22 juin 2007, Conférence de presse finale, http://www.rpfrance.eu/spip.php?article687 (6.06.2008) [Übers. d. Verf.].
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„Richtigerweise … haben wir eine größere Neuausrichtung der Ziele der Union erreicht. Der Wettbewerb ist kein Ziel der Union mehr oder Zweck an sich, sondern ein Mittel im Dienste des Binnenmarktes. Ein Protokoll, bestätigt, dass Fragen des Wettbewerbs allein den Binnenmarkt betreffen, das ist ein wesentlicher Punkt.“
Weitere Ausführungen offenbaren das eigentliche Wettbewerbsverständnis des Präsidenten:16 „Ich glaube an den Wettbewerb, ich glaube an die Märkte, aber ich glaube an den Wettbewerb als ein Mittel und nicht als einen Zweck an sich. Das heißt vielleicht auch, dass die Kommission sich eine neue Entscheidungspraxis zulegen muss. Nämlich die eines Wettbewerbs, der die Herausbildung von europäischen Champions fördert, um zu einer wirklichen Industriepolitik zu kommen.“
Diesem offenen Plädoyer für eine europäische Industriepolitik fügte er noch eine Liberalismuskritik hinzu:17 „[E]s ging darum, einen Vertrag der Wirtschaft oder einen Vertrag des Liberalismus zu vermeiden … Es ging darum der Ideologie, dem Dogma und der Naivität den Rücken zu kehren.“
Es verwundert nicht, dass die öffentliche Infragestellung der Vorteile des Wettbewerbs durch den französischen Staatspräsidenten zu Befürchtungen Anlass gibt, der Reformvertrag könnte eine grundsätzliche Neuausrichtung der Rolle des Wettbewerbsrechts in der Europäischen Union und damit dessen Beeinträchtigung einleiten.18 Im Folgenden ist deshalb ein Blick auf die bisherige Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 lit. g EG zu werfen, um festzustellen, welche Grundsätze des europäischen Wettbewerbsrechts durch die Verschiebung des Ziels des unverfälschten Wettbewerbs in die Protokollerklärung gefährdet sein könnten. Von grundsätzlicher Bedeutung im Hinblick auf die Wirkungen des Art. 3 Abs. 1 lit. g EG (Art. 3 lit. f EWG-Vertrag) ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Continental Can.19 Dort verwarf der Gerichtshof die Ansicht, es handle sich bei der Verbürgung des Systems des unverfälschten Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt nur um einen Programmsatz. Vielmehr lege Art. 3 EWG-Vertrag in all seinen Teilen rechtlich verbindliche Ziele fest, die nach dem Vertrag als „unerlässlich“ für die Erfüllung der Aufgaben der Gemeinschaft anzusehen sind.20 In praktischer Hinsicht machte der EuGH die Vorschrift in Continental Can in doppelter Weise nutzbar. Zum einen entnimmt der EuGH dem Ziel des unverfälschten Wettbewerbs eine Schranke bei der Anwendung der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften, wenn verschiedene Vertragsziele miteinander in Einklang gebracht werden müssen (b). Zum anderen, und auf den Fall bezogen, anerkennt der EuGH 16 17 18
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Ebd. [Übers. d. Verf.]. Ebd. [Übers. d. Verf.]. In diesem Sinne etwa Weitbrecht (Fn. 1), S. 88; abschwächend dagegen P. Nicolaedes, The truth about competition, 19.06.2007, unter http://www.euractiv.com/en/competition/truthcompetition/article-165099?_print (6.11.2008). EuGH, Rs. 6/72, Europeemballage u.a./Kommission, Slg. 1973, 215. Ebd., Rn. 23.
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unter Rückgriff auf das Ziel des unverfälschten Wettbewerbs den sog. „Strukturmissbrauch“ als Unterfall eines Missbrauchs marktbeherrschender Stellung (c). b) Die Garantie des unverfälschten Wettbewerbs als Schranke der Abwägung kollidierender Ziele bei Anwendung des Wettbewerbsrechts In Continental Can stellt der EuGH fest:21 „Wenn aber Artikel 3 Buchstabe f [EWG-Vertrag] die Errichtung eines Systems vorsieht, das den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt, so fordert er erst recht, dass der Wettbewerb nicht ausgeschaltet wird. Dieses Erfordernis ist so wesentlich, dass bei seinem Fehlen zahlreiche Vertragsvorschriften gegenstandslos wären. Es entspricht überdies dem Gebot des Artikels 2 des [EWG-]Vertrages, demzufolge die Gemeinschaft die Aufgabe hat, „eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft … zu fördern“. Somit finden die Wettbewerbsbeschränkungen, die der Vertrag unter bestimmten Voraussetzungen deshalb zulässt, weil die verschiedenen Vertragsziele miteinander in Einklang gebracht werden müssen, in den Erfordernissen der Artikel 2 und 3 eine Grenze, bei deren Überschreiten die Gefahr besteht, dass eine Abschwächung des Wettbewerbs den Zielsetzungen des gemeinsamen Marktes zuwiderläuft.“
Nach der Konzeption des EuGH dienen also Bestimmungen des europäischen Wettbewerbsrechts (Art. 81 ff. EG) der Verwirklichung eines Systems des unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt. Aber auch dieses Ziel stellt keinen Selbstzweck dar, sondern ist nur Mittel zur Verwirklichung der in Art. 2 EG genannten Aufgaben. Art. 2 EG nennt durchaus auch andere Ziele, die in Widerstreit mit dem Wettbewerbsprinzip treten können. So stellt sich im Lichte des Ziels der Sicherung eines „hohen Beschäftigungsniveaus“ die Frage, ob nach Art. 81 Abs. 3 EG auch Wettbewerbsbeschränkungen zugelassen werden können mit dem Argument, dass diese Beschränkungen Arbeitsplätze in der EU retten. In ähnlicher Weise wäre zu klären, ob Wettbewerbsbeschränkungen mit dem Ziel der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen auf Weltmärkten gerechtfertigt werden können. Gegen solche Relativierungen des Wettbewerbsgedankens lässt sich Art. 3 Abs. 1 lit. g EG als Abwägungsschranke nutzen. Die Grenze der Abwägung wäre dort erreicht, wo eine Schwächung des Wettbewerbs droht. Diese Grundsätze sind ausdrücklich auch in Art. 81 Abs. 3 EG (Art. 101 Abs. 3 AEUV) niedergelegt, wonach der Wettbewerb als solcher nicht ausgeschaltet werden darf. In Continental Can hatte der EuGH jedoch über Art. 82 EG (damals Art. 86 EWG-Vertrag) zu entscheiden. So griff der EuGH auf die generelle Garantie des unverfälschten Wettbewerbs in Art. 3 lit. f EWG-Vertrag zurück, um auch im Bereich der Missbrauchskontrolle ein entsprechendes Ergebnis zu erzielen:22 „Das Bestreben der Verfasser des Vertrages, auch in den Fällen, in denen Wettbewerbsbeschränkungen zugelassen sind, auf dem Markt einen tatsächlichen oder potentiellen Wettbewerb zu erhalten, hat in Artikel 85 Absatz 3 Buchstabe b des [EWG-]Vertrages 21 22
Ebd., Rn. 24. Ebd., Rn. 25.
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seinen ausdrücklichen Niederschlag gefunden. … [Bei Art. 86 EWG-Vertrag] ergibt sich die Bindung an die grundlegenden Vertragsziele, insbesondere an das des Artikels 3 Buchtstabe f, aus der zwingenden Geltung dieser Ziele. Jedenfalls können die Artikel 85 und 86 [EWG-Vertrag] nicht in einander widersprechendem Sinne ausgelegt werden, da sie der Verwirklichung desselben Zieles dienen.“
Zu fragen bleibt, ob die Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts auch noch unter Geltung des Reformvertrages dergestalt ordnungspolitisch und juristisch abgesichert wird. Eine Antwort ergibt sich durch einen Blick auf die Systematik der neuen Zielbestimmungen der Art. 2 und 3 EUV-Liss. Im geltenden EG-Vertrag wird deutlich zwischen den Generalzielen der Gemeinschaft in Art. 2 EG und den Tätigkeitsfeldern in Art. 3 EG unterschieden, wobei die letzteren dazu dienen, die Ziele des Art. 2 EG auszufüllen. Dieses Zusammenspiel hebt der Reformvertrag auf. Art. 2 EUV-Liss. stellt die „Werte“ der Gemeinschaft, mit zentraler Bedeutung des Schutzes der Menschenrechte, an die Spitze. Dies ist aus einer verfassungspolitischen Sicht nur zu begrüßen. Freilich wurde im Gegenzug die ebenso sinnvolle und notwendige Unterscheidung des EG-Vertrages zwischen den ökonomischen Zielen einerseits und den Politikfeldern andererseits, die zur Umsetzung der Ziele eingesetzt werden sollen, aufgehoben. Die gleichstufige Erwähnung des Binnenmarktes mit den möglicherweise kollidierenden Zielen wie einer „wettbewerbsfähigen“ sozialen Marktwirtschaft oder der Vollbeschäftigung, spricht eher für eine Abwägbarkeit des über das Protokoll zu berücksichtigenden Ziels des unverfälschten Wettbewerbs. Die Garantie des unverfälschten Wettbewerbs ist also weniger bedroht durch die Verschiebung in ein Protokoll, sondern viel eher durch die Aufhebung der Zielhierarchie, die der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zugrunde liegt. Man wird in der Zukunft mehr auf die ordnungspolitische Weisheit der europäischen Instanzen, und dabei vor allem der Richter am EuGH, vertrauen müssen. Auch eine „wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ und Vollbeschäftigung sind nur zu erreichen, wenn innerhalb der Union der Wettbewerb wirksam geschützt bleibt. c) Eingriffe in die „Struktur des Wettbewerbs“ als Missbrauch marktbeherrschender Stellung In Continental Can, einem vor der Schaffung der Fusionskontrollverordnung entschiedenen Fall, ging es um die Frage, ob Art. 86 EWG-Vertrag auch mit dem Ziel des Verbots eines Unternehmenszusammenschlusses angewendet werden konnte. Dies wurde vom EuGH im Ergebnis bejaht. Tatsächlich war dieses Ergebnis keineswegs so vorherzusehen. Die Unternehmen hatten drei gewichtige Gegenargumente vorgetragen, die der EuGH allesamt unter Rückgriff auf Art. 3 lit. f EWG-Vertrag zurückwies. Dabei entwickelte der EuGH auf der Grundlage der Systemgarantie des unverfälschten Wettbewerbs bleibende Grundsätze der europäischen Missbrauchskontrolle. Als erstes Argument trugen die klagenden Unternehmen vor, dass die Mitgliedstaaten mit dem Verbot des Missbrauchs marktbeherrschender Stellung gerade keine Zusammenschlusskontrolle einführen wollten. Dies ergebe sich vor allem über einen
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Umkehrschlusses aus den Regelungen des älteren EGKS-Vertrages, der neben Vorschriften über den Missbrauch marktbeherrschender Stellung auch solche zur Zusammenschlusskontrolle enthielt.23 Dieses Argument schob der EuGH mit einem kurzen Hinweis auf die Ziele des Vertrages beiseite. Für die Entscheidung sei allein auf Geist, Aufbau und Wortlaut von Art. 86 EWG-Vertrag zurückzugreifen.24 Mit dem zweiten Argument stellten die klagenden Unternehmen auf die Regelbeispiele des Art. 86 Abs. 2 EWG-Vertrag ab. Diese zeigten, dass der Vertrag nur solche Verhaltensweisen als Missbrauch erfasse, die sich auf den Markt auswirken und die Verbraucher oder Handelspartner schädigen. Nach grundsätzlichen Ausführungen zur Gewährleistung des unverfälschten Wettbewerbs in Art. 86 EWG-Vertrag als Ausfluss der Systemgarantie in Art. 3 lit. g EWG-Vertrag, nämlich im Sinne der oben dargestellten Schrankenfunktion der Vorschrift,25 hielt der EuGH den Klägerinnen Folgendes entgegen: „Im Lichte dieser Erwägungen ist das Tatbestandsmerkmal des Artikels 86 [EWG-Vertrag] auszulegen, wonach die Ausnutzung einer beherrschenden Stellung missbräuchlich sein muss, um unter das Verbot zu fallen. Die Vorschrift zählt eine Reihe von missbräuchlichen Verhaltensweisen auf, die sie untersagt. Sie gibt lediglich Beispiele, also keine erschöpfende Aufzählung der Arten der nach dem Vertrag verbotenen missbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung. Wie ferner die Buchstaben c und d [von Art. 86 Abs. 2 EWG-Vertrag] erkennen lassen, bezieht sich die Bestimmung nicht nur auf Verhaltensweisen, durch die den Verbrauchern ein unmittelbarer Schaden erwachsen kann, sondern auch auf solche, die ihnen durch einen Eingriff in die Struktur des tatsächlichen Wettbewerbs, von dem Artikel 3 Buchstabe f des [EWG-]Vertrages handelt, Schaden zufügen.“
In Continental Can nutzt der EuGH die Garantie des unverfälschten Wettbewerbs, um schon beim bloßen Nachweis der Wettbewerbsschädigung – in den Worten des EuGH: der Schädigung der „Struktur des Wettbewerbs“ – einen Missbrauch anzunehmen. Dieser Grundsatz hat seine Bedeutung durch die Einführung von Vorschriften zur Zusammenschlusskontrolle keineswegs verloren. Vielmehr geht auf Continental Can die ständige Rechtsprechung zurück, wonach für einen Missbrauch i.S. von Art. 82 EG bereits eine Schädigung der „Wettbewerbsstruktur“ genügt. Mit diesem Argument, und unter Verweis auf die Entscheidung in Continental Can, hat der EuGH noch im Jahre 2007 in der Rechtsache British Airways das Argument der Fluggesellschaft verworfen, es habe mit seinem Bonusprogramm für die Vermittler von Flugreisen nicht gegen Art. 82 EG verstoßen, weil es an einem spezifischen Verbrauchernachteil fehle.26 Eine entsprechende Aussage findet sich schließlich wenige Monate später in der Microsoft-Entscheidung des EuG, obwohl dort das Gericht sehr wohl ausführlich dargelegt hatte, dass die Verweigerung der
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Ebd., Rn. 19. Ebd., Rn. 22. Ebd., Rn. 25. EuGH, Rs. C-95/04 P, British Airways/Kommission, Slg. 2007, I-2331, Rn. 106.
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Offenlegung der Schnittstelleninformation auch dem Interesse der Verbraucher widerspricht. In Microsoft führt das EuG aus:27 „Schließlich ist daran zu erinnern, dass Art. 82 EG nach ständiger Rechtsprechung nicht nur auf Praktiken abzielt, durch die die Verbraucher unmittelbar geschädigt werden können, sondern auch auf Verhaltensweisen, die ihnen mittelbar durch einen Eingriff in eine Struktur wirksamen Wettbewerbs Schaden zufügen.“28
Mit ihrem dritten Argument knüpften die klagenden Unternehmen erneut am Wortlaut des Missbrauchsverbots an. Verboten sei nur der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Ein Missbrauch setze deshalb den Gebrauch der marktbeherrschenden Stellung als Mittel der Wettbewerbsschädigung voraus. Die Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung durch einen Zusammenschluss beruhe dagegen nicht auf dem Einsatz von bereits bestehender Marktbeherrschung.29 Unter ausdrücklichem Hinweis auf Art. 3 lit. f EWG-Vertrag entgegnet der EuGH, dass es auf das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs nicht ankomme. Ein Missbrauch könne ohne Rücksicht auf die eingesetzten Mittel vorliegen, solange nur die entsprechenden Wirkungen – also i.S. einer Verfälschung des Wettbewerbs – hervorgerufen werden.30 Auch wenn danach die Systemgarantie zum Schutze des unverfälschten Wettbewerbs für die Entwicklung der besprochenen Grundsätze eine ganz zentrale Rolle gespielt hat, muss die Schwächung dieser Garantie im Lissabonner Vertrag nicht automatisch zu einer Änderung auch in Bezug auf die dargestellten Grundsätze der Missbrauchskontrolle führen. Freilich ist aus heutiger Sicht zu berücksichtigen, dass die Ökonomie den Schutz des Wettbewerbs nicht mehr als Zweck an sich anerkennt, sondern das Wettbewerbsrecht überwiegend als Instrument zur Förderung der Verbraucherwohlfahrt und der ökonomischen Effizienz begreift. Deshalb kritisieren Ökonomen gerade die Marktstruktur-Rechtsprechung des EuGH. So bemängelt Hellwig, dass diese Rechtsprechung „den Wettbewerber [schützt], indem sie den Wettbewerb beschränkt“.31 Kritisch sieht Hellwig dabei vor allem die Entscheidung des EuGH in British Airways.32 Hier soll nicht beurteilt werden, ob der EuGH British Airways richtig oder falsch entschieden hat. Festzuhalten bleibt, dass die durch den Lissabonner Vertrag angelegte Schwächung der Systemgarantie zugunsten des unverfälschten Wettbewerbs möglicherweise die normativen Voraussetzungen für die Ökonomisierung verbessert. Diese Analyse ist nicht ohne Ironie. Sarkozy wendete sich mit der Ver27 28 29 30 31 32
EuG, Rs. T-201/04, Microsoft/Kommission, Slg. 2007, II-3601, Rn. 664. Hier verweist das EuG auf EuGH, Rs. 85/76, Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461, Rn. 125, und EuG, Rs. T-228/97, Irish Sugar/Kommission, Slg. 1999, II-2969, Rn. 232. EuGH, Rs. 6/72 (Fn. 19), Rn. 19. Ebd., Rn. 27. Hellwig (Fn. 4), S. 32. Siehe dazu schon oben bei Fn. 26. Die Analyse des Falles durch Hellwig (Fn. 4), S. 19 ff., liefert ein Paradebeispiel dafür, wie heute Ökonomen bestimmte Verhaltensweisen (im konkreten Fall Bonusprogramme) in ihren Auswirkungen auf den Wettbewerb durchleuchten und neue Entscheidungsvorschläge unterbreiten.
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bannung des unverfälschten Wettbewerbs in die Protokollerklärung erklärtermaßen gegen Ideologie und liberales Dogma, befördert aber damit vielleicht sogar die Durchsetzung einer umso „liberaleren“ und stärker „ökonomischen“ Wettbewerbspolitik. 2. Die Verschiebung der Systemgarantie der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ im Lissabonner Vertrag Die Systemgarantie der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb hat durch den Maastrichter Vertrag Eingang in den EG-Vertrag gefunden (ursprünglich Art. 3a Abs. 1 EG-Vertrag) und bezieht sich ausdrücklich auf die Einführung einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik, die ihrerseits die Grundlage für die Währungsunion bilden soll. Trotz des Bezugs zur Wirtschafts- und Währungsunion integrierte der Maastrichter Vertrag die Vorschrift nicht in den Titel über die Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 98 ff. EG), sondern in Art. 4 Abs. 1 EG als Teil der Zielbestimmungen. Funktional ist die Vorschrift mit Art. 3 EG vergleichbar. Beide Vorschriften füllen Art. 2 EG aus, indem sie die Aufgaben und Ziele der Gemeinschaft näher beschreiben. Für den Lissabonner Vertrag hätte es nahe gelegen, die Vorschrift in den EUVertrag zu übernehmen. Tatsächlich erwähnt der EUV-Liss. die Einführung der Wirtschaft- und Währungsunion sowohl in der Präambel33 als auch in Art. 3 Abs. 4 als ein Ziel der Union.34 Freilich fehlt hier jegliche Bezugnahme auf die Grundsätze der Wirtschafts- und Währungsunion, wie sie in Art. 4 EG enthalten sind. Diese Grundsätze, einschließlich der Garantie der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“, werden in den neuen Art. 119 AEUV verschoben. So stellt sich allein die Frage, ob sich aus der Änderung in der systematischen Stellung auch eine Änderung im juristischen Bedeutungsgehalt ergibt. Wie bei der Verbürgung des unverfälschten Wettbewerbs in Art. 3 Abs. 1 lit. g EG ist auch für die Systemgarantie der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb nach der konkreten juristischen Wirkung zu fragen.35 Der EuGH hat sich in dem Vorabentscheidungsverfahren Échirolles zur Bedeutung von Art. 4 Abs. 1 EG geäußert.36 Dabei ging es um die Frage, ob die gesetzliche Buchpreisbindung in Frankreich am Maßstab der Systemgarantien des unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt sowie der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb überprüft werden kann. Dies hat der EuGH im Ergebnis verneint. Der EuGH stellte klar, dass es sich bei Art. 3 EG lediglich um Festlegungen der Ziele des Gemeinschaftsrechts handelt, die durch entsprechende andere Bestim-
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8. Präambelerwägung EUV-Liss. Dies entspricht der vorherigen Erwähnung der Wirtschafts- und Währungsunion in Art. 2 EG. Für Hatje ist die Rechtsqualität der Vorschrift unbestreitbar: A. Hatje, in diesem Band, S. 810. EuGH, Rs. C-9/99, Échirolles Distribution, Slg. 2000, I-8207.
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mungen des Vertrages zu konkretisieren sind.37 Unter Berufung auf die Entscheidung in der Rechtssache Leclerc38 war der EuGH offensichtlich der Auffassung, dass ein rein nationales System der gesetzlichen Buchpreisbindung weder mit den Bestimmungen des Binnenmarktes noch jenen des Wettbewerbsrechts kollidieren würde.39 In Bezug auf Art. 3a Abs. 1 EG-Vertrag (heute Art. 4 Abs. 1 EG) lehnte der EuGH lediglich eine unmittelbare Überprüfung der gesetzlichen Buchpreisbindung am Maßstab der offenen Marktwirtschaft und freiem Wettbewerb ab, da diese Norm nicht hinreichend klar und bestimmt formuliert sei, um unmittelbar angewendet zu werden.40 Auch nach Échirolles bleibt die juristische Bedeutung von Art. 4 Abs. 1 EG unklar. Einerseits sollte kein Zweifel daran bestehen, dass die Garantie der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb als „Grundsatz“41 des Gemeinschaftsrechts für die Auslegung anderer Vertragsbestimmungen genauso heranzuziehen ist wie jener des unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt. Offen bleibt die Frage, ob nur die Vorschriften über die Wirtschafts- und Währungsunion oder auch andere Bestimmungen des Vertrages, einschließlich der wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen, im Lichte dieser Garantie ausgelegt werden müssen.42 Die zweite Auffassung wird offensichtlich von Hatje vertreten, der davon ausgeht, dass diese Systemgarantie zur Auslegung aller ökonomisch relevanten Normen des Primärrechts und aller Maßnahmen des Sekundärrechts heranzuziehen sei. In Bezug auf den Reformvertrag von Lissabon stellt sich die Frage, ob sich eine solche Ansicht im Lichte der Verschiebung der Garantie in den Titel über die Wirtschafts- und Währungsunion noch vertreten lässt. Dies ist im Ergebnis zu bejahen. Die Vorschrift des Art. 119 Abs. 1 AEUV würde nämlich in wesentlichen Teilen ihrer Bedeutung beraubt, würde man sie allein als Auslegungsgrundsatz für die nachfolgenden Bestimmungen über die Wirtschafts- und Währungsunion zur Anwendung bringen. Die Vorschrift verpflichtet nämlich weiterhin auch die Union, in ihrem wirtschaftspolitischen Handeln die Systemgarantie zu berücksichtigen. Die Bestimmungen über die Wirtschaftspolitik in den Art. 120 bis 126 AEUV sind dagegen darauf ausgerichtet, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Union wirkt hieran nur über ihre Organe mit. Eine gemeinsame Wirtschaftspolitik setzt auch voraus, dass die Union selbst bei ihrem Handeln im wirtschaftlichen Bereich die Systemgarantien des Art. 119 Abs. 1 AEUV beachtet. Die wesentlichen Bestimmungen der Wirtschaftspolitik der
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Ebd., Rn. 22. EuGH, Rs. 229/83, Leclerc, Slg. 1985, 1. EuGH, Rs. C-9/99 (Fn. 36), Rn. 24. Ebd., Rn. 25. Der EuGH bezeichnet die Garantie der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb genauso als „Grundsatz“ (general principle) wie die Garantie des unverfälschten Wettbewerbs: ebd, Rn. 25. In Échirolles (ebd., Rn. 25) nennt der EuGH die Garantie nur in Bezug auf die Wirtschaftsunion und nicht auch in Bezug auf die Wettbewerbspolitik.
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Union, wozu auch die Wettbewerbsvorschriften gehören, sind aber gerade außerhalb des Titels über die Wirtschafts- und Währungsunion zu finden. Dieses Auslegungsergebnis hat weit reichende Bedeutung gerade im Zusammenhang mit der Neuregelung zum Schutze des unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt. Selbst wenn dieses Ziel komplett beseitigt worden wäre, stünde eine europäische Wettbewerbspolitik, die sich im Bereich der Zusammenschlusskontrolle konsequent dem Ziel der Förderung europäischer Champions verschreibt, weiterhin in Widerspruch zum System der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 119 Abs. 1 AEUV). Somit greifen Befürchtungen, wonach die bloße Erwähnung des unverfälschten Wettbewerbs in der Protokollerklärung zu einer Abschwächung des Wettbewerbsprinzips in der Union führen könnte, zu kurz. Über Art. 119 Abs. 1 AEUV bleibt der Wettbewerb doppelt abgesichert. Zu bedauern ist nur, dass die Verschiebung der Systemgarantie der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb das korrekte juristische Verständnis erschwert. Von der Absicherung des freien Wettbewerbs als Ziel des Unionsrechts an sich ist die Frage der Bedeutung dieser Systemgarantie für die Ökonomisierung des Wettbewerbsrechts zu unterscheiden. Der „freie Wettbewerb“ ist schon terminologisch zu unbestimmt, als dass diesem Begriff eine Festlegung auf ein bestimmtes Wettbewerbsmodell entnommen werden könnte. So steht er einer Ökonomisierung per se sicherlich nicht entgegen. Eine Schranke für die Ökonomisierung ergibt sich jedoch, wenn man mit Hatje auch für die Zwecke der Anwendung des Wettbewerbsrechts u.a. die Wirtschaftsfreiheit und den freien Markteintritt als Wesenmerkmale der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerbs ansieht.43 Freilich lehnt sich Hatje damit gerade an das ordoliberale Vorverständnis des Wettbewerbsrechts an, das von den Wettbewerbsökonomen abgelehnt wird. Die Debatte ist daher vorrangig über die Ökonomisierung selbst zu führen. In diesem Beitrag zur europäischen Wettbewerbsverfassung kommt es deshalb im Folgenden darauf an, das ökonomische Argument von der normativen Wertung genauer zu scheiden und daran anknüpfend Wege für eine durchaus wünschenswerte Ökonomisierung in der Verfassungsordnung der europäischen Union aufzuzeigen.
III. Die Ökonomisierung des Wettbewerbsrechts als Antwort auf ein Rechtsanwendungsproblem Vor allem Ökonomen, die in der Kommission an der Durchsetzung eines more economic approach arbeiten, verstehen die Ökonomisierung als Antwort auf ein Problem der Rechtsanwendung. Danach wäre der more economic approach verfassungsrechtlich unproblematisch, soll es doch nur darum gehen, dem Rechtsanwender und Juristen einen Analyserahmen mit dem Ziel der Begründung ökonomisch stimmiger Entscheidungen zur Hand zu geben. Entsprechend erweist sich der ganz überwiegende Teil der ökonomischen Literatur zum more economic approach 43
Vgl. ebd., S. 810 f.
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und zur Wettbewerbspolitik überwiegend als anwendungsbezogen.44 Entsprechend der industrieökonomischen Ausbildung der Wettbewerbsökonomen werden verschiedene Verhaltensweisen „durchanalysiert“, ohne nach den Beschränkungen der eigenen Theorie und all zu sehr nach den juristischen Rahmenbedingungen zu fragen. Die Bedenken von Juristen sind von vielfältiger Natur. Im Folgenden soll es zunächst um die Darstellung der historischen Entwicklung und Charakterisierung des more economic approach (1.) und um jene Aspekte gehen, die diesen Ansatz auf der Anwendungsebene sowohl aus ökonomischer als auch juristischer Sicht als problematisch erscheinen lassen (2. bis 5.). 1. Historische Entwicklung und Charakterisierung des more economic approach Die Durchsetzung des more economic approach blickt auf eine nun schon fast zehnjährige Geschichte zurück und ist bis heute nicht abgeschlossen. Aus der Kommissionssicht besteht die Aufgabe darin, alle Bereiche der Wettbewerbspolitik45 und die Anwendungspraxis auf ihre ökonomische Stimmigkeit zu überprüfen und neu zu gestalten. a) Die Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung von 1999: Der neue „auswirkungsbezogene“ Ansatz Die Anfänge des more economic approach sind eng mit dem Namen des früheren Wettbewerbskommissars Mario Monti verbunden. Dieser beschrieb das Leitmotiv des neuen Ansatzes mit den Worten:46 „In making this revision, we have shifted from a legalistic based approach to an interpretation of the rules based on sound economic principles.”
Eine nähere Beschreibung ihrer Politik gab die Kommission im Zusammenhang mit dem Erlass der Gruppenfreistellungsverordnung über vertikale Vereinbarungen aus dem Jahre 1999,47 in der die Kommission zum ersten Mal den more economic approach zur Anwendung gebracht hat. So heißt es in den Leitlinien für vertikale Beschränkungen:48
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Siehe etwa die Beiträge in P. Buccirossi (Hrsg.), Handbook of Antitrust Economics, 2008. Hierzu zählt auch das Beihilferecht, auf das aus Gründen der räumlichen Beschränkung nicht eingegangen wird; siehe dazu jedoch das Kommissionsdokument „Aktionsplan Staatliche Beihilfen: Weniger und besser ausgerichtete Beihilfen“, KOM(2005) 107. M. Monti, EU Competition Policy after May 2004’, Speech at the Fordham Corporate Law Institute, New York, 24 October 2003, unter www.eurunion.org/news/speeches/2003/ 031024mm.htm (6.11.2008). Verordnung (EG) Nr. 2790/1999 der Kommission über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. 1999 L 336, S. 21. Leitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. 2000 C 291, S. 1, Rn. 7.
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Josef Drexl „Bei der Anwendung der EG-Wettbewerbsregeln legt die Kommission wirtschaftliche Erwägungen zugrunde, bei denen die Auswirkungen auf dem betreffenden Markt im Vordergrund stehen; vertikale Vereinbarungen sind in ihrem rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang zu beurteilen.“
Bei der Beurteilung der Wettbewerbswidrigkeit soll es danach nicht primär darauf ankommen, was die Parteien vereinbart haben, sondern wie sich eine bestimmte Vereinbarung auf dem relevanten Markt auswirkt. Entsprechend wird der more economic approach auch als effects-based approach (auswirkungsbezogener Ansatz) – im Gegensatz zum bisherigen form-based approach – bezeichnet. Für die Rechtsanwendung bedeutet dies einen echten Paradigmenwechsel. Nach dem neuen Ansatz kann der Wettbewerbsjurist nicht mehr in allen Fällen die Rechtmäßigkeit des Vereinbarten allein aufgrund einer Prüfung des Vertragstextes beurteilen, sondern muss regelmäßig die konkreten Auswirkungen auf den relevanten Markt mit in Betracht ziehen. Dies bedeutet, dass eine Vereinbarung A im Falle X unwirksam, im Falle Y aber sehr wohl wirksam sein kann. Ökonomische Grundlage für den geänderten Ansatz ist die Überlegung, dass vertikale Vereinbarungen regelmäßig wettbewerbspolitisch ambivalent sind. Einerseits sind sie geeignet, den Wettbewerb auf der Händlerebene (sog. IntrabrandWettbewerb) auszuschalten, etwa wenn den einzelnen Händlern Verkäufe außerhalb des ihnen zugesagten exklusiven Vertriebsgebiets verboten werden. Ob sie daneben auch geeignet sind, den Wettbewerb mit anderen Waren und Dienstleistungen (Interbrand-Wettbewerb) zu beschränken, hängt ganz wesentlich davon ab, ob das Unternehmen, das Händlern etwa im Rahmen von Ausschließlichkeitsbindungen den Vertrieb von Konkurrenzprodukten untersagt, über hinreichende Marktmacht verfügt. Nur in diesem Fall ist zu befürchten, dass der Markt für konkurrierende Waren und Dienstleistungen verschlossen wird.49 Dies hat wesentliche Auswirkungen auf die Voraussetzungen der Gruppenfreistellung. Diese macht die neue Vertikal-GVO abhängig vom Nichtüberschreiten eines Marktanteils von 30 % für das bindende Unternehmen (Art. 3 Vertikal-GVO). Das Nichtüberschreiten dieser Schwelle bildet ein Indiz dafür, dass das bindende Unternehmen über keine ausreichende Marktmacht verfügt, um den Wettbewerb schädigen zu können. Aus den früheren Verordnungen mit Katalogen zulässiger und unzulässiger Klauseln erhalten geblieben ist lediglich eine Liste „schwarzer“ Klauseln (sog. Kernbeschränkungen), deren Aufnahme in den Vertrag die Freistellung verhindert. Die Vertikal-GVO aus dem Jahre 1999 leitete eine grundsätzliche Überarbeitung aller Gruppenfreistellungsverordnungen nach dem Marktanteilsmodell ein. Insoweit spricht man heute von einer neuen Generation von Gruppenfreistellungsverordnungen. Die Neuregelung hat den Vorteil für Unternehmen unterhalb der Marktanteilsschwelle, dass sie sich nicht mehr um die Kartellrechtswidrigkeit von Vereinbarungen sorgen müssen, sofern sie nur keine schwarzen Klauseln in ihre Verträge auf49
Umfassend zur ökonomischen Beurteilung vertikaler Vereinbarungen siehe M. Motta, Competition Policy, 2004, S. 302 ff.
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nehmen. Dagegen kommt für Unternehmen, deren Marktanteile die festgesetzten Schwellen überschreiten, nur noch eine Freistellung unmittelbar nach Art. 81 Abs. 3 EG in Betracht. Dabei sind sowohl der Inhalt des Vereinbarten als auch die Auswirkungen der Vereinbarung auf dem Markt im Lichte etwaig bestehender Marktmacht zu berücksichtigen. Die Unternehmen, die seit Inkrafttreten der neuen Durchführungsverordnung Nr. 1/2003 grundsätzlich selbst verpflichtet sind, die Wirksamkeit nach dem jetzt unmittelbar anwendbaren50 Art. 81 Abs. 3 EG zu beurteilen, werden hier naturgemäß mit einer sehr schwierigen Aufgabe konfrontiert. Nichts anderes gilt für die Gerichte, die eine Entscheidung über die Wirksamkeit einer Vereinbarung nach Art. 81 Abs. 3 EG zu treffen haben. Um hier Hilfestellungen zu bieten, ist die Kommission dazu übergegangen, in Form von Leitlinien, die den Erlass von Gruppenfreistellungsverordnungen begleiten, nicht nur im Sinne einer authentischen Auslegungshilfe – nämlich zum Zwecke der historischen Auslegung – die Regelungen der jeweiligen Verordnung näher zu erklären, sondern auch darzulegen, wie Art. 81 Abs. 3 EG oberhalb der Marktanteilsschwellen angewendet werden soll. Im Stil unterscheiden sich die Leitlinien entscheidend von klassischen Rechtsvorschriften. An die Stelle von Tatbestand und Rechtsfolge treten Handlungsanweisungen. Aufgezeigt wird ein ökonomisch geprägter analytischer Rahmen. Der Rechtsanwender und Jurist wird aus ökonomischer Sicht darüber belehrt, wie er die Vorschrift des Art. 81 Abs. 3 EG anzuwenden hat. b) Unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 81 Abs. 3 EG (Art. 101 Abs. 3 AEUV) Einen Beitrag zur Ökonomisierung leistet auch das Projekt der „Modernisierung“ und „Dezentralisierung“ des europäischen Wettbewerbsrechts auf der Grundlage der Durchführungsverordnung Nr. 1/2003.51 Für Ökonomen ist die Regelung des Art. 81 EG mit einem grundlegenden systematischen Fehler behaftet, nämlich soweit einerseits Absatz 1 wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen mit einem Verbot belegt und andererseits Absatz 3 eine Freistellung erlaubt. Dies macht deshalb keinen Sinn, weil sich die meisten zu prüfenden Vereinbarungen ambivalent, nämlich gleichzeitig wettbewerbsfördernd und wettbewerbsbeschränkend auswirken. In den USA hat sich für solche Fälle die sog. rule of reason herausgebildet. Eine Vereinbarung kann danach nur dann als „wettbewerbsbeschränkend“ angesehen werden, wenn sich ergibt, dass die wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen schwerer wiegen als die wettbewerbsfördernden. Unbestreitbar kann aber nach europäischem Recht erst im Rahmen von Art. 81 Abs. 3 EG eine Abwägung mit den wettbewerbsfördernden Auswirkungen erfolgen, denn bei einer Berücksichtigung solcher Wirkungen schon im Rahmen von Art. 81 Abs. 1 EG würde Absatz 3 jede praktischen Bedeutung verlieren.52 50 51 52
Gemäß Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1, S. 1. Ebd. So ausdrücklich EuG, Rs. T-112/99, Métropole Télévision (M6) u.a./Kommission, Slg. 2001, II-2459, Rn. 74.
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Die Unterscheidung der beiden Absätze führt deshalb zu besonderen Schwierigkeiten. Dies gilt insbesondere dann, wenn man im Lichte des Freiheitsparadigmas bereits die Einschränkung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit ausreichen lässt. Danach wären von Art. 81 Abs. 1 EG alle vertikalen Vertriebsvereinbarungen zunächst vom Verbot erfasst, obwohl die meisten von ihnen als wettbewerbsfördernd einzustufen wären.53 Dass diese Auslegung zu weit ginge, hat auch der EuGH schon sehr früh erkannt. Schon in der Entscheidung Société Tecnique Minière erklärte der EuGH, dass für die Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung i.S. von Art. 81 Abs. 1 EG (Art. 85 Abs. 1 EWG-Vertrag) neben dem Zweck der Vereinbarung auch alle „wirtschaftlichen Begleitumstände ihrer Durchführung“ zu berücksichtigen sind. Soweit die Bestimmungen der Vereinbarung keine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs erkennen lassen, seien die Auswirkungen der Vereinbarungen zu untersuchen.54 Kann daher die Rechtsprechung des EuGH von Anfang an als vorsichtig bezeichnet werden, fehlte ihr doch ein einheitliches Paradigma zur Bestimmung der Wettbewerbsbeschränkung. Ohne die grundsätzliche Systematik des Art. 81 EG zu ändern, bringt die neue Durchführungsverordnung Nr. 1/2003 die Rechtslage in Einklang mit der ökonomischen Anschauung. Dies geschieht durch zwei Maßnahmen: Zum einen wird das Freistellungsmonopol der Kommission aufgehoben und Art. 81 Abs. 3 EG für unmittelbar anwendbar erklärt (Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003). Zum anderen werden die nationalen Behörden und Gerichte für die Anwendung des Art. 81 EG – einschließlich seines Absatzes 3 – für zuständig erklärt (Art. 5 und 6 VO 1/2003). Im Zusammenspiel bewirkt dies, dass die beiden Absätze 1 und 3 stets von ein und derselben Instanz zu einem einheitlichen Zeitpunkt angewendet werden. Aus der Sicht des Ökonomen ist es in diesem reformierten System nicht mehr von Belang, ob die geforderte Abwägung im Rahmen des Absatzes 1 oder des Absatzes 3 erfolgt. Wesentlich ist nur, dass sie überhaupt erfolgt. Bedeutung hat die Unterscheidung zwischen den Absätzen 1 und 3 des Art. 81 EG nur noch für die Beweislast. Gemäß Art. 2 VO 1/2003 hat derjenige, der eine Wettbewerbsbeschränkung behauptet, nur die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 1 EG (Art. 101 Abs. 1 AEUV) zu beweisen.55
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Ein entsprechendes Vorgehen unterstellen manche Ökonomen dem Ordoliberalismus und sogar dem deutschen Recht, siehe nur Motta (Fn. 49), S. 24. Dabei wird übersehen, dass das deutsche Recht in Bezug auf vertikale Vereinbarung bis zum Zeitpunkt der kompletten Harmonisierung mit dem europäischen Recht im Jahre 2005 außer für die Fälle der vertikalen Preisbindung und der Konditionenbindungen kein Verbotsprinzip, sondern nur eine Missbrauchskontrolle vorsah und damit vertikale Vereinbarungen besonders großzügig behandelte. Vertriebsvereinbarungen waren in Deutschland grundsätzlich zulässig, solange die Kartellämter sie nicht durch Verwaltungsakt für unwirksam erklärten. EuGH, Rs. 56/65, Société Technique Minière, Slg. 1966, 282 (303); siehe auch die wenig später ergangene Entscheidung in EuGH, verb. Rs. 56/64 und 58/64, Grundig u.a./Kommission, Slg. 1966, 322 (391). Vor den Behörden gilt jedoch der Amtsermittlungsgrundsatz. Dies bedeutet, dass die Wettbewerbsbehörden im Rahmen von Art. 81 EG stets auch die wettbewerbsfördernden Auswirkungen ermitteln müssen.
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Im Zuge der Neuregelung erließ die Kommission Leitlinien,56 die die Behörden und Gerichte in den Mitgliedstaaten darüber informieren, wie nach Kommissionssicht Art. 81 Abs. 3 EG im more economic approach anzuwenden ist. Die verfahrensmäßige „Fusion“ der beiden Absätze 1 und 3 des Art. 81 EG erlaubt es der Kommission, ein aus ökonomischer Sicht konsistentes neues Prüfungsschema vorzuschlagen, das an der Feststellung der wettbewerbsbeschränkenden und wettbewerbsfördernden Auswirkungen ansetzt. Dabei anerkennt die Kommission, dass die Abwägung dieser Auswirkungen erst im Rahmen von Art. 81 Abs. 3 EG erfolgt.57 c) Reform der europäischen Zusammenschlusskontrolle In der Zusammenschlusskontrolle spielt die Ökonomik eine besonders große Rolle.58 Während im Rahmen der Verbote wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und des Missbrauchs marktbeherrschender Stellung jedenfalls die Kartellämter und die Gerichte im Rahmen einer ex-post-Kontrolle anhand bereits eingetretener Veränderungen auf dem Markt sich ein Bild von den Auswirkungen einer bestimmten Verhaltensweise machen können, ist man in der präventiv angelegten Zusammenschlusskontrolle auf Prognosen angewiesen. Solche Prognosen lassen sich regelmäßig nur auf der Grundlage ökonomischer Theorien anstellen. Die Reform der Fusionskontrollverordnung59 wurde wesentlich durch die Rechtsprechung des EuG beeinflusst. Im Jahre 2002, dem annus horribilis der Kommission, erklärte das EuG drei Untersagungen der Kommission für nichtig.60 In unmittelbarer Reaktion hierauf richtete die Wettbewerbsdirektion das Amt eines Chefökonomen ein, der heute jede Entscheidung der Kommission auf die ökonomische Stichhaltigkeit überprüft. Gleichzeitig setzte die Kommission für die neue Fusionskontrollverordnung eine Reform des Zusammenschlusskriteriums durch. Vollzogen wurde ein Wechsel vom Marktbeherrschungstest zum Kriterium der erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs (significant impediment of effective competition) – sog. SIEC-Test –, wobei die Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung (Marktbeherrschungstest) nur noch als Regelbeispiel Erwähnung findet (Art. 2 Abs. 3 FKVO Nr. 139/2004). In dem neuen SIEC-Test liegt zunächst eine terminologische Annäherung an den amerikanischen SLC-Test (substantial lessening of competition). Wesentlich ist, dass das europäische Recht mit dem neuen Kriterium von einem reinen Markstrukturansatz abrückt und mehr Flexibilität in beide Richtungen gewinnt. So ist es nicht ausgeschlossen, dass der SLC-Test auch greift, wenn der Marktbeherrschungstest nicht erfüllt ist oder – umgekehrt – nicht greift, obwohl eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt wird.
56 57 58 59 60
Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97. Ebd., Rn. 11. Siehe auch A. Christiansen, Der „more economic approach“ in der EU-Fusionskontrolle, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 55 (2006), S. 150. Verordnung (EG) Nr. 139/2004 (Fn. 11). EuG, Rs. T-342/99, Airtours/Kommission, Slg. 2002, II-2585; Rs. T-5/02, Tetra Laval/Kommission, Slg. 2002, II-4382; Rs. 77/02, Schneider Electric/Kommission, Slg. 2002, II-4201.
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Im ersteren Falle soll es möglich werden, nicht koordinierte (unilaterale) Effekte als Grund für eine Untersagung heranzuziehen.61 Hieran hatte die Kommission ein offensichtliches Interesse, da es ihr in einem der drei erwähnten Fälle nicht gelungen war, das Gericht davon zu überzeugen, dass die Fusion in einem oligopolistisch strukturierten Markt zu einer Verhaltenskoordinierung zwischen den verbleibenden Unternehmen im Sinne kollektiver Marktbeherrschung gekommen wäre.62 In die andere Richtung gedacht soll die Anerkennung einer sog. Effizienzverteidigung (efficiency defence) einen Zusammenschluss retten können, obwohl dieser eine marktbeherrschende Stellung begründen oder verstärken würde. Die Möglichkeit der Berücksichtigung von Effizienzvorteilen wird – nur – in Erwägungsgrund 29 der neuen FKVO ausdrücklich angesprochen. Mit der grundsätzlichen Anerkennung der efficiency defence akzeptiert das europäische Recht nach dem Vorbild des Fusionsrechts in den USA das ökonomische Argument, wonach der Nachteil aus der Verringerung der Wettbewerbsintensität durch Effizienzvorteile – das neue Unternehmen kann wegen gewachsener Größe günstiger produzieren – prinzipiell ausgeglichen werden kann. Vor allem hier zeigt sich, dass das europäische Recht bereit ist, vom Schutz des Wettbewerbs als solchem in Richtung auf ein an Effizienz orientiertes ökonomisches Modell abzurücken. Auch im Zusammenschlussrecht spielen Leitlinien der Kommission eine große Rolle. Gleich nach Inkrafttreten der neuen FKVO 139/2004 erließ die Kommission die Leitlinien über horizontale Zusammenschlüsse,63 welche unter anderem die Anwendung der Verordnung im Zusammenhang mit nicht koordinierten Effekten konkretisiert64 und die Voraussetzungen der europäischen Effizienzverteidigung festlegt.65 Inzwischen hat die Kommission auch Leitlinien über nichthorizontale Zusammenschlüsse erlassen.66 61
62 63 64 65
66
Siehe den 25. Erwägungsgrund zur Verordnung Nr. 139/2004; sowie U. Böge, Reform der Europäischen Fusionskontrolle, Wirtschaft und Wettbewerb, 2004, S. 138 (144); J. Schmidt, The New ECMR: „Significant Impediment“ or „Significant Improvement“?, CMLRev. 41 (2004), S. 1555 (1568 ff.). Unilaterale (nicht koordinierte) Effekte bezeichnen das Phänomen, dass sich allein durch die Abnahme der Zahl von Anbietern in einem Oligopol trotz Fehlens von Marktbeherrschung die Preise aufgrund einer Verringerung der Wahlmöglichkeiten von Verbrauchern erhöhen; siehe dazu Motta (Fn. 49), S. 233 ff. EuG, Rs. T-342/99 (Fn. 50). Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 2004 C 31, S. 5. Ebd., Rn. 24 ff. Ebd., Rn. 76 ff. Die Anforderungen in Europa sind dabei besonders hoch. Effizienzgewinne werden nur dann berücksichtigt, wenn sie fusionsspezifisch und nachprüfbar sind und sie etwaige Nachteile für den Verbraucher zumindest ausgleichen. In den USA hat die Praxis gezeigt, dass Effizienzvorteile häufig von den Unternehmen nur behauptet wurden, ohne sich später zu bestätigen; siehe die kritische Analyse der U.S.-Praxis bei T. L. Greaney, Efficiencies in Merger Analysis: Alchemy in the Age of Empiricism?, in: J. Drexl u.a. (Hrsg.), Economic Theory and Competition Law, 2009, S. 191; gegen die Berücksichtigung von Effizienzen D. Zimmer, Efficiency in Merger Law: Appropriateness of Efficiency Analysis in Ex-ante Assessment?, in: ebd., S. 206. Leitlinien zur Bewertung nichthorizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über Unternehmenszusammenschlüsse, ABl. 2008 C 265, S. 6. Dazu kritisch H.-J. Ruppelt, Nicht-horizontale Zusammenschlüsse besser als horizontale?, Wirtschaft und Wettbewerb. 2007, S. 219.
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Leitlinien im Bereich des Zusammenschlussrechts haben eine etwas andere Funktion als jene im Bereich der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen. Dies liegt daran, dass die Kommission über das Anwendungsmonopol im Zusammenschlussrecht verfügt. Auch wenn die Leitlinien formal keine Rechtsakte darstellen, führen sie zu einer Selbstbindung der Kommission. Allen Leitlinien gemeinsam ist jedoch der ökonomisch-analytische Charakter. Sie gehören insgesamt zum ökonomisierten europäischen Wettbewerbsrecht. d) Reform der Anwendung von Art. 82 EG (Art. 102 AEUV) Bislang nicht recht vorangekommen ist die Übertragung des more economic approach auf die Kontrolle des Missbrauchs marktbeherrschender Stellung. Einen ersten Schritt in Richtung auf eine ökonomisch geprägte Reform unternahm die Kommission mit der Veröffentlichung eines Diskussionspapiers zur Anwendung von Art. 82 EG auf Behinderungspraktiken vom Dezember 2005.67 Bei der Abfassung des Berichts wurde die Kommission von der Economic Advisory Group for Competition Policy (EAGCP) beraten, die sich in einem Abschlussbericht im Vorfeld der Veröffentlichung des Diskussionspapiers der Kommission ausdrücklich für eine Übertragung des auswirkungsbezogenen Ansatzes auf Art. 82 EG aussprach.68 Das Diskussionspapier beschränkt sich auf die Fälle des sog. Behinderungsmissbrauchs (im Englischen: exclusionary practices), stellt aber auch klar, dass zum europäischen Recht nicht nur das Verbot des Behinderungsmissbrauchs, sondern auch des Ausbeutungsmissbrauchs (exploitative abuse) und der Diskriminierung gehört.69 Das Diskussionspapier enthält kaum Verwertbares zur Frage, weshalb der more economic approach nun auch im Bereich des Behinderungsmissbrauchs durchgesetzt werden soll. Der Bericht der EAGCP spricht dagegen eine deutliche Sprache:70 „An economic approach to Article 82 focuses on improved consumer welfare. In so doing, it avoids confusing the protection of competition with the protection of competitors and it stresses that the ultimate yardstick of competition policy is in the satisfaction of consumer needs. … Indeed, an economic approach achieves two complementary goals. 67 67
68 69 70
Nicht-horizontale Zusammenschlüsse besser als horizontale?, Wirtschaft und Wettbewerb. 2007, S. 219. DG Competition Discussion Paper on the Application of Article 82 of the Treaty to Exclusionary Abuses, December 2005, unter http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/ art82/discpaper2005.pdf (6.11.2008). Siehe dazu auch M. Dreher, Die Zukunft der Missbrauchsaufsicht in einem ökonomisierten Kartellrecht, Wirtschaft und Wettbewerb, 2008, S. 23; A. Schmidt, Der „more economic approach“ in der Missbrauchsaufsicht, Wirtschaft und Wettbewerb, 2006, S. 1097; M.M. Wirtz, Das Diskussionspapier der Kommission zur Anwendung von Art. 82 EG auf Behinderungsmissbräuche, Wirtschaft und Wettbewerb, 2006, S. 266. Siehe Report by the EAGCP, An Economic Approach to Article 82, July 2005, unter http:// ec.europa.eu/comm/competition/publications/studies/eagcp_july_21_05.pdf (6.06.2008). Discussion Paper (Fn. 67), Rn. 3. EAGCP (Fn. 68), S. 2 f.
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Josef Drexl First, it ensures that anti-competitive behaviour does not outwit legal provisions. … Second, … [a]n effects-based analysis takes fully into consideration that many business practices may have different effects in different circumstances: distorting competition in some cases and promoting efficiencies and innovation in others. A competition policy approach that directly confronts this duality will ensure that consumers are protected (through the prevention of behaviour that harms them) while promoting overall increased productivity and growth (since firms will not be discouraged in their search for efficiency).“
Die Gefahr, bei Anwendung von Art. 82 EG nur die Wettbewerber zu schützen, ist im Bereich des Behinderungswettbewerbs in der Tat besonders groß. Das Ziel, Mitbewerber vom Markt zu verdrängen, gehört zum Wesen des Wettbewerbs und muss daher auch dem Marktbeherrscher erlaubt sein. Mit dem Verbot des Behinderungsmissbrauchs setzt das Recht aber gerade bei dieser Ausschlusswirkung an. Vom Verbot profitiert an erster Stelle der schwächere Mitbewerber. Deshalb kann der Erfolg des Ausschlusses als solcher nicht genügen, um eine einseitige Wettbewerbshandlung mit dem Urteil des Missbrauchs zu belegen. Kriterien für die Feststellung eines Missbrauchs werden im Bericht der EAGCP vor dem Hintergrund des Zusammenspiels des auswirkungsbezogenen Ansatzes mit den ökonomischen Zielen des Wettbewerbsrechts gefunden:71 „An economics-based approach to the application of Article 82 implies that the assessment of each specific case will not be undertaken on the basis of the form that a particular business practice takes (for example, exclusive dealing, tying, etc.) but rather will be based on the assessment of the anti-competitive effects generated by business behaviour. This implies that competition authorities will need to identify a competitive harm, and assess the extent to which such negative effect on consumers is potentially outweighed by efficiency gains. The identification of competitive harm requires spelling out a consistent business behaviour based on sound economics and supported by the facts and empirical evidence. Similarly, efficiencies – and how they are passed on to consumers – should be properly justified on the basis of economic analysis on the facts of each case.”
Die EAGCP schlägt also vor, ein einseitiges Verhalten nur unter der Voraussetzung des Nachweises eines Verbrauchernachteils im Einzelfall als Missbrauch zu betrachten. Gleichzeitig sollen Effizienzen berücksichtigt werden – jedenfalls soweit auch Verbraucher daran teilhaben. Hier ist in Erinnerung zu rufen, dass sowohl der EuGH in British Airways als auch das EuG in Microsoft die Forderung, für Art. 82 EG den Nachweis eines Verbrauchernachteils zu verlangen, noch im Jahre 2007 zurückgewiesen und klargestellt haben, dass im europäischen Recht Verbraucher auch mittelbar über den Schutz der Wettbewerbsstruktur geschützt werden.72 Danach scheinen die europäischen Gerichte die erste Gelegenheit genutzt zu haben, den Forderungen der EAGCP entgegenzutreten, ohne dass die Gerichte dafür freilich eine ökonomische Begründung geben.
71 72
Ebd., S. 3. Siehe oben, II. 1. c).
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Tatsächlich scheint die EAGCP auch umgekehrt die Rechtsprechungsgrundsätze der europäischen Gerichte zu kritisieren, wenn argumentiert wird, dass ein Konzept, das sich lediglich mit dem Nachweis von Nachteilen für den Wettbewerb begnügt, nicht tragfähig sei. Für die Identifikation der Wettbewerbsschädigung fehle es an den notwendigen Kriterien. Diese könnten letztlich nur in den Auswirkungen für den Verbraucher gefunden werden, um den der Wettbewerb geführt werde.73 Besonders kritisch äußert sich die EAGCP folglich auch zum Schutze der „Wettbewerbsstruktur“:74 „If the assessment of competitive harm and the protection of ‚competition‘ are assessed with reference to consumer welfare, it is incumbent upon the competition authority in each case to examine the actual working of competition in the particular market without prejudice and to explain the harm for consumers from the practice in question. Without the discipline provided by this routine, the authority may be tempted to identify the ‘protection of competition’ with the preservation of a particular market structure, e.g., one that involves actual competition by a given company. Its policy intervention may then merely have the effect of protecting the other companies in the market from competition. This would enable them to maintain their presence in the market even though their offerings do not provide consumers with the best choices in terms of price, quality, or variety.“
Blickt man in das Diskussionspapier der Kommission, stellt man mit Erstaunen fest, wie wenig sich von den dezidierten Aussagen des Berichts der EAGCP wiederfindet. An sich würde man erwarten, dass die Kommission unter dem Stichwort des „analytischen Rahmens“75 genau erklärt, wie der für das Kartellverbot anerkannte effects-based approach auf Art. 82 EG übertragen werden soll. Anstatt aber entsprechend den Vorschlägen der Ökonomen auf die Auswirkungen auf Verbraucher abzustellen, werden die Akzente merklich anders gesetzt. Zwar anerkennt die Kommission das Endziel der Verbraucherwohlfahrt und Effizienz, unterstreicht aber gleichzeitig, dass es auch darauf ankomme, in einem beherrschten Markt den Marktzutritt zu ermöglichen:76 „The essential objective of Article 82 when analysing exclusionary conduct is the protection of competition on the market as a means of enhancing consumer welfare and of ensuring an efficient allocation of resources. The concern is to prevent exclusionary conduct of the dominant firm which is likely to limit the remaining competitive constraints on the dominant company, including entry of newcomers, so as to avoid that consumers are harmed. This means that it is competition, and not competitors as such, that is to be protected. Furthermore, the purpose of Article 82 is not to protect competitors form dominant firms’ genuine competition based on factors such as higher quality, novel products, opportune innovation or otherwise better performance, but to ensure that these competitors are also able to expand in or enter the market and compete therein on the merits, without facing competition conditions which are distorted or impaired by the dominant firm.“
73 74 75 76
EAGCP (Fn. 68), S. 8. Ebd., S. 8 f. Discussion Paper (Fn. 67), Rn. 51 ff. Ebd., Rn. 54.
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Wenn im Folgenden die Kommission dann für den effects-based approach auf marktverschließende Wirkungen (foreclosure effects) abstellt und nicht auf den unmittelbaren Nachweis des Verbraucherschadens, so leuchtet dies gerade im Lichte des Ziels des Offenhaltens des dominierten Marktes ein. Denn ob der potenzielle Wettbewerber Verbrauchern bessere Produkte anbieten wird, lässt sich nicht ermitteln, solange er nicht die Chance auf den Markteintritt erhält. Die Analyse der Kommission zeichnet sich im Vergleich zu jener des EAGCP durch eine langfristige Perspektive und ein dynamisches Wettbewerbsverständnis aus. Während die EAGCP dem effizienteren Marktbeherrscher den Marktausschluss erlaubt, befürchtet die Kommission, dass mit dem erfolgreichen Marktausschluss der wettbewerbsrechtliche Druck auf eine angemessene Befriedigung der Verbraucherwünsche abnehmen wird. Anders ausgedrückt ist die Erhaltung des Restwettbewerbs und der Offenheit des Marktzugangs Voraussetzung dafür, dass Verbraucher langfristig nicht geschädigt werden. So wird verständlich, dass die Kommission sich letztlich für ein Modell entscheidet, das auf den Schutz des Wettbewerbs an sich abstellt. Dazu genüge es, wenn der Nachweis einer marktverschließenden Wirkung gelingt:77 „Article 82 prohibits exclusionary conduct which produces actual or likely anticompetitive effects in the market and which can harm consumers in a direct or indirect way. The longer the conduct has already been going on, the more weight will in general be given to actual effects. Harm to intermediate buyers is generally presumed to create harm to final consumers. Furthermore, not only short term harm, but also medium and long term harm arising from foreclosure is taken into account.”
Danach reicht die Feststellung tatsächlicher Verbrauchernachteile jedenfalls für den Nachweis eines Missbrauchs aus; gleichwohl handelt es sich wegen der langfristigen, auf das Offenhalten der Märkte gerichteten Perspektive um keine notwendige Voraussetzung. Ihre Konzeption sieht die Kommission auch im Einklang mit der klassischen Definition des Missbrauchs durch den EuGH in Hoffmann-La Roche, in der entscheidend auf die Schädigung der Struktur des Marktes abgestellt wurde.78 Näher zu bestimmen ist dann freilich noch, in welchen Fällen eine marktabschließende Wirkung vorliegt. Eine solche möchte die Kommission annehmen, wenn tatsächlichen oder potenziellen Wettbewerbern ganz oder teilweise der Zugang zum Markt verschlossen wird. Marktabschließendes Verhalten (foreclosure) könne entweder Wettbewerber vom Markteintritt oder vom Ausbau ihrer Marktposition abhalten oder sie zum Marktaustritt bewegen. Auch reiche es aus, wenn Wettbewerber konsequent benachteiligt werden oder dazu bewegt werden, sich weniger aggressiv im Wettbewerb zu verhalten. Ein unzulässiges Hervorrufen von Nachteilen für Wettbewerber liege etwa vor, wenn das beherrschende Unternehmen unmittelbar die Kosten der Wettbewerber erhöhe (raising rivals’ costs) oder die Nachfrage für deren Produkte senke.79 77 78 79
Ebd., Rn. 55. Ebd., Rn. 57, unter Verweis auf Leitsatz 6 von EuGH, Rs. 85/76 (Fn. 28). Discussion Paper (Fn. 67), Rn. 58.
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Ein Vergleich der Position der EAGCP und der Kommission zeigt, dass es letztlich den analytischen Rahmen für den more economic approach nicht geben kann. Die Unterschiede zwischen der Position des EAGCP und der Kommission lassen sich auf grundsätzlich unterschiedliche wettbewerbspolitische Wettbewerbsmodelle zurückführen. Die Ökonomen der EAGCP argumentieren auf der Grundlage eines statischen Wettbewerbsmodells, das lediglich kurzfristige Auswirkungen auf die Verbraucher in die Betrachtung einbezieht. Die Kommission vertritt dagegen ein dynamisches Wettbewerbsmodell, das eine längerfristige Perspektive bevorzugt. Konsequent wird deshalb von der Kommission der Schutz des Wettbewerbs betont und auf das Erfordernis des Nachweises eines konkreten Verbraucherschadens verzichtet. Im Ergebnis befindet sich die Kommission insoweit im Einklang mit der Rechtsprechung der europäischen Gerichte, die nach Veröffentlichung des Diskussionspapiers und in Anschluss an ältere Rechtsprechung in British Airways und in Microsoft weiterhin Ähnliches vertreten haben.80 Die Position der EAGCP bewegt sich dagegen auf der Linie des US-Rechts, das ebenfalls den Nachweis eines Verbrauchernachteils für das Verbot nach Section 2 Sherman Act voraussetzt.81 Festzuhalten bleibt auch, dass beide Ansätze, der EAGCP einerseits und der Kommission andererseits, die Charakteristika des more economic approach erfüllen. Beide lehnen einen form-based approach ab und beurteilen die Zulässigkeit eines Verhaltens nach den Auswirkungen auf den Markt. Der Unterschied liegt darin, dass die EAGCP und die Kommission unterschiedliche Arten von Auswirkungen für relevant halten. e) Die Reform der Rechtsdurchsetzung und die Stärkung der privaten Rechtsdurchsetzung Wesentliche Auswirkungen hat der wirtschaftsorientierte Ansatz schließlich im Bereich der Rechtsdurchsetzung. Das ökonomische Denken trifft sich hier mit dem Grundsatz der vollständigen Wirksamkeit (effet utile), einem der tragenden Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung. Aus ökonomischer Sicht sind Durchsetzungsmaßnahmen nicht primär dazu gedacht, zu strafen oder entstandene Schäden auszugleichen, sondern den Einzelnen von Verstößen abzuhalten. Nur wenn der Einzelne unter dem Eindruck der Sanktion auf den Verstoß verzichtet, wird das von den materiellen Vorschriften verfolgte Ziel der Förderung ökonomischer Effizienz auch tatsächlich erreicht. Obwohl das Gemeinschaftsrecht von Hause aus nicht in den Kategorien ökonomischer Effizienz denkt, geht es dort, wo es von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Prinzips vollständiger Wirksamkeit das Ergreifen von Durchsetzungsmaßnahmen verlangt, ebenfalls darum, dass das Gemeinschaftsrecht letztlich beachtet und der Verstoß vermieden wird. Ziel jeglicher Durchsetzungsmaßnahmen aus ökonomischer und gemeinschaftsrechtlicher Sicht
80 81
Dazu schon oben, II. 1. c). Siehe erst jüngst Rambus Inc. v. FTC (D.C. Cir. 2008), unter http://pacer.cadc.uscourts.gov/ common/opinions/200804/07-1086-1112217.pdf (6.11.2008).
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ist danach die Prävention. Mit dem Grundsatz der vollständigen Wirksamkeit bietet das Gemeinschaftsrecht beste Voraussetzungen für die Durchsetzung eines wirtschaftsorientierten Ansatzes auch im Bereich der Durchsetzung. Im Zeichen der Ökonomisierung standen und stehen vor allem drei Projekte aus dem Bereich der Rechtsdurchsetzung, nämlich (1.) die Reform des europäischen Bußgeldrechts,82 die Schaffung eines europäischen Leniency-Programms,83 das kooperationswillige Kartellanten unter bestimmten Voraussetzungen von Sanktionen freistellt, sowie schließlich die Stärkung der privaten Rechtsdurchsetzung. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf den Ausbau der privaten Rechtsdurchsetzung durch die Förderung von Schadensersatzansprüchen als besonders aktuelles Thema. Die Grundlage für die Anerkennung privater Schadensersatzansprüche infolge von Verstößen gegen das europäische Wettbewerbsrecht bildet heute die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Courage aus dem Jahre 2001.84 Obwohl Art. 81 Abs. 2 EG nur die Vertragsnichtigkeit als privatrechtliche Rechtsfolge von Verstößen gegen das Kartellverbot vorsieht, anerkannte der EuGH in dieser Entscheidung, dass den Geschädigten von den nationalen Gerichten ein Schadensersatzanspruch zuerkannt werden muss. Diese Rechtsprechung wurde in der Entscheidung Manfredi fortentwickelt.85 Aus verfassungsrechtlicher sowie ökonomischer Sicht erscheinen vor allem zwei Aspekte dieser Rechtsprechung bedeutsam. Zum einen anerkennt der EuGH einen Schadensersatzanspruch als individuelles Rechts eines jeden Geschädigten. Zum anderen soll dieser Anspruch dem Zweck der Prävention dienen. Beides steht in einem engen Zusammenhang mit dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der vollständigen Wirksamkeit.86 Zur Begründung des Schadensersatzsanspruchs als
82
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Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006 C 210, S. 2. Diese Leitlinien wurden ganz im Lichte des Ziels der Generalprävention gefasst. Zur optimalen Festsetzung von Geldbußen sowie zu den Leitlinien siehe W. P. J. Wils, Efficiency and Justice in European Antitrust Enforcement, 2008, S. 49 ff. Siehe Mitteilung der Kommission vom 8. Dezember 2006 über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2006 C 298, S. 17; allgemein zur LeniencyPolitik siehe Wils (Fn. 82), S. 113 ff. EuGH, Rs. C-453/99, Courage, Slg. 2001, I-6297; siehe dazu nur beispielhaft F. W. Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 2006, S. 191 ff.; T. Eilmansberger, Schadensersatz wegen Kartellverstoßes, ecolex 2002, S. 28; F. Endter, Schadensersatz nach Kartellverstoß, 2007, S. 24 ff.; A. P. Komninos, New Prospects for Private Enforcement of EC Competition, CMLRev. 39 (2002), S. 447; ders., EC Private Antitrust Enforcement, 2008, S. 167 ff. EuGH, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, Slg. 2006, I-6619; siehe dazu F. W. Bulst, Zum Manfredi-Urteil des EuGH, EuR 2008, S. 178; Komninos 2008 (Fn. 84), S. 174 ff.; zu den Auswirkungen auf die Rechtslage in Deutschland siehe J. Drexl, Zur Schadensersatzberechtigung unmittelbarer und mittelbarer Abnehmer im europäischen Kartelldeliktsrecht, in: FS Canaris, Bd. I, 2007, S. 1339. EuGH, Rs. C-453/99 (Fn. 84), Rn. 25 ff.
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individuelles Recht konnte der EuGH87 auf die Entscheidung in van Gend aus dem Jahre 1963 verweisen. Schon damals hatte der EuGH, wenn auch in einem obiter dictum, ausgeführt, dass Rechte des Einzelnen nicht nur dann entstehen, wenn der EG-Vertrag den Mitgliedstaaten oder den Organen der Gemeinschaft eindeutige Verpflichtungen auferlegt, sondern auch dann, wenn es um Pflichten anderer Privater geht.88 Zu denken ist dabei natürlich vor allem an die Bestimmungen der Wettbewerbsvorschriften, die unmittelbar Pflichten von Unternehmen begründen. Dem EuGH gelingt durch die Anerkennung individueller Rechte in Courage die Konstitutionalisierung des Wettbewerbsrechts.89 Dies geschieht, um die vollständige Wirksamkeit des europäischen Wettbewerbsrechts zu gewährleisten. Entsprechend ist der Schadensersatzanspruch auf das Ziel der Prävention gerichtet. Nach Erlass der Durchführungsverordnung Nr. 1/2003 hat sich nun auch die Kommission der Förderung der Schadensersatzansprüche angenommen. Die Förderung privater Schadensersatzansprüche erscheint im Zuge der Dezentralisierung geboten, um sicherzustellen, dass die nationalen Gerichte vermehrt von Privaten zur Durchsetzung des Kartellrechts angerufen werden.90 In Vorbereitung eines Vorschlags für einen Rechtsakt zu Schadensersatzklagen bei Verstößen gegen das europäische Wettbewerbsrecht hat die Kommission im Jahre 2005 ein Grünbuch91 sowie schließlich im April 2008 ein Weißbuch92 vorgelegt. Die Rechtsprechung des EuGH, der Präventionsgedanke an sich und schließlich auch das ökonomische Denken im Kartelldeliktsrecht führen vor allem zu Problemen in Bezug auf die Person des Anspruchsberechtigten. Schon in Courage betont der EuGH im Lichte des effet-utile-Grundsatzes, dass grundsätzlich „jedermann“, der aufgrund des Verstoßes einen Schaden erlitten hat, anspruchsberechtigt ist.93 In Manfredi wurde dies dahingehend bestätigt, dass jedem, dem in kausaler Weise ein solcher Schaden entstanden ist, auch ein Anspruch zustehen muss.94 Bei horizontalen Vereinbarungen, insbes. Preiskartellen, führt dies zur Frage, welcher Abnehmer anspruchsberechtigt sein soll. Der Erstabnehmer wird im weiteren Geschäftsablauf häufig – wenn auch nicht notwendig – die überhöhten Preise an seine Abnehmer weitergeben, bis schließlich der Letztverbraucher erreicht wird. Gewährt man hier dem Schädiger den Einwand, der Nachteil sei weitergegeben worden (sog. passingon defence), wird möglicherweise die Durchsetzung des europäischen Wettbe87 88 89
90 91 92
93 94
Ebd., Rn. 19. EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 1 (10). Zur Konzeption dieser „individuellen Rechte“ – auch in Abgrenzung zum „subjektiven“ Recht nach deutschem Verständnis – siehe J. Drexl, Wettbewerbsverfassung, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 747 (769 ff.). Ähnlich Komninos (Fn. 85), S. 141. Schadensersatzklagen bei Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, KOM(2005) 672. Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165; siehe dazu auch das Commission Staff Working Paper Accompanying the White Paper on Damage Actions for Breach of EC Antitrust Rules, SEC(2008) 404. EuGH, Rs. C-453/99 (Fn. 84), Rn. 26. EuGH, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04 (Fn. 85), Rn. 60 ff.
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werbsrechts geschwächt, denn mittelbare Abnehmer (Verbraucher) haben aufgrund der zunehmend größeren Streuung der Schäden einen geringeren Anreiz, vor Gericht zu klagen. Umgekehrt droht eine Mehrfachbeleistung des Schädigers durch mehrere Anspruchsberechtigte, wenn man die passing-on defence nicht zulässt. Nach der Rechtsprechung des EuGH lässt sich nämlich der Anspruch der mittelbar Geschädigten nicht mit dem Argument ausschließen, es habe bereits der Erstabnehmer einen Anspruch.95 Aus ökonomischer Sicht ist es erstaunlich, dass das Weißbuch die passing-on defence zulassen möchte.96 Als Grund wird hierfür angegeben, dass der Schadensersatzanspruch nur zur Kompensation dient und nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Erstabnehmers führen soll.97 Diesbezüglich scheint die Kommission ein Stück weit vom Präventionsgedanken abzurücken und auf den für das Deliktsrecht klassischen Kompensationsgedanken zurückzukommen.98 Möglicherweise kommt hier aber auch ein ganz anderes ökonomisches Argument zum Tragen. Zieht man nämlich in Betracht, dass das Wettbewerbsrecht letztlich die Verbraucherwohlfahrt erhöhen soll, ist es nur konsequent, die Ansprüche der Endverbraucher zu stärken. Die Kommission möchte Schadensersatzklagen von Verbrauchern durch eine widerlegliche Vermutung, wonach die Abwälzung der Preisaufschläge auf die Verbraucher erfolgt ist,99 sowie durch die Einführung von Opt-in-Gruppenklagen erleichtern.100 Im Schnittfeld von Ökonomisierung und Wirtschaftsverfassung offenbart diese Diskussion über die Anspruchsberechtigung grundsätzliche Wertungsunterschiede von Ökonomen und Juristen. Aus ökonomischer Sicht ist die Verbraucherwohlfahrt im öffentlichen Interesse zu fördern; um den Schutz individueller Rechtspositionen i.S. wirtschaftlicher Handlungsfreiheiten, die auch verfassungsrechtlich verbürgt sind, geht es nicht. Wer anspruchsberechtigt ist, hängt nicht davon ab, wer durch die Wettbewerbsvorschriften geschützt wird, sondern nur von der Effektivität der Durchsetzung. Privatrecht dient hier öffentlichen Zwecken.101 Für im deutschen Recht ausgebildete Juristen liegt in der ökonomischen Argumentation ein grundlegender Wertungswiderspruch.102 Anspruchsberechtigt kann 95 96 97 98
99 100 101 102
So schon Drexl (Fn. 85), S. 1352 f. (mit Blick auf das deutsche Recht); inzwischen auch die Kommission in ihrem Weißbuch (Fn. 92), Abschn. 2.1. Weißbuch (Fn. 92), Abschn. 2.6. Ebd. Die vorgeschlagene Lösung würde sich auch grundsätzlich von der Rechtslage in den USA unterscheiden. Dort wird die passing-on defence von der Rechtsprechung nicht zugelassen, so dass Erstabnehmer grundsätzlich klagen können; grundlegend Hanover Shoe, Inc. v. United Shoe Machinery Corp., 392 U.S. 481 (1968). Im Gegenzug hat der Supreme Court Klagen mittelbarer Abnehmer ausgeschlossen; siehe Illinois Brick Co. v. Illinois, 431 U.S. 720 (1977). Insgesamt zur Rechtslage in den USA siehe Bulst (Fn. 84), S. 59 ff. Weißbuch (Fn. 92), Abschn. 2.6. Ebd., Abschn. 2.1. Besonders anschaulich hierzu M.-A. Frison-Roche, Efficient and/or Effective Enforcement, in: Drexl u.a. (Fn. 65), S. 211. Vgl. auch Drexl (Fn. 85), S. 1359 ff.
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nur sein, wer in den „Schutzzweck“ der Norm einbezogen ist.103 Die Kommission scheint in ihrem Weißbuch einen Mittelweg zu wählen, indem sie – möglicherweise durch ökonomisches Denken beeinflusst – vor allem die Verbraucher als die durch das Wettbewerbsrecht zu schützenden Personen entdeckt, damit aber gleichzeitig eine Schwächung der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts im Bereich der privaten Rechtsdurchsetzung in Kauf nimmt, weil sie über die Zulässigkeit der passing-on defence Klagen von unmittelbaren Abnehmern erschwert. f) Zwischenfazit Die vorangegangene Analyse des more economic approach in den verschiedenen Bereichen des Kartellrechts fördert eine beachtliche Komplexität zutage. Verfolgt wird in erster Linie eine Optimierung der kartellrechtlichen Beurteilung verschiedenster Verhaltensweisen, wobei der Blick auf die Auswirkungen auf den relevanten Markt gerichtet wird. Die Beurteilung wird dabei wesentlich durch die ökonomischen Zielsetzungen des Wettbewerbsrechts beeinflusst. Die unmittelbar nachfolgenden Ausführungen dieses Abschnitts dienen noch nicht der Diskussion dieser Zielsetzungen und möglicher Konflikte mit anderen Wertungen der europäischen Wirtschaftsverfassung. Vielmehr soll genauer untersucht werden, weshalb die wirtschaftsorientierte Beurteilung selbst bei Anerkennung der ökonomischen Ziele aus juristischer Sicht problematisch ist. Diese Probleme bestehen in einer Gefährdung der Rechtssicherheit (2.), in einer zunehmenden Verpflichtung des Rechts auf Prognoseentscheidungen (3.), in einer Anmaßung von Wissen (4.) und schließlich in einer Missachtung der institutionellen Dimension des Wettbewerbsrechts (5.). 2. Mangelnde Rechtssicherheit Problematisch ist, dass der more economic approach im Vergleich zu früheren Ansätzen die „ökonomische Punktlandung“ verfolgt. Oder anders formuliert: Der more economic approach reduziert das Kartellrecht auf den einen Tatbestand der „Wettbewerbsbeschränkung“, der im konkreten Fall über die Ermittlung der ökonomischen Auswirkungen des zu beurteilenden Verhaltens zu konkretisieren ist. Auf das Argument der Rechtssicherheit wird dabei nicht Rücksicht genommen. Das Problem mangelnder Rechtssicherheit lässt sich anschaulich anhand der neuen Gruppenfreistellungsverordnungen aufzeigen.104 Die Gruppenfreistellungsverordnungen sollen an sich einen „sicheren Hafen“ (safe harbour) für Unternehmen schaffen. Mit Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1/2003 sind die Unternehmen grundsätzlich verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Vereinbarung selbst zu beurteilen. Klärung wird im Streitfall regelmäßig erst vor Gericht zu erzielen sein. Die frü103
104
So die ausdrückliche Regelung in § 33 GWB a.F. Dieses Schutzzweckerfordernis wurde in dem Sinne ausgelegt, dass nur derjenige anspruchsberechtigt sein sollte, der durch einen gezielten Verstoß geschädigt wurde. Danach war es erheblich einfacher, einen Anspruch von Wettbewerbern als von Abnehmern, geschweige denn von Endverbrauchern zu begründen. Dazu oben, 1. a).
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here Generation von Verordnungen mit einer Liste von unproblematischen, frei gestellten und verbotenen Klauseln entsprach dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit, zwang aber Unternehmen, auf Vereinbarungen zu verzichten, die wettbewerbspolitisch unproblematisch waren (sog. Zwangsjackeneffekt). Im neuen System der Marktanteilsschwellen ist dagegen der Jurist regelmäßig auf den Rat von Ökonomen angewiesen, um feststellen, ob die Vereinbarung in den Bereich der Freistellung fällt. Ob Behörden und Gerichte der „Selbstveranlagung“ der Unternehmen folgen werden, lässt sich nur schwer vorhersehen. Gleiches gilt für die Beurteilung oberhalb der Marktanteilsschwellen. Die Leitlinien zu Art. 81 Abs. 3 EG105 sollen zwar zur Rechtssicherheit beitragen, formulieren ihrerseits aber keine klaren Verbots- oder Erlaubnistatbestände, sondern geben lediglich einen analytischen Rahmen vor, in den bestimmte Umstände, wie vor allem das Maß an Marktmacht als Abwägungsgesichtspunkt, einfließen. Verstärkt wird die Rechtsunsicherheit durch die Beurteilung im Lichte der Auswirkungen auf den relevanten Markt. Im Zeitpunkt der Vereinbarung erfordert dies eine Prognoseentscheidung, die wiederum eine Zusammenarbeit von Juristen und Ökonomen erforderlich macht. Zugrunde zu legen sind ökonomische Erkenntnisse und Theorien, die u.U. auch von Ökonomen nicht unbedingt konsentiert sind. Erschwerend kommt hinzu, dass Vereinbarungen auch Art. 81 Abs. 1 EG regelmäßig Dauerschuldverhältnisse begründen, also über längere Zeit anzuwenden sind. Die auswirkungsbezogene Beurteilung kann dazu führen, dass sich die rechtliche Beurteilung der Vereinbarung durch eine Veränderung der tatsächlichen Umstände zum Nachteil der Unternehmen ändern kann. So kann der Vorteil der Gruppenfreistellung durch einen späteren Anstieg der Marktanteile verloren gehen, oder unter unmittelbarer Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG die Freistellung mit ansteigender Marktmacht weniger wahrscheinlich werden. Für Unternehmen entsteht hieraus eine Pflicht zur ständigen Überprüfung und gegebenenfalls zur Kündigung oder Neuverhandlung.106 Das Argument mangelnder Rechtssicherheit ist nicht nur aus juristischer Sicht problematisch. Es sollte auch aus ökonomischer Sicht Berücksichtigung finden. Hierfür sprechen vor allem zwei Gründe: Die auswirkungsbezogene Beurteilung des more economic approach führt zu erheblichen Transaktionskosten.107 Für Kritiker ist der more economic approach ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Ökonomen, für die sich neue Arbeitsfelder nun auch in Anwaltskanzleien und Rechtsabteilungen von Unternehmen erschließen. Andererseits kann das Risiko der Fehlbeurteilung Unternehmen von an sich effizienten Verhaltensweisen und Vereinbarungen abschrecken. Damit hätte man zwar das Ziel eines ökonomisch besser jus105 106
107
Fn. 56. Besonders bedeutsam ist diese Problematik bei Technologietransfer-Vereinbarungen; siehe dazu A. del Tiempo, Kartellrechtliche Beurteilung horizontaler Technologietransfer-Vereinbarungen nach Europäischem Recht, 2008, § 6. So auch Christiansen (Fn. 58), S. 156 f. (zur Erhöhung auch des Verfahrensaufwandes bei der Fusionskontrolle).
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tierten Rechts erreicht; dennoch wäre das Recht auch unter ökonomischen Gesichtspunkten ineffizient ausgestaltet. Im Lichte dieser Kritik erweist sich also der more economic approach streng genommen als nicht ausreichend ökonomisch. Er ist nämlich einseitig industrieökonomisch geprägt und übergeht – was das juristische Argument der Rechtssicherheit anlangt – institutionenökonomische Erkenntnisse. 3. Erforderlichkeit von Prognoseentscheidungen Aus dem Vorangegangenen ergibt sich bereits die Wichtigkeit von Prognoseentscheidungen im ökonomisierten Kartellrecht. Prognoseentscheidungen sind weder für das Recht insgesamt noch für das Kartellrecht eine Neuheit. Im Recht der präventiv ausgelegten Zusammenschlusskontrolle stand die Prognose über die zukünftigen Auswirkungen eines Zusammenschlusses schon immer im Zentrum der Entscheidung. Macht man die Rechtmäßigkeit von Verhalten generell von den Auswirkungen auf den Markt abhängig, so ist im ökonomisierten Kartellrecht aus der Perspektive des Unternehmens, das wissen möchte, ob es handeln darf oder nicht, jedoch stets eine Prognoseentscheidung notwendig. Besonders misslich ist dies im Bereich von Art. 81 EG. Während das Durchführungsverbot in der Fusionskontrolle die Unternehmen regelmäßig vor fehlerhaften Transaktionen bewahrt, sind die Vertragsparteien bei Art. 81 EG vor die Wahl gestellt, einen mit dem Risiko einer Fehlprognose belasteten Vertrag anzuwenden oder auf den Vertragsschluss gleich ganz zu verzichten. Auch für die Behörden und Gerichte werfen Prognoseentscheidungen Probleme auf. Für die Frage, wie sich ein bestimmtes Verhalten in der Zukunft auf den Markt auswirken wird, müssen notwendig ökonomische Vorstellungen und Modelle von den Wirkungsweisen der Märkte herangezogen werden. Für Gerichte stellt sich zunächst das Problem, wie solche ökonomischen Lehren zu qualifizieren sind. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass es sich bei der Feststellung zukünftiger Auswirkungen um eine Tatsachen- und keine Rechtsfrage handelt. Die ökonomischen Modelle und Lehren der Industrieökonomie verschaffen aber nur Annäherungen an die ökonomische Wirklichkeit und sollten deshalb auch von Gerichten nicht mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden. So verwundert es nicht, dass das EuG gerade im Bereich der notwendig auf Prognosen angewiesenen Zusammenschlusskontrolle in dem Maße zum Promotor des ökonomischen Ansatzes geworden ist, wie es seine Aufgabe als Instanz zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen der Kommission ernst nimmt und Entscheidungen der Kommission aufhebt, weil ihr die Begründung nicht ausreichend erscheint.108 Freilich wirkt diese Rechtsprechung in beide Richtungen. Erheben Wettbewerber fusionierender Unternehmen Klage gegen die Zusammenschlusserlaubnis, verlangt das EuG heute auch in diesen Fällen eine ausreichende
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Vgl. hierzu oben, 1. c).
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ökonomische Begründung der Unbedenklichkeit des Zusammenschlusses.109 So erschwert der ökonomische Ansatz über die Erforderlichkeit von Prognoseentscheidungen die Kartellrechtsdurchsetzung. Umgekehrt kann der ökonomische Ansatz aber auch das Absehen von Verfolgung erschweren, soweit – wie in der Zusammenschlusskontrolle – das europäische Recht Dritten den Weg zu den Gerichten eröffnet. Fortschritte in der ökonomischen Forschung können Voraussagen über zukünftige Auswirkungen verbessern helfen. Deshalb ist heute die Kommission z.T. bereit, sog. Simulationsmodelle zur Ermittlung zukünftiger Auswirkungen von Zusammenschlüssen zu verwenden.110 Solche Modelle dienen zur mathematischen Berechnung der Auswirkungen eines Zusammenschlusses auf Preise und die Interessen der Marktteilnehmer, einschließlich der Verbraucher. Selbst wenn man die Relevanz der konkreten Marktergebnisse für die Frage anerkennt, ob ein Zusammenschluss eher wettbewerbsfördernd oder -beschränkend ist, kann doch allein schon die Verwendung solcher Modelle zu juristischen Auseinandersetzungen führen, etwa in Bezug auf das zu verwendende Modell und dahin gehend, ob die richtigen Daten ausgewählt, sie korrekt gesammelt und berücksichtigt wurden.111 Für den Grad der Prognoseschwierigkeiten unmittelbar relevant ist schließlich, auf welche Auswirkungen es ankommen soll. Der Nachweis fällt leichter, wenn man sich wie in der gegenwärtigen Praxis in der EU bei Anwendung von Art. 82 EG mit dem Nachweis nachteiliger Auswirkungen auf den Wettbewerb begnügt und nicht – wie in den USA vertreten – auch noch den Nachweis von Nachteilen für den Endverbraucher verlangt. Dem entspricht es, dass sich in jüngster Zeit ausgerechnet Unternehmen, denen von der Kommission wettbewerbswidriges Verhalten vorgeworfen wurde, in der Hoffnung, der Verfolgung zu entgehen, auf die Erforderlichkeit des Nachweises eines Verbraucherschadens berufen haben.112 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der neue ökonomische Ansatz soweit wie möglich von Prognosen auf der Grundlage ökonomischer Modelle zugunsten von Tatsachenfeststellungen Abstand nehmen sollte. Gerade bei Anwendung von Art. 81 und 82 EG wird dies möglich sein, wenn Behörden und Gerichte nachträglich die Auswirkungen einer Verhaltensweise auf dem Markt untersuchen.113 Schließlich sind die Einwirkungen auf die Wettbewerbsprozesse leichter vorherzu109 110
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112 113
Siehe nur EuG, Rs. T-464/04, Impala/Kommission, Slg. 2006, II-2289 (das Rechtsmittelverfahren Rs. 413/06 P führte am 10. Juli 2008 zur Aufhebung des Urteils). Simulationsmodelle spielten eine wesentliche Rolle in Oracle/PeopleSoft; siehe Entscheidung 2005/621/EG vom 26. Oktober 2004, Rs. COMP/M.3216 – Oracle/PeopleSoft, ABl. 2005 L 218, S. 6. Zu diesem Problemkreis Monopolkommission, Mehr Wettbewerb auch im Dienstleistungssektor: XVI. Hauptgutachten 2004/05 (2006), Rn. 115 ff. (grundsätzlich befürwortend gegenüber solchen Modellen). Siehe auch Immenga (Fn. 3), S. 360. Siehe EuG, Rs. T-168/01, GlaxoSmithKline/Kommission, Slg. 2006, II-2969, Rn. 172; EuGH, Rs. C-95/04 P (Fn. 26), Rn. 103 ff. Freilich stellt sich hier das Problem des Nachweises, dass eingetretene Veränderungen auf dem relevanten Markt auch gerade auf dem zu beurteilenden Verhalten beruhen; so zu Recht Immenga (Fn. 3), S. 358.
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sagen als ein möglicher Verbrauchernachteil. Wer nicht nur die Feststellung der Auswirkungen auf den Wettbewerb, sondern zusätzlich den Nachweis eines Verbraucherschadens verlangt, erschwert tendenziell den Wettbewerbsschutz – und damit letztlich auch einen effektiven Schutz der Verbraucher durch den Wettbewerb. 4. Anmaßung von Wissen Durch das weit gehende Angewiesensein auf Prognosen und ökonomische Modelle stellt sich im ökonomisierten Kartellrecht auch das Problem der Anmaßung von Wissen. Dem Kartellrechtsjurist ist es nicht gestattet, Fälle unentschieden zu lassen. Für den Ökonomen gibt es dagegen eindeutige Grenzen des Vorhersagbaren. Dies liegt daran, dass industrieökonomische Modelle einerseits nur eine Annäherung an die ökonomische Realität erreichen können. Zum anderen kennt auch die Volkswirtschaftslehre Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Dies zeigt sich vor allem im Bereich von Innovationsmärkten. Die Industrieökonomie ist vor allem leistungsfähig, soweit es um den Preiswettbewerb und – ökonomisch formuliert – um allokative Effizienz geht. Aussagen über den optimalen Einsatz vorhandener – und damit auch für den Ökonomen messbarer – Ressourcen lassen sich relativ leicht anstellen. Geht es dagegen um den Wettbewerb um bessere Produkte (dynamische Effizienz), gelangt die Industrieökonomie an die Grenzen des Vorhersagbaren, da nicht feststeht, welche Produkte dem Endverbraucher eventuell vorenthalten werden.114 Kritiker des more economic approach verweisen gerne auf von Hayek und dessen Konzeption vom Wettbewerb als Entdeckungsverfahren.115 Danach ist der Wettbewerb gerade ein Verfahren, über das das Wissen von den Präferenzen der Verbraucher erst generiert werden kann. Wenn aber der Wettbewerb erst das Wissen über die Präferenzen von Verbrauchern hervorbringt, kann es schon im Grundsatz nicht überzeugen, wenn Ökonomen den Nachweis des Verbrauchernachteils zum zentralen Kriterium für das Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung erheben. Nun räumen auch Industrieökonomen selbst ein, dass ihr Wissen und die Vorhersehbarkeit von Auswirkungen eines Verhaltens begrenzt sind. Manche von ihnen suchen einen Ausweg in Fehleranalysen. Anstatt sich in der Prüfung von Auswirkungen des unternehmerischen Handelns zu verlieren, wird der Blick auf die Auswirkungen des Handelns des Rechtsanwenders „umgelenkt“ und im Lichte des Effizienzkriteriums das Risiko zweier Arten von Fehlentscheidungen verglichen. Auf der einen Seite stehen die sog. false positives – auch „type I errors“ genannt. Bei diesen verbietet der Rechtsanwender fälschlicherweise effizientes Verhalten. Daneben besteht das Risiko von false negatives („type II errors“).116 Bei diesen 114 115 116
Zur Ungeeignetheit des statischen Wettbewerbsmodells in Bezug auf dynamische Effizienz, siehe auch U. Schwalbe/D. Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, 2006, S. 18 f. F. A. von Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, 1968. Diese Begrifflichkeiten wurden zuerst vor allem in der medizinischen Diagnostik zur Anwendung gebracht. False positives bezeichnen dort die Diagnose einer Erkrankung, die in Wirklichkeit nicht gegeben ist.
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sieht der Rechtsanwender vom Verbot ab, obwohl das Verhalten eigentlich ineffizient ist. In der geforderten Fehleranalyse sollen die Folgen der verschiedenen Fehlertypen sowie die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts abgeschätzt und abgewogen werden. Vor allem in Bezug auf die Anwendung von Kartellrecht auf geistiges Eigentum führt diese Theorie zu pauschalen Aussagen und Schlussfolgerungen. So soll bei geistigem Eigentum gar generell von einer Anwendung des Kartellrechts abgesehen werden. Da geistiges Eigentum Anreize zu Innovationen entfalte, laufe ein kartellrechtlicher Eingriff stets Gefahr, dynamische Effizienz zu beschränken. Die daraus zu erzielenden Vorteile durch ein Mehr an Preiswettbewerb könnten die Verluste an dynamischer Effizienz regelmäßig nicht aufwiegen.117 Diese Argumentation ist aus mehreren Gründen nicht überzeugend:118 Zum einen handelt es sich um eine Gleichung mit zahlreichen Unbekannten. Wenn sich schon nicht die Auswirkungen des betreffenden Verhaltens in Bezug auf Innovation vorhersagen lassen, kann auch nicht bestimmt werden, wie hoch der Verlust an dynamischer Effizienz infolge eines Eingriffs sein wird. Genauso wenig lässt sich die Wahrscheinlichkeit einer Fehlentscheidung ermitteln. Zum anderen wird vorausgesetzt, dass Immaterialgüterrechte stets zu Innovation anspornen. Mittlerweile wird aber gerade für das Immaterialgüterrecht die zu starke Schutzausdehnung kritisiert, die die Innovationsfähigkeit von Wettbewerbern schädigt und Anreize für Investitionen zu eigener Innovation senkt. Und schließlich ist die Aussage angreifbar, wonach Eingriffe in das Immaterialgüterrecht auf der Grundlage des Kartellrechts nur dazu dienen, den Preiswettbewerb zu fördern. So kam es der Kommission und dem EuG in Microsoft ganz entscheidend darauf an, den Wettbewerb um bessere Produkte innerhalb der standardisierten Technologie zu erhalten.119 Die „Fehleranalyse“ der Ökonomen ist aber auch noch aus einem ganz anderen Grund problematisch. Während es im Wettbewerbsrecht um die Feststellung geht, ob ein Unternehmen den Wettbewerb beschränkt hat, kehrt die Fehleranalyse die Betrachtung um und stellt die Frage, wie sich das Verhalten der Wettbewerbsbehörde im Lichte des Effizienzkriteriums auswirkt. Im Lichte der Ökonomik erscheint dies nicht problematisch, da es letztlich stets um dasselbe, nämlich die Förderung von Effizienz geht. Dies setzt aber voraus, dass es letztlich im Kartellrecht ausschließlich um die Förderung von Effizienz geht, was selbst von Ökonomen nicht 117
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119
Siehe z.B. D. S. Evans/A. J. Padilla, Designing Antitrust Rules for Assessing Unilateral Practices, U. Chicago L. Rev. 72 (2005), S. 73; C. Ahlborn u.a., DG Comp’s Discussion Paper on Article 82: Implications of the Proposed Framework and Antitrust Rules for Dynamically Competitive Industries, 2006, unter http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract _id=894466. Siehe dagegen die Darstellung des umfassenden ökonomischen Diskussionsstandes zum Thema der dynamischen Effizienz bei W. Kerber, Should Competition Law Promote Efficiency?, in: Drexl u.a. (Fn. 65), S. 93 (98 ff.). Siehe auch J. Drexl, The Relationship Between the Legal Exclusivity and Economic Market Power, in: I. Govaere/H. Ullrich (Hrsg.), Intellectual Property, Market Power and the Public Interest, 2008, S. 13 (28 f.). EuG, Rs. T-201/04 (Fn. 27), Rn. 647 ff. und besonders Rn. 653.
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konsentiert wird. Zieht man dagegen das Effizienzkriterium an sich in Zweifel, oder anerkannt man neben ökonomischer Effizienz auch noch andere Ziele des Wettbewerbsrechts, kann die Fehleranalyse schon im Ansatz nicht überzeugen. Der Perspektivenwechsel der Fehleranalyse erklärt zudem die Wettbewerbsbehörde zum potenziellen Wettbewerbsbeschränker. Dies verkennt ganz grundsätzlich die gesetzliche Aufgabenzuweisung, wonach die Wettbewerbsbehörde die Voraussetzungen für funktionierenden Wettbewerb zu erhalten und zu schützen hat. Die Diskussion zur kartellrechtlichen Kontrolle geistigen Eigentums zeigt überdies, das ein auf den Schutz dynamischer Wettbewerbsprozesse gerichtetes evolutionsökonomisches Wettbewerbsmodell einer auf Effizienz ausgerichteten Wettbewerbspolitik vorzuziehen ist. Das evolutionsökonomische Wettbewerbsmodell muss dabei keineswegs auf moderne industrieökonomische Erkenntnisse verzichten. Wesentlich erscheint vielmehr, dass in diesem Modell der auswirkungsbezogene Ansatz auf die Auswirkungen auf die Wettbewerbsprozesse und damit insbesondere auf den Innovationswettbewerb zu beziehen ist. Zu fragen ist, wie sich ein bestimmtes Verhalten auf die Anreize für Forschung und Entwicklung auswirkt.120 Für die Volkswirtschaftslehre verbindet sich damit die Aufforderung zur Erforschung von Innovationsprozessen in Wettbewerbsmärkten. 5. Missachtung der institutionellen Dimension Bereits in den vorangegangenen Ausführungen hat sich gezeigt, dass die Industrieökonomik, die den neuen ökonomischen Ansatz dominiert, dazu tendiert, institutionelle Aspekte zu vernachlässigen. Dies gilt etwa für das Argument mangelnder Rechtssicherheit, das das Verhalten von Unternehmen mit bestimmt. Die Industrieökonomie ist aber insbesondere blind in Bezug auf die konkrete Rechtsordnung. Die Regeln und Erkenntnisse der Industrieökonomie werden, da sie allein am ökonomischen Nutzenkalkül ausgerichtet sind, von Ökonomen regelmäßig von der nationalen Rechtsordnung abstrahiert und mit einem Geltungsanspruch für alle Wettbewerbsordnungen versehen.121 Da das ökonomische Argument im Wesentlichen nur dazu genutzt wird, den Tatbestand der Wettbewerbsbeschränkung ökonomisch richtig zu erfassen und anzuwenden, wird vor allem übersehen, dass im Hinblick auf die Gestaltung einer „effizienten“ Wettbewerbsordnung das gesamte institutionelle Gefüge einer Rechtsordnung mit in den Blick zu nehmen wäre. So ist es alles andere als unwahrscheinlich, dass ein und dieselben ökonomischen Erkenntnisse angesichts unterschiedlicher Institutionen und Verfahren in der Umsetzung im US-amerikanischen Rechtssystem zu einem anderen praktischen Er120
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Für eine evolutionsökonomische Analyse, die bewusst über die Ansätze der Industrieökonomie hinausgeht, siehe z.B. W. Kerber/S. Vezzoso, EU Competition Policy, Vertical Restraints, and Innovation, World Competition 28 (2005), S. 507. Siehe dagegen D. J. Gerber, Competition Law and the Institutional Embeddedness of Economics, in: Drexl u.a. (Fn. 65), S. 20, der vor den Übernahmen ökonomischer Lehren aus dem US-Antitrust-Recht für Europa warnt, da sich diese Lehren häufig nur aus ihrer institutionellen Einbettung im US-amerikanischen Rechtssystem heraus erklären lassen.
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gebnis führen als in der EU. Vor allem Verfahren sind durch nationale Besonderheiten geprägt und so gut wie unabänderlich, soweit sie auf Verbürgungen verfassungsrechtlicher Art, etwa in Bezug auf die Ausgestaltung des Rechtsschutzes, zurückgehen. Entsprechendes ist auch innerhalb der Europäischen Union zu berücksichtigen. So können die Leitlinien zu Art. 81 Abs. 3 EG selbst bei vollständiger und richtiger Anwendung durch nationale Behörden und Gerichte zu keiner einheitlichen Anwendung des „dezentralisierten“ europäischen Wettbewerbsrechts führen, solange sich die institutionellen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten unterscheiden. 6. Plädoyer für einen „even more economic approach“ In diesem Teil (III.) wurde dargestellt, wie die Kommission und auch der europäische Gesetzgeber den more economic approach in den verschiedenen Bereichen des Wettbewerbsrechts umsetzen. Ebenso wurde unter Ausklammerung der ökonomischen Zielsetzungen diskutiert, ob denn diese Politik tatsächlich zu einer im Lichte moderner ökonomischer Erkenntnisse besseren Wettbewerbspolitik beitragen kann. Dabei wurden verschiedene Problemfelder identifiziert (oben 2. bis 5.). Vor allem festzustellen ist eine zu einseitige disziplinäre Ausrichtung im Sinne einer zu starken industrieökonomischen Fokussierung. Sträflich vernachlässigt werden institutionelle Gesichtspunkte. Im Mittelpunkt der industrieökonomischen Wettbewerbsanalyse steht die Erzielung von Effizienzvorteilen im Sinne allokativer Effizienz. Auf analytische Schwierigkeiten trifft dieser Ansatz vor allem dann, wenn es um dynamische Wettbewerbsprozesse geht. Diese Defizite der Industrieökonomie müssen nicht notwendig zu einer Ablehnung ihrer Erkenntnisse führen. Vielmehr erscheint ein breiterer theoretischer Ansatz unter Einbeziehung der Neuen Institutionenökonomik, evolutionärer Wettbewerbsmodelle und auch der empirischen und experimentellen Forschung ratsam. Zu fordern wäre ein „even more economic approach“.
IV. Die Ziele des Kartellrechts aus ökonomischer Sicht Dem more economic approach liegt eine eigene ökonomische Zielsetzung zugrunde. Danach dient das europäische Wettbewerbsrecht der Verbraucherwohlfahrt und ökonomischer Effizienz. Die Diskussion dieser Ziele bildet den Gegenstand des nun folgenden Abschnitts. Dabei sind drei Ebenen der Problematik zu unterscheiden, nämlich die Anerkennung des Ziels der Verbraucherwohlfahrt an sich (1.), die Entscheidung im europäischen Wettbewerbsrecht zugunsten des sog. consumer surplus standard (2.) und schließlich die Frage, ob das Verbraucherschutzdenken auch Eingang finden sollte in die Prüfung der Wettbewerbsbeschränkung (3.). Die Grundfrage geht dahin, ob die Ökonomik hier nicht normative Wertungen und Zielbestimmungen ersetzt.
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1. Verbraucherwohlfahrt als Ziel des europäischen Wettbewerbsrechts a) Verbraucherwohlfahrt als ökonomisches Ziel der Wettbewerbspolitik Dass das Wettbewerbsrecht dazu gedacht ist, die Verbraucherwohlfahrt im Sinne ökonomischer Effizienz zu erhöhen, scheint unter Industrieökonomen heute nahezu unumstritten zu sein. Dies geschieht aber nicht aus spezifisch verbraucherschützender Motivation, sondern weil auf der Grundlage des neoklassischen (statischen) Modells des Preiswettbewerbs im Gleichgewichtspunkt des Wettbewerbs sowohl die Wohlfahrt der Nachfrager als auch der gesamten Gesellschaft ihr Optimum erreicht.122 Der Verbraucher wird also nicht notwendigerweise um seiner selbst geschützt, sondern weil der gesamtgesellschaftliche Nutzen dann am größten ist, wenn zu möglichst niedrigen Preisen ein möglichst großes Volumen an Waren und Dienstleistungen angeboten wird. Damit ist das Konzept der allokativen Effizienz beschrieben. Heute erkennt die Industrieökonomik aber auch eine dynamische Komponente der Verbraucherwohlfahrt an. Danach kommt es auch darauf an, dass vorhandene Ressourcen in Bezug auf Entwicklung neuer Produkte optimal eingesetzt werden (dynamische Effizienz).123 Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil Wohlfahrtssteigerungen vor allem von Innovationen zu erwarten sind. b) Das Ziel Verbraucherwohlfahrt in der europäischen Wettbewerbspolitik Das Ziel der Verbraucherwohlfahrt findet auch Anerkennung in der Beschreibung der Zielsetzungen des more economic approach durch die Kommission. So heißt es im Diskussionspapier zu Art. 82 EG:124 „With regard to exclusionary abuses the objective of Article 82 is the protection of competition on the market as a means of enhancing consumer welfare and of ensuring an efficient allocation of resources. Effective competition brings benefits to consumers, such as low prices, high quality products, a wide selection of goods and services, and innovation. Competition and market integration serve these ends since the creation and preservation of an open single market promotes an efficient allocation of resources throughout the Community for the benefit of consumers.”
In der zitierten Passage nennt die Kommission die Förderung der Verbraucherwohlfahrt als ein Ziel des Wettbewerbsschutzes neben jenem der ökonomischen Effizienz. Der Schutz des Wettbewerbs wird dabei als bloßes Mittel zum Zweck verstanden.125 Nicht beantwortet wird die Frage, ob das Verbraucherinteresse auch zum Maßstab der Prüfung für die Wettbewerbsbeschränkung im Sinne der Erforderlichkeit des Nachweises eines Verbraucherschadens erhoben werden muss. In der Nen122 123 124 125
Siehe etwa Motta (Fn. 49), S. 18. Vgl. ebd., S. 19. Discussion Paper (Fn. 67), Rn. 4. Siehe auch die ähnliche, aber etwas knappere Formulierung in den Leitlinien zu Art. 81 Abs. 3 EG (Fn. 56), Rn. 13 und 33. Hiergegen besonders kritisch J. Basedow, Konsumentenwohlfahrt und Effizienz, Wirtschaft und Wettbewerb 2007, S. 712.
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nung konkreter Vorteile des Wettbewerbs für Verbraucher scheint eine spezifische Verbraucherorientierung des europäischen Wettbewerbsrechts zum Ausdruck gebracht zu werden. Auch in der Rechsprechung der europäischen Gerichte hat die Verbraucherwohlfahrt inzwischen Anerkennung als Ziel des europäischen Wettbewerbsrechts gefunden. So formuliert das EuG in GlaxoSmithKline:126 „Denn das Ziel, das in Artikel 81 Absatz 1 EG, einer grundlegenden Bestimmung, die für die Erfüllung der Aufgaben der Gemeinschaft und insbesondere für das Funktionieren des Binnenmarktes unerlässlich ist …, aufgestellt wird, besteht darin, zu verhindern, dass Unternehmen durch eine Einschränkung des Wettbewerbs untereinander oder mit anderen das Wohlergehen des Endverbrauchers der fraglichen Waren mindern.“
c) Verbraucherwohlfahrt als Ziel des europäischen Wettbewerbsrechts aus der Sicht der europäischen Verfassungsordnung Die Anerkennung der Verbraucherwohlfahrt als Ziel des europäischen Wettbewerbsrechts ergibt sich jedenfalls nicht ohne weiteres aus den Bestimmungen des EG-Vertrages. Aus der Nennung der Wettbewerbsschutzes in Art. 3 lit. g und Art. 4 Abs. 1 EG ließe sich vielmehr auf eine Konzeption des Schutzes des Wettbewerbs als Institution schließen. Wie die vorausgegangenen Ausführungen zeigen (oben II.), würde sich durch den Reformvertrag an dieser Auslegung nichts Grundlegendes ändern. Verbraucherinteressen werden von den Vorschriften des europäischen Wettbewerbsrechts an verschiedenen Stellen erwähnt. Nach Art. 81 Abs. 3 EG setzt eine Freistellung vom Kartellverbot eine angemessene Beteiligung der Verbraucher an den ökonomischen Vorteilen voraus. Art. 82 lit. b EG nennt den Verbraucher zum Zwecke der Definition einer Kategorie von Missbräuchen. Die Interessen von „Zwischen- und Endverbrauchern“ sind schließlich nach Art. 2 Abs. 1 lit. b Fusionskontrollverordnung (FKVO) auch im Rahmen der Beurteilung von Zusammenschlüssen zu berücksichtigen. In diese Vorschrift wurden außerdem auch die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG implantiert. Danach ist bei einem Zusammenschluss auch die Entwicklung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts zu berücksichtigen, soweit diese dem Verbraucher dient und den Wettbewerb nicht behindert. In all diesen Vorschriften wird auf den Verbraucher gerade nicht im Sinne eines Regelungsziels Bezug genommen, sondern nur zur Erfassung einzelner Wettbewerbsbeschränkungen oder zur Absicherung des Wettbewerbs gegen zu weitgehende Ausnahmen. Auch der allgemeinen Bestimmung über die gemeinschaftliche Verbraucherschutzpolitik in Art. 153 EG lässt sich keine weiter reichende Bedeutung entnehmen. Art. 153 Abs. 3 lit. a EG verweist lediglich auf die Binnenmarktkompetenz nach Art. 95 EG als Rechtsgrundlage für eine europäische Verbraucherpolitik. Aus Art. 153 Abs. 2 EG ergibt sich, dass den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Rahmen anderer Gemeinschaftspolitiken, und damit auch 126
EuG, Rs. T-168/01 (Fn. 112), Rn. 118.
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der Wettbewerbspolitik, „Rechnung getragen wird“.127 Normativ betrachtet lässt sich damit die Förderung der Verbraucherwohlfahrt allenfalls als ein Ziel des europäischen Wettbewerbsrechts ohne Exklusivitätsanspruch und ohne besondere Vorrangstellung begründen. Es kommt hinzu, dass der Verbraucherbegriff in den Vorschriften des europäischen Wettbewerbsrechts durchaus der Auslegung bedürftig ist. So wird der Verbraucher i.S. von Art. 81 Abs. 3 EG gerade nicht als Endverbraucher verstanden. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift ist davon auszugehen, dass grundsätzlich alle Abnehmer auf allen Handelsstufen als Verbraucher in Betracht kommen; damit verlangt die Vorschrift nicht die Weitergabe von Effizienzvorteilen bis zum Endverbraucher.128 Die Grundaussagen von Kommission und europäischen Gerichten zur Verbraucherwohlfahrt als Ziel des europäischen Wettbewerbsrechts sind daher normativ problematisch. Das Verfassungsgefüge des Gemeinschaftsrechts spricht dagegen dafür, in personaler Hinsicht grundsätzlich alle Marktbeteiligten als gleich geschützt anzusehen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Wettbewerbsschutz gegen Beschränkungen von Anbietern letztlich den Verbrauchern zugute kommt. In den positiven Auswirkungen für die Verbraucher, und damit für alle Bürger, mag man aus rechtspolitischer Sicht einen wesentlichen Nutzen des Wettbewerbsschutzes erkennen. Vor allem anerkennen sollte man auch die positiven Verteilungswirkungen des Wettbewerbs. Der Wettbewerb sorgt über seine Allokationseffizienz dafür, dass Verbraucher weniger für dieselben Waren ausgeben müssen und ihre Bedürfnisse mit zunehmend höher entwickelten Produkten befriedigt werden. Der Wettbewerb verteilt Vermögen grundsätzlich auf breiterer Basis in der Bevölkerung als das Monopol. Dies entspricht der Zielvorgabe des Art. 2 EG im Hinblick auf ein hohes Maß an sozialem Schutz. Die Förderung der Verbraucherwohlfahrt ist damit aus der Sicht der Verfassungsordnung allenfalls ein anzuerkennendes Ziel des europäischen Wettbewerbsrechts, aber nicht notwendig das einzige. 2. Der consumer surplus standard im europäischen Wettbewerbsrecht Zu einem der schwierigsten und umstrittensten Fragen der Wettbewerbspolitik gehört jene, ob ein sog. total welfare standard oder ein consumer welfare standard zu bevorzugen ist. Wie ausgeführt fällt regelmäßig die Verbraucherwohlfahrt im Sinne der Maximierung der Vorteile der Verbraucher (consumer surplus standard) mit der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt (total welfare standard) zusammen. Jedoch 127 128
Eine entsprechende Regelung findet sich in Art. 12 AEUV. Siehe P. Roth/V. Rose (Hrsg.), Bellamy & Child: European Community Law of Competition (2008), Rn. 3.053; R. Ellger, in: U. Immenga/E.-J. Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht EG/Teil 1 (2007), Art. 81 Abs. 3 EG, Rn. 231; E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2004, § 13 Rn. 59; H. Schröter, in: ders. u.a. (Hrsg.), Kommentar zum Europäischen Wettbewerbsrecht, Art. 81 EG, Rn. 353. Dieser weiten Auslegung folgt auch die Kommission in ihren Leitlinien zu Art. 81 Abs. 3 EG (Fn. 56), Rn. 84.
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gibt es Abweichungen.129 Gewinnt in diesen Fällen die Anbieterseite mehr, als die Verbraucher verlieren, wäre das Verhalten unter Anwendung des total welfare standard trotz der Verbrauchernachteile erlaubt. a) Die ökonomische Beurteilung Ökonomen bevorzugen überwiegend den total welfare standard. Dies erklärt sich daraus, dass allein die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt dem letztlich relevanten Effizienzziel entspricht.130 Bedeutung hat der Streit wohl nur im Bereich der Zusammenschlusskontrolle.131 Zusammenschlüsse können durch die Abnahme der Wettbewerbsintensität allokative Effizienz verringern, gleichzeitig aber die Produktivität der neuen, größeren Einheit erhöhen (produktive Effizienz). Überwiegen die Zuwächse an produktiver Effizienz, könnte das neue Unternehmen die Kostenvorteile theoretisch über niedrigere Preise auf die Verbraucher übertragen. Wegen der Abnahme der Wettbewerbsintensität ist dies jedoch keineswegs gesichert. Nach dem total welfare standard würde der Zusammenschluss trotzdem erlaubt. Nach dem consumer surplus standard ist die Effizienzverteidigung (efficiency defence) zwar nicht schlechterdings ausgeschlossen. Sie setzt aber voraus, dass die Verbraucher jedenfalls nicht schlechter stehen als ohne den Zusammenschluss. Einige Ökonomen sprechen sich trotz des Effizienzkriteriums für den consumer surplus standard aus. Diese berufen sich etwa auf institutionelle Argumente. So bestehe eine Informationsasymmetrie zugunsten der fusionierenden Unternehmen, was den Umfang der Effizienzvorteile betrifft. Dies schaffe einen Anreiz für die Unternehmen, die Effizienzvorteile größer darzustellen, als sie tatsächlich sind. Der consumer surplus standard schaffe hierfür einen vernünftigen Ausgleich; er verhindere, dass Zusammenschlüsse allein aufgrund von nur behaupteten Effizienzvorteilen zugelassen werden.132 Motta wendet dagegen zugunsten des total welfare standards u.a. ein, dass hinter den Unternehmen häufig die Anteilseignerschaft zahlloser Bürger stehe, weshalb der Gegensatz von Unternehmen und Verbraucher nicht wirklich überzeuge. Außerdem sei es wichtig, dem Unternehmen die Vorteile für Investitionen in zukünftige Produkte zu belassen. Der consumer surplus standard bevorzuge allenfalls die heutigen Verbraucher auf Kosten der nächsten Generation.133
129 130 131
132 133
Siehe Motta (Fn. 49), S. 19. Ebd., S. 20; Motta selbst vertritt den total welfare standard (S. 21 f.). Motta (ebd., S. 19) nennt auch den nur theoretischen Fall der perfekten Preisdiskriminierung. Bei dieser gelingt es dem Unternehmen, von jedem Verbraucher genau jenen Preis zu verlangen, den jeder einzelne Verbraucher zu zahlen bereit ist. In diesem Fall wird zwar ein effizientes Ergebnis erreicht, aber alle Effizienzgewinne gehen an den Unternehmer. D. Besanko/D.F. Spulber, Contested Mergers and Equilibrium Antitrust Policy, Journal of Law, Economics and Organization 9 (1993), S. 1. Motta (Fn. 49), S. 20. Gegen das zweite Argument Mottas lässt sich jedoch einwenden, dass die Reinvestition der Gewinne keineswegs gesichert ist. Diese können genauso gut als Gewinne an die Anteilseigner ausbezahlt werden. Schließlich übersieht Motta, dass Anreize zu Forschung und Entwicklung gerade wettbewerblichen Druck voraussetzen.
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b) Die Behandlung der Frage in der europäischen Wettbewerbspolitik Für das europäische Recht wird ohne größere Diskussion regelmäßig von der Geltung des consumer surplus standards ausgegangen.134 In der Tat scheint sich dieser Schluss schon notwendig aus Art. 81 Abs. 3 EG zu ergeben. Wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen muss der Verbraucher aufgrund von Effizienzvorteilen nur hinnehmen, solange die Vorteile aus der Vereinbarung die ihm erwachsenden Nachteile wenigstens ausgleichen.135 Das Regelungsmodell des Art. 81 Abs. 3 EG wurde von der Kommission auch auf den Bereich der Zusammenschlusskontrolle übertragen. So anerkennt die Kommission in den Leitlinien über horizontale Zusammenschlüsse eine Effizienzverteidigung nur unter der Voraussetzung, dass Verbraucher nicht benachteiligt werden.136 Die Einführung einer Effizienzverteidigung nach dem Vorbild von Art. 81 Abs. 3 EG hat die Kommission auch in ihrem im Dezember 2005 veröffentlichten Diskussionspapier angedacht.137 Etwas mehr als ein Jahr später ist der EuGH diesen Überlegungen weit vorausgeeilt, indem er ohne erkennbaren Zwang in British Airways eine Effizienzverteidigung im Stile des Vorschlags der Kommission anerkannt hat. In der Entscheidung heißt es:138 „Es ist zu ermitteln, ob die für den Wettbewerb nachteilige Verdrängungswirkung einer solchen Regelung durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden kann, die auch dem Verbraucher zugute kommen. Steht die Verdrängungswirkung dieser Regelung in keinem Zusammenhang mit Vorteilen für den Markt und die Verbraucher oder geht sie über dasjenige hinaus, was zur Erreichung solcher Vorteile erforderlich ist, so ist diese Regelung als missbräuchlich anzusehen.“
In den USA ist bis heute keine eindeutige Klärung der Frage erfolgt, ob dem total welfare standard oder dem consumer surplus standard zu folgen ist. Die US-amerikanischen Merger Guidelines sind in dieser Hinsicht weniger eindeutig als die europäischen.139 Sie bringen lediglich zum Ausdruck, dass die Behörde prüfen werde, ob nachweisbare Effizienzen ausreichend sind, um die Verbrauchernachteile auszugleichen. c) Der consumer surplus standard und die Effizienzverteidigung aus der Sicht der europäischen Verfassungsordnung Aus der europäischen Verfassungsperspektive kommt die Zurückweisung des total welfare standard in der EU nicht überraschend. In der Tat würde dieser Standard der 134 135 136 137 138 139
So auch Motta: ebd., S. 19 f. So auch die Leitlinien zu Art. 81 Abs. 3 EG (Fn. 56), Rn. 85. Leitlinien über horizontale Zusammenschlüsse (Fn. 63), Rn. 79 ff.; siehe dazu auch Schwalbe/Zimmer (Fn. 114), S. 367 ff. Discussion Paper (Fn. 67), Rn. 84. EuGH, Rs. C-95/04 P (Fn. 26), Rn. 86. Horizontal Merger Guidelines, Revised April 8, 1997, Punkt 4, unter www.usdoj.gov/atr/ public/guidelines/hmg.htm#4 (6.11.2008); siehe dazu ausführlich F. Alese, Federal Antitrust and EC Competition Law Analysis, 2008, S. 477 f.
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Grundentscheidung des Art. 81 Abs. 3 EG widersprechen. Daraus ergibt sich aber nicht automatisch die Geltung des consumer surplus standard. Auch dieser Standard gründet sich letztlich auf eine Effizienzanalyse und bedarf damit der Begründung. Zu fragen ist deshalb, ob das Ziel ökonomischer Effizienz der europäischen Verfassungsordnung entspricht. Tatsächlich richtet sich die Kritik von Juristen vor allem gegen die Effizienzorientierung des more economic approach im Allgemeinen140 und gegen die Anerkennung einer Effizienzverteidigung im Besonderen. So lehnt etwa Zimmer eine Rechtfertigung von Zusammenschlüssen durch Effizienzvorteile generell ab.141 Schließlich räumen selbst Ökonomen ein, dass die normative Geltung des Effizienzziels nicht ohne weiteres zu begründen sei. So verweist Hellwig gerade auf die Definition des Effizienz-Kriteriums. Dieses sei nur aus sich heraus legitimiert, soweit es dem Pareto-Kriterium entspricht. Nach dem Pareto-Kriterium sei ein Zustand dann als effizienter zu betrachten, wenn alle Beteiligten besser gestellt werden. In der Wettbewerbspolitik sei das Pareto-Kriterium jedoch nie erfüllt, da selbst bei so schweren Verstößen wie dem Preiskartell der Kartelist mit einem Verbot belegt werde, ohne dass ein Ausgleich erfolge. Danach gebe es keine Wettbewerbspolitik, die nicht zur Umverteilung führe. Deshalb verhalten sich Ökonomen nach Auffassung von Hellwig „intellektuell unehrlich“, wenn sie Verteilungsgesichtspunkte als irrelevant aus der Wettbewerbspolitik ausklammern wollen. Ein reines Effizienzziel könne das Wettbewerbsrecht gerade nicht erklären.142 Hellwig wendet sich mit diesen Argumenten nicht gegen die Effizienzverteidigung, sondern gegen die Berufung auf das Effizienzziel zur Begründung des staatlichen Eingriffs. Staatliche Wettbewerbspolitik diene nicht nur dem Effizienzziel, sondern auch der Umverteilung.143 Deshalb fordert Hellwig weitere Kriterien, die auch die Umverteilung rechtfertigen können. Ein Ausweg läge darin, nun doch eine Rechtfertigung für die wettbewerbsrechtliche Maßnahme im Paradigma der Wettbewerbsfreiheit zu suchen.144 Wettbewerbspolitik wäre damit ein Mittel zum Schutz der Wettbewerbsfreiheit. Diesem Ziel schließt sich durchaus auch Hellwig an. Zu fragen bleibt allerdings, nach welchen Kriterien sich die Einschränkung der Wettbewerbsfreiheit beurteilen soll. Hellwig möchte dazu eine Wettbewerbsanalyse anhand der positiven und negativen Wettbewerbsauswirkungen vornehmen145 und befindet sich damit wieder ganz beim more economic approach. Da der Wettbewerb um die Marktgegenseite geführt werde, seien die Wettbewerbsauswirkungen allein
140
141 142 143 144 145
Siehe etwa E.-J. Mestmäcker, Die Interdependenz von Recht und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik, in: Monopolkommission (Hrsg.), Zukunftsperspektiven der Wettbewerbspolitik, 2005, S. 19. Zimmer (Fn. 65). Hellwig (Fn. 4), S. 29 f. Siehe dazu auch M. Hellwig, Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit?, in: FS Mestmäcker, 2006, S. 231 (238 f.). So Mestmäcker (Fn. 140). Hellwig (Fn. 143), S. 264.
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aus der Verbrauchersicht zu ermitteln.146 Nicht die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt, definiert im Lichte des Effizienzkriteriums, sei relevant, sondern allein die Verbraucherwohlfahrt als Indiz für die positiven und negativen Wettbewerbswirkungen.147 Die Überlegungen von Hellwig scheinen normativ die auswirkungsbezogene Wettbewerbsanalyse des more economic approach mit dem Freiheitsparadigma in Einklang zu bringen. Danach muss sich die Prüfung der Wettbewerbsbeschränkung notwendig am Nachweis des Verbraucherschadens orientieren. Dies geschieht nicht deshalb, weil es auf den Schutz des Verbrauchers besonders ankomme, sondern weil nur so eine Verwechslung des Schutzes des freien Wettbewerbs mit dem Schutz der Wettbewerber vermieden werden könne.148 Gleichzeitig begründet Hellwig ökonomisch, weshalb es in der Wettbewerbspolitik auf die – nicht mehr über Effizienz definierte – Verbraucherwohlfahrt ankommt. Die Überlegungen von Hellwig erscheinen stringent. Freilich ist seine Prämisse, wonach sich die kartellrechtliche Maßnahme schlechterdings nicht im Lichte des Effizienzziels erklären lässt, letztlich nicht überzeugend. Wie viele Ökonomen knüpft er seine Analyse nicht beim vermeintlichen Verstoß des Unternehmens, sondern am Handeln der Wettbewerbsbehörde an. Stellt man dagegen das Handeln des Unternehmens in den Mittelpunkt der Analyse, wäre in einer Effizienzanalyse zunächst festzustellen, dass etwa das Kartell das Marktergebnis vom effizienten Ergebnis entfernt. Natürlich gehen auch vom Kartell distributive Effekte aus; es verlagert Einkommen von der Nachfragerseite auf die Kartellanten (Verringerung sowohl der Konsumentenrendite als auch der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt). Zu begründen bleibt dann zwar nach Hellwig nach wie vor, weshalb der wettbewerbsrechtliche Eingriff ohne Ausgleich für den Kartelisten vorgenommen wird. Dies lässt sich aber sehr wohl innerhalb des Systems wirtschaftlicher Effizienz erklären. Würde ein Ausgleich erfolgen, würden nämlich die Kartellanten erst recht zur (inneffizienten) Wettbewerbsbeschränkung angespornt. Im Gegenteil spricht das Effizienzkriterium in dieser Situation sogar für zusätzliche Sanktionen, um die Unternehmen von einer Verringerung von Effizienz abzuschrecken.149 Danach wäre also sowohl die Feststellung von Wettbewerbsverstößen und deren Ahndung nach dem Effizienzkriterium entgegen Hellwig durchaus begründbar. Nur ergibt sich aus dem Gesagten weder, ob wirtschaftliche Effizienz als Ziel der Wettbewerbspolitik anzuerkennen ist, noch, ob es sich um ein ausschließliches Ziel handelt. Während Effizienz im Sinne der Gewährleistung eines optimalen Ressourceneinsatzes als rechtspolitisches Ziel auf keine (verfassungs)rechtlichen Bedenken stößt, lässt sich ein Ausschließlichkeitsanspruch nicht begründen.150 146 147 148 149 150
Ebd., S. 264 f. Ebd., S. 264. Ebd., S. 266. Vgl. oben, III. 1. f), zur Ausgestaltung der Rechtsdurchsetzung im more economic approach. So auch Basedow (Fn. 125), S. 713 ff., unter Verweis auf die Vorrangstellung der institutionellen Sicherung des unverfälschten Wettbewerbs in Art. 3 Abs. 1 lit. g EG.
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3. Das Vorliegen eines Verbrauchernachteils als Voraussetzung der Wettbewerbsbeschränkung Die Frage, ob für die Wettbewerbsbeschränkung auch der Nachweis eines Verbraucherschadens zu verlangen ist, stellt sich vor allem für die Anwendung von Art. 82 EG,151 hat aber in der Entscheidung des EuG in GlaxoSmithKline inzwischen auch die Konzeption der Wettbewerbsbeschränkung i.S. von Art. 81 Abs. 1 EG erfasst.152 a) Die ökonomische Beurteilung Aus industrieökonomischer Sicht liegt die Erforderlichkeit des Nachweises des Verbraucherschadens nahe. Zum einen entspricht es der Logik der Effizienzanalyse, die Auswirkungen auf den relevanten Markt möglichst genau zu untersuchen. Da sich wirtschaftliche Effizienz nur in Abhängigkeit von den Präferenzen der Marktteilnehmer definiert, ist es nur konsequent, sich nicht mit den bloßen Auswirkungen auf die „Struktur des Wettbewerbs“ zu begnügen, wie dennoch der EuGH formuliert, sondern die konkreten Auswirkungen auf die Interessen der Verbraucher abzustellen. Diese Argumentation beansprucht Geltung in Bezug auf alle Tatbestände des Wettbewerbsrechts, einschließlich Art. 81 Abs. 1 EG. Besondere Relevanz hat die Fragestellung jedoch bei der Kontrolle des Missbrauchs marktbeherrschender Stellung nach Art. 82 EG. Da auch der Wortlaut des Art. 82 EG unzweideutig davon ausgeht, dass nicht jedes einseitige Wettbewerbsverhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens verboten ist, stellt sich die Frage nach den Kriterien für die Abgrenzung von rechtmäßigem und unrechtmäßigem Verhalten. Ökonomen verlangen wie die Economic Advisory Group for Competition Policy (EAGCP) der Kommission153 oder Hellwig,154 der der EAGCP angehört, den Nachweis des Verbraucherschadens. Begründet wird dies damit, dass der Wettbewerb letztlich um den Verbraucher geführt wird und nur bei Nachweis eines Verbraucherschadens garantiert werden könne, dass nur der Wettbewerb und nicht der Wettbewerber geschützt werde. b) Praxis der europäischen Wettbewerbspolitik Mit der Entscheidung des EuG in GlaxoSmithKline scheint die Auffassung von der Erforderlichkeit des Verbraucherschadens nun im Bereich des Art. 81 Abs. 1 EG einen ersten Etappensieg errungen zu haben. In dem Fall ging es um die Beurteilung einer vertraglichen Beschränkung des Verkaufs von Arzneimitteln in andere Mitgliedstaaten. Das EuG ließ den Nachweis der Beschränkung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit der Großhändler für die Bejahung einer Wettbewerbsbeschränkung nicht genügen, sondern verlangt zusätzlich den Nachweis eines Verbraucher151 152
153 154
Siehe oben II. 1. c). EuG, Rs. T-168/01 (Fn. 112), Rn. 172; siehe dazu P. Behrens, Parallelhandelsbeschränkungen und Konsumentenwohlfahrt, Zeitschrift für Wettbewerbsrecht, 2008, S. 20; R. Eccles, Parallel Exports in the Pharmaceutical Sector, European Competition Law Review 28 (2007), S. 134. Dazu oben, III. 1. d). Dazu oben 2. c).
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nachteils. Hierin liegt ein eindeutiger Paradigmenwechsel.155 Dabei fällt die Argumentation des EuG denkbar knapp aus:156 „Da allerdings mit den gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln bezweckt wird, zu verhindern, dass Unternehmen … das Wohlergehen des Endverbrauchers der fraglichen Waren mindern …, muss noch bewiesen werden, dass die fragliche Begrenzung den Wettbewerb zu Lasten des Endverbrauchers einschränkt.“
Diese Begründung kann schon im Ansatz nicht überzeugen. Selbst wenn man die Förderung von Verbraucherwohlfahrt als Zweck des europäischen Wettbewerbsrechts anerkennt, heißt dies nicht notwendig, dass dann auch die Schädigung des Verbrauchers Eingang in den zu prüfenden Tatbestand der Wettbeschränkung finden muss.157 Die Rechtsordnung verbietet in zahlreichen Vorschriften – typischerweise in Form von Gefährdungstatbeständen – bestimmtes Verhalten zum Schutze bestimmter Rechtsgüter, ohne die Verletzung dieser Rechtsgüter zur Voraussetzung der Verbotsnorm zu machen.158 Dies schließt nicht aus, dass es doch gute Gründe gibt, für die Wettbwerbsbeschränkung den Nachweis des Verbraucherschadens zu verlangen. Nur bleibt das EuG in GlaxoSmithKline gerade diese Begründung schuldig. Vielmehr scheint das Gericht automatisch vom Schutzzweck auf den geforderten Prüfungsstandard zu schließen. Im Gegensatz dazu haben der EuGH in British Airways und das EuG in der GlaxoSmithKline nachfolgenden Microsoft-Entscheidung für den eigentlich zu diskutierenden Fall des Art. 82 EG genau den umgekehrten Weg eingeschlagen und sich mit einem „mittelbaren Schutz des Verbrauchers“ über den „Schutz der Wettbewerbsstruktur“ zufrieden gegeben.159 Auch hierfür fehlt außer einem Hinweis in British Airways auf die frühe Entscheidung in Continental Can jede weitere Begründung. c) Beurteilung aus der Sicht der europäischen Verfassungsordnung Aus den Bestimmungen des EG-Vertrages lassen sich auf den ersten Blick kaum eindeutige Hinweise für die Erforderlichkeit des Nachweises eines Verbraucherschadens für die Bestimmung der Wettbewerbsbeschränkung entnehmen. Dennoch lohnt sich eine genauere Analyse des Art. 81 Abs. 3 EG, in dem der Verbraucher ausdrücklich erwähnt wird. In Art. 81 Abs. 3 EG wird das Interesse des Verbrauchers gerade nicht als Voraussetzung des Wettbewerbsverstoßes eingeführt, sondern um Schranken der Frei155 156 157 158
159
Ebenso Behrens (Fn. 152), S. 37. EuG, Rs. T-168/01 (Fn. 112), Rn. 172. Besonders kritisch und ablehnend R. Zäch, Competition Law Should Promote Economic and Social Welfare by Ensuring the Freedom to Compete, in: Drexl u.a. (Fn. 65), S. 121. Entsprechende Tatbestände sind auch im Wettbewerbsrecht nicht unbekannt. Dies gilt etwa für das deutsche Verbot des Boykottaufrufs in § 21 Abs. 1 GWB. Erst die Befolgung des Boykottaufrufs führt zur Wettbewerbsbeschränkung, während der Aufruf selbst den Wettbewerb lediglich gefährdet; siehe zu dieser dogmatischen Einordnung S. Rixen, in: H. v. Hahn u.a. (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, 2002, § 21 Rn. 3. EuGH, Rs. C-95/04 P (Fn. 26), Rn. 106; EuG, Rs. T-201/04 (Fn. 27), Rn. 664.
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stellung festzulegen. Dabei steht das Erfordernis der Verbraucherbeteiligung auf derselben Stufe wie die Voraussetzung, wonach die Freistellung nicht dazu führen darf, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. Diese vierte Voraussetzung des Art. 81 Abs. 3 EG wird dem Grundsatz der Kohärenz entsprechend so verstanden, dass danach der Abschluss von Vereinbarungen ausgeschlossen wird, die einen Missbrauch marktbeherrschender Stellung i.S. von Art. 82 EG darstellen würden.160 Wesentlich erscheint, dass die beiden Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG dieselbe Schutzrichtung haben. Nachdem im Rahmen von Art. 81 Abs. 1 und 3 EG bereits alle positiven und negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb geprüft wurden, sollen die beiden genannten Voraussetzungen sicherstellen, dass eine Freistellung nicht zum Nachteile der Verbraucher gereicht oder der Wettbewerb zu weit reichend ausgeschlossen wird. Macht man dagegen den Verbraucherschaden schon im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG zur Voraussetzung für eine Wettbewerbsbeschränkung, bliebe für das Erfordernis der Verbraucherbeteiligung in Art. 81 Abs. 3 EG nichts mehr zu prüfen. Stellt man nämlich schon im Rahmen der Prüfung des Art. 81 Abs. 1 EG das Vorliegen eines Verbraucherschadens fest, ist eine Verbraucherbeteiligung an den entstehenden Vorteilen nicht mehr vorstellbar. Schon deshalb ist es richtig, im Rahmen der Prüfung des Art. 81 Abs. 1 EG lediglich die Auswirkungen der Vereinbarung auf die Wettbewerbsprozesse zu untersuchen. Auch die Kommission selbst folgt diesem Ansatz, in dem sie in den Leitlinien für Art. 81 Abs. 1 EG eine Prüfung der betreffenden Vereinbarung lediglich anhand ihrer Auswirkungen auf den Intrabrand- und Interbrand-Wettbewerb anmahnt.161 Die Kommission bezieht sich weiterhin auf die Auswirkungen auf die Preise, das Produktionsvolumen, Innovation und die Vielfalt und Qualität von Waren und Dienstleistungen, die mit einem vernünftigen Grad an Wahrscheinlichkeit erwartet werden können.162 Solche Auswirkungen liegen im Interesse der Verbraucher. Dennoch verlangt hier die Kommission nicht den unmittelbaren Nachweis des Verbraucherschadens. Die Umsetzung des more economic approach erfolgt in den Leitlinien zu Art. 81 Abs. 3 EG in einem prozessorientierten Verständnis vom Wettbewerb. Diesem Verständnis entspricht die Regelung des Art. 81 Abs. 3 EG. Danach können zwar Vorteile aus einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung Wettbewerbsnachteile prinzipiell ausgleichen. Wird jedoch langfristig wirksamer Wettbewerb ausgeschlossen, ist nicht mehr sicher gestellt, dass Effizienzvorteile im Sinne des Art. 81 Abs. 3 EG sowie eine Beteiligung der Verbraucher an diesen Vorteilen dauerhaft erhalten bleiben. Entsprechend formulieren die Leitlinien zu Art. 81 Abs. 3 EG:163
160 161 162 163
Siehe die Leitlinien zu Art. 81 Abs. 3 EG (Fn. 56), Rn. 106 m.w.N. Ebd., Rn. 11 und 17. Ebd., Rn. 24. Ebd., Rn. 105.
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„Letzten Endes wird dem Schutz des Wettstreits und dem Wettbewerbsprozess Vorrang eingeräumt vor potenziellen wettbewerbsfördernden Effizienzgewinnen, die sich aus wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen ergeben könnten. In der letzten Voraussetzung des Artikels 81 Absatz 3 wird die Tatsache anerkannt, dass die Rivalität zwischen Unternehmen eine wesentliche Antriebskraft für die wirtschaftliche Effizienz, einschließlich langfristiger dynamischer Effizienzsteigerungen in Form von Innovationen, ist. Mit anderen Worten, der Schutz des Wettbewerbsprozesses bleibt das eigentliche Ziel von Artikel 81 und zwar nicht nur auf kurze, sondern auch auf lange Sicht. Wenn der Wettbewerb ausgeschaltet wird, kommt der Wettbewerbsprozess zum Stillstand, und die kurzfristigen Effizienzgewinne werden von langfristigen Verlusten überlagert, die u.a. durch Ausgaben zur Erhaltung der Marktposition etablierter Unternehmen, durch die Fehlallokation von Ressourcen, durch Rückgang von Innovationen und durch höhere Preise verursacht werden.“
Dieses dynamische Verständnis vom zu schützenden Wettbewerb ist von grundsätzlicher Bedeutung für den anzuwendenden Test. Das Effizienzdenken läuft, da es dem statischen Gleichgewichtsmodell entstammt, stets Gefahr, die dynamische Dimension des Wettbewerbs zu übersehen. Die Konzeption des Schutzes des Wettbewerbsprozesses findet in Art. 81 Abs. 3 EG seinen Niederschlag im Erfordernis der Verbraucherbeteiligung und der Sicherung eines ausreichenden Restwettbewerbs. Wer dagegen schon in Art. 81 Abs. 1 EG den Nachweis eines Verbraucherschadens verlangt, führt ein weiteres Erfordernis ein und erschwert damit den Schutz des Wettbewerbsprozesses. Die Kommission scheint im Gegensatz zur EAGCP diese Konzeption vom Schutz der Wettbewerbsprozesse auch auf Art. 82 EG übertragen zu wollen, indem sie im Diskussionspapier zu Art. 82 EG den auswirkungsbezogenen Ansatz nicht auf die unmittelbaren Interessen des Verbrauchers bezieht, sondern nur eine marktverschließende Wirkung (foreclosure effect) verlangt.164 Diese Voraussetzung ist deutlich zu unterscheiden von einer bloßen Verdrängungswirkung im Verhältnis zu einem Wettbewerber. Schwächere Wettbewerber dürfen auch nach dieser Konzeption der Kommission vom Markt verdrängt werden, solange nicht künstliche Marktzutrittsbarrieren errichtet werden. 4. Zwischenbefund Die vorangegangene Analyse zeigt, dass sich aus dem geltenden Gemeinschaftsrecht weder eine ausschließliche Zielbestimmung für das europäische Wettbewerbsrecht im Hinblick auf Verbraucherwohlfahrt noch eine Orientierung am Effizienzkriterium begründen lässt. Überzeugend ist allenfalls ein mittelbarer Schutz des Verbrauchers über einen effektiven Schutz der Wettbewerbsprozesse auf der Grundlage eines dynamischen Wettbewerbskonzepts. Die Verfolgung eines effizienten Einsatzes von Ressourcen gliedert sich in diese Konzeption nahtlos ein, da ein optimaler Ressourceneinsatz gerade über einen effektiven Schutz der Wettbewerbs-
164
Siehe oben, III. 1. d).
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prozesse verwirklicht und damit auch am besten den Verbraucherinteressen entsprochen wird. Der auswirkungsbezogene Ansatz (more economic approach) lässt sich mit einem Schutz des Wettbewerbsprozesses verbinden. Im Rahmen der Wettbewerbsanlayse sind dann lediglich die Auswirkungen auf den Wettbewerb zu ermitteln, und nicht darüber hinaus auch noch ein spezifischer Verbrauchernachteil. Die Konzeption des Schutzes des Wettbewerbsprozesses vermindert das Problem mangelnder Rechtssicherheit, reduziert darüber hinaus das Angewiesensein auf unsichere Prognosen auf ein Mindestmaß und vermeidet das Problem der Anmaßung von Wissen. Die Analyse macht aber auch deutlich, dass die europäische Rechtspolitik in diesen soeben beschriebenen Grundlagen unsicher geworden ist. Ersichtlich wird dies in jüngeren Aussagen der Kommission und der europäischen Gerichte, in denen unnötigerweise das Ziel der Verbraucherwohlfahrt und ökonomischer Effizienz ausdrücklich Anerkennung finden. Mit GlaxoSmithKline liegt die erste Entscheidung vor, in der das EuG für die Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung i.S. von Art. 81 Abs. 1 EG den Nachweis eines Verbraucherschadens verlangt hat. Dagegen widerstehen sowohl die Rechtsprechung wie die Kommission jedenfalls einstweilen der Versuchung, auch für einen Missbrauch nach Art. 82 EG den Nachweis eines Verbraucherschadens zu verlangen. Nachteilig wirkt es sich dabei aus, dass die europäischen Gerichte ihre Rechtsprechung lediglich mit einem Hinweis auf die Grundlagenentscheidung in Continental Can und den mittelbaren Schutz des Verbrauchers über den Schutz der „Struktur des Wettbewerbs“ begründen. Die Konzeption des Schutzes der „Wettbewerbsstruktur“ lässt sich allein im Lichte der besonderen Fallkonstellation in Continental Can verstehen und sollte zumal in den Fällen des Behinderungsmissbrauchs terminologisch durch den Schutz der „Wettbewerbsprozesse“ ersetzt werden. Freilich erscheint auch die zustimmungswürdige Position der Kommission in der Frage des Schutzes der Wettbewerbsprozesse keineswegs auf Dauer gesichert, solange vor allem keine Fortschritte bei der Gestaltung des more economic approach im Bereich von Art. 82 EG erzielt werden.
V. Die Ökonomisierung im Lichte eigener Ziele der europäischen Verfassungsordnung Wurden soeben die von der ökonomischen Theorie reflektierten Zielsetzungen im Lichte des Regelungsgefüges des Gemeinschaftsrechts diskutiert, soll es am Ende dieses Beitrags darum gehen, inwieweit spezifische Zielbestimmungen der europäischen Verfassung auch im Rahmen der Ökonomisierung des europäischen Wettbewerbsrechts weiterhin von Relevanz sind. Im Folgenden ins Auge gefasst werden das grundrechtliche Freiheitsparadigma sowie das Integrationsziel. Beide haben die Entwicklung des europäischen Wettbewerbsrechts wesentlich geprägt und sind gleichermaßen im Zuge der Ökonomisierung zweifelhaft geworden.
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1. Das grundrechtliche Freiheitsparadigma Im Lichte des grundrechtlichen Freiheitsparadigmas stellt sich die Frage nach der Bestimmung des Verhältnisses des ökonomisierten Kartellrechts zur wirtschaftlichen Handlungsfreiheit sowie der Freiheit des Wettbewerbs. a) Die wirtschaftliche Handlungsfreiheit des einzelnen Wirtschaftsteilnehmers Aus grundrechtlicher Sicht geht es zunächst um die subjektiv geschützte Freiheit des einzelnen Wirtschaftsteilnehmers. Im Gemeinschaftsrecht wird diese Freiheit vor allem über die Grundfreiheiten als individuelle Rechtsposition geschützt.165 Schließlich lassen sich auch aus der Courage-Entscheidung des EuGH zum Kartelldeliktsrecht eindeutige Anhaltspunkte für die Anerkennung eines materiellen Freiheitsverständnisses in Bezug auf die Marktteilnehmer entnehmen,166 wenn dort der EuGH ausführt, dass auch die an einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung beteiligte Partei einen Schadensersatzanspruch haben muss, soweit diese „eindeutig unterlegen war, so dass ihre Freiheit, die Vertragsbedingungen auszuhandeln, und ihre Fähigkeit, … den Schadenseintritt zu verhindern oder den Schadensumfang zu begrenzen ernsthaft beschränkt oder nicht vorhanden gewesen waren.“167 Eine Verstärkung erfährt der Schutz der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit im Lissabonner Vertrag, indem der Schutz der unternehmerischen Freiheit in Art. 16 GR-Charta durch Art. 6 Abs. 1 EUV-Liss. in den Rang rechtlich verbindlichen Unionsrechts gehoben wird. Die gemeinschaftsrechtliche Verbürgung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit ist einmal zu berücksichtigen, soweit Unternehmen Adressaten von kartellrechtlichen Maßnahmen werden.168 Insoweit wird in Zukunft vor allem Art. 16 GRCharta zu beachten sein. Die Freiheitsverbürgungen des Gemeinschaftsrechts schützen aber nicht nur den vermeintlichen Wettbewerbsverletzer, sondern alle Marktteilnehmer. Dies ist in der Diskussion um die Ökonomisierung des Wettbewerbsrechts zu berücksichtigen. Im Lichte der gemeinschaftsrechtlichen Verbürgung wirtschaftlicher Freiheit ist vor allem die von Ökonomen geäußerte Kritik am Freiheitsparadigma zu überprüfen, wonach das Wettbewerbsrecht nur den Wettbewerb, nicht aber den Wettbewerber schützen soll. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist diese Kritik in ihrer Allgemeinheit nicht haltbar. Vielmehr reagiert das europäische Wettbewerbsrecht aus einer grundrechtlichen Perspektive betrachtet auf ein Konkordanzproblem. Da gerade im wirtschaftlichen Wettbewerb die Freiheitsräume abzugrenzen sind, darf der Schutz der wirtschaftlichen Freiheit weder als eine absolute Freiheit marktmächtiger Unternehmen zur Schädigung schwächerer Mitbewerber noch – im Sinne eines Mittelstandschut-
165 166 167 168
Siehe dazu in der Vorauflage Drexl (Fn. 89), S. 764 ff. Ebd., S. 774. EuGH, Rs. C-453/99 (Fn. 84), Rn. 33; ausführlicher Drexl (Fn. 89), S. 773. Siehe hierzu M. Hilf/S. Hörmann, Der Grundrechtsschutz von Unternehmen im europäischen Verfassungsverbund, NJW 2003, S. 1.
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zes – als Schutz schwächerer und weniger effizienter Mitbewerber gegen ein Unterliegen im Wettbewerb verstanden werden. b) Schutz der Freiheit des Wettbewerbs Aus grundrechtlicher Perspektive muss die Lösung des Konkordanzproblems notwendig in einen Schutz der Freiheit des Wettbewerbs überleiten. Der Ausgleich von Freiheitsräumen ist im ökonomischen Bereich also über den Markt als vorrangige Koordinationsordnung zu erreichen. Erst wenn Unternehmen den Wettbewerb beschränken, überschreiten sie die Grenzen der ihnen grundrechtlich zuerkannten Freiheitsspielräume. Diese Argumentation entspricht soweit klassischem ordoliberalen Gedankengut. Das Freiheitspostulat argumentiert für den Schutz des Wettbewerbs als Institution. Bleibt der Wettbewerb geschützt, werden auch die dahinter liegenden Freiheitsspielräume der Marktbeteiligten optimiert und gegeneinander angemessen abgegrenzt. Zu fragen bleibt, ob das Freiheitspostulat auch einen Beitrag für die praktische Ausgestaltung des Kartellrechts leisten kann. Das Freiheitspostulat ist nicht geeignet, den Begriff der Wettbewerbsbeschränkung zu erfassen. Handlungsfreiheiten sind zwar als Grundvoraussetzung von freiem Wettbewerb anzusehen. Wenn es aber gerade der Wettbewerb ist, der die Funktion hat, individuelle Freiheitsräume abzugrenzen, ist das Kriterium der Freiheit untauglich, um die Wettbewerbsbeschränkung zu identifizieren.169 Für die Bestimmung der Wettbewerbsbeschränkung ist deshalb tatsächlich auf ökonomische Erkenntnisse über die Auswirkungen bestimmter Verhaltensweisen auf den relevanten Markt zurückzugreifen. Dies bedeutet auch, dass der more economic approach nicht per se mit dem Freiheitspostulat in Widerspruch steht. Das Freiheitspostulat stellt jedoch den Schutz des Wettbewerbs als Institution in den Mittelpunkt der Analyse. Dabei sollte der Wettbewerb in seiner dynamischen Dimension im Sinne des Schutzes der Wettbewerbsprozesse ernst genommen und die für die Industrieökonomik typische Verkürzung auf eine statische, effizienzorientiert Betrachtung vermieden werden. Dem Freiheitspostulat widerspricht eine Relativierung des Wettbewerbsschutzes durch bloße Effizienzbetrachtungen. Effizienzen sind allenfalls mittelbar über den Schutz des Wettbewerbs zu erzielen, aber nicht gegen den Wettbewerb. Dagegen entspricht es dem Freiheitspostulat, in der Wettbewerbspolitik vor allem für offene Märkte zu sorgen.170 Grundsätzlich sollen Unternehmen aufgrund eigener Leistung in der Lage sein, Zutritt zum Markt zu erlangen. In diesem Zusammenhang kommt auch dem Verbraucher eine wichtige Rolle zu. Ob jemand im Wettbewerb aufgrund eigener Leistung im Wettbewerb gewinnt, kann nur über die Verbraucherpräferenzen ermittelt werden. Da aber das Wissen über solche Präferenzen notwendig beschränkt ist, bzw. erst der unver169 170
Ebenso zurückhaltend W. Möschel, Wettbewerb zwischen Handlungsfreiheiten und Effizienzzielen, in: FS Mestmäcker, 2006, S. 355 (366). Ebenso für eine „ergebnisoffene“ Wettbewerbspolitik, das auf dem Freiheitspostulat fußt: D. Zimmer, Der rechtliche Rahmen für die Implementierung moderner ökonomischer Ansätze, Wirtschaft und Wettbewerb, 2007, S. 1198.
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fälschte Wettbewerb solches Wissen generieren kann, kommt es entscheidend auf den Schutz von Wahlfreiheiten der Verbraucher an. Dagegen entspricht eine Politik, die den Nachweis eines konkreten Verbrauchernachteils verlangt, nicht der Freiheit des Wettbewerbs. Dies lässt sich anschaulich am Beispiel der Standard-Spundfass-Entscheidung des BGH darlegen.171 In diesem Fall nahm der BGH eine Pflicht des Inhabers eines Patents an einem in der chemischen Industrie benutzten Fasses an, allen interessierten Dritten eine Lizenz zu erteilen. Wesentlicher Grund für die Bejahung der Lizenzpflicht war, dass die geschützte Erfindung in einer von der chemischen Industrie standardisierten Technologie bestand. Im Rahmen des Standardisierungsverfahrens hatte sich der spätere Erfinder bereit erklärt, allen übrigen Fassherstellern, die sich um den Standard beworben hatten, eine kostenlose Lizenz zu erteilen. Später begehrte ein weiterer Fasshersteller eine Lizenz, die ihm der Patentinhaber verweigerte. In seiner Entscheidung ging der BGH nicht der Frage nach, ob Verbraucher durch die Lizenzverweigerung einen Nachteil erlitten haben. Tatsächlich wäre ein solcher Nachteil kaum zu erwarten. In einem Markt mit mehreren Wettbewerbern, die auf der Grundlage desselben Patents standardisierte Waren anbieten, ist es kaum denkbar, dass der Zutritt eines weiteren Wettbewerbers zu wesentlichen Preis- oder Qualitätsvorteilen für Nachfrager führt. Für die Lizenzpflicht spricht jedoch der Schutz des „freien“ Wettbewerbs. Grundsätzlich sollten alle Unternehmen dieselbe Chance auf Marktzutritt erhalten. Die dargestellten Grundsätze liegen, sieht man von Bezugnahmen auf die Ziele der Verbraucherwohlfahrt und der ökonomischen Effizienz ab, auf der Linie der Rechtsprechung des EuGH und der Äußerungen der Kommission in den Dokumenten zum more economic approach. Es zeigt sich, dass sich die Ökonomisierung mit dem Freiheitspostulat in Einklang bringen lässt. 2. Das gemeinschaftsrechtliche Ziel wirtschaftlicher Integration Das europäische Wettbewerbsrecht unterscheidet sich von anderen Kartellrechten vor allem durch das Ziel der Marktintegration. Dieses Ziel wird auch weiterhin in den Dokumenten der Kommission zum more economic approach vertreten.172 In ihren Verlautbarungen173 scheint die Kommission der Auffassung zu sein, dass das Integrationsziel im Einklang mit dem Ziel der effizienten Ressourcenallokation steht und eine effiziente Ressourcenallokation lediglich im größeren geographischen Raum der Europäischen Union verwirklicht. Dagegen bezeichnet etwa Motta das Ziel wirtschaftlicher Integration als „politisches Ziel“, das nicht notwendig dem Ziel wirtschaftlicher Wohlfahrt entspricht.174 Tatsächlich sieht sich das Integrationsziel wachsender Kritik ausgesetzt. Diese Kritik kommt vor allem von ökonomischer Seite. Dabei wird in erster Linie darauf 171 172 173 174
BGH GRUR 2004, 966 – Standard-Spundfass. So etwa die Leitlinien zu Art. 81 Abs. 3 EG (Fn. 56), Rn. 13. Ebd. Motta (Fn. 49), S. 23.
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hingewiesen, dass über die vertikale Aufteilung von Märkten sehr wohl auf unterschiedliche Rahmenbedingungen in den Teilmärkten reagiert und damit eine effiziente Preisdiskriminierung betrieben werden kann.175 Hier scheinen unterschiedliche Zielsetzungen miteinander in Konflikt zu geraten. Bei dem Ziel der Marktintegration handelt es sich zwar um ein „ökonomisches“ Ziel, das aber nicht immer in Einklang mit den Erkenntnissen der Industrieökonomie zu bringen ist. Territoriale Beschränkungen schaffen für den Hersteller vor allem die Möglichkeit, dieselbe Ware oder Dienstleistung in unterschiedlichen Märkten zu unterschiedlichen Preisen abzusetzen. Dies dient regelmäßig den Verbrauchern in Ländern mit niedrigem Einkommensniveau. Das Verbot territorialer Beschränkungen zwingt dagegen den Hersteller zur Angleichung der Preise in den verschiedenen Mitgliedstaaten. Das strenge europäische Verbot vertikaler Beschränkung vor allem in Form der Unzulässigkeit der Beschränkung von Händlern in der Freiheit zum passiven Verkauf an Abnehmer in das fremde Gebiet176 dient der Angleichung der Lebensbedingungen in den EU-Mitgliedstaaten. Gegen den Integrationszweck lässt sich nicht einwenden, die europäische Integration habe inzwischen ein ausreichendes Niveau erreicht, so dass auf das Integrationsziel mittlerweile verzichtet werden könne. Diese Aussage stimmt allenfalls in Bezug auf einige Mitgliedstaaten, während die jüngsten Erweiterungsrunden die ökonomischen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten erheblich vergrößert haben. Im Bereich der Anwendung des Art. 81 EG hat sich die Kommission trotz des more economic approach für eine Ausnahme von der strengen ökonomischen Beurteilung in Bezug auf territoriale Beschränkungen entschieden, indem sie das Verbot des passiven Verkaufs in Vertriebsvereinbarungen als Kernbeschränkung einordnet.
VI. Zusammenfassung Die Analyse der Bestimmungen des Reformvertrages zeigt, dass die Systemgarantie des unverfälschten Wettbewerbs und jene der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb weiterhin zu den Grundlagen der europäischen Wettbewerbsverfassung gehören. Die im Vergleich zu den noch geltenden Bestimmungen eintretenden Änderungen schließen jedoch nicht aus, dass gerade die im Rahmen der Ökonomisierung vertretene Orientierung am Verbraucherinteresse und am Effizienzkriterium zulasten eines institutionellen Schutzes des Wettbewerbs nun leichter in die europäische Wirtschaftsverfassung einsickern wird. Die Kommission vertritt in ihrem more economic approach eine Wettbewerbspolitik, die wesentlich auf die ökonomischen Auswirkungen einer Verhaltensweise 175
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Siehe etwa D. Waelbroeck, Vertical Agreements: 4 Years of Liberalisation by Regulation no. 2790/99 After 40 Years of Legal (Block) Regulation, in: H. Ullrich (Hrsg.), The Evolution of European Competition Law, 2006, S. 85 (99 ff.). Siehe vor allem Art. 4 lit. b der Vertikal-GVO Nr. 2790/1999.
Wettbewerbsverfassung
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auf dem relevanten Markt abstellt. Zur Ermittlung dieser Auswirkungen bedient sie sich modernster Erkenntnisse der Industrieökonomik. Problematisch erscheint diese Politik vor allem, soweit sie die ökonomische Punktlandung anstrebt und die damit verbundene Minderung an Rechtssicherheit nicht in die Abwägung mit einfließt. Der ökonomische Ansatz verlässt sich schließlich auf unsichere Prognosen und führt oftmals zur Anmaßung von Wissen, das erst Wettbewerbsmärkte generieren können. Im Lichte der Gemeinschaftsrechtsordnung ist jedenfalls eine ökonomisierte Wettbewerbspolitik problematisch, die eine einseitige Ausrichtung auf die ökonomischen Ziele der Verbraucherwohlfahrt und die Förderung von Effizienz vertritt. Solchen Zielsetzungen folgt die Kommission jedenfalls terminologisch, während sie weiterhin konsequent auf eine Analyse der Auswirkungen auf die Wettbewerbsprozesse abstellt, ohne, wie von manchen Ökonomen gefordert, den Nachweis eines Verbraucherschadens zu verlangen. Dieser Ansatz wird durch die Rechtsprechung der europäischen Gerichte unterstützt, die im Lichte der Verbürgung eines unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt anerkennen, dass für die Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung eine Schädigung der „Struktur des Wettbewerbs“ ausreicht. Der Versuchung, für die Wettbewerbsbeschränkung den Nachweis eines Verbraucherschadens zu verlangen, widersteht die Kommission bislang zu Recht. Vorzuziehen ist mit der Kommission ein dynamisches Wettbewerbskonzept, das auf die Erhaltung offener Märkte und auf die nachhaltige Sicherung der Wettbewerbsprozesse gerichtet ist und damit zugleich niedrige Preise und Innovationsanreize garantiert. Der Nachweis eines Verbraucherschadens ist auch im Rahmen des Art. 82 EG nicht erforderlich. Der Gefahr des Schutzes der Wettbewerber statt des Wettbewerbs ist vorzubeugen, indem man bei der wettbewerbspolitischen Analyse allein auf die marktverschließenden Wirkungen einseitiger Verhaltensweisen abstellt. Das Erfordernis des Nachweises eines Verbrauchernachteils würde dagegen lediglich den Wettbewerbsschutz schwächen und führt vor allem bei dynamischen Märkten zu Anmaßungen nicht vorhandenen Wissens sowie bei sich widersprechenden Verbraucherinteressen zu kaum durchführbaren Abwägungen. Die auf den Schutz der Wettbewerbsprozesse gerichtete europäische Wettbewerbspolitik lässt sich grundsätzlich vereinbaren mit den Zielsetzungen der europäischen Verfassungsordnung. Insbesondere besteht trotz der von Ökonomen am Ordoliberalismus geübten Kritik kein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem auswirkungsbezogenen Ansatz und dem Freiheitsparadigma im Wettbewerbsrecht. Das im Widerstreit zur ökonomischen Rationalität stehende Integrationsziel wurde von der europäischen Wettbewerbspolitik auch im Rahmen der Ökonomisierung nicht aufgegeben. Danach lässt sich der ökonomische Ansatz durchaus mit der Verfassungsordnung der Gemeinschaftsverträge vereinbaren. Dennoch ist Unsicherheit eingekehrt. An verschiedenen Stellen sind Ansätze sichtbar, die in der Zukunft zu einer verstärkten Übernahme oder Verabsolutierung zweifelhafter ökonomischer Zielsetzungen führen könnten. Hierzu gehören die zunehmende Benennung von Verbrau-
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cherwohlfahrt und Effizienz als Ziele des Wettbewerbsrechts, die grundsätzliche Anerkennung von Effizienzverteidigungen in der Zusammenschluss- und Missbrauchskontrolle, wenn auch unter Wahrung des consumer surplus standards, das Erfordernis des Nachweises eines Verbraucherschadens als Voraussetzung der Wettbewerbsbeschränkung nach Art. 81 Abs. 1 EG durch die Entscheidung des EuG in GlaxoSmithKline sowie wachsende ökonomische Kritik an der Beibehaltung des Integrationsziels. Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsverfassung ist danach alles andere als gewiss.
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V. Gesamteinschätzungen
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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961 II. Grundlagen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963 1. Ziele der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963 2. Die Europäische Union als Politische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 967 3. Die Europäische Union als Wirtschaftsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970 III. Die Institutionen im System der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 974 1. Besonderheiten der institutionellen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 974 2. Beschlussverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978 3. Kompetenzen und Legitimation zur Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981 IV. Die Verfassungs- und Rechtsordnung der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . 987 1. Verfassungsstruktur der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 987 2. Die Union als Rechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 990 3. Rechtsschutzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993 V. Rechtliche Bewertung und Zukunft der Europäischen Union 998 1. Zur Stellung der Mitgliedstaaten in der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998 2. Folgerungen und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1002 3. Ausblick: Zur Zukunft der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005
I. Einleitung Die in der Europäischen Union und Gemeinschaft institutionalisierte europäische Integration ist eine der bedeutendsten und erstaunlichsten Umwälzungen in der Geschichte des letzten Jahrhunderts. Nach einem schrittweisen Beginn sind nunmehr fast alle Staaten Zentral- und Westeuropas und seit kurzem auch des mittleren Osteuropas in einer umfassenden Organisation mit weitgehenden Hoheitsrechten zusammengeschlossen, die diese selbständig mit eigenen Organen und mit eigenem Recht wahrnimmt. Die wenigen nicht teilnehmenden Staaten Europas sind durch umfassende Abkommen mit ihr verbunden. Dieser Zusammenschluss ist von den beteiligten Staaten freiwillig durch Vertrag vereinbart worden und anders als geschichtliche Vorbilder nicht unter Anwendung von Zwang, Diktatur oder Hegemonie zustande gekommen. Er vereinte zunächst Siegermächte des zweiten Weltkrieges mit dem geschlagenen und geächteten Deutschland. Dieses sollte nicht, wie es nach dem ersten Weltkrieg versucht wurde, durch Auflagen und Kontrollen auf Dauer niedergehalten werden, was A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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nicht gelingen konnte, sondern gleichberechtigt in den Kreis der beteiligten Staaten aufgenommen werden.1 Auf dieser Grundlage hat sich in fünf Jahrzehnten allmählich eine europäische Ordnung herausgebildet, die nahezu alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens mehr oder weniger intensiv erfasst oder wenigstens berührt. Die Mitgliedstaaten tragen die Union und Gemeinschaft einerseits als Gründer und Vertragsparteien sowie als wichtige Akteure, und sie sind andererseits deren Glieder und ebenso wie die Bürger Adressaten ihres Rechts und diesem unterworfen. Sie sind in ihr jedoch nicht völlig aufgegangen, sondern bestehen als Völkerrechtssubjekte weiterhin fort und tragen Verantwortung für das Schicksal ihrer Völker. Zwischen den Belangen der einzelnen Mitgliedstaaten, wie sie von ihren politischen Mehrheiten verstanden werden, und den gemeinsamen Politiken, welche die gemeinschaftlichen Organe formulieren, kommt es ständig zu Spannungen, die ausgetragen werden müssen und das Bild der Union2 negativ beeinflussen. Die Hoffnung, neue Impulse durch den Verfassungsvertrag zu setzen, hat sich spätestens beim Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden als illusionär erwiesen. Die Union hat daher mit dem Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 einen bescheideneren Ansatz gewählt und aus dem Verfassungsvertrag in erster Linie die Änderungen der geltenden Verträge übernommen, die auf die Funktionsfähigkeit der Union ausgerichtet sind. Da der Vertrag erst nach seiner noch ungewissen Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten in Kraft treten wird, muss im Folgenden weiter vom geltenden Gemeinschaftsrecht ausgegangen werden, wie es zuletzt im Vertrag von Nizza festgelegt wurde.3 Das Scheitern des Verfassungsvertrages und die Vorgänge um die zurückhaltende Neuorientierung durch den Vertrag von Lissabon wirken sich aber auf die grundsätzliche Bewertung der Union aus und sind deshalb in die Überlegungen einzubeziehen.4 1
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Vgl. zu den historischen Zusammenhängen und politischen Motiven K.-D. Bracher, Gedanken zur Entstehung und Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft, in: R. Hrbek/V. Schwarz (Hrsg.), 40 Jahre Römische Verträge: Der deutsche Beitrag, 1998, S. 17; G. Nicolaysen, Das Integrationskonzept der Gründungsverträge, in: W. Schäfer/A. Wass von Czege (Hrsg.), Das Gemeinsame Europa, 2007, S. 33; M. Burgess, Federalism and European Union, 2000. Im Folgenden wird zur Vereinfachung in der Regel, sofern der Zusammenhang und der Zeitverlauf nicht etwas anderes verlangen, von der Union gesprochen und damit zugleich die Gemeinschaft umfasst, obwohl diese nach wie vor der eigentliche Rechtsträger ist. Dagegen wird weiter der Ausdruck Gemeinschaftsrecht verwendet. Die allgemein bekannten Vorgänge werden im Folgenden nicht besonders belegt. K. Hänsch, Ende gut – alles gut? Anmerkungen zum Reformvertrag, Integration 2007, S. 499; P. Craig, The Treaty of Lisbon: Process, Architecture and Substance, ELRev. 22 (2008), S. 137; A. Hofmann/W. Wessels, Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?, Integration 2008, S. 3; N. Moussis, Le Traité de Lisbonne: une constitution sans en avoir le titre, Revue du marché commun et de l’UE Nr. 516 (2008), S. 161; F. C. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung?, ZaöRV 68 (2008), S. 1141; P.-C. Müller-Graff, Der Vertrag von Lissabon auf der Systemspur des Europäischen Primärrechts, Integration 2008, S. 123; T. Oppermann, Die Europäische Union von Lissabon, DVBl. 2008, S. 473; J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, EuR Beiheft 1/2009; J. Terhechte, Der Vertrag von Lissabon: Grundlegende
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Für den Verfasser als Angehörigen der Kriegsgeneration war und ist die europäische Integration und die damit verbundene Reduktion der verhängnisvollen Rolle der klassischen Nationalstaaten eine historische Antwort auf Diktatur, Krieg und Völkermord. Er war in den ersten Jahrzehnten der EWG in der deutschen Verwaltung an der Schnittstelle zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten tätig und dabei ständig mit dem schwierigen Ausgleich zwischen den Anforderungen und Ansprüchen der gemeinschaftlichen Politik und den vielfältigen Belangen des deutschen föderalen, pluralistischen Verfassungsstaates befasst. Diese praktische Erfahrung bildet die Grundlage seiner Sicht von der Union, die er in seinem folgenden Beitrag darstellen will. Dabei soll für die verschiedenen Problembereiche besonders das Spannungsverhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten aufgezeigt werden, das die Union prägt.
II. Grundlagen der Europäischen Union 1. Ziele der Union a) Entstehung der Gemeinschaft Die Europäische Union ist, wie angedeutet, nur auf dem Hintergrund der Katastrophen des vorigen Jahrhunderts zu verstehen.5 Europa war nach Krieg, Gewaltherrschaft und Völkermord in weiten Teilen zerstört und uneinig. Die nach der deutschen Niederlage befreiten Länder suchten ihre staatliche Ordnung wiederherzustellen, die Kriegszerstörungen zu überwinden und die Lebensbedingungen ihrer Bevölkerung zu verbessern. Sie mussten sich in der aufkommenden Ost-West-Konfrontation neu orientieren. Deutschland war nach dem totalen Zusammenbruch unter Besatzungsmächten geteilt und fand erst allmählich zu eigenen Formen. Der westliche Teil, der sich als staatliche Einheit organisierte und einen erfolgreichen wirtschaftlichen Aufschwung einleitete, traf vor allem zwei politische Grundsatzentscheidungen, die eine Wiederholung kriegerischer und diktatorischer Entwicklungen dauerhaft ausschließen sollten. Einmal schuf er mit dem Grundgesetz die Grundlagen für einen freiheitlichen, an den westlichen Werteordnungen orientierten, demokratischen Rechtsstaat, und zum andern entschied er sich für die Beteiligung am überstaatlichen Zusammenschluss europäischer Staaten, was in dieser Studie im Vordergrund stehen soll.
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von Lissabon, EuR Beiheft 1/2009; J. Terhechte, Der Vertrag von Lissabon: Grundlegende Verfassungsurkunde der europäischen Rechtsgemeinschaft oder technischer Änderungsvertrag?, EuR 2008, S. 143. Dieser Gesichtspunkt wird von manchen Autoren, vor allem auch von angelsächsischen, nicht ausreichend berücksichtigt, so etwa in dem viel beachteten Buch von L. Siedentop, Democracy in Europe, 2000; ferner z.B. von K. J. Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001.
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Diese kurzen Bemerkungen vereinfachen rückschauend jahrelange, schwierige Diskussionen und Entscheidungsprozesse. Sie wurden dadurch belastet, dass die beiden Entwicklungen zwar zusammenhingen, aber auch alsbald kollidierten, weil Demokratie und Rechtsstaat der jungen Bundesrepublik zunehmend überstaatlichen Einwirkungen ausgesetzt wurden, die sich ihrer Kontrolle entzogen. Die darauf beruhenden Konflikte zeigten sich spätestens in der bekannten Solange- und Maastricht-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Der Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der Einigung Europas entsprachen vergleichbare Bestrebungen in den anderen Staaten Westeuropas, die unter Krieg und Besetzung gelitten hatten. Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen weit zurück, scheiterten aber insbesondere in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts schon im Ansatz am übersteigerten Nationalismus der Vorkriegszeit.6 Erst unter dem Eindruck der verheerenden Folgen des Krieges erhielt die Forderung nach einer Vereinigung der europäischen Staaten und ihrer Völker eine Realisierungschance. Überlebende der Kriegsgeneration aller Seiten erhoben sie ungeachtet vieler Widerstände, um eine Wiederholung derartiger Katastrophen unmöglich zu machen.7 Den politischen Anstoß zur Institutionalisierung der Integration gab die bekannte Erklärung des französischen Außenministers Schuman vom 9. Mai 1950, die den Zusammenschluss der Kohle- und Stahlindustrie der Kernstaaten Europas vorschlug und als „erste konkrete Grundlage für eine europäische Föderation“ bezeichnete. Die zukunftsweisende Bedeutung dieser Initiative bestand darin, dass sich alle beteiligten Staaten in gleicher Weise dem gemeinschaftlichen Regime unterstellen sollten. Dieser Ausgangspunkt, der jede Diskriminierung und jede Hegemonie einzelner Mitgliedstaaten ausschließt, ist bis heute Grundlage aller weiteren Integrationsschritte. Für die gerade entstandene Bundesrepublik eröffnete dieses Angebot die Chance, aus der allgemeinen Diskriminierung und Isolierung nach dem Krieg herauszukommen und als gleichberechtigtes Mitglied in die Staatengemeinschaft zurückzukehren, was zur Ablösung des Ruhrstatuts und später auch des Besatzungsstatuts führte.8 Damit wurde die grundsätzliche Westorientierung der Bundesrepublik eingeleitet. Durch die Anlehnung an die westlichen Demokratien sollte die Stabilität im Innern gestärkt und zugleich im Rahmen der westlichen Allianz die äußere Sicherheit im beginnenden kalten Krieg gewährleistet werden. Die Motive unserer Partner waren geradezu umgekehrt, trafen sich aber im Ergebnis mit den deutschen in dem Bestreben, eine Wiederholung innereuropäischer kriegerischer Auseinandersetzungen auszuschließen. Ihnen ging es darum, das wirt6 7 8
Zusammenfassender Überblick bei T. Oppermann, Europarecht, 2005, § 1 Rn. 3 ff. Vorgeschichte und Entstehung der Gemeinschaft wurden vielfach dargestellt; siehe nur W. Loth, Der Weg nach Europa, 1996. Zum politischen Ursprung H. Mosler, Die europäische Integration aus der Sicht der Gründungsphase, in: FS Everling, 1995, S. 911; U. Böttger, Ziele und Mittel europäischer Integration, 2002.
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schaftlich wieder erstarkende Westdeutschland, dessen Wiederbewaffnung im beginnenden kalten Krieg diskutiert wurde, fest in einen übernationalen Zusammenhang einzubinden. Mit dem Zugriff auf Kohle und Stahl, die nach dem damaligen Stand der Technik als Grundlage der Rüstung angesehen wurden, wollten sie zugleich künftige deutsche Alleingänge ausschließen.9 Neben die politischen Ziele trat mit gleichem Gewicht das wirtschaftliche Motiv, die Kräfte der Mitgliedstaaten für den Wiederaufbau der durch Krieg und Besetzung zerstörten Länder zu bündeln. Mit dem Gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl wollten die Partner Zugang zu den Ressourcen insbesondere des Ruhrgebiets erhalten, die für den Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Regionen benötigt wurden.10 Für Deutschland eröffnete er die Chance, Beschränkungen und Auflagen der Besatzungsmächte abzulösen und Zugang zu den Märkten der Partner zu erhalten. Freilich waren gerade die wirtschaftlichen Regelungen umstritten. Sie wurden als dirigistisch und teilweise diskriminierend angesehen und von Industrie und Gewerkschaften überwiegend abgelehnt. Letztlich wurde der EGKS-Vertrag wegen der politischen Perspektiven, die er eröffnete, gegen Widerstand angenommen.11 b) Fortentwicklung der ursprünglichen Ziele Bestrebungen zur Fortführung der Integration im politischen Bereich blieben bekanntlich zunächst erfolglos. Die Annahme der von der Ad-hoc-Versammlung des Europarats ausgearbeiteten Europäischen Verfassung und des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft hätte einen geradezu revolutionären Sprung in ein verfasstes Europa dargestellt. Dazu fehlte es offenbar an den notwendigen politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen. Deshalb rückte in der Folgezeit nach der Gründung der EWG mit dem Gemeinsamen Markt als Kern die wirtschaftliche Zielsetzung, den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben und zu sichern, in der praktischen Politik und im Bewusstsein der Öffentlichkeit in den Vordergrund.12 Die ursprünglichen politischen, auf die Überwindung der ideellen und materiellen Kriegsfolgen gerichteten Ziele des europäischen Zusammenschlusses bestanden unterschwellig aber ungeachtet aller eingetretenen Verflechtungen und Zusammenarbeit fort. Das zeigte sich besonders an dem Misstrauen, das einige der anderen
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Zu den vielfältigen, hier vereinfacht dargestellten Motiven siehe Nicolaysen (Fn. 1) mit ausführlichen Nachweisen, ferner R. Poidevin (Hrsg.), Histoire des debuts de la construction européenne, 1986; I. Pernice, Zur Finalität Europas, in: F. Schuppert u.a. (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 743. Ausführliche Darstellung in der Einleitung von P. Reuter, La Communauté européenne du charbon et de l’acier, 1953. W. Loth, Vertragsverhandlungen bei abklingender Europabegeisterung, Integration 1989, S. 107; vgl. ferner die Schilderung von C. Schmid, Erinnerungen, 1979, S. 519. H. Rösler, Ökonomische und politische Integrationskonzeptionen im Wettstreit, EuR 2005, S. 370; zum Ablauf H.-J. Küsters, Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1982; H. v. d. Groeben, Aufbaujahre der Europäischen Gemeinschaft, 1983.
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Mitgliedstaaten der deutschen Wiedervereinigung entgegenbrachten.13 Sie hätte insbesondere im Außenverhältnis wohl schließlich nicht so relativ reibungslos gelingen können, wenn nicht von vornherein klargestellt worden wäre, dass das vereinigte Deutschland Mitglied der Union bleiben und damit weiter in diese eingebunden sein würde, und dass die Union auch noch durch den Ausbau zur Wirtschaftsund Währungsunion weiter gestärkt werden sollte.14 Die fortwirkende Erinnerung kann von deutscher Seite nur zur Kenntnis genommen werden; einen Schlussstrich unter die Vergangenheit scheint es in Europa offenbar ebenso wenig wie bei den internen Auseinandersetzungen zu geben. Im Bewusstsein der heute handelnden Nachfolger der Kriegsgeneration dürfte der ursprüngliche Impetus nur noch begrenzt lebendig sein, da sich die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten weitgehend normalisiert haben und die nationalen Grenzen für ihre Bürger im Alltag kaum noch eine Rolle spielen. Im Zentrum steht nunmehr die Erkenntnis, dass die Mitgliedstaaten in der offenen Welt nicht mehr allein in der Lage sind, ihre Überlebenschancen und ihre politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben wirksam wahrzunehmen.15 Nach allem lassen sich die Ziele der Union dahin umschreiben, dass sie durch den Zusammenschluss der Mitgliedstaaten einen Beitrag zur Friedensordnung und zur Freiheit und Sicherheit in Europa leisten, die Versöhnung zwischen den Staaten und ihre Bürgern fördern und die wirtschaftliche und soziale Wohlfahrt der Bürgern sichern und verbessern soll. Diese Ziele sind in den Gemeinschaftsverträgen seit dem Montanvertrag bis hin zum Vertrag von Lissabon mit zunehmender Ausführlichkeit unter Nennung einzelner Politikbereiche aufgeführt und erweitert worden. Ungeklärt blieb seit jeher, welche rechtliche Form die angestrebte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Einheit annehmen soll, insbesondere in welchem Umfang die Mitgliedstaaten in sie eingegliedert werden sollen. Die politischen Erklärungen der Regierungen und Parteien schwankten insoweit, aber in der
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Seit den Anfängen der Gemeinschaft wurde in der Bundesrepublik diskutiert, ob deren Eingliederung in die Gemeinschaft die Wiedervereinigung verhindern würde. Die Zweifel belasteten vor allem die auf deutscher Seite tätigen Akteure ständig. Dass sie sich schließlich als unbegründet erwiesen und dass die Mitgliedschaft in der Union sich sogar als förderlich erwies, hat nicht nur den Verfasser, sondern sicher auch die anderen Beteiligten mit Befriedigung erfüllt. Siehe G. Langguth, Deutschland, die EG und die Architektur Europas, Außenpolitik 1991, S. 136; M. Fromont, L’union de l’Allemagne dans la liberté 1989–1990, Revue du droit public 107 (1991), S. 121; W. Heisenberg (Hrsg.), Die Vereinigung Deutschlands in europäischer Perspektive, 1992, darin insbesondere die Beiträge von P. Ludlow, S. 17, und R. Fritsch-Bournazel, S. 55. Zum Wandel der Integrationsziele in der Praxis der deutschen Bundesregierungen siehe M. Tarama, Struktur und Wandel der Legitimationsideen deutscher Europapolitik, 2001. Zu gegenwärtigen deutschen Vorstellungen H. Schneider/M. Jopp/U. Schmalz (Hrsg.), Eine neue deutsche Europapolitik?, 2002.
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Praxis der Union blieb die organisatorische Gestalt offen.16 Die Mitgliedstaaten wurden nicht voll in die Union eingegliedert, sondern üben ungeachtet der weitreichenden Kompetenzen der Union zahlreiche Funktionen eigenständig aus und treten in erheblichem Umfang auch international selbst auf. Sie betrachten sich trotz der Einschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten durch die Union weiterhin als souverän.17 Es gibt keinen Konsens über eine bestimmte rechtliche Gestalt als endgültiges Ziel; die Union wird bis auf Weiteres in der Schwebe bleiben.18 Das soll an ihren verschiedenen Elementen gezeigt werden. 2. Die Europäische Union als Politische Union a) Der politische Gehalt der wirtschaftlichen Integration Die politische Zielsetzung und der politische Gehalt des Integrationsprozesses blieb auch gegenwärtig, als mit der Gründung der EWG der wirtschaftliche Wiederaufbau und die Sicherung von Beschäftigung und Wohlstand in den Mittelpunkt der Gemeinschaftsaktivitäten rückte. Damit diente die Gemeinschaft zugleich den dargelegten politischen Zielen. Durch die Verschmelzung der Märkte und Volkswirtschaften sollte ein Prozess eingeleitet werden, der zu einem immer engeren Netz zwischen den Mitgliedstaaten, Unternehmen und Bürgern führt. Die dadurch erhoffte gesellschaftliche Verflechtung sollte dazu beitragen, die bestehenden Gegensätze zu überwinden und dem Zusammenschluss eine Grundlage im Bewusstsein der Betroffenen zu geben.19 Vor allem aber ist Wirtschaftspolitik, wie schon der Begriff sagt, Politik und bestimmt das Schicksal der Staaten und der einzelnen Bürger häufig stärker als die gemeinhin als politisch bezeichneten Bereiche.20 Von wirtschaftsrechtlich orientierten Europarechtlern wird das Verständnis von Politik häufig auf die Ausübung des Gewaltmonopols und die außen- und verteidigungspolitischen Belange verkürzt. Doch wie immer der Begriff der Politischen definiert wird, er umfasst jedenfalls auch die Auseinandersetzungen über die Regelungsbefugnis in Wirtschaft und Gesellschaft 16
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Diesen offenen Charakter der Union hat insbesondere Ipsen stets betont und die Orientierung an staatsrechtlichen Modellen abgelehnt, um Fehlschlüssen entgegenzuwirken; siehe H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972. Den Prozesscharakter der Integration in der Union belegt der Sammelband R. Hrbek/M. Jopp/B. Lippert/W. Wessels (Hrsg.), Die Europäische Union als Prozess, 1998. Zur Problematik S. Oeter, Souveränität – ein überholtes Konzept?, in: FS Steinberger, 2002, S. 559; zu den Verfassungsproblemen Frankreichs siehe J.-M. Favret, L’integration européene et la France: quelques reflexions sur la divisibilité de la souveraineté, Revue du droit public 115 (1999), S. 1741. Hierzu noch unten bei Fn. 185. T. Oppermann, Der europäische Traum zur Jahrhundertwende, JZ 1999, S. 317. Diese Funktion des Gemeinsamen Marktes war von Anfang an ein bestimmendes Ziel. Siehe etwa K. Carstens, Das politische Element in den Europäischen Gemeinschaften, in: FS Hallstein, 1966, S. 96. Das hat besonders Walter Hallstein in vielen Reden und Veröffentlichungen betont, siehe ders., Die Europäische Gemeinschaft, 1979, S. 27; ferner ders., Wirtschaftliche Integration als Faktor politischer Einigung, in: FS Müller-Armack, 1961, S. 267.
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und über die Grundlagen des Gemeinwesens einschließlich der Teilhabe der Bürger. Gerade um sie ging und geht es aber in erheblichem Maße auch in der Union.21 So führten die Maßnahmen zur Errichtung und zum Ausbau des Gemeinsamen Marktes für Personen, Waren und Kapital ständig in allen Mitgliedstaaten zu erheblichen Eingriffen in bestehende Strukturen, Traditionen und Besitzstände. Sie konnten gegenüber innenpolitischen Widerstände der Betroffenen in der Regel nicht durch Berufung auf technokratische Sachrationalität, sondern nur durch politische Entscheidung umgesetzt werden. Deshalb musste und muss in Brüssel auch bei vordergründig technischen Regelungen immer wieder nach oft schwierigen internen Konsultationen um politische Entscheidungen und Kompromisse gerungen werden. Schon deshalb stellte sich in der Praxis alsbald heraus, dass der Versuch, die Gemeinschaft aus ihrer Sachorientierung und wirtschaftlichen Rationalität heraus als „Zweckverband europäischer Integration“ zu kennzeichnen,22 von vornherein zu kurz griff und der Realität nicht entsprach, die immer auch eine politische Willensbildung erforderte.23 Offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entscheidung und politischer Wirkung zum Beispiel bei der Handelspolitik, die immer zugleich Teil der Außenpolitik ist. Handelspolitische Maßnahmen oder Abkommen der Gemeinschaft mit dritten Ländern berühren zugleich auch die politischen Beziehungen der Mitgliedstaaten zu den Vertragspartnern. Besonders deutlich wurde dies bei den viel diskutierten wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber Drittländern24 und bei den Assoziierungsabkommen mit den selbständig gewordenen ehemaligen Kolonien einiger Mitgliedstaaten.25 Daraus folgt, dass die weit verbreitete Ansicht, die Union sei zunächst lediglich Wirtschaftsgemeinschaft gewesen und erst später, nämlich seit der Einheitlichen Europäischen Akte und dem Maastricht-Vertrag, auch zur politischen Union geworden, der Entwicklung nicht gerecht wird. Die Union war von Anfang an nicht nur nach ihrer Zielsetzung, sondern auch nach ihrem Gegenstand eine – wenn auch unvollkommene und rudimentäre – politische Union,26 und sie wurde insoweit schrittweise durch die Zusammenführung der nationalen Politiken ausgebaut. b) Einbeziehung der Politik der Mitgliedstaaten Die Mitgliedstaaten oder wenigstens einige von ihnen erkannten das alsbald und versuchten, selbst die politischen Rahmenbedingungen für die europäischen Institutionen, die zunehmend Eigengewicht gewannen, festzulegen, um sie zu kontrollie21 22 23 24 25 26
Carstens (Fn. 19), S. 109. So Ipsen (Fn. 16), S. 196, und ihm folgend die lange Zeit herrschende Lehre. U. Everling, Vom Zweckverband zur Europäischen Union – Überlegungen zur Struktur der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Ipsen, 1977, S. 595 (610). Statt vieler siehe W. Meng, Die Kompetenz der EWG zur Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Drittländer, ZaöRV 42 (1982), S. 780; H.-K. Ress, Das Handelsembargo, 2000. D. Wolfram, Die Assoziierung überseeischer Gebiete an die EWG, 1964; K. Arts, ACP–EC Relations in a New Era, CMLRev. 40 (2003), S. 95. So schon Hallstein (Fn. 20), S. 27.
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ren und zu steuern. Sie setzten meist beim Rat als dem Staatenorgan an, in dem der Einfluss der einzelnen Mitgliedstaaten durch das Mehrheitsprinzip und die zunehmenden Aktivitäten zurückging. Dazu genügt es hier, als Stichworte den FouchetPlan, die Vorgänge um die sog. Luxemburger Protokolle, die Gipfelkonferenzen in Den Haag und Paris und die Europäischen Räte zu nennen. Doch seit den Erweiterungen der siebziger und achtziger Jahre zeigten sich die Grenzen dieser Versuche. Das Einstimmigkeitsprinzip und die damalige Entscheidungsstruktur ließen sich angesichts der wachsenden Gemeinschaftsaktivitäten nicht halten. Die Direktwahl und schrittweise Stärkung des Europäischen Parlaments leitete die Entwicklung zu einer eigenständigen politischen Struktur der Union ein, die durch die Vertragsreformen der beiden letzten Jahrzehnte ausgebaut wurde.27 Schon die Gipfelkonferenz in Den Haag 1969 stellte mit der Europäischen Politischen Zusammenarbeit die Weichen für eine Gemeinsame Außenpolitik. Sie beruhte zunächst nur auf formlosen Beschlüssen und wurde dann im Maastricht-Vertrag als Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Teil des Unionsvertrages.28 Durch den Vertrag von Amsterdam wurde ihre verteidigungspolitische Komponente im Unionsvertrag ausgebaut, und seit einigen Jahren wird eine zusätzliche Organisationsstruktur mit der anspruchsvollen Bezeichnung Europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik aufgebaut.29 Diese Regelungen unterliegen noch nicht den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, aber dieses strahlt in mancher Weise auf sie aus,30 und die immer aktivere Rolle des Europäischen Rates in diesem Bereich stärkt den kooperativen Einfluss der Mitgliedstaaten, bindet diese aber auch zunehmend ein. Zugleich wurden wesentliche Bereiche der inneren Sicherheit und der justiziellen Zusammenarbeit in die Verträge einbezogen. Sie wurden zunächst in weitgehend kooperativer Form im EU-Vertrag geregelt. Aber schon im Vertrag von Amsterdam wurden Teile, wenn auch mit gewissen Sonderregelungen, in den EGVertrag überführt, sodass nur noch die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen den weitgehend kooperativen Formen des EU-Vertrages unterliegt.31
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Das ist hier nicht zu behandeln; siehe nur M. Jopp/B. Lippert/H. Schneider (Hrsg.), Das Vertragswerk von Nizza und die Zukunft der Europäischen Union, 2001. E. Regelsberger, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP), 2004; M. Jopp/P. Schlotter (Hrsg.), Kollektive Außenpolitik: Die Europäische Union als internationaler Akteur, 2007; ausführlich D. Thym, in diesem Band, S. 469 ff. H.-G. Ehrhart (Hrsg.), Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, 2002; S. Graf von Kielmansegg, The European Union’s Competences in Defence Policy, ELRev. 32 (2007), S. 213. J. Burkhard, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und ihre Berührungspunkte mit der Europäischen Gemeinschaft, 2001. J. M. Soria, Die polizeiliche Zusammenarbeit in Europa und der Rechtsschutz des Bürgers, VerwArch 89 (1998), S. 400; C. Chevallier-Goverts, De la coopération policière dans l’Union européenne, 1999; J. Hecker, Die Europäisierung der inneren Sicherheit, DÖV 2006, S. 273; J. Monar, in diesem Band, S. 764 ff.
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Die genannten außen- und innenpolitischen Regelungen greifen erheblich in die Substanz der nationalen Politik ein, auch wenn sie dem Gemeinschaftsrecht noch nicht in vollem Umfang unterliegen. Die Mitgliedstaaten sind sowohl bei der Entscheidung über ihre politischen Beziehungen zu Drittländern und über ihre friedenserhaltenden Einsätze als auch bei der Regelung der Zuwanderung von Drittausländern und der Bekämpfung internationaler Kriminalität, um wichtige Beispiele zu nennen, in gewissem Umfang auf die Mitwirkung oder wenigstens Konsultation europäischer Instanzen angewiesen, und diese Entwicklung soll durch den LissabonVertrag noch verstärkt werden. Das beschränkt die von den Mitgliedstaaten nach wie vor behauptete souveräne Handlungsfähigkeit im Kern. Freilich unterliegen die Mitgliedstaaten insoweit schon bisher weitgehenden internationalen Bindungen etwa in den Vereinten Nationen und in der NATO, und auch in der Union bestanden bereits Koordinierungsmechanismen. Doch die Entwicklung des letzten Jahrzehnts besitzt eine neue Dimension, und dass nach den Erfahrungen auf dem Balkan weitere Schritte folgen müssen, wird allgemein anerkannt.32 Das vorsichtige, schrittweise Vorgehen in diesem Bereich, durch das rechtliche Festlegungen zunächst vermieden wurden, zeigt, in welchem Maße sich die Mitgliedstaaten in ihrem Kern betroffen fühlen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Union in diesem Bereich im Begriff ist, zu den Anfängen der Integration zurückzukehren. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft sollte in den fünfziger Jahren den Weg in die gemeinsame politische Zukunft bahnen. Dafür war die Zeit nicht reif. Nach über fünfzig Jahren nähert sich die Union unter den Zwängen der internationalen Konflikte einem Integrationsstand an, der seinerzeit durch einen großen Sprung vergeblich angestrebt wurde.33 Die damals bereits sichtbare Grundproblematik, dass die Übertragung existentieller Entscheidungen der Mitgliedstaaten auf die Union zu ständigen Spannungen zwischen ihr und den Mitgliedstaaten führt, besteht jedoch nach wie vor und muss ständig in der praktischen Politik bewältigt werden. Nach allem kann nicht mehr ernsthaft bezweifelt werden, dass die Union, die schon in den Anfangsjahren, wie dargelegt, als politischer Verband zu verstehen war, jedenfalls seit den jüngsten Entwicklungen eine – wenn auch immer noch partielle und unvollkommene – Politische Union ist. 3. Die Europäische Union als Wirtschaftsunion a) Öffnung der nationalen Märkte Im Mittelpunkt der Politik der Union stand seit jeher und steht noch heute die wirtschaftliche Integration mit dem Gemeinsamen Markt als Kern. Die schrittweise Beseitigung der innergemeinschaftlichen Grenzen für Personen, Waren und Kapital 32 33
J. Wouters/F. Naert, How Effective is the European Security Architecture?, ICLQ 50 (2001), S. 540. Dazu E. Röper/C. Issel, Das Wiedererstehen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, ZRP 2003, S. 397; siehe ferner Rössler (Fn. 12).
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öffnete den Unternehmen, Selbständigen und Arbeitnehmern einen großen Wirtschaftsraum und ermöglichte einen allgemeinen Wirtschaftsaufschwung. Die funktionale Integrationsmethode erwies sich im Ergebnis als überaus erfolgreich.34 Die einzelnen Integrationsschritte führten zwar nicht, wie teilweise gehofft wurde, automatisch durch einen „spill-over“-Effekt zu weiterer Integration, vielmehr war für jeden weiteren Integrationsschritt eine erneute Entscheidung notwendig. Aber diese wurde jeweils aufgrund des Sachzwanges der bereits vollzogenen Schritte unumgänglich und ergab so neue Integrationsschritte. Doch oft bedurfte es dieser Entscheidungen nicht, weil im offenen Markt die Initiative den Unternehmen überlassen blieb. Am Beginn des Gemeinsamen Marktes stand der Übergang von der Sektorenintegration von Kohle und Stahl zu dem die ganze Wirtschaft umfassenden Zusammenschluss in der EWG. Er war entgegen der heute üblichen rückschauenden Verklärung durchaus umstritten.35 Deutsche liberale Wirtschaftspolitiker befürchteten eine Fortschreibung der Regelungen des Montan-Vertrages, die als dirigistisch angesehen wurden, und überdies Abschließungs- und Umleitungseffekte der Zollunion.36 In den Anfangsjahren der EWG wurde heftig über eine im Grundsatz liberale Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik unter Ablehnung einer Planifikation nach französischem Muster und über eine offene Handelspolitik bei niedrigem Außenschutz gestritten.37 Dabei konnte sich, langfristig betrachtet, eine liberale Auffassung im Wesentlichen durchsetzen. Der im Maastricht-Vertrag in Art. 4 Abs. 1 EG-Vertrag eingefügte Grundsatz der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ prägte bisher weitgehend die Wirtschaftspolitik von Union und Mitgliedstaaten.38 Die Märkte der 27 Mitgliedstaaten der Union und zusätzlich die der EWR-Mitglieder und der durch Abkommen verbundenen restlichen europäischen Staaten stehen den Unternehmen und Bürgern für ihre wirtschaftlichen Aktivitäten offen, und auch gegenüber den Drittstaaten sind die Handelsgrenzen im Rahmen des GATT wesentlich gesenkt worden.39 Das marktwirtschaftliche System wird jetzt durch die Flut staatlicher Stützungsmaßnahmen wegen der Finanzkrise und Rezession gefährdet; die Folgen sind noch nicht abzusehen.
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Zu den verschiedenen Integrationstheorien siehe C. Giering, Europa zwischen Zweckverband und Superstaat, 1997; grundlegend E. B. Haas, The Uniting of Europe, 1958. Dazu Loth (Fn. 11). Unter den frühen Kritikern siehe etwa W. Röpke, Gemeinsamer Markt und Freihandelszone, Ordo 10 (1958), S. 31. Siehe v. d. Groeben (Fn. 12); ferner K. Albrecht, Planifikateure beim Werk, 1964. M. Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, 1997; E.-J. Mestmäcker, Zur Wirtschaftsverfassung in der Europäischen Union, in: FS Willgerodt, 1994, S. 263; W.-H. Roth, Der rechtliche Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion, EuR Beiheft 1/1994, S. 46 (48). J. v. Scherpenberg, Ordnungspolitik im EG-Binnenmarkt, 1992; A. Hatje, in diesem Band, S. 809 ff.
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Die Grundfreiheiten des zum Binnenmarkt fortgebildeten Gemeinsamen Marktes wurden zunächst als Diskriminierungsverbote verstanden, sodass die vielfältigen wirtschaftsrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten in gleicher Weise wie auf inländische auch auf aus anderen Mitgliedstaaten stammende Personen, Waren und Leistungen angewendet wurden. Die dadurch fortbestehenden Handelshemmnisse beseitigte der Gerichtshof weitgehend, indem er die Grundfreiheiten in einer längeren Rechtsprechung schrittweise von Diskriminierungsverboten zu Beschränkungsverboten fortbildete, deren Anwendung nur durch den ordre-public-Vorbehalt oder durch andere, nicht diskriminierend und nicht unverhältnismäßig angewandte Gründe des Allgemeininteresses eingeschränkt wird.40 Die wegen der Vorbehalte fortbestehenden Hindernisse können nur durch die gegenseitige Anerkennung der Regelungen oder, da diese bei Fragen des ordre public oder des Allgemeininteresses nicht ohne Weiteres in Betracht kommt, durch Rechtsangleichung beseitigt werden.41 Rechtsangleichung findet bereits seit langem in erheblichem Umfang statt und wird ungeachtet aller Bekenntnisse zu Subsidiarität und regionaler Regelungsvielfalt ständig weiter ausgebaut. Sie erstreckt sich inzwischen über alle Bereiche des Wirtschaftsrechts und engt den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten und ihrer Glieder immer mehr ein.42 Sie ist kein technischer Vorgang, bei dem es Fachleuten überlassen werden kann, nach der sachlich besten Lösung zu suchen, sondern echte materielle Gesetzgebung, die in den Mitgliedstaaten zu Eingriffen in die unterschiedlichen Traditionen, Strukturen, Interessen und Besitzstände der Betroffenen führt.43 Dadurch ergeben sich oft erhebliche Schwierigkeiten bei der Willensbildung in den Organen. Sie können nicht durch Verfahrensregeln überwunden werden, vielmehr muss immer wieder nach Konsens und Kompromiss gesucht werden. b) Wettbewerbspolitik und sonstige Politiken Der Gemeinsame Markt kann nur bei unverfälschtem Wettbewerb funktionieren, deshalb ist die Wettbewerbspolitik seit jeher ein wesentlicher Bestandteil der gemeinschaftlichen Wirtschaftsordnung.44 Die Kommission hat die Anwendung der 40
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Das ist oftmals dargestellt worden. Hier seien nur genannt: C. D. Classen, Die Grundfreiheiten im Spannungsfeld von europäischer Marktfreiheit und mitgliedstaatlichen Gestaltungskompetenzen, EuR 2004, S. 416; P. Oliver/M. Javis, Free Movements of Goods in the European Community, 2004; T. Eilmannsberger, Zur Reichweite der Grundfreiheiten des Binnenmarktes, JBl. 1999, S. 345 und S. 453; kritisch T. Kingreen, in diesem Band, S. 727 ff. Siehe J. Currall, Some Aspects of the Relation between Articles 30–36 and Article 100 of the EEC Treaty, with a Closer Look at Optional Harmonisation, Yearbook of European Law 5 (1985), S. 169; I. E. Schwartz, Rechtsangleichung und Rechtswettbewerb im Binnenmarkt, EuR 2007, S. 194. S. Weatherill, Regulating the Internal Market, ELRev. 17 (1992), S. 299; A. Ihns, Entwicklung und Grundlagen der europäischen Rechtsangleichung, 2005. U. Everling, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsangleichung in der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Reimer Schmidt, 1978, S. 165. Statt aller E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2004; P. Roth/ V. Rose (Hrsg.), Europan Community Law of Competition, 2007; J. Drexl, in diesem Band, S. 908 ff.
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Wettbewerbsregeln einschließlich der Fusions- und Beihilferegelungen in den letzten Jahren weiter intensiviert und reformiert.45 Besonders nachdrücklich greifen die Beihilferegelungen in die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten ein.46 Zur Abwendung der Folgen von Finanzkrise und Rezession werden diese Grundsätze zur Zeit weitgehend in Frage gestellt. Wie sich das auf die künftige Wettbewerbspolitik auswirken wird, bleibt abzuwarten. Als gravierende Einschränkung des wirtschaftspolitischen Handlungsspielraums wird auch die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf Dienstleistungen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse angesehen, die vereinfachend als Maßnahmen der Daseinsvorsorge oder des service public bezeichnet werden.47 Sie zeigen deutlich die Spannungen, die ständig zwischen dem gemeinschaftlichen Interesse an der Öffnung der Märkte und den nationalen Erfordernissen des Gemeinwohls bestehen. Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden, ebenso nicht auf die besonderen Gebiete der Wirtschaftspolitik wie Agrarpolitik, Verkehrspolitik, Umweltpolitik, Verbraucherpolitik, Arbeits- und Sozialpolitik, Regionalpolitik, Steuerpolitik und Industriepolitik. In diesen Politikbereichen wird die Union mehr oder weniger intensiv tätig und steht ständig in Konkurrenz zu den Mitgliedstaaten, die sich für das Gemeinwohl weiter verantwortlich fühlen und dabei auf gemeinschaftsrechtliche Grenzen stoßen.48 Besonders deutlich werden diese Konflikte bei der bereits wegen ihrer politischen Implikationen erwähnten Handelspolitik, die zur ausschließlichen Zuständigkeit der Organe der Union gehört. Sie fällt materiell in die Bereiche der Außenpolitik und Industriepolitik, für die die Mitgliedstaaten zuständig sind, kann aber gleichwohl von diesen nur beschränkt beeinflusst werden und wird in erster Linie von der Kommission betrieben.49 Auch die Währungspolitik ist seit der Einführung des Euro allein Aufgabe der dafür eingesetzten Organe der Union. Den Mitgliedstaaten sind damit wesentliche Bereiche der Wirtschaftspolitik entzogen.50 Die allgemeine Wirtschaftspolitik als solche ist allerdings noch nicht voll der Union übertragen, insbesondere verbleiben Finanz-, Steuer-, Beschäftigungs-, Sozial-, Bildungs- und Kulturpolitik im Kern in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Doch auch diese Bereiche hängen in mancher Hinsicht mit der Politik und
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Überblick bei J. Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, S. 107, 114 und 143. C. Koenig/J. Kühling/N. Ritter, EG-Beihilfenrecht, 2005; M. Ross, State Aids: Maturing into a Constitutional Problem, Yearbook of European Law 15 (1996), S. 79. Aus der umfangreichen Literatur siehe S. Boysen/M. Neukirchen, Europäisches Beihilferecht und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, 2006; T. Prosser, Competition Law and Public Services, European Public Law 11 (2005), S. 543; A. Lyon-Caen/V. Champeil-Desplats (Hrsg.), Services publics et droit fondamentaux dans la construction européenne, 2001. Hierzu sei auf die einschlägigen Kommentare sowie Schwarze (Fn. 45) verwiesen. F. Lüttken, Die europäische Außenhandelspolitik, 2006; H. Winter, Interdependenzen zwischen Industriepolitik und Handelspolitik der Europäischen Gemeinschaft, 1994. Siehe M. Seidel, European Economic and Monetary Union, 2001; M. Dauses, Rechtliche Grundlagen der Wirtschafts- und Währungsunion, 2003.
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dem Recht der Union zusammen. So üben das Stabilitätsziel und der Stabilitätspakt im Rahmen der Währungsunion erhebliche Zwänge auf die Finanzpolitik und damit auf die gesamte Politik der Mitgliedstaaten aus.51 Das Diskriminierungsverbot und die Grundfreiheiten setzen der nationalen Politik Grenzen, und zunehmend wird das Bedürfnis nach Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken geäußert.52 Zusammenfassend ist aufgrund des gerafften Überblicks festzustellen, dass Politik und Recht der Union und der Mitgliedstaaten auch im wirtschaftlichen Bereich eng miteinander verzahnt sind. Die Mitgliedstaaten stoßen bei ihren Maßnahmen in erheblichem Umfang auf gemeinschaftsrechtliche Grenzen oder sind auf die Zustimmung oder Mitwirkung der Unionsorgane angewiesen, und umgekehrt kann auch die Union oft nicht ohne Mitwirkung der Mitgliedstaaten handeln. Die Gefahr der gegenseitigen Blockade ist offensichtlich. Das Spannungsverhältnis muss in den Institutionen immer wieder durch Zusammenarbeit und Kompromiss aufgelöst werden.53
III. Die Institutionen im System der Union 1.
Besonderheiten der institutionellen Regelungen
a)
Parteipolitische Pluralität
Die Integrationsmethode, die Öffnung der Märkte bei unverfälschtem Wettbewerb im Vertrag festzulegen und Organen Entscheidungsbefugnisse zur Durchführung und Ergänzung zu übertragen, verband funktionelle Elemente mit dezisionistischen. Sie erfordert ein institutionelles System, das den Ausbau des Gemeinsamen Marktes fördern und die Regelungsbedürfnisse der Union erfüllen kann, also den Erfordernissen der Effektivität entspricht und die geschilderten Spannungsverhältnisse zwischen nationalen und gemeinschaftlichen Belangen aufzulösen vermag. Die dafür im Vertrag vorgesehenen Unionsorgane, nämlich Parlament als gewählte Vertretung der Völker, Rat als Entscheidungsorgan aus Regierungsmitgliedern, Kommission als unabhängiges Vorschlags- und Durchführungsinstitution und Gerichtshof als Garant von Rechtmäßigkeit und Rechtsschutz,54 bedarf hier keiner Erläuterung; es ist hinreichend bekannt und belegt. Zu behandeln sind aber die Besonderheiten, die dieses System von den nationalen unterscheiden, sodass Demokratie auf supranationaler Ebene nicht wie in den
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C. Konow, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2002; F. Achtenbrink/J. De Haan, Economic Governance in the European Union, CMLRev. 40 (2003), S. 1075. Dazu Schulze-Steinen (Fn. 38), S. 63. U. Everling, Zur konsensualen Willensbildung in der föderal verfassten Europäischen Union, in: FS Badura, 2004, S. 1053. Unter dem Gerichtshof werden im Folgenden zugleich das Gericht erster Instanz und das Gericht für den öffentlichen Dienst verstanden, sofern der Zusammenhang nichts anderes ergibt.
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Mitgliedstaaten verwirklicht werden kann. Auf der Unionsebene werden nicht, wie in den Mitgliedstaaten, Mehrheiten und Koalitionen aufgrund von Wahlen durch Parteien gebildet, die ihre politischen Ziele durchzusetzen versuchen und denen eine Opposition gegenübersteht, die ihre andersgearteten Programme verfolgt.55 Vielmehr wirken die Repräsentanten unterschiedlicher politischer Richtungen und Vorstellungen in den Organen unter sachlichen Gesichtspunkten zur Verwirklichung gemeinsamer Ziele zusammen.56 Sie tragen dabei die Last der jeweiligen innenpolitischen Konstellationen mit sich, sodass die gemeinsame Willensbildung nur in einem oft langwierigen Prozess der Konsensfindung erfolgen kann. Besonders deutlich ist das im Rat. Dort bilden sich die Mehrheiten der Mitglieder nicht aufgrund gemeinsamer parteipolitischer Programme oder wenigstens Grundübereinstimmungen etwa nach dem Schema konservativ, liberal oder sozialistisch mit seinen Abstufungen, sondern entsprechend der Interessenlage in konkreten Sachbereichen, die in jedem Mitgliedstaat durch innenpolitische Machtverhältnisse beeinflusst werden. Im Parlament gibt es zwar Fraktionen, aber die in ihnen vertretenen nationalen Parteien folgen nur teilweise gemeinsamen Programmen, und ihre Verbindungen gleichen mehr Parteibünden als Parteien. Sie finden sich im gemeinsamen Streben nach Fortführung der Integration und der Stärkung des Einflusses des Parlaments zusammen.57 Auch die Kommission ist parteipolitisch nicht homogen; bei der Benennung ihrer Mitglieder sind meist innenpolitische Überlegungen der Mitgliedstaaten maßgebend. Unter diesen Umständen beruhen die Vorschläge der Kommission mehr auf der am Integrationsziel orientierten Sachrationalität oder dem Regelungsehrgeiz der jeweils maßgeblichen Persönlichkeiten als auf einer Politik, die mehrheitlich parteipolitisch in den Mitgliedstaaten abgesichert ist. In Parlament, Rat und Kommission werden, um überhaupt Ergebnisse zu erzielen, oft über Herkunfts- und Parteigrenzen hinweg Kompromisse geschlossen, die der politischen Ausrichtung der einzelnen Abgeordneten und Kommissare oder der Regierungen nur unvollkommen entsprechen. Sie finden dann in manchen Mitgliedstaaten bei der Bevölkerung wenig Zustimmung und werden als „bürokratisch“ und nicht „bürgernah“ empfunden.
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Vgl. dazu schon U. Everling, Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Doehring, 1989, S. 179. Dieser Sachverhalt wird häufig als Netzwerk beschrieben; siehe R. O. Keohane/S. Hoffmann, Conclusions: Community Politics and International Change, in: W. Wallace (Hrsg.), The Dynamics of European Integration, 1992, S. 276; C. Joerges, Markt ohne Staat?, in: R. Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas?, 1991, S. 225; P. Dann, in diesem Band, S. 350 ff. P. M. Huber, Die politischen Parteien als Partizipationsinstrument auf Unionsebene, EuR 1999, S. 579; V. Nessler, Willensbildung im Europäischen Parlament, ZEuS 1999, S. 157; H. H. Klein, Europäisches Parteienrecht, in: FS Ress, 2005, S. 541; J. Leinen, Europäische Parteien: Aufbruch in eine neue demokratische EU, Integration 2006, S. 229.
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Das System kann als polyzentrisch bezeichnet58 oder mit einer Allparteienregierung verglichen werden.59 Es beruht nicht auf einer unvollkommenen Organisation, die sich durch Verfahrensänderungen beheben ließe, sondern auf dem unvollkommenen föderalen Aufbau der Union. Die politischen Richtungsentscheidungen fallen nach wie vor unterschiedlich in den Parteiendemokratien der Mitgliedstaaten, und ihren Parlamenten; sie müssen auf der europäischen Ebene zu Entscheidungen zusammengeführt werden, ohne dass dort, wie bei der obersten Ebene im Bundesstaat, eine gemeinschaftliche Richtungsentscheidung getroffen wird. Der Europäische Rat, der diese Rolle neuerdings zu beanspruchen scheint, kann sie kaum erfüllen, da die Staats- und Regierungschefs an ihre jeweiligen heimatlichen Konstellationen gebunden sind. Ansätze für gemeinschaftliche demokratische Orientierung gibt es bei der Wahl zum Europäischen Parlament, doch auch diese ist in erheblichem Maße national orientiert und dürfte das Parlament zwar für die Mitentscheidung legitimieren, aber kaum eine allgemeine politische Richtung aufzeigen können.60 b) Einbeziehung der nationalen Verwaltungen Eine weitere Besonderheit des institutionellen Systems besteht in der Einbeziehung der Verwaltungen aller Ebenen in die Willensbildung. Der erforderliche Interessenausgleich zwischen der Union, repräsentiert durch die Kommission, und den Mitgliedstaaten kann schon wegen der oft sehr detaillierten und technischen Regelungen nur begrenzt im Rat mit seinen nach der Erweiterung 27 Mitgliedern stattfinden, sondern bedarf intensiver Vorbereitung. Die Verhandlungen werden dadurch zwangsläufig schon vor der Vorlage der Vorschläge, erst recht aber danach auf die Ebene der Beamten verlagert. Das gilt insbesondere für die Arbeitsgruppen des Rates aus Vertretern der nationalen Verwaltungen und der Dienste der Kommission und schließlich für den Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten. Diese Gremien versuchen, einen weitgehenden Konsens zu erzielen und dem Rat Entwürfe vorzulegen, bei denen allenfalls noch zu wenigen politisch bedeutsamen Punkten Entscheidungsbedarf besteht und eine Abstimmung mit dem Parlament erforderlich ist.61 58 59
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A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung, 2001, S. 217. Hinzuweisen ist auf die Schweiz, in deren Konkordanzdemokratie der als Regierung fungierende Bundesrat traditionell von den großen Parteien, allerdings neuerdings mit Ausnahmen, besetzt wird; siehe W. Linder und L. Mader, in: D. Thürer/J.-F. Aubert/J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, § 64 Rn. 27 bzw. § 67 Rn. 11 f. Das System beruht aber auf Besonderheiten der Schweiz, sodass es nicht ohne Weiteres übertragbar ist; dazu S. Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), S. 659 (699); ferner ders., in diesem Band, S. 112 f. Siehe unter dem Gesichtspunkt der Demokratietheorie A. Benz, Politikwissenschaftliche Diskurse über demokratisches Regieren im europäischen Mehrebenensystem, in: H. Bauer/ P. M. Huber/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 253. A. Dashwood, The Role of the Council of the European Union, in: D. M. Curtin/T. Heukels (Hrsg.), Institutional Dynamics of European Integration (1994), Bd. 2, 1994, S. 119 (126); J. de Zwaan, The Permanent Representatives Committee, 1995; M. Mentler, Der Ausschuss der ständigen Vertreter, 1996.
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Neben der Kommission kommt dadurch auch den nationalen Verwaltungen eine zentrale Stellung bei der Beschlussfassung zu. Das hat die Kritik am System als „bürokratisch“ und „bürgerfern“ verstärkt und zu der Vorstellung beigetragen, die Willensbildung in der Union sei im Wesentlichen eine Aufgabe von Beamten. Doch abgesehen davon, dass der Einfluss der Verwaltung auf die Rechtsetzung auch in den Mitgliedstaaten erheblich ist62, sodass manche Kritik etwas selbstgerecht klingt, muss anerkannt werden, dass eine einigermaßen effektive und zügige Beschlussfassung im Rat anders nicht möglich ist. Entgegen verbreitetem Vorurteil blockieren die Verwaltungen die Beschlussfassung nicht, sondern ermöglichen sie erst durch ihr Zusammenwirken.63 Außerdem wird die Haltung der nationalen Vertreter in den Ausschüssen meist in den Hauptstädten von den Ministern festgelegt, nachdem die betroffenen Verbände, die Länder und die Bundestagsausschüsse konsultiert worden sind.64 Die Stimmabgabe im Rat erfolgt dann, oft nach Erörterung im Kabinett, durch den politisch verantwortlichen Minister, der sich dabei auch von der Verhandlungslage und dem allgemeinen Integrationsinteresse leiten lässt. Insofern ist der Vorwurf der Exekutivgesetzgebung, soweit er sich auf den Rat bezieht, mindestens überzeichnet. Er trifft auch wegen der Mitentscheidung des Europäischen Parlaments nicht zu, die durch den Vertrag von Lissabon weiter ausgedehnt werden soll. Im Parlament wird die Beschlussfassung ebenfalls in Ausschüssen vorbereitet, in denen die Fachfragen detailliert beraten werden. Auch auf dieser Ebene findet ein Interessenausgleich zwischen den allgemeinen Belangen der Integration und den unterschiedlichen fachlichen Interessen statt. Dieser wird dann in der Diskussion mit dem Rat im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens abgeschlossen. Demgemäß lässt sich feststellen, dass bei der Willensbildung im institutionellen System der Union Besonderheiten im Vergleich zu den Mitgliedstaaten bestehen, die besondere Anforderungen an den Ausgleich der unterschiedlichen Interessen und Traditionen der Mitgliedstaaten mit den Zielen der Union erfordern. Dafür wurden besondere Verfahren herausgebildet, die trotz der vielfältigen Spannungen zwischen der Politik der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten eine Beschlussfassung ermöglichen sollen. Dazu sind weitere Erläuterungen angebracht.
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Vgl. A. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 107 ff. So wurde in den sechziger und siebziger Jahren, als Meinungsverschiedenheiten die Beschlussfassung im Rat teilweise behinderten, der Fortgang der Integration wesentlich durch das Zusammenwirken der Verwaltungen aller Ebenen ermöglicht. Zur internen Willensbildung in den Mitgliedstaaten J. Grünhage, Entscheidungsprozesse in der Europapolitik Deutschlands, 2007; ferner R. Morawitz/W. Kaiser, Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei Vorhaben der Europäischen Union, 1994; H. Kassim/G. Peters/ V. Wright, The National Co-ordination of EU Policy, 2000.
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2. Beschlussverfahren a) Mehrheitsentscheidungen In der politischen Diskussion wird das Beschlussverfahren, das sich aus dem geschilderten Zusammenwirken der Institutionen und der Mitgliedstaaten ergibt, vor allem als zu schwerfällig und ineffektiv kritisiert. Eine Verbesserung wird meist von einer vermehrten Zulässigkeit und schneidigen Anwendung des Mehrheitsprinzips im Rat erwartet.65 Das Mehrheitsprinzip gilt bereits mit wenigen Ausnahmen in allen wichtigen wirtschaftlichen Bereichen, und es wird auch tatsächlich angewendet, wenn kein Konsens erzielt werden kann.66 Dieser wird aber stets zunächst im Interesse des Zusammenhalts der Gemeinschaft angestrebt, und bei der Suche nach Kompromissen ist der Einigungszwang durch die drohende Mehrheitsentscheidung förderlich.67 Die bisher noch verbliebenen Fälle, in denen Einstimmigkeit gefordert wird, sollen durch den Vertrag von Lissabon weiter vermindert werden, aber in wichtigen Bereichen fortbestehen.68 Sie betreffen vor allem die Grundlagen der Union und die Kernbereiche der nationalen Politik. Erwähnt seien etwa Beschlüsse des Europäischen Rates69 und Bereiche wie Außen- und Sicherheitspolitik, Sprachenfragen, Steuern sowie straf- und justizrechtliche Fragen.70 Diese Ausnahmen erscheinen im Prinzip entgegen verbreiteter Meinung auch künftig als gerechtfertigt. Zwar ist eine breite Anwendung des Mehrheitsprinzips erforderlich, um die Handlungsfähigkeit der Union zu gewährleisten. Angesichts der Gewichtsverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten dürfte aber in elementaren und essentiellen Fragen die Zustimmung aller Ratsmitglieder gefordert werden müssen, damit sie die Unionsbeschlüsse gegenüber ihren Bürgern mitverantworten und legitimieren.71 Im Übrigen lehrt die Erfahrung auch, dass die Mitgliedstaaten auf Dauer isolierte Positionen nicht durchhalten können und in der Regel schließlich doch einlenken. Nach der letzten Erweiterung und den Vorgängen vor dem Abschluss des Vertrags von 65 66
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A. Maurer, Entscheidungseffizienz und Handlungsfähigkeit nach Nizza, in: Jopp/Lippert/ Schneider (Fn. 27), S. 79. Siehe V. Götz, Mehrheitsbeschlüsse des Rates der Europäischen Union, in: FS Everling 1995, S. 339. Die Debatte über Einstimmigkeit muss deshalb teilweise als maßlos übertrieben bezeichnet werden. Manche Autoren zählten sie sogar ohne Bewertung ihres Gewichts und beurteilten den Erfolg von Verhandlungen an der Verminderung dieser wenig aussagekräftigen Zahl. Everling (Fn. 53), S. 1071. Mehrheitsentscheidungen des Rates sind künftig als Regel vorgesehen (Art. 16 Abs. 3 EUVLiss). Zum Folgenden siehe den Überblick bei Hofmann/Wessels (Fn. 4). Der Vertrag spricht von Entscheidung „im Konsens“ (Art. 15 Abs. 4 EUV-Liss.), sieht aber auch einige einstimmige oder mehrheitliche Beschlüsse vor, z.B. Art. 31 Abs. 1, Art. 48 Abs. 7 EUV-Liss (einstimmig), Art. 17 Abs. 7 EUV-Liss (qualifizierte Mehrheit), Art. 48 Abs. 3 EUV-Liss, Art. 235 Abs. 3 AEUV (einfache Mehrheit). Siehe z.B. Art. 31 Abs. 1, Art. 42 Abs. 4 EUV-Liss; Art. 19 Abs. 1, Art. 77 Abs. 3, Art. 81 Abs. 3, Art. 86 Abs. 1, Art. 113, Art. 118 und Art. 342 AEUV. M. Seidel, Die Einstimmigkeit im EU-Rat – eine leidige, aber nicht dispensable Regel, EuZW 2000, S. 65.
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Lissabon erscheint allerdings nicht sicher, ob diese Haltung bei allen Mitgliedstaaten, insbesondere auch den neuen, zu erwarten ist. Dazu bedarf es längerer Anpassungsprozesse. Besonders kritisiert wurde das Erfordernis der Einstimmigkeit nach dem deprimierenden Verlauf der Verhandlungen über den Vertrag von Nizza und deren von den Medien als unzureichend bewerteten Ergebnissen.72 Doch dabei ging es um Vertragsänderungen, und bei diesen dürften Mehrheitsentscheidungen nach dem gegenwärtigen Stand der Integration kaum in Betracht kommen. Die oft gebrauchte Formel, dass die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ seien,73 kommt in der Verfassungswirklichkeit der Union im Wesentlichen dadurch zum Ausdruck, dass Vertragsänderungen gemäß Art. 48 EU nach wie vor eines ratifikationsbedürftigen Vertrages zwischen allen Mitgliedstaaten bedürfen.74 Das ist, wie schon im Verfassungsvertrag, nunmehr auch im Vertrag von Lissabon vorgesehen.75 Dabei müssen die in der Bestimmung festgelegten Formen, insbesondere auch die Mitwirkungsrechte der Unionsorgane beachtet werden. Wenn den Mitgliedstaaten ohne ihre Zustimmung Änderungen des Vertrags, insbesondere die Übertragung weiterer Hoheitsrechte auferlegt werden könnten, würde der komplexe Schwebezustand zwischen Mitgliedstaaten und Union, der ein wesentliches Merkmal des gegenwärtigen Systems ist, in Richtung auf eine bundesstaatliche Ausrichtung verschoben. Die Legitimation zu einer derartigen, meist als Kompetenz-Kompetenz bezeichneten Selbstermächtigung dürfte beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Integration nicht gegeben sein.76 Allerdings muss die Vorstellung schrecken, dass ein einzelner der 27 Mitgliedstaaten die weitere Fortbildung der Verträge blockieren kann.77 Wenn der Widerstand nicht ausgeräumt wird, kann nur, wie beim Verfassungsvertrag, das Scheitern festgestellt und ein neuer Anlauf, wie nunmehr im Vertrag von Lissabon, unternommen werden. Da die irische Bevölkerung auch die Zustimmung zum Vertrag von Lissabon verweigert hat, wird erneut nach Lösungen gesucht. Auf die Stimmengewichtung und die Abstimmungsverfahren im Rat braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden.78 Es genügt die Feststellung, dass die Lei72
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Bei genauerer Analyse erscheint die verbreitete kritische Bewertung des Vertrages als mindestens übertrieben; siehe A. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, EuR 2001, S. 143. BVerfGE 89, 155 (190). U. Everling, Zur Stellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als „Herren der Verträge“, in: FS Bernhardt, 1995, S. 1161. Art. 48 EUV-Liss. Die dort unter bestimmten Voraussetzungen vorgesehenen vereinfachten Verfahren stellen sicher, dass keinem nationalen Parlament eine Vertragsänderung gegen seinen Willen aufgezwungen werden kann. Zur Problematik vertragsimmanenten Fortbildung durch Evolution ausführlich Peters (Fn. 58), S. 395. Zweifel ergeben sich vor allem aus der Rechtsprechung des BVerfG (siehe Fn. 73). Eine solche Folge drohte wegen des Scheiterns der ersten irischen Volksabstimmung über den Nizza-Vertrag; siehe G. Hogan, The Nice Treaty and the Irish Constitution, European Public Law 7 (2001), S. 565. Erst die zweite Abstimmung war erfolgreich. Siehe Maurer (Fn. 65) sowie Hatje (Fn. 72).
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denschaft, mit der teilweise bereits in Nizza und auch in Berlin und Lissabon über die Stimmgewichte gestritten wurde, ihrer praktischen Bedeutung kaum entspricht, denn die Berechnung der Mehrheit scheitert in der Praxis selten an den erörterten marginalen Unterschieden. Die Auseinandersetzungen zeigen vielmehr das Prestigedenken der Mitgliedstaaten auch im Verhältnis untereinander. Das gilt für die Querelen um die doppelte Mehrheit aus Ratsmitgliedern und Bevölkerung, die unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten wichtig ist. Sie führten zu seltsamen Lösungen, insbesondere zu überlangen Fristen im Vertrag von Lissabon.79 b) Delegation von Durchführungsmaßnahmen Zur effektiveren Willensbildung wird ferner seit längerem eine vermehrte Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Kommission gefordert. Nach der dem Vertrag zugrunde liegenden, auf die Funktionen bezogenen Gewaltenteilung darf sich der Gemeinschaftsgesetzgeber, also Europäisches Parlament und Rat auf Vorschlag der Kommission, seiner Verantwortung bei der Ermächtigung der Kommission zu Durchführungsmaßnahmen nach Art. 202 EG auf die Kommission nicht ohne Weiteres entziehen. Er muss, wie der Gerichtshof entschieden hat, die wesentlichen Grundzüge der vorgesehenen Regelung und die übertragenen Befugnisse hinreichend umschreiben, was jedoch nicht eng zu verstehen ist.80 Durchführungsmaßnahmen enthalten oft die für die Praxis wichtigsten Bestimmungen, deshalb überträgt sie der Rat der Kommission meist nur unter Vorbehalt. Nach Art. 202 EG kann der Rat die Ermächtigung im Verfahren der so genannten Komitologie mit der Verpflichtung verbinden, Ausschüsse von Fachleuten aus der nationalen Verwaltung einzuschalten, deren Beschlüsse die Kommission nach verschiedenen, im Einzelnen festgelegten Varianten berücksichtigen muss, wobei in bestimmten, praktisch seltenen Fällen auch ein Rückfall an den Rat in Betracht kommt.81 Das Verfahren wurde in der Öffentlichkeit teilweise wegen der mangelnden Transparenz und fehlenden Mitwirkung des Parlaments kritisiert, inzwischen aber revidiert. Insbesondere wurde dem Europäischen Parlament unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit eingeräumt, sich in die Verfahren einzuschalten.82 Durch das Verfahren werden der Sachverstand und die Erfahrung der nationalen Verwaltungen, welche die Regelungen meist in der Praxis vollziehen müssen, in die Meinungsbildung der Kommission einbezogen. Dabei werden Lösungen für die
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Siehe Art. 238 AEUV sowie Protokoll über die Übergangsbestimmungen; dazu Hofmann/ Wessels (Fn. 4), S. 15. Siehe J.-P. Hix, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 202 EG, Rn. 13 f. C. Joerges/J. Falke (Hrsg.), Das Ausschusswesen der Europäischen Union, 2000; K. Lenaerts/A. Verhoeven, Towards a Legal Framework for Executive Rule-making in the EU?, CMLRev. 37 (2000), S. 645; zur Praxis: C. Demmke/G. Haibach, Die Rolle der Komitologieausschüsse bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts, DÖV 1997, S. 710. Siehe die unterschiedliche Bewertung in den Beiträgen zu M. Adenas/A. Türk (Hrsg.), Delegated Legislation and the Role of Committees in the EC, 2000. Zur Neuregelung B. Scheel, Die Neuregelungen der Komitologie und das europäische Demokratiedefizit, ZEuS 2006, S. 521; C. F. Bergström, Comitology, 2005, S. 285 ff.
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geltend gemachten Interessen und praktischen Erfordernisse gesucht, die einen möglichst breiten Konsens finden. Insofern substituieren die Ausschüsse in gewissem Umfang den Rat, ohne die Effizienz der Beschlussfassung zu mindern. Das Verfahren entspricht in besonderem Maße den Anforderungen des institutionellen Systems der Union, weil es einer zentralistischen, hierarchisch den Mitgliedstaaten auferlegten Rechtsetzung entgegenwirkt und zum Ausgleich der Spannungen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten sowie zwischen diesen beiträgt.83 3. Kompetenzen und Legitimation zur Rechtsetzung a) Kompetenzverteilung Ein Schlüsselproblem der Rechtsetzung durch die Union und ihres Verhältnisses zu den Mitgliedstaaten ist, wie in jedem System mehrerer Entscheidungsebenen, die vertikale Verteilung der Kompetenzen. Sie sind der Union nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung übertragen und im Vertrag verstreut vorgesehen.84 Über ihre Auslegung gab es von Anfang an Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedstaaten untereinander und mit den Organen der Union, die für ein weites Verständnis eintraten. Letztlich stimmten die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat oder wenigstens ihre Mehrheit aber dann meist einer am Sinn und den Zielen der Verträge orientierten weiten Anwendung der Kompetenzen zu, obwohl das zu Lasten ihrer eigenen Zuständigkeiten ging. Sie versprachen sich davon teilweise eine wirksamere Wahrnehmung konkreter Belange, und häufig gaben Mitgliedstaaten ihren Widerstand auch im allgemeinen Interesse der Integration auf. Das Ergebnis wurde dann meist vom Gerichtshof gebilligt. Insofern erscheint es kaum gerechtfertigt, dass sich die Mitgliedstaten über die extensive Anwendung der Kompetenzen der Union beklagen. Wichtigstes Einfallstor in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ist in der Praxis die Rechtsangleichung zur Verwirklichung des Binnenmarktes, da sie weitgehend in das nationale öffentliche und private Wirtschaftsrecht eingreift und die künftige Fortbildung der Regelungen auf die Unionsebene zieht.85 Doch Rechtsangleichung ist, wie dargelegt wurde, notwendig, um Beschränkungen der Grundfreiheiten auszuräumen, welche die Mitgliedstaaten durch Regelungen im Interesse des Gemeinwohls noch vornehmen dürfen.86 Wer die Rechtsangleichung einschränken will, muss also die Grundfreiheiten des Binnenmarktes enger verstehen, als sie sich in der bisherigen, jahrelangen Praxis und Rechtsprechung herausgebildet haben. Sie gehö83 84
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K. Caunes, Et la fonction exécutive européenne créa l’administration à son image, Revue trimestrielle de droit européen 43 (2007), S. 297. Dazu H.-P. Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrages, 1991. Das Prinzip soll in Art. 5 EUV-Liss. erstmals ausdrücklich festgeschrieben werden. Siehe als Beispiel W.-H. Roth, Rechtsetzungskompetenzen für das Privatrecht in der Europäischen Union, EWS 2008, S. 401. Zur Problematik M. Möstl, Grenzen der Rechtsangleichung im europäischen Binnenmarkt, EuR 2002, S. 318. Siehe oben bei Fn. 41.
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ren aber nach wie vor zum Kernbestand der Union; der Spielraum für einschränkende Formulierungen ist deshalb gering.87 Dagegen führt die häufig kritisierte allgemeine Ermächtigung zur Kompetenzabrundung in Art. 308 EG (vormals Art. 235 EWG-Vertrag) kaum noch zu Kompetenzerweiterungen. Heute ist sie wegen des erheblichen Ausbaus der Kompetenzen nur noch für marginale Ergänzungen von Bedeutung.88 Ihre Streichung würde den Schutz vor der Ausweitung der Kompetenzen nicht erhöhen, dafür aber die notwendige Flexibilität in Randfragen einengen.89 Die Mitgliedstaaten haben nicht nur durch ihre Beschlüsse im Rat, sondern vor allem auch durch die Vertragsänderungen der letzten Jahrzehnte zur Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen beigetragen, über die sie sich nun beklagen. Umso erstaunlicher ist, dass sie und ihre Verfassungsgerichte90 vor allem dem Gerichtshof die Verantwortung für Kompetenzausweitungen geben. Der Gerichtshof legt die Ermächtigungsnormen, wie den Vertrag insgesamt, objektiv nach ihrem Sinn und ihrer Stellung im Vertrag aus.91 Er orientiert sich dabei am effet utile, der „praktischen Wirksamkeit“ der betreffenden Bestimmungen, sodass sie die Funktion erfüllen können, die ihnen nach dem Vertrag zugedacht ist.92 Er entscheidet aber nicht abstrakt über Zuständigkeiten, sondern über Regelungen, die vorher bereits einstimmig oder wenigstens mehrheitlich vom Rat und zusätzlich vom Parlament beschlossen worden sind. Offensichtlich zögert er, Ermächtigungsnormen enger auszulegen als die Organe und die in ihnen vertretenen Mitgliedstaaten, zu deren Lasten sie gehen. Demgemäß hat er Rechtssätze des Gemeinschaftsgesetzgebers selten wegen Kompetenzüberschreitung für nichtig erklärt. Das ist insofern bedenklich, als das Mehrheitsprinzip den Rechtsschutz der überstimmten Minderheit erfordert,93 berechtigt aber nicht zu der These, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs eine schleichende Kompetenzerweiterung bewirke, denn in erster Linie liegt die Verant87 88 89
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C. Calliess, Optionen zur Demokratisierung der Europäischen Union, in: Bauer/Huber/Sommermann (Fn. 60), S. 281 (303 f.). Siehe M. Bungenberg, Art. 235 EGV nach Maastricht, 1999; ders., Dynamische Integration, Art. 308 und die Forderung nach dem Kompetenzkatalog, EuR 2000, S. 879. Demgemäß übernimmt Art. 352 AEUV die Regelung des Art. 308 EG, sieht aber einige Änderungen, insbesondere die Zustimmung des Europäischen Parlaments und die Anhörung der nationalen Parlamente nach Art. 5 Abs. 3 EUV-Liss. vor, was im Interesse der Legitimation zu begrüßen ist. Siehe BVerfGE 89, 155 (209). J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997; C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1998. Siehe R. Streinz, Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: FS Everling, 1995, S. 1491; N. Emiliou, Opening Pandora’s Box: The Legal Basis of Community Measures Before the Court of Justice, ELRev. 19 (1994), S. 488; M. Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft, 2003; S. Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, 2008. Das unterschätzt J. Kokott, Die Durchsetzung der Normenhierarchie im Gemeinschaftsrecht, in: FS Hirsch, 2008, S. 116 (127); siehe U. Everling, Die Kontrolle des Gemeinschaftsgesetzgebers durch die Europäischen Gerichte, in: FS Gündisch, 1999, S. 89.
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wortung dafür bei den politischen Organen der Union und der jeweiligen Mehrheit der Mitgliedstaaten. Angesichts der engen Verflechtung der Politik der Union mit der der Mitgliedstaaten und der vielfältigen, oft gegenläufigen Interessen gibt es für die seit langem geforderte klarere Ordnung der Kompetenzen keine Patentlösung.94 Das zeigt sich jetzt bei dem Versuch, eine Kompetenzordnung im Vertrag von Lissabon zu schaffen. Dieser listet, wie ähnlich bereits der Verfassungsvertrag, in Art. 3 AEUV Sachgebiete auf, in denen die Union ausschließliche und geteilte Zuständigkeiten sowie Zuständigkeiten zur Koordinierung und Unterstützung der Politik der Mitgliedstaaten besitzen soll. Das erhöht die Transparenz und ist insoweit zu begrüßen. Doch dabei werden nur die Sachgebiete global aufgeführt, in denen die Union tätig werden darf. Schon deren Abgrenzung ist unklar, außerdem können Annexkompetenzen nicht ausgeschlossen werden.95 Vor allem aber bleiben die konkreten Ermächtigungen zur Rechtsetzung auf die einzelnen Sachkapitel verstreut. Sie sind, wie alle Texte, nicht eindeutig und daher auslegungsbedürftig, zumal sie in den 23 Vertragssprachen der Union abgefasst sind und Begriffe in diesen häufig unterschiedliche Bedeutungen haben. Die Forderung nach einer „trennscharfen“ Abgrenzung der Kompetenzen im Vertrag, etwa durch einen detaillierten Kompetenzkatalog, ist deshalb eine Illusion, und Klarheit kann nur die einheitliche Auslegung durch den Gerichtshof bringen.96 Seit dem Maastrichtvertrag werden immer wieder Erwartungen an das Subsidiaritätsprinzip gerichtet. Dieses ist nach Art. 5 EG keine Kompetenzregelung, sondern maßgebend für die Ausübung der Kompetenzen.97 Im Vertrag von Lissabon wird es 94
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Zur Problematik siehe etwa I. Pernice, Kompetenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866; A. v. Bogdandy/J. Bast, The European Union’s Vertical Order of Competences, CMLRev. 39 (2002), S. 217; C. Trüe, Das System der Rechtsetzungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union, 2002; W. Schroeder, Zu eingebildeten und realen Gefahren durch kompetenzüberschreitende Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1999, S. 452; M. Nettesheim, in diesem Band, S. 397 ff. Sie hat der Gerichtshof seit jeher für die Grundfreiheiten und neuerdings für Strafvorschriften im Umweltrecht anerkannt; siehe H. Weiß, EC Competence for Environmental Criminal Law, ZEuS 2006, S. 381; C. Haguenau-Moizard, Vers une harmonisation communautaire du droit pénal? Revue trimestrielle de droit européen 42 (2006), S. 377; C. Calliess, Auf dem Wege zu einem einheitlichen Strafrecht?, ZEuS 2008, S. 3. Das vor allem in der deutschen Öffentlichkeit und sogar von amtierenden Richtern häufig geforderte Kompetenzgericht aus Richtern des Gerichtshofs und nationaler oberster Gerichte könnte aus theoretischen und praktischen Gründen nicht wirksam handeln und würde das Gerichtssystem gefährden. Siehe dazu ausführlich mit Nachweisen U. Everling, Zur verfehlten Forderung nach einem Kompetenzgericht der Europäischen Union, in: FS Hirsch, 2008, S. 63; F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 330, unter Hinweis auf US-amerikanische Erfahrungen. Siehe C. Calliess, Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union, 1999; N. Bernard, The Future of European Economic Law in the Light of the Principle of Subsidiarity, CMLRev. 33 (1996), S. 633: T. Koopmans, Subsidiarity, Politics and the Judiciary, European Constitutional Law Rev. 1 (2005), S. 112; H.-J. Papier, Das Subsidiaritätsprinzip – Bremse des europäischen Zentralismus?, in: FS Isensee, 2007, S. 691.
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mehrfach genannt. Obwohl das Prinzip vielfach fast als „Zauberformel“ beschworen wird, ist es in der Praxis der Organe, insbesondere auch des Gerichtshofs, bisher relativ wenig angewendet worden.98 Die in der Bestimmung geforderte Feststellung, ob die Ziele der vorgesehenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können, liegt im Ermessen der Organe, das wegen der Unbestimmtheit der Kriterien notwendig weit verstanden werden muss und nur begrenzt nachprüfbar ist. Die Beurteilung ist wegen der unterschiedlichen Größe und Leistungskraft der Mitgliedstaaten schwer zu treffen.99 Was die großen Mitgliedstaaten oder sogar ihre Länder und Regionen selbst erledigen können, ist den kleineren oft unmöglich. Die Voraussetzung ist kaum zu erfüllen, da als Maßstab die Erledigung durch alle Mitgliedstaaten oder wenigstens ihre Mehrheit gefordert werden muss.100 Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips zeigt sich demgemäß vor allem in der Wirkung auf die Einstellung der Organe bei ihren Vorschlägen und Beschlüssen. Doch die Erwartung vieler nationaler Politiker, dass es sich als Schutz der Mitgliedstaaten gegen Kompetenzausweitungen durch die Union erweisen könnte, dürfte nach der bisherigen Erfahrung allenfalls in Erfüllung gehen, wenn seine Auslegung nicht am engen Vertragstext, sondern an den Vertragszielen und der Notwendigkeit, die föderale Balance in der Union zu wahren, ausgerichtet wird.101 b) Legitimation der Rechtsetzung Angesichts der umfangreichen Tätigkeit der Union in Politik und Rechtsetzung ist die nach demokratischen Grundsätzen erforderliche Legitimation der Organe von besonderer Bedeutung. Zwar sind die Ermächtigungen zur Rechtsetzung als Bestandteile der Unionsverträge von den nationalen Parlamenten gebilligt worden, aber damit wird noch nicht jede Anwendung gedeckt.102 Nach dem herrschenden deutschen Verfassungsverständnis wird die Legitimation durch die Kette vermittelt, welche die Entscheidungsträger mit den Bürgern und dem durch sie gewählten Parlament verbindet.103 Auf die Union ist das schon wegen des Abstandes des Bürgers zu den Organen im Mehrebenensystem nicht ohne Weiteres übertragbar. Hier wird 98
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Nachweise bei S. Albin, Das Subsidiaritätsprinzip in der EU – Anspruch und Wirklichkeit, NVwZ 2006, S. 629; zur Justiziabilität siehe D. Wyatt, Subsidiarity and Judicial Review, in: FS Lord Slynn, 2000, S. 505. Skeptisch D. Gareth, Subsidiarity: the Wrong Idea, in the Wrong Place, at the Wrong Time, CMLRev. 43 (2006), S. 63. Siehe M. Zuleeg, in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2003, Art. 5 EG, Rn. 31. Siehe dazu U. Everling, Rechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, EuR Beiheft 1/2009, S. 71. Aus der Lit. siehe W. Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995; M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997; Peters (Fn. 58), S. 627; H.-P. Folz, Demokratie und Integration, 1999; Bauer/Huber/Sommermann (Fn. 60); P. Margherita, Democracy and Europe, European Public Law 13 (2007), S. 633. Siehe H. Bauer, in: ders./Huber/Sommermann (Fn. 60), S. 1. Zu anderen Mitgliedstaaten K.-P. Sommermann, ebd., S. 191, sowie dort weitere Autoren.
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die Verbindung zum Bürger in zweierlei Weise hergestellt, nämlich einmal durch die Mitglieder des Rates, die in ihren Herkunftsstaaten gewählt und ihren Parlamenten verantwortlich sind,104 und zum andern direkt durch die von den Völkern der Mitgliedstaaten gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments.105 Die über den Rat vermittelte Legitimationskette zwischen der Union und den nationalen Parlamenten, die das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil in den Vordergrund gestellt hat, ist relativ lang und erscheint nicht übermäßig tragfähig. Die Parlamente können sich nur gegenüber den Ministern, die im Rat auftreten, äußern und diese nachträglich zur Verantwortung ziehen.106 Ob die im Vertrag von Lissabon, wie schon im Verfassungsvertrag, vorgesehene Befugnis der nationalen Parlamente, unter bestimmten Voraussetzungen zu Vorschlägen der Kommission Stellung zu nehmen, die Legitimationsbasis verbreitern wird, ist zweifelhaft, denn das führt nur zur Überprüfung der Vorschläge, nicht aber ohne Weiteres zu ihrer Rücknahme.107 So richten sich die Erwartungen auf den zweiten Legitimationsträger, nämlich das Europäische Parlament. Seine Befugnisse, die seit der Einführung der Direktwahl schrittweise erweitert worden sind, sollen durch den Vertrag von Lissabon weiter ausgebaut werden. Insbesondere soll er künftig auf Vorschlag des Europäischen Rates den Präsidenten der Kommission wählen und in weiteren Bereichen zur Mitentscheidung zuständig werden.108 Einer Stärkung des Parlaments sind freilich Grenzen gesetzt. Zum einen wird das Gewicht der Stimmen der Bürger der verschiedenen Mitgliedstaaten ungleich gewertet, weil die Verteilung der Abgeordnetensitze auf die einzelnen Mitgliedstaaten in krassem Missverhältnis zu ihrer relativen Bevölkerungszahl steht, auch wenn berücksichtigt wird, dass den kleineren Mitgliedstaaten ein Sockel gewährt werden muss.109 Zum andern fehlt es trotz gewichtiger Ansätze weitgehend an einer das Parlament tragenden, die Grenzen überspannenden europäischen Öffentlichkeit, die alle gesellschaftlichen Gruppen, Medien und Bürger einschließt und die Meinungsbildung des Parlaments durch politische Parteien vorbereitet.110 104
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Dies war zunächst die einzige Rechtfertigung; dazu schon E. Wohlfarth in: ders./U. Everling/ H. J. Glaesner/R. Sprung, Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 1960, Vorb. vor Art. 137 EWG-Vertrag, Rn. 12 f. F. Brosius-Gersdorf, Die doppelte Legitimationsbasis der Europäischen Union, EuR 1999, S. 133; S. Oeter, in diesem Band, S. 90 ff. Dazu S. Hansmeyer, Die Mitwirkung des Deutschen Bundestages an der europäischen Rechtsetzung, 2001; A. Schäfer/M. Roth/C. Thum, Stärkung der Europatauglichkeit des Bundestages, Integration 2007, S. 44. Siehe Art. 12 EUV-Liss. und das dem Vertrag von Lissabon beigefügte Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union. Dazu Hofmann/Wessels (Fn. 4), S. 17. D. Reich, Rechte des Europäischen Parlaments in Gegenwart und Zukunft, 1999; Hofmann/ Wessels (Fn. 4), S. 11. T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 496. Siehe D. Curtin, Postnational Democracy, 1997; auf gewichtige Ansätze verweist C. D. Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, AöR 119 (1994), S. 238 (257).
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Deshalb dürfte die Stärkung des Parlaments bis auf Weiteres wohl nur so weit gehen können, dass es gleichberechtigt mit dem Rat an der Gesetzgebung der Union teilnimmt.111 Das ist vom Standpunkt der demokratischen Legitimation aus unbefriedigend, doch im internationalen und übernationalen Bereich kann die parlamentarische Demokratie nicht wie in den Staaten verwirklicht werden.112 Auch in den Mitgliedstaaten erschöpft sie sich nicht in der zentralen Stellung der Parlamente, sondern sie verwirklicht sich zusätzlich in Elementen wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechten, und Rechtsschutz sowie in der Mitwirkung gesellschaftlicher Gruppen, welche die Schwächen der parlamentarischen Absicherung der Willensbildung bis zu einem gewissen Grade kompensieren können.113 Die geschilderten Unvollkommenheiten des Systems führen zu Bestrebungen, die Willensbildung in Sonderformen außerhalb der Institutionen zu verlagern. Das entspricht vergleichbaren Vorgängen in den Mitgliedstaaten. Dazu ist zunächst auf die Errichtung von Agenturen hinzuweisen. Deren Zahl nimmt ständig zu, und sie sind nach Rechtsform, Entscheidungs- oder Beratungsbefugnissen, Zuordnung zu einzelnen Institutionen und Bedeutung und Einfluss ganz unterschiedlich ausgestaltet und entziehen sich weitgehend der ohnedies begrenzten demokratischen Kontrolle.114 Die neuerdings vermehrte Praxis, die Konsensbildung aus dem Rat in unverbindliche Ministertreffen zu verlagern, ist ebenso zu nennen wie die so genannte Methode der offenen Koordinierung, die eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten unter Mitwirkung der Kommission außerhalb der Vertragsregeln vorsieht und damit weitgehend am Parlament und am Gerichtshof vorbeigeht.115 Das Verfahren erinnert an die Vereinbarungen der deutschen Länder in Bereichen, in denen es an einer Bundeszuständigkeit fehlt, aber ein Bedürfnis für übereinstimmende Regelungen besteht. Der Überblick über das institutionelle System dürfte gezeigt haben, dass dieses mit seinen vielfachen Mechanismen, Sonderverfahren und Ergänzungen auf ein Zusammenwirken und einen Ausgleich zwischen der Union bei der selbständigen Wahrnehmung der ihr übertragenen Aufgaben zur Verwirklichung der Vertragsziele einerseits und den Mitgliedstaaten als unabhängigen Trägern von Verantwortung innerhalb und außerhalb der Union andererseits ausgerichtet ist. Damit stellt sich die Frage nach seinem rechtlichen Rahmen. 111 112
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P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und föderativer Verfassungsprinzipien der in Europa verbundenen Staaten, ZSchweizR 109 (1990), S. 115 (120). A. Randelshofer, Zum behaupteten Demokratiedefizit der Europäischen Gemeinschaft, in: P. Hommelhoff/P. Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 39; ausführlich zur Problematik Peters (Fn. 58), S. 626; P. Allot, European Governance and the Re-branding of Democracy, ELRev. 27 (2002), S. 60; Classen (Fn. 110). Dazu enthält der Band von Bauer/Huber/Sommermann (Fn. 60) zahlreiche Hinweise. D. Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft, 1999; R. Uerpmann, Mittelbare Gemeinschaftsverwaltung durch gemeinschaftsgeschaffene juristische Personen des öffentlichen Rechts, AöR 125 (2000), S. 551. Die bisher unvollkommene gerichtliche Kontrolle soll durch den Vertrag von Lissabon verbessert werden; siehe Everling (Fn. 101), sowie J. Bast, in diesem Band, S. 554 ff. K. Hofstetter, Die offene Koordinierung in der EU, 2007; kritisch F. Rödl, in diesem Band, S. 885 ff.
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IV. Die Verfassungs- und Rechtsordnung der Europäischen Union 1. Verfassungsstruktur der Union a) Verfassungsdiskussion in der Union Seit Jahren wird kontrovers darüber diskutiert, ob es angebracht und sinnvoll ist, der Europäischen Union eine Verfassung zu geben.116 Diese Debatte verlief schon deshalb unbefriedigend, weil der Begriff der Verfassung unterschiedlich gebraucht wird. Er wird herkömmlich auf den Staat bezogen117 und zusammenfassend als dessen rechtliche Grundordnung bezeichnet.118 Doch entsprechend einem weiteren Sprachgebrauch kann er auch auf andere organisatorische Einheiten, die rechtlich voll ausgestattet sind, angewendet werden, wenn klargestellt wird, dass ihnen damit keine staatliche Qualität zuerkannt werden soll.119 In diesem technischen Sinne besitzt die Union in den Verträgen und den vom Gerichtshof entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen längst eine weitgehend ausgeformte Verfassung als rechtliche Ordnung ihrer Organisation und ihrer Institutionen, ihrer Entscheidungsinstrumente und -verfahren, ihres Verhältnisses zu den Mitgliedstaaten und Bürgern sowie des Rechtsschutzes durch die Gerichtsbarkeit. Sie wird täglich in der Praxis angewendet und bestätigt.120 Mit Recht sprach der Gerichtshof deshalb von dem Vertrag als der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft.121 Mit der Forderung nach einer Verfassung der Union werden aber oft weitergehende Vorstellungen verbunden. Sie knüpfen an der Tradition der Aufklärung und der französischen Revolution an und verstehen die Verfassung als Ausdruck des Willens einer menschlichen Gruppierung, sich als gefestigte Wirkungseinheit zu konstituieren und eine Identität zu bilden, die von gemeinsamen Werten bestimmt wird.122 Der vom Europäischen Rat eingesetzte Konvent glaubte der damit eröffneten Nähe zur Staatlichkeit offenbar dadurch ausweichen zu können, dass er einen „Vertrag“ über die Verfassung Europas, also eine von den Mitgliedstaaten getrage-
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Vgl. die Zusammenstellung wichtiger Vorschläge bei W. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung, 2002. Siehe etwa J. Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 2004, § 15. So die bekannte Formel von W. Kägi, Die rechtliche Grundordnung des Staates, 1945. Zur Problematik I. Pernice, Die Verfassungsfrage aus rechtswissenschaftlicher Sicht, in: T. Bruha/J. Hesse/C. Nowack (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa?, 2001, S. 19. Siehe aus der unübersehbaren Lit. nur G. C. Rodríguez Iglesias, Zur „Verfassung“ der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 1996, S. 125, mit Hinweisen auf die Rspr. des EuGH; ferner etwa J. A. Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, S. 315; Peters (Fn. 58); J.-C. Piris, Does the European Union Have a Constitution?, ELRev. 24 (1999), S. 557; A. Dashwood, States in the European Union, ELRev. 23 (1998), S. 201; ausführlich C. Möllers und M. Zuleeg, in diesem Band. Siehe EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21. Skeptisch gegenüber einem solchen Verständnis des Verfassungsvertrages A. Dyèrre, The Constitualisation of the European Union, ELRev. 33 (2005), S. 165; nachdrücklich ablehnend D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581; ferner C. Koenig, Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, DÖV 1998, S. 268.
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ne völkerrechtlichen Vereinbarung, nicht aber eine Verfassungsgebung durch die vereinigten Völker Europas als Basis vorschlug.123 In der öffentlichen Debatte wurde diese Grundlage aber bald verdrängt. Die Medien und sogar Teile der juristischen Literatur sprachen alsbald nicht mehr vom Verfassungsvertrag, sondern allein von der Verfassung. Damit verband die Öffentlichkeit verbreitet die Vorstellung von der Gründung einer staatsähnlichen Einrichtung, die zum Verlust der nationalen Eigenstaatlichkeit führen könnte. Das dürfte neben anderen einer der Gründe für die Ablehnung des Verfassungsvertrages durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden und für die zögernde Haltung in anderen Mitgliedstaaten gewesen sein.124 Eine solche Entwicklung wird aber offenbar gegenwärtig weder von verantwortlichen Politikern noch von der breiten Bevölkerung angestrebt. Es war eine Fehleinschätzung der Politik, den Verfassungsbegriff in den Vordergrund zu stellen und den Vertrag mit emotionalen Elementen zu belasten, und es war demgemäß folgerichtig, im Vertrag von Lissabon auf jedes Verfassungspathos zu verzichten und ihn als bloßen Änderungsvertrag zu den bestehenden Verträgen zu präsentieren. Weitergehende Entwicklungen setzen ein staatenübergreifendes Bewusstsein voraus, für das es Ansätze geben mag, das aber, wenn überhaupt, nur langfristig entstehen kann. b) Organisationsstruktur der Union Ein derartiges Bewusstsein kann sich nur aufgrund der Eindrücke bilden, die dem Bürger von der Union und ihrer Gestaltungskraft vermittelt werden. Diese sind aber bisher insbesondere wegen der Unklarheit der Struktur der Union wenig geeignet, Zukunftserwartungen zu wecken. Union und Gemeinschaften bieten schon von der Terminologie her ein verwirrendes Bild.125 Ihr Verhältnis zueinander ist selbst für Spezialisten kaum noch zu verstehen und stellt eine Barriere für die Akzeptanz der Union durch die Bürger dar. Bereits für die ursprünglichen drei Gemeinschaften galten unterschiedliche Regeln, lediglich ihre Organe wurden 1965 fusioniert. Ihre Anwendung wurde in der Praxis aber weitgehend angenähert, soweit keine Bestimmungen entgegenstanden.126 Diese immerhin noch überschaubare Rechtslage wurde durch die bereits er123
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Aus der Lit. siehe nur F. Cromme, Verfassungsvertrag der Europäischen Union, Begriff und Konzept, DÖV 2002, S. 593; A. Puttler, Sind die Mitgliedstaaten noch Herren der EU?, EuR 2004, S. 669; A. Albi/P. van Elsuwege, The EU Constitution, National Constitutions and Sovereignty, ELRev. 29 (2004), S. 741 (748). Auch Deutschland hatte den Vertrag noch nicht ratifiziert, weil die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über Verfassungsbeschwerden ausstand; dazu R. Streinz/C. Herrmann, Missverstandener „Judicial Selfrestraint“, EuZW 2007, S. 288. Dazu S. Hölscheidt/C. Baldus, EU und EG als terminologisches Problem, DVBl. 1996, S. 1409. Siehe U. Everling, Von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union – Durch Konvergenz zur Kohärenz, in: FS Oppermann, 2001, S. 163 (171); T. Giegerich, Verschmelzung der drei Säulen der EU durch europäisches Richterrecht? ZaöRV 67 (2007), S. 351.
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wähnte Einsetzung des Europäischen Rates und die Europäische Politische Zusammenarbeit unklarer. Vollends undurchsichtig wurde sie durch den MaastrichtVertrag. Er stülpte gewissermaßen die zusätzlich gegründete Union mit dem Europäischen Rat als Kern und den Sonderbereichen Außen- und Sicherheitspolitik sowie Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres127 über die Gemeinschaften128. Der Vertrag bezeichnet diese als Grundlage der Union, und die Union nimmt auch die Gemeinschaftsorgane in Anspruch, doch diese wenden dabei nicht Gemeinschaftsrecht, sondern überwiegend kooperativ ausgestaltete Sonderregeln an.129 Union und Gemeinschaft werden zusätzlich durch eine beträchtliche Zahl verbindlicher Protokolle und auslegender Erklärungen zu den Vertragstexten sowie formlos von den Organen oder Regierungen gefasste Beschlüsse umrankt, die erhebliche Bedeutung für die Praxis haben, deren rechtliche Bedeutung aber meist unklar ist.130 Schließlich ist auch die Grundrechtecharta zu erwähnen,131 die zwar vom Europäischen Rat bestätigt wurde, aber außerhalb der Verträge bleibt und den Organen, insbesondere dem Gerichtshof, als Orientierungsmaßstab zur Verfügung steht. Ein solches verwirrendes Konglomerat von Regelungen des Primärrecht, zu dem das kaum noch überschaubare Sekundärrecht hinzukommt, eignet sich nur begrenzt als Integrationsfaktor für die Mitgliedstaaten und als Identifikationsobjekt für die Bürger. Die eigenartige Konstruktion der Verträge wird meist mit dem populären Bild eines Tempels mit drei Pfeilern erläutert, wobei die Union in doppelter Bedeutung verstanden wird, nämlich einerseits als alle Teile einschließender Gesamtbau und andererseits als Dach mit dem konsensual handelnden Europäischen Rat über den supranationalen Gemeinschaften sowie der kooperativ organisierten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie polizeilichen und justiziellen Zusammenar-
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Durch den Amsterdamer Vertrag wurden wesentliche Teile des betreffenden Titels des EUVertrages in den EG-Vertrag übernommen, sodass er auf Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen beschränkt ist. Die EGKS ist am 23. Juli 2002 ersatzlos ausgelaufen; siehe W. Obwexer, Das Ende der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EuZW 2000, S. 517. Die EAG unterliegt Sonderregeln und wird im Lissabonner Vertrag durch ein besonderes Protokoll erfasst. Praktisch geht es also heute nur noch um das Verhältnis der Union zu der aus der EWG hervorgegangenen EG. Dazu siehe etwa D. Curtin, The Constitutional Structure of the Union: A Europe of Bits and Pieces, CMLRev. 30 (1993), S. 17. L. Senden, Soft Law in European Community Law, 2004, S. 107; U. Everling, Zur rechtlichen Wirkung von Beschlüssen, Entschließungen, Erklärungen und Vereinbarungen des Rates oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften, in: GS Constantinesco, 1983, S. 133; kritisch C. Möllers, in diesem Band, S. 258. C. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBl. 2001, S. 1; K. Lenaerts/E. de Smijter, A „Bill of Rights“ for the European Union, CMLRev. 38 (2001), S. 273; zum nach allgemeiner Ansicht unbefriedigenden Status der Charta im Vertrag von Lissabon siehe F. C. Mayer, Der Vertrag von Lissabon und die Grundrechte, EuR Beiheft 1/ 2009, S. 87; J. Kühling, in diesem Band, S. 669 f.
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beit.132 So eingängig diese Metapher auch ist, verdunkelt sie die rechtliche Problematik mehr, als dass sie das Verständnis erleichtert, und verschleiert die zahlreichen Verflechtungen und Beziehungen zwischen den verschiedenen Bereichen. Wie diese Struktur rechtlich zu deuten ist, wurde intensiv diskutiert. Hier genügt die Feststellung, dass die Annahme einer vollen rechtlichen Einheit ebenso wenig wie die einer völligen Trennung mit den Vertragstexten und der Realität zu vereinbaren ist.133 Die Praxis ist über die theoretischen Auseinandersetzungen längst hinweggegangen und behandelt Union und Gemeinschaften als einheitlichen Integrationsverband. Das ist angesichts der gemeinsamen Ziele und Organe sowie der wechselseitigen Verflechtungen gerechtfertigt. Deshalb wird die Gesamtorganisation in der praktischen Politik wie in der öffentlichen Meinung, ähnlich wie bisher die ursprünglich drei Gemeinschaften untereinander, als politische und wirtschaftliche Einheit angesehen, auf welche die Grundsätze des Integrationsrechts angewendet werden, soweit ihnen nicht ausdrückliche Regelungen entgegenstehen. Die bestehende Rechtslage ist wegen der Undurchsichtigkeit und mangelnden Plausibilität bedenklich. Union und Gemeinschaften sind in ihrer gegenwärtigen Gestalt schlecht gerüstet, sich den Mitgliedstaaten und den Drittstaaten als Partner in Politik und Recht und den Bürgern als Identifikationsobjekt zu präsentieren. Deshalb ist es zu begrüßen, dass der Vertrag von Lissabon Union und Gemeinschaft zu einer Einheit zusammenfügen und die umfangreichen Texte in einen Grundvertrag und einen Vertrag über die Arbeitsweise der Organe aufteilen soll, die rechtlich gleichrangig sind, wobei allerdings die Transparenz durch eine Vielzahl von Protokollen und Erklärungen beeinträchtigt wird. 2. Die Union als Rechtsgemeinschaft a) Rechtsstaatliche Prinzipien Die dargelegte Verfassungsordnung der Gemeinschaft ist Ausdruck und zugleich Rahmen der Rechtsordnung der Union. Diese ist nach dem geflügelten Wort Walter Hallsteins Rechtsgemeinschaft.134 Sie ist durch einen Vertrag, also durch eine rechtliche Regelung gegründet, Recht regelt ihre Beziehungen zu den Mitgliedstaaten und deren Bürgern, ferner die Zusammensetzung und Befugnisse der Organe und ihre Grenzen, die Wirkung der von ihnen erlassenen Rechtsakte und deren Verhältnis zum nationalen Recht sowie die Rechte der Bürger im Gemeinschaftsrecht. Recht wirkt in hohem Maße integrierend; es fördert die Vereinheitlichung der nationalen Rechtsordnungen, verlangt übereinstimmendes Verhalten von den
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Siehe A. v. Bogdandy/C.-D. Ehlermann (Hrsg.), Konsolidierung und Kohärenz des Primärrechts nach Amsterdam, EuR Beiheft 2/1998; T. Heukels/J. de Zwaan, The Configuration of the European Union in: Curtin/Heukels (Fn. 61), S. 195; J. C. Wichard, Wer ist Herr im europäischen Haus? EuR 1999, S. 170. W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 38. M. Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545; A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 36 ff.
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Mitgliedstaaten und ihren Bürgern und schafft einen Rahmen für gemeinsame Politik.135 Besonderen Ausdruck findet die Rechtsgemeinschaft in der Rechtsstaatlichkeit, die in Art. 6 EU als eine der Grundlagen der Union genannt wird. Sie ist zusammen mit den dort aufgeführten Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie sowie der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ein wesentliches Element für eine europäische Ordnung. Diese Grundsätze wurden im Wesentlichen bereits in anderem Zusammenhang behandelt, teilweise sind sie auch Gegenstand anderer Beiträge in diesem Band. Hier soll zusätzlich das Prinzip der Gewaltenteilung angesprochen werden, weil es das Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten sowie deren Bürgern besonders betrifft. Gewaltenteilung wird im modernen Verfassungsstaat nicht als Trennung der Staatsgewalten, die niemals rein durchgeführt werden kann, sondern als Balance zwischen den Funktionen zur Hemmung der Machtausübung verstanden, soll aber zugleich auch der sachgerechten Zuordnung der Funktionen dienen.136 In der Union sind die Funktionen auf Organe aufgeteilt, wodurch die einseitige Kumulierung der Entscheidungsmacht ausgeschlossen werden soll. Das gilt sowohl horizontal zwischen den Organen der Union als auch im besonderen Maße vertikal zwischen diesen und den Mitgliedstaaten.137 Deutlich ist das vor allem bei der Legislative. Sie obliegt Rat und Europäischem Parlament auf Vorschlag der Kommission, für deren Zusammenwirken Regeln festgelegt sind. Kein Organ kann sich dabei allein durchsetzen, und im Rat wirken die Mitgliedstaaten mit und sind in der Lage, ihre Auffassungen und Interessen geltend zumachen. Sie sind zugleich durch die Richtlinien und an sie gerichtete Entscheidungen zur nationalen Rechtsetzung verpflichtet, werden also auch innenpolitisch in die Pflicht genommen. Regierungsfunktionen werden, sofern sie überhaupt in der Union anfallen, durch Rat oder Kommission, vor allem aber durch den Europäischen Rat, teilweise auch durch die gemeinsam handelnden Mitgliedstaaten wahrgenommen. Insoweit kann von einer Zentralisierung nur begrenzt gesprochen werden. Das System ist pluralistisch ausgestaltet. Die Verwaltung obliegt auf der Gemeinschaftsebene der Kommission, wobei teilweise, soweit sie in Form von Rechtsätzen handelt, die Verwaltungen der Mitgliedstaaten im Rahmen der Komitologie mitwirken.138 In der Regel liegt die verwaltungsmäßige Durchführung aber bei den Behörden der Mitgliedstaaten, die dabei auf der Grundlage des von den Unionsorganen gesetzten Rechts handeln. Das zeigt die föderalen Elemente der Funktionsteilung besonders deutlich.
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M. Cappelletti/M. Secombe/J. H. H. Weiler (Hrsg.), Integration Through Law, Bd. 1, 1986; T. Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, 1999. E. Schmidt-Aßmann, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 2004, § 26, Rn. 49; P. Lerche, Gewaltenteilung – die deutsche Sicht, in: J. Isensee (Hrsg.), Gewaltenteilung heute, 2000, S. 75. Oppermann (Fn. 6), § 5 Rn. 10; C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005. Hierzu bereits oben bei Fn. 81.
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Insgesamt dürfte das System eine Balance zwischen den verschiedenen Funktionsträgern sichern. Es wird vom Gerichtshof als System des institutionellen Gleichgewichts bezeichnet.139 Damit bringt er zum Ausdruck, dass er nicht das Gewaltenteilungssystem im klassischen Verständnis anwenden kann, sondern die von den Vertragsparteien vorgenommene Verteilung der Funktionen, die nur durch Vertragsänderung verschoben werden kann, zugrunde legen muss. Er umschreibt damit die Balance der Funktionsträger in der Union im Sinne der rechtsstaatlich geforderten Gewaltenteilung.140 b) Allgemeine Rechtsgrundsätze Die Rechtsgemeinschaft der Union findet ihren besonderen Ausdruck in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Der Gerichtshof hat sie aufgrund der Ansätze in den Gemeinschaftsverträgen aus den übereinstimmenden Überzeugungen, die den Verfassungen der Mitgliedstaaten und den internationalen Verträgen, denen sie angehören, zugrunde liegen, entwickelt.141 Sie wurden in wesentlichem Umfang durch spätere Änderungen in die Verträge übernommen, so etwa in Art. 6 EU und Art. 5 EG. Hier genügen einige Stichworte, die nicht besonders belegt zu werden brauchen. In erster Linie wird mit Recht der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht hervorgehoben. Der Vorrang hat sich im Wesentlichen in allen Mitgliedstaaten durchgesetzt, sofern nicht zentrale Elemente nationaler Verfassungen betroffen werden. Er sichert die einheitliche Anwendung des Unionsrechts und schließt Alleingänge der Mitgliedstaaten, die nicht gemeinschaftsrechtlich abgedeckt sind, aus.142 Der Verfassungsvertrag sollte ihn ausdrücklich festschreiben, im Vertrag von Lissabon ist das leider unterblieben. An seiner Geltung ändert das aber nichts. Bereits erwähnt wurde der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts, durch den über die Mitgliedstaaten hinweg eine direkte Verbindung der Union zu den Bürgern hergestellt wird, die sich gegenüber den nationalen Gerichten auf das Gemeinschaftsrecht berufen können. Das gilt nicht nur für die im Vertrag als allgemein geltend bezeichneten Verordnungen, sondern auch für Bestimmungen des primären Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes, ferner für Bestimmungen der an die Mitgliedstaaten gerichteten Richtlinien, die hinreichend klar und unbedingt sind.143 139 140
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So etwa EuGH, Rs. 138/79, Roquette, Slg. 1980, 333, Rn. 33. Siehe H. Goeters, Das institutionelle Gleichgewicht, 2008. K. Lenaerts/A. Verhoeven, Institutional Balance as a Guarantee for Democracy in EU Governance, in: C. Joerges/R. Dehousse (Hrsg.), Good Governance in Europe’s Integrated Market, 2002; M. Herdegen, Europarecht, 2007, S. 124. T. Tridimas, The General Principles of EU Law, 2006; U. Bernitz/J. Nergelius (Hrsg.), General Principles of European Community Law, 2000; S. Jacoby, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 1997. Ausführlich dazu Peters (Fn. 58), S. 305; T. C. Hartley, The Foundations of European Community Law, 2007, S. 132; C. Grabenwarter, in diesem Band, S. 123 ff. Siehe M. Ruffert, Dogmatik und Praxis des subjektiv-öffentlichen Rechts unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, DÖV 1997, S. 192; N. Reich, Bürgerrechte in der Europäischen Union, 1999.
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Zentrale Bedeutung besitzt ferner das Diskriminierungsverbot, das im Vertrag auf die Staatsangehörigkeit begrenzt wurde, inzwischen aber durch Art. 13 EG und seine Ausführungsbestimmungen einen weiten Anwendungsbereich erhalten hat. Seine Auswirkungen auf das nationale Recht sind noch nicht voll zu übersehen und werden heftig diskutiert.144 In diesem Zusammenhang ist auf das Europäische Bürgerrecht nach Art. 17 EG hinzuweisen, das inzwischen als eine der Grundlagen des Unionssystems verstanden wird und aus dem subjektive Rechte der Einzelnen abgeleitet werden.145 Ferner sind weitere Grundsätze zu nennen, welche die Union prägen und ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern bestimmen. Sie sind in diesem Beitrag überwiegend an anderer Stelle behandelt und werden hier nur noch einmal kursorisch erwähnt. Genannt seien nur die in Art. 5 EG verankerten Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität, zu denen in Art. 5 EUV-Liss. die begrenzte Einzelermächtigung treten soll, ferner Grundsätze wie Vertrauensschutz, Datenschutz, Transparenz, rechtliches Gehör und Schutz vor Doppelbestrafung sowie das Verständnis der Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote. Auf die Grundrechte, die der Gerichtshof zum Schutz der Bürger im Gemeinschaftsrecht entwickelt hat und die nunmehr in der Grundrechtecharta spezifiziert werden, wurde ebenfalls bereits hingewiesen.146 3. Rechtsschutzsystem a) Europäische Gerichtsbarkeit Eine maßgebliche Funktion kommt im rechtsstaatlichen System der Union dem Gerichtshof zu.147 Er sichert nach Art. 220 EG die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ des Vertrages. Die Judikative ist außer dem Gerichtshof auch dem Gericht erster Instanz und dem Gericht über den öffentlichen Dienst anvertraut; eine Ergänzung durch „gerichtliche Kammern“ nach Art. 225a EG ist vor144
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L. Flynn, The Implications of Article 13 EC, CMLRev. 36 (1999), S. 1127; D. Rodenberg, La lutte contre le racisme et la xenophobie dans L’union européenne, Revue trimestrielle de droit européen 35 (1999), S. 201; J. Mohr, Schutz vor Diskriminierungen im Europäischen Arbeitsrecht, 2004; S. Prechal, Equality of Treatment, Anti-Discrimination and Social Policy, CMLRev. 41 (2004), S. 533; M. Bell, Reflecting on Inequalities in European Inequalities Law, ELRev. 38 (2003), S. 349. C. Schönberger, Unionsbürger, 2006; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, 2007; M. Dougan, The Constitutional Dimension of the Case Law on Union Citizenship, ELRev. 31 (2006), S. 613; näher S. Kadelbach, in diesem Band, S. 623 ff. Vgl. BVerfGE 73, 155 (387). Überblick bei H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004; J. Kokott, Der Grundrechtsschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, AöR 121 (1996), S. 599; A. Cassese/A. Clapham/J. H. H. Weiler (Hrsg.), Human Rights and the European Community, 1991. Zur Grundrechtecharta auch oben Fn. 131. Siehe zum Gerichtshof außer den Überblicken in den einschlägigen Kommentaren und Lehrbüchern nur R. Lecourt, L’Europe des Juges, 1976; A. Arnull, The European Union and its Court of Justice, 2006; J. Schwarze, (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983.
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gesehen. Damit ist schrittweise auf der Unionsebene aus dem ursprünglichen Universalgericht eine funktionsfähige Unionsgerichtsbarkeit entwickelt worden.148 Das Recht wird in Art. 220 EG, vergleichbar der Formel von Gesetz und Recht in Art. 20 Abs. 3 GG, vom Vertrag unterschieden.149 Daraus leitet der Gerichtshof die Befugnis ab, auch die bereits erwähnten, über die Vertragstexte hinausgehenden allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts anzuwenden, die er aus den von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Verträgen und den Rechts- und Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten ableitet.150 Er sieht sich dadurch auch als ermächtigt an, die Vertragsbestimmungen durch Richterrecht fortzubilden, wenn es die Vertragsziele erfordern, muss sich dabei aber innerhalb des Gesamtsystems der Rechtsordnung der Union halten und die Grenzen zur Vertragsänderung respektieren.151 Die Unionsgerichte entscheiden unabhängig und unterliegen keinen Weisungen der Mitgliedstaaten und ihrer Gerichte, sind aber vielfach mit diesen verbunden. Das gilt einmal für die zahlreichen Mitwirkungsrechte, welche die Mitgliedstaaten besitzen. Sie können nicht nur als Kläger auftreten, sondern sich auch an allen Verfahren als Streithelfer beteiligen. Sie können den Gerichtshof auf diese Weise durch Argumente beeinflussen. Drohungen und heftige Kritiken, wie sie gelegentlich vorgebracht werden, bleiben aber ebenso wirkungslos wie die Zahl der von Mitgliedstaaten vorgelegten Stellungnahmen oder Unterschriftssammlungen der Betroffenen. Den Folgen der Urteile können sich die Mitgliedstaaten nur entziehen, wenn sie die Regelungen, über die der Gerichtshof entschieden hat, ändern.152 Oft bleibt den Mitgliedstaaten nur die wiederholte Argumentation in weiteren Verfahren.153 Bestrebungen, zur Entscheidung über Fragen, die zwischen der Union und den Mitgliedstaaten umstritten sind, ein aus Richtern des Gerichtshofs und hoher natio-
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Siehe U. Everling, Zur Gerichtsbarkeit der Europäischen Union, in: FS Rengeling, 2008, S. 527; ferner C. D. Classen, Effektive und kohärente Justizgewährung im europäischen Rechtsschutzverbund, JZ 2006, S. 157. Zu den im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Änderungen ausführlich Everling (Fn. 101). Dazu M. Schmidt, Die vorpositive Bedeutung des Rechts in Art. 164 EGV, Art. 136 EAV und Art. 31 EGKSV, RabelsZ 60 (1996), S. 616; vgl. auch R. Dreier, Der Rechtsstaat im Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Recht, JZ 1985, S. 353. Dazu bereits oben bei Fn. 141. J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995; P. Mittmann, Die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten, 2000; kritisch T. Stein, Richterrecht wie anderswo auch?, in: FS Juristische Fakultät Heidelberg, 1986, S. 619. Siehe auch BVerfGE 75, 223 (242). Dazu ist allerdings ein Vorschlag der Kommission, und je nach Rechtsgrundlage eine mindestens mehrheitliche Zustimmung des Rates notwendig. Praktisch kaum möglich ist eine solche Reaktion bei Urteilen, die unmittelbar auf den Vertrag gestützt sind, denn dessen Änderung mit der erforderliche Ratifikation durch die 27 Mitgliedstaaten ist nur schwer erreichbar; siehe C. Tomuschat, Das Europa der Richter, in: FS Ress, 2005, S. 857. Das scheint nunmehr bei dem Streit über das Urteil Mangold in gewissem Umfang Erfolg zu haben; zur neueren Entwicklung M. Nettesheim, Anm. zu EuGH Rs. C-427/06, JZ 2008, S. 1157 (1159).
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naler Gerichte bestehendes besonderes Kompetenzgericht einzusetzen, konnten sich nicht durchsetzen.154 Konflikte können sich zwischen den Gerichten beider Ebenen ergeben, wenn nationale Verfassungsgerichte oder Oberste Gerichte in Streitfragen, welche den Kernbestand der Mitgliedstaaten betreffen, das letzte Wort beanspruchen. Das gilt insbesondere für den Wesensgehalt der Grundrechte und für die Beurteilung der im Zustimmungsgesetz übertragenen Befugnisse.155 In diese Konflikte ist oft auch der Gerichtshof der EMRK involviert. Wem die Letztentscheidung zusteht, ist zwischen den obersten Gerichten umstritten.156 Diese Konflikte spielen in der Praxis aber bisher keine entscheidende Rolle, weil sich die Gerichte um eine wechselseitige Rücksichtnahme bemühen. Zwischen den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten besteht eine enge Kooperation im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG. Im weiteren Sinne sind auch die nationalen Richter Unionsrichter und gehören materiell, wenn auch nicht formell, zur Europäischen Gerichtsbarkeit. Sie entscheiden über die Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts, wenn sie in einem vor ihnen anhängigen Rechtsstreit unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht anwenden oder wenn sie nationales Recht, das Gemeinschaftsrecht umsetzt, gemeinschaftsrechtskonform auslegen. Das ist insbesondere beim nationalen Vollzug von Richtlinien der Fall. Das nationale Gericht kann nach Art. 234 EG die Vorabentscheidung des Gerichtshofs über die vor ihm relevante Frage des Gemeinschaftsrechts einholen, und ein nationales Gericht, das letztinstanzlich entscheidet, ist dazu verpflichtet.157 Das Vorabentscheidungsverfahren entspricht der Struktur der Union in besonderem Maße, weil es die Funktionen der Gerichte sinnvoll auf die Ebenen von Union und Mitgliedstaaten entsprechend deren Aufgaben verteilt. Der Gerichtshof ist den nationalen Gerichten nicht hierarchisch übergeordnet, sondern ist auf gleicher Ebene mit diesen Spezialgericht für europarechtliche Fragen. Durch dieses Verfahren greift die Union nur so weit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ein, als es zur Sicherung der Einheit und zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts erforderlich ist.158
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Hierzu bereits oben in Fn. 96. Siehe das Solange II-Urteil, BVerfGE 73, 339 (374), sowie das Maastricht-Urteil, BVerfGE 89, 155 (185); zur Problematik siehe aus der umfangreichen Lit. Mayer (Fn. 96) m.w.N., ferner ders., in diesem Band. Siehe die Stellungnahmen der Präsidenten der beiden europäischen Gerichte und des deutschen Bundesverfassungsgerichtes im Tagungsband des 3. Europäischen Juristentages, ZSR 124 (2005) II, S. 31, 43 und 113. Auf die Problematik kann nicht weiter eingegangen werden. M. Dauses, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Stand: Okt. 2007), P. II; A. Middeke, in: H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, 2003, § 10. Vgl. P. J. G. Kapteyn/P. VerLoren van Themaat, Introduction to the Law of the European Communities, 1998, S. 499.
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b) Rechtsschutz und Verfahren Zentraler Bezugspunkt der Rechtsordnung ist das Rechtsschutzsystem.159 Es dient einerseits dem Schutz der Rechte der Bürger, Unternehmen und Mitgliedstaaten und andererseits der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts gegenüber den Mitgliedstaaten. Der Rechtsschutz wird in Art. 220 EG, der Generalklausel des Gerichtsverfahrens, nicht erwähnt, denn er stellt – wie zur Zeit der Errichtung des Gerichtshofs das französische Verwaltungsrecht, das als Vorbild diente – auf die Wahrung der Legalität und nicht auf die Sicherung der subjektiven Rechte der Einzelnen ab.160 Das hat sich in der Praxis bald geändert; der Schutz der subjektiven Rechte ist eine vordringliche Aufgabe des Gerichtshofs, die konsequent aus der Rechtsprechung über die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts hergeleitet wurde, und dient auch der direkten Bindung der Bürger an die Union. Der Gerichtshof hat mehrfach betont, dass er den Rechtsschutz vollständig gewährleistet, und hat dazu das Verfahrensrecht, soweit erforderlich, fortgebildet.161 Auf Einzelheiten der Verfahren braucht hier nicht eingegangen zu werden. Diskutiert wird insbesondere über das Klagerecht Privater gegen Verordnungen, das – wie in den Mitgliedstaaten bei Gesetzen – nur unter engen Voraussetzungen zugelassen wird.162 Eine Reform der Gerichtsbarkeit war bereits durch den Vertrag von Nizza eingeleitet worden. Sie führte zu zahlreichen Änderungen der Organisation und des Verfahrens und ermöglicht insbesondere eine Übertragung von Vorabentscheidungsverfahren auf das Gericht erster Instanz. Dadurch stellte sie sicher, dass der effektive Rechtsschutz auch künftig trotz der ständig zunehmen-
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Überblick bei Rengeling/Middeke/Gellermann (Fn. 157); H. Schermers/D. Waelbroeck, Judicial Protection in the European Communities, 2001; J. Gündisch/S. Wienhues, Rechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 2003; O. Dörr/C. Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006. Inzwischen vollziehen sich im französischen Verwaltungsrechtsschutz Wandlungen, die sich aber bisher nur beschränkt auf den Gerichtshof ausgewirkt haben. Dazu U. Everling, Das Verfahren der Gerichte der EG im Spiegel der verwaltungsgerichtlichen Verfahren der Mitgliedstaaten, in: FS Starck, 2007, S. 535. J. Kokott/I. Dervisopoulos/T. Henze, Aktuelle Fragen des subjektiven Rechtsschutzes durch die Gemeinschaftsgerichte, EuGRZ 2008, S. 10; T. v. Danwitz, Aktuelle Fragen der Grundrechte, des Umwelt- und Rechtsschutzes in der Europäischen Union, DVBl. 2008, S. 537; K. Lennarts, The Rule of Law and the Coherence of the Judicial System of the European Union, CMLRev 44 (2007), S. 1625; M. L. Esteban, The Rule of Law in the European Constitution, 1999. Aus der überbordenden Lit. siehe zum aktuellen Streitstand außer den Kommentaren P. Baumeister, Effektiver Rechtsschutz im Gemeinschaftsrecht, EuR 2005, S. 1; J. Usher, Direct and Individual Concern – an Effective Remedy or a Conventional Solution?, ELRev. 28 (2003), S. 275; Classen (Fn. 148). Art. 263 AEUV sieht nunmehr eine begrenzte Lösung vor, die sowohl die beklagte Rechtsschutzlücke beseitigen als auch die vom Gerichtshof befürchtete Überlastung durch eine Popularklage ausschließen dürfte; dazu näher Everling (Fn. 101) sowie J. Bast, in diesem Band, S. 556 ff.
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den Belastung der Gerichte nach der Erweiterung der Union gewährleistet werden kann.163 Besonderer Erwähnung bedarf die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts gegenüber den Mitgliedstaaten im Wege der Vertragsverletzungsklage gemäß Art. 226 EG. Nach Art. 211 EG ist es Aufgabe der Kommission, für die Anwendung des Vertrages Sorge zu tragen. Dabei muss sie sich, wenn Lösungen im Wege von Verhandlungen nicht erreicht werden, der Vertragsverletzungsklage vor dem Gerichtshof bedienen.164 Die Klage nimmt auf die besondere Stellung der Mitgliedstaaten Rücksicht und führt nur zur Festsstellung der Vertragswidrigkeit. Der betreffende Mitgliedstaat ist nach Art. 228 Abs. 1 EG verpflichtet, selbst die Folgerungen aus dem Urteil zu ziehen. Diese Regelung entspricht dem Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, wird aber durch eine Vielzahl von Verfahren pervertiert, bei denen die Vertragswidrigkeit gar nicht bestritten wird, sodass die Urteile gewissermaßen „automatisch“ ergehen. Besonders verwundern muss die Unbekümmertheit, mit der viele Mitgliedstaaten derartige Urteile ignorieren.165 Die Vertragsparteien ermächtigten deshalb den Gerichtshof, auf Klage und Antrag der Kommission gegen einen Mitgliedstaat, der einem Urteil nicht gefolgt ist, ein Zwangsgeld oder einen Pauschalbetrag festzusetzen.166 Das Zwangsgeld leuchtet ohne Weiteres ein, weil es den Mitgliedstaat zum Vollzug des Urteils anhalten soll; problematisch aber ist der Pauschalbetrag.167 Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Pauschalbetrag auch zusätzlich zum Zwangsgeld verhängt werden kann, sodass er nicht nur die Funktion hat, den Mitgliedstaat zur Beseitigung der Vertragswidrigkeit zu veranlassen, sondern für die Zeit, in der er dem Urteil nicht entsprochen hat, eine Sanktion zu verhängen. Da er zudem als Zeitpunkt des Verstoßes den Ablauf der Mahnfrist im Vorverfahren ansieht, kann er Pauschalbeträge für Vertragsverstöße festsetzen, die bereits vor Erlass des Urteils beseitigt waren. Der Pauschalbetrag wird demgemäß zu einer Strafsanktion der Union gegen den betreffenden Mitgliedstaat. Eine der163
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B. Wegener, Die Neuordnung der EU-Gerichtsbarkeit durch den Vertrag von Nizza, DVBl. 2001, S. 1258; A. Johnston, Judicial Reform and the Treaty of Nice, CMLRev. 38 (2001), S. 499; O. Tambou, Le système juridictionnel communautaire revu et corrigé par le Traité de Nice, Revue du marché commun et de l’UE Nr. 446 (2001), S. 164. M. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Fn. 157), § 6; C. W. A. Timmermans, Judicial Protection Against the Member States: Articles 160 and 177 resivited, in: Curtin/Heukels (Fn. 61), Bd. 2, S. 391; Arnull (Fn. 147), S. 47. Siehe J.-P. Puissochet, L’action en manquement peut-elle encore parer de ses justes vertus?, in: FS Rodriguez Iglesias, 2003, S. 569. S. Heidig, Die Verhängung von Zwangsgeldern und Pauschalbeträgen gegen die Mitgliedstaaten der EG, 2001; B. Masson, L’obscure clarté de l’article 228 § 2 CE, Revue trimestrielle de droit européen 40 (2005), S. 639; C. Thiele, Sanktionen gegen EG-Mitgliedstaaten zur Durchsetzung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, EuR 2008, S. 320; R. von Borries, Überlegungen zur Effektivität des Vertragsverletzungsverfahrens, in: FS Rengeling, 2008, S. 485. Zum Folgenden ausführlich U. Everling, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter der Aufsicht von Kommission und Gerichtshof, in: FS Isensee, 2007, S. 773.
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artige „Strafe“ einer supranationalen Organisation gegen einen Mitgliedstaat, die selbst Bundesstaaten nicht vorsehen, ist eine ungewöhnliche Regelung angesichts des im allgemeinen ausgewogenen Verhältnis zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten, bei dem der Trend eher in Richtung auf eine Stärkung der Mitgliedstaaten weist. Es ist ein gewichtiger Eingriff in die Integrität und das Selbstverständnis der Mitgliedstaaten, deren Identität die Union nach Art. 6 EU achtet, und sollte deshalb ausgewogen und zurückhaltend angewendet werden.168
V. Rechtliche Bewertung und Zukunft der Europäischen Union 1. Zur Stellung der Mitgliedstaaten in der Union a) Wahrung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten Die bisherige Darstellung des Unionssystems stellte das schwierige Verhältnis zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten sowie die Verflechtung und das Spannungsverhältnis zwischen gemeinschaftlicher und nationaler Politik und Rechtsordnung in vielen Einzelbeziehungen dar. Zum Abschluss dieses notwendig kursorischen Überblicks erscheint es angebracht, die Stellung der Mitgliedstaaten in der Union zusammenfassend zu kennzeichnen, wobei auf erneute Belege verzichtet werden kann. Nach dem Krieg war die Hoffnung verbreitet, dass die Nationalstaaten, deren Auseinandersetzungen zu den Katastrophen geführt hatten, ihre Schlüsselstellung in der Völkergemeinschaft ausgespielt hätten. Derartige Erwartungen erwiesen sich schnell als Illusion. Die Siegermächte traten mit neuem Selbstbewusstsein auf, und die Bundesrepublik etablierte sich mit neuer Verfassungsordnung als freiheitlicher demokratischer Rechtsstaat. Sie waren in der Praxis nie zur umfassenden Abtretung ihrer Zuständigkeiten auf einen in vielen Reden beschworenen europäischen Bundesstaat oder die „Vereinigten Staaten von Europa“ bereit. Zwar sind die Nationalstaaten klassischer Prägung mit ihren Macht- und Ausschließlichkeitsansprüchen durch die weltweite Öffnung und Zusammenarbeit weitgehend überholt, aber als Ordnungsrahmen und Identifikationsobjekt für die Bürger bleiben die Staaten bis auf Weiteres präsent.169 In ihnen treffen die Wähler die politischen Richtungsentscheidungen, und die Staaten fühlen sich auch weiterhin für den Bestand des Gemeinwesens in Freiheit, Frieden und Wohlstand verantwortlich und werden darin durch die Erwartungen der Bürger bestätigt. Der Vertrag erkennt 168
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Umso erstaunlicher ist, dass Art. 260 Abs. 3 AEUV das Verfahren dadurch verschärfen soll, dass die Sanktionen bereits im ersten Urteil festgesetzt werden können, wenn die versäumte Umsetzung einer Richtlinie festgestellt wird. Siehe Everling (Fn. 101). Zum Wandel der Staatsfunktionen siehe P. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995; U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998; S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 446; R. Voigt, Des Staates neue Kleider, 1996; C. Schreuer, The Warning of the Sovereign State: Towards a New Paradigm for International Law?, EJIL 4 (1993), S. 447; G. F. Schuppert, Was ist und wie misst man Wandel der Staatlichkeit?, Der Staat 47 (2008), S. 325.
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in Art. 6 Abs. 3 EU an, dass die Union die Identität der Mitgliedstaaten achtet,170 und Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss. soll das in ausführlicherer Form bestätigen. Ihrer Verantwortung können die Mitgliedstaaten in der Union jedoch nur noch beschränkt gerecht werden, weil dieser wesentliche Aufgaben übertragen worden sind, die sie nach eigenen Regeln und Grundsätzen wahrnimmt und sich damit zunehmend dem Einfluss der Mitgliedstaaten entzieht. Die französische Regierung erkannte frühzeitig die Auswirkungen der Gemeinschaftsmaßnahmen auf die Stellung und Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten und versuchte mit dem Fouchet-Plan, Dominanz und Kontrolle der Mitgliedstaaten über die damalige EWG auch bei einer etwaigen Einbeziehung von politischen Sachbereichen dauerhaft zu sichern. Alle späteren französischen Regierungen verfolgten diese Vorstellungen auch nach ihrem Scheitern in verschiedener Form weiter, so mit den Luxemburger Protokollen zur Bewahrung der Einstimmigkeit und vor allem durch die Einsetzung des Europäischen Rates, der im Unionsvertrag von Maastricht auch rechtlich etabliert wurde.171 Doch dessen Orientierungsdebatten haben gegenüber den rechtlich gefestigten Organen nicht aus Rechtsgründen, sondern wegen der Autorität seiner hohen Mitglieder Gewicht und werden deshalb in der Praxis respektiert. In der letzten Zeit scheint sich der Einfluss des Europäischen Rates zunehmend zu verstärken, und der Vertrag von Lissabon soll ihn nunmehr als Organ der Union festigen. Er soll zwar in der Regel im Konsens beschließen, aber auch bestimmte Entscheidungsbefugnisse, teilweise sogar mit Mehrheit, und einen auf längere Zeit gewählten, nicht in einen Mitgliedstaat eingebundenen Präsidenten erhalten (Art. 15 EUV-Liss.).172 Das Gewicht wird damit klar zu Gunsten der im Europäischen Rat überwiegend kooperativ handelnden Mitgliedstaaten verlagert. Allerdings dürften das Parlament und der Gerichtshof auf ihrer Unabhängigkeit bestehen. Die gängige Metapher von den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“, die sich bisher insbesondere darin äußerte, dass die Mitgliedstaaten für die Änderung der Verträge zuständig waren,173 gewinnt durch die eingetretene Entwicklung möglicherweise einen weitergehenden Inhalt. b) Einwirkung auf die Mitgliedstaaten Die Mitgliedstaaten sind andererseits aber auch Glieder der Union in dem Sinne, dass sie deren Rechtsordnung unterworfen sind. Sie müssen ihr Vorrang vor dem nationalen Recht einräumen und sie, soweit erforderlich, im innerstaatlichen Recht durchführen. Auf vielen Gebieten des öffentlichen Lebens sind sie einzeln nur noch 170
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172 173
K. Doehring, Die nationale Identität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: FS Everling, 1995, S. 263; M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: FS Grabitz, 1995, S. 156; T. Oppermann, Nationale Identität und supranationale Homogenität, in: FS Bieber, 2007, S. 393. Siehe oben bei Fn. 127; ferner C. W. A. Timmermans, The Uneasy Relationship Between the Community and the Second Union Pillar, Legal Issues of European Integration 23 (1996), S. 61. Oben bei Fn. 69. Siehe dazu bereits oben bei Fn. 74.
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eingeschränkt oder mit Zustimmung eines Unionsorgans handlungsfähig, wie für zahlreiche Bereiche dargelegt wurde. Wenn sie vertragswidrig handeln und Urteile nicht befolgen, können sie nicht nur mit Zwangsgeldern, sondern mit erheblichen Strafen belegt werden, wie dargelegt wurde. Sogar für die Grundlagen der Verfassungs- und Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten legt das Gemeinschaftsrecht Rahmenbedingungen fest. Art. 6 Abs. 1 EU verbindet die Erklärung über die tragenden Grundsätze der Union mit der Feststellung, dass diese Grundsätze allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Das dürfte dahin zu verstehen sein, dass die Mitgliedstaaten zur Einhaltung dieser Grundsätze verpflichtet sind, ihre Verfassungsorganisation und ihre Politik entsprechend auszurichten.174 Diese Verpflichtung wird durch Art. 7 EU bestätigt, der die Möglichkeit von Sanktionen bei der Verletzung der Grundsätze vorsieht. Weitere Vorgaben für die Rechts- und Verfassungsordnung enthalten die Diskriminierungsverbote, die von der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG) auf allgemeine Kriterien (Art. 13 EG) erweitert worden sind.175 Für die Wirtschaftsverfassung legt Art. 4 EG fest, dass die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im wirtschaftlichen Bereich eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik umfasst, die dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft bei freiem Wettbewerb verpflichtet ist. Das setzt der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten in den ihnen verbliebenen Bereichen ebenso wie die Vergemeinschaftung der Währungspolitik und ihre Einflüsse auf die Haushaltspolitik enge Grenzen.176 Auch die unmittelbare Verbindung der Union zu den Bürgern über die Mitgliedstaaten hinweg und ohne deren Vermittlung zeigt die Veränderung der Stellung der Mitgliedstaaten. Damit entzieht die Union den Mitgliedstaaten Teile ihrer Personalhoheit, welche die Staaten traditionell beanspruchen. Das Gemeinschaftsrecht verleiht subjektive Rechte, auf die sich jedermann vor den Gerichten berufen kann, begründet aber auch Pflichten, die von den Behörden überwacht werden. Die Einbeziehung des Bürgers findet ihren Ausdruck in der Unionsbürgerschaft nach Art. 17 EG, die der Gerichtshof zunehmend mit Inhalt erfüllt.177 Diese Einwirkungen auf die nationalen Verfassungen führen zu einem evolutionären Prozess, der als Europäisierung der nationalen Verfassungen beschrieben wird.178 Er ist als längerfristige, gemeineuropäische Angleichung zu verstehen, lässt aber noch reichlich Spielraum für nationale Besonderheiten. Diese stichwortartige Aufzählung der Schranken, denen die Mitgliedstaaten in der Union unterliegen, wäre aber einseitig, wenn nicht nochmals die ausführlich 174 175 176 177 178
Siehe F. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, 2000; C. Stumpf, in: Schwarze (Fn. 80), Erl. zu Art. 6 und 7 EU. Dazu oben, Fn. 144. Oben bei Fn. 52; ausführlich A. Hatje, in diesem Band. Oben bei Fn. 145. Peters (Fn. 58), S. 375; J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, 2000; J. A. Frowein, Die Europäisierung des Verfassungsrechts, in: FS Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 209; N. MacCormick, Risking Constitutional Collision in Europe?, Oxford Journal of Legal Studies 18 (1998), S. 517.
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dargestellte Kehrseite hervorgehoben würde, zu der auch die Achtung der Identität der Mitgliedstaaten gehört. Die Vorbehalte und Handlungsspielräume, welche die Bestimmungen, die in der Regel nur Teilbereiche erfassen, einräumen, ferner die Mitwirkung in den Organen, etwa bei der Abstimmung im Rat oder bei der Komitologie im Kommissionsverfahren und die bestimmende Rolle bei den Außenbeziehungen, vor allem aber die allgemeine Orientierungsfunktion im Europäischen Rat, auf die hingewiesen wurde, zeigen die maßgebende Rolle, welche die Mitgliedstaaten in der Union innehaben. Ob die Mitgliedstaaten angesichts der Einbindung in die Union noch als souverän im Sinne einer uneingeschränkten rechtlichen Handlungsfähigkeit im Innern und nach außen bezeichnet werden können,179 erscheint zweifelhaft.180 Allenfalls dürfte eine „geteilte“ oder „amputierte“ Souveränität oder, wenn solche Begriffe abgelehnt werden, eine gemeinsam ausgeübte oder „gemischte“ Souveränität vorliegen.181 Die Diskussion zeigt, dass das traditionelle Verständnis der Souveränität keinen Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von Union und Mitgliedstaaten leisten kann.182 In Frankreich, wo die nationale Souveränität in der Verfassung verankert ist, hat sich die Souveränitätsfrage dank einer flexiblen Rechtsprechung des Conseil constitutionnel und verschiedener Verfassungsänderungen bisher nicht als Hindernis für den Fortgang der Integration ausgewirkt.183 Im vorliegenden Zusammenhang kommt es darauf an, in welchem Umfang die Mitgliedstaaten die Fähigkeit zur Entscheidung über Grundfragen des Gemeinwesens behalten haben. Insofern ist, abgesehen von der Mitentscheidung über Vertragsänderungen, vor allem die Notstandsklausel in Art 297 EG (Art. 347 AEUV) bedeutsam, die nach Ansicht des Verfassers als Residuum der Souveränität der Mitgliedstaaten gedeutet werden kann.184 Doch dabei unterliegen sie nach Art. 298 EG (Art. 348 AEUV) gemeinschaftsrechtlichen Bindungen, insbesondere der Kontrolle durch den Gerichtshof. Die Union besitzt allerdings keine polizeilichen oder militärischen Zwangsmittel gegen einen Rechtsbruch durch Mitgliedstaaten. Sie kann 179 180
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So BVerfGE 89, 155 (189). Zur Problematik Oeter (Fn. 59) und ders. (Fn. 17); N. Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2006; N. MacCormick, Questioning Sovereignty, 1999; R. Bellamy/D. Castiglione, Building the Union: The Nature of Sovereignty in the Political Architecture of Europe, in: N. MacCormick (Hrsg.) Constructing Legal Systems, 1997, S. 91. Bellamy/Castiglione, ebd., S. 111; D. Obradovic, Community Law and the Doctrine of Divisible Sovereignty, Legal Issues of European Integration 20 (1993), S. 1. S. Oeter, Vertrag oder Verfassung: Wie offen lässt sich die Souveränitätsfrage noch halten?, in: Bruha/Hesse/Nowack (Fn. 119), S. 243; Peters (Fn. 58), S. 148. H. Poivre, Staatlichkeit und Souveränität in der Europäischen Union am Beispiel Frankreichs, 2003; F. Luchaire, Le Conseil constitutionnel et la souveraineté nationale, Revue du droit public 107 (1991), S. 1499; Favret (Fn. 17); F. Chaltiel, La ratification du Traité de Nice par la France, Revue du marché commun et de l’UE Nr. 450 (2001), S. 442; J. Hecker, Europäische Integration als Verfassungsproblem in Frankreich, 1998. So U. Everling, Brauchen wir Solange III?, EuR 1990, S. 195 (223). Meist wird die Bestimmung aber als Schutzklausel für die Mitgliedstaaten gedeutet: P. Koutrakos, Is Article 297 EC a „Reserve of Sovereignty“?, CMLRev. 37 (2000), S. 1339.
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zwar strafähnliche Sanktionen verhängen, wie dargelegt wurde, kann jedoch deren Zahlung nicht erzwingen. Kein Mitgliedstaat kann sich aber seinen Verpflichtungen dauerhaft verweigern, denn das käme einem Austritt gleich.185 Dazu ist aber jedenfalls keiner der älteren Mitgliedstaaten wegen der engen Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in der Union mehr ohne großen Schaden in der Lage, sofern ihn nicht Katastrophen oder extreme Situationen dazu zwingen. Der „point of no return“ dürfte inzwischen erreicht sein. 2. Folgerungen und Bewertung a) Deutungsversuche Angesichts des ambivalenten Verhältnisses zwischen der Union und den Mitgliedstaaten wird über die Natur der Union und ihres Rechts bisher ohne klares Ergebnis lebhaft diskutiert. Seit der Gründung der Gemeinschaften bestand in der reichhaltigen Literatur bald Einigkeit, dass die überkommene Lehre von den Staatenverbindungen, insbesondere Begriffspaare wie Staatenbund und Bundesstaat, dem Sondercharakter der Gemeinschaft nicht gerecht werden.186 Zwar wurde bis in die neuere Zeit hinein von Politikern immer wieder das Bild eines europäischen Bundesstaates oder der den USA nachgebildeten Vereinigten Staaten Europas beschworen. Doch ebenso leidenschaftlich wird gegen einen angeblich angestrebten Superstaat Europa polemisiert und die Rückbildung zur Dominanz der Staaten gefordert. In der wissenschaftlichen Diskussion geht es seit jeher um eine Lösung zwischen den Extremen. Dazu genügen wenige Hinweise.187 Überholt ist die anfangs verbreitete Auffassung, die Gemeinschaft als unpolitischen, technischer Rationalität folgenden Zweckverband funktionaler Integration zu deuten.188 Sie mag dem ursprünglichen Verständnis der Wirtschaftsintegration entsprochen haben, kann aber heute nach der Entwicklung in allen Politikfeldern nicht mehr ernsthaft vertreten werden.189 Ein ähnlicher Einwand ist gegenüber Versuchen zu erheben, Union und Gemeinschaft mit der wirtschaftlichen Dynamik und 185
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188 189
Ob und unter welchen Voraussetzungen der einseitige Austritt eines Mitgliedstaates zulässig wäre, ist streitig. Siehe nur M. Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU (Stand: Jan. 2008), Art. 312 EG, Rn. 5; F. Götting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2000. Art. 50 EUV-Liss. sieht nunmehr, wie schon der Verfassungsvertrag, ein Recht der Mitgliedstaaten auf Austritt aus der Union unter Mitwirkung der Unionsorgane vor. Statt aller E. Wohlfarth, in: ders./Everling/Glaesner/Sprung (Fn. 104), Art. 1 EWG-Vertrag, Rn. 3. Siehe den Überblick bei A. v. Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, Der Staat 40 (2001), S. 3; ferner Peters (Fn. 58), S. 205. Zu den Integrationstheorien aus politikwissenschaftlicher Sicht C. Giering, Europa zwischen Zweckverband und Superstaat, 1997. Siehe oben bei Fn. 22. So meint S. Oeter, Europäische Integration als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 901 (904), die Zweckverbands-Formel nötige angesichts der jüngeren Entwicklung „nur noch ein müdes Lächeln“ ab.
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Rationalität bei der Öffnung der Märkte und mit den durch sie gewährten Freiheitsrechten der Bürger zu rechtfertigen und zu legitimieren.190 So wichtig und richtig dieser Ansatz auch ist, vermag er doch Aufbau und Bestand einer politisch handlungsfähigen Einheit mit Aufgaben bis hin zur Außen- und Sicherheitspolitik nicht zu erklären. Andere Meinungen wollen die fortbestehende Integrität der Staaten dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie die Union als Staatenverbund kennzeichnen und damit ihre Abhängigkeit von den Mitgliedstaaten betonen.191 Die Union ist sicher im Kern eine Staatenverbindung, aber der Begriff verdeckt, dass die Mitgliedstaaten nicht nur Träger, sondern zugleich auch Glieder der Union und, wie gezeigt wurde, in vieler Hinsicht von ihr abhängig sind. Vor allem wird auch die umfassende, direkte Einbeziehung der Bürger in die Union nicht deutlich.192 Daran ändert auch das moderne Verständnis des offenen Verfassungsstaates nichts. Gewissermaßen als Gegenbegriff zum Staatenverbund wird mit der Kennzeichnung der Union als Verfassungsverbund zum Ausdruck gebracht, dass sich die Mitgliedstaaten mit ihr auf allen Ebenen von Politik, Wirtschaft, Recht und Gesellschaft gegenseitig durchdringen oder wenigstens beeinflussen.193 So zutreffend dies ist, wird die Formel jedoch ihrerseits dem beträchtlichen Handlungsspielraum, der den Mitgliedstaaten innerhalb und außerhalb der Union weiterhin zusteht, nicht gerecht. Andere Autoren stellen deshalb auf die Europäisierung der nationalen Verfassungen ab und versuchen dadurch die Verbindung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten deutlich zu machen, ohne diese völlig zu vereinnahmen.194 So wird plastisch vom polyzentrischen Netzwerkcharakter der Union und von ihrer Verbundverfassung gesprochen195 oder von einem commonwealth of nations196 und die durch die Union relativierten nationalen Verfassungen werden sogar als Teilverfassungen bezeichnet.197 Besonders verbreitet ist die Kennzeichnung der Union als 190
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194 195 196 197
E.-J. Mestmäcker, On the Legitimacy of European Law, RabelsZ 58 (1994), S. 616; ferner ders., Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts, Ordo 58 (2007), S. 3; siehe auch C. Joerges, „Good Governance“ im Europäischen Binnenmarkt, EuR 2002, S. 17. P. Kirchhof, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 1992, § 183, Rn. 50, sowie ders., in diesem Band; ferner BVerfGE 89, 155 (188). Vgl. J. A. Frowein, Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, ZaöRV 54 (1994), S. 1; C. Tomuschat, Die europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, S. 489; J. H. H. Weiler, The State „über alles“: Demos, Telos and the German Maastricht Decision, in: FS Everling, 1995, S. 1651, deutsch in: JöR 44 (1996), S. 91. I. Pernice, Der europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JöR 48 (2000), S. 205 (214); I. Pernice/F. Mayer, De la constitution composée de l’Europe, Revue trimestrielle de droit européen 36 (2000), S. 623; F. Mayer, in diesem Band, S. 594 f. So etwa J. Schwarze (Hrsg,), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, 2000. Peters (Fn. 58), S. 218. N. MacCormick, Democracy, Subsidiarity and Citizenship in the „European Commonwealth“, in: ders. (Hrsg.), Constructing Legal Systems, 1997, S. 1 (9). P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 2005, S. 221 ff.
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Mehrebenensystem,198 die aber das Zusammenspiel und die Verflechtung der Ebenen nicht ausreichend zum Ausdruck bringt und im Sprachgebrauch vor allem der Verdeutlichung der Struktur dient. Schließlich ist die Kennzeichnung der Union als Konstitutionalisierungsprozess zu erwähnen,199 doch die damit gekennzeichnete finale Ausrichtung dürfte mit dem Scheitern des Verfassungsvertrages bis auf Weiteres mindestens unterbrochen sein. b) Zusammenfassung im föderalen Prinzip Diese nur kurz und unvollkommen wiedergegebenen Auffassungen über die Natur der Union haben alle einen zutreffenden Kern, aber sie erfassen jede für sich die Wirklichkeit der Union nur unvollständig. Sie lassen sich nach Meinung des Verfassers überzeugend im föderalen Prinzip zusammenführen, das den Zusammenschluss lokaler und regionaler Körperschaften und Staaten sowie ihrer Bürger zu einer politisch handlungsfähigen Einheit zum Ausdruck bringt. Es vermag die Verflechtung zwischen den verschiedenen Ebenen bei inhaltlich begrenzten Durchgriffsbefugnissen der Zentralinstanz und spiegelbildlich beschränkten Handlungsspielräumen der nachgeordneten Glieder ebenso zum Ausdruck zu bringen wie das in diesem Beitrag betonte Spannungsverhältnis zwischen der Politik und den Rechtsordnungen der Körperschaften beider Ebenen.200 Die Union ist in erheblichem Maße nach föderalen Vorbildern organisiert.201 Das gilt vor allem für den Rat, der weitgehend dem deutschen Bundesrat gleicht. Das gilt bis in Einzelheiten hinein, so bei der allerdings in der Union nur eingeschränkt respektierten Regel, dass die nationalen Parlamente den Ministern kein bestimmtes Stimmverhalten vorschreiben sollen und dass die verwaltungsmäßige Umsetzung der allgemeinen Rechtssätze bei den Mitgliedstaaten liegt. Andererseits trägt die Organisation auch den Besonderheiten der supranationalen Struktur, die keine Staatsqualität erreicht, Rechnung, so etwa, indem das Verhältnis zwischen Parlament und Rat gegenüber dem von Bundestag und Bundesrat geradezu umgekehrt ist und statt einer Regierung, deren Stellung neuerdings der Europäische Rat 198
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Sie ist vor allem im politologischen Schrifttum gebräuchlich, dient im Sprachgebauch aber häufig der Erläuterung; siehe etwa M. Jachtenfuchs/B. Kohler-Koch, Einleitung: Regieren im dynamischen Mehrebenensystem, in: dies. (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, S. 15. Oeter (Fn. 189), S. 901. Aus der reichhaltigen Lit. m.w.N. Burgess (Fn. 1); P. Badura, Die föderative Verfassung der Europäischen Union, in: FS Heckel, 1999, S. 695; O. Beaud, Théorie de la fédération, 2007; A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999; P. Dann, Europäisches Parlament und Exekutivföderalismus, Der Staat 42 (2003), S. 355; K. Heckel, Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, 1998; K. Lenaerts, Federalism: Essential Concepts in Evolution, Fordham International Law Journal 21 (1998), S. 746; B. Martenczuk, Die differenzierte Integration und die föderale Struktur der Europäischen Union, EuR 2000, S. 351; M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, S. 2846; S. Oeter und A. von Bogdandy, in diesem Band, S. 85 ff. bzw. S. 36 ff. U. Everling, Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Doehring, 1989, S. 179.
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zu beanspruchen scheint, die Kommission als Vorschlags- und Ausführungsorgan tätig wird. Die Rolle des Gerichtshofs besonders bei den Vertragsverletzungsklagen und den Vorabentscheidungen ist auf die komplexe Organisation der Union zugeschnitten. Mit dem Hinweis auf das föderale Prinzip wird also zwar auf das Vorbild doppelstöckiger politischer Einheiten hingewiesen und einige zentrale Formen werden übernommen, aber keineswegs gilt das für ihre volle Ausgestaltung. Gegen eine undifferenzierte Übernahme staatlicher, zumal bundesstaatlicher Formen auf die Union werden seit jeher mit Recht Bedenken erhoben, weil die ihr angemessenen eigenständigen Strukturen gefunden werden müssen.202 Der Hinweis auf die Grundsätze des Föderalismus wird von unseren Partnern oft missverstanden. Sie stehen diesem häufig skeptisch gegenüber, weil sie ihn auf das Modell des Bundesstaates verkürzen.203 Dabei verkennen sie insbesondere mit dem Blick auf die deutschen staatlichen Verfassungen seit 1871, dass er nicht auf die Entwicklung zum Einheitsstaat zielt. Nach deutschem, auf der Geschichte beruhendem Verständnis ist die föderale Organisation keineswegs, wie unseren Partner anscheinend oft argwöhnen, auf Zentralisierung und staatliche Form ausgerichtet, sondern soll diesen gerade durch Stärkung der Glieder entgegenwirken. Die Betonung des föderalen Prinzips entspricht deshalb der gegenwärtigen Tendenz zur Stärkung der Mitgliedstaaten im Verbund der Union. In welchem Grad die Gewichte in einem föderalen Verband verteilt sind, ist nicht festgelegt und durchaus variabel. Das Verständnis der Union als föderal organisiert öffnet den Raum für die im Zeitverlauf unterschiedlichen Entwicklungen und Krisen. Es bietet damit genügend Flexibilität, um sich auch künftigen Entwicklungen anzupassen. Nach allem kann die Union als föderal verfasster Zusammenschluss von Staaten und Bürgern zur Erfüllung gemeinsamer Ziele umschrieben werden. Diese Formel ist jedoch nicht als Definition, sondern als Versuch einer Annäherung an die komplexe Wirklichkeit zu verstehen. 3. Ausblick: Zur Zukunft der Union Ob die Union in ihrem eigenartigen Schwebezustand als durch ihre Mitgliedstaaten föderal organisierte, politische Einheit unterhalb der Staatsqualität dauerhaft bestehen kann, ist schwer vorauszusagen. Viel wird für die weitere Entwicklung davon abhängen, ob sich über Politik und Wirtschaft hinaus auch die Gesellschaften der Mitgliedstaaten über die Grenzen hinweg integrieren werden. Schon frühzeitig wurde hervorgehoben, dass die europäische Integration einen geistigen Entwicklungsprozess erfordert.204 Ebenso wie der Staat vom täglichen Plebiszit seiner Bürger (Renan) bestätigt und durch die Integration der Bürger (Smend) getragen wird, muss 202 203 204
So Ipsen (Fn. 16). S. 954; weitergehend A. v. Bogdandy, Zur Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren auf die Europäische Union, in: FS Badura, 2004, S. 1033. Siehe etwa T. Koopmans, Federalism: the Wrong Debate, CMLRev. 92 (1992), S. 1047. U. Meyer-Cording, Die Europäische Integration als geistiger Entwicklungsprozess, AVR 10 (1962), S. 42.
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auch die Union auf Dauer ihre Basis im Bewusstsein der Bürger finden. Dieses ist bisher noch weitgehend auf die einzelnen Mitgliedstaaten gerichtet, aber es schließt eine gleichzeitige Orientierung auf eine übergreifende, größere Einheit nicht grundsätzlich aus. Ein solcher Bewusstseinsprozess ist zwar in Ansätzen auf vielen Ebenen im Gange, erscheint aber zurzeit eher als Illusion und erfordert jedenfalls einen langen Atem künftiger Generationen.205 Ob er wirklich fortschreitet, ist nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht sicher. Schon die schwierige Ratifikation des MaastrichtVertrages musste als Warnung für eine abnehmende Akzeptanz der Gemeinschaft bei den Bürgern verstanden werden. Sie wurde in verstärktem Maße durch das Scheitern der Volksabstimmung zum Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden und die mangelnde Bereitschaft anderer Mitgliedstaaten, die Abstimmung einzuleiten, bestätigt. Damit scheiterte der Versuch, die Zustimmung der Bevölkerung durch den Verfassungsvertrag gewissermaßen in einem großen Sprung zu gewinnen, und zwar offenbar unter anderem, weil der Vertrag als Verfassungsgebung unter weitgehender Aufgabe der nationalen Identität verstanden wurde.206 Der negative Ausgang des irischen Referendums zum weniger anspruchsvollen Vertrag von Lissabon zeigte erneut die Zurückhaltung der Bevölkerung. Auch die geradezu uferlosen Beitritte und Beitrittswünsche, die zu einer Bevölkerung von über 480 Millionen geführt haben und offenbar auf dem Balkan weiter fortgesetzt werden sollen, lassen das Entstehen eines „Unionsbewusstseins“ als zur Zeit wenig realistisch erscheinen. Das gilt umso mehr, als mit der Vermehrung der Mitgliedstaaten auch die Zahl der Konflikte zwischen ihren Interessen und Traditionen anwächst. Sie wirken sich trotz der Ausweitung des Mehrheitsprinzips auf die Handlungsfähigkeit der Union aus und schlagen sich in einer verbreiteten Skepsis der Bürger nieder. Insgesamt zeichnet sich, wie dargelegt, eine deutliche Verstärkung des Gewichtes der Mitgliedstaaten gegenüber den Unionsorganen ab. Sie findet ihren Ausdruck vor allem in einer zunehmenden Aktivität des Europäischen Rates. Er scheint im Begriff zu sein, von seiner richtunggebenden Rolle im Vertrag von Maastricht zum zentralen Entscheidungsorgan zu werden. Besonders deutlich zeigt sich der Wandel beim Übergang vom gescheiterten Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon. Die Beschränkung auf einen sachbezogenen Änderungsvertrag unter Verzicht auf verbale Überhöhung durch Verfassungsterminologie sowie Symbole und Werte ist mehr als eine bloße Formulierungsfrage. Damit wird für die nächste Zeit allen Bestrebungen eine Absage erteilt, die Union in staatsähnlicher Form zu verfestigen und die Selbständigkeit der Mitgliedstaaten weiter zu beeinträchtigen. Ob damit allerdings die Zentralisierungstendenzen, die in der Praxis immer wieder beklagt werden, ausgeschlossen werden, erscheint nicht sicher. Unter diesen Umständen ist es schwer, die künftige Entwicklung vorauszusehen. Viel spricht dafür, dass der gegenwärtige Schwebezustand der Union zwischen 205 206
Vgl. H. Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft, 1987. Siehe oben bei Fn. 123.
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staatlicher Form und Staatenbündnis bis auf Weiteres fortbestehen wird. Viel spricht ferner dafür, dass die Union zur Zeit hinsichtlich der Integrationstiefe den Zenit ihrer Entwicklung erreicht hat. Künftig dürfte es in erster Linie darum gehen, den erreichten Integrationsstand zu sichern. Wenn das gelingt, leistet die Union weiterhin einen wesentlichen Beitrag zu Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in Europa.
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Der europäische Staatenverbund
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I.
Der Verzicht auf den Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die europäische Rechtsgemeinschaft als Gemeinschaft des Maßes . . . . . . . . . 2. Integrationsrealität und Integrationshoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassung – einheitlicher Text oder Grundordnung eines Staates? . . . . . . . . . 4. Verstetigende Verfassung und dynamische Entwicklungsordnung . . . . . . . . . . II. Das Verhältnis von Verfassungsrecht und Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrechtliche Geltungsbedingungen des Europarechts . . . . . . . . . . . . . 2. Die Europäische Union als Staatenverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Europäisierung des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ein „Mehrebenenmodell“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staatlichkeit und Europaoffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das in Freiheit vorgefundene Staatsvolk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Neue Aufgaben für den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Staat im Verbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklung eines gemeinsamen Verfassungsrechts im Umfeld des Maastrichter Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Supranationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Lebendigkeit des totgesagten Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Kooperationsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Moderne Formen der Gewaltenbalance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Europa der Staaten als Friedens- und Freiheitschance . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Der Verzicht auf den Verfassungsvertrag 1. Die europäische Rechtsgemeinschaft als Gemeinschaft des Maßes Die europäische Integration ist einem „langen ruhigen Fluss“ ähnlich,1 der allerdings in ein Meer fließt, dessen Ufer noch nicht deutlich erkennbar sind. Die Europäische Union und das Europarecht bewegen sich gleichsam auf Rädern, haben aber ihr Ziel oder zumindest einen Haltepunkt nicht klar definiert. Auch der Entwurf
1
Europäisches Parlament, Bericht v. 29.01.2008 über den Vertrag von Lissabon (2007/ 2286(INI)), EP-Dok. A6-0013/2008, S. 12, unter www.europarl.europa.eu/activities/ committees/reports/formSearch.do?language=DE (10.11.2008).
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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eines Reformvertrags von Lissabon2 spricht von „der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 Abs. 2 EUV-Liss.), sucht eine Entwicklung von nicht endender Dynamik einzuleiten. In diesem Hang zum Grenzenlosen liegt das Problem der europäischen Rechtsgemeinschaft: Das Recht gibt grundsätzlich bewährte Institutionen, erprobte Werte und verlässliche politische Erfahrung an die nächste Generation weiter und bettet die Erneuerungsinstrumente, insbesondere die Entscheidungskompetenzen von Parlament und Regierung sowie die Freiheitsrechte, in diesen rechtlichen Rahmen ein. Recht setzt ein Maß und mäßigt. Doch der Lissabonner Entwurf des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union3 scheut sich noch, trotz der Integrationserfolge den Zielpunkt der Integrationsentwicklung zu benennen. Der Lissabonner Vertrag ist nunmehr durch das negative Votum der Iren in Frage gestellt, die einzige inzwischen noch vorgesehene Volksabstimmung über Änderungen des Unionsvertrages. Vorausgegangen sind weitere demokratische Signale der Gegenwehr, insbesondere die Ablehnung des Maastricht-Vertrages durch die Dänen im Jahre 1992 und die Ablehnung des Entwurfs eines „Verfassungsvertrages“ durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahre 2005.4 In dieser Phase der eher auf Reformen drängenden Vertragsorgane und der eher beharrungswilligen Staatsvölker macht der Lissabonner Vertrag zwei Reformanliegen bewusst, die den Weg der weiteren Integration bestimmen müssen: das Erfordernis von mehr Demokratie und der Verzicht auf eine europäische Verfassunggebung, die auf die Vereinigten Staaten von Europa hinwirken würde. a) Das Erfordernis von mehr Demokratie Als Adenauer und de Gaulle sich im Jahre 1961 vor dem Schloss von Rastatt die Hände reichten und ein Europa ohne Krieg und ohne Grenzkontrollen verkündeten, hat ihnen eine große Menge junger Menschen zugejubelt und begeistert Europafähnchen geschwenkt. Ich stand mitten unter ihnen und teilte das gemeinsame Glück. Dieses Europa des Friedens und der Offenheit war das unsere. Auch heute ist Europa unsere Angelegenheit. Doch scheint die Europäische Union gegenwärtig ein Bild oder richtiger ein Zerrbild von sich zu vermitteln; sie tritt den Menschen eher als fremde Macht entgegen. Europäische Gesetze scheinen weniger Sicherheit und Freiheit zu schützen, den Menschen vielmehr in einer Normenflut niederzudrücken. Die europäischen Behörden scheinen weniger die Offenheit des Begegnens, Tauschens und Reisens zu gewährleisten, uns stattdessen durch eine immer mächtiger und anonymer werdende Bürokratie mit Beobachtungen, Auflagen und Verboten zu bedrängen. Der europäische Haushalt scheint das treuhänderisch verwaltete Geld der Unionsbürger weniger an die Steuerzahler zurück2 3
4
Vertrag von Lissabon v. 13.12.2007, ABl. 2007 C 306, S. 1. Siehe Bundesregierung, Eine neue Grundlage für Europa. Der Vertrag von Lissabon, 2008, S. 3, unter www.bundesregierung.de/nsc_true/Content/DE/__Anlagen/2008/2008-01-14eu-reformvertrag-barrierefrei,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/2008-01-14eu-reformvertrag-barrierefrei (10.11.2008). Europäisches Parlament (Fn. 1), S. 16.
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zugeben und mehr Subventionsfonds bereitzustellen, die für die Kleinen und Schwachen kaum zugänglich sind. Ein Europa, das so empfunden oder missverstanden wird, sollte nicht auf weiteren Kompetenzzuwachs drängen, vielmehr den Haltepunkt der europäischen Integration bestimmen. Während in den Gründungsjahren der Union ständig wachsende Kompetenzen notwendig waren, ist es heute an der Zeit, die Kompetenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten klar und auf Dauer zu definieren. Wenn die Staaten nach dem Lissabonner Vertrag wesentliche Kompetenzen auch in der Innen- und Justizpolitik verlieren sollen, berührt das die sensiblen Bereiche der Verfassungsstaatlichkeit. Werden zudem Hoheitsrechte für Energie, Raumfahrt, Sport, Tourismus und Katastrophenschutz auf die Union übertragen, muss dieser Kompetenzzuwachs zumindest mit einer Stärkung der demokratischen Mitwirkungsrechte der mitgliedstaatlichen Parlamente und des europäischen Parlaments einhergehen. Der Unionsbürger ist auch sehr empfindsam, wenn die Individualrechte – Grundfreiheiten und Grundrechte – ihn nicht gleichermaßen, in der Intensität wie in der Bindung der europäischen Organe wie der Mitgliedstaaten, schützen, sie außerdem nicht nur als Kompetenzausübungsschranken wirken, sondern als Kompetenzzuweisungen gehandhabt werden und damit die Kompetenzen der Mitgliedstaaten kaum berechenbar entleeren. Liegt das Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren weiterhin im Regelfall ausschließlich bei der Kommission, können die Mitgliedstaaten oder das europäische Parlament ein Gesetzgebungsvorhaben nicht einmal auf die Tagesordnung des Rates setzen; es fehlt an einem elementaren Recht der Demokratie. Auch droht das Prinzip der Gewaltenteilung in der Dominanz der Kommission und einer exekutiven Rechtsetzung faktisch aufgehoben zu werden. Die gerichtliche Kontrolle der Gemeinschaftsakte darf zumindest bei Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen einem Mitgliedstaat und der europäischen Union nicht allein in der Hand der europäischen Union entschieden werden. Und die Erweiterung der Union ist vielfach weniger Sache der Unionsbürger und mehr der Unionsorgane. Wenn dieses Europa den Menschen fremd zu werden droht und ihnen wieder eigen werden soll, stellt sich die Frage der Demokratie. In einer Demokratie bestimmt der freie Bürger die Entscheidungen seines Gemeinwesens. Er ist in der Gemeinschaft des Staatsvolkes Mitherrscher, nicht Beherrschter. Jede Wahrnehmung von Hoheitsgewalt muss letztlich auf den Willen der Bürger zurückgeführt werden. In diesem Erfordernis der Demokratie findet die Hoheitsgewalt Maß und Ziel. b) Keine Verfassunggebung Dieser staatsrechtliche Gedanke der Demokratie kann nicht unmittelbar auf die Europäische Union übertragen werden, weil die Union kein Staat ist und es ein europäisches Staatsvolk nicht gibt. Das britische, französische, italienische, spanische, tschechische, polnische oder deutsche Staatsvolk wird nicht auf die Kultur eines eigenen Staates verzichten. Die Europäische Union braucht in der Gegenwart eines rechtlichen Umbruchs die Kultur der mitgliedstaatlichen Verfassungen und Verfassungsgerichte. Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft der Staaten in
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fester Verbundenheit, ein Staatenverbund, in dem die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Aufgaben gemeinsam erfüllen und einen Teil ihrer Hoheitsgewalt gemeinsam ausüben. Der Entwurf eines „Verfassungsvertrages“ ist am negativen Ausgang der Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert und hätte jedenfalls in weiteren drei Mitgliedstaaten – Großbritannien, Polen, Tschechische Republik – scheitern können.5 Der Lissabonner Vertrag verzichtet nunmehr auf die Idee der Verfassung.6 Die Mitgliedstaaten vermeiden jedes rechtliche Signal, das auf das Entstehen eines europäischen Staates und das Ende der Nationalstaaten hinweist, wehren sich auch gegen vertraglich geregelte Symbole der Union (Fahne, Hymne, Leitspruch, Euro und Europatag7), unterlassen beim „Hohen Vertreter für Außenund Sicherheitspolitik“ die Bezeichnung „Außenminister der Union“, sprechen bei der Neustrukturierung der Rechtsakte nicht von „Gesetz“ und verwerfen insbesondere den Vorschlag, einen Vorrang des Rechts der Union gegenüber dem einzelstaatlichen Recht in die Verträge aufzunehmen.8 Die Mitgliedstaaten weisen also eine „Konstitutionalisierung“9 des Europarechts zurück, soweit in dem Begriff „Verfassung“ eine Staatswerdung, der Ursprung einer Rechtsordnung, ein unbedingter Vorrang, die verfassunggebende Gewalt des Staatsvolkes, die alleinige politische Grundordnung anklingen. Zugleich aber betont das Europäische Parlament in der Begründung seiner Entschließung zu dem Lissabonner Vertrag,10 dass die Union bereits „substantiell gesehen“ eine Verfassung besitze, schon aus den bisherigen Verträgen eine „grundlegende Norm für die Zügelung der Machtausübung in jeder politischen Einheit“ abgeleitet werden könne. Eine derartige „Verfassung“ könne sogar eine förmliche Garantie für die Mitgliedstaaten und die Bürger gegen eventuelle Entgleisungen der Unionstätigkeit bieten. Das Europäische Parlament, das sich stets für die „Konstitutionalisierung“ der Union stark gemacht habe, bedaure, dass der konstitutionelle Ansatz nun aufgegeben werde.11 Hier werden gegenläufige Konzepte sichtbar: Der Lissabonner Vertrag regelt begrenzte Ermächtigungen der Union; das Europäische Parlament sucht eine kaum begrenzte Macht der Union zu zügeln. 5 6 7 8
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H.-J. Rabe, Zur Metamorphose des Europäischen Verfassungsvertrages, NJW 2007, S. 3153. Europäisches Parlament (Fn. 1), S. 18. Ebd., S. 19 f.; Rabe (Fn. 5); demgegenüber betont die Bundesregierung (Fn. 3), S. 16, dass die Symbole für sie zentrale Elemente europäischer Identität bleiben. Vgl. aber Regierungskonferenz, Erklärung zum Vorrang, in: C. O. Lenz/K.-D. Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 2008, S. 430, Nr. 17, die insbesondere darauf verweist, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs der Vorrang des EG-Rechts einer der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts sei. C. Möllers, in diesem Band, S. 265 f.; vgl. auch R. Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: FS Brohm, 2002, S. 191. Europäisches Parlament (Fn. 1), S. 19. Ebd., S. 19 f.; wenn dort außerdem darauf verwiesen wird, dass der Gründungsakt der internationalen Arbeitsorganisation, der Weltgesundheitsorganisation und des Weltpostvereins „Verfassung“ genannt werde, verkümmert der Verfassungsbegriff zu einem technischen Organisationsstatut, das einen Streit um Worte nicht lohnt.
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Würde man heute weiterhin von einer Verfassung der Europäischen Union sprechen, würden die demokratischen Entscheidungen gegen den „Verfassungsvertrag“ ignoriert.12 Andererseits scheint nicht selbstverständlich, dass die Verfassungen der Mitgliedstaaten weiterhin die Kraft entfalten werden, alle politische Hoheitsgewalt zu formen und zu mäßigen. Wenn die Europäische Union keine Verfassung habe, die mitgliedstaatlichen Verfassungen hingegen nur noch Teilbereiche des politischen Lebens abdeckten, drohe die Gefahr, dass weite Bereiche des Rechts verfassungslos seien, das Verfassungsrecht vergehe, weil die Verfassung nicht mehr Staatsgrundlegung, sondern Entwicklungsordnung sei.13 Gerade der Lissabonner Vertrag bekräftigt aber die Funktion der Verfassung in den jeweiligen Mitgliedstaaten als Grundlage der staatlichen Rechtsgemeinschaft und als Quelle für die Geltung von Europarecht im jeweiligen Mitgliedstaat. Allerdings muss die Grundwerte-Klausel des Art. 2 EUV-Liss. eine politische Bedingung für die Mitgliedschaft in der EU bleiben, darf – trotz erweiterter Zuständigkeit des EuGH – nicht zu einem Instrument richterlicher Korrektur mitgliedstaatlicher Verfassungen werden. 2. Integrationsrealität und Integrationshoffnung Auch gegenwärtig lebt die Europäische Union rechtlich vom „Charme des Unfertigen“.14 Sie hat sich inzwischen auf 27 Mitgliedstaaten erweitert, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union15 in der am 12.12.2007 in Straßburg unterzeichneten Fassung durch Art. 6 EUV-Liss. als den Verträgen rechtlich gleichrangig anerkannt,16 hält sich bewusst für weitere Mitglieder und für die Entwicklung ihrer Aufgaben, Institutionen und Entscheidungsverfahren offen.17 Auch die Vertragsgesetzentwürfe betonen diese Entwicklungsoffenheit und den Erneuerungsauftrag. Brückenklauseln, Flexibilitätsklauseln, Integrationsschritte aller oder auch nur eines Teils der Mitgliedstaaten, der Auftrag, der EMRK beizutreten, die Überwindung der Pfeilerstruktur und Bürgerinitiativen halten die Union in Bewegung. Die Entwürfe suchen auch auf eine Rechtsentwicklung jenseits des Vereinbarten hinzuwirken, wenn sie gegenwärtig Unerreichbares durch in die Zukunft vorgreifende Rechtsbegriffe herbeireden wollen. Wenn die Europäische Versammlung ohne volles Gesetzgebungs- und Budgetrecht „Parlament“ genannt, der Freiheitsberechtigte ohne Zugehörigkeit zu einem europäischen Staatsvolk als 12 13 14 15 16 17
Vgl. G. Robbers, Perspektiven des europäischen Verfassungsrechts – Verfassungsdämmerung?, ZSE 2007, S. 557 (560). Ebd., S. 565. J. Isensee, Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1994, S. 103. Am 7.12.2000 vom Europäischen Rat in Nizza feierlich proklamiert, Charta der Grundrechte, ABl. 2000 C 364, S. 1. Mit Vorbehalten für das Vereinigte Königreich und Polen gemäß Protokoll zum Lissabonner Vertrag Nr. 30, ABl. 2008 C 115, S. 201 (313 f.), dazu Europäisches Parlament (Fn. 1), S. 25. So nachdrücklich: Auswärtiges Amt, Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, S. 15 ff., unter www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Europa/Downloads/Denkschrift-lissabon.pdf (12.12.2008).
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„Unionsbürger“ bezeichnet, die teileuropäische Gemeinschaft als „Europäische“ Union qualifiziert, das Experiment der Währungsunion ohne vorausgehende Wirtschaftsunion im Titel „Wirtschafts- und Währungspolitik“ überschrieben wird, so behaupten diese Vertragsbegriffe etwas, das gegenwärtig nicht ist, aber in Zukunft sein mag. Die These von der bereits bestehenden Europäischen Verfassung, das Bedauern, auf eine „Konstitutionalisierung“ verzichten zu müssen,18 setzen auf eine Zukunft, die von den vertragsbegründenden Organen gerade zurückgewiesen worden ist. Diese begriffliche Großzügigkeit hält im Bewusstsein, dass die Union noch nicht den letztlich gemeinten Zustand erreicht hat, kann aber in der Begriffsverfremdung auch zu einer Revolutionstaktik werden, die in der Handhabung eines dynamischen Rechts mehr erreichen will, als durch förmliche Vertragsänderung von den Regierungen, Parlamenten und Völkern der Mitgliedstaaten gewollt ist. 3. Verfassung – einheitlicher Text oder Grundordnung eines Staates? Die Ablehnung eines Verfassungsvertrags und die Änderung der bestehenden Verträge wird in der Begründung des Europäischen Parlaments19 vor allem als Verzicht gedeutet, die bisherigen Verträge in einem einheitlichen, systematischen, verständlichen Vertrag zusammenzuführen. Eine solche Deutung der „Verfassung“ bloß „als einheitlicher konsolidierter Vertrag“ verfehlt jedoch die Rechtsidee, die in der Tradition des europäischen Staatsrechts mit dem Begriff „Verfassung“ überbracht wird. Der Tatbestand der „Verfassung“ wird grundsätzlich nur der Grundordnung eines Staates zugesprochen. Er begriffe die Europäische Union nicht wirklichkeitsgerecht, weil die Union wegen ihrer begrenzten Einzelermächtigungen und beschränkten Kompetenzen, der Zuweisung weiterer Kompetenzen allein durch Vertragsergänzung und Vertragsänderung der Mitgliedstaaten,20 ihres Angewiesenseins auf die Finanz- und Vollstreckungsgewalt der Mitgliedstaaten, ihrer begrenzten Organisations- und Gestaltungskraft und vor allem wegen ihrer nur mittelbar von den Staatsvölkern abgeleiteten Hoheitsgewalt nicht die Legitimation, universale Aufgabe und Selbsterneuerungskraft eines Verfassungsstaates beanspruchen kann. Das entschiedene Eintreten von Politik und Wissenschaft für den Begriff einer Europäischen „Verfassung“ oder zumindest eines „Verfassungsvertrages“ verfolgte das Ziel, die juristische Unsicherheit gegenüber dem Staatenverbund der Europäischen Union durch eine begriffliche Verheißung von Einheit und Demokratie zu beenden. Die „Verfassung“ spricht für eine umfassende – staatliche – politische Handlungsmacht und Rechtsverantwortung, die der Europäischen Union zwar nicht Staatsqualität zuweist, sich jedoch von dem klaren Gegenüber der Staatlichkeit der Unionsmitglieder, der Fixierung auf das Staatsmodell21 zu lösen und gelegentlich
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Europäisches Parlament (Fn. 1), S. 19 f. Ebd., S. 18 f. Vgl. BVerfGE 89, 155 (181, 191 f.) – Maastricht; Auswärtiges Amt (Fn. 17), S. 5. D. Grimm, Braucht Europa eine neue Verfassung?, JZ 1995, S. 581 (587).
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auch ein „postnationales“ Verfassungsverständnis22 zu begründen sucht. Eine Verfassung verselbständigt die verfasste Körperschaft gegenüber den Verfassunggebern, schwächt die Rückbindung der körperschaftlichen Entscheidungen an die Mitgliedstaaten und scheint deren Funktion als „Herren der Verträge“23 in Frage zu stellen. Sodann deutet der Begriff „Verfassung“ eine vom demokratischen Staatsvolk gegebene und legitimierte Grundordnung an, sucht deshalb das noch ungelöste Problem einer schwachen24 und mit zunehmendem Kompetenzzuwachs nicht ausreichenden demokratischen Legitimation der Europäischen Union ohne europäisches Unionsvolk zu überspielen. Eine Verfassung ruht in sich selbst, ist auf Dauer und Kontinuität angelegt, konstituiert eine in ihrem Kernbestand gesicherte und unabänderliche Körperschaft,25 könnte damit einer auf Entwicklung und Dynamik angelegten europäischen Rechtsgemeinschaft (Art. 1 Abs. 2 EU und EUVLiss.) allenfalls einen gesicherten Zwischenstatus garantieren und den gemeinschaftlichen Besitzstand als rechtlichen Basisbefund für die Weiterentwicklung der Union festschreiben. Daneben scheint nur eine „Verfassung“ die von der Europäischen Union wahrgenommene „öffentliche Gewalt“ hinreichend mäßigen und zum Schutz des Bürgers und seiner Grundrechte binden zu können. Vor allem aber klingt im Begriff der „Verfassung“ der Anspruch mit, eine umfassende Grundordnung des öffentlichen Lebens zu statuieren, die sich aus sich selbst erneuert, eigenständig neue Aufgaben aufgreift und die von ihr verfasste Körperschaft zur autonomen Weiterentwicklung befähigt. In dieser Begrifflichkeit wird das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Verbot der Vertragserweiterung durch Vertragsorgane gelockert oder aufgehoben. Je mehr die Union ein Verfassungsfundament gewönne, desto stärker würde ihre Eigenständigkeit, desto geringer die Bestimmungsgewalt der Mitgliedstaaten über die Union, ihr Organisationsstatut und ihre materielle Bindung, desto schwächer die Kultur der Verfassungsstaaten in der Union. Die streng juristische Bedeutung einer Europäischen Verfassung läge in ihrem Geltungsanspruch, der wohl die Geltung der mitgliedstaatlichen Verfassungen verdrängen und dabei deren Europaartikel einbeziehen soll, obwohl diese den jeweiligen Staat erst zur verfassungsrechtlich gebundenen Mitwirkung an der europäischen Union ermächtigen. Auch ist dem Begriff der „Verfassung“ ein Legitimations- und Sympathiewert eigen, der dem Organisationsstatut des EU-Vertrags und des AEUV mehr Glanz demokratischer Legitimation und rechtstaatsähnlicher Geschlossenheit zusprechen soll.
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I. Pernice, Europäische Grundrechts-Charta und Konventsverfahren, Integration 2001, S. 194. BVerfGE 89, 155 (190) – Maastricht; Auswärtiges Amt (Fn. 17), S. 5. BVerfGE 89, 155 (181) – Maastricht; siehe ferner M. Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997. Vgl. R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 119 (189).
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4. Verstetigende Verfassung und dynamische Entwicklungsordnung Verfassungen sind das Gedächtnis der Demokratie.26 Die Verfassung dokumentiert in einer Urkunde den gesicherten und anerkannten Bestand herkömmlichen Staatsrechts, formt diesen in der Rationalität eines Textes, verallgemeinert ihn in der Publikation einer generellen, verständlichen Regel, stellt zugleich Sprecher des Verfassungsrechts – die Recht-Sprechung – und auch ein Verfahren der Verfassungsänderung bereit, um Organisationsstatut und Grundrechte gegenwartsgerecht fortzubilden und zu entfalten. Die Europäische Union aber ist in ihrer Zukunftsgerichtetheit eine Organisation im Werden mit nur schwach gefestigter eigener Rechtstradition. Die bereits in den Gründungsverträgen angelegte, in der gegenwärtigen Erweiterungsphase erneuerte Integrationsdynamik unterwirft die Vergemeinschaftung einem Entwicklungsprozess, der in der derzeit beabsichtigten Erweiterung keineswegs auf einen europäischen Bundesstaat hinwirkt,27 gegenwärtig den Verbund eher lockert und abstuft. In dieser Phase einer Integrationserweiterung bei abgestufter und teilweiser verminderter Integrationsdichte besteht weder Aufgabe noch Anlass zu einer europäischen Verfassunggebung. Im Ergebnis bleibt der Rechtsgrundlagenbefund der Europäischen Union zu anspruchsvoll und neuartig, als dass er in herkömmliche Rechtskategorien eingebettet werden könnte. Die Integrationsverträge sind Rechtsurkunden, die ein rechtliches Fundament der Europäischen Union verstetigen und gegen eine Vertragsdurchbrechung abschirmen wollen.28 Die Verträge begründen eine Grundordnung der Gemeinschaft, die einen gemeinschaftlichen Besitzstand wahrt und seine Weiterentwicklung fördert, im Anwendungsrang teilweise den Verfassungen der Mitgliedstaaten überlegen ist, auch ohne eine Kompetenz-Kompetenz aus sich heraus einen gewissen Zuwachs an Handlungsmöglichkeiten der Union veranlasst und dadurch die Souveränität der Mitgliedstaaten in ihrer Europaoffenheit verdeutlicht,29 auch auf ein vernetztes und aufeinander bezogenes Zusammenwirken mit den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten angelegt ist. Die Europäische Union ist ein Staatenverbund mit einer eigenständigen, diesen Verbund tragenden, festigenden und fortbildenden Grundordnung.
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P. Kirchhof, Das Grundgesetz als Gedächtnis der Demokratie, in: M. Heckel (Hrsg.), Die innere Einheit Deutschlands inmitten der europäischen Einigung, 1996, S. 35. Vgl. G. Ress, Die EU und die neue juristische Qualität der Beziehungen zu den EG, JuS 1992, S. 985 (986); C. Tomuschat, Das Endziel der europäischen Integration, Maastricht ad infinitum?, DVBl. 1996, S. 1073; kritisch: J. Isensee, Integrationsziel Europastaat?, in: FS Everling, Bd. I, 1995, S. 567 (572 f.). Insoweit spricht der EuGH von einer „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“, EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23; Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 1. G. Ress, Menschenrechte, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Verfassungsrecht, in: FS Winkler, 1997, S. 897 (901).
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Der Staatenverbund ist kein Verfassungsverbund.30 Zwar sucht die Europäische Grundordnung zusammen mit den Verfassungen der Mitgliedstaaten und auch der EMRK eine gesamteuropäische Rechtsordnung zu begründen, in der die verschiedenen Entstehens- und Erkenntnisquellen dieses Rechts einander stützen, verstärken und fortbilden. Dennoch ist dieser Rechtsverbund darauf angelegt, gerade in der Unterscheidung von Verfassungen, Unionsvertrag, EG-Vertrag und EMRK Aufgaben, Kompetenzen und Befugnisse, damit Rechtsverantwortlichkeiten zuzuteilen, Hoheitsgewalten zu legitimieren und Kontrollverantwortlichkeiten zu begründen. Verbunden sind die Staaten in ihrer eigenständigen – insoweit unverbundenen – Verfasstheit.
II. Das Verhältnis von Verfassungsrecht und Europarecht Das Rechtskonzept der Europäischen Union ist ohne Vorbild, fordert eine Neubesinnung auf eine weltoffene Staatlichkeit und ihre europaoffene Souveränität, drängt insbesondere auf klare politische Verantwortlichkeiten, Legitimationsgrundlagen und Rechenschaftspflichten. Deshalb liegt es nahe, für diese zweistufige politische Macht und Hoheitsgewalt einen neuen Rechtsrahmen zu schaffen, der in einem Organisationsstatut Aufgaben, Kompetenzen und Befugnisse klar zuweist und damit Verantwortlichkeiten rechtlich formt und mäßigt, zugleich aber auch in einer grundrechtsbestimmten europäischen Wertegemeinschaft den Status des Unionsbürgers verdeutlicht, ihn aus der rechtlichen Anonymität heraushebt und die Balance zwischen gut organisierten Großverbänden und einzelnem Bürger in Europa neu austariert. 1. Verfassungsrechtliche Geltungsbedingungen des Europarechts Europarecht gilt innerhalb des jeweiligen Mitgliedstaates nur, wenn der Mitgliedstaat den Vertrag nach seinem Verfassungsrecht ratifiziert hat (Art. 52 Abs. 1 EU, Art. 54 Abs. 1 EUV-Liss., Art. 357 Abs. 1 AEUV). Der dem Vertrag zustimmende Parlamentsbeschluss oder eine Volksabstimmung bilden gleichsam die Brücke, über die das Europarecht den räumlichen Geltungsbereich des Mitgliedstaates erreicht. Stimmen Parlament oder Staatsvolk nicht zu, fehlt eine Geltungsvoraussetzung; das Europarecht bleibt unverbindlich. Ausgangspunkt und Ziel des Europarechts sind also die Mitgliedstaaten. Die Union achtet die jeweilige nationale Identität der Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 3 EU, Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV-Liss.); die Verfassungen der Mitgliedstaaten wahren die Identität des Verfassungsstaates innerhalb der europäischen Integration.31 30
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Vgl. dazu I. Pernice, Die dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27 (29 ff.); M. Heintzen, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht in der EU, EuR 1997, S. 1; P. Häberle, Verfassungsrechtliche Fragen im Prozess der europäischen Einigung, EuGRZ 1992, S. 429; C. Calliess, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2007, Art. 1 EU, Rn. 36 ff. Für Deutschland vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG und sogleich Fn. 32.
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Viele Verfassungen der Mitgliedstaaten sind ausdrücklich – insbesondere zur Ratifizierung des Maastricht-Vertrages – auf den Prozess einer immer weitergehenden Integration abgestimmt worden: Teilweise macht die Verfassung die Mitwirkung des jeweiligen Mitgliedstaates an der Europäischen Union von deren Rechtstruktur abhängig (Struktursicherungsklausel),32 sichert außerdem die im Integrationsprozess unberührt bleibende Verfassungs- und Staatsstruktur des Mitgliedstaates (Identitätsgarantie)33 und fordert für die Hoheitsübertragung an die Europäische Union ein besonderes Verfahren, in der Regel das Verfahren der Verfassungsänderung oder einer Volksabstimmung.34 Diese Regeln des Verfassungsrechts binden den Verfassungsstaat bei der Entscheidung, ob er den Anwendungsbefehl für das Europarecht in seinem Hoheitsbereich erteilen darf und will. Würde diese Entscheidung den Verfassungsmaßstab verletzen, wäre sie verfassungswidrig und könnte durch das zuständige Organ – in Deutschland durch das Bundesverfassungsgericht – für nichtig erklärt werden. Dem Europarecht fehlte insoweit eine Gel-
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Eine unmittelbar auf die Europäische Union bezogene Struktursicherungsklausel enthalten neben Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG (eine Union, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet), Kap. 10 § 5 Abs. 1 der schwedischen Verfassung (Freiheits- und Rechtsschutz entsprechend der Verfassung und der EMRK) und in abstrakterer Form auch Art. 88-1 f. der französischen Verfassung (freiwillige gemeinsame Kompetenzausübung, Vorbehalt der Gegenseitigkeit). Art. 7 Abs. 6 der portugiesischen Verfassung ermächtigt zur Hoheitsübertragung unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit, unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und mit dem Ziel der Verwirklichung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts; Art. 7 Abs. 5 ergänzt, dass Portugal den europäischen Einigungsprozess für Demokratie, Frieden, wirtschaftlichen Fortschritt und Gerechtigkeit unter den Völkern unterstützt. In allgemeiner Fassung sieht Art. 20 Abs. 1 der dänischen Verfassung eine Übertragung von Hoheitsrechten nur auf Einrichtungen zur Förderung der zwischenstaatlichen Rechtsordnung und Zusammenarbeit vor. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG (Maßstäbe des Art. 79 Abs. 3 GG). In vielen Mitgliedstaaten wird der Vorbehalt der verbleibenden Verfassungs- und Staatsstruktur ungeschriebenen Teilen der Verfassungsordnung entnommen, insbesondere dem Souveränitätsgrundsatz. Siehe hierzu insb. die Entscheidungen des Spanischen Verfassungsgerichtshofs v. 1.07.1992 (EuGRZ 1993, S. 285), des Französischen Verfassungsrats v. 31.12.1997 (EuGRZ 1998, S. 27) und des Dänischen Obersten Gerichtshofs v. 6.04.1998 (EuGRZ 1999, S. 49; dazu G. Ring/L. Olsen-Ring, Souveränitätsübertragung nach dänischem Verfassungsrecht, EuZW 1998, S. 589). Zum entsprechenden Souveränitätsverständnis in Italien A. Carrino, Verfassung und Souveränität in Europa am Beispiel Italiens, ZEuS 1998, S. 427. Verfahrensanforderungen bei Kompetenzübertragungen auf die Europäischen Gemeinschaften stellen neben Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG (Zustimmung des Bundesrates, verfassungsändernde Mehrheit) Art. 168 der belgischen Verfassung (Beteiligung der Kammern) und Kap. 10 § 5 Abs. 1 der schwedischen Verfassung (Dreiviertelmehrheit der Abstimmenden oder verfassungsändernde Mehrheit). Für jegliche Übertragung von Hoheitsgewalt erfordert Art. 93 S. 1 der spanischen Verfassung ein verfassungsausführendes Gesetz und Art. 20 Abs. 2 der dänischen Verfassung eine Fünfsechstelmehrheit der Mitglieder des Folketing. Vgl. auch die entsprechende Bestimmung in Art. 90 Abs. 2–4 der polnischen Verfassung (Mehrheitserfordernisse, Volksabstimmung).
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tungsgrundlage im jeweiligen Staat. Die verfassungsrechtliche Ermächtigung35 der Mitgliedstaaten, an der Europäischen Union mitzuwirken, begrenzt diese Mitwirkung also in einem verfassungsrechtlich vorgezeichneten Rahmen. Diese Europaartikel des jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts setzen Geltungsbedingungen für Europarecht in dem Mitgliedstaat und für dessen Rechtsanwendungsbefehl. Das Europarecht findet in diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben eine unübersteigbare Grenze. Dieses Verfassungsrecht beansprucht Vorrang vor dem Europarecht.36 Die These vom Vorrang des Europarechts auch vor dem nationalen Verfassungsrecht ist also unrichtig. Zwar öffnet sich die jeweilige Verfassung für das Europarecht insoweit, als der Verfassungsstaat von dieser Öffnungsklausel in deren Rahmen Gebrauch gemacht hat. Gegenüber der Öffnungsklausel selbst aber bleibt das Europarecht nachrangig, weil diese Klausel Geltungsbedingung des Europarechts im jeweiligen Verfassungsstaat ist. 2. Die Europäische Union als Staatenverbund Die Europäische Union ist von den Mitgliedstaaten gegründet, erweitert und erneuert worden. Die Union ist ein Staatenverbund,37 in dem Verfassungsstaaten sich so verbunden haben, dass die Intensität dieser Bindung den Staatenbund deutlich übersteigt, die Staatlichkeit eines Bundesstaates jedoch nicht erreicht. Die Europäische Union wurzelt in den Mitgliedstaaten, will und kann deren universale Aufgabe nicht erfüllen, beansprucht auch nicht in einer Kompetenz-Kompetenz38 das Recht, neuartige und andere Aufgaben aus eigener Zuständigkeit – ohne Zuweisung durch die Mitgliedstaaten – zu übernehmen.39 Gerade wenn gegenwärtig noch junge demokratische Rechtsstaaten in Mittel- und Osteuropa Mitglied in der Europäischen Union geworden sind, sollte diese Union nicht in dem Begriff einer europäischen Verfassung behaupten, diesen Staaten eine Rechtsordnung überstülpen zu wollen, die deren junge Verfassungen verdrängen würden. Europa ist anspruchsvoller: Die Rechtsgemeinschaft lebt von den sich überschneidenden und ergänzenden Kreisen von Europarecht und mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht, entwickelt in diesem 35
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Zur Übertragung von Hoheitsgewalt auf die Europäischen Gemeinschaften ermächtigen neben Art. 23 Abs. 1 GG ausdrücklich die Verfassungen von Frankreich (Art. 88-1 bis 88-4), Irland (Art. 29 Abs. 4) und Schweden (Kap. 10 § 5 Abs. 1). In allgemeiner Fassung ermächtigen zur Übertragung von Hoheitsgewalt auf überstaatliche Einrichtungen ausdrücklich die Verfassungen von Spanien (Art. 93 S. 1), den Niederlanden (Art. 92), Dänemark (Art. 20 Abs. 1) und Belgien (Art. 34). Vgl. auch die entsprechende Bestimmung in der polnischen Verfassung (Art. 90 Abs. 1). Vgl. BVerfGE 89, 155 (181 ff.) – Maastricht. BVerfGE 89, 155 (156, 181) und passim – Maastricht; vgl. schon P. Kirchhof, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 1992, § 183, Rn. 38 und passim. Zur Geschichte des Begriffs: P. Lerche, „Kompetenz-Kompetenz“ und das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: FS Carl-Heymanns-Verlag, 1995, S. 409. Vgl. auch H. Schambeck, Über die Idee einer EU-Verfassung, in: FS Barfuss, 2002, S. 227 (236 f.).
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Zusammenhalt mehrstufiger Rechtsetzung und Rechtsfindung eine Rechtskultur, die in einem allein europazentrierten Rechtssystem so nicht möglich wäre. Verfassunggeber ist nach demokratischem Verfassungsverständnis das Staatsvolk als verfassunggebende Gewalt.40 Zwar entwickelt eine solche Verfassunggebung in einem menschen- und völkerrechtsoffenen Europa nicht ursprünglich neue Rechtsstrukturen, bildet und verdeutlicht vielmehr nur allgemeine Rechtsprinzipien. Die verfassunggebende ist eher eine verfassungweitergebende Gewalt. Dennoch dürfte eine solche Verfassunggebung nicht in einem Vertragsänderungsverfahren erklärt, sondern müsste unmittelbar vom Staatsvolk verantwortet werden. Ein solches europäisches Staatsvolk aber gibt es nicht. Der Gedanke einer europäischen Verfassunggebung greift deshalb gegenwärtig weit – vielleicht ins Utopische – voraus: Sollte es jemals ein europäisches Staatsvolk geben, das sich seines kulturellen Zusammenhalts bewusst und deswegen zum gemeinsamen Setzen und Durchsetzen von Recht bereit ist, das wirtschaftlich und politisch eine Handlungsund Gefahrengemeinschaft bilden will, das zumindest in einer gemeinsamen allgemeinen Zweitsprache auf Austausch angelegt ist, so müssten die europäischen Institutionen heute beginnen, auf diese Zukunft hinzuwirken. Sie hätten europaweit tätige politische Parteien zu organisieren, eine Medienberichterstattung zu fördern, in dem diese Zugehörigkeit zu Europa und die Europafähigkeit in gemeinsamer Sprache, einem Binnenmarkt, einem kulturellen und wissenschaftlichen Austausch selbstverständlich wird, auch die Entscheidungen und Entscheidungsverfahren der europäischen Organe für alle Unionsbürger besser sichtbar und verständlich zu machen. Wer allerdings gegenwärtig von europäischer Verfassunggebung spricht, verschweigt diese noch nicht erbrachten Anstrengungen und gefährdet damit die weitere Integration. Das Leitbild der europäischen Integration ist nicht ein zu schaffender demokratischer Staat, sondern der bestehende Staatenverbund, der im Wesentlichen durch die Regierungen der Mitgliedstaaten handelt und sich in deren Parlamenten demokratisch legitimiert. Die Europäischen Gemeinschaften hatten in ihren ursprünglichen Aufgaben eher eine administrativ-technokratische Struktur und folgen der Herrschaft der Experten.41 Der Rat legitimiert sich aus den nationalen Quellen mitgliedstaatlicher Parlamente und Regierungen, die ihrerseits in dem erforderlichen sozialen und institutionellen Zusammenhalt legitimiert sind.42 Das Europäische
40
41 42
U. Steiner, Verfassunggebung und Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1966; D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978; E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, 1986; H.-P. Schneider, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 37), § 158. E.-W. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, 1997, S. 37 f. J. Isensee, Europäische Union – Mitgliedstaaten im Spannungsfeld von Integration und nationaler Selbstbehauptung, in: Konferenz der Deutschen Akademien der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz (Hrsg.), Europa – Idee, Geschichte, Realität, 1996, S. 91.
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Parlament hat derzeit eine zwar wachsende, dennoch aber stützende Funktion im Rahmen der demokratischen Legitimation.43 Gewönne eine „Europäische“ Verfassung Verbindlichkeit auch gegenüber den Staatsorganen der Mitgliedstaaten, gerieten die Eigenständigkeit der Verfassungsstaaten, die Besonderheiten ihrer Verfassungen und die Leistungen ihrer Verfassungsgerichte in den Sog einer Europaverfassung und würden sich dort verlieren. Die Europäische Union kann jedoch gegenwärtig nicht auf die Vielfalt der europäischen Verfassungskultur verzichten, die im Nebeneinander von geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungen, von jahrhundertelanger Verfassungstradition und jungem Verfassungsaufbruch, von Organisationsverfassungen und materiellen Werteverfassungen, von gerichtsorientierten und appellativen Verfassungen eine europaweite Verfassungsstaatlichkeit fördert. Das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten gibt somit der Europäischen Union ein Ziel und umgrenzt den Rahmen ihrer Entwicklung. Dieses bestätigt der Lissabonner Vertrag: Nach Art. 1 EUV-Liss. gründen die Vertragsparteien eine Europäische Union, „der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen.“ Die Union leitet ihre Kompetenzen und Befugnisse von den Mitgliedstaaten ab. Sie gewinnt ihre Legitimität durch die Staaten, nicht – wie es der „Verfassungsvertrag“ vorsah – auch durch die Staatsvölker.44 Nach Art. 3 Abs. 6 EUV-Liss. sind auch Ziele und Mittel der Union durch die Zuständigkeiten begrenzt, „die ihr in den Verträgen übertragen sind“. Die Union hat keine Kompetenz-Kompetenz, es gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 1 EUV-Liss.). Die Ausübung der Zuständigkeiten der Union folgt den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV-Liss.). Das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit verstärkt diese Prinzipien: Die Parlamente der Mitgliedstaaten erhalten das Recht, rechtzeitig über alle Legislativvorschläge der Kommission unterrichtet zu werden. Diese Vorschläge sind mit Blick auf die Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu begründen. Die Parlamente können sich unmittelbar an die Organe der Union mit dem Hinweis wenden, der Vorschlag sei mit dem Subsidiaritätsprinzip nicht vereinbar. Dieses „Frühwarnsystem“ führt zu erneuten Überprüfungen, kann letztlich – im Zusammenwirken mit dem Europäischen Parlament und mit dem Rat – das Gesetzgebungsverfahren beenden. Außerdem bietet das Protokoll den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, beim Gerichtshof Klage gegen einen Gesetzgebungsakt wegen Missachtung des Subsidiaritätsprinzips zu erheben. Adressat der Klage ist allerdings ein Unionsorgan, der Europäische Gerichtshof. Ein Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes45 sieht ein Recht des Bundestages und des Bundesrates auf Erhebung der Subsidiaritätsklage und ein Minderheitenrecht eines Viertels der Mitglieder des Bundestages vor. Es 43 44
45
BVerfGE 89, 155 (186) – Maastricht. Die Denkschrift des Auswärtigen Amtes (Fn. 17), S. 5, spricht weiter von „der Doppelnatur der Europäischen Union als Bürger- und Staatenunion“; vgl. Art. 14 Abs. 2 und Abs. 1 EUVLiss. a.E. Entwurf v. 11.03.2008, BT-Drs. 16/8488.
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bleibt allerdings die Frage, inwieweit Kompetenzansprüche europäischer Organe durch europäische Organe in Schranken gewiesen werden. 3. Die Europäisierung des Verfassungsrechts Die Verfassungen der Mitgliedstaaten beanspruchen somit in ihren Bedingungen für eine Mitwirkung an der Europäischen Union Geltungs- und Anwendungsvorrang vor dem Europarecht, unterliegen andererseits in ihrer Offenheit für die europäische Integration auch einer Europäisierung. Wenn der verfassungsgebundene Rechtsanwendungsbefehl eines Parlaments oder einer Volksabstimmung die Geltung der Europäischen Verträge und des aufgrund dieser Verträge zustande gekommenen Sekundärrechts anordnen, gehen insbesondere Zuständigkeiten und Befugnisse von den mitgliedstaatlichen Parlamenten auf die europäischen Rechtsetzungsorgane, von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf Rat und Kommission über. Die Rechtsprechung ist auf Kooperation angelegt.46 Für das Verfassungsrecht sind die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten Letztinterpreten der Verfassung und damit der nationalen Maßstäbe für die Mitwirkung an der Europäischen Union. Der Europäische Gerichtshof ist Letztinterpret des Europarechts, deutet damit auch die Kompetenzen und Befugnisse der Unionsorgane zu Lasten der Verfassungsorgane. Institutionell richtet das Verfassungsrecht seine Willensbildung insbesondere im Zusammenwirken verschiedener Staatsorgane bei der Mitwirkung in Unionsorganen und beim Vollzug europäischer Rechtsakte auf Europarecht aus. Informations-, Mitwirkungsund Mitentscheidungsrechte, auch die Schaffung eigener Organe – in Deutschland des Europaausschusses des Bundestages und der Europakammer des Bundesrates – verändern die Entscheidungsstrukturen von Verfassungsorganen. Auch die Entwicklung des materiellen Verfassungsrechts ist durch das Europarecht wesentlich beeinflusst:47 Deutsche Grundrechte geraten in den Sog der Freiheits- und Gleichheitsrechte des Unionsbürgers. Die verfassungsmäßige Ordnung als Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit und des Persönlichkeitsrechts nimmt Europarecht tatbestandlich auf. Das Asylrecht und das Recht der Auslieferung gewinnen im Unionsgebiet einen neuen Bezugspunkt, die Gleichheitsrechte eine erweiterte Vergleichsperspektive. Die kommunale Wahlberechtigung von Unionsbürgern bestimmt die Verfassungsregeln für das Wahl- und das Kommunalrecht, geht andererseits auf einen verfassungsrechtlichen Anstoß zurück.48 Privatisierungen und die Neuordnung des Eisenbahnwesens haben einen europarechtlichen Ursprung. Das „Kooperationsverhältnis“ zwischen den Verfassungsgerichten und dem Europäischen Gerichtshof 49 prägen wechselseitig das Rechtsverständnis und die Rechtsinterpretation.50 46 47 48 49 50
BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht. Robbers (Fn. 12), S. 560 f. Vgl. Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG; vor dessen Einführung schon BVerfGE 83, 37 (59) – SchleswigHolsteinisches Gemeinde- und Kreiswahlgesetz. BVerfGE 89, 155 (175, 178) – Maastricht. BVerfGE 113, 273 (295) – Europäischer Haftbefehl.
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4. Ein „Mehrebenenmodell“? Die Europäische Union wird deshalb als Verbund von Staaten zutreffend erfasst: Eigenständige Staaten binden sich in der Union besonders eng, übertragen Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele auf die Union. Dieser Befund wird in dem geläufigen Begriff eines „Mehrebenensystems“51 nicht deutlich. Die Union ist das Europäische Haus, in dem die Mitgliedstaaten das Erdgeschoss bilden, insoweit die Europäische Union als Obergeschoss tragen, unter einem gemeinsamen Dach den Frieden, die Werte und das Wohlergehen der im Erdgeschoss lebenden Völker fördern. Verflüchtigt sich dieses Haus in einem abstrakten System mehrerer Ebenen, verwischen sich die Unterschiede zwischen Fundament und dem auf das Fundament aufgestützten zweiten Stockwerk. Scheinen die verschiedenen Etagen sogar austauschbar, verliert das Gesamtsystem letztlich sein Fundament. Außerdem klingt im Mehrebenenmodell eine Rangordnung an, die das europäische Recht dem mitgliedstaatlichen Recht überzuordnen scheint, auch den bundesstaatlichen Gedanken andeutet, das Recht der oberen Ebene breche das Recht der unteren Ebene.52 Die Wirklichkeit des Staatenverbundes ist eine andere. Die Mitgliedstaaten sind Herren der Verträge,53 bestimmen mit der Ratifikation die Entwicklung des Europarechts, können nunmehr nach ausdrücklicher54 Anordnung des Art. 50 Abs. 1 EUVLiss. aus der Union austreten. Ihr Europaverfassungsrecht genießt Geltungs- und Anwendungsvorrang vor dem Europarecht, das Europarecht nach dem mitgliedstaatlichen Anwendungsbefehl begrenzten Anwendungsvorrang vor dem mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, das Gebot von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit bei der Kompetenzwahrnehmung, die Garantie der jeweiligen nationalen Identität und insbesondere die Zuweisung von Kompetenzen und Legitimation durch die Mitgliedstaaten an die Union begründen einen Verbund, in dem die Mitgliedstaaten sich selber binden. Die Verfassung, die den Staat begründet, verfasst und bindet, darf nicht durch eine „Konstitutionalisierung“ zu einer prozessbegleitenden Entwicklungsordnung55 werden, die Idee einer europäischen Wertegemeinschaft56 nicht den staatlichen Ursprung dieser Werte überdecken. Europa hat bis ins 16. Jahrhundert in der Einheit und Universalität des Christlichen gelebt, seitdem in Staaten und Menschenrechten die Struktur des Politischen in Europa entwickelt, jetzt die Hoffnung auf eine inhaltlich über Europa hinausgreifende Wertegemeinschaft begründet. Diese
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52 53 54 55 56
T. Groß, Die Verwaltungsorganisation als Teil organisierter Staatlichkeit, in: W. HoffmannRiem u.a. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 13, Rn. 35 f.; H. Wißmann, Verfassungsrechtliche Vorgaben der Verwaltungsorganisation, in: ebd., § 15, Rn. 2, 19 f. Robbers (Fn. 12), S. 563 f. Auswärtiges Amt (Fn. 17), S. 5; so schon BVerfGE 89, 155 (190) – Maastricht. Ebenso schon BVerfGE 89, 155 (190) – Maastricht. So der Begriff bei Robbers (Fn. 12). Europäisches Parlament (Fn. 1), S. 22.
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beglückende Entwicklung darf nicht durch eine Entstaatlichung der Mitgliedstaaten grundlegend in Frage gestellt werden. Sie würde die einheitsbildenden Errungenschaften Europas – die Staaten und die Menschenrechte –, damit das Fundament der Europäischen Union gefährden.
III. Der Staat 1.
Staatlichkeit und Europaoffenheit
Der Verfassungsstaat ist die Organisationsform, in der die Bürger und ihre Repräsentanten politisch handeln und eine Rechtsordnung begründen. Der Staat schafft mit dem Instrument des Rechts gemeinschaftliche Lebensbedingungen, die dem Einzelnen Frieden und Sicherheit bieten, ökonomische, kulturelle und rechtliche Existenzgrundlagen sichern, individuelle Zugehörigkeit als Berechtigter vermitteln und demokratische Mitwirkung gestatten, Arbeitsteilung organisieren und eine stetige Rechts- und Lebenskultur in der Generationenfolge begründen. Der Mensch entfaltet heute seine Persönlichkeit, seine Sprache, seine Begegnungs- und Gemeinschaftsfähigkeit, seine Freiheitskultur und demokratische Mitgestaltung, sein Arbeitsleben und seine Zukunftsvorsorge in der Zugehörigkeit zu einem Staat. Die Staatsverfassung, die dem Staat die Macht der hoheitlichen Aufgabe, Organisation und Handlungsmittel zuschreibt, diese Macht dann aber auch rechtlich begrenzt, baut auf den demokratischen Zusammenhalt des Staatsvolkes: Ein sich seiner Zusammengehörigkeit bewusst gewordenes, zum Setzen und Durchsetzen von Recht fähiges Staatsvolk organisiert sich in einem bestimmten Gebiet zu einem Herrschaftsverband und schafft sich entscheidungsfähige Organe mit wirksamen Handlungsmitteln. In dieser konkreten Verfasstheit formt der Verfassungsstaat die universalen Menschenrechte57 und die allgemeinen Staatsorganisationsprinzipien zu einer den Bedürfnissen der jeweiligen Rechtsgemeinschaft genügenden, historisch gewachsenen Ordnung: Die sozialstaatliche Existenzsicherung gewährt in einem Staat eine Hand voll Reis, in einem anderen auch moderne Mobilität und Medienteilhabe. Die Friedensgarantie baut in einem Staat im Wesentlichen auf militärische Verteidigungskraft, in einem anderen auf einem System völkerrechtlicher Verständigung. Die Eigentümer- und Berufsfreiheit ereignet sich in einem Staat in der Landwirtschaft, im anderen auf der Grundlage einer hochentwickelten Industrialisierung, Ausbildung und eines weltweiten Wirtschaftens. Jeder Staat beansprucht Staatshoheit, die oberste und letzte Gewalt, um Recht und Frieden nach innen zu gewährleisten, die Unabhängigkeit von anderen Staaten zu wahren und die staatliche Gemeinschaft gegenüber Dritten zu repräsentieren. 57
O. Höffe, Universalistische Ethik und Urteilskraft, in: L. Honnefelder (Hrsg.), Sittliche Lebensform und praktische Vernunft, 1992, S. 59 (61); O. Marquard, Apologie des Zufälligen, 1986, S. 131; K. Stern, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2000, § 108, Rn. 48; H. Quaritsch, in: ebd., § 120, Rn. 27 ff.; P. Kirchhof, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 1997, § 221, Rn. 61.
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Die Staatshoheit sichert den Zusammenhalt des Staates, wenn Gruppen innerhalb des Staates seine Einheit gefährden oder die Autorität des Rechts und damit den inneren Frieden schwächen. Nach außen beansprucht der Staat die Souveränität, gegenüber anderen Staaten mit der allein maßgeblichen Stimme für das Staatsvolk zu sprechen, über das eigene Gebiet zu bestimmen, über die Rechtsbeziehungen zu anderen Staaten zu entscheiden. Diese Staatsaufgaben übersteigen allerdings von jeher die Leistungsfähigkeit eines einzelnen Staates. Universale Menschenrechte wurzeln in einer staatenübergreifenden Wertegemeinschaft und drängen auf internationale Gewährleistungsund Kontrollsysteme. Der Weltfrieden ist nur in einem weltweiten System kollektiver Sicherheit zu gewährleisten. Global tätige Wirtschaftsunternehmen haben die Grenzen einer „Volks“-Wirtschaft und einer „National“-Ökonomie längst überschritten. Der Umweltschutz fordert gemeinsame, generationenübergreifende Vorkehrungen aller Staaten. Informations- und Nachrichtensysteme nehmen Landesgrenzen nicht zur Kenntnis. Wanderungsbewegungen von Emigranten und Flüchtlingen erfassen mehrere Kontinente. Wissenschaft und Technik pflegen seit Jahrhunderten die Zusammenarbeit in aller Welt. Die Medien, der Sport und das Reisen finden nur noch im staatenübergreifenden Recht ausreichende Maßstäbe. Die Staaten sind deshalb auf die Zusammenarbeit in übergreifenden Organisationen angelegt. 2. Das in Freiheit vorgefundene Staatsvolk Der demokratische Rechtsstaat baut auf ein Staatsvolk, das sich in Freiheit zusammengefunden hat, um in seinem Zusammenhalt einen Staat zu bilden, dem es sich zugehörig fühlt. Der Ausgangstatbestand der Demokratie, das Staatsvolk, ist vorgegeben, ist Ergebnis freiheitlicher Kultur- und Gemeinschaftsbildung, nicht obrigkeitlicher Organisation oder gesetzlicher Anordnung. Dieses Freiheitsprinzip ist eine Grundlage für das Entstehen demokratischer Staaten und die Definition der Staatsangehörigkeit. Seit Ende des 15. Jahrhunderts entwickelt sich ein Staatsverständnis, das in dem Begriff der Nation, später – seit Ende des 18. Jahrhundert – im Begriff des Volkes einen Mittelpunkt findet. Nation und Volk bezeichnen Menschen, die in kultureller, sprachlicher und politischer Gemeinschaft leben.58 Seit der Frühromantik bezeichnen die Begriffe Nation und Volk eine Gemeinschaft von Menschen, die in ihrem Zusammenwirken eine einheitliche Kultur hervorbringen oder bereits hervorgebracht haben (Kulturgemeinschaft);59 sodann Menschen, die durch gemeinschaftliches politisches Handeln eine Einheit bilden und in einem selbständigen Gemeinwesen zusammenleben (politische Gemeinschaft); die Gesamtheit der Menschen, die eine gemeinsame Sprache als Spiegel einer gemeinschaftlichen Denkart und 58 59
J. A. Bär, Sprachreflexion der deutschen Frühromantik, 1999, S. 444. Vgl. A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, Teil II, in: E. Behler, Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. I, 1989, S. 533.
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Weltanschauung sprechen (Sprachgemeinschaft);60 eine Gruppe von Menschen, die in derselben Gegend leben und dank der geographischen, insbesondere der klimatischen Verhältnisse ähnliche physiologische, charakterliche, intellektuelle Eigenschaften und Fähigkeiten aufweisen (geographische Gemeinschaft), sowie die Gruppe von Menschen, die untereinander durch Abstammung verwandt sind (Abstammungsgemeinschaft). Stets bilden Volk und Nation eine historisch gewachsene Gemeinschaft, die ihren Zusammenhalt in gemeinsamen Anliegen, in wechselseitigem Handeln, in übereinstimmenden Werten und Erfahrungen findet.61 Ungeachtet mancher romantischen Ausprägung62 und späterer Fehldeutungen dieser Gedanken bleibt ein aktueller Kern dieser Entwicklung auch heute bestimmend:63 Die kulturelle Nation und ebenso die allein vom Willen zum gemeinsamen Staat zusammengehaltene Willensnation bauen auf die freiheitlich vorgefundene Gemeinschaft eines Staatsvolkes, die einen Willen zur Staatlichkeit entfaltet. Insoweit kann eine europäische Integration nur bei diesen Voraussetzungen ansetzen. Auch bei einer Willensnation, die im Wesentlichen von dem gemeinsamen Willen zu einer gemeinsamen Politik getragen wird, bleibt das Erfordernis von freiwilliger Zugehörigkeit und innerem Zusammenhalt Bedingung der Demokratie. Auch heute wird der Staat durch das Staatsvolk, die Staatsangehörigen bestimmt. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich anerkannt, dass in der Demokratie des Grundgesetzes die Staatsgewalt von der vorgefundenen, durch kulturelle und politische Gemeinsamkeiten geprägten Gemeinschaft der Staatsangehörigen, der Deutschen, legitimiert wird. Das deutsche Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), ist die Legitimations- und Verantwortungsgemeinschaft für den deutschen Staat.64 Die Staatsangehörigen sind für diesen Legitimationsvorgang und die Mitbeteiligung an der staatlichen Willensbildung von den im Staat lebenden übrigen Menschenrechtsberechtigten zu unterscheiden, die zwar als Grundrechtsberechtigte diesem Staat in einem gesicherten Willkommen und in einem Entfaltungsmöglichkeiten garantierenden Status zugehören, ihm aber nicht als legitimierter, demokratisch mitentscheidender Bürger angehören. Diesen Ausgangsbefund der Demokratie verkennt der Lissabonner EUV, wenn er das Europäische Parlament „aus Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ zusammen gesetzt sieht, also vertraglich einen Wechsel des demokratischen Subjekts anzuordnen scheint.
60 61 62 63 64
Ebd., S. 336. Bär (Fn. 58), S. 444 ff. Vgl. Schlegel (Fn. 59), S. 533. E.-W. Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 34. BVerfGE 83, 37 – Schleswig-Holsteinisches Gemeinde- und Kreiswahlgesetz; BVerfGE 83, 60 – Hamburgische Bezirksversammlungen.
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3. Souveränität Die Mitgliedschaft eines Staates im Staatenverbund der Europäischen Union betrifft seine Souveränität,65 die als absolute und dauernde Gewalt und Letztverantwortung des Staates gedacht wird.66 Diese Souveränität ist jedoch stets dreifach begrenzt und gebunden gewesen.67 Die höchste und dauernde Staatsgewalt begründet keine beliebige Herrschaft, sondern ist eine Gewalt zur Wahrung von Recht und Frieden. Souveränität wehrt zwar den Einfluss anderer Staaten auf den eigenen Staat ab, entbindet aber nicht von der Verpflichtung durch die für alle Staaten geltende Völkerrechtsordnung68 und im modernen Verfassungsstaat durch das nationale Verfassungsrecht. Traditionell hatte der Souverän göttliches Recht und Naturrecht zu beachten, später die herkömmlichen Grundsätze der Monarchie, die leges imperii,69 fand im Staatsfundamentalzweck der Sicherheit Legitimation und Schranke,70 wurde nach der Lehre vom Gesellschaftsvertrag zum Partner dieses Vertrages und seiner Bindungen,71 gab schließlich die Souveränität an das Staatsvolk ab, das in dem von ihm legitimierten Staat konkrete Rechtfertigungsgründe und Verantwortlichkeiten schuf.72 Diese Souveränität zielt auf gerechte Herrschaft, die sich in der Beachtung des Rechts bewährt – des Gottgegebenen, des natürlich Vorgefundenen, des in Staatszwecken Legitimierten, des durch gesellschaftsvertragliche Bindung auch des Staates Vereinbarten, des in Grenzen der Verfassung der demokratischen Mehrheitsentscheidung Überantworteten.73 Souveränität ist Ausdruck der Einheit und des Zusammenhalts: Wenn die Gesellschaft durch Religionskriege auseinander zu brechen droht, der Gegensatz zwischen Adel, Ständen 65
66 67
68 69 70 71 72 73
Zur Relativierung der Souveränität vgl. S. Oeter, Souveränität – ein überholtes Konzept?, in: FS Steinberger, 2002, S. 259 (285); A. Bleckmann, Das Souveränitätsprinzip im Völkerrecht, Archiv des Völkerrechts 23 (1985), S. 450 (466); U. Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 361 f.; in der Darstellung der historischen Entwicklung: ebd., S. 23; E. Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, JZ 2000, S. 1121 (1126); dagegen: T. Schmitz, Integration in der supranationalen Union, 2001, S. 198, 237 ff. Vgl. J. Bodin, Les six livres de la République (1583); Neudruck: Über die Souveränität, in: P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Sechs Bücher über den Staat, Buch I, 1981, Kap. 8, S. 205. Vgl. dazu D. Grimm, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR I, 2003, § 1, Rn. 12 f.; J. Isensee, Staat und Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 2004, § 15, Rn. 13 f.; A. Randelzhofer, in: ebd., § 17, Rn. 23; vgl. auch C. Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S. 48 f.; Stern (Fn. 57), § 108, Rn. 21 ff.; Oeter (Fn. 65), S. 285; Schliesky (Fn. 65), S. 386 f.; Schmitz (Fn. 65); U. Di Fabio, Verfassungsstaat und Weltgesellschaft, in: R. Mellinghoff u.a. (Hrsg.), Die Erneuerung des Verfassungsstaates, 2003, S. 57 (64 f.). R. v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. I, 1860, S. 529 ff.; K. Doehring, Völkerrecht, 1999, § 124. H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 1995, S. 66 f. U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 18 f. S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 46. Di Fabio (Fn. 70), S. 18. Vgl. Schulze (Fn. 59), S. 66 ff.
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und Bauern unüberbrückbar zu werden scheint, die Mächtigkeit von Industriekapital, Arbeitnehmerorganisation oder Militär die Oberhand zu gewinnen sucht, so wahrt der Staat den inneren Zusammenhalt, indem er bestimmte Streitfragen – der Religion, der Ständelegitimation oder der Wirtschaftsverfassung – offen hält und damit die Friedlichkeit im Staat trotz des Streites sichert. Die Offenheit des Souveräns für überstaatliche Einflüsse zeigt sich insbesondere in der jahrhundertelangen Mitgestaltungskompetenz der Katholischen Kirche gegenüber Herrschaftsverbänden und Bürgern, in einer durch das Römische Recht begründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, im Zusammenwirken einzelner politischer Territorien wie der Hansestädte, in Familienverbänden europäischen Adels mit Herrschaftswirkung für verschiedene politische Gemeinschaften, in der Entwicklung des modernen Völkerrechts und der universalen Menschenrechte. Zweitens ist souveräne Staatsgewalt territorial begrenzt, also auf Zusammenarbeit mit anderen, gleich souveränen Staaten angelegt und angewiesen. Souveränität ist damit Vertragsfähigkeit und Verständigungsbereitschaft in der Völkergemeinschaft, anerkennt Rechtsbindungen in dieser Gemeinschaft und sucht gegenwärtig die Staaten insbesondere auf universale Menschenrechte und eine dem Staatsvolk vorbehaltene „verfassunggebende Gewalt“ zu verpflichten. Drittens baut der souveräne Staat auf Arbeitsteilung, belässt wesentliche Lebensbereiche in der Hand der Gesellschaft der Freiheitsberechtigten. Das moderne Staatsverständnis unterscheidet zwischen freiheitsverpflichtetem Staat und freiheitsberechtigter Gesellschaft, muss heute entsprechend den tatsächlichen Machtverhältnissen ein Dreieck von Staat, Wirtschaft und Kulturgesellschaft organisieren, gibt jedenfalls wesentliche gemeinschaftserhebliche Funktionen von Güterversorgung und Arbeitswelt, Kulturgesellschaft und Religion, Familie und Elternverantwortlichkeit, Meinungsvielfalt und Medien in nichtstaatliche Hand, meint also eine Souveränität mit begrenztem Aufgabenfeld. Die Mitgliedschaft im europäischen Staatenverbund belässt dem Mitgliedstaat seine Souveränität im Sinne der Letztverantwortung auch für die in seinem Gebiet ausgeübte Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaft und seine aktuelle Verantwortung gegenüber seinem Staatsvolk. Die Souveränitätsfrage bleibt nicht offen:74 Die demokratische Verantwortlichkeit gegenüber einem Verantwortlichkeitsadressaten verstärkt die Souveränität, die europäische Integration bindet sie im Dienste von Friedensprinzip, Binnenmarkt, Staatenkooperation und konkreter Menschenrechtspolitik in Form der Unionsbürgerrechte. Der demokratische Staat hält die innere und äußere Souveränität zusammen und verantwortet ihre Wahrnehmung auch in der Europäischen Union vor dem Staatsvolk. Der Staatenverbund ist markanter Ausdruck dafür, dass souveräne Staaten wegen ihres begrenzten Hoheitsbereiches auf Zusammenarbeit angelegt sind, dass diese Zusammenarbeit in intensiver Verbundenheit stattfindet. Ausgangs- und Zielpunkt dieses Verbundes bleiben die Staa-
74
Nach C. Schmitt, Verfassungslehre, 4. Aufl. 1954, S. 371, 373 gehört es zum Wesen des Bundes, dass diese Frage offen bleibt.
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ten, die demokratischen Handlungsformen des Staatsvolkes und der einzelne Mensch in seiner Würde und Freiheit. Die Union beruht auf den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit, hat also dieses dem Staatsrecht geläufige Fundament unmittelbarer und täglich greifbarer Verantwortlichkeit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu bewahren, muss deshalb allen Risiken unklarer Verantwortlichkeiten, beweglicher Kompetenz- und Befugnisgrenzen, einer vermeidbaren Entparlamentarisierung von Gesetzgebung und Budgethoheit in der notwendigerweise gouvernemental handelnden Union entgegentreten. 4. Neue Aufgaben für den Staat Im Ergebnis steht der Verfassungsstaat gegenwärtig vor einer besonderen Bewährungsprobe. Seine Aufgabe, eine friedenswahrende politische Ordnung zu schaffen und zu erhalten, die Menschenrechte zu gewährleisten und zu entfalten und in der offener gewordenen Welt dem einzelnen Menschen einen kulturellen, rechtlichen und politischen Ausgangs- und Zielpunkt von unverbrüchlicher Verlässlichkeit zu bieten, sind aktueller denn je. Allerdings ist die Stoßrichtung der Bewährung eine andere: Während der Staat jahrhundertelang Auftrag, Organisation und Identität in Auseinandersetzung mit Religion und Kirche gefunden hat, der säkularisierte Staat seine Verfasstheit vor allem darin fand, dass er sich als religionsneutraler Staat versteht, den Religionen durch die Gewährleistung religiöser Freiheit Raum zur eigenen Entfaltung bietet und der Religion den Zugriff auf staatliche Institutionen und Ämter verwehrt,75 muss sich der Staat heute vor allem gegenüber der überragenden Macht der international wirkenden Unternehmen und Fonds76 behaupten. Das Problem heutiger Gesellschaft und Politik ist nicht der Staat, sondern das Kapital,77 das kaum eine Kultur des Maßes pflegt. Wenn die weltweit handelnden Kapitalgesellschaften bestimmen, was wir essen, wie wir uns kleiden und bewegen, welche Informationen wir erhalten und welche Freizeitbedürfnisse wir entwickeln, sie diese Bestimmungsmacht aber im fast ausschließlichen Ziel der Gewinnmaximierung – eines Prinzips der Maßlosigkeit – ausüben, so muss der Verfassungsstaat dem seine Kultur des Maßes entgegenstellen. Wenn die Kapitalgesellschaften dabei in einer Anonymität wechselnder Kapitalgeber organisiert sind, die dem grundrechtlichen Typus der freien Vereinigung kaum noch entsprechen78 und die eine wirksame Kontrolle der Eigentümer gegenüber dem Vorstand und Management der Gesellschaft kaum noch erlauben, so muss der grundrechtsgewährende Staat den Zusammenhang zwischen Freiheitswahrnehmung und deren Verantwortung neu herstellen.
75 76 77 78
E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 2007, S. 14; ders., Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ebd., S. 43. R. Voigt, Den Staat denken, 2007, S. 252. J.-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, 1985, S. 80. BVerfGE 50, 290 (358 f.) – Mitbestimmungsgesetz.
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Wenn der moderne Mensch seinen Ertrag oft weniger durch Arbeit und mehr aus Geldfonds erzielt, bei denen ein Fondsmanager die Rendite vermittelt, ohne dass der Anleger überhaupt nur wüsste oder verantwortete, ob seine Kapitalmacht zur Produktion von Weizen oder von Waffen eingesetzt wird, so hat der demokratische Rechtsstaat auf neue Formen der Transparenz und Information zu drängen, damit der handelnde Eigentümer wieder ein wissender, also verantwortender Anleger wird. Ein abstraktes, oft fast fiktives Finanzwesen ist jedenfalls in Haftungstatbeständen in die Realwirtschaft zurückzuführen. Wenn die fast menschenlose Fabrik Güter nur noch durch Roboter und Computer produziert, dann aber der Finanzier dieser Fabrik den gesamten Gewinn aus der Fabrikation für sich beansprucht, Menschen also dank Arbeit hier keinen Ertrag erzielen können, hat der Staat erneuerte Instrumente einer betrieblichen Beteiligung, genossenschaftsähnlicher Organisationsstrukturen oder auch steuerrechtlicher Gemeinschaftsteilhabe zu entwickeln, um die Allgemeinheit des Rechts, die Gleichheit der Chancen und die Nachfrage am Markt zu gewährleisten. Die Macht des Rechts darf nicht der Macht des Geldes, die Hoheitsgewalt des Staates nicht der Verführungskraft des Marktes, die Kultur des Maßes nicht einer Maßlosigkeit der Gewinnmaximierung weichen. Und der Staat steht insbesondere vor der Aufgabe, das Recht aus unterschiedlichen Quellen als einheitliche Ordnung in der jeweiligen Sprache dem Menschen zu vermitteln.
IV. Der Staat im Verbund 1.
Entwicklung eines gemeinsamen Verfassungsrechts im Umfeld des Maastrichter Vertrages
Der Maastrichter Vertrag über die Europäische Union vom 18.12.199279 hat Verfassungsänderungen und Entscheidungen in den Mitgliedstaaten veranlasst, wodurch sich Ansätze zu einem gemeinsamen Verfassungsverständnis über den europäischen Staatenverbund80 zu entwickeln begannen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in seiner Maastricht-Entscheidung vom 12.10.199381 geprüft, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe, insbesondere die Einführung des Euro, sich in den Grenzen der verfassungsrechtlich zulässigen Integration und der ihnen vertraglich eingeräumten Hoheitsbefugnisse halten oder aus ihnen ausbrechen. Ein ausbrechender europäischer Rechtsakt sei im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die Beschwerdeführer hatten geltend gemacht, ihr Recht auf demokratische Mitwirkung an der Staatsgewalt und deren Ausübung werde verletzt, wenn der deutsche Gesetzgeber dem Maastricht-Vertrag zustimme und diesen Vertrag durch eine Verfassungsänderung ermögliche,82 damit aber so viele Aufgaben 79 80 81 82
BGBl. 1992 II, S. 1251. BVerfGE 89, 155 (184 f.) – Maastricht; vgl. bereits P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 37), § 183, Rn. 50 ff. (insb. Rn. 54). BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 21.12.1992, BGBl. 1992 I, S. 2086.
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und Befugnisse des Deutschen Bundestages auf Organe der Europäischen Gemeinschaft verlagere, dass der unantastbare Bereich des Demokratieprinzips verletzt werde. Im Ergebnis weist das Gericht zwar die Verfassungsbeschwerden zurück, hebt auch hervor, dass die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union dem Demokratieprinzip entspreche, fordert aber eine ausreichende, vom Staatsvolk ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb des Staatenverbundes und ein Verbleiben von staatlichen „Aufgaben und Befugnissen von substantiellem Gewicht“ beim Deutschen Bundestag. Sodann rückt das Gericht das – verfassungsgebundene – Zustimmungsgesetz als Rechtsgrundlage und Maßstab für die Mitwirkung Deutschlands an der europäischen Integration in den Mittelpunkt: „Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden.“83 Das schwedische Parlament (Riksdagen) hat in der Begründung zum Regierungsentwurf zur Änderung des schwedischen Verfassungsrechts aufgrund des schwedischen Beitritts84 ebenso wie der schwedische Verfassungsausschuss in seinem Gutachten zu dieser Verfassungsänderung85 ausdrücklich auf das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts Bezug genommen, dieses in den zentralen Aussagen zum Verbleib wesentlicher Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht beim mitgliedstaatlichen Parlament und der Unverbindlichkeit des ausbrechenden Rechtsaktes wörtlich – auch in deutscher Sprache – zitiert. Der dänische oberste Gerichtshof (Højesteret)86 hatte bei der Prüfung, ob das dänische Gesetz über den Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften vom 11.10.197287 mit der Verfassung vereinbar sei, die dänischen Gerichte verpflichtet, Rechtsakte der EG für in Dänemark nicht anwendbar zu erklären, wenn mit der erforderlichen Sicherheit gesagt werden könne, ein Gemeinschaftsrechtsakt, der vom EuGH für rechtmäßig erklärt wurde, beruhe auf einer Anwendung des Vertrages,
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BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht; in den praktischen Folgerungen allerdings eher zurückhaltend E 102, 147 (160 ff.) – Bananenmarktordnung; E 118, 79 (94 ff.) – TreibhausgasEmissionsberechtigungen. Regeringens Proposition 1993/94:114 Grundlagsändringar inför ett svenskt medlemskap i Europeiska unionen – Protokoll B, S. 18 f., unter: www.riksdagen.se/webbnav/index. aspx?nid=37&dok_id=GH03114 (10.11.2008). Konstitutionsutskottets Betänkande 1993/94:KU21, Grundlagsändringar inför ett svenskt medlemskap i Europeiska unionen (Bericht des Verfassungsausschusses des schwedischen Parlaments), S. 10 f., unter http://www.riksdagen.se/Webbnav/index.aspx?nid=37&dok_id= GH01KU21 (16.12.2008). Højesteret, Rs. Nr. I 361/1997, Urteil v. 6.04.1998, Hanne Norup Carlsen u.a., dt. in EuGRZ 1999, S. 49. Gesetz Nr. 447 v. 11.10.1972.
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die jenseits der Übertragung von Souveränitätsrechten durch das Beitrittsgesetz liegt.88 Die italienische Corte Costituzionale anerkennt, dass die italienische Verfassung eine Übertragung von Souveränität gestatte, diese aber wiederum auf Gegenschranken treffe, weil nur die Beschränkung, nicht die Aufgabe der Souveränität verfassungsrechtlich zulässig sei.89 Das Gemeinschaftsrecht habe Vorrang auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht nur insoweit, als nicht fundamentale Verfassungsprinzipien oder unveräußerliche Menschenrechte berührt seien.90 Die Corte Costituzionale beansprucht die Letztentscheidungskompetenz des Verfassungsgerichts auch über Gemeinschaftsrechtsakte, prüft deren Vereinbarkeit mit elementarem Verfassungsrecht und leistet eine verfassungskonforme, insoweit eigenständige Auslegung des Gemeinschaftsrechts.91 Der französische Conseil d’Etat beansprucht eine Letztentscheidungskompetenz über Gemeinschaftsrechtsakte, stützt diese aber wegen seiner besonderen Aufgaben und Entscheidungsmaßstäbe nicht auf eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Schranke, legt vielmehr das Gemeinschaftsrecht eigenständig nach Kriterien der Evidenz und Offenkundigkeit aus.92 Der spanische Tribunal Constitucional 93 nimmt für sich die „Rolle eines letzten Hüters der verfassungsrechtlichen Grundwerte und Prinzipien gegenüber dem Gemeinschaftsrecht“94 in Anspruch. Er hat auch nach der Ratifizierung das Recht, bereits geschlossene Verträge am Maßstab der Verfassung zu überprüfen.95 Ebenso 88
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Højesteret, Rs. Nr. I 361/1997 (Fn. 86), S. 52; hierzu F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 213 ff.; W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 171 f.; I. Pernice, Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, 2006, S. 37, jeweils m.w.N.; vgl. auch Ring/Olsen-Ring (Fn. 33), S. 591 (dort jeweils zu Unterschieden in der Singularität dieses Falles und zum Zusammenwirken von Verfassungsgericht und EuGH). Mayer (Fn. 88), S. 171. Corte Costituzionale, Entscheidung Nr. 170/84, Spa Granital c. Ministro delle Finanze v. 5.06.1994, dt. in EuGRZ 1985, S. 98, insb. S. 100; Entscheidung Nr. 232/89 – Fragd v. Amministrazione delle Finanze dello Stato, Passagen in engl. in: A. Oppenheimer (Hrsg.), The Relationship Between European Community Law and National Law, Bd. I, 1994, S. 653 ff., insb. S. 657; vgl. Schroeder (Fn. 88), S. 183. Corte Costituzionale, Entscheidung Nr. 183/73 Frontini e altro c. Ministro delle Finanze v. 27.12.1973, dt. in EuGRZ 1975, S. 311 (insb. S. 315); Mayer (Fn. 88), S. 175. Vgl. hierzu die erste derartige Entscheidung des Conseil d’Etat, Ass. 22.12.1978, Ministre de L’Intérieur c. Sieur Cohn-Bendit v. 22.12.1978, dt. in EuGRZ 1979, S. 252; eingehende Analyse bei Mayer (Fn. 88), S. 151 ff.; vgl. auch zurückhaltender Conseil Constitutionnel, Entscheidung 2004-496 DC v. 10.06.2004, dt. in EuR 2004, S. 921, erkennt den Vorrang von Gemeinschaftsrecht an, betont aber die Möglichkeit einer Einschränkung im Falle einer ausdrücklich gegenteiligen Bestimmung der Verfassung (S. 922), hierzu Pernice (Fn. 88), S. 38 f. Tribunal Constitutional, Erklärung 108/1992 v. 1.07.1992, dt. in EuGRZ 1993, S. 285. J. Barnes/D. Sarmiento, Landesbericht Spanien, in: W. Kluth (Hrsg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, 2007, S. 225 (241). Tribunal Constitucional, EuGRZ 1993, S. 285 (286); Mayer (Fn. 88), S. 226 f.; Schroeder (Fn. 88), S. 191 f.; Barnes/Sarmiento (Fn. 94).
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betonte er in einer neueren Erklärung die Vorherrschaft der Verfassung bei Widerspruch zwischen grundlegenden Prinzipien und den Grundrechten der Spanischen Verfassung und dem Vertrag über eine Verfassung für Europa.96 Auch der polnische Verfassungsgerichtshof lehnt in seinem Urteil vom 11. Mai 200597 einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts bei Widerspruch zwischen einer Norm des Gemeinschaftsrechts und einer polnischen Verfassungsnorm ab.98 In dieser Frage stimmt der polnische Verfassungsgerichtshof ausdrücklich dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts sowie dem Urteil des Obersten Gerichts des Königreichs Dänemarks im Grundsatz zu.99 Bei einem derartigen Widerspruch bliebe Polen nur der Weg der Verfassungsänderung, das Hinwirken auf eine Gemeinschaftsrechtsänderung oder der Austritt aus der Europäischen Union.100 In Belgien,101 Portugal,102 Griechenland103 und wohl auch in Irland104 wäre ein Prinzip denkbar und nach vorhandener Rechtsprechungstradition folgerichtig, das die mitgliedstaatliche Verfassung als Maßstab auch gegenüber dem europäischen Primärrecht anwendet und daraus Rechtsprechungsaufgaben ableitet.105 Bis heute festigt sich somit eine Entwicklung, nach der das jeweilige mitgliedstaatliche Europaverfassungsrecht Vorrang vor dem europäischen Vertragsrecht beansprucht, mitgliedstaatliche Gerichte deswegen zur Nichtanwendung oder zumindest zu einer Auslegung von Europarecht verpflichtet sein können, die von derjenigen des EuGH abweicht.
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Tribunal Constitucional, Erklärung 1/2004 v. 13.12.2004, dt. in EuR 2005, S. 339, insb. S. 347; hierzu Pernice (Fn. 88), S. 39 ff. Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urteil v. 11.05.2005, K18/04, dt. in EuR 2006, S. 236. Ebd., S. 238. Ebd., S. 239. Ebd.; siehe Pernice (Fn. 88), S. 41 ff.; B. Banaszkiewicz, Landesbericht Polen: Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, in: Kluth (Fn. 94), S. 199; zur notwendigen Verfassungsänderung wegen des Europäischen Haftbefehls vgl. Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urteil v. 27.04.2005, P1/05, dt. in EuR 2005, S. 494; dazu Pernice (Fn. 88), S. 42. Cour d’arbitrage, Entscheidung 12/94 v. 3.02.1994, Ecole européenne, Passagen in engl. in: A. Oppenheimer (Fn. 90), Bd. II, 2003, S. 155 ff.; hierzu Mayer (Fn. 88), S. 176 ff.; Schroeder (Fn. 88), S. 170 f. Aus der portugiesischen Lehre: M. Ramos, Portugal, in: P. M. Eisemann (Hrsg.), L’intégration du Droit international et communautaire dans l’ordre juridique national, 1996, S. 487; J. Miranda, La constitution portugaise et le traité de Maastricht, Revue franaise de droit constitutionnel 1992, S. 679 (681); zitiert nach Mayer (Fn. 88), S. 235, Fn. 857; F. de Quadros, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht in Portugal, in: U. Battis u.a. (Hrsg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, 1995, S. 375 (381 f.); Mayer (Fn. 88), S. 231 ff.; Schroeder (Fn. 88), S. 189. Vgl. Staatsrat Nr. 3458/1998 v. 25.09.1998, Passagen in engl. in: Oppenheimer (Fn. 101), S. 200; Mayer (Fn. 88), S. 216 ff.; Schroeder (Fn. 88), S. 176 f. Supreme Court, Society for Protection of Unborn Children (Irland) Ltd. v Grogan v. 19.12.1989, Irish Reports 1989, S. 753; Mayer (Fn. 88), S. 206 f.; Schroeder (Fn. 88), S. 180 f. Mayer (Fn. 88), S. 270 f.
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Diese Verfassungskultur ist gerade in der Gegenwart unverzichtbar. Sie fördert die Integration in einem von den Mitgliedstaaten entwickelten Verfassungsmaßstab, stärkt die Verfasstheit der Mitgliedstaaten in ihrer Europaoffenheit und damit auch mittelbar die Verfasstheit der Europäischen Union in ihrer Verantwortlichkeit für elementare Verfassungsprinzipien, begründet eine Art Gewaltenbalance insbesondere zwischen den Verfassungsgerichten und dem EuGH, führt damit auch die europäische Rechtsprechung in eine Kultur des Maßes. Bis heute106 scheint sich in der Europäischen Union ein verallgemeinerungsfähiges Grundprinzip zu entwickeln, wonach die mitgliedstaatlichen Verfassungen eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit und politische Integration in einen Verbund demokratischer Rechtsstaaten fördern,107 dabei aber einen schonenden Weg suchen, um den Zusammenhalt der Europäischen Union und zugleich die nationale Identität und Staatlichkeit in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum zu wahren.108 2. Die Supranationalität Die in der Chiffre der Überstaatlichkeit („Supranationalität“) angedeutete Besonderheit dieser Gemeinschaft liegt in ihrer erheblichen, aber begrenzten Fülle von Eigenzuständigkeiten, in der fortschreitend stärker werdenden Gemeinschaftsgewalt und einer unmittelbaren Verbindlichkeit von Gemeinschaftsakten in den Mitgliedstaaten.109 Das politische und rechtliche Gewicht der Union zeigt sich in der Breite ihrer Aufgabenbereiche, in ihrer Verpflichtung auf gemeinsame politische Grundwerte (politische Union), der autonomen und intensiven Rechtsetzungsgewalt mit einer Befugnis zur Setzung von unmittelbar in den Mitgliedstaaten verbindlichem Recht, in der Selbständigkeit der Gemeinschaftsorgane, die einen europäischen Gemeinwillen bilden können, in der finanziellen – wenn auch an die Mitgliedstaaten angelehnten – Eigenständigkeit der Gemeinschaft, im umfänglichen und effektiven Rechtschutz und in einer dauerhaften, aber unvollendeten Union.110 In dieser Struktur der Union sind staatsähnliche Merkmale erkennbar, ohne dass diese Gemeinschaft aber ein Staat wäre oder auch nur die Vorstufe eines Staates erklommen hätte. Der Union fehlen die wesentlichen Eigenschaften111 eines Staates moderner Prägung.112 Die Europäische Union besitzt keine umfassende Gebietshoheit, sondern übt im räumlichen Geltungsbereich der Verträge die ihr verliehenen
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Vgl. BVerfGE 113, 273 (292 ff.) – Europäischer Haftbefehl; vgl. auch zur Europäischen Menschenrechtskonvention BVerfGE 111, 307 (315 ff.) – Görgülü. BVerfGE 111, 307 (319) – Görgülü. BVerfGE 113, 273 (299) – Europäischer Haftbefehl. T. Oppermann, Europarecht, 2007, § 12 Rn. 5 ff. Ebd., § 12 Rn. 7 ff. Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1914, S. 394 ff.; C. F. W. v. Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, 1880; P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bde. I und II; für heute: R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 2007, S. 39 ff. Oppermann (Fn. 109), § 12 Rn. 15 ff.
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Einzelzuständigkeiten aus. Sie hat keine umfassende Personalhoheit über die Unionsbürger, sondern erfasst die Staatsangehörigen ihrer Mitgliedstaaten im vertraglich vorgesehenen Umfang durch die Gemeinschaft. Sie ist eine Vereinigung der Mitgliedstaaten, nicht ein von einem europäischen Unionsvolk getragener Staat. Die Gemeinschaftsgewalt ist im Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beschränkt; ihr fehlen also die für den Staat typischen umfassenden Aufgaben und Kompetenzen, die Kompetenz-Kompetenz, um sich neue Aufgaben, Kompetenzen und Befugnisse zu erschließen. Die Gemeinschaft verfügt als Rechtsgemeinschaft „nicht über die Souveränitätsreserve eigener politischer Macht“.113 Die Union ist aber gegenwärtig zu einer Körperschaft, zu einer Rechtsperson verfestigt, die dauerhaft die Mitgliedstaaten in einem rechtlich verselbständigten Verbund zusammenführt, einen Teil ihrer Aufgaben und Kompetenzen dort rechtsverbindlich wahrnimmt, Recht setzt und auch das Recht der Mitgliedstaaten europäisiert, einen Teil der transnational gewordenen Aufgaben besser als die Mitgliedstaaten bewältigt. 3. Lebendigkeit des totgesagten Staates Manche Beobachter dieser Entwicklung neigen allerdings dazu, das Ende des Staates vorherzusagen. Der Staat erlebt „Nachrufe“, entfaltet aber als Totgesagter eine erstaunliche Lebendigkeit:114 Nation und Nationalstaat, Souveränität und Territorialstaat, selbst die Geschichte werden für tot erklärt. An die Stelle von Nation und Nationalbewusstsein seien Verfassungspatriotismus und Kosmopolitismus getreten.115 Doch ohne die Sicherheit in seinem Staat fehlt dem Menschen Frieden, verlässliche Freiheit im Recht, der vertraute Rahmen zur beruflichen und familiären Entfaltung, Vorsorge und Daseinssicherheit. Der Nationalstaat wurde vor allem mit Blick auf Europa für beendet erklärt; ein „postnationaler“ Verfassungsbegriff lässt Staat und Nation hinter sich.116 Doch die jüngsten Erfahrungen der Europäischen Union lehren, dass die Verfassungsstaaten als Mitgliedstaaten der Europäischen Union dieser Inhalt und Ziel geben, sie Kompetenzen und Befugnisse auf die Europäische Union übertragen, diese Übertragung aber auch rückgängig machen können, sie in ihrer Qualität als Verfassungsstaaten dazu beitragen, dass Europa keinen anderen Staat bedroht, keine territorialen 113 114 115
116
Ebd., § 12 Rn. 19. Voigt (Fn. 76), S. 41 f. J. Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 1976, S. 92 ff.; P. Glotz, Der Irrweg des Nationalstaats, 1990. I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (155); vgl. auch ders., Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), S. 100 (102 f.); zur Lockerung von Homogenitätsanforderungen und demokratischer Legitimation durch das Staatsvolk vgl. auch G. Nolte, Verfassungsvertrag für Europa, in: O. Behrends/C. Starck (Hrsg.), Gesetz und Vertrag, Bd. I, 2004, S. 151 (164); Schmitz (Fn. 65), S. 384; P. M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 194 (198); C. Möllers, in diesem Band, S. 234 f., 241 f.
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Machtansprüche stellt, eine militärische Auseinandersetzung unter den Mitgliedstaaten schlechthin aus dem Bereich des Möglichen verweist.117 Auch das Ende der Territorialität – mit Blick auf Internet und Datenautobahnen, Rundfunk und Fernsehen vorausgesagt – ist zu früh angekündigt worden. Politische, insbesondere demokratische Legitimation durch die Kulturgemeinschaft eines vorgefundenen Staatsvolkes lässt sich auch heute ohne einen rechtlich greifbaren, räumlichen Bezug nicht herstellen.118 Freiheit und Entfaltungssicherheit setzen auch in einem weltoffenen Markt und einer mobilen Gesellschaft Sesshaftigkeit, kulturelle Wurzeln, Bindung in einem konkreten Raum voraus. Schließlich wurde das Ende der Geschichte ausgerufen,119 hat aber letztlich zu der Einsicht geführt, Staaten zu gründen, damit die Voraussetzungen für die freiheitliche Entfaltung des Menschen zu schaffen seien.120 4. Der Kooperationsauftrag Die Wirklichkeit der europäischen Integration gibt Gelassenheit. Das Europäische Haus ist ein Haus der Staaten, das auf Zusammenarbeit angelegt und in der gegenseitigen Ergänzung erprobt ist. Die Gemeinschaftsverträge begründen für das Zusammenwirken von Gemeinschaftsorganen und Mitgliedstaaten ein „Kooperationsverhältnis“,121 ebenso aber auch für die Zusammenarbeit der Organe der Europäischen Union untereinander.122 Zuständig zur Änderung der Verträge sind die Mitgliedstaaten, die sie „gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften“ ratifizieren. Die Auslegung und Anwendung des Vertrages hingegen obliegt grundsätzlich den Gemeinschaftsorganen und letztverantwortlich dem EuGH. Rechtsfortbildung im Binnenbereich des Vertrages ist Sache des EuGH,123 Rechtschöpfung durch Vertragserweiterung hingegen Sache der Mitgliedstaaten. Korrespondierend setzen die Verfassungen der Mitgliedstaaten für Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Union und vergleichbare Regelungen entsprechende Verfassungsbedingungen.124 Die Mitwirkung der Verfassungsstaaten in der Europäischen Union bedeutet nicht Unterwerfung unter jede weitere, von den Unionsorganen betriebene Integrationsentwicklung, die Mitwirkung ist vielmehr verfassungsrechtlich gebunden und bedingt.125 Diese Aufgabenteilung von Vertrags117 118 119 120 121 122
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Zum Typus der Staatenverbindungen vgl. Hobe (Fn. 71); Schmitz (Fn. 65); Schliesky (Fn. 65). Voigt (Fn. 76), S. 42. F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, 1992. F. Fukuyama, Staaten bauen: Die neue Herausforderung internationaler Politik, 2004. BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht (für das Verhältnis von EuGH und BVerfG). Zu dieser Funktion der Gewaltenteilung mit Blick auf die EG vgl. P. Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: J. Isensee (Hrsg.), Gewaltenteilung heute, 2000, S. 99 (119 f.). Vgl. BVerfGE 75, 223 (240 f.) – Kloppenburg. Vgl. oben, II. 1. Vgl. oben Fn. 32 ff.
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fortbildung und Vertragsänderung hat das deutsche Bundesverfassungsgericht126 zum Anlass genommen, um die Grenzen der Rechtsfortbildung zu verdeutlichen: Der Unions-Vertrag unterscheidet zwischen der Wahrnehmung einer vertraglich eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung; eine Vertragsauslegung darf deshalb nicht einer Vertragserweiterung oder – wie Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG sagt: einer der Vertragsänderung vergleichbaren Regelung – gleichkommen. Eine solche Auslegung von Kompetenzen und Befugnisnormen – so fügt das Gericht hinzu127 – würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten. Diese Unterscheidung zwischen Vertragsauslegung und Vertragsänderung setzt eine klare und ausreichende Aufgaben- und Kompetenzzuweisung voraus. Diese Klarheit und Rechtssicherheit waren das Anliegen des Lissabonner Vertrages, das allerdings nicht erfüllt werden konnte. Umso mehr müssen die geltenden Kompetenzgrenzen bewusst gemacht und beachtet werden. Dies gilt auch für die Arbeitsteilung zwischen Europäischem Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht. Das Grundgesetz hat dem Bundesverfassungsgericht die Aufgabe „anvertraut“ (Art. 92 GG), rechtsprechend über die verfassungsrechtlichen Grenzen des Zustimmungsgesetzes zu wachen, das in Deutschland Europarecht zur Anwendung bringt. Das Bundesverfassungsgericht hat sicherzustellen, dass deutsche Hoheitsrechte nur durch Vertragsänderung dank Zustimmungsgesetzes auf die Union übertragen werden. Das Gericht trifft damit eine Kompetenz und Verantwortlichkeit für die Verfassungsgemäßheit des primären Gemeinschaftsrechts in Deutschland. Über diesen Auftrag und diese Verfassungsbindung kann ein Verfassungsgericht nicht verfügen; es kann insbesondere nicht auf diesen ihm anvertrauten Auftrag verzichten. In gleicher Weise ist der EuGH an den Unionsvertrag gebunden, der allein seine Rechtsprechung legitimiert, der alleinige Rechtsgrundlage seiner Rechtsprechungskompetenz ist. Deshalb kann das Vertragsorgan EuGH den Vertrag nicht ändern. Die Rechtsprechung des EuGH hat Autorität, wenn und soweit die Mitgliedstaaten ihr diese im Vertrag zuweisen. Während somit die Kooperation im wechselseitigen Zusammenwirken von Vertragsanwendung und Überwachung der Vertragsgrenzen liegt, die Sicherung dieser Elementargrenze also nicht ausschließlich einem Gemeinschaftsorgan oder den mitgliedstaatlichen Organen überantwortet wird, ist der Kooperationsraum beim sekundären, auf gesicherter Vertragsgrundlage hervorgebrachten Gemeinschaftsrecht größer: Die verfassungsrechtlichen Grenzen einer Vertragsänderung kann nur das mitgliedschaftliche Verfassungsgericht gewährleisten; der EuGH dürfte diese Verfassungsmaßstäbe seiner Rechtsprechung nicht einmal zu Grunde legen. Bei der Auslegung des sekundären Gemeinschaftsrechts hingegen kann allein der EuGH Verbindlichkeiten für alle Mitgliedstaaten begründen. Ihm kommt die entscheidende Rechtsgewähr- und Rechtsfortbildungskompetenz zu. Deswegen nimmt das deutsche Bundesverfassungsgericht seine Aufgabe in prinzipieller Anerkennung dieser Kompetenzen wahr: Der Europäische Gerichtshof garantiert Grundrecht126 127
BVerfGE 89, 155 (210) – Maastricht. Ebd.
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schutz gegenüber Rechtsakten der Union in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Union; das Bundesverfassungsgericht kann sich insoweit auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken.128 Eine Unionsverfassung würde demgegenüber auch den EuGH zu einem Verfassungsgericht machen, ihm damit die Kompetenz zusprechen, am Maßstab dieser Gesamtverfassung alle danach verfassten Organe und Hoheitswahrnehmungen zu kontrollieren, insoweit auch das Eindringen des Europarechts in das nationale Verfassungsrecht zu beurteilen, möglicherweise auch die Letztmaßstäbe für das Handeln der Staatsorgane in den Mitgliedstaaten zu bestimmen und die nationalen Verfassungsgerichte zu verdrängen. Ein bewährtes Stück europäischer Rechtskultur ginge durch Zentralisierung verloren. Schließlich ist jedes Hoheitsorgan auf eine kontinuitätswahrende Kooperation mit anderen Organen angelegt. Auch hier fordert der Unionsvertrag eine über die herkömmliche Zusammenarbeit von Regierung, Parlament und Gerichtsbarkeit hinausgreifende Kooperation: Die Europäische Union ist als Hoheitsträger auf die Zwangsmittel der Mitgliedstaaten angewiesen; die Vollstreckungsgewalt und Vollzugsverantwortlichkeit auch für europäisches Recht liegt grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten. Auch die Finanzmacht steht den Mitgliedstaaten, grundsätzlich nicht der Europäischen Union zu. Die Steuerhoheit liegt bei den Staaten. Die finanzwirtschaftliche Verteilungskompetenz erreicht in einigen Mitgliedstaaten annähernd 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während die Europäische Union deutlich weniger als zwei Prozent des in der Union erwirtschafteten Sozialprodukts verteilt. Vor allem aber stützen sich die Gemeinschaftsorgane auf das Fundament einer durch die Mitgliedstaaten gewährleisteten Staatlichkeit, in der der Staats- und Unionsbürger seine Friedensordnung, seine Existenzsicherung, seine Bildung und Ausbildung, seinen Gesundheitsschutz, seine örtliche und berufliche Infrastruktur findet. Würde die Gemeinschaft diese Aufgaben übernehmen wollen, wäre sie in ihren Organen, Institutionen und Rechtsmaßstäben gänzlich überfordert. Europäische Hoheitsgewalt ist deshalb eine die staatliche Hoheitsgewalt ergänzende Kompetenz, die aus dem staatlichen Fundament wächst und sich auf dieses stützt. 5. Moderne Formen der Gewaltenbalance Modernes Verfassungsrecht bestätigt ein wesentliches Element der Gewaltenbalance, wenn es den jeweiligen Staat ausdrücklich für die Völkergemeinschaft und die Europäische Union öffnet.129 Neben die staatliche Gewalt tritt eine europäische Gewalt, die ihre Legitimation, ihre Untergliederung und ihre Handlungsmaßstäbe nicht nur im Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten, sondern im europäischen Vertragsrecht findet und insbesondere in der Verselbständigung von Gemeinschafts128 129
BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht. K.Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für die internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 33 f., 42 f.; P. Badura, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 37), § 160, Rn. 16; Di Fabio (Fn. 70), S. 17 ff.
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organen gegenüber den Staatsorganen dem Gedanken der Gewaltenteilung einen neuen Anwendungsbereich erschließt. a) Die Rechtsquellen Während der Verfassungsstaat sich auf eine einheitliche Staatsverfassung und eine verfassunggebende Gewalt des Staatsvolkes stützt, baut die Europäische Union auf ein gewaltengeteiltes Entstehen und Erneuern von europäischem Recht. Die beiden Rechtskreise von Europarecht und staatlichem Verfassungsrecht sind so aufeinander bezogen, dass die mitgliedstaatlichen Verfassungen das Entstehen und die Fortbildung des Unionsvertrages tragen, die europäischen Organe dieses initiieren und fördern, das Zusammenwirken von Verfassungsrecht und Europarecht den Maßstab für den Entwicklungsraum von Europarecht absteckt. Diese abgestufte, gegeneinander ausbalancierte Gewährleistung elementarer Rechtskultur würde gefährdet, wenn die Fortbildung des Vertrages europarechtlich zentralisiert würde, die Europaoffenheit der Staaten und das Staatenfundament der Europäischen Union durch eine rechtliche Abschottung der Union abgelöst würde. Das im Zusammenwirken von Mitgliedstaat und Europäischer Union angelegte Element der Gewaltenteilung gewinnt umso größere Bedeutung, als die traditionelle Gewaltenteilung im parteienstaatlichen Parlamentarismus geschwächt und in einer parlamentsarmen Europäischen Union gefährdet erscheint. b) Freiheitssichernde Gewaltenbalance In ihrem menschenrechtlichen Ursprung130 dient die Gewaltenteilung dem Schutz des grundrechtsberechtigten Menschen gegenüber der staatlichen Gewalt. Wenn die Staatsgewalt auf Gesetzgebung und Vollzug, auf Regierung und Verwaltung, auf Regelungs- und Finanzhoheit aufgeteilt ist und dem Grundrechtsberechtigten zur Durchsetzung seiner Rechte eine eigene, die dritte Gewalt zur Verfügung gestellt wird, so stützt sich der Grundrechtsschutz insbesondere auf das Gewaltenteilungsprinzip. Diese freiheitssichernde Gewaltenbalance gewährleistet im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaat vor allem der Staat, der dem Bürger die Freiheitsbedingungen seiner erprobten und vertrauten Rechtsordnung bietet, ihm die Freiheitsgrundlagen der eigenen Sprache, der hergebrachten Rechtsprinzipien, der sozialen Teilhabe am gewachsenen und erwarteten Bruttosozialprodukt der eigenen Volkswirtschaft, der Kulturgemeinschaft dank ähnlicher Ausbildung in Schule und Hochschule, der Prägung durch Religion, Kunst, Wissenschaft und Lebensgewohnheit anbietet. Der Staat, stets Garant und Gegner der Freiheit,131 übernimmt auch die 130
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Vgl. Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789); Titel III, Art. 1–5 der französischen Verfassung von 1791; R. Thoma, Grundrechte und Polizeigewalt, in: FG Preußisches Oberverwaltungsgericht, 1925, S. 183 (187, Fn. 4). P. Kirchhof, Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, 2004; ders., Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung – Kontinuität und Erneuerung des deutschen Verfassungsstaates in Freiheitlichkeit, Weltoffenheit und demokratischer Solidarität, DVBl. 1999, S. 637 (639 ff.); J. Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, JZ 1999, S. 265.
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Aufgabe, als Verstehensmittler in einer konkreten Ordnung die Voraussetzungen freiheitlicher Entfaltung kontinuierlich zu gewährleisten. Der Staat hat die durch die Europäische Union unübersichtlich gewordene Welt von Hoheit und Recht, die Vielzahl von Zuständigkeiten und Rechtsmaßstäben, die sich überschneidenden Rechtskreise und Verfahrensordnungen verlässlich zu formen und in klaren Verantwortlichkeiten zu vermitteln. Demgegenüber hat die Europäische Union die Aufgabe, die Staatsgrenzen zu öffnen, eine grenzübergreifende Marktfreiheit zu gewährleisten, im gemeinsamen Geld des Euro geprägte Freiheit132 zu gewähren, die Union „als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu erhalten und weiter zu entwickeln. Eine solche Aufgaben- und Gewaltenteilung führt zu Rechtskonflikten, die institutionell in dieser Gewaltenbalance gelöst, aber nicht durch eine zentrale Streitentscheidungskompetenz unterdrückt werden sollen. Deswegen müssen Kommission, Rat, Mitgliedstaaten, Europäischer Gerichtshof und nationale Verfassungsgerichte Gewalten balancieren und zuordnen, so dass die mitgliedstaatliche und die Gemeinschaftsrechtsordnung „nicht unvermittelt und isoliert nebeneinander“ stehen, sondern „in vielfältiger Weise aufeinander bezogen, miteinander verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen geöffnet“ sind.133 Die Letztmaßstäblichkeit des Verfassungsrechts auch für die Anwendung von Europarecht im jeweiligen Mitgliedstaat wie der Zusammenhalt der europäischen Rechtsgemeinschaft im Unionsvertrag und seiner letztverantwortlichen Deutung durch den Europäischen Gerichtshof dürfen nicht in die eine oder andere Hierarchie umgedeutet werden. Gerade die Rechtsprechung pflegt die Kultur des Maßes, des Ausgleichs, des Zusammenwirkens, nicht Vorherrschaft, Unterordnung und Zurückweisung. Insoweit bietet Europa die Chance, das klassische Rechtsideal der Gewaltenbalance neu zu entdecken. c) Entscheidungsrichtigkeit und Entscheidungsverantwortlichkeit In seiner Funktion der sachgerechten Arbeits- und Verantwortungsteilung sucht das Gewaltenteilungsprinzip jeder Gewalt einen Kernbereich an Aufgaben vorzubehalten, die dieses Organ mit seinem Personal, seiner Ausstattung und seinem Verfahren am besten erfüllen kann.134 Diese Gewaltenteilung setzt eine klare Zuteilung von Aufgaben, Kompetenzen und Befugnisse zwischen Union und Mitgliedstaat voraus, wird sodann aber durch das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV-Liss., Art. 5 EG, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG) ergänzt, das die Organe bei Wahrnehmung135 ihrer Kompetenzen zu beachten haben.136
132 133 134
135 136
Vgl. BVerfGE 97, 350 (371) – Euro. BVerfGE 73, 339 (368) – Solange II. BVerfGE 68, 1 (86) – Atomwaffenstationierung; P. Badura, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 2004, § 25, Rn. 6; das Prinzip deutlicher dem Demokratieprinzip unterordnend E.W. Böckenförde, ebd., § 24, Rn. 87 ff. BVerfGE 89, 155 (193) – Maastricht. Zum gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzip: C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 1999.
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Dieses Subsidiaritätsprinzip warnt in seinen ideengeschichtlichen Ursprungsanliegen137 vor einer Überforderung des Staates. Würden die sozialen Gesellschaftsformen verkümmern, sähe sich der Staat unmittelbar und ausschließlich dem einzelnen Menschen gegenüber und könnte diesem allein nicht gerecht werden. Der einzelne Mensch ist sich selbst nicht genug und bedarf deshalb des subsidium, der Hilfe, die zunächst von dem engeren gesellschaftlichen Umfeld dieses Menschen, dann von den großräumigeren gesellschaftlichen Institutionen und erst danach vom Staat erwartet wird. Überträgt man diesen Gedanken auf das Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, so findet das Subsidiaritätsprinzip in der Idee des Staatenverbundes, dem Grundsatz der Einzelermächtigung, der Handlungsform der Richtlinie und dem Angewiesensein der Union auf mitgliedstaatliche Vollzugskompetenz und Finanzmacht einen konkreten Ausgangspunkt: Die Union sieht sich weniger dem Einzelmenschen gegenüber, begegnet diesem vielmehr durch den jeweiligen Mitgliedstaat und seine Vermittlung von Europarecht und Europahandeln. Diese Gewaltenteilung widerspricht nicht dem Gedanken der Staatensouveränität. Die höchste und dauernde Staatsgewalt begründet keine beliebige Herrschaft, sondern eine Gewalt zur Wahrung von Recht und Frieden.138 Souveränität ist dem Staat zugesprochen worden, um den Bürgerkrieg zu beenden und einen ewigen Landfrieden zu errichten.139 Diese Rechtsoffenheit ist heute insbesondere Europaoffenheit. d) Zukunfts- und Gegenwartsorganisationen In einer kontinuitätswahrenden, stetigen Verfassung enthält das Gewaltenteilungsprinzip auch ein Zeitschema.140 Die Gesetzgebung greift in die Zukunft vor, die Verwaltung ist mit der Gegenwart befasst, die Rechtsprechung beurteilt die Vergangenheit. Diese Zeitverantwortlichkeiten finden in der Europäischen Union nicht die herkömmlichen Rahmenbedingungen vor. Die Europäische Union ist in ihrem gesamten Organisationsgefüge eher als Zukunftsgewalt ausgerichtet, braucht deshalb in den Mitgliedstaaten eine Gegenwartsgewalt. aa) Die europäische Zukunftsgewalt Die Europäische Union ist nach Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 EU (Art. 1 Abs. 2, Art. 3 Abs. 1 EUV-Liss.) auf eine stetige dynamische Entwicklung angelegt. Das Grundgesetz erteilt den deutschen Staatsorganen die Aufgabe, „bei der Entwicklung der Europäischen Union“ mitzuwirken (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG). Deswegen bewahrt die Union weniger Bestehendes, sichert der Unionsvertrag nicht nur – wie eine Verfassung als Gedächtnis der Demokratie – bewährte Organisationsstrukturen und erprobte Werte, sondern lebt im stets Unfertigen, in der Entwicklung zum Besseren, 137 138 139 140
Enzyklika quadragesimo anno (1931); dazu J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, S. 18 ff. Vgl. oben, II. 2. c. aa. Vgl. Bodin (Fn. 66). G. Husserl, Recht und Zeit, 1955, S. 42 ff.
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in der Annäherung an die noch nicht erreichte Vollendung. Dies gilt insbesondere in der gegenwärtigen Phase einer deutlichen Erweiterung der Europäischen Union. Die Europäische Union erscheint in ihrer Grundstruktur gelegentlich eine in die Zukunft drängende Organisation, die ein Verharren in der Gegenwart scheut. Die Exekutive bringt Gesetze hervor. Die vollziehende Gewalt liegt im Wesentlichen bei den Mitgliedstaaten, so dass die Gemeinschaft kaum über ein der Gegenwart zugewandtes Organ verfügt. Der EuGH versteht sich traditionell als „Motor der Integration“, ist also nicht nur mit abgeschlossenen Fällen der Vergangenheit, sondern ebenso mit der Gestaltung der Zukunft befasst. Die Union scheint im Bestreben nach ständigem Kompetenzzuwachs befangen, muss jedoch in ihrer gegenwärtigen Kompetenzfülle – anders als noch in den Gründerjahren – die Stetigkeit einer Rechtsgemeinschaft nachhaltig sichern. Deshalb scheint die zeitliche Balancierung der Gewalten, die Bedingung für Entwicklungsoffenheit in Kontinuität und Geschichtsbewusstsein, noch nicht erreicht, der Ausgleich zwischen unverbrüchlichem Recht und seiner Entwicklungsfähigkeit noch nicht gesichert. Allerdings entwickelt die in die Zukunft drängende Europäische Union eigene Organe der Verstetigung und Kontinuitätsgewähr – insbesondere die Europäische Zentralbank, den Europäischen Rechnungshof und zunehmend eine ihren judiziellen Charakter betonende europäische Gerichtsbarkeit. Auch hier steht die Europäische Gemeinschaft gerade als Rechtsgemeinschaft vor der Aufgabe, Strukturen der Stetigkeit, damit der Berechenbarkeit und Vertrauenswürdigkeit zu gewinnen. bb)Die Gegenwartsgewalt der Mitgliedstaaten Eine gegenwärtig eher als Zukunftsgewalt greifbare Europäische Union wird in ihrem Handeln an die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten rückgekoppelt und insbesondere durch die Staatsvölker der Mitgliedstaaten und deren Parlamente wesentlich demokratisch legitimiert.141 Die Gewaltenteilung zwischen europäischer Rechtsetzung und mitgliedstaatlichem Rechtsvollzug, europäischem Finanzbedarf und mitgliedstaatlichen Finanzierungsgrundlagen, vor allem aber die europäische Vergemeinschaftung auf dem Fundament einer Staatlichkeit, die bürgernahe Lebensgrundlagen gewährt, begründen eine neue Ausgewogenheit von Stetigkeit und Zukunftsgestaltung. Die Kontinuität der Verfassungsstaaten bietet als Basis der Europäischen Union auch für deren Handeln eine institutionelle Gegenwartsverantwortlichkeit, Planbarkeit und Berechenbarkeit. e) Gewaltenkooperation Gewaltenteilung ist schließlich auch die Grundlage einer kontinuierlichen Kooperation, in der die getrennten Gewalten sich in der Stetigkeit des Rechts zu einer sich gegenseitig ergänzenden und vervollständigenden Handlungseinheit zusammenfügen. Diese europäische Kooperation ist mehr als die Zusammenarbeit unter Staatsorganen. Sie wurzelt in zwei eigenständigen, zwar aufeinander bezogenen, aber 141
BVerfGE 89, 155 (185) – Maastricht.
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inhaltlich verschiedenen Rechtsordnungen, ist teilweise von einer unterschiedlichen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungskultur geprägt, hat die Gegenläufigkeit von großflächiger, auf Kompetenzzuwachs bedachter Zentralorganisation und gewachsener, die demokratisch-kulturelle Eigenständigkeit bewahrender Mitgliedstaatlichkeit zu bewältigen, muss insbesondere zwischen gouvernementalen Organisationsstrukturen und parlamentarischer Demokratie vermitteln. Es geht also um mehr als um die Selbstverständlichkeit, dass geteilte Staatsfunktionen auf Zusammenarbeit angelegt sind. Europäische Kooperation heißt vor allem Zusammenarbeit im Bewahren bewährter und im Überwinden reversibler Kulturunterschiede. Wir verfügen gegenwärtig keinesfalls über gesicherte und abgerundete verfassungsrechtliche Vorstellungen von individuellen Freiheits- und Gleichheitsrechten, die lediglich europarechtlich verallgemeinert werden müssten. Doch der Lissabonner Vertrag macht nunmehr den Versuch, in einer Charta der Grundrechte die gewachsenen Grundrechte modern zu verstehen und so, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, für verbindlich zu erklären. Ob dieser Versuch gelingt, hängt davon ab, ob der EuGH die Kraft hat, in diesem Verfassungsvergleich die in den Mitgliedstaaten gesicherte Verfassungsüberlieferung zu erfassen und in diesem Rahmen verallgemeinerungsfähige Lösungen zu suchen. Würde die Europäische Union hingegen ihr Wertefundament, die spezifisch europäischen Grundrechte, in einem Akt grundlegender Reformen und Erneuerungen von der Grundrechtskultur der Mitgliedstaaten abheben, gefährdete sie sich selbst. Ein Europa der kleinen Schritte und großen Visionen darf nicht zum Experimentierfeld für Grundrechte werden. 6. Das Europa der Staaten als Friedens- und Freiheitschance Die Entwicklung der Staaten in Europa bekräftigt gegenwärtig die hergebrachten Fundamente europäischen Rechts: Die Staatlichkeit, die Demokratie, die Gemeinschaft des Rechts und die Grundrechte. Mit jedem neuen Verfassungsstaat steigt die Chance von Frieden und Menschenrechten in Europa. Wo Völker und Nationen sich noch nicht zu einem Verfassungsstaat zusammengefunden hatten, wuchs die Gefahr der Unfriedlichkeit und der Menschenrechtsverletzung. Für die Gemeinschaft unter Staaten hat die Europäische Union die neue Rechtsform eines Staatenverbundes unter selbständigen, demokratischen, europaoffenen Verfassungsstaaten entwickelt. Im Zusammenwirken der Organisationsprinzipien von Verfassungsstaat und Staatenverbund schafft die Europäische Union eine Grundordnung, die das Handeln ihrer Mitgliedstaaten koordiniert, teilweise auch reguliert, vor allem aber die gemeinsame Wahrnehmung von Hoheitsaufgaben organisiert. In dieser Verbundenheit bietet Europa die vertragsrechtliche Grundlage für einen Staatenverbund, der seine Aufgaben, Kompetenzen und Befugnisse rechtlich definiert, sich in dieser Bindung als Gemeinschaft des Rechts bewährt, sich dabei auf kooperationsoffene Verfassungsstaaten stützt.
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Die Vorzüge der Europäischen Verfassung
Manfred Zuleeg*
I. Die Europäische Verfassung – ein Faktum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045 II. Die Vorzüge im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1048 1. Die Vorzüge der Europäischen Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1048 2. Aufgaben und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054 3. Die Aufteilung der Hoheitsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054 4. Verfassungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1056 5. Strukturmerkmale der europäischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1064 6. Der Umfang der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 III. Die zukünftige Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1068 1. Der Bedarf nach einer Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1068 2. Die Überschaubarkeit der europäischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1069 3. Der Vertrag von Lissabon und die weitere Konstitutionalisierung der Union . . 1070 4. Differenzierte Zusammenarbeit statt Abkehr von der Integration . . . . . . . . . . . 1074 IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1075
I. Die Europäische Verfassung – ein Faktum Die Europäische Union (EU) ist eine internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit.1 Ihr Kernstück, die Europäische Gemeinschaft (EG), übt Hoheitsgewalt aus. Dies bedeutet, dass sie von den Mitgliedstaaten und den Einzelnen verlangt, Anweisungen auch ohne deren Zustimmung zu befolgen. Die EU setzt Recht. Sie ist zu administrativen Maßnahmen ermächtigt. Eine europäische Gerichtsbarkeit fällt Urteile und trifft andere Entscheidungen, die für die Beteiligten bindend sind. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) betreibt Rechtsfortbildung, an die sich die Mitgliedstaaten und die Einzelnen halten müssen. Die Mitgliedstaaten führen Aufträge zur Rechtsetzung aus. Sie müssen das europäische Recht durch ihre Verwaltung und Gerichte anwenden. Die europäische Rechtsordnung verleiht den Einzelnen Rechte und erlegt ihnen Pflichten auf. Die EU tritt nach außen hin mit anderen Völkerrechtssubjekten in Verbindung. Damit ist die EU nicht weit entfernt
*1 1
Ich danke Stephan Bitter für wertvolle Hilfe beim Überarbeiten des Manuskripts. Zur Begründung sei verwiesen auf A. v. Bogdandy, Die Europäische Union als einheitlicher Verband, EuR Beiheft 2/1998, S. 165; M. Zuleeg, Die Organisationsstruktur der Europäischen Union, EuR Beiheft 2/1998, S. 151.
A. von Bogdandy and J. Bast (eds.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, Springer-Lehrbuch, DOI: 10.1007/978-3-540-73810-7_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009
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von einem Staat.2 Staaten haben Verfassungen. Dieser Begriff umfasst rechtliche Regeln und Grundsätze, die menschliche Ressourcen zum Zweck der Regierung eines Verbands von Personen organisieren. Die Regeln und Grundsätze geben verbindliche Leitlinien für die Ausübung von Hoheitsgewalt. Sollte die EU einer solchen Grundlage entbehren, obwohl sie staatliche Funktionen wahrnimmt? Im Schrifttum zur europäischen Integration ist immer noch die These einer Herrschaft ohne Verfassung anzutreffen. Eine in Deutschland häufig geäußerte Ansicht ist es, die Verfassung den Staaten vorzubehalten.3 Sie allein seien mit rechtlichen Regeln und Grundsätzen ausgestattet, die ihnen eine hervorgehobene Stellung verliehen. Diese Stellung könnte auf der Souveränität beruhen. Dann dürften aber abhängige Staaten wie die Länder in Deutschland und Österreich, die Gliedstaaten der Vereinigten Staaten und die schweizerischen Kantone keine Verfassung haben, was nicht zutrifft. Viele Betrachter gestehen der EU aber keine Verfassung zu. Das ist angesichts der Herrschaftsgewalt der EU inkonsequent.4 Mittels dieser Hoheitsgewalt kann die EU die Mitgliedstaaten anweisen, sich nach dem Willen der EU zu verhalten, so dass das Unterscheidungsmerkmal der Souveränität mehr und mehr verloren geht.5 Darüber hinaus ist die Verfassung nicht mehr ein Attribut der Staaten, sondern ein Geflecht von Beziehungen zwischen verschiedenen Subjekten und eine Selbstorganisation der Gesellschaft.6 Andere Autoren verknüpfen die Verfassungen der Staaten mit der Demokratie.7 Aber auch Staaten mit einer Diktatur verfügen über grundlegende Regeln und Grundsätze. Um sie erkennen, einordnen und vergleichen zu können, hat der Begriff der Verfassung seinen guten Sinn. In zugespitzter Form heben sich die Anhänger des Nationalstaats jedoch von der neutralen Anschauung der Verfassung ab. Sie stellen sich den Staat so vor, dass ihm ein homogenes Volk, die Nation, zugeordnet ist. Von diesem Volk leite sich die Demokratie ab, die das wesentliche Merkmal der Verfassung sei. Staat und Verfassung bedingten einander.8 Die in diesem Zusammenhang oft geforderte Homogenität birgt die Gefahr in sich, ein freies Gemeinwesen zu deformieren und einen Zusammenschluss von Staaten zu unterlaufen, zumal dann, wenn die Angehörigen eines anderen Staates als potentielle Feinde betrachtet
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3 4
5 6 7 8
Siehe M. Zuleeg, in: E. Denninger u.a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (AK-GG), (Stand: Jan. 2001), Art. 23, Rn. 15. Dazu A. v. Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 35–38. P. Kirchhof, in diesem Band, S. 1014 ff. Zur Herrschaftsgewalt der EU ausführlich S. Bitter, Zwangsmittel im Recht der Europäischen Union, in: M. Zuleeg (Hrsg.), Europa als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, 2007, S. 9. C. Tomuschat, Die internationale Gemeinschaft, AVR 33 (1995), S. 1 (20). Wegweisend I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (149–163): „postnationaler“ Verfassungsbegriff. C. Möllers, in diesem Band, S. 250 ff. J. Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), HStR I, 1995, § 13.
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werden.9 Auf Grund einer derartigen Demokratie kann man dem Staat die Verfassung vorbehalten. Demokratie ist aber nicht an eine Homogenität gebunden. Die freiheitliche Komponente der Demokratie steht dem entgegen. Die Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika wird von einem multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Volk getragen.10 Dieses Beispiel zeigt, dass die Demokratie nicht an die Homogenität der Bürger gebunden ist. Die EU erkennt den Grundsatz der Demokratie an11 und gewährt den Menschen Rechte und Freiheiten, Art. 6 Abs. 1 und 2 EU.12 Darum kann die EU zu den Herrschaftsverbänden zählen, die eine Verfassung haben.13 Das Scheitern des Verfassungsvertrags kann an dieser Feststellung nichts ändern, da die konstitutionellen Gehalte der Verträge nicht angetastet wurden. Nunmehr ist herauszufinden, worin die Verfassung des europäischen Zusammenschlusses besteht. Bereits im Jahr 1967 stellte das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) fest, dass mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine neue öffentliche Gewalt entstanden ist, die gegenüber der Staatsgewalt der einzelnen Mitgliedstaaten selbständig und unabhängig ist. Der EWG-Vertrag stelle gewissermaßen die Verfassung der Gemeinschaft dar.14 Für den EuGH „stellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes haben die Gemeinschaftsverträge eine neue Rechtsordnung geschaffen, zu deren Gunsten die Staaten in immer weiteren Bereichen ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben und deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren Bürger sind“.15 Der Umstand, dass der EU völkerrechtliche Verträge zugrunde liegen, schließt es also für die genannten Gerichte nicht aus, eine Verfassung anzunehmen. Nicht die Rechtsform, sondern der Inhalt ist entscheidend.16 Die Gemeinschaftsverträge übernahmen Bestandteile der mitgliedstaatlichen Verfassungen. Verfassungsgrundsätze wie die Demokratie und die Rechtsstaatlich9
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P. Kirchhof, in: J. Isensee/ders. (Hrsg.), HStR VII, 1992, § 183; BVerfGE 89, 155 (185 f.). Dagegen treffend B.-O. Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, Staatswissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), S. 305 (305–307); I. Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), S. 100; J. H. H. Weiler, Der Staat „über alles“: Demos, Telos und die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, JöR 44 (1996), S. 91. M. Zuleeg, What Holds a Nation Together?, AJCL 45 (1997), S. 505; ders., Zusammenhalt durch Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Europäischen Union, JöR n.F. 51 (2003), S. 81. Dazu näher M. Zuleeg, Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 1993, S. 1069. Siehe näher M. Zuleeg, in: H. v. d. Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EGVertrag, 2003, Art. 1 EG, Rn. 34. Vgl. P. M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 194 (208 f.). BVerfGE 22, 293 (296). EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21. Pernice, Verfassungsrecht (Fn. 6), S. 168–172.
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keit sowie die Grundrechte fehlten aber. Der EuGH hat diese Lücken geschlossen. Auf dem Weg der Rechtsfortbildung fügte er Verfassungsgrundsätze und Grundrechte in die europäische Verfassung ein.17 Mittlerweile sind Verfassungsgrundsätze in Art. 6 Abs. 1 EU niedergelegt. Art. 6 Abs. 2 EU verpflichtet die EU auf die Menschenrechte. Auch wenn es sich dabei um eine Vorschrift des Unionsrechts handelt, gilt ihr Inhalt angesichts der Einheit von Union und Gemeinschaften auch für letztere.18 Das Vertragsrecht bietet aber keine vollständige Verfassung. Nach wie vor gibt es Bestandteile, die nur im Richterrecht verankert sind, so beispielsweise die Verpflichtung der EG auf die Gemeinschaftstreue.19 In anderen Bereichen ist ein Zusammenspiel zwischen Vertragsgestaltung und Rechtsfortbildung anzutreffen, vor allem im Grundrechtsschutz.20 Man kann daher den Schluss ziehen, dass die europäische Verfassung aus Vertragsrecht und Richterrecht zusammengesetzt ist. Zugleich kann man feststellen, dass die Verfassung der EU eine Fülle von Bestandteilen enthält, die auf die EU, ihre Mitgliedstaaten und die Einzelnen einwirken.21 Die europäische Verfassung ist also nicht Phantom, sondern Faktum.
II. Die Vorzüge im Einzelnen 1. Die Vorzüge der Europäischen Institutionen a) Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft Die Hoheitsgewalt braucht eine rechtliche Befriedung, sonst sind die Menschen willkürlicher Unterdrückung ausgeliefert. Gerade die Erfahrung zweier Weltkriege zeigt, dass in Zeiten rechtloser Herrschaft unzählige Menschen Tötung, Verstümmelung und Unterdrückung hinnehmen müssen. Auch in der Zeit des Kalten Krieges hatten viele Betroffene Nachteile hinzunehmen. Da war es eine große Tat, in Europa das Recht als Grundlage des Verhaltens von Staaten und der Menschen fest zu etablieren. Leuchtendes Beispiel ist hier das Bonner Grundgesetz von 1949, wo sowohl rechtsstaatliche Verfahrensgarantien als auch materielle Gerechtigkeitsgehalte festgelegt wurden. Daran angelehnt entstanden die Gemeinschaften als rechtlich eingehegter Verbund zwischen Staaten und zwischen Menschen. Die Europäischen Gemeinschaften standen von Anfang an auf dem Boden des Rechts. Sie sind Schöpfungen des Rechts, Rechtsquelle, Rechtsordnung und Rechtspolitik.22 Der Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Ver-
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M. Zuleeg, Die Verfassung der Europäischen Gemeinschaft in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, BB 1994, S. 581. Zu dieser Einheit siehe A. v. Bogdandy, The Legal Case for Unity, CMLRev. 36 (1999), S. 887. EuGH, Rs. 2/88 Imm., Zwartveld, Slg. 1990, I-3365, Rn. 17 f. M. Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, EuGRZ 2000, S. 511. In diesem Sinne J. A. Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union, EuR 1995, S. 315 (333). W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 1979, S. 53 ff.
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trags von Nizza enthält die wesentlichen Grundsätze, darunter auch den Grundsatz, dass die Union auf der Rechtsstaatlichkeit beruht (Art. 6 Abs. 1 EU). Der Vorrang und der Vorbehalt des Gesetzes, der Grundsatz der Gewaltenteilung und die Einhaltung von grundlegenden Verfahrensvorschriften ist in Europa gewährleistet. Der Einzelne genießt umfangreichen Rechtsschutz – allein oder in Gemeinschaft mit anderen. In der Rechtssache Les Verts hat der Europäische Gerichtshof als höchstes Gericht in der Europäischen Union gezeigt, dass er die Rechte der Betroffenen schützt, selbst wenn diese nicht ausdrücklich vertraglich festgelegt sind.23 Die europäischen Gerichte genießen auch deswegen hohes Ansehen. Die Frage, ob das europäische Recht „gut“ oder „schlecht“ ist, hängt zu einem großen Teil davon ab, ob die Zusammenarbeit der mitgliedstaatlichen Gerichte mit dem EuGH gelingt. Art. 234 EG bietet hier ein geeignetes Instrument. Die mitgliedstaatlichen Gerichte können eine Vorabentscheidung einholen. Bei einem Verfahren ohne weitere Rechtsmittel sind sie sogar verpflichtet, den EuGH anzurufen. b) Die Verträge als Grundlage der europäischen Verfassung Drei Verträge sind die Grundlage für eine europäische Konstruktion, die mittlerweile 27 Staaten vereinigt. Seit dem 1. Januar 1958 bestehen Verträge zur Gründung der Europäischen (ursprünglich: Wirtschafts-) Gemeinschaft (EG) und zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom). Der Vertrag über die Europäische Union kam am 7. Februar 1992 hinzu. Ein vierter Vertrag, der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl von 1951/52, ist seit dem 23.07.2002 nicht mehr in Kraft. Aus den Verträgen ergibt sich das jeweilige Rechtsetzungsverfahren und damit die Beteiligungsform der Organe, da sich dort konkrete Kompetenznormen finden lassen, die der Union oder der Gemeinschaft als besonders qualifiziertem Teil der Union im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten eine Zuständigkeit zur Regelung bestimmter Gebiete zuweisen. Im Zusammenhang mit diesem in Art. 5 Abs. 1 EG niedergelegten Grundsatz spricht man vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.24 c) Das Organisationsstatut Die Verfassung eines Hoheitsträgers muss bestimmen, von wem in welchem Verfahren und auf welche Art und Weise Hoheitsgewalt wahrgenommen wird. Unabdingbar ist daher ein Organisationsstatut. Die Gründungsverträge der EU und der zwei Gemeinschaften mit den Änderungsverträgen, Anhängen und Protokollen setzen Organe und Hilfsorgane ein. Sie schreiben die Zusammensetzung und das Verfahren dieser Gremien vor und regeln ihr Zusammenspiel.25
23 24 25
EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 ff.; vgl. auch EuG, Rs. T-17/00 R, Rothley u.a./Parlament, Slg. 2002, II-579, Rn. 53 ff. Näher M. Nettesheim, in diesem Band, S. 398 ff.; A. v. Bogdandy/J. Bast, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU (Stand: Okt. 2007), Art. 5 EG, Rn. 7 ff. Siehe T. Oppermann, Europarecht, 2005, § 5 Rn. 1–202.
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Das Organisationsstatut der EU zeichnet sich durch zahlreiche Einrichtungen aus. Es ist hier nicht der Ort, sie alle vorzustellen.26 Es soll nur deutlich werden, was der eigenständigen Organisation der EU das Gepräge gibt. Daher ist an erster Stelle die Kommission zu nennen, die keiner Einrichtung in den Staaten entspricht. Die Kommission vertritt als supranational konzipierte Behörde mit ihren eigenen Beamten das Gemeinschaftsinteresse. Ihre derzeit 27 Mitglieder sind während ihrer Amtszeit unabhängig. Das Europäische Parlament (EP) kann die Kommission kontrollieren, allerdings nur durch deren Absetzung, die bisher noch nie angewandt wurde. Immerhin bewog die Drohung mit dieser Maßnahme die Kommission Santer zum Rücktritt. Sie überwacht die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts, insbesondere gegenüber den Mitgliedstaaten. Bei der Rechtsetzung hat die Kommission das alleinige Vorschlagsrecht inne, ohne einen Vorschlag kann der Rat nicht tätig werden. Zu einer eigenständigen Rechtsetzung ist sie nur ausnahmsweise ermächtigt. Art. 86 Abs. 3 EG ist dafür ein Beispiel. Im Übrigen ist die Kommission nur auf Grund einer Delegation zur Durchführung von Rechtssetzungsakten berufen. Zu Verwaltungstätigkeiten ist sie in großem Umfang befugt. Diese Stellung der Kommission passt zu einem Hoheitsträger, der nicht zu einem Staat erstarkt ist, aber doch über eine Fülle von Hoheitsgewalt verfügt. Ihr gebührt das Prädikat des „Motors der Integration“. Ihre Rolle entspricht nicht der einer Regierung in einer parlamentarischen Demokratie, weil die Erfolge der Kommission nicht vornehmlich vom Parlament abhängen, sondern vom Rat. Als Kontrollorgan kann sie im Sinne der Integration auf die Mitgliedstaaten einwirken.27 Der Rat setzt sich aus Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten zusammen. Der Vorsitz im Rat wird von den Mitgliedstaaten nacheinander für je sechs Monate wahrgenommen. Er wird durch ein Generalsekretariat mit Gemeinschaftsbeamten unterstützt. Seine Hauptaufgabe ist die Rechtsetzung, die er auf bestimmten Gebieten mit dem EP teilen muss. Auf anderen Gebieten entscheidet der Rat allein. Zwar lässt die Transparenz der Verfahren noch zu wünschen übrig.28 Zum Ausgleich tragen aber die Mitgliedstaaten durch ihre Regierungen die Verantwortung für die wesentlichen Entscheidungen auf der europäischen Ebene, vor allem für die Rechtsetzung. Wäre das nicht mehr gewährleistet, käme die Integration ins Stocken.29 Im EP sitzen die Vertreter der Völker der Mitgliedstaaten, Art. 189 Abs. 1 EG. Es hat nach den letzten Beitrittsakten 785 Mitglieder. Alle fünf Jahre findet eine Direktwahl statt. Das EP hat Schritt für Schritt an Einfluss gewonnen. Es besitzt jedoch noch kein umfassendes Mitspracherecht bei der Rechtsetzung. Soweit es be-
26 27 28 29
Ausführlich dazu M. Hilf, Die Organisationsstruktur der Europäischen Gemeinschaften, 1982; sowie der Beitrag von P. Dann, in diesem Band. K. O. Nass, Eine Institution im Wandel: Die Europäische Kommission, in: FS Mestmäcker, 1996, S. 411. Dazu C. Sobotta, Transparenz in den Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Union, 2001. W. Pini, Der Ministerrat der EU, 1995.
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teiligt ist, kommt sein Einfluss nicht dem der mitgliedstaatlichen Parlamente gleich. Dies ist vornehmlich darauf zurückzuführen, dass der Rat als Partner nicht vom EP abhängt. Die Öffentlichkeit nimmt dessen Rolle daher eher als Bremser wahr. Eine grundlegende Änderung ließe sich nur bewerkstelligen, wenn die Macht der Regierungen zurückgedrängt würde. Dann stünde aber der Fortbestand der Integration auf dem Spiel.30 Die Parlamentarier stimmen grundsätzlich nicht nach ihrer Staatsangehörigkeit ab. Vielmehr gruppieren sie sich zumeist nach ihren politischen Ansichten und entscheiden danach. Wenn das EP nur wenige Vorschläge der Kommission ablehnt, liegt dies nicht an parlamentarischer Nachlässigkeit. Es ist eher anzunehmen, dass die vorhergehenden Arbeiten der Beteiligten von solcher Qualität sind, dass eine Mehrheit zustimmt. Der EuGH hat in Art. 220 EG einen deutlichen Auftrag erhalten: Der Gerichtshof sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrags. Er wird dabei vom Gericht erster Instanz unterstützt. Der EuGH ist als Integrationsfaktor nicht hinwegzudenken. Diese Funktion ist aber nicht frei schwebend, sondern an Rechtsnormen und Rechtsgrundsätze gebunden. Bei der Rechtsfortbildung ist zwar der Zusammenhang mit den ausdrücklich festgelegten Rechtssätzen gelockert, aber nicht aufgehoben. Der EuGH greift auch auf die Ansätze in den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und auf internationale Verträge zurück, denen die Mitgliedstaaten angehören.31 Schließlich ist noch auf den Europäischen Rat hinzuweisen, der außerhalb des Gemeinschaftsrechts angesiedelt ist. In ihm kommen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie der Präsident der Kommission zusammen. Er erfüllt seinen Auftrag nach Art. 4 Abs. 1 EU, der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse zu geben und die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung festzulegen. Das Organisationsstatut der EU und der Gemeinschaften ist zwar ausführlich in den Verträgen festgelegt, es bleibt aber noch Raum für Rechtsfortbildung auf diesem Gebiet. Vor allem hat der EuGH Wert auf ein ausgewogenes Verhältnis der Organe zueinander gelegt. Das institutionelle Gleichgewicht gebietet es, dass jedes Organ seine Befugnisse unter der Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt. Es verlangt auch, dass eventuelle Verstöße gegen diesen Grundsatz geahndet werden können.32 Auf diese Weise sind die Organe in der Lage, die Interessen, für die sie stehen, bestmöglich durchzusetzen. Dieser kurze Abriss muss genügen, um zu zeigen, dass das Organisationsstatut der EU auf die Bedürfnisse einer supranationalen Hoheitsgewalt zugeschnitten ist. In dieser Zusammensetzung ist es geeignet, die europäische Integration zu fördern.
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A. Maurer, Regieren nach Maastricht: Die Bilanz des Europäischen Parlaments nach fünf Jahren „Mitentscheidung“, integration 1998, S. 212. G. G. Sander, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration, 1998; vgl. z.B. EuGH, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727, Rn. 13 f. EuGH, Rs. 70/88, Parlament/Rat, Slg. 1990, I-2041, Rn. 21 f.
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d) Die Konstruktion der europäischen Rechtsetzung Das Initiativrecht für Gesetzesvorschläge liegt in nahezu allen Bereichen und Verfahren allein bei der Kommission.33 Rat und EP können demnach nicht von sich aus gesetzgeberisch tätig werden. Sie können die Kommission allerdings zu Vorschlägen für Gesetzesvorhaben auffordern. Eine Ausnahme bildet insoweit Art. 190 Abs. 4 EG, der dem EP aufgibt, einen Entwurf für das Wahlverfahren zum EP auszuarbeiten. In der Praxis arbeiten die Kommissionsbeamten eine Vorlage aus, wobei sie in der Anfangsphase oft unabhängige Persönlichkeiten zu Rate ziehen. In diesem Stadium können zudem Interessenverbände und -gruppen ihre Argumente vorbringen und dadurch inhaltlichen Einfluss haben. Wegen des Mangels an parlamentarischer Verantwortlichkeit der Kommission gibt es Grund, hier kritisch zu sein. Auf der anderen Seite ist die Kommission gerade bei technischen Regelungen oftmals auf detaillierte Kenntnisse der jeweils Betroffenen angewiesen. Zudem kann die daraus folgende Unabhängigkeit auch Vorteile bieten. Hat die Kommission einen Vorschlag ausgearbeitet, treten Rat und EP gemäß den jeweiligen Verfahrensvorschriften hinzu. Den Regelfall bildet dabei mittlerweile das Verfahren der Mitentscheidung nach Art. 251 EG. Danach entscheiden Rat und EP gemeinsam und gleichberechtigt über den Vorschlag der Kommission. Im Rahmen des Zustimmungsverfahrens kann kein Rechtsakt ohne Zustimmung des EP zustande kommen. Allerdings hat das EP darüber hinaus keine weiteren Verfahrensrechte, sodass es den Rechtsakt nicht selbst inhaltlich gestalten kann. Dieses Verfahren findet Anwendung in den Bereichen der Beitritts- und Assoziierungsverträge (Art. 49 EU, Art. 300 Abs. 3 EG), der Ermächtigung zur Aufnahme einer verstärkten Zusammenarbeit (Art. 11 Abs. 2 EG), der Übertragung von Aufsichtsaufgaben an die Europäische Zentralbank (EZB) (Art. 105 Abs. 6 EG), bei bestimmten Änderungen der ESZB-Satzung (Art. 107 Abs. 5 EG), bei den Aufgaben der Strukturfonds (Art. 161 EG), bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten (Art. 214 Abs. 2 EG) und beim Haushaltsplan (Art. 272 Abs. 4 EG). Das Verfahren der Zusammenarbeit nach Art. 252 EG, bei dem der Rat den vorgeschlagenen Rechtsakt nach Anhörung des EP alleine beschließt, findet nur noch in den Bereichen der multilateralen Überwachung der Wirtschaftspolitik (Art. 102 Abs. 2 EG), bei bestimmten Kredit- und Haftungsverboten von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten (Art. 103 Abs. 2 EG) sowie bei der Ausgabe von Banknoten und Münzen (Art. 106 Abs. 2 EG) Anwendung. Ein besonderes Verfahren findet nach Art. 300 EG beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge Anwendung. Danach gibt die Kommission dem Rat Empfehlungen, woraufhin dieser der Kommission ein Verhandlungsmandat erteilt, welches auch inhaltliche Richtlinien für die Verhandlungen beinhalten kann. Nach dieser Maßgabe führt die Kommission die Verhandlungen. Die Abkommen werden dann im
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Dazu und zum Folgenden näher S. Kadelbach, Autonomie und Bindung der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2006), S. 7 (25 ff.).
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Namen der Gemeinschaft vom Rat geschlossen. Die Beteiligung des EP ist je nach Gebiet unterschiedlich ausgeprägt. In bestimmten Fällen delegierter Rechtsetzung (sog. Komitologie) kann die Kommission in vier verschiedenen Verfahren eigene Rechtsakte erstellen. Hierbei handelt es sich um das Beratungs-, das Verwaltungs-, das Regelungs-, und (neuerdings) das Regelungskontrollverfahren.34 Bei den vorgeschriebenen Verfahren ist eine Eigenart der europäischen Rechtsordnung besonders hervorzuheben. Für Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen ist eine Begründungspflicht in Art. 253 EG und in Art. 162 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EA) angeordnet. Auf diese Weise lässt sich der Zweck einer Rechtsnorm der Begründung entnehmen. Die Gerichte sind nicht darauf angewiesen, Äußerungen im Verlauf der Gesetzgebung aufzugreifen, die nicht verlässlich die Intention des Gesetzgebers wiedergeben, weil man nicht weiß, ob die endgültige Fassung darauf aufbaut. Der Gesetzestext lässt häufig mehrere Deutungen zu. Auf Grund der Begründungspflicht für Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane haben die Gerichte eine authentische Angabe vor sich.35 e) Rechtshandlungen Der Union stehen vielfältige Handlungsformen zur Verfügung. Ausgangsnorm ist dabei Art. 249 EG.36 Die Verordnungen sind das Gesetz der ganzen EU. Sie können am tiefsten in die nationalen Rechtsordnungen eingreifen. Sie haben allgemeine Geltung und sind in allen Teilen verbindlich und unmittelbar anwendbar. Richtlinien bezwecken die Rechtsangleichung, sollen Widersprüche zwischen den einzelstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften beseitigen oder Unterschiede schrittweise abbauen. Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt ihm aber die Wahl der Form und der Mittel. Der Erlass einer Richtlinie bedingt ein zweistufiges Verfahren der Rechtsetzung. Auf der ersten, gemeinschaftsrechtlichen Stufe wird das durch diese Rechtsakte angestrebte Ergebnis für die jeweiligen Adressaten verbindlich festgelegt. Auf der zweiten, nationalen Stufe erfolgt die inhaltliche Verwirklichung des gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebenen Ergebnisses im Recht der Mitgliedstaaten. Viele Betrachter wissen nicht, dass hinter einer mitgliedstaatlichen Regelung mittlerweile häufig europäisches Recht steht, welches vorrangig ist. Daneben gibt es noch die einzelfallbezogene, verbindliche Entscheidung, sowie Empfehlungen oder Stellungnahmen. Die europäische Rechtsetzung hat darüber hinaus auch noch eine weitere Handlungsform hervorgebracht: den Beschluss, der
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Zu den Einzelheiten siehe den aktuellen Komitologie-Beschluss 1999/468/EG des Rates, ABl. 1999 L 184, S. 23. Ausführlich dazu T. Müller-Ibold, Die Begründungspflicht im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1999. Zur Problematik einer solchen Authentizität F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, 2007, S. 488 ff. Näher J. Bast, in diesem Band, S. 525 ff.
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vor allem der verbindlichen Regelung der Verhältnisse zwischen den oder innerhalb der Organe der Union dient.37 2. Aufgaben und Ziele In den staatlichen Verfassungen trifft man selten auf Aufgaben und Ziele. Allerdings ist vermehrt zu beobachten, dass auch auf nationaler Ebene Staatszielbestimmungen in die Verfassung aufgenommen werden. Beispiele hierfür in der Bundesrepublik sind die Einführung des Tierschutzes in Art. 20a GG oder die Überlegungen, Kultur und Sport als von der Verfassung besonders geschützt hervorzuheben. Die Gemeinschaftsverträge sind hingegen mit zahlreichen Verpflichtungen dieser Art ausgestattet. Sie erlegen den Unionsorganen auf, die Vorgaben der Gründer zu verwirklichen. Aufgaben und Ziele bestimmen die Zwecke der Rechtsetzung und der Verwaltungstätigkeit. Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten engen die Ziele den Regelungsbereich der EG ein. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 EG setzt für die Tätigkeit der Gemeinschaft nicht nur voraus, die zugewiesenen Befugnisse einzuhalten, sondern auch innerhalb der Grenzen der gesetzten Ziele zu bleiben. Zwischen den Aufgaben und den Zielen ist kein Unterschied zu erkennen, sodass beide gleich eingesetzt werden können. Der EG-Vertrag weist in Art. 2 EG eine allgemeine Aufgabenstellung auf. Die Aufzählung von Tätigkeitsfeldern in Art. 3 EG begründet eine Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane, die aufgeführten Gebiete zu gestalten. Innerhalb der einzelnen Bereiche finden sich noch näher konkretisierte Ziele. Als Beispiele seien Art. 14 EG für den Binnenmarkt und Art. 33 EG für die Landwirtschaft herausgegriffen.38 3. Die Aufteilung der Hoheitsgewalt In einem föderativen Zusammenschluss muss die größere Einheit bestimmen, wie die Hoheitsgewalt aufgeteilt ist, da sonst die Einheit des Rechts gefährdet ist.39 Es besteht dann die Möglichkeit, dass entweder ein Sachbereich nicht geregelt wird, obwohl ein Bedarf dafür vorhanden ist, oder dass sich widersprechende Regelungen gegenüberstehen. Die grundlegende Entscheidung steht in Art. 5 EG. Danach hat die EG nur die zugewiesenen Kompetenzen inne. Diese können ausschließlich der EG zugewiesen sein, was allerdings nur selten vorkommt. Zumeist handelt es sich um konkurrierende oder parallele Kompetenzen. Überwiegend ist der EG ein bestimmtes Sachgebiet zur Regelung überantwortet. Es gibt aber auch zielgerichtete Kompetenzen. Sie beschränken sich auf die allgemeine Rechtsangleichung nach 37 38
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Zum Beschluss ausführlich J. Bast, Grundbegriffe der Handlungsformen der EU, 2006, S. 109 ff. Näheres bei P.-C. Müller-Graff, in: M. A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Stand: Okt. 2007), A. I; M. Zuleeg, in: Groeben/Schwarze (Fn. 12), Erl. zu Art. 2 und 3 EG. A. v. Bogdandy/J. Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441, zeigen auf, wie wichtig die Aufteilung der Kompetenzen in einem föderativen Verband ist.
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Art. 94 und 95 EG zur Vollendung des Binnenmarkts und auf die Ergänzungsklausel in Art. 308 EG. Diese Bestimmungen werden wegen ihrer Offenheit heftig angegriffen, weil sie angeblich der EG gestatten, den Mitgliedstaaten unter Berufung auf weit gespannte Ziele Kompetenzen zu entziehen.40 Die finalen Rechtsgrundlagen, wie sie genannt werden, sind weit gefasst, aber nicht nur auf Zielvorgaben ausgerichtet. Zu Aufbau und Ausgestaltung des Binnenmarkts sind Art. 94, 95 und 308 EG unentbehrlich, wie die zahlreichen Rechtsakte bezeugen, die auf diese Rechtsgrundlagen gestützt sind. Die europäische Rechtsordnung kennt auch Kompetenzen auf Grund des Sachzusammenhangs.41 Darüber hinaus sind die Kompetenzen bei den Mitgliedstaaten verblieben. Die supranationale Hoheitsgewalt wird durch das Subsidiaritätsprinzip noch zusätzlich eingeschränkt.42 Damit ist eine kohärente Aufteilung der Hoheitsgewalt erreicht. Zu beachten ist, dass die Aufteilung je nach der Funktion unterschiedlich sein kann. Die Rechtsetzung ist zu einem erheblichen Anteil auf die EU übergegangen. Beim Erlass von Richtlinien sind die Gemeinschaften mit den Mitgliedstaaten verbunden. Diese müssen den Inhalt der Richtlinien in ihr Recht umsetzen. Auf einigen Sachgebieten ist die Verwaltungstätigkeit der EG überantwortet. In der Hauptsache liegt der Verwaltungsvollzug aber auf der Grundlage des europäischen Rechts in der Hand der Mitgliedstaaten. Die europäische Gerichtsbarkeit entscheidet über Streitigkeiten innerhalb der europäischen Rechtsordnung. Der EuGH befindet über die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus dem europäischen Recht. Die mitgliedstaatlichen Gerichte sind institutionell keine gemeinschaftlichen Gerichte, wohl aber ihrer Funktion nach.43 Zwischen dem EuGH und den mitgliedstaatlichen Gerichten bewirkt das Vorabentscheidungsverfahren eine Zusammenarbeit auf der Grundlage von Art. 234 EG.44 Trotz der geschilderten Aufteilung kann es zu Kollisionen zwischen dem europäischen und dem mitgliedstaatlichen Recht kommen. Der EuGH hat dafür ein Kollisionsrecht entwickelt. Es herrscht der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht. Dieser Vorrang ist kein Geltungs-, sondern ein Anwendungsvorrang. Der Eingriff in die mitgliedstaatliche Rechtsordnung bleibt so auf 40 41 42 43
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P. Kirchhof, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR Beiheft 1/1991, S. 11 (16 f.). K.-D. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU, 2006, Rn. 424. Dazu K. W. Nörr/T. Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, 1997; M. Zuleeg, Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht, in: FS Schockweiler, 1999, S. 635. M. Zuleeg, Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europäischen Integration, JZ 1994, S. 1 (2); sog. dédoublement fonctionnel: S. Cassese, Der Einfluß des gemeinschaftsrechtlichen Verwaltungsrechts auf die nationalen Verwaltungsrechtssysteme, Der Staat 33 (1994), S. 25 (26). EuGH, Rs. C-50/00 P, UPA/Rat, Slg. 2000, I-6677, Rn. 38 ff. Näher M. Zuleeg, in: Groeben/ Schwarze (Fn. 12), Art. 5 EG, Rn. 16. Siehe auch v. Bogdandy/Bast (Fn. 39), S. 441; M. Zuleeg, Die Aufteilung der Hoheitsgewalt zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten aus der Sicht der deutschen Verfassung, in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Grundfragen der europäischen Verfassungsentwicklung, 2000, S. 91.
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ein Mindestmaß beschränkt. Zur Vermeidung von Kollisionen haben sich einige Strategien herausgebildet. An erster Stelle ist die gemeinschaftskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung mitgliedstaatlichen Rechts zu nennen.45 Friktionen treten nicht auf, wenn die EU Bestandteile der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen rezipiert. Das ist in großem Umfang geschehen. Die Mitgliedstaaten müssen den Pflichten aus dem Gemeinschaftsrecht nachkommen und europäische Regelungen in ihr Recht einfügen. Diese Art der Rezeption hat ebenfalls ein beträchtliches Ausmaß angenommen. Sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten können Kollisionen vorbeugen, indem sie ihre Rechtsordnungen an die jeweils andere anpassen. Zur Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnungen trägt es bei, wenn deren Organe zusammenwirken. Schließlich lassen sich mit Hilfe von Aufsicht und Sanktionen Kollisionen verhindern oder beheben. Besondere Strukturelemente der europäischen Verfassung verschärfen die Konfliktlage: die Wirksamkeit des europäischen Rechts, die subjektiven Rechte und die Einheit des Gemeinschaftsrechts.46 4. Verfassungsgrundsätze a) Demokratie Die Verfassung der EU ist auf die Demokratie gegründet. Für den EuGH spiegelt die Beteiligung des EP am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft ein grundlegendes demokratisches Prinzip wider, wonach die Völker durch eine Versammlung ihrer Vertreter an der Ausübung hoheitlicher Gewalt teilhaben.47 Die Präambeln zur Einheitlichen Europäischen Akte und zum Vertrag von Maastricht weisen die Demokratie als Grundlage der Gemeinschaft aus. Der Vertrag von Amsterdam fügt den Grundsatz in den Unionsvertrag ein (Art. 6 Abs. 1 EU). Die demokratischen Wesenszüge des europäischen Zusammenschlusses haben sich im Lauf der Zeit verstärkt.48 Er beruht auf dem Willen der Völker der Union (Art. 189 Abs. 1 EG) und ist an der Selbstbestimmung der Unionsbürger ausgerichtet.49 Zur nationalen tritt die europäische Legitimation aus den Mitgliedstaaten hinzu.50 Nach wie vor wird ein Demokratiedefizit der Europäischen Union beklagt. Die Verträge von Amsterdam und Nizza haben aber erneut einen Zuwachs an Kompetenzen für das Europäische Parlament erbracht. Auf wichtigen Gebieten hat es allerdings noch immer kein Mitentscheidungsrecht, beispielsweise bei der Agrarpolitik 45
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M. Zuleeg, Die gemeinschaftskonforme Auslegung und Fortbildung mitgliedstaatlichen Rechts, in: R. Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, 1999, S. 163. Zu allem ausführlich M. Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht – wechselseitige Einwirkungen, VVDStRL 53 (1994), S. 153; zu den Strukturmerkmalen der europäischen Rechtsordnung unten, Abschn. 5. EuGH, Rs. 138/79, Roquette Frères/Rat, Slg. 1980, 3333, Rn. 33; Rs. C-300/89, Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2867, Rn. 20. Dazu Zuleeg, Demokratie (Fn. 11). J. Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, S. 585 (588 f.). W. Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 30–66; Zuleeg, Demokratie (Fn. 11). BVerfGE 89, 155 (186).
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nach Art. 37 Abs. 2 UAbs. 3 EG und bei Art. 308 EG, wo das EP nur angehört werden muss. Auf solchen Tätigkeitsfeldern gewinnt die Legitimation von den Mitgliedstaaten her größere Bedeutung. Der demokratische Grundsatz bleibt also gewahrt. Dennoch wird dem europäischen Zusammenschluss die Fähigkeit zur Demokratie abgesprochen. Das Fehlen einer gemeinsamen Sprache behindere die politischen Kräfte beim Kampf um die besten Konzepte. Europäische Parteien und Interessenverbände gebe es nicht. Eine europäische Öffentlichkeit sei nicht erkennbar. Das Europäische Parlament sei nicht in der Lage, in das politische Geschehen einzugreifen. Kurz: Eine lebendige Demokratie fehle in Europa.51 Empirische Belege für mangelhafte Randbedingungen der Demokratie sind nicht erbracht. Das EP hat bisher seine Kompetenzen wahrgenommen. Es ist zu einem Machtfaktor in der Europäischen Union herangereift. Mit der Verlagerung von Entscheidungsvorgängen auf die europäische Ebene wächst die öffentliche Aufmerksamkeit für europäische Politik. Gewiss bedarf es noch einer Ausweitung demokratischer Herrschaft in Europa. Die noch bestehenden Unzulänglichkeiten sind aber nicht geeignet, die europäische Demokratie in Frage zu stellen.52 Das BVerfG geht im Urteil zum Vertrag von Maastricht von unterschiedlichen Begriffen der Demokratie aus. Auf europäischer Ebene muss lebendige Demokratie herrschen. „Die Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet, rechtlichen Ausdruck zu geben“.53 Geistige und politische Homogenität bedeutet, dass das Staatsvolk gleich denkt und entscheidet. Das ist ein Zerrbild der Demokratie und das Gegenteil einer lebendigen Demokratie. Mit dem Übergang von Hoheitsrechten auf die Europäische Union droht angeblich die Entstaatlichung der Mitgliedstaaten, ohne dass auf europäischer Ebene mangels eines Volks eine vollwertige Demokratie entstehen könne.54 Das BVerfG hat früher ein anderes Verständnis der Demokratie an den Tag gelegt. Damals rückte es die freie Selbstbestimmung aller in den Mittelpunkt.55 Freiheitliche Demokratie ist auf Individuen ausgerichtet. Eine solche Vorstellung von Demokratie lässt sich auf die Europäische Union übertragen.
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Namentlich D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581. Dagegen J. Habermas, Remarks on Dieter Grimm’s „Does Europe Need a Constitution?“, ELJ 1 (1995), S. 303. Siehe auch P. Häberle, Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?, Thüringer Verwaltungsblätter 1998, S. 121; I. Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, DV 26 (1993), S. 449 (479–481); Zuleeg, Nation (Fn. 10), S. 505. M. Zuleeg, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker?, in: J. Drexl u.a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 11 (20 f.). BVerfGE 89, 155 (185 f.). Kirchhof (Fn. 9), insbes. Rn. 57–65. Zur Kritik: R. Bieber, Steigerungsform der europäischen Union: Eine Europäische Verfassung, in: J. Ipsen (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 291 (299–304); Bryde (Fn. 9), S. 305–330; Pernice, Schmitt (Fn. 9), S. 100; Weiler (Fn. 9), S. 91; Zuleeg, Demokratie ohne Volk (Fn. 52), S. 12. BVerfGE 44, 125 (142).
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Die Demokratiefähigkeit der Europäischen Union ist einem weiteren Einwand ausgesetzt. In der Demokratie herrscht Gleichheit. Daraus folgert man, dass ohne gleiches Stimmgewicht bei der Wahl zum Europäischen Parlament ein demokratisches Grundrecht und damit das Bestimmungsmerkmal einer echten Volksvertretung nicht gewährleistet sei.56 Bei gleichem Stimmgewicht wäre das EP jedoch eine aufgeblähte Versammlung ohne Entscheidungsfähigkeit, wenn auch der kleinste Staat proportional vertreten wäre. Ein Parlament ohne oder mit marginaler Vertretung einzelner Staatsvölker wäre ein politisches Unding. Der Ausweg aus diesem Dilemma ist die Einsicht, dass in föderativen Gemeinwesen Abweichungen von der strikten Gleichheit erlaubt, ja sogar geboten sein können, um der Eigenständigkeit und dem Schutzbedürfnis einzelner Einheiten Genüge zu tun. Ein weiterer Grund für Abweichungen kann darin bestehen, Staaten oder andere Gemeinwesen in einen föderativen Verband einzugliedern, ohne deren Identität zu bedrohen. Der Europäischen Union ist eine derartige föderative Demokratie eigen, die sich nicht auf ein Volk, sondern auf Völker stützt.57 b) Rechtsstaatlichkeit Die deutsche Fassung des Art. 6 Abs. 1 EU übernimmt für einen weiteren Grundsatz den Sprachgebrauch in Deutschland. Die Rechtsstaatlichkeit kennzeichnet ein staatsähnliches Gebilde. Der Sache nach waren die Europäischen Gemeinschaften schon vor dem Vertrag von Maastricht auf rechtsstaatliche Erfordernisse verpflichtet. Der EuGH kennzeichnet die Gemeinschaft treffend als Rechtsgemeinschaft.58 Unter deren Merkmalen ist der Grundrechtsschutz hervorzuheben. Allgemeine Rechtsgrundsätze, die dem Rechtsstaatsgedanken entstammen, sind feste Bestandteile der Rechtsordnung der Gemeinschaft.59 Von besonderer Bedeutung ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,60 der jetzt in Art. 5 Abs. 3 EG niedergelegt ist, wenngleich mit einer Wortwahl, die auf die Mitgliedstaaten abzielt. Der Gerichtshof hat diesen Grundsatz von den Grundrechten losgelöst und umfassend im Europarecht eingeführt.61 Belastende Maßnahmen sind danach nur rechtmäßig, wenn sie geeignet und erforderlich sind, das mit der fraglichen Regelung verfolgte Ziel zu er-
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M. Seidel, Zur Verfassung der Europäischen Gemeinschaft nach Maastricht, EuR 1992, S. 125 (127). Vgl. Art. 189 Abs. 1 EG. Näheres bei Zuleeg, Demokratie ohne Volk (Fn. 52), S. 21 f. Siehe auch P. M. Huber, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker?, in: Drexl u.a. (Fn. 52), S. 27; C. Grewe, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker, ebd., S. 59; Pernice, Maastricht (Fn. 51), S. 481 f. EuGH, Rs. 294/83 (Fn. 23), Rn. 23; Gutachten 1/91 (Fn. 15), Rn. 21. Näheres bei M. Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545; A. v. Bogdandy, in diesem Band, S. 39 f. EuGH, verb. Rs. C-13/92 u.a., Driessen, Slg. 1993, I-4751, Rn. 27 ff. Siehe EuGH, Rs. 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237, Rn. 21. Zusammenfassend E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1033. EuGH, Rs. 114/76, Bela-Mühle Josef Bergmann, Slg. 1977, 1211, Rn. 5.
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reichen. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen. Ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.62 In dieser Gestalt kann sich der Grundsatz auf die gesamte Rechtsordnung der Europäischen Union erstrecken. Die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes gelten auch im Gemeinschaftsrecht.63 Nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit müssen die Rechtsvorschriften der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Europarechts so beschaffen sein, dass die Betroffenen unzweideutig erkennen können, was von ihnen verlangt werden kann oder was sie empfangen können. Nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes müssen die gemeinschaftlichen Organe und Einrichtungen – sowie die mitgliedstaatlichen Behörden im Anwendungsbereich des europäischen Rechts – nachteilige Maßnahmen unterlassen, wenn die Betroffenen in gutem Glauben europäischen Regelungen zuwiderhandeln.64 Bei wirtschaftlich existenzgefährdenden Eingriffen sind Übergangsregelungen vorzusehen.65 Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht absolut, sondern ist der Abwägung zugänglich. Der Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung wie auch das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für belastende Maßnahmen sind im Gemeinschaftsrecht anerkannt.66 Ein Verwaltungsverfahren, das rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht, muss gewährleistet sein.67 Rechtsschutz vor einem unabhängigen Gericht muss nicht nur gegen die Hoheitsgewalt der Gemeinschaft, sondern auch gegen die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts eingeräumt sein.68 Die Mitgliedstaaten sind angehalten, das Gemeinschaftsrecht in ihrem Hoheitsbereich wirksam durchzusetzen.69 Das Prinzip der Gewaltentrennung, wie
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EuGH, Rs. 265/87 (Fn. 60), Rn. 21. EuGH, Rs. 66/79, Salumi, Slg. 1980, 1237, Rn. 10; verb. Rs. C-31/91 bis C-44/91, Lageder, Slg. 1993, I-1761, Rn. 33. Ausführlich J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2005, S. 843–1133, zur Rechtssicherheit; K.-D. Borchardt, Der Grundsatz des Vertrauensschutzes im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1988; B. Berninghausen, Die Europäisierung des Vertrauensschutzes, 1998. Vgl. EuGH, verb. Rs. C-31/91 bis C-44/91 (Fn. 63), Rn. 33. EuGH, Rs. 74/74, CNTA/Kommission, Slg. 1976, 797, Rn. 6/8. EuGH, Rs. 8/88, Deutschland/Kommission, Slg. 1990, I-2321, Rn. 13; Rs. 46/87, Hoechst/ Kommission, Slg. 1989, 2859, Rn. 19. Dazu Schwarze (Fn. 63), S. 193–488; D. Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, 1996. EuGH, Rs. C-269/90, Technische Universität München, Slg. 1991, I-5469, Rn. 14. Dazu H.-W. Rengeling, Rechtsgrundsätze beim Verwaltungsvollzug des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1977, S. 254–301. EuGH, Rs. 294/83 (Fn. 23), Rn. 23; Rs. 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1651, Rn. 17 ff. Umfassend H.-W. Rengeling/A. Middeke/M. Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2003. EuGH, Rs. 68/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 2965, Rn. 23; S. Magiera, Die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts im europäischen Integrationsprozeß, DÖV 1998, S. 173.
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es die deutsche Verfassung kennt, ist nicht ohne weiteres auf die Union zu übertragen, eine unabhängige Gerichtsbarkeit muss es aber geben.70 c) Föderative Grundsätze Die deutsche Verfassung fordert von der EU, föderative Grundsätze zu befolgen (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG). In der europäischen Rechtsordnung findet man diesen Begriff nicht. Er kennzeichnet aber wesentliche Elemente der Unionsverfassung.71 An erster Stelle ist die Gemeinschaftstreue zu nennen. Art. 10 EG hält die Mitgliedstaaten der EU an, ihre Pflichten aus dem Gemeinschaftsrecht zu befolgen, der EG die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erleichtern, sie zu unterstützen und schädliche Maßnahmen zu unterlassen. Der EuGH spricht von einer Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit.72 Diese gilt mittlerweile auch zweifelsfrei im Recht des EU-Vertrags.73 Die Gemeinschaftstreue ist eine selbständige Pflicht der Mitgliedstaaten.74 Ist die Verpflichtung der Mitgliedstaaten in einer spezifischen Vorschrift des Gemeinschaftsrechts geregelt, tritt die Gemeinschaftstreue unterstützend hinzu.75 Die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts ist eng mit der Gemeinschaftstreue verbunden.76 Zur Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts trägt es bei, dass der EuGH nicht allein den Mitgliedstaat als Ganzen für verpflichtet hält, die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts zu erfüllen, mag auch das Verfahren wegen einer Vertragsverletzung nur gegen den Mitgliedstaat selbst ablaufen.77 Die Mitgliedstaaten sind nach dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue verpflichtet, mit den Organen der EU zusammenzuarbeiten, Hindernisse für die wirksame Anwendung des Gemeinschaftsrechts aus dem Weg zu schaffen und der Gemeinschaft Amtshilfe zu leisten.78 Die Mitgliedstaaten können sich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände ihrer internen Rechts- oder Finanzordnung berufen, um zu rechtfertigen, dass sie ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht nicht eingehalten haben.79 Praktische Schwierigkeiten vermögen die Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht zu hindern.80 Der EuGH hat in richterlicher Rechtsfortbildung den Grundsatz der Gemeinschaftstreue auf das Verhalten der Gemeinschaft zu ihren Mitgliedstaaten ausge-
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EuGH, Gutachten 1/91 (Fn. 15), Rn. 21 ff. Ausführlich dazu M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, S. 2846. EuGH, Rs. 230/81, Luxemburg/Parlament, Slg. 1983, 255, Rn. 37. EuGH, Rs. C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285, Rn. 39–42. R. Söllner, Artikel 5 EWG-Vertrag in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, 1985, S. 49–126, mit zahlreichen Nachweisen aus der älteren Judikatur; aus jüngerer Zeit A. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Fn. 24), Erl. zu Art. 10 EG. EuGH, verb. Rs. C-332, C-333, C-335/92, Eurico Italia, Slg. 1994, I-711, Rn. 22. Vgl. zu den Pflichten der Mitgliedstaaten Zuleeg, Verwaltungsrecht (Fn. 46), S. 184–190. EuGH, Rs. C-33/90, Kommission/Italien, Slg. 1991, I-5987, Rn. 19, 24. EuGH, Rs. 217/88, Kommission/Deutschland, Slg. 1990, I-2879, Rn. 33. EuGH, Rs. C-290/89, Kommission/Belgien, Slg. 1991, I-2851, Rn. 9. EuGH, Rs. C-244/89, Kommission/Frankreich, Slg. 1991, I-163, Rn. 20.
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dehnt.81 Den Unionsorganen sind Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten auferlegt.82 Nach der Rechtsprechung des EuGH 83 schirmen diese Pflichten Bestandteile der nationalen Rechtsordnung aber nicht gegen eine Einwirkung der Gemeinschaft ab, weil sie dem Verfassungsrecht angehören.84 Die Unionsorgane müssen jedoch auf die berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten achten.85 In der praktischen Anwendung ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein Mittel zum Ausgleich der Interessen. Die Gemeinschaftstreue erstreckt sich auch auf das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander und zwingt sie zur Zusammenarbeit.86 Zu den föderativen Grundsätzen gehören die Aufteilung der Hoheitsgewalt zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten. Die europäische Rechtsordnung ist mit den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verschränkt.87 Die durch das Gemeinschaftsrecht veranlasste staatliche Tätigkeit lässt sich als Durchführung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten zusammenfassen.88 Die EU wirkt auf die Rechtsetzung der Mitgliedstaaten ein. Diese können ermächtigt sein, von geltendem Gemeinschaftsrecht abzuweichen. Die EG kann die Mitgliedstaaten zur Rechtsetzung verpflichten. Die Umsetzung von Richtlinien ist dafür das beste Beispiel (Art. 249 Abs. 3 EG). Andere Rechtsakte der EG und das Vertragsrecht können aber ebenfalls die Rechtsetzung der Mitgliedstaaten beeinflussen. Das von den Mitgliedstaaten verlangte Verhalten lässt sich mit der Ausführung des Gemeinschaftsrechts kennzeichnen.89 Das so geschaffene Recht gehört der Rechtsordnung des Mitgliedstaats an und unterliegt deren Regeln, muss sich aber dem Gemeinschaftsrecht fügen. Misst ein mitgliedstaatliches Organ dem Gemeinschaftsrecht Rechtswirkung für einen Einzelfall bei, ist die Anwendung des Gemeinschaftsrechts betroffen.90 Für die einschlägige Rechtsnorm stellt sich dann die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit.91 Beim mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzug reichen die Regelungen des Europarechts zur Verwirklichung des Normprogramms nicht aus. Die mitgliedstaatliche Verwaltung darf daher ihr nationales Recht heranziehen. Sie muss aber den Vorrang des Gemeinschaftsrechts beachten und die Pflichten aus der Zugehörigkeit
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EuGH, Rs. 44/84, Hurd, Slg. 1986, 29, Rn. 38. EuGH, Rs. 2/88 Imm. (Fn. 19), Rn. 10. EuGH, Rs. C-213/89, Factortame, Slg. 1990, I-2433, Rn. 18 ff. So aber A. Epiney, Gemeinschaftsrecht und Föderalismus, EuR 1994, S. 301. EuGH, verb. Rs. C-213/88 und C-39/89, Luxemburg/Parlament, Slg. 1991, I-5643, Rn. 29. EuGH, Rs. C-251/89, Athanasopoulos, Slg. 1991, I-2797, Rn. 57. Ausführlich zur Verschränkung der Hoheitsgewalt in der Union: Bitter (Fn. 4). EuGH, verb. Rs. 15/76 und 16/76, Frankreich/Kommission, Slg. 1979, 321, Rn. 31. M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 48 und S. 225–339. Ebd., S. 61–232. Siehe S. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999, S. 57–94; Oppermann (Fn. 25), § 7 Rn. 10 f.
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zur Gemeinschaft loyal erfüllen.92 Auf diese Weise ist eine Europäisierung des Verwaltungsrechts der Mitgliedstaaten im Gange.93 Der Verwaltungsvollzug auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts muss einheitlich und wirksam gewährleistet sein.94 Die Überlagerung des mitgliedstaatlichen Rechts durch europäisches Recht stellt überdies die Gleichheit vor dem Gesetz in der ganzen Union sicher. Auf absehbare Zeit ist nicht zu erwarten, dass sich ein einspuriges Verwaltungsrecht herausbildet.95 Daher müssen sich die Mitgliedstaaten darauf einstellen, dass zwei Systeme des Verwaltungsrechts bestehen: das europäisch überlagerte und das ausschließlich nationale Verwaltungsrecht.96 Wenden die Gerichte der Mitgliedstaaten Gemeinschaftsrecht an, gilt dafür das mitgliedstaatliche Prozessrecht. Die Rahmenbedingungen des Gemeinschaftsrechts sind aber einzuhalten.97 Die mitgliedstaatlichen Verfahren dürfen für die Einzelnen nicht ungünstiger gestaltet sein als bei rein innerstaatlichen Verfahren (Grundsatz der Gleichwertigkeit) , und sie dürfen die Ausübung der Rechte aus dem Gemeinschaftsrecht nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität).98 Die Mitgliedstaaten unterstehen der Gemeinschaftsaufsicht, mit deren Hilfe die EU diese anhält, das Gemeinschaftsrecht zu befolgen. Den Anfang machte der – mittlerweile außer Kraft getretene – Vertrag über die Gründung der Europäischen
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Ausführlich Kadelbach (Fn. 91), S. 108–162. Siehe auch Magiera (Fn. 69); J. Suerbaum, Die Kompetenzverteilung beim Verwaltungsvollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts in Deutschland, 1998, S. 119–208. M. Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, 1996; C. D. Classen, in: K. F. Kreuzer u.a. (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997, S. 107; Kadelbach (Fn. 91), S. 296–484; D. H. Scheuing, Rechtsprobleme bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, EuR 1985, S. 229; ders., Europarechtliche Impulse für innovative Ansätze im deutschen Verwaltungsrecht, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 289; E. Schmidt-Aßmann, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht, DVBl. 1993, S. 924; ders., Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, in: FS Lerche, 1993, S. 513; J. Schwarze, Konvergenz im Verwaltungsrecht der EU-Mitgliedstaaten, DVBl. 1996, S. 881; ders. (Hrsg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996; M. Schweitzer (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991; K.-P. Sommermann, Europäisches Verwaltungsrecht oder Europäisierung des Verwaltungsrechts, DVBl. 1996, S. 889. Siehe auch C. D. Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996. G. C. Rodríguez Iglesias, Zu den Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 1997, S. 289. Dafür C. Engel, Die Einwirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Verwaltungsrecht, DV 25 (1992), S. 437 (475 f.). S. Kadelbach, Der Einfluß des EG-Rechts auf das nationale Allgemeine Verwaltungsrecht, in: T. von Danwitz u.a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 132. J. Schwarze, Europäische Rahmenbedingungen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ 2000, S. 241. EuGH, Rs. C-326/96, Levez, Slg. 1998, I-7835, Rn. 18.
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Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Art. 88 EGKS-Vertrag sah Sanktionen für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht vor, die aber kaum Erfolg versprachen. Die Römischen Verträge begnügten sich ursprünglich mit einer Feststellung der Vertragsverletzung (nach heutiger Zählung Art. 226 EG, 141 EA). Die Kommission betreibt das Verfahren, die Vertragsverletzung stellt der EuGH fest. Ausnahmsweise darf die Kommission allein die Entscheidung treffen, so im Recht der EGKS und im Beihilfenrecht der EG. Seit dem Vertrag von Maastricht kann der EuGH auf Vorschlag der Kommission hin einen zu zahlenden Pauschalbetrag oder ein Zwangsgeld anordnen (Art. 228 Abs. 2 S. 3 EG und Art. 143 EA).99 Der Vertrag von Amsterdam hat eine Art Verfassungsaufsicht eingeführt (Art. 7 EU).100 Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Kommission und nach Zustimmung des Parlaments kann der Rat eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze feststellen. Parlament und Rat, der in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagt, haben also die Bestimmungsmacht über Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit inne. Der Rat kann Rechte des betroffenen Mitgliedstaats aussetzen, vor allem die Stimmabgabe im Rat. d) Grundrechtsschutz Der EuGH hat im Wege der Rechtsfortbildung europarechtliche Grundrechte entwickelt.101 Als Grundlage dienten zunächst die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Später zog der EuGH auch völkerrechtliche Verträge heran, in denen Menschenrechte verankert sind. Nicht zuletzt lassen sich auch in den Gründungsverträgen Anhaltspunkte für Grundrechte entdecken, mögen die jeweiligen Vorschriften auch diese Art von Rechten nicht ausdrücklich kennzeichnen.102 Art. 6 Abs. 2 EU bestimmt, dass die Union die Grundrechte achtet, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Die materiellen Bestimmungen der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sind damit in das Europarecht eingegliedert. Die Zusatzprotokolle sind zwar nicht genannt, nehmen aber an der Inkorporation teil. Die 99
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Das erste Mal ist dies in EuGH, Rs. C-387/97, Kommission/Griechenland, Slg. 2000, I-5047, Rn. 99, geschehen. Näher M. Zuleeg/T. Tohidipur, Strukturmerkmale des Europarechts zwischen Integration und Sanktion, in: FS Bothe, 2008, S. 1089. Zum Aufsichtsverfahren K.-D. Borchardt, in: Dauses (Fn. 38), P I 1. Näheres bei v. Bogdandy (Fn. 2), S. 14–16. Siehe B. Beutler in: Groeben/Schwarze (Fn. 12), Art. 6 EU, Rn. 51–96; H.-W. Rengeling/ P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004; ausführlich J. Kühling, in diesem Band. Nachweise bei M. Zuleeg, Der Schutz der Menschenrechte im Gemeinschaftsrecht, DÖV 1992, S. 937 (940 f.). Ein besonders umstrittener Fall ist in dieser Hinsicht EuGH, Rs. C-144/ 04, Mangold, Slg. 2005, I-9981, Rn. 74 f.
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Wahrung und Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstands nach Art. 3 Abs. 1 EU umfasst namentlich die Grundrechte, wie aus Art. 6 Abs. 2 EU hervorgeht. Die Grundrechte der Union richten sich an die europäische Hoheitsgewalt. Sie gelten aber auch für die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Europarechts.103 Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union104 ist geeignet, den Standard des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union und in den Mitgliedstaaten einander anzunähern, auch wenn die Charta unverbindlich bleiben sollte. Sie kann den effizienten Schutz Einzelner verstärken und die Grundrechte bekannt machen.105 Die europäischen Gerichte sind in der Lage, die Charta als Bestätigung der Grundrechte als Bestandteil der europäischen Verfassung anzusehen, und nutzen diese Möglichkeit nunmehr auch.106 5. Strukturmerkmale der europäischen Rechtsordnung Mit Strukturmerkmalen sind Anforderungen zu verstehen, die quer durch die europäische Rechtsordnung zu beachten sind. Der EuGH legt Wert auf die Einheit der Rechtsordnung.107 Die einheitliche Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist eine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft.108 Der Gerichtshof leitet das Prinzip der einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts aus Art. 10 EG ab.109 Der Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts erstreckt sich räumlich auf alle Mitgliedstaaten.110 Private Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, gehören ebenso dazu.111 Aus dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung folgt zunächst einmal, dass innerhalb der Rechtsordnung Widerspruchsfreiheit herrschen muss. Dazu dienen Kollisionsregeln. Des Weiteren bedingt die Einheit der Rechtsordnung, dass mitgliedstaatliches Recht die gleichmäßige Rechtswirkung der europäischen Rechtsordnung nicht beeinträchtigen darf. Die Rechte Einzelner könnten sonst unterlaufen werden. Die Gleichheit vor dem Gesetz wäre sonst nicht gewahrt, die Wettbewerbsbedingungen auf dem Binnenmarkt wären verfälscht. Schließlich wäre der Rechts-
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EuGH, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, 2609, Rn. 19; seither st. Rspr. ABl. 2007 C 303, S. 1 (Charta der Grundrechte) und S. 17 (Erläuterungen). Siehe Zuleeg, Grundrechte (Fn. 20). Vor Grundrechtsschutz als Integrationsziel warnt A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157; modifizierend ders., Die Minderheitenpolitik der Europäischen Union, KJ 2007, S. 224. Siehe EuG, Rs. T-54/99, max.mobil/Kommission, Slg. 2002, II-313, Rn. 48, 57; nach anfänglichem Zögern folgt dem nun auch der Gerichtshof: EuGH, Rs. C-540/03, Parlament/ Rat, Slg. 2006, I-5769, Rn. 38, 58. EuGH, Rs. 106/77, Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rn. 14/16; Rs. C-213/89 (Fn. 83), Rn. 18. EuGH, Rs. 294/83 (Fn. 23), Rn. 23 ff. EuGH, Rs. 6/64, Costa, Slg. 1964, 1251 (1270). EuGH, Rs. 9/74, Casagrande, Slg. 1974, 773, Rn. 6; Rs. 103/88, Costanzo, Slg. 1989, 1839, Rn. 30 ff. EuGH, Rs. C-188/89, Foster, Slg. 1990, I-3313, Rn. 18.
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schutz unzulänglich, wenn die mitgliedstaatlichen Gerichte die Gültigkeit eines Rechtsakts der Gemeinschaft unterschiedlich beurteilen könnten.112 Die Einheit der Rechtsordnung ist eng verknüpft mit der Wirksamkeit des europäischen Rechts.113 Der EuGH hat bereits frühzeitig den praktischen Nutzen (effet utile) der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts betont, damit die Gemeinschaftsorgane ihre Aufgaben wirksam erfüllen können.114 Die Wirksamkeit des Europarechts ist eine wesentliche Stütze der europäischen Integration. Ihre Nutznießer sind zuvörderst die Bürger als Inhaber subjektiver Rechte. Der Grundsatz der Wirksamkeit geht aber auch über diesen subjektiv-rechtlichen Bereich hinaus. Er trägt insgesamt dazu bei, dass sich das Programm der Rechtsnormen entfalten und verwirklichen kann.115 In allen Mitgliedstaaten müssen die administrativen und gerichtlichen Verfahren so gestaltet sein, dass das Gemeinschaftsrecht vollständig zum Zuge kommt. Die mitgliedstaatlichen Verfahrensvorschriften dürfen für gemeinschaftsrechtlich determinierte Sachverhalte nicht ungünstiger sein als für rein einzelstaatlich bedingte (Gleichwertigkeits- oder Äquivalenzprinzip). Die Anwendung des mitgliedstaatlichen Rechts darf die Tragweite und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigen; es darf den Vollzug des Gemeinschaftsrechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsprinzip).116 Ein einstweiliger Rechtsschutz muss so beschaffen sein, dass es dem Europäischen Gerichtshof vorbehalten bleibt, einen Rechtsakt der Gemeinschaft für ungültig zu erklären.117 Die Mitgliedstaaten können sich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände ihrer internen Rechts- oder Finanzordnung berufen, um zu rechtfertigen, dass sie ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht nicht eingehalten haben.118 Praktische Schwierigkeiten vermögen die Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht zu hindern.119 Vereitelt ein Mitgliedstaat pflichtwidrig die Entstehung subjektiver Rechte, muss er den Betroffenen Schadensersatz leisten.120 Ist zu erwarten, dass die Einzelnen dem Gemeinschaftsrecht Widerstand entgegensetzen, ist der
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EuGH, Rs. 314/85, Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, Rn. 15 ff. M. Nettesheim, Der Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, in: GS Grabitz, 1995, S. 447; siehe auch M. Zuleeg, Die Einheit des Gemeinschaftsrechts steht auf dem Spiel, in: FS Jaenicke, 1998, S. 899. EuGH, Rs. 8/55, Fédéchar/Hohe Behörde, Slg. 1956, 297 (312). F. Snyder, The Effectiveness of European Community Law, Modern Law Review 56 (1993), S. 19. EuGH, Rs. C-326/96 (Fn. 98), Rn. 18. EuGH, verb. Rs. C-143/88 und C-92/89, Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-41, Rn. 22 ff. EuGH, Rs. 254/83, Kommission/Italien, Slg. 1984, 3395, Rn. 5. EuGH, Rs.C-244/89 (Fn. 80), Rn. 20; Rs. C-52/95, Kommission/Frankreich, Slg. 1995, I-4443, Rn. 38. EuGH, Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich, Slg. 1991, I-5357, Rn. 31 ff.
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Einhaltung des Rechts mit Sanktionen Nachdruck zu verleihen.121 Dies kann auch strafrechtliche Sanktionen umfassen.122 Zur Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts trägt es bei, dass der Mitgliedstaat und all seine Untergliederungen auf die Befolgung des Europarechts verpflichtet sind, mag auch das Verfahren wegen einer Vertragsverletzung nur gegen den Mitgliedstaat selbst laufen.123 Auf das Gemeinschaftsrecht verpflichtet sind so alle Gebietskörperschaften, in Deutschland die Länder, in anderen Staaten die Regionen, in allen Mitgliedstaaten die Gemeinden und Gemeindeverbände. Gebunden sind ferner Körperschaften, die Personen zusammenschließen, Anstalten des öffentlichen Rechts, unselbständige Verwaltungsträger bis zu privaten Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind.124 Betrachtet man den Staat im Sinne der horizontalen Gewaltenteilung, ist nicht nur die gesetzgebende Gewalt gehalten, dem Gemeinschaftsrecht Wirksamkeit zu verschaffen, sondern auch die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt. Für die Verwaltung wirft dies das Problem auf, was im Falle eines Widerspruchs zwischen dem Gemeinschaftsrecht einerseits und einer Verwaltungsvorschrift oder Einzelweisung andererseits geschieht. In solchen Fällen gebietet es die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, dass die Gehorsamspflicht in einer solchen Situation zurücktritt. Der Gerichtshof hat die Verwaltung ausdrücklich für verpflichtet erklärt, nationales Recht unangewendet zu lassen, wenn es nicht im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht steht.125 Mag damit auch eine gewisse Rechtsunsicherheit einhergehen, sind die Behörden damit doch nicht überfordert, denn die Pflicht zur vorrangigen Anwendung setzt die Merkmale der unmittelbaren Anwendbarkeit voraus, vor allem die hinreichende Bestimmtheit der Gemeinschaftsnorm. Auf den Vorgesetzten lastet die Verantwortung, die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu erleichtern. Der mitgliedstaatliche Gesetzgeber muss bestehende Schwierigkeiten beheben. Der Verwaltung in den Mitgliedstaaten ist es aber verwehrt, einen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakt für unwirksam zu erklären, solange ihn kein zuständiges (europäisches) Gericht für ungültig erklärt hat.126 Der EuGH hebt hervor, dass die Gemeinschaftsverträge als Verfassung einer Rechtsgemeinschaft eine neue Rechtsordnung geschaffen haben, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren Bürger sind.127 Bereits im Jahr 1963 war es ein Anliegen des EuGH, den Rechten Einzelner aus der Rechts121
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EuGH, Rs. 14/83, von Colson, Slg. 1984, 1891, Rn. 26 ff.; Rs. 68/88 (Fn. 69), Rn. 23 f. Näher M. Böse, Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1996, S. 409 ff.; S. Bitter, Procedural Rights and the Enforcement of EC Law Through Sanctions, in: A. Bodnar u.a. (Hrsg.), The Emerging Constitutional Law of the European Union, 2003, S. 15 (20 ff.). Ausdrücklich: EuGH, Rs. C-77/97, Unilever, Slg. 1999, I-431, Rn. 36. EuGH, Rs. C-33/90, Kommission/Italien, Slg. 1991, I-5987, Rn. 19, 24. Bsp. für Regelungen der deutschen Bundesländer: EuGH, Rs. 8/88 (Fn. 66), Rn. 13. EuGH, Rs. 103/88 (Fn. 110), Rn. 29 ff. EuGH, Rs. 101/78, Granaria, Slg. 1979, 623, Rn. 5. EuGH, Gutachten 1/91 (Fn. 15), Rn. 21.
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ordnung der Gemeinschaft Schutz zu gewähren.128 Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn das Gemeinschaftsrecht den Einzelnen ausdrücklich Rechte einräumt. Es genügt vielmehr, dass aus einer Rechtsnorm klar und eindeutig eine Begünstigung Einzelner hervorgeht, die keiner Bedingung und keinem zeitlichen Aufschub unterliegt, und weder die Gemeinschaft noch die Mitgliedstaaten einen Spielraum zur Ausgestaltung besitzen.129 Die Mitgliedstaaten müssen die Rechte Einzelner aus dem Gemeinschaftsrecht wahren, wenn der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts betroffen ist.130 In Deutschland regt sich dagegen Widerstand, weil angeblich das verwaltungsrechtliche System in Gefahr gerät. Derartige Einwände vermögen nicht, die Wirkung der subjektiven Rechte aus dem Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Bereich abzuschwächen.131 6. Der Umfang der Verfassung Das Vertragsrecht und das Richterrecht bilden die Verfassung der EU. Damit erreicht die europäische Verfassung ein umfangreiches Ausmaß. Im Vergleich dazu sind die mitgliedstaatlichen Verfassungen knapp gehalten. Allerdings gibt es dort, wo ein oberstes Gericht oder gar ein Verfassungsgericht besteht, zumeist eine reichhaltige Rechtsfortbildung und erst recht eine Fülle von Konkretisierungen der Verfassung durch Auslegung. Eine solche Ausgestaltung der Verfassung ist notwendig, um sie lebendig zu halten, neuen Herausforderungen gerecht zu werden, die Schutzwirkung zu verstärken und weit gefasste Bestimmungen zu erläutern. Daher ist in erster Linie der große Umfang des Vertragsrechts ein Problem. Die zwei Gemeinschaften haben je einen Gründungsvertrag, der schon ausgedehnt genug ist. Darum ranken sich Anhänge, Protokolle und Erklärungen. Darüber wölbt sich der Vertrag über die EU, ebenfalls mit Ergänzungen. Mehrere Teile sind in die Gemeinschaftsverträge eingefügt, andere bleiben im Unionsvertrag. Man spricht von „Säulen“, um ein Mindestmaß an Übersichtlichkeit zu erzielen. Hinzu kommen selbständige Verträge, die einen bestimmten Gegenstand gestalten, der zur europäischen Rechtsordnung gehören soll. Für lange Zeit war das Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ein gutes und bekanntes Beispiel. Das Übereinkommen ist auf Art. 220 EG-Vertrag (heute Art. 293 EG) gegründet und der Rechtsprechung des EuGH unterstellt. Nunmehr hat eine Verordnung das Übereinkommen abgelöst,132 allerdings mit Rücksicht auf Dänemark nicht vollständig. Angesichts eines solchen 128 129 130 131
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EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (24 f.). EuGH, verb. Rs. 2/69 und 3/69, Brachfeld , Slg. 1969, 211, Rn. 22/23; Rs. 41/74, van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rn. 5/7; Rs. 8/81, Becker, Slg. 1982, 53, Rn. 25. EuGH, Rs. C-208/90, Emmott, Slg. 1991, I-4269, Rn. 19. M. Zuleeg, Beschränkung gerichtlicher Kontrolldichte durch das Gemeinschaftsrecht, in: S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Verwaltung in der Europäischen Union, 2001, S. 223, mit weiteren Nachweisen. Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ABl. 2001 L 12, S. 1.
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Wirrwarrs verwundert es niemand, dass die europäische Verfassung nicht volkstümlich ist. Eine ausgefächerte Verfassung für die EU hat dennoch gewichtige Gründe. Bei jedem Sprung der europäischen Integration besteht die Gefahr, dass ein Vertrag scheitert, wie die geplante Europäische Verteidigungsgemeinschaft oder jüngst der Verfassungsvertrag gezeigt haben. Sollte ein früherer Vertrag in dem späteren aufgehen, könnte der frühere in Turbulenzen geraten, wenn der ganze Block abgelehnt würde. Bei den Römischen Verträgen hatte der doppelte Vertragsschluss den Vorteil, dass zumindest ein Vertrag in Kraft treten konnte, wenn der jeweils andere nicht angenommen wird. Allerdings zeigt der nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags folgende Vertrag von Lissabon, dass diese Sorge zumindest aktuell unbegründet scheint. Die komplizierte Gestalt der Einheitlichen Europäischen Akte und später des EU-Vertrags erklärt sich daraus, dass die vertragsschließenden Parteien bestimmte Bereiche auf die europäische Ebene heben wollten, aber ohne ihnen eine supranationale Ausrichtung zu verleihen. Anlässe dazu können auch in Zukunft auftreten. Die Mitgliedstaaten als Verfassungsgeber der EU waren bisher bestrebt, bestimmte Angelegenheiten in der Hand zu behalten. Um sie nicht doch den Unionsorganen überantworten zu müssen, regeln die Mitgliedstaaten selbst den betreffenden Bereich durch Vertrag. Das ganze Vertragswerk ist daher von Bestimmungen durchsetzt, die nicht den Unionsorganen überlassen werden sollen. Es ist nicht zu erwarten, dass die Mitgliedstaaten künftig ihre Haltung grundlegend ändern. Folglich bleibt es wahrscheinlich bei einer aufgeladenen Vertragsverfassung. Bei dem einen oder anderen Bestandteil der europäischen Verträge haben einzelne Mitgliedstaaten Vorbehalte. Um sie zufrieden zu stellen, werden dann Ausnahmen, Abweichungen oder Zusätze in Kauf genommen. Auch das bläht die europäische Verfassung auf. Man wird darauf nicht verzichten können.
III. Die zukünftige Entwicklung 1.
Der Bedarf nach einer Verfassung
Nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden über den Verfassungsvertrag war eine Verfassung für Europa unter diesem Namen nicht mehr durchführbar. Daher haben sich die Mitgliedstaaten für eine Reform der Gründungsverträge durch den Lissabonner Vertrag entschieden. Nach wie vor trifft man auch deswegen die Ansicht an, dass die EU gegenwärtig keine Verfassung habe. Zumeist ist diese Einstellung verbunden mit der These, dass die EU gar keine Verfassung haben kann, wie anfangs bereits erwähnt. Andere fordern weiter, der EU eine Verfassung zu geben. Die einen vermissen eine hinlängliche Ausstattung mit demokratischen Zügen. Andere verlangen die Billigung einer Verfassung durch die Völker der EG. Weiterhin wird vertreten, dass die EU zu einer Föderation erstarken muss, um eine Verfassung haben zu können. Es können noch mehr Gründe sein, um nach einer Verfassung zu rufen. All dem ist entgegen
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zu halten, dass die EU schon eine Verfassung hat.133 Die angeprangerten Defizite könnten aber dafür sprechen, für die EU eine neue Verfassung zu schneidern.134 Wer eine neue Verfassung für die EU herbeiwünscht, tut dies, um Fehler zu beheben und Lücken zu schließen, die der EU anhaften.135 Dabei wird häufig offen oder verdeckt die jetzige Verfassungslage als misslich hingestellt. Dieser Standpunkt ist scheinbar nicht mit den angeführten Vorzügen der europäischen Verfassung zu vereinbaren. Diese schließen aber nicht aus, dass Nachteile zu erkennen sind, die man mit einer neuen Verfassung beheben kann. Dabei ist aber darauf zu achten, dass die Vorzüge der bestehenden Verfassung nicht verloren gehen. Jedenfalls scheint ein erneuter Verfassungsgebungsprozess nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags fürs Erste in weite Ferne gerückt. 2. Die Überschaubarkeit der europäischen Verfassung Die gegenwärtige Verfassung ist unübersichtlich, umfangreich, verschlungen und kompliziert. Das lässt sich gar nicht leugnen. Daran knüpft die Forderung an, einen knappen und leicht fasslichen Verfassungstext an die Stelle des heutigen Komplexes zu setzen.136 Eine Gruppe von Experten hatte 2000 im Auftrag der Europäischen Kommission eine schlanke Verfassung als Basisvertrag entworfen, die eine taugliche Diskussionsgrundlage bildete.137 Praktisch bedeutender jedoch: Ein Konvent wurde einberufen, um eine neue Verfassung auszuarbeiten. Dessen Entwurf scheiterte 2005 in der Ratifikationsphase. In beiden Fällen war nicht beabsichtigt, die europäischen Verträge in ihren materiellen Gehalten abzuschaffen. Dies hätte im ersten Fall bedeutet, dass dann die neue Verfassung und die verbliebenen Vertragsbestandteile nebeneinander existiert hätten. Sollte nun die neue Verfassung über dem Rest der Verträge stehen? Das hätte zur Folge gehabt, eine weitere Kollisionsregelung einführen zu müssen. Die niederrangigen Vertragsbestandteile wären zwar verbindlich geblieben, sie hätten sich aber der „Superverfassung“ unterordnen müssen. Auf diese Weise hätte man ein Gebilde geschaffen, das erst recht kompliziert und undurchschaubar gewesen wäre. Die Alternative wäre gewesen, der neuen Verfassung den gleichen Rang wie den verbliebenen Vertragsbestandteilen einzuräumen. Damit wäre keine Klarheit gewonnen worden. Der beste Ausweg aus dem Dilemma wäre eine weitere Reduktion der Komplexität des heutigen Verfassungskonglomerats.138 Beispielsweise könnte man für alle Verfahren der Rechtsetzung in der EG die Mitentscheidung nach Art. 251 EG einführen, womit ein Zuwachs an 133 134 135 136 137 138
Ebenso I. Pernice, Kompetenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866. Siehe D. Thürer, Föderalistische Verfassungsstrukturen für Europa – eine zweite Chance der Entfaltung, integration 2000, S. 89. Vgl. S. Oeter, Ansichten zur Gemeinschaftsverfassung, EuR Beiheft 3/2002, S. 43. R. Bieber, Die Vereinfachung der Verträge zur Errichtung der Europäischen Union, DVBl. 1996, S. 1337. Europäisches Hochschulinstitut, Basisvertrag der Europäischen Union, 2000, unter http:// www.eui.eu/RSCAS/Research/Institutions/couventwurf(2).pdf (14.01.2009). Pernice, Kompetenzabgrenzung (Fn. 133), S. 875.
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eigenständiger Legitimation der supranationalen Hoheitsgewalt gewonnen wäre. Für die Handlungsfähigkeit der EG wäre es von Vorteil, wenn durchgängig die Mehrheitsentscheidung als verfassungsrechtlicher „Normalfall“ gälte.139 Einen wichtigen Schritt in diese Richtung wäre der Verfassungsvertrag gegangen. Allerdings bewahrt der Vertrag von Lissabon eben diese Errungenschaft, sodass diesbezüglich von einer weiteren Konstitutionalisierung der Union gesprochen werden kann. 3. Der Vertrag von Lissabon und die weitere Konstitutionalisierung der Union a) Einstellung auf künftige Herausforderungen Die EU hat erst kürzlich eine gigantische Erweiterungsrunde vollendet. Es herrscht Einigkeit darüber, dass die Unionsverfassung umgestaltet werden muss, damit die Union ihre Handlungsfähigkeit auch bei derzeit 27 Mitgliedstaaten wahrt. Der von den Mitgliedstaaten unterzeichnete Vertrag von Nizza sollte diese Leistung erbringen. Mochte der Vertrag auch enttäuschen, was die Stärkung der Integration und der Demokratie durch tiefgreifende Neuerungen anbelangt, taugte er doch zur Erleichterung des Beitritts einer Reihe von Staaten.140 Der Vertrag von Lissabon bringt weitere Fortschritte in dieser Richtung, insbesondere was den Abstimmungsmodus bei Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit betrifft. b) Form und Inhalt der Verträge nach Lissabon Nach dem Vertrag von Lissabon wird die Frage der Rechtspersönlichkeit der Union in Art. 47 EUV-Liss. eindeutig geklärt. Die Union tritt vollständig an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft. Die bisherige Aufteilung in verschiedene Verträge bleibt erhalten. Die Errungenschaft des Verfassungsvertrags, ein einheitliches Dokument zu schaffen, wurde nicht übernommen. Stattdessen bleibt es bei einem Unionsvertrag und einem „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“. Bei allem Verständnis dafür, dass nach dem Aufgehen der Gemeinschaft in die Union ein neuer Titel für den Gemeinschaftsvertrag gefunden werden musste, scheint der neue Titel mit der „Arbeitsweise“ den Inhalt jedoch nur unzureichend wiederzugeben. Eine genaue Abgrenzung zwischen Unions- und Arbeitsweisevertrag nach materiellen Gehalten ist auch nicht möglich. Im Gegensatz zur bisherigen Lage ist die Möglichkeit eines einseitigen Austritts eines Mitgliedstaats aus der Union in Art. 50 EUV-Liss. vorgesehen. Da ein Staat ohnehin nicht gezwungen werden kann, in einer Organisation zu verbleiben, ist diese Regelung unschädlich. Da Deutschland allerdings durch Art. 23 GG verfas-
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Hierzu J. Bast, Einheit und Differenzierung der Europäischen Verfassung – der Verfassungsvertrag als reflexive Verfassung, in: Y. Becker u.a. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 2005, S. 34 (49 ff.). Das Vertragswerk von Nizza und die Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union, integration 2001, Heft 2, mit zahlreichen Beiträgen.
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sungsrechtlich gebunden ist, wäre ein Austritt der Bundesrepublik nur nach einer Verfassungsänderung denkbar.141 Bemerkenswert ist, dass der Vertrag von Lissabon im Grunde die materiellen Gehalte des Verfassungsvertrags beibehält, aber viele Merkmale fallen lässt, die eine Staatlichkeit der Union suggerieren könnten. So entfallen die Hymne, die Flagge, der Leitspruch sowie der Europatag und der Hinweis auf den Euro nach Art. I-8 des Verfassungsvertrags.142 Auch bleibt es bei den bisherigen Rechtsaktbezeichnungen nach Art. 249 EG – es wird keine europäischen Gesetze und Rahmengesetze geben. Allerdings sind nach Art. 14 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 EUV-Liss. EP und Rat gemeinsam „Gesetzgeber“ der Union, die nach Art. 289 AEUV in einem – ordentlichen oder besonderen – „Gesetzgebungsverfahren“ tätig werden und dabei nach Art. 289 Abs. 3 AEUV „Gesetzgebungsakte“ erlassen. c) Die institutionelle Struktur der Union nach Lissabon Der Vertrag von Lissabon lässt die institutionelle Struktur der Union weitgehend unangetastet. Bemerkenswert ist vor allem die Einbeziehung des Europäischen Rates und der Europäischen Zentralbank in den institutionellen Rahmen durch Art. 13 Abs. 1 EUV-Liss. Die EU entbehrt auch nach Lissabon einer Regierung. Die Befugnisse der Kommission sind dazu zu gering. Im Wege einer erneuten Vertragsänderung ließe sich zwar eine europäische Regierung einsetzen, die die Funktionen einer Regierung im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie einnähme. Damit wäre verbunden, dass die Ausübung von Hoheitsgewalt, insbesondere die Rechtsetzung, von der europäischen Regierung im Zusammenwirken mit dem Parlament ausgeht. Der Rat verlöre seine Vormachtstellung. Die Mitgliedstaaten wären dann zu abhängigen Einheiten herabgestuft. Allerdings übernimmt der Vertrag von Lissabon die einschlägigen Ideen des Verfassungsvertrags insofern, als er einen festen Vorsitz für den Europäischen Rat vorsieht – während die Regelung des Vorsitzes im Rat einem späteren Beschluss vorbehalten bleibt. Zudem soll der Kommissionspräsident durch das EP ausdrücklich „gewählt“ werden, und die Kommission ist als Kollegium von einer Zustimmung durch das EP abhängig. d) Die Stärkung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der EU Der Kern einer Verfassungsänderung bzw. einer grundlegenden Änderung der Verträge sollte die Stärkung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der EU sein. Möglichst viele Verfahren der Rechtsetzung sollten die Mitentscheidung des EP erfordern. Am Beispiel der Ergänzungsklausel in Art. 308 EG lässt sich zeigen, dass ein Zuwachs demokratischer Legitimation auf europäischer Ebene die Bedenken gegen eine weit gefasste Ermächtigungsgrundlage vermindern kann. Die fehlende Beteiligung der Vertretung des jeweiligen Staatsvolks am jetzigen Verfahren ließe 141 142
Näher Zuleeg, AK-GG (Fn. 2), Art. 23, Rn. 9; D. König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses, 2000, S. 265 ff. Vgl. allerdings die Erklärung Nr. 52 von 16 der 27 Mitgliedstaaten zu den Symbolen der Union, ABl. 2007 C 306, S. 267.
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sich durch die Mitwirkung des EP kompensieren. Auch diesbezüglich übernimmt der Vertrag von Lissabon innovative Änderungen, die bereits der Verfassungsvertrag vorgesehen hatte. So wird nicht nur der Anwendungsbereich des Verfahrens der Mitentscheidung erweitert, sondern auch die Rolle der nationalen Parlamente bei der Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips gestärkt. In Art. 352 Abs. 1 S. 2 AEUV wird nun die Zustimmung des EP zu einem Vorhaben aufgrund dieser weiten Ermächtigungsgrundlage gefordert, nachdem es bisher nur angehört werden musste. Auch hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit geht der Vertrag von Lissabon wichtige Schritte, die bereits im Verfassungsvertrag vorgesehen waren, indem er das normale Rechtsschutzsystem der Art. 226 ff. EG (bzw. Art. 258 ff. AEUV) vollständig auch auf die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen ausdehnt. e) Die Grundrechte Die Charta der Grundrechte der EU wird als weiterer Schritt zur Ausgestaltung der europäischen Verfassung angesehen. Allerdings ist sie bisher nur feierlich proklamiert, nicht aber als geltendes Recht erlassen. Das hindert den EuGH nicht daran, die Grundrechte der Charta bereits jetzt als Ausdruck der allgemeinen Überzeugung der Mitgliedstaaten und obendrein der politischen Unionsorgane Rat, EP und Kommission anzusehen.143 Mit dem Vertrag von Lissabon wird die Charta endlich rechtsverbindlich – mit der Ausnahme für Polen und Großbritannien (vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV-Liss. sowie das betreffende Protokoll). Konflikte mit der EMRK – da diese nicht völlig deckungsgleich mit den Grundrechten der Charta ist – werden durch den projektierten Beitritt der Union zur EMRK verhindert, Art. 6 Abs. 2 EUV-Liss. Bedarf an Grundrechten auf der Grundlage des Richterrechts bleibt allerdings nach wie vor bestehen, weil die Verfasser der Charta nicht auf Vollständigkeit des Grundrechtsschutzes aus gewesen sind. Auch deswegen sollte die Bedeutung anderer subjektiver Rechte, namentlich der Grundfreiheiten des Binnenmarkts, nicht aus den Augen verloren werden.144 Dies gilt umso mehr für die Unionsbürgerschaft und die mit ihr zusammenhängenden Rechte, die vor allem auf dem Gebiet des Sozialen große Wirkung entfaltet.145 f) Die Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Union Die Mitgliedstaaten sind darauf aus, ihre Stellung in der Union zu behaupten. Davon zeugt Art. 6 Abs. 3 EU (konkretisiert in Art. 4 Abs. 2 EUV-Liss.), wonach die Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet. Auf der anderen Seite bekennen diese sich zur Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker (Art. 1 Abs. 2 EU, auch in der Lissabonner Fassung). Die Aufteilung der Hoheits143 144
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EuGH, Rs. C-540/03 (Fn. 106), Rn. 38, 58; vgl. bereits Zuleeg, Grundrechte (Fn. 20), S. 514. Ausführlich dazu P.-C. Müller-Graff, Europäische Verfassung und Grundrechtscharta: Die Europäische Union als transnationales Gemeinwesen, integration 1 (2000), S. 34; sowie die Beiträge von D. Ehlers, A. Epiney, U. Becker, C. Tietje, E. Pache und P. v. Wilmovsky in D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003. Näher S. Kadelbach, in diesem Band, S. 635 ff.; A. v. Bogdandy/S. Bitter, Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot, in: FS Zuleeg, 2005, S. 309.
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gewalt steht zwischen diesen beiden Polen. Von verschiedenen Seiten her wird gefordert, die jetzige Aufteilung durch eine neue zu ersetzen. Die Motivation ist unterschiedlich. Zwei Strömungen sind auseinander zu halten. Die einen möchten eine deutlichere Abgrenzung als bisher haben,146 ohne aber die Integration ausbremsen zu wollen. Das deutsche Grundgesetz dient dabei wohl als Vorbild.147 Die anderen wollen der EU Befugnisse entziehen, um sie wieder bei den Mitgliedstaaten anzusiedeln. Der Ruf nach einer solchen Umwälzung hat viele Anhänger.148 Auf den ersten Blick mutet es fremdartig an, dass die Kompetenzordnung des deutschen Bundesstaats der europäischen vorgezogen wird. Die Kompetenzzuweisungen an den Bund sind unscharf gefasst. Sie sind weit auszulegen. Die Angabe eines Ziels ist nicht erforderlich. Hingegen sind der EU Ziele und Aufgaben gesetzt, wenn sie Hoheitsgewalt ausüben will. Fast überall sind die Ermächtigungen deutlich eingegrenzt. Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland macht die EU meistens punktuell von einer Ermächtigungsgrundlage Gebrauch, während in Deutschland der Bund seine Befugnisse überwiegend flächendeckend wahrnimmt. Eine Erklärung für die paradoxe Situation ist wohl, dass der Wunsch einer Verringerung der Kompetenzen der EU bestimmten Ermächtigungsgrundlagen gilt, nämlich den finalen Kompetenzen, die es der europäischen Hoheitsgewalt angeblich erlauben, der demokratischen Gestaltungsmacht der Mitgliedstaaten den Boden zu entziehen.149 Es trifft aber nicht zu, dass diese Bestimmungen benutzt werden können, um eine übermächtige Zentralgewalt aufzubauen. Sie sind an bestimmte Voraussetzungen gebunden, die allerdings weit aufgefasst werden können.150 Kommt es zur Amputierung der Kompetenzen der EU um die sogenannten finalen Kompetenzen, kann der Integrationsprozess empfindlich gestört sein; denn viele Hindernisse des Binnenmarkts und anderer Errungenschaften der EU können nur beseitigt werden, wenn eine Rechtsangleichung oder Ergänzung auf europäischer Ebene stattfindet. Ein Ausweg wäre, die verbleibenden oder neu formulierte Ermächtigungsgrundlagen weit auszulegen. Was wäre aber dann durch eine umgearbeitete Kompetenzordnung gewonnen? Folgerichtig lässt der Vertrag von Lissabon den Art. 308 EG unberührt. Vielmehr wird der Anwendungsbereich des Art. 352 AEUV sogar über Maßnahmen im Rahmen des Gemeinsamen Marktes hinaus auf alle Politikbereiche mit Ausnahme der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ausgedehnt. In Deutschland fordern viele Gruppierungen, eine genauere Kompetenzabgrenzung als bisher zwischen der EG und den Mitgliedstaaten einzuführen. In der Erklä-
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Pernice, Kompetenzabgrenzung (Fn. 133), S. 867. Kritisch zum deutschen Modell Pernice, ebd., S. 873. Vgl J. Schwarze, Kompetenzverteilung in der Europäischen Union und föderales Gleichgewicht, DVBl. 1995, S. 1265 (1269). Siehe näher oben, Abschnitt II. 3. Zu den Grenzen: EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 82 ff; dazu C. Calliess, Nach dem „Tabakwerbung-Urteil“ des EuGH, Jura 2001, S. 311; R. Streinz, Fehlende EG-Kompetenz für Tabakwerberichtlinie, JuS 2001, S. 288.
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rung von Nizza hat sich diese Forderung niedergeschlagen.151 Man trifft aber keine Verfassung eines Bundesstaats an, die so genau abgegrenzte Kompetenzen aufweist wie die Verfassung der EU. Dies gilt umso mehr nach der Kompetenzabgrenzung zwischen Union und Mitgliedstaaten in den neuen Art. 2 ff. AEUV. Es muss daher einen anderen Grund geben, der europäischen Integration noch weitere Hindernisse in den Weg zu stellen. Welches Motiv auch immer dahinter steckt, sollte man sich vor Augen halten, dass eine einheitliche Rechtsordnung die Wohlfahrt in Europa fördert und das Zusammenleben erleichtert. Unter den Gewalten der EU steht die Rechtsetzung im Vordergrund. Der Verwaltungsvollzug und die Gerichtsbarkeit sind weitgehend den Mitgliedstaaten überlassen. Der Übergang von Hoheitsgewalt auf die EU wird durch die Mitwirkung der Mitgliedstaaten an der Unionsgewalt kompensiert.152 Eine „Entstaatlichung“ Deutschlands ist nicht zu befürchten.153 4. Differenzierte Zusammenarbeit statt Abkehr von der Integration Sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung sind weiter Bestrebungen im Gange, mit rechtlichen Mitteln die europäische Integration zurückzudrängen, Rechtsakte der Gemeinschaft nicht anzuerkennen und sogar die EU zu verlassen. Zu diesem Zweck wird versucht, das Subsidiaritätsprinzip als Hebel zu benutzen, um unliebsame Bestandteile der supranationalen Hoheitsgewalt auszuschalten.154 Mitgliedstaatliche Gerichte beanspruchen, die Einhaltung der Kompetenzen der Gemeinschaft überprüfen zu dürfen, unterstützt durch Stimmen in der juristischen Literatur.155 Wege aus der EU werden gesucht.156 Niederschlag findet dies im neuen Art. 50 EUV-Liss., der ein Austrittsrecht für die Mitgliedstaaten vorsieht. Ebenso finden sich in politisch als besonders sensibel für die nationalstaatliche Identität empfundenen Politikbereichen wie dem Strafrecht Möglichkeiten eines „opt-out“, was letztlich eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den teilnehmenden Staaten erleichtert (z.B. Art. 82 Abs. 3, Art. 83 Abs. 3, Art. 86 Abs. 1 AEUV). Im Familienrecht sieht Art. 85 Abs. 3 AEUV ein besonderes Gesetzgebungsverfahren mit einstimmigem Beschluss des Rates nach bloßer Anhörung des Parlaments vor. Beides stellt eine deutliche Abweichung vom „Normalfall“ dar, welche aber zum
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Näheres bei J. Schwarze, Europäische Verfassungsperspektiven nach Nizza, NJW 2002, S. 993, der eine moderate Präzisierung befürwortet. Siehe König (Fn. 141). So aber Kirchhof (Fn. 9), Rn. 52 ff. M. Heinze, Europäische Einflüsse auf das nationale Arbeitsrecht, RdA 1994, S. 1. Dagegen Zuleeg, Subsidiaritätsprinzip (Fn. 42), S. 636 f. BVerfGE 89, 155 (188); H. H. Rupp, Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Amsterdamer Vertrag?, JZ 1998, S. 213; S. Storr, Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der EU, Der Staat 36 (1997), S. 547, der von einer „Notbremse“ spricht; ablehnend Zuleeg, Einheit (Fn. 113). Dazu A. Weber, in: Groeben/Schwarze (Fn. 12), Art. 312 EG, Rn. 7 ff.; A. Waltemathe, Austritt aus der EU, 2000.
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Schutz nationaler Identität als milderes Mittel gegenüber einem Austritt geeignet scheint.157
IV. Ausblick Die kritischen Bemerkungen in dieser Abhandlung zur Zukunft der europäischen Verfassung sollen nicht bedeuten, dass auf längere Frist keine weiteren Schritte getan werden sollten, die eine staatsähnliche Verfassung herbeiführen. Die Querverbindungen zu den Verfassungen der Mitgliedstaaten sollten gepflegt werden, um den Verfassungsverbund in Europa zu verfestigen.158 Die Diskussion um die Zukunft der EU soll uneingeschränkt fortgehen.159 Die Gestalt der künftigen Union hat denn auch Konjunktur.160 Dabei spielt insbesondere die Frage der Finalität eine wesentliche Rolle. Man denkt über mögliche Modelle nach, die sich von der gegenwärtigen Beschaffenheit der EU abheben. Ein Trend zur Stärkung der Integration ist nicht zu übersehen. Von einer Konföderation und einer Föderation ist die Rede.161 Besondere Aufmerksamkeit gilt der Demokratie in Europa.162 Diese Vorschläge sind beachtlich. Sie gehen aber weit auseinander. Der Vorschlag des Verfassungsvertrags durch den Konvent ist gescheitert. Dennoch scheinen die Vorzüge der jetzigen Verfassung keinen Schaden erlitten zu haben, da sie weitgehend durch den Vertrag von Lissabon unangetastet blieben. Vielmehr sind die relevanten materiellen Inhalte des Verfassungsvertrags im Vertrag von Lissabon erhalten geblieben. 157
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Vgl. zur insoweit gleichartigen Lage nach dem Verfassungsvertrag P.-C. Müller-Graff, Der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ im neuen Verfassungsvertrag für Europa, in: FS Zuleeg, 2005, S. 605 (621 ff.); S. Bitter, Conceptual Changes in the Area of Freedom, Security and Justice Through the Constitutional Treaty, in: P. Dann/M. Rynkowski (Hrsg.), The Unity of the European Constitution, 2006, S. 255 (260 f.). Siehe Pernice, Verfassungsrecht (Fn. 6), S. 164; ferner P.-C. Müller-Graff/E. Riedel (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der EU, 1998. Siehe Pernice, Verfassungsrecht (Fn. 6), S. 165 ff., mit zahlreichen Hinweisen; ders., Europäische Verfassung durch Diskurs?, NJW 1999, S. 1528. Aus früherer Zeit: R. Bieber, Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der Europäischen Gemeinschaft, in: R. Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäische Union, 1991, S. 393; ders., Steigerungsform der europäischen Union: Eine Europäische Verfassung, in: J. Ipsen u.a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 291. Siehe noch D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion, EuGRZ 2000, S. 517. Zur Zusammensetzung der europäischen Rechtsordnung Zuleeg, Verfassung (Fn. 17). C. Joerges u.a. (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy?, 2000. J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, integration 2000, S. 149; B. Kohler-Koch, Ziele und Zukunft der Europäischen Union, integration 3 (2000), S. 185; P.-C. Müller-Graff, Europäische Föderation als Revolutionskonzept im europäischen Verfassungsraum?, integration 2000, S. 57; H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation, Konföderation – oder was sonst?, integration 2000, S. 171; siehe auch v. Bogdandy (Fn. 2), ebenso Weiler (Fn. 9), S. 91; alle mit weiteren Nachweisen. Weiterführend G. Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 246.
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Dennoch steht die Forderung weiterhin im Raum, die Kompetenzen der EU zu beschneiden. Die Integration würde dadurch jedoch eine empfindliche Einbuße erleiden.163 Die Kompetenzabgrenzung, wie sie der Vertrag von Lissabon vorsieht, ist ausreichend, den Sorgen der Mitgliedstaaten um ihre Souveränität entgegen zu kommen. Vielleicht ist gerade der Umstand, dass die eine bereits bestehende Staatlichkeit suggerierenden Regelungen des Verfassungsvertrags nicht übernommen wurden, wichtig dafür gewesen, die Verfassung der Union zu bewahren. Der Weg in die Zukunft ist vorgezeichnet. In der Präambel zum Vertrag über die EU zeigen sich die Mitgliedstaaten entschlossen, den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben. Weitere Schritte müssen getan werden, um die europäische Integration voranzutreiben.164
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Siehe R. Bieber, Abwegige und zielführende Vorschläge: Zur Kompetenzabgrenzung der Europäischen Union, integration 2001, S. 308. 1. und 13. Erwägungsgrund der Präambel zum EU-Vertrag (Nizzaer Fassung). Dazu M. Zuleeg, in: Groeben/Schwarze (Fn. 12), Präambel EU, Rn. 4 f.
Sachregister
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Sachregister
Abkommen – Assoziierung 132, 181, 192, 414 – externes 414, 432, 491, 497 – internes 491, 519 acquis communautaire 36, 258, 625, 627, 644 actio pro unionem 434 Adenauer, Konrad 77 Ad-hoc-Versammlung des Europarats 965 Adoptionslehre 182, 183, 196 AETR (Rechtssache) 414, 430, 441, 452, 454, 480, 510, 519 Agrarpolitik 425, 428, 495, 549, 821 Alkotmánybíróság (Ungarn) 560, 568 Allgemeine Geltung 497, 517, 522, 540 Allgemeine Rechtsgrundsätze 28, 171, 178, 185, 210, 509, 662, 663, 881, 1058 Anayasa Mahkemesi (Türkei) 560 Anotato Eidiko Dikastirio (Griechenland) 561, 567 Antidiskriminierungspolitik 60, 894 Anwendungsbefehl 196 Anwendungsvorrang Siehe Vorrang Äquivalenzprinzip Siehe Prinzip Arbeitnehmerentsendung 890 Arbeitnehmerfreizügigkeit 58, 862, 898 Arbeitsparlament 354, 358, 382 Arbeitsverfassung 855, 869, 903 – Begriff 858 – EuGH 875 – EWG 861 – Form 878 – Gemeinsamer Markt 863 – Grundnormen 861 – Grundrechte 875 – Harmonisierung 894 – Judikative 860 – Kollisionsrecht 889 – Kompetenzen 860, 872, 874, 877, 883, 888, 891, 894 – Kongruenz 874 – Leitnormen 872, 881 – Mitgliedstaaten 867, 888 – Prinzipien 860
– Transnationalisierung 898, 899, 901 – Unionsbürgerschaft 902 – Wettbewerbsrecht 892 Areios Pagos (Griechenland) 561, 567 Ästhetik 309, 316, 318 Asylpolitik 751, 756, 781, 785 Asylrecht 166, 202, 210 Aufklärung 299, 303, 308 Ausbrechender Rechtsakt 574, 576, 592 Auslegung – gemeinschaftskonforme 1056 – grundrechtskonforme 505, 509 – prinzipienorientierte 501, 557 – völkerrechtskonforme 197 Ausschuss der Regionen 149 Ausschuss der Ständigen Vertreter 347, 976 Außen- und Sicherheitspolitik Siehe GASP Außenbeziehungen 414, 429 Außengrenzen 751 Außenpolitik 53, 968 Australien 85 Austrittsrecht 68, 1023, 1074 Auswärtige Gewalt 214, 441 – Außenvertretung 485, 486 – EuGH 464, 466, 469 – Kommission 485 – Mitgliedstaaten 481 – Parlament 460 – Verbandskompetenz 481 – Verteidigung Siehe ESVP – Völkerrecht 456 Auswärtiger Dienst 377, 487 Autonome Gemeinschaften (Spanien) 146 Autonomie – des Gemeinschaftsrechts 38 – des Unionsrechts 47 – mitgliedstaatliche 47 Basisrechtsakt Siehe Delegierte Rechtsetzung Begründungspflicht 67, 521, 539, 1053 Beihilfenaufsicht 829, 973, 1063 Beitritt 58, 139 – zu völkerrechtlichen Verträgen 186
1078 – zum GATT 202 – zur EMRK 199, 200, 204, 205, 208, 218, 223 – zur WTO 186 Beitrittskandidaten 131, 139, 142 Belgien 126, 144, 155 Berliner Erklärung 290 Berufsfreiheit 165, 898 Beschäftigungspolitik 830, 885 Binnenmarkt 722, 754, 892, 909, 972, 981 Binnenmarktprogramm 501, 715 British Airways (Rechtssache) 914, 926 Brücken-Theorie 572 Bulgarien 156, 172, 583 Bundesländer (Deutschland) 143 – Gesetzgebungskompetenzen 143, 145 – Mitwirkungsrechte 144, 145 Bundesländer (Österreich) 145 Bundesrat (Deutschland) 145 Bundesrat (Österreich) 145 Bundesstaat 32, 70, 76, 84, 114, 117, 148, 1002 Bundeswehr 162 Bürgerbeauftragter 630 Burma 85 Bürokratie 103, 113, 311, 1010 BVerfG 125, 559, 560 – deutsches Zustimmungsgesetz 572 – EWG-Vertrag 572, 1047 – Kooperationsverhältnis zum EuGH 576, 592 – Maastricht-Urteil 80, 125, 141, 403, 500, 565, 574, 964, 1030, 1031, 1057 – mitgliedstaatliche Belange 599 – Nichtvorlage durch Fachgerichte 574 – Orientierungsfunktion 599 – Recht auf den gesetzlichen Richter 568, 574 – Solange-Rechtsprechung 127, 170, 205, 221, 564, 573, 702, 964 – Vorlage an den EuGH 564 Carpenter (Rechtssache) 219, 220 Cassis (Rechtssache) 713, 716, 735, 736, 739, 816 Charte Constitutionelle 257 China 282 clausula rebus sic stantibus 184 Codorniu (Rechtssache) 524, 555 Common Law 237, 265, 266, 269
Sachregister Common Travel Area 774 Confédération nationale (Rechtssache) 522, 557 Conseil constitutionnel (Frankreich) 561, 578, 1001 Conseil d’Etat (Belgien) 561 Conseil d’Etat (Frankreich) 493, 561, 562, 566, 578 consociational democracy 85 constitutional chaos 19 constitutional moment 275 constitutional tolerance 50 Continental Can (Rechtssache) 911, 912, 913 controlimiti-Doktrin 124, 580 COREPER Siehe Ausschuss der Ständigen Vertreter Corte Costituzionale (Italien) 560, 565, 578 Cour constitutionnelle (Belgien) 561 Cour constitutionnelle (Luxemburg) 560, 567 Cour d’arbitrage (Belgien) 561, 566, 579 Cour de cassation (Belgien) 561 Cour de cassation (Frankreich) 561 Curtea Constitutionale (Rumänien) 560 Dänemark 125, 152, 773 Daseinsvorsorge 722, 724, 814, 845, 846, 851, 973 Dassonville (Rechtssache) 712, 715, 716, 727, 735, 816 Datenaustausch, grenzüberschreitender 751 Datenschutz 632, 770 De Gaulle, Charles 77 Delegierte Rechtsetzung 109, 406, 531, 534, 548, 980 Deliberation 66, 274 Delors, Jacques 308 Demokratie 67, 235, 239, 245, 280, 291, 1010, 1071, 1075 – Demokratiefähigkeit 249, 1057, 1058 – europäische 99 – Gleichheit 231, 252, 253 – Homogenität 1047 – partizipative 654 – Souveränität 97 – Staat 1046 – Volk 63 Demokratiedefizit 102, 273, 283, 1056, 1070
Sachregister Demokratieprinzip 22, 62, 65, 337, 342, 378, 1031 Deutschland (Wiedervereinigung) 966 Dienstleistungsfreiheit 219 Diplomatischer Schutz 633 Diskriminierung 57, 161, 964 – faktische 161 Diskriminierungsverbot 160, 635, 720, 993 Dogmatik 17, 266, 267, 671 – anwendungsorientierte 20 – Systembildung 18 – verfassungsrechtliche 27 Doppelbestrafung 784, 793, 795 Drittstaatsangehörige 163, 970 Dualismus 182, 198, 199 Durchführungsrecht Siehe Delegierte Rechtsetzung Échirolles (Rechtssache) 916 Economic Advisory Group for Competition Policy 925, 948 effects-based approach 920, 927, 939, 947, 951 Effektivitätsprinzip Siehe Prinzip effet utile 38, 929, 982, 1065 Effizienz 915, 938, 946 – allokative 937, 941, 955 – dynamische 937, 941 – Pareto-Kriterium 946 – produktive 944 EFTA-Staaten 181 EGKS-Vertrag 492, 914, 965 – Außerkrafttreten 399 – Handlungsformen 493 – Hohe Behörde 493, 495 – Rechtsschutz 494 EGMR 61, 191, 199, 201, 204, 209, 215, 217, 220, 221, 223, 642 – Bosphorus-Rechtsprechung 205, 221 Eigentum – an Produktionsmitteln 814 – Garantie 814 – Verstaatlichung 845 Einheitliche Europäische Akte 280, 470, 528, 714, 877, 1056 Einheitsstaat 90, 147 Einwanderungspolitik 60, 756, 785 Elegktiko Synedrio (Griechenland) 567 Elite 322
1079 EMRK 63, 162, 171, 177, 180, 191, 199, 202, 207, 215, 217, 222, 642, 657, 790, 1063, 1072 – Kontrollmechanismus 204, 209 – local remedies rule 191 Entscheidung 1053 – Bestandskraft 522 – EGKS-Vertrag 492 – nach Art. 230 IV EG 521, 524 – nach Art. 249 IV EG 514, 521, 522, 524 – privatgerichtete 492, 522 – staatengerichtete 498, 514 Entstaatlichung 1074 Entwicklungspolitik 829 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 56, 318 ERT (Rechtssache) 218 Estland 152, 582 ESVP 70, 475, 478 Etatismus 307 Ethik 25 EuGH 559, 563, 993, 1037, 1051, 1055 – als Kompetenzgericht 402, 587, 982, 983 – als Letztinterpret des Europarechts 1022 – als Verfassungsgericht 599 – dritte Säule 782 – EGV als Verfassung 572 – Grundrechte 505, 1063 – Grundrechtsbeschwerde 599 – Kontrolldichte 466, 469, 604 – Kooperationsverhältnis 592 – Motor der Integration 570, 1042 – principes généraux 59 – Rechtmäßigkeitskontrolle 501, 521, 553 – Rechtsfortbildung 403, 415, 504, 994, 1036, 1037, 1063 – Reform 605 – Richterwahl 601 – Sprachenproblem 605 – Unabhängigkeit 200 – und EGMR 605 – Unionsbürgergericht 599 – Verwerfungsmonopol 498, 501, 569 – Völkerrecht 464 Eurojust 780, 781 Europadiskurse 285, 288, 290 Europäische Charta für Forscher 58 Europäische Genossenschaft (SCE) 897 Europäische Gesellschaft (SE) 897 Europäische Investitionsbank 830
1080 Europäische Politische Gemeinschaft 24, 77 Europäische Politische Zusammenarbeit 470, 969, 989 Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Siehe ESVP Europäische Sozialcharta 881 Europäische Staatsanwaltschaft 751, 772 Europäische Verteidigungsgemeinschaft 965, 970 Europäische Zentralbank 815, 1071 – delegierte Rechtsetzung 534 – Handlungsformen 514, 525 – Leitlinie 525, 528 – Sanktionen 552 – System der Zentralbanken 815 – Weisung 525, 528 Europäischer Haftbefehl 509, 776, 785 Europäischer Rat 44, 65, 68, 370, 777, 989, 999, 1051, 1071 – als konstitutioneller Motor 373 – als Koordinator 373 – als Richtungsweiser 372 – als Schiedsrichter 373 – Funktionen 372 – Informalität 371 – Konsensmethode 371, 375 – Kontrolle 553 – Organkompetenzen 372 – Organstatus 371, 554 – Präsident 371 – Verhältnis zum Parlament 375 – Verhältnis zur Kommission 376 Europäisches Parlament Siehe Parlament Europarat 200, 965 Europatag 318 Europol 756, 780, 781 Euroskepsis 286 Evolution 237, 270, 271, 272 EWR 181, 185 Exekutive – föderale Systeme 91 – kollegiale 113 Exekutivföderalismus 105, 144, 149, 336, 343, 345, 352, 369, 372 – Defizite 357, 370 – nationale Parlamente 379 – politische Führung 363 Exit-Protokoll Siehe Grundrechte-Charta
Sachregister Familienrecht 772 Festung Europa 788 Fiktion 296, 297 Finalität 280, 967, 1075 Finanzhoheit 1038 Finanzpolitik 828, 974 Finnland 154, 561 Flagge 317 Flexibilitätsklausel 552, 835 Flugpassagierdaten (PNR) 770 Föderale Gefährdungslage 727 Föderalismus 73, 143, 1060 – Beteiligungsföderalismus 148 – bündisches System 86, 90, 101 – Deutscher Bund 84 – Deutsches Reich 84, 87, 91 – dualer 345 – Exekutivföderalismus Siehe dort – Kompetenzföderalismus 148 – konsoziativer 397 – kooperativer 145 – Mischsystem 81 – Norddeutscher Bund 84 – Souveränität 247 – supranationaler 41, 91 – USA 85 Föderalismustheorie 73, 114 Föderation 1068, 1075 Forschungspolitik 829 Fortschritt 285, 293, 294, 296, 318, 326 Foto-Frost (Rechtssache) 501, 511 Fouchet-Plan 969, 999 Fragmentierung 248 Francovich (Rechtssache) 503, 510 Frankreich 85, 100, 129, 136, 142, 155, 159, 172, 179, 203, 214, 216, 1001 – Verfassung 187, 192 Freiheit 31, 56, 323 Freiheitsparadox 906 Freizügigkeit 625, 626, 754 – Konstitutionalisierung 626 Frieden 32, 289, 443 FRONTEX 776, 781 Frühwarnsystem 157, 380 Fundamentalismus 101 Funktionale Subjektivierung 506 Funktionalismus 78, 293, 326 Funktionsnachfolge 201, 207 Fusionskontrolle 829
Sachregister GASP 111, 138, 181, 216, 225, 442, 469, 633, 969, 989 – Entscheidungsfindung 471 – Verhältnis zum EG-Vertrag 483 GATS 416, 431 GATT 179, 190, 201, 202, 203, 212, 720 Gedächtnis, kollektives 299, 304, 315 Gegenseitige Anerkennung – Gerichtsentscheidungen 751, 762 – Prinzip 713, 755, 784 – Tampere-Programm 781 Gegenseitigkeit 191, 192 Geld 311, 312, 313, 315 Geldwertstabilität 815 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Siehe GASP Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Siehe ESVP Gemeinsamer Markt 864, 965, 974 Gemeinsamer Senat der obersten Bundesgerichte 561 Gemeinschaftsaufsicht 1062 Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte 880 Gemeinschaftsmethode 35 Gemeinschaftsrecht Siehe Unionsrecht Gemeinschaftstreue 570, 590, 673, 1048, 1060 Gemeinwohl, europäisches 49 Gemischte Abkommen 432, 454, 483 Genfer Flüchtlingskonvention 202, 210 Gesamtverfassung, gesellschaftliche 856 Geschichte 40, 281 Gesellschaftsrecht 897 Gesellschaftsverfassung 856 Gesetz 231, 237, 238 – delegiertes 535 – EMRK 550 – Lissabonner Vertrag 547, 551 – nationales 530, 533, 539, 547 – parlamentarisches 496, 547, 552 – Rechtsschutz 550 – Transparenz 551 – Verfassungsvertrag 547 – Vorbehalt 536, 549, 552, 740 – Vorrang 536, 548 Gesetzgebungsverfahren – besonderes 547 – ordentliches 107, 547, 771 Gesundheitspolitik 832
1081 Gewalt 304, 329 Gewaltenmonismus 91 Gewaltenteilung 59, 90, 148, 189, 214, 337, 986, 991, 992, 1039, 1042, 1059, 1066, 1074 – Freiheitssicherung 1039 – Subsidiaritätsprinzip 1040 – zeitliche Bedeutung 1041 Gewaltenteilungslehre 493, 496, 512, 535 Gewaltenverschränkung 391 Gewaltmonopol 39, 54 Gleichbehandlungsrichtlinie 160, 161, 162 Gleichheit 323, 325 – demokratische 231, 252, 253 – der Wirtschaftsteilnehmer 813 – gleiches Entgelt 862, 866, 894 – vor dem Gesetz 1062, 1064 Globalisierung 605 Globalsteuerung 828 Globalverfassung 295 Governance 82, 268, 287, 321, 606 Grenzen 281 Grenzkontrollen 756 Griechenland 131, 137, 141, 155, 166, 172 Großbritannien 128, 145, 146, 155, 179, 223, 773 – Human Rights Act 162 – scrutiny reserve system 155 Grundfreiheiten 57, 163, 661, 677, 693, 705, 909, 953, 981, 1072 – Adressat 741 – allgemeine Lehren 707 – Arbeitskollisionsrecht 888 – Diskriminierungsverbot 723, 727 – Dogmatik 725 – Drittwirkung 741, 743, 891 – föderale Gefährdungslagen 719 – Freiheitsrecht 715, 727 – Gesetzesvorbehalt 740 – Gleichheitsrecht 727 – Grenzen des Marktes 605 – Grundrechte 676, 681, 682, 700, 710, 742 – Integrationsfunktion 730, 734 – Kontextabhängigkeit 710, 718 – Mehrebenennormen 719 – Rechtfertigungsgründe 735, 739 – Schutzbereich 686 – Schutzgewähr 746 – sozio-kulturelle Besonderheiten 605 – Unionsbürgerschaft 615
1082 Grundgesetz 1048, 1073 Grundnorm 243 – Konflikt 591 Grundprinzipien 13 – Begriff 27 – Einheitlichkeit 33 – Verfassungsprinzipien 27 – Verfassungsrechtswissenschaft 15 Grundrecht 158, 319, 323, 639, 657, 660, 715, 752, 782, 1072 – Abwehrrecht 674 – Adressat 679 – Ausgestaltungsvorbehalt 871 – Berechtigter 686 – Bindung 680 – Drittwirkung 856 – Eingriff 689 – Gefährdung 690 – Grundfreiheiten 676, 681, 682, 700, 710 – grundrechtskonforme Auslegung 505, 509 – juristische Person 165, 687 – Kontrolldichte 696 – Kontrolle 680 – Leistungsrecht 674, 678 – margin of appreciation 683, 695, 696, 701 – natürliche Person 686 – Reichweite 674 – Schranken 871 – Schutz 1058, 1063 – Schutzbereich 688, 689 – Schutzdimension 674 – Schutzpflicht 675, 676 – soziales 876, 879, 883 – Teilhaberecht 678 – Unionsbürger 165, 686 – Verfassungsgerichtsbarkeit 168 – Wesensgehalt 694, 699 Grundrecht auf Datenschutz 795 Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Schutz 507, 516, 557 Grundrecht auf Prozesskostenhilfe 795 Grundrechte-Agentur 665 Grundrechte-Charta 20, 53, 59, 158, 209, 218, 222, 224, 267, 318, 549, 604, 640, 657, 664, 794, 870, 876, 879, 953, 989, 1043, 1064, 1072 – Exit-Protokoll 34, 223, 585, 669 – kollektive Rechte 870 – Kündigungsschutz 870 – Schutzklauseln 679
Sachregister – soziale Rechte 883 – Unionsbürgerrechte 630 Grundrechtsbeschwerde 599, 604 Grundrechtsdogmatik 671 – des EuGH 673 Grundrechtsgemeinschaft 217, 220, 221, 222 Grundsatz Siehe Prinzip Grundsatznorm 396 Gründungsmythos 101 Haager Programm 752, 755, 762 Habilitierte Rechtsetzung Siehe Delegierte Rechtsetzung Hallstein, Walter 40, 57, 76, 718, 990 Handelspolitik 968, 971 Handlung, politische 315 Handlungsform 490, 491, 1053 – Beschluss (EU-Vertrag) 508 – Beschluss (Lissabon) 546 – Beschluss, adressatenloser 204, 497, 514, 538, 547, 1053 – Bezeichnung 493, 495, 520, 523, 526, 545 – Empfehlung 503, 515, 1053 – Entschließung 515 – Europäische Verordnung (VVE) 545, 550 – Europäisches Gesetz (VVE) 512, 546 – Europäisches Rahmengesetz (VVE) 546 – Formenwahl 522, 528, 533, 540, 542 – GASP 508, 546, 553 – Gemeinsamer Standpunkt 182, 206, 212, 768 – Inkrafttreten 538 – Missbrauch 504, 529 – Mitteilung 515, 520 – Multifunktionalität 543 – Reform 513, 545, 546 – Speicherfunktion 537, 544 – Sprachenregime 540 – Stellungnahme 515, 1053 – Verbindlichkeit 492, 515, 520, 533, 542 – Vereinfachung 513, 545 – völkerrechtliche 490, 491 – Vollstreckbarkeit 555 – Wirkungsmodus 533, 542 Handlungsfreiheit 812 – unternehmerische 812 – wirtschaftliche 820, 922, 948, 953 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 296
Sachregister Hegemonie 92, 961, 964 Herkunftslandprinzip 713 Herren der Verträge 46, 172, 1015, 1023, 1036 Herrschaft – Begrenzung 234 – Begründung 230 – Formung 234 – supranationale 96 Heterarchie 288 Heterogenität 105 Heteronomie 282 Hierarchie 41, 48 Historische Rechtsschule 18 Hoge Raad (Niederlande) 561, 566 Högsta domstolen (Schweden) 561, 567 Hoheitsgewalt 1024 – Aufteilung 1054, 1061, 1073 – im Mehrebenensystem 596 – Übertragung 203 Hoheitsrechte – EU-Vertrag 478 – Übertragung 136, 167 Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik 377, 485 Højesteret (Dänemark) 560, 567, 578 homo oeconomicus 288 Homogenität 106, 174, 1046, 1057 House of Lords (Großbritannien) 560, 567 Humanismus 324 Hymne 317 Hypothekentheorie 203 Identität 32, 280, 320, 326, 329, 645, 649 – der Gemeinschaft 216 – europäische 280, 285, 286, 316 – kollektive 327 – nationale 328, 589 – politische 306, 307 – Verfassung 987 Ikonographie 317, 318 Imaginäre, das 296, 301, 328 Imagination 292, 294, 296, 299, 305, 313 imagined communities 317 Immaterialgüterrechte 938 implied powers Siehe Kompetenz Indien 85 Individualisierung 314 Industriepolitik 829, 911 Informationsrecht 630
1083 Inländerdiskriminierung 163, 621, 623, 625 – Österreich 164 – Polen 165 Institutionelles Gleichgewicht 405, 530, 992 Institutionen 283 Institutionenökonomik 935, 940 Instrumentalisierungsthese 40 Integration 24, 37, 92, 956, 961, 1009, 1068, 1074, 1075 – Dynamik 1016 – Finalität 1020 – Flexibilisierung 68 – Grenzen 140 – Integrationsrealität 1013 – Integrationsrecht 16 – negative 721 – positive 721 – supranationale 76 – Teleologie 393 – transnationale 725, 726 Integrationsgemeinschaft 118 Integrationsklausel, staatsrechtliche 30 Integrationskompromiss, sozialer 865, 868, 888, 898, 903 Intergouvernementalismus 83, 91, 111, 471 Interinstitutionelle Vereinbarung 339, 514, 527 Interlegalität 288 International Labour Organisation 863 Internationale Beziehungen 447 Internationale Gemeinschaft 177, 179, 180, 215, 216 Internationalisierung 605 Irland 127, 154, 773 – Schwangerschaftsunterbrechung 585, 588 – Wirtschaftsverfassung 843 Islam 282 Island 778 Italien 124, 138, 141, 155, 173, 580 Kadi (Rechtssache) 216, 220, 222, 466 Kanada 32, 85, 101 Kant, Immanuel 295 Kapitalismuskritik 1029 Karikaturenstreit 329 Kartellrecht 428 – Anmaßung von Wissen 933, 937, 952 – Deliktsrecht 953 – Fehleranalysen 937, 938 – institutionelle Dimension 939, 940
1084 – Kompensation 932 – Leniency-Programm 930 – Ökonomisierung 918, 952 – Prognoseentscheidungen 935 – Schadensersatz 930, 953 – Verbraucherbegriff 943 – Verbrauchernachteil 914, 926, 928, 936, 950 Keck (Rechtssache) 219, 605, 684, 706, 716, 717, 727, 730, 734, 816 Kelsen, Hans 243 Kirche 303 Kohärenz 17 – EU- und EG-Vertrag 483 Komitologie 310, 531, 980, 991, 1053 Kommission 48, 82, 111, 112, 363, 1050, 1071 – als agenda setter 367 – als Staatsanwältin der Verträge 368 – als Vermittlerin 367 – Funktionen 111, 367 – Initiativmonopol 362, 367 – Initiativrecht 767, 771, 1052 – Misstrauensvotum 366 – Organkompetenzen 367 – Präsident 358, 365 – Unabhängigkeit 368 – Verhältnis zum Europäischen Rat 376 – Verhältnis zum Parlament 111, 356 – Wahl 366 – Zusammensetzung 113, 365, 975 Kommunalwahlrecht 137, 158, 628, 720, 1022 – Deutschland 159 – Frankreich 159 – Richtlinie 159 – Spanien 160 – Verfassungsanpassungen 158 Kommunikationsfreiheit 818 Komparativer Kostenvorteil 816, 864 Kompetenz 283, 389 – Abgrenzung 1049, 1054, 1073 – Annexkompetenz 412 – Arbeitsrecht 860 – ausdrückliche 411 – ausschließliche 423, 424, 430, 519 – Außenkompetenz 414, 416, 429, 432 – Begriff 389, 409 – Eindimensionalität 410 – finale 1055, 1073
Sachregister – Formenwahlgebot 419, 528, 541 – Fortbildung 400, 401, 403 – Harmonisierungsverbot 400, 544 – implied power 412, 414, 415, 527 – Kompetenzdebatte 603 – Kompetenzgericht 586, 587 – Kompetenzkatalog 411 – kompetenzüberschreitende Akte 580 – Kompetenzzuwachs der Union 1011 – komplementäre 423, 426 – konkurrierende 423, 426 – Kooperationsbedarf 344 – kraft Natur der Sache 412, 425 – kraft Sachzusammenhangs 412, 1055 – nicht-regulative 420 – Organkompetenzen 530 – originäre 397 – parallele 420, 423, 427 – politische Kontrolle 586 – Prozessrecht 490 – Regelungsintensität 428 – RFSR 768 – Selbstorganisationsbefugnis 425 – Sperrnorm 873 – Sperrwirkung 426, 429 – Spezialität 435 – Subsidiarität 435 – Übertragung 136 – unverbindliche Handlungen 407 – Verfahren 405 – Verflechtung 343, 344, 349 – Verwaltungsvollzug 344, 353 – Wahl der Rechtsgrundlage 435, 436, 531 – Wahrnehmungsbedingung 391, 400, 409 – Ziele 399, 415 Kompetenz-Kompetenz 95, 96, 119, 139, 402, 1019, 1021, 1035 Kompetenzordnung 46, 389, 823, 981, 1073 Konkordanzdemokratie 115 Konkordanzsystem 105, 107, 114, 116 Konstitucinio Teismo (Litauen) 560 Konstitutionalisierung 19, 99, 227, 293, 450, 716, 1012, 1014, 1023, 1070 – administrative 268 – Begriff 265 – Internationale Organisationen 45 – Legitimation 270 – reflexive 511, 546, 554 – soziale Rechte 880 Konstruktion, soziale 281, 283, 294
Sachregister Konstruktivismus, dogmatischer 18 Konsularischer Schutz 633 Konsument 288 Konsumismus 309, 315, 329 Kontraktualismus 314 Konvergenzkriterien 815 Kooperationsverhältnis 1036 Kopplung von Politik und Recht 238, 273 Korkein hallinto-oikeus (Finnland) 561, 567 Korkein oikeus (Finnland) 561, 567 Körper, gesellschaftlicher 298, 304 Korporatismus 835 Kriegsgeneration 963, 964 Kultur 283, 649 – europäische 318 – kulturelles Erbe 318 Kulturtheorie 280 Lagrådet (Schweden) 561, 567 Laval (Rechtssache) 893 legal community 673 Legitimation 231, 235, 245, 250, 266, 267, 272, 280, 378 – demokratische 92, 149, 275, 986, 1015, 1042 – duale 34, 51, 64, 378, 547 – Erfordernis 984 – institutionelles System 384 – nationale Parlamente 378 – parlamentarische 378, 381 – RFSR 752 – soziale 283, 284, 292 – supranationale 725, 726 Legitimationsdefizit 239, 283, 292, 315 Leitbegriffe 18 Leitnormen 860 Les Verts (Rechtssache) 261, 501, 555 Lettland 155, 582 Letztentscheidung – im Mehrebenensystem 559 – Kompetenz 559 – mitgliedstaatliche Gerichte 592 – rechtliche Gestaltung 585 Liberalisierung – des Personenverkehrs 828 – regulierter Märkte 827 Liberalismus 305 Liechtenstein 778 Litauen 152, 582 Lobbyismus 1052
1085 Loyalität 315 – politische 307 Loyalitätsprinzip Siehe Prinzip Luxemburg 155 Luxemburger Kompromiss 969, 999 Macht 296, 297 – Begrenzung 804 – Kontrolle 804 Malaysia 85 Malta 154, 583 Markt 311, 312, 313, 314 – Logik 319 – Offenheit 818 – Versagen 821, 846 Marktbürger 39, 55, 288, 614 Marktwirtschaft – freier Wettbewerb 810 – Funktionsgarantien 811 – offene 810, 908, 916, 918, 971 – soziale 722, 805, 882 – Systementscheidung 810 Marktzugang 728 – Werbeverbot 730 Mehrebenen-Gemeinwohl 601 Mehrebenennorm 719 Mehrebenensystem 336, 343, 596, 645, 650, 1004, 1023 Mehrebenenverfassung 594, 596 Mehrheitsentscheidung 105, 112, 118, 280, 350, 351, 404, 714, 969, 978, 982, 1070 – Ausweitung 604 Meinungsfreiheit 329 Menschenrechte 469, 986, 1025, 1048, 1063 Menschenwürde 58, 326, 327 Microsoft (Rechtssache) 914, 926, 938 Minderheitenpolitik 60 Minderheitenrecht 639 Mindestharmonisierung 751 Mindestlohn 884 Ministerrat Siehe Rat Mitbestimmung, unternehmerische 897, 899 Mitentscheidungsverfahren 107, 360, 361, 532, 538, 547, 771, 873, 1052 Mittelmeerunion 281 Moderne 31 Monarchie 52, 101 Monismus 130, 182, 198, 199 Monnet, Jean 51, 77, 308, 493 Monnet-Methode 308
1086 Montanunion Siehe EGKS-Vertrag Moral 305, 331 more economic approach 906, 918, 919, 923, 929, 933, 937, 940, 946, 957 multilevel constitutionalism 175, 596, 725 Mythen 296, 298, 299, 305, 307, 320 Nation 74, 93, 1046 Nationale Parlamente 36, 104, 378, 551 – Beteiligung 150 – Europaausschüsse 156 – Frühwarnsystem 157, 380 – Informationsrecht 150 – Konsensmethode 379 – Stellungnahmerecht 150, 153, 157 Nationalismus 296, 311 Nationalismusforschung 85, 114, 115 Nationalstaat 97, 100, 292, 963, 998, 1035 – Identitätsbewusstsein 32 Nationbildung 298 ne bis in idem Siehe Doppelbestrafung Nebenverfassung, völkerrechtliche 178 Neofunktionalismus 308 Nichtigkeitsklage 491, 493, 497, 501, 767, 794 – Akte mit Verordnungscharakter 497, 550, 556 – anfechtbare Entscheidungen 521, 522 – anfechtbare Handlungen 519 – Gesetzgebungsakte 550 – Individualklage 516, 521, 555 – Reform 516, 555 Niederlande 123, 155 – Verfassung 187 Nigeria 85 Nordische Passunion 778 Normativität 294, 306 Normenhierarchie – kraft Delegation 534 – kraft Erlassorgan 530 – kraft Handlungsform 532 – kraft Rechtsetzungsverfahren 531 – Legitimationshierarchie 530, 536, 549 – Lissabonner Vertrag 548 – partielle Hierarchisierung 535, 537 – Primär- und Sekundärrecht 535 – Reform 512, 536 Norwegen 778
Sachregister Offene Methode der Koordinierung 420, 886 Öffentliche Ordnung 765 Öffentliches Gut 846 Öffentlichkeit 23, 67, 1057 – europäische 98, 985 – politische 103 Ohlin-Bericht 866 Okzident 282 Opt-out – erste Säule 765 – RFSR 773 Ordnungspolitik 826 Ordnungsprinzipien 21 Ordoliberalismus 805, 906, 954 ordre-public-Klauseln 787 Organe 1049 – Europäische Kommission Siehe Kommission – Europäisches Parlament Siehe Parlament – Forschungslage 337 – Gerichtshof Siehe EuGH – Rat der EU Siehe Rat Organisationssoziologie 104 Organisationsverfassung 61, 62, 68, 1051 Organstruktur 82 Organverfassung 335 – Ausdifferenzierung 339 – politische Führung 368 – vergleichende Perspektive 342 Orient 282, 324 Österreich 123, 138, 141, 145, 152 – Neutralität 138, 173 Parlament 65, 66, 82, 83, 107, 239, 244, 340, 354, 767, 770, 969, 1013, 1050, 1056 – Abgeordnete 93 – als Arbeitsparlament 107, 359, 363 – als Kontrollparlament 363 – Ausschüsse 359, 383 – auswärtige Gewalt 460, 472 – Berichterstatter 360 – demokratische Legitimation 1021 – Direktwahl 78, 512 – Fragerecht 359 – Fraktionen 975 – Funktionen 97, 98 – Inkompatibilitätsregeln 357 – Konsensmethode 363 – Kontrollfunktion 358
Sachregister – Misstrauensvotum 366 – Mitentscheidungsverfahren Siehe dort – Mitgesetzgeber 714 – Mitwirkungsrechte 151 – Organbefugnisse 110 – Organkompetenzen 355, 553 – Plenum 359 – political deficit 363 – Rechtsetzungsfunktion 360 – Repräsentationsfunktion 92, 382 – Sitzverteilung 108 – Souveränität 92 – Verhältnis zum Europäischen Rat 375 – Wahl 285 – Wahlkompetenz 357 – wissenschaftlicher Dienst 360 Parlamentarisches Regierungssystem 357 Parlamentarisierung 99, 356 Parlamentarismus 65, 91, 341 Parlamente, nationale Siehe nationale Parlamente Parlamentssouveränität 91, 101, 128 Parteien 166, 383, 975, 985 – europäische 98, 108, 641 – Europäisches Parlament 975 Passerelle-Klausel 765 Personalhoheit 1000 Personenverkehrsfreiheit 746, 754, 755 Perustuslakivaliokunta (Finnland) 561, 567 Pescatore, Pierre 456, 489, 513 Petitionsrecht 630 PJZS Siehe Zusammenarbeit Plaumann (Rechtssache) 516, 524, 555 Pluralisierung 247 Pluralismus 71 Polen 139, 142, 154, 223 – Verfassung 187 – Wirtschaftsverfassung 843 Politik-Defizit 369 Politische, das 305, 313, 327 Politisierung des Rechts 230 Polyzentrismus 288 Portugal 155, 172 Positivismus 89 Post-Souveränität 307, 311, 313 pouvoir constituant 93, 117 Praktische Konkordanz 851 Preisstabilität 842 Primärrecht 264, 271, 272, 989 – als Binnenmarktrecht 15
1087 – als Integrationsrecht 15 – als Verfassungsrecht 15, 490, 855 – Sektoralisierung 35 – Verfassungsrecht 15 Prinzip 67 – Begriff 25 – der Äquivalenz 53, 1062, 1065 – der Autonomie 30, 51 – der Demokratie 63 – der Effektivität 53, 1062, 1065 – der Einheit der Rechtsordnung 1064 – der einheitlichen Geltung 1064 – der Formenklarheit 529 – der freien Interessenverfolgung 49 – der Freiheit 31, 56 – der Gewaltenteilung 59 – der Homogenität 52 – der Integration 50 – der Kohärenz 34 – der Legalität 44, 45 – der loyalen Zusammenarbeit 49, 54, 509, 543, 1060 – der negativen Legalität 44 – der positiven Legalität 46 – der Rechtssicherheit 529, 555, 1059 – der Rechtsstaatlichkeit 36, 62 – der Solidarität 69, 872, 882 – der strukturellen Kompatibilität 52, 53 – der Verfassungshomogenität 52 – der Wirksamkeit 38 – des Grundrechtsschutzes 59 – des institutionellen Gleichgewichts 48 – des umfassenden Rechtsschutzes 42 – des Unionsrechtsvorrangs 42 – Einheitsstiftung 36 – immanente Kritik 22 – Optimierungsgebot 26 – politischer Prozess 43 – prinzipienorientierte Auslegung 501, 557 – Rechtsfortbildung 23 – Verbund 50 – Völkerrecht 29 Prinzip der begrenzten Ermächtigung 46, 398, 1021, 1034, 1041, 1049 Prinzipienbildung 266 Prinzipienlehre 16, 21, 35 Privatautonomie 57, 811, 815 Private Rechtsdurchsetzung 929, 933 Privatrecht 57, 813 Protektionismus 725, 738
1088 Protokoll (Lissabon) – Binnenmarkt und Wettbewerb 913 – Exit-Protokoll 585, 669 Binnenmarkt und Wettbewerb 910 Protokolle 258 Prozessrecht 1062 Pupino (Rechtssache) 508, 783, 786 Qorti Kostituzzjonali (Malta) 560 Querschnittsklausel 808, 827, 829 Raad van State (Niederlande) 561, 566 Rahmenbeschluss 419, 508, 783 – außervertragliche Haftung 510 – rahmenbeschlusskonforme Auslegung 509 – Rechtsschutz 767 Rat 35, 48, 65, 68, 82, 109, 112, 195, 338, 346, 969, 975, 1050, 1063, 1071 – Arbeitsgruppen 347 – doppelte Mehrheit 351 – Entscheidungsmodus 110, 349, 975 – Konsensmethode 345, 349, 352 – Organkompetenzen 349 – Ratsformationen 348 – Souveränität 94 – Vertraulichkeit 352 – Vorsitz 348 – Zusammensetzung 346 Ratifikationsverfahren 170 Raum 281 Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 56, 750, 1040 – EuGH 781, 794 – Freiheit 758, 763 – Grundrechte 789 – Individualrechte 787 – Kommission 781 – Raum 755 – Recht 761, 763 – Rechtsschutz 789, 792 – Sicherheit 758, 759, 763 – Subsidiarität 760, 786 – Unionsbürgerschaft 789 Recht auf den gesetzlichen Richter 564, 568 Recht auf gute Verwaltung 641 Rechtsangleichung 826, 981 – Strafrecht 751 Rechtserkenntnisquelle 209, 663 Rechtsform Siehe Handlungsform
Sachregister Rechtsfortbildung 1048, 1051, 1056, 1067 Siehe auch EuGH Rechtsgemeinschaft 37, 39, 40, 70, 216, 221, 285, 292, 319, 326, 494, 498, 501, 529 Rechtsnachfolge 201, 203, 207, 213 Rechtsordnung – Einheit 1054, 1064, 1074 – Verschränkung 1061 Rechtspersönlichkeit 1070 – der Union 1035 Rechtsprinzipien 21 Rechtsquellen 661, 662, 1039 – Völkerrecht 178 Rechtsschutz 986, 996 – dritte Säule 508, 510, 554 – Effektivität 507, 555 – Enumerationsprinzip 510, 525, 555 – Feststellungsklage 409 – Formenneutralität 525, 555, 557 – gegen Gesetze 517, 550 – gegen Normativakte 498, 523, 557 – Inzidentrüge 500 – Kohärenz 507 – konkrete Normenkontrolle 500, 518 – nationale Gerichte 498, 506, 554 – Schadenersatzklagen 769 – Vorabentscheidungsverfahren 499, 506, 516 Rechtsschutzgarantie 494, 517, 555 Rechtssicherheit 771, 933, 952, 1059 Rechtsstaatlichkeit 62, 235, 255, 769, 782, 797, 986, 1049, 1058, 1071 Rechtsstaatsprinzip 36, 490, 494, 511, 518, 542, 554, 557 Rechtssubjektivität 812 Rechtsvergleichung, wertende 211 Redeparlament 354, 358 Regeringsrätten (Schweden) 561, 567 Regierung 991 – europäische 1050, 1071 – konsensuale 364, 365 – majoritäre 364 – Verantwortlichkeit 103 regulatory competition 102 Religion 302 Repräsentation, parlamentarische 384 Revolution 230, 237, 241, 246, 253, 257, 266, 298, 316 – französische 100
Sachregister RFSR Siehe Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Richtlinie 501, 1053 – Anfechtbarkeit 524 – außervertragliche Haftung 503 – horizontale Wirkung 503, 543 – individuelle Rechte 506 – Leistungsprofil 505, 544 – Multifunktionalität 543 – Regelungsdichte 419, 504 – richtlinienkonforme Auslegung 503 – Umsetzungspflicht 130 – unmittelbare Wirkung 502 Riigikohus (Estland) 568 Römische Verträge 1049, 1063, 1068 Rücksichtnahmepflicht 55 rule of law 36, 235, 255 Rumänien 583 Russland 282 Sakralisierung 302 Säkularisierung 297, 301, 302 Sanktion 52 Satversmes tiesa (Lettland) 560 Schengen-System 750, 773, 776, 787 – Assoziierung 773, 778 – Durchführungsübereinkommen 166 – Personenkontrollen 754, 758 Schleier des Nichtwissens 294, 314 Schlusserklärungen 258 Schottland 146 Schuman, Robert 77, 493, 964 Schweden 127, 141, 152, 1031 Schweiz 74, 112, 113, 181, 719, 778 Sekundärrecht 239, 264, 271, 272, 989 Sekuritarisierung 788, 797 Selbstbestimmung – individuelle 65 – kollektive 65 – politische 65 self-executing treaties 188 Semi-parlamentarische Demokratie 384 Sicherheit – innere 760, 765, 791 – nationale 760 Sicherheitsrat 181, 212, 221 Sicherheitsstrategie 445, 474 Sinzheimer, Hugo 858 Slowakei 142, 152, 583 – Wirtschaftsverfassung 843
1089 Slowenien 143, 154, 582 Solidargemeinschaft 70 Solidarität 322, 324 – transnationale 325 Solidaritätsprinzip 69 Siehe auch Prinzip Souveränität 71, 86, 136, 160, 201, 202, 216, 247, 301, 303, 304, 307, 311, 313, 326, 327, 1027, 1030, 1046, 1076 – Begriff 89 – bürokratische 91 – Demokratie 97 – der Mitgliedstaaten 136 – gemeinschaftliche 215 – geteilte 79, 87, 96, 1001 – monarchische 91 – Selbstregierung 32 – unteilbare 88 – Verlust 136, 167 – Völkerrecht 1027 Souveränitätsdiskussion 139 Souveränitätsvorbehalt 129 Sozialabkommen von Maastricht 877, 880, 881, 882 Soziale Rechte 886, 888 Soziale Sicherungssysteme 848 Sozialer Dialog 835, 870, 872 Soziales Europa 856 Sozialfonds 834 Sozialmodell, europäisches 69 Sozialpolitik 721, 722, 832, 833, 835 Sozialstaatlichkeit 723 Sozialvertrag 309 Spaak-Bericht 865 Spanien 126, 146, 155, 160, 719 – Wirtschaftsverfassung 843 spill-over-Effekt 971 Spinelli, Altiero 78 Sprache 40, 631, 638 Staat 297, 304, 306, 307, 1024, 1034 – Gründungswillen 68 Staatenbund 84, 88, 117, 1002 Staatennachfolge 202, 203 Staatenverbund 50, 73, 104, 1012, 1016, 1019, 1041 Staatlichkeit 201 – der EG 202 Staatsangehörigkeit 159, 618, 621 Staatsbürgerschaft 619, 622 Staatshaftung 38
1090 Staatsrechtslehre 88 Staatstheorie 85, 87, 89 Staatsvolk 85, 115, 159, 1025, 1026 – als verfassunggebende Gewalt 1012, 1020 – europäisches 114, 1011, 1020 Stabilitäts- und Wachstums-Pakt 974 Steuerhoheit 1038 Streikrecht 875, 891 – Entsende-Richtlinie 893 Strukturelle Kongruenz 338 Strukturfonds 830 Struktursicherungsklausel 140, 149, 172, 174, 1018 Stufenbau der Rechtsordnung 44, 535, 548 Subjektives Recht 718, 725, 787, 810 – Grundfreiheit 816 Subsidiaritätsklage 1021 Subsidiaritätsprinzip 48, 157, 172, 381, 432, 551, 717, 761, 762, 838, 983, 1021, 1055, 1072, 1074 – Gewaltenteilung 1040 sui-generis-Gestalt 15, 32 Supranationalität 33, 83, 494, 1034 Supreme Court (Irland) 560, 567, 578 Symbol 294, 303, 305, 306 Symbolik 316, 318 Symvoulio Epikrateias (Griechenland) 561, 567, 578 Tabakwerbung (Rechtssache) 404, 435, 438 Tampere-Programm 755 Tarifautonomie 860, 870, 875, 898 – Grundrechte-Charta 902 – Transnationalisierung 901 Technokratie 309, 311 Tempel-Modell 989 Terrain 318 Territorialität 1036 Terroristenlisten 790, 792 Thukydides 289 Todesstrafe 163 Tradition 317 Transeuropäische Netze 829 Transparenz 66, 980 Transparenzverordnung 632 Trialoge 361 Tribunal Constitucional (Portugal) 560, 566 Tribunal Constitucional (Spanien) 560, 563, 566, 578
Sachregister Tribunal des Conflits (Frankreich) 561 TRIPS 186, 189, 416, 431 Trybunal Konstytucyjny (Polen) 560, 568 Tschechische Republik 131, 154, 581 Türkei 282, 583 Umweltpolitik 417 – Nachhaltigkeit 831 – Verursacherprinzip 831 Umweltrecht 506 Umweltschutz 736 UN-Charta 30, 39, 177, 179, 181, 212, 222 Ungarn 131, 139, 143, 154, 172, 581 – Wirtschaftsverfassung 843 Unionsbürger 315, 611 – als Rechtssubjekte 611 – als Volk 63 Unionsbürgerschaft 62, 70, 320, 323, 611, 724, 752, 759, 1000, 1014 – Aktivbürgerrechte 630 – Demokratie 653 – Diskriminierungsverbot 635 – Entstehung 614 – europäische Identität 645 – Grundfreiheiten 615, 623 – Grundrechte 639 – im Mehrebenensystem 650 – Kontroll- und Informationsrechte 632 – kulturelle Rechte 638 – Pflichten 642 – politische Mitwirkung 652 – Rechtsprechung des EuGH 321 – soziale Rechte 636 – Sozialleistungen 638 – Staatsangehörigkeit 618, 621 – Staatsbürgerschaft 619, 622 Unionsrecht – Autonomie 242 – Einheit 34 – einheitliche Wirkung 134 – Geltungsgrund 571, 597, 1017 – Stufenbau 44 – subjektive Rechte 1000 – Subjektivierung 506 – Völkerrecht 456 – Vorrang 38, 571, 892 Unionsverträge als formelle Verfassung 255, 490 Universalismus 308, 324
Sachregister UN-Menschenrechtspakte 30 Unmittelbare Wirkung 38, 57, 83, 142, 188, 191, 192, 193, 196, 198, 780, 786, 992, 1061, 1066 UN-Sanktionen 181, 182, 212, 213, 216, 221, 222 Urkundlichkeit 257 USA 32, 74, 85, 101, 282, 329, 719, 1047 – certification-Verfahren 588 – judicial federalism 588 – Kompetenzgericht 586 – political safeguards of federalism 587 Ústavní soud (Tschechische Republik) 560 Ustavni sud Republike Hrvatske (Kroatien) 560 Ustavno sodi (Slowenien) 560 van Gend en Loos (Rechtssache) 931 Verantwortlichkeit – demokratische 102, 116 – parlamentarische 116 – politische 103, 104 – völkerrechtliche 398 Verbraucherschutz 808, 942 Verbraucherwohlfahrt 907, 915, 941 Verbundstaatlichkeit 75 Verbundverfassung 116, 117, 595, 1003 Vereinigtes Königreich Siehe Großbritannien Verfahrensbeteiligung 67 Verfassung 227 – als Gedächtnis der Demokratie 1016 – als interkulturelle Verhandlung 598 – als Quelle der Rechtsordnung 1013 – Änderung 96, 1071 – Aufgaben 1054 – Begriff 227, 291, 490, 546, 1014 – europäische 30, 593, 654, 1045, 1056, 1064, 1067 – gegenwärtige 1069, 1075 – instrumentelle Funktion 293 – Mehrebenenverfassung 594 – mitgliedstaatliche 51 – Nebenverfassung 170 – Öffnungsklausel 136, 140, 159, 1017 – Organisationsstatut 1049 – politische Grenzen 274 – Relativierung des Begriffs 244 – republikanische 35 – Strukturprinzipien 125
1091 – Teilverfassung 30, 51, 1003 – Urkundlichkeit 257 – Vorrang 44, 232 – Vorzüge 1045 – Ziele 1054 Verfassunggebende Gewalt 227, 297 – des Volkes 234, 241, 250 Verfassunggebung 93, 116 – supranationale 174 Verfassungs- und Obergerichte 134, 559 – Belgien 126, 561 – Bulgarien 560, 583 – Dänemark 125, 560, 1031 – Deutschland Siehe BVerfG – Estland 560, 568 – Finnland 561 – Frankreich 129, 561, 1032 – Griechenland 131, 561 – Großbritannien 129, 560 – Irland 560 – Italien 124, 560, 1032 – judizieller Dialog 587 – Komplementarität 594 – Konvergenzphänomen 598 – Kroatien 560 – Lettland 560, 582 – Letztentscheidungskompetenz 1031, 1033 – Litauen 560, 582 – Luxemburg 560 – Malta 560, 583 – Niederlande 560 – Österreich 164, 169, 560 – Polen 133, 560, 568, 581, 1033 – Portugal 560 – Rumänien 560, 583 – Schweden 561 – Slowakei 560, 583 – Slowenien 560, 582 – Spanien 126, 560, 1032 – Tschechische Republik 132, 560, 581 – Türkei 560, 583 – Ungarn 132, 139, 560, 568, 581 – Zypern 583 Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten 529 Verfassungsbestandsklausel 140 Verfassungsdiskussion 654, 987 Verfassungselemente 246 Verfassungseuroparecht 575, 580, 584 Verfassungsfortschreibung 397, 402
1092 Verfassungsfunktion 244 Verfassungsgerichtsbarkeit 168 – Asymmetrie 598 – europäische 559 – Theorien 598 Verfassungsgerichtshof (Österreich) 560, 567 Verfassungsgrundsätze 1047, 1056 Verfassungskompromiss 508, 867 Verfassungskonvent 290, 512, 545, 548, 552, 556, 1069, 1075 – Kompetenzfrage 603 Verfassungsnominalismus 276 Verfassungspolitik 273 Verfassungsprinzipien 255 Verfassungsraum 30 Verfassungsrecht – Europäisierung 1022 – Letztmaßstäblichkeit 1040 – Verhältnis zum Europarecht 1017 – Vorrangstellung 1019, 1033 Verfassungssemantik 27 Verfassungsurkunde 179, 256 Verfassungsverbund 51, 119, 174, 248, 594, 596, 723, 725, 856, 888 Verfassungsverständnis – herrschaftsbegründend 272 – herrschaftsformend 272 Verfassungsvertrag 107, 137, 283, 291, 511, 545, 546, 885, 1047, 1068, 1070, 1071 – Präambel 289 – Referenden 284, 1068 – Scheitern 15, 276, 290, 1013 Vergemeinschaftung 305, 306, 307, 314 Verhältnismäßigkeitsprinzip 48, 540, 688, 795, 841, 849, 1058, 1061 Verkehrspolitik 417, 428, 821 Vernunft 295, 308, 314, 315, 326 Veröffentlichungspflicht 538 Verordnung 495, 1053 – allgemeine Geltung 497 – Anfechtbarkeit 497, 522 – Bestandskraft 539 – Multifunktionalität 497 – Regelungsdichte 497 – Sprachenregime 540 – unmittelbare Anwendbarkeit 496 Verrechtlichung der Politik 234 Versammlung Siehe Parlament Versammlungsfreiheit 165
Sachregister Verstaatlichung 845 Verstärkte Zusammenarbeit 765, 773, 776 Verteidigungspolitik Siehe ESVP Verteidigungsrechte 769, 790, 792 Verteilungspolitik 832, 847 Vertrag von Amsterdam 14, 24, 91, 507, 512, 750, 756, 758, 773, 779, 1056, 1063 Vertrag von Lissabon 24, 34, 91, 107, 182, 222, 291, 398, 411, 422, 425, 427, 431, 507, 511, 536, 544, 797, 908, 915, 916, 953, 1068, 1070 – Europäischer Rat 371 – nationale Parlamente 157, 380 – Organverfassung 386 – Rat 348, 351 – Referenden 1010 – RFSR 785 – Säulenstruktur 771 – Vorrang 135 Vertrag von Maastricht 79, 91, 143, 149, 159, 512, 525, 532, 538, 750, 754, 779, 916, 971, 989, 999, 1030, 1049, 1056 Vertrag von Nizza 91, 108, 512, 554, 1056, 1070, 1074 Vertragsänderung 200, 397, 399, 1036 – autonome 497 – Herren der Verträge 979 – implizite 392 – Verhältnis zur Vertragsauslegung 1037 Vertragsverfassung 397 Vertragsverletzungsverfahren 499, 772, 997 Vertrauensschutz 1059 Verurkundlichung 233, 259 Verwaltungsvollzug 1038, 1055, 1061, 1074 Vielfalt 36, 54, 68 Viking (Rechtssache) 891 Virginia Bill of Rights 318 Visapolitik 137, 764 Volk 93, 231, 234, 253 – europäisches 94, 99 Völkergewohnheitsrecht 178, 181, 182, 183, 184, 196, 202, 211 Völkerrecht 448 – EuGH 194 – innerstaatliche Wirkung 187 – Rechtswirkungen 456 – Transformation 207, 213 – unmittelbare Anwendbarkeit 458 – Vorrang 182 – zwingendes 213, 221
Sachregister Völkerrechtlicher Vertrag 178, 186, 198 – Grundgesetz 187 – Rang 186, 187 Völkerrechtsfreundlichkeit 194 Völkerrechtspersönlichkeit der EU 478 Völkerrechtssubjektivität 433 Volksabstimmung 138, 169 Volkssouveränität 86, 90, 93, 100, 304, 319 – europäische 94, 98 Vollzugslehre 196 volonté générale 71, 546 Vorabentscheidungsverfahren 42, 83, 169, 491, 499, 562, 563, 767, 769, 794, 995 – BVerfG 564 – dritte Säule 510 – EGKS-Vertrag 499 – Eilvorlageverfahren 508 – Funktionen 499 – Gültigkeitskontrollvorlage 500 – nationale Behörden 569 – Praxis oberster nationaler Gerichte 564 – Rechtsschutz 500, 510 – Vertragsverletzung 563 – Vorlagepflicht 499, 501 Vorlageverfahren Siehe Vorabentscheidungsverfahren Vorrang 42, 83, 123, 124, 131, 140, 427, 496, 588, 892, 1019, 1055, 1061, 1066 – der Verfassung 232, 257 – der Verträge 260 – nationale Identität 589 – nationales Verfassungsrecht 129 – Prostration 588 – Rechtsgrund 133 – vorrangfeste Bestände 597 Wahlrecht – Europawahlrecht 629 – Kommunalwahlrecht 628 Währungspolitik 973 Währungsstabilität 815 Währungsunion 137, 716, 815, 825, 868, 878, 885, 966, 1014 – Preisstabilität 842 – Sonderrolle 841 – Währungsverfassung 841 Wales 146 Warenverkehrsfreiheit 716 Weber, Max 103, 297, 304 Weltbürger 286
1093 Werte 291, 319, 330, 913 – als Grundprinzipien 28 – als rechtliche Normen 28 Wesensgehaltsgarantie 699 Wettbewerb – als Entdeckungsverfahren 937 – als Institution 954 – Behinderungsmissbrauch 925, 952 – dynamisches Modell 928, 951 – evolutionsökonomisches Modell 939 – freier 819 – Freiheit des 906, 946, 953, 954 – Handlungsfreiheit 820 – Intrabrand und Interbrand 950 – Kritik 911 – marktverschließende Wirkungen 928, 951 – Marktwirtschaft 810 – Sonderregime 821 – statisches Modell 929 – unverfälschter 821, 839, 906, 908, 956 – Verbraucherwohlfahrt 941, 942, 943, 951 – Wettbewerbsschädigung 927 Wettbewerbspolitik 550, 552, 724, 971, 972 Wettbewerbsrecht 57, 819, 891 – Arbeitsverfassung 892 – Durchführungs-VO Nr. 1/2003 921, 931 – Effizienzverteidigung 924, 944, 945 – Fusionskontroll-VO 913, 923, 924, 942 – Gruppenfreistellungs-VOen 919, 920, 933 – institutionelle Dimension 933 – Konstitutionalisierung 931 – Leitlinien der Kommission 919, 924, 934, 945, 950 – Missbrauch marktbeherrschender Stellung 912, 913, 923, 948 – passing-on defence 931 – rule of reason 921 – Zusammenschlusskontrolle 910, 913, 918, 923, 935, 944, 945 Wiener Aktionsplan 758, 761 Wirtschafts- und Währungsunion 916 Wirtschaftspolitik 917, 967, 971, 1000 – Begriff 822 – Beihilfen 825 – gemeinschaftliche 826 – Gestaltungsspielraum 807, 823, 848 – Koordination 825 – ordnungsergänzende 828 – regulierender Eingriff 825 – staatliche 842
1094 – Systemwechsel 849 – Ziele 843 – Zuständigkeitsverteilung 823 Wirtschaftsunion 716, 801, 825, 966, 970 Wirtschaftsverfassung 801 – Begriff 803 – europäischer Verbund 807 – Funktion 805 – gemischte Verfassung 809 – Gestaltungsermessen 809 – Maßstabsfunktion 804 – objektives Prinzip 810 – Ordnungspolitik 844 – Spielraumdogmatik 836 – subjektives Recht 810 – Systemwechsel 811 – Systemwettbewerb 848 Wirtschaftswissenschaft 314 Wohlfahrtsstaat 884 WTO 30, 180, 182, 186, 198, 215, 220, 224, 460, 720 – Streitschlichtung 190, 191, 193 WTO-Gutachten 416, 431, 454 Zäsur, politische 275 Zeit 281 Zentralstaatlichkeit 85 Zentralverwaltungswirtschaft 805
Sachregister Ziele 49, 399, 415, 422, 822, 860, 909, 910, 913, 916, 990, 1054, 1073 – Arbeitnehmerschutz 889 – Hierarchie 836 – Kriminalitätsbekämpfung 765 – Querschnittscharakter 438 – RFSR 753 – Umweltschutz 808, 817 Zollunion 428, 971 Zugang zu Dokumenten 630 Zugang zum Recht 755, 758, 762, 763, 791 Zusammenarbeit 969 – Begriff 779 – justizielle 756, 759, 762, 775 – polizeiliche 756, 759, 765, 775 – strafrechtliche 751, 755, 761, 765, 784 – zivilrechtliche 761, 764 Zuständigkeit Siehe Kompetenz Zustimmungsverfahren 1052 Zwangswirkung des Rechts 296 Zweckgemeinschaft 78, 81 Zweckverband 725 Zweite Säule Siehe GASP Zweiter Weltkrieg 964 Zypern 583 ǟǣǢǦǧǝǧǨǫǝǣǢǚǢǦǯǙǢǕǥǚǤǨǖǠǝǟǕ
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