Simone Weske Europapolitik im Widerspruch
Simone Weske
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Simone Weske Europapolitik im Widerspruch
Simone Weske
Europapolitik im Widerspruch Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl.: Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München und Institut d'études politiques de Paris, 2010
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17794-6
Danksagung
Dieses Buch entstand als Dissertation im Rahmen einer binationalen Promotion („cotutelle de thèse“) an der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Institut d’études politiques de Paris („Sciences Po“). Mein herzlicher Dank gilt all jenen, die sich dem administrativen Mehraufwand zum Trotz auf dieses internationale Verfahren eingelassen haben: An erster Stelle sind meine Doktorväter Werner Weidenfeld und Yves Surel zu nennen, die mir stets zuverlässig zur Seite standen. Danken möchte ich außerdem den externen Gutachtern Karl-Rudolf Korte und Pascale Laborier sowie Wolfgang Wessels, der den Vorsitz der Prüfungskommission übernahm. Für hilfreiche Anmerkungen danke ich Bruno Cautrès, Samy Cohen, Renaud Dehousse, Christian Lequesne, Olivier Rozenberg, Vivien A. Schmidt, Vincent Tiberj und den Teilnehmern der verschiedenen Kolloquien, die mir die Möglichkeit zur Diskussion meiner Arbeit boten. Mein besonderer Dank gilt Manuela Glaab und Michael Weigl, die den gesamten Promotionsprozess konstruktiv begleiteten, Franco Algieri, der mir neben der Projektarbeit ausreichend Freiheit für die Promotion ließ, und Sarah Seeger, die die Dissertation abschließend kritisch gelesen und durch wertvolle Anregungen bereichert hat. Neben der intellektuellen ist auch die finanzielle Unterstützung für den erfolgreichen Verlauf einer Promotion essenziell: Danken möchte ich vor diesem Hintergrund der Heinz und Sybille Laufer Stiftung für Politische Wissenschaft und dem Elitenetzwerk Bayern für die gewährten Promotionsstipendien, dem französischen Außenministerium für die Bourse d’excellence Eiffel Doctorat, die mir einen einjährigen Forschungsaufenthalt in Paris ermöglichte, der Chancellerie des Universités de Paris für die Bourse Aguirre Basualdo und der Deutsch-französischen Hochschule für die Mobilitätskostenbeihilfe. Hinsichtlich der Tücken der französischen Sprache (und nicht nur in dieser Hinsicht!) waren mir Sylvain Savary, Françoise Dion und Bernard Savary eine große Unterstützung. Gewidmet sei dieses Buch meinen Eltern Rosemarie und Manfred Weske und meiner Schwester Sylvia Weske. Ihr Beitrag zum Gelingen der Promotion ist nicht in Worte zu fassen. Essen, September 2010
Simone Weske
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ................................................................. 11 Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................... 13 EINLEITUNG ................................................................................................... 15 1
THEORETISCHER RAHMEN ............................................................. 21
1.1 Stand der Europaforschung ................................................................... 21 1.1.1 Integrationstheoretische Debatte...................................................... 21 1.1.2 Normative Diskussion ..................................................................... 27 1.1.3 Empirische Analysen ....................................................................... 29 1.1.4 Beitrag zur Forschung...................................................................... 33 1.2 Repräsentationstheoretische Überlegungen .......................................... 35 1.2.1 Demokratie und Repräsentation....................................................... 35 1.2.2 Die Frage nach dem Gemeinwohl ................................................... 36 1.2.3 Vom normativen Konzept zur empirischen Anwendbarkeit ............ 39 1.2.4 Leitfragen......................................................................................... 41 2
ANALYSERASTER ............................................................................... 43
2.1 Begriffsklärung zum Konzept der Kluft ............................................... 43 2.1.1 Regierende und Regierte.................................................................. 43 2.1.2 Regierungshandeln und Bevölkerungsmeinung............................... 45 2.1.3 Meinungen und Artefakte ................................................................ 49 2.1.4 Responsivität und Führung .............................................................. 52 2.2 Responsivität erklären ............................................................................ 56 2.2.1 Theoretische Erklärungsmodelle ..................................................... 57 2.2.1.1 Ökonomische Demokratietheorie ........................................... 58 2.2.1.2 Soziologische Rollentheorie................................................... 61
8
Inhaltsverzeichnis 2.2.1.3 Die theoretische Verortung dieser Arbeit ............................... 63 2.2.2 Bedingungsfaktoren responsiven Handelns ..................................... 65 2.2.2.1 Responsivität durch rationale Antizipation ............................ 65 2.2.2.2 Die Medien als Agenda-Setter und Sprachrohr der Bürger .... 68 2.2.2.3 Das Angebot politischer Alternativen .................................... 71
2.3 Führung erklären .................................................................................... 75 2.3.1 Theoretische Erklärungsmodelle ..................................................... 75 2.3.1.1 Interpersonale Kommunikation .............................................. 77 2.3.1.2 Massenkommunikation .......................................................... 79 2.3.1.3 Die theoretische Verortung dieser Arbeit ............................... 81 2.3.2 Bedingungsfaktoren effektiver Führung .......................................... 82 2.3.2.1 Effektive Führung durch Widerspruchsfreiheit ...................... 82 2.3.2.2 Die Medien als meinungsbildende Instanzen ......................... 84 2.3.2.3 Die Geschlossenheit der politischen Elite .............................. 85 2.4 Hypothesen .............................................................................................. 87 2.4.1 Hypothesen zur Überwindung einer Kluft ....................................... 87 2.4.2 Hypothesen zum Bestehenbleiben einer Kluft ................................. 89 3
METHODIK ............................................................................................ 91
3.1 Systematik des Vergleichs ...................................................................... 91 3.1.1 Kriterien der Fallauswahl ................................................................ 93 3.1.2 Bestimmung der Fallstudien ............................................................ 95 3.2 Operationalisierung von Schlüsselbegriffen ....................................... 100 3.2.1 Kluft ............................................................................................... 100 3.2.1.1 Bevölkerungsmeinung.......................................................... 102 3.2.1.2 Regierungshandeln ............................................................... 103 3.2.2 Medienmeinung ............................................................................. 103 3.2.2.1 Intensität und Wertung ......................................................... 108 3.2.2.2 Argumente ............................................................................ 111 3.2.3 Politischer Wettbewerb .................................................................. 112 3.2.3.1 Die Geschlossenheit der politischen Elite ............................ 114 3.2.3.2 Das Angebot politischer Alternativen .................................. 115 3.3
Empirische Validierung der politischen Handlungslogik .................. 116
Inhaltsverzeichnis 4
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FALLSTUDIEN .................................................................................... 119
4.1 Die Schaffung einer Europäischen Währungsunion (1991-1994) ..... 119 4.1.1 Deutschland: Die Liebe der Deutschen zu ihrer D-Mark............... 124 4.1.1.1 Die Meinung der Medien ..................................................... 125 4.1.1.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite ............................ 134 4.1.1.3 Das Angebot politischer Alternativen .................................. 137 4.1.1.4 Regierende und Regierte: Die Entstehung einer Kluft ......... 141 4.1.2 Frankreich: Ja zur Währungsunion, nein zur Politik der Austerität ................................................................................. 147 4.1.2.1 Die Meinung der Medien ..................................................... 148 4.1.2.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite ............................ 152 4.1.2.3 Das Angebot politischer Alternativen .................................. 155 4.1.2.4 Regierende und Regierte: Konkordanz mit Schönheitsfehlern ................................................................. 157 4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998) ....................... 159 4.2.1 Deutschland: Das Mantra der Geldwertstabilität ........................... 163 4.2.1.1 Die Meinung der Medien ..................................................... 165 4.2.1.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite ............................ 173 4.2.1.3 Das Angebot politischer Alternativen .................................. 176 4.2.1.4 Regierende und Regierte: Annäherung durch Führung ........ 182 4.2.2 Frankreich: Für ein anderes Europa ............................................... 188 4.2.2.1 Die Meinung der Medien ..................................................... 189 4.2.2.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite ............................ 195 4.2.2.3 Das Angebot politischer Alternativen .................................. 198 4.2.2.4 Regierende und Regierte: Harmonie trotz Turbulenzen ....... 202 4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007) ................ 204 4.3.1 Deutschland: Die Fremden im eigenen Land ................................. 214 4.3.1.1 Die Meinung der Medien ..................................................... 215 4.3.1.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite ............................ 227 4.3.1.3 Das Angebot politischer Alternativen .................................. 229 4.3.1.4 Regierende und Regierte: Die Zementierung einer Kluft ..... 234 4.3.2 Frankreich: Die Erweiterungsmüdigkeit der Franzosen ................ 237 4.3.2.1 Die Meinung der Medien ..................................................... 239 4.3.2.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite ............................ 244 4.3.2.3 Das Angebot politischer Alternativen .................................. 248 4.3.2.4 Regierende und Regierte: Annäherung durch Responsivität ......................................... 251
10 5
Inhaltsverzeichnis SYNTHESE ........................................................................................... 255
5.1 Zur Erklärung einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten .... 256 5.1.1 Gültigkeit der Hypothesen ............................................................. 258 5.1.2 Weiterführende Schlussfolgerungen .............................................. 259 5.1.3 Reichweite der Ergebnisse ............................................................. 261 5.2 Deutschland und Frankreich im Vergleich ......................................... 263 5.2.1 Zwischen Konsens und Konkurrenz .............................................. 264 5.2.2 Parteien und Wahlen ...................................................................... 265 5.2.3 Die Rolle der Medien..................................................................... 267 5.3 Nationale Repräsentationsprozesse in europapolitischen Fragen ..... 268 5.3.1 Europäische Integration und nationaler Parteienwettbewerb ......... 269 5.3.2 Eine Politik der reaktiven Schadensbegrenzung ............................ 271 5.3.3 Politische Repräsentation in der Sackgasse ................................... 272 RESÜMEE ...................................................................................................... 275 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 277 Anhang .............................................................................................................. 307
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildungen Abbildung 1.1: Abbildung 4.1: Abbildung 4.2: Abbildung 4.3: Abbildung 4.4: Abbildung 4.5: Abbildung 4.6: Abbildung 4.7: Abbildung 4.8: Abbildung 4.9: Abbildung 4.10: Abbildung 4.11: Abbildung 4.12: Abbildung 4.13: Abbildung 4.14:
Überbrückung einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten................................................................................. 41 Kommentierung zur Schaffung einer EWU in SZ und FAZ .......................................................................... 125 Bewertung des Politikziels „Schaffung einer EWU“ durch SZ und FAZ ................................................................ 126 Artikel zur Schaffung einer EWU auf der Titelseite der Bild-Zeitung ................................................................... 133 Die Einstellungen der Deutschen zur Schaffung einer EWU ..................................................................................... 142 Kommentierung zur Schaffung einer EWU in LM und LF ........................................................................... 148 Bewertung des Politikziels „Schaffung einer EWU“ durch LM und LF ................................................................. 149 Die Einstellungen der Franzosen zur Schaffung einer EWU ..................................................................................... 158 Kommentierung zur Verwirklichung der EWU in SZ und FAZ ...................................................................................... 165 Bewertung des Politikziels „Verwirklichung der EWU“ durch SZ und FAZ ................................................................ 167 Artikel zur Verwirklichung der EWU auf der Titelseite der Bild-Zeitung ................................................................... 172 Die Einstellungen der Deutschen zur Verwirklichung der EWU ............................................................................... 183 Kommentierung zur Verwirklichung der EWU in LM und LF ........................................................................... 189 Bewertung des Politikziels „Verwirklichung der EWU“ durch LM und LF ................................................................. 191 Die Einstellungen der Franzosen zur Verwirklichung der EWU ............................................................................... 203
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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung 4.15: Kommentierung zum EU-Beitritt der Türkei in SZ und FAZ .......................................................................... 215 Abbildung 4.16: Bewertung des Politikziels „EU-Beitritt der Türkei“ durch SZ und FAZ ................................................................ 216 Abbildung 4.17: Artikel zum EU-Beitritt der Türkei auf der Titelseite der Bild-Zeitung ................................................................... 225 Abbildung 4.18: Die Einstellungen der Deutschen zum EU-Beitritt der Türkei ............................................................................. 234 Abbildung 4.19: Kommentierung zum EU-Beitritt der Türkei in LM und LF ........................................................................... 240 Abbildung 4.20: Bewertung des Politikziels „EU-Beitritt der Türkei“ durch LM und LF ................................................................. 241 Abbildung 4.21: Die Einstellungen der Franzosen zum EU-Beitritt der Türkei ............................................................................. 252
Tabellen Tabelle 3.1: Tabelle 5.1:
Fallstudien ............................................................................ 100 Empirische Ergebnisse ......................................................... 258
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
AKP BCE BIP CDS CDU CEE CSU D-Mark DSP DVU EB ECU EG EU EUV-M EWG EWI EWS EWU EZB FAZ FDP FN GAL-TAN LF LM MdC
Adalet ve Kalknma Partisi Banque Centrale Européenne Bruttoinlandsprodukt Centre des Démocrates Sociaux Christlich Demokratische Union Communauté Économique Européenne Christlich Soziale Union Deutsche Mark Demokratik Sol Parti Deutsche Volksunion Eurobarometer European Currency Unit Europäische Gemeinschaften Europäische Union Vertrag von Maastricht über die Europäische Union Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Währungsinstitut Europäisches Währungssystem Europäische Währungsunion Europäische Zentralbank Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Front National Green, Alternative, Libertarian – Traditionalism, Authority, Nationalism Le Figaro Le Monde Mouvement des Citoyens
14 MoDem MPF NATO NC OECD PCF PDS PKK PR PS QCA RPR SPD SZ UDF UE UMP US(A) WASG WWU
Abkürzungsverzeichnis Mouvement Démocrate Mouvement Pour la France North Atlantic Treaty Organization Nouveau Centre Organisation for Economic Co-operation and Development Parti Communiste Français Partei des Demokratischen Sozialismus Partiya Karkerên Kurdistan Parti Républicain Parti Socialiste Qualitative Comparative Analysis Rassemblement Pour la République Sozialdemokratische Partei Deutschlands Süddeutsche Zeitung Union pour la Démocratie Française Union Européenne Union pour un Mouvement Populaire United States (of America) Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit Wirtschafts- und Währungsunion
Einleitung Einleitung Einleitung
„Die Kluft zwischen der Europäischen Union und den Bürgern ist ein weithin bekanntes Phänomen“1, stellt die Europäische Kommission in ihrem Weißbuch über eine europäische Kommunikationspolitik fest. Das Bestehen dieser Kluft wird oft den supranationalen Strukturen der Europäischen Union (EU) angelastet: „Brüssel“ sei den Menschen fern und fremd. Übersehen wird dabei häufig, dass auch „Berlin“ und „Paris“, „London“ und „Warschau“ in der Verantwortung stehen. Von den Bürgern in nationalen Wahlen zu Repräsentanten ihrer Interessen bestellt, bestimmen die mitgliedstaatlichen Regierungen den europäischen Integrationskurs über die intergouvernementalen Strukturen der EU in entscheidendem Maße mit.2 Vor diesem Hintergrund widmet sich die vorliegende Arbeit gezielt den nationalen Repräsentationsprozessen in europapolitischen Fragen. Ein Großteil des politischen Tagesgeschäfts der EU findet abseits des öffentlichen Interesses statt. Einzelne Fragen erregen aber immer wieder die Aufmerksamkeit der breiten Bevölkerung. Das europapolitische Handeln der Regierungen widerspricht in diesen Fällen bisweilen eklatant den Präferenzen der Bürger. Auch wenn die meisten Menschen den Prozess der europäischen Einigung prinzipiell unterstützen, kommt es vor, dass sie zentralen Richtungsentscheidungen ihre Unterstützung versagen. Besonders offensichtlich zeigt sich eine Opposition der Bevölkerung im Fall von gescheiterten Referenden: Die Dänen lehnten 1992 den Vertrag von Maastricht3 ab und die Iren stimmten 2001 gegen den Vertrag von Nizza4. 2005
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Europäische Kommission: Weißbuch über eine europäische Kommunikationspolitik. KOM (2006) 35 endgültig, 01.02.2006. Brüssel, S. 2. (Graue Literatur, Datenmaterial, Rechts-, Presse- und Internetquellen werden in dieser Arbeit grundsätzlich als Vollbeleg in der Fußnote zitiert. Wissenschaftliche Sekundärliteratur wird in Form von Kurzverweisen zitiert; der Vollbeleg findet sich im Literaturverzeichnis.) Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf eine geschlechtsneutrale Ausdrucksweise verzichtet. Selbstverständlich sind immer auch Bürgerinnen, Repräsentantinnen etc. mitgedacht. Amtliche Bezeichnung: „Vertrag von Maastricht über die Europäische Union“ (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. C 191, 29.07.1992). 50,7 Prozent der Dänen stimmten am 2. Juni 1992 gegen das Vertragswerk. Auf der Grundlage diverser Ausnahmeregelungen, die den An-
S. Weske, Europapolitik im Widerspruch, DOI 10.1007/978-3-531-92748-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einleitung
ließen Franzosen und Niederländer den Europäischen Verfassungsvertrag5 scheitern und 2008 votierten die Iren erneut gegen eine europäische Vertragsrevision, diesmal gegen den Vertrag von Lissabon6. Jeder dieser Verträge war von den jeweiligen Regierungen mit ausgehandelt und unterzeichnet worden – und dennoch verweigerten die Bürger ihre Zustimmung. Im Mittelpunkt dieser Studie stehen Fälle, in denen sich den Bürgern keine Einspruchsmöglichkeit per Referendum bietet. Eine Diskrepanz zwischen Bevölkerungsmeinung und europapolitischem Regierungshandeln ist unter diesen Umständen in der Regel weniger sichtbar, bisweilen aber dennoch vorhanden. Die Deutschen waren beispielsweise lange Zeit mehrheitlich gegen die Schaffung einer Europäischen Währungsunion eingestellt, die die Bundesregierung maßgeblich vorantrieb.7 Ein weiteres aktuelles Beispiel ist die Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei: Die Bürger der EU lehnen einen Beitritt der Türkei seit vielen Jahren mehrheitlich ab.8 Trotzdem haben die nationalen Regierungen den Beitrittsprozess mitgetragen und teilweise sogar aktiv befördert. Widersprüche zwischen Regierungshandeln und Bevölkerungsmeinung sind nicht weiter bemerkenswert, solange sie mittelfristig beseitigt werden. Manchmal bleibt ein solcher Widerspruch aber über mehrere Jahre hinweg bestehen, ohne dass die Regierung ihr Verhalten den Bevölkerungspräferenzen
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liegen der dänischen Bürger Rechnung trugen, wurde der Vertrag in einem zweiten Referendum am 18. Mai 1993 mit 56,8 Prozent der Stimmen angenommen. Amtliche Bezeichnung: „Vertrag von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte“ (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. C 80, 10.03.2001). 53,9 Prozent der Iren sprachen sich am 7. Juni 2001 gegen den Vertrag von Nizza aus. Erst in einem zweiten Anlauf, am 19. Oktober 2002, akzeptierten sie ihn zu 62,9 Prozent. Amtliche Bezeichnung: „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. 310, 16.12.2004). Die französische Bevölkerung lehnte den Verfassungsvertrag am 29. Mai 2005 mit 54,7 Prozent der Stimmen ab. Am 1. Juni 2005 votierten 61,6 Prozent der Niederländer gegen das Vertragswerk. Amtliche Bezeichnung: „Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“ (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. C 306, 17.12.2007). 53,4 Prozent der Iren stimmten am 12. Juni 2008 gegen den Vertrag von Lissabon. Am 2. Oktober 2009 sprachen sich 67,1 Prozent der Iren in einem zweiten Referendum für den Reformvertrag aus. Vgl. Kapitel 4.1.1 und 4.2.1 dieser Arbeit. Laut Standard Eurobarometer 47 lehnten im Frühjahr 1997 insgesamt 45 Prozent der befragten Europäer in den damals 15 EU-Mitgliedstaaten einen Beitritt der Türkei ab; 32 Prozent befürworteten ihn. Elf Jahre später, im Frühjahr 2008, waren sogar 55 Prozent der befragten Europäer in den inzwischen 27 Mitgliedstaaten gegen einen Beitritt der Türkei; 31 Prozent sprachen sich laut Standard Eurobarometer 69 dafür aus. (Alle in dieser Arbeit zitierten Eurobarometer-Daten sind online verfügbar unter http://ec.europa.eu/public_opinion/ standard_en.htm, zuletzt geprüft am 19.08.2009.) Vgl. auch Kapitel 4.3.
Einleitung
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anpasst oder dass es ihr umgekehrt gelingt, die breiten Massen von ihrem europapolitischen Handeln zu überzeugen. Die vorliegende Arbeit fragt nach den Gründen für dieses Phänomen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Suche nach Einflussfaktoren, die das Überwinden einer solchen „Kluft zwischen Regierenden und Regierten“ in der Europapolitik ermöglichen bzw. verhindern. Diese Frage ist von offensichtlicher praktischer Relevanz: Gelingt es den Regierungen der Mitgliedstaaten nicht, den Rückhalt der Bürger für ihre Europapolitik zu sichern, so ist der Erfolg des Integrationsprojektes in Frage gestellt. In besonderer Weise gilt das für die hier untersuchten Länder: Deutschland und Frankreich. Wenn sich die Regierungen dieser Staaten, die oft als „Motor“ der europäischen Integration bezeichnet werden (vgl. Picht, Wessels 1990; Weske 2006), europapolitisch als handlungsunfähig erweisen, so hat das Auswirkungen auf den gesamten Integrationsprozess. Wie also kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten in der Europapolitik überbrückt werden? Unter welchen Umständen droht sie, langfristig bestehen zu bleiben? Wie später noch ausführlich gezeigt werden wird, halten die verschiedenen integrationstheoretischen Ansätze kaum schlüssige Antworten auf diese Fragen bereit. In der theoretischen Debatte blieb der Bürger als eigenständige Einflussgröße bislang weitgehend unberücksichtigt. Nach dem Scheitern der Referenden zum Verfassungsvertrag wurde daher neben einer Krise der Integration vielfach auch eine Krise der Integrationstheorie ausgerufen (vgl. Neyer 2007, S. 283-385). Vor diesem Hintergrund ist das Erkenntnisinteresse nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch von hoher Relevanz. Ausgehend von der Beobachtung, dass es nicht nur in der Europapolitik Diskrepanzen zwischen Bevölkerungspräferenzen und Regierungshandeln gibt, sucht die Arbeit nach Mechanismen, die das Interaktionsverhältnis zwischen Regierenden und Regierten politikfeldübergreifend erklären. Sie greift auf allgemeine theoretische Ansätze zurück und prüft, inwieweit diese für die Europaforschung nutzbar gemacht werden können. Die Fragestellung ist schließlich auch von einem normativen Blickwinkel aus relevant: Das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten ist zugleich eines zwischen Repräsentanten und Repräsentierten. Auf europäischer Ebene fungieren in erster Linie die mitgliedstaatlichen Regierungen – nicht die Parlamente – als Repräsentanten des „nationalen Interesses“9. Im Europäischen Rat und im Rat der Europäischen Union („Ministerrat“) treffen sie wegweisende europapolitische Entscheidungen. Je nach Regierungssystem sind sie hierfür mittelbar oder unmittelbar durch das Votum der Bürger legitimiert. Wenn nun 9
Für eine kritische Diskussion zu der Frage, inwiefern dieses Interesse objektiv bestimmbar ist, siehe Kapitel 1.2.2.
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Einleitung
das europapolitische Regierungshandeln dauerhaft den Präferenzen der Bevölkerung zuwiderläuft, so widerspricht das dem allgemeinen Verständnis von „guter“ Repräsentation. Auch dieser Aspekt wird im Folgenden Berücksichtigung finden. In erster Linie verortet sich die Arbeit jedoch in der empirisch-analytischen Wissenschaft. Ihre doppelte Forschungsfrage, die am Beispiel Deutschlands und Frankreichs beantwortet werden soll, lautet: Unter welchen Bedingungen kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten in der Europapolitik überbrückt werden – und unter welchen Umständen bleibt sie langfristig bestehen? Der weitere Verlauf der Untersuchung gliedert sich wie folgt: Das erste Kapitel entwickelt den theoretischen Rahmen. Es prüft zunächst, was die Europaforschung zum Erkenntnisinteresse dieser Arbeit beisteuern kann und erläutert den eigenen Beitrag zur Forschung. Anhand repräsentationstheoretischer Überlegungen wird anschließend diskutiert, inwiefern eine Übereinstimmung zwischen Regierungshandeln und Bevölkerungsmeinung normativ wünschenswert ist und wie eine solche Übereinstimmung empirisch hergestellt werden kann. Es wird argumentiert, dass eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten prinzipiell auf zweifache Weise überbrückt werden kann: Entweder durch eine Anpassung des Regierungshandelns an die Bevölkerungsmeinung („Responsivität“) oder, umgekehrt, durch eine Anpassung der Bevölkerungsmeinung an das Regierungshandeln („Führung“). Darauf aufbauend werden Leitfragen formuliert, die sich für die Bedingungen responsiven Regierungshandelns respektive effektiver politischer Führung interessieren. Das zweite Kapitel konkretisiert die theoretischen Vorüberlegungen und entwirft das Analyseraster. Es widmet sich zunächst der Definition wichtiger Schlüsselbegriffe. Im Anschluss daran stellt es verschiedene theoretische Modelle zur Erklärung von Responsivität und Führung vor. Theoretisch relevante Bedingungsfaktoren responsiven Regierungshandelns und effektiver politischer Führung werden in Hypothesen überführt, um sie der empirischen Prüfung zugänglich zu machen. Das dritte Kapitel expliziert die Methodik der empirischen Untersuchung: Die Auswahl der Fallstudien wird begründet und die Operationalisierung zentraler theoretischer Konzepte erläutert. Besprochen wird außerdem die durch Akteursinterviews erfolgte empirische Validierung der politischen Handlungslogik, die der Argumentation zugrunde liegt. Das vierte Kapitel widmet sich schließlich dem Test der Hypothesen anhand von sechs Fallstudien: Untersucht wird zuerst die Schaffung einer Europäischen
Einleitung
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Währungsunion (1991-1994). Danach wird die Realisierung der gemeinsamen Währung analysiert (1995-1998). Im Anschluss daran befasst sich die Arbeit mit der Frage des türkischen EU-Beitritts (2004-2007). Jeder dieser drei Zeit- und Themenblöcke umfasst zwei Fallstudien, eine zu Deutschland und eine zu Frankreich, die das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten zu erklären suchen. Das fünfte Kapitel gleicht in Form einer Synthese die empirischen Resultate der Fallstudien mit den theoretischen Erwartungen ab. Die Forschungsfrage wird darauf aufbauend beantwortet. Am Anfang steht eine Bewertung von Gültigkeit und Reichweite der Hypothesen. Es folgt eine Besprechung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die im deutsch-französischen Vergleich zutage getreten sind. Zuletzt werden die Ergebnisse in einen allgemeineren theoretischen Kontext zurückgeführt. Eine zusammenfassende Beurteilung der gewonnenen Erkenntnisse schließt die Untersuchung ab.
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Theoretischer Rahmen
1 Theoretischer Rahmen
Um sich dem Phänomen einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten in der Europapolitik zu nähern, gilt es zunächst die bestehende Literatur auf mögliche Ansatzpunkte hin zu prüfen. Der theoretische Rahmen dieser Arbeit baut auf Erkenntnissen der Europaforschung auf und ergänzt deren Schwachstellen durch repräsentationstheoretische Überlegungen.
1.1 Stand der Europaforschung 1.1 Stand der Europaforschung Dieser Überblick erhebt nicht den Anspruch, die vielschichtige und weitverzweigte Europaforschung komplett abzubilden. Es wird vielmehr gezielt gefragt, inwiefern die bestehende Forschung zum Erkenntnisinteresse dieser Arbeit beitragen kann. In einem ersten Schritt wird die integrationstheoretische Debatte nachvollzogen. Im Anschluss daran werden normative Argumente zur Frage der demokratischen Legitimierung der EU abgewogen. Zuletzt werden empirische Analysen zum Thema der Europapolitik auf mögliche Ansatz- und Anknüpfungspunkte hin geprüft.
1.1.1 Integrationstheoretische Debatte Die verschiedenen integrationstheoretischen Ansätze streiten vor allem darüber, wer die maßgeblichen Akteure der europäischen Einigung sind, was diese antreibt, was sie bremst, welche Eigendynamiken sich im Verlauf des Integrationsprozesses entwickeln und wo dessen Finalität zu sehen ist. Mit fortschreitender Etablierung der EU richtete sich das Forschungsinteresse zunehmend auch auf die Möglichkeiten und Formen des Regierens im europäischen Mehrebenensystem. Seit Anfang der 1990er Jahre widmet sich die Integrationstheorie außerdem verstärkt der Rolle von Ideen, Normen, Identitäten und Diskursen in der „sozialen Konstruktion“ Europas (vgl. Wiener, Diez 2009, S. 7). In der frühen Phase der europäischen Einigung war die Annahme weit verbreitet, dass die Bürger die elitenbetriebene Integrationspolitik stillschweigend unterstützen. Spätestens mit dem gescheiterten dänischen und dem äußerst S. Weske, Europapolitik im Widerspruch, DOI 10.1007/978-3-531-92748-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Theoretischer Rahmen
knappen französischen Referendum zum Vertrag von Maastricht 1992 wurde dieser „permissive Konsens“ (Lindberg, Scheingold 1970, S. 41) jedoch in Frage gestellt.10 Die Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses durch die Bürger erwies sich als keineswegs selbstverständlich. Diese Erfahrung wiederholte sich 2001 in Irland mit dem Referendum zum Vertrag von Nizza. Während jedoch bei den Verträgen von Maastricht und Nizza das Volk erneut zur Urne gebeten wurde, scheiterte 2005 mit der Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrages durch die Franzosen und Niederländer erstmals in der Integrationsgeschichte ein ganzes Vertragswerk, weil die Bürger ihre Zustimmung verweigerten. Die Referenden sind nur die sicht- und spürbare Spitze des Eisbergs: Die Wählerschaft ist zu einer relevanten Größe im Integrationsprozess geworden. Die Bürger begreifen Europapolitik zunehmend als etwas, das ihr Leben unmittelbar berührt (vgl. Zürn 2006, S. 246) und entsprechend steigt die Bereitschaft, Einspruch zu erheben. Der permissive Konsens hat sich zum „constraining dissensus“ (Hooghe, Marks 2009, S. 5) gewandelt. Wie Jürgen Neyer (2007, S. 382) ausführt,11 tragen die meisten Integrationstheorien diesem Umstand jedoch nur ungenügend Rechnung: „Das gestiegene Selbstbewusstsein der europäischen Öffentlichkeit hat nicht nur den Integrationsprozess, sondern gleichzeitig auch die Integrationstheorie in die Krise gestürzt. Die wichtigsten integrationstheoretischen Ansätze […] verfügen über kein angemessenes analytisches Vokabular, um die neue Rolle der Öffentlichkeit und die Kluft zwischen Europa und seinen Bürgern erfassen zu können.“
In der Frühzeit der europäischen Integrationsgeschichte dominierten vor allem der Funktionalismus und der Föderalismus die theoretische Debatte. Beide Ansätze hatten eine stark normative Prägung und propagierten unterschiedliche Wege zum gemeinsamen Ziel der Friedenssicherung in Europa. Während der Föderalismus für die Umsetzung einer föderalen politischen Ordnung warb, argumentierte der Funktionalismus, dass nicht die Form sondern die Funktion internationaler Organisationen Ausgangspunkt der Überlegungen sein sollte. Die Form würde sich dann der Funktion entsprechend ergeben. Der Föderalismus 10
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Umstritten ist, inwieweit ein permissiver Konsens jemals existierte. Das jahrelange „Schweigen“ der Bevölkerung muss keineswegs immer zustimmend, sondern kann auch ein Resultat mangelnder Ausdrucksmöglichkeiten gewesen sein. Cees van der Eijk und Mark N. Franklin (2004, S. 47) sprechen in diesem Zusammenhang von einem „sleeping giant“: Sobald den Bürgern eine Wahlmöglichkeit gegeben werde, wache der „schlafende Riese“ auf und die bis dahin unterdrückte Skepsis der Bürger breche offen durch. Siehe ebenso Hooghe, Marks 2009, S. 1. Zur Frage, inwiefern die europäische Integrationstheorie durch die gescheiterten Referenden obsolet geworden ist, siehe Börzel 2005.
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fand seinen politischen Ausdruck in der 1948 gegründeten Europäischen Bewegung. Politisch durchsetzen konnte sich aber letztlich der Funktionalismus, dessen Handlungslogik auch die europäischen „Gründungsväter“ Jean Monnet und Robert Schuman folgten. Prominentester akademischer Vertreter des Funktionalismus war David Mitrany (1943). Er verfolgte in seinem Ansatz keine europäische, sondern eine globale Vision. Eine regional beschränkte Integration lief seiner Ansicht nach Gefahr, die Fehler der Nationalstaaten zu wiederholen – es würde weiterhin in territorialen statt in funktionalen Kategorien gedacht werden. Mitrany sah technische Eliten als treibende Kraft des Einigungsprozesses: Eine funktional begründete Verschmelzung einzelner Politikbereiche würde schrittweise die Integration weiterer Politikbereiche nach sich ziehen. Die Föderalisten um Altiero Spinelli und Ernesto Rossi betonten demgegenüber die politische Dimension der europäischen Einigung.12 Sie forderten eine europäische Verfassung und strebten die Errichtung der „Vereinigten Staaten von Europa“ an.13 Im Gegensatz zu den Funktionalisten wiesen die Föderalisten beizeiten auf die Bedeutung öffentlicher Unterstützung für ein dauerhaftes Gelingen des europäischen Integrationsprojektes hin (vgl. Burgess 2009, S. 32). Eine empirisch überprüfbare Erklärung zu der Frage, warum die Bürger diesem Projekt bisweilen ihre Zustimmung verweigern, bietet der Föderalismus jedoch nicht. Eine zweite große Debatte entwickelte sich in den Folgejahren zwischen den (liberalen) Intergouvernementalisten auf der einen und den Neofunktionalisten sowie den aus dieser Denktradition hervorgegangenen Supranationalisten auf der anderen Seite.14 Die Auseinandersetzung war diesmal nicht normativer Art. Im Mittelpunkt stand vielmehr die empirisch-analytische Erklärung des Integrationsprozesses. Heute werden die Ansätze als sich gegenseitig 12 13
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Als wegweisendes Dokument des Föderalismus gilt das von Altiero Spinelli und Ernesto Rossi verfasste „Ventotene Manifesto“ von 1941. Der frühe Föderalismus strebte die möglichst unmittelbare Errichtung einer föderalen Ordnung auf der Grundlage einer europäischen Verfassung an. Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Carl Joachim Friedrich (1972) maß der Verfassungsfrage in seiner Weiterentwicklung des föderalistischen Ansatzes eine weniger zentrale Rolle bei. Er löste sich auch von der Idee, die europäische Föderation in einem einzigen großen Schritt zu erschaffen. Friedrich betonte stattdessen den Prozesscharakter der Föderalisierung. Auch der Neoföderalismus von John Pinder (1985) ging von inkrementellen Föderalisierungsetappen aus. Anfang der neunziger Jahre brachte Wolfgang Wessels (1992, 1997) den Begriff des „fusionierten Föderalstaates“ in die theoretische Debatte ein: Sein Fusionsansatz begreift die europäische Integration als einen Prozess, bei dem die Regierungen und Verwaltungen interdependenter Staaten zur Bewältigung eines zunehmenden Ebenen- und Entscheidungsdilemmas in wachsendem Maße verschmelzen. Zu dieser Einteilung in zwei Denkschulen und deren interner Ausdifferenzierung siehe Rittberger, Schimmelfennig 2005, S. 22-40. Zur Kritik einer dichotomen Gegenüberstellung siehe Branch, Øhrgaard 1999; Sandholtz 1993, S. 3.
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ergänzend wahrgenommen: Den Neofunktionalisten und Supranationalisten wird in der Regel eine größere Erklärungskraft hinsichtlich der europäischen Alltagspolitik zugesprochen, während die intergouvernementalistischen Ansätze ihre Stärke in der Erklärung von Vertragsverhandlungen offenbaren (vgl. Rosamond 2000, S. 99-105). Auch im Kontext dieser zweiten Debatte spielte die Bevölkerung indes nur eine untergeordnete Rolle. Der Neofunktionalismus betont – in der Tradition des Funktionalismus – die Eigendynamik von Integrationsprozessen: Das Fortschreiten der Integration sei stark durch inkrementelle und nicht intendierte Entwicklungen geprägt. In der neofunktionalistischen Logik dehnt sich ein einmal begonnenes Integrationsprojekt über „spill-over“-Effekte Schritt für Schritt weiter aus. Die Einstellung der Massen zum Integrationsprozess galt den Neofunktionalisten zunächst als irrelevant: „It is as impracticable as it is unnecessary to have recourse to general public opinion surveys“, erklärte Ernst B. Haas (1958) noch in seinem einflussreichen Buch „The Uniting of Europe“. Später korrigierte er diese elitenzentrierte Sichtweise (vgl. Haas 1971) und auch in den theoretischen Weiterentwicklungen des Neofunktionalismus durch Joseph Nye (1971) und Philippe C. Schmitter (1971) sind Bezüge zur Bevölkerungsmeinung zu erkennen.15 Angesichts mehrerer gescheiterter Referenden räumt Schmitter (2009, S. 211) allerdings ein, dass eher eine öffentliche Unterstützung des Integrationsprozesses als eine Blockade desselben theoretisch zu erwarten gewesen wäre. Der auf dem Neofunktionalismus aufbauende Supranationalismus (vgl. Pierson 2000; Stone Sweet, Sandholtz 1997) lenkte den Blick auf transnationale Interaktionen, die Akteursinteressen supranationaler Organe sowie das Phänomen der Pfadabhängigkeit.16 In Rückgriff auf die Transaktionstheorie von Karl W. Deutsch17 geht der Supranationalismus davon aus, dass grenzüberschreitende Transaktionen und Kommunikationsflüsse von nichtstaatlichen Akteuren in Europa zu einem Bedarf an Koordination auf europäischer Ebene führen. Der Druck zugunsten einer Regulierung auf europäischer Ebene nehme je nach Intensität der grenzüberschreitenden Transaktionen in einem Sektor zu oder ab. Auf diese Weise könne erklärt werden, warum der Integrationsprozess in verschie15
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Einen guten Überblick über die Rolle der Bevölkerungsmeinung im späten Neofunktionalismus bietet Sinnott 1995, S. 22. Zur Etablierung eines Neo-Neofunktionalismus siehe Schmitter 2004. Der Supranationalismus umfasst zahlreiche rationalistische und konstruktivistische Varianten. Auch institutionalistische Strömungen können hier zugeordnet werden. Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser Ansätze siehe Rittberger, Schimmelfennig 2005, S. 31-40. Karl W. Deutsch (1957, 1967) arbeitete die Bedeutung von grenzüberschreitender Kommunikation und Interaktion als Triebkraft der Integration heraus. Dabei fokussierte er nicht allein auf den europäischen Integrationsprozess, sondern vor allem auch auf die „transatlantische Sicherheitsgemeinschaft“.
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denen Sektoren unterschiedlich schnell voranschreite (vgl. Nölke 2005, S. 153155). Die transnationale Gesellschaft, verstanden im Sinne von Interessengruppen und sonstigen nichtstaatlichen Akteuren, spielt im Supranationalismus eine bedeutende Rolle. Die breite Bevölkerung wird allerdings auch hier analytisch vernachlässigt. Wayne Sandholtz (1993) wies in seinen Arbeiten zur Europäischen Währungsunion zwar auf die ablehnende Haltung der deutschen Bevölkerung hin, hinterfragte diese Ablehnung jedoch nicht weiter. Er interessierte sich vor allem für die Frage, warum Nationalstaaten freiwillig Souveränität an eine supranationale Ebene abgeben – und dies, im Falle Deutschlands und der Währungsunion, trotz mangelnder Unterstützung der Wählerschaft. Der Intergouvernementalismus nach Stanley Hoffmann (1995) konzipierte Staaten als zentrale Akteure des Integrationsprozesses. Staatliche Interessen wiederum sah er vor allem geopolitisch durch Macht- und Sicherheitsbestrebungen bestimmt. In dieser „realistischen“18 Variante des Intergouvernementalismus wurde die Bevölkerungsmeinung bestenfalls peripher berücksichtigt. In der Forschung bleibt umstritten, ob sie im realistischen Intergouvernementalismus überhaupt als potenzieller Einflussfaktor gelten kann. So erkennt etwa Richard Sinnott (1995, S. 18-19) bei Hoffmann durchaus Bezüge zur Bevölkerungsmeinung, während Liesbet Hooghe und Gary Marks (2009, S. 6) einen Einfluss der breiten Massen gar nicht berücksichtigt sehen. Staatliche Präferenzen werden nicht nur durch internationale Machtstrukturen geformt, sie haben auch innenpolitische Ursprünge. Simon Bulmer (1983) plädierte mit seinem „domestic politics approach“ dafür, diesen innenpolitischen Präferenzbildungsprozess stärker zu berücksichtigen. Auf die wechselseitige Beeinflussung innenpolitischer und internationaler Prozesse wies auch Robert Putnam (1988) hin: Zum einen seien die Regierungspräferenzen bei internationalen Verhandlungen durch innenpolitische Prozesse geformt, zum anderen würden internationale Verhandlungsergebnisse auf die domestische Ebene zurückwirken. Dieser Two-Level-Game-Ansatz beeinflusste maßgeblich den liberalen Intergouvernementalismus von Andrew Moravcsik (1998). Moravcsik setzt sich explizit mit der gesellschaftlichen Fundierung staatlicher Präferenzen auseinander, bezieht sich dabei aber vor allem auf organisierte Interessen. Trotz prinzipieller Berücksichtigung der innenpolitischen Ebene liegt der Fokus bei ihm somit weiterhin nicht auf der breiten Bevölkerung, sondern vielmehr auf ökonomischen Interessengruppen.19 18
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Dieser Beiname verweist auf die gedankliche Nähe zur Denkschule des „Realismus“, die sich mit den geopolitischen Macht- und Sicherheitsinteressen der Staaten befasst. Zum Realismus in den Internationalen Beziehungen siehe Morgenthau 1948. Stärker als Moravcsik gehen Simon Hug und Thomas König (2002, 2007) auf die Bevölkerungsmeinung ein: Sie prüften in Form einer Zwei-Ebenen-Analyse, inwiefern die Möglich-
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Während der 1980er Jahre vollzog sich in der Europaforschung ein „governance turn“: Das Interesse richtete sich zunehmend auf die Möglichkeiten der Politikgestaltung innerhalb der EU.20 Der Multi-Level-Governance-Ansatz (vgl. Hooghe, Marks 2001; Jachtenfuchs 2001) beschreibt die vielfältige Verflechtung supranationaler, nationaler und subnationaler Entscheidungsebenen und kann die breite Bevölkerung prinzipiell gut als eine dieser Entscheidungsebenen in das Modell integrieren. Aufgrund seiner starken Strukturbezogenheit sieht sich der Multi-Level-Governance-Ansatz häufig dem Vorwurf ausgesetzt, zu statisch und deskriptiv zu sein: Er sei nicht viel mehr als eine Metapher, liefere zwar dichte Beschreibungen, aber keine Erklärung (vgl. Knodt, Große Hüttmann 2005, S. 235-236; Neyer 2007, S. 384). Im Zusammenspiel mit anderen theoretischen Konzepten, die empirisch überprüfbare Hypothesen generieren, hat er sich jedoch als fruchtbares Modell erwiesen.21 Letztlich ist noch der „constructivist turn“ zu erwähnen, der sich seit den 1990er Jahren in den Theorien der Internationalen Beziehungen (vgl. Wendt 1992) und auch auf dem Gebiet der Europaforschung vollzieht (vgl. Checkel 1999; Christiansen et al. 1999; Risse 2009, kritisch hierzu Moravcsik 1999): Neuere Ansätze beziehen verstärkt ideelle Einflussfaktoren in ihre Erklärung der europäischen Integration mit ein und fragen gleichzeitig auch umgekehrt, wie die Identitäten und Normen der beteiligten Akteure über Sozialisierungsprozesse geformt werden. Die Vernachlässigung der Bevölkerung setzt sich jedoch auch hier tendenziell fort: Meist stehen elitäre Argumentations- und Deliberationsvorgänge im Mittelpunkt der Analyse. Der bisherige Überblick hat gezeigt, dass die Bevölkerung von den Integrationstheorien bislang kaum als möglicher Einflussfaktor bzw. als potenziell bremsendes Element des europäischen Einigungsprozesses berücksichtigt wurde. Eliten, seien sie politischer, wirtschaftlicher oder administrativer Natur, bilden den Kern der wichtigsten integrationstheoretischen Ansätze. Frank Schimmelfennig (2005, S. 342) stellt hierzu fest:
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keit einer Ratifikation per Referendum zwischenstaatliche Vertragsverhandlungen beeinflusst. Diskrepanzen zwischen dem europapolitischen Handeln einer Regierung und den Präferenzen der Wählerschaft können allerdings auch sie nur schlecht erklären, da sich ihrer Argumentation zufolge das antizipierte Wählerverhalten zuverlässig im Regierungshandeln niederschlagen sollte. Vgl. zu dieser Kritik Schimmelfennig 2005, S. 342. Angesichts der fortschreitenden Erweiterung der Union gewannen außerdem Ansätze zur differenzierten Integration an Relevanz. Vgl. Algieri et al. 2003; Giering 1997; Kölliker 2006; Warleigh 2002; Weidenfeld 2006b. Einen solchen empirisch-analytisch orientierten Zugang bieten beispielsweise Hooghe, Marks 2009. Für eine kritische Kommentierung siehe Börzel, Risse 2009; Kriesi 2009; Schmitter 2009.
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„Inhalt der integrationstheoretischen Kontroversen ist nicht der elitäre Charakter der Integration selbst, sondern welche Eliten die zentrale Rolle spielen, was sie motiviert und wie sie interagieren. Die Wählerschaft kommt als eigenständiger Einfluss oder als eigene Entscheidungsebene nicht vor.“
1.1.2 Normative Diskussion Gerade weil der Einfluss der Bevölkerung auf den europäischen Integrationsprozess im Allgemeinen als gering eingeschätzt wird, widmet sich die Europaforschung intensiv der Frage nach der demokratischen Legitimierung der EU (vgl. Beetham, Lord 1998; Foret 2008; Höreth 1999; Leca 2000; Lord, Magnette 2004). Viele Studien zu diesem Thema sind normativ ausgerichtet und entwickeln Vorschläge, wie die Legitimität des europäischen Einigungsprozesses erhöht werden könnte (vgl. Bellamy, Attucci 2009; Bellamy, Castiglione 2003). Weitverbreitet ist die Unterscheidung zwischen Input-, Throughput- und Output-Legitimation (vgl. Kraus 2004; Scharpf, Schmid 1999; Wimmel 2008; Zürn 1998): Die Input-Legitimation bemisst sich nach den direkten und indirekten Partizipationsmöglichkeiten. Die Throughput-Legitimation thematisiert institutionelle Entscheidungsprozesse und prozedurale Mechanismen. Die Output-Legitimation bezieht sich auf die Qualität und Effektivität der Politikergebnisse. Im Vergleich zu den anderen beiden Dimensionen wird die OutputLegitimation der EU in der Regel am besten bewertet.22 So ist es nicht erstaunlich, dass jene, die ein „demokratisches Defizit“23 der EU feststellen, meist Aspekte der Input- und Throughput-Legitimation ansprechen, während sich jene, die kein Defizit erkennen, meist auf die gute Output-Legitimation der EU beziehen. Der Vorwurf eines demokratischen Defizits speist sich aus verschiedenen Quellen. Er setzt zum einen an der institutionellen Struktur der EU an: So wird beispielsweise der Kompetenzbereich des Europäischen Parlaments als zu gering, die Einbindung nationaler Parlamente als ungenügend,24 der Entscheidungsprozess als intransparent und der Kompetenztransfer an politisch nicht verantwortliche Institutionen als zu weitgehend bemängelt (vgl. Schäfer 2006b, S. 352-357). Ein zweiter Argumentationsstrang beklagt das Fehlen eines europäischen „Demos“: Ohne Volk sei keine Volksherrschaft (im Sinne des grie22 23 24
Zu den Grenzen der output-orientierten Legitimation siehe Schäfer 2006a. Zum Begriff des demokratischen Defizits siehe Decker 2002; Weiler et al. 1995. So forderte auch das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon eine Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union. Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 30.06.2009, Aktenzeichen 2 BvE 2/08, 1-421.
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chischen „demos kratein“) möglich. In diese Tradition sind jene Arbeiten einzuordnen, die sich mit den Möglichkeiten zur Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit und einer europäischen Identität befassen (vgl. Kielmansegg 2003; Meyer, Eisenberg 2009; Nida-Rümelin, Weidenfeld 2007; Schwaabe 2005; Trenz et al. 2003; Walkenhorst 1999). Vertreter einer dritten Denkrichtung halten deliberative Verfahren für besonders geeignet, um Legitimation für ein Regieren jenseits des Nationalstaates zu erzeugen (vgl. Schmalz-Bruns 1999): Der Vorteil deliberativer Verfahren läge gerade darin, dass sie keine gegebene politische Gemeinschaft und kein vorab bestehendes identitäres Zusammengehörigkeitsgefühl erfordern. Legitimation entstehe „aus der allgemeinen Zugänglichkeit eines deliberativen Prozesses, dessen Beschaffenheit die Erwartung auf rational akzeptable Ergebnisse begründet“ (Habermas 1998, S. 166). Einen vierten Ansatzpunkt bietet die „soziale Legitimität“ (vgl. Huget 2007, S. 30) der EU: In Anlehnung an David Easton (1965, 1975) stehen hier der Legitimitätsglaube und die Unterstützung des europäischen politischen Regimes durch die Bürger im Vordergrund (vgl. Fuchs 2003). Eine fünfte Perspektive setzt schließlich an den Rückwirkungen der europäischen Integration auf das Funktionieren nationaler Demokratien an (vgl. Bartolini 2005; Schmidt 2006b). Neu angeheizt wurde die Debatte von Giandomenico Majone (1994, 2000, 2006) und Andrew Moravcsik (2002), die beide gegen den Mainstream argumentieren, es gäbe gar kein demokratisches Defizit. Majones Ansicht nach nimmt die EU vorwiegend regulative Funktionen wahr, die keine Verteilungsfragen implizieren. Es gebe daher kein Demokratiedefizit, sondern höchstens ein Glaubwürdigkeitsdefizit, dem man durch transparentere Verfahren begegnen könne. Moravcsik weist seinerseits auf die vielfältigen Kontrollinstanzen im europäischen politischen Prozess hin, die den Vorwurf eines demokratischen Defizits in seinen Augen ungerechtfertigt erscheinen lassen. Er betont die Wichtigkeit der intergouvernementalen Gremien im europäischen Institutionengefüge: Zentrale Entscheidungen lägen weiterhin in Verantwortung der Mitgliedstaaten und seien über deren Strukturen demokratisch legitimiert. Den Kompetenztransfer an die EU sehen Majone und Moravcsik durch einen Gewinn an politischer Effektivität und Wohlstand gerechtfertigt. Eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an den Entscheidungen der EU und damit eine steigende Politisierung europäischer Politik erscheint ihnen vor diesem Hintergrund nicht wünschenswert, da regulative Aufgaben zum Wohle aller und nicht von kurzfristigen, wahlstrategischen Interessen geleitet durchgeführt werden sollten. Daraufhin entzündete sich wiederum eine Folgedebatte um die Frage, ob eine Politisierung der europäischen Integration grundsätzlich zu begrüßen oder abzulehnen sei: Andreas Follesdal und Simon Hix (2006) widersprechen der Behauptung, dass die EU rein regulative Aufgaben erfülle. Ihrer Ansicht nach
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produziert die EU-Politik sehr wohl Gewinner und Verlierer. Eine Politisierung der europäischen Integration halten sie daher für notwendig: Nur so könne eine Rückkopplung der Politikgestaltung an die Präferenzen der Bürger garantiert werden. Sobald europapolitische Streitfragen öffentlich ausgetragen werden, erschwert dies freilich die Entscheidungsfindung und Politikdurchsetzung auf europäischer Ebene: Gelingt es den regierenden nationalen bzw. den supranationalen Eliten nicht, die Bürger von ihrer Position zu überzeugen, drohen bestimmte Maßnahmen am öffentlichen Widerstand zu scheitern. „Thus repoliticizing may be good in terms of governance by and of the people, but it could prove a disaster for governance for the people, that is, for the EU to move forward in an efficient and effective way“, beschreibt Vivien Schmidt (2006b, S. 270, Hervorhebungen im Original) das Dilemma. Follesdal und Hix (2006, S. 534) halten diesem Einwand entgegen, dass die Existenz eines politischen Wettbewerbes letztlich den zentralen Unterschied zwischen einer Demokratie und einem wohlwollenden Autoritarismus markiere. Politisierung sei daher im Sinne einer demokratischen Verfasstheit der EU unverzichtbar. Die normativen Zielsetzungen einer stärkeren Beteiligung der Bürger am europapolitischen Entscheidungsprozess einerseits und einer möglichst effektiv problemlösenden EU andererseits stehen somit in einem unvermeidbaren Spannungsverhältnis (vgl. Bartolini 2005, S. 405).25
1.1.3 Empirische Analysen Nicht nur die normative, auch die empirische Europaforschung beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Beziehung der Bürger zur Europäischen Gemeinschaft (EG) bzw. Union. Da die klassischen Integrationstheorien der breiten Bevölkerung bislang wenig Beachtung schenkten, sind die empirischen Arbeiten oftmals von einem theoretischen Ad-hoc-Charakter geprägt, wie Simon Hix (2007, S. 148) beklagt: „[W]e do not have a unifying theoretical framework within which to place the various propositions and against which to compare the mounting empirical findings.“ Die Demoskopie verfolgt aufmerksam die Meinungen der Bürger zum europäischen Einigungsprozess (vgl. Cautrès, Reynié 2002; Gabel 1998b; Herz 1978; Niedermayer 2003; Reynié 2003). Im Mittelpunkt vieler Untersuchungen steht der Zusammenhang zwischen den individuellen soziodemographischen Charakteristika der Bürger und deren Einstellungen zum europäischen Eini25
Zum Spannungsfeld Partizipation versus Effektivität siehe auch Dahl 1994; Lipset 1962.
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gungsprozess. Als gesichert gilt inzwischen die Erkenntnis, dass die Unterstützung des Integrationsprozesses mit steigender sozialer Stellung und Bildung zunimmt (vgl. Cautrès, Grunberg 2007, S. 31). Im Sinne einer utilitaristischen Argumentation wurde zudem nachzuweisen versucht, dass der Grad der Unterstützung steigt, je stärker die Bürger ökonomisch von der Mitgliedschaft profitieren (vgl. Gabel 1998a). Alternativ wurden auch affektive und identitäre Faktoren herangezogen, um variierende Zustimmungswerte zur europäischen Einigung zu erklären (vgl. Hooghe, Marks 2004; Kritzinger 2003). Um zu messen, ob und wie stark die Bürger den europäischen Integrationsprozess unterstützen, werden in der Regel vier Fragen des Eurobarometers als Indikatoren verwendet: Der „unification indicator“ ermittelt die generelle Befürwortung bzw. Ablehnung der europäischen Einigung. Der „membership indicator“ zeigt die Beurteilung der Mitgliedschaft in der EG/EU an. Der „benefits indicator“ bezieht sich auf die Wahrnehmung der Vor- und Nachteile, die sich aus der Mitgliedschaft in der EG/EU ergeben. Der „dissolution indicator“ interessiert sich schließlich für die emotionale Reaktion im Fall eines Scheiterns der EG/EU.26 Auf diesem Weg lässt sich jedoch nur eine sehr allgemeine Einstellungsdimension ableiten, die man „pro/contra europäische Einigung“ überschreiben könnte. Diese Dimension hat vor allem in den Anfangsjahren des Integrationsprozesses Aussagekraft besessen. Heute ist sie alleine nicht mehr ausreichend, um die vielschichtigen Einstellungen der Bürger zur europäischen Einigung angemessen zu beschreiben (vgl. Belot, Cautrès 2006, S. 90; Taggart 1998, S. 365-366). Wie Karl-Rudolf Korte und Andreas Maurer (2002, S. 223) feststellen, polarisiert Europapolitik das Meinungsbild vor allem dann, wenn konkrete Politikfeldfragen ins Alltagsbewusstsein der Menschen drängen. Stützt man sich ausschließlich auf die Dimension „pro/contra europäische Einigung“, läuft man Gefahr, die Zustimmung der Bürger zu überschätzen. Bis heute befürwortet die überwiegende Mehrheit der europäischen Bürger das generelle Prinzip der
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Die vier Eurobarometer-Fragen lauten: 1) „In general, are you for or against efforts being made to unify Western Europe? – For, very much/for, to some extent/against, to some extent/against, very much/don’t know.“ 2) „Generally speaking, do you think that (our country’s) membership in the European Union (European Community) is…? – A good thing/a bad thing/neither good nor bad/don’t know.“ 3) „Taking everything into consideration, would you say that (our country) has on balance benefited or not from being a member of the European Union (European Community)? – Benefited/not benefited/don’t know.“ 4) „If you were told tomorrow that the European Union (European Community) had been scrapped, would you be very sorry about it, indifferent or very relieved? – Very sorry/indifferent/very relieved/don’t know.“ Siehe hierzu auch Sinnott 2000.
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europäischen Einigung.27 Doch auf die Frage, ob sich die Europäische Union in die richtige Richtung entwickle, äußern sich schon deutlich weniger Menschen zustimmend – manchmal gewinnt hier sogar die verneinende Antwort Überhand.28 Die gescheiterten Referenden zum Europäischen Verfassungsvertrag unterstreichen diese Beobachtung: Zahlreiche Bürger stimmten nach eigenen Angaben gegen den Verfassungsvertrag, gerade weil sie für Europa sind – allerdings für ein „anderes“ Europa (vgl. von Oppeln 2005a). Die Frage nach der Unterstützung des generellen Prinzips der europäischen Integration reicht daher nicht aus, um die oft komplexen Einstellungsmuster der Bürger korrekt zu erfassen. Differenziertere Einsichten zu der Art des gewünschten Europas bietet die Einbeziehung der sozio-ökonomischen Links-Rechts-Dimension (vgl. Hix 1999) oder auch der von Liesbet Hooghe und Gary Marks entwickelten GALTAN-Dimension29 (vgl. Hooghe, Marks 2009; Hooghe et al. 2002). Ergänzend zu diesen immer noch recht abstrakten analytischen Konstrukten verspricht eine Untersuchung konkreter Streitfragen Aufschluss darüber zu geben, welches Europa die Menschen wollen (vgl. Schmitt, Thomassen 2000, S. 320-321). Die empirische Europaforschung beschreibt die Bevölkerung nicht nur als passive „Empfänger“ der Europapolitik, deren Einstellungsentwicklungen es demoskopisch nachzuvollziehen gilt. Sie fragt auch nach ihren Einflussmöglichkeiten auf die Politikgestaltung. Prinzipiell bieten sich den Bürgern hierfür drei Kanäle: In einigen Ländern der EU gibt es zu einzelnen Fragestellungen die Mitsprachemöglichkeit per Referendum. Abgesehen von diesem direktdemokratischen Element beruht die EU auf Strukturen repräsentativer Demokratie: 27
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Laut dem im Herbst 2008 durchgeführten Standard Eurobarometer 70 antworten auf die Frage „Generally speaking, do you think that (our country’s) membership in the European Union is…?” 53 Prozent der Europäer, dies sei eine gute Sache. Nur 15 Prozent halten die EUMitgliedschaft für eine schlechte Sache. In Deutschland befürworten sogar 64 Prozent der Befragten die Mitgliedschaft und nur 11 Prozent lehnen sie ab. In Frankeich fällt das Meinungsbild etwas kritischer aus, wobei auch hier die Zustimmung mit 49 Prozent gegenüber der Ablehnung mit 21 Prozent überwiegt. Die fehlenden Prozentwerte zu 100 Prozent verteilen sich jeweils auf spontane „Weder noch“- sowie „Weiß nicht“-Antworten. Laut dem im Herbst 2008 durchgeführten Standard Eurobarometer 70 antworten auf die Frage „At the present time, would you say that, in general, things are going in the right direction or in the wrong direction in the European Union?“ 35 Prozent der Europäer, die Dinge entwickeln sich in die richtige Richtung, während fast ebenso viele, nämlich 34 Prozent der Befragten, eine Entwicklung in die falsche Richtung konstatieren. In Deutschland ist das Bild eher positiv: 41 Prozent unterstützen die aktuelle Richtung, 31 Prozent lehnen sie ab. In Frankreich zeigt sich hingegen, mit 51 Prozent der Befragten, die absolute Mehrheit davon überzeugt, dass sich die europäische Integration in die falsche Richtung entwickelt. Nur 29 Prozent unterstützen den aktuellen Kurs. Die fehlenden Prozentwerte zu 100 Prozent verteilen sich jeweils auf spontane „Weder noch“- sowie „Weiß nicht“-Antworten. GAL-TAN steht für „Green, Alternative, Libertarian – Traditionalism, Authority, Nationalism“.
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Zum einen finden seit 1979 alle fünf Jahre Europawahlen statt, die den Bürgern die direkte Wahl von Abgeordneten in das Europäische Parlament ermöglichen. Zum anderen werden in nationalen Wahlen Regierungen gebildet, die über die intergouvernementalen Strukturen der EU, namentlich den Europäischen Rat und den Rat der Europäischen Union, die europäische Politik maßgeblich mitgestalten. Seit den gescheiterten Volksentscheiden zum Europäischen Verfassungsvertrag ist eine besonders rege Forschungstätigkeit zu Referenden zu beobachten (vgl. Brouard, Tiberj 2006; Seeger 2008; de Vreese 2007). Hinsichtlich der repräsentativen Prozesse stand bislang vor allem das Europäische Parlament im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses (vgl. Mather 2001; Maurer 2007; Maurer, Wessels 2003; Steunenberg, Thomassen 2002). Zwar liegen auch einige Arbeiten zu der Frage vor, wie bestimmte europapolitische Ereignisse den Ausgang nationaler Wahlen beeinflussen (vgl. Denni 1993; Eckstein, Pappi 1999; Gabel 2000; Pappi, Thurner 2000). Da jedoch die EU ein neuartiges politisches Gebilde darstellt, während die Mitgliedstaaten etablierte repräsentative Demokratien sind, wird die Repräsentation über die intergouvernementale Ebene oftmals für unproblematisch gehalten und in der Folge vernachlässigt (vgl. Thomassen, Schmitt 1999, S. 7-8). Aus zweierlei Gründen scheint diese Vernachlässigung nicht gerechtfertigt: Zum Ersten werden in den intergouvernementalen Gremien der EU die zentralen Weichenstellungen des Integrationsprozesses beschlossen. Die hohe politische Relevanz der dort getroffenen Entscheidungen spricht dafür, nationale Repräsentationsprozesse in europapolitischen Fragen verstärkt zu beachten. Zum Zweiten tragen viele der bereits diskutierten Faktoren (mangelnde europäische Öffentlichkeit, mangelnde Politisierung etc.) dazu bei, dass die Bürger im Allgemeinen nur wenig Interesse für Europawahlen aufbringen. Karlheinz Reif und Hermann Schmitt (1980) prägten den Begriff der „second-order national elections“ um die nachrangige Bedeutung dieser Wahlen in den Augen vieler Wähler zu veranschaulichen:30 Es seien vorrangig nationale Themen, die auch in Europawahlkämpfen dominierten, so die These. Obwohl die verschiedenen Vertragsrevisionen die Kompetenzen des Europäischen Parlaments stetig aufgewertet haben, bleibt die Wahlbeteiligung bei Europawahlen verhältnismäßig niedrig. Eine Verengung des Forschungsinteresses auf Europawahlen steht somit in Kontrast zu der Tatsache, dass nationale Wahlen bis heute den zentralen Referenzpunkt für die meisten Bürger bilden.
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Vgl. auch die Auseinandersetzung von Karlheinz Reif (1997) mit seinem 17 Jahre zuvor, gemeinsam mit Hermann Schmitt, publizierten Artikel zum Thema der „second-order elections“. Vgl. kritisch zur „second-order elections“-These Ferrara, Weishaupt 2004.
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1.1.4 Beitrag zur Forschung Zusammenfassend seien noch einmal die zentralen Ergebnisse dieses Forschungsüberblicks dargestellt, um abschließend den Beitrag der Arbeit zu begründen. Wie gezeigt wurde, haben die wichtigsten integrationstheoretischen Ansätze die Bevölkerung bislang kaum als relevante Einflussgröße konzipiert. Dieses theoretische Versäumnis wiegt schwer, folgt man der Diagnose Max Hallers (2009, S. 13), „dass es die zunehmende Kluft zwischen Eliten und Bürgern ist, welche den Hauptgrund für die Krise, wenn nicht gar Sackgasse darstellt, in welcher sich die EU derzeit befindet.“ Die nach 2005 ausgerufene Krise der Integrationstheorie besteht folglich weniger darin, dass es zu einem Stocken des europäischen Einigungsprozesses kam: Spätestens seit General de Gaulles „Politik des leeren Stuhls“31 Mitte der 1960er Jahre beziehen die verschiedenen theoretischen Ansätze nicht nur Integrationsfortschritte, sondern auch -rückschläge in ihre Analysen mit ein.32 Das theoretische Defizit liegt vielmehr darin begründet, dass eine immer wichtiger werdende Ursache solcher Rückschläge bislang nur unzureichend beleuchtet wurde: Die verweigerte Zustimmung seitens der Bevölkerung. Normative Studien beschäftigen sich intensiv mit dem Verhältnis der Bürger zu Europa, obwohl und gerade weil auch sie die Bevölkerung in einer recht einflusslosen Rolle sehen. Die meisten Autoren kritisieren diesen Umstand und entwickeln Vorschläge, die die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger verbessern sollen. Andere halten die geringe Einbindung der Bevölkerung für zweckmäßig und aufgrund guter Politikergebnisse auch für gerechtfertigt. Das Streben nach einer stärkeren Rückkopplung der Europapolitik an die Präferenzen der Bürger bewegt sich somit im Spannungsfeld zwischen Input- und OutputLegitimation. Des Weiteren beobachten und beschreiben zahlreiche empirische Arbeiten die Einstellungen der Bürger zur EU. Gefragt wird dabei meistens nach der generellen Unterstützung des Integrationsprozesses. Eher selten wird die gewünschte Richtung dieses Prozesses näher beleuchtet. Die empirische Europa31
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In Folge von Streitigkeiten über die Agrarfinanzierung zog die französische Regierung 1965 ihren Vertreter aus dem Rat zurück und blockierte damit die Entscheidungsfindung. Diese „Politik des leeren Stuhls“ wurde erst im Januar 1966 durch den so genannten Luxemburger Kompromiss beigelegt. Dieser besagt, dass der Rat in Fällen, in denen er prinzipiell mit qualifizierter Mehrheit entscheiden könnte, weiter verhandeln muss, wenn ein Mitgliedstaat sehr wichtige nationale Interessen beeinträchtigt sieht. Vgl. Hillenbrand 2007, S. 435. Anne Faber und Wolfgang Wessels (2005, S. 355) kritisieren, dass der Europaforschung auch heute noch ein „normativer bias“ innewohne. Der Erklärung von Integrationsfortschritten werde immer noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt als der Erklärung von Krisen.
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1 Theoretischer Rahmen
forschung interessiert sich außerdem auch für die verschiedenen Möglichkeiten der Einflussnahme der Bürger auf die europäische Politik. Der Fokus liegt hier vor allem auf Europawahlen und Referenden. Nationale Repräsentationsprozesse wurden demgegenüber bislang vernachlässigt. Anne Faber und Wolfgang Wessels (2005, S. 357) benennen in diesem Sinne die „Rolle der Bevölkerungen in den Mitgliedstaaten für die Weiterentwicklung des Integrationsprozesses“ als ein zentrales Desiderat der Europaforschung. Die vorliegende Arbeit widmet sich diesem Desiderat: Gegenstand der Untersuchung ist das Interaktionsverhältnis zwischen mitgliedstaatlichen Regierungen und Bürgern in der Europapolitik. Dem Argument folgend, dass heute nicht mehr die Frage entscheidend ist, ob die Menschen den europäischen Integrationsprozess generell befürworten, sondern welches Europa sie wollen, konzentriert sich die Arbeit auf konkrete europapolitische Streitfragen. Da die klassischen Integrationstheorien das Phänomen einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten in der Europapolitik nur unzureichend erklären, bezieht die Arbeit ihren analytischen Rahmen aus angrenzenden Feldern: Sie greift auf repräsentationstheoretische Denkansätze zurück und stützt sich auf Erkenntnisse der Responsivitäts- sowie der Meinungsforschung. Der Integrationsforschung stellt sich oftmals das so genannte „n=1 Problem“: Die EU wird als ein präzedenzloses und nicht vergleichbares Gebilde behandelt. Wie Ben Rosamond (2000, S. 111) jedoch bemerkt: „[T]he purpose of EU studies should be to say something about politics more generally, rather than developing a series of specific claims about the EU.“ Die vorliegende Arbeit will dieser Forderung nachkommen: Sie prüft, inwieweit die genannten, politikfeldübergreifenden Erklärungsansätze im Bereich der Europapolitik anwendbar und für die Europaforschung theoretisch gewinnbringend sind. Die repräsentationstheoretische Herangehensweise wirft zwangsläufig auch normative Fragen auf. Diese finden in der vorliegenden Arbeit entsprechende Berücksichtigung und werden hinsichtlich ihrer wichtigsten Implikationen diskutiert. Die Arbeit verortet sich jedoch primär in der empirisch-analytischen Forschung: Sie will erklären, wie es zu lange andauernden Diskrepanzen zwischen Regierenden und Regierten in der Europapolitik kommt und unter welchen Umständen solche Diskrepanzen überwunden werden können. Eine konzeptionelle Schwachstelle vieler bestehender Studien liegt darin, dass sie die Präferenzen der Bevölkerung entweder als gänzlich passiv und beeinflussbar oder aber als fixe und alles entscheidende Einflussgröße darstellen: „It is implicitly assumed that national elites either mechanistically respond to public opinion […] or that public opinion mechanistically responds to changes in the process of European integration“ (Taggart 1998, S. 364). Gerade das Zusammenspiel beider Prozesse ist jedoch interessant: Inwieweit prägen die
1.2 Repräsentationstheoretische Überlegungen
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europapolitischen Geschehnisse die Bevölkerungsmeinung – und inwieweit hat diese wiederum Einfluss auf die Europapolitik?33 Vor diesem Hintergrund gibt sich die vorliegende Arbeit nicht mit dem Ergebnis einer Übereinstimmung oder Diskrepanz von Bevölkerungsmeinung und Regierungshandeln zufrieden, sondern fragt nach den zugrunde liegenden Mechanismen der gegenseitigen Beeinflussung.
1.2 Repräsentationstheoretische Überlegungen 1.2 Repräsentationstheoretische Überlegungen Indirekt oder direkt über nationale Wahlen legitimiert, agieren die nationalen Regierungen in den intergouvernementalen Gremien der EU als Repräsentanten ihrer Völker. Eine unüberbrückbare Kluft wirft vor diesem Hintergrund die Frage nach der Güte der Repräsentationsbeziehung auf. Dieses Kapitel erläutert zunächst anhand der Begriffsgeschichte das dem Konzept der „repräsentativen Demokratie“ inhärente Spannungsverhältnis von „Demokratie“ und „Repräsentation“. Ausgehend von der normativen Frage nach dem Wesen „guter“ Repräsentation leitet die Arbeit ein für die empirische Untersuchung anwendbares Repräsentationsverständnis ab. Darauf aufbauend werden abschließend Leitfragen zur Strukturierung der empirischen Analyse formuliert.
1.2.1 Demokratie und Repräsentation Ende des 18. Jahrhunderts wurde „Repräsentation“ noch als ein Gegensatz zur „Demokratie“ und nicht als eine ihrer Unterformen wahrgenommen. So sah Jean-Jacques Rousseau (1762) im Repräsentationsgedanken eine Verletzung der unveräußerlichen und unteilbaren Souveränität des Volkes. Das Prinzip der Repräsentation erschien ihm unvereinbar mit dem der Demokratie. Auch die damaligen Befürworter der Repräsentation, wie etwa die Autoren der Federalist Papers (vgl. Hamilton et al. 1788) oder Emmanuel-Joseph Sieyès (1789), konzeptualisierten diese nicht als Variante der Demokratie, sondern als eine grundsätzlich andere – vorzuziehende – Regierungsform (vgl. Manin 1996, S. 11-15). Mit der Zeit verlor sich der wahrgenommene Gegensatz zwischen Demokratie und Repräsentation. Als „Repräsentativdemokratie“ wurden schließlich jene Demokratien bezeichnet, in denen das Volk die Herrschaftsfunktionen nicht direkt ausübt („Direkte Demokratie“), sondern mittelbar, über die Bestellung von Repräsentanten. Das der Repräsentativdemokratie innewohnende Spannungsver33
Seit einigen Jahren wird die Wechselseitigkeit dieser Einflussbeziehung intensiver erforscht. Vgl. Carrubba 2001; Steenbergen et al. 2007.
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1 Theoretischer Rahmen
hältnis von Repräsentation und Demokratie wirkte allerdings fort: Gegenstand der Debatte wurde die konkrete Aufgabe des Repräsentanten.34 In Anlehnung an die berühmte Rede von Edmund Burke, die er 1774 vor der Wählerschaft von Bristol hielt, wird üblicherweise zwischen dem Idealtypus des weisungsgebundenen Delegierten („instructed delegate“) und dem des Treuhänders („trustee“) unterschieden (vgl. Eulau et al. 1959): Sollte der Repräsentant als Delegierter strikt an die Weisungen und Wünsche der Bürger gebunden sein? Oder sollte er in der Rolle eines Treuhänders sein Handeln frei danach ausrichten können, was seiner Ansicht nach im Interesse des Volkes liegt? Edmund Burke sprach sich für die Handlungsfreiheit der Repräsentanten aus. Sein damaliger Opponent, Henry Cruger, sah sich hingegen in der Rolle eines Delegierten (vgl. Kielhorn 2002, S. 22-25). John Stuart Mill (1861) pochte in seinen „Considerations on Representative Government“ auf den Grundsatz des freien Mandats: Die Repräsentanten sollten an keine Weisung der Wählerschaft gebunden sein. Ihre Aufgabe bestehe vielmehr darin, auf Grundlage ihrer Kompetenz sachgerechte Entscheidungen zu treffen. Dieses freie Mandat sei konstitutiv für den Begriff des Repräsentanten, argumentierte auch Gerhard Leibholz in seiner Abhandlung zum „Wesen der Repräsentation“. Es seien „nur die als Repräsentanten anzusprechen, die ihre Entschließungen tatsächlich in völliger Freiheit kundzugeben vermögen“ (Leibholz 1929, S. 73). Ebenso unterstreicht Giovanni Sartori (1987, S. 170) die unabhängige Führungsverantwortung der Repräsentanten. Formal ist die Frage zugunsten des Treuhänders entschieden: In allen EUStaaten gilt der Grundsatz des freien Mandats. Was bedeutet es jedoch konkret, „dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen und dergestalt dessen wahren Willen zu vollziehen“, wie Ernst Fraenkel (1991, S. 153) in seiner vielzitierten Definition der Repräsentation schreibt?
1.2.2 Die Frage nach dem Gemeinwohl Einige Theoretiker lehnen die Frage nach dem Interesse des Volkes gänzlich ab. Joseph Schumpeter (1942) etwa glaubte weder an ein definierbares Allgemeinwohl, noch an einen unabhängigen und rationalen Willen der Bürger. In Abgrenzung zu den von ihm kritisierten „klassischen“ Demokratietheorien bot er einen neuen „realistischen“ Ansatz an, der Demokratie im Wesentlichen zu einer 34
Vgl. auch Jean Lecas (1996, S. 230-231) Analyse, dass jede Demokratie von zwei, teilweise widersprüchlichen und dennoch jeweils notwendigen, Grundprinzipien getragen werde – dem Populismus und dem Konstitutionalismus: „Si l’un des deux l’emporte sur l’autre, la démocratie disparaît.“
1.2 Repräsentationstheoretische Überlegungen
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Methode reduzierte: Demokratie besteht demnach in der Wahl der Repräsentanten durch das Volk im Rahmen eines konkurrierenden Wettbewerbs. Wahlen sind heute als Grundvoraussetzung politischer Repräsentation allgemein anerkannt:35 Sie autorisieren die Repräsentanten und sichern zugleich deren politische Verantwortlichkeit. Während sich die Autorisierung prospektiv in die Zukunft richtet, bezieht sich die politische Verantwortlichkeit auf die vergangene Legislaturperiode und hat damit retrospektiven Charakter. Periodische Wahlen sind ein Minimalkriterium repräsentativer Demokratie. Beschränkt man sich jedoch auf dieses Minimalkriterium, so entsteht ein simplifizierendes Begriffsverständnis: Was zwischen den Wahlen passiert, wäre irrelevant. Selbst wenn sich der Gewählte völlig eigennützig verhalten sollte, dürfte es an seiner Repräsentativität keinen Zweifel geben, solange nur die formalen Kriterien der Wahl und der prinzipiellen Abberufbarkeit durch Wahl erfüllt sind. Hanna Pitkin (1972) wendet sich in ihrer wegweisenden Studie „The Concept of Representation“ gegen ein derartiges Begriffsverständnis: Sie reibt sich insbesondere an Thomas Hobbes (1651) und seiner im „Leviathan“ beschriebenen politischen Ordnung, um ihre Argumentation zu entwickeln: Der Akt der Autorisierung reiche allein nicht aus, um jemanden zum Repräsentanten zu machen. Als Korrektiv zu der Idee der unbeschränkten Autorisierung („authorization view“) sei das Kriterium der politischen Verantwortlichkeit („accountability view“) durch die Möglichkeit der Abwahl eingeführt worden. Beide Sichtweisen verbleiben jedoch auf der formalistischen Ebene, bemängelt Pitkin (1972, S. 59) „in the sense that their defining criterion for representation lies outside the activity of representing itself – before it begins or after it ends.“ In ihrer weiteren Diskussion des Repräsentationsbegriffs unterscheidet Pitkin zwischen darstellenden („standing for“) und vertretenden („acting for“) Repräsentationsansätzen. Unter die darstellenden Ansätze fasst sie das deskriptive Repräsentationsverständnis, welches darauf ausgelegt ist, dass Repräsentanten möglichst spiegelbildlich Eigenschaften der Repräsentierten aufweisen, und das symbolische Repräsentationsverständnis, wonach ein Repräsentant sich vor allem dadurch auszeichnet, dass man seinen Repräsentationsanspruch anerkennt. Problematisch ist an den „standing for“-Ansätzen laut Pitkin, dass auch sie – ebenso wie die formalistischen Ansätze – keine Tätigkeit beinhalten. Repräsentanten könnten aber nur für etwas zur Verantwortung gezogen werden, das sie tun, nicht für etwas, das sie sind oder für das sie gehalten werden. Pitkin (1972, S. 209) plädiert daher für einen tätigkeitsbezogenen Repräsentationsbegriff.
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Bis zum 17./18. Jahrhundert war die Idee der Repräsentation keineswegs zwangsläufig an Wahlen gebunden. Vgl. hierzu Kevenhörster 2002, S. 293
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1 Theoretischer Rahmen
Mit dieser Forderung werden wieder normative Fragen relevant: Wie sollten Politiker handeln, um nicht nur formal, sondern auch substanziell als „Repräsentanten“ gelten zu können? Pitkin zufolge müssen Repräsentanten „im Interesse“ der Bürger handeln – und dies dürfe im Normalfall nicht in Widerspruch zum expliziten Willen der Bevölkerung stehen: „What the representative must do is act in his constituents’ interests, but this implies that he must not normally come into conflict with their will when they have an express will. But this prohibition is not equivalent to saying that he represents only when he acts in accord with their actual, conscious wishes. Quite the contrary: leadership, emergency action, action on issues of which the people know nothing are among the important realities of representative government.” (Pitkin 1972, S. 163)
Die Gegenüberstellung der Idealtypen „Delegierter“ und „Treuhänder“ empfindet Pitkin als konstruiert: Sowohl Responsivität als auch Führung zählen ihrer Ansicht nach zum Wesen der Repräsentation. Zu vielen Themen haben die Bürger gar keine explizite Meinung, so die Auffassung Pitkins. Wenn sie jedoch eine Meinung haben, dann sei es Aufgabe der Repräsentanten, diese in ihrem Handeln zu berücksichtigen. Sollte das Handeln der Repräsentanten nicht mit der Bevölkerungsmeinung übereinstimmen, so müsse die Abweichung mit Gründen, die im öffentlichen Interesse liegen, zu rechtfertigen sein: „The representative system must look after the public interest and be responsive to public opinion, except insofar as non-responsiveness can be justified in terms of the public interest“ (Pitkin 1972, S. 224). Mehrfach taucht der Begriff des öffentlichen Interesses bei Pitkin an zentraler Stelle auf, ohne dass sie ihn näher spezifiziert. Sie versteht ihn als unentbehrlich für ihr Verständnis von Repräsentation, gibt aber selbst zu: „[T]here can be lifelong, profound disagreement among men as to what their interest is“ (Pitkin 1972, S. 213). Worin besteht also dieses öffentliche Interesse? Wer kann es bestimmen? Ist die Definition des öffentlichen Interesses Aufgabe der Repräsentanten, weil diese in der Regel besser informiert sind als die Bürger? Oder weiß das Volk selbst am besten, was in seinem Interesse liegt? Ist das öffentliche Interesse überhaupt objektiv zu definieren? Die meisten politischen Fragen implizieren Werturteile, die nicht allein auf Basis von Informationen und Expertise zu entscheiden sind. Weiterhin ist fraglich, ob man angesichts der Vielfalt unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Interessen in der Bevölkerung überhaupt von dem Interesse des Volkes sprechen kann. Pluralistische Demokratietheoretiker wie Ernst Fraenkel bestreiten die Existenz eines objektiv erkennbaren „a-priori-Gemeinwohls“. Ein solches vorab
1.2 Repräsentationstheoretische Überlegungen
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definiertes Gemeinwohl sei charakteristisch für totalitäre Regime. Für pluralistische Demokratien sei hingegen die Annahme kennzeichnend, dass über die Artikulation und Organisation von Interessen ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Einzelinteressen und damit ein „a-posteriori-Gemeinwohl“ herbeigeführt werden könne. Mittels Verhandlung, Diskussion und Kompromiss werde „zur Förderung des Gemeinwohls durch Lösung konkreter Probleme“ (Fraenkel 1991, S. 330) beigetragen. Zu bedenken gilt es allerdings, dass die Chancen der Interessendurchsetzung in einer Gesellschaft aufgrund unterschiedlicher Organisationsfähigkeiten höchst verschieden sind (vgl. Schmidt 2006a, S. 237). Vor diesem Hintergrund bleibt unklar, inwiefern das Politikergebnis am Ende tatsächlich das „Gemeinwohl“ oder nur das Wohl des Stärkeren darstellt. Ähnlich schwer lässt sich das Interesse des Volkes über Deliberationsprozesse (vgl. Habermas 1962, 1981) ermitteln, da auch Diskursteilnehmer selten chancengleich und Diskurse in der Regel nicht „herrschaftsfrei“ sind.36 Bernard Manin, Adam Przeworski und Susan C. Stokes (1999, S. 2) stellen vor diesem Hintergrund fest: „Beyond the notion that representing implies acting in the interest of the represented, there seems to be little else on which theorists agree.“
1.2.3 Vom normativen Konzept zur empirischen Anwendbarkeit Erklärt man ein solch undefinierbares „Interesse“ zum Wesenskern repräsentativen Handelns, so scheint eine Operationalisierung von Repräsentation unmöglich. Welche Ansatzpunkte bieten sich, um Repräsentation dennoch empirisch zu greifen? Messbar sind die formalen Kriterien einer Repräsentativdemokratie. Als Mindestanforderung gilt das Kriterium periodischer Wahlen. Ein Repräsentationsverständnis, das allein auf der Autorisierung durch Wahl und der politischen Verantwortlichkeit durch potenzielle Abwahl beruht, wurde jedoch als sinnentleert kritisiert. Die vorliegende Arbeit folgt Pitkins Argument, dass auch das Handeln der Repräsentanten in der Zeit zwischen den Wahlen berücksichtigt werden muss, damit nicht nur formale, sondern auch substanzielle Repräsentation festgestellt werden kann. Messbar ist in diesem Sinne, ob das Regierungshandeln mit der Bevölkerungsmeinung übereinstimmt. Im Normalfall, so hatte Pitkin ausgeführt, sollte hier kein Widerspruch bestehen. Als Indikator zur empirischen Messung von Repräsentation taugt die simple Feststellung einer Übereinstimmung jedoch nicht: Eine Konkordanz von Bevölkerungsmeinung und Regierungshandeln 36
Siehe weiterführend zu der Frage, inwiefern ein konsequent diskurstheoretisches Demokratiemodell repräsentative Institutionen obsolet werden lässt, Thaa 2008, S. 622-623.
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könnte durch populistisches Handeln der Regierung oder auch durch eine Manipulation der Bevölkerungsmeinung zustande gekommen sein.37 Beides würde man gemeinhin nicht als Repräsentation, da nicht im „Interesse“ des Volkes liegend, bezeichnen. Ohne die Frage zu klären, worin dieses Interesse liegt, kann folglich selbst bei einer Übereinstimmung von Regierungshandeln und Bevölkerungsmeinung nicht zweifelsfrei eine substanzielle Repräsentation in Pitkins Sinne festgestellt werden. Gleichwohl kann es als Indikator einer gestörten Repräsentationsbeziehung gelten, wenn Regierungshandeln und Bevölkerungsmeinung langfristig auseinanderklaffen. Wie Pitkin erläutert, kann und muss ein Repräsentant gelegentlich von der Bevölkerungsmeinung abweichen, um das „wahre Interesse“ des Volkes zu verwirklichen. Eine solche Abweichung darf jedoch nicht dauerhaft bestehen bleiben. Die Idee der politischen Führung verlangt nach Folgebereitschaft: Wenn Repräsentanten in ihrem Handeln vom expliziten Willen der Repräsentierten abweichen, so muss diese Abweichung begründet und die Folgebereitschaft langfristig wieder hergestellt werden. Paul Kevenhörster (2002, S. 295) stellt hierzu fest: „Die Repräsentationsbeziehung verfällt, wenn es den Repräsentanten weder durch eine Anpassung ihres Verhaltens noch durch Überzeugung gelingt, die Zustimmung und das Vertrauen der Repräsentierten zu erhalten“. Die vorliegende Arbeit klammert die Frage nach dem Gemeinwohl aufgrund der mangelnden Operationalisierbarkeit aus. Konsequenterweise wird das Vorhandensein einer intakten Repräsentationsbeziehung empirisch nicht zu messen versucht. Im Fokus der Untersuchung steht vielmehr deren Fehlen: Eine Repräsentationsbeziehung gilt als gestört, wenn Bevölkerungsmeinung und Regierungshandeln langfristig auseinanderklaffen.38 Punktuelle Differenzen sind, wie in der Diskussion des Repräsentationsbegriffes gezeigt wurde, als völlig normal zu 37
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Einem Politiker wird in der Regel dann Populismus vorgeworfen, wenn er kurzfristigen Wählerwünschen folgt, auch wenn diese dem langfristigen „wahren Interesse“ des Volkes widersprechen. Oftmals geht ein gezieltes Anknüpfen an die Ängste und Vorurteile der Bevölkerung damit einher. Typischerweise wird die „Weisheit“ des einfachen Volkes idealisiert und in Gegensatz zu einer angeblich korrupten politischen Elite gesetzt – verbunden mit der Forderung, die Macht des Volkes wieder herzustellen. Vgl. zum Begriff des Populismus Canovan 1999; Mény, Surel 2002; Surel 2004. Um Manipulation handelt es sich, wenn die Repräsentanten den Wählerwillen unterschwellig, zum Beispiel über das Vorenthalten oder Fälschen von Informationen, zu beeinflussen suchen. Vgl. zum Begriff der Manipulation Jacobs, Shapiro 2000; Maravall 1999; Riker 1986. Die Arbeit befasst sich gezielt mit Repräsentation im Themenbereich der Europapolitik. Eine allgemeine Bewertung der politischen Repräsentation in einem Land kann hieraus nicht abgeleitet werden. Kennzeichnend hierfür ist, wie Hanna Pitkin (1972, S. 221) deutlich macht, „not any single action by any one participant, but the over-all structure and functioning of the system“.
1.2 Repräsentationstheoretische Überlegungen
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bewerten. Es wird daher nur dann von einer „Kluft zwischen Regierenden und Regierten“ gesprochen, wenn über einen Zeitraum von mehreren Jahren keine Annäherung zwischen Regierungshandeln und Bevölkerungsmeinung gelingt.
1.2.4 Leitfragen Den repräsentationstheoretischen Überlegungen folgend kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten prinzipiell auf zweifachem Weg überbrückt werden: Zum einen über Responsivität (die Bevölkerungsmeinung beeinflusst das Regierungshandeln), zum anderen durch effektive Führung (das Regierungshandeln beeinflusst die Bevölkerungsmeinung). Regierungshandeln
Responsivität
Führung
Bevölkerungsmeinung Abbildung 1.1: Überbrückung einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten
„Unter welchen Bedingungen kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten in der Europapolitik überbrückt werden – und unter welchen Umständen bleibt sie langfristig bestehen?“ Diese eingangs formulierte Forschungsfrage lässt sich dementsprechend in zwei Leitfragen untergliedern: Leitfrage 1: Unter welchen Bedingungen verhalten sich die Regierenden responsiv? Leitfrage 2: Unter welchen Bedingungen ist politische Führung effektiv? Wenn beide Mechanismen versagen, so die Argumentation dieser Arbeit, kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten nicht überbrückt werden.
2 Analyseraster 2 Analyseraster
Die Leitfragen strukturieren die weitere Vorgehensweise. Nach einer Klärung wichtiger Schlüsselbegriffe werden verschiedene theoretische Modelle zur Erklärung von Responsivität und Führung vorgestellt. Mögliche Bedingungsfaktoren responsiven Regierungshandelns und effektiver politischer Führung werden identifiziert und anschließend in Form von Hypothesen der empirischen Überprüfung zugänglich gemacht.
2.1 Begriffsklärung zum Konzept der Kluft 2.1 Begriffsklärung zum Konzept der Kluft Der Arbeit wird folgende Definition einer „Kluft“ zugrunde gelegt: Eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten besteht, wenn zu einem Thema, das von den Bürgern als wichtig wahrgenommen wird, langfristig eine Diskrepanz zwischen Regierungshandeln und Bevölkerungsmeinung besteht. Das Kriterium der Langfristigkeit, so viel wurde bereits gesagt, bezieht sich auf einen Zeitraum von mehreren (also mindestens zwei) Jahren. Was genau ist aber unter „Regierenden“ und „Regierten“ zu verstehen? Was wird unter den Begriff des „Regierungshandelns“ und der „Bevölkerungsmeinung“ gefasst? Was bedeutet der Zusatz, dass ein Thema als „wichtig“ wahrgenommen werden muss und wie kann eine Annäherung zwischen Regierungshandeln und Bevölkerungsmeinung konkret aussehen? Diese Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden.
2.1.1 Regierende und Regierte Der Begriff der Regierenden bezeichnet die politische Exekutive eines Staates. Die politische Exekutive grenzt sich Ludger Helms (2005a, S. 3-4) zufolge nach zwei Seiten hin ab: Zum einen gegenüber der Verwaltung, die in einem breiteren Exekutiv-Verständnis mit inbegriffen wäre, und zum anderen gegenüber den mit S. Weske, Europapolitik im Widerspruch, DOI 10.1007/978-3-531-92748-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Analyseraster
nur geringer Gestaltungsmacht ausgestatteten Staatsoberhäuptern parlamentarischer Regierungssysteme. Im Fall Deutschlands werden Bundeskanzler und -minister unter den Begriff der Regierenden gefasst. Da Deutschland als parlamentarisches Regierungssystem einzustufen ist, gehört der deutsche Bundespräsident, dieser Terminologie folgend, nicht der politischen, sondern der konstitutionellen Exekutive an (vgl. Helms 2005b, S. 12-13). Im Fall Frankreichs zählen sowohl der Staatspräsident als auch der Premierminister mit seinen Ministern zu den Regierenden. Diese doppelköpfige politische Exekutive erklärt sich aus der französischen Verfassung, die parlamentarische und präsidentielle Charakteristika in sich vereint. Die Benennung des französischen Regierungssystems ist umstritten. Maurice Duverger charakterisierte die V. Republik aufgrund ihrer hybriden Struktur als „semi-präsidentiell“ (Duverger 1980, S. 166).39 Neuere Ansätze plädieren jedoch für eine Beibehaltung der dualen Typologie Parlamentarismus versus Präsidentialismus. Besonderheiten wie die V. Republik sollten eher als Subkategorien denn als eigener Typus firmieren (vgl. Helms 2005b, S. 23). Winfried Steffani stuft die V. Republik als eine parlamentarische Demokratie ein. Sie erfülle deren wichtigstes Kennzeichen: Die Abberufbarkeit der Regierung durch das Parlament. Um der herausgehobenen Stellung des Präsidenten Rechnung zu tragen, spricht Steffani (1983, S. 396) von einer „parlamentarische[n] Demokratie mit Präsidialdominanz“. Arend Lijphart (1992, S. 6) bezeichnet die V. Republik hingegen als präsidentielles Systems und begründet diese Entscheidung mit der Machtfülle des Präsidenten sowie damit, dass dieser direkt vom Volk gewählt und dem Parlament gegenüber nicht verantwortlich ist. Auch David Chagnollaud und Jean-Louis Quermonne klassifizieren Frankreich in ihrem Standardwerk zur V. Republik als präsidentielles System. Entscheidend ist ihrer Ansicht nach, dass der Präsident direkt durch das Volk legitimiert ist: „[L]e critère essentiel pour définir la nature d’un régime politique n’est pas la séparation des pouvoirs, mais la référence à la source légitime du pouvoir politique qui, de nos jours, ne saurait être que le peuple“ (Chagnollaud, Quermonne 2000, S. 339). Um die französische Besonderheit der doppelköpfigen Exekutive zu würdigen, sprechen Chagnollaud und Quermonne (2000, S. 341) von einem „régime présidentiel bicéphale“. Die vorliegende Arbeit schließt sich dieser Einstufung Frankreichs als doppelköpfiges präsidentielles Regierungssystem an.
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Eine noch detailliertere Ausdifferenzierung bieten Matthew Soberg Shugart und John Carey (1992) mit ihrer fünf Formen umfassenden Typologie, die zwischen präsidentiellen Systemen, präsidentiell-parlamentarischen Systemen, premier-präsidentiellen Systemen, parlamentarischen Systemen und versammlungsunabhängigen Regierungen unterscheidet.
2.1 Begriffsklärung zum Konzept der Kluft
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Der Begriff der Regierten bezeichnet die Gesamtheit der Staatsangehörigen. Die Regierten stellen die repräsentationstheoretische Bezugsgröße für das europapolitische Handeln der Regierenden dar.
2.1.2 Regierungshandeln und Bevölkerungsmeinung Der Begriff des Regierungshandelns bezeichnet das Tun und Lassen der Regierenden. Politisches Handeln wird oftmals in die Kategorien „Entscheidungspolitik“ und „Darstellungspolitik“ (vgl. Korte 2000; Sarcinelli 1989) eingeteilt: „Darstellungspolitik ist medienvermittelte Politik, die sich dem Gesamtkomplex der symbolischen und öffentlich inszenierten Politik zuordnen lässt. […] Entscheidungspolitik zielt hingegen auf die Verfahrensmerkmale der Politik, auf den konkreten Prozess der Gesetzgebung.“ (Korte, Fröhlich 2006, S. 15)
Diese allgemein gebräuchliche analytische Trennung sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Dimensionen eng miteinander verwoben sind. Ulrich Sarcinelli und Jens Tenscher (2003, S. 9) betonen: „Politik pur, ohne Kommunikation, Darstellung und Deutung, gibt es nicht“. „Regieren ist Kommunikation“ schreibt Werner Weidenfeld (2007b, S. 13) und auch Otfried Jarren und Patrick Donges (2006, S. 22) weisen auf die gegenseitige Durchdringung beider Dimensionen hin: „Kommunikation ist nicht nur Mittel der Politik. Sie ist selbst auch Politik“. Von einem normativen Blickwinkel aus stehen Entscheidungs- und Darstellungspolitik in einem Spannungsverhältnis zueinander: Einerseits muss Politik öffentlich sein, um Transparenz und Verantwortlichkeit herzustellen, andererseits darf sie nicht zum bloßen „Politikspektakel“ verkommen (vgl. Sarcinelli 2005, S. 123).40 Der Begriff der Bevölkerungsmeinung bezeichnet die über repräsentative Umfragen erhobenen Einstellungen der Regierten zu einer politischen Sachfrage. Vor allem im angelsächsischen Sprachraum werden demoskopisch ermittelte Einstellungen auch als „öffentliche Meinung“ („public opinion“) betitelt. Im Folgenden soll der Begriff der öffentlichen Meinung kurz diskutiert werden, um
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Für eine kritische Bewertung „symbolischer Politik“ siehe Edelman 2005.
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zu verdeutlichen, weshalb die Bezeichnung Bevölkerungsmeinung in Bezug auf Umfragedaten angemessener erscheint. Obwohl man den Begriff der öffentlichen Meinung seit der Antike kennt, hat sich bis heute keine einheitliche Verwendung durchgesetzt.41 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verstand man unter der öffentlichen Meinung die Meinung der kritisch räsonierenden Bürger (vgl. Champagne 1994, S. 45; Noelle-Neumann 2002, S. 82). Dieser Tradition folgten auch später noch diverse normative Ansätze, die sich mit der Frage befassten, wie die öffentliche Meinung beschaffen und wie ihr Einfluss sein sollte. Wilhelm Hennis belegte beispielsweise exklusiv die Meinung der gebildeten und urteilsfähigen Bürger mit dem Begriff der öffentlichen Meinung. Im Gegensatz zur „gemeinen Meinung“ (Hennis 1957, S. 35) sei die öffentliche Meinung klar den Urhebern zuzuordnen, losgelöst von Partikularinteressen und durch bessere Einsicht gewonnen. Sie, und nicht das „allgemeine Raunen und wilde Meinen“ (Hennis 1957, S. 21) der Massen, sollte den Politikern als Richtschnur dienen. Auf öffentliches Räsonieren setzt auch Jürgen Habermas. Die öffentliche Meinung sollte seiner Ansicht nach über Deliberation entstehen und als Korrektiv staatlicher Herrschaft dienen. Habermas zufolge hat sie diese kritische Funktion allerdings weitgehend verloren und dient nur noch als Resonanzboden, auf dem Politik akklamationsfähig gemacht wird (vgl. Habermas 1962). Niklas Luhmann weist der öffentlichen Meinung in seinem systemtheoretischen Ansatz eine Strukturierungsfunktion im Prozess der politischen Kommunikation zu: Öffentliche Meinung solle „nicht mehr nur kausal als bewirkte und weiterwirkende Wirkung, sondern funktional als Selektionshilfe“ (Luhmann 1971, S. 9) gesehen werden. Mit dieser systemtheoretischen Deutung setzt er sich bewusst dem Einwand aus, dass sein Verständnis von öffentlicher Meinung „mit dem klassischen Begriff nichts mehr zu tun habe oder doch seinen Wesenskern und seine eigentümliche Moralität verfehle“ (Luhmann 1971, S. 8). Im angelsächsischen Raum wird dem Konzept der „public opinion“ keine bestimmte moralische oder systemische Funktion zugeschrieben. Das Begriffsverständnis ist dort pragmatisch auf die empirische Messbarkeit ausgerichtet: Öffentliche Meinung wird als die über repräsentative Umfragen erfassbare Meinung der breiten Masse definiert (vgl. Converse 1987, S. 14). Eine Messung der öffentlichen Meinung müsse die ungewichteten Einstellungen aller Individuen berücksichtigen, ebenso wie bei Wahlen die Stimme eines jeden Individuums gleichwertig zähle, so lautet ein zentrales Argument der Befürworter dieses Begriffsverständnisses (vgl. Brettschneider 1995, S. 22). Demgegenüber wird jedoch eingewendet, dass die über Umfragen gemessenen Meinungen privat 41
Zur Begriffsgeschichte siehe Champagne 1994, S. 41-86; Converse 1987; Noelle-Neumann 2002, S. 81-84. Vgl. auch die Systematisierung bei Glaab 1999, S. 14-18.
2.1 Begriffsklärung zum Konzept der Kluft
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und in aller Anonymität geäußert wurden: Ihnen fehle das öffentlich Bekennende, daher könnten sie kaum als öffentliche Meinung bezeichnet werden (vgl. Blumer 1948; Hennis 1957).42 Alternativ wird von manchen Forschern öffentliche Meinung mit veröffentlichter Meinung gleichgesetzt und über Medieninhaltsanalysen zu fassen versucht (vgl. Jarren, Donges 2006, S. 109). Medial geäußerte Meinung ist per se öffentlich, doch kann eine als Medienmeinung verstandene öffentliche Meinung aus demokratietheoretischen Gründen nicht als Bezugsgröße für Repräsentation gelten: Repräsentiert werden sollen schließlich die Bürger, nicht die Medien – und die veröffentlichte Meinung ist nicht immer mit der Meinung der Bürger identisch.43 Die Beziehung zwischen Medien- und Bevölkerungsmeinung ist schwer fassbar. Diese Komplexität ist, wie Friedhelm Neidhart (1994, S. 30) richtig feststellt, dadurch bedingt, „dass die über Medien vermittelten öffentlichen Kommunikationen die Einstellungen des Elektorats, demoskopisch bestimmbar als ‚Bevölkerungsmeinung‘, zum Teil ausdrücken, zum Teil beeinflussen.“ Falls Medienmeinung und Bevölkerungsmeinung auseinanderfallen, ist das Ergebnis meist eine „schweigende Mehrheit“ (Noelle-Neumann 2002, S. 83), da sich die Bevölkerung ohne die Medien nur schwer öffentlich Gehör verschaffen kann. Ausgehend von der Beobachtung, dass eine lautstarke Minderheit mehr bewirken kann als eine schweigende Mehrheit, richten manche Autoren ihre Definition der öffentlichen Meinung pragmatisch daran aus, was von den politischen Entscheidungsträgern als öffentliche Meinung wahrgenommen wird. James B. Lemert (1994, S. 42-43) prägte hierfür den Begriff „effective public opinion“, definiert als „opinion that reaches decision-makers as they try both to discern public opinion and decide how to react to it“. Nicht nur auf die Wahrnehmung der politischen Entscheidungsträger, sondern ganz allgemein auf die wahrgenommene Mehrheitsmeinung zielt das von Robert Entman und Susan Herbst (2001) entwickelte Konzept der „perceived majorities“. Entman und Herbst unterscheiden diese wahrgenommene Mehrheitsmeinung von der „mass public opinion“, die über Umfragen gemessene Individualeinstellungen abbildet, der „activated public opinion“, die sich auf die Meinung der engagierten, informierten und organisierten Bürger bezieht und der „latent public opinion“, die durch grundlegende Überzeugungen geformt wird.44 42 43
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Grundlegend zum Begriff der Öffentlichkeit: Habermas 1962, vgl. auch Dahrendorf 1974; Luhmann 1996. Ähnliches gilt für das heutzutage eher seltene Begriffsverständnis von öffentlicher Meinung als Meinung organisierter Interessengruppen. Vgl. hierzu Champagne 1994, S. 83; Herbst 1998, S. 6. Diese Differenzierung des Begriffs der öffentlichen Meinung durch Entman und Herbst erinnert an die Kategorisierung verschiedener Öffentlichkeiten durch Ralf Dahrendorf (1974):
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2 Analyseraster
Auf wahrgenommenen Mehrheiten gründet schließlich auch Elisabeth Noelle-Neumanns (2001) Figur der Schweigespirale: Aufgrund der menschlichen Isolationsfurcht beobachte der Einzelne fortwährend seine Umwelt und versuche das aktuelle „Meinungsklima“ (Noelle-Neumann 2002, S. 88) einzuschätzen. Anhand direkter Umweltbeobachtung und unter Zuhilfenahme der Massenmedien versuche er, Meinungsverteilungen in der Bevölkerung abzuschätzen. Diese Einschätzung, die durchaus falsch sein könne, diene als Richtlinie des Verhaltens: Wenn die eigene Meinung nicht dem wahrgenommenen Meinungsklima entspräche, werde sie verschwiegen. Personen, die ihre Meinung in der Mehrheit glauben, verträten hingegen offen ihre Ansichten. Die unterschiedliche Redebereitschaft beider Lager lasse die vermeintliche Mehrheit größer und die vermeintliche Minderheit kleiner erscheinen, als sie tatsächlich seien. Dies führe zu einer unterschiedlich großen öffentlichen Sichtbarkeit der beiden Meinungslager und setze einen spiralförmigen Prozess in Gang: Immer mehr Anhänger der (scheinbaren) Mehrheitsmeinung bekennen sich selbstbewusst zu ihren Ansichten. Zugleich verfallen immer mehr Anhänger der Gegenmeinung in Schweigen.45 Die Medien spielen in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Öffentliche Meinung zeichnet sich Noelle-Neumann (2002, S. 92) zufolge letztendlich dadurch aus, dass „man in der Öffentlichkeit nicht mehr dagegen sprechen kann ohne Gefahr, sich zu isolieren und an den Medienpranger gestellt zu werden.“ Dennoch sind veröffentlichte Meinung und öffentliche Meinung nicht einfach gleichzusetzen: Nicht alles, was die Medien sagen, gewinnt automatisch Deutungshoheit (vgl. Noelle-Neumann 2002, S. 83). Die vorliegende Arbeit schließt sich dem Begriffsverständnis an, das öffentliche Meinung als „herrschende Meinung“ begreift: „‚Öffentliche Meinung‘ ist nicht die Summe aller öffentlich geäußerten Meinungen von Öffentlichkeitsakteuren, sondern ein kollektives Produkt von Kommunikatoren, das sich zwischen den Sprechern als ‚herrschende‘ Meinung darstellt. […] ‚Herrschend‘ ist eine öffentlich geäußerte Meinung dann, wenn eine Abweichung von den mit ihr ausgedrückten Feststellungen, Begründungen, Bewertungen und Folgerungen bei einer Mehrzahl anderer Sprecher (und bei den Medien) einen Widerstand
45
Dahrendorf unterschied zwischen einer nicht-partizipierenden „latenten Öffentlichkeit“, einer „passiven Öffentlichkeit“, die sich sporadisch am politischen Prozess beteiligt, und einer „aktiven Öffentlichkeit“, die sich regelmäßig und mit eigenen Vorstellungen in den politischen Prozess einbringt. Dahrendorf zufolge wäre eine permanente Beteiligung aller Bürger am politischen Prozess weder möglich noch wünschenswert. Für eine kritische Diskussion und empirische Überprüfung der Theorie der Schweigespirale siehe Fuchs et al. 1992.
2.1 Begriffsklärung zum Konzept der Kluft
49
auslöst, der eine Marginalisierung der Abweichung zur Folge hat und für die abweichenden Sprecher Prestigeverlust mit sich bringt.“ (Neidhardt 1994, S. 26)
Öffentliche Meinung ist also weder mit der veröffentlichten Meinung noch mit der über Umfragen gemessenen Bevölkerungsmeinung deckungsgleich (vgl. auch Sarcinelli 2005, S. 53). Diesen Überlegungen folgend zieht die vorliegende Arbeit den Begriff der Bevölkerungsmeinung dem der öffentlichen Meinung vor, um die demoskopisch ermittelten Einstellungen der Bevölkerung zu beschreiben.46 Doch selbst wenn man diese Einstellungen aus den genannten Gründen nicht als „öffentliche“ Meinung bezeichnet, bleibt die weitergehende Frage bestehen, inwiefern man überhaupt von einer „Meinung“ der Bevölkerung sprechen kann. Die nächsten Seiten gehen dieser Frage nach.
2.1.3 Meinungen und Artefakte Programmatisch ist der Titel einer Abhandlung von Pierre Bourdieu (1984): „L’opinion publique n’existe pas“. Bourdieu argumentiert, dass es eine durch Umfragen gemessene „öffentliche Meinung“ gar nicht gebe. Er gründet seine Kritik nicht nur auf dem bereits diskutierten Problem der Öffentlichkeit. Bourdieu ist darüber hinaus der Ansicht, dass Umfragen keine Meinungen, sondern Artefakte messen. Er entwickelt drei Kernargumente (vgl. Bourdieu 1984, S. 222): Zum Ersten bestreitet er die von der Umfrageforschung implizierte Annahme, dass jeder zu allem eine Meinung habe. Zum Zweiten bemängelt er, dass Umfragen alle Meinungen gleichgewichten. Wenn man nicht der Tatsache Rechnung trage, dass verschiedene Meinungen eine verschiedene Wirkungskraft entfalten, produziere man ein sinnloses Kunstprodukt, so Bourdieu. Zum Dritten wirft er der Umfrageforschung vor, dass sie mit der Auswahl ihrer Fragen einen Konsens über die Problemwahrnehmung vortäusche, also ein allgemeines Einverständnis darüber, welche Fragen es verdienen, gestellt zu werden. Bourdieu prangert weiterhin die politisch-instrumentelle Nutzung dieses Artefakts an, das die durch Umfragen produzierte „öffentliche Meinung“ seiner Ansicht nach darstellt: „[C]ette opinion publique est un artefact pur et simple […]. L’équivalent de ‚Dieu est avec nous‘, c’est aujourd’hui ‚l’opinion publique est avec nous‘. Tel est l’effet fondamental de l’enquête d’opinion: constituer l’idée qu’il existe une opinion pu46
Wenn im Folgenden vereinfachend von der Bevölkerungsmeinung die Rede ist, so bezieht sich dies immer auf die Einstellungen, die von einer relativen Mehrheit der Bürger vertreten wird.
50
2 Analyseraster blique unanime, donc légitimer une politique et renforcer les rapports de force qui la fondent ou la rendent possible.“ (Bourdieu 1984, S. 224, Hervorhebung im Original)
Vor allem in Frankreich teilen zahlreiche Autoren diese kritische Sicht auf die Umfrageforschung (vgl. Blondiaux 1998; Champagne 1994; Rosanvallon 1998): Umfragen würden dazu missbraucht, einen scheinbaren Volkswillen vorzugaukeln, der so nicht existiere. In der englischsprachigen Literatur vertrat Philip Converse (1970) am prominentesten den Einwand, dass Umfragen Gefahr laufen, bloße Artefakte zu produzieren: Er prägte den Begriff der „nonattitudes“, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Bürger zu vielen Themen keine Meinung hätten. In einer Umfragesituation würden die Befragten mehr oder weniger zufällig antworten und bereits kurze Zeit später auf dieselbe Frage eine abweichende Auskunft geben. John Zaller (1992, S. 76-96) widerspricht der von Converse etablierten Dichotomie zwischen Einstellungen und Nicht-Einstellungen. Seiner Ansicht nach tragen die Menschen nicht eine einzige „wahre“ Einstellung, sondern mehrere, zum Teil widersprüchliche, Überlegungen in sich. Je nach Befragungssituation würden mal diese, mal jene Überlegungen aktiviert, was sich in wechselnden Antworten niederschlage. Die Meinungsäußerungen seien dennoch nicht völlig beliebig: Der Pool an Überlegungen, die ein Befragter besitze, stelle keine neutrale Grundgesamtheit dar, sondern sei durch Prädispositionen vorgeformt. Wechselnde Aussagen zum selben Thema dürften daher nicht als rein zufälliges Antwortverhalten gedeutet werden (vgl. Pappi, Shikano 2007, S. 93). Dennoch ist die Gefahr nicht zu leugnen, dass über Umfragen bisweilen tatsächlich sinnlose Meinungsartefakte konstruiert werden, wie ein bei Patrick Champagne zitiertes Beispiel plakativ illustriert: Eine 1988 von CSA in Frankreich realisierte Umfrage zeigte, dass lediglich 35 Prozent der Befragten wussten, wer der aktuelle französische Umweltminister war. Dennoch wurden in einer Folgefrage alle Befragten – und nicht etwa nur die, die den Minister kannten – um eine Bewertung seiner Amtsausübung gebeten: 54 Prozent der Befragten äußerten eine „Meinung“ hierzu (vgl. Champagne 1994, S. 114). Derart grobe konzeptionelle Fehler werden von der seriösen Umfrageforschung selbstverständlich zu vermeiden gesucht. Das zitierte Beispiel weist aber auf den schlichten Tatbestand hin, dass Umfragen Antworten erzeugen können, die ganz offensichtlich nicht als Meinung gelten können. Mit den Worten von James B. Lemert (1994, S. 45): „[Y]ou can respond to opinion questions without knowing – or caring – anything about the issue asked.“ Hinzu kommen weitere handwerkliche Fallstricke, die das Ergebnis einer Umfrage – gewollt oder ungewollt – zu einem Zerrbild machen können: Wie hinlänglich bewiesen wurde, beeinflussen zahlreiche Faktoren, wie die Reihen-
2.1 Begriffsklärung zum Konzept der Kluft
51
folge der Fragen, die Formulierung der Fragestellung oder die Vorgabe der Antwortmöglichkeiten, das Ergebnis (vgl. Zaller 1992, S. 32-34). Durch eine reflektierte und sorgfältige Vorgehensweise lassen sich handwerkliche Fehler auf ein Minimum reduzieren. Anhänger der Umfrageforschung argumentieren außerdem, dass sich individuelle Messfehler im Aggregat ausgleichen (vgl. Eckstein, Pappi 1999, S. 300-302). Schwerer wiegt der von Bourdieu geäußerte Vorwurf, dass Umfragen grundsätzlich – auch wenn Messfehler ausgeschlossen werden – keine „Meinungen“, sondern Artefakte produzieren. Die genannten Kritikpunkte Bourdieus sind nicht von der Hand zu weisen. Wie im Folgenden gezeigt wird, können sie aber zumindest in Teilen entkräftet werden. Eines der drei zentralen Argumente Bourdieus bezog sich darauf, dass nicht alle Meinungen dieselbe Wirkungskraft besitzen und daher nicht einfach zu einer öffentlichen Meinung aufaddiert werden können. Die vorliegende Arbeit stimmt mit Bourdieu darin überein, dass demoskopisch erhobene Einstellungen aus diesem Grund nicht als öffentliche Meinung bezeichnet werden sollten. Öffentliche Meinung wird, wie bereits erläutert, als herrschende Meinung verstanden – ein Begriffsverständnis, das die unterschiedliche Wirkungskraft verschiedener Meinungen berücksichtigt. Die beiden anderen genannten Kritikpunkte Bourdieus, dass nicht alle Menschen zu jedem Thema eine Meinung hätten und dass in Umfragen abgeprüfte Themen nicht unbedingt das Problembewusstsein der Menschen widerspiegeln, hängen eng miteinander zusammen: Die Gefahr, dass ein Befragter im Interview nach dem Zufallsprinzip antwortet, ist dann besonders groß, wenn er das jeweilige Thema nicht als Problem wahrnimmt und sich folglich noch nie zuvor Gedanken dazu gemacht hat. Der Einzelne bildet sich vor allem dann eine Meinung zu einem Thema, wenn er es für relevant hält bzw. wenn er sich davon betroffen fühlt (vgl. Bourdieu 1984, S. 232). Die vorliegende Arbeit schließt sich Bourdieu in der Feststellung an, dass Artefakte produziert werden, wenn Umfrageinstitute Einstellungen zu Themen abfragen, die der Befragte als irrelevant wahrnimmt. Das Risiko, Artefakte zu messen, wird jedoch begrenzt, wenn die wahrgenommene Wichtigkeit („Salienz“) eines Themas bei der Umfrageauswertung berücksichtigt wird. Bourdieu selbst weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang die Auswertung von Stimmenthaltungen von besonderer Bedeutung ist (Bourdieu 1984, S. 225). In der Umfrageforschung wird diesem Hinweis heute größtenteils Rechnung getragen. Die Salienz eines Themas kann über die Antwortkategorien „Weiß nicht“/„Keine Meinung“ ermittelt werden. Ein hoher Anteil indifferenter Ant-
52
2 Analyseraster
worten weist dabei auf eine geringe wahrgenommene Wichtigkeit hin.47 Da es sich um graduelle Unterschiede handelt, ist die Festsetzung von Schwellenwerten naturgemäß diskussionswürdig. Folgende Staffelung wurde in der empirischen Forschung wiederholt verwendet (vgl. Brooks 1990, S. 516): Bis zu 5 Prozent indifferente Antworten deuten auf eine hohe Salienz des Themas hin. 614 Prozent indifferente Antworten zeigen eine moderate wahrgenommene Wichtigkeit an. Wenn 15 Prozent oder mehr Befragte keine Meinung äußern, ist von einer geringen Salienz des Themas auszugehen. Die Herangehensweise der vorliegenden Arbeit lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Definition einer „Kluft“ zwischen Regierenden und Regierten verlangt, dass ein Thema von der Bevölkerung als „wichtig“ wahrgenommen werden muss. Dieser Zusatz soll vermeiden, dass die Analyse auf einem Artefakt gründet. Wie Hanna Pitkin feststellt: „[A] representative government is one which is responsive to popular wishes when there are some“ (Pitkin 1972, S. 233, Hervorhebung S.W.). Die Arbeit widmet sich aus diesem Grund europapolitischen Fragen, die in Umfragen Stimmenthaltungen von durchschnittlich unter 15 Prozent aufweisen. Um Fehlinterpretationen aufgrund von Messfehlern zu vermeiden, werden der Analyse zudem keine kurzfristigen Schwankungen, sondern ausschließlich eindeutige und langfristige Meinungstrends zugrunde gelegt.
2.1.4 Responsivität und Führung Der Begriff der Responsivität bezeichnet die Anpassung des Regierungshandelns an die Bevölkerungsmeinung. Diese Definition von Responsivität setzt eine Änderung des Regierungshandelns voraus (vgl. Brettschneider 1995, S. 20). Wenn das Regierungshandeln von vornherein mit der Bevölkerungsmeinung übereinstimmt, kann demnach nicht von Responsivität gesprochen werden. Weiterhin geht die Definition über das von einigen Autoren vertretene Verständnis von Responsivität als „Aufnahmefähigkeit“, im Sinne einer prinzipiellen Aufgeschlossenheit gegenüber den Wünschen und Erwartungen der Wählerschaft, hinaus (vgl. Herzog 2002, S. 298). Sie verlangt eine Anpassung des Regierungshandelns, nicht nur eine passive, empirisch kaum greifbare, Rezeptivität. 47
Frank Brettschneider (1995, S. 80) äußert Zweifel an der Validität dieses Indikators, da die empirischen Ergebnisse, die er damit erlangte, nicht seinen theoretischen Erwartungen entsprachen.
2.1 Begriffsklärung zum Konzept der Kluft
53
Analog zu der Unterscheidung zwischen Darstellungspolitik und Entscheidungspolitik kann responsives Handeln sowohl in einer öffentlichen Artikulation der Bevölkerungsmeinung durch die Regierenden als auch in konkreten sachpolitischen Entscheidungen bestehen. Ersteres wird in der Literatur als symbolische (Eulau, Karps 1977, S. 246-247) oder rhetorische (Hobolt, Klemmensen 2008, S. 2) Responsivität, letzteres als „policy responsiveness“ (Eulau, Karps 1977, S. 242-243) oder effektive Responsivität (Hobolt, Klemmensen 2008, S. 2) bezeichnet.48 Eine Umsetzung der Bevölkerungsmeinung in konkrete Politikergebnisse ist nicht zwingend notwendig, um von einem responsiven Verhalten der Regierenden sprechen zu können: An europäischen Politikentscheidungen sind zahlreiche Vetospieler (vgl. Tsebelis 2002) beteiligt, von deren Zustimmung eine erfolgreiche Politikumsetzung abhängt. So ist es durchaus möglich, dass eine Regierung ihr Handeln entsprechend der Bevölkerungsmeinung anpasst, aber dennoch an der Politikdurchsetzung scheitert. Der Definition entsprechend hat sie sich trotzdem responsiv verhalten. Eine Angleichung des Regierungshandelns an die Bevölkerungsmeinung kann prinzipiell auf zweifache Weise zustande kommen: Entweder durch einen per Wahl bewirkten Wechsel der Regierung oder durch eine Anpassung des Handelns während einer Legislaturperiode. Eine durch Wahlentscheid bewirkte Änderung der Regierungspolitik liegt dem in der Repräsentationsforschung einflussreichen „Responsible Party Model“ zugrunde (vgl. APSA 1950; Dalton 1985; Schattschneider 1942; Thomassen, Schmitt 1999). Vereinfacht ausgedrückt lautet dessen Logik: Die Bürger wählen Parteien, die ihren Präferenzen entsprechen; die Regierung geht aus der bzw. den mehrheitlich gewählten Partei(en) hervor und setzt das versprochene Programm effektiv um; die Regierungspolitik ist folglich konsistent mit der mehrheitlichen Bevölkerungsmeinung. Im Kern des Responsible Party Models steht die Beziehung zwischen den politischen Parteien und ihren Anhängerschaften: Die Parteien müssen die Präferenzen ihrer Wähler effektiv vertreten, damit eine Angleichung des Regierungshandelns an die Bevölkerungsmeinung durch den Wahlakt gewährleistet wird. Inwiefern Parteien diese Funktion tatsächlich erfüllen ist diskussionswürdig. Das Responsible Party Model ist an zahlreiche explizite und implizite
48
Eulau und Karps (1977, S. 243-246) unterscheiden neben „policy responsiveness“ und „symbolic responsiveness“ noch zwei weitere Formen, die für die vorliegende Arbeit weniger von Bedeutung sind: „service responsiveness“ bezeichnet spezifische Dienstleistungen des Repräsentanten zugunsten einzelner Personen oder Gruppen, „allocation responsiveness“ bezeichnet finanzielle Zuwendungen, die für den Wahlkreis errungen werden.
54
2 Analyseraster
Prämissen geknüpft, deren Gültigkeit in der Forschung umstritten ist.49 Auf eine ausführlichere Diskussion wird an dieser Stelle jedoch verzichtet,50 da eine Änderung der Regierungspolitik per Wahlentscheid nicht im Fokus der vorliegenden Untersuchung steht. Unbestritten der Tatsache, dass auch per Wahl ein Wechsel der Regierungspolitik bewirkt werden kann, wird – dem gängigen Begriffsverständnis entsprechend – unter „Responsivität“ eine Anpassung des Regierungshandelns an die Bevölkerungsmeinung während einer Legislaturperiode verstanden. Zuletzt gilt es noch einmal zu betonen, dass Responsivität ein Bestandteil, kein Synonym, von politischer Repräsentation ist. Manche Autoren setzen beide Begriffe gleich (z.B. Stimson et al. 1995, S. 543). Dies hieße jedoch, die Führungskomponente der Repräsentation zu unterschlagen. Die Annahme, dass ein Repräsentant umso besser repräsentiere, je responsiver er handle, ist repräsentationstheoretisch nicht haltbar. Der Begriff der politischen Führung bezeichnet die Anpassung der Bevölkerungsmeinung an das Regierungshandeln. „Führung“ bzw. „leadership“51 wird in der Forschung sehr unterschiedlich konzeptualisiert: „Leadership is the unidentifiable in pursuit of the indefinable“ (Elgie 1995, S. 2). Strategische Führung erstreckt sich Manuela Glaab (2007, S. 304) zufolge „unauflöslich sowohl auf Macht- als auch auf Gestaltungsziele.“ In einem umfassenden Begriffsverständnis beschreibt Führung eine Überzeugungssowie eine Durchsetzungsleistung der Politik. Eine Variante besteht darin, den Führungsbegriff ausschließlich auf die Durchsetzungsleistung von Politik zu beziehen: Ziel von Führung ist demnach die Realisierung bestimmter Politikergebnisse, notfalls gegen Widerstände. Ob die Bevölkerung diese Politik unterstützt, ist in diesem Begriffsverständnis zweitrangig. Ohne Geführte ergibt jedoch die Idee der Führung wenig Sinn (vgl. 49
50 51
Die Parteien müssen verschiedene Politikoptionen anbieten, um dem Wähler eine sinnvolle Wahlentscheidung zu ermöglichen. Sie müssen außerdem eine ausreichende interne Kohäsion aufweisen, um die versprochenen Programme nach der Wahl auch tatsächlich umsetzen zu können. Im Responsible Party Model wird eine vollständige Kontrolle der Regierung durch die Parteien vorausgesetzt. Von den Wählern wird wiederum erwartet, dass sie sich nicht von Sympathiewerten leiten lassen, sondern zuverlässig jene Partei auswählen, deren Programm den eigenen Präferenzen am nächsten kommt. Hierfür müssen sie die Politikangebote der konkurrierenden Parteien kennen und die Differenzen zwischen den Parteien richtig wahrnehmen. Vgl. Dalton 1985, S. 270; Thomassen, Schmitt 1999, S. 15-16. Siehe hierfür Schmitt, Thomassen 1999. Auch in der deutschsprachigen Forschung wird bisweilen der englische Begriff „leadership“ verwendet, um den durch den Nationalsozialismus vorbelasteten Begriff „Führung“ zu vermeiden.
2.1 Begriffsklärung zum Konzept der Kluft
55
Daloz 2003, S. 18; Fliegauf et al. 2008, S. 405). Wie Oscar Gabriel (2006, S. 75) feststellt, „lässt sich Führung in der Demokratie nicht auf autoritatives Entscheiden und die Ausübung politischer Macht begrenzen, sie schließt auch das Werben um Zustimmung zu den getroffenen Entscheidungen ein.“ Wird eine bestimmte Politik durchgesetzt, ohne dass es der Regierung langfristig gelingt, die Bevölkerung von deren Sinnhaftigkeit zu überzeugen, so handelt es sich in der Terminologie dieser Arbeit um eine „Kluft“ zwischen Regierenden und Regierten, nicht um „Führung“. Andere Ansätze konzentrieren sich ganz auf die Überzeugungsdimension der politischen Führung. So verstehen etwa Gabriele Eckstein und Franz Urban Pappi unter politischer Führung, „dass es dem Politiker gelingt, die öffentliche Meinung zugunsten der von ihm vertretenen Politik zu beeinflussen“ (Eckstein, Pappi 1999, S. 329). Ähnlich wird im Kontext dieser Arbeit politische Führung im Sinne von „Führung der Bevölkerungsmeinung“ verstanden.52 Die Führung der Bevölkerungsmeinung bildet im repräsentationstheoretischen Analyseraster das Pendant zur Responsivität – durch sie kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten überbrückt werden.53 Der so verstandene Begriff der Führung kommt dem der Persuasion sehr nahe. Persuasion wird im Allgemeinen definiert als eine tatsächliche (Gerstlé 2004, S. 89; Lupia, McCubbins 1998, S. 9) oder zumindest beabsichtigte (Kepplinger 2002, S. 363; Perloff 2003, S. 9) kommunikative Beeinflussung der Adressaten mit dem Ziel einer Änderung von Präferenzen, Einstellungen oder Verhalten. Politische Führung, im Verständnis dieser Arbeit, ist somit im Wesentlichen durch erfolgreiche Persuasion gekennzeichnet. Führung geht jedoch über Persuasion hinaus: Während der Begriff der Persuasion lediglich einen allgemeinen Akt der Überzeugung beschreibt, gibt der Begriff der politischen Führung den dazugehörigen repräsentationstheoretischen Kontext an: Regierende ergreifen eine bestimmte politische Maßnahme, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt von der Bevölkerungsmehrheit abgelehnt wird, und überzeugen dann im Nachhinein die Menschen von der Sinnhaftigkeit ihres
52
53
Glaab (2007, S. 310) ordnet verschiedene Führungsfunktionen auf einem Kontinuum zwischen den Polen „core executive leadership“ und „public leadership“ an und zählt die Mobilisierung öffentlicher Zustimmung, die im Kontext dieser Arbeit interessiert, zu einem Teilbereich des „public leadership“. Vgl. ähnlich Grasselt, Korte 2007, S. 96. Manche Autoren verstehen unter Führung eine Änderung des Verhaltens der Gefolgschaft (so z.B. Grasselt, Korte 2007, S. 18). Im hier verwendeten Begriffsverständnis ist jedoch eine entsprechende Änderung der Einstellungen ausreichend, um von politischer Führung sprechen zu können, da die Meinungsentwicklung der Bürger – nicht deren Wahlverhalten o.ä. – für die Analyse der Kluft zwischen Regierenden und Regierten relevant ist.
56
2 Analyseraster
Handelns. Diese Idee des Vorausschreitens und des anschließenden Sicherns der Gefolgschaft ist im Persuasionsbegriff per se nicht enthalten.54 Analog zur Definition von Responsivität setzt politische Führung einen Wandel der Bevölkerungsmeinung voraus: Wenn Bevölkerungsmeinung und Regierungshandeln über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg übereinstimmen, wird im Kontext dieser Arbeit nicht von Führung gesprochen. Zwar stellt sich eine Übereinstimmung in vielen Fällen nicht von selbst ein, sondern ist Ergebnis eines stetigen Werbens der Politik um öffentliche Zustimmung. Diese Prozesse sollen hier jedoch als Politikvermittlung (vgl. Sarcinelli 1987, 2002) oder ganz allgemein als politische Kommunikation (vgl. Gerstlé 2004; Jarren, Donges 2006; Schulz 2008) bezeichnet werden, während der Begriff der Führung für das Herbeiführen eines Meinungsumschwungs reserviert wird. Politische Führung liegt demnach vor, wenn die relative Mehrheit der Bürger eine von der Regierung betriebene Politik zunächst ablehnt und dann, zu einem späteren Zeitpunkt, befürwortet.
2.2 Responsivität erklären 2.2 Responsivität erklären Der Begriff der Responsivität hielt Anfang der 1950er Jahre Einzug in die USamerikanische Politikwissenschaft (vgl. Pennock 1952). Auch der geographische Fokus der empirischen Untersuchungen lag zunächst vorwiegend auf den USA. Wegweisend für die empirische Responsivitätsforschung war die von Warren Miller und Donald Stokes (1963) durchgeführte Studie „Constituency Influence in Congress“, die das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten des US-Repräsentantenhauses im Jahr 1958 mit den Wählereinstellungen der jeweiligen Abgeordnetendistrikte verglich. Zahlreiche nachfolgende Arbeiten nahmen die Miller-Stokes-Studie entweder zum Vorbild (siehe z.B. Barnes 1977) oder aber setzten sich kritisch von ihr ab (siehe z.B. Brettschneider 1995, S. 40-49; Kielhorn 2002, S. 20-22). Auch wenn bis heute noch nahezu jede Responsivitätsstudie die Pionierarbeit von Miller und Stokes zitiert, gilt doch das Untersuchungsdesign aufgrund methodischer Mängel inzwischen als überholt.55 54
55
Nach Max Weber lassen sich idealtypisch drei Formen legitimer Herrschaft (legal, traditional und charismatisch) unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Führungsstile implizieren. Vgl. Weber 1976. Auf die Frage des Führungsstils wird in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht näher eingegangen. Entscheidend ist lediglich, ob geführt wird, d.h. ob die Massen dem Regierungshandeln folgen. Nachfolgende Forscher kritisierten unter anderem die kleinen Fallzahlen, die der empirischen Analyse zugrunde lagen: Teilweise stand die Meinung eines einzelnen Befragten stellvertretend für einen ganzen Wahlkreis (vgl. Erikson 1978, S. 513). Bemängelt wurde außerdem, dass das Miller-Stokes-Modell nur begrenzt auf europäische Verhältnisse zu übertragen sei (vgl.
2.2 Responsivität erklären
57
Lange Zeit widmete sich die Responsivitätsforschung hauptsächlich sozioökonomischen Fragestellungen.56 Außenpolitische Themen wurden zunächst kaum berücksichtigt. Diese analytische Vernachlässigung hatte nicht zuletzt auch normative Gründe: Der Publizist Walter Lippmann (1922, 1927) und der Politikwissenschaftler Gabriel Almond (1950) waren prominente Vertreter der Ansicht, dass die Bürger außenpolitischen Sachverhalten aus Mangel an direkter Betroffenheit entweder indifferent gegenüber stünden oder aber zu Überreaktionen neigten. Der Einfluss der Bevölkerungsmeinung auf die Formulierung der Außenpolitik sei gering und ein größerer Einfluss aufgrund ihrer Wankelmütigkeit auch gar nicht wünschenswert – so die Quintessenz des so genannten „Almond-Lippmann Konsenses“ (vgl. Holsti 1992), der vor allem während und unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg viele Anhänger fand. Namentlich Benjamin Page und Robert Shapiro (1983, 1992) versuchten in ihren Arbeiten das Vorurteil einer irrationalen Öffentlichkeit zu widerlegen. Die Einstellungen der Bürger seien auch in außenpolitischen Fragen weitaus stabiler als oftmals angenommen und könnten daher durchaus als Richtschnur außenpolitischen Handelns dienen, so ihr Argument. Inzwischen ist der Zusammenhang zwischen Bevölkerungsmeinung und außenpolitischem Handeln Gegenstand zahlreicher Untersuchungen (vgl. Holsti 2004; La Balme 2002; Rattinger et al. 1995; Risse-Kappen 1991). Auch der geographische Fokus der Studien hat sich erweitert (vgl. Brettschneider 1995; Brooks 1987, 1990; Hobolt, Klemmensen 2008). Bis heute befasst sich aber die Responsivitätsforschung schwerpunkthaft mit den US-amerikanischen Verhältnissen.
2.2.1 Theoretische Erklärungsmodelle Warum verhalten sich Politiker responsiv? In der Literatur finden sich, stark vereinfacht, zwei Antwortvarianten: Weil es nach Abwägung der Handlungsalternativen den größten Nutzen verspricht bzw. sinnvoll erscheint, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, argumentieren Anhänger der „engen“ bzw. der „weiten“ Version der Rational-Choice-Theorie. Weil es dem Rollenverständnis entspricht, argumentieren die Anhänger soziologisch inspirierter Ansätze. Beide Varianten werden im Folgenden näher ausdifferenziert und auf ihre Erklärungskraft für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit geprüft.
56
Hoffmann-Lange 1991, S. 277; Thomassen 1991, S. 271). Für eine Kritik am statischen Untersuchungsdesign von Miller und Stokes, siehe auch Kapitel 3.2.1. Vgl. die Bestandsaufnahme zur Responsivitätsforschung bei Burstein 1998. Siehe auch Bursteins (2003, 2006) Überarbeitungen dieser Bestandsaufnahme.
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2 Analyseraster
2.2.1.1 Ökonomische Demokratietheorie Die Idee der rationalen Wahlhandlung entstammt ursprünglich den Wirtschaftswissenschaften. Der Rationalitätsbegriff entspricht dabei der Zweckrationalität nach Max Weber (1976, S. 13): „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt.“ Ebenfalls den Wirtschaftswissenschaften entlehnt ist das Menschenbild des „homo oeconomicus“, das dem Rational-Choice-Ansatz in seiner „engen“ ursprünglichen Version zugrunde gelegt wurde: Der „homo oeconomicus“ ist stets vollständig informiert. Er trifft seine Entscheidungen auf Basis dieser Informationen und seiner feststehenden, egoistischen Präferenzen, unter Berücksichtigung materieller Handlungsbeschränkungen und zum Zweck der Nutzenmaximierung. Dieses Menschenbild entspreche nicht der Realität, entgegnen Kritiker. Hierzu gilt es anzumerken, dass auch nur die wenigsten Anhänger dieses Ansatzes behaupten würden, dass der Mensch tatsächlich immer wie ein „homo oeconomicus“ handelt (vgl. Meleghy 2004, S. 139). Es geht ihnen vielmehr um eine theoretische Abstraktion, eine bewusste Vereinfachung, die eine Erklärung komplexer Sachverhalte möglich machen soll. Kritiker der ökonomischen Rational-Choice-Variante sind allerdings der Ansicht, dass das Modell sich so weit von der Realität entfernt, dass es diese nicht mehr sinnvoll erklären kann. Ein viel zitierter Vertreter des engen Rational-Choice-Verständnisses ist Anthony Downs. Seine 1957 erstmals in Englisch und 1968 schließlich in deutscher Übersetzung publizierte „Ökonomische Theorie der Demokratie“ baut auf Schumpeters Konzeption der Demokratie als Markt auf: Politiker konkurrieren auf diesem Markt um Wählerstimmen. Die Rationalität der Wähler beurteilen Schumpeter und Downs jedoch sehr unterschiedlich: Während Schumpeter (1942) überzeugt ist, dass die Bürger in politischen Angelegenheiten irrational, affektiv und hochgradig beeinflussbar sind, geht Downs davon aus, dass die Wähler authentische und vom politischen Wettbewerb unbeeinflusste Präferenzen besitzen. Der ökonomischen Demokratietheorie liegt die Annahme zugrunde, dass die Wähler über ihre Entscheidungsalternativen hinreichend informiert sind und in ihrer Wahlentscheidung objektiv rational handeln. Downs nimmt vereinfachend an, dass die politischen Positionen der Parteien auf einer sozio-ökonomischen Links-Rechts-Skala angeordnet und bewertet werden können. Der einzelne Wähler vergleicht demnach die Wahlversprechen der verschiedenen
2.2 Responsivität erklären
59
Parteien und wählt auf Basis einer Kosten-Nutzen-Kalkulation jene aus, die seiner Präferenzordnung am besten entspricht.57 Auch die Parteien handeln bei Downs rational und nutzenmaximierend. Ähnlich wie Schumpeter geht er davon aus, dass der Machterwerb bzw. Machterhalt oberstes Ziel der konkurrierenden Parteien ist. Zu diesem Zweck streben sie Downs zufolge nach einer Maximierung der Wählerstimmen. Die Politik steht im Dienst des Wahlsieges, nicht umgekehrt: Parteien wollen nicht die Wahl gewinnen, um eine bestimmte Politik umzusetzen, sondern sie formulieren möglichst Erfolg versprechende politische Programme, um damit die Wahlen zu gewinnen. Dieser Logik folgend richten Parteien ihr Politikangebot an den Präferenzen des Medianwählers aus.58 Responsivität stellt sich in einem solchen Modell quasi automatisch ein, da sie den Parteien einen maximalen Nutzen in Form eines maximalen Stimmenanteils verspricht. Downs ökonomische Demokratietheorie diente nachfolgenden Forschern als beliebter Anknüpfungs- und Reibepunkt. Von den zahlreichen Kritikpunkten seien im Folgenden einige besonders relevante kurz skizziert.59 Zum Ersten werden grundsätzliche Einwände gegen das von Downs konstruierte Modell erhoben: Die Metapher des Marktes sei für eine Konzeptualisierung der Demokratie wenig brauchbar, da die Politik einer fundamental anderen Handlungslogik gehorche als die Wirtschaft (vgl. Bartolini 1999, S. 436437; Manin 1996, S. 290). Der politische Raum lasse sich nicht, wie Downs das vereinfachend annimmt, anhand einer Links-Rechts-Skala abbilden (vgl. Stokes 1963, S. 370). Das Modell sei auf ein Zweiparteiensystem mit Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen ausgerichtet und könne nur mit Einschränkungen auf andere politische Systeme übertragen werden (vgl. Schmidt 2006a, S. 223-224). Zum Zweiten steht Downs’ Konzeption des rationalen Wählers im Fokus der Kritik: Downs geht davon aus, dass der Wähler stets imstande sei, eine Entscheidung zwischen mehreren Alternativen zu treffen. Der rationale Wähler sortiert alle Alternativen nach seinen Präferenzen. Seine Präferenzordnung ist 57
58 59
Downs zufolge basiert der Wähler seine Entscheidung auf dem erwarteten Parteiendifferential. Dieses ist definiert als die Differenz zwischen dem Nutzen, den der Wähler vom Sieg der Partei A erwartet und dem, den er sich vom Sieg der Partei B verspricht. Es berechnet sich aus drei Größen: Die wichtigste Rolle in der Kalkulation spielt das derzeitige Parteiendifferential, das die Differenz zwischen dem Nutzen, den der Wähler gegenwärtig aus der Regierungstätigkeit zieht, und dem, den er durch die derzeitige Opposition voraussichtlich erlangen würde, anzeigt. Als Zweites wird ein Trendfaktor, der wichtige Ereignisse innerhalb einer Wahlperiode berücksichtigt, mit verrechnet. Als dritter Faktor kommt ein Leistungsvergleich hinzu, bei dem der Wähler den Nutzen, den er von seiner idealen Regierungspartei erwartet, mit dem Nutzen vergleicht, den er von den zur Wahl stehenden Parteien erwarten kann. Vgl. ausführlicher zum Parteiendifferential Schmidt 2006a, S. 217-218. Vgl. zum so genannten Medianwählertheorem Black 1958; Kaiser 2007. Für eine ausführliche Diskussion siehe Braun 1999, S. 61-105
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transitiv. Aus allen möglichen Varianten wählt er stets jene aus, die in der eigenen Präferenzrangordnung den höchsten Rang einnimmt und er trifft immer wieder die gleiche Entscheidung, wenn er vor den gleichen Alternativen steht (vgl. Downs 1968, S. 6). Kritiker halten diese Prämissen für unrealistisch. Der Wähler verfüge nicht immer über alle notwendigen Informationen, um eine objektiv rationale Entscheidung treffen zu können. Zudem seien Wahlentscheidungen nicht zwangsläufig von einer egoistischen Kosten-Nutzen-Abwägung bestimmt. Downs lasse in seinem Modell alternative Wahlmotivationen, wie etwa die Identifikation mit einer bestimmten Partei, unberücksichtigt und vernachlässige darüber hinaus auch soziostrukturelle Einflussfaktoren (vgl. Braun 1999, S. 73-76; Vatter 1994).60 Ein häufig genannter Vorwurf lautet außerdem, dass Downs die normalerweise recht hohe Beteiligung der Bürger an Wahlen (das so genannte „Wählerparadoxon“, vgl. Pappi, Shikano 2007, S. 34-36) nur schlecht erklären könne: Unter nutzenmaximierenden Gesichtspunkten sei der Aufwand der Wahlhandlung, gemessen am erwartbaren Nutzen, für den einzelnen Bürger zu hoch. Da sich die einzelne Stimme kaum auf das Endergebnis auswirke, dürfe ein rationaler Wähler eigentlich gar nicht zur Wahl gehen (vgl. Barry 1975, S. 27). Zum Dritten wird Downs’ Konzeption der Parteien und des parteipolitischen Wettbewerbes kritisiert: Viel Widerspruch erntete die Behauptung, dass Parteien in erster Linie Wählerstimmen zu maximieren suchen (vgl. Kapitel 2.2.2.1). Bemängelt wurde weiterhin, dass Downs in seinem räumlichen Modell der Parteienkonkurrenz nur „position issues“ berücksichtige – Streitfragen, zu denen die Parteien verschiedene Positionen bezögen – nicht aber „valence issues“, bei denen es um die Zuschreibung von Kompetenzen gehe (vgl. Stokes 1963, S. 373). Auf dieser Kritik aufbauend entwickelten Ian Budge und Dennis J. Farlie das Argument des „issue ownerships“ und die Salienztheorie. Deren Kernthese lautet: „Parties […] do not compete by arguing directly with each other, but by trying to render their own areas of concern most prominent“ (Budge, Farlie 1983, S. 23). Vor dem Hintergrund der vorliegenden Untersuchung verdient zuletzt noch Downs’ Prämisse exogen gegebener Bevölkerungspräferenzen besondere Beachtung: Die ökonomische Demokratietheorie fußt auf den Annahmen, dass die Präferenzen der Bürger vom politischen Prozess unabhängig sind und dass die 60
Die Relevanz der Parteiidentifikation für die Wahlentscheidung wird von der sozialpsychologisch ausgerichteten „Michigan School“ (Campbell et al. 1980) der Wählerforschung besonders betont. Die „Columbia School“ (Berelson et al. 1986; Lazarsfeld et al. 1968) versucht hingegen das Wahlverhalten soziostrukturell über die Zugehörigkeit zu sozialen Klassen sowie ethnischen und religiösen Gruppen zu erklären. Vgl. weiterführend zur Wahl- und Wählerforschung Pappi, Shikano 2007.
2.2 Responsivität erklären
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politischen Parteien ihr Angebot an diese Präferenzen anpassen. Der Faktor der politischen Führung wird bei Downs folglich vernachlässigt: Wie Bartolini (2000, S. 36-37) darlegt, widerspricht die Annahme exogener Wählerpräferenzen in letzter Konsequenz jeglichem Versuch einer Beeinflussung.61 Die Prämisse feststehender und vom politischen Prozess unabhängiger Bevölkerungspräferenzen ist in der Responsivitätsforschung weit verbreitet. Eine einseitige Wirkungsbeziehung, die nur den Einfluss der Bevölkerung auf die politische Elite beschreibt, ist besser messbar als eine reziproke Wechselwirkung. Hinzu kommt das von mehreren Autoren vorgebrachte normative Argument, dass es ein demokratietheoretisches Problem darstelle, wenn die Bevölkerungspräferenzen nicht unabhängig vom politischen Prozess seien: Ginge man von beeinflussbaren Präferenzen aus, so bedeute dies in der Konsequenz, dass sich Politiker responsiv zu Präferenzen verhalten, die sie selbst mit erzeugt haben (vgl. Gerstlé 2003, S. 21; Pappi 2000, S. 90; Schmitt-Beck, Farrell 2003, S. 15-16; Stokes 2002, S. 124). Aus welchen Gründen auch immer die Prämisse exogener Bevölkerungspräferenzen verteidigt wird – sie entspricht schlichtweg nicht der politischen Realität: Politiker reagieren auf die Bevölkerungsmeinung und versuchen zugleich, mit wechselndem Erfolg, diese zu beeinflussen (vgl. Duchesne, Muller 2003, S. 35-36; Glaab 2000, S. 106-107; Jacobs, Shapiro 1994, S. 12-13; Steenbergen et al. 2007, S. 18). Eine Trennung dieser beiden Prozesse ergibt ein analytisches Kunstprodukt, das dem realen politischen Kräftespiel nicht gerecht wird.
2.2.1.2 Soziologische Rollentheorie Als Gegenmodell zum „homo oeconomicus“ konzipierte Ralf Dahrendorf den „homo sociologicus“: Dieser agiert norm- und regelgeleitet und berücksichtigt bei seinen Entscheidungen soziale Rollenerwartungen (vgl. Dahrendorf 2006). Während der „homo oeconomicus“ sein Handeln an einer „Logik der Konsequenzialität“ ausrichtet, folgt der „homo sociologicus“ einer „Logik der Ange61
Vereinzelt finden sich bei Downs (1968, S. 83-88) Abweichungen von der Prämisse exogener Bevölkerungspräferenzen: So geht Downs davon aus, dass Parteien ihre Position nur innerhalb bestimmter Grenzen verändern können. Würde sich eine traditionell rechts stehende Partei plötzlich links von einer traditionell links stehenden Partei positionieren, so hätte dies eine Verunsicherung der Wählerschaft zur Folge. Ist einer Partei nun aus diesem Grund eine optimale Anpassung ihres Angebotes an die Medianwählerpräferenzen nicht möglich, so gesteht ihr Downs den Versuch der Wählerbeeinflussung zu. Vor dem Hintergrund der prinzipiell aufrecht erhaltenen Annahme fixer Wählerpräferenzen, erscheint dies jedoch wenig konsequent. Vgl. hierzu ausführlicher Kaiser 2007.
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2 Analyseraster
messenheit“: Er wägt nicht rational alle Handlungsalternativen entsprechend ihres erwartbaren Nutzens ab, sondern verhält sich vielmehr so, wie es ihm in der jeweiligen Situation angemessen erscheint (vgl. Fearon, Wendt 2006, S. 60). Die Erklärung von Responsivität durch soziologisch inspirierte Ansätze lautet im Kern: Repräsentanten verhalten sich responsiv, weil dies ihrem Rollenverständnis entspricht. Der Begriff der „Rolle“ bezeichnet „ein Bündel von Erwartungen, die an den Inhaber einer sozialen Position gerichtet sind“ (Scheuch, Kutsch 1975, S. 98). Das Rollenverständnis wiederum zeigt an, wie jemand seine eigene Rolle begreift. Zum Rollenverständnis von Repräsentanten liegen mehrere Arbeiten vor (vgl. Katz 1997; Kielhorn 2002; Müller, Saalfeld 1997; Searing 1994; Weßels 1999). In der Regel wird zwischen zwei Dimensionen repräsentativer Rollenkonzepte unterschieden: „Focus“ und „Style“ (vgl. Eulau et al. 1959). Die FocusDimension zeigt an, wen die Repräsentanten ihrem Rollenverständnis nach vertreten: Sehen sie sich als Fürsprecher ihres Wahlkreises, ihres Parteienklientels oder der ganzen Nation? Die Style-Dimension bezieht sich auf die schon genannten Idealtypen des Delegierten und des Treuhänders. Gelegentlich wird auch ein Mischtypus mit einbezogen, der „politico“, der mal als Treuhänder und mal als Delegierter agiert (vgl. Eulau et al. 1959, S. 749-750). Die Style-Dimension gibt Auskunft darüber, ob die Repräsentanten es als ihre Rolle ansehen, ihr Handeln an der Meinung der Repräsentierten auszurichten. Responsives Verhalten wäre demnach vor allem von jenen zu erwarten, die sich selbst als Delegierte verstehen. Die empirischen Ergebnisse zur Auswirkung der Rollenverständnisse auf die Responsivität sind widersprüchlich. Diversen Studien zufolge schätzen paradoxerweise ausgerechnet Repräsentanten, die sich selbst als Delegierte wahrnehmen, die Meinung ihrer Wählerschaft schlechter ein (vgl. Erikson et al. 1975, S. 241) und vertreten sie auch schlechter als ihre Treuhänder-Kollegen: „The delegates, supposedly bound by constituency opinion, in fact, have roll call records which are far more inconsistent with their districts than do the trustees or politicos, who, logically, should feel less commitment to their electoral constituency“ (Friesema, Hedlund 1974, S. 415). Ein weiteres Problem besteht darin, dass Rollenverständnisse grundlegende Prägungen darstellen (vgl. Kielhorn 2002, S. 49) und daher situative Änderungen nur schlecht erklären können. Warum verhalten sich Repräsentanten manchmal responsiv und manchmal nicht? Um diesem Manko entgegenzuwirken, haben einige Autoren Zusatzannahmen aufgestellt. McCrone und Kuklinski (1979, S. 298) argumentieren, dass sich ein Repräsentant mit hoher Wahrscheinlichkeit dann responsiv verhält, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Der Repräsentant schreibt sich selbst die Rolle eines Delegierten zu, das zur Abstimmung stehende
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Thema ist wichtig und zugleich artikuliert die Wählerschaft klare Botschaften. Allerdings belegen nahezu alle neueren Studien, dass sich die überwältigende Mehrheit der jeweils untersuchten Repräsentanten in der Rolle eines Treuhänders sieht (vgl. Kielhorn 2002, S. 87-93; Thomassen 1991, S. 273). Repräsentanten, die sich als Delegierte begreifen, sind in einer solch verschwindenden Minderheit, dass der Rollenansatz nur schlecht erklären kann, warum es überhaupt zu responsivem Verhalten kommt – noch dazu, wenn zusätzlich zum Rollenverständnis weitere Voraussetzungen erfüllt werden müssen. Es sei an dieser Stelle unbestritten, dass gesellschaftliche Prägungen und auch Rollenverständnisse grundsätzlich auf das Handeln von Individuen mit einwirken. Zur empirischen Klärung der in dieser Arbeit untersuchten Frage, warum sich Repräsentanten in manchen Situationen responsiv verhalten und in anderen nicht, können sie jedoch kaum beitragen.
2.2.1.3 Die theoretische Verortung dieser Arbeit Die vorliegende Arbeit verortet sich in einer „weiten“ Version des RationalChoice-Ansatzes. Grundsätzlich festgehalten wird am Rational-Choice-Ansatz, da er als ein taugliches Werkzeug angesehen wird, um Erklärungen für komplexe soziale Situationen zu finden (vgl. Meleghy 2004, S. 139). Die weite Version erkennt jedoch viele der genannten Kritikpunkte zur ursprünglichen „engen“ Version an und nimmt entsprechende Anpassungen des Modells vor (vgl. Opp 2004). Die Lockerung der strikten Prämissen des ökonomischen Rational-ChoiceAnsatzes wird in der Literatur auch als „Soft Rationalism“ (vgl. Risse 2009, S. 146) oder als Ansatz „begrenzter Rationalität“ (vgl. Simon 1993) beschrieben: Es wird nicht länger davon ausgegangen, dass die Akteure stets vollständig informiert sind und einen Überblick über alle Handlungsalternativen besitzen. Informationskosten begrenzen die Suche nach Alternativen und führen dazu, dass Akteure nicht nur nutzenmaximierende Entscheidungen treffen, sondern auch solche, die ihnen zu einem gegebenen Zeitpunkt gut genug erscheinen. Als erklärende Faktoren kommen in der weiten Version des Rational-ChoiceAnsatzes nicht mehr nur egoistische, sondern alle Arten von Präferenzen in Betracht und es sind nicht mehr nur materielle, sondern alle Arten von Handlungsbeschränkungen von Bedeutung. Die weite Version des Rational-Choice-Ansatzes geht von einer „subjektiven Rationalität“ der Akteure aus: „Es wird angenommen, dass Personen so handeln, wie dies aus ihrer eigenen Sicht – d. h. angesichts ihrer Ziele und wahrgenommenen Handlungsbeschränkungen – sinnvoll erscheint“ (Opp 2004, S. 51). Trotz der gelockerten Rationalitätsannahmen
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behält der Akteur seine Strategiefähigkeit bei, da er erfolgsorientierte ZielMittel-Umwelt-Kalküle anstellen und sein Handeln danach ausrichten kann (vgl. Braun 1997, S. 45-46). Die Arbeit geht weiterhin von der akteurstheoretischen Prämisse aus, dass menschliches Handeln intentional erfolgt. Es wird weder durch innere Triebe noch durch externe Faktoren determiniert: „Intentionen sind jedoch subjektive Phänomene. Sie sind abhängig von den Wahrnehmungen und Präferenzen der beteiligten Individuen. Menschen handeln nicht auf der Basis der objektiven Realität, sondern auf der Basis der wahrgenommenen Realität und auf der Grundlage angenommener Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die in der von ihnen wahrgenommenen Welt zum Tragen kommt. Und Menschen handeln nicht nur auf der Basis objektiver Bedürfnisse, sondern auch auf der Basis subjektiv definierter Interessen und Wertungen und normativer Vorstellungen davon, wie richtiges, gutes oder angemessenes Handeln unter den gegebenen Umständen auszusehen hätte.“ (Scharpf 2000, S. 47-48, Hervorhebungen im Original)
Diese Herangehensweise schlägt eine Brücke zwischen handlungs- und strukturtheoretischen Ansätzen (vgl. Jarren, Donges 2006, S. 69; Scharpf 2000, S. 73):62 Es wird davon ausgegangen, dass sich soziales Handeln und soziale Strukturen gegenseitig bedingen (vgl. Schimank 2007). Strukturelle Faktoren wirken auf das Handeln ein, eröffnen neue Optionen und formen Präferenzen – Ursprung und Träger des Handelns bleibt aber der intentionale Akteur. Durch die beschriebene Lockerung der Prämissen verliert die ursprünglich sehr sparsame Theorie der rationalen Wahl an Einfachheit. Im Gegenzug gewinnt sie einiges an Wirklichkeitsnähe hinzu. Methodisch stellt sich allerdings die Frage, wie Akteuren, auf plausible und nachvollziehbare Art und Weise, bestimmte Absichten unterstellt werden können. Wie Scharpf darlegt, bedeutet die Annahme subjektiv rationalen Handelns nicht, dass nur noch ad-hoc Erklärungen auf Basis von Informationen über die individuellen Motive der jeweils beteiligten Akteure formuliert werden könnten oder dass es keine Möglichkeit mehr gäbe, Erkenntnisse von einem Fall auf einen anderen zu übertragen. Auch bei Intentionalerklärungen wird auf Theorien zurückgegriffen, um Akteurspräferenzen zu bestimmen, zu strukturieren und über den Einzelfall hinaus zu generalisieren (vgl. Scharpf 2000, S. 48). Da die strikten ökonomischen Rationalitätsprämissen verworfen werden, kann allerdings nicht per se ein nutzenmaximierendes Verhalten unterstellt werden. Es gilt stattdessen nachzuvollziehen und sorgfältig zu begründen, welches Handeln 62
Zum Sinn und Unsinn einer Gegenüberstellung von Handlungs- und Systemtheorie, siehe Schwimm 2004.
2.2 Responsivität erklären
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einem Akteur unter bestimmten Bedingungen sinnvoll erscheint, um sein Ziel zu erreichen. Dies geschieht im Rahmen der vorliegenden Arbeit zweifach: Zum einen werden theoriegeleitet mögliche Intentionen und Handlungsoptionen diskutiert. Zum anderen wird eine empirische Plausibilitätsprüfung durchgeführt: Im Kontext dieser Arbeit wurden 31 Hintergrundgespräche mit politischen Akteuren geführt. Die Gesprächspartner waren an der Gestaltung der in den Fallstudien untersuchten Politiken entweder selbst direkt beteiligt oder aber sie verfügten über gute Einblicke in die Handlungslogiken der jeweiligen Entscheidungsträger. Sie wurden nach ihren Handlungsmotivationen und Einschätzungen gefragt, um zu verhindern, dass den politischen Entscheidungsträgern theoretisch konstruierte Intentionen zugeschrieben werden, die von den Akteuren selbst als unzutreffend abgelehnt werden.63
2.2.2 Bedingungsfaktoren responsiven Handelns Unter welchen Bedingungen verhalten sich Regierende responsiv? Eine theoretische Diskussion möglicher Handlungsziele politischer Akteure stellt den ersten Schritt zur Beantwortung dieser Frage dar. Im Anschluss daran wird abgeleitet, welche Verhaltensweisen sinnvoll und damit subjektiv rational erscheinen, um diese Ziele zu erreichen.
2.2.2.1 Responsivität durch rationale Antizipation Wolfgang C. Müller und Kaare Strøm (1999) unterteilen die in der Literatur zu findenden Modelle politischen Handelns je nach Handlungsziel in „voteseeking“, „office-seeking“ und „policy-seeking“. Anthony Downs ist in dieser Trias dem „vote-seeking“-Modell zuzuordnen: In seiner ökonomischen Demokratietheorie geht er davon aus, dass Politiker Wählerstimmen zu maximieren suchen. Vertreter des „policy-seeking“-Modells vermissen dabei die inhaltliche Dimension von Politik: Parteien wollen ihrer Ansicht nach bestimmte Politikziele durchsetzen (vgl. Strøm 1990; Wittman 1973). Vor allem die Basismitglieder einer Partei seien oft stark durch inhaltliche Gestaltungsziele motiviert (vgl. Laver, Schofield 1990, S. 28-34). Vertreter des „office-seeking“-Modells halten Downs wiederum entgegen, dass Parteien Wählerstimmen nicht endlos
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Zur Methodik der Gespräche siehe Kapitel 3.3.
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maximieren wollen, sondern nur soweit, bis sie sich sicher sind, die Wahl zu gewinnen und ein Regierungsamt zu erlangen (vgl. Riker 1962, S. 33). Die Annahme, dass Politiker in erster Linie die Regierungsmacht erlangen wollen, ist heute breit akzeptiert. Weniger Einigkeit besteht hinsichtlich der tiefer liegenden Gründe: Der egoistische Wunsch nach persönlichen Annehmlichkeiten, die mit einem Amt verbunden sind, kann ebenso als Motivation dienen wie das Bestreben, inhaltliche Politikziele effektiv umzusetzen. Das „policyseeking“-Modell ist somit nicht als Alternative, sondern als Spezifizierung des „office-seeking“-Modells zu sehen: „[F]or politicians who wish to affect public policy, it is almost always better to be in office than not“ (Müller, Strøm 1999, S. 6). Das Ziel im Amt zu bleiben oder ins Amt zu gelangen ist also zumindest instrumental. Vor diesem Hintergrund erscheint es aus Sicht der Regierenden sinnvoll bzw. subjektiv rational, die Präferenzen der Wählerschaft in ihrem Handeln zu berücksichtigen. Wie Bernard Manin in seinem Standardwerk „Principes du gouvernement représentatif“ schreibt: „[À] chaque moment du temps, les gouvernants ont intérêt à tenir compte dans leurs décisions présentes de la représentation anticipée de ce que sera le jugement futur des électeurs sur ces décisions. Par ce canal, la volonté des gouvernés entre dans les calculs des gouvernants“ (Manin 1996, S. 228). Die Regierenden verhalten sich demnach responsiv, da sie in ihrem Handeln das Wählerurteil antizipieren (vgl. ebenso Sartori 1987, S. 152). Diese Idee geht auf Friedrichs „Regel der antizipierten Reaktion“ zurück (vgl. Friedrich 1963, S. 199-215). Entscheidend hierfür ist weniger der prospektive, als vielmehr der retrospektive Charakter der Wahlen: Die Repräsentanten richten ihr Handeln also nicht deshalb an den Wählerwünschen aus, weil sie mit diesem Auftrag gewählt wurden, sondern weil sie befürchten abgewählt zu werden, wenn sie es nicht tun. Die Erklärung von Responsivität durch rationale Antizipation setzt voraus, dass die Regierenden die Bevölkerungsmeinung korrekt wahrnehmen (vgl. Thomassen, Schmitt 1999, S. 19). Wenn die Bevölkerungsmeinung stark schwankt oder nur knappe Mehrheiten aufweist, ist es für die Regierenden oft schwierig, die Präferenzen der Wählerschaft richtig zu erfassen. Wenn das Meinungsbild hingegen, wie in den Fallstudien der vorliegenden Arbeit, klare Mehrheiten zeigt, so erleichtert dies die korrekte Wahrnehmung der Mehrheitsmeinung (vgl. Clausen 1977). Anders als bei Downs’ ökonomischer Demokratietheorie wird bei der Erklärung von Responsivität durch rationale Antizipation kein „objektiv rationales“ Verhalten der Wähler vorausgesetzt: Unabhängig vom tatsächlichen Handeln der Wähler verhalten sich Politiker responsiv, weil sie um ihre Wiederwahl bangen
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(vgl. Fuchs 2000, S. 260; Sartori 1987, S. 152). Die Aufgabe der höchst strittigen Prämisse vom rationalen Wähler stellt einen klaren Vorteil dieses Ansatzes dar. Der Erklärung von Responsivität durch rationale Antizipation liegt also die Annahme zugrunde, dass Politiker wiedergewählt werden wollen. Gleichzeitig erscheint es plausibel, ihnen ein Mindestmaß an inhaltlichen Ambitionen zu unterstellen. Aller Wahrscheinlichkeit nach streben die Regierenden nicht danach, Marionetten der Bevölkerungsmeinung zu sein und – aus dem alleinigen Ziel der Wiederwahl heraus – jede ihrer Schwankungen nachzuvollziehen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass sie sowohl wiedergewählt werden wollen (durchaus auch egoistisch motiviert durch die Annehmlichkeiten des Amtes), als auch nach einem größtmöglichen Handlungsspielraum streben, um bestimmte Politikziele durchsetzen zu können (vgl. Maravall 1999, S. 154). Auf Spekulationen, ob sich Politiker im Falle eines Zielkonflikts eher für das Amt oder eher für das Politikziel entscheiden, kann für folgende Ableitung gänzlich verzichtet werden: Die Regierenden verhalten sich nur dann responsiv zur Bevölkerungsmeinung, wenn sie ihre Wiederwahl gefährdet sehen. Andernfalls würden sie ihre Handlungsfreiheit unnötig beschränken. Die Zusatzannahme, dass sich Regierende trotz des Bestrebens nach Wiederwahl eine größtmögliche Handlungsfreiheit bewahren wollen, ist von zentraler Bedeutung. Würde man alleine die Intention der Wiederwahl zugrunde legen, so müssten Politiker stets sklavisch der Bevölkerungsmeinung folgen und Responsivität wäre durch die formale Voraussetzung periodischer Wahlen quasi automatisch gesichert. Das institutionelle Arrangement der Wahlen alleine ist jedoch sicherlich nicht hinreichend für responsives Regierungsverhalten. Wenn dem so wäre, dürfte es eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten empirisch gar nicht geben. Offensichtlich müssen also zusätzliche Bedingungen erfüllt sein, damit sich Politiker responsiv verhalten. Wie Ursula Hoffmann-Lange feststellt, bieten sich den am Amtserhalt interessierten politischen Eliten angesichts einer ablehnenden Bevölkerungsmeinung grundsätzlich drei Handlungsoptionen – Responsivität, Führung und Depolitisierung: „So können die Eliten im Falle perzipierter Inkongruenzen versuchen, die Kongruenz entweder durch Anpassung an die vorherrschenden Präferenzen der Bevölkerung zu erhöhen oder durch politische Überzeugungsarbeit mit dem Ziel, die Einstellungen der Bevölkerung zu verändern. Neben solchen Anpassungsstrategien besteht auch noch die Möglichkeit, Diskrepanzen in den Zielvorstellungen durch Depolitisierung der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu entziehen“ (HoffmannLange 1991, S. 288).
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Geht man davon aus, dass die Regierenden nicht nur wiedergewählt, sondern auch ihren Handlungsspielraum behalten wollen, so erscheint Responsivität als die am wenigsten attraktive Option, da sie den politischen Handlungsspielraum am meisten beschneidet. Die Regierenden werden sich folglich nur dann responsiv verhalten, wenn es ihnen aufgrund einer akuten Gefährdung ihrer Wiederwahl unausweichlich scheint. Die weiterführende Frage muss daher lauten: Unter welchen konkreten Bedingungen fürchten Politiker um ihre Wiederwahl?
2.2.2.2 Die Medien als Agenda-Setter und Sprachrohr der Bürger Über eine Grundbedingung herrscht in der Forschung breiter Konsens: Ein Thema muss ein Mindestmaß an Salienz aufweisen, um potenziell wahlrelevant zu wirken und Politiker folglich zu responsivem Handeln zu motivieren. Anders als bei Referenden werden bei Wahlen stets Paketentscheidungen getroffen. Der Wähler sieht sich mit einer Fülle von politischen Problemen und unterschiedlichen Lösungsangeboten der Parteien konfrontiert (vgl. Eckstein, Pappi 1999, S. 328; Schmitt-Beck 1998, S. 297). Zwangsläufig muss er eine Priorisierung der Themen vornehmen. Lediglich als wichtig wahrgenommene politische Probleme werden am Wahltag seine Entscheidung beeinflussen. Während der europäischen Integration in ihren Anfangsjahren nur wenig Bedeutung im politischen Machtkampf zugesprochen wurde, hat sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass Europapolitik durchaus wahlrelevant werden kann. Stefano Bartolini (2005, S. 342) gibt sich in diesem Sinne überzeugt: „Are the European integration issues sufficiently important in the mind of the public? In a temporal perspective the answer is unquestionable yes.“ Die so genannte Agenda-Setting-Forschung befasst sich mit der Frage, wie Themen öffentliche und politische Wichtigkeit erlangen. Unterschieden wird begrifflich zwischen der formellen Agenda („the list of items which decision makers have formally accepted for serious consideration“, Cobb et al. 1976, S. 126), und der öffentlichen Agenda („issues which have achieved a high level of public interest and visibility“, Cobb et al. 1976, S. 126).64 Im Kontext dieser Arbeit ist vor allem die öffentliche Agenda relevant, die in entscheidendem Maße über die Themenauswahl der Massenmedien gesteuert wird („Agenda Setting“). Beeinflusst wird die wahrgenommene Wichtigkeit bestimmter Themen außerdem von gesellschaftlichen und politischen Akteuren, die gezielt versuchen, ein Problem auf der öffentlichen Agenda zu platzieren („Agenda 64
Für abweichende Definitionen und Differenzierungen von Agenden siehe Cobb, Elder 1983, S. 85-86; Jones 1994, S. 18. Zum Zusammenspiel von öffentlicher und formeller Agenda vgl. Kingdon 2003.
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Building“) oder von dieser zu verbannen („Agenda Denial“). Die Salienz eines Themas ist also nicht naturgegeben, sondern wird öffentlich ausgehandelt und – je nach Interessenlage – zu beeinflussen versucht: „Policy problems are not simply ‚givens‘, nor are they simply matters of the ‚facts‘ of a situation. They are matters of interpretation and social definition“ (Cobb, Elder 1983, S. 172, siehe ebenso Rochefort, Cobb 1993, S. 56; Schattschneider 1975, S. 66). Die massenmediale Gewichtung eines Themas beeinflusst nicht nur dessen Salienz, sondern auch die Relevanz, die der einzelne Bürger diesem Thema in seiner Wahlentscheidung zuspricht. Dieser Effekt wird als „Priming“ bezeichnet: „the more prominent an issue in the national information stream, the greater its weight in political judgments“ (Iyengar, Simon 1997, S. 250). Geht man vom Ziel der Wiederwahl aus, so haben die Regierenden vor allem dann Interesse daran, ein Thema prominent auf der öffentlichen Agenda zu platzieren, wenn sie sich eine Wertschätzung ihres Handelns durch die Wähler und letztendlich einen Wahlerfolg davon versprechen. Fürchten sie hingegen eine elektorale Bestrafung, weil ihre Politik in Widerspruch zur Bevölkerungsmeinung steht, so liegt eine Verbannung des Themas von der Agenda in ihrem Interesse.65 Medien müssen fortwährend aus einer Flut an Ereignissen einige wenige zur Berichterstattung auswählen.66 Die Publikationswürdigkeit eines Ereignisses wird gewöhnlich anhand bestimmter Kriterien („Nachrichtenfaktoren“, vgl. Galtung, Ruge 1965; Sande 1971) beurteilt, die gesellschaftspolitischen Akteuren Ansatzpunkte zur Beeinflussung bieten. Über die Definition eines Problems kann dessen Platzierung auf der öffentlichen Agenda zu steuern versucht werden (vgl. Jones 1994, S. 27).67 Aufgrund des großen Forschungskonsenses in diesem Punkt verzichtet die vorliegende Arbeit auf eine eigene empirische Überprüfung der Annahme, dass ein Thema eine zumindest moderate Salienz besitzen muss, damit sich die Regierenden responsiv verhalten. Den Fallstudien werden ausschließlich The-
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Kent Weaver (1986) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Strategien des „credit claiming“ und der „blame avoidance“. Zur so genannte Gatekeeper-Forschung vgl. Schulz 1990. Roger Cobb und Charles Elder (1983, S. 96-122) unterscheiden fünf Kriterien, anhand derer die Salienz eines Themas gezielt beeinflusst werden kann: Je breiter ein Thema definiert wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich jeder angesprochen fühlt. Je größer die Gruppe der Betroffenen erscheint, desto mehr Menschen werden diese Frage als wichtig erachten. Je weitreichender die Konsequenzen einer politischen Entscheidung scheinen, desto größer ihre Salienz. Je einfacher, nicht-technischer und verständlicher ein Problem definiert wird, desto mehr Menschen fühlen sich angesprochen. Je stärker ein Thema als einzigartig und nicht routinemäßig wahrgenommen wird, desto wichtiger erscheint es. Zur Entwicklung von „Problemkarrieren“ siehe auch Favre 1992; Felstiner et al. 1980/1981
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men von öffentlicher Bedeutung zugrunde gelegt.68 Die Platzierung eines Themas auf der Agenda ist allerdings stets veränderbar. Je nach Interessenlage können die politischen Akteure versuchen, die Salienz der jeweiligen Sachfrage weiter zu steigern oder aber zu mindern. Angenommen also, ein Thema hat Eingang in die öffentliche Diskussion gefunden und man unterstellt den Regierenden das Ziel der Wiederwahl – welche weiteren Bedingungen beeinflussen die Responsivität? Nicht nur ob die Medien über eine bestimmte Politik berichten, sondern auch wie sie eine Politik bewerten ist hierfür von Bedeutung. In dieser Arbeit wurde bereits an anderer Stelle das Konzept der öffentlichen Meinung eingeführt und der Einfluss der Massenmedien auf die Herausbildung dieser „herrschenden Meinung“ dargestellt (vgl. Kapitel 2.1.2). Im Fall einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten stellt sich somit die Frage, ob die Medien die Politik der Regierung unterstützen oder die ablehnende Haltung der breiten Bevölkerung teilen. Die Medien können in diesem Zusammenhang als Sprachrohr der Bürger fungieren: Sobald die Medien gemeinsam mit den Bürgern gegen eine bestimmte Politik opponieren, wirkt in demokratischen Systemen ein starker Handlungsdruck auf die politischen Entscheidungsträger (vgl. Neidhardt 1994, S. 7-8). Umgekehrt gilt: Fallen Medienmeinung und Bevölkerungsmeinung auseinander, so können sich unzufriedene Bürger nur schwer Gehör verschaffen. Sehen sie ihren Unmut medial nicht angemessen artikuliert, so bleibt ihnen noch die Möglichkeit direkter Proteste, beispielsweise in Form von Demonstrationen. Auch diese Art direkter Mobilisierung bedarf aber der medialen Berichterstattung, um flächendeckend wahrgenommen zu werden. Falls nur die Bevölkerung, nicht aber die Medien eine bestimmte Politik ablehnen, droht der Widerstand ungehört zu verpuffen.69
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Vgl. ausführlicher zur Fallauswahl Kapitel 3.1.2. Für diese Einschränkung spricht auch die bereits diskutierte konzeptionelle Vorüberlegung, dass man nur dann sinnvoll von einer „Meinung“ der Bevölkerung sprechen kann, wenn das jeweilige Thema von den Bürgern als wichtig empfunden wird. Vgl. Kapitel 2.1.3. Während die Massenmedien einst eine nahezu exklusive Stellung innehatten, wenn es um die effektive und flächendeckende Verbreitung von Informationen und Meinungen ging, wird diese Rolle zunehmend durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten des World Wide Webs geschmälert: So genannte „Web 2.0“-Anwendungen (z.B. Facebook oder Twitter) erlauben den Nutzern eine weitgehend ungefilterte Verbreitung ihrer Ansichten. Diese interaktiven und dezentralen Kommunikationswege werden in der Analyse aktueller und zukünftiger Entwicklungen verstärkt zu berücksichtigen sein. Im Zeitraum der hier untersuchten Fallstudien fungieren die klassischen Massenmedien – hinsichtlich der Rezeption durch die Regierenden und der Erzeugung eines politischen Handlungsdrucks – allerdings noch nahezu konkurrenzlos als Sprachrohr der Bevölkerung. Vgl. auch Stern 2007.
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Falls die Bevölkerung eine bestimmte Politik ablehnt, kommt den Medien in diesem Sinne eine wichtige Verstärkerfunktion zu. „Opinions need to be weighed, not counted“, zitiert James B. Lemert (1994, S. 46) einen politischen Entscheidungsträger: Die Medien erhöhen das politische Gewicht einer ablehnenden Bevölkerungsmeinung beträchtlich. Die im Kontext dieser Arbeit befragten politischen Entscheidungsträger gaben in großer Übereinstimmung an, dass die Medienmeinung ihrer Einschätzung nach zwar nicht mit der Bevölkerungsmeinung gleichzusetzen sei, letztere jedoch stark beeinflusse.70 Die Politiker sind sich somit der Prägekraft der Medien bewusst: Negative Beurteilungen der Massenmedien drohen eine weitere Verschlechterung der Bevölkerungsmeinung zu bewirken und, im schlimmsten Fall, auch die Wiederwahlchancen zu schmälern. Zusammenfassend kann vermutet werden, dass der Druck, sich responsiv zu verhalten, für die Regierenden groß ist, wenn nicht nur die Bevölkerungsmeinung, sondern auch die Medienmeinung eine bestimmte Politik ablehnt.
2.2.2.3 Das Angebot politischer Alternativen Die ökonomische Demokratietheorie nach Downs konzipierte Responsivität als ein sozial erwünschtes „Abfallprodukt“ des politischen Kampfes um Wählerstimmen. Diese Idee wurde in der Responsivitätsforschung lange Zeit kaum hinterfragt. Es findet jedoch, erstens, keineswegs zu jeder politischen Frage ein politischer Wettbewerb statt. Ebenso wenig ist, zweitens, der politische Wettbewerb ein eindimensionales, beliebig maximierbares, Phänomen, das im Optimalfall maximale Responsivität nach sich zieht. Im Folgenden sollen kurz die Überlegungen Stefano Bartolinis (1999, 2000) dargestellt werden, der sich mit der Sichtweise von Responsivität als „unintended social value of competition“ (Bartolini 1999, S. 448) mehrfach kritisch auseinandersetzte. Bartolini (1999, S. 453) entwickelt verschiedene Kriterien, die ein politischer Wettbewerb seiner Ansicht nach erfüllen muss, damit sich die Regierenden responsiv verhalten. Hierzu zählen, neben der demokratischen Grundvoraussetzung zugangsoffener, freier und fairer Wahlen („electoral contestability“),
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Wie Hans Mathias Kepplinger (2002, S. 364-365) ausführt sind Politiker besonders anfällig für den so genannten „Third-Person-Effect“: Dieser bezeichnet den Umstand, dass die meisten Menschen glauben, die Massenmedien hätten auf andere Personen einen größeren Einfluss als auf sie selbst. Da Politiker in der Regel den Medien besonders exponiert sind, kann dies leicht zu einer Überschätzung der Bevölkerungsreaktionen bezüglich des eigenen politischen Handelns führen.
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die Verwundbarkeit der Amtsinhaber („electoral vulnerability“) und eine prinzipielle Verfügbarkeit der Wähler („electoral availability“). Das Kriterium der „electoral vulnerability“ entspricht dem schon mehrfach genannten Argument, dass die Regierenden ihr Handeln nur dann an den Präferenzen der Wähler ausrichten werden, wenn sie eine elektorale Sanktion fürchten (Bartolini 1999, S. 454). Damit sich die Regierenden verwundbar fühlen, müssen die Bürger prinzipiell willens sein, mit ihrer Wahlentscheidung zu belohnen oder zu bestrafen. Wenn nicht zumindest ein Teil der Wähler bereit ist, die Entscheidung abhängig vom politischen Wettbewerb zu fällen, fehlt den Politikern jeglicher Anreiz für responsives Verhalten – es würde ja ohnehin nichts am Ausgang der Wahlen ändern (Bartolini 1999, S. 461). Die prinzipielle Bereitschaft zur Anpassung der Wahlentscheidung bezeichnet Bartolini als „electoral availability“. Der „verfügbare“ Wähler muss nicht unbedingt informiert sein oder über eine gute Urteilskraft verfügen. Er ist demnach keinesfalls mit dem rationalen Wähler im Downs’schen Sinne gleichzusetzen. Wie Bartolini ausführt, kann ein Wechselwähler gänzlich uninformiert und ein treuer, nichtwechselbereiter Wähler im Gegenzug sehr gut informiert sein. Der verfügbare Wähler ist lediglich dadurch gekennzeichnet, dass er beeinflussbar ist und seine Stimme noch nicht fest vergeben hat (Bartolini 1999, S. 466). Geht man nun von einem offenen Wettbewerb, verwundbaren Amtsinhabern und verfügbaren Wählern aus, so wird das vierte Kriterium eines politischen Wettbewerbes relevant: Die Unterscheidbarkeit des politischen Angebots („decidability of the offer“), von Bartolini (2000, S. 33) definiert als „the level of policy or issue position differentiation among parties, and the visibility and clarity of these differences for the voter.“ Sind die Politikangebote der Parteien identisch oder ist ihre Differenz für den Bürger nicht wahrnehmbar, so ist eine gezielte Belohnung oder Bestrafung per Stimmvergabe nicht möglich: „So far responsiveness assumes contestability, and it depends on vulnerability. The latter requires voters’ availability. Now, the next step is to deduce what motivates the available voter to act for or against the incumbent government or any party/candidate. This must be the differentiation of the offer […]. If products are not differentiated (or their difference is not perceived), voters can punish or reward at random, and no responsiveness will be achieved.“ (Bartolini 1999, S. 454)
Diese vier Bedingungen – „contestability“, „vulnerability“, „availability“ und „decidability“ – kennzeichnen Bartolini zufolge einen politischen Wettbewerb. Eine gleichzeitige Steigerung dieser Faktoren hält er weder für möglich noch für wünschenswert. Er argumentiert, dass nicht einfach eine Maximierung des politischen Wettbewerbs angestrebt werden könne, um als Resultat eine maximale Responsivität zu erlangen (Bartolini 1999, S. 437). Ein „perfekter“ Wett-
2.2 Responsivität erklären
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bewerb hätte zur Folge, dass sich alle Parteien dem Median-Voter annähern. Dann wäre jedoch keine Unterscheidbarkeit des politischen Angebots mehr gegeben – am Ende würden alle Parteien exakt dasselbe anbieten und die „decidability“ ginge gegen null. Wenn aber alle Parteien exakt dasselbe anbieten, kann man nicht mehr von einem Wettbewerb sprechen: „At its perfection, competition ceases to exist and denies itself“ (Bartolini 2000, S. 34). Politik enthalte immer auch kooperative Elemente, argumentiert Bartolini weiter: In vielen Situationen hätten politische Akteure ein Interesse daran, nicht zu konkurrieren, sondern zu kooperieren und Absprachen zu treffen (Bartolini 2000, S. 51). Auf die Streitbarkeit des politischen Wettbewerbes, die eigene Verwundbarkeit sowie die Verfügbarkeit des Wählers haben die Regierenden in der Regel wenig Einfluss. Zentraler Ansatzpunkt einer strategischen Steuerung des politischen Wettbewerbes ist daher die Unterscheidbarkeit des politischen Angebotes. Die Arbeit fokussiert sich auf das politische Angebot der „etablierten“71 Parteien, da Wahlentscheidungen – wie bereits besprochen – stets Paketentscheidungen darstellen. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass ein Wähler, der sich grundsätzlich im Spektrum der etablierten Parteien verankert sieht, eine extremistische Partei wählt, nur weil diese seine Sichtweise in einer einzelnen europapolitischen Frage besonders gut widerspiegelt. Den Verlust ihres Amtes müssen die Regierenden vor allem dann fürchten, wenn den Bürgern seitens der etablierten Parteien politische Alternativen geboten werden. Ronald Inglehart (1970, S. 766) beobachtete am Beispiel der britischen Europapolitik treffend: „[A]s long as all three leading parties remain committed to entry into the Common Market, none of them risks paying a political price for their stand. The situation would be quite different if one of them broke the cartel.“ Eine geringe Unterscheidbarkeit des politischen Angebotes kann sich von selbst einstellen, wenn alle etablierten Parteien aus Überzeugung denselben Standpunkt vertreten. Sie kann aber auch gezielt herbeigeführt werden, wenn die etablierten Parteien eine bestimmte Frage aus dem politischen Wettbewerb heraushalten wollen – beispielsweise weil ihnen andernfalls die nationale Sicherheit oder Einheit gefährdet scheint. Da die Konflikthaftigkeit eines Themas dessen Nachrichtenwert erhöht (vgl. Kunczik, Zipfel 2001, S. 247), hat eine Geringhaltung des politischen Wettbewerbes in der Regel nicht nur ein mangelndes politisches Angebot, sondern auch eine Schwächung der Salienz zur Folge. Diesen Überlegungen folgend kann der bereits eingeführte (vgl. Kapitel 2.2.2.1) Begriff der „Depolitisierung“ konkreter gefasst werden: Er beschreibt
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Zur Operationalisierung des Begriffs der „etablierten Parteien“ siehe Kapitel 3.2.3.
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2 Analyseraster
den Versuch, ein Thema sowohl aus dem politischen Wettbewerb als auch von der öffentlichen Agenda zu verbannen. Sind sich die Parteien nicht einig, ob ein bestimmtes Thema Gegenstand der Auseinandersetzung sein sollte, so entsteht ein Kampf um die Deutungshoheit. Wenn die Regierungspolitik in Widerspruch zur Bevölkerungsmeinung steht, ist es gut möglich, dass nur die Regierung an einer Schwächung der „decidability“ interessiert ist, nicht aber die Opposition. Bartolini (2000, S. 47) nennt vier Strategien, mit denen die Unterscheidbarkeit des politischen Angebotes herabgesetzt werden kann: Erstens die Formulierung besonders vager Positionen: Wenn die Positionierung der Parteien für den Wähler schlecht erkennbar ist, ist die „decidability“ naturgemäß gering. Zweitens die Transformation eines Positionsthemas in ein Valenzthema: Die Unterscheidbarkeit des politischen Angebots wird geschwächt, wenn es nur noch um die Kompetenz der Problemlösung geht, nicht mehr darum, ob man für oder gegen etwas ist. Drittens die „Zensur“ der politischen Tagesordnung: Wenn die Infragestellung einer bestimmten Politik tabuisiert wird, führt dies zu einer Einschränkung des politischen Angebotes. Viertens die Definition eines Problems als unpolitisch: Wenn ein Sachverhalt nicht mehr als politisches sondern beispielsweise als juristisches Problem wahrgenommen wird, werden auch die Lösungen nicht mehr im politischen Bereich gesucht. Die vorliegende Arbeit schließt sich Bartolinis Feststellung an, dass politischer Wettbewerb nicht beliebig maximierbar ist. Eine Aussage nach dem Motto „je größer der Wettbewerb, desto responsiver das Regierungsverhalten“ ergibt demnach wenig Sinn. Wie gezeigt wurde, beinhaltet das Konzept des politischen Wettbewerbes verschiedene, einander zum Teil widersprechende, Dimensionen. Die Arbeit bezieht sich, wenn von politischem Wettbewerb die Rede ist, vor allem auf das, was Bartolini „decidability“ nennt. Auch hinsichtlich dieser einen Dimension kann es nicht um eine Maximierung gehen. Doch ist, so das Argument dieser Arbeit, der Druck zu responsivem Handeln dann besonders groß, wenn eine Streitfrage Eingang in den politischen Wettbewerb findet und das Angebot für den Wähler unterscheidbar ist. Mit den Worten Elmar E. Schattschneiders: „Above everything, the people are powerless if the political enterprise is not competitive. It is the competition of political organization that provides the people with the opportunity to make a choice“ (Schattschneider 1975, S. 137, Hervorhebung im Original).
2.3 Führung erklären
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2.3 Führung erklären 2.3 Führung erklären Effektive Führung erfordert grundsätzlich zweierlei: Jemanden, der führt, und jemanden, der folgt. Unter welchen Umständen ist damit zu rechnen, dass die Regierenden überhaupt versuchen, aktiv zu führen? Von den drei Handlungsoptionen Responsivität, Führung und Depolitisierung wurde Responsivität bereits – aus Sicht der Regierenden – als unattraktivste Variante identifiziert, da sie die Handlungsfreiheit am stärksten einschränkt. Aber auch Führung ist aus Sicht der Regierenden weniger attraktiv als Depolitisierung: Sobald Ängste der Bürger aufgegriffen und zu entkräften versucht werden, Stellungnahmen abgegeben und Argumente ausgetauscht werden – kurz, sobald aktiv um eine Politik geworben wird – erhöht sich die Sichtbarkeit eines Themas. Für die Regierenden birgt diese Strategie ein beträchtliches Risiko: Ist die öffentliche Aufmerksamkeit erst einmal auf ein Thema gelenkt, so ist der Druck zu responsivem Handeln bei einem Scheitern der Überzeugungsversuche groß. Daher ist davon auszugehen, dass die Regierenden unpopuläre Themen zunächst von der öffentlichen Agenda zu verbannen und aus dem parteipolitischen Wettbewerb herauszuhalten suchen: „The best way for policymakers to keep a blame-generating issue from hurting them politically is to keep it off the agenda in the first place“ (Weaver 1986, S. 384). Sollte sich dieser Versuch als nicht erfolgreich erweisen, wäre Führung – aus Sicht der Regierenden – die zweitattraktivste Handlungsoption.
2.3.1 Theoretische Erklärungsmodelle Die nächsten Seiten befassen sich vor allem mit der Folgebereitschaft der Bevölkerung: Unter welchen Umständen kann der Versuch politischer Führung effektiv wirken? Um diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst einige grundlegende Annahmen zu den Mechanismen der Meinungsbildung und des Meinungswandels zu diskutieren. Wertende Einstellungen, um die es in dieser Arbeit geht, sind in der Regel leichter zu beeinflussen als Verhaltensweisen, aber schwerer als rein kognitive Vorstellungen.72 In den Prozess der Meinungsbildung spielen die persönlichen Eigenschaften eines Individuums ebenso mit hinein wie sein soziales Umfeld und die medialen Reize, denen es ausgesetzt ist. Dem Einfluss der Medien auf die Meinungsbildung wird seit dem Aufkommen der Massenmedien ein besonders intensives wissenschaftliches Inter72
Zu dieser „Wirkungshierarchie“ vgl. Schönbach 2002, S. 118.
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esse zuteil. Die Forschungsergebnisse waren im Lauf der Jahre sehr wechselhaft: Das Spektrum reicht von Allmachtsvorstellungen bis hin zur Annahme einer weitgehenden Wirkungslosigkeit der Medien. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde noch von einem simplen Reiz-Reaktions-Schema73 ausgegangen, wonach medial kommunizierte Botschaften über eine lineare Kausalkette bei allen Rezipienten eine identische Wirkung auslösen. In den 1940er Jahren wurde diese deterministische Annahme grundlegend in Frage gestellt (vgl. Lazarsfeld et al. 1944). Individuelle Persönlichkeitsmerkmale und Charakteristika des sozialen Umfelds eines Menschen wurden nunmehr verstärkt berücksichtigt und als wirkungsmodifizierender Filter verstanden („Stimulus-Organismus-Response“-Modell, vgl. Kunczik, Zipfel 2001, S. 289). Auch wenn Kommunikation immer noch als ein einseitiger Prozess74 konzipiert wurde, interessierte sich die Forschung vermehrt für sozialpsychologische Phänomene wie die selektive Zuwendung zu Medieninhalten, die Selektivität der Wahrnehmung und die Selektivität des Erinnerns (vgl. Maletzke 1963, S. 132133). Das einfache Reiz-Reaktions-Modell wurde somit um potenzielle „Störfaktoren“ erweitert, das Individuum verblieb jedoch in der passiven Rolle des Empfängers (vgl. Jäckel 2008, S. 73-78). Als Paradigmenwechsel in der Medienwirkungsforschung galt der ab den 1960er Jahren populäre „Uses-and-Gratifications“-Ansatz:75 „This is the approach that asks the question, not ‚What do the media do to people‘ but, rather, ‚What do people do with the media?‘“ (Katz, Foulkes 1962, S. 378, Hervorhebung im Original). Es wurde davon ausgegangen, dass der Mediennutzer zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung intentional aus der Fülle an Medienangeboten auswählt (vgl. Blumler, Katz 1974; Rosengren et al. 1985). Da dieser Ansatz einen hohen Grad an Bewusstheit und Entscheidungsautonomie des Rezipienten voraussetzt, blieb jedoch die Kritik der Naivität und Wirklichkeitsferne nicht aus (vgl. Jäckel 2008, S. 82).
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Auch als „Stimulus-Response-Modell“, „Magic Bullet Theory“, „Transmission Belt Theory“ oder „Hypodermic Needle Concept“ bezeichnet: Diese bildhaften Termini sollen zum Ausdruck bringen, dass die Kommunikatoren auf wehrlose Rezipienten zielen und bei einem „Treffer“ eine entsprechende Wirkung auslösen, dass Wirkungen wie mit einem Transmissionsriemen übertragen werden bzw. dass den Rezipienten die Medienwirkung wie mit einer Spritze injiziert wird. Vgl. Kunczik, Zipfel 2001, S. 287. Auch die berühmte „Lasswell-Formel“ („Who says what in which channel to whom with what effect?“, vgl. McQuail, Windahl 1981, S. 10) konzipiert Kommunikation als einen zwar mehrstufigen, aber einseitigen Vorgang vom Sender zum Empfänger. Pionierarbeit leistete Herta Herzog (1941), eine Mitarbeiterin von Paul F. Lazarsfeld, als sie in ihrer Untersuchung „On Borrowed Experience“ nach den Gründen für die Beliebtheit von Radio-Seifenopern fragte. Herzog sprach den Rezipienten damit ein aktives Nutzungsverhalten zu, das der Befriedigung eigener Bedürfnisse dient.
2.3 Führung erklären
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Zu vermitteln versucht schließlich der „dynamisch-transaktionale Ansatz“ (vgl. Früh 1991; Früh, Schönbach 1982, 2005), der sowohl die Medien als auch das Publikum in einer aktiven Rolle sieht. Medienwirkungen ergeben sich demnach aus einem Wechselspiel von Medienangeboten und Publikumserwartungen. Zum einen sind die Medien vom Konsumenten abhängig: Über indirekte Feedback-Prozesse, wie etwa Einschaltquoten, erhalten sie Rückmeldungen über die Interessen und Bedürfnisse des Publikums. Zum anderen beeinflussen die Medien den Rezipienten: Sie übermitteln nicht nur neutrale Informationen, sondern konstruieren eine bestimmte Sicht auf die Welt. Diese von den Medien gelieferten Konstruktionen liefern den Rohstoff, aus dem sich der Rezipient seine eigene Vorstellung von der sozialen Wirklichkeit bildet. Es findet also eine dynamische, indirekte und gegenseitige Beeinflussung statt. Die Komplexität des politischen Kommunikationsprozesses nimmt weiter zu, wenn man neben den beschriebenen dynamischen Wechselwirkungen zwischen Massenmedien und Rezipienten auch noch die Effekte interpersonaler Kommunikation mit einbezieht: Im politischen Bereich wird zwar ein Großteil der kommunikativen Botschaften auf Massenebene ausgesandt, doch erreichen diese Botschaften nicht unbedingt alle Menschen auf direktem Wege. Gespräche mit Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen spielen vor diesem Hintergrund eine wichtige Rolle in der Informationsverarbeitung und der Meinungsbildung des Einzelnen. In den letzten Jahren haben zudem internetbasierte soziale Netzwerke an Bedeutung gewonnen, bei denen die Grenze zwischen Massenkommunikation und interpersonaler Kommunikation verschwimmt. Massenkommunikative Einflüsse und interpersonale Einflüsse schließen sich gegenseitig nicht aus: Beide wirken an der Meinungsbildung des Individuums mit und beide sind ihrerseits in ihrer Wirkungsweise von persönlichen Eigenschaften des Rezipienten abhängig. Während jedoch manche Autoren die Massenkommunikation für letztlich ausschlaggebend im Prozess der Meinungsbildung halten, betonen andere die entscheidende Wirkung interpersonaler Kommunikationsprozesse. Die Forschungskontroverse dreht sich somit um Akzentsetzungen. Im Folgenden sollen beide Konzeptionen kurz vorgestellt werden.
2.3.1.1 Interpersonale Kommunikation Der Begriff der interpersonalen Kommunikation bezeichnet Kommunikationsprozesse, die ohne Vermittlungsinstanz erfolgen. Die interpersonale Kommunikation richtet sich in der Regel an einen oder wenige Adressaten, die unmittelbar auf die erhaltenen Botschaften reagieren können. Politische Gespräche und Diskussionen zwischen Personen, die in direktem Kontakt miteinander stehen
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und wechselseitig Argumente austauschen können, fallen unter diese Beschreibung (vgl. Schmitt-Beck 2002, S. 65-66). Während noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorstellung von der Allmacht der Medien dominierte, relativierten mehrere einflussreiche Arbeiten der 1940er bis 1960er Jahre diese Annahme. Zu nennen ist hier vor allem die Studie „The People’s Choice“ von Paul F. Lazarsfeld, Bernard Berelson und Hazel Gaudet (1968). Die Autoren analysierten den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1940 im Landkreis Erie County und stellten dabei fest, dass die meinungsbildenden Effekte der Medien begrenzt waren. Rückendeckung erhielt die These von der schwachen Medienwirkung unter anderem von Joseph T. Klapper (1960), der in seinem viel beachteten Literaturüberblick ebenfalls resümierte, dass eine massenmedial bewirkte Meinungsänderung nur äußerst selten stattfinde. Die Forschergruppe um Lazarsfeld kam in „The People’s Choice“ zu dem Schluss, dass die Mediennutzung eher eine Verstärkung, denn eine Veränderung bestehender Meinungen auslöse. Die im Rahmen der Studie befragten Personen nannten auffallend häufig Gespräche mit Personen aus ihrer Umgebung als Informationsquelle. Insbesondere unentschlossene Wähler und solche, die ihre Wahlabsicht während des Wahlkampfes revidierten, betonten die Wichtigkeit interpersonaler Kommunikation für ihre Meinungsbildung. Lazarsfeld und Kollegen entwickelten daraufhin das Konzept der „Meinungsführer“. Die Kategorisierung erfolgte auf Basis einer Selbsteinschätzung: Wer angab, kürzlich um seinen politischen Rat gefragt worden zu sein und/oder versucht habe, jemanden von seinen politischen Anschauungen zu überzeugen, wurde als Meinungsführer eingeordnet. Die Bürger, so das Argument der Autoren, würden nicht direkt von den Medieninhalten erreicht. Die Botschaften der Massenmedien würden stattdessen in einem ersten Schritt zu den Meinungsführern fließen und von dort aus erst weiter, in einem zweiten Schritt, zu der breiten Masse der Bevölkerung („Zwei-Stufen-Fluss der Kommunikation“). Das Konzept der Meinungsführer war ein eher zufälliges Ergebnis von „The People’s Choice“, wurde aber im Nachhinein gezielt ausgearbeitet. So versuchte Robert King Merton im Rahmen der „Rovere Study“ explorativ zu ermitteln, welche Personen als Meinungsführer wirken (vgl. Merton 1968, S. 441-474). Anders als die Lazarsfeld-Gruppe legte er hierfür nicht Selbst-, sondern Fremdeinschätzungen zugrunde. Auch die Forschergruppe um Lazarsfeld differenzierte die Idee der Meinungsführerschaft weiter aus (vgl. Berelson et al. 1954; Katz, Lazarsfeld 1955; Menzel, Katz 1955). Dabei zeigte sich, dass die Meinungsführer ihrerseits ebenfalls von interpersonalen Kontakten beeinflusst wurden. Der Ansatz vom Zwei-Stufen-Fluss entwickelte sich zu einem „Multi-StepFlow“-Modell.
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Ernsthaft in Frage gestellt wurde die Informationsübertragungsfunktion der Meinungsführer von den so genannten „Diffusionsstudien“ (vgl. Deutschmann, Danielson 1960). Diese überprüften, aus welcher Quelle die Bevölkerung zuerst von bestimmten Ereignissen erfahren hatte. Im Ergebnis wurde festgestellt, dass die Menschen ihre Informationen direkt aus den Massenmedien bezogen, was Renckstorf (1970, S. 325) zu der Schlussfolgerung veranlasste, dass die ZweiStufen-Fluss-Hypothese heute „keine praktische Relevanz“ mehr beanspruchen könne. Eine systematische Differenzierung zwischen Informationsübertragungsund Beeinflussungsprozessen, nahm Verling C. Troldahl (1966) mit seinem „Two-Cycle-Flow“-Modell vor. Auch Troldahl ging – anders als Lazarsfeld – davon aus, dass massenmediale Botschaften die breite Bevölkerung direkt erreichen. Die Menschen würden erst dann die Meinungsführer um Rat fragen, wenn sie Widersprüchlichkeiten feststellen (Troldahl 1966, S. 613). Als eine Schwächung des Argumentes vom interpersonal dominierten Kommunikationsund Überzeugungsprozess kann ein weiterer Befund Troldahls gewertet werden, den er in Zusammenarbeit mit Robert van Dam erlangte: Die Autoren stellten fest, dass die Bevölkerung nicht ausschließlich in „opinion givers“ und „opinion askers“ einzuteilen sei. Mehr als zwei Drittel der Menschen klassifizierten Troldahl und van Dam als „inactives“. Diese dritte Kategorie von Bürgern entzöge sich dem interpersonalen Kommunikationsfluss und sei fast ausschließlich über massenmediale Botschaften ansprechbar. Außerdem sei die Rolle eines Meinungsführers keineswegs fix, stellten die Autoren fest. Es finde vielmehr ein wechselseitiger Austausch und Rollenwechsel statt („opinion sharing“, vgl. Troldahl, van Dam 1965, S. 633). Diese Vielschichtigkeit der wechselseitigen Austauschprozesse im Rahmen aller relevanten sozialen Beziehungen, beispielsweise mit Familienmitgliedern, Freunden, Kollegen und Nachbarn, versuchen so genannte Netzwerkanalysen einzufangen (vgl. Schenk 1995).
2.3.1.2 Massenkommunikation Massenkommunikation ist nicht automatisch gleichzusetzen mit Fernsehen, Hörfunk und Presse. Als vermittelnde Instanzen fungieren beispielsweise auch Wahlprogramme oder Werbemittel politischer Parteien (vgl. Kepplinger 2002, S. 364). Konzeptionell entscheidend ist, dass die Kommunikation ohne direkte Interaktionsmöglichkeit zwischen Sender und Empfänger erfolgt (vgl. Luhmann 1996, S. 11; Maletzke 1963, S. 32). In der Forschungspraxis wird das Phänomen der Massenkommunikation allerdings überwiegend am Beispiel der klassischen Massenmedien untersucht.
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Vor dem Hintergrund der lange Zeit vorherrschenden Vorstellung begrenzter Medieneffekte, unternahm die bereits an anderen Stellen dieser Arbeit erwähnte Agenda-Setting-Forschung (vgl. Kapitel 2.2.2.2) den zunächst bescheidenen Versuch, eine Thematisierungsfunktion der Medien nachzuweisen. Bernard Cohen meinte in einem viel zitierten Ausspruch zur Wirkungsweise der Presse: „It may not be successful much of the time in telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its readers what to think about“ (Cohen 1963, S. 13, Hervorhebung im Original). Die so genannte „Chapel-Hill“-Studie von McCombs und Shaw (1972) leistete hier Pionierarbeit: Die Autoren befragten im Jahr 1968 im Ort Chapel Hill in North Carolina eine Gruppe noch unentschiedener Wähler in der Endphase des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes nach ihren Themenprioritäten und verglichen diese mit der Medienagenda. Die Übereinstimmung erwies sich als sehr hoch. Während die „Chapel-Hill“-Studie methodisch noch Schwachstellen aufwies, unter anderem wegen der kleinen Stichprobengröße und dem statischen Untersuchungsdesign, konnte die Agenda-Setting-Hypothese von einer Vielzahl an nachfolgenden Studien robust bestätigt werden (vgl. Jäckel 2008, S. 169-197). Der Ansatz wurde entsprechend weiterentwickelt: Namentlich Shanto Iyengar wies gemeinsam mit Kollegen anhand experimenteller Untersuchungen nach, dass die Massenmedien nicht nur die Themensetzung der öffentlichen Agenda beeinflussen, sondern auch die Art und Weise, wie die Bürger diese Themen bewerten (vgl. Iyengar 1991, 1997; Iyengar, Kinder 1987; Iyengar, Simon 1997). Zum einen stellten sie den schon erwähnten Priming-Effekt fest: Die massenmediale Gewichtung eines Themas wirkt sich auf die Relevanz aus, die der einzelne Bürger diesem Thema in seiner Wahlentscheidung beimisst. Zum anderen befasste sich Iyengar intensiv mit Effekten des massenmedialen „Framing“. Framing wird auch als „second dimension of agenda setting“ (McCombs, Estrada 1997, S. 247) bezeichnet: Während die herkömmliche Agenda-Setting-Forschung beschreibt, wie verschiedene Themen auf der Tagesordnung gewichtet werden, widmet sich die Forschung zum Framing der Frage, welche Aspekte eines Themas besondere Betonung finden. Je nach Framing resultieren unterschiedliche Verantwortungszuschreibungen für ein Problem und dessen Lösung (vgl. Scheufele 2004). Die zeitweilig verdrängte These einer starken Medienwirkung erlebte mit der Agenda-Setting-Forschung eine neue Blüte. Angesichts der empirischen Befunde reformulierten Maxwell McCombs und George Estrada (1997, S. 247) Cohens berühmten Ausspruch zur Medienwirkung: „[T]he media may not only tell us what to think about, they also may tell us what to think about it, and even what to do about it.“
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Einen Meinungswandel erzwingen können die Medien jedoch nicht: Zu vielfältig sind die intervenierenden Variablen: Abgesehen davon, dass die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft medialer Botschaften von diversen Kriterien seitens des Kommunikators abhängt (vgl. Lupia, McCubbins 1998, S. 9),76 gilt es spätestens seit der Aufgabe des einfachen Reiz-Reaktions-Schemas als allgemein anerkannt, dass auch seitens des Rezipienten zahlreiche Faktoren die Wirkung medialer Botschaft beeinflussen können. Neben soziodemographischen Kriterien wie Alter oder Geschlecht können beispielsweise das politische Interesse oder die Art der Mediennutzung die Medienwirkung modifizieren (vgl. Kunczik, Zipfel 2001, S. 360). Zudem gilt es Wechselwirkungen mit eventuellen Effekten interpersonaler Kommunikation zu bedenken.
2.3.1.3 Die theoretische Verortung dieser Arbeit Wie zuvor schon angedeutet, schließen sich Ansätze, die den Einfluss interpersonaler Kommunikation betonen, und Ansätze, die die Wirkungen der Massenkommunikation betonen, keineswegs aus. Silvo Lenart (1994, S. 4) beklagt vor diesem Hintergrund den mangelnden Dialog zwischen beiden Forschungstraditionen: „Their relationship has been usually one of conflict and polemic, as proponents of the one side either ignore the other or present evidence as to how and why one source is of greater political consequence.“ Um Synergien zwischen beiden Forschungstraditionen zu schaffen, versucht Lenart (1994, S. 111-112), alle massenkommunikativen, inter- und intrapersonalen Einflussfaktoren im Modell eines „total information flow“ zu integrieren. Lenart selbst spricht in diesem Zusammenhang von „Myriaden“ an interaktiven Einflussprozessen. Um hypothesengestützte Erklärungen zu finden, müssen zwangsläufig wieder Vereinfachungen vorgenommen werden: Andernfalls wäre die „Erklärung“ eine schlichte Nachzeichnung der Realität und am Ende ebenso komplex wie diese. „Some kinds of communication on some kinds of issues, brought to the attention to some kinds of people under some kinds of conditions, have some kinds of effects“ – so lautet eine berühmte Feststellung Bernard Berelsons (1960, S. 521, Hervorhebungen im Original). Derart vage Wirkungsaussagen können freilich nicht Ziel der Wissenschaft sein. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich aus Abstraktionsgründen ganz auf die massenkommunikativen Voraussetzungen für effektive politische Führung. 76
Prägend waren in dieser Hinsicht die Arbeiten des Psychologen Carl Hovlands (1953) im Kontext des „Yale Program of Research on Communication and Attitude Change“. Für eine kritische Diskussion dieses Forschungsprogramms siehe Jäckel 2008, S. 147-168.
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Zweifellos wirken die erwähnten inter- und auch intrapersonalen Einflussfaktoren auf die Meinungsbildung des Einzelnen ein. Werden sie ausgeblendet, kann daher nicht der Anspruch erhoben werden, individuelle Meinungsbildungsprozesse zu erklären. Im Zentrum der Analyse stehen gesamtgesellschaftliche Phänomene: Wie kann ein Umschwung der Bevölkerungsmeinung erklärt werden? Sicher reagieren nicht alle Individuen in gleicher Weise quasi ferngesteuert auf massenkommunikative Impulse. Bestimmte massenkommunikative Rahmenbedingungen können aber einen Wandel der Bevölkerungsmeinung erleichtern oder erschweren.
2.3.2 Bedingungsfaktoren effektiver Führung Unter welchen Bedingungen können politische Führungsversuche der Regierenden effektiv wirken? Diese Frage soll auf den folgenden Seiten erörtert werden. In einem ersten Schritt wird der „cue-taking“-Ansatz von John Zaller vorgestellt. Darauf aufbauend wird abgeleitet, welche Konstellationen in der medialen und der politischen Arena effektive Führung befördern bzw. behindern.
2.3.2.1 Effektive Führung durch Widerspruchsfreiheit John Zaller entwickelte in seinem 1992 publizierten Buch „The Nature and Origins of Mass Opinion“ ein Modell der politischen Meinungsbildung, das die Komplexität dieses Prozesses zwar berücksichtigt, sich aber dennoch auf konkrete und nachprüfbare Aussagen herunter brechen lässt. Diese ausbalancierte Gratwanderung macht ihn zu einer beliebten theoretischen Fundierung empirischer Arbeiten (vgl. Gabel, Scheve 2007b; Schmitt-Beck 2002; Steenbergen et al. 2007, vgl. kritisch hierzu Stokes 2002, S. 127). „Every opinion is a marriage of information and predisposition: information to form a mental picture of the given issue, and predisposition to motivate some conclusion about it“, so lautet Zallers (1992, S. 6) Grundverständnis der Meinungsbildung. Den Prozess, wie neue Informationen empfangen, akzeptiert und als Meinung gebildet werden, beschreibt er in seinem „Receive-AcceptSample“(„RAS“)-Modell. Hierfür entwickelt er vier Axiome: Je stärker jemand kognitiv Anteil an einem Thema nimmt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er Botschaften zu diesem Thema wahrnimmt („Reception Axiom“, Zaller 1992, S. 42). Wenn die wahrgenommenen Informationen nicht konsistent mit den politischen Prädispositionen einer Person sind, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese
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abgelehnt werden. Diese Ablehnung tritt allerdings nur dann ein, wenn die Person über ausreichend Kontextinformationen verfügt, um eine Beziehung zwischen der neu empfangenen Information und den eigenen Prädispositionen herstellen zu können („Resistance Axiom“, Zaller 1992, S. 44). Wenn neue Informationen empfangen werden oder ein Thema neu durchdacht wird, so aktualisiert dies die Überlegungen zu dem Thema und erhöht ihre Greifbarkeit („Accessibility Axiom“, Zaller 1992, S. 48). Nach ihrer Meinung befragt geben die Menschen in erster Linie aktuell gut greifbare Überlegungen an („Response Axiom“, Zaller 1992, S. 49). Zusammenfassend: „Opinion statements, as conceived in my four-axiom model, are the outcome of a process in which people receive new information, decide whether to accept it, and then sample at the moment of answering questions“ (Zaller 1992, S. 51). Für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist vor allem die Frage relevant, unter welchen Bedingungen ein Meinungswandel bewirkt werden kann. Laut Zaller ist hierfür entscheidend, ob den Menschen eine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Sichtweisen gegeben wird: „For the absence of such choice, the public can do little more than follow the elite consensus on what should be done“ (Zaller 1992, S. 8). Zallers Ansatz wird in der Literatur auch als „cue-taking“-Ansatz bezeichnet, da er die Meinungsbildung der breiten Masse über die Wahrnehmung und Akzeptanz bzw. Ablehnung elitärer Kommunikationsimpulse zu erklären versucht. Sein zentrales Argument lautet: „[W]hen elites uphold a clear picture of what should be done, the public tends to see events from that point of view […]. When elites divide, members of the public tend to follow the elites sharing their general ideological or partisan predisposition“ (Zaller 1992, S. 8-9). Zaller (1992, S. 112-113) ging in „The Nature and Origins of Mass Opinion“ noch davon aus, dass der beschriebene „cue-taking“-Effekt durch das Ausmaß der politischen Aufmerksamkeit („political awareness“) eines Individuums beeinflusst wird. Wissen und Interesse an politischen Themen sind extrem ungleich in der Gesellschaft verteilt: „The two simplest truths I know about the distribution of political information in modern electorates are that the mean is low and the variance high“, fasst Philip Converse (1990, S. 372) diesen Tatbestand prägnant zusammen. Der Gedanke, dass sich diese Ungleichheit auch auf die Beeinflussbarkeit der Individuen auswirkt, erscheint vor diesem Hintergrund naheliegend. Neuere empirische Studien konnten eine Abhängigkeit des „cue-taking“Effektes von der politischen Aufmerksamkeit des Einzelnen jedoch nicht bestätigen (vgl. Gabel, Scheve 2007a, S. 1014). Der Faktor der politischen Aufmerksamkeit wird daher in der vorliegenden Untersuchung vernachlässigt. Sie konzentriert sich ganz auf Zallers Argument, dass politische Führung vor allem
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dann möglich ist, wenn die Elite eine bestimmte Politik geschlossen befürwortet: „[I]nfluence is likely to be greatest in cases in which elites achieve sufficient internal agreement to avoid undercutting each other’s arguments“ (Zaller 1994, S. 188). Forschungspraktisch stellt sich darauf aufbauend die weiterführende Frage, wer diese „Elite“ bildet, die die Meinungsbildung der Bürger so nachhaltig beeinflusst. Zaller (1994, S. 187) nennt die Massenmedien und die politischen Eliten als zentrale Akteure.
2.3.2.2 Die Medien als meinungsbildende Instanzen Die Massenmedien nehmen im politischen Kommunikationsprozess eine herausragende Rolle ein. Insbesondere in Politikbereichen, die für den Einzelnen nicht direkt erfahrbar sind, üben die Massenmedien einen starken Einfluss aus (vgl. Maier et al. 2003, S. 215). In der Regel neigen Menschen dazu, Medien zu nutzen, von denen sie annehmen, dass deren redaktionelle Linie den eigenen politischen Überzeugungen nahekommt (vgl. Schmitt-Beck 2002, S. 80). Dem sozialpsychologischen Ansatz der „Kognitiven Dissonanz“ (vgl. Festinger 1957) folgend, empfinden Menschen Widersprüche zwischen ihren Wahrnehmungen und ihren Meinungen als unangenehm und versuchen, sie zu vermeiden. Auf eine ähnliche Selektionslogik zielt auch das bereits besprochene Resistenz-Axiom von Zaller ab. Eine Verstärkung bereits bestehender Meinung ist demnach leichter zu bewirken als eine Konversion. Welche medialen Rahmenbedingungen erleichtern vor diesem Hintergrund Führungsversuche seitens der Regierenden? Entscheidend ist, um mit Zaller zu sprechen, ob und in welchem Maße die Medien den Bürgern eine von der offiziellen Regierungskommunikation abweichende Sichtweise anbieten. Lehnen die Medien eine bestimmte Politik der Regierung mehrheitlich ab, so wird dem Bürger nicht nur eine alternative Perspektive auf das jeweilige Problem vermittelt. Die Regierenden sehen sich mit dem zusätzlichen Handicap konfrontiert, dass ihnen die Bürger vergleichsweise wenig Grundvertrauen entgegenbringen (vgl. Dogan 2005b). Eurobarometer-Umfragen belegen zwar, dass die Europäer auch den Medien mit Argwohn begegnen, doch vertrauen immerhin 44 Prozent der befragten EU-Bürger der Presse, während nur 32 Prozent der nationalen Regierung ihr Vertrauen aussprechen.77 77
Vgl. das Standard Eurobarometer 69 im Frühjahr 2008. Fragestellung: „I would like to ask you a question about how much trust you have in certain institutions. For each of the following institutions, please tell me if you tend to trust it or tend not to trust it: the press/the (nationality)
2.3 Führung erklären
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Stehen die Medien einer bestimmten Politik überwiegend kritisch gegenüber, so konterkariert dies folglich die Überzeugungsversuche der Regierung. Unterstützen sie hingegen mehrheitlich die von der Regierung verfolgte Politik, so sind der politischen Führung gute Erfolgsbedingungen geboten.
2.3.2.3 Die Geschlossenheit der politischen Elite Neben den Medien gelten traditionell auch die politischen Parteien als wichtige Meinungsbilder in politischen Fragen: „A longstanding tradition in public opinion research argues that voters adopt their opinions about policies by taking cues from their preferred party“ (Gabel, Scheve 2007b, S. 38, vgl. auch Hobolt 2006; Lupia, McCubbins 1998; van der Eijk, Franklin 1996). Inwiefern kann diese Annahme angesichts schwindender Parteibindungen noch als gültig betrachtet werden? Die Erosion tradierter berufsstruktureller und sozialkultureller Milieus geht mit einer nachlassenden Parteiidentifikation einher. Die politischen Parteien leiden an Mitgliederschwund und auch die Anzahl der Stammwähler nimmt tendenziell ab (vgl. Schwaabe 2002, S. 16-19). Neuere Studien zeigen aber, dass die Parteien trotz alledem immer noch einen starken Einfluss auf die Meinungsbildung ihrer Wählerschaften im Themenbereich der europäischen Integration ausüben (vgl. Hellstrom 2008). Zallers Argumentation folgend wäre zu erwarten, dass eine geschlossene politische Elite die Führung der Bevölkerungsmeinung erleichtert, während ein ausgeprägter Konflikt innerhalb der politischen Elite erschwerend auf Führungsversuche der Regierung einwirkt. Die „politische Elite“ umfasst diesem Verständnis nach das Spitzenpersonal der etablierten Parteien.78 Verläuft ein politischer Konflikt entlang der Parteigrenzen, so ist Zaller zufolge davon auszugehen, dass die Bürger jener Partei folgen, der sie grundsätzlich am nächsten stehen. Sind die Parteien jedoch intern gespalten, so dürfte dies ihren Einfluss auf die Meinungsbildung der Wähler erheblich schwächen. Diese Annahme wird von zahlreichen neueren Studien bestätigt (vgl. Gabel, Scheve
78
Government/…“ Antwortvorgaben: „Tend to trust/tend not to trust/don’t know“. Der Presse vertrauen 44 Prozent der Europäer, 50 Prozent misstrauen ihr, 6 Prozent haben keine Meinung. Der nationalen Regierung vertrauen 32 Prozent der befragten Bürger, 62 Prozent misstrauen ihr, 6 Prozent haben keine Meinung. Der französischen Regierung sprechen nur 28 Prozent der Franzosen ihr Vertrauen aus (66 Prozent Misstrauen, 6 Prozent keine Meinung), während die deutsche Bundesregierung ein leicht überdurchschnittliches Vertrauen von 36 Prozent genießt (59 Prozent Misstrauen, 5 Prozent keine Meinung). Zur Operationalisierung der Begriffe „politische Elite“ und „etablierte Parteien“ siehe Kapitel 3.2.3.
86
2 Analyseraster
2007b, S. 38; Hooghe 2007, S. 7; Steenbergen et al. 2007, S. 27). Leonard Ray (2003, S. 980-981) stellt fest: „Disagreement within parties about the correct position to take on European integration can be expected to weaken the ability of a party to influence the opinions of its electorate. The presentation of contradictory messages by various leaders will muddle the cues sent by the party to its supporters. Cues will be muffled as well if internal party divisions deter a party from public discussion of European issues.“
Zallers Logik entsprechend geht Ray davon aus, dass gespaltene Parteien widersprüchliche Botschaften aussenden, die sich in ihrer Wirkung gegenseitig untergraben. Ray fügt diesem Argument noch ein weiteres hinzu: In der Regel scheuen sich Parteien, interne Konflikte offen zu legen und positionieren sich im Falle von Streitigkeiten sehr zurückhaltend – dies erschwert ebenfalls eine effektive Überzeugung der Anhängerschaft. Europapolitische Streitfragen verlaufen oftmals quer zu den traditionellen Parteilinien und verursachen eher inner- als zwischenparteiliche Konflikte: „As parties derive their historical cohesion from conflicts other than those concerning Europe, their members and leaders often have different European preferences. If these differences are pronounced, they may jeopardize the internal party unity“ (Bartolini 2005, S. 310). Die beschriebene Konsequenz, dass die Parteispitzen derartige innerparteiliche Sprengsätze aus der öffentlichen Debatte herauszuhalten suchen, ist daher für europapolitische Fragen typisch. Basierend auf Zaller ergeben sich hinsichtlich der Geschlossenheit der politischen Elite drei mögliche Konstellationen, die die Effektivität der politischen Führung unterschiedlich beeinflussen: Zum Ersten sind gegensätzliche Positionierungen entlang parteipolitischer Linien denkbar. In diesem Fall ist eine Polarisierung der Bevölkerungsmeinung zu erwarten: Die Bürger folgen jener Partei, zu der sie am ehesten eine Bindung verspüren. Zum Zweiten ist ein Dissens der politischen Elite möglich, der nicht zwischen den politischen Parteien verläuft, sondern diese intern spaltet. In diesem Fall ist zu erwarten, dass die Bürger entweder jenen Politikern folgen, die ihnen am vertrauenswürdigsten erscheinen oder aber, dass die politische Elite das Thema aufgrund der parteiinternen Konflikte in der Öffentlichkeit meidet und folglich kaum mehr prägend auf die Meinungsbildung der Bürger einwirkt. Lediglich die dritte Konstellation, ein breiter politischer Konsens, bietet gute Bedingungen für effektive Führung: Wenn überparteilich Einigkeit hinsichtlich einer Politik besteht, und auch parteiintern keine größeren Widerstände aufkommen, so werden die Überzeugungsversuche der Regierung nicht durch widersprüchliche Aussagen gestört und ihre Erfolgsaussichten sind günstig.
2.4 Hypothesen
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2.4 Hypothesen 2.4 Hypothesen Die vorangegangene Erörterung hat gezeigt, dass sowohl Responsivität als auch Führung hochkomplexe, vom menschlichen Denken und Handeln abhängige, Phänomene sind. Monokausale Erklärungsversuche sind folglich wenig Erfolg versprechend: Es ist kaum anzunehmen, dass einzelne Bedingungen hinreichend („immer wenn…“) sind, um eine entsprechende Reaktion zu bewirken – sei es ein responsives Handeln der Regierenden oder ein Meinungswandel in der Bevölkerung. Ziel der Hypothesen zu Responsivität und Führung ist daher die Identifizierung notwendiger Bedingungen („nur wenn…“). Sollten sich bestimmte Bedingungen als notwendig für Responsivität (Hypothesen R1…n) und Führung (Hypothesen F1…n) bestätigen, so kann im Umkehrschluss gefolgert werden, welche Bedingungen hinreichend sind, damit eine Kluft vorerst79 nicht überwunden werden kann (Hypothesen K1…n). Zusammengenommen entspricht das einer Antwort auf die eingangs entwickelte Forschungsfrage: Unter welchen Bedingungen kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten in der Europapolitik überbrückt werden – und unter welchen Umständen bleibt sie langfristig bestehen?
2.4.1 Hypothesen zur Überwindung einer Kluft Drei Variablen haben sich in der theoretischen Diskussion als besonders relevant erwiesen: Das Angebot an politischen Alternativen zu einer bestimmten Politik, die Geschlossenheit der politischen Elite zu dieser Politik und die Ablehnung dieser Politik durch die Medien. Alle drei Variablen werden im Folgenden in Hypothesen überführt, um sie der empirischen Prüfung zugänglich zu machen: Es soll geklärt werden, ob und in welcher Ausprägung sie notwendige Voraussetzungen zur Überwindung einer Kluft darstellen. Variable 1: Angebot politischer Alternativen Es wurde argumentiert, dass Politiker vor allem dann eine elektorale Sanktion fürchten, wenn den Bürgern eine politische Alternative geboten wird. Wenn zwischen allen etablierten Parteien ein breiter Konsens hinsichtlich eines Themas besteht, so ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass die Regierung aufgrund dieses Themas abgewählt wird. Auch wenn es, wie dargelegt, keinen Sinn ergibt, von einer „Maximierung“ des politischen Wettbewerbes zu sprechen, muss das jeweilige Thema doch zumindest Eingang in diesen Wettbewerb finden, damit 79
Sobald sich die Bedingungen ändern, besteht selbstverständlich auch wieder die Möglichkeit, vorhandene Diskrepanzen zu überbrücken.
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2 Analyseraster
die Regierenden eine Sanktion fürchten. Weiterhin muss eine Unterscheidbarkeit des politischen Angebotes gegeben sein. Hypothese R1: Nur wenn dem Bürger zu einer bestimmten Politik eine politische Alternative geboten wird, verhalten sich die Regierenden responsiv. Variable 2: Geschlossenheit der politischen Elite Den theoretischen Erörterungen zum Meinungswandel folgend, ist eine effektive Führung der Bevölkerungsmeinung nur dann möglich, wenn die politische Elite eine weitgehend geschlossene Position vertritt. Sendet sie widersprüchliche Signale aus, folgt der Bürger im Zweifel der Partei bzw., bei innerparteilichen Differenzen, dem Politiker seines Vertrauens. Hypothese F1: Nur wenn die Geschlossenheit der politischen Elite zu einer bestimmten Politik groß ist, wirkt Führung effektiv. Variable 3: Ablehnung durch die Medien Medien nehmen, wie der Name schon sagt, eine vermittelnde Rolle ein: Zum einen fungieren sie als Sprachrohr der Bevölkerung, zum anderen beeinflussen sie diese. Es wurde argumentiert, dass Druck zu responsivem Handeln entsteht, wenn nicht nur die Bevölkerungsmeinung, sondern auch die Medienmeinung eine bestimmte Politik ablehnt. Hypothese R2: Nur wenn die Ablehnung einer bestimmten Politik durch die Medien stark ist, verhalten sich die Regierenden responsiv. Weiterhin wurde argumentiert, dass mediale Meinungsäußerungen nicht nur das Handeln der Politiker beeinflussen, sondern auch die Einstellungen der Bevölkerung prägen. Führung wird erschwert, wenn sich die Bürger mit widersprüchlichen Aussagen konfrontiert sehen. Die Ablehnung einer bestimmten Politik durch die Medien behindert demnach Überzeugungsversuche seitens der Regierung. Eine aktive Befürwortung der Regierungspolitik durch die Medien ist dieser Logik zufolge nicht notwendig, damit Führung effektiv funktionieren kann – die Argumente und Wertungen der Medien dürfen dem Handeln der Regierung lediglich nicht diametral widersprechen: Hypothese F2: Nur wenn die Ablehnung einer bestimmten Politik durch die Medien schwach ist, wirkt Führung effektiv.
2.4 Hypothesen
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2.4.2 Hypothesen zum Bestehenbleiben einer Kluft Aufbauend auf den Hypothesen R1 und R2 sowie F1 und F2 können nun Konstellationen identifiziert werden, unter denen weder Responsivität noch Führung möglich sind, und die folglich als ursächlich für unüberbrückbare Diskrepanzen zwischen Regierenden und Regierten gelten können. Bestätigen sich die Hypothesen R2 und F2, so ist die Medienmeinung, in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, zwar in jedem Fall notwendig für die Überbrückung einer Kluft, alleine aber nie dafür verantwortlich, dass eine bestehende Kluft nicht überbrückt werden kann: Ist die Ablehnung durch die Medien schwach, so ist politische Führung möglich – ist sie stark, so ist Responsivität möglich. Die Variable „Ablehnung durch die Medien“ bezieht ihre Erklärungskraft somit im Zusammenspiel mit den anderen beiden Variablen: Hypothese K1: Immer wenn die mediale Ablehnung einer bestimmten Politik stark, aber kein politisches Angebot hierzu vorhanden ist, kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten nicht überbrückt werden. Hypothese K2: Immer wenn die mediale Ablehnung einer bestimmten Politik schwach, aber die Geschlossenheit der politischen Elite hierzu gering ist, kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten nicht überbrückt werden. Eine dritte Konstellation ist denkbar, die das Überbrücken einer Kluft unmöglich macht: Nicht immer resultiert eine geringe Geschlossenheit der politischen Elite in einem Angebot politischer Alternativen. Bestätigen sich die Hypothesen R1 und F1, so kann eine bestehende Kluft nicht überwunden werden, wenn trotz eines Dissenses innerhalb der politischen Elite dem Bürger keine unterscheidbaren Optionen zur Wahl gestellt werden. Diese Konstellation ist vor allem für Streitfragen typisch, die nicht entlang parteipolitischer Linien verlaufen, sondern die Parteien intern spalten: Hypothese K3: Immer wenn die Geschlossenheit der politischen Elite zu einer bestimmten Politik gering ist, dem Bürger aber keine politische Alternative hierzu geboten wird, kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten nicht überbrückt werden.
3 Methodik 3 Methodik
Bevor die Hypothesen anhand von Fallbeispielen auf ihre Gültigkeit hin geprüft werden können, gilt es die Methodik der empirischen Analyse offen zu legen. In einem ersten Schritt wird die Systematik des Fallvergleichs erläutert und die Auswahl der Fallstudien begründet. Im Anschluss daran steht die Operationalisierung zentraler Schlüsselbegriffe. Die theoretisch abgeleiteten Handlungsziele und -strategien politischer Entscheidungsträger wurden im Kontext dieser Arbeit durch Hintergrundgespräche empirisch validiert. Eine Schilderung der Methodik dieser Gespräche schließt das Kapitel ab.
3.1 Systematik des Vergleichs 3.1 Systematik des Vergleichs Der Vergleich nimmt in den Sozialwissenschaften eine ähnliche Rolle ein wie das Experiment in den Naturwissenschaften: Auf Basis empirischer Evidenz werden Gültigkeit und Reichweite theoretischer Annahmen überprüft. Ein wesentlicher Unterschied zwischen naturwissenschaftlichen Experimenten und sozialwissenschaftlichen Vergleichen besteht jedoch im Generalisierungsanspruch, wie Todd Landman (2003, S. 15) betont: „[W]hile not seeking ironclad laws, comparative politics seeks clarity, understanding, and explanation of political phenomena about which it can be reasonably certain.“ Im Kontext dieser Arbeit wird ein qualitativer Fallstudienvergleich80 durchgeführt. Diese Art von Vergleichen eignet sich besonders, um die Plausibilität theoretischer Annahmen zu prüfen und um zusätzliche kontextuelle Einflussfaktoren zu identifizieren. Vor allem Hypothesen zu hinreichenden und notwendigen Bedingungen können auf diesem Weg gut evaluiert werden (vgl. George, Bennett 2005, S. 25). Quantitative Verfahren laufen bisweilen Gefahr, sehr heterogene Phänomene unter einen Begriff zu fassen, um eine größere Fallzahl zu erhalten. Qualitative Vergleiche versuchen ein derartiges „conceptual stretching“ (Sartori 1970) über die detailreiche Kenntnis der einzelnen Fälle zu
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In Abgrenzung von Vergleichen mit hoher Fallzahl („large n“) wird aufgrund der geringen Fallzahl auch von „small n“-Vergleichen gesprochen.
S. Weske, Europapolitik im Widerspruch, DOI 10.1007/978-3-531-92748-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Methodik
vermeiden und somit auf Basis einer geringeren Fallzahl zu Ergebnissen mit höherer Validität zu gelangen. Für eine Messung des kausalen Gewichts einzelner Variablen sowie für weitreichende Generalisierungen eignet sich ein Fallstudienvergleich hingegen nur sehr bedingt. Erweisen sich die getesteten Hypothesen als plausibel, so wäre eine Vergrößerung der Fallzahl der nächste sinnvolle Schritt im Forschungsprogramm, um den Geltungsanspruch der Befunde weiter auszudehnen. Methodisch folgt die vorliegende Arbeit dem von Alexander L. George und Andrew Bennett entwickelten strukturierten, fokussierten Vergleich: „The method is 'structured' in that the researcher writes general questions that reflect the research objective and that these questions are asked of each case under study to guide and standardize data collection, thereby making systematic comparison and cumulation of the findings of the cases possible. The method is 'focused' in that it deals only with certain aspects of the historical cases examined.“ (George, Bennett 2005, S. 67)
George und Bennett begründen ihren Ansatz mit einer Kritik an der meist quantitativ ausgerichteten deduktiv-nomologischen Wissenschaftskonzeption: Zum einen setze diese Konzeption Vorhersagen automatisch mit Erklärungen gleich. Nicht immer liege aber tatsächlich ein kausaler Zusammenhang vor, schließlich sage auch ein Barometer einen Wetterumschwung vorher, ohne ursächlich für diesen zu sein. Zum anderen sei das traditionelle Wissenschaftsverständnis deterministisch, während in den Sozialwissenschaften stets die Kontextabhängigkeit mit berücksichtigt werden müsse (vgl. George, Bennett 2005, S. 131-135). Die Autoren plädieren vor diesem Hintergrund dafür, den Fallvergleich („cross-case comparison“) durch fallinterne Studien („within-case analysis“) zu ergänzen. Um den Preis einer verringerten Fallzahl können auf diesem Weg Kontextfaktoren berücksichtigt und ursächliche Zusammenhänge plausibel nachvollzogen werden. Anders als statistische Methoden, die in der Regel kausale Effekte über viele Fälle hinweg aufzeigen wollen, strebt der strukturierte, fokussierte Vergleich nach einer Erklärung komplexer sozialer Phänomene durch kausale Mechanismen: „Our definition of causal mechanisms states that these mechanisms operate only under certain conditions and that their effects depend on interactions with the other mechanisms that make up these contexts. In other words, a causal mechanism may be necessary, but not sufficient, in an explanation.“ (George, Bennett 2005, S. 145)
3.1 Systematik des Vergleichs
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3.1.1 Kriterien der Fallauswahl „How the cases you choose affect the answers you get“ – so lautet der programmatische Titel eines Aufsatzes von Barbara Geddes (1990). Als kapitaler Fehler gilt gemeinhin eine Fallauswahl, die keine Varianz auf der abhängigen Variablen beinhaltet (vgl. Geddes 2007, S. 91-93; King et al. 1994, S. 129-131, kritisch hierzu Ragin 2008, S. 4-6). Besonders gravierend wirkt sich eine mangelnde Varianz auf der abhängigen Variablen aus, wenn eine als hinreichend vermutete Bedingung getestet werden soll. Eine Bedingung kann als hinreichend gelten, sofern immer, wenn diese Bedingung vorliegt, auch der entsprechende Effekt zu beobachten ist. Ein Fall, in dem zwar die Bedingung gegeben ist, nicht aber der Effekt, würde die Hypothese falsifizieren. Eine Versuchsanordnung ohne Varianz auf der abhängigen Variablen schließt eine Falsifikation der Hypothese aus und macht ihren Test demnach unmöglich. Notwendig ist eine Bedingung, wenn sie immer dann, wenn der Effekt auftritt, ebenfalls vorliegt.81 Falsifiziert wäre die Hypothese durch einen Fall, in dem zwar der Effekt, nicht aber die Bedingung gegeben ist. Eine Varianz auf der abhängigen Variablen ist folglich nicht zwingend, um notwendige Bedingungen zu testen. Auch hier ist sie jedoch gewinnbringend, da sie die Relevanz einer als notwendig identifizierten Bedingung anzeigt: Eine Bedingung, die – völlig unabhängig vom untersuchten Phänomen – nahezu konstant gegeben ist, wäre als trivial zu beurteilen, selbst wenn sie formal als „notwendig“ gelten kann. Nur einer Bedingung, die nicht permanent, bei An- wie auch Abwesenheit des untersuchten Effektes, vorliegt, kann eine substanzielle Erklärungskraft zugesprochen werden (vgl. Ragin 2008, S. 60). Im Kontext der vorliegenden Arbeit wird nach den Bedingungen für responsives Regierungshandeln, effektive Führung und – im Umkehrschluss – das Bestehen einer Kluft gefragt. Die Fallauswahl beinhaltet dementsprechend jeweils Fälle mit und ohne Responsivität, Führung und Kluft. Doch selbst eine Fallauswahl, die eine Varianz auf der abhängigen Variablen sicherstellt, sieht sich immer noch mit einem Dilemma konfrontiert, das in Anlehnung an Arend Lijphart (1971, S. 686) als „too many variables, too few cases“-Problem bezeichnet wird: Sozialwissenschaftliche Untersuchungsgegenstände sind in der Regel sehr komplex. Die potenziellen Einflussfaktoren sind 81
Eine Bedingung, die sowohl notwendig als auch hinreichend ist, setzt eine vollkommene Deckungsgleichheit zwischen Bedingung und Effekt voraus. Eine solche Konstellation ist in den Sozialwissenschaften äußerst selten. Ob eine als kausal vermutete Bedingung hinreichend und/oder notwendig ist, sollte daher immer getrennt geprüft werden. Vgl. Schneider, Wagemann 2007, S. 41.
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3 Methodik
zahlreich, die Anzahl der vergleichbaren Fälle hingegen oft gering. Eine systematische Kontrolle jeder einzelnen Variablen ist unter diesen Umständen kaum möglich. Dieses Problem begrenzter empirischer Vielfalt zeigt sich offenkundig am Beispiel der Konkordanz- und der Differenzmethode nach John Stuart Mill (1843). Beide Methoden basieren auf einem gezielten Ausschluss von Faktoren, die aus logischen Gründen keinen Einfluss auf das Ergebnis haben können: In der Konkordanzmethode werden all jene unabhängigen Variablen eliminiert, die trotz gleichbleibendem Wert auf der abhängigen Variablen variieren. In der Differenzmethode variiert hingegen die abhängige Variable und es werden all jene unabhängigen Variablen ausgeschlossen, die nicht mit der abhängigen Variable kovariieren. Mills Methoden wirken auf den ersten Blick bestechend einfach. Damit die beschriebene systematische Eliminierung irrelevanter Faktoren funktionieren kann, muss die Fallauswahl jedoch das gesamte Spektrum aller logisch und real möglichen Kausalpfade abdecken – eine in der Forschungspraxis kaum zu realisierende Voraussetzung (vgl. George, Bennett 2005, S. 155; Schneider, Wagemann 2007, S. 75).82 Die von Adam Przeworski und Henry Teune (1970, S. 34-39) entwickelte Methode des „most different systems design“ löst das Problem der Fallauswahl „durch schlichte Ignoranz“ (Tiemann 2003, S. 268): Konzeptioneller Ausgangspunkt ist hier die Annahme, dass die zu prüfenden kausalen Zusammenhänge systemübergreifend gültig sind: „As long as this assumption is not rejected, the analysis remains at the intrasystemic level; whenever the assumption is rejected, systemic factors must be considered” (Przeworski, Teune 1970, S. 35). Bestätigen sich die Hypothesen über sehr unterschiedliche Kontextfaktoren hinweg, so haben sie ihre Erklärungskraft überzeugend demonstriert. Erst wenn die untersuchte Kausalbeziehung innerhalb der Vergleichsfälle Differenzen aufweist, werden systemische Faktoren mit in die Analyse einbezogen. Das „most different systems design“ gilt in der vergleichenden Politikwissenschaft als „die analytisch stärkste Methode mit einer positiven Fallauswahl“ 82
Die Mill’schen Methoden versagen außerdem bei probabilistischen Aussagen (vgl. Jahn 2005, S. 64) und sobald eine Kombination kausaler Faktoren ursächlich für ein Phänomen ist. In der sozialen Realität ist kausale Komplexität die Regel, nicht die Ausnahme: Nur in seltenen Fällen ist ein Effekt tatsächlich durch eine einzelne Ursache determiniert (vgl. Ragin 2008, S. 109123). Mill selbst äußerte sich vor diesem Hintergrund skeptisch zur Eignung seiner Methoden für die sozialwissenschaftliche Anwendung (vgl. Berg-Schlosser 2005, S. 172). Hinzu kommt, dass es häufig mehrere Ursachen oder Ursachenkombinationen gibt, die unabhängig voneinander ein bestimmtes Phänomen verursachen („Äquifinalität“). Eine Verfeinerung der Mill’schen Methoden wurde von Charles C. Ragin und Kollegen in Form der „Qualitative Comparative Analysis“ (QCA) entwickelt (vgl. Ragin, Zaret 1983; Ragin 2008; Schneider, Wagemann 2007). Über eine computergestützte Umsetzung erlaubt QCA eine bessere Herausarbeitung kombinierter und äquifinaler Kausalbedingungen.
3.1 Systematik des Vergleichs
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(Jahn 2005, S. 75).83 Indem sie sich von der Idee der quasi-experimentellen Kontrolle aller relevanten Variablen löst und stattdessen von der (zu widerlegenden) Annahme einer systemübergreifenden Gültigkeit der Hypothesen ausgeht, bietet sie eine adäquate Antwort auf das „too many variables, too few cases“-Problem. Die Kombination aus fallinterner und fallvergleichender Analyse harmoniert außerdem gut mit der bereits beschriebenen Logik des strukturierten, fokussierten Vergleichs (vgl. George, Bennett 2005, S. 165). Die vorliegende Arbeit basiert ihre Fallauswahl daher auf diesem Prinzip.
3.1.2 Bestimmung der Fallstudien Die Gültigkeit der Hypothesen soll gemäß dem „most different systems design“ über möglichst verschiedene Kontextbedingungen hinweg getestet werden. Was aber kann als „möglichst verschieden“ gelten?84 Das „most different systems design“ zielt darauf ab, den Einfluss systemischer Kontextfaktoren auf die untersuchte Kausalbeziehung zurückzuweisen (vgl. Przeworski, Teune 1970, S. 35). Dieser Logik folgend sind es für die Fragestellung potenziell relevante systemische Faktoren, die möglichst unterschiedlich sein sollten.85 Ein Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich erscheint gewinnbringend aufgrund der signifikanten Differenzen im institutionellen und politisch kulturellen Bereich: Das Regierungshandeln ist in Frankreichs doppelköpfigem präsidentiellen System grundsätzlich anderen Handlungszwängen unterworfen als im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland. Gehören in Frankreich Präsident und Parlamentsmehrheit demselben politischen Lager an, so nimmt der Präsident eine überragende Machtstellung im System ein. In Zeiten der „Cohabitation“ hingegen, wenn der Präsident einer gegnerischen Parlamentsmehrheit gegenübersteht, wird die Machtbalance zugunsten des Premierministers verschoben (vgl. Schild, Uterwedde 2006, S. 68). Laut Verfassung gehört die Ausgestaltung der Außen- und Europapolitik zu den
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Przeworski und Teune stellen dem „most different systems design“ das „most similar systems design“ gegenüber, welches auf einer negativen Fallauswahl beruht. Die Autoren selbst halten jedoch das „most different systems design“ für analytisch stärker (vgl. Przeworski, Teune 1970, S. 32-34, siehe auch Vigour 2005, S. 276). Beide Designs werden oft auf Mill zurückgeführt, sind jedoch ohne expliziten Bezug auf diesen entstanden. Przeworski und Teune wird häufig vorgeworfen, diesen Aspekt nicht näher spezifiziert zu haben. Vgl. Tiemann 2003, S. 268. Bei der vorliegenden Fragestellung wäre es beispielsweise wenig sinnvoll, Länder auszuwählen, die sich hinsichtlich der Geburtenrate möglichst stark unterscheiden.
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3 Methodik
geteilten Machtbefugnissen.86 In der Praxis dominiert jedoch klar der Einfluss des Präsidenten: Die Außenpolitik gilt seit de Gaulle als „domaine réservé“ des Staatsoberhaupts (vgl. Müller-Brandeck-Bocquet 2004, S. 20-21). Im politischen System der Bundesrepublik Deutschland besteht ein faktischer Zwang zu Koalitionsregierungen (vgl. Korte, Fröhlich 2006, S. 94-98): Die Bundesregierung ist vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängig, die aufgrund des Verhältniswahlsystems kaum von einer einzelnen Partei erlangt werden kann. Die Regierung wird daher in der Regel von einem Zusammenschluss mindestens zweier Parteien bzw. ihrer Fraktionen getragen und ist in ihrem Handeln auf eine ständige Kompromissfindung angewiesen. Da dem kleineren Bündnispartner traditionell das Amt des Außenministers zufällt, gehören Bundeskanzler und Außenminister – die wichtigsten Regierungsakteure in der Gestaltung der Europapolitik – normalerweise unterschiedlichen Parteien an. Unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat können das Regieren zusätzlich erschweren. Generell ist das deutsche politische System konsensorientierter als das französische. Arend Lijphart entwickelte zwei Idealtypen hinsichtlich der Teilhabe von politischen und gesellschaftlichen Gruppen an Entscheidungen: Die „Mehrheitsdemokratie“ fördert die Machtkonzentration, die „Konsensdemokratie“ zielt hingegen auf Machtdispersion. Anhand von neun (Lijphart 1984), später zehn (Lijphart 1999) Kriterien kategorisierte Lijphart real existierende Demokratien gemäß ihrer Annäherung an die Idealtypen. Frankreich neigt dieser Klassifikation entsprechend der Mehrheitsdemokratie zu, Deutschland der Konsensdemokratie (vgl. Lijphart 1999, S. 312).87 Weitere Differenzen zwischen beiden Ländern offenbaren sich mit Blick auf die politischen Parteien: In Deutschland haben die Parteien nicht nur mehr Einfluss auf die Regierungspolitik, sie sind auch gesellschaftlich besser verankert als in Frankreich, was ihrer Vermittlerrolle zwischen Bürger und Staat zugute kommt (vgl. Pütz 2004, S. 254). Das Parteiensystem ist zudem unterschiedlich strukturiert: Während es in Frankreich bipolar gegliedert und innerhalb der linken und rechten Blöcke stark fragmentiert ist (vgl. Schild, Uterwedde 2006, S. 42-43), hat sich in Deutschland nach der Wiedervereinigung ein „fluides Fünfparteiensystem“ (Niedermayer 2007, S. 131) herausgebildet, das unterschiedliche Koalitionsformationen ermöglicht. Deutsche und französische 86 87
Zu der Frage, welche Auswirkungen Cohabitationen auf die Formulierung französischer Verhandlungspositionen im europapolitischen Entscheidungsprozess haben, siehe Leuffen 2006. Eine kritische Diskussion von Lijpharts Vorgehensweise, der Validität seiner Indikatoren und seiner Bevorzugung der Konsensdemokratie findet sich bei Croissant 2006, S. 125-127; Schmidt 2006a, S. 346-355. Zur Einstufung des deutschen politischen Systems als „verhandelnde Wettbewerbsdemokratie“ vgl. Korte, Fröhlich 2006, S. 73-79.
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Parteien sind außerdem durch einen unterschiedlichen internen Zusammenhalt charakterisiert: Parteiendisziplin und Fraktionszwang sind in Deutschland traditionell stärker ausgeprägt als in Frankreich. Auch die politische Kultur88 weist in beiden Ländern unterschiedliche Ausprägungen auf. Bezogen auf die Europapolitik könnte sich beispielsweise auswirken, dass die Deutschen aufgrund ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit einen eher geringen Nationalstolz besitzen, während die Franzosen deutlich geneigter sind, ihre Nation als identitätsstiftend zu begreifen (vgl. Rudzio 2000, S. 549; Schild, Uterwedde 2006, S. 37). Historisch betrachtet war die europäische Einigung für Deutschland ein Weg der Wiedereingliederung in das internationale Staatensystem nach dem zweiten Weltkrieg. Geradezu reflexhaft wurde die deutsche Außenpolitik multilateral einzubetten gesucht. Frankreich hingegen definierte sich selbst stets als eine Führungsmacht mit weltweiten Ambitionen. Diese Führungsrolle wurde auch innerhalb Europas angestrebt: Eine EU „à la française“ sollte dem französischen Geltungsanspruch weltweit mehr Nachdruck verleihen (vgl. Schild 2003, S. 32-33). Weiterhin ist im Kontext dieser Arbeit interessant, dass in Deutschland über starke Verbände und Interessengruppen leistungsfähige intermediäre Strukturen bestehen, während es in Frankreich an vergleichbaren Bindegliedern zwischen Individuum und Staat mangelt. Dementsprechend haben sich in beiden Ländern unterschiedliche Protestkulturen herausgebildet. Frustrationen entladen sich in Frankreich öfter als in Deutschland „auf der Straße“, sei es über Demonstrationen, Blockaden oder Sachbeschädigungen (vgl. Schild, Uterwedde 2006, S. 30-33). All diese Faktoren wirken auf das politische Kräftespiel und auf die Repräsentationsbeziehung zwischen Regierenden und Regierten ein. Sollten sich die in dieser Arbeit entwickelten Hypothesen in Deutschland wie auch in Frankreich bestätigen, so hätten sie in einem ersten Schritt ihre Gültigkeit über systemische Grenzen hinweg bewiesen – auch wenn freilich auf Basis zweier Länder nur äußerst vorsichtige Verallgemeinerungen unternommen werden können. Abgesehen von den beschriebenen methodischen Gründen, die die Länderauswahl im Sinne des „most different systems design“ rechtfertigen, ist eine vergleichende Analyse Deutschlands und Frankreichs auch aufgrund der politischen Relevanz beider Länder interessant. Durch ihre Größe verfügen sie über beträchtlichen Einfluss im Institutionengefüge der EU. Zudem haftet ihnen der Nimbus der Gründerstaaten an. Traditionell gelten Deutschland und Frankreich als „Motor“ der europäischen Integration (vgl. Picht, Wessels 1990; Weske 2006). Sollten die Bürger in diesen Ländern dem europäischen Integrations88
Zum Konzept der politischen Kultur siehe die Pionierarbeit von Almond, Verba 1989. Eine neuere umfassende Aufarbeitung des Konzeptes bietet Pesch 2000.
98
3 Methodik
projekt ihre Unterstützung entziehen, so würde dies den Einigungsprozess in seinen Grundfesten erschüttern. Nach der Auswahl der Länder, die verglichen werden sollen, gilt es die Fallstudien noch zeitlich und thematisch abzugrenzen. Anders als ein statistischer Vergleich kausaler Effekte, der auf einzelnen Zeitpunkten basieren kann, erfordert die Analyse kausaler Mechanismen eine Beobachtung längerer Zeiträume. Die vorliegende Arbeit trägt dieser Anforderung Rechnung, indem sich jede Fallstudie auf einen Zeitraum von drei Jahren erstreckt. Jede der sechs Fallstudien beinhaltet mindestens einen Wahlkampf auf nationaler Ebene. Gleichzeitig bietet die Zeitspanne von drei Jahren Gelegenheit, das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten sowie das inner- und zwischenparteiliche Kräftespiel auch außerhalb akuter Wahlkampfphasen zu analysieren. Die Auswahl der Zeitspannen wurde von dem Bestreben geleitet, in Deutschland wie auch in Frankreich dieselbe politische Frage im selben Zeitraum vergleichend zu untersuchen. Im Gegenzug war es hierdurch nicht möglich, die Fallstudien zeitlich deckungsgleich mit dem natürlichen Zyklus einer Legislaturperiode zu gestalten, da in beiden Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten Wahlen stattfanden.89 Die untersuchten Themenfelder spiegeln die beiden klassischen Dimensionen Vertiefung (Europäische Währungsunion) und Erweiterung (Türkeibeitritt) wider. Drei der Fallstudien beziehen sich auf Deutschland, die drei anderen auf Frankreich. Zudem wurden drei verschiedene Zeitperioden definiert. Die gezielte Variation bzw. Konstanthaltung dieser Faktoren soll zeigen, inwiefern die Hypothesen zeit-, themen- und länderübergreifend ihre Gültigkeit beweisen – und inwiefern kontextabhängige Besonderheiten festzustellen sind. Es wurden ausschließlich Streitfragen ausgewählt, die in beiden Ländern öffentlich als wichtig wahrgenommen wurden.90 Viele Fragen europäischer All89
90
Um den Willkürfaktor bei der Festlegung der zeitlichen Eckdaten zu minimieren, wurde sichergestellt, dass nicht unmittelbar vor Anfang oder nach Ende der Fallstudie signifikante Stimmungsumschwünge oder Änderungen der Regierungspolitik zu verzeichnen waren, die die Ergebnisse der Fallstudie in Frage gestellt hätten. Wegen seiner öffentlichen Wichtigkeit wurde auch der Europäische Verfassungsvertrag hinsichtlich seiner Eignung als Fallstudie geprüft. Aus folgenden Gründen schied er jedoch aus: Im Gegensatz zur Europäischen Währungsunion und dem Türkeibeitritt handelt es sich beim Verfassungsvertrag nicht um eine konkrete politische Sachfrage, sondern um eine komplexe Paketentscheidung. So waren auch die Gründe der Franzosen, die den Vertrag per Referendum abgelehnt hatten, überaus divers (vgl. Brouard et al. 2007; Brouard, Tiberj 2006; Schild 2005). Bisweilen hatten sie nichts mit dem konkreten Vertragswerk oder wenigstens Europa im weiteren Sinne zu tun – wenn etwa die nationale Regierung durch ein negatives Votum im Referendum gestraft werden sollte (vgl. Perrineau 2005). Vor diesem Hintergrund ist fraglich, inwiefern sich im französischen Referendum eine Opposition zum konkreten Vertragswerk oder eine generelle politische Unzufriedenheit manifestierte. Das Standard Eurobarometer, das
3.1 Systematik des Vergleichs
99
tagspolitik stoßen auf keinerlei Interesse in der breiten Bevölkerung. In diesem Fall wäre die Frage nach Responsivität und Führung sinnentleert. Die Europäische Währungsunion wie auch der türkische EU-Beitrittsprozess haben Eingang in die öffentliche Debatte gefunden: Deutsche und französische Medien berichteten und kommentierten rege zu diesen Themen. Interessengruppen und Intellektuelle beteiligten sich am öffentlichen Diskurs. Repräsentative Umfragen wiesen im Schnitt nicht mehr als 15 Prozent Stimmenthaltungen auf, was auf eine zumindest moderate Salienz der Themen hindeutet (vgl. Kapitel 2.1.3). Hinzu kommt, dass beide Streitfragen für die Bürger gut greifbar waren: Die Europäische Währungsunion betraf den Geldbeutel und damit sehr konkret die Lebenswelt der Menschen. Darüber hinaus tangierte die Abschaffung der nationalen Währungen ein wichtiges Symbol nationaler Souveränität und Identität. Ebenso wird die Möglichkeit eines EU-Beitritts der Türkei in Deutschland wie auch in Frankreich sehr emotionsgeladen diskutiert und mit allgemeinen Wertefragen verknüpft, was eine Meinungsbildung der breiten Bevölkerung tendenziell begünstigt. Das Ende des permissiven Konsenses wird in der Forschung meist auf die Zeit um den Maastrichter Vertrag datiert (vgl. Wimmel 2008). Dieser stellt den zeitlichen Ausgangspunkt der Untersuchung dar. Insgesamt decken die Fallstudien eine breite Zeitspanne von 1991 bis 2007 ab.
in der vorliegenden Arbeit zur Messung der Bevölkerungsmeinung herangezogen wird, bildet in diesem Fall nur eine sehr lückenhafte Datengrundlage: Es fragte fast ausschließlich, ob die Bürger das Prinzip einer Verfassung für Europa generell unterstützen. In Deutschland wie auch in Frankreich zeigte das Eurobarometer stets eine breite Mehrheit für die Idee einer europäischen Verfassung an. Nur sehr vereinzelt fragte das Eurobarometer nach der Unterstützung des konkreten Vertragswerkes. Sofern danach gefragt wurde ergab sich auch hier in beiden Ländern eine, wenn auch etwas dünnere, Mehrheit für das konkrete Vertragswerk. Eine Analyse der Gründe, warum der Verfassungsvertrag trotzdem im französischen Referendum scheiterte, ist politikwissenschaftlich in vielerlei Hinsicht interessant. Zum Test der hier entwickelten Hypothesen eignet sich der Fall jedoch nicht: Da die vorliegende Arbeit zu erklären versucht, unter welchen Bedingungen eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten überwunden werden kann, stellt sich ein methodisches Problem, wenn nicht eindeutig diagnostiziert werden kann, ob in der jeweiligen Sachfrage überhaupt eine Kluft vorliegt. Ausgewählt wurden daher lediglich Fälle, die eindeutige und langfristige Meinungstrends aufweisen.
100
3 Methodik
Im Einzelnen wurden folgende sechs Fallstudien untersucht (Tabelle 3.1): Tabelle 3.1:
Fallstudien
Kurztitel
Thema
Land
Zeitspanne
1
EWU D 91-94
Europäische Währungsunion
Deutschland
1. November 1991 – 31. Oktober 1994
2
EWU F 91-94
Europäische Währungsunion
Frankreich
1. November 1991 – 31. Oktober 1994
3
EWU D 95-98
Europäische Währungsunion
Deutschland
1. Oktober 1995 – 30. September 1998
4
EWU F 95-98
Europäische Währungsunion
Frankreich
1. Oktober 1995 – 30. September 1998
5
Türkei D 04-07
EU-Beitritt der Türkei
Deutschland
1. Juli 2004 – 30. Juni 2007
6
Türkei F 04-07
EU-Beitritt der Türkei
Frankreich
1. Juli 2004 – 30. Juni 2007
3.2 Operationalisierung von Schlüsselbegriffen 3.2 Operationalisierung von Schlüsselbegriffen Die nächsten Seiten beschreiben, wie die theoretisch entwickelten Konzepte der empirischen Messung zugänglich gemacht wurden. Materialbasis und Auswertungsschritte werden jeweils detailliert dargelegt, um eine intersubjektive Überprüfbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten.
3.2.1 Kluft Eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten wurde definiert als eine langfristige Diskrepanz zwischen Bevölkerungsmeinung und Regierungshandeln zu einem Thema, das von den Bürgern als wichtig wahrgenommen wird. Um eine Kluft zu messen, gilt es demnach zunächst Bevölkerungsmeinung und Regierungshandeln empirisch zu greifen und gegenüberzustellen. Zeigt sich eine langfristige Diskrepanz, so wird in einem zweiten Schritt gefragt, ob sie im Verlauf der Fallstudie durch eine Anpassung des Regierungshandelns (Responsivität) oder der Bevölkerungsmeinung (Führung) geschlossen werden konnte.
3.2 Operationalisierung von Schlüsselbegriffen
101
Viele ältere Studien zu ähnlichen Fragestellungen basieren auf einem statischen Untersuchungsdesign: Die Einstellungsverteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt wird mit den politischen Handlungen zum selben Zeitpunkt verglichen. Diesem Muster folgte unter anderem auch die einflussreiche Arbeit von Miller und Stokes (1963) zum Abstimmungsverhalten von Abgeordneten des US-Kongresses. Miller und Stokes implizierten einfach, dass die Einflussrichtung vom Wähler zum Abgeordneten verlief, obwohl die Übereinstimmung ebenso gut von einer Beeinflussung des Wählers durch den Abgeordneten verursacht sein konnte (vgl. Brettschneider 1995, S. 43). Zur Lösung dieses methodischen Problems haben sich dynamische Untersuchungsdesigns weitgehend durchgesetzt: Messungen werden zu verschiedenen Zeitpunkten durchgeführt und Wandelerscheinungen beobachtet. Über die Einbeziehung der zeitlichen Dimension soll die Einflussrichtung zutage treten: Liegt der Wandel der Bevölkerungsmeinung zeitlich vor dem Wandel des Politikerhandelns, deutet dies auf eine Beeinflussung der Politiker durch die Bevölkerung hin und umgekehrt (vgl. Page, Shapiro 1983).91 Doch auch dynamische Untersuchungsdesigns können das Kausalitätsproblem nicht gänzlich lösen (vgl. Gabel, Scheve 2007a). So ist es nicht zwangsläufig ein Indiz für Responsivität, wenn sich erst die Bevölkerungsmeinung und dann das Politikerhandeln ändert. Der Wandel der Bevölkerungsmeinung könnte auch durch eine vorab lancierte Informationskampagne der Regierung verursacht worden sein, die die Bürger erfolgreich auf einen bestimmten Politikwechsel vorbereitete. Ebenso könnten beide Wandlungen, sowohl der Bevölkerungsmeinung als auch des Regierungshandelns, auf eine Drittvariable zurückzuführen sein, zum Beispiel ein Ereignis auf internationaler Ebene. In beiden Fällen läge keine Beeinflussung des Politikerhandelns durch die Bevölkerung vor. Eine profunde Kenntnis des einzelnen Falles ist unerlässlich, um die genannten Unsicherheiten zu kontrollieren (vgl. Brettschneider 1995, S. 200). Die vorliegende Arbeit setzt diese Erkenntnis in Form von Fallstudienanalysen mit dynamischem Untersuchungsdesign um. 91
Stimson, MacKuen und Erikson 1995 prüften beispielsweise in einem viel beachteten Aufsatz mit dynamischem Untersuchungsdesign, inwiefern die generelle Stimmung der Bevölkerung („domestic policy mood“) die US-amerikanische Politikgestaltung beeinflusst. Sie bewegten sich dabei auf einer Makro-Ebene: Anders als bei Miller und Stokes stand nicht das Verhältnis individueller Abgeordneter zu ihrem Wahlkreis im Vordergrund. Als politische Akteure wurden stattdessen das Repräsentantenhaus, der Senat, der Präsident und der Oberste Gerichtshof konzeptualisiert. Im Ergebnis stellten Stimson, MacKuen und Erikson eine zuverlässige Umsetzung des „domestic policy moods“ in entsprechende Politikergebnisse fest. Hermann Schmitt und Jacques Thomassen (2000) verwendeten ein ähnliches Design, um auf Grundlage der European Elections Studies von 1979 und 1994 „dynamische Repräsentation“ in Europa zu untersuchen.
102
3 Methodik
3.2.1.1 Bevölkerungsmeinung Die Bevölkerungsmeinung wird in der vorliegenden Arbeit anhand des „Standard Eurobarometer“92 gemessen: Seit 1973 beauftragt die Europäische Kommission in allen Mitgliedstaaten Meinungsforschungsinstitute mit der Durchführung repräsentativer Umfragen. Diese sollen die Einstellungen der Bürger zum Prinzip der europäischen Einigung sowie zu den europäischen Institutionen und Politiken in Erfahrung bringen. Jeweils im Frühling und im Herbst eines Jahres werden pro Mitgliedstaat etwa 1.000 Bürger im Alter ab 15 Jahren in Face-to-Face-Interviews befragt. Der große Vorteil des Eurobarometers ist seine gute temporale und internationale Vergleichbarkeit. Variationen in der Umfragedurchführung können signifikante Unterschiede im Ergebnis nach sich ziehen. Bei der Untersuchung von Trendentwicklungen ist daher eine besondere Sorgfalt in der Datenauswahl geboten. Andernfalls könnten Schwankungen in den Umfrageergebnissen, die auf methodische Ursachen zurückzuführen sind, fälschlicherweise als Meinungsumschwung interpretiert werden. Die vorliegende Untersuchung hat nicht nur Trendentwicklungen, sondern auch einen internationalen Vergleich zum Gegenstand. Eine größtmögliche Konstanz der konzeptionellen und methodischen Rahmenbedingungen beim Zustandekommen der Umfragedaten ist demnach essenziell. Obwohl auch bei einer Beschränkung auf Eurobarometer-Umfragen Variationen, zum Beispiel in der Formulierung der Fragestellung, nicht ganz auszuschließen sind, kann das Standard Eurobarometer für Vergleiche mit zeitlicher wie auch internationaler Dimension als konkurrenzlos gut geeignet gelten. Mit der Beschränkung auf Eurobarometer-Daten sind freilich auch Nachteile verbunden: Zum einen verengt sich das zur Verfügung stehende Datenmaterial. Nicht immer werden die für eine wissenschaftliche Untersuchung benötigten Fragen vom Eurobarometer in der gewünschten Formulierung und der gewünschten Häufigkeit gestellt (vgl. Kantner 2004, S. 133-135). Dieser Einschränkung wirkt die vorliegende Arbeit entgegen, indem bei Bedarf vereinzelt auch nationale Umfragen hinzugezogen werden. Diese dienen jedoch ausschließlich der ergänzenden Information und Erläuterung bestimmter Sachverhalte – sie liegen nicht der Bemessung einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten zugrunde. Zum anderen muss man bei der Auswertung von Eurobarometer-Umfragen berücksichtigen, dass diese tendenziell europafreundliche Antworten produzieren (vgl. Noelle-Neumann 1992, S. 274). Im Kontext der vorliegenden Arbeit hat
92
Das Standard Eurobarometer wird in dieser Arbeit auch verkürzt als „Eurobarometer“ oder „EB“ bezeichnet.
3.2 Operationalisierung von Schlüsselbegriffen
103
diese Besonderheit den eher positiven Nebeneffekt, dass sie der voreiligen Diagnose einer Kluft vorbeugt.
3.2.1.2 Regierungshandeln Das Regierungshandeln wird in dieser Arbeit auf qualitativem Weg erschlossen. In der Responsivitätsforschung ist eine quantitative Vorgehensweise weit verbreitet: Über das Auszählen von Gesetzesinitiativen, parlamentarischen Abstimmungen oder Budgetbewilligungen wird zu messen versucht, inwiefern Politiker auf die Bevölkerungsmeinung reagieren (vgl. Brettschneider 1995; Miller, Stokes 1963). Diese schematische Quantifizierung des Verhaltens kann jedoch wichtige Aspekte des Regierungshandelns, namentlich den Bereich der symbolischen Politik, nicht erfassen. Ebenso wenig trägt sie der Tatsache Rechnung, dass Handlungen derselben formalen Qualität, je nach politischem Kontext, eine höchst unterschiedliche Relevanz aufweisen können. Die vorliegende Arbeit operationalisiert das Regierungshandeln daher über eine qualitative Interpretation von sowohl entscheidungs- als auch darstellungspolitischen Maßnahmen der Regierenden auf nationaler und internationaler Ebene. Die Analyse des Regierungshandelns stützt sich auf wissenschaftliche Sekundärliteratur, Pressequellen, amtliche Dokumente sowie die im Rahmen der Arbeit geführten Akteursinterviews.
3.2.2 Medienmeinung Die Medienmeinung93 wird über eine Auswertung überregionaler Qualitätszeitungen operationalisiert. Auf deutscher Seite wurden die Süddeutsche Zeitung (SZ) und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), auf französischer Seite Le Monde (LM) und Le Figaro (LF) ausgewertet.94 Die ausgewählten Medien repräsentieren das politische Spektrum von mitte-links (SZ und LM) bis mitterechts (FAZ und LF). Während Berichte und Meldungen dem journalistischen Ethos entsprechend möglichst neutral gehalten werden sollen, bietet das Genre des Kommentars 93 94
Die Begriffe „Medienmeinung“ und „veröffentlichte Meinung“ werden synonym verwendet. Vgl. die Auswahl derselben Medien und ihre Begründung bei Jentges et al. 2007, S. 710-711; Wimmel 2006, S. 105-106. Analysiert wurden jeweils die regulären Zeitungsausgaben von Montag bis Samstag. Sonderbeilagen wurden nicht in die Untersuchung einbezogen. Der Wirtschaftsteil des Figaro („Le Fig-Eco“) hat eine eigene Seitenzählung und wird daher in den Literaturnachweisen eigenständig genannt, obwohl er rechnerisch zum Medienkorpus von LF zählt.
104
3 Methodik
Freiraum für Meinungsäußerungen (vgl. Schönbach 1977). In der Praxis wird diese Trennung nicht immer klar eingehalten und auch in die Berichterstattung fließen bisweilen subtile Wertungen mit ein (vgl. Wimmel 2006, S. 109). Medienwissenschaftlichen Studien zufolge bringen jedoch journalistische Kommentare die vorherrschende Redaktionsmeinung – und in ihrer Summe die veröffentlichte Meinung – am eindeutigsten zum Ausdruck (vgl. Eilders et al. 2004; Maurer, Reinemann 2006, S. 17-18). Die Medienanalyse dieser Arbeit stützt sich daher auf die Kommentare der genannten Qualitätszeitungen.95 Nicht nur die Positionierung der Medien zu einem Thema, auch die Wichtigkeit, die diesem zugesprochen wird, lässt sich anhand der Kommentare gut greifen: Da der für die Kommentierung vorgesehene Platz in einer Zeitung begrenzt ist, findet mit der Auswahl der Kommentarthemen ein Selektionsprozess statt, den nur jene Themen passieren, denen eine besondere Bedeutung zugewiesen wird (vgl. Neidhardt et al. 2004, S. 13-15). Empirische Studien zeigen, dass politische Entscheidungsträger vor allem überregionale Tageszeitungen als Informationsquelle nutzen und dabei ein besonderes Interesse für deren Kommentierung aufbringen (vgl. Dogan 2005a, S. 138; Herzog, Hirner 1990, S. 74; Pfetsch 2000, S. 217; Puhe, Würzberg 1989, S. 40). Zur Erklärung der Handlungslogik politischer Eliten scheint die beschriebene Materialbasis somit gut geeignet. Die vorliegende Arbeit analysiert die Auswirkungen der Medienmeinung allerdings in zwei Richtungen: Nicht nur ihr Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger, sondern auch ihre Auswirkung auf die Bevölkerungsmeinung ist von Interesse. Obwohl die breite Bevölkerung in ihrer Mediennutzung dem Fernsehen den Vorzug gibt (vgl. Niedermayer 2005, S. 162), erscheint eine doppelte Verwendung des bereits beschriebenen Datenmaterials vertretbar: Der Schwerpunkt von Fernsehen, Hörfunk und Onlinemedien liegt eher in der Erstberichterstattung, während Printmedien verstärkt Hintergründe und Bewertungen des Geschehens vermitteln (vgl. Döhner 2005, S. 15). Zudem gelten die in dieser Arbeit ausgewählten Qualitätszeitungen als Leitmedien: Sie prägen die Berichterstattung anderer Medien maßgeblich mit und ihre Kommentierung gilt als besonders einflussreich (vgl. Pfetsch 2000, S. 222). Da die ausgewählten Zeitungen verschiedene Positionen innerhalb des politischen Spektrums einnehmen, kann davon ausgegangen werden, dass ihre Argumentationsmuster von anderen Medien mit vergleichbarer politischer Ausrichtung in ähnlicher Form aufgegriffen werden (zum „Inter-Media-Agenda-Setting“ vgl. Jarren, Donges 2006, S. 184). 95
Explizite Gastkommentare fließen nicht in die Operationalisierung der Medienmeinung ein. Berücksichtigt wurden nur Beiträge von Redaktionsmitgliedern sowie externen Personen, die eine feste Rubrik der Zeitung betreuen oder zu den regelmäßigen Leitartiklern zählen.
3.2 Operationalisierung von Schlüsselbegriffen
105
Aufgrund der starken Deutungsmacht, die die Bild-Zeitung96 innerhalb der deutschen Medienlandschaft inne hat (vgl. Voss 1999, S. 15-19), wurde diese zusätzlich in die Untersuchung einbezogen. Entsprechend ihres Werbespruches „BILD Dir Deine Meinung“ prägt sie mit ihrem oftmals polemischen Stil das Meinungsklima. Deutsche Politiker messen der Bild-Zeitung eine starke Bedeutung bei: In den von der Verfasserin geführten Interviews nannten mehrere politische Entscheidungsträger auf die Frage, was unter „öffentlicher Meinung“ zu verstehen sei, die Bild-Zeitung. Andere Studien bestätigen diesen Befund (vgl. Pfetsch 2000, S. 221). Die Bild-Zeitung ist ohne Äquivalent in Frankreich.97 Ihre Analyse ist daher gesondert vom deutsch-französischen Vergleich der Qualitätszeitungen zu sehen. Ziel der zusätzlichen Auswertung der BildZeitung ist es, einen „omitted-variable-bias“ zu vermeiden: Es könnte zu Fehlinterpretationen der deutschen Medienmeinung führen, falls die Bild-Zeitung zu den untersuchten Fällen massive Meinungskampagnen unternommen hat und dies in der Arbeit unberücksichtigt bleibt (vgl. Eilders, Voltmer 2004, S. 382). Da in der Bild-Zeitung die Grenze zwischen journalistischer Meinungsäußerung und Information nicht in ähnlicher Weise nachvollzogen werden kann wie in den Qualitätszeitungen (vgl. Neidhardt et al. 2004, S. 19), erweist sich hier das Selektionskriterium „Kommentar“ als untauglich. Eine Auswertung der Titel-Artikel bietet sich alternativ an, da diese in der Regel eine besondere Wirkungskraft als Medienmeinung entfalten (vgl. Schirmer 2001). Ein Inter96 97
Im Folgenden werden die Bezeichnungen „Bild-Zeitung“ und „Bild“ synonym verwendet. Analysiert wurde die in München vertriebene Ausgabe der Zeitung. Zu dieser Feststellung gelangten auch die Forscher des so genannten „Europub.com-Projektes“, das von Ruud Koopmans am Wissenschaftszentrum Berlin geleitet wurde. Im Projektkontext von Europub.com wurde trotzdem nach einem funktionalen Äquivalent gesucht. Die Entscheidung fiel auf die kommunistische Tageszeitung L’Humanité. In der Begründung heißt es: „L’Humanité is a daily that used to be the official newspaper of the Communist party. It is still run by Communists but open to a wider range of Left-wing opinions. It is not read by 'the masses' but seeks to defend the interest of the working class and the 'excluded'. It has a small readership (46000). It is the only national daily (outside of the regional papers and sports dailies) that has a 'popular' touch“ (Virginie Guiraudon: Final case report on the analysis of editorials. Case report France. Europub.com Project, Work Package 3, S. 3. Online verfügbar unter http://europub.wzb.decenturl.com/editorials, zuletzt geprüft am 03.08.2009). Diese Begründung erscheint jedoch nicht überzeugend: Zu groß sind die Unterschiede zwischen der von den Massen gelesenen Boulevardzeitung Bild und der kommunistischen Tageszeitung L’Humanité, die nur eine kleine Leserschaft zu verzeichnen hat, als dass sie als funktionale Äquivalente gelten könnten. Angesichts desselben Problems wählte Hanspeter Kriesi (2007) Le Parisien als Äquivalent zur Bild. In der Tat zielt Le Parisien, gemeinsam mit der landesweit vertriebenen Ausgabe Aujourd’hui en France, ebenso wie die Bild auf eine breite Leserschaft, vor allem auch aus den weniger gebildeten Schichten. Eine der Bild vergleichbare Machtposition in der öffentlichen Meinungsbildung zu politischen Fragen kommt Le Parisien allerdings nicht zu. So nannte auch in den von der Verfasserin geführten Interviews keiner der französischen Gesprächspartner Le Parisien als eine entscheidende Einflussgröße.
106
3 Methodik
viewpartner formulierte treffend: „Wenn etwas auf der Titelseite der Bild ist, kann es von der Politik nicht mehr ignoriert werden.“ Dementsprechend wurden alle Artikel, die auf der Titelseite der Bild zum jeweiligen Thema erschienen sind, in die Untersuchung einbezogen. Ziel der beschriebenen Zusammenstellung des Datenkorpus war es, das theoretische Konzept der Medienmeinung empirisch in einer möglichst aussagekräftigen Weise messbar zu machen. Zu beachten ist dennoch, dass die ausgewählten Medien keinen repräsentativen Querschnitt der Grundgesamtheit aller deutschen bzw. französischen Medien darstellen. In den durch die Fallstudien definierten Drei-Jahres-Zeiträumen wurde eine Vollerhebung durchgeführt. Die meisten Medienanalysen zu europäischen Fragen behandeln entweder deutlich kürzere Zeiträume oder nehmen eine Stichprobenziehung vor, um die Materialmenge zu reduzieren. In vielen Fällen erscheint diese Materialreduktion konzeptionell gerechtfertigt.98 Dennoch ist es als Mehrwert der vorliegenden Studie zu sehen, dass sie zum einen relativ lange zusammenhängende Perioden analysiert, was die Beschreibung von Themenkarrieren ermöglicht, und zum anderen, trotz der beträchtlichen Datenfülle, auf eine Stichprobenziehung verzichtet.99 Ein weiterer Mehrwehrt dieser Studie liegt darin, dass sie ihren Anfang bereits 1991 nimmt, während sich ein Großteil der bestehenden Medienanalysen zu europäischen Themen ausschließlich jüngeren Jahrgängen widmet, die komplett digitalisiert zur Verfügung stehen. Im Detail wurden die untersuchten Zeiträume folgendermaßen erfasst: Die SZ wurde ab dem Jahr 1993 über die Datenbank „Süddeutsche Zeitung Archiv Library Net“ recherchiert.100 Die Monate November 1991 bis Dezember 1992 wurden über Mikrofilm erfasst. Die FAZ steht ab dem Jahr 1993 digital in der Datenbank „FAZ-BiblioNet“ zur Verfügung. Auch hier wurden die vor diesem Zeitraum liegenden Monate über Mikrofilm erschlossen. LM konnte für den gesamten Untersuchungszeitraum über die Datenbank „Europress“ recherchiert werden. LF wurde ab Januar 1997 über die Datenbank „lexis nexis“ er98
So verwendet beispielsweise Andreas Wimmel (2006) in seiner Diskursanalyse vergleichsweise kurze Zeiträume, bezieht aber neben journalistischen Kommentaren auch die mediale Berichterstattung in die Untersuchung ein und vergrößert so seine Materialbasis. Ebenso ist bei Verwendung der aufwändigen Methode der Claim-Analyse (vgl. z.B. Koopmans 2007) eine Materialreduktion durch Stichprobenziehung nahezu unvermeidbar. 99 Untersuchungen zeigen, dass eine systematische Stichprobenauswahl, wie etwa die Klumpenstichprobe oder das Verfahren der künstlichen bzw. rollenden Woche, merkliche Abweichungen zu den Ergebnissen einer Vollerhebung mit sich bringen. Zufallsstichproben erweisen sich als zuverlässiger, doch auch sie stellen nur eine Annäherung an den Idealfall der Vollerhebung dar. Vgl. Maurer, Reinemann 2006, S. 52-53; siehe auch Jandura et al. 2005. 100 Die Datenbank erfasst prinzipiell den Zeitraum ab 1992. Der Jahrgang 1992 wurde jedoch laut Aussage des Betreibers nur lückenhaft in die Datenbank aufgenommen und daher im Rahmen dieser Arbeit zusätzlich per Mikrofilm durchgesehen.
3.2 Operationalisierung von Schlüsselbegriffen
107
schlossen.101 Die älteren Ausgaben wurden über Mikrofilm erfasst. Die BildZeitung musste aufgrund fehlender Digitalisierung gänzlich über die Papierausgabe bearbeitet werden. Die digital zur Verfügung stehenden Zeitungen wurden mit Schlagworten durchsucht.102 Da eine Einschränkung der Suche auf Kommentare nicht zuverlässig funktionierte, wurden zunächst alle Artikel zum jeweiligen Thema erfasst und diese dann einzeln per Hand nach Kommentaren durchgesehen. Bei den über Mikrofilm erschlossenen Ausgaben wurden gezielt die Meinungsseiten der Zeitung sowie sonstige als Kommentare gekennzeichnete Artikel berücksichtigt. In der Regel werden kommentierende Artikel, wie Editorials oder Standpunkte einzelner Redakteure, durch eine entsprechende Überschrift kenntlich gemacht oder zumindest durch graphische Gestaltungsmerkmale vom redaktionellen Teil abgegrenzt. Schwierig war die Identifizierung in Datenbanken, die Kommentare nicht als solche auswiesen, da in der digitalisierten Form optische Abgrenzungsmerkmale nicht mehr erkennbar sind. Wenn die Artikel nicht über einschlägige Rubriknamen zuzuordnen waren, wurden sie angelesen, um anhand des Ausmaßes der im Artikel vorgenommenen Wertung zu entscheiden, ob dieser als Kommentar zu klassifizieren ist oder nicht. Aussortiert wurden Kommentare, die das untersuchte Thema zwar am Rand erwähnten, sich inhaltlich aber mit einer ganz anderen Fragestellung befassten. Auf diese Weise wurde ein Datenkorpus von insgesamt 1.065 Artikeln zusammengestellt: Darin enthalten waren 602 Kommentare deutscher und 337 Kommentare französischer Qualitätszeitungen sowie 126 Titelbeiträge der BildZeitung. Die so ermittelten Artikel wurden über eine Medieninhaltsanalyse ausgewertet. In der Methodenliteratur setzt sich vermehrt die Einsicht durch, dass die ehemals strikte Trennung zwischen quantitativer und qualitativer Inhaltsanalyse wenig sinnvoll ist (vgl. Früh 2001, S. 35): Jede quantitative Analyse enthält auch qualitative Schritte, wie z.B. die Kategorienbildung oder die Interpretation der Ergebnisse. Umgekehrt spricht prinzipiell nichts dagegen, Inhaltsanalysen mit 101 Die Datenbank Factiva stellt LF eigenen Angaben zufolge bereits ab dem 31. Oktober 1996 zur Verfügung. Die durchgeführten Probe-Suchdurchläufe und der anschließende Vergleich mit Funden in der Datenbank lexis nexis belegten jedoch einen sehr lückenhaften Datenbestand. Factiva wurde daher für die endgültige Zusammenstellung des Datenkorpus nicht verwendet. 102 Für die beiden Fallstudien zur Währungsunion wurde folgende Verknüpfung verwendet: (Währung OR Währungsunion) AND (EWG OR EU OR Europa OR europäisch*) bzw. (Monnaie OR Union monétaire) AND (CEE OR UE OR Europe OR européen*). Für die Fallstudie zum Türkeibeitritt: (Beitritt* OR Erweiterung) AND (EU OR Europa) AND (Türkei OR türkisch*) bzw. (adhésion OR élargissement) AND (UE OR Europe) AND (Turquie OR turque). Das Trunkierungsymbol „*“ (lexis nexis verwendet als Trunkierung „!“) erlaubt weitere Zeichen, so dass die Suche nach européen* beispielsweise auch die weibliche Endung européenne erfasst.
108
3 Methodik
einem eher qualitativen Schwerpunkt um quantitative Elemente zu ergänzen. Die in der vorliegenden Studie angewandte Inhaltsanalyse kombiniert beide Ansätze. Sie orientiert sich im qualitativen Bereich an der Methodik Philipp Mayrings (2003) und im quantitativen Bereich an Patrick Rössler (2005). Für beide ist eine systematische Vorgehensweise zentral: Die Inhaltsanalyse muss klar strukturiert sein und theoriegeleitet nach expliziten Regeln ablaufen, die für das gesamte Untersuchungsmaterial gleichermaßen angewandt werden. Die in dieser Arbeit verwendete Methodik kann demnach als standardisierte Inhaltsanalyse mit sowohl qualitativen als auch quantitativen Elementen bezeichnet werden (vgl. Mayring 2003, S. 12; Rössler 2005, S. 16). Drei Fragen leiten die Medieninhaltsanalyse an. Erstens: Wie verläuft die Intensität der Kommentierung? Zweitens: Bewerten die Medien die Europäische Währungsunion bzw. den EU-Beitritt der Türkei als ein erstrebenswertes Politikziel? Drittens: Welche Aspekte und welche Argumente werden in der medialen Debatte besonders betont? Die erste Frage wird über eine quantitative Häufigkeitsanalyse, die zweite Frage über eine ebenfalls quantitative Valenzanalyse erschlossen. Die dritte Frage wird qualitativ über eine zusammenfassende Inhaltsanalyse mit induktiver Kategorienbildung beantwortet. Auf den folgenden Seiten wird die Methodik im Einzelnen näher erläutert. Herzstück der Untersuchung ist die Valenzanalyse: Sie zeigt an, ob die Medien eine bestimmte Politik mehrheitlich ablehnen oder befürworten. Die anderen beiden Analyseschritte dienen der Kontextualisierung. Für den Sonderfall der Bild-Zeitung wurde auf die Valenzanalyse verzichtet. Wie bereits erläutert dient die Einbeziehung der Bild-Zeitung lediglich der Kontrolle: Ein Übersehen wichtiger medialer Meinungskampagnen soll vermieden werden. Da jedoch ein französisches Äquivalent zur Bild fehlt und sich zudem die Datengrundlage von jener der Qualitätszeitungen unterscheidet (Titelartikel versus journalistische Kommentare), ist eine einfache Verrechnung der Wertungen nicht möglich. Um keine Vergleichbarkeit entsprechender Zahlenwerte der Bild-Zeitung und der Qualitätszeitungen zu suggerieren, werden die auf der Titelseite der Bild vorgenommenen Wertungen nicht quantifiziert, sondern ausschließlich in Worten interpretiert.
3.2.2.1 Intensität und Wertung Um den Verlauf der Kommentierungsintensität nachzuvollziehen, wurde zunächst eine Häufigkeitsanalyse durchgeführt. Die veröffentlichten Kommentare zum jeweiligen Thema wurden monatsweise gezählt. Eine Darstellung der
3.2 Operationalisierung von Schlüsselbegriffen
109
Häufigkeiten im Zeitverlauf vermittelt einen ersten Überblick zu den einzelnen Themenkarrieren. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist allerdings zu berücksichtigen, dass je nach Medium der redaktionellen Kommentierung unterschiedlich viel Platz eingeräumt wird. Wichtiger als die absolute Anzahl der Kommentare ist daher die Trendentwicklung: Wann wird besonders intensiv kommentiert und wann weniger? Die Häufigkeitsanalyse gibt Auskunft zur relativen Salienz bestimmter Ereignisse innerhalb einer Fallstudie. Nur sehr begrenzt kann von der absoluten Anzahl der Kommentare auf die Salienz des gesamten Themas geschlossen werden. Dies gelingt noch am ehesten, wenn innerhalb desselben Mediums die Anzahl der Kommentare zu verschiedenen Themen verglichen wird. Auch hier gilt es allerdings zu beachten, dass die Themen womöglich unterschiedliche Ressorts ansprechen. Werden beispielsweise zur Währungsunion mehr Kommentare gezählt als zum türkischen EU-Beitrittsprozess, so weist dies nicht zwangsläufig auf eine höhere Wichtigkeit des Themas hin. Ein zahlenmäßiger Unterschied ergibt sich in diesem Fall schon alleine dadurch, dass zum Thema der Währungsunion sowohl die Politik- als auch die Wirtschaftsressorts rege kommentierten, während das Thema des Türkeibeitritts eher dem Politikressort vorbehalten blieb. Noch mehr Kontextsensibilität wird beim Vergleich verschiedener Medien verlangt. Unterschiedliche Kommentierungskulturen können dazu führen, dass ein Medium der journalistischen Meinungsäußerung generell eher viel oder wenig Bedeutung beimisst. Die untersuchten französischen Printmedien räumen beispielsweise Gastkommentaren mehr Raum ein als die deutschen. Im Ausgleich dazu ist die redaktionelle Kommentierung weniger umfassend. Eine geringere Anzahl redaktioneller Kommentare bedeutet daher nicht zwangsläufig, dass das Thema in Frankreich weniger salient wäre als in Deutschland. Im Zentrum der Häufigkeitsanalyse steht vor diesem Hintergrund weniger ein Vergleich der absoluten Zahlen als vielmehr der jeweilige Zeitverlauf mit seinen Höhe- und Tiefpunkten. Die mediale Bewertung der Streitfragen wurde anhand einer Valenzanalyse gemessen.103 Die untersuchungsleitende Frage der Valenzanalyse lautete: Ist die Europäische Währungsunion bzw. der EU-Beitritt der Türkei ein erstrebenswertes Politikziel? Eine positive Bewertung wurde mit +1, eine negative Bewertung mit -1 codiert. War das Urteil ambivalent oder war keine klare Wertung zu erkennen, wurde mit 0 codiert. Gemäß dem Prinzip der „harten Codierung“ wurden nur 103 Vgl. Rössler (2005, S. 148), der die Erfassung von Bewertungen als „Königsdisziplin“ der standardisierten Inhaltsanalyse bezeichnet. Philipp Mayring (2003, S. 92) nennt derartige Analysen „skalierende Strukturierungen“.
110
3 Methodik
Artikel mit einer eindeutig erkennbaren positiven oder negativen Wertung mit +1 bzw. -1 codiert. Diese Entscheidung entspringt einer Kosten-Nutzen-Abwägung, die Patrick Rössler (2005, S. 149-150) folgendermaßen beschreibt: „Der Sinn einer ‚harten‘ Codierung besteht darin, für die jeweiligen Ausprägungen auch wirklich nur unzweifelhafte Fälle zu ermitteln – um den Preis einer möglicherweise relativ zahlreich besetzten Auffangvorgabe. In der Auswertung können dann allerdings auch entsprechend ‚harte‘ Aussagen getroffen werden.“
Codiereinheit war der einzelne Artikel. Auf den ersten Blick mag es nahe liegen, auf Aussagenebene zu kodieren, um dann die Pro- bzw. Contra-Argumente zu summieren und die Gesamtbewertung des Artikels quasi zu errechnen. Oftmals präsentiert jedoch ein Autor zunächst zahlreiche Argumente der einen Seite, um dann mit einem, seiner Ansicht nach entscheidenden, Argument der anderen Seite aufzuwarten. Dies gibt dem Artikel insgesamt eine andere Stoßrichtung als es eine rein mathematische Aufrechnung der Argumente vermuten ließe. Methodisch vorzuziehen ist daher eine so genannte „Globalbewertung“ des Artikels. Diese beruht auf einem Gesamteindruck, in den natürlich die einzelnen Bewertungen einfließen, ebenso aber auch der allgemeine Duktus, die Zwischentöne und die argumentative Verknüpfung der Bewertungen (vgl. Rössler 2005, S. 147, ähnlich Maurer, Reinemann 2006, S. 53-54). Um die Qualität einer Valenzanalyse zu sichern, sollten standardmäßig Reliabilitätstests104 durchgeführt werden. Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde die „Intracoder-Reliabilität“ geprüft.105 Diese zeigt die Übereinstimmung der Codierungen an, wenn derselbe Codierer dasselbe Textmaterial mit zeitlichem Abstand zweimal verschlüsselt. So kann überprüft werden, ob ein Codierer nach einer gewissen Zeit und trotz etwaiger Lerneffekte bei derselben Bewertungsfrage zum selben Urteil gelangt. Insgesamt 180 Artikel wurden im Abstand von mindestens 12 Wochen nach der ersten Codierung ein zweites Mal codiert. Pro Fallstudie wurden jeweils 15 Artikel aus SZ und FAZ bzw. LF und LM nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Der Reliabilitätskoeffizient CR wurde nach folgender Formel106 berechnet: 104 Reliabilitätstests untersuchen die Reproduzierbarkeit von Messergebnissen bei wiederholter Anwendung des gleichen Instruments auf das gleiche Messobjekt. 105 Besteht ein Forscherteam aus mehreren Codierern wird gewöhnlich ein Test der „IntercoderReliabilität“ durchgeführt: Diese kennzeichnet die Übereinstimmung von Codierungen, die von verschiedenen Codierern unabhängig voneinander vorgenommen wurden. Da die vorliegende Medienanalyse von einer Einzelperson vorgenommen wurde, kam jedoch eine Messung der Intercoder-Reliabilität als Qualitätskontrolle nicht in Frage. 106 CÜ steht für die Anzahl der übereinstimmenden Codierungen, C1 für die Zahl der Codierentscheidungen der ersten Codierung, C2 für die Zahl der Codierentscheidungen der zweiten Codierung. Vgl. zur Formel Früh 2001, S. 179; Holsti 1969, S. 140.
3.2 Operationalisierung von Schlüsselbegriffen
R ൌ
111
ʹÜ 1 2
Für die einzelnen Fallstudien wurden Werte zwischen CR =0,93 und CR = 1 ermittelt, was auf eine zuverlässige Codierung schließen lässt.107
3.2.2.2 Argumente Die Valenz- und die Häufigkeitsanalyse strukturieren das Material. Der Befund bleibt jedoch recht holzschnittartig. Die medialen Positionen zu den untersuchten Streitfragen lassen sich nur selten auf eine simple Pro-Contra-Struktur herunterbrechen. Viel häufiger, darauf deutet auch die stets zahlreich besetzte Auffangkategorie der 0-Codierungen hin, liegen die Standpunkte irgendwo dazwischen. „Ja/nein, aber…“-Stellungnahmen oder „Ja, aber nur wenn…“- bzw. „Nein, wenn nicht…“-Aussagen sind an der Tagesordnung. Bedingungen werden formuliert und Verfahrensfragen diskutiert. Ausgehend von der in den Hypothesen postulierten Annahme, dass ein Zusammenhang zwischen negativer Medienmeinung und responsivem Regierungshandeln besteht, kann vermutet werden, dass sich die Regierenden über die simple Feststellung einer ablehnenden Bewertung hinaus auch für die Argumente der Medien interessieren. Gelingt es den Regierenden, die konkreten Sorgen und Vorwürfe der Journalisten zu entkräften und die Medienmeinung auf ihre Seite zu ziehen, so steigern sie auch ihre Chancen, die Bevölkerung von ihrer Politik zu überzeugen. Die in den Medien diskutierten Argumente werden über eine induktive Kategorienbildung ermittelt. Diese strebt Mayring (2003, S. 75) zufolge „nach einer möglichst naturalistischen, gegenstandsnahen Abbildung des Materials ohne Verzerrungen durch Vorannahmen des Forschers.“ Auch die induktive Kategorienbildung verläuft systematisch, regel- und theoriegeleitet. Bei der Durchsicht des Materials wird, sobald ein Selektionskriterium erfüllt ist, die erste Kategorie als Kurzsatz formuliert. Bei jeder weiteren relevanten Aussage wird entschieden, ob die Textstelle unter die bereits gebildete Kategorie fällt oder ob eine neue Kategorie zu bilden ist. Die Kategorien werden stetig am Material rückgeprüft und gegebenenfalls revidiert: „Das Ergebnis ist ein System an Kate-
107 Fallstudie „EWU D 91-94“: CR = 0,97, Fallstudie „EWU F 91-94“: CR = 0,93, Fallstudie „EWU D 95-98“: CR = 0,97, Fallstudie „EWU F 95-98“: CR = 0,97, Fallstudie „Türkei D 0407“: CR = 1, Fallstudie „Türkei F 04-07“: CR = 0,97.
112
3 Methodik
gorien zu einem bestimmten Thema, verbunden mit konkreten Textpassagen“ (Mayring 2003, S. 76). Drei Selektionskriterien leiteten die induktive Kategorienbildung im Rahmen dieser Arbeit an: Welche Aspekte der jeweiligen Streitfrage schätzten die Medien als besonders wichtig ein? Welche Argumente brachten sie für oder gegen eine bestimmte Politik vor? Welche Handlungen der Regierung bewerteten sie besonders positiv oder negativ? Analyseeinheit war die einzelne Aussage.
3.2.3 Politischer Wettbewerb Bei der Untersuchung des politischen Wettbewerbs wird zwischen „relevanten“ und „etablierten“ Parteien unterschieden. Grundsätzlich werden alle relevanten Parteien Deutschlands und Frankreichs in die Untersuchung einbezogen, um den politischen Wettbewerb möglichst umfassend abzubilden.108 Den Hypothesen zufolge ist aber nur die Geschlossenheit bzw. das politische Angebot der etablierten Parteien entscheidend für die Überbrückung einer Kluft durch Führung bzw. Responsivität. Welche Parteien können nun als relevant, welche als etabliert gelten? Die Arbeit folgt dem bekannten Vorschlag von Giovanni Sartori, jene Parteien als relevant zu bezeichnen, die entweder „Koalitionspotenzial“ oder „Erpressungspotenzial“ besitzen:109 „A party qualifies for relevance when its existence, or appearance, affects the tactics of party competition and particularly when it alters the direction of the competition […] of the governing-oriented parties. In summary, we can discount the parties that have neither (i) coalition potential nor (ii) blackmail potential. Conversely, we must count all the parties that have either a governmental relevance in the coalitionforming arena, or a competitive relevance in the oppositional arena.“ (Sartori 1976, S. 108, Hervorhebungen im Original)
Als etabliert und zur „politischen Elite“ gehörig gelten im Verständnis dieser Arbeit nur die Parteien mit Koalitionspotenzial.
108 Die Positionen anderer Parteien wurden lediglich bei Bedarf zur Kontextualisierung des politischen Wettbewerbes erwähnt. 109 Kritisch zu Sartoris Lösungsansatz: Niedermayer 2007, S. 116-117. Bemängelt werden vor allem Operationalisierungsprobleme.
3.2 Operationalisierung von Schlüsselbegriffen
113
In Deutschland110 zählen zu den relevanten und etablierten Parteien die Christlich Demokratische Union (CDU) und ihre bayerische Schwesterpartei Christlich Soziale Union (CSU), die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die Freie Demokratische Partei (FDP)111 und Bündnis 90/Die Grünen. Relevant, aber (noch) nicht etabliert ist die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die sich im Juli 2005 in Die Linkspartei.PDS und im Juni 2007, nach Vereinigung mit der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG), in Die Linke umbenannte. Während des gesamten Untersuchungszeitraumes war sie im Parlament vertreten und vor allem im Osten Deutschlands stellt sie eine wichtige politische Kraft dar. Als etabliert kann sie aufgrund der Koalitionsweigerung aller anderen Parteien auf Bundesebene jedoch nicht gelten. Auch wenn auf Kommunal- und Länderebene Koalitionen gebildet werden, ist der Partei bislang auf der für diese Arbeit entscheidenden Bundesebene kein Koalitionspotenzial zuzuschreiben. In Frankreich112 ist als relevante und etablierte politische Kraft auf Seiten der Rechten die Partei „Rassemblement pour la République“ (RPR) zu nennen, die sich im November 2002 zur „Union pour un Mouvement Populaire“ (UMP)113 neu formierte. Relevant und etabliert ist ebenso die „Union pour la 110 In den 1960er bis 1970er Jahren bestand in der Bundesrepublik Deutschland noch ein relativ stabiles Dreiparteiensystem aus CDU/CSU und SPD sowie der FDP als Mehrheitsbeschaffer. Erosionserscheinungen dieser Grundstruktur zeigten sich bereits in den 1980er Jahren durch das Erstarken der Grünen. Seit der Wiedervereinigung hat sich dann durch Hinzukommen der PDS allmählich ein Fünfparteiensystem herausgebildet. Vgl. Niedermayer 2007. Für eine aktuelle Einschätzung der Koalitionspotenziale im deutschen Fünfparteiensystem siehe auch Pappi 2009. 111 Die FDP beschloss im Jahr 1968, ihren abgekürzten Namen mit Punkten zu schreiben, um sich optisch von den anderen Parteien stärker zu unterscheiden. Mit der Zeit wurde die Schreibweise „F.D.P.“ jedoch zunehmend als unmodern empfunden, so dass sich die Liberalen auf ihrem 52. Bundesparteitag im Mai 2001 in Düsseldorf wieder von den Punkten verabschiedeten (vgl. Bär et al. 2007, S. 147). Die vorliegende Arbeit verwendet dessen ungeachtet aufgrund einer besseren Lesbarkeit durchgängig die Schreibweise „FDP“. 112 Gegen Ende der 1970er Jahre hatten sich in Frankreich vier große Parteien herausgebildet, die sich in einem linken (PS, PCF) und einem rechten (RPR, UDF) Block gegenüber standen. Maurice Duverger (1996) prägte für diese Konstellation den Begriff der „quadrille bipolaire“. Grüne und FN gewinnen im französischen Parteiensystem seit den 1980er Jahren an Bedeutung. Nach einer zunehmenden Fragmentierung des französischen Parteiensystems von Mitte der 1980er Jahre bis etwa 2002 ist eine erneute Konzentration des Parteiensystems im Rahmen einer bipolaren Wettbewerbssituation mit jeweils einer dominanten Partei auf der Linken (PS) und auf der Rechten (UMP) festzustellen. Vgl. Pütz 2004, S. 30-31; Schild, Uterwedde 2006, S. 42-49. 113 Ursprünglich nannte sich die Partei „Union pour la Majorité Présidentielle“, da sie die Kandidatur Jacques Chiracs im Präsidentschaftswahlkampf 2002 unterstützte. Nach der Wahl wurde der Name in „Union pour un Mouvement Populaire“ umbenannt, was eine Beibehaltung der Initialen erlaubte.
114
3 Methodik
démocratie française“ (UDF), die sich im Mai 2007 aufspaltete in „Mouvement Démocrate“ (MoDem) und „Nouveau Centre“ (NC). Auf Seiten der Linken gelten zum einen die „Parti Socialiste“ (PS)114 und zum anderen die „Parti Communiste Français“ (PCF) als relevant und etabliert. Die vom früheren Sozialisten Jean-Pierre Chevènement im Jahr 1993 gegründete Partei „Mouvement des Citoyens“ (MdC) wird gesondert berücksichtigt: Sie war ab 1997 an der Regierung Jospin beteiligt und zählt daher zu den etablierten Parteien. Aufgrund ihrer, vor allem in der Europapolitik, oftmals abweichenden Positionierung zur PS kann sie trotz ihrer geringen Größe nicht einfach unter die PS subsumiert werden.115 Zunehmende Relevanz erlangen seit den 1980er Jahren außerdem die Grünen („Les Verts“ und „Génération écologie“), die aufgrund ihres Koalitionspotenzials als etabliert gelten. Die rechtsextreme Front National (FN) wird ebenfalls als relevante politische Kraft in die Analyse einbezogen. Sie erzielt bei Wahlen stets beträchtliche Stimmenanteile und stellt eine prägende politische Kraft in der französischen Parteienlandschaft dar. Aufgrund mangelnden Koalitionspotenzials zählt die FN jedoch nicht zu den etablierten politischen Kräften.
3.2.3.1 Die Geschlossenheit der politischen Elite Um von einer geschlossenen politischen Elite sprechen zu können, muss sowohl zwischen als auch innerhalb der etablierten Parteien ein breiter Konsens zur jeweiligen Sachfrage bestehen. Dabei interessiert weniger die persönliche, eventuell geheim gehaltene, Meinung des einzelnen Politikers. Entscheidend sind die Botschaften, die nach außen dringen, denn nur diese können die geneigten Bürger gegebenenfalls beeinflussen. Zu kaum einem Thema ist sich die gesamte politische Elite völlig einig. Abgesehen von zwischenparteilichen Divergenzen präsentieren sich auch die einzelnen Parteien aufgrund interner Heterogenitäten nur selten gänzlich geschlossen. Unabhängig vom Politikbereich stehen Parteien stets vor der schwierigen Aufgabe, die vielfältigen Interessen und Wünsche ihrer Mitglieder und Wählerschaften zu integrieren. Soll die Geschlossenheit der politischen Elite eingeschätzt werden, geht es daher immer nur um Tendenzen: Verläuft der Konflikt eher 114 „Parti“ ist im Französischen ein Maskulinum. Zum Zweck einer besseren Lesbarkeit wird das Genus in dieser Arbeit jedoch dem der deutschen Übersetzung angepasst: In Anlehnung an den deutschen Begriff der „Partei“ wird allen französischen Parteien ein weiblicher Artikel vorangestellt. 115 Die „Parti radical de gauche“ und ihre Vorläufer werden aufgrund ihrer symbiotischen Beziehung mit der PS nicht gesondert aufgeführt.
3.2 Operationalisierung von Schlüsselbegriffen
115
zwischen- oder innerparteilich? Gelingt es, innerparteiliche Konflikte einzudämmen und öffentliche Abweichler zu disziplinieren – oder kommt es zum offenen Bruch? Als Materialbasis dienen medial berichtete und sonstige öffentlich zugängliche Stellungnahmen der politischen Elite zum Thema. Ergänzend wurde auch auf Sekundärliteratur zurückgegriffen. Zwangsläufig konnte nicht jede Stellungnahme jedes Spitzenpolitikers im gesamten Zeitraum der Untersuchung Erwähnung finden. Ziel der Analyse war es, die zentralen Linien der inner- und zwischenparteilichen Auseinandersetzung nachzuvollziehen.
3.2.3.2 Das Angebot politischer Alternativen Das Angebot politischer Alternativen wird über eine qualitative Auswertung von Wahlkampagnenmaterial operationalisiert. Wahlkämpfe wirken wie Brenngläser: Die Positionierungen der einzelnen Parteien treten besonders zugespitzt zutage. Hier zeigt sich prägnant, inwiefern dem Bürger eine Alternative zur aktuellen Regierungspolitik geboten wird – und wie sehr die Regierenden aus diesem Grund eine elektorale Bestrafung fürchten müssen. Ausgewertet wurden die Wahlkampagnen aller relevanten Parteien zu den im Untersuchungszeitraum stattfindenden nationalen Wahlen. Auf französischer Seite handelte es sich um die Parlamentswahlen 1993, 1997 und 2007 sowie die Präsidentschaftswahlen 2007. Auf deutscher Seite wurden die Bundestagswahlen 1994, 1998 und 2005 analysiert. Sowohl die Wahrnehmbarkeit als auch die Unterscheidbarkeit des politischen Angebots galt es empirisch zu erfassen: Gefragt wurde zunächst, ob – und wenn ja, wie prominent – die untersuchte Streitfrage im Wahlkampf thematisiert wurde. In einem zweiten Schritt wurden die inhaltlichen Positionierungen der Parteien miteinander verglichen. Neben Wahlprogrammen bezieht die vorliegende Arbeit auch Werbemittel der politischen Parteien, wie etwa Flugblätter und Broschüren, mit in die Analyse ein. Wahlprogramme nehmen in der Regel recht ausführlich zu einer Fülle von Themen Stellung. Argumente und Positionen einer Partei zu einer bestimmten Politik können auf dieser Grundlage gut herausgearbeitet werden. Der Rezipientenkreis umfangreicher Wahlprogramme ist allerdings begrenzt. Weitaus mehr Bürger werden durch breit verteilte Werbemittel erreicht. Die dort gewichteten Themen lassen Rückschlüsse auf die Priorisierung bestimmter Streitfragen durch eine Partei zu. Vor allem hinsichtlich der Frage der Themengewichtung, ist die Vollständigkeit des Datenkorpus von entscheidender Bedeutung. Andernfalls könnte
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3 Methodik
das Übersehen von Wahlkampfmaterialien zu dem Fehlschluss führen, dass einem Thema nur geringe Bedeutung beigemessen wurde. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde für die französischen Wahlkämpfe auf die Archive des „CEVIPOF – Centre de recherches politiques de Science Po“ und der „Bibliothèque nationale de France“ in Paris zurückgegriffen. Auf deutscher Seite gibt es kein zentrales Archiv zur Sammlung von Wahlkampfmaterialien. Die Wahlkampagnen der einzelnen Parteien waren jedoch über die Archive der parteinahen Stiftungen zugänglich. Recherchen wurden im Archiv der Friedrich-EbertStiftung in Bonn, der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt Augustin, der HannsSeidel-Stiftung in München, der Heinrich-Böll-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin sowie im Archiv des deutschen Liberalismus in Gummersbach durchgeführt. Der so zusammengestellte Datenkorpus wurde über eine strukturierende Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2003, S. 89) qualitativ ausgewertet. Falls das untersuchte Thema Eingang in die Wahlkampagne gefunden hat, wurden die Standpunkte der verschiedenen Parteien und die angebotenen politischen Alternativen miteinander verglichen. Besondere Aufmerksamkeit wurde der Frage geschenkt, wie und mit welchen rhetorischen Mitteln die Parteien europapolitische Themen im Wahlkampf kommunizieren.
3.3 Empirische Validierung der politischen Handlungslogik 3.3 Empirische Validierung der politischen Handlungslogik Die Verfasserin führte insgesamt 31 Hintergrundgespräche.116 Kontaktiert wurden Personen, die an den untersuchten europapolitischen Entscheidungsprozessen entweder direkt beteiligt waren oder über gute Einblicke in die Handlungslogiken der jeweiligen Entscheidungsträger verfügten. Es kamen stets sowohl Befürworter als auch Gegner der untersuchten europapolitischen Entscheidungen zu Wort. Obwohl das Regierungshandeln im Mittelpunkt der Untersuchung stand, wurden auch Oppositionspolitiker mit einbezogen, um kontrastierende Sichtweisen zu erhalten. Eine ausgewogene Beteiligung aller relevanten Parteien wurde angestrebt. Aufgrund der höchst unterschiedlichen Redebereitschaft der angefragten Politiker ließen sich aber Ungleichgewichtigkeiten letztlich nicht ganz vermeiden. Die Gespräche sollten zu einem besseren Verständnis der politischen Handlungslogik beitragen. Da eher machtpolitische Erwägungen als sachpolitische Detailfragen von Interesse waren, wurden nach Möglichkeit hochkarätige Entscheidungsträger befragt, die die Spielarten der Machtpolitik aus eigener Er116 Eine Liste der Interviewpartner sowie der Interviewleitfaden finden sich im Anhang. Zur Methode vgl. Cohen 1999.
3.3 Empirische Validierung der politischen Handlungslogik
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fahrung kennen. Mehrere ehemalige Minister, Ministerpräsidenten und Parteivorsitzende, eine ehemalige Premierministerin und ein ehemaliger Staatspräsident konnten für ein Gespräch gewonnen werden. Um eine vertrauensvolle Interviewatmosphäre zu gewährleisten, erhielten alle Gesprächspartner die Garantie, dass keine ihrer Aussagen namentlich zugeordnet werden wird. Auf diese Weise sollten sie zu einer größtmöglichen Offenheit und zu Aussagen jenseits der gängigen pressetauglichen Phrasen motiviert werden. Die Ergebnisse der Gespräche konnten aufgrund des Anonymisierungsgebotes nur indirekt in diese Arbeit einfließen. Ziel war die empirische Validierung der im theoretischen Teil der Arbeit entwickelten theoretischen Überlegungen: Die den Akteuren zugeschriebenen Intentionen und Strategien sollten empirisch rückgekoppelt und auf ihre Plausibilität hin geprüft werden. Weiterhin sollte anhand der Interviews nachvollzogen werden, wie die politischen Entscheidungsträger bestimmte Sachverhalte einschätzten und bewerteten. Insbesondere die Wahrnehmung der Bevölkerungsmeinung und der Medienmeinung zu den untersuchten europapolitischen Fragen sowie die Beurteilung des zwischen- und innerparteilichen Konfliktes zu diesen Themen waren von Interesse. Die Gespräche wurden als teilstandardisierte Leitfadeninterviews mit einer Dauer von etwa einer Stunde konzipiert und von der Verfasserin im Zeitraum von Juli 2007 bis Dezember 2008 in Deutschland und Frankeich durchgeführt. Der Leitfaden sollte das genannte, mit den Interviews verbundene, Erkenntnisinteresse strukturieren und in Gesprächsimpulse überführen. Reihenfolge und Formulierung der Fragen waren jedoch variabel. Ebenso wurden je nach Gesprächssituation und -partner Fragen ergänzt, vertieft oder auch weggelassen. Die Interviews wurden nicht als repräsentatives Sample „der Regierenden“ gewertet; sie sollten als Hintergrundinformation dem besseren Verständnis dienen. Das Bestreben, angemessen auf die unterschiedlichen Erfahrungsschätze der Gesprächspartner einzugehen, hatte daher Vorrang vor dem Ziel der Standardisierung.
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Fallstudien
4 Fallstudien
Anhand von sechs Fallstudien sollen im Folgenden die Hypothesen auf ihre Gültigkeit hin geprüft werden. Die ersten zwei Fallstudien fragen nach dem Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten hinsichtlich der Schaffung einer Europäischen Währungsunion im Zeitraum von 1991 bis 1994. Im Anschluss daran widmen sich die nächsten zwei Fälle der Verwirklichung der Währungsunion im Zeitraum von 1995 bis 1998. Thema der letzten zwei Fallstudien ist der türkische EU-Beitrittsprozess im Zeitraum von 2004 bis 2007. Stets befasst sich eine Fallstudie mit Deutschland, die andere mit Frankreich.
4.1 Die Schaffung einer Europäischen Währungsunion (1991-1994) 4.1 Die Schaffung einer Europäischen Währungsunion (1991-1994) Die Vorgeschichte der Europäischen Währungsunion reicht lange vor die hier untersuchte Fallstudie zurück.117 Einen ersten konkreten Anlauf in Richtung einer Wirtschafts- und Währungsunion unternahmen die Staats- und Regierungschefs der EG bereits auf der Gipfelkonferenz vom 1. und 2. Dezember 1969 in Den Haag. Im Herbst 1970 legte eine Arbeitsgruppe unter Vorsitz des luxemburgischen Premierministers Pierre Werner einen Plan vor, der die Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb von zehn Jahren zum Ziel hatte. Gegensätze in den mitgliedstaatlichen Wirtschafts- und Währungspolitiken und mangelnder politischer Wille erschwerten jedoch die Umsetzung. Mit dem Zusammenbruch des Festkurssystems von Bretton-Woods und der 1973 einsetzenden Ölkrise geriet zudem das internationale Umfeld in Turbulenzen. Die Pläne zur Währungsintegration erschienen vorerst nicht realisierbar. Einen neuen Anstoß gaben der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt und der französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing. Auf ihre Initiative hin wurde im Dezember 1978 das Abkommen über das Europäische Währungssystem (EWS) beschlossen. Im März 1979 trat das EWS mit dem ECU118 als Rechnungseinheit in Kraft.119 Das EWS entwickelte sich zu einem 117 Detaillierte Darstellungen zur Entstehungsgeschichte der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion finden sich bei Krägenau, Wetter 1994 und Schönfelder, Thiel 1994. 118 Die Abkürzung ECU leitete sich aus der englischen Bezeichnung „European Currency Unit“ ab.
S. Weske, Europapolitik im Widerspruch, DOI 10.1007/978-3-531-92748-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Fallstudien
auf die stärkste Währung gegründeten System und damit zum „D-Mark-Block“. Die enge Anbindung an die D-Mark wirkte sich positiv auf die Inflationsbekämpfung in den Mitgliedstaaten aus. Es kam jedoch auch zu Spannungen innerhalb des EWS, da sich die Mitgliedstaaten dem geldpolitischen Kurs der Deutschen Bundesbank machtlos ausgeliefert sahen. Diese Abhängigkeit von den Entscheidungen der Deutschen Bundesbank machte unter anderem Frankreich sehr zu schaffen. Als sich die französische Regierung nach drei Abwertungen des Franc im Frühjahr 1983 zu einer strikten Stabilitätspolitik verpflichtete, geschah dies unter heftigen innenpolitischen Protesten (vgl. Müller-Brandeck-Bocquet 2004, S. 62). Édouard Balladur, der von 1986 bis 1988 das Amt des Finanz- und Wirtschaftsministers innehatte, forderte die Deutsche Bundesbank mehrfach auf, zusätzliche Verpflichtungen zur Stützung der schwächeren EWS-Währungen einzugehen. Angesichts der damit verbundenen Risiken für die Steuerung der Geldmenge und die Preisstabilität lehnten Bundesbank und Bundesregierung dieses Ansinnen jedoch ab (vgl. Schönfelder, Thiel 1994, S. 26). In der Schaffung einer Europäischen Währungsunion sah Frankreich letztlich die Chance, geldpolitische Entscheidungskompetenzen, die de facto längst an die Bundesbank abgetreten worden waren, im europäischen Rahmen wieder zurückzuerlangen. Auf deutscher Seite zählte der damalige deutsche Außenminister HansDietrich Genscher zu den entschiedensten Befürwortern einer Europäischen Währungsunion.120 Von der Schaffung einer gemeinsamen Währung versprach er sich vor allem auch eine vertiefte politische Integration. Das für Währungsfragen eigentlich zuständige Finanzministerium und auch die Deutsche Bundesbank nahmen Genschers Vorstoß mit Zurückhaltung auf. Trotz anfänglicher Skepsis blockierten sie die Pläne zur Schaffung einer gemeinsamen europäischen Währung nicht, sondern versuchten, deren stabilitätspolitische Orientierung von Beginn an mitzugestalten (vgl. Thiel 2002, S. 403-404). Am Ende der deutschen EG-Präsidentschaft beauftragte der Europäische Rat am 27. und 28. Juni 1988 in Hannover eine Sachverständigengruppe unter 119 Das EWS löste den seit 1972 bestehenden Europäischen Wechselkursverbund („Währungsschlange“) ab. Mitglieder dieses Wechselkursverbundes waren die sechs EG-Gründungsmitglieder und die 1973 der EG beigetretenen Staaten Großbritannien, Irland und Dänemark. Norwegen und Schweden waren assoziiert. Mit Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems wurden im März 1973 flexible Wechselkurse gegenüber dem Dollar eingeführt. Die „Währungsschlange“ bestand noch bis 1979 weiter, da die Währungen untereinander enge Wechselkursbandbreiten von ± 2,25 Prozent verteidigten. Schon im Gründungsjahr mussten allerdings Großbritannien und Irland den Verbund verlassen. Ein Jahr später folgte Italien aufgrund anhaltender Disparitäten und im Januar 1974 trat auch Frankreich aus dem Wechselkursverbund aus. Vgl. Krägenau, Wetter 1994, S. 61. 120 Wegweisend war Genschers „Memorandum für die Schaffung eines europäischen Währungsraumes und einer Europäischen Zentralbank“ vom Februar 1988.
4.1 Die Schaffung einer Europäischen Währungsunion (1991-1994)
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Vorsitz von Kommissionspräsident Jacques Delors, innerhalb eines Jahres konkrete Schritte zur Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion auszuarbeiten.121 Der Delors-Ausschuss empfahl schließlich einen dreistufigen Prozess, bei dem der Eintritt in die erste Stufe zugleich zur Teilnahme am gesamten Prozess verpflichtete. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass die Wirtschafts- und Währungsunion wieder, wie beim ersten Versuch Anfang der 1970er Jahre, bereits in der Anfangsphase scheitert. Trotz einer sehr skeptischen Haltung der britischen Regierung erklärte der Europäische Rat bei seiner Tagung am 26. und 27. Juni 1989 in Madrid, dass der Delors-Bericht eine gute Grundlage für die weiteren Arbeiten bilde. Um den Prozess weiter voranzutreiben, wurde auf Vorschlag Genschers und seines französischen Amtskollegen, Roland Dumas, ein Ausschuss hochrangiger Beauftragter der Außen- und Finanzminister unter Vorsitz von Élisabeth Guigou122 einberufen. Dieser sollte in Vorbereitung für das Treffen des Europäischen Rates in Straßburg im Dezember 1989 die wichtigsten noch offenen Fragen in Zusammenhang mit der Währungsunion benennen. Noch vor diesem Treffen kam es mit dem Fall der deutschen Mauer am 9. November 1989 zu einem Ereignis von welthistorischer Bedeutung. Dieses Ereignis bestärkte den deutschen wie auch den französischen Willen zur Währungsunion jedoch nur zusätzlich: Durch eine feste Einbindung Deutschlands in den europäischen Integrationsprozess sollten alte Ängste vor einer deutschen Dominanz im Kern erstickt werden.123 Bundeskanzler Helmut Kohl betonte in diesem Zusammenhang immer wieder, dass Deutschland nicht nur eine monetäre, sondern auch eine vertiefte politische Integration anstrebe. Gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand setzte er sich für eine Koppelung von Währungsintegration und politischer Integration ein.124 Am 8. und 9. Dezember 1989 einigten sich die EG-Staaten in Straßburg auf die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion in drei Stufen und am 28. April 1990 beschloss der Europäische Rat in Dublin die Einberufung einer zweiten Regierungskonferenz zur Schaffung einer Politischen Union. Die italienische
121 Der Ausschuss setzte sich aus den Präsidenten der Zentralbanken, einem weiteren Kommissionsmitglied und drei Sachverständigen zusammen. Das Mandat von Hannover berief sich inhaltlich auf die Einheitliche Europäische Akte und das dort bekräftigte Ziel einer Wirtschafts- und Währungsunion. 122 Élisabeth Guigou war zum damaligen Zeitpunkt Koordinatorin der französischen Europapolitik im Elysée-Palast. 123 Nicht haltbar ist allerdings die Deutung, die Aufgabe der D-Mark sei der „deutsche Preis“ für die Wiedervereinigung gewesen. Vgl. Thiel 2002, S. 394. 124 Zu den damit verbundenen Motivationen sowie zu den unterschiedlichen politischen Finalitätsvorstellungen Deutschlands und Frankreichs vgl. Woyke 2000, S. 40-41.
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4 Fallstudien
Ratspräsidentschaft eröffnete im Dezember desselben Jahres beide Regierungskonferenzen. Der im Rahmen der Fallstudie untersuchte Zeitraum beginnt kurz vor der Zusammenkunft des Europäischen Rates in Maastricht am 9. und 10. Dezember 1991. Viele strittige Fragen zur Europäischen Währungsunion konnten bereits im Vorfeld des Gipfeltreffens geklärt werden. Zu besprechen galt es in Maastricht vor allem noch die Ausformulierung der Kriterien für den Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Abstimmungsmodalitäten für den Übergang. Viele Beobachter zeigten sich überrascht darüber, wie detailliert die Planung und wie strikt der Zeitplan letztendlich im Vertrag von Maastricht über die Europäische Union (EUV-M)125 festgeschrieben wurde (vgl. Rahmsdorf 1992, S. 125). Der Vertrag von Maastricht legte fest, dass die Gemeinschaft frühestens zum 1. Januar 1997 und spätestens zum 1. Januar 1999 mit den Mitgliedstaaten, die die Voraussetzungen erfüllen, in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion eintreten sollte. Dieser Übergang in die Endstufe wurde als irreversibel erklärt. Der Vertrag benannte vier Kriterien (niedrige Inflation, konsolidierte Staatsfinanzen, stabile Wechselkurse und harmonisierte langfristige Zinssätze126), anhand derer die Konvergenzfortschritte der Staaten gemessen und auf deren Basis über den Zugang in die Endstufe entschieden werden sollte. Die Staats- und Regierungschefs kamen in Maastricht weiterhin überein, dass alle Mitgliedstaaten an der zweiten Stufe der Währungsunion teilnehmen und somit die Chance erhalten sollten, sich für den Eintritt in die Endstufe zu qualifizieren. Gleichzeitig beschlossen sie, dass keiner der Mitgliedstaaten jene, die die 125 Die für die Wirtschafts- und Währungsunion maßgeblichen Passagen des Maastrichter Vertragswerkes betrafen das Europäische System der Zentralbanken, die europäische Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik, den Zahlungs- und den Kapitalverkehr sowie die Übergangsregelungen für die zweite und die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion. Die „Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank“ und die „Satzung des Europäischen Währungsinstituts“ wurden in Protokollen mit Vertragsrang festgelegt. Das „Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“, das „Protokoll über die Konvergenzkriterien“ und das „Protokoll über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion“ ergänzten die Vertragsbestimmungen. Ebenfalls in Protokollerklärungen festgehalten wurde die „Opt Out“-Regelung für Großbritannien und Dänemark. Vgl. Schönfelder, Thiel 1994, S. 145. 126 1) Die Inflationsrate darf nicht höher als 1,5 Prozentpunkte über der Inflationsrate der höchstens drei preisstabilsten Länder liegen. 2) Die jährliche Neuverschuldung darf maximal 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) betragen und die Staatsverschuldung 60 Prozent des BIP nicht übersteigen. 3) Die Währung darf in den zwei Jahren vor der Prüfung keinen ernsten Kursspannungen unterlegen haben und nicht abgewertet worden sein. 4) Das nominale langfristige Zinsniveau darf nicht mehr als zwei Prozentpunkte über dem der höchstens drei preisstabilsten Mitgliedstaaten liegen. Vgl. Art. 109j Abs. 1 EUV-M und das Zusatzprotokoll zu den Konvergenzkriterien im Anhang des Vertrages.
4.1 Die Schaffung einer Europäischen Währungsunion (1991-1994)
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Voraussetzungen erfüllen, von einer Verwirklichung der Währungsunion abhalten sollte. Die Unabhängigkeit der künftigen Europäischen Zentralbank (EZB), ihre Verpflichtung auf das Ziel der Preisstabilität und das Verbot, Staatsausgaben zu finanzieren, wurden ebenfalls vertraglich verankert. In vielen Punkten waren die Bestimmungen zur EZB sogar strenger und expliziter als das Gesetz über die Deutsche Bundesbank, das den um die Stabilität der Währung besonders besorgten Deutschen stets als Maßstab galt (vgl. Schönfelder, Thiel 1994, S. 147). Durch die sogenannte „no bail out“-Klausel (Art. 104b EUV-M) wurde sichergestellt, dass kein Teilnehmerland der Währungsunion für die Schulden eines anderen Teilnehmerlandes haftet. Die Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik verblieb laut Vertrag von Maastricht bei den Mitgliedstaaten. Zwar sollten diese ihre Wirtschaftspolitik als „eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“ (Art. 103 EUV-M) betrachten und miteinander koordinieren, die französische Idee einer europäischen „Wirtschaftsregierung“ konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Nach der Unterzeichnung des Vertrages am 7. Februar 1992 begann das Bangen um dessen Ratifizierung: Am 2. Juni 1992 lehnten die Dänen den Vertrag in einem Referendum mehrheitlich ab. Der Ratifikationsprozess wurde dennoch fortgesetzt. Die französischen Bürger stimmten im Referendum vom 20. September 1992 äußert knapp für das Vertragswerk. Deutschland ratifizierte den Vertrag im Dezember desselben Jahres verfassungsgemäß auf parlamentarischem Wege, wobei der endgültige Übergang zur dritten Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion an ein zustimmendes Votum des Bundestages geknüpft wurde. Das Zustimmungsgesetz wurde am 28. Dezember 1992 förmlich verkündet. Aufgrund der beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Beschwerden gegenüber dem Vertragswerk schob der Bundespräsident die Unterzeichnung der deutschen Ratifikationsurkunde allerdings auf. Neben der schwierigen Ratifizierung des Vertrages von Maastricht ergab sich noch eine weitere Belastungsprobe für die geplante Währungsunion: Im Herbst 1992 und im Verlauf des Jahres 1993 kam es mehrfach zu heftigen Turbulenzen auf dem Devisenmarkt. Im August 1993 sahen sich die EG-Finanzminister und Notenbankgouverneure gezwungen, die Wechselkursbandbreiten (mit Ausnahme der D-Mark/Gulden-Parität) von ± 2,25 bzw. ± 6 Prozent auf ± 15 Prozent zu erweitern. Am 18. Mai nahmen die Dänen den Vertrag von Maastricht in einem zweiten Referendum an und am 12. Oktober erklärte das deutsche Bundesverfassungsgericht den Vertrag für vereinbar mit dem deutschen Grundgesetz.127 Damit 127 In der Begründung des sogenannten „Maastricht-Urteils“ unterstrich das Bundesverfassungsgericht, dass die Wirtschafts- und Währungsunion als eine Stabilitätsgemeinschaft angelegt sein müsse. Der Eintritt eines Mitgliedslandes in die dritte Stufe dürfe ohne strikte Erfüllung
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waren alle Hürden der Ratifikation genommen und der Vertrag von Maastricht konnte zum 1. November 1993 in Kraft treten. Auf einer Sondersitzung des Europäischen Rates in Brüssel gelang wenige Tage zuvor die Einigung auf Frankfurt am Main als Sitz des Europäischen Währungsinstituts (EWI) sowie der Nachfolgeinstitution EZB. Auf seiner Tagung am 10. und 11. Dezember 1993 bestellte der Europäische Rat den Präsidenten der Zentralbank von Belgien, Baron Alexandre Lamfalussy, zum Präsidenten des EWI. Die Gründung dieses Instituts zum 1. Januar 1994 läutete die zweite Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion ein.128
4.1.1 Deutschland: Die Liebe der Deutschen zu ihrer D-Mark Der breiten Bevölkerung in Deutschland fiel es schwer, sich mit den Plänen einer Europäischen Währungsunion anzufreunden. Zweimal in einer Generation hatten die Deutschen ihr Geldvermögen wegen einer völligen Zerrüttung der Währung eingebüßt (vgl. Issing 2008, S. 18). Vor dem Hintergrund dieser schmerzhaften Erfahrungen mit Inflation war es für die meisten Deutschen nicht einsichtig, warum sie ihre nun endlich stabile Währung freiwillig wieder aufgeben sollten. Die Deutschen hingen so innig an ihrer Währung, dass manche Autoren sogar von einem „D-Mark-Patriotismus“ (Engelmann et al. 1997, S. 90) sprachen. Die D-Mark war zum nationalen Identifikationssymbol geworden: Nach der Währungsreform im Jahr 1948 hatte sie sich zum Sinnbild für den ökonomischen Aufstieg Deutschlands aus den Trümmern der Nachkriegszeit entwickelt (vgl. Froehlich 2001, S. 73). Auch in der deutschen Wissenschaftslandschaft stieß die Idee einer Europäischen Währungsunion auf Skepsis. Die Debatte war geprägt von der Auseinandersetzung zwischen Anhängern der „Krönungstheorie“ und Anhängern der „Lokomotivtheorie“ (vgl. Hellmann et al. 2006, S. 95; Schönfelder, Thiel 1994, S. 31). Erstere verstanden eine gemeinsame Währung als abschließende Krönung des Einigungsprozesses, die erst nach vollendeter volkswirtschaftlicher Konvergenz und politischer Integration erfolgen sollte. Letztere versprachen sich hingegen von der Schaffung der Währungsunion einen Lokomotiv-Effekt, der die wirtschaftliche Konvergenz und die politische Integration erst richtig vorantreiben würde.129 Die deutsche Wirtschaftswissenschaft folgte überwiegend der der Konvergenzkriterien nicht möglich sein. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 12.10.1993. Vgl. weiterführend Rahmsdorf 1994, S. 140. 128 Dem EWI wurden keine geld- oder währungspolitischen Befugnisse übertragen. Seine Aufgabe war es vielmehr, die rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen für die gemeinsame Währung zu schaffen und die Errichtung der EZB vorzubereiten. 129 Wolfgang Wessels (1994) differenziert die Diskussion noch weiter aus. Er unterscheidet zwischen der „Krönungsthese“ (die Währungsunion krönt die bereits erfolgte politische Integra-
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Krönungstheorie. Im Juni 1992 veröffentlichte eine Gruppe renommierter Ökonomen ein Manifest in der FAZ: Es gäbe keine sachlichen Gründe dafür, „eine monetäre Einheit auf ein wirtschaftlich, sozial und interessenpolitisch noch uneiniges Europa zu stülpen.“130 Ohne Not werde der europäische Integrationsprozess einer erheblichen Belastung ausgesetzt, kritisierten die Verfasser des Manifests.
4.1.1.1 Die Meinung der Medien Im untersuchten Zeitraum vom 1. November 1991 bis zum 31. Oktober 1994 wurden bei der SZ 71 und bei der FAZ 80 Kommentare zum Thema gezählt (Abbildung 4.1). Intensität der Kommentierung im Zeitverlauf SZ
FAZ
30 25 20 15 10 5 0 11/91 12/91 01/92 02/92 03/92 04/92 05/92 06/92 07/92 08/92 09/92 10/92 11/92 12/92 01/93 02/93 03/93 04/93 05/93 06/93 07/93 08/93 09/93 10/93 11/93 12/93 01/94 02/94 03/94 04/94 05/94 06/94 07/94 08/94 09/94 10/94
Anzahl der Kommentare
SZ+FAZ
Monat/ Jahr
Abbildung 4.1: Kommentierung zur Schaffung einer EWU in SZ und FAZ
tion), der „Parallelitätsthese“ (Politische Union und Währungsunion sind parallel zu verwirklichen), der „Automatikthese“ (die Währungsunion bedingt automatisch eine bundesstaatsähnliche Verfassungsstruktur), der „Koppelthese mit ‚Peitscheneffekt‘“ (die Vollendung der Währungsunion wird an Fortschritte der Politischen Union gekoppelt), der „Sui-generis-These“ (die Währungsunion muss durch eine Politische Union ergänzt werden, die den unterschiedlichen Befindlichkeiten der Mitgliedsländer gerecht wird) und der „Trennungsthese“ (die Währungsunion wird ohne Politische Union aus einer wirtschaftlichen Integrationslogik heraus entwickelt). 130 Die EG-Währungsunion führt zur Zerreißprobe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.06.1992, S. 15-16.
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In beiden Medien erreichte die Kommentierung anlässlich der Regierungskonferenz von Maastricht im Dezember 1991 ihren Höhepunkt. Auch im Februar 1992, als der Maastrichter Vertrag unterzeichnet wurde, war eine verstärkte Kommentierung zu beobachten. Zwei weitere Spitzen waren durch die Referenden in Dänemark und Frankreich im Juni bzw. September 1992 verursacht. Weniger Aufsehen als die Volksabstimmungen in den Nachbarländern, aber doch eine verstärkte Aufmerksamkeit bewirkte die Billigung des Maastrichter Vertrages durch Bundestag und Bundesrat im Dezember 1992. Danach ließ die Kommentierung in beiden Medien nach. Erst im August 1993 stieg die Anzahl der Kommentare aufgrund von Turbulenzen auf dem Devisenmarkt und Anpassungen der Wechselkursbandbreiten im EWS wieder an. Auch im Oktober 1993, als das Bundesverfassungsgericht das „Maastricht-Urteil“ verkündete und Frankfurt als Sitz des EWI und der EZB festgelegt wurde, war eine erhöhte Aufmerksamkeit festzustellen. In der Folge ebbte die Kommentierung bis zum Ende des Untersuchungszeitraums ab. 1994 beschäftigten sich die Artikel vor allem mit der Frage der Konvergenzkriterien und der „blauen Briefe“131 aus Brüssel. Bei der SZ wurden drei befürwortende, 21 ablehnende und 47 ambivalente Bewertungen, bei der FAZ keine befürwortende, 18 ablehnende und 62 ambivalente Bewertungen codiert. Beide Zeitungen standen dem Ziel einer Europäischen Währungsunion also überwiegend negativ gegenüber (Abbildung 4.2). Medienmeinung
SZ+FAZ
FAZ
SZ
-45
-30
-15
0
15
30
45
Saldo der Bewertungen
Abbildung 4.2: Bewertung des Politikziels „Schaffung einer EWU“ durch SZ und FAZ 131 Die offiziellen Verwarnungen, die die EU-Kommission im Fall eines übermäßigen Haushaltsdefizits ausspricht, werden umgangssprachlich als „blaue Briefe“ bezeichnet – eine Anspielung auf die Briefe, in denen Schulen eine Gefährdung der Versetzung mitteilen.
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Ihre skeptische Haltung zeigten beide Medien ganz offen: „Wegen des Vertrags von Maastricht ist die Bundesregierung heftig kritisiert worden – unter maßgeblicher Beteiligung dieser Zeitung“132, schrieb die FAZ und die SZ leitete einen Kommentar mit den Worten ein: „Wir, nicht gerade glühende Anhänger der in Maastricht skizzierten Währungsunion […].“133 SZ und FAZ würdigten gleichermaßen die europäische Integration als Projekt des Friedens und betonten die besondere Verantwortung Deutschlands für diesen Frieden. Nie wurde der Wert der europäischen Integration an sich in Frage gestellt. Die oftmals harsche Kritik fokussierte sich ausschließlich auf die geplante Währungsunion. Das Fazit der meisten Kommentare lautete: Auch wenn die Währungsunion politisch gut gemeint sein mag, so ist sie doch ökonomischer Unsinn. Der Vertrag von Maastricht, schrieb die FAZ, sei ein „schlechter Vertrag des guten Willens“134. Selbst die wenigen Kommentare, die die Schaffung einer Währungsunion insgesamt positiv bewerteten, zeigten sich besorgt ob der wirtschaftlichen Risiken. Auch sie mahnten zur Vorsicht bei der konkreten Ausgestaltung. Im Sinne einer Vertiefung der europäischen Integration begrüßten sie das Projekt dennoch: „Es war Aufgabe der Ökonomen, das Vertragswerk auf Unstimmigkeiten zu prüfen und Alarm zu schlagen. Das haben sie getan. Es ist die Aufgabe der Politiker, den großen Tanker trotzdem nicht zu stoppen […]. Die Richtung stimmt.“135 Kritische Stimmen konstatierten, dass Deutschland aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit komplexbeladen sei.136 Mit der Schaffung der Währungsunion handle die Regierung gegen das nationale Interesse. „Warum ausgerechnet die Deutschen begierig darauf sind, ihre Währung loszuwerden, ist intelligenten Gesprächspartnern im Ausland nicht zu vermitteln“137, so die FAZ. Auch die SZ schilderte die Aufgabe der D-Mark als ein Opfer „auf dem Altar der europäischen Einheit“138, das in einem seltsamen Kontrast zum egoistischen Nutzenkalkül der Partnerländer stehe. Die Bundesregierung sei bereit „der EG vom Besten zu opfern, was Deutschland nach dem Krieg hervorgebracht hat, wogegen die Partnerstaaten den Eindruck erwecken, als prüften sie jeden Tag, 132 Hans D. Barbier: Nach Europa. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.03.1994, S. 13. 133 Franz Thoma: Ein Währungstermin wankt. In: Süddeutsche Zeitung, 25.08.1993, S. 4. 134 Hans D. Barbier: Ein schlechter Vertrag des guten Willens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.1992, S. 17. 135 Udo Bergdoll: Ein Signal zur rechten Zeit. In: Süddeutsche Zeitung, 03.12.1992, S. 4. 136 Vgl. Josef Joffe: Wie hältst du's mit den Deutschen? In: Süddeutsche Zeitung, 30.11.1991, S. 4; Peter Hort: In der Maastricht-Falle. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.04.1992, S. 15; Klaus-Dieter Frankenberger: Europa auf dünnem Eis. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.10.1992, S. 1. 137 Hans D. Barbier: Fluchtklausel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.12.1991, S. 15. 138 Dieter Schröder: Keine Mark für Maastricht. In: Süddeutsche Zeitung, 07.12.1991, S. 4.
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was die Gemeinschaft ihnen denn heute eingebracht hat.“139 In der SZ trat generell ein ausgesprochenes Misstrauen gegenüber den Partnerländern zutage: Im Gegensatz zu den Schwachwährungsländern brauche Deutschland die Währungsunion nicht. Deutschland werde von den Partnerländern „erpresst“140, einziges Anliegen der anderen Staaten sei es, die Dominanz der D-Mark zu beseitigen: „Die Mark ist in einer Falle, gelockt von François Mitterrand“141, argwöhnte die SZ und stellte in einem anderen Beitrag fest: „Kanzler Helmut Kohl ist in Maastricht über den Tisch gezogen worden.“142 Die mit Abstand am häufigsten erhobene Forderung lautete in beiden Medien: Stabilität.143 Die Gestaltung der Währungsunion müsse an strikten Stabilitätskriterien ausgerichtet werden. Im Zweifelsfall solle sie erst einmal mit wenigen, besonders stabilitätsorientierten Ländern gebildet werden. Außerdem reiche es nicht, die Länder beim Eintritt in die Europäische Währungsunion nach strengen Richtlinien auszuwählen. Auch nach Beginn der Währungsunion müssten Disziplinierungsmaßnahmen sichergestellt werden. Sehr häufig wurden Negativprognosen formuliert: Die Währungsunion werde zwangsläufig zur „Inflationsgemeinschaft“144 werden. Die SZ räsonierte: „Die Mentalitäten der europäischen Völker sind zu verschieden. Im Süden wird Geld leichter ausgegeben als im Norden […] Auch die Arbeitsintensität ist, mentalitätsbedingt, in Neapel anders als in Hamburg.“145 Es wurde gefolgert, dass „gutes Geld – die DM – nicht gut bleiben kann, mischt man es mit schlechtem. Das ist genauso, wie wenn ein Kerngesunder sich mit einem Schwerkranken ins Bett legt, er wird angesteckt.“146 Die Kommentatoren erwiesen sich größtenteils als Anhänger der „Krönungstheorie“. In einem Beitrag der SZ hieß es unmissverständlich: „Die gemeinsame Währung muss, das war stets unser Standpunkt, die Krönung der wünschenswerten europäischen Einigung sein, nicht ihr Anfang.“147 Beide 139 Winfried Münster: Spätestens 1999 wird die D-Mark abgeschafft. In: Süddeutsche Zeitung, 05.12.1991, S. 4. 140 Winfried Münster: Erpresst wird, wer erpressbar ist. In: Süddeutsche Zeitung, 10.12.1991, S. 4. 141 Franz Thoma: Die Mark in der Falle. In: Süddeutsche Zeitung, 14.12.1991, S. 4. 142 Winfried Münster: Eine EG-Steuer als Ausweg aus der Krise. In: Süddeutsche Zeitung, 25.02.1992, S. 4. 143 Siehe beispielhaft Franz Thoma: Erhobener Zeigefinger. In: Süddeutsche Zeitung, 29.02.1992, S. 33; Hans D. Barbier: Verhaltensforscher. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.07.1992, S. 13; Winfried Münster: Der Weg in die Währungsunion. In: Süddeutsche Zeitung, 24.09.1994, S. 21. 144 Peter Hort: In der Maastricht-Falle. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.04.1992, S. 15. 145 Franz Thoma: Gefährliches Abenteuer mit dem Europa-Geld. In: Süddeutsche Zeitung, 08.02.1992, S. 4. 146 Franz Thoma: Ruf nach Referendum. In: Süddeutsche Zeitung, 26.06.1992, S. 31. 147 Franz Thoma: Streitpunkt Europageld. In: Süddeutsche Zeitung, 07.03.1992, S. 33.
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Medien sahen in der Schaffung einer Politischen Union eine notwendige Voraussetzung für eine Währungsunion. Nicht immer wurde allerdings explizit dargelegt, was unter einer Politischen Union zu verstehen sei. Meist ging es um den Aspekt der politischen Verantwortlichkeit: „Die EG muss einer wirksamen demokratischen Kontrolle unterworfen werden, wenn sie den Anspruch erhebt, eine alleingültige Währung herauszugeben.“148 Konkret wurden mehr Rechte für das Europäische Parlament gefordert. Auch von der Vorbedingung eines europäischen „Staates“ für eine gemeinsame Währung war die Rede: „Die Vorstellung der übereifrigen Währungsunionisten, dass ein gemeinsamer Markt eine gemeinsame Währung braucht, ist offensichtlich falsch. Wohl aber braucht eine dauerhaft stabile Währung zunächst einen stabilen Staat.“149 Nur vereinzelt wurde auch Kritik an der Idee einer Politischen Union geäußert: Diese könne sich durchaus auch negativ für Deutschland auswirken, da man bei Mehrheitsbeschlüssen überstimmt werden könne und auch das Europäische Parlament nicht zwangsläufig für die Stärke der D-Mark bzw. einer künftigen europäischen Währung eintreten würde.150 Scharf kritisiert wurde die in Maastricht beschlossene „Unumkehrbarkeit“ des Prozesses: „Ein gewaltiges Werk, das letztendlich an einer statistischen Automatik hängt? Das ist mehr als eine protokollarische Merkwürdigkeit.“151 Dass sich Großbritannien noch nicht endgültig verpflichten wollte und in Maastricht auf einer „Fluchtklausel“ bestand, rief Beifall hervor: „Diese Klausel ist das Beste am ganzen Vertrag. Sie darf nicht nur den Engländern, sie muss allen Unterzeichnern zugestanden werden.“152 Beide Zeitungen forderten, dass das Parlament einem endgültigen Eintritt in die Währungsunion unbedingt noch einmal explizit zustimmen müsse. Die Zusicherung der Bundesregierung, das Parlament werde sich in jedem Fall noch einmal mit dieser Frage „befassen“, wurde als unzureichend bewertet: „Befassen heißt eigentlich gar nichts.“153 SZ und FAZ standen jeglichem Automatismus und Zeitdruck äußerst kritisch gegenüber. Die EU sei noch nicht reif für die Währungsunion, meinte etwa die FAZ: „Konvergenz, der Gleichlauf der Volkswirtschaften, lässt sich weder am Reißbrett entwerfen, noch von Politikern verordnen.“154 Die SZ verlangte in diesem Zusammenhang wiederholt nach einer gemeinsamen Wirtschafts- und 148 Winfried Münster: Die Politische Union – eine Fiktion. In: Süddeutsche Zeitung, 18.11.1991, S. 4. 149 Wolfram Weimer: Keine Währung ohne Staat. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.08.1992, S. 9. 150 Dieter Schröder: Der Fluch der guten Tat. In: Süddeutsche Zeitung, 14.03.1992, S. 4. 151 Hans D. Barbier: Automatik '98. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.1991, S. 15. 152 Hans D. Barbier: Fluchtklausel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.12.1991, S. 15. 153 Franz Thoma: Die Mark in der Falle. In: Süddeutsche Zeitung, 14.12.1991, S. 4. 154 Peter Hort: Eine Vision zerbricht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.1992, S. 15.
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Finanzpolitik der Mitgliedstaaten: „So wie der Mond nicht ohne Sonne leuchtet, bleibt eine Valuta ein blasses Etwas, wenn sie nicht von einer gemeinsamen Finanz- und Wirtschaftspolitik mit Leben erfüllt wird.“155 Von Jacques Delors wird der Ausspruch übermittelt: Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle Deutschen glauben an die Deutsche Bundesbank (vgl. Issing 2008, S. 19). Einen entsprechend wichtigen Platz nahm die Europäische Zentralbank in der deutschen medialen Debatte ein. SZ und FAZ forderten gleichermaßen ihre strikte Unabhängigkeit.156 Gleichzeitig zweifelten sie, ob eine unabhängige Notenbank auf europäischer Ebene überhaupt realisierbar sei. Mitterrands Aussage während der französischen Referendumskampagne, dass die EZB letztlich nur ein ausführendes Organ und politischen Weisungen verpflichtet sei, nahmen die deutschen Medien sehr besorgt auf.157 Diese Äußerung wurde als eine weitere Bestätigung für den Verdacht gesehen, dass die übrigen europäischen Staaten politischen Druck auf die EZB ausüben würden. Diesem Druck, so die Vermutung, könnte die EZB langfristig nicht Stand halten.158 Vor allem die FAZ warb leidenschaftlich für Frankfurt als künftigen Sitz der EZB. Dies sei keine Frage nationaler Eitelkeit, sondern vielmehr ein Bekenntnis zur Geldwertstabilität: „Frankfurt als Sitz hat einen unschlagbaren Vorteil: die Symbolkraft Frankfurts als Hort der Währungsstabilität auch für Europa.“159 Generell betonten beide Medien auffallend oft die Sachlichkeit ihrer Argumente. Ihre Skepsis gegenüber dem Euro wollten sie nicht als nationalistische Sentimentalität verstanden wissen. Dementsprechend wenig Gewicht maßen sie der Namensfrage bei: „Den seriösen Kritikern der Währungsunion geht es nicht um nationale Sprachsymbole, sondern um die Qualität der künftigen Geldpolitik“, schrieb die FAZ.160 Ähnlich die SZ: „Es ist nebensächlich wie die Währung heißt […], das ist nur ‚Kosmetik‘.“161 Beide Zeitungen verstanden sich in ausgeprägtem Maße als Sprachrohr der Bevölkerung. Sehr oft wurde in den Kommentaren die ablehnende Haltung der Bevölkerung zur Währungsunion thematisiert. Die Medien übten damit eine beträchtliche Verstärkerfunktion aus. Des Weiteren wurde oft eine herablassende Haltung der Regierung gegenüber der Bevölkerung bemängelt. Die Sorge der Bürger, „ob denn hoch droben auf dem politischen Dach Europas ihre Inflations-
155 Otto Schwarzer: Requiem für die ECU. In: Süddeutsche Zeitung, 29.05.1992, S. 33. 156 Siehe beispielhaft Jürgen Jeske: Maastricht und Frankfurt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.12.1991, S. 15; Tacheles. In: Süddeutsche Zeitung, 16.03.1992, S. 21. 157 Vgl. Franz Thoma: Katze aus dem Geldsack. In: Süddeutsche Zeitung, 09.09.1992, S. 29. 158 Vgl. Otto Schwarzer: Geldpolitik im Wandel. In: Süddeutsche Zeitung, 18.07.1992, S. 23. 159 Peter Hort: Kohl im Wort. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.06.1992, S. 15. 160 Hans D. Barbier: Auf der Rückseite. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.1991, S. 11. 161 Franz Thoma: Abschüssiger Geldweg. In: Süddeutsche Zeitung, 03.04.1992, S. 33.
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ängste künftig noch wahrgenommen und gewürdigt werden“162, hielt die FAZ etwa für völlig gerechtfertigt. Schlecht aufgenommen wurde in diesem Zusammenhang die Aussage des damaligen Staatssekretärs im Bundesfinanzministerium, Horst Köhler, die Kritik am Vertrag von Maastricht sei „provinziell“. Solidarisch verkündete daraufhin die SZ: „Bis auf ein paar Wenige sind wir dann eben alle provinziell“ (Hervorhebung im Original).163 Die Kommentatoren forderten eine breite Debatte zum Thema der Währungsunion. Der Bundesregierung wurde eine beschwichtigende und beschönigende Haltung attestiert, die keinen Widerspruch zulasse. Viele Kommentatoren beklagten den Mangel einer offenen Regierungskommunikation: „Eine umfassende Analyse aus Bonn, die – verständlich geschrieben – auch auf die unzweifelhaft vorhandenen Risiken einer Euro-Währung hinweist, muss erst noch veröffentlicht werden“164, so die SZ. Auch die FAZ sprach von einer „Funkstille“ der Regierung: „[D]ie Währungsunion und die Abschaffung der D-Mark blieben den Fachzirkeln des Finanzministers und der Bundesbank vorbehalten.“165 Die Bundesregierung speise die Bürger mit „Plattitüden und Allgemeinplätzen“166 ab. Anstelle von Argumenten werde einfach gesagt, dass es zu Europa keine Alternative gebe oder dass der europäische Zug abgefahren sei und nicht mehr angehalten werden dürfe. Getragen von dieser insgesamt sehr kritischen Grundhaltung wurde in beiden Medien explizit zur Nicht-Ratifikation des Maastrichter Vertrages aufgerufen: „Ob es nun völkerrechtlich schwierig ist oder nicht: Bundestag und Bundesrat dürfen sich im Ratifikationsverfahren nicht dazu hergeben, den Vertrag mit einem absegnenden Ja zu garnieren“167, hieß es in einem Kommentar der FAZ. „Immerhin gibt es noch ein Parlament. Das sollte dem Bundeskanzler hier nicht folgen“168, meinte ebenso ein Journalist der SZ. Vereinzelt fanden sich aber auch Plädoyers für eine Ratifikation: Der Vertrag von Maastricht sowie die Pläne zur Währungsunion dürften „nicht an Deutschland scheitern“169, so wurde gewarnt. In einem Kommentar der SZ hieß es besorgt: „Jeder Rückschlag in der
162 Hans D. Barbier: Abschied von der Mark? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.12.1991, S. 1. 163 Josef Joffe: Abschied von Klein-Europa. In: Süddeutsche Zeitung, 07.08.1993, S. 4. 164 Schwarzer, Otto: Angst vor Euro-Währung und Binnenmarkt. In: Süddeutsche Zeitung, 17.08.1992, S. 20. 165 Peter Hort: Sündenböcke, Unwahrheiten und Versäumnisse. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.09.1992, S. 14. 166 Klaus Dreher: Die Leute wollen überzeugt werden. In: Süddeutsche Zeitung, 19.06.1992, S. 4. 167 Hans D. Barbier: Währung, Markt und Politik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.09.1992, S. 15. 168 Franz Thoma: Die Mark in der Falle. In: Süddeutsche Zeitung, 14.12.1991, S. 4. 169 Dieter Schröder: Jein zu Maastricht. In: Süddeutsche Zeitung, 02.12.1992, S. 4.
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europäischen Einigung würde einer Kettenreaktion gleich Misstrauen gegen das vergrößerte Deutschland erzeugen.“170 Eine deutliche Differenz in der Kommentierung beider Medien zeigte sich anlässlich der Frage, ob die parlamentarische Ratifikation überhaupt ein angemessenes Verfahren für eine Entscheidung von derart epochaler Bedeutung sei. „Eine Handvoll Regierender, ein Bundeskanzler, sie können machen, was sie wollen. Auch eine solide Währung aufgeben, obwohl die Bevölkerung das nicht will. Und Europa es nicht braucht“171, beklagte die SZ. Die SZ-Kommentatoren hätten die Bürger gerne direkt zu Wort kommen lassen und setzten sich offen für ein Referendum ein: „Obwohl in der deutschen Verfassung nicht vorgesehen, durch sie auch wohl nicht verboten, sollte man dem Gedanken einer Volksbefragung näher treten. Das Thema ist bedeutsam genug.“172 Die FAZ plädierte stattdessen für eine breite öffentliche Debatte als legitimierende Instanz. Da sei es nicht mit Informationsbroschüren getan: „Über Europa muss unter Politikern und Wissenschaftlern, Intellektuellen und Künstlern, in den Vereinen und an den Stammtischen gestritten werden.“173 Ein Referendum bezeichnete sie hingegen als der parlamentarischen Demokratie und dem Grundgesetz „wesensfremd“174. Insgesamt fiel das Urteil von SZ und FAZ zur Währungsunion negativ aus. Die Zustimmung erschöpfte sich darin, dass das Grundprinzip der europäischen Integration befürwortet wurde. Sofern sich die Kommentatoren von der gemeinsamen Währung eine substanzielle Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses versprachen, wurde dies positiv angerechnet. Auch die Idee, dass irgendwann einmal, als Krönung einer vollendeten Politischen Union, eine gemeinsame europäische Währung geschaffen werden könnte, stieß auf Akzeptanz. Die konkrete, in Maastricht beschlossene Schaffung einer solchen Währungsunion lehnten die untersuchten Qualitätszeitungen jedoch mehrheitlich ab. Die Bild-Zeitung veröffentlichte im Zeitraum der Fallstudie insgesamt 20 Artikel zur Europäischen Währungsunion auf ihrer Titelseite (Abbildung 4.3).
170 Winfried Münster: Die Politische Union – eine Fiktion. In: Süddeutsche Zeitung, 18.11.1991, S. 4. 171 Franz Thoma: Abschüssiger Geldweg. In: Süddeutsche Zeitung, 03.04.1992, S. 33. 172 Franz Thoma: Schuss vor den Bug. In: Süddeutsche Zeitung, 13.06.1992, S. 33. 173 Günther Nonnenmacher: Wir brauchen eine Europa-Debatte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.06.1992, S. 1. 174 Hans D. Barbier: Abwegiger Vorschlag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.09.1992, S. 14.
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10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 11/91 12/91 01/92 02/92 03/92 04/92 05/92 06/92 07/92 08/92 09/92 10/92 11/92 12/92 01/93 02/93 03/93 04/93 05/93 06/93 07/93 08/93 09/93 10/93 11/93 12/93 01/94 02/94 03/94 04/94 05/94 06/94 07/94 08/94 09/94 10/94
Anzahl der Artikel
Titelbeiträge der Bild-Zeitung im Zeitverlauf
Monat/ Jahr
Abbildung 4.3: Artikel zur Schaffung einer EWU auf der Titelseite der Bild-Zeitung
Die meiste Aufmerksamkeit erhielt das Thema während des Gipfeltreffens von Maastricht im Dezember 1991. Für den restlichen Zeitraum der Fallstudie war die Währungsunion nur von marginaler Bedeutung. Lediglich im Juni 1992, anlässlich des dänischen Referendums, und im Oktober 1993, zur Verkündung des „Maastricht-Urteils“ durch das Bundesverfassungsgericht, stieg die Anzahl der auf der Titelseite veröffentlichten Artikel noch einmal auf zwei Stück pro Monat an. Die Bild-Zeitung stellte die Europäische Währungsunion eher negativ als positiv dar. Dabei äußerte sie ihre Kritik kaum direkt. Sie ließ vielmehr die Bürger zu Wort kommen und gab sich als Sprachrohr der Bevölkerungs. „Wir wollen unsere Mark behalten. Nix ECU“, lautete beispielsweise ein Titel, der vom „Sturm der Entrüstung“ der Arbeiter, Rentner, Angestellten und Hausfrauen berichtete, die bei der Bild-Zeitung anriefen.175 Weiterhin organisierte die BildZeitung eine TED-Abstimmung. Der dazugehörige Text: „Unsere harte stabile D-Mark soll abgeschafft werden. Dafür kommt ab 1997 eine einheitliche Europa-Währung, der ECU. Was wollen die Deutschen?“ Angesichts dieser Suggestiv-Formulierung ist nicht erstaunlich, dass sich kaum jemand dafür entschied, die „harte stabile D-Mark“ abzuschaffen. So titelte die Bild-Zeitung am nächsten Tag: „96% gegen Bonn. Hände weg von unserer Mark“176. Über den gesamten Zeitraum der Fallstudie zitierte die Bild-Zeitung außerdem immer 175 Wir wollen unsere Mark behalten. Nix ECU. In: Bild, 06.12.1991, S. 1. 176 96% gegen Bonn. Hände weg von unserer Mark. In: Bild, 07.12.1991, S. 1.
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wieder Umfragen auf der Titelseite, die eine starke Ablehnung der Währungsunion durch die Bevölkerung dokumentierten und wirkte somit als Verstärker bei der Herausbildung der „herrschenden Meinung“. Trotz der oben zitierten, klar gegen die Bundesregierung gerichteten Überschrift bei Veröffentlichung des TED-Ergebnisses („96% gegen Bonn“ anstelle von „96% gegen die Währungsunion“) war insgesamt eine recht wohlwollende Bewertung des Regierungshandelns festzustellen. Zwar wurde die Währungsunion als Politikziel für nicht erstrebenswert gehalten, der Bundesregierung, die diese Politik verfolgte, wurde daraus jedoch kaum ein Vorwurf gemacht. Die Bild-Zeitung pflegte stattdessen Nostalgie: So zeigte etwa ein Foto auf der Titelseite Helmut Kohl mit einer großen D-Mark-Attrappe in der Hand. Dazu der Text: „Freuen wir uns noch mal am Anblick des Kanzlers und der schönen Deutschen Mark. Adieu, servus, tschüß. Und vielen Dank für alles.“177 Der in den Qualitätszeitungen so vehement verteidigte Anspruch auf Sachlichkeit findet sich in der Bild-Zeitung erwartungsgemäß nicht wieder. Hier beschäftigte man sich genau mit jenen Fragen, die in FAZ und SZ als „Kosmetik“ abgetan wurden, wie etwa dem Namen der neuen Währung: „Aber wenn dann der ECU kommt – wie sollen wir den Pfennig ehren? Vielleicht als ECUchen?“178 Einige Monate später wurde die Antwort auf diese Frage berichtet: „Cent soll der neue Pfennig der Europa-Währung Ecu heißen. In einem Ideen-Wettbewerb […] fielen die Namen ‚Gipfel‘, ‚Eculi‘ und ‚Eumel‘ durch.“179
4.1.1.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite Im hier untersuchten Zeitraum stand die CDU in Angelegenheiten der Währungsunion weitgehend geschlossen hinter Bundeskanzler Kohl.180 Als einziger Vorbehalt wurde stets geltend gemacht, dass die europäische Währung eine ebenso hohe Geldwertstabilität garantieren müsse wie die D-Mark. Die CDU nannte in ihrem Grundsatzprogramm von 1994 die in Maastricht beschlossene Unabhängigkeit der EZB sowie die strikten Kriterien zur Teilnahme an der Währungsunion als wichtige Stabilitätsgaranten.181 Zweifel an deren Verlässlichkeit wurden weitestgehend unter Verschluss gehalten.
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Das Ende der Mark. 1999! In: Bild, 11.12.1991, S. 1. BILD präsentiert Gewinner & Verlierer '91. In: Bild, 13.12.1991, S. 1. Cent neuer Ecu-Pfennig. In: Bild, 07.10.1992, S. 1. Zur politischen Auseinandersetzung um den Maastrichter Vertrag als Ganzes, unter anderem auch zum Konfliktpunkt der Bundesländer-Kompetenzen, siehe Wolf 1992. 181 CDU: Freiheit in Verantwortung. Grundsatzprogramm der CDU, 1994, S. 63-64.
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In der bayerischen Schwesterpartei CSU traten hingegen deutlichere Meinungsverschiedenheiten zutage: Der CSU-Parteivorsitzende, Bundesfinanzminister Theo Waigel, zählte zu den Hauptprotagonisten der Europäischen Währungsunion. Dessen ungeachtet forderte der bayerische Staatsminister der Finanzen, Georg Freiherr von Waldenfels, ein Referendum zur geplanten Währungsunion. Mediale Aufmerksamkeit erlangte außerdem Peter Gauweiler, zum damaligen Zeitpunkt bayerischer Staatsminister für Landesentwicklung und Umweltfragen: Anfang 1992 äußerte er sich abfällig über das künftige europäische „EsperantoGeld“ und nannte die Pläne zur Währungsunion „eine ausgemachte Schnapsidee“.182 Der damalige Innenminister Bayerns, Edmund Stoiber, würdigte Gauweilers Äußerung als „Diskussionsbeitrag“ (vgl. Kießling 2004, S. 255). Das CSUPräsidium stellte sich aber insgesamt klar hinter Waigel. Der bayerische Ministerpräsident Max Streibl bekannte sich unmissverständlich zum Ziel der Währungsunion und bezeichnete Gauweilers Europakritik als den „größten Blödsinn“183. Auch innerhalb der FDP gab es Differenzen zur Frage der Europäischen Währungsunion: Während Bundesaußenminister Genscher und auch sein Amtsnachfolger Kinkel eine möglichst rasche Einführung des Euro befürworteten, sah FDP-Bundesvorsitzender Otto Graf Lambsdorff auf absehbare Zeit die ökonomischen Bedingungen für die Schaffung einer gemeinsamen Währung nicht gegeben (vgl. Wendt 2001, S. 202). Nicht zuletzt aufgrund der guten persönlichen Beziehungen zwischen Genscher und Graf Lambsdorff wurden diese Meinungsunterschiede allerdings wenig konfrontativ ausgetragen. Für mehr Zündstoff innerhalb der FDP sorgte Manfred Brunner, der im September 1992 wegen „unüberbrückbarer Differenzen“184 in der Beurteilung des Maastrichter Vertrags und insbesondere der Währungsunion von EG-Kommissar Martin Bangemann (ebenfalls FDP) als Kabinettschef entlassen wurde. Nach seinem Ausscheiden aus der EG-Kommission plante Brunner die Gründung einer eigenen Partei. Auf Druck des bayerischen FDP-Landesvorsitzenden Max Stadler verzichtete er vorerst darauf und rief stattdessen die Stiftung Demokratie und Marktwirtschaft („Stiftung DM“) ins Leben, die sich für den Erhalt der D-Mark einsetzte. Aufsehen erregte Brunner außerdem mit seiner Verfassungsbeschwerde, die er im Dezember 1992 beim Bundesverfassungsgericht einreichte, um eine Ratifizierung des Maastrichter Vertrages zu verhindern.185
182 Gauweiler, zitiert nach: Hans Holzhaider: Fragen, die ohne Antwort bleiben sollen. In: Süddeutsche Zeitung, 03.02.1992, S. 3. 183 Streibl, zitiert nach: Präsidium warnt Gauweiler vor Isolation. In: Süddeutsche Zeitung, 04.02.1992. 184 Bangemann entläßt Kabinettschef. In: Süddeutsche Zeitung, 18.09.1992. 185 Brunners Kritik am Vertrag von Maastricht richtete sich nicht nur gegen die Währungsunion, sondern auch gegen die seiner Ansicht nach mangelnde demokratische Legitimierung
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Ende Januar 1994 gründete Brunner schließlich, gemeinsam mit 86 Mitstreitern, die Partei „Bund freier Bürger“.186 Zwischen den Kritikern der Währungsunion entspannten sich parteiübergreifende Querverbindungen: So wurde Peter Gauweiler Mitglied des Stiftungsrates der „Stiftung DM“ und rief gemeinsam mit Manfred Brunner wiederholt zu einer Volksabstimmung zum Vertrag von Maastricht auf. Eine Provokation gegenüber Kohl und Waigel stellte außerdem Stoibers Ansinnen dar, anlässlich der Europawahl 1994 mit Brunners „Bund freier Bürger“ ein Bündnis einzugehen. Mit dieser Idee konnte sich Stoiber zwar innerparteilich nicht durchsetzen, den Führungsanspruch Waigels hatte er aber herausgefordert (vgl. Kießling 2004, S. 259). Die SPD stand der Schaffung einer Währungsunion mehrheitlich positiv gegenüber. Kritik erregten Fragen der Ausgestaltung, wie etwa die als zu schwach empfundene Koppelung der Währungsunion an eine Politische Union187 oder der in Maastricht beschlossene Automatismus188. Skeptisch gegenüber der Währungsunion äußerte sich außerdem der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine: Er gab zu bedenken, dass die übrigen europäischen Länder in einem einheitlichen Währungsraum unter der übermächtigen deutschen Volkswirtschaft leiden würden.189 Offiziell wurde das Politikziel aber von der SPD nicht in Frage gestellt. Der damalige SPD-Parteivorsitzende, Björn Engholm, ließ keinen Zweifel daran, dass die SPD dem Vertrag von Maastricht trotz der genannten Kritikpunkte zustimmen würde und betonte auch explizit die Unterstützung der darin geplanten Wirtschafts- und Währungsunion.190 In den Reihen von Bündnis 90/Die Grünen war der Vertrag von Maastricht umstritten. Um eine breite öffentliche Diskussion zu diesem Thema zu bewirken, sprach sich der Länderrat der Bündnisgrünen Anfang 1992 für ein Referendum in Deutschland aus – ein Ansinnen, das Joschka Fischer wiederum als „Blödsinn“191 abfertigte. Skeptiker der Währungsunion, wie der Bundestagsabgeordnete Gerd Poppe, fürchteten eine Ausgrenzung der Länder Osteuropas: „Die
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europäischer Politik. Vgl. Hans Wagner: Einsamer Kampf gegen den europäischen Überstaat. In: Focus, Ausgabe 21, 1993, S. 28-30. Vgl. ausführlicher zur Entstehungsgeschichte der Partei Schulze 2004, S. 201-219. Bei den Europawahlen im Juni 1994 erlangte der Bund freier Bürger lediglich 1,1 Prozent der Stimmen. Bei den Bundestagswahlen im Oktober 1994 trat die Partei aus organisatorischen Gründen nicht an. Vgl. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 12/64, 05.12.1991, S. 5434. Online verfügbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12064.pdf, zuletzt geprüft am 28.08.2009. Vgl. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 12/108, 25.09.1992, S. 9223. Online verfügbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12108.pdf, zuletzt geprüft am 28.08.2009. Vgl. Thomas Hanke: Vorwärts, Genossen, es geht zurück. In: Die Zeit, 03.11.1995, S. 23. Vgl. SPD will Verträgen von Maastricht zustimmen. In: Süddeutsche Zeitung, 10.03.1992. Fischer, zitiert nach: Norbert Kostede: Die Grünen gegen Maastricht. In der Öko-Partei wächst die Skepsis gegen den Moloch Europa. In: Die Zeit, Ausgabe 30, 17.07.1992, S. 4.
4.1 Die Schaffung einer Europäischen Währungsunion (1991-1994)
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Europäische Währungsunion ist das Projekt nur eines Teils von Europa […]. Sie ist das Projekt eines Westeuropas, das es so nicht mehr gibt.“192 Eindeutig verliefen die Auseinandersetzungen zur Währungsunion eher inner- als zwischenparteilich. Hinsichtlich der offiziellen Positionierungen bestand ein tragfähiger Konsens zwischen den etablierten Parteien zur Unterstützung der Währungsunion. Dieser zeigte sich unter anderem auch an der großen, parteiübergreifenden Mehrheit, mit der der Vertrag von Maastricht in Bundestag und Bundesrat angenommen wurde.193 Die Appelle der Journalisten, den Maastrichter Vertrag nicht zu ratifizieren, um der Währungsunion auf diesem Weg ihre Grundlage zu entziehen, blieben ohne Wirkung. Innerparteilich traten Spannungen auf, die allerdings nur von einzelnen Personen getragen wurden und daher nicht überschätzt werden sollten. Die politische Elite unterstützte insgesamt weitgehend geschlossen die Schaffung der europäischen Währungsunion. Als einzige der relevanten Parteien sprach sich die PDS rundheraus gegen den Vertrag von Maastricht und die dort beschlossene Währungsunion aus (vgl. Läufer 1993, S. 301).194 Diese wurde als ein Schritt der Abschottung gegenüber Osteuropa und den wirtschaftlich schwächeren Ländern Westeuropas verstanden. Der Bundesregierung wurde in diesem Zusammenhang mangelnde Solidarität vorgeworfen.195 Kritisiert wurde außerdem, dass die Währungsunion alle anderen Politikbereiche rücksichtslos dem Streben nach finanzieller Rentabilität unterordne.196
4.1.1.3 Das Angebot politischer Alternativen Am 16. Oktober 1994 fanden die zweiten gesamtdeutschen Bundestagswahlen statt. Bundeskanzler Helmut Kohl kandidierte erneut für die Unionsparteien. Die SPD hatte den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und SPD-Vorsitzenden
192 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 12/97, 17.06.1992, S. 7974. Online verfügbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12097.pdf, zuletzt geprüft am 28.08.2009. 193 Der Deutsche Bundestag beschloss das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht mit 543 von 568 abgegebenen Stimmen. Nur 16 Abgeordnete (davon 9 PDS, 2 SPD, 4 Bündnis 90/Die Grünen und 1 fraktionslos) stimmten dagegen; 8 Abgeordnete enthielten sich. Vgl. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 12/126, 02.12.1992, S. 10879-10882. Online verfügbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12126.pdf, zuletzt geprüft am 28.08.2009. Der Bundesrat billigte den Vertrag am 18.12.1992 einstimmig. 194 Neben der PDS bezogen auch die rechtsextremen Parteien Deutsche Volksunion und Die Republikaner gegen die Währungsunion Stellung. 195 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 12/53, 06.11.1991, S. 4381. Online verfügbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12053.pdf, zuletzt geprüft am 28.08.2009. 196 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 12/126, 02.12.1992, S. 10820. Online verfügbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12126.pdf, zuletzt geprüft am 28.08.2009.
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4 Fallstudien
Rudolf Scharping als Kanzlerkandidaten nominiert.197 Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP konnte sich in den Wahlen knapp behaupten, wenngleich die Union ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis seit 1949 zu verzeichnen hatte.198 Die Europäische Währungsunion spielte im Wahlkampf nur eine marginale Rolle. Ihre Schaffung war zum Zeitpunkt der Bundestagswahlen bereits formal beschlossen. Theoretisch hätten die Oppositionsparteien dennoch versuchen können, von der ablehnenden Bevölkerung zur Währungsunion zu profitieren: Zum einen über die Formulierung retrospektiver Schuldzuweisungen an die Regierungsparteien; zum anderen über das prospektive Versprechen, im Falle eines Wahlsieges der Umsetzung der Währungsunion neue Hürden aufzuerlegen. Vor dem Hintergrund, dass alle etablierten Parteien die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages in Bundestag und Bundesrat unterstützt hatten, waren die Möglichkeiten der Opposition, sich in dieser Frage glaubhaft von der Regierungspolitik abzugrenzen, jedoch faktisch begrenzt. Die Werbemittel der Unionsparteien zur Außen- und Europapolitik umgingen konkrete Sachfragen und betonten eher allgemeine Werte wie Verlässlichkeit und Vertrauen. Bundeskanzler Kohl präsentierte sich staatsmännisch und als Garant einer verantwortungsvollen Europapolitik. Die in großer Auflage verteilte Broschüre „Unser Kanzler“ zeigte Kohl Seite an Seite mit Mitterrand und verkündete: „Dieser Kanzler schafft Vertrauen. Er steht für Freundschaft und Zusammenarbeit. Für ein einiges Deutschland in einem vereinten Europa. [...] Helmut Kohl und die CDU – das heißt: Keine Sonderwege. Klarer Kurs in schwierigen Zeiten.“199 Die CDU stellte sich – völlig losgelöst von konkreten europapolitischen Sachfragen wie der Währungsunion – als „die deutsche Europa-Partei“200 dar. Die Werbemittel der bayerischen CSU setzten außerdem den Bundesfinanzminister als Hüter der Geldwertstabilität in Szene. „Theo Waigel: Die Deutsche Mark bleibt stabil“201, war auf Plakaten zu lesen. Dem Werbematerial war dabei 197 Björn Engholm, ursprünglich als Kanzlerkandidat der SPD vorgesehen, war 1993 aufgrund der so genannten „Barschel-Affäre“ von allen Ämtern zurückgetreten. 198 Die CDU erreichte 34,2 Prozent, die CSU 7,3 Prozent und die FDP 6,9 Prozent der Stimmen. 36,4 Prozent entfielen auf die SPD und 7,3 Prozent auf Bündnis 90/Die Grünen. Die PDS konnte, obwohl sie mit nur 4,4 Prozent der Stimmen die Fünf-Prozent-Hürde nicht bewältigte, aufgrund von 4 Direktmandaten in den Bundestag einziehen. Die Sitzverteilung im Bundestag gestaltete sich wie folgt: SPD: 252, CDU: 244, CSU: 50, FDP: 47, Bündnis 90/Die Grünen: 49, PDS: 30. Mit 338 Stimmen wählten die Abgeordneten Helmut Kohl am 15. November 1994 erneut zum Bundeskanzler. 199 CDU: Unser Kanzler. Broschüre, 1994, S. 4-5. Dieser Kanzlerprospekt wurde in sehr hoher Auflage verteilt und stellte eines der wichtigsten Wahlwerbemittel der CDU im Bundestagswahlkampf 1994 dar. 200 CDU: Deutschland erneuern – Zukunft sichern. Bericht der Bundesgeschäftsstelle. Anlage zum Bericht des Generalsekretärs. Parteitag der CDU in Bonn, 28. November 1994, S. 4. 201 CSU: Theo Waigel: Die Deutsche Mark bleibt stabil. Plakat, 1994.
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schwerlich zu entnehmen, dass die D-Mark durch eine europäische Währung ersetzt werden sollte. Vielmehr schien es um eine Erweiterung ihres Wirkungsraumes und ihrer Strahlkraft zu gehen. So habe Theo Waigel „im Vertrag von Maastricht durchgesetzt, daß die D-Mark zum Maßstab für ganz Europa wird,“202 verkündete ein Faltblatt. Insgesamt fand die Währungsunion in der Werbekampagne der Unionsparteien kaum Erwähnung. Vermittelt werden sollten eine allgemeine europapolitische Kompetenz und eine ebenso allgemein gehaltene Kompetenz zur Sicherung der Geldwertstabilität – im Fokus stand hier die D-Mark, nicht die künftige europäische Währung. Etwas ausführlicher gingen CDU und CSU in ihrem gemeinsamen Regierungsprogramm auf das Thema ein: „CDU und CSU wollen durch eine gemeinsame stabile europäische Währung wirtschaftliches Wachstum fördern und insbesondere auch die Wettbewerbsposition der deutschen exportorientierten Wirtschaft verbessern. CDU und CSU treten dafür ein, dass sich die Währungspolitik im geeinten Europa an dem bewährten Modell der Deutschen Bundesbank orientiert. Am Ziel der Währungsunion halten wir fest; sie wird dann in Kraft treten, wenn die Stabilitätsbedingungen des Maastrichter Vertrages ohne Abstriche erfüllt sind.“203
Im Verhältnis zum Umfang des Regierungsprogramms kann allerdings auch dieser einzelne Absatz nicht als eine besondere Gewichtung der Währungsunion gedeutet werden. Selbst innerhalb des Europa-Kapitels kam dem Thema nur eine untergeordnete Rolle zu. Der kleinere Koalitionspartner FDP maß dem Thema der Währungsunion ebenfalls nur wenig Gewicht im Wahlkampf bei.204 Ähnlich den Unionsparteien positionierte sich die FDP in ihrem Wahlprogramm als Stabilitätsgarant: „Voraussetzungen für die WWU sind die strikte Einhaltung der vereinbarten Konvergenzkriterien (Preisstabilität, Konsolidierung der Staatsfinanzen, Stabilisierung der Wechselkurse und Harmonisierung der langfristigen Zinssätze) und die Unabhängigkeit einer eindeutig auf die Wahrung der Geldwertstabilität verpflichteten Europäischen Zentralbank. […] Bei der Stabilität des Geldes darf kein Risiko für den Bürger
202 CSU: Argumente. Faltblatt, Oktober 1994. 203 CDU/CSU: Wir sichern Deutschlands Zukunft. Regierungsprogramm von CDU und CSU, 1994, S. 50. 204 Es wurden keine FDP-Werbemittel (Broschüren, Flugblätter etc.) zur Währungsunion gefunden. Auch die Analyse von Marco Michel (2005, S. 217-233) zum FDP-Bundestagswahlkampf 1994 zeigt keine besondere Betonung des Themas an.
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4 Fallstudien zugelassen werden. Als Partei der Geldwertstabilität setzen sich die Liberalen deshalb konsequent für die Stabilität einer künftigen europäischen Währung ein.“205
Die Sozialdemokraten unterließen den Versuch, sich über das Thema der Währungsunion Wählerstimmen zu erschließen: Die Werbemittel der Partei widmeten sich anderen Fragen und selbst im Regierungsprogramm nahm die Währungsunion nur wenig Raum ein. Die SPD bot inhaltlich keine Gegenposition zur Regierungskoalition. Sie versprach lediglich: „Wir werden verhindern, dass die Währungsunion die Deutsche Mark schwächt. Eine Aufweichung der im Vertrag von Maastricht festgelegten Bedingungen für eine stabile gemeinsame Währung wird es mit uns nicht geben.“206 Anders als die Unionsparteien und die FDP bekannte sich die SPD mit dieser Aussage nicht explizit zum Ziel der Währungsunion. Stattdessen brachte sie zum Ausdruck, was sie nicht wollte: Eine Aufweichung der Stabilitätskriterien. Da sich jedoch auch die Parteien der Regierungskoalition dieses Anliegen auf die Fahnen geschrieben hatten, stellte dies keine gegensätzliche Positionierung dar. Die Bündnisgrünen gingen in ihrer Kampagne nicht auf das Thema der Währungsunion ein. Im Bereich der Europapolitik betonten sie andere Aspekte, wie etwa die Notwendigkeit einer besseren demokratischen Legitimation des Integrationsprozesses oder einer Öffnung der Union nach Mittel- und Osteuropa.207 Auch die PDS maß der Europäischen Währungsunion im Wahlkampf keine Bedeutung bei.208 Insgesamt fand die Währungsunion kaum Eingang in den Bundestagswahlkampf 1994. Lediglich CDU/CSU, SPD und FDP thematisierten sie überhaupt und selbst bei diesen Parteien zeichnete sich in keiner Weise eine Pro/Contra-Positionierung ab – weder im Grundsatz, noch in Verfahrensfragen. Vielmehr ging es um die Attribution von Kompetenz: Alle drei Parteien versuchten, sich als stabilitätspolitische Garanten zu präsentieren.
205 FDP: Liberal denken. Leistung wählen. Wahlprogramm zur Bundestagswahl 1994 der Freien Demokratischen Partei, 1994, S. 127. 206 SPD: Reformen für Deutschland. Das Regierungsprogramm der SPD, 1994, S. 75. 207 Bündnis 90/Die Grünen: Nur mit uns. Programm zur Bundestagswahl 94, 1994, S. 56. Weder in den Werbemitteln noch im Wahlprogramm wurde eine Stellungnahme gefunden. 208 Flugblätter der PDS zum Thema Währungsunion liegen nicht vor. Auch im Wahlprogramm finden sich zwar generelle europapolitische Forderungen, aber keine konkrete Bezugnahme zur Währungsunion.
4.1 Die Schaffung einer Europäischen Währungsunion (1991-1994)
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4.1.1.4 Regierende und Regierte: Die Entstehung einer Kluft Im Verlauf der untersuchten Zeitspanne zeigen die Eurobarometerumfragen eine zunehmende Polarisierung der deutschen Bevölkerungsmeinung: Die Anzahl der Unentschiedenen sank und der Widerstand gegenüber der Währungsunion wuchs. Ab dem Frühjahr 1992 lehnten die Deutschen die Idee einer Europäischen Währungsunion mehrheitlich ab. Die Zustimmung zu diesem Projekt wurde immer geringer und war im Frühjahr 1993 an ihrem Tiefpunkt angelangt. In den Folgemonaten blieben die Deutschen zwar mehrheitlich ablehnend gegenüber der Europäischen Währungsunion eingestellt, der Widerstand ließ jedoch wieder etwas nach (Abbildung 4.4).209
209 Variationen in der Formulierung der Fragestellung: EB 36 „The Council of Heads of State and Governments of the European Community has called for intergovernmental conferences to discuss details of a European Economic and Monetary Union and of a Political Union. I am going to read you a number of statements. For each one, please tell me whether you are in favour/not in favour of... within this European Economic and Monetary Union, a single common currency replacing the different currencies of the Member States in five or six years time.“ EB 37 und EB 38: „At the moment, the debate on European Union continues. Could you please tell (EB 37: me) whether you are in favour or not, of… within this European Economic and Monetary Union, a single common currency replacing the different currencies in the Member States in five or six years time?“ EB 39, EB 40, EB 41 und EB 42: „(EB 39: Irrespective of other details of the Maastricht Treaty…) What is your opinion on each of the following proposals? Please tell me for each proposal, whether you are for it or against it: There should be a European Monetary Union with one single currency replacing by 1999 the (national currency) and all other national currencies of the Member States of the European Community/European Union.“
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4 Fallstudien
Bevölkerungsmeinung zur Währungsunion Pro
Contra
Keine Meinung
80 70
Prozent
60 50 40 30 20 10 0 Herbst 91 EB36
Frühjahr 92 EB37
Herbst 92 EB38
Frühjahr 93 EB39
Herbst 93 EB40
Frühjahr 94 EB41
Herbst 94 EB42
Ausgabe Standard Eurobarometer
Abbildung 4.4: Die Einstellungen der Deutschen zur Schaffung einer EWU
Wie reagierte die Bundesregierung auf die zunehmende Ablehnung der von ihr betriebenen Politik? Laut Eurobarometer standen die Deutschen im Herbst 1991, kurz vor der Gipfelkonferenz in Maastricht, der Idee einer Europäischen Währungsunion noch mehrheitlich positiv gegenüber. Andere Umfrageinstitute sahen die Deutschen bereits zu diesem Zeitpunkt in Opposition.210 Doch selbst wenn man sich auf die Eurobarometer-Daten stützt und der Bundesregierung in Maastricht noch die Rückendeckung durch die Bevölkerungsmeinung zuspricht, so stieg die Ablehnung in den Folgemonaten unübersehbar an. Trotzdem verfolgte die Bundesregierung unbeirrt das Politikziel der Währungsunion. Das Handeln der Regierenden muss somit insgesamt als wenig responsiv gedeutet werden. Als nach dem gescheiterten dänischen und dem äußerst knappen französischen Referendum zum Vertrag von Maastricht kurzzeitig die Möglichkeit einer 210 Auf die Frage „Einmal angenommen, es kommt zu einer Währungsunion aller Staaten in der Europäischen Gemeinschaft: Wären Sie dann dafür oder dagegen, wenn es keine D-Mark mehr geben würde, sondern nur noch ein einheitliches europäisches Geld“ antworteten im Dezember 1991 in einer Allensbach-Umfrage nur 26 Prozent der Befragten „Dafür“, 49 Prozent jedoch „Dagegen“. 25 Prozent der Befragten hatten keine Meinung („Egal/Weiß nicht“). Allensbacher Archiv: Institut für Demoskopie, Umfrage Nr. 5059. Dezember 1991.
4.1 Die Schaffung einer Europäischen Währungsunion (1991-1994)
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Nachverhandlung des Vertrages diskutiert wurde, sprach sich die Bundesregierung strikt dagegen aus. Auch zum Thema der Währungsunion hätten im Zuge von allgemeinen Nachverhandlungen neue Vereinbarungen gesucht werden können. Für Bundeskanzler Kohl kam jedoch der nachträgliche Versuch einer Verhinderung oder auch nur Verschiebung der Währungsunion nie in Frage: „Abwarten wäre die falsche Antwort. Stillstand wäre Rückschritt“211, so beharrte er auf einem Einhalten des ursprünglichen Zeitplans. Die von verschiedenen Stellen geäußerte Idee eines Referendums lehnte die Bundesregierung ebenfalls rigoros ab: Der Maastrichter Vertrag sollte nach dem Willen von Kanzler Kohl, wie geplant, bis Ende des Jahres 1992 parlamentarisch ratifiziert werden. Um dieses Verhalten nicht mit Wählerstimmen zu bezahlen, versuchte die Bundesregierung die Frage der Währungsunion zu depolitisieren. Salienz und „decidability“ wurden zu schwächen versucht. Im Wahlkampf lenkten die Regierungsparteien die Aufmerksamkeit auf andere Streitfragen. Zwar wurde im Wahlprogramm Position für die gemeinsame Währung bezogen, in Flugblättern oder auf Plakaten fand das Thema jedoch kaum Erwähnung. In den breit verteilten Werbemitteln wollten sich CDU und CSU nicht mit inhaltlichen Positionen zur Währungsunion, sondern mit allgemeinen Kompetenzzuschreibungen profilieren. Stark personenbezogen war die Kampagne auf Bundeskanzler Kohl und Bundesfinanzminister Waigel ausgerichtet. Diese Strategie der Depolitisierung kann selbstverständlich nur funktionieren, wenn die Oppositionsparteien dem nicht entgegenwirken und ihrerseits darauf verzichten, im Wahlkampf zugespitzte und von der Regierungspolitik abweichende Positionen zu beziehen. In der Tat versuchten die Oppositionsparteien nicht, von der ablehnenden Stimmung in der Bevölkerung zu profitieren und über eine entsprechende Positionierung im Wahlkampf Stimmen zu gewinnen. Warum? Es lassen sich drei Antworten auf diese Frage finden: Erstens bestätigten die Akteursinterviews, dass die Schaffung einer Europäischen Währungsunion innerhalb der SPD mehrheitlich befürwortet wurde. Seitens der größten Oppositionspartei gab es demnach keinen nennenswerten innerparteilichen Druck, die Währungsunion zu verhindern. Eine ablehnende Positionierung wäre rein wahltaktisch zu begründen gewesen. Den Akteursinterviews zufolge hätten dies die meisten Mitglieder der SPD als „verantwortungslos“ empfunden. Zweitens kam hinzu, dass es den SPD-Verantwortlichen höchst fraglich erschien, ob sich eine stärkere Gewichtung des Themas im Wahlkampf überhaupt ausgezahlt hätte. Die Strategie der Union, sich als die deutsche Europapartei zu definieren, zeigte Erfolge: Seitens der Bevölkerung wurde ihr tatsächlich eine 211 Kohl, zitiert nach: Verträge über Politische Union und EG-Währung sollen bis Jahresende ratifiziert werden. In: Süddeutsche Zeitung, 26.09.1992.
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4 Fallstudien
größere europapolitische Kompetenz zugesprochen als der SPD (vgl. NoelleNeumann 1995, S. 267). Je prominenter die SPD das Thema gewichtet hätte, desto größer wäre das Risiko gewesen, aufgrund einer mangelnden Kompetenzzuschreibung hieraus eher Verluste als Gewinne zu beziehen. Drittens gelang es Bundeskanzler Kohl, die Frage der Währungsunion von einem vornehmlich ökonomischen in ein vornehmlich politisches Projekt umzudefinieren (vgl. Risse et al. 1999, S. 163-169). Er deutete die gemeinsame Währung als einen wichtigen und notwendigen Schritt auf dem Weg zu einem politisch integrierten Europa. Den Oppositionsparteien wurde damit eine gegensätzliche Positionierung erschwert. Durch die argumentative Verknüpfung der politischen und der ökonomischen Dimension konnte jede Kritik an der Währungsunion auch als eine Stellungnahme gegen die politische Integration gewertet werden. Die Befürwortung der politischen Integration war jedoch in der Bevölkerung wie auch in der politischen Klasse sehr fest verankert. Im Ergebnis bedeutete dies eine Tabuisierung von Kritik: Jeder, der die Währungsunion ablehnte, setzte sich der Gefahr aus, als Anti-Europäer gebrandmarkt zu werden. Im Wahlkampf positionierte sich keine der etablierten Parteien grundsätzlich gegen die Schaffung einer Europäischen Währungsunion oder gegen eine Teilnahme Deutschlands. Selbst in der Frage, wie die Währungsunion realisiert werden sollte, waren sich die Parteien einig: So stabilitätsorientiert wie möglich. Konkurriert wurde daher nur noch in der Frage der Kompetenz. Der Bürger verfügte in Sachen Währungsunion über keine unterscheidbare Alternative. Die geringe Responsivität der Bundesregierung entspricht vor diesem Hintergrund den theoretischen Erwartungen: Obwohl Bevölkerung und Medien die Idee der Währungsunion mehrheitlich ablehnten, blieb der Druck zu einer Anpassung des Regierungshandelns aufgrund des fehlenden Angebots politischer Alternativen gering. Nicht nur die Responsivität, auch die Führungsleistung der Regierenden ist als sehr schwach zu bewerten. Es gelang der Bundesregierung im Verlauf der Fallstudie nicht, die Bevölkerung von der Sinnhaftigkeit der Europäischen Währungsunion zu überzeugen. Sehr aufschlussreich liest sich vor diesem Hintergrund ein Redebeitrag von Günter Verheugen (SPD) während der Plenardebatte im Deutschen Bundestag zur Wirtschafts- und Währungsunion am 17. Juni 1992: „Herr Bundeskanzler, Sie haben Maastricht mit ausgehandelt, und Ihr ehrliches Engagement für die europäische Einigung bezweifle ich überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. (Michaela Geiger (CDU/CSU): Das ist doch immerhin etwas!) Aber sie sollten vielleicht doch eines bedenken: Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten ist bei uns deutlich größer geworden. Die Unzufriedenheit mit der
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politischen Klasse des Landes wächst. In einer solchen Situation können sich die Menschen geradezu verhöhnt fühlen, wenn sie das Gefühl bekommen müssen, dass ihre Sorgen von der Regierung nicht ernstgenommen werden. Ich warne davor, in dieser Weise mit den Gefühlen der Menschen umzugehen, vor allem dann, wenn man eine Politik betrieben hat, wie Sie es im Zusammenhang mit Maastricht getan haben. (Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU: Das ist doch dummes Zeug, was Sie da reden! Das ist schlicht dummes Zeug!) Sie haben es nämlich an der psychologischen Vorbereitung der deutschen Öffentlichkeit fehlen lassen. Die deutsche Öffentlichkeit war auf diese Union eben nicht vorbereitet, und darum traf sie die Information über den Inhalt der Union, besonders über die Einführung einer gemeinsamen Währung, geradezu wie ein Schock. (Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU): Das ist doch gar nicht wahr!)“212
Günter Verheugen kann in einem Punkt sicherlich Recht gegeben werden: Eine erste Ursache der gescheiterten Führungsleistung liegt darin, dass die Bundesregierung anfangs nur sehr bedingt versuchte, die Bevölkerungsmeinung zu führen. Erst als die öffentliche Aufmerksamkeit des Themas schon recht groß und die mediale Ablehnung der Währungsunion unverkennbar war, steuerte die Bundesregierung gegen. Die Regierungskommunikation wirkte wie eine reaktive Schadensbekämpfung. Pia Maria Froehlich (2001, S. 74), die die Politikvermittlung der Bundesregierung in Fragen der Währungsunion umfassend untersuchte, stellte ähnlich wie Verheugen fest: „Information über dieses Jahrhundertvorhaben, inhaltliche Aufklärung der Politik und ihrer Konsequenzen sowie Erklärung dessen, was die Bürger erwarten wird, wurde aufgrund der Einigkeit innerhalb des politischen Systems seitens der Politik zunächst nicht für notwendig erachtet. Es fand praktisch keine Vermittlung politischer Inhalte statt. Aufgrund des Informationsdefizits entstanden in der Bevölkerung Unsicherheiten und Ängste, die in einer vehementen Ablehnung der Währungsunion gipfelten.“
Im Rahmen der Arbeit geführte Hintergrundgespräche bestätigen den Eindruck, dass die Regierenden dem Aspekt der Führung zunächst nicht viel Bedeutung beimaßen. Die Verantwortung für die Darstellung der Politik lag ihrer Ansicht nach beim Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Ihre Aufgabe sei es gewesen, die Währungsunion zu „machen“, nicht sie zu „verkaufen“. Unabhängig davon, ob die Regierung überhaupt den Versuch der Führung unternahm – wie waren die Erfolgsaussichten, wenn man die in den Hypothesen 212 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 12/97, 17.06.1992, S. 7977. Online verfügbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12097.pdf, zuletzt geprüft am 28.08.2009.
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genannten Bedingungen zugrunde legt? Die Geschlossenheit der politischen Elite war in Fragen der Währungsunion trotz einiger innerparteilicher Spannungen insgesamt groß. Allerdings konterkarierte die stark ablehnende Haltung der Medien Überzeugungsversuche seitens der Regierenden. Insbesondere SZ und FAZ brachten zahlreiche inhaltliche Argumente gegen die gemeinsame Währung vor. Die Bild-Zeitung äußerte ihre Kritik eher indirekt, indem sie skeptische Bürger zu Wort kommen ließ. Auch die Qualitätszeitungen wiesen immer wieder auf die ablehnende Bevölkerungsmeinung hin. Die untersuchten Medien verliehen auf diesem Weg der ansonsten „schweigenden“ Bevölkerungsmeinung, die sich nicht in nennenswerter Weise über Protestaktionen organisierte, eine Stimme. Eine bemerkenswerte Verbindung gingen Spitzenjournalisten von FAZ und SZ mit den politischen Kritikern der Währungsunion ein: Der Ressortleiter der FAZ-Wirtschaftsredaktion, Hans D. Barbier, wurde Mitglied des Stiftungsrates der von Manfred Brunner initiierten Stiftung DM, der auch Peter Gauweiler angehörte. Am 16. Januar 1993 ging der erstmals verliehene und mit 10.000 Mark dotierte „Freiheitspreis“ der Stiftung an den wirtschaftspolitischen Chefkommentator der SZ, Franz Thoma: Mit mutigen Worten habe er sich gegen die sinnlose Aufgabe der D-Mark gestellt, hieß es in der Laudatio für Thoma, der seine Festrede auch gleich für eine erneute massive Kritik an der Währungsunion nutzte.213 Die von den Medien vielfach geäußerte Sorge um die Stabilität der neuen Währung deckte sich mit dem Standpunkt der Bundesregierung: Diese ließ von Anfang an keinen Zweifel daran, dass die zu schaffende europäische Währung strikten Stabilitätskriterien genügen müsse. Auf europäischer Ebene setzte sie sich mit Nachdruck für eine rigide Einhaltung der Konvergenzkriterien ein und zeigte sich kompromisslos hinsichtlich der politischen Unabhängigkeit der EZB. Diese Maßnahmen sind folglich nicht als eine Reaktion auf die Medienmeinung zu deuten – sie entsprachen von vornherein der Regierungsposition. Dennoch ist klar erkennbar, dass sich die Regierenden der Macht der Medien bewusst waren und die öffentlich geäußerten Bedenken entsprechend zu entkräften suchten. Das ständige öffentliche Betonen der Tatsache, wie sehr man sich für die Stabilität der neuen Währung einsetze, sollte Medien und Bürger in dieser Hinsicht beruhigen. Weiterhin kann das Bemühen der Bundesregierung, Frankfurt am Main als Sitz der EZB durchzusetzen, als eine symbolische Geste verstanden werden: Diese, vor allem von der FAZ immer wieder geforderte, Standortentscheidung sollte unterstreichen, dass die EZB die stabilitätsorientierte Politik der ebenfalls in Frankfurt ansässigen Bundesbank fortführen würde (vgl. 213 Vgl. Ekkehard Müller-Jentsch: Freiheitspreis für Franz Thoma. In: Süddeutsche Zeitung, 18.01.1993.
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Issing 2008, S. 20). Insgesamt wurde von der Regierung zu vermitteln versucht, dass die europäische Währung nach dem Modell der D-Mark gestaltet werden und deren Erfolgsgeschichte fortschreiben würde. Zwar zeigten sich die Medien gegen Ende der Fallstudie hin weniger kritisch als zu Anfang und auch der Widerstand in der Bevölkerung ließ ab dem Frühjahr 1993 langsam nach – bis zum Ende des untersuchten Zeitraums blieb jedoch eine Mehrheit der Bürger ablehnend gegenüber der Währungsunion eingestellt und die politische Führung muss aus diesem Grund als gescheitert angesehen werden. Zusammenfassend kann die Entstehung einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten konstatiert werden, die im Verlauf der Fallstudie weder durch Responsivität noch durch Führung überwunden werden konnte.
4.1.2 Frankreich: Ja zur Währungsunion, nein zur Politik der Austerität Anders als in Deutschland befürwortete in Frankreich eine große Mehrheit der Bürger die Schaffung einer Europäischen Währungsunion. Auf wenig Begeisterung stieß allerdings die damit verbundene Politik der Austerität. Französische Wirtschaftswissenschaftler zweifelten Anfang der 1990er Jahre vermehrt daran, dass Frankreich den strikten geldpolitischen Kurs der Bundesbank noch länger mittragen konnte. Namhafte Experten fürchteten Nachteile für den französischen Arbeitsmarkt und rieten der Regierung zu einer Entkoppelung des Franc von der D-Mark. In den Augen vieler Franzosen war die hohe Arbeitslosigkeit eine dringlichere Aufgabe als die monetaristische Stabilitätspolitik (vgl. de la Serre, Lequesne 1993, 1994). Die Herausforderung für die französische Regierung bestand somit darin, den Bürgern zu vermitteln, dass das grundsätzlich breit akzeptierte Ziel der Währungsunion ohne weitere Sparmaßnahmen nicht zu erreichen sein würde. Neben diesen konkreten wirtschafts- und geldpolitischen Erwägungen spielte auch die allgemeine Debatte um den Maastrichter Vertrag mit in die französische Diskussion zur Währungsunion hinein. Mitterrands Entscheidung, den Vertrag von Maastricht per Referendum zu ratifizieren, brachte das Thema in die breite Öffentlichkeit. Für die Anhänger des „Non“ war die Währungsunion Ausdruck eines Verlustes nationaler Souveränität und einer Politik unter deutschem Diktat sowie eine drohende Quelle der Arbeitslosigkeit und der sozialen Spannungen. Die Anhänger des „Oui“ deuteten die Währungsunion als Rückgewinn
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4 Fallstudien
einer faktisch längst verloren gegangenen geldpolitischen Souveränität und als wichtigen Schritt zu einem politisch wie auch ökonomisch starken Europa.214
4.1.2.1 Die Meinung der Medien Vom 1. November 1991 bis zum 31. Oktober 1994 wurden 44 redaktionelle Kommentare von LM sowie 64 von LF gezählt (Abbildung 4.5). Intensität der Kommentierung im Zeitverlauf LM
LF
30 25 20 15 10 5 0 11/91 12/91 01/92 02/92 03/92 04/92 05/92 06/92 07/92 08/92 09/92 10/92 11/92 12/92 01/93 02/93 03/93 04/93 05/93 06/93 07/93 08/93 09/93 10/93 11/93 12/93 01/94 02/94 03/94 04/94 05/94 06/94 07/94 08/94 09/94 10/94
Anzahl der Kommentare
LM+LF
Monat/ Jahr
Abbildung 4.5: Kommentierung zur Schaffung einer EWU in LM und LF
Im Dezember 1991 veröffentlichten beide Medien mehrere Kommentare anlässlich der Regierungskonferenz von Maastricht. Nach ein paar Monaten geringer Beachtung nahm die Kommentierung im Juni 1992 wieder zu: Zum einen erregte das gescheiterte dänische Referendum vom 2. Juni Aufmerksamkeit, zum anderen kündigte Staatspräsident Mitterrand am Folgetag an, dass er das Vertragswerk in Frankreich ebenfalls per Referendum ratifizieren lassen wolle. Die Spitze der Kommentierung erreichten beide Medien im September 1992.215 Die Kampagne zum anstehenden Referendum war auf ihrem Höhepunkt 214 Siehe beispielhaft für die beiden Lager MdC: Adresse aux citoyens. Flugblatt, 1992; PS: Le 20 septembre dites OUI à l'Europe. Flugblatt, 1992. Vgl. auch die Darstellung bei MüllerBrandeck-Bocquet 2004, S. 123-126. 215 Auf den ersten Blick mag es erstaunlich wirken, dass die Kommentierung zur Währungsunion in den dem Referendum vorausgehenden Monaten eher gering war. Die Währungsunion stellte
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angelangt und von medialen Großereignissen geprägt, namentlich der Fernsehdebatte mit Staatspräsident Mitterrand als obersten Vertreter des „Oui“-Lagers, unterstützt durch den deutschen Bundeskanzler Kohl, und dem stellvertretend für das „Non“-Lager eingeladenen Philippe Séguin (RPR). Am 20. September stimmte die französische Bevölkerung schließlich äußerst knapp für das Vertragswerk. Nach einer verstärkten Kommentierung im Dezember blieb die mediale Aufmerksamkeit mehrere Monate lang gering. Während der Parlamentswahlen im März 1993 spielte das Thema keine wichtige Rolle in den Medien. Aufmerksamkeit erlangte es erst wieder im August 1993, aufgrund der Anpassung der Wechselkursbandbreiten im EWS. Danach wurde bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes zwar hin und wieder noch ein Kommentar veröffentlicht, insgesamt war das Thema aber nur noch von untergeordneter Bedeutung. LM veröffentlichte sechs positive, zwei negative und 36 ambivalente Kommentare zur Europäischen Währungsunion. LF urteilte zwölfmal positiv, zweimal negativ und 50-mal ambivalent. Damit ergab sich insgesamt eine aufgeschlossene Haltung der Medien gegenüber der Währungsunion (Abbildung 4.6). Medienmeinung
LM+LF
LF
LM
-45
-30
-15
0
15
30
45
Saldo der Bewertungen
Abbildung 4.6: Bewertung des Politikziels „Schaffung einer EWU“ durch LM und LF
aber lediglich einen unter mehreren diskutierten Themenkomplexen in der Debatte um den Maastrichter Vertrag dar.
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4 Fallstudien
Trotz dieser wohlwollenden Einstellung zum politischen Ziel der Währungsunion bewerteten beide Zeitungen das Handeln der sozialistischen Regierung unter Präsident Mitterrand und den Premierministern Cresson bzw. Bérégovoy kritisch. Am häufigsten äußerten sie den Vorwurf, die Regierung vertrete nicht energisch genug die französischen Interessen. Der Cohabitation-Regierung wurde in diesem Punkt ein besseres Zeugnis ausgestellt: Nach dem Amtsantritt von Premierminister Édouard Balladur (RPR) urteilte LF deutlich positiver, während allerdings LM auch ihm gegenüber skeptisch blieb. Sowohl Befürworter als auch Gegner einer Europäischen Währungsunion empfanden den deutschen Einfluss auf den Prozess als erdrückend. Oft wurde bemängelt, dass die Europäische Währungsunion nach deutschem Diktat verlaufe.216 Die Bundesbank verhalte sich bei der Festsetzung der Zinsen äußerst rücksichtslos und lasse es an Solidarität mit den europäischen Partnerländern vermissen. „C’est un bien triste paradoxe de constater que, à l’heure où l’Europe se prépare à une monnaie unique, la Communauté se révèle incapable d’empêcher un des États de prendre une décision dont les effets se retourneront contre les onze autres.“217 Zahlreiche Kommentatoren argumentierten, dass die Europäische Währungsunion gerade wegen der aktuellen deutschen Dominanz anzustreben sei: „Si le traité est appliqué, l’Allemagne devra partager le pouvoir monétaire dont elle use et abuse aujourd’hui en faisant payer sa réunification par l’étranger.“218 Allen Ärgers über das „unsolidarische“ Verhalten zum Trotz, betonten die Kommentare immer wieder, dass an der Kooperation mit Deutschland kein Weg vorbeiführe.219 Die europäische Integration könne nur mit den vereinten Kräften Deutschlands und Frankreichs weiter betrieben werden.220 Vor allem in den Kommentaren von LF wurde die eigene Regierung aber aufgefordert, französische Interessen gegenüber dem Nachbarland besser durchzusetzen.221 Ein aus Sicht der französischen Medien triftiger Grund gegen die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung war der damit verbundene Transfer nationaler Souveränität. Prominent war dieses Argument vor allem in den Kommentaren von LF: „La souveraineté nationale […] implique le droit régalien de battre monnaie. Si ce privilège est laissé à d’autres, il n’y plus de 216 Paul Fabra: La crise européo-allemande. In: Le Monde, 12.05.1992, S. 38; Jean Bothorel: Les fausses vertus du "franc fort". In: Le Figaro, 02.01.1992, S. 2; Antoine-Pierre Mariano: Responsabilité allemande. In: Le Figaro, 31.07.1993, S. 1. 217 Antoine-Pierre Mariano: Mauvais coup. In: Le Figaro, 17.07.1992, S. 1. 218 Franz-Olivier Giesbert: De Versailles à Maastricht. In: Le Figaro, 18.09.1992, S. 1. 219 Eric Le Boucher: Réinventer Maastricht. In: Le Monde, 06.08.1993, S. 1. 220 Jean François-Poncet: Le mal européen. In: Le Figaro, 21.06.1993, S. 1. 221 Antoine-Pierre Mariano: La clé. In: Le Figaro, 14.03.1993, S. 1; Philippe Villin; Yves Messarovitch: Urgences de printemps. In: Le Fig-Eco, 02.04.1993, S. 1.
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souveraineté nationale.“222 Und nicht nur die Souveränität sei bedroht – auch die nationale Identität hätte unter einer Europäischen Währungsunion zu leiden, so die Befürchtung.223 Viele Kommentare relativierten aber auch die Gefahr eines Souveränitätsverlustes. Die Schaffung einer gemeinsamen Währung bedeute schließlich auch eine Rückgewinnung von Souveränität: Frankreich könne dann die Geldpolitik auf europäischer Ebene wieder mitgestalten und wäre nicht machtlos den Entscheidungen der Deutschen Bundesbank ausgeliefert.224 Auch ginge die nationale Identität nicht einfach mit einer europäischen Währung verloren: „Ce n’est ni la fin des identités ni l’avènement soudain d’une cité universelle. Il s’agit seulement d’acheter un jour avec le même billet de la fougasse ou des bretzels.“225 Schon früh wurden in den Medien Forderungen nach einem Volksentscheid laut.226 Immer wieder wurde Mitterrand aber auch vorgeworfen, das Referendum letztlich aus einem innenpolitischen, rein taktischen Kalkül heraus initiiert zu haben: Aufgrund seiner schlechten innenpolitischen Leistungsbilanz wolle er sich europapolitisch in der Öffentlichkeit profilieren und dabei gleichzeitig den politischen Gegner schwächen, da die Rechte über den Maastrichter Vertrag tief zerstritten war.227 Die französischen Medien kritisierten außerdem – ähnlich wie die deutschen – eine Moralisierung der Debatte, die eine offene Abwägung inhaltlicher Argumente verhindere: „Deux camps manichéens s’opposent. L’un incarne le bien, c’est celui de la lumière, l’autre le mal, c’est le camp des ténèbres. Un débat simplificateur a placé d’un côté les Européens qui acceptent Maastricht les yeux fermés comme l’aboutissement logique de l’empire carolingien; l’autre, les frileux, qui se confineraient dans un nationalisme dépassé.“228
Während das Streben nach maximaler Stabilität in Deutschland unumstritten war, fand in Frankreich zu dieser Frage eine lebhafte Debatte statt. Einige Kommentare befürworteten die Konvergenzkriterien,229 die Mehrzahl argumentierte jedoch, dass diese den einzelnen Ländern und ihren jeweils unter222 223 224 225 226 227 228 229
Xavier Marchetti: La baguette et le cerceau. In: Le Figaro, 10.12.1991, S. 2. Vgl. Georges Suffert: Le rêve ambitieux de Maastricht. In: Le Figaro, 02.08.1993, S. 1. Xavier Marchetti: Tourmentes monétaire. In: Le Figaro, 11.09.1992, S. 1. Roger-Pol Droit: Changer ses devises. In: Le Monde, 18.09.1992, S. 7. Vgl. Xavier Marchetti: Lourds enjeux. In: Le Figaro, 03.03.1992, S. 1. Vgl. Alain Peyrefitte: Dés pipés. In: Le Figaro, 23.06.1992, S. 1. Charles Rebois: Les nouveaux inquisiteurs. In: Le Figaro, 22.06.1992, S. 2. Vgl. Françoise Lazare: Une union économique et monétaire à plusieurs vitesses? In: Le Monde, 04.06.1992, S. 4.
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schiedlichen wirtschaftlichen Problemen nicht gerecht würden.230 Man dürfe nicht irgendwelche mathematischen Kriterien als Richtschnur des Handelns ansehen, sonst könnten Rezension und steigende Arbeitslosigkeit die Folge sein.231 Die Austeritätspolitik, die Frankreich unternahm, um sich für die Europäische Währungsunion zu qualifizieren, stieß weder bei LM noch bei LF auf ungeteilte Zustimmung. Sie ginge zulasten der Wirtschafts- und Sozialpolitik, so die Kritiker.232 Die Befürworter hielten dagegen, dass eine stabile Währung langfristig auch für das Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen von Vorteil sein würde: „Jamais un pays n’a souffert d’avoir une monnaie forte.“233 Auch wenn LM und LF, wie dargestellt, manch eine Begleiterscheinung der Währungsunion missfiel oder die Vertretung französischer Interessen unzureichend erschien, so hielten doch beide Medien das Politikziel der Währungsunion insgesamt für erstrebenswert.
4.1.2.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite Als sich Mitterrand für die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages per Referendum entschied, war die sozialistische Partei in einer geschwächten Verfassung: Im März 1992 hatte sie eine empfindliche Niederlage bei den Regionalund Kantonalwahlen hinnehmen müssen. Immer wieder wurde Mitterrand daher eine wahltaktische Motivation für das Referendum unterstellt. Sein Ziel sei es gewesen, die latenten internen Spannungen und Divergenzen, die die rechten Parteien hinsichtlich der Europapolitik zeigten, zu intensivieren und nach außen zu kehren, um so ihre Position für die anstehenden Parlamentswahlen zu schwächen (vgl. Denni 1993, S. 92). Vertraute Mitterrands, die im Rahmen der Akteursinterviews befragt wurden, streiten ab, dass dies die ausschlaggebende Motivation gewesen sein soll: Als überzeugtem Europäer sei es Mitterrand ein ehrliches Anliegen gewesen, einen so weit reichenden Integrationsschritt von den Bürgern billigen zu lassen. Inwieweit nun die Spaltung des politischen Gegners in der Absicht Mitterrands lag, als er sich für das Referendum entschied, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass sich die Spaltung vollzog. Vor allem innerhalb der RPR kam es zu 230 Vgl. Xavier Marchetti: Les difficultés d'une monnaie européenne. In: Le Figaro, 24.01.1992, S. 2. 231 Vgl. Jean-Jacques Rosa: Une défaite bénéfique. In: Le Fig-Eco, 03.08.1993, S. 10. 232 Vgl. Françoise Lazare; Michel Noblecourt: Progrès monétaire, hésitation sociale. In: Le Monde, 12.12.1991, Jean Bothorel: Les fausses vertus du "franc fort". In: Le Figaro, 02.01.1992, S. 2; Paul Fabra: Les nageurs attachés du SME. In: Le Monde, 09.02.1993, S. 34; Antoine-Pierre Mariano: Deux dangers. In: Le Figaro, 11.10.1994, S. 1. 233 Antoine-Pierre Mariano: Le mark et le franc. In: Le Figaro, 06.05.1992, S. 1.
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heftigen Debatten: Jacques Chirac erklärte seine Zustimmung zum Maastrichter Vertrag („en toute lucidité, sans enthousiasme mais sans état d’âme“234), während Charles Pasqua und Philippe Séguin innerhalb der RPR die Gruppierung „Rassemblement pour le non au référendum“ gründeten. „Maastricht“ war für sie gleichbedeutend mit Souveränitätsverlust, deutscher Dominanz und einer wachsenden europäischen „technocratie“. Um ihre Opposition zur Währungsunion konstruktiv zu gestalten, plädierten mehrere Souveränisten für die Schaffung einer parallel zu den nationalen Währungen existierenden europäischen Währung („monnaie commune“ statt „monnaie unique“).235 Zudem kämpfte insbesondere Philippe Séguin dafür, die strikte Haushaltsdisziplin zugunsten einer Förderung von Investitionsbereitschaft und Konsum zurückzustellen (vgl. de la Serre, Lequesne 1994, 1995). Auch die UDF erwies sich als intern gespalten zur europäischen Frage. Die christlich orientierte Partei „Centre des démocrates sociaux“ (CDS), die der UDF angehörte, trat für die Idee einer Europäischen Währungsunion ein und versuchte die von den Souveränisten geschürten Ängste zu entkräften. Mit der nationalen Währung werde nicht automatisch die nationale Identität aufgegeben: „La monnaie n’est pas un drapeau, une identité culturelle, la monnaie est un instrument de mesure, un outil au service de l’économie et de l’emploi.“236 Das von den Gegnern des Maastrichter Vertrages immer wieder vorgebrachte Argument, man sei für Europa, aber für ein anderes Europa, wurde als nicht zulässig erklärt: „On ne peut pas être pour l’Europe et contre Maastricht.“237 Aufgrund des politischen Gewichts Frankreichs würde ein Nein zum Vertrag von Maastricht den gesamten europäischen Integrationsprozess in eine tiefe Krise stürzen. Auf der Seite der Befürworter des Maastrichter Vertrages stand auch der UDF-Vorsitzende Valéry Giscard d’Estaing, der sich engagiert für dessen Ratifizierung einsetzte. Philippe de Villiers, der der ebenfalls der UDF zugehörigen „Parti Républicain“ (PR) entstammte, warb hingegen öffentlichkeitswirksam für das „Non“ zum Maastrichter Vertrag. Ähnlich wie Pasqua und Séguin fürchtete de Villiers ein Auslöschen des französischen Nationalstaates durch die Schaffung eines europäischen Superstaates. Er gründete zunächst die Bewegung „Combat pour la France“ und Ende 1994 dann die politische Partei „Mouvement pour la France“ (MPF).
234 Jacques Chirac, zitiert nach: Denni 1993, S. 93. Spätestens seit sich Chirac im so genannten „Appell von Cochin“ vom 6. Dezember 1978 sehr europakritisch äußerte, galt er als „Vernunftseuropäer“. Die europäische Integration betrieb er nicht als Herzensangelegenheit, so die allgemeine Einschätzung, sondern aus einem politischen Kalkül heraus. 235 Vgl. Paul Fabra: Maastricht – déblayons le terrain! In: Le Monde, 01.09.1992, S. 30. 236 CDS: Maastricht. Flugblatt, 1992. 237 Ebenda.
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Anders als von Mitterrand vermutlich erhofft, blieben auch den Linken Spaltungen nicht erspart: Offiziell befürwortete die PS den Vertrag von Maastricht und die Währungsunion. In der Referendumskampagne argumentierte sie, dass sich die Währungsunion keineswegs negativ, sondern positiv auf die Beschäftigungslage in Frankreich auswirken würde: „[L]’Ecu sera la première monnaie mondiale, devant le dollar et le yen. C’est un atout essentiel pour l’activité économique pour la défense de nos intérêts, donc pour l’emploi.“238 Doch auch hier gab es prominente Kritiker. So gründete der frühere sozialistische Bildungs- und Verteidigungsminister Jean Pierre Chevènement 1992 die Bürgerbewegung „Mouvement des Citoyens“ (MdC) und unterstützte mit dieser Bewegung die Referendumskampagne des „Non“. Chevènement strebte eine Neuverhandlung des Maastrichter Vertrages an. Die strengen Kriterien zum Eintritt in die Währungsunion schlössen viele Länder vorab aus und die Währungsunion würde Europa daher eher spalten als einen, so seine Kritik. Außerdem schade die in Maastricht vereinbarte Stabilitätspolitik dem französischen Arbeitsmarkt: „Trois millions de chômeurs en France, un investissement industriel en baisse: tel est le résultat de la politique monétariste appliquée ici et dont Maastricht fait, avec la monnaie unique et la banque centrale indépendante, son dogme central.“239 Die EZB sei zudem ein Beispiel für das Demokratiedefizit der EU: Sie sei undemokratisch, weil politisch nicht verantwortlich. Ebenso wie die rechten Skeptiker beklagte Chèvenement die deutsche Dominanz und mahnte, dass Europa nicht gegen die Nationen entstehen dürfe. Seine Devise lautete „Non à Maastricht, Oui à la France, Oui à l’Europe.“240 1993 verließ Chèvenement die PS und formierte die Bürgerbewegung zu einer gleichnamigen politischen Partei, deren Vorsitzender er wurde. Die PCF lehnte den Vertrag von Maastricht geschlossen ab. Georges Marchais, Generalsekretär der PCF, betonte dabei stets, dass er nicht gegen Europa, sondern für ein anderes Europa sei. Ebenso sei er nicht prinzipiell gegen eine währungspolitische Zusammenarbeit in Europa. Diese müsse sich jedoch, anders als die in Maastricht geplante Währungsunion, sowohl in ihren Zielen als auch in den Methoden an den Bedürfnissen der Menschen ausrichten.241 Die Grünen zeigten sich gespalten: Antoine Waechter befürwortete den Vertrag von Maastricht, Marie-Christine Blandin lehnte ihn ab. Die rechtsextreme FN stand dem Maastrichter Vertrag ablehnend gegenüber (vgl. Denni 1993, S. 100).
238 239 240 241
PS: Le 20 septembre dites OUI à l'Europe. Flugblatt, 1992. MdC: Adresse aux citoyens. Flugblatt, 1992. Ebenda. Vgl. Avec le peuple. In: L'Humanité, 16.12.1992.
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Insgesamt bot die französische politische Elite ein zerstrittenes Bild. Der Konflikt hatte sowohl eine zwischenparteiliche als auch innerparteiliche Dimension: Die PCF ging geschlossen gegen den Vertrag von Maastricht und die darin vereinbarte Währungsunion in Stellung. Die übrigen etablierten Parteien waren tief gespalten: Auf der einen Seite gab es beeindruckende überparteiliche Zusammenschlüsse von Persönlichkeiten wie Valéry Giscard d’Estaing (UDF), Simone Veil (UDF), Édouard Balladur (RPR) und vielen mehr, die Seite an Seite mit den regierenden Sozialisten für den Vertrag von Maastricht warben. Auf der anderen Seite hatten RPR, UDF und PS jeweils prominente Abweichler zu verzeichnen, die sich im Verlauf der Fallstudie nicht der offiziellen Parteilinie unterwarfen, sondern ihren Dissens sehr konfrontativ und medienwirksam artikulierten. Sie scharten Gleichgesinnte um sich und zementierten ihren Dissens durch die Bildung parteiinterner Gruppierungen und – im Fall von de Villiers und Chevènement – durch die Gründung neuer Parteien.
4.1.2.3 Das Angebot politischer Alternativen Die Wahlen zur Nationalversammlung fanden am 21. und 28. März 1993 statt. Die Regierungspartei PS wurde vom Wähler mit einem historisch niedrigen Stimmenanteil abgestraft: „Jamais sans doute dans l’histoire politique française ne s’est exprimée une telle désaffection à l’égard du pouvoir en place“, resümieren Pascal Perrineau und Colette Ysmal (1993, S. 16) das Wahlergebnis.242 In der politikwissenschaftlichen Literatur wird die Parlamentswahl von 1993 nicht nur als eine Niederlage der Regierung, sondern auch als eine Niederlage des gesamten politischen Systems Frankreichs bewertet: Niemals zuvor konnten Parteien, die sich an der Peripherie des politischen Spektrums situieren, eine so zahlreiche Wählerschaft für sich verbuchen (vgl. Perrineau, Ysmal 1993, S. 14). Staatspräsident François Mitterrand ernannte den neuen Mehrheitsverhältnissen entsprechend Édouard Balladur (RPR) zum Nachfolger von Pierre Bérégovoy (PS) als Premierminister. In seiner Fernsehansprache vom 29. März 1993 machte Mitterrand deutlich, dass die Europapolitik auch innerhalb einer Cohabitation in der präsidentiellen Verantwortung bleiben würde. Trotz dieser Ankündigung des Präsidenten hat der Premierminister aber durchaus eigene 242 Im ersten Wahlgang entfielen 20,4 Prozent der Stimmen auf die RPR und 19,1 Prozent auf die UDF. Die PS erhielt nur 17,6 Prozent und die PCF 9,2 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die ökologischen Parteien Génération Écologie und Les Verts konnten insgesamt zwar 7,6 Prozent der Stimmen erzielen, erreichten aber dennoch keinen Parlamentssitz. Die FN kam sogar auf 12,4 Prozent, erlangte aber ebenfalls keinen Sitz. Im Ergebnis war die Sitzverteilung der politischen Gruppen in der Nationalversammlung: RPR: 257, UDF: 215, PS: 57, PCF: 23, Sonstige: 25.
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4 Fallstudien
europapolitische Initiativen eingebracht. De facto sei die Europapolitik in der Cohabitation Mitterrand-Balladur als geteilter Kompetenzbereich gehandhabt worden, so Gisela Müller-Brandeck-Bocquet (2004, S. 54-55). Im Wahlkampf gab es aufgrund des wenige Monate zuvor abgehaltenen Referendums ein verstärktes öffentliches Interesse an europäischen Themen. Die Aufmerksamkeit fokussierte sich aber nicht unbedingt auf die geplante Währungsunion. In ihrem Wahlprogramm nannte die PS die Schaffung einer europäischen Währung als ein europapolitisches Ziel unter vielen anderen: „Faire vivre l’Europe: politique industrielle, recherche, environnement, monnaie unique, mise en oeuvre d’un politique de sécurité commune.“243 In den Flugblättern und Plakaten der Partei spielte die Währungsunion kaum eine Rolle. Europapolitik im Allgemeinen wurde jedoch zum Angriff auf den politischen Gegner verwendet: PS-Kandidaten argumentierten mit Verweis auf das Maastricht-Referendum, dass die politische Rechte in Fragen der Europapolitik intern zerstritten sei und dass man demnach keine kohärente Europapolitik von ihr erwarten könne.244 Die ökologischen Parteien räumten der Währungsunion ebenfalls nur einen geringen Stellenwert ein: Les Verts und Génération Écologie unterstrichen lediglich, dass die monetäre Union einer politischen Ergänzung bedürfe.245 In der Wahlkampagne der PCF spielte die Währungsunion keine Rolle. Die Kommunisten erinnerten an die „Kraft des Protestes“, die sich anlässlich des MaastrichtReferendums gezeigt habe, gingen dabei aber nicht explizit auf die Währungsunion ein.246 Auch die politische Rechte thematisierte die Währungsunion im Wahlkampf kaum. Das gemeinsame Wahlprogramm der „Union pour la France“, einem Zusammenschluss von RPR und UDF, plädierte für eine deutsch-französische Initiative im Bereich der Währungsunion,247 die gemeinsamen Flugblätter sparten das Thema weitgehend aus.248 In einer eigenen Broschüre befürwortete die traditionell sehr europafreundliche UDF die Schaffung einer Europäischen Währungsunion, forderte jedoch gleichzeitig, dass eine französische Handschrift 243 PS: Le contrat pour la France 1993/1998. Wahlprogramm, 1993, S. 5. 244 Vgl. PS: Jacques Salvator et Jean-Yves Caradec. 3ème circonscription, Aubervilliers, La Courneuve, Le Bourget. Flugblatt, 1993. 245 Vgl. Génération Écologie: Supplément à la lettre de Génération Écologie n°6. Special Ile-deFrance. Flugblatt, 1993; Les Verts: Le choix de la vie. Faltblatt, 1993; Les Verts; Génération Écologie: Entente politique. Faltblatt, 1993. 246 Vgl. PCF: Pour une autre politique. Des propositions à débattre, 1993. 247 Vgl. Union pour la France RPR-UDF: Le projet de l'Union pour la France. Wahlprogramm, 1993. 248 Vgl. Union pour la France RPR-UDF: Édouard Balladur et Philippe Goujon. 12ème circonscription de Paris. Flugblatt, 1993.
4.1 Die Schaffung einer Europäischen Währungsunion (1991-1994)
157
erkennbar sein müsse. Als Politikziel wurde genannt: „Assurer la stabilité de la monnaie en donnant son indépendance à la Banque de France; apporter une impulsion française à la réalisation de l’Union Économique et Monétaire et à la construction de l’Europe.“249 Die RPR vermied das Thema angesichts ihrer internen Zerrissenheit. Ohne Bezug zur Währungsunion konstatierte die RPR lediglich: „Le référendum sur Maastricht l’a confirmé: les Français veulent l’Europe, mais pas n’importe qu’elle Europe. […] La France veut tenir sa place en Europe, elle veut tenir l’Europe à sa place.“250 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Frage der Währungsunion im Parlamentswahlkampf nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte. Dem Wähler wurden keine greifbaren politischen Alternativen in dieser Frage geboten.
4.1.2.4 Regierende und Regierte: Konkordanz mit Schönheitsfehlern In Frankreich befürwortete eine große Mehrheit der Bevölkerung über den gesamten Zeitraum der Fallstudie hinweg das Ziel einer gemeinsamen europäischen Währung (Abbildung 4.7).251 Die französische Regierung handelte demnach in Einklang mit der Bevölkerungsmeinung, als sie sich auf europäischer Ebene für die Schaffung einer Währungsunion einsetzte.
249 UDF: Les 40 priorités de l'UDF pour l'alternance. Broschüre, 1993. 250 RPR: La réforme maintenant! Faltblatt, 1993. Vgl. fast wortgleich: RPR: La France que nous voulons! Avec le RPR. Broschüre, 1993. 251 Variationen in der Formulierung der Fragestellung: EB 36 „The Council of Heads of State and Governments of the European Community has called for intergovernmental conferences to discuss details of a European Economic and Monetary Union and of a Political Union. I am going to read you a number of statements. For each one, please tell me whether you are in favour/not in favour of... within this European Economic and Monetary Union, a single common currency replacing the different currencies of the Member States in five or six years time.“ EB 37 und EB 38: „At the moment, the debate on European Union continues. Could you please tell (EB 37: me) whether you are in favour or not, of… within this European Economic and Monetary Union, a single common currency replacing the different currencies in the Member States in five or six years time?“ EB 39, EB 40, EB 41 und EB 42: „(EB 39: Irrespective of other details of the Maastricht Treaty…) What is your opinion on each of the following proposals? Please tell me for each proposal, whether you are for it or against it: There should be a European Monetary Union with one single currency replacing by 1999 the (national currency) and all other national currencies of the Member States of the European Community/European Union.“
158
4 Fallstudien
Bevölkerungsmeinung zur Währungsunion Pro
Contra
Keine Meinung
80 70
Prozent
60 50 40 30 20 10 0 Herbst 91 EB36
Frühjahr 92 EB37
Herbst 92 EB38
Frühjahr 93 EB39
Herbst 93 EB40
Frühjahr 94 EB41
Herbst 94 EB42
Ausgabe Standard Eurobarometer
Abbildung 4.7: Die Einstellungen der Franzosen zur Schaffung einer EWU
Abgesehen von dieser prinzipiellen Übereinstimmung zeigte sich in Frankreich eine ähnliche Trendbewegung wie in Deutschland: Im Verlauf der Fallstudie polarisierte sich die Bevölkerungsmeinung. Die hitzige Debatte um den Maastrichter Vertrag beförderte die Meinungsbildung der breiten Bevölkerung. Die Anzahl der Unentschiedenen sank und es waren vor allem die Gegner der Währungsunion, die von dieser Entwicklung profitierten – auch wenn sie stets in der Minderheit blieben. Die sich mehrende Skepsis war vor allem durch die wirtschaftspolitischen Begleitumstände verursacht: Im Herbst 1993 befürworteten nur noch 39 Prozent der Franzosen die Stabilitätspolitik des „franc fort“.252 Mitterrands Entscheidung, den Vertrag von Maastricht per Referendum ratifizieren zu lassen, brachte eine prominente Platzierung des Themas auf der öffentlichen Agenda mit sich. Das Referendum machte es den Parteien unmöglich, interne Spaltungen zu ignorieren oder das Thema in öffentlichen Stellung252 Repräsentative Umfrage von SOFRES, realisiert am 15. und 16. September 1993. Fragestellung: „Selon vous est-il préférable pour la France de maintenir un franc fort pour faciliter la mise en place de l’union monétaire de l’Europe ou de laisser le francs flotter pour favoriser la relance de l’économie?“ SOFRES für Le Figaro: Ce que pensent les Français du référendum de Maastricht un an après. Online verfügbar unter http://www.ipsos.fr/Canalipsos/poll/ 4848.asp, zuletzt geprüft am 03.08.2009.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
159
nahmen zu umgehen. Dieses Aufbrechen parteiinterner Konflikte dürfte allerdings auch mit dafür verantwortlich sein, dass das Thema nach dem Referendum wieder zunehmend gemieden wurde: Der Bereich der Europapolitik wurde in erster Linie thematisiert, um auf die Spaltungen in den Reihen der politischen Gegner hinzuweisen. Differenzierte inhaltliche Positionierungen zur Frage der Währungsunion waren im Parlamentswahlkampf von 1993 hingegen kaum zu finden. Obwohl sich zur Unterstützung des Maastrichter Vertrages breite parteiübergreifende Allianzen fanden, behinderten erbitterte innerparteiliche Auseinandersetzungen eine kohärente Politikvermittlung. Im Mittelpunkt der Kritik stand vor allem der Weg zur Europäischen Währungsunion: Die strikten stabilitätspolitischen Erfordernisse seien unsozial und schädlich für den französischen Arbeitsmarkt. Demgegenüber betonte die Regierung in ihrer Argumentation stets das Ziel der Währungsunion. Wenn diese erst einmal verwirklicht sei, würden davon die französische Wirtschaft und der Arbeitsmarkt langfristig profitieren. Die gemeinsame Währung war der französischen Regierung zufolge kein Widerspruch, sondern eine Chance zur Verwirklichung eines „Europe sociale“. Dieses Argumentationsmuster wurde von allen Regierungskonstellationen im untersuchten Zeitraum verwendet. Die sozialistische Regierung unter Mitterrand und Cresson bzw. Bérégovoy hatte in ihrer Politikvermittlung mit dem zusätzlichen Problem zu kämpfen, dass die Medien zwar das Politikziel der Währungsunion mehrheitlich befürworteten, das Regierungshandeln in dieser Frage jedoch überwiegend negativ beurteilten. In der breiten Öffentlichkeit entstand so der Eindruck, dass sich die sozialistische Regierung auf europäischer Ebene nicht optimal für französische Interessen einsetzte. Die Cohabitation unter Mitterrand und Balladur erzielte hier insgesamt bessere Werte. Trotz der Kritik an verschiedenen Rahmenbedingungen befürworteten die Franzosen über den gesamten Zeitraum hinweg mehrheitlich die Schaffung einer Europäischen Währungsunion. Im Kontext dieser Fallstudie kann daher nicht von Responsivität oder Führung gesprochen werden: Beide Begriffe setzen die Überbrückung einer bestehenden Kluft und damit eine Anpassung des Regierungshandelns an die Bevölkerungspräferenzen – oder umgekehrt eine Anpassung der Bevölkerungspräferenzen an das Regierungshandeln – voraus.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998) 4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998) Laut Artikel 109j Absatz 3 EUV-M sollten die Staats- und Regierungschefs bis spätestens 31. Dezember 1996 mit qualifizierter Mehrheit darüber entscheiden,
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4 Fallstudien
„ob es für die Gemeinschaft zweckmäßig ist, in die dritte Stufe einzutreten“ und gegebenenfalls einen Zeitpunkt für den endgültigen Übergang zur Gemeinschaftswährung beschließen. Absatz 4 desselben Artikels erklärte weiterhin: „Ist bis Ende 1997 der Zeitpunkt für den Beginn der dritten Stufe nicht festgelegt worden, so beginnt die dritte Stufe am 1. Januar 1999.“ Die Realität gestaltete sich freilich komplizierter, als es diese zwei Absätze vermuten lassen: Dem im Maastrichter Vertrag vereinbarten, quasi automatischen, Beginn der Währungsunion spätestens bis zum 1. Januar 1999 stand in Deutschland der so genannte Parlamentsvorbehalt entgegen.253 In Frankreich wiederum gab es Diskussionen über die Möglichkeit eines zweiten Referendums, das die endgültige Verwirklichung der Währungsunion ebenfalls in Frage gestellt hätte. Darüber hinaus hatten die EU-Staaten mit den in Maastricht festgelegten Konvergenzkriterien zu kämpfen, um sich für die Teilnahme an der Währungsunion zu qualifizieren. Auf seiner Tagung am 15. und 16. Dezember 1995 in Madrid kam der Europäische Rat überein, die Verwirklichung der Währungsunion nicht zum frühestmöglichen Termin, sondern erst zum 1. Januar 1999 anzupeilen. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich in Madrid außerdem auf den Namen der neuen Währung. Die vom deutschen Finanzminister Theo Waigel vorgeschlagene Lösung „Euro“ setzte sich letztlich durch. Das informelle Treffen des ECOFIN-Rates legte im April 1996 die Bezeichnung „Cent“ für die Untereinheiten fest. Die Franzosen wären gerne beim „ECU“ geblieben. „Écu“ hieß bereits eine mittelalterliche französische Währung und der Name klang in französischen Ohren vertraut. Deutsch ausgesprochen aber, so ein Plädoyer für den „Euro“, erinnere „ECU“ an „Kuh“.254 Damit seien die Deutschen kaum für die ohnehin ungeliebte Währungsunion zu begeistern. Außerdem würden mit dem Namen „ECU“ permanente Abwertungen assoziiert. Der Name „Euro“ sei hingegen unverbraucht und symbolisiere einen Neuanfang (vgl. Rahmsdorf 1996, S. 188). Im Verlauf der Fallstudie erzielten die EU-Mitgliedstaaten bemerkenswerte Fortschritte im Hinblick auf die monetäre Konvergenz, das heißt bei den Kriterien Preisstabilität, Zinsen und Wechselkurse. Fast überall bereitete aber die Haushaltslage große Probleme (vgl. Schröder 1997, S. 112-113). Auch Deutschland hatte aufgrund der finanziellen Belastungen durch die deutsche Einigung mit der Einhaltung der in Maastricht festgelegten Grenzwerte zu kämpfen. Trotzdem kam eine Lockerung der Konvergenzkriterien für die deutsche Regierung nicht in Frage. Im Gegenteil: Sorgenvoll wurde erkannt, dass die 253 Zur Frage, inwieweit dieser Parlamentsvorbehalt beschlusshindernden oder nur beratenden Charakter hatte, siehe Läufer 1993, S. 301. 254 Vgl. André Jouette: Méfions-nous de l'euro. In: Le Figaro, 28.04.1998.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
161
Maastrichter Kriterien zwar eine Messlatte für den Beitritt zur Währungsunion darstellten, aber keine Gewähr für eine dauerhaft stabilitätsorientierte Politik boten (vgl. Weidenfeld, Giering 1999, S. 30-31). Finanzminister Waigel setzte sich daher auf europäischer Ebene für die Verabschiedung verbindlicher Regeln ein, die eine spätere Aufweichung der gemeinsamen Währung verhindern sollten. Am 29. März 1996 wurde die bereits im Vertrag von Maastricht festgeschriebene Regierungskonferenz zur Prüfung desselben eröffnet. Ein erster Revisionsentwurf wurde unter irischer Ratspräsidentschaft diskutiert. Beherrschendes Thema des Gipfeltreffens von Dublin am 13. und 14. Dezember 1996 war, auf deutsches Drängen hin, die Aushandlung eines Stabilitätspaktes zur Wirtschaftsund Währungsunion. Dieser Pakt sollte sicherstellen, dass die Teilnehmerländer der Währungsunion auch nach deren In-Kraft-Treten eine stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik verfolgten. Nicht durchsetzen konnte sich die deutsche Regierung mit ihrem Vorschlag, dass bei Verstößen gegen die Budgetdisziplin automatische Sanktionen verhängt werden sollten. Vor allem Frankreich lehnte einen Automatismus in dieser Frage strikt ab und bestand auf einer politischen Entscheidung. Im Endergebnis enthielt der Pakt eine Selbstverpflichtung der Teilnehmerländer, sich bei übermäßigen Defiziten einem mehrstufigen Entscheidungsverfahren mit Sanktionsfolge zu unterwerfen (vgl. Janning 1997, S. 298). Die Einigung auf die Bezeichnung „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ (statt „Stabilitätspakt“) stellte einen wichtigen symbolischen Sieg für die französische Regierung dar: Während die Sorge der Deutschen vor allem der Stabilität der europäischen Währung galt, war für die Franzosen die schlechte Lage des Arbeitsmarktes das dringlichste Problem.255
255 Frankreich plädierte daher immer wieder für eine stärkere Berücksichtigung wachstums- und beschäftigungspolitischer Aspekte. Den Räten ECOFIN sowie Arbeit und Soziales gelang es in Vorbereitung des Europäischen Rates von Madrid 1995 erstmals, einen gemeinsamen Bericht über die Beschäftigung vorzulegen, der allerdings sehr knapp und unverbindlich ausfiel (vgl. Engel 1996, S. 41). Chirac präsentierte beim Treffen des Europäischen Rates von Turin am 29. März 1996 ein Memorandum über ein europäisches Sozialmodell, das unter anderem zu einer besseren Nutzung der europäischen Sozialfonds zugunsten der Beschäftigung aufrief (vgl. de la Serre, Lequesne 1997, S. 314). In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Florenz am 21. und 22. Juni 1996 bedauerten die Staats- und Regierungschefs die zu hohe Arbeitslosigkeit, konnten sich aber nicht auf eine gemeinsame und kohärente Vorgehensweise einigen, um diesem Problem entgegenzuwirken. Die 13,5 Milliarden ECU für beschäftigungspolitische Maßnahmen, die im ersten Entwurf der Schlussfolgerungen noch vorgesehen waren, tauchten in der Endfassung nicht mehr auf (vgl. Engel 1997, S. 42). Auch beim Treffen des Europäischen Rates am 13. und 14. Dezember in Dublin 1996 konnten keine nennenswerten Fortschritte im Bereich der Beschäftigungspolitik erzielt werden.
162
4 Fallstudien
Die 15-monatige Arbeit der Regierungskonferenz zur Revision des Maastrichter Vertrages mündete in den „Amsterdamer Vertrag“256, der auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs vom 16. bis 17. Juni 1997 in der Hauptstadt der Niederlande paraphiert und am 2. Oktober 1997, ebenfalls in Amsterdam, unterzeichnet wurde. Den bereits unterschriftsreif ausgehandelten Stabilitäts- und Wachstumspakt wollte der neue, seit 2. Juni amtierende, französische Premierminister Lionel Jospin allerdings nur in Verbindung mit beschäftigungspolitischen Zugeständnissen akzeptieren. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich schließlich auf die Einführung eines Beschäftigungstitels in den Vertrag. Als Ziele wurden das Erreichen eines hohen Beschäftigungsniveaus, die Koordinierung der mitgliedstaatlichen Beschäftigungspolitiken sowie die Entwicklung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie festgelegt. Zur Förderung der Koordinierung wurde ein „Beschäftigungsausschuss“ mit beratender Funktion eingerichtet. Eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften war jedoch ausdrücklich nicht vorgesehen (vgl. Weidenfeld, Giering 1999, S. 38-40). Eine weitere Herzensangelegenheit der Franzosen war die Schaffung eines politischen Gegengewichts zur monetären Steuerungsrolle der EZB. Immer wieder unterbreitete die französische Regierung im Verhandlungsprozess zur Wirtschafts- und Währungsunion Vorschläge hierzu, konnte sich jedoch auf europäischer Ebene nicht durchsetzen. Insbesondere die deutsche Regierung stand jeglichen Formen einer weisungsbefugten „Wirtschaftsregierung“ äußerst skeptisch gegenüber (vgl. Janning 1997, S. 298; Thiel 2002, S. 395). Nur eine an keinerlei politische Weisung gebundene EZB konnte nach deutscher Ansicht in der Lage sein, die Geldwertstabilität effektiv zu sichern. Um der französischen Regierung entgegenzukommen, beschloss der Europäische Rat von Luxemburg im Dezember 1997 die Einrichtung eines informellen Beratungsgremiums, des so genannten „Euro-11-Rates“. Auf dem Sondergipfel vom 2. Mai 1998 in Brüssel bestätigte der Europäische Rat den pünktlichen Start der dritten Stufe der Europäischen Währungsunion. Außerdem einigte man sich auf einen breiten Teilnehmerkreis: Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien sollten von Anfang an der Währungsunion angehören. Die Frage der „Ins“ und „Outs“, also der von Beginn an teilnehmenden und der übrigen Länder, war bis zur endgültigen Entscheidung hoch umstritten: Während Deutschland keine stabilitätspolitischen Kompromisse eingehen und die Währungsunion im Zweifelsfall lieber nur mit wenigen Ländern 256 Amtliche Bezeichnung: „Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte“ (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. C 340, 10.11.1997).
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
163
gründen wollte, plädierte Frankreich für einen möglichst umfassenden Teilnehmerkreis. Vier EU-Staaten blieben schließlich außen vor: Großbritannien und Dänemark machten von ihrem in Maastricht vereinbarten „Opt Out“ Gebrauch und verzichteten auf eine Teilnahme an der Währungsunion. Griechenland und Schweden erfüllten die notwendigen Kriterien nicht. Unerwartet heftig entbrannte zuletzt noch ein Streit über die Nominierung des ersten EZB-Präsidenten: Jacques Chirac stellte sich gegen den mehrheitlich akzeptierten Kandidaten Wim Duisenberg. Er berief sich auf eine – von deutscher Seite stets dementierte257 – Absprache, die er mit Bundeskanzler Kohl getroffen habe: Da Frankfurt am Main als Sitz der EZB bestimmt worden war, sollte zum politischen Ausgleich der erste Präsident der EZB ein Franzose sein. Eine Einigung auf die Ernennung Wim Duisenbergs gelang erst, nachdem dieser erklärt hatte, dass er mit Rücksicht auf sein Alter nicht die volle Amtszeit von acht Jahren wahrnehmen wolle. So sollte die Möglichkeit einer vorzeitigen Ablösung durch den französischen Kandidaten Jean-Claude Trichet eröffnet werden. Diese taktischen Winkelzüge hatten eine schlechte Außenwirkung. Der Nominierungsvorgang wurde als Verstoß gegen die vertraglich festgesetzte achtjährige Amtsdauer des EZB-Präsidenten, als Infragestellung der politischen Unabhängigkeit der EZB und schlicht als unwürdiges Tauziehen so kurz vor dem Euro-Start wahrgenommen (vgl. Schröder 1999, S. 207). Die Finanzminister legten in einer Sondersitzung am 3. Mai die bilateralen Wechselkurse fest und im Juni 1998 wurden schließlich die EZB und das Europäische System der Zentralbanken mit Sitz in Frankfurt am Main errichtet. Der Euro blieb zunächst noch für mehrere Jahre eine für Finanzgeschäfte verwendbare Rechnungswährung. Um die Bürger in diesem Übergangszeitraum an die neue Währung zu gewöhnen, wurde bei Preisen und Bankauszügen eine doppelte Auszeichnung der Beträge in der nationalen Währung und in Euro vorgenommen. Die Einführung des Euro-Bargeldes zum 1. Januar 2002 liegt bereits außerhalb des Zeitraums dieser Fallstudie.
4.2.1 Deutschland: Das Mantra der Geldwertstabilität Intensiver als in jedem anderen EU-Staat wurde in Deutschland darüber gestritten, ob der Übergang in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion verschoben werden sollte. Die Befürworter einer Verschiebung argumentierten, dass die strikte Einhaltung der Konvergenzkriterien oberste Priorität habe. Eine Verschiebung der Währungsunion sei weniger dramatisch als ein eventuelles 257 Dies bestätigen von der Verfasserin geführte Akteursinterviews. Siehe auch Müller-BrandeckBocquet 2004, S. 194.
164
4 Fallstudien
Scheitern. Bei jenen, die der Währungsunion generell ablehnend gegenüberstanden, war mit dem Ruf nach einer Verschiebung auch die Hoffnung verbunden, dass die gemeinsame Währung vielleicht gar nicht mehr verwirklicht würde (vgl. Rahmsdorf 1996, S. 119). Die Gegner einer Verschiebung verwiesen hingegen darauf, dass die Dezimalstelle des Haushaltsdefizits nicht ausschlaggebend für die Stabilität des Euro sei. Eine Änderung des Terminplans könne Instabilitäten an den Devisen- und Anleihenmärkten auslösen und berge die Gefahr, dass die Währungsunion auf längere Zeit nicht mehr zu realisieren sei (vgl. Schröder 1997, S. 114). Im August 1997 verfasste der Würzburger Volkswirtschaftler Peter Bofinger zusammen mit Claus Köhler, Lutz Hoffmann und Gerold Krause-Junk258 einen 10-Punkte-Appell für eine termingetreue Einführung des Euro, der von 58 deutschen Universitätsprofessoren unterzeichnet wurde. Der Euro habe beste Chancen, eine ebenso stabile Währung wie die D-Mark zu werden, so die Experten.259 Im Februar 1998 folgte die Replik, verfasst von den Professoren Wim Kösters, Manfred Neumann, Renate Ohr und Roland Vaubel und unterzeichnet von insgesamt 155 Professoren der Wirtschaftswissenschaften: In einem Aufruf, der gleichzeitig in der FAZ und der Financial Times veröffentlicht wurde, plädierten sie für eine Verschiebung der Währungsunion. Unmissverständlich lautete der Titel ihres offenen Briefes: „Der Euro kommt zu früh“260. Die Diskussion fand erst ein Ende, als den Aspiranten der Währungsunion eine konsequente Rückführung der öffentlichen Defizite auf unter 3 Prozent gelang. Im März 1998 schloss sich der Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank dem Vorschlag der Europäischen Kommission und des EWI an, die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Januar 1999 mit den genannten elf Mitgliedstaaten zu beginnen. Die Bundesbank mahnte bei einigen Ländern noch substanzielle Verbesserungen an, dennoch brachte ihre im Kern positive Beurteilung zum pünktlichen Start der Währungsunion Ruhe in die Debatte. Auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Einführung des Euro erwiesen sich als nicht haltbar und wurden vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen (vgl. Janning 1998, S. 313).
258 Claus Köhler war Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Lutz Hoffmann war Präsident des deutschen Wirtschaftsforschungsinstituts und Gerold Krause-Junk war Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesfinanzminister. 259 Vgl. Wirtschaftsprofessoren setzen sich für den pünktlichen Euro-Start ein. In: Süddeutsche Zeitung, 26.08.1997, S. 19. 260 Der Euro kommt zu früh. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.1998, S. 15.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
165
4.2.1.1 Die Meinung der Medien Vom 1. Oktober 1995 bis zum 30. September 1998 publizierte die SZ 94 und die FAZ 191 Kommentare zum Thema. Verglichen mit der Fallstudie „EWU D 9194“ gewann das Thema in beiden Medien, vor allem aber in der FAZ, deutlich an Wichtigkeit (Abbildung 4.8). Intensität der Kommentierung im Zeitverlauf SZ
FAZ
30 25 20 15 10 5 0 10/95 11/95 12/95 01/96 02/96 03/96 04/96 05/96 06/96 07/96 08/96 09/96 10/96 11/96 12/96 01/97 02/97 03/97 04/97 05/97 06/97 07/97 08/97 09/97 10/97 11/97 12/97 01/98 02/98 03/98 04/98 05/98 06/98 07/98 08/98 09/98
Anzahl der Kommentare
SZ+FAZ
Monat/ Jahr
Abbildung 4.8: Kommentierung zur Verwirklichung der EWU in SZ und FAZ
Im November 1995 äußerten sich die SPD-Politiker Rudolf Scharping und Gerhard Schröder kritisch zu den Plänen der Währungsunion und erregten damit einige mediale Beachtung. Aufmerksamkeit erzielte auch das Treffen des Europäischen Rates in Madrid im Dezember 1995, bei dem der Name der künftigen Währung sowie der weitere Zeitplan festgelegt wurden. Ab März 1996 ließ das Interesse merklich nach und nahm erst wieder im Herbst desselben Jahres zu. Im Dezember 1996 beschloss der Europäische Rat in Dublin den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Beide Zeitungen kommentierten während des Ratstreffens und in den Monaten davor verstärkt zum Thema. Die FAZ hob sich hier in der absoluten Zahl der Kommentare deutlich von der SZ ab. Dies lag in einer stärkeren Berücksichtigung der europäischen Nachbarländer begründet. Besonders intensiv kommentierte die FAZ die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Frankreich und Italien sowie deren Konsequenzen für die Währungsunion. Diese stärkere Einbeziehung der Nachbarländer erklärt auch die höhere Anzahl an FAZ-Kommentaren in den Folgemonaten. Insbesondere den Parlamentswahlen in Frankreich am 25. Mai und 1. Juni 1997 wurde viel Aufmerk-
166
4 Fallstudien
samkeit geschenkt. Der Ausgang der Wahlen wurde als entscheidend für die weitere wirtschaftspolitische Ausrichtung Frankreichs und damit auch als wegweisend für die Entwicklung der Europäischen Währungsunion wahrgenommen. Im Mai 1997 debattierten die Medien über Finanzminister Waigels Versuch, durch eine Neubewertung der Goldreserven der Bundesbank das deutsche Haushaltsdefizit zu mindern. Die Kommentierung erreichte in beiden Zeitungen ihren Höhepunkt im Juni 1997, anlässlich der Gipfelkonferenz von Amsterdam. Ab August 1997 prägten innenpolitische Ereignisse die Kommentierung: Nachdem die Gruppe um Peter Bofinger öffentlich zu einer termingetreuen Einführung des Euro aufgerufen hatte, heizten Kurt Biedenkopf und Edmund Stoiber mit Plädoyers für eine Verschiebung der Währungsunion die Debatte an. Öl ins Feuer goss dann noch einmal im Februar 1998 die Intervention der 155 Wirtschaftswissenschaftler zugunsten einer Verschiebung der Währungsunion. Von März bis Mai 1998 bestimmten wieder europäische Ereignisse die Kommentierung, allen voran der Beschluss zum planmäßigen Start der Währungsunion und zu den elf Teilnehmerländern, die Ernennung des EZB-Präsidenten und die Festlegung der bilateralen Wechselkurse. In den Folgemonaten ließ die Kommentierungstätigkeit in beiden Medien nach. Zum Zeitpunkt der Bundestagswahlen im September 1998 war die Europäische Währungsunion in den Medien kein beherrschendes Thema mehr. Die SZ hatte zwölf positive, drei negative und 79 ambivalente, die FAZ sechs positive, neun negative und 176 ambivalente Wertungen veröffentlicht. In beiden Zeitungen war die Ablehnung der Währungsunion deutlich geringer geworden. Auch wenn die FAZ nach wie vor skeptisch blieb, überwiegen in der Gesamtschau beider Medien die positiven Kommentare (Abbildung 4.9).
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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Medienmeinung
SZ+FAZ
FAZ
SZ
-45
-30
-15
0
15
30
45
Saldo der Bewertungen
Abbildung 4.9: Bewertung des Politikziels „Verwirklichung der EWU“ durch SZ und FAZ
Viele Argumente, die bereits in der Fallstudie „EWU D 91-94“ herausgearbeitet wurden, dominierten auch die Debatte der Jahre 1995 bis 1998. Die Realisierung der Währungsunion – früher oder später – galt den Kommentatoren inzwischen als sicher. So konzentrierte sich die Diskussion vor allem auf die Modalitäten: Wie, wann und mit wem sollte die Währungsunion realisiert werden? Das Regierungshandeln in Fragen der Währungsunion wurde von der SZ insgesamt eher kritisch bewertet, während bei der FAZ das Urteil mehrheitlich positiv ausfiel. Strikte Stabilitätspolitik sei unerlässlich für ein Gelingen der Europäischen Währungsunion – dieses Argument nahm, in verschiedenen Variationen, erneut viel Raum in der deutschen medialen Debatte ein.261 Vor allem die Frage, wie die Geldwertstabilität auch nach Beginn der Währungsunion zu sichern sei, beschäftigte die Medien: „Die kommende Europäische Währungsunion gleicht einer Eliteschule. Sie stellt die Aufnahmekandidaten vor eine harte Prüfung. Wer sie aber bestanden hat, bleibt nicht mehr sitzen.“262 Entsprechend viel Zuspruch erhielt Finanzminister Waigels Vorschlag eines Stabilitätspaktes. Besonders die FAZ pochte dabei auf die Nachkommastelle beim Kriterium der Staatsverschuldung: „Der künftige Wert des Euro wird dauerhaft nicht von den Regierungen, sondern von den Finanzmärkten bestimmt. Deshalb kommt es entschei261 Vgl. Winfried Münster: Der Euro kommt. In: Süddeutsche Zeitung, 05.10.1996, S. 4; Hans D. Barbier: Komma-Lehren. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.06.1997, S. 13. 262 Winfried Münster: Vorschlag mit Charme. In: Süddeutsche Zeitung, 11.11.1995, S. 4.
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4 Fallstudien
dend darauf an, wie glaubhaft das Stabilitätsziel verfolgt wird und welche Zahl hinter dem Komma steht.“263 Beide Medien plädierten für wirksame und automatisierte Sanktionen im Falle einer Verletzung der Stabilitätskriterien.264 Wie auch in der Fallstudie „EWU D 91-94“ brachten SZ und FAZ den Nachbarländern viel Misstrauen entgegen. Sie wurden verdächtigt, die Staatsverschuldung durch „kreative Buchhaltung“265 niedriger darzustellen als sie tatsächlich sei und den Stabilitätspakt je nach Gusto zurechtbiegen zu wollen. Vor allem Frankreich wurde eine rücksichtslose Verfolgung nationaler Interessen unterstellt. Der „Traum Frankreichs“266 sei eine schwache Mark, mutmaßte die FAZ. Die SZ stellte fest, „dass Ländern wie Frankreich das nationale Hemd näher ist als der europäische Rock“267 und meinte an anderer Stelle: „Ginge es den Franzosen, die die Währungsunion engagierter als alle anderen betreiben, darum, die Integration, den europäischen Einigungsprozess, voranzutreiben, so würden sie sich ebenso wie die Deutschen auch für den Ausbau der EU zu einer politischen Union engagieren. Davon aber ist bei ihnen nichts zu sehen.“268
Immer wieder wurde die Notwendigkeit einer strikten Auslese der Teilnehmerländer betont. In Bezug auf Italien warnte die FAZ, man solle sich nicht „dazu hinreißen lassen, aus Mitleid und Sympathie die Aufnahme in die Währungsunion zu garantieren.“269 Als Deutschland selbst mit der Einhaltung der Konvergenzkriterien zu kämpfen hatte, wurde ein internationaler Ansehensverlust befürchtet.270 Die SZ äußerte sich nun vereinzelt auch kritisch zu der strikten Fixierung auf die Null hinter dem Komma: „Ohne Not hat sich die Bundesrepublik freilich selbst in die Euro-Falle hineinbegeben. Man kann sich nur wundern, weshalb Bonner Politiker mit geradezu missionarischem Eifer auf der zehntelprozentgenauen Erfüllung des Defizitkriteriums bestanden haben.“271 Finanzminister Waigels Vorstoß, über eine Neubewertung der Goldreserven die 263 Hans-Christoph Noack: Kommadiskussion. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.06.1997, S. 13. 264 Vgl. beispielhaft Andreas Oldag: Der Pakt muss Biss haben. In: Süddeutsche Zeitung, 02.12.1996, S. 25; Peter Hort: Feilschen um Stabilität. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.12.1996, S. 17; Klaus-Dieter Frankenberger: Das nach dem Komma. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.06.1997, S. 12. 265 Vgl. Helmut Maier-Mannhart: Kein Vertrauen in den Euro. In: Süddeutsche Zeitung, 05.03.1997, S. 4. 266 Wilfried Wieland: Euro-Poker. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.06.1997, S. 35. 267 Josef Joffe: Nach der Fastenkur die Völlerei? In: Süddeutsche Zeitung, 12.06.1997, S. 4. 268 Winfried Münster: Viel Zwang um das Euro-Geld. In: Süddeutsche Zeitung, 17.10.1995, S. 25. 269 Tobias Piller: Italiens teure Instabilität. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.1997, S. 17. 270 Vgl. Helmut Maier-Mannhart: Waigels Drahtseilakt. In: Süddeutsche Zeitung, 17.10.1995, S. 4; Peter Hort: Die Zweifel der Europäer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.03.1997, S. 1. 271 Andreas Oldag: Gefangen in der Euro-Falle. In: Süddeutsche Zeitung, 24.03.1997, S. 4.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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Verschuldung zu drücken, wurde äußerst kritisch kommentiert. Aktionen wie diese würden das Vertrauen der Bürger und der Märkte in den Euro mindern.272 SZ und FAZ argumentierten bereits im Zeitraum der Fallstudie „EWU D 91-94“, dass bei der Schaffung der Währungsunion kein Zeitdruck aufgebaut werden dürfe. Von 1995 bis 1998 entwickelte sich daraus eine raumgreifende Debatte zur Frage, ob die Währungsunion verschoben werden müsse. Auf der einen Seite wurde argumentiert, dass Stabilität Vorrang vor Termintreue haben müsse.273 Auf der anderen Seite wurde gewarnt, dass eine Verschiebung falsche Signale an die Finanzmärkte senden und die Reformbemühungen der Partnerländer bremsen würde. Außerdem könne der Eindruck erweckt werden, Deutschland wolle sich „drücken“. Eine Verschiebung wirke sich überdies fatal auf die deutsche Exportindustrie aus.274 Insgesamt nahm das Vertrauen in die Stabilität der künftigen europäischen Währung stetig zu, wobei die Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes einen erheblichen Beitrag zu diesem Vertrauenszuwachs leistete. Während sich die Kommentatoren zu Beginn der Fallstudie noch sehr sorgenvoll äußerten, entwickelte sich im Verlauf des Jahres 1997 vermehrt Zutrauen in die neue Währung. Am Ende der Fallstudie nannte die SZ den Euro gar „eine Quelle der Stabilität“275. Der wirtschaftliche Nutzen, den Deutschland von der Währungsunion zu erwarten habe, wurde ambivalent eingeschätzt. Manche Kommentare versprachen sich positive Effekte auf den deutschen Export und damit auch auf den deutschen Arbeitsmarkt.276 Andere hielten dagegen, dass Deutschland als Hochlohnland seine Arbeitslosigkeit kaum mit Hilfe der Währungsunion besser in den Griff bekommen könne. Im Gegenteil würden frühere Schwachwährungsländer als Investitionsstandorte an Attraktivität gewinnen: „Die Industrie schafft vielleicht zusätzliche Arbeitsplätze, aber womöglich nicht im eigenen Land.“277 Es waren eher politische als wirtschaftliche Gründe, die nach Ansicht der meisten Kommentatoren für die Währungsunion sprachen.278 Sowohl SZ als 272 Vgl. Klaus-Dieter Frankenberger: Es bleibt die Treue. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.1997, S. 1. 273 Vgl. Winfried Münster: Kommt sie, oder kommt sie nicht? In: Süddeutsche Zeitung, 27.11.1995, S. 23; Hans D. Barbier: 1999 oder später? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.10.1995, S. 19. 274 Vgl. Andreas Oldag: Lustlos vor dem Jahrhundertwerk. In: Süddeutsche Zeitung, 09.01.1996, S. 4; Klaus-Dieter Frankenberger: Europäische Schatten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.06.1997, S. 1. 275 Nikolaus Piper: Der Euro – ein sicherer Hafen. In: Süddeutsche Zeitung, 04.09.1998, S. 4. 276 Vgl. Andreas Oldag: Keine Angst vor dem Euro. In: Süddeutsche Zeitung, 16.02.1998, S. 23. 277 Winfried Münster: Das Euro-Geld ist eine Debatte wert. In: Süddeutsche Zeitung, 10.11.1995, S. 4. 278 Vgl. Hans D. Barbier: Euro-Übungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.03.1998, S. 17.
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auch FAZ plädierten nach wie vor für verstärkte Bemühungen zur Schaffung einer Politischen Union.279 Obwohl immer noch viele Kommentatoren lieber erst die politische und dann die monetäre Vereinigung gesehen hätten, setzte sich vermehrt die Ansicht durch, dass auch umgekehrt die Währungsunion die Politische Union beflügeln könnte. Wenn die Währungsunion gelänge, so ein Kommentar der FAZ, hätte „die EU einen großen Schritt auf dem Weg zum politischen Faktor getan.“280 Die Wünschbarkeit einer vertieften europäischen Integration stand für die untersuchten Medien außer Frage. Positiv gewürdigt wurde daher, dass Deutschland mit dem Verzicht auf die D-Mark unmissverständlich sein Bekenntnis zum europäischen Einigungsprozess zeigte – wenn auch bisweilen etwas bitter von einer „Morgengabe für Europa“281 die Rede war. Reichlich übertrieben fand es allerdings die SZ, dass Kanzler Kohl die Währungsunion zu einer Frage von „Krieg und Frieden“ stilisierte, „so als hänge der fünfzigjährige Frieden Europas von den Wechselkursen ab. Würden wir wirklich wieder übereinander herfallen, weil die Wechselstuben nach wie vor mit Mark, Franken und Pfund hantieren?“282 Beide Medien betrachteten mit Sorge die mangelnde Übereinstimmung der wirtschaftspolitischen Vorstellungen in Europa. „Wenn nicht alle Kandidaten wirtschaftspolitisch im gleichen Tempo und in die gleiche Richtung fahren, und zwar langfristig, muss der Euro-Zug entgleisen“283, meinte die SZ und auch die FAZ prognostizierte, dass die gemeinsame europäische Währung „zum finanziellen und politischen Sprengsatz“284 werde, wenn die Mitgliedstaaten weiterhin ihre divergierenden Haushalts- und Finanzpolitiken betrieben. Die Einschätzung beider Medien unterschied sich allerdings in der Frage, welche Politiken auf Europäischer Ebene institutionalisiert werden sollten. Während die SZ mit der von Frankreich propagierten Idee eines Beschäftigungspaktes und einer gemeinsamen Lohnpolitik sympathisierte,285 warnte die FAZ vor einer „Sozialunion“, da diese eine „Transferunion“ zu Lasten Deutschlands begünstigen
279 Josef Joffe: Eine große Rede, die zur Widerrede einlädt. In: Süddeutsche Zeitung, 13.10.1995, S. 4; Peter Hort: Europas Fahrt ins Ungewisse. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.01.1996, S. 1. 280 Günther Nonnenmacher: Am europäischen Wendepunkt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.02.1997, S. 1. 281 Winfried Münster: Spielverderber bei der Euro-Party. In: Süddeutsche Zeitung, 13.02.1998, S. 4. 282 Josef Joffe: Szenen einer Ehe. In: Süddeutsche Zeitung, 13.02.1996, S. 4. 283 Josef Joffe: Von Bahnhofsvorstehern und Bremsern. In: Süddeutsche Zeitung, 21.03.1996, S. 4. 284 Klaus Peter Krause: Debatte mit Spätzündung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.11.1995, S. 17. 285 Andreas Oldag: Euro – ein schöner Name reicht nicht. In: Süddeutsche Zeitung, 16.12.1995, S. 4.
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würde.286 Massiv kritisierte vor allem die FAZ den französischen Vorschlag, eine „Wirtschaftsregierung“ als politisches Gegengewicht zur EZB zu schaffen.287 Eine Parallele zur Fallstudie „EWU D 91-94“ ist darin zu sehen, dass nach wie vor in ausgeprägtem Maße die Ablehnung der Bevölkerung thematisiert wurde.288 Immer weniger diente dies allerdings als Grundlage, um die eigene Ablehnung zu rechtfertigen. Vielmehr wurde die mangelnde Vermittlungsleistung der Politik als besorgniserregend bezeichnet.289 Bei der Bundesregierung, so schrieb die SZ, scheine „nur noch die Arroganz der Macht zu gelten. Schluss der Debatte und Eilmarsch zum Euro, heißt die Parole.“290 Wie schon in den Kommentaren der ersten Fallstudie wurde eine breitere und offenere Debatte zum Thema gefordert. Kritik an der Währungsunion dürfe nicht mit PopulismusVorwürfen erstickt werden. Dies erinnere an eine Maulkorb-Strategie: „Eine übergroße Koalition hat beschlossen, dass alles Nötige gesagt ist. Wer nicht dieser Auffassung ist, soll schweigen. […] Hierzulande aber sollte die Debatte über so ein wichtiges Thema nicht durch die Verteufelung der Kritiker, sondern durch die Widerlegung der Kritik geführt werden.“291 Auch die FAZ meinte: „Den Deutschen wird sich nicht das Herz für den Euro öffnen, wenn man denen unter ihnen mit Misstrauen begegnet, die das Für und Wider einer Währungsunion gründlich diskutieren wollen.“292 Ebenso wie in den Qualitätszeitungen nahm auch in der Bild-Zeitung die Gewichtung des Themas im Vergleich zur Fallstudie „EWU D 91-94“ zu: Die Anzahl der Titelartikel vervierfachte sich fast auf 75 (Abbildung 4.10). Zum Jahreswechsel 1995/1996 sorgte die Feststellung für Aufsehen, dass Deutschland für das Jahr 1995 die Maastrichter Konvergenzkriterien nicht erfüllt hatte. Im Frühjahr 1997 beschäftigten sich mehrere Artikel mit der Frage einer Verschiebung der Währungsunion. Explosionsartig stieg die Artikelanzahl im Juni an: Der EU-Gipfel in Amsterdam wurde ebenso aufmerksam verfolgt wie die Streitigkeiten zum Thema innerhalb der Unionsparteien. Im September 1997 286 Vgl. Hans D. Barbier: Was Transfers schafft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.04.1998, S. 13. 287 Vgl. Gerald Braunberger: Torpedos gegen die Zentralbank. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.01.1997, S. 15. 288 Vgl. beispielhaft Udo Bergdoll: Spiel mit dem Feuer. In: Süddeutsche Zeitung, 31.10.1995, S. 4; Peter Hort: Europa im Maastricht-Fieber. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.04.1997, S. 19; Hans D. Barbier: An der Grenze der Erfahrung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.1997, S. 1. 289 Vgl. Helmut Maier-Mannhart: Falsche Fronten gegen Maastricht. In: Süddeutsche Zeitung, 08.12.1995, S. 4; Andreas Oldag: Nur Peanuts für den Euro. In: Süddeutsche Zeitung, 29.01.1997, S. 27. 290 Andreas Oldag: Euro in der Endrunde. In: Süddeutsche Zeitung, 20.02.1998, S. 4. 291 Maulkorb für Schröder. In: Süddeutsche Zeitung, 28.10.1996, S. 4. 292 Karl Feldmeyer: Falsche Scheu. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.02.1997, S. 10.
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erregte die Forderung von Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) nach einer Volksabstimmung Aufmerksamkeit. Im Januar 1998 lud die BildZeitung Finanzminister Waigel ein, um den Fragen der Bild-Leser Rede und Antwort zu stehen. Im April stand die Bundestagsabstimmung zum Euro im Mittelpunkt des Interesses und im Mai ging es unter anderem um die Kür des künftigen EZB-Präsidenten.
10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 10/95 11/95 12/95 01/96 02/96 03/96 04/96 05/96 06/96 07/96 08/96 09/96 10/96 11/96 12/96 01/97 02/97 03/97 04/97 05/97 06/97 07/97 08/97 09/97 10/97 11/97 12/97 01/98 02/98 03/98 04/98 05/98 06/98 07/98 08/98 09/98
Anzahl der Artikel
Titelbeiträge der Bild-Zeitung im Zeitverlauf
Monat/ Jahr
Abbildung 4.10: Artikel zur Verwirklichung der EWU auf der Titelseite der Bild-Zeitung
Darüber hinaus gaben die Schlagzeilen der Bild-Zeitung über den gesamten Zeitraum der Fallstudie hinweg Antworten auf ganz konkrete Fragen: Wie soll die Währung heißen („Jetzt amtlich. Euro-Währung heißt ‚Euro‘“293)? Wie werden die Münzen aussehen („Deutsche Eiche auch auf Euro“294)? Und wie die Geldscheine („Unser neues Geld. Der Euro-Hunderter ist grün“295)? Wie sicher ist das neue Geld („Der erste falsche Euro“296)? Und was bringt die EuropaWährung dem deutschen Bürger („Das kostet es uns, wenn der Euro kommt“297)? Anders als die Qualitätszeitungen, die oft recht abstrakt über Konvergenzkriterien und ordnungspolitische Leitbilder diskutierten, brach die Bild-Zeitung das Thema der Währungsunion konsequent und erwartungsgemäß alltagsnah herunter. 293 294 295 296 297
Jetzt amtlich. Euro-Währung heißt 'Euro'. In: Bild, 08.12.1995, S. 1. Deutsche Eiche auch auf Euro. In: Bild, 18.09.1997, S. 1. Unser neues Geld. Der Euro-Hunderter ist grün. In: Bild, 14.12.1996, S. 1. Der erste falsche Euro. In: Bild, 22.05.1998, S. 1. Das kostet es uns, wenn der Euro kommt. In: Bild, 05.08.1997, S. 1.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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Wie auch in der Fallstudie „EWU D 91-94“ zitierte die Bild-Zeitung mehrfach Umfragen, die die Ablehnung der Deutschen gegenüber der Währungsunion zum Ausdruck brachten, nahm jedoch kaum eigene Wertungen vor. Die BildZeitung gab sich überzeugt, dass die Währungsunion termingerecht starten werde („Euro kommt pünktlich. Nichts kann den Euro mehr stoppen!“298). Sie verzichtete dementsprechend auf eine grundsätzliche Infragestellung oder Kritik.
4.2.1.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite Bundeskanzler Kohl wusste bei der Verwirklichung der Währungsunion seine Partei prinzipiell hinter sich. Die gemeinsame Währung werde den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands nutzen und auch die Position der EU in der Weltwirtschaft stärken, betonte die CDU in mehreren offiziellen Stellungnahmen (vgl. Wendt 2001, S. 191-192). Es seien ausreichend Vorkehrungen getroffen, um zu verhindern, dass Weichwährungsländer an der Währungsunion teilnehmen und deren Stabilität gefährden würden. Zu begrüßen sei außerdem, dass die EZB nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank gestaltet und in Frankfurt am Main angesiedelt werde. „Mit dem Euro werden wir die Erfolgsgeschichte der DMark auf europäischer Ebene fortschreiben“299, davon zeigte sich die Partei nach außen hin überzeugt. Auch der damalige Bundespräsident Roman Herzog (CDU) war ein entschiedener Befürworter der gemeinsamen Währung. Eindringlich warb er für deren planmäßige Verwirklichung. Andernfalls „drohen Abwertungswettläufe, Handelskriege, Protektionismus, Renationalisierung der Wirtschaftspolitik, Deflation, vielleicht sogar Depression“300, so Herzogs düstere Prophezeiung. Innerhalb der CDU wurden allerdings auch kritische Töne laut. Insbesondere der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf stand dem Euro skeptisch gegenüber. Er hielt die Schaffung der Währungsunion für verfrüht und plädierte für eine Verschiebung. Als einziger Ministerpräsident stimmte er am 24. April 1998 im Bundesrat gegen die Einführung der gemeinsamen Währung. Seine Entscheidung begründete er mit einer mangelnden Kontrolle der Stabilitäts- und Konsolidierungsbemühungen der beteiligten Regierungen (vgl. Eckstein, Pappi 1999, S. 298). 298 Euro kommt pünktlich. In: Bild, 22.04.1997, S. 1. 299 CDU: Zukunftsprogramm der CDU Deutschland. Parteitag der CDU in Bremen, 17.-19. Mai 1998, S. 61. 300 Herzog, Roman: Ansprache des Bundespräsidenten vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, 10.10.1995. Online verfügbar unter http://bundespraesident.decenturl.com/herzog, zuletzt geprüft am 22.08.2009.
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Die CSU gab auf ihrem Parteitag in München im November 1997 ein klares Bekenntnis zur Währungsunion ab, betonte aber gleichzeitig, dass die Geldwertstabilität bei der Verwirklichung der gemeinsamen Währung stets oberste Priorität haben müsse. Neben Bundesfinanzminister Theo Waigel zählte vor allem Michael Glos, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag, zu den Befürwortern der Währungsunion. Kritisch äußerten sich der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der bayerische Staatsminister der Finanzen Erwin Huber und – nach wie vor – Peter Gauweiler (vgl. Wendt 2001, S. 194-196). Ihre Euro-Skepsis manifestierte sich vor allem in einer besonders strikten Haltung zu den stabilitätssichernden Maßnahmen. Stoibers oft wiederholtes Credo „drei Prozent ist drei Komma null“ sollte seine Kompromisslosigkeit hinsichtlich des Defizitkriteriums verdeutlichen (vgl. Bergmann 2002, S. 285). Anders als Biedenkopf lenkte Stoiber aber letztlich ein: Bayern stimmte im Bundesrat der Einführung des Euro zu, obwohl sein Antrag, den überschuldeten Ländern Belgien und Italien zusätzlich Verpflichtungen abzuverlangen, nicht angenommen wurde. Die FDP stand mehrheitlich hinter der Politik der Bundesregierung. Skeptisch blieb Otto Graf Lambsdorff. An sich nicht gegen die Schaffung einer Währungsunion, sah er die dauerhafte Stabilität der gemeinsamen Währung nicht als gewährleistet an und enthielt sich aus diesem Grund am 23. April 1998 in der Schlussabstimmung des Deutschen Bundestages seiner Stimme. Einen fraktionsübergreifenden Versuch, für Vertrauen in den Euro zu werben, unternahmen Wolfgang Schäuble (CDU), Hermann Otto Solms (FDP), Michael Glos (CSU) und Karl Lamers (CDU) im September 1997 mit einem gemeinsamen Positionspapier (vgl. Froehlich 2001, S. 89). Einzelne SPD-Politiker versuchten gezielt Wähler anzusprechen, die der Währungsunion ablehnend gegenüber standen: SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder plädierte wiederholt für eine Verschiebung des Starttermins und begründete dies mit negativen Folgen, die für den deutschen Arbeitsmarkt zu befürchten seien. Den Euro bezeichnete Schröder als „kränkelnde Frühgeburt“301. In ähnlicher Weise äußerte sich der baden-württembergische SPD-Spitzenkandidat Dieter Spöri im Landtagswahlkampf vom Frühjahr 1996 kritisch zum Euro (vgl. Bulmer 2000, S. 95-96). Für eine Verschiebung des Übergangs in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion plädierte auch Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau, der diesen Schritt außerdem durch ein Referendum legitimieren lassen wollte.302 Innerhalb der SPD verkörperte diese, meist wahltaktisch motivierte, Kritik am Euro eine Minderheitenposition. Die Partei als Ganzes trug die Politik der Währungsunion weiterhin mit (vgl. Engelmann et al. 1997, S. 87-88). Immer 301 Kohl nennt Ja zum Euro historische Entscheidung. In: Süddeutsche Zeitung, 03.04.1998, S. 5. 302 Volk über Euro abstimmen lassen. In: Süddeutsche Zeitung, 01.09.1997, S. 5.
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wieder wurden die Euro-Skeptiker aus den eigenen Reihen darauf hingewiesen, dass die offizielle Beschlusslage der Partei die Zustimmung zur Währungsunion unter der Voraussetzung der Erfüllung der Kriterien sei (vgl. Janning 1996, S. 290). Auf dem Parteitag von Hannover im Dezember 1997 bekannte sich die SPD außerdem klar gegen eine Verschiebung: „Die SPD befürwortet die vertragsgerechte Verwirklichung der Dritten Stufe der Europäischen Wirtschaftsund Währungsunion einschließlich des Zeitplans […, da] eine Verschiebung der Währungsunion deutlichen politischen und ökonomischen Schaden zur Konsequenz hätte.“303 Der Parteivorsitzende Rudolf Scharping äußerte sich zwar Ende 1995 noch skeptisch zum Euro (vgl. Wendt 2001, S. 198), änderte dann aber im Verlauf des Untersuchungszeitraums der Fallstudie seine Position: Er betonte die Wichtigkeit der Währungsunion für den europäischen Integrationsprozess und setzte sich für eine fristgerechte Einführung der gemeinsamen Währung ein.304 Auch Oskar Lafontaine, der zusammen mit Schröder und Scharping zur so genannten „Troika“ der SPD-Führung zählte, befürwortete – nach anfänglichen Zweifeln – die pünktliche Einführung des Euro (vgl. Pappi, Thurner 2000, S. 460). Die Bündnisgrünen unterstützten mehrheitlich die termingetreue Verwirklichung der Währungsunion. Vereinzelt kam es zu internen Streitigkeiten, wie etwa beim kleinen Parteitag in Magdeburg Ende April 1997, als die Parteilinken über die Härte der Konvergenzkriterien klagten, während den „Realos“ die Stabilitätssicherung noch nicht weit genug ging. Erneut wurden Rufe nach einer Volksabstimmung über die Wirtschafts- und Währungsunion laut.305 Fraktionschef Joschka Fischer und Parteisprecher Jürgen Trittin befürworteten jedoch klar die Einführung der europäischen Währung und warben in den eigenen Reihen für Akzeptanz. Offiziell vertraten letztlich alle etablierten Parteien den Standpunkt, dass die Währungsunion fristgerecht verwirklicht werden sollte. Die parteiinternen Debatten wurden zum Teil heftig geführt, beschränkten sich aber auf Verfahrensfragen. Kein Politiker der etablierten Parteien zog die zumindest mittelfristige Verwirklichung der Währungsunion in Zweifel. Die meisten Euro-Skeptiker fügten sich außerdem im Verlauf der Fallstudie der Parteidisziplin und trugen die offizielle Linie mit. Im Bundestag sprach sich schließlich eine überwältigende 303 SPD: Parteitag der SPD in Hannover, 2.-4. Dezember 1997. Beschlüsse, S. 67. Online verfügbar unter http://spd.decenturl.com/bpt97, zuletzt geprüft am 04.08.2009. 304 Vgl. Europäisches Parlament (Task-Force Wirtschafts- und Währungsunion): Die Bundesrepublik Deutschland und die EWWU. PE 166.106/rev.2, 20.04.1998, S. 23. Online verfügbar unter http://www.europarl.europa.eu/euro/country/general/d_de.pdf, zuletzt geprüft am 22.08.2009. 305 Olaf Opitz: Null Bock auf neue Scheine. Die Euro-Befürworter Joschka Fischer und Jürgen Trittin kämpfen gegen den Rest der Partei. In: Focus, Ausgabe 13, 1997, S. 50-51.
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Mehrheit der Abgeordneten aller etablierten Parteien für die termingetreue Einführung des Euro zum 1. Januar 1999 aus.306 Von den relevanten deutschen Parteien bezog einzig die PDS konsequent gegen die Verwirklichung der Währungsunion unter den gegenwärtigen Bedingungen Stellung.307 Für sie bestand die Gratwanderung darin, sich trotz der Ablehnung des Euro von den rechtsextremen Parteien abzugrenzen, die offen anti-europäische Stimmungen mobilisierten. So betonte die PDS stets, dass sie die europäische Integration unterstütze und auch dem politischen Ziel einer Währungsunion prinzipiell aufgeschlossen gegenüber stehe. „Berechtigte Ängste und Kritiken der Menschen“308 müssten jedoch berücksichtigt werden, argumentierte die PDS, und plädierte daher für eine langfristige Verschiebung und Neuausrichtung der Währungsunion.
4.2.1.3 Das Angebot politischer Alternativen Die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag fand am 27. September 1998 statt. Als Kanzlerkandidat der Unionsparteien trat zum fünften Mal in Folge Helmut Kohl an. Für die SPD kandidierte der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik kam es zu einem Machtwechsel durch Wahl und zum Austausch einer kompletten Bundesregierung:309 Die schwarz-gelbe Regierungskoalition wurde von der ersten rotgrünen Koalition auf Bundesebene abgelöst.310 Die FDP war erstmals seit 29 306 575 Abgeordnete stimmten dafür, 35 (davon 27 PDS, 4 SPD, 3 CDU/CSU und 1 FDP) dagegen, 5 enthielten sich. Vgl. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 13/230, 23.04.1998, S. 2114-2116. Online verfügbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13230.pdf, zuletzt geprüft am 28.08.2009. 307 Zu erwähnen sind außerdem zwei nicht im Parlament vertretene Parteien, die die Gegnerschaft zur Europäischen Währungsunion zu einem Hauptanliegen ihres Wahlkampfes machten: Der Bund freier Bürger des ehemaligen FDP-Politikers Manfred Brunner und die von Bolko Hoffmann gegründete rechtskonservative Pro-DM-Partei. Keine der beiden Parteien konnte jedoch die Bevölkerung in nennenswerter Weise mobilisieren. Bei den Bundestagswahlen erzielte die Pro-DM-Partei nur 0,9 Prozent, der Bund freier Bürger nur 0,2 Prozent der Stimmen. 308 PDS: Euro? So nicht! Broschüre, 1997, S. 6. 309 Alle vorherigen Machtwechsel wurden von der FDP und ihren Koalitionsentscheidungen veranlasst. 310 Die SPD erlangte 40,9 Prozent und Bündnis 90/Die Grünen 6,7 Prozent der Stimmen. Die CDU konnte 28,4 Prozent, die CSU 6,7 Prozent und die FDP 6,2 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Die PDS erreichte einen Stimmenanteil von 5,1 Prozent. Die Sitzverteilung im Bundestag gestaltete sich wie folgt: SPD: 298, CDU: 198, CSU: 47, FDP: 43, Bündnis 90/Die Grünen: 47, PDS: 36. Gerhard Schröder wurde am 27. Oktober 1998 mit 351 Stimmen vom Deutschen Bundestag zum Bundeskanzler gewählt. Helmut Kohl legte noch in der Wahlnacht den CDU-Vorsitz nieder. Sein Nachfolger wurde der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende
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Jahren nicht mehr an der Regierungsbildung beteiligt. Ein weiteres Novum der Bundestagswahl 1998: Die PDS erreichte Fraktionsstatus im Deutschen Bundestag. Die Forschungsgruppe Wahlen resümierte zum Ausgang der Wahlen: „Das Ausmaß der Veränderungen war nie so groß […]. Nie gab es so große Wählerbewegungen zwischen den beiden Volksparteien wie bei dieser Wahl, nie zuvor gab es so große Veränderungen in einzelnen sozialstrukturellen Gruppen, aber auch Altersgruppen. Die hohe Stabilität im Wählerverhalten, die die bisherigen Bundestagswahlen kennzeichnete und die wie ein Gesetz erschien, scheint durchbrochen zu sein.“ (Emmert et al. 2001, S. 17-18)
Der Wahlkampf 1998 fand viel Beachtung in der politik- und kommunikationswissenschaftlichen Literatur (Bergmann 2002; Holtz-Bacha 1999b; Neuwerth 2001; Noelle-Neumann 2000). Er galt als besonders „amerikanisiert“. Mediatisierung, Personalisierung und Professionalisierung des Wahlkampfes waren nach Meinung vieler Analysten stärker als je zuvor (vgl. Emmert et al. 2001, S. 51-52; Holtz-Bacha 1999a). Der Wahlkampf fokussierte sich thematisch vor allem auf die Wirtschaftspolitik. Seit 1996 stiegen die Arbeitslosenzahlen in Deutschland stetig an und so stand insbesondere die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Mittelpunkt. Die Kampagne der Unionsparteien wurde erneut stark personalisiert auf Bundeskanzler Helmut Kohl zugeschnitten. Angesichts ihrer umstrittenen innenpolitischen Leistungsbilanz wollten CDU und CSU das Thema „Europapolitik“ im Wahlkampf für sich nutzen. Wie schon 1994 sollte Bundeskanzler Kohl als Garant für Sicherheit und Verlässlichkeit in Zeiten des Umbruchs dargestellt werden. CDU-Generalsekretär Hintze (zitiert nach: Neuwerth 2001, S. 192) betonte auf einer Pressekonferenz zu den anstehenden Bundestagswahlen: „Es geht um eine engere Zusammenarbeit in Europa, es geht um die Einführung der gemeinsamen Währung. Hier gilt der Grundsatz: starker Kanzler, starker Euro. Wir werden den Wahlkampf ganz stark auf Helmut Kohl ausrichten. 1990 war Deutschland das große Thema, 1998 ist es Europa.“ Dabei griffen die Unionsparteien den politischen Gegner konkret an. Der SPD wurde Wankelmut vorgeworfen: „Zwar steht die Bundestagsfraktion hinter der Einführung des Euro, der Kanzlerkandidat Gerhard Schröder verwendet aber für den Euro Formulierungen wie die einer ‚kränkelnden Frühgeburt‘. Was ist nun die Position der SPD?! […] In der nächsten Legislaturperiode des Bundestages […] kann sich Deutschland keine
Wolfgang Schäuble. Ebenso trat auch Theo Waigel vom Vorsitz der CSU zurück, der daraufhin vom bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber ausgeübt wurde.
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4 Fallstudien europapolitischen Amateure oder billige Populisten in der Bundesregierung leisten.“311
Auch Bündnis 90/Die Grünen wurde die Kompetenz abgesprochen, Deutschland sicher in die Währungsunion zu führen: „Die Wirtschafts- und Währungsunion wird diejenigen belohnen, die rasch wirtschaftliche Strukturreformen durchführen. Dazu waren die Grünen nicht einmal auf Länderebene fähig.“312 Obwohl die Währungsunion unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl beschlossen wurde, verwendeten die CDU-Werbemittel zur Beschreibung der Entstehungsgeschichte einen distanzierten, nahezu unbeteiligten Stil. Die häufige Verwendung von Passivformulierungen (einzelne Schritte zum Euro „wurden beschlossen“) war hierfür kennzeichnend. Diese Rhetorik erweckte den Anschein, als sei der Euro unaufhaltsam von außen über die Deutschen gekommen. Eine namentliche Erwähnung von Regierungsmitgliedern war fast ausschließlich an jenen Stellen zu finden, die eine erfolgreiche Vertretung „deutscher Interessen“ beschrieben. Die Broschüre „Leitfaden Euro-Aktion“ wies etwa darauf hin, dass „Bundeskanzler Helmut Kohl am 30. Oktober 1993 im Kreise seiner Kollegen eine historische Entscheidung für Deutschland durchsetzen [konnte]: Sitz der künftigen Europäischen Zentralbank (EZB) wird Frankfurt am Main.“313 Ebenso konnte, so betonte dieselbe Broschüre, „Bundeskanzler Helmut Kohl den Namen Euro für die gemeinsame Europäische Währung durchsetzen.“314 Ein ähnlicher Stil fand sich in dem Faltblatt „Zehn gute Gründe für den Euro“: „Alle EuroTeilnehmerstaaten müssen nach den Regeln des von Finanzminister Theo Waigel durchgesetzten Stabilitätspakts auf Dauer ihre Neuverschuldung auf maximal 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) begrenzen. Das schafft Verlässlichkeit und Stabilität für Verbraucher, Sparer und Investoren.“315 Eines der auflagenstärksten Flugblätter, „Das ist nur mit der CDU zu haben“, unterstrich, dass die Stabilität des Euro nur mit der CDU zu sichern sei: „Deshalb ist es wichtig, dass Deutschland einen Kanzler hat, auf dessen Wort in Europa gehört wird und der deutsche Positionen auch durchsetzen kann. Gerhard Schröder hat von Europa keine Ahnung. Wie soll ein Nobody am europäischen Verhandlungstisch deutsche Interessen wirkungsvoll vertreten?“316
311 312 313 314 315 316
CDU: Handbuch der politischen Argumentation, 1998. Bonn, S. 223. Ebenda. CDU: Leitfaden Euro-Aktion. Broschüre, 1998, S. 3. Ebenda. CDU: Zehn gute Gründe für den Euro. Faltblatt, 1998. CDU: Das ist nur mit der CDU zu haben. Argumente zur Bundestagswahl 1998. Flugblatt, 1998.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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Die CSU betonte, wie schon 1994, vor allem die Verdienste des Bundesfinanzministers. Dieser habe auf europäischer Ebene eine „stabile Währung nach deutschem Vorbild“317 durchgesetzt. Gleichzeitig machte die Partei deutlich, dass es sich keineswegs um ein rein ökonomisches Projekt handle: „Mit der gemeinsamen europäischen Währung, dem Euro, beginnt eine neue wichtige Phase in der politischen Einigung Europas.“318 Das Wahlprogramm von CDU und CSU beschwor die Rolle der Unionsparteien als Garant für Stabilität. Der Begriff der Stabilität fand sich hier gar dreimal innerhalb von drei Sätzen wieder: „CDU und CSU haben durchgesetzt, dass der Euro so stabil wird wie die Mark. Wir haben eine historisch beispiellose Stabilitätskultur in Europa geschaffen. CDU und CSU bleiben auch in Zukunft Garanten für Stabilität in Europa.“319 Auch der Koalitionspartner FDP thematisierte die Europäische Währungsunion recht prominent im Wahlkampf: Selbstbewusst nannte sich die FDP in ihren Flugblättern „die Europapartei in Deutschland“.320 Von den politischen Mitbewerbern wurden vor allem die Bündnisgrünen angegriffen. Diese seien außen- und europapolitisch inkompetent, ohne klares Konzept und schlicht unfähig, eine stabilitätsorientierte Währungspolitik zu betreiben: „Nicht der Euro, sondern die Grünen sind das Stabilitätsrisiko für Deutschland.“321 Der Euro, davon gab sich die FDP überzeugt, „schafft Wachstumskräfte für neue Investitionen und Arbeitsplätze in Deutschland.“322 In ihrem Wahlprogramm setzten sich die Liberalen für eine kompromisslose Einhaltung des Stabilitätspaktes sowie für die strikte Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ein. Ähnlich wie der größere Koalitionspartner präsentierte sich auch die FDP als Garant für „Stabilität, Kontinuität und Verlässlichkeit in der deutschen Außenpolitik.“323 In der Wahlkampagne der SPD war das Themenfeld Europapolitik und Europäische Währungsunion nur von untergeordneter Bedeutung. Sie fokussierte stattdessen auf die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Familienpolitik.324 Lediglich im Wahlprogramm fand sich ein Abschnitt zum Euro. Dort wurden drei Forderungen zur Ausgestaltung der Währungsunion erhoben: Eine 317 CSU: Erfolg der CSU. Der Euro wird so stark wie die Mark. Faltblatt, 1998. Vgl. auch ähnlich CSU: Fakten zum Thema Euro. Flugblatt, 1998. 318 CSU: Erfolg der CSU. Der Euro wird so stark wie die Mark. Faltblatt, 1998. 319 CDU/CSU: Wahlplattform 1998-2002, 1998, S. 28. 320 FDP: Für das Neue Europa. Flugblatt, 1998. 321 FDP: Grüne Außenpolitik – Sicherheitsrisiko für Deutschland! Flugblatt, 1998. 322 FDP: Für das Neue Europa. Flugblatt, 1998. 323 FDP: Es ist Ihre Wahl. Wahlprogramm zur Bundestagswahl 1998 der Freien Demokratischen Partei, 1998, S. 90. 324 In den konsultierten Archiven wurden keine Wahlkampfmaterialien mit Bezug zur Europäischen Währungsunion gefunden. Vgl. zur inhaltlichen Schwerpunktsetzung der SPD-Kampagne auch Neuwerth 2001, S. 236-237.
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4 Fallstudien
gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik aller Mitgliedsländer, der Abbau der Massenarbeitslosigkeit und „dass der Euro genauso hart wird wie die Deutsche Mark.“325 Neben der allseits beschworenen Stabilität ließ dieser Absatz zwar eigene Schwerpunkte erkennen, diese kamen jedoch aufgrund der sehr geringen Gewichtung des Themas durch die SPD kaum zum Tragen. In der Kampagne von Bündnis 90/Die Grünen nahm das Thema der Währungsunion ebenfalls keine herausragende Rolle ein. Auch wenn die Bündnisgrünen die Schaffung einer Umwelt- und Beschäftigungsunion vor oder zumindest zeitgleich mit der Schaffung einer Währungsunion begrüßt hätten, unterstützten sie den Euro.326 Kritisiert wurde das Fehlen einer breiten öffentlichen Debatte zum Thema. Außerdem sei die von Theo Waigel durchgesetzte Beschränkung des Budgetdefizits auf drei Prozent willkürlich. Die „hektischen und unüberlegten Sparmaßnahmen“327 der Bundesregierung würden die aktuelle konjunkturelle Schwächephase nur noch weiter verschärfen. Im Wahlprogramm hieß es: „Bündnis 90/Die Grünen sind für die vertragsgemäße Einführung des Euro und gegen alle Versuche einer Verschiebung. Bündnis 90/Die Grünen treten allerdings nachdrücklich für eine politische Korrektur der Rahmenbedingungen der Währungsunion ein: Wir sind für eine Euro-Teilnahme aller EU-Staaten, die dies können und wollen. Wir streiten für eine sozial-ökologische, beschäftigungswirksame Ausgestaltung der europäischen Wirtschaftspolitik, um Vorsorge gegen mögliche Verwerfungen zwischen ökonomisch starken und schwachen Regionen als Folge der Euro-Einführung zu treffen. Wir werden nach den unzureichenden Ergebnissen des Luxemburger Beschäftigungsgipfels in unserer Kritik der wirtschaftspolitischen Konzeption der Währungsunion nicht nachlassen.“328
Im Gegensatz zu allen anderen etablierten Parteien benannten Bündnis 90/Die Grünen damit nicht die Stabilität der Währung als oberstes Ziel. Stattdessen wurde die Notwendigkeit von ökologischer, wirtschafts- und beschäftigungspolitischer Zusammenarbeit auf europäischer Ebene betont. Unter den im Bundestag vertretenen Parteien stimmte lediglich die Fraktion der PDS am 23. April gegen die Einführung des Euro zum 1. Januar 1999. Als 325 SPD: Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit. SPD-Programm für die Bundestagswahl 1998, 1998, S. 74. 326 Bündnis 90/Die Grünen: Ja zum Euro. Ja zur europäischen Integration. Faltblatt der Bundestagsfraktion, 1998. 327 Bündnis 90/Die Grünen: Für eine gemeinsame europäische Währung. Bündnisgrüne Vorschläge für eine sozial und ökologisch verträgliche Währungsunion. Faltblatt der Bundestagsfraktion, 1997. 328 Bündnis 90/Die Grünen: Grün ist der Wechsel. Programm zur Bundestagswahl 98, 1998, S. 141.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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einzige relevante Partei übte sie demnach auch im Wahlkampf Kritik an der Verwirklichung der Währungsunion. Gleichwohl legte sie Wert darauf, nicht gegen die europäische Integration an sich zu sein: „Als europäische sozialistische Partei befürwortet die PDS die europäische Integration und setzt sich für sie ein“329, hieß es im Wahlprogramm. Selbst die Schaffung einer gemeinsamen Währung lehnte die PDS nicht grundsätzlich ab. In ihrem Flugblatt mit dem Titel „Euro? So nicht!“330 brachte sie zum Ausdruck, dass sie die konkreten Pläne zur Verwirklichung des Euro verurteilte, nicht aber die Idee an sich. Nach Ansicht der PDS fehlten dem Euro die für eine erfolgreiche Realisierung notwendigen Begleitumstände: Da die Währungsunion weder von einer Sozialunion noch von einer aktiven europäischen Arbeitsmarktpolitik begleitet sei, berge sie „die Gefahr stetigen Sozialabbaus sowie weiterer Vernichtung von Arbeitsplätzen“331 und treibe die Bürger in einen Niedriglohnwettbewerb. Insgesamt spielte die Währungsunion im Bundestagswahlkampf 1998 eine bedeutendere Rolle als vier Jahre zuvor. Man hätte vermuten können, dass die Oppositionsparteien an ihrer Thematisierung ein größeres Interesse hatten als die Regierungsparteien, die für diese unpopuläre Politik verantwortlich waren. Interessanterweise wurde das Thema der Währungsunion aber vor allem von den Regierungsparteien akzentuiert. CDU/CSU und FDP verwendeten viel Mühe darauf, sich selbst als verlässliche Garanten einer stabilen europäischen Währung und den politischen Gegner als gänzlich inkompetent in dieser Frage darzustellen. Selbstverständlich war den Regierungsparteien die kritische Haltung der Bevölkerung zur Europäischen Währungsunion bekannt. Insofern kann das Vorhaben, sich ausgerechnet mit diesem Thema profilieren zu wollen, als gewagt gelten. Zum einen gaben jedoch in den Interviews befragte Akteure zu bedenken, dass die Währungsunion in den Medien und der allgemeinen öffentlichen Debatte derart präsent war, dass sie schlichtweg nicht „totgeschwiegen“ werden konnte. Das Thema schien unausweichlich – und so sollte es wenigstens positiv in den Wahlkampf eingeführt werden. Zum anderen kann diese Themengewichtung als eine Antwort auf das insgesamt sehr schlechte innenpolitische Profil der Regierungsparteien gedeutet werden. Der Politikbereich „Außen- und Europapolitik“ war laut einer Umfrage im Juni 1998 der einzige, in dem die Bundesregierung eine positive Wertung durch die Bürger erzielte: Immerhin 62 Prozent der Befragten waren sehr oder ziemlich zufrieden mit den Leistungen der Bundesregierung in diesem Bereich. In allen anderen abgefragten Politikbereichen, von der Arbeitsmarktpolitik über Haushalts-, Finanz- und Steuer329 PDS: Programm der PDS zur Bundestagswahl 1998, 1998, S. 18. 330 PDS: Euro? So nicht! Broschüre, 1997. 331 PDS: Programm der PDS zur Bundestagswahl 1998, 1998, S. 18.
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4 Fallstudien
fragen bis hin zur Bekämpfung von Kriminalität, zeigte sich die Mehrheit der Befragten wenig oder gar nicht zufrieden.332 Resümierend ist festzustellen, dass dem Bürger – obwohl das Thema der Währungsunion Eingang in den Wahlkampf fand – keine greifbaren Alternativen zur Regierungspolitik geboten wurden. Die Abgeordneten aller etablierten Parteien hatten im Bundestag mit großer Mehrheit für die Einführung des Euro gestimmt. Folglich positionierte sich keine der Parteien im Wahlkampf gegen diese Entscheidung. Selbst die Art und Weise der Realisierung war kaum Gegenstand einer politischen Auseinandersetzung. Die Stabilität der neuen Währung galt den Regierungsparteien CDU/CSU und FDP wie auch der oppositionellen SPD als oberstes Gebot.
4.2.1.4 Regierende und Regierte: Annäherung durch Führung Die Bevölkerung war bis Ende des Jahres 1997 mehrheitlich gegen die Idee einer Europäischen Währungsunion eingestellt.333 Nicht nur die demoskopisch erfragten individuellen Meinungen, auch das wahrgenommene Meinungsklima, die „herrschende Meinung“, war negativ: Im April 1996 vermuteten noch, unabhängig von der eigenen Meinung, 66 Prozent der Deutschen, dass „die meisten Leute bei uns in der Bundesrepublik“ gegen die Europäische Währungsunion seien.334 Angesichts der hohen Ablehnungswerte bemerkte Elisabeth NoelleNeumann (1997, S. 277): „Nach gängigem Demoskopie-Verständnis wäre damit der Plan, am 1. Januar 1999 die Wirtschafts- und Währungsunion einzuführen, erledigt gewesen – besonders, wenn man bedenkt, dass 1998 ohnehin […] alles dem Wahlkampf zum Bundestag unterworfen sein wird.“
332 Frage: „Ich nenne Ihnen jetzt einige Aufgaben und Politikbereiche, die eine Bundesregierung zu bewältigen hat. Sagen Sie mir bitte für jede Aufgabe, ob Sie da mit den bisherigen Leistungen der Bundesregierung…“ Antwortvorgaben: „sehr zufrieden“, „ziemlich zufrieden“, „weniger zufrieden“, „gar nicht zufrieden“. Abgefragte Politikbereiche: „Schaffung und Erhalt von Arbeitsplätzen“, „Eindämmung von Jugendgewalt“, „Haushalts-, Finanz-, Steuerpolitik“, „Ausländer- und Asylpolitik“, „Bekämpfung von Kriminalität und Verbrechen“, „Außen- und Europapolitik“. Siehe Infratest dimap: DeutschlandTREND. 8. Welle. Umfrage zur politischen Stimmung im Juni 1998 im Auftrag von ARD/Bericht aus Bonn und 15 Tageszeitungen. Berlin, S. 5. 333 Deutlich aufgeschlossener als die breiten Massen zeigten sich die deutschen Eliten. Vgl. Glaab et al. 1998, S. 191-192. 334 Vgl. Allensbacher Archiv: Institut für Demoskopie, Umfrage Nr. 6028. April 1996.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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Bekanntlich kam es anders: Die Währungsunion wurde zum 1. Januar 1999 realisiert. Seit Beginn des Jahres 1998 kippte zudem die Bevölkerungsmeinung ins Positive (Abbildung 4.11).335 Wie war dies möglich? Bevölkerungsmeinung zur Währungsunion Pro
Contra
Keine Meinung
80 70
Prozent
60 50 40 30 20 10 0 Herbst 95 EB44
Frühjahr 96 EB45
Herbst 96 EB46
Frühjahr 97 EB47
Herbst 97 EB48
Frühjahr 98 EB49
Herbst 98 EB50
Ausgabe Standard Eurobarometer
Abbildung 4.11: Die Einstellungen der Deutschen zur Verwirklichung der EWU
Die Bundesregierung hatte ihre Informations- und Überzeugungsarbeit intensiviert. Trotzdem bemängelten Kritiker, dass die Bemühungen immer noch nicht ausreichend und die Budgets der Werbemaßnahmen immer noch zu gering bemessen seien (vgl. Eckstein, Pappi 1999, S. 323; Froehlich 2001, S. 75). Im Interview befragte Akteure halten diesem Vorwurf entgegen, dass es sicherlich ebenfalls Missfallen erregt hätte, wenn die Bundesregierung in Zeiten des Sparens und des Kürzens noch größere finanzielle Aufwendungen für Euro-Werbezwecke investiert hätte.
335 Variationen in der Formulierung der Fragestellung: EB 44, EB 45 und EB 47: „Are you for or against the European Union having one European currency in all member states, including (our country)? That is, replacing the (name of national currency) by the European currency?“ EB 46, EB 48, EB 49 und EB 50: „What is your opinion on each of the following proposals? Please tell me for each proposal, whether you are for it or against it: There should be a European Monetary Union with one single currency replacing the (national currency) and all other national currencies of the Member States of the European Union.“
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4 Fallstudien
Hinsichtlich der Führungsstrategie ist im Vergleich zur Fallstudie „EWU D 91-94“ kein entscheidender Wandel zu beobachten: Die Währungsunion wurde von der Bundesregierung weiterhin als ein nicht nur ökonomisches, sondern vor allem auch politisches Projekt dargestellt, das einen wichtigen Beitrag zum Fortschritt der europäischen Integration leiste. Kritik an der Währungsunion konnte durch diese argumentative Verknüpfung nach wie vor als „anti-europäisch“ gebrandmarkt werden. So warf beispielsweise der FDP-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber wegen dessen öffentlich geäußerter Skepsis an der Währungsunion „Anti-Europa-Populismus“ vor (vgl. Froehlich 2001, S. 88). Diese Strategie der Tabuisierung zeigte insofern Erfolge, als selbst Skeptiker der Währungsunion eine offene Opposition weitgehend mieden und ihre Kritik eher an Verfahrensfragen festmachten. Das Framing der Währungsunion als ein politisches Projekt war außerdem hilfreich, um die Bevölkerung vom Sinn des Euro zu überzeugen. Zwar wiesen die Regierungsparteien immer wieder darauf hin, dass die Währungsunion auch aus ökonomischen Überlegungen heraus im Interesse der Bundesrepublik liege, dieses Argument erreichte die Bürger jedoch nur schlecht. Während viele Deutsche keine ökonomische Notwendigkeit erkannten, ihre D-Mark für den Euro aufzugeben, bot ihnen Bundeskanzler Kohl über die politische Deutung der Währungsunion eine Rechtfertigung für diese Politik, die sie akzeptieren konnten. In ihrer großen Mehrheit befürworteten die Deutschen den europäischen Einigungsprozess. Gleichzeitig begriffen sie die Währungsunion als einen wichtigen Baustein dieses Prozesses (vgl. Eckstein, Pappi 1999, S. 307). Diese prinzipiell integrationsfreundliche Haltung hat sicherlich förderlich auf die Akzeptanz der Währungsunion eingewirkt (vgl. Glaab et al. 1998, S. 188), kann jedoch den Meinungsumschwung alleine nicht plausibel erklären: Warum ließen sich die Bürger, nachdem sie die Währungsunion sechs Jahre lang massiv abgelehnt hatten, Anfang 1998 endlich überzeugen? In der Literatur wird der späte Meinungsumschwung der deutschen Bevölkerung oft als eine Akzeptanz des Faktischen bezeichnet (vgl. Pappi, Thurner 2000, S. 438). So standen die Deutschen im April 1996 der Europäischen Währungsunion immer noch ablehnend gegenüber, waren aber zugleich davon überzeugt, dass diese nicht mehr aufzuhalten sei. Auf die Frage „Was denken Sie, wann wird die Währungsreform für Deutschland kommen, in wie viel Jahren werden wir eine europäische Währung haben?“ erklärten nur 5 Prozent der Befragten, die Währungsunion komme „gar nicht“. Alle anderen unterschieden sich lediglich in der Prognose, wann mit der neuen Währung zu rechnen sei.336 Aufbauend auf dem sozialpsychologischen Ansatz der Kognitiven Dissonanz 336 Allensbacher Archiv: Institut für Demoskopie, Umfrage Nr. 6028. April 1996.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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argumentiert Elisabeth Noelle-Neumann (1998, S. 296-298), dass die Menschen den Gegensatz zwischen dem, was gewünscht wurde, und dem, was für realistisch gehalten wurde, auszugleichen versuchten, indem sie ihre Aufmerksamkeit verstärkt den positiven Aspekten der Währungsunion widmeten – und diese tatsächlich irgendwann positiver bewerteten. Bezogen auf die Führungsleistung der Bundesregierung lässt sich vor diesem Hintergrund feststellen, dass sich deren Strategie, die Verwirklichung der Währungsunion nie in Frage zu stellen, letztlich ausgezahlt hatte. Auf die Bürger konnte sich die Gewissheit, dass der Euro in jedem Fall kommen wird, aber nur unter der Bedingung einstellen, dass nicht andere glaubwürdige Quellen das Gegenteil behaupteten. Den Hypothesen der Arbeit folgend, gilt es in dieser Hinsicht vor allem die Geschlossenheit der politischen Elite und die vorherrschende Medienmeinung zu prüfen: Der politische Konsens zum Thema der Währungsunion erwies sich als relativ solide. Sowohl im Wahlkampf als auch bei innerparteilichen Streitereien ging es vor allem um Verfahrensfragen. Die Euro-Skeptiker beharrten auf besonders strikten Maßnahmen zur Sicherung der Geldwertstabilität oder plädierten für eine kurz- bis mittelfristige Verschiebung des Überganges in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion. Kein Politiker der etablierten Parteien stellte jedoch diesen Übergang grundsätzlich in Frage. Ein entscheidender Unterschied im Vergleich zur Fallstudie „EWU D 9194“ besteht in der weit weniger ablehnenden Haltung der Medien. Die FAZ bewertete das Politikziel zwar immer noch skeptisch, aber der leichte Überhang an negativen Kommentaren wurde abgemildert durch eine durchwegs positive Beurteilung des Regierungshandelns in Fragen der Währungsunion. Den Kommentaren der FAZ zufolge war der Euro, wenn er denn schon kommen musste, bei der Regierung Kohl zumindest in guten Händen. Die SZ zeigte sich inzwischen auch gegenüber dem Politikziel der Währungsunion tendenziell positiv. In beiden Medien gab es einen sehr großen Anteil ambivalenter Kommentare: Journalisten, die wenige Jahre zuvor noch erbittert gegen die Währungsunion schimpften, wandeln sich nicht innerhalb kürzester Zeit zu euphorischen Befürwortern dieser Idee. In der Summe beider Medien überwogen aber inzwischen die positiven Bewertungen. Weder die Qualitätszeitungen noch die Bild-Zeitung äußerten darüber hinaus Zweifel daran, dass die Währungsunion verwirklicht werden würde. Um Bürger und Medien für das Projekt der Währungsunion zu gewinnen, setzte die Bundesregierung weiterhin auf die Kraft politischer Symbolik: Nachdem bereits 1993 Frankfurt am Main als Sitz der EZB entschieden wurde – die EZB trat damit sinnbildlich in die Fußstapfen der Deutschen Bundesbank –
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4 Fallstudien
gelang es 1995 die Bezeichnung „Euro“ für die neue Währung durchzusetzen.337 Auch das Insistieren vieler Politiker auf die Nachkommastelle beim Defizitkriterium ist als symbolisches Signal zu deuten – volkswirtschaftlich stichhaltig zu begründen ist es kaum.338 Die Fixierung auf technische Details nahm bisweilen bizarre Züge an (vgl. Weidenfeld 1997, S. 4). Die Medien würdigten die stabilitätsorientierte Politik der Bundesregierung jedoch im Allgemeinen positiv. In jedem Fall wurde die Kluft zwischen Regierenden und Regierten im Verlauf dieser Fallstudie durch Führung, nicht durch Responsivität geschlossen: Trotz erheblicher Handlungszwänge, die sich aus vertraglichen Verpflichtungen und sonstigen bereits getroffenen Vereinbarungen auf europäischer Ebene ergaben, hätten die Regierenden vor dem endgültigen Beschluss im Frühjahr 1998 noch Möglichkeiten zu einer zumindest partiellen Anpassung ihres Verhaltens an die Bevölkerungsmeinung gehabt. Die Bundesregierung hätte z.B. auf europäischer Ebene für eine Verschiebung plädieren oder sich, im Interesse einer strengen Beachtung der Konvergenzkriterien, für einen möglichen Ausschluss Italiens und Belgiens aussprechen können (vgl. Eckstein, Pappi 1999, S. 329). Davon wurde jedoch kein Gebrauch gemacht. Die Bundesregierung ließ keinen Zweifel an ihrem Ziel, die Währungsunion pünktlich zum 1. Januar 1999 zu verwirklichen. Bereits im Frühjahr 1997 stellte Bundesaußenminister Kinkel den fristgerechten Übergang in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion als unvermeidbar dar: Der „point of no return“ sei längst überschritten.339 Eine Priorisierung der Ziele Pünktlichkeit und Stabilität versuchte die Bundesregierung stets sorgsam zu vermeiden. Man wolle den Euro pünktlich und stabil realisieren, versprach Bundeskanzler Kohl: „Diese Bundesregierung wird alles tun, was sie tun kann, daß der Euro zum vereinbarten Zeitpunkt eingeführt wird und eine dauerhaft stabile Währung sein wird.“340 Zum Zeitpunkt der Bundestagswahlen war die endgültige Entscheidung über den termingetreuen Beginn der Währungsunion sowie die teilnehmenden Länder bereits auf europäischer Ebene getroffen worden. Für die Wähler bestand somit keine Aussicht mehr, die Verwirklichung der Währungsunion mit ihrer 337 Welche Wirkung die Namenssymbolik entfaltete ist nicht eindeutig zu beantworten. Die untersuchten Qualitätszeitungen maßen der Namensfrage keine große Bedeutung bei. In den Interviews befragte Akteure zeigten sich allerdings auch noch im Nachhinein davon überzeugt, dass die Namensgebung entscheidend zur Akzeptanz der europäischen Währung durch die deutsche Bevölkerung beigetragen habe. 338 Diese Einschätzung teilten viele der befragten Akteure. Vgl. außerdem auch Froehlich 2001, S. 89. 339 Vgl. FDP fordert höheres Tempo bei Reformen. In: Süddeutsche Zeitung, 09.04.1997, S. 2. 340 Kohl, zitiert nach: Europäisches Parlament (Task-Force Wirtschafts- und Währungsunion): Die Bundesrepublik Deutschland und die EWWU. PE 166.106/rev.2, 20.04.1998, S. 18. Online verfügbar unter http://www.europarl.europa.eu/euro/country/general/d_de.pdf, zuletzt geprüft am 22.08.2009.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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Stimmabgabe verhindern oder deren konkrete Ausgestaltung beeinflussen zu können. Um Ablehnung auszudrücken, wäre prinzipiell noch eine retrospektive Bestrafung der verantwortlichen Parteien möglich gewesen. Die Gefahr einer Abwahl aufgrund des Euro war jedoch für die Regierungsparteien minimiert, da im Bundestag auch Sozialdemokraten und Bündnisgrüne dem Übergang in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion mit überwältigender Mehrheit zugestimmt hatten. Im Bundesrat votierte einzig die CDU-geführte sächsische Landesregierung unter Kurt Biedenkopf gegen die Einführung des Euro. Die politischen Positionierungen der etablierten Parteien waren für den Wähler somit kaum unterscheidbar. Betrachtet man die parteipolitische Diskussion, so „ist zunächst die Euro-Befürwortung durch alle deutschen Parteien zu konstatieren, mit Ausnahme der extremen, d.h. der PDS, der Republikaner und der DVU“, resümieren Gabriele Eckstein und Franz Urban Pappi (1999, S. 323). Obwohl die Bürger die Frage des Euro durchaus als relevant wahrnahmen,341 war der Druck zu responsivem Verhalten, der auf der Bundesregierung lastete, vor diesem Hintergrund gering. Die Regierungsparteien gingen daraufhin in die Offensive: Sie stellten sich selbst als kompetente Vertreter deutscher Interessen auf der europäischen Bühne dar und betrieben intensives „negative campaigning“, das den politischen Gegnern jegliche Expertise in dieser Frage absprechen sollte. Diese Strategie erwies sich als erfolgreich: Auf die Frage „Welcher Partei trauen Sie zu, dass sie die Europäische Währungsunion, die Einführung der neuen Währung, am besten und am sichersten regelt?“ nannten im November 1996 37 Prozent der Befragten die CDU/CSU. Die SPD erzielte bei dieser Umfrage nur 9 Prozent der Stimmen.342 Das zu vermutende Räsonnement vieler Wähler beschreibt Elisabeth Noelle-Neumann (1997, S. 281) mit den Worten: „Wenn sich ohnehin die 341 Auf die Frage: „Welches sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten politischen Probleme in Deutschland, die vordringlich gelöst werden müssen?“ nannten im Mai 1998 10 Prozent der von Infratest dimap befragten Deutschen „Euro, EU, Europa“. Dieses politische Problem war in der Wahrnehmung der Bürger – gleichauf mit den Antwortvorgaben „Steuern““, „soziale Probleme“ und „Ausländer/Asylbewerber“ – mit 10 Prozent Nennung auf dem zweiten Platz. Die Antwortvorgabe „Arbeitslosigkeit“ nahm mit 86 Prozent Nennung unbestritten den ersten Platz ein. „Kriminalität/Innere Sicherheit“ (9 Prozent), „Ausländerfeindlichkeit/Rechtsradikalismus“ (9 Prozent) und „Renten“ (7 Prozent) wurden von den befragten Bürgern als weniger wichtig wahrgenommen. Siehe Infratest dimap: DeutschlandTREND. 7. Welle. Umfrage zur politischen Stimmung im Mai 1998 im Auftrag von ARD/Bericht aus Bonn und 15 Tageszeitungen. Berlin, S. 12. 342 2 Prozent der Befragten nannten die FDP, 1 Prozent Bündnis 90/Die Grünen und 1 Prozent die PDS. Für eine „andere Partei“ entschied sich 1 Prozent der Befragten. 31 Prozent hielten „keine Partei“ für kompetent in dieser Frage. 20 Prozent zeigten sich unentschieden. Repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, zitiert in Noelle-Neumann, Köcher 1997, S. 1193.
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4 Fallstudien
Währungsunion nicht aufhalten lässt, ist es dann nicht klüger, diejenigen in die Regierung zu wählen, die die Kompetenz haben, mit diesen schwierigen EuropaAngelegenheiten umzugehen?“ Die Wahl am 27. September 1998 wurde jedenfalls nicht aufgrund der Europäischen Währungsunion verloren: Obwohl das Handeln der Bundesregierung unter Helmut Kohl in Fragen der Währungsunion jahrelang eklatant der Bevölkerungsmeinung widersprach, musste sie hierfür kaum elektorale Verluste hinnehmen. Franz Urban Pappi und Paul W. Thurner analysierten die Auswirkungen der Euro-Thematik auf das Bundestagswahlergebnis von 1998 im Detail. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass die CDU/CSU für ihre Europapolitik nur Stimmenverluste von unter einem halben Prozentpunkt hinnehmen mussten (vgl. Pappi, Thurner 2000, S. 462).
4.2.2 Frankreich: Für ein anderes Europa Im Mai 1995 wurde Jacques Chirac (RPR) zum französischen Staatspräsidenten gewählt. Nach dem Amtsantritt sah er sich mit der Herausforderung konfrontiert, seine zahlreichen Wahlkampfversprechen miteinander kompatibel zu machen: Es galt die „fracture sociale“ zu bekämpfen und gleichzeitig die französische Wirtschaftspolitik an den Kriterien von Maastricht auszurichten. Bis zum Herbst kümmerte sich die Regierung vornehmlich um die Probleme am französischen Arbeitsmarkt. Erst am 26. Oktober 1995 versuchte Präsident Chirac in einem Fernsehinterview, Zweifel an seinem Engagement für die Währungsunion auszuräumen und kündigte budgetäre Maßnahmen an, die die Qualifizierung Frankreichs für die Währungsunion sichern sollten. Das Spannungsverhältnis zwischen staatlichen Ausgaben für sozial- und beschäftigungspolitische Maßnahmen einerseits und einer Reduktion des staatlichen Defizits in Vorbereitung für die Währungsunion andererseits beherrschte die französische Debatte über den gesamten Zeitraum der Fallstudie (vgl. de la Serre, Lequesne 1996, S. 310-311). Während die Regierung unter Jacques Chirac und Alain Juppé (RPR) der traditionellen Aufgabenteilung folgte, in der sich in erster Linie der Präsident für die Europapolitik zuständig fühlt, veränderten sich mit den Parlamentswahlen 1997 signifikant die Machtverhältnisse zwischen Präsident und Premierminister. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet (2004, S. 159) stellt fest, dass Premierminister Jospin „die Politik Frankreichs in einem Maße gestalten und bestimmen konnte, wie kein Regierungschef der V. Republik vor ihm.“ Trotz dieses Machtgewinns des Premierministers gelang es der doppelköpfigen Exekutive nach außen geschlossen aufzutreten und auf europäischer Ebene mit einer Stimme zu sprechen (vgl. Müller-Brandeck-Bocquet 2004, S. 160).
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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Die deutschen und die französischen Bedenken zum Euro lagen gewissermaßen überkreuz: Während man in Frankreich negative Auswirkungen der Austeritätspolitik für den Arbeitsmarkt befürchtete, sorgte man sich in Deutschland um die Stabilität der neuen Währung und beobachtete wachsam die Haushaltspolitik des Nachbarlandes. Je mehr nun die Franzosen auf die schädlichen Nebenwirkungen der Konvergenzkriterien hinwiesen, desto dringlicher wurde in Deutschland die Angst, dass die neue Währung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen aufgeweicht werden könnte (vgl. Guérot 1997, S. 229).
4.2.2.1 Die Meinung der Medien Im untersuchten Zeitraum vom 1. Oktober 1995 bis zum 30. September 1998 veröffentlichte LM 73 und LF 61 redaktionelle Kommentare. Im Vergleich zum Zeitraum 1991 bis 1994 stieg die Bedeutung des Themas leicht an. Während in der Fallstudie „EWU F 91-94“ eine deutliche Konzentration der Artikel auf die Zeit um den Maastrichter Vertrag gegeben war, verteilte sich die Kommentierung im Verlauf dieser Fallstudie stärker über den gesamten Zeitraum (Abbildung 4.12). Intensität der Kommentierung im Zeitverlauf LM
LF
30 25 20 15 10 5 0 10/95 11/95 12/95 01/96 02/96 03/96 04/96 05/96 06/96 07/96 08/96 09/96 10/96 11/96 12/96 01/97 02/97 03/97 04/97 05/97 06/97 07/97 08/97 09/97 10/97 11/97 12/97 01/98 02/98 03/98 04/98 05/98 06/98 07/98 08/98 09/98
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LM+LF
Monat/ Jahr
Abbildung 4.12: Kommentierung zur Verwirklichung der EWU in LM und LF
Das Treffen des Europäischen Rates in Madrid im Dezember 1995 bewirkte eine verstärkte Kommentierung in beiden Medien. Im Februar 1996 erreichte die öffentliche Aufmerksamkeit eine erste Spitze: Eine Debatte der französischen Nationalversammlung zum Thema der Europäischen Währungsunion sowie ein
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Besuch von Alain Juppé in Bonn, der die deutsch-französische Verständigung in dieser Frage sicherstellen sollte, regten in diesem Monat die Diskussion zum Thema an. In den Folgemonaten ließ die Kommentierung nach. Erst von Oktober bis Dezember 1996 wuchs das mediale Interesse wieder. Auf Geheiß von Premierminister Juppé lancierte Europaminister Michel Barnier im Oktober einen „Nationalen Dialog für Europa“, der aus 26 regionalen Foren bestand. Mitte November schlug der ehemalige französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing eine Abwertung des Franc gegenüber der D-Mark vor und löste damit heftige Diskussionen aus. Im Dezember standen schließlich der Europäische Rat in Dublin und der dort beschlossene Stabilitäts- und Wachstumspakt im Mittelpunkt der Kommentierung. Danach ebbte die öffentliche Aufmerksamkeit ab. Im unmittelbaren Vorfeld der Parlamentswahlen vom 25. Mai und 1. Juni 1997 war das Thema nur mäßig in den Medien vertreten. Direkt im Anschluss daran nahm die Kommentierung jedoch wieder rasant zu: Ebenso wie die untersuchten deutschen Medien veröffentlichten auch die beiden französischen Zeitungen im Juni 1997 zahlreiche Kommentare: Am 16. und 17. Juni tagte der Europäische Rat in Amsterdam. Vor dem Hintergrund der Parlamentswahlen wurde mit Spannung verfolgt, wie die PS ihren im Wahlkampf versprochenen Kurswechsel hinsichtlich der Europäischen Währungsunion umsetzen würde. Danach wurde das Thema erst wieder im Frühjahr 1998 stärker beachtet. Der Ende März veröffentlichte Konvergenzbericht der EU-Kommission und des EWI, der eine Empfehlung über die Teilnahme der Währungsunion enthielt, sorgte für Diskussionsstoff. Anfang Mai standen der Beschluss der Teilnehmerländer und die Nominierung des EZB-Präsidenten durch den Europäischen Rat von Brüssel im Mittelpunkt der Kommentare. Mit 15 positiven, nur zwei negativen und 44 ambivalenten Kommentaren schuf LF ein freundliches Stimmungsbild. Ebenfalls wohlwollend zeigte sich LM mit sieben positiven, drei negativen und 63 ambivalenten Kommentaren (Abbildung 4.13).
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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Medienmeinung
LF+LM
LF
LM
-45
-30
-15
0
15
30
45
Saldo der Bewertungen
Abbildung 4.13: Bewertung des Politikziels „Verwirklichung der EWU“ durch LM und LF
Sowohl LM als auch LF standen der Cohabitation-Regierung nach den Parlamentswahlen im Juni 1997 kritischer gegenüber als der Regierung Chirac-Juppé. Während alle Regierungen in ihren unterschiedlichen Zusammensetzungen immer wieder beschuldigt wurden, französische Interessen nicht hartnäckig genug auf europäischer Ebene zu vertreten, sah sich Jospin zusätzlich dem Vorwurf ausgesetzt, im Wahlkampf etwas versprochen zu haben, was er nun nicht halte: „s’il y a bien un domaine où l’action du gouvernement s’écarte sensiblement des engagements de campagne, c’est celui de la construction européenne.“343 Ähnlich wie die deutschen forderten auch die französischen Medien in ihrer Kommentierung zur Währungsunion „mehr Politik“.344 Während diese Forderung allerdings in Deutschland im Sinne einer Politischen Union das Abtreten nationaler Souveränitätsrechte an die europäische Ebene implizierte, etwa durch eine Stärkung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments, war damit in der französischen Diskussion vor allem ein korrigierendes Element gegenüber dem freien Markt sowie gegenüber der europäischen „technocratie“ gemeint.345 Trotz der ähnlichen Begrifflichkeiten verbarg sich hinter der Formel „mehr Politik“ 343 Laurent Mauduit: M. Jospin a changé d'Europe. In: Le Monde, 21.11.1997, S. 1. 344 Vgl. Eric Le Boucher: La politique sous le joug de l'économie. In: Le Monde, 06.01.1997, S. 1; Pierre-Antoine Delhommais: Les risques de l'euro. In: Le Monde, 25.11.1997, S. 1; Baudouin Bollaert; Pierre Bocev: L'énigme politique de l'euro. In: Le Figaro, 04.05.1998. 345 Vgl. Jean-Jacques Rosa: Réponse aux monétaristes et aux budgétaristes. In: Le Fig-Eco, 11.01.1996, S. 11; Franz-Olivier Giesbert: Le tremplin. In: Le Figaro, 13.02.1996, S. 1.
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somit eine der wichtigsten deutsch-französischen Divergenzen auf dem Weg zur Währungsunion: Während sich Deutschland für die strikte Einhaltung objektiver mathematischer Kriterien einsetzte und auf eine unabhängige EZB bestand, suchte Frankreich unablässig, Möglichkeiten des staatlichen Eingreifens zu sichern. Eine unabhängige EZB schien den französischen Kritikern undemokratisch zu sein.346 Sie sei niemandem gegenüber verantwortlich und nicht durch Wahlen legitimiert.347 „[L]es gnomes de Francfort et les eurocrates de Bruxelles“ dürften nicht über das Schicksal der Bürger entscheiden.348 Mehrere französische Kommentare plädierten daher für eine politisch verantwortliche Wirtschaftsregierung als Gegengewicht zur EZB.349 Weiterhin wurden die Konvergenzkriterien und der Stabilitätspakt skeptisch bewertet. Zahlreiche Kommentare wandten sich gegen eine „monetaristische“ Konzeption der Europäischen Währungsunion.350 Die strengen Sparmaßnahmen würden zur Rezession führen und steigende Arbeitslosenzahlen verursachen, so die Kritiker.351 Vereinzelt, vor allem in LF, lobten die Kommentatoren den strengen Sparkurs der Regierung: Die Reduktion des Defizits werde dem eigenen Land und dem Arbeitsmarkt langfristig nutzen.352 In der Mehrzahl plädierten die Kommentare jedoch für eine „weiche“ Auslegung der Maastricht-Kriterien und sprachen sich gegen automatisierte Sanktionen bei Verletzungen des Stabilitätspaktes aus: Sanktionen würden ein Land mit aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten nur noch stärker belasten.353 Die Forderung einer Politischen Union im deutschen Sinne, also verbunden mit Kompetenzübertragungen, war in Frankreich selten zu hören. Nur vereinzelt mahnten Kommentare, dass Frankreich zum Souveränitätsverzicht bereit sein müsse.354 Zahlreicher waren die Kommentare, die jedem Verlust nationaler 346 Vgl. Erik Izraelewicz: L'euro, si proche et toujours si incertain. In: Le Monde, 10.04.1997, S. 14; Laurent Mauduit: L'intermède révélateur de Bruxelles. In: Le Monde, 11.05.1998, S. 1. 347 Vgl. Gérard Gachet: Europhorie. In: Le Figaro, 20.04.1998. 348 Vgl. Jean François-Poncet: Entre intégration et dilution. In: Le Figaro, 13.12.1996, S. 2. 349 Vgl. Jean-Jacques Rosa: Les discussions sérieuses ont enfin commencé. In: Le Fig-Eco, 23.01.1997, S. 10; Henri de Bresson: L'Europe autrement. In: Le Monde, 02.06.1997, S. 1. 350 Vgl. Daniel Vernet: Dilemme post-madrilène. In: Le Monde, 19.12.1995, S. 1; Pierre-Antoine Delhommais: Les risques de l'euro. In: Le Monde, 25.11.1997, S. 1. 351 Vgl. Jean-Jacques Rosa: Les discussions sérieuses ont enfin commencé. In: Le Fig-Eco, 23.01.1997, S. 10; Gérard Gachet: Europhorie. In: Le Figaro, 20.04.1998. 352 Vgl. Antoine-Pierre Mariano: Économisez! In: Le Figaro, 04.05.1996, S. 1; Yves Messarovitch: Euro – le premier étage. In: Le Figaro, 28.04.1998. 353 Vgl. Jean-Jacques Rosa: L'euro en question. In: Le Fig-Eco, 12.06.1997; Erik Izraelewicz: L'Allemagne imprime sa marque sur l'euro. In: Le Monde, 25.09.1996, S. 1. 354 Vgl. Erik Izraelewicz: La monnaie unique saisie par le doute. In: Le Monde, 03.10.1995, S. 1; Daniel Vernet; Alain Vernholes: Vers un 'coup de force' monétaire franco-allemand? In: Le Monde, 18.01.1996, S. 13.
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Souveränität skeptisch gegenüberstanden.355 Ähnlich wie schon in der Fallstudie „EWU F 91-94“ sahen die Kommentatoren außerdem auch die nationale Identität in Gefahr.356 Beide Medien sprachen sich für ein engeres Zusammenarbeiten in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik aus. Gemeinsam müssten die Staaten für mehr Wachstum und für ein Sinken der Arbeitslosigkeit sorgen.357 Häufig wurde Solidarität innerhalb der EU angemahnt, und fast immer war diese Mahnung an die deutsche Adresse gerichtet.358 Man könne den durch die Arbeitslosigkeit „traumatisierten“ Franzosen kaum eine „monetaristische“ Währungsunion schmackhaft machen, argumentierte LM.359 In den deutschen wie auch den französischen Medien spielte das Partnerland jeweils eine entscheidende Rolle. Während jedoch die Deutschen Frankreich eher misstrauisch gegenüberstanden, indem sie zum Beispiel an ihrem Stabilitätswillen zweifelten, brachten die Franzosen viel Verständnis für den innenpolitischen Druck auf, der auf Bundeskanzler Kohl und Finanzminister Waigel lastete. Häufig erwähnten die französischen Kommentare die ablehnende Haltung der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Euro.360 Etliche Zugeständnisse, die Frankreich an Deutschland machte, wurden mit Blick auf die skeptische deutsche Öffentlichkeit hingenommen. Trotz allen Verständnisses für Deutschland ärgerten sich die französischen Kommentatoren aber über die schulmeisterliche Art des Nachbarn: Deutschland versuche den Prozess zu dominieren und belehre die anderen Staaten, was zu tun sei.361 Als Deutschland dann selbst Kriterien verfehlte, kommentierten dies die französischen Medien mit entsprechender Schadenfreude.362 LM und LF sahen Deutschland als Sieger in vielen entscheidenden Streitfragen zur Währungsunion: Frankfurt wurde als Sitz der EZB bestimmt, die EZB wurde als politisch unabhängige und dem Modell der Bundesbank nach355 Vgl. Jean-Jacques Rosa: Du franc-mark à l'écu fort. In: Le Fig-Eco, 08.02.1996; Gérard Gachet: Europhorie. In: Le Figaro, 20.04.1998. 356 Vgl. Eric Le Boucher: La politique sous le joug de l'économie. In: Le Monde, 06.01.1997, S. 1; Jean-Jacques Rosa: Un Etat européen est une mauvaise idée. In: Le Figaro, 06.02.1998. 357 Vgl. Yves Messarovitch: La voix française. In: Le Figaro, 25.03.1996, S. 2; Jean-Pierre Robin: Branle-bas de combat pour l'euro. In: Le Figaro, 20.11.1997; Baudouin Bollaert: Euro – la tête et les jambes. In: Le Figaro, 26.03.1998. 358 Vgl. Jean-Pierre Robin: Le sommet d'Amsterdam. In: Le Figaro, 17.06.1997, S. 1. 359 Vgl. L'euro, la rigueur et la politique. In: Le Monde, 16.12.1996, S. 16. 360 Vgl. Georges Suffert: Débats et certitudes. In: Le Figaro, 15.11.1995; Daniel Vernet: De l'euro à l'Europe: attention danger! In: Le Monde, 05.06.1997, S. 1; Arnaud Leparmentier: Le sacrifice européen de Helmut Kohl. In: Le Monde, 06.05.1998, S. 1. 361 Vgl. Daniel Vernet: Dilemme post-madrilène. In: Le Monde, 19.12.1995, S. 1; Erik Izraelewicz: L'Union des Quinze, un choc des cultures. In: Le Monde, 12.06.1997, S. 1 362 Vgl. Henri de Bresson: L'Europe autrement. In: Le Monde, 02.06.1997, S. 1
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empfundene Institution konzipiert, Deutschland zwang den Partnern seinen Stabilitätspakt auf, setzte den Namen „Euro“ statt „ECU“ durch und auch bei der Personalfrage des Präsidenten der EZB zog der französische Favorit Jean-Claude Trichet gegenüber Wim Duisenberg vorerst den Kürzeren. Angesichts dieser Bilanz wurde die Forderung laut, die französische Regierung müsse sich stärker für französische Interessen einsetzen. Frankreich solle den deutschen Einfluss zurückdrängen und selbst wieder eine Führungsrolle übernehmen, so die Forderung mehrerer Kommentare.363 Spätestens bei der Frage, wer erster Präsident der EZB werden sollte, war es nach Ansicht der französischen Medien höchste Zeit, dass endlich auch einmal Frankreich seine Position durchsetzt: „Que JeanClaude Trichet soit un candidat indiscutable, que la France soit fondée, la BCE étant installée à Francfort, à en revendiquer la présidence, qui le contesterait?“364 Nicht zuletzt um den deutschen Einfluss etwas auszubalancieren, setzten sich die Zeitungen für eine möglichst umfassende Währungsunion ein: Angeregt wurde diese Debatte durch eine entsprechende Äußerung von Valéry Giscard d’Estaing, der eine Teilnahme der südlichen Länder für erforderlich hielt, um eine wahrhaft „Europäische“ Währungsunion – und nicht nur eine vergrößerte „zone mark“ – zu schaffen.365 Weniger intensiv als in Deutschland wurde die Möglichkeit einer Verschiebung der Währungsunion diskutiert.366 Mehrfach mahnten LM und LF, dass um die Zustimmung der Bürger aktiv geworben werden müsse. Dabei wurde anerkannt, dass es schwierig sei, die Menschen für ein Thema wie die Europäische Währungsunion zu begeistern: „Les ‚convergences‘, les ‚critères‘, les ‚taux‘ ne sont pas, il est vrai, des concepts qui font spontanément frémir les peuples.“367 Jacques Chirac wurde jedoch unterstellt, er wolle die Wichtigkeit des Themas künstlich gering halten: „Le Président de la République s’est comporté comme s’il cherchait à minimiser l’événement.“368 Die Regierung solle offen und ehrlich die Vor- und Nachteile einer
363 Vgl. Georges Suffert: Débats et certitudes. In: Le Figaro, 15.11.1995; Erik Izraelewicz: L'Union des Quinze, un choc des cultures. In: Le Monde, 12.06.1997, S. 1; Pierre Rousselin: Les hantises contradictoires. In: Le Figaro, 02.06.1998. 364 Jean François-Poncet: Mauvaise passe. In: Le Figaro, 20.11.1997. 365 Vgl. Henri de Bresson; Delhommais; Pierre-Antoine: L'hypothétique entrée de l'Italie dans l'euro. In: Le Monde, 15.02.1997, S. 1 366 Vgl. Jean-Jacques Rosa: L'euro en question. In: Le Fig-Eco, 12.06.1997. Eine weitere Variante, die eher am Rande besprochen wurde, war die Idee einer deutsch-französischen Währungsunion als Vorläufer der Europäischen Währungsunion, vgl. Daniel Vernet; Alain Vernholes: Vers un 'coup de force' monétaire franco-allemand? In: Le Monde, 18.01.1996, S. 13; PierreAntoine Delhommais: L'impossible mariage franc-mark. In: Le Monde, 20.03.1996, S. 1. 367 Michel Schifres: Champion d’Europe. In: Le Figaro, 03.02.1996, S. 1. 368 Erik Izraelewicz: Les trois paradoxes de l'économie française. In: Le Monde, 25.12.1996, S. 1.
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Währungsunion diskutieren, anstatt sich in leere Phrasen zu flüchten.369 Die Währungsunion dürfe den Menschen nicht aufgezwungen werden: „il faudra bien tracer, dans l’invention et la discussion, un chemin nouveau qui entraîne les peuples au lieu de leur imposer l’Europe comme une contrainte.“370 Trotz der genannten Kritikpunkte stand die Mehrzahl der Kommentare der Idee einer Europäischen Währungsunion grundsätzlich positiv gegenüber. Sie sei eine historische Leistung und werde die europäische Integration weiter antreiben.371
4.2.2.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite Die PS unterstützte prinzipiell das politische Ziel einer Europäischen Währungsunion. Unter anderem waren Außenminister Hubert Védrine und Finanzminister Dominique Strauss-Kahn, beide unter der Regierung Jospin im Amt, überzeugte Befürworter einer gemeinsamen Währung (vgl. de la Serre, Lequesne 1998, S. 331). Gleichzeitig äußerten sich die Sozialisten aber kritisch zur konkreten Ausgestaltung des Überganges und forderten, dass nicht nur monetäre, sondern auch sozial- und beschäftigungspolitische Aspekte bei der Einführung des Euro verstärkt berücksichtigt werden müssten. Während der sozialistische Spitzenkandidat Lionel Jospin seine konfrontative Haltung in Fragen der Währungsunion mit dem Sieg der Parlamentswahlen 1997 weitgehend aufgab und als Premierminister um Geschlossenheit mit Präsident Chirac bemüht war, blieben Kommunisten und Grüne auch in der Regierungsverantwortung noch sehr kritisch. Zusammen mit der MdC von Jean-Pierre Chevènement, der unter Jospin Innenminister wurde, setzten sich Kommunisten und Grüne beispielsweise für ein Referendum zur Ratifikation des Amsterdamer Vertrages ein (vgl. de la Serre, Lequesne 1998, S. 331). Dieser Vorschlag wurde – anders als in Deutschland – nicht nur von einzelnen Personen getragen und hätte, im Fall einer Durchsetzung, ein unkalkulierbares Risiko für die Verwirklichung der Währungsunion bedeutet. Der Chef der PCF, Robert Hue, sprach sich zudem wiederholt gegen den Stabilitätspakt aus und forderte eine Verschiebung des Euro, damit zuvor eine europäische Beschäftigungspolitik initiiert werden könne (vgl. Wendt 2001, 369 Vgl. Daniel Vernet: L'Europe dans l'engrenage de la monnaie unique. In: Le Monde, 20.01.1997, S. 1; Baudouin Bollaert: Euro – la tête et les jambes. In: Le Figaro, 26.03.1998. 370 D'autre politique européennes. In: Le Monde, 09.11.1996, S. 16 371 Vgl. Daniel Vernet: Dilemme post-madrilène. In: Le Monde, 19.12.1995, S. 1; Maastricht, le dogme et la réalité. In: Le Monde, 31.10.1996, S. 14; Jean François-Poncet: Une ambition planétaire. In: Le Figaro, 02.05.1998
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S. 287). Trotz ihrer Regierungsbeteiligung votierten die Kommunisten am 22. April 1998 in der Nationalversammlung nahezu geschlossen gegen den Resolutionsvorschlag zur Einführung des Euro. „Le parti communiste français a fait le choix de l’Europe. L’euroscepticisme n’est pas sa ligne de conduite“372, betonte Robert Hue die prinzipiell pro-europäische Haltung seiner Partei. Die aktuellen Pläne zur Währungsunion würden jedoch die europäische Integration in eine falsche Richtung lenken. Eine grundlegende Neuorientierung sei notwendig: „Nous pensons que la construction européenne réorientée peut contribuer à la réussite du changement en France. Ce n’est pas, selon moi, dans cette voie que nous nous engageons avec l’euro.“373 Die UDF befürwortete die planmäßige Verwirklichung der Währungsunion und billigte die strikten Sparmaßnahmen, die Frankreich für die Teilnahme am Euro qualifizieren sollten. In den Unruhen von 1995 erklärte die UDF ihre volle Unterstützung zu der von Premierminister Juppé betriebenen Austeritätspolitik (vgl. Wendt 2001, S. 284). Auch innerhalb der UDF gab es jedoch Kritik an den konkreten Modalitäten des Übergangs: So zählte der ehemalige Staatspräsident Giscard d’Estaing zwar unstrittig zu den engagiertesten Befürwortern einer Europäischen Währungsunion, forderte im November 1996 aber dennoch eine Lockerung des Defizitkriteriums und eine Abwertung des Franc, um französische Produkte auf dem Weltmarkt zu verbilligen und die Konjunktur zu stimulieren.374 Die Gaullisten zeigten sich zur Frage der Währungsunion tief gespalten: Während sich Präsident Chirac und Premierminister Juppé, beide RPR, zu den Maastrichter Konvergenzkriterien und dem damit verbundenen Sparkurs bekannten, widersprachen Philippe Séguin, Charles Pasqua und Jean-Pierre Denis diesem gebetsmühlenartig wiederholten Bekenntnis („pensée unique“) und plädierten für einen Politikwechsel („une autre politique“). Diese „andere Politik“ sollte in einer Abkehr von den Konvergenzkriterien im Interesse von Beschäftigung und Wirtschaftswachstum bestehen (vgl. Müller-Brandeck-Bocquet 2004, S. 183). Souveränisten innerhalb des RPR, wie beispielsweise Jacques Myard, kritisierten den Euro außerdem als „abandon complet“375 der französischen Selbstbestimmung. 372 Assemblée nationale: Compte rendu intégral du débat. Première séance, 22.04.1998, S. 16. Online verfügbar unter http://archives.assemblee.decenturl.com/euro98-scrutin, zuletzt geprüft am 26.08.2009. 373 Ebenda, S. 17. 374 Philippe de Villiers (ehemals UDF, jetzt MPF) lehnte eine Aufgabe der monetären Souveränität Frankreichs weiterhin strikt ab. 375 Assemblée nationale: Compte rendu intégral du débat. Deuxième séance, 21.04.1998, S. 15. Online verfügbar unter http://archives.assemblee.decenturl.com/euro98-debat, zuletzt geprüft am 24.08.2009.
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Die rechten Kritiker der Währungsunion sprachen sich ebenso wie die linken für ein erneutes Referendum zu dieser Frage aus. Ende 1997 setzte sich eine Gruppe innerhalb der RPR für eine Verschiebung der Währungsunion ein. Der Euro unterlaufe die Souveränität der Staaten und sei in seiner derzeitigen Form nicht geeignet, den Anforderungen der europäischen Wirtschaft gerecht zu werden, hieß es in der Begründung (vgl. Wendt 2001, S. 280). Die Gegner eines planmäßigen Übergangs in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion gewannen zunehmend an Einfluss innerhalb der Partei. Kurz vor der parlamentarischen Abstimmung im April 1998 kündigte RPR-Fraktionschef JeanLouis Debré an, seine Partei werde gegen den Resolutionsvorschlag zur Einführung des Euro votieren. Diesen Schritt begründete Debré vor allem als einen Akt des Protestes gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung Jospin, die der Währungsunion ungünstige Startbedingungen bereite.376 Präsident Chirac, der für die termingetreue Einführung des Euro warb, hatte somit seine eigene Partei gegen sich. Um einen offenen Eklat zu vermeiden, blieben die RPR-Abgeordneten letztlich nahezu geschlossen der Abstimmung fern. Die FN lehnte die Währungsunion weiterhin ab. Im Rahmen einer Kundgebung zum 1. Mai 1998 bezeichnete Le Pen den Euro als „Okkupationswährung“ und prangerte erneut den mit der Währungsunion verbundenen Souveränitätsverlust Frankreichs an (vgl. Wendt 2001, S. 290). Resümierend ist Françoise de la Serre und Christian Lequesne (1998, S. 334) in ihrer Feststellung zuzustimmen, dass die Frage der Währungsunion kurz vor dem Übergang in die dritte Stufe „weit davon entfernt ist, als ein Vorstoß von der Gesamtheit der französischen politischen Klasse betrachtet zu werden“. Die Konfliktlinien verliefen sowohl zwischen- als auch innerparteilich. Vor allem die Partei des Präsidenten war tief zerstritten. Bei der parlamentarischen Abstimmung am 22. April 1998 stimmten schließlich 334 Abgeordnete für die Einführung des Euro. 49 Abgeordnete (davon 33 Kommunisten) sprachen sich dagegen aus.377 Wären die RPR-Abgeordneten nicht nahezu geschlossen der Abstimmung ferngeblieben, sondern hätten, wie noch wenige Tage zuvor angekündigt, gegen den Resolutionsvorschlag gestimmt, so hätte sich das Ergebnis mit über einem Drittel negativer Voten dramatisch verschlechtert. Präsident Chirac gelang es somit in letzter Sekunde, eine offene Konfrontation mit seiner 376 Vgl. Ebenda, S. 13. 377 Außerdem stimmten vier Abgeordnete der Gruppe „Socialiste“, ein Abgeordneter der Gruppe „RPR“, ein Abgeordneter der Gruppe „UDF“, neun Abgeordnete der Gruppe „Radical, Citoyen et Vert“ sowie der keiner parlamentarischen Gruppe zugehörige Philippe de Villiers gegen den Resolutionsvorschlag. Assemblée nationale: Analyse du scrutin N° 105 – Séance du 22 avril 1998. Scrutin public sur la proposition de résolution de M. Barrau sur les recommandations de la Commission européenne relatives au passage à la monnaie unique. Online verfügbar unter http://www.assemblee-nationale.fr/11/scrutins/jo0105.asp, zuletzt geprüft am 26.08.2009.
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eigenen Partei in der Nationalversammlung zu verhindern. Die Geschlossenheit der politischen Elite muss dennoch insgesamt als gering bewertet werden.
4.2.2.3 Das Angebot politischer Alternativen Nachdem Jacques Chirac 1995 zum Präsidenten gewählt wurde, verloren er und sein Premierminister Alain Juppé innerhalb weniger Monate spektakulär an Popularität (vgl. Portelli 1998, S. 11). Chirac, der seine Wahl nicht zuletzt mit dem Versprechen gewonnen hatte, er wolle die soziale Spaltung in Frankreich überwinden, betrieb eine Politik, die viele Franzosen als ungerecht und nur den privilegierten Klassen nutzend ansahen (vgl. Cohen 1998, S. 77; Jaffré 1998, S. 30). Für zunehmende Unzufriedenheit sorgten unter anderem die strikten Sparmaßnahmen, die Frankreich für die Europäische Währungsunion qualifizieren sollten. Mit den anstehenden europäischen Herausforderungen, namentlich der Währungsunion, rechtfertigte Jacques Chirac schließlich auch die Auflösung der Nationalversammlung: „Cela nous mettra en position de force dans les débats européens qui s’annoncent“378, so die offizielle Begründung der vorzeitigen Neuwahlen. Dieses Argument überzeugte jedoch kaum jemanden: In die politikwissenschaftliche Literatur ging die Parlamentsauflösung von 1997 als die erste rein taktisch motivierte Auflösung der Assemblée Nationale in der Geschichte der V. Republik ein.379 Chirac glaubte, den politischen Gegner in einer Position der Schwäche anzutreffen (vgl. Cohen 1998, S. 80). Es schien sich eine gute Gelegenheit zu bieten, der Rechten noch einmal die parlamentarische Mehrheit für eine Legislaturperiode zu sichern. Der vorgezogene Wahltermin sollte verhindern, dass der Zorn der Bevölkerung über die Austeritätspolitik bis zum regulären Wahltermin 1998 weiter anschwoll (vgl. Schild, Uterwedde 2006, S. 78). Außerdem fürchtete Chirac die Euro-Skeptiker aus den eigenen Reihen: Sollte die Gruppe um Charles Pasqua auf ein Referendum zur Einführung des Euro bestehen, so würde dies die innere Zerrissenheit der Rechten erneut in die 378 RPR; UDF: Un nouvel élan pour la France. Broschüre, 1997, S. 1. 379 Zugrunde lag weder ein Konflikt zwischen Legislative und Präsident (wie 1962), noch eine Auseinandersetzung zwischen der Regierung und der „Straße“ (wie 1968), noch die Notwendigkeit, nach einer Präsidentschaftswahl eine entsprechende parlamentarische Mehrheit herzustellen (wie 1981 und 1988). Besonders heikel war dieses offensichtlich taktisch motivierte Vorgehen, da Jacques Chirac selbst noch im Juli 1996 öffentlich erklärt hatte, dass das Instrument der Parlamentsauflösung geschaffen worden sei, um mit politischen Krisen umzugehen und nicht, damit der Präsident die Nationalversammlung nach seinem Belieben auflösen und Neuwahlen ausrufen könne. Vgl. Gerstlé 1998, S. 60; Perrineau, Ysmal 1998, S. 11-12; Schild 2003, S. 78-79.
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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Öffentlichkeit tragen und deren Position beim regulären Wahltermin im Juni 1998 schwächen (vgl. Müller-Brandeck-Bocquet 2004, S. 182). Das französische Volk begegnete dieser offensichtlich instrumentellen Parlamentsauflösung allerdings mit Ablehnung (vgl. Duhamel 1998, S. 21). Nur eine Minderheit der Franzosen fand die Begründung des Präsidenten überzeugend, dass die anstehenden europäischen Ereignisse die Neuwahlen notwendig machten. Deutlich mehr werteten die Auflösung der Nationalversammlung schlicht als ein Scheitern der aktuellen Regierung (vgl. Jaffré 1998, S. 42-43). Hinzu kam, dass viele Franzosen dem Präsidenten vorwarfen, er würde sich mehr für Europa als für Frankreich interessieren (vgl. Portelli 1998, S. 21). Vor diesem Hintergrund dürfte sich die europapolitische Begründung der Parlamentsauflösung eher negativ auf das Wahlergebnis der Regierungsmehrheit ausgewirkt haben. Die vorzeitigen Neuwahlen stellten sich als dramatische Fehlentscheidung Chiracs heraus: Das linke Lager ging als strahlender Sieger aus ihnen hervor. Chirac war gezwungen, seinen Premierminister Juppé zu entlassen und eine Cohabitation mit dem Anführer der Sozialisten, Lionel Jospin, zu bilden.380 Der Wahlkampf war, bedingt durch das außergewöhnliche Zustandekommen der Wahlen, kurz. Er war stark personalisiert und erinnerte in dieser Hinsicht eher an einen Präsidentschafts- als an einen Parlamentswahlkampf (vgl. Cayrol 1998, S. 109; Gerstlé 1998, S. 67). Die Regierungsparteien RPR und UDF rühmten in ihrer Kampagne die Auflösung des Parlaments als eine mutige Entscheidung des Präsidenten. Jacques Chirac wurde als vertrauenswürdiger Vertreter französischer Interessen auf europäischer Ebene dargestellt. Vor einer Cohabitation wurde eindringlich gewarnt: „À la veille d’échéances européennes décisives, la France a besoin de parler d’une seule voix pour se faire entendre et défendre efficacement ses intérêts.“381 In Werbemitteln, die nur von der RPR signiert waren, spielten europapolitische Themen allerdings kaum eine Rolle. Die Innenpolitik stand klar im Vordergrund.382 Während die Linke die strengen Sparmaßnahmen, die der Vorbereitung der Währungsunion dienten, für die lahmende Wirtschaft und die hohe Arbeitslosig380 Im ersten Wahlgang entfielen 15,7 Prozent der Stimmen auf die RPR und 14,2 Prozent auf die UDF. Die PS verbesserte sich mit einem Stimmenanteil von 23,5 Prozent. Die PCF kam auf 9,9 Prozent und die Grünen auf 6,8 Prozent der Stimmen. Die FN konnte 14,9 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Die Grünen zogen mit 8 Sitzen erstmals in die Nationalversammlung ein. Die FN konnte trotz des recht hohen Stimmenanteils nur 1 Sitz erlangen. Im Ergebnis war die Sitzverteilung der politischen Gruppen in der Nationalversammlung: RPR: 140, UDF: 113, PS: 250, PCF: 36, Radical, citoyen, verts: 33, Sonstige: 5. 381 RPR; UDF: 10 bonnes raisons de voter pour l'union RPR-UDF. Faltblatt, 1997. 382 RPR: Il y a ceux qui disent n'importe quoi… Faltblatt, 1997.
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keit verantwortlich machte, versprach die Rechte mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze in Folge der Währungsunion. Gerade deshalb sei sie ein so erstrebenswertes Ziel: „[R]éussir le passage à l’euro au 1er janvier 1999 pour stimuler la croissance et l’emploi“383, hieß es in der gemeinsamen Wahlplattform von RPR und UDF. In auffallender Weise versuchten die Regierungsparteien, sich auch in traditionell linken Domänen, wie etwa der Sozialpolitik, positiv zu platzieren. So forderte die Union aus RPR und UDF ein „soziales“ Europa nach französischem Vorbild: „Le modèle social français doit inspirer la future Europe sociale.“384 Umgekehrt fanden sich im Wahlprogramm der Sozialisten Sätze, die eher an Plädoyers der Souveränisten innerhalb der RPR erinnerten: „Nous voulons construire l’Europe, mais sans défaire la France.“385 Für die PS war die Auflösung der Nationalversammlung durch Jacques Chirac keine „mutige Entscheidung“, sondern ein taktisches Manöver: „Le président de la République a dissous l’Assemblée nationale par convenance.“386 Die Europapolitik der Regierung wurde in den Werbemitteln der PS scharf kritisiert: „Abandon de l’Europe des Citoyens pour une Europe ultralibérale réduite à une zone de libre échange. Remise en cause de notre protection sociale et de nos services publics.“387 Die Sozialisten hingegen stünden für ein soziales Europa: „Nous proposerons à nos partenaires de réorienter la construction européenne vers une Europe sociale, de progrès, de sécurité et de paix.“388 Entscheidend sei nicht die Frage, ob man für oder gegen Europa sei, sondern vielmehr, welches Europa man wolle: Zwei Konzeptionen stellte die PS in ihrem Wahlprogramm gegenüber: „L’une, fondée sur la dérégulation, la fin du service public et l’austérité pour les peuples, est celle de la droite. L’autre, que nous avons toujours défendue, est celle d’une Europe indépendante, tournée vers le progrès, l’amélioration des conditions de vie et d’emploi, l’affirmation d’un modèle social, la fidélité à notre civilisation. Aujourd’hui, les vrais Européens sont ceux qui refusent de laisser l’Europe glisser vers un ultra-libéralisme […] Plus que jamais, le Parti Socialiste – le parti de François Mitterrand et de Jacques Delors – reste le parti de l’Europe. Mais pas de n’importe quelle Europe.“389
383 384 385 386 387 388 389
RPR; UDF: Un nouvel élan pour la France. Broschüre, 1997, S. 4. Ebenda. PS: Changeons d'avenir. Nos engagements pour la France. Wahlprogramm, 1997, S. 13. Ebenda, S. 4. PS: Chirac-Juppé: Mystification, Dissolution, Manipulation. Faltblatt, 1997. PS: Faisons un pacte. Faltblatt, 1997. PS: Changeons d'avenir. Nos engagements pour la France. Wahlprogramm, 1997, S. 4 (Hervorhebung im Original).
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
201
Die Währungsunion wurde als essenzielle Wegscheide dargestellt: „Un Euro, oui, mais pour quoi faire? De la réponse à cette question, dépend l’avenir de l’Europe et celui de la France.“390 Die aktuelle Regierung würde die französischen Interessen auf europäischer Bühne nur mangelhaft vertreten: „Nous ne sommes plus écoutés, parce que nous avons plus rien à dire. Les conséquences de cette démission sont graves: les intérêts de la France ne sont plus défendus et l’Europe s’enferre dans une vision ultra-libérale.“391 Die Sozialisten knüpften ihre Zustimmung zum Euro an vier Bedingungen: Zum Ersten sollten möglichst viele Länder an der Währungsunion teilnehmen können: Italien, Spanien und auch Großbritannien, falls es möchte. Zum Zweiten sollte die Währungsunion nicht auf einem „Austeritätspakt“, sondern auf einem „Solidaritäts- und Wachstumspakt“ basieren, der sozialpolitische Maßnahmen und die Schaffung von Arbeitsplätzen erlaube. Zum Dritten solle der EZB eine politisch verantwortliche europäische Wirtschaftsregierung zur Seite gestellt werden. Zum Vierten müsse eine Überbewertung des Euro im Verhältnis zum Dollar oder Yen verhindert werden.392 Auch die Kommunisten kritisierten in ihren Flugblättern das „SuperMaastricht“ und die strikten Stabilitätskriterien in Verbindung mit der Währungsunion.393 In ihrem Wahlprogramm sprachen sie sich gegen die aktuellen Pläne zur Währungsunion aus und plädierten für die Suche nach einer neuen „formule de coopération monétaire européenne n’enfermant pas les peuples dans le carcan de l’austérité mais permettant le développement de leurs efforts communs pour l’emploi, le progrès social et la paix.“394 In den Kampagnen der Grünen und der FN spielte die Einführung des Euro keine Rolle. Insgesamt war die Europäische Währungsunion im Wahlkampf von signifikanter Bedeutung (vgl. Gerstlé 1998, S. 66). Die PS konnte dies für sich nutzen, obwohl der Rechten traditionell eine größere europapolitische Kompetenz zugeschrieben wird: „Alain Juppé […] apparaissait comme plus moderne et plus favorable à l’Europe. Mais on a vu que cette modernité et cette Europe faisaient précisément problème dans l’opinion publique“ (Cayrol 1998, S. 109). Über ein sozialpolitisches Framing, das den Blick mehr auf Frankreich als auf Europa richtete, gelang es der PS, die Skepsis der Bürger gegenüber der mit der Währungsunion verbundenen Austeritätspolitik für sich zu nutzen. Die Europäische Währungsunion hatte sich in der Perzeption vieler Franzosen zur Ursache der nationalen wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme entwickelt – 390 391 392 393 394
Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 12-13. PCF: Le vote communiste le 25 mai. Pour battre la droite et aller de l'avant. Flugblatt, 1997. PCF: 5 axes d'initiatives. Élections législatives. Wahlprogramm, 1997, S. 9.
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4 Fallstudien
und damit war auf einmal nicht mehr die klassische europapolitische, sondern eine sozialpolitische Problemlösungskompetenz gefragt. Diese besetzte die PS und mit diesem Profil gelang es ihr, viele Wähler, die sie 1995 an die Rechte verloren hatte, wieder zurückzuerobern.395 Keine der etablierten Parteien wollte die Einführung des Euro gänzlich verhindern. Da PS und PCF ihre Zustimmung jedoch an zahlreiche Zusatzbedingungen knüpften und eine grundlegende Neuausrichtung der Währungsunion forderten, ist ein zumindest begrenztes Angebot an politischen Alternativen festzustellen.
4.2.2.4 Regierende und Regierte: Harmonie trotz Turbulenzen In der Fallstudie „EWU F 91-94“ wurde bereits dargelegt, dass die Franzosen die Idee der Währungsunion an sich begrüßten, jedoch der damit verbundenen Politik der Austerität weniger aufgeschlossen gegenüberstanden. Dieser Zwiespalt setzt sich im Zeitraum von 1995 bis 1998 fort und führte zu einer wachsenden Polarisierung der Bevölkerungsmeinung: Die Anzahl der Unentschiedenen sank von 19 Prozent im Herbst 1995 auf 6 Prozent im Herbst 1998. Gleichzeitig stieg der Anteil der Euro-Gegner rapide an und erreichte im Frühjahr und Herbst 1997 mit jeweils 36 Prozent den Maximalwert der Fallstudie (Abbildung 4.14).396
395 Die extreme Linke profitierte nur wenig Stimmen von der sozialpolitischen Krisenstimmung. Auch die ökologischen Parteien konnten ihren Erfolg von 1993 nicht halten. Eindeutiger Gewinner war die PS. Vgl. Perrineau 1997, S. 410. 396 Variationen in der Formulierung der Fragestellung: EB 44, EB 45 und EB 47: „Are you for or against the European Union having one European currency in all member states, including (our country)? That is, replacing the (name of national currency) by the European currency?“ EB 46, EB 48, EB 49 und EB 50: „What is your opinion on each of the following proposals? Please tell me for each proposal, whether you are for it or against it: There should be a European Monetary Union with one single currency replacing the (national currency) and all other national currencies of the Member States of the European Union.“
4.2 Die Verwirklichung der Währungsunion (1995-1998)
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Bevölkerungsmeinung zur Währungsunion Pro
Contra
Keine Meinung
80 70
Prozent
60 50 40 30 20 10 0 Herbst 95 EB44
Frühjahr 96 EB45
Herbst 96 EB46
Frühjahr 97 EB47
Herbst 97 EB48
Frühjahr 98 EB49
Herbst 98 EB50
Ausgabe Standard Eurobarometer
Abbildung 4.14: Die Einstellungen der Franzosen zur Verwirklichung der EWU
Zu beobachten ist hier ein Phänomen, das Pierre Favre (1992, S. 14) als eine „umgekehrte“, weil vorwiegend elitär gesteuerte, Problementwicklung bezeichnet. Ausgangspunkt der „Problemkarriere“ sind weniger die Bürger, die ein Problem empfinden und dessen politische Bearbeitung einfordern, sondern vielmehr die politischen Eliten, die öffentlich ein Problem benennen und damit die Problemwahrnehmung der Bürger beeinflussen. Vergleicht man die Meinungsentwicklung mit den politischen Ereignissen, so liegt die Vermutung nahe, dass die im Parlamentswahlkampf zum Teil heftig geübte Kritik an den Modalitäten der Währungsunion für die steigende Ablehnung mit verantwortlich ist. Die Zurückweisung eines „ultra-liberalen“ Europas, das die Stabilitätskritierien höher schätzt als die Lage am Arbeitsmarkt, war ein wichtiger Pfeiler des sozialistischen Wahlkampfes gewesen. Bereits wenige Tage nach Amtsantritt akzeptierte Premierminister Jospin allerdings die von der Vorgängerregierung ausgehandelten Ergebnisse in weiten Teilen. Er erklärte seine Zustimmung zum Vertrag von Amsterdam, dessen Grundsätze er im Wahlkampf noch scharf bekämpft hatte. Die von ihm bewirkten Änderungen, wie die Einführung eines Beschäftigungstitels, waren eher symbolischer Natur. Als der offen geführte politische Konflikt zur Einführung
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4 Fallstudien
des Euro abnahm, sank auch wieder der Widerstand in der Bevölkerung. Nach der endgültigen Entscheidung zum Übertritt in die dritte Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion erreichte die Zustimmung im Herbst 1998 sogar einen Spitzenwert von 74 Prozent. Obwohl auch die Medienmeinung überwiegend positiv zum Euro eingestellt war, reagierte die französische Regierung durchaus sensibel auf die Ängste der Bevölkerung und die Kritikpunkte der Medien, um sich deren Unterstützung auch weiterhin zu sichern (vgl. Grunberg, Lequesne 2004, S. 55). Zum einen setzte sich sowohl die Regierung Chirac-Juppé als auch die Regierung Chirac-Jospin immer wieder auf europäischer Ebene für eine Ergänzung der monetären Verpflichtungen um sozial- und beschäftigungspolitische Maßnahmen ein. Die in dieser Hinsicht erzielten Erfolge, wie etwa die Bezeichnung „Stabilitäts- und Wachstumspakt“, wurden öffentlich stark hervorgehoben. Zum anderen waren beide französischen Regierungen – mit mäßigem Erfolg – bemüht, den Vorwurf zu entkräften, sie würden Frankreichs Interessen auf europäischer Ebene nicht nachhaltig genug vertreten. Vor diesem Hintergrund kann das von Chirac initiierte Ringen um den Posten des EZB-Präsidenten als Geste an die Bevölkerung und die Kritiker aus der eigenen Partei verstanden werden: Chirac wollte zeigen, dass Frankreich selbstbewusst auf europäischer Bühne auftrat. Der französische Kandidat Jean-Claude Trichet verfolgte als Gouverneur der Banque de France eine Geldpolitik, die sich im Kern nicht sehr von der des niederländischen Kandidaten Wim Duisenberg unterschied. Bei dem Streit um die Besetzung ging es somit weniger um inhaltliche Ausrichtungen als vielmehr ums Prinzip: „Der Kraftakt von Jacques Chirac erklärt sich vor allem aus dem Wunsch, der französischen öffentlichen Meinung und insbesondere den ‚euroskeptischen‘ Reihen in der RPR zu zeigen, dass Frankreich sich noch in Brüssel durchzusetzen weiß“ (de la Serre, Lequesne 1998, S. 334). Zu keinem Zeitpunkt gab es in Frankreich mehr Gegner als Anhänger der Europäischen Währungsunion: Eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten lag nicht vor und es kann folglich weder von Responsivität noch von Führung gesprochen werden.
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007) 4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007) Die heutige Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei wird stark von der Frage geprägt, inwiefern die Türkei – geographisch, historisch und kulturell – als „europäisch“ gelten kann (vgl. Giannakopoulos, Maras 2005). Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Türkei zunächst ganz selbstverständlich „im Westen“ und, konkreter noch, in Europa verankert zu sein: Der
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
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Marshall-Plan, mit dem die USA das kriegszerstörte Europa wirtschaftlich unterstützen wollten, schloss die Türkei mit ein. Weiterhin war die Türkei 1948 Gründungsmitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und gehört seit 1949 dem Europarat sowie seit 1952 der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) an. Vor diesem Hintergrund wirkte der türkische Antrag vom 31. Juli 1959 auf ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) durchaus folgerichtig (vgl. Kramer 1988, S. 29-30). Nach langwierigen Verhandlungen, die unter anderem durch den türkischen Militärputsch im Mai 1960 gebremst wurden, kam es am 12. September 1963 in Ankara zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens („Ankara-Abkommen“). Unmissverständlich stellte der Präsident der EWG-Kommission, Walter Hallstein, bei diesem Anlass fest: „Die Türkei ist Teil Europas.“397 Das Ankara-Abkommen hatte die Errichtung einer Zollunion zwischen der EWG und der Türkei zum Ziel und beinhaltete darüber hinaus auch eine Beitrittsperspektive für die Türkei.398 1970 präzisierte ein Zusatzprotokoll den Zeitplan zur Zollunion.399 Wirtschaftskrisen und Staatsstreiche in der Türkei warfen den Annäherungsprozess jedoch zurück und der türkische Einmarsch auf Zypern 1974 trug weiter zu einer Verschlechterung der türkisch-europäischen Beziehungen bei. Nach dem türkischen Militärputsch im September 1980 wurde das Assoziierungsabkommen bis 1986 ausgesetzt. Das von der Türkei als Konkurrent wahrgenommene Griechenland war bereits Mitglied der EG,400 als der türkische Ministerpräsident Turgut Özal im Jahr 1987 endlich den Beitrittsantrag für sein Land stellen konnte. Das Ankara-Abkommen wurde ab 1988 397 Hallstein, zitiert nach: Kramer, Reinkowski 2008, S. 156. Die genannten Autoren geben allerdings zu bedenken, dass „Europa“ damals vor allem in Abgrenzung zum kommunistischen Machtbereich definiert wurde. Bei der heutigen Debatte zu der Frage, ob die Türkei zu Europa gehört, wird „Europa“ oft gegenüber der „islamischen Welt“ abgegrenzt. 398 In Art. 28 des EWG-Türkei Assoziierungsabkommens (Amtsblatt Nr. 217, 29.12.1964) heißt es: „Sobald das Funktionieren des Abkommens es in Aussicht zu nehmen gestattet, dass die Türkei die Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft vollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen.“ Trotz dieser Zielsetzung ist die Assoziation jedoch als eigenständige Beziehungsform zu verstehen, nicht als eine „Viertel- oder Halbmitgliedschaft.“ Vgl. Kramer 1988, S. 37. Siehe auch ausführlicher zur europäischen Assoziierungspolitik Algieri, Weske 2007. 399 Die im Zusatzprotokoll ebenfalls vereinbarte Freizügigkeit für Personen wurde allerdings später von europäischer Seite, auf deutsches Drängen hin, einseitig aufgekündigt. Vgl. Gottschlich 2004, S. 176. 400 So wurden die Europäischen Gemeinschaften seit dem In-Kraft-Treten des „Fusionsvertrages“ am 1. Juli 1967 genannt. Der Fusionsvertrag integrierte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Europäische Atomgemeinschaft und die Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und führte zur Einsetzung einer gemeinsamen Kommission und eines gemeinsamen Rates.
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4 Fallstudien
wieder in Kraft gesetzt. Wegen der instabilen politischen und wirtschaftlichen Lage des Landes beschloss die Kommission jedoch im Dezember 1989, die Entscheidung über den türkischen Beitrittsantrag vorerst zu vertagen. Am 22. Juni 1993 verabschiedete der Europäische Rat die sogenannten „Kopenhagener Kriterien“. Diese konkretisierten die Bedingungen für künftige Erweiterungen der EU: Das politische Kriterium verlangt vom Beitrittskandidaten institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung von Menschenrechten sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten. Das wirtschaftliche Kriterium erfordert eine funktionsfähige Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck innerhalb der EU standhalten kann. Das Acquis-Kriterium setzt weiterhin voraus, dass das Beitrittsland fähig und willens ist, alle Pflichten der Mitgliedschaft und den gemeinschaftlichen Besitzstand („acquis communautaire“) zu übernehmen sowie sich zu den Zielen der Politischen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion zu bekennen. Ein letztes Kriterium betrifft nicht den Beitrittskandidaten, sondern die EU selbst: „Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten, stellt ebenfalls einen sowohl für die Union als auch für die Beitrittskandidaten wichtigen Gesichtspunkt dar.“401 Da die Türkei ihren Mitgliedsantrag schon Jahre vor dem Kopenhagener Gipfel eingereicht hatte, sah sie sich zunächst von den neuen Regelungen nicht betroffen. Unbeeindruckt von diesem Argument erklärte die EU jedoch die Kopenhagener Kriterien auch für die Türkei als verpflichtend. Am 6. März 1995 unterzeichneten die EU und die Türkei endlich das lange geplante Abkommen über eine Zollunion. Diese trat mit Beginn des Jahres 1996 in Kraft und sollte die Anpassung der türkischen Wirtschaft an EU-Standards sichern. Aus türkischer Sicht war sie eine wichtige Geste: Die Türkei öffnete ihren Markt für EU-Produkte, ohne im Gegenzug politische Mitspracherechte zu erhalten (vgl. Seufert, Kubaseck 2006, S. 174-175). Entsprechend groß war die Verbitterung, als die EU auf dem Luxemburger Gipfel im Dezember 1997 zehn mittel- und osteuropäische Länder sowie Zypern zu Beitrittskandidaten erklärte, nicht aber die Türkei. Die europäischen Staats- und Regierungschefs bekräftigten lediglich, dass die Türkei für einen EU-Beitritt in Frage komme. Schwer enttäuscht unterbrach die Türkei unter der Regierung von Mesut Ylmaz zeitweilig, mit Ausnahme der Zollunion, alle Beziehungen zur EU (vgl. Ylmaz 2004, S. 26). Erst im Dezember 1999 sprach der Europäische Rat von Helsinki der Türkei den Kandidatenstatus zu.402 Im Dezember 2000 verabschiedete der Europäische 401 Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Kopenhagen. SN 180/1/93, 21.22.06.1993, S. 13. 402 Eine wichtige Weichenstellung im Vorfeld dieses EU-Beschlusses war die griechisch-türkische Annäherung nach den schweren Erdbeben im Sommer 1999: Spontan eilten nach den
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
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Rat erste Grundsätze zur Beitrittspartnerschaft mit der Türkei403 und im Dezember 2002 entschied der EU-Gipfel in Kopenhagen, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei unverzüglich aufzunehmen, sobald der Europäische Rat auf Basis des Kommissionsberichtes eine Erfüllung der Kriterien feststellt. Nachdem die Modernisierungsmaßnahmen in der Türkei unter Ministerpräsident Bülent Ecevit von der „Demokratischen Linkspartei“ (Demokratik Sol Parti, DSP) zunächst nur in kleinen Schritten vorangingen, gelang im August 2002 mit der Verabschiedung eines umfassenden Reformpaketes durch die türkische Nationalversammlung ein entscheidender Durchbruch für die EU-Qualifizierung des Landes. Das Reformpaket sah die Abschaffung der Todesstrafe ebenso vor wie die Einführung von Rundfunk- und Fernsehsendungen in „Sprachen und Dialekten, die traditionell von türkischen Bürgern im Alltag benutzt werden“ (zitiert nach: Kramer, Reinkowski 2008, S. 168), was einer Legalisierung der kurdischen Sprache jenseits des Alltagsgebrauchs gleichkam. Nach ihrem überwältigenden Sieg bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 3. November 2002 setzte die Regierung der muslimisch-konservativen „Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei“ (Adalet ve Kalknma Partisi, AKP), zunächst unter Ministerpräsident Abdullah Gül und ab 1. März 2003 dann unter Recep Tayyip Erdoan, den Reformkurs fort. Eine Reihe von Gesetzesänderungen und Verfassungsreformen wurde unternommen, um sich den Erwartungen der EU hinsichtlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anzunähern. Außerdem befürwortete die Regierung Erdoan, gegen den Widerstand des Militärs sowie national-kemalistischer und extrem nationalistischer Kreise, den Plan des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan, zur Lösung des ZypernKonflikts. Bei den am 24. April 2004 abgehaltenen Referenden stimmte der türkische Norden der Insel zu mehr als zwei Drittel für den Plan Annans. Im griechischen Süden Zyperns wurde er jedoch abgelehnt und scheiterte demzufolge. Beim Brüsseler Gipfel am 17. und 18. Juni signalisierten die europäischen Staats- und Regierungschefs der Türkei schließlich, dass sie Ende 2004 mit einem positiven Beschluss des Rates für die Aufnahme von Verhandlungen ab
jeweiligen Beben griechische Helfer in die Türkei und türkische Helfer nach Griechenland. Die so demonstrierte gegenseitige Solidarität in der Katastrophenhilfe führte zu einer deutlichen Verbesserung der politischen Beziehungen beider Länder und auch zu einer zunehmend positiven Haltung Griechenlands gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei. Ausschlaggebend war weiterhin der 1998 erfolgte Machtwechsel in Deutschland: Die rot-grüne Bundesregierung zeigte sich entschlossen, den EU-Beitrittsprozess der Türkei voranzutreiben. 403 Die Beitrittspartnerschaft trat am 8. März 2001 in Kraft und wurde seitdem dreimal – 2003, 2006 und 2008 – überarbeitet.
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4 Fallstudien
2005 rechnen könne, wenn sie ihre Reformen so energisch wie bisher fortführe.404 Die hier untersuchte Fallstudie beginnt unmittelbar im Anschluss an diese Ereignisse: Sie umfasst den Zeitraum von Juli 2004 bis Juni 2007. Im September 2004 sorgte die türkische Strafrechtsreform noch einmal für politischen Zündstoff. Die Reform sollte unter anderem die Meinungsfreiheit und die Rechte der Frauen stärken sowie Folter unterbinden. Während all diese Maßnahmen sehr im Sinne der EU waren, schockierte jedoch die mit der Strafrechtsreform ebenfalls geplante Kriminalisierung des Ehebruchs die europäische Öffentlichkeit. Der Streit eskalierte, als Ministerpräsident Erdoan die EU aufforderte, sich nicht in „innere Angelegenheiten“ einzumischen: „Wir sind die Türkei und wir sind Türken. Wir treffen im Parlament unsere eigenen Entscheidungen.“405 Obwohl die Türkei schließlich einlenkte und Ehebruch nicht unter Strafe stellte, wurde diese Aufforderung zur Nichteinmischung von vielen Beobachtern als ein Zeichen gewertet, dass die Türkei in letzter Konsequenz nicht bereit sei, Kompetenzen an die EU abzutreten (vgl. Weidenfeld 2006a, S. 22). Trotz dieser zeitweiligen Verstimmungen stellte die Europäische Kommission in ihrem Fortschrittsbericht vom 6. Oktober 2004 eine hinreichende Erfüllung der Kriterien von Kopenhagen fest und empfahl dem Europäischen Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die europäischen Staats- und Regierungschefs folgten dieser Empfehlung und beschlossen bei ihrem Treffen vom 16. und 17. Dezember 2004 in Brüssel einstimmig die Aufnahme der Gespräche zum 3. Oktober 2005. Als Ziel der Verhandlungen wurde ausdrücklich der Beitritt der Türkei genannt – nicht etwa eine „Privilegierte Partnerschaft“. Namentlich Österreichs Bundeskanzler Schüssel hatte sich noch im unmittelbaren Vorfeld des Dezember-Gipfels klar gegen einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen und auf die Benennung von Alternativen zur Vollmitgliedschaft als Verhandlungsziel gedrängt.406 Für die Türkei war hingegen die Vollmitgliedschaft die einzig akzeptable Zielsetzung: Aufgrund der bereits sehr engen Verbindungen zur EU durch die Zollunion, den intensiven politischen 404 Obwohl das Türkei-Thema durchaus auf der medialen Tagesordnung stand, spielte es in den parteipolitischen Kampagnen zur Europawahl am 13. Juni 2004 nur eine untergeordnete Rolle. Vgl. Esser et al. 2005, S. 73. 405 Erdoan, zitiert nach: Offener Konflikt zwischen EU und der Türkei. In: Süddeutsche Zeitung, 18.09.2004, S. 1. 406 Österreich nutzte im Verhandlungsprozess immer wieder die Drohung, die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Türkei zu torpedieren, um eine gleichzeitig Aufnahme von Gesprächen mit Kroatien zu bewirken. Die Verhandlungen mit Kroatien, die schließlich ebenfalls am 3. Oktober 2005 begannen, sollten aufgrund mangelnder Kooperation des Landes mit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verschoben werden. Um seine einflussreiche Rolle im Balkan zu sichern, setzte sich Österreich in dieser Frage sehr engagiert für Kroatien ein. Vgl. Seufert 2007, S. 454.
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Dialog und auch die schon bestehende enge Verflechtung im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik erschien die Option einer Privilegierten Partnerschaft aus türkischer Sicht wenig attraktiv. In einer kompromisshaften Formulierung wies der Ratsbeschluss erstmals explizit auf die Ergebnisoffenheit der Verhandlungen hin und räumte die Möglichkeit zu langen Übergangszeiten, Ausnahmeregelungen, spezifischen Vereinbarungen und dauerhaften Schutzklauseln ein. Außerdem verständigten sich die Staats- und Regierungschefs darauf, dass die Beitrittsverhandlungen nicht vor einer Einigung über die Finanzielle Vorausschau für die Zeit ab 2014 abgeschlossen werden. Auf Vorschlag der Kommission wurde zudem eine Ausstiegsklausel eingeführt: Bei schwerwiegenden und anhaltenden Verletzungen der Werte, auf die sich die EU gründet (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte etc.) hat die Kommission die Möglichkeit, von sich aus oder auf Antrag von einem Drittel der Mitgliedstaaten, die Aussetzung der Verhandlungen zu empfehlen. Ein entsprechender Beschluss kann vom EU-Ministerrat – im Gegensatz zum Einstimmigkeitsgebot bei sonstigen Entscheidungen im Verhandlungsprozess – mit qualifizierter Mehrheit und somit auch gegen den Willen einzelner Mitgliedstaaten getroffen werden. Diese Ausstiegsklausel sollte die Kritiker eines EU-Beitritts beruhigen und zugleich der Türkei signalisieren, dass die EU die Nachhaltigkeit ihrer Reformbemühungen äußerst wachsam beobachten würde (vgl. Weidenfeld 2006a, S. 21). Als Vorbedingung der Verhandlungsaufnahme verlangten die Staats- und Regierungschefs der EU von der Türkei weiterhin die Unterzeichnung eines Zusatzprotokolls zum Ankara-Abkommen. Dieses sollte die Ausweitung der bereits bestehenden Zollunion zwischen der EU und der Türkei auf die neuen zehn EU-Mitglieder – einschließlich Zypern – regeln. Hierüber kam es bereits im Dezember 2004 zum Eklat: Die niederländische EU-Ratspräsidentschaft hatte die Türkei gedrängt, das Zusatzprotokoll noch während des Treffens des Europäischen Rates in Brüssel zu paraphieren. Dies wurde von Ministerpräsident Erdoan zunächst strikt zurückgewiesen. Nach heftigen Auseinandersetzungen erklärte sich Erdoan schließlich bereit, vor dem Beginn der Beitrittsverhandlungen ein entsprechendes Protokoll zu unterzeichnen, stellte aber vor allen Teilnehmern des Brüsseler Treffens noch einmal klar, dass eine Unterzeichnung dieses Abkommens keine offizielle Anerkennung der Republik Zypern bedeute.407
407 Vgl. Heinz Kramer: Türkei-Verhandlungen als Spielball der Interessen, 2005. (SWP-Aktuell, 42), S. 5. Online verfügbar unter http://swp-berlin.decenturl.com/spielball, zuletzt geprüft am 29.08.2009.
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Als die Türkei am 29. Juli 2005 das so genannte „Ankara-Protokoll“ unterzeichnete, fügte sie als schriftliche Erklärung bei, dass damit keine Anerkennung Zyperns impliziert sei. Die Türkei wollte ihr Einlenken in der Zypernfrage an die Einhaltung der im April zugesagten EU-Hilfen für die Türken in Nordzypern knüpfen. Diese waren bislang an der Weigerung der zypriotischen Regierung unter Tassos Papadopoulos gescheitert, die hierin eine verdeckte Anerkennung der Administration im türkischen Teil der Insel sah (vgl. Kramer, Reinkowski 2008, S. 173). Die EU bestand ihrerseits auf eine vorbehaltlose Umsetzung des Ankara-Protokolls sowie die Anerkennung Zyperns durch die Türkei. Die zahlreichen Vorbehalte ernüchterten die Beitrittseuphorie in der Türkei und bremsten den Reformeifer. Die Aussicht auf eine sichere Verankerung in der EU war türkischen Reformern stets das schlagkräftigste Argument gewesen, um Modernisierungen durchzusetzen, die vielen konservativen Kräften in der Türkei zu weit gingen. Das Jahr 2005 war von mehreren europäisch-türkischen Unstimmigkeiten geprägt: Im März erregte das gewaltsame Vorgehen der türkischen Polizei gegen Demonstrantinnen am Internationalen Frauentag Kritik. Ende Mai überarbeitete das türkische Parlament erneut das Strafgesetzbuch und nahm einige als zu liberal empfundene Regelungen wieder zurück. Eine Welle der Empörung löste es schließlich aus, als der Schriftsteller Orhan Pamuk unter Berufung auf den besonders umstrittenen Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches wegen Beleidigung des Türkentums angeklagt wurde.408 Das Verfahren gegen Orhan Pamuk wurde Anfang 2006 eingestellt. Härter traf es Hrant Dink, den armenischtürkischen Journalisten und Mitherausgeber der in Istanbul erscheinenden Wochenzeitung „Agos“. Ebenfalls wegen Beleidigung des Türkentums angeklagt wurde er zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, bevor er am 19. Januar 2007 von einem jugendlichen Nationalisten auf offener Straße in Istanbul erschossen wurde. Hundertausende Türken gingen daraufhin auf die Straße, um ihre Solidarität mit Hrant Dink zu bekunden. Auch die türkische Regierung verurteilte die Tat scharf. Türkische und ausländische Medien warfen der Regierung jedoch vor, zur Hetze gegen Hrant Dink beigetragen und ihn trotz Morddrohungen nicht ausreichend geschützt zu haben. Viele europäische Beobachter meldeten Zweifel an der EU-Reife der Türkei an. Sie argumentierten, dass wichtige Grundrechte, wie die Meinungsfreiheit, in der Türkei noch nicht gewährleistet seien. Die türkische Regierung wies aus Europa kommende Proteste wiederholt als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei zurück (vgl. Seufert 2007, S. 453).
408 Am 30. April 2008 stimmte das türkische Parlament einer Revision des Artikels 301 zu, die den Strafrahmen auf höchstens zwei Jahre reduzierte.
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
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Die EU bereitete sich währenddessen weiter auf den Beginn der Beitrittsgespräche vor. Nachdem die Europäische Kommission im Juni 2005 einen Verhandlungsrahmen vorgelegt hatte und sich die EU-Außenminister in Luxemburg auf einen gemeinsamen Rahmentext einigen konnten, wurden die Beitrittsverhandlungen in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober 2005 eröffnet. Die politische Bedeutung dieses Ereignisses war nach Einschätzung von Werner Weidenfeld (2007a, S. 19-20) enorm: „Der Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im Oktober 2005 ist in seiner Tragweite vergleichbar mit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Nicht nur, dass mit der Türkei das künftig bevölkerungsreichste Mitglied aufgenommen wird, mit substantiellen Veränderungen des machtpolitischen Gefüges. Der Kern des Beschlusses zur Türkei bedeutet die Eröffnung eines großen Erweiterungsprozesses, dessen Ende heute rational nicht definiert werden kann.“
Parallel zu den skizzierten Entwicklungen der europäisch-türkischen Beziehungen im Jahr 2005 muss die innereuropäische Krise mitgedacht werden, die durch die im selben Jahr gescheiterten Referenden zum Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden ausgelöst wurde. Die Europäische Kommission versuchte mit einem „Plan D“ für Demokratie, Diskussion und Dialog auf diese Krise zu reagieren. Die europäischen Staats- und Regierungschefs verständigten sich bei ihrem Gipfeltreffen im Juni 2005 erst einmal auf eine „Denkpause“. Die Frage eines EU-Beitritts der Türkei spielte sowohl in der französischen als auch in der niederländischen Referendumskampagne eine bedeutsame Rolle. Angesichts der europaweit vorherrschenden Ablehnung eines Türkeibeitritts durch die Bürger gewann das Thema somit an zusätzlicher Brisanz: Die Gegner eines Beitritts sahen sich durch die negativen Voten bestätigt und die Befürworter scheuten sich zusehends, ihren Standpunkt in der Öffentlichkeit selbstbewusst zu vertreten. Das Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrages hatte aber auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung der EU durch die Türken: Nach dem Beschluss vom Dezember 2004 erhärtete sich in der türkischen Öffentlichkeit das Bild, die EU wolle sich alle Hintertüren offen halten. Gleichzeitig präsentierte sich die EU angesichts der gescheiterten Referenden selbst zunehmend hilflos. „Einerseits werden die Hürden, die das Land von der Vollmitgliedschaft trennen ständig höher, andererseits wird deutlich, dass die EU als politische Einheit zurückgeworfen ist“, resümiert Günter Seufert (2006, S. 449) die Konstellation, die zu einer entsprechenden Neubewertung des Verhältnisses zur EU in der Türkei führte. Die türkische Bereitschaft zu Zugeständnissen von hoher innenpolitischer Sensibilität wurde deutlich geringer. Dies zeigte sich nicht nur am Beispiel des Zypernkonflikts, sondern auch hinsichtlich der europäischen Forderung nach
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4 Fallstudien
einer Anerkennung des Begriffs „Völkermord“ für die 1915 vom osmanischen Innenministerium veranlasste „Umsiedlung“ der Armenier Anatoliens in die Wüste Syriens.409 Mehrere europäische Länder verabschiedeten in ihren Parlamenten Resolutionen zur Anerkennung des Völkermordes. So beschloss etwa die französische Nationalversammlung im Oktober 2006 ein von der PS eingebrachtes Gesetzesprojekt, das eine Leugnung des Genozids unter Strafe stellt. Die türkische Regierung reagierte empört. Sie sprach von einem „feindseligen Akt“410 und drohte Frankreich mit wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen und einem Abbruch der militärischen Kontakte. Aber auch regierungskritische türkische Intellektuelle, wie Hrant Dink und Orhan Pamuk, verurteilten das Gesetz als einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit. Ebenso bezeichnete EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn den Beschluss der Nationalversammlung als kontraproduktiv.411 Der Deutsche Bundestag positionierte sich in dieser Angelegenheit zurückhaltender: Er verabschiedete anlässlich des 90. Jahrestages des Beginns der Vertreibungen einen von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachten Gesetzentwurf mit dem sehr vorsichtig formulierten Titel „Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen.“412 Der Antrag vermied das Reizwort „Völkermord“, betonte die besondere Verantwortung Deutschlands und rief die Bundesregierung auf, dafür einzutreten, dass sich die Türkei mit ihrer historischen Schuld vorbehaltlos auseinandersetzt. Eine Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte der Armenier solle außerdem auch in Deutschland verstärkt erfolgen. CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP unterstützten den Antrag einhellig. Fritz Kuhn (Bündnis 90/Die Grünen) erhielt während der Plenardebatte am 21. April 2005 parteiübergreifend Applaus, als er betonte, dass es sich seiner Ansicht zweifellos um Völkermord handle, dann aber zu bedenken gab:
409 Nach armenischen Angaben kamen hierbei mehr als 1,5 Millionen Armenier ums Leben. Türkische Quellen beziffern die Todesfälle auf 250 000 bis 500 000 – und weisen in diesem Zusammenhang oft darauf hin, dass auch zahlreiche Türken damals von Armeniern getötet worden seien. Vgl. Ankara bricht militärische Kontakte zu Paris ab. In: Süddeutsche Zeitung, 17.11.2006, S. 9. 410 Zitiert nach: Kai Strittmatter: Türkei droht Frankreich mit Sanktionen. In: Süddeutsche Zeitung, 11.10.2006, S. 9. 411 Vgl. EU-Kommissar verurteilt Armenier-Gesetz. In: Süddeutsche Zeitung, 14.10.2006, S. 8. 412 Deutscher Bundestag: Drucksache 15/4933, 22.02.2005. Online verfügbar unter http://dip21. bundestag.de/dip21/btd/15/049/1504933.pdf, zuletzt geprüft am 28.08.2009. Zu den in Bundestagsdebatten geäußerten parteipolitischen Positionierungen und Begründungsmustern hinsichtlich der Frage eines Türkeibeitritts siehe auch weiterführend Hülsse 2004.
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
213
„Wenn wir hier einen Antrag verabschieden, in dem steht, der Deutsche Bundestag stellt fest: es war Völkermord; wir fordern die Türken auf, dies endlich zuzugeben – ich finde es richtig, dass die Union den Begriff Völkermord nicht verwendet hat –, dann würden wir nach meiner festen Überzeugung das Gegenteil von dem erreichen, was wir tatsächlich wollen.“413
Trotz dieser vergleichsweise vorsichtigen Herangehensweise reagierte die türkische Regierung sehr verstimmt auf die Entschließung des Bundestages. In Berlin demonstrierten über tausend türkische Nationalisten gegen die Resolution und die linksliberale türkische Tageszeitung „Radikal“ konstatierte „einen wachsenden antitürkischen Trend in Europa.“414 Für Aufregung in der Türkei wie auch in Europa sorgte im November 2006 der Türkei-Besuch des Papstes. Wegen seiner islamkritischen Rede von Regensburg im September 2006 wurde der Papst in der Türkei mit gemischten Gefühlen empfangen. Dank vieler versöhnlicher Gesten wandelte sich jedoch die Stimmung ins Positive. Ministerpräsident Erdoan verkündete am Rande des Besuches, Papst Benedikt habe ihm versichert, dass er einen EU-Beitritt der Türkei wünsche. Inwieweit Erdoan den Papst korrekt zitierte, blieb umstritten – zumindest dementierte der Vatikan die Aussage nicht.415 Der erste Schritt im Beitrittsprozess, das sogenannte „Screening“, wurde im Herbst 2006 abgeschlossen.416 Eines der insgesamt 35 Verhandlungskapitel, „Wissenschaft und Forschung“, wurde im Juni 2006 geöffnet und vorläufig geschlossen. Da die Türkei jedoch das Zusatzprotokoll zum Ankara-Abkommen immer noch nicht ratifiziert und vorbehaltlos umgesetzt hatte, beschloss der Rat im Dezember 2006, acht besonders essenzielle Verhandlungskapitel417 nicht zu öffnen und kein Kapitel vorläufig zu schließen, bis die Türkei ihren Verpflichtungen nachkommt. Im März 2007 wurde das Kapitel „Unternehmens- und Industriepolitik“ geöffnet, im Juni desselben Jahres folgten die Kapitel „Finanzkontrolle“ und „Statistiken“. Nach dem Ende der hier untersuchten Fallstudie folgte noch die Öffnung weiterer Verhandlungskapitel. 413 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 15/172, 21.04.2005, S. 16131. Online verfügbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/15/15172.pdf, zuletzt geprüft am 28.08.2009. 414 Zitiert nach: Christiane Schlötzer: Türkei: Armenier-Resolution falsch und hässlich. In: Süddeutsche Zeitung, 18.06.2005, S. 7 415 Vgl. Kai Strittmatter: Große Wunder, kleine Wunder. In: Süddeutsche Zeitung, 01.12.2006, S. 3. 416 Das „Screening“ vergleicht das europäische Recht mit der Gesetzgebung des jeweiligen Beitrittskandidaten. Auf Basis des entsprechenden Kommissionsberichtes entscheiden danach die Mitgliedstaaten Kapitel für Kapitel, ob der Beitrittskandidat eingeladen werden kann, seine Verhandlungsposition zur Eröffnung des Kapitels vorzulegen. 417 Die acht Kapitel sind im Einzelnen: Freier Warenverkehr, Niederlassungsrecht und freier Dienstleistungsverkehr, Finanzdienstleistungen, Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Fischerei, Verkehr, Zollunion und Auswärtige Beziehungen.
214
4 Fallstudien
4.3.1 Deutschland: Die Fremden im eigenen Land Staatsangehörige aus der Türkei stellen über ein Viertel der in Deutschland lebenden Ausländer und sind damit die weitaus größte ausländische Personengruppe.418 Angeworben als „Gastarbeiter“ wanderten viele von ihnen in den 1950er, 1960er oder 1970er Jahren ein, brachten Familienangehörige mit oder gründeten Familien. 84,7 Prozent der in Deutschland lebenden Türken sind den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes zufolge bereits seit zehn Jahren oder länger hier.419 Die Türken müssten den Deutschen also gut vertraut sein – so könnte man meinen. Die Realität sieht anders aus: Sprachliche Barrieren, eine mangelnde Kenntnis türkischer Traditionen, wiederkehrende Medienberichte über „Ehrenmorde“ mitten in Deutschland – all das trägt dazu bei, dass vielen Deutschen die Türken im eigenen Land fremd geblieben sind (vgl. Demesmay, Weske 2007b; Sen 2007). Hinzu kommt der Umstand, dass in Deutschland eine große kurdische Diaspora lebt.420 Insbesondere der Prozess von Abdullah Öcalan421 erregte durch kurdische Demonstrationen in Deutschland das Interesse der breiten Bevölkerung. Der türkische Umgang mit den kurdischen Minderheiten ebenso wie die noch bis 2002 in der Türkei bestehende Todesstrafe, die Öcalan bis zu deren Abschaffung zu fürchten hatte, halfen nicht, um das Vertrauen der Deutschen in die EU-Reife der Türkei zu befördern. Die Idee, dass die Türkei politisch, kulturell, historisch und geographisch einfach nicht in die EU passe, wurde in der deutschen öffentlichen Debatte auch von wissenschaftlicher Seite immer wieder pointiert vertreten. Vor allem die Historiker Heinrich August Winkler und Hans-Ulrich Wehler äußerten öffentlichkeitswirksam ihre Überzeugung, dass die Türkei nicht in die EU aufgenommen werden sollte.422 418 Gemäß Ausländerzentralregister waren am 31. Dezember 2008 die Staatsangehörigen aus der Türkei mit 1.688.370 Personen (25,1 Prozent) die mit Abstand größte ausländische Personengruppe in Deutschland. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Ausländerzahlen 2008, S. 9. Online verfügbar unter http://bamf.decenturl.com/statistik, zuletzt geprüft am 03.08.2009. 419 Ebenda, S. 12. 420 Das Zentrum für Kurdische Studien beziffert den Anteil der in Deutschland lebenden Kurden auf über 600.000. Navend Zentrum für Kurdische Studien e. V.: Kurden: Migration. Online verfügbar unter http://www.navend.de/html/kurden/migration.htm, zuletzt geprüft am 04.06.2009. 421 Der Widerstand der kurdischen Bevölkerung gegen den kemalistischen nationalen Homogenisierungsanspruch kulminierte Anfang der achtziger Jahre im bewaffneten Kampf der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für eine kurdische Unabhängigkeit von der Türkei. PKKFührer Öcalan wurde 1999 verhaftet und zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde 2002 mit der Aufhebung der Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt. 422 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Das Türkenproblem. In: Die Zeit, 12.09.2002, S. 9; Heinrich August Winkler: Soll Europa künftig an den Irak grenzen? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
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4.3.1.1 Die Meinung der Medien Im Zeitraum der Fallstudie vom 1. Juli 2004 bis zum 30. Juni 2007 veröffentlichte die SZ 69 und die FAZ 97 Kommentare zum Thema Türkeibeitritt (Abbildung 4.15). Intensität der Kommentierung im Zeitverlauf SZ
FAZ
30 25 20 15 10 5 0 07/04 08/04 09/04 10/04 11/04 12/04 01/05 02/05 03/05 04/05 05/05 06/05 07/05 08/05 09/05 10/05 11/05 12/05 01/06 02/06 03/06 04/06 05/06 06/06 07/06 08/06 09/06 10/06 11/06 12/06 01/07 02/07 03/07 04/07 05/07 06/07
Anzahl der Kommentare
SZ+FAZ
Monat/ Jahr
Abbildung 4.15: Kommentierung zum EU-Beitritt der Türkei in SZ und FAZ
Vor allem die FAZ, aber auch die SZ kommentierten intensiv die im Oktober 2004 ausgesprochene Empfehlung der Europäischen Kommission, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Beide Zeitungen publizierten in diesem Monat die meisten Kommentare. Die Entscheidung des Europäischen Rates im Dezember 2004, zum 3. Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, wurde von den beiden Medien ebenfalls aufmerksam verfolgt. Rege kommentierten die Zeitungen weiterhin von März bis Juni 2005: Die Referenden zum Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden im Mai bzw. Juni lösten auch in Deutschland eine verstärkte Debatte über Europa aus. Mittelbar war davon auch die Frage eines Türkeibeitritts betroffen. Im Mai 2005 war außerdem noch der Besuch von Bundeskanzler Schröder in der Türkei Gegenstand mehrerer Artikel. Die durch die gescheiterten Referenden zum Europäischen Verfassungsvertrag ausgelöste europäische Krisenstimmung bestimmte im Juni die Agenda der Medien. Immer wieder wurde die Frage auf11.12.2002, S. 9, Heinrich August Winkler: Wir erweitern uns zu Tode. In: Die Zeit, 07.11.2002, S. 6.
216
4 Fallstudien
geworfen, inwieweit die Türkeifrage für die Referendumsniederlagen mit verantwortlich war. Bis September 2005 hatten die untersuchten Artikel vor allem die innenpolitischen Reformen der Türkei sowie den sich zuspitzenden Konflikt um die Anerkennung Zyperns durch die Türkei zum Inhalt. Im Oktober zog die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen die Aufmerksamkeit an sich. Während des Jahres 2006 ebbte die Kommentierung ab, erst im Winter nahm die mediale Beachtung wieder zu. Viel kommentierte Ereignisse waren der Besuch von Bundeskanzlerin Merkel in Ankara, der weiter schwelende Konflikt um die Anerkennung Zyperns sowie, vor allem in der FAZ, der Besuch des Papstes in der Türkei. Nach dem Treffen des Europäischen Rates im Dezember 2006 reduzierte sich die mediale Kommentierung bis zum Ende der Fallstudie auf unter fünf Artikel im Monat. Während das Ausmaß der Kommentierung in FAZ und SZ ähnliche Tendenzen aufwies, unterschieden sich beide Medien in ihrer Bewertung des Politikziels „Türkeibeitritt“. Die SZ publizierte 13 befürwortende, sechs ablehnende und 50 ambivalente Kommentare. Die FAZ hingegen veröffentlichte im gesamten Untersuchungszeitraum keine einzige redaktionelle Meinungsäußerung, die einen EU-Beitritt der Türkei uneingeschränkt befürwortete. 44 Kommentare sprachen sich offen gegen einen Beitritt der Türkei aus, 53 Kommentare waren ambivalent. Diese klare Positionierung der FAZ wirkte sich auch auf die Gesamtwertung von SZ und FAZ aus: Negative Kommentare überwogen deutlich (Abbildung 4.16). Medienmeinung
SZ+FAZ
FAZ
SZ
-45
-30
-15
0
15
30
45
Saldo der Bewertungen
Abbildung 4.16: Bewertung des Politikziels „EU-Beitritt der Türkei“ durch SZ und FAZ
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
217
Das Regierungshandeln in der Türkeifrage wurde von beiden Medien erstaunlich ähnlich bewertet: Obwohl die SZ einen Türkeibeitritt tendenziell befürwortete, während die FAZ ihn massiv ablehnte, beurteilten doch beide das Handeln der Regierung Schröder eher negativ und das Handeln der Regierung Merkel eher positiv. Für die Zeit der rot-grünen Bundesregierung galt: Jene, die eine EUMitgliedschaft der Türkei ablehnten, kritisierten Bundeskanzler Schröder offen für seinen beitrittsfreundlichen Kurs, die Befürworter hingegen lobten die rotgrüne Regierung nicht dafür – meist erwähnten sie die Bundesregierung gar nicht, sondern brachten ganz einfach diverse Argumente für einen Türkeibeitritt vor. Nach dem Regierungswechsel erzielte Bundeskanzlerin Merkel mit ihrem Konzept der Privilegierten Partnerschaft eine positive Resonanz bei den Beitrittsgegnern. Außerdem brachte ihr die Ausgewogenheit ihres Kurses Pluspunkte ein. Radikal ablehnende Positionen, wie sie vor allem aus den Reihen der CSU formuliert wurden, stießen selbst bei den Beitrittsgegnern auf Kritik. Merkel hingegen verhalte sich „wesentlich vernünftiger als ihr bayerischer Duz-Freund: Klar in den Forderungen, aber offen für weitere Gespräche“423, urteilte ein Kommentator der SZ. Sowohl SZ als auch FAZ betonten mehrfach die „schicksalhafte Tragweite“424 der Angelegenheit. Es handle sich um ein „Jahrtausendthema“425, um eine Entscheidung von „epochaler Bedeutung“426. Vor allem die Gegner, aber auch die Befürworter eines Beitritts bemängelten den Mangel an Vision in der Europapolitik. Der Türkeibeitritt sei eine Flucht nach vorne. Man habe kein tragfähiges Alternativkonzept, also betreibe man die Erweiterung immer weiter. Die SZ beklagte: „Was in all der Auseinandersetzung – ob nun in Deutschland, bei den EU-25 oder in der Türkei – schmerzlich fehlt, ist eine ehrliche Aussage darüber, wie dieses nach Identität suchende Europa eigentlich aussehen soll und was es noch zu leisten vermag mit dann vielleicht 30 Mitgliedern.“427 Und an anderer Stelle: „Eigentlich müsste die EU eine andere Frage beantworten, bevor an diesem Montag die Beitrittsgespräche beginnen: Welcher Union soll die Türkei eigentlich beitreten?“428 Von vielen Gegnern einer türkischen Vollmitgliedschaft wurde die Idee einer Privilegierten Partnerschaft als sinnvolle Alternative angepriesen.429 Die Türkei sei ein respektierter Partner und man wolle sie gerne unterstützen, doch 423 424 425 426 427 428 429
Nico Fried: Der Erdogan aus Wolfratshausen. In: Süddeutsche Zeitung, 08.11.2006, S. 4. Stefan Kornelius: Die Risiko-Entscheidung. In: Süddeutsche Zeitung, 16.12.2004, S. 4. Georg Paul Hefty: Hilflos. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.09.2006, S. 10. Stefan Kornelius: Die überdehnte Union. In: Süddeutsche Zeitung, 08.09.2004, S. 4. Türkei in der Warteschleife. In: Süddeutsche Zeitung, 16.09.2005, S. 4. Stefan Kornelius: Im Klub der Heuchler. In: Süddeutsche Zeitung, 01.10.2005, S. 4. Vgl. Berthold Kohler: Schröders Striche. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.2005, S. 14; Reinhard Müller: Privilegiert. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2005, S. 10.
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4 Fallstudien
den innenpolitischen Reformprozess könne ihr die EU nicht abnehmen – wer dies glaube, überschätze die Kräfte der EU.430 „Die Folter bekämpfen und Rechtsstaatlichkeit praktizieren kann man auch in enger freundschaftlicher Bindung an Europa“431, so die FAZ. Gelegentlich wurde das Argument angeführt, eine Privilegierte Partnerschaft sei letztlich auch für die Türkei besser als eine Vollmitgliedschaft, denn den Türken sei vielleicht gar nicht bewusst, auf was sie sich mit einer Vollmitgliedschaft einließen. Schließlich impliziere ein EU-Beitritt nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten und sei mit empfindlichen Souveränitätsverlusten verbunden.432 Die Befürworter einer türkischen EU-Mitgliedschaft bestanden hingegen darauf, dass Gespräche mit dem Ziel des Beitritts geführt werden müssten, sonst würden die Gespräche zur Farce.433 Die später auch vertraglich festgehaltene Formel von der „Ergebnisoffenheit“ der Gespräche wurde von beiden Lagern überwiegend als akzeptabler Kompromiss bewertet. Sowohl die Gegner als auch die Befürworter einer türkischen EU-Mitgliedschaft sprachen sich in überwältigender Mehrheit gegen die von CDU und CSU geplante Unterschriftenaktion gegen den Türkeibeitritt aus. Es handle sich hier um „populistischen Unfug“434, so die SZ, und auch die FAZ hielt, trotz ihrer beitrittskritischen Grundhaltung, eine Unterschriftenaktion nicht für das geeignete Mittel: „Eine Unterschriftenaktion würde falsche Erwartungen wecken und den Appetit auf Plebiszite nur noch verstärken.“435 Die parlamentarische Demokratie biete genügend Möglichkeiten zur Rückkopplung an das Volk, so der Grundtenor der FAZ. Konsequenterweise warb die FAZ dafür, die Türkeifrage zum Wahlkampfthema zu machen: „Das Türkei-Thema will Stoiber nun lieber in das Zentrum eines Wahlkampfs rücken; das ist löblich, denn dort gehören Schicksalsfragen hin.“436 Im Wahlkampf könnten die verschiedenen Lager öffentlich ihre Argumente austauschen und um Zustimmung werben, so die FAZ: „Schröder kann als Hauptpatron des türkischen Beitrittswunsches auf den Plätzen begründen, warum eine Mitgliedschaft von Vorteil sei, die Opposition, welche Gefahren für den Bestand der EU davon ausgingen – und warum eine privilegierte Partnerschaft
430 Nikolas Busse: Das türkische Geschäft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.08.2004, S. 1. 431 Wolfgang Günter Lerch: Erfolg für Erdogan. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2004, S. 1. 432 Vgl. Die ehrlichen Zweifel. In: Süddeutsche Zeitung, 14.12.2004, S. 4. 433 Vgl. Christiane Schlötzer: Der türkische Traum. In: Süddeutsche Zeitung, 13.12.2004, S. 4. 434 Stoiber allein zu Haus. In: Süddeutsche Zeitung, 15.10.2004, S. 4. 435 Stefan Dietrich: Vorstellungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2004, S. 1. 436 Berthold Kohler: Beigedreht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.2004, S. 1.
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
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sinnvoll wäre.“437 Die SZ drückte sich in diesem Punkt deutlich zurückhaltender aus. Die Vor- und Nachteile eines Beitritts müssten selbstverständlich diskutiert werden, aber bitte „seriös“438 und nicht geleitet von machtpolitischen Erwägungen. Eine Politisierung im Wahlkampf sei weder sinnvoll noch Gewinn versprechend: „Stoiber und Koch, aber auch Merkel begehen dabei zwei Fehler: Erstens überschätzen sie das Potential des Türkei-Themas für einen Wahlkampf. Zweitens unterschätzen sie den möglichen Schaden.“439 Zahlreiche Kommentare widmeten sich dem Zypernkonflikt. Die Bewertungen dieses Konflikts variierten je nach Autor und aktuellem Geschehen. Ein Teil der Kommentare betonte, dass die Zypernfrage gelöst werden müsse und sah dabei die Türkei in der Pflicht.440 Andere wiederum betrachteten es als einen schweren Fehler, dass man ein gespaltenes Zypern in die EU aufgenommen habe, da Zypern nun als Blockierer auftreten könne, was gegenüber der türkischen Seite zutiefst unfair sei.441 Ein dritter Teil der Kommentare argumentierte schließlich, dass die Zypernfrage im Grunde nur ein Platzhalterkonflikt sei, der von jenen Staaten dankbar aufgegriffen werde, die die Türkei nicht in der EU haben wollten.442 Keiner der Kommentatoren ließ Zweifel an seiner pro-europäischen Gesinnung aufkommen. Besondere Betonung fand dieser Aspekt bei den Gegnern eines Türkeibeitritts: Wer für Europa sei, müsse gegen einen Türkeibeitritt sein, so die Grundlinie der Argumentation. Die EU habe die Osterweiterung noch nicht ganz verkraftet, es gäbe ohnehin schon Überdehnungserscheinungen, ein Schwinden an Gemeinschaftsgefühl und aufkeimende Nationalismen. Ein Beitritt der Türkei würde all dies noch verschlimmern.443 Die FAZ schrieb: „Die Erweiterung der Union um die Türkei führt schnurstracks in die Überdehnung; die Gemeinschaft, die ihre Grenzen ignoriert, franst aus, ihr innerer Zusammenhalt wird porös, und die politische Union […] wird unerreichbar bleiben […]. Ein Bei-
437 Klaus-Dieter Frankenberger: Auf den Plätzen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.05.2005, S. 8. 438 Falsche Adresse. In: Süddeutsche Zeitung, 06.12.2004, S. 4. 439 Nico Fried: Geschluckt, aber nicht verdaut. In: Süddeutsche Zeitung, 11.12.2006, S. 4. 440 Vgl. Martin Winter: Härte zeigen. In: Süddeutsche Zeitung, 02.11.2006, S. 4; Klaus-Dieter Frankenberger: Beginn. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.06.2006, S. 1. 441 Vgl. Christiane Schlötzer: Zyprische Verhinderer. In: Süddeutsche Zeitung, 13.06.2006, S. 4; Wolfgang Günter Lerch: Angebot. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.2006, S. 1. 442 Vgl. Türkei in der Warteschleife. In: Süddeutsche Zeitung, 16.09.2005, S. 4; Günther Nonnenmacher: Europa-Tief. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.07.2005, S. 10. 443 Vgl. Nikolas Busse: Das türkische Geschäft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.08.2004, S. 1; Stefan Ulrich: Abschied von Europa. In: Süddeutsche Zeitung, 26.10.2004, S. 4.
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4 Fallstudien tritt der Türkei – der ihr, das stimmt, vor vielen Jahren versprochen wurde – wäre der Anfang der Auflösung der Union.“444
Die Idee einer Politischen Union sei mit einem Beitritt der Türkei endgültig zu begraben, darin waren sich die Gegner eines Beitritts einig.445 Immer wieder wurden der Türkei auch konkrete Mängel bei den Reformen, vor allem beim Schutz der Menschenrechte vorgeworfen.446 Dies trifft jedoch nicht den Kern der Kritik: Viele Beitrittsgegner äußerten sich wertschätzend über die bereits erreichten Erfolge der Türkei. Das Problem lag nach Ansicht der meisten Skeptiker auf einer viel grundsätzlicheren Ebene. Unabhängig vom Stand der türkischen Reformen sei die EU schlicht nicht aufnahmebereit: „Vielleicht mag das Land bald reif sein für den Beitritt – die EU ist es nicht“447, so die SZ. Die Überzeugung, dass die Türkei nun mal nicht zu Europa gehöre, wurde zum Teil offen und zum Teil subtil zum Ausdruck gebracht. Die subtile Variante bestand darin, Begriffe wie „das kleinasiatische Land“ als Synonym für „Türkei“ zu verwenden.448 Offen wurde aber auch die Besorgnis ausgesprochen, dass den Beitrittsgesuchen anderer Staaten kaum mehr etwas entgegengehalten werden könne, lasse man einmal ein nicht-europäisches Land in die EU hinein: „Das wird es künftig schwieriger machen, Aufnahmebegehren abzuwehren – beispielsweise jene, die noch aus dem nördlichen Afrika und aus dem Nahen Osten kommen könnten, oder von weiteren Anwärtern aus dem ehemaligen Sowjetreich in Osteuropa bis hinunter zum Kaukasus, vielleicht sogar von Russland selbst.“449
Fraglich sei zudem, „ob die Aufnahme eines so bevölkerungsreichen islamischen Staates nicht das Terrorismusrisiko in den derzeitigen Mitgliedstaaten spürbar erhöhen würde. […] Das würde potentiellen Gewalttätern einen Zugang zu Europa eröffnen, von dem sie heute nur träumen können.“450 Nicht nur geographisch, auch kulturell-religiös sei die Türkei den Europäern fremd,451 wurde 444 Klaus-Dieter Frankenberger: Farce und Schwindel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.2004, S. 1. 445 Vgl. Klaus-Dieter Frankenberger: Schöner Abschied. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.09.2004, S. 1. 446 Vgl. Wolfgang Günter Lerch: Menschenrechte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.11.2004, S. 14; Kai Strittmatter: Ein vorhersehbarer Unfall. In: Süddeutsche Zeitung, 20.09.2006, S. 4. 447 Stefan Kornelius: Die überdehnte Union. In: Süddeutsche Zeitung, 08.09.2004, S. 4. 448 Vgl. Berthold Kohler: Die Türkei-Täuscher. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.10.2004, S. 12. 449 Günther Nonnenmacher: Eine schicksalhafte Entscheidung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2004, S. 1. 450 Nikolas Busse: Das türkische Geschäft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.08.2004, S. 1. 451 Vgl. Klaus-Dieter Frankenberger: Fahrplan. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.03.2007, S. 1.
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
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argumentiert. Während jedoch die FAZ forderte, die EU müsse sich zu ihren christlichen Werten bekennen,452 hielt die SZ religiöse Argumente für nicht schlagkräftig, um den Türkeibeitritt abzulehnen: Die EU sei kein „Christenclub“453. Die Kommentatoren beider Zeitungen betonten die Ablehnung eines EUBeitritts der Türkei durch die Bevölkerung. Anders als bei den Euro-Fallstudien, wo vor allem die deutsche Öffentlichkeit im Mittelpunkt stand, wurde der Vorwurf der Bürgerferne hier nun verstärkt auch europäisch formuliert: Nicht nur die Deutschen, die Europäer allgemein seien in ihrer Mehrheit gegen einen Beitritt der Türkei.454 Ein FAZ-Kommentator befand resigniert: „Aber was haben die Bevölkerungen in ihrem bornierten Kleinmut schon zu sagen, wenn der Weltgeist plant.“455 Andere Artikel gaben sich kämpferisch und überzeugt davon, dass die Regierungschefs einen solchen öffentlichen Widerstand nicht mehr einfach ignorieren könnten: „Denn so einfach per Verkündung von einem hohen Gipfel wird es den Staats- und Regierungschefs nicht gelingen, die Türkei vom äußersten Rande des Kontinents in die Mitte Europas zu führen. […] So wie anno 1991, also bei der Entscheidung zum Euro, lässt sich heute in Europa keine Politik mehr machen.“456
Ähnlich hieß es an anderer Stelle: „Die Politiker werden hinhören müssen, wenn sie nicht nur die EU, sondern auch ihre Macht daheim erhalten wollen. Die Zeit ist vorbei, in der die Erweiterungen ein Spiel der Regierungen waren […], das die Zumutungen an die eigenen Völker außer Acht ließ. Doch die mögen die EU inzwischen so sehr, dass sie sich um sie sorgen.“457
In engem Zusammenhang mit der oft thematisierten Skepsis der Bürger wurde vor allem in der FAZ mehrfach das Argument vorgebracht, ein Beitritt der Türkei erschwere die Herausbildung einer europäischen Identität: Die EU-Bürger
452 Vgl. Klaus-Dieter Frankenberger: Mutlos. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.01.2005, S. 10. 453 Stefan Kornelius: Die überdehnte Union. In: Süddeutsche Zeitung, 08.09.2004, S. 4. 454 Vgl. Stefan Ulrich: Abschied von Europa. In: Süddeutsche Zeitung, 26.10.2004, S. 4; Berthold Kohler: Die Türkei-Täuscher. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.10.2004, S. 12; Christiane Schlötzer: Der türkische Traum. In: Süddeutsche Zeitung, 13.12.2004, S. 4. 455 Wolfgang Günter Lerch: Eurasische Märkte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.09.2004, S. 1. 456 Christian Wernicke: Das große Aber. In: Süddeutsche Zeitung, 18.12.2004, S. 4. 457 Martin Winter: Aus Liebe zu Europa. In: Süddeutsche Zeitung, 17.03.2006, S. 4.
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4 Fallstudien
verspürten einfach kein „Wir-Gefühl“ mit den Türken.458 Die Türkei sei „zum Synonym für eine Union geworden, deren territoriales Ausgreifen mit Überdehnungsrisiko die Identitätsbedürfnisse der Bürger ignoriert.“459 Dies sei nicht zuletzt auch für ein Scheitern der Referenden über den Verfassungsvertrag mit verantwortlich gewesen. Die FAZ fürchtete gar die Möglichkeit, dass heutige Mitgliedstaaten, wie etwa Frankreich, aus der EU austreten könnten, triebe man den Beitrittsprozess der Türkei weiter voran: „Niemand weiß, welche Wirkung nach dem Abschluss der Verhandlungen eventuelle Volksabstimmungen in den einzelnen Mitgliedsländern noch haben. Es ist kein blanker Pessimismus, anzunehmen, dass das ablehnende Votum eines Volkes eher zum Austritt des eigenen Landes aus der EU als zur endgültigen Verhinderung des Beitritts der Türkei führen wird.“460
Wiederholt fand sich die Überzeugung, es könne „kein ‚Innen‘ geben, das sich nicht einem ‚Außen‘ gegenüber abgrenzt. Ein Beitritt der Türkei würde das Selbstverständnis der Mehrzahl der Europäer schlicht und einfach überfordern.“461 „[D]ie Befürworter eines Beitritts sollten sich mit den Argumenten der Gegner auseinandersetzen anstatt die Moralkeule zu schwingen“462, schrieb die SZ und brachte damit ein zentrales Anliegen vieler beitrittskritischer Kommentare zum Ausdruck. Die Frage, ob ein EU-Beitritt der Türkei sinnvoll sei – für die EU und für die Türkei – war ihrer Ansicht nach nicht ausreichend diskutiert worden.463 Zahlreiche Kommentare warfen den Beitrittsbefürwortern Heuchelei und Täuschung vor. Sie selbst beanspruchten für sich, „die Wahrheit“ zu benennen.464 Es zeuge von einem Mangel an Mut und politischer Redlichkeit, wenn man neben den Chancen nicht auch die Risiken eines solchen Unterfangens klar
458 Vgl. Günther Nonnenmacher: Eine schicksalhafte Entscheidung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2004, S. 1. 459 Klaus-Dieter Frankenberger: Innerfranzösisch? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.05.2005, S. 10. 460 Georg Paul Hefty: Primat der Türkei-Politik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.2004, S. 1. 461 Günther Nonnenmacher: Das Publikum verlässt den Saal. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.06.2005, S. 1. 462 Kurt Kister: Gesten statt Politik. In: Süddeutsche Zeitung, 12.10.2004, S. 4. 463 Vgl. Nikolas Busse: Das türkische Geschäft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.08.2004, S. 1 464 Klaus-Dieter Frankenberger: Farce und Schwindel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.2004, S. 1, Klaus-Dieter Frankenberger: Über die Grenze hinaus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.2004, S. 1; Günther Nonnenmacher: Neunmalklug. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.11.2006, S. 12.
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
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bezeichne.465 Stattdessen würden zu möglichen positiven Auswirkungen des Beitritts „Seifenblasen der Hoffnung produziert.“466 Bundeskanzler Schröder wolle ein Diskussionsverbot: Zweifler würden entweder in die rassistische Ecke gestellt oder aber mit dem Argument zu beruhigen versucht, dass die endgültige Entscheidung erst in vielen Jahren anstehe.467 Unmittelbar daran knüpfte ein weiterer Argumentationsstrang an: Im Grunde sei schon alles entschieden: „Die Wahrheit ist, dass Ankara im Dezember wohl einen Termin für Beitrittsgespräche genannt bekommt. Dann wird es schnell gehen. Die Sache ist bei den Eliten längst beschlossen.“468 Und seien die Verhandlungen erst einmal eröffnet, so würden sie eher früher als später zum EU-Beitritt der Türkei führen.469 Denn, so fragte die FAZ: „Wer sollte in fünf oder zehn Jahren ‚nein‘ zu Ankara sagen, wenn der Mut dazu jetzt schon fehlt?“470 Die Befürworter eines Türkeibeitritts zogen die Kraft ihrer Argumente oft aus den dramatischen Schilderungen möglicher Folgen, die eine Ablehnung der Türkei mit sich bringen könnte. „Dem Land in einer Rolle rückwärts die Perspektive einer Mitgliedschaft zu rauben, wäre unredlich und riskant“471, so die SZ. Die befürchteten Folgen bezogen sich zum einen auf die innere Entwicklung der Türkei. Die begonnenen Reformen würden gefährdet werden und vor allem den Menschrechtlern falle man in den Rücken, wenn man der Türkei eine Beitrittsperspektive versage: „Gerade die Kämpfer für die Menschenrechte in der Türkei brauchen Europas feste Hand. Wer dagegen zeigt, dass er das Land ohnehin am liebsten am ausgestreckten Arm fern von Brüssel halten will, der hilft den engagierten Demokraten am Bosporus nicht. Er lässt auch jene Frauen allein, die öffentlich so genannte Ehrenmorde anprangern. Er fällt den mutigen Journalisten in den Rücken, die Korruptionsskandale aufdecken, und den Kurden, die für gleiche kulturelle Rechte kämpfen.“472
465 Vgl. Stefan Kornelius: Die Risiko-Entscheidung. In: Süddeutsche Zeitung, 16.12.2004, S. 4. 466 Günther Nonnenmacher: Der falsche Weg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.10.2005, S. 1. 467 Vgl. Klaus-Dieter Frankenberger: Auf den Plätzen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.05.2005, S. 8, Klaus-Dieter Frankenberger: Schöner Abschied. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.09.2004, S. 1. 468 Wolfgang Günter Lerch: Eurasische Märkte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.09.2004, S. 1. 469 Vgl. Stefan Ulrich: Kühner Kurs des Kommissars. In: Süddeutsche Zeitung, 01.10.2004, S. 4; Georg Paul Hefty: Primat der Türkei-Politik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.2004, S. 1. 470 Berthold Kohler: Die Türkei-Täuscher. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.10.2004, S. 12. 471 Trommeln gegen die Türken. In: Süddeutsche Zeitung, 27.08.2005, S. 4. 472 Christiane Schlötzer: Am ausgestreckten Arm. In: Süddeutsche Zeitung, 13.04.2006, S. 4.
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4 Fallstudien
Man dürfe der Türkei nicht die Türe vor der Nase zuschlagen, nachdem sie so lange und mühsam auf einen Beitritt hingearbeitet habe. Eine Ablehnung stärke höchstens die Anti-EU-Kräfte, mit denen Ministerpräsident Erdoan ohnehin schon genug zu kämpfen habe.473 Schon jetzt verlören die Türken ihr Vertrauen in die EU, die Beitrittsbegeisterung unter den Menschen habe bereits merklich abgekühlt: „Die EU hat es geschafft, in kürzester Zeit ihr Charisma zu verlieren. Heute kostet es jeden türkischen Politiker Punkte, wenn er sich zur EU bekennt“474, so die SZ. Negative Folgen wurden außerdem auch für das Verhältnis EU-Türkei vermutet: Die Türkei werde sich nach einer Ablehnung von Europa distanzieren, so wurde gewarnt.475 Die EU sei jedoch auf die Türkei ebenso angewiesen wie die Türkei auf die EU: „Die Türkei wird gebraucht, für eine europäische NahostPolitik und auch als sicherer Energiekorridor“476, schrieb die SZ. Sie sei wichtig „als Modell politischer Stabilität und wirtschaftlicher Dynamik in einer unruhigen Region“477 sowie als „Fingerzeig an die islamische Welt. Soll heißen: Wir verschließen uns nicht vor euch!“478 Die geostrategische Bedeutung der Türkei als Vorposten im Kampf gegen den Terror sowie als „Brücke“ zum Islam wurde immer wieder als ein Argument für einen Beitritt der Türkei zur EU hervorgehoben.479 Die Beitrittsbefürworter betonten besonders stark die Fortschritte, die die Türkei bereits auf ihrem Weg in Richtung EU absolviert habe.480 Doch auch sie ließen keinen Zweifel daran, dass die Türkei noch viele Reformen bewältigen müsse, bis sie eines Tages reif für einen Beitritt sei: „Nun hat auch kein ernsthafter Europapolitiker je behauptet, die Türkei sei bereits ein rundum stabiler Rechtsstaat. Entscheidend ist: Sie kann es werden.“481 Die meisten Gegner eines Beitritts brachten den türkischen Reformen durchaus Anerkennung entgegen.482 Der Streit zwischen beiden Lagern drehte sich somit weniger um die Reformleistungen der Türkei. Der grundlegende Unterschied zwischen Befürwortern und Gegnern lag vielmehr darin, dass erstere einen Beitritt der Türkei für 473 Vgl. Christiane Schlötzer: Blockade am Bosporus. In: Süddeutsche Zeitung, 09.03.2005, S. 4, Christiane Schlötzer: So nah und doch so fern. In: Süddeutsche Zeitung, 28.05.2005, S. 4. 474 Kai Strittmatter: Strahlkraft erlahmt. In: Süddeutsche Zeitung, 05.06.2007, S. 4. 475 Vgl. Christiane Schlötzer: Türkische Tücken. In: Süddeutsche Zeitung, 25.09.2004, S. 4; Martin Winter: Gelbe Ampel für Ankara. In: Süddeutsche Zeitung, 09.11.2006, S. 4. 476 Christiane Schlötzer: Hoffnung verschoben. In: Süddeutsche Zeitung, 21.11.2006, S. 4. 477 Christiane Schlötzer: Ankara auf Distanz. In: Süddeutsche Zeitung, 06.09.2006, S. 4. 478 Trommeln gegen die Türken. In: Süddeutsche Zeitung, 27.08.2005, S. 4. 479 Vgl. Christian Wernicke: Der unheimliche Kandidat. In: Süddeutsche Zeitung, 06.10.2004, S. 4. 480 Vgl. Christiane Schlötzer: Der türkische Traum. In: Süddeutsche Zeitung, 13.12.2004, S. 4. 481 Trommeln gegen die Türken. In: Süddeutsche Zeitung, 27.08.2005, S. 4. 482 Vgl. Rainer Hermann: Die reformierte Türkei. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.05.2005, S. 11.
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prinzipiell wünschenswert hielten (und, sobald die Türkei die Kriterien erfüllt, auch für möglich), während letztere den Beitritt grundsätzlich ablehnten, egal wie sehr sich die Türkei noch reformieren würde.
10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 07/04 08/04 09/04 10/04 11/04 12/04 01/05 02/05 03/05 04/05 05/05 06/05 07/05 08/05 09/05 10/05 11/05 12/05 01/06 02/06 03/06 04/06 05/06 06/06 07/06 08/06 09/06 10/06 11/06 12/06 01/07 02/07 03/07 04/07 05/07 06/07
Anzahl der Artikel
Titelbeiträge der Bild-Zeitung im Zeitverlauf
Monat/ Jahr
Abbildung 4.17: Artikel zum EU-Beitritt der Türkei auf der Titelseite der Bild-Zeitung
Die Bild-Zeitung veröffentlichte im untersuchten Zeitraum 31 Artikel zum EUBeitritt der Türkei auf der Titelseite (Abbildung 4.17). Ähnlich wie die beiden untersuchten Qualitätszeitungen gewichtete auch die Bild die Türkeifrage Ende des Jahres 2004 am stärksten. Im September ließ sie verschiedene Politiker zur Frage des Türkeibeitritts zu Wort kommen und im Dezember erregte der Beschluss des Europäischen Rates zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ihre Aufmerksamkeit. Im April 2005 zitierte die Bild-Zeitung unter anderem eine Umfrage, die auf eine wachsende Skepsis der Türken gegenüber der EU und eine sich abkühlende Beitrittseuphorie schließen ließ. Danach schaffte es die Frage des Türkeibeitritts erst wieder im September und Oktober 2005 mehrfach auf die Titelseite. Im September fungierte sie sogar einmal als Schlagzeile des Tages: Im Kontext der anstehenden Bundestagswahlen fragte die Bild, ob der geplante EU-Beitritt der Türkei zum wahlentscheidenden Thema werden könnte. Daneben erregte Altbundeskanzler Helmut Schmidt mit seiner Äußerung Aufmerksamkeit, dass ein Beitritt der Türkei „Unfug“483 sei. In einer kleinen Randnotiz wurde über den Streit um die Anerkennung Zyperns berichtet. Im Oktober fand die Eröffnung 483 Merkel hat recht! In: Bild, 15.09.2005, S. 1.
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der Verhandlungen noch etwas Erwähnung, danach ebbten die Titelnachrichten zum Thema ab. Erst im Juni 2006 erschienen noch einmal drei Titelbeiträge zur Türkeifrage: Einer davon widmete sich erneut der sinkenden Europabegeisterung der Türken. Ende 2006 erschienen lediglich noch vereinzelte, durchwegs klein gehaltene Meldungen zur Kritik der EU am nachlassenden Reformwillen Ankaras sowie dem partiellen Aussetzen der Beitrittsverhandlungen. Über den gesamten Zeitraum der Fallstudie war der Stil der Berichterstattung eher nüchtern. Das Regierungshandeln in der Frage des Türkeibeitritts – sei es unter der Regierung Schröder oder Merkel – wurde weder offen kritisiert noch gelobt. Auch in der Frage, ob ein Beitritt der Türkei grundsätzlich erstrebenswert sei, enthielt sich die Bild-Zeitung weitgehend einer expliziten Meinungsäußerung. Viele der Titelnachrichten nannten keine inhaltlichen Argumente, sondern beschränkten sich darauf anzuzeigen, wer für oder gegen einen Beitritt war. Einen besonderen Fokus legte die Bild auf Auseinandersetzungen zum Türkei-Thema in der nationalen politischen Arena. Zunächst berichtete sie vor allem von den innerparteilichen Streitigkeiten der Unionsparteien, betonte dann aber zunehmend auch die zwischenparteiliche Dimension der Streitfrage. So wurden etwa Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen), stellvertretend für die Beitrittsbefürworter und Wolfgang Schäuble (CDU), stellvertretend für die Beitrittsgegner, um eine Antwort auf die Frage gebeten, ob die Türkei zu Europa gehöre.484 Auffällig war, dass den Befürwortern des Türkeibeitritts tendenziell mehr Raum eingeräumt wurde als den Gegnern. Die Anhänger eines Beitritts – seien es Bundeskanzler Schröder, EU-Kommissar Verheugen oder der italienische Außenminister Franco Frattini – wurden ausführlich zitiert. Auch bei der Berichterstattung zu den Meinungsstreitigkeiten innerhalb der CDU fanden die Beitrittsbefürworter stärkere Beachtung als die Gegner. So wurde trotz eines überwiegend sachlich-berichtenden Stils eine durchaus positive Grundstimmung für einen Beitritt der Türkei geschaffen. Nachdem sich EU-Kommissar Verheugen und der türkische Ministerpräsident Erdoan bei einem Treffen in Brüssel über strittige Punkte einigen konnten, titelte die Bild sogar großflächig: „Hosgeldiniz!! (türkisch für Herzlich Willkommen!!)“485. Anders als bei den Fallstudien zur Europäischen Währungsunion, zitierte die Bild auf der Titelseite keine Umfragen, die belegten, wie negativ die Deutschen zu einem EU-Beitritt der Türkei eingestellt waren. Die zwei zitierten Umfragen illustrierten stattdessen die sinkende Europa-Begeisterung der Türken.486 Des Weiteren verzichtete die Bild in der Türkeifrage darauf, wie sonst zu vielen 484 Türkei-Streit immer heftiger. In: Bild, 14.12.2004, S. 1. 485 Hosgeldiniz!! (türkisch für Herzlich Willkommen!!). In: Bild, 24.09.2004, S. 1. 486 Türken werden skeptisch. In: Bild, 08.04.2005, S. 1; Türken EU-müde. In: Bild, 15.06.06, S. 1.
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Themen, eine TED-Abstimmung durchzuführen. Eine Verstärkerfunktion der ablehnenden Bevölkerungsmeinung nahm die Bild-Zeitung in dieser Fallstudie nicht wahr.487
4.3.1.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite Bundeskanzler Schröder begründete seine Befürwortung eines Türkeibeitritts in dreierlei Hinsicht: Erstens erfordere es die europäische Glaubwürdigkeit, mit der Türkei Verhandlungen zu eröffnen und, bei Erfüllung aller Kriterien, auch mit einem Beitritt abzuschließen. Diese Perspektive sei der Türkei über viele Jahre hinweg zugesichert worden. Zweitens sei ein Beitritt der Türkei ein Beleg für den Geltungsraum europäischer Werte und demonstriere, dass diese nicht in Widerspruch zum islamischen Glauben stünden. Drittens eröffne ein Türkeibeitritt große wirtschaftliche Chancen für die EU und für Deutschland.488 Seine Partei stand in diesen Punkten weitgehend hinter ihm. Mehrere namhafte Sozialdemokraten, wie Klaus Hänsch, Egon Bahr, Rudolf Scharping und Altbundeskanzler Helmut Schmidt, äußerten sich jedoch öffentlich kritisch bis ablehnend gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei. Die Bündnisgrünen plädierten in großer Geschlossenheit für den Türkeibeitritt. Außenminister Joschka Fischer begründete seine Haltung vor allem geopolitisch: Angesichts der Terroranschläge vom 11. September 2001 und der strategischen Bedrohung, die von den Nachbarregionen der Türkei ausginge, sei eine feste Verankerung der Türkei in der EU von größter Wichtigkeit für europäische Sicherheitsinteressen (vgl. Kramer, Reinkowski 2008, S. 171-172). Außer Frage stand allerdings für Bündnis 90/Die Grünen, dass die Türkei ihre Reformen weiterverfolgen und die Menschenrechte wahren müsse, um der EU beitreten zu können. Obwohl die Beitrittsperspektive der Türkei unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls bestätigt wurde, wandten sich CDU und CSU, sobald sie aus der Regierungsverantwortung entlassen wurden, verstärkt gegen einen türkischen EUBeitritt. Die Christdemokraten äußerten vor allem die Sorge, dass ein Beitritt der Türkei die EU überfordern würde. Die gescheiterten Referenden zum Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden wurden als Be487 Diese, für Bild-Verhältnisse erstaunlich wenig polemische, Behandlung des Themas erklärt sich unter anderem durch die freundschaftliche Verbundenheit des Bild-Chefredakteurs, Kai Diekmann, zur Türkei. Siehe dazu den Sammelband „Süper Freunde“ (Diekmann, Özkök 2008), den die Chefredakteure von Bild und Hürriyet gemeinsam herausgaben. 488 Vgl. Nico Fried: Deutsche Freunde. In: Süddeutsche Zeitung, 16.12.2004, S. 7; Gerhard Schröder: Warum die Türkei in die EU gehört. In: Die Welt, 13.10.2004, S. 1.
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stätigung hierfür gesehen: Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber warf Bundeskanzler Schröder vor, mit seinem vehementen Eintreten für einen Beitritt der Türkei als „Totengräber der Europäischen Verfassung“ gewirkt zu haben (vgl. Janning 2006, S. 311). Während sich die CSU relativ geschlossen gegen den Türkeibeitritt in Stellung brachte, gab es innerhalb der CDU Differenzen: Wolfgang Schäuble, der im November 2005 das Amt des Bundesinnenministers übernahm, äußerte sich schon Mitte der neunziger Jahre skeptisch gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei, unter anderem, weil diese nicht auf der christlich-abendländischen Tradition gründe. Der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe und auch Ruprecht Polenz, der 2005 den Vorsitz im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages übertragen bekam, machten sich hingegen für einen Beitritt stark. Für Aufregung sorgte im Oktober 2004 der Vorschlag von CSU-Landesgruppenchef Michael Glos, eine Unterschriftensammlung gegen den Türkeibeitritt durchzuführen. Edmund Stoiber und Angela Merkel zeigten sich zunächst aufgeschlossen. Seitens der anderen Parteien, aber auch innerhalb der CDU/ CSU, wurde die Idee einer Unterschriftensammlung jedoch als verantwortungslos und populistisch scharf angegriffen. Die meisten CDU-Landesverbände lehnten die Aktion ab. Merkel erklärte daraufhin, die Idee einer Unterschriftenaktion werde nicht weiter verfolgt, um einem eventuellen Missbrauch vorzubeugen.489 Mit einem Brief, den Angela Merkel und Edmund Stoiber am 29. August 2005 an die konservativen Staats- und Regierungschefs der EU schrieben, positionierten sich die Unionsparteien erneut gegen einen Türkeibeitritt. Sie warben darin im Hinblick auf das im September anstehende Treffen der EU-Außenminister in Newport dafür, das Ziel einer Privilegierten Partnerschaft in den Text des Verhandlungsrahmens aufzunehmen. Mit dem Vorschlag einer Privilegierten Partnerschaft anstelle einer türkischen EU-Vollmitgliedschaft zogen die Unionsparteien schließlich auch in den Bundestagswahlkampf 2005. Die FDP positionierte sich eher vage in der Frage des Türkeibeitritts: Weder unterstützte sie ihn, noch lehnte sie ihn kategorisch ab. Betont wurde immer wieder die Ergebnisoffenheit der Beitrittsgespräche: Die Türkei müsse alle notwendigen Kriterien erfüllen, um Mitglied der EU werden zu können. Die Jungen Liberalen hätten sich ebenso wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Altbundespräsident Walter Scheel und FDP-Bundesvorstandsmitglied Mehmet Daimagüler ein klareres Bekenntnis zur Unterstützung des Türkeibeitritts gewünscht. Nicht zuletzt aus koalitionspolitischen Erwägungen heraus wollte sich die FDPSpitze jedoch hierauf nicht festlegen. Im Oktober 2004 sicherte Parteichef Westerwelle dem türkischen Außenminister Abdullah Gül bei dessen Besuch in 489 Vgl. Susanne Höll: Merkel und Stoiber machen Rückzieher. In: Süddeutsche Zeitung, 16.10.2004, S. 1.
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Berlin noch eine positive Haltung der FDP zum Türkeibeitritt zu.490 Kurz vor der Bundestagswahl 2005 bekundete der FDP-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Gerhardt dann allerdings öffentlich seine Sympathie für das von den Unionsparteien verteidigte Konzept einer Privilegierten Partnerschaft.491 Die Linkspartei.PDS befürwortete prinzipiell – bei Erfüllung der Kopenhagener Kriterien – einen Beitritt der Türkei. Mit Oskar Lafontaine bekannte sich allerdings eine der zentralen Führungsfiguren der Linken gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Lafontaine forderte eine Volksbefragung zu diesem Thema. Die Politiker dürften nicht über die Köpfe der Menschen hinweg entscheiden. Gleichzeitig schürte Lafontaine die Angst vor Arbeitsplatzverlust durch Einwanderung: In Chemnitz warnte er in einer umstrittenen Rede davor, dass Familienväter arbeitslos würden, weil ihnen „Fremdarbeiter“ zu niedrigen Löhnen die Arbeitsplätze wegnehmen würden.492 Diese Äußerung rief innerhalb der Linken massive Proteste hervor und bewegte den rechtsradikalen NPD-Politiker Thomas Wulff dazu, Lafontaine öffentlich Lob auszusprechen. Interne Querelen gab es weiterhin, als der türkischstämmige Bundestagsabgeordnete Hakki Keskin in Frage stellte, dass es einen Völkermord an den Armeniern gegeben habe. Die Geschlossenheit der politischen Elite war insgesamt gering. Der Konflikt verlief eher zwischen als innerhalb der Parteien: Mit dem Konzept einer Privilegierten Partnerschaft widersprachen die Unionsparteien explizit dem Ziel einer türkischen Vollmitgliedschaft, wie es von den Regierungsparteien angestrebt wurde. Bei den großen Volksparteien waren allerdings auch interne Differenzen unverkennbar: Sozialdemokraten wie auch Christdemokraten verzeichneten prominente Abweichler zur offiziellen Parteilinie in der Frage des Türkeibeitritts.
4.3.1.3 Das Angebot politischer Alternativen Die Bundestagswahl am 18. September 2005 fand unter besonderen Vorbedingungen statt: In Folge der schmerzlichen Niederlage der SPD bei der nordrheinwestfälischen Landtagswahl vom 22. Mai 2005 kündigte Bundeskanzler Schröder sein Bestreben an, Neuwahlen herbeizuführen. Deutschland befinde sich in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess und er wolle bei der Fortführung der Reformen in Verbindung mit der „Agenda 2010“ die Mehrheit der Bevölkerung 490 Vgl. Reymer Klüver: Türkei spaltet Opposition. In: Süddeutsche Zeitung, 20.10.2004, S. 7. 491 Vgl. "Wir betreiben deutsche Außenpolitik nicht auf Marktplätzen": Interview mit FDP-Fraktionsvorsitzendem Wolfgang Gerhardt. In: General-Anzeiger Bonn, 12.08.2005, S. 3. 492 Vgl. Jörg Schindler: "Rechte Gedankenspiele" irritieren Linke. Lafontaine und Gysi wollen mit NPD konkurrieren. In: Frankfurter Rundschau, 30.06.2005, S. 4.
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hinter sich wissen – so die Begründung (vgl. Bosch 2006, S. 38). Schröder richtete daraufhin die Vertrauensfrage an den Deutschen Bundestag, die dieser am 1. Juli 2005 negativ beantwortete. Bundespräsident Horst Köhler löste am 21. Juli 2005 den Bundestag auf und ordnete Neuwahlen an. Da das Wahlergebnis weder für eine rot-grüne noch für eine schwarz-gelbe Koalition ausreichte, schlossen sich CDU/CSU und SPD zu einer großen Koalition zusammen.493 Aufgrund der überraschend kurzen Vorlaufzeit entstanden die Wahlkampagnen der Parteien unter erhöhtem Druck. Zudem ergab sich mit dem Wahltermin am 18. September das Problem, dass die heiße Wahlkampfphase zum Teil in die Sommerferien fiel – eine Zeit, in der die Wählerschaft nur schwer mit politischen Themen zu erreichen ist (vgl. Holtz-Bacha 2006, S. 5). CDU und CSU maßen dem Thema Türkeibeitritt im Wahlkampf relativ viel Bedeutung bei. Im Wahlprogramm wie auch in ihren Werbemitteln betonten die Unionsparteien ihre Ablehnung einer türkischen EU-Mitgliedschaft. Im Wahlprogramm hieß es: „Wir setzen auf eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei. Eine Vollmitgliedschaft lehnen wir ab, weil das die Integrationsfähigkeit der Europäischen Union überfordern würde. Mit einer privilegierten Partnerschaft, nicht mit einer unrealistischen Beitrittsperspektive wollen wir die demokratische rechtsstaatliche und wirtschaftliche Entwicklung der Türkei, mit der wir sicherheitspolitisch in der NATO eng verbunden sind, nach Kräften fördern.“494
Die Idee der Privilegierten Partnerschaft wurde in einem Faltblatt näher erläutert: „Die ‚Privilegierte Partnerschaft‘ geht weit über die zwischen der EU und der Türkei eingegangenen Zollunion hinaus. Die ‚Privilegierte Partnerschaft‘ sieht vor, eine alle Gütergruppen umfassende Freihandelszone zu schaffen. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Umwelt, Gesundheit und Bildung soll vertieft werden. Wichtige Arbeitsbereiche sind etwa die Stärkung der Zivilgesellschaft, der Umweltschutz und die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen. Die Türkei soll verstärkt
493 Die SPD erzielte 34,2 Prozent, die CDU 27,8, die CSU 7,4 Prozent, die FDP 9,8 Prozent, die Linkspartei.PDS 8,7 Prozent und Bündnis 90/Die Grünen 8,1 Prozent der Stimmen. Gemeinsam stellten CDU und CSU somit die größte Fraktion im Bundestag. Sowohl die Unionsparteien als auch die Sozialdemokraten verloren im Vergleich zur Bundestagswahl von 2002 an Stimmen. Gewinner der Wahl waren die kleineren Parteien. Die Sitzverteilung im Bundestag gestaltete sich wie folgt: SPD: 222, CDU: 180, CSU: 46, FDP: 61, Bündnis 90/Die Grünen: 51, Linkspartei: 54. Am 22. November 2005 wurde Angela Merkel (CDU) mit 397 Stimmen zur Bundeskanzlerin gewählt. 494 CDU/CSU: Deutschlands Chancen nutzen. Wachstum. Arbeit. Sicherheit. Regierungsprogramm 2005-2009, 2005, S. 41.
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in die europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik einbezogen werden.“495
Die CDU begründete ihre Haltung vor allem damit, dass ein Beitritt der Türkei die EU überfordern würde. Doch auch die ablehnende Bevölkerungsmeinung wurde als Rechtfertigung herangezogen: „Rot-Grün forcierte Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, obwohl eine türkische EU-Vollmitgliedschaft die Europäische Union institutionell und finanziell überfordern würde und von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird. […] Wir setzen auf eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei.“496
In Bezug auf die gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden wurde der deutschen Bundesregierung indirekt Schuld zugewiesen: Das „vehemente Eintreten des Duos Schröder und Fischer für einen Beitritt der Türkei“497 habe die EU in eine schwere Akzeptanzkrise gestürzt, so ein Flugblatt der Christdemokraten. Die SPD-internen Differenzen wurden gezielt zu nutzen versucht: Die CDU druckte einen Artikel der Bild-Zeitung ab, in dem der in der Bevölkerung hoch angesehene Altbundeskanzler Schmidt mit den Worten zitiert wurde: „Ich bin in diesem Punkt absolut derselben Meinung wie Frau Merkel. Der Beitritt der Türkei ist ein Unfug.“498 Die CSU rechtfertigte ihre Gegnerschaft zum Türkeibeitritt ebenfalls mit dem Argument, dass dieser der EU zutiefst schade: Er würde zu sozialen Verwerfungen führen und die EU finanziell wie auch politisch überfordern, warnten die Christsozialen. Zudem betonte die CSU den Aspekt der kulturellen Fremdheit: „Das Land am Bosporus gehört nicht zu unserem Kulturkreis. Ein Beitritt der Türkei würde Europa seiner Identität entfremden. Er wäre das Ende des Europas, das wir kennen.“499 Die Unionsparteien vertraten mit ihrer Wahlkampfposition die absolute Mehrheitsmeinung der Bürger, während das Handeln der rot-grünen Bundesregierung in offensichtlichem Widerspruch zu dieser stand. Dessen ungeachtet kehrte die CSU den Populismusvorwurf einfach um: „Rot-Grün befürwortet dagegen den Türkei-Beitritt, um bei türkisch-stämmigen Wählern zu punkten. Schröder und Fischer instrumentalisieren außenpolitische Themen zu innenpo-
495 CDU: Verantwortung für Europa und die Welt. Die Konzepte der CDU zur Außen- und Europapolitik. Faltblatt, 2005. 496 CDU: Europapolitik. Faltblatt, 2005. 497 CDU: Rot-Grün gescheitert. Deutschland braucht den Wechsel. Flugblatt, 2005. 498 CDU: Türkei-Beitritt. Helmut Schmidt: Merkel hat recht! Flugblatt, 2005. 499 CSU: Wir sagen: Ja zu Europa, Nein zum Türkei-Beitritt. CSU Wahl-Spezial. Flugblatt, 2005.
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4 Fallstudien
litischen Zwecken. Damit schaden sie Europa. Damit schaden sie Deutschland.“500 Ähnlich wie CDU und CSU warnte auch die FDP, dass die Erweiterung der EU auf keinen Fall die Vertiefung der Integration in Frage stellen dürfe. In ihrem Wahlprogramm plädierten die Liberalen für Alternativen zur Vollmitgliedschaft, ohne jedoch den Begriff der Privilegierten Partnerschaft explizit zu erwähnen: „Der Beitritt weiterer Staaten ist nur möglich, wenn diese sich als beitrittsfähig und die EU sich als aufnahmefähig erweisen. […] Für die Türkei gilt erst recht, dass Alternativen zur Vollmitgliedschaft in den im Oktober 2005 beginnenden und mehr als ein Jahrzehnt andauernden Verhandlungen vorgreiflich mitgedacht werden müssen. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei müssen ergebnisoffen geführt werden.“501
Da sich die Liberalen im Bundestagswahlkampf klar für eine Koalition mit der Union ausgesprochen hatten, mussten sie ihre Position in dieser Frage kompatibel halten. Ein Herzensanliegen der FDP war die „Privilegierte Partnerschaft“ aber sicher nicht. Insgesamt wurde das Thema nur schwach gewichtet. In Flugblättern und Broschüren der Partei wurde nicht darauf Bezug genommen. Auch in der SPD-Kampagne spielte der Türkeibeitritt nur eine untergeordnete Rolle.502 Die Sozialdemokraten richteten ihre Kampagne stark personalisiert an Bundeskanzler Schröder aus. Außenpolitisch versuchten sie dessen Nein zum Irakkrieg für sich zu nutzen. Der Türkeibeitritt schien im Gegensatz hierzu kaum zur Profilierung zu taugen: Zwar befürworteten die Sozialdemokraten prinzipiell einen EU-Beitritt der Türkei und hofften mit dieser Positionierung die Stimmen der türkischstämmigen Deutschen zu gewinnen, gleichzeitig war ihnen aber bewusst, wie unpopulär der Türkeibeitritt in der Gesamtbevölkerung war. Die Argumentation der SPD war vor diesem Hintergrund defensiv ausgerichtet: Sie nannte kaum Gründe, warum der Türkeibeitritt eine gute Sache sei. Die Sozialdemokraten warnten vielmehr, dass es ein Friedensrisiko darstelle, wenn man die Verhandlungen nicht eröffne: „Europa wird nur dann eine Region des Friedens und der Stabilität bleiben, wenn alle Verträge und Zusagen in Sachen Erweiterung eingehalten werden. Wer unsere
500 Ebenda. 501 FDP: Arbeit hat Vorfahrt. Deutschlandprogramm 2005, S. 46-47. 502 Kein Flugblatt stellte einen direkten Bezug zum Thema her. Einmal wurde lediglich indirekt auf das Thema angespielt, indem es ohne Ländernennung hieß: „Europa wird nur dann eine Region des Friedens und der Stabilität bleiben, wenn alle Verträge und Zusagen in Sachen Erweiterung eingehalten werden.“ SPD: Für ein friedliches und partnerschaftliches Deutschland. Broschüre, 2005.
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Partner in Europa verunsichert und Verträge in Frage stellt, denen die 25 Mitgliedstaaten einstimmig zugestimmt haben, stellt ein Friedensrisiko für Europa dar. Einem Wortbruch gegenüber Bulgarien und Rumänien, deren Beitrittsverträge sich bereits im Ratifizierungsprozess befinden, und gegenüber der Türkei, mit der nach Erfüllung der Voraussetzungen am 3. Oktober 2005 die langjährigen Beitrittsverhandlungen beginnen sollen, treten wir entschieden entgegen.“503
Auch die Grünen sprachen sich für einen Beitritt der Türkei aus. Sie erhofften sich damit vor allem eine Unterstützung der demokratischen Modernisierung der Türkei. Ebenso wie die SPD argumentierten die Grünen außerdem friedenspolitisch: „Wir wollen mit dem Beginn langjähriger Beitrittsverhandlungen den Weg der demokratischen Modernisierung in der Türkei weiter fördern. Der Weg der Türkei nach Europa ist auch ein Beitrag zur Sicherheit in Europa und in der Welt. CDU und CSU und Populisten aller Seiten schüren bestehende Ressentiments und nutzen dies dazu aus, Verhandlungen mit der Türkei zu verhindern.“504
Die Linkspartei.PDS sprach sich in ihrem Wahlprogramm für die zügige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aus. Um der EU beitreten zu können, müsse die Türkei Menschenrechte achten, Minderheitenrechte garantieren und rechtsstaatliche wie auch soziale Reformen durchführen. Eventuelle Probleme sollten sachlich und partnerschaftlich erörtert werden: „Die Linkspartei.PDS widersetzt sich der rechtspopulistischen und nationalistischen Kampagne von CDU/CSU gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU.“505 Insgesamt wurde das Thema Türkeibeitritt im Wahlkampf eher von den Gegnern als von den Befürwortern angesprochen. Hinsichtlich der inhaltlichen Positionierung waren deutliche parteipolitische Unterschiede erkennbar. Sozialdemokraten, Bündnisgrüne und Linke befürworteten prinzipiell – bei Erfüllung der Kriterien – einen Beitritt der Türkei. Die Unionsparteien lehnten diesen explizit ab. Sie setzten stattdessen auf eine Privilegierte Partnerschaft mit der Türkei und boten dem Wähler somit eine deutlich wahrnehmbare Alternative zur Regierungspolitik. Die Liberalen vermieden eine klare Positionierung, betonten die Ergebnisoffenheit der Gespräche und warben dafür, „Alternativen zur Vollmitgliedschaft“ anzudenken. 503 SPD: Vertrauen in Deutschland. Das Wahlmanifest der SPD 2005, S. 40-41. 504 Bündnis 90/Die Grünen: Eines für alle. Das Grüne Wahlprogramm 2005, S. 120. Flugblätter oder Broschüren der Bündnisgrünen mit Bezug zum Türkeibeitritt liegen nicht vor. 505 Linkspartei.PDS: Wahlprogramm zu den Bundestagswahlen 2005. Beschluss des Parteitages in Berlin, 27. August 2005, S. 31. Flugblätter oder Broschüren der Linken mit Bezug zum Türkeibeitritt liegen nicht vor.
234
4 Fallstudien
4.3.1.4 Regierende und Regierte: Die Zementierung einer Kluft Während des gesamten Zeitraums der Fallstudie lehnten die Deutschen einen EU-Beitritt der Türkei mit großer Mehrheit ab. Die Meinungsbildung war deutlich ausgeprägt: Ab dem Frühjahr 2005 lag der Anteil der Unentschiedenen bis zum Ende der Fallstudie konstant unter 10 Prozent, wobei die Polarisierung der Bevölkerungsmeinung den Beitrittsgegnern zugute kam. Da das Standard Eurobarometer während dieser Zeit lediglich dreimal die Einstellungen der Bürger zum Türkeibeitritt untersuchte, wurde in der nachfolgenden Grafik (Abbildung 4.18) jeweils eine Umfrage vor Beginn und eine nach Ende der Fallstudie mit eingeschlossen. Auch dieses erweiterte Bild bestätigt den Befund einer konstant hohen Ablehnung – Trendwenden in Richtung einer gewachsenen Akzeptanz sind nicht erkennbar.506 Bevölkerungsmeinung zum EU-Beitritt der Türkei Pro
Contra
Keine Meinung
80 70
Prozent
60 50 40 30 20 10 0 Herbst 02 EB58 Frühjahr 05 EB63 Herbst 05 EB64
Herbst 06 EB66 Frühjahr 08 EB69
Ausgabe Standard Eurobarometer
Abbildung 4.18: Die Einstellungen der Deutschen zum EU-Beitritt der Türkei
Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigt, dass im Frühjahr 2005 eine Mehrheit von 57 Prozent der Deutschen die Aufnahme von Beitritts506 Identische Fragestellung in allen untersuchten Eurobaromter-Umfragen: „For each of the following countries, would you be in favour or against it becoming part of the European Union… Turkey?“
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
235
verhandlungen mit der Türkei ablehnte, obwohl sich 66 Prozent der Befragten bewusst waren, dass die Aufnahme von Verhandlungen keinen Beitritt garantiert.507 Thomas Petersen interpretiert diese Zahlen als Indiz dafür, dass es für die meisten Deutschen wenig ausschlaggebend war, ob und wie gut es der Türkei gelingt, im Verlauf der Verhandlungen die geforderten Kriterien zu erfüllen: „Für die große Mehrheit der Deutschen gehört die Türkei nicht zu Europa und damit auch nicht in die EU. Folglich ist es aus ihrer Sicht auch grundsätzlich falsch, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu führen“ (Petersen 2006, S. 296). Die politische Elite zeigte sich in der Frage des Türkeibeitritts gespalten: Der Konflikt verlief vor allem zwischen den Parteien, sorgte in geringerem Ausmaß aber auch für interne Divergenzen. Die Gegner des Türkeibeitritts waren in ihren öffentlichen Auftritten lauter als die Befürworter. Beispielhaft zeigt sich das am Wahlkampf zu den Bundestagswahlen 2005, als CDU und CSU offensiv in mehreren Flugblättern sowie im Wahlprogramm gegen den Türkeibeitritt Stellung bezogen, während Sozialdemokraten und Bündnisgrüne das Thema nur sehr schwach gewichteten. Auch die Medien zeigten sich mehrheitlich ablehnend gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei. Unter diesen Voraussetzungen gelang es nicht, die Bürger vom Sinn des Türkeibeitritts zu überzeugen. Die politische Führung muss in dieser Angelegenheit als gescheitert angesehen werden. Festzustellen ist eine Meinungsspaltung anhand parteipolitischer Linien: Die Wählerschaft von Rot-Grün stand einer türkischen EU-Mitgliedschaft generell positiver gegenüber als die von Schwarz-Gelb (vgl. von Oppeln 2005b). Ein Grund hierfür mag sein, dass die Streitfrage des Türkeibeitritts, trotz interner Differenzen, vor allem zwischenparteilich ausgetragen wurde: Die rot-grüne Regierungskoalition plädierte für einen Beitritt, während die schwarz-gelbe Opposition eine Privilegierte Partnerschaft als Alternative zur Vollmitgliedschaft vorschlug. Weiterhin waren auch die Medien entsprechend ihrer Einordnung auf dem politischen Spektrum geteilter Meinung: Bei der eher mitte-links stehenden SZ überwogen die positiven Kommentare, die mitte-rechts stehende FAZ war strikt gegen einen Beitritt. Obwohl die Türkeifrage prinzipiell geeignet war, das Wahlverhalten zu beeinflussen (vgl. Schoen 2008, S. 70), erwies sich die Responsivität der Bundesregierung in dieser Frage als gering. Die theoretisch als relevant identifizierten Voraussetzungen für Responsivität waren dabei durchaus gegeben: Die Medienmeinung stand dem Türkeibeitritt mehrheitlich ablehnend gegenüber und es gab einen parteipolitischen Wettbewerb zu dieser Frage. Die Tatsache, dass sich die Bundesregierung trotz507 Allensbacher Archiv: Institut für Demoskopie, Umfrage Nr. 7007. Mai/Juni 2001.
236
4 Fallstudien
dem kaum responsiv verhielt, zeigt, dass diese Bedingungen bestenfalls notwendig, nicht aber hinreichend für responsives Verhalten sind. Die rot-grüne Bundesregierung ließ während der gesamten Fallstudie keinen Zweifel daran, dass sie einen EU-Beitritt der Türkei unterstützte. Laut Bundeskanzler Schröder handelte es sich hierbei um eine strategische Entscheidung, die man „nicht von Meinungsumfragen und vom Ausgang von Referenden“508 abhängig machen könne. Die Bundesregierung mahnte die Türkei immer wieder zu Reformen. Wie sich bei Schröders Türkei-Besuch Anfang Mai 2005 zeigte, stellte dieser seine grundsätzliche Befürwortung eines Türkeibeitritts aber stets über eventuelle deutsch-türkische oder europäisch-türkische Differenzen. Auf Erdoans Kritik am Beschluss des Deutschen Bundestages zur Armenierfrage erwiderte Schröder ausweichend, dass er das Parlament nicht beeinflussen könne. Der Bundeskanzler wurde mit den Worten zitiert: „Auf dem weiten Meer und in den Parlamenten hat man es mit Gottes Gnade zu tun.“509 Die neue Regierungszusammensetzung der Großen Koalition nach der Bundestagswahl im September 2005 bewirkte keine signifikante Änderung der deutschen Position im Rat (vgl. Lippert 2007, S. 431). Obwohl CDU und CSU im Wahlkampf massiv gegen einen EU-Beitritt der Türkei Position bezogen hatten, handelte die Bundesregierung unter Angela Merkel – unter anderem gebunden durch die Koalition mit der beitrittsfreundlichen SPD – von Anfang an getreu dem Motto „pacta sunt servanda“. Bei ihrem Besuch in Ankara Anfang Oktober 2006 umwarb Ministerpräsident Erdoan die deutsche Kanzlerin, lobte ihre Initiativen für die Integration der in Deutschland lebenden Türken und dankte der deutschen Regierung für ihren Einsatz zur Unterstützung des Türkeibeitritts – ungeachtet dessen, dass dieser Einsatz vornehmlich der Vorgängerregierung zuzuschreiben war. Bundeskanzlerin Merkel schlug ihrerseits ebenfalls einen versöhnlichen Ton an. Ihre Positionierung während des Türkeibesuchs beschreibt ein SZ-Journalist folgendermaßen: „Ihre Ablehnung des EU-Beitritts rückt in den Hintergrund. Sie spielt nur als Position ihrer Partei eine Rolle. Als Kanzlerin stellt sie sich in die Kontinuität des Vorgängers, und das keineswegs missmutig: Die Beitrittsverhandlungen sollen weitergehen, betont sie und bekommt dafür viel Beifall.“510 Im Dezember 2006 verhärteten sich kurzzeitig die Fronten zwischen den Regierungsparteien: Als die EU-Kommission aufgrund der türkischen Weigerung, die Zollunion auf Zypern auszuweiten, eine teilweise Aussetzung der Beitrittsverhandlungen empfahl, plädierte die Bundeskanzlerin für ein Ultima508 Schröder, zitiert nach: Christiane Schlötzer: Schröder mahnt Türkei zu Reformen. In: Süddeutsche Zeitung, 06.05.2005, S. 7. 509 Ebenda. 510 Jens Schneider: Kurpackung für die Kanzlerin. In: Süddeutsche Zeitung, 07.10.2006, S. 3.
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
237
tum mit „Revisionsklausel“: Selbst wenn die Türkei in der Zypernfrage einlenke, solle die Wiederaufnahme der Verhandlungen nach Ablauf einer Frist von 12 bis 18 Monaten von einem einstimmigen Votum der EU-Mitgliedstaaten abhängig gemacht werden. Bundesaußenminister Steinmeier kritisierte diesen Vorschlag scharf und warnte davor, die Türkei zu brüskieren.511 Dieser kurzzeitige Schlagabtausch war eher für die innen- als für die europapolitische Bühne konzipiert und sollte den unterschiedlichen Standpunkten der Regierungsparteien Ausdruck verleihen: Während die SPD nach wie vor einen Beitritt der Türkei als Ziel der Verhandlungen anstrebte, waren die Unionsparteien dagegen. An einer Blockade der Verhandlungen war aber auch der Bundeskanzlerin nicht ernsthaft gelegen. Sie begrüßte ausdrücklich die Einigung der EU-Außenminister im Dezember 2006, obwohl diese eine eingeschränkte Fortsetzung der Verhandlungen vorsah und die Idee eines Ultimatums verwarf.512 Im Rahmen einer Pressekonferenz betonte die Bundeskanzlerin zudem noch einmal explizit die Kontinuität der deutschen Position – trotz zwischenparteilicher Differenzen: „Was das Ende der Verhandlungen anbelangt, gibt es zwischen den Parteien in Deutschland unterschiedliche Vorstellungen. Das ist richtig. Aber auf dem Weg dahin haben wir eine völlig abgestimmte Position.“513 Merkels Vorschlag eines Ultimatums mit Revisionsklausel kann somit als einzelnes symbolisch-responsives Element verstanden werden. Das Regierungshandeln als Ganzes ließ jedoch im Verlauf der Fallstudie keine nennenswerte Anpassung an die Bevölkerungsmeinung erkennen. Abschließend ist für diese Fallstudie festzustellen, dass eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten bestand, die weder durch Responsivität noch durch Führung geschlossen werden konnte.
4.3.2 Frankreich: Die Erweiterungsmüdigkeit der Franzosen Die französische Bevölkerung steht nicht nur einem EU-Beitritt der Türkei skeptisch gegenüber, sie ist generell erweiterungsmüde. Diese Haltung liegt vor allem in der Sorge vor einer Verlagerung von Arbeitsplätzen in Niedriglohnländer begründet (vgl. von Oppeln 2005b, S. 393). Mit jeder Erweiterung droht außerdem der Einfluss Frankreichs innerhalb der EU geringer zu werden – eine 511 Vgl. Gerd Höhler: Atempause für Ankara. In: Frankfurter Rundschau, 13.12.2006, S. 6. 512 Vgl. Deutsche Bundesregierung: EU-Außenminister erzielen Kompromiss im Zypernkonflikt. Online verfügbar unter http://bundesregierung.decenturl.com/tuerkei06, zuletzt geprüft am 26.08.2009. 513 Deutsche Bundesregierung: Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Ministerpräsident Rasmussen. 19.12.2006. Online verfügbar unter http://bundesregierung.decenturl.com/ pressekonferenz, zuletzt geprüft am 26.08.2009.
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4 Fallstudien
Vorstellung, die vielen Franzosen nicht gefällt (vgl. Deloche-Gaudez, Lequesne 2006, S. 335). Die Türkei stößt angesichts dieser generellen Erweiterungsmüdigkeit von vornherein auf schlechte Akzeptanzbedingungen. Hinzu kommen Vorbehalte, die speziell mit dem Land verbunden sind. Die schiere Größe und Einwohnerzahl lässt die Angst vor einem Macht- und Einflussverlust umso dringlicher wirken. Die Franzosen empfinden die Türkei außerdem als fremd, als geographisch, historisch und kulturell nicht zu Europa gehörig. Der wegen seiner anti-islamischen Äußerungen umstrittene Politologe Alexandre del Valle (2004) brachte öffentlichkeitswirksam die Sorge zum Ausdruck, dass mit der Türkei ein „trojanisches Pferd“ der Islamisten in die EU eintrete. Angesichts dieses Bedrohungsszenarios konnte es die Franzosen nur bedingt beruhigen, dass die Türkei – wie auch Frankreich – den Grundsatz des Laizismus in der Verfassung verankert hat. Ein Beitritt der Türkei würde das Ende der EU bedeuten – diese Überzeugung äußerte im November 2002 kein geringerer als der ehemalige Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing514 und stieß damit eine intensive öffentliche Diskussion an (vgl. Demesmay, Weske 2007a; Wimmel 2006, S. 157-177). Die Politologin und ehemalige Beraterin des EU-Kommissionspräsidenten Prodi, Sylvie Goulard, pflegte in ihren Veröffentlichungen und zahlreichen leidenschaftlich vorgetragenen Reden eine ähnliche Argumentation wie Giscard d’Estaing: Gerade wer für Europa sei, müsse gegen den Türkeibeitritt kämpfen (vgl. Goulard 2004). Auch innerhalb des Parlamentes regte sich Widerstand gegenüber der beitrittsfreundlichen Politik des französischen Präsidenten. Chirac, der eine breite Diskussion zu einem Türkeibeitritt zunächst unterbinden wollte, sah sich schließlich gezwungen, eine Debatte in der Nationalversammlung zuzulassen. Eingefordert wurde sie vor allem von den Abgeordneten der UMP und der UDF – also Chiracs eigener politischer Familie. Die Ängste gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei beeinflussten schließlich auch maßgeblich die Debatte zum Europäischen Verfassungsvertrag, obwohl die französische Regierung gerade das unbedingt vermeiden wollte: Um beide Streitfragen voneinander zu trennen, veranlasste Chirac eine Revision der französischen Verfassung, die Referenden für neue EU-Erweiterungen nach dem 1. Juli 2004 vorsah.515 Am 29. Mai 2005 sollten die Bürger ausschließlich über 514 Vgl. Pour ou contre l’adhésion de la Turquie à l’Union européenne. Entretien avec Valéry Giscard d'Estaing. In: Le Monde, 09.11.2002, S. 2 . 515 Der französische Kongress verabschiedete den entsprechenden Artikel 88-5, zusammen mit anderen Modifikationen der französischen Verfassung in Hinblick auf den Europäischen Verfassungsvertrag, am 28. Februar 2005 in Versailles. Nach dem Ende der hier untersuchten Fall-
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
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den Verfassungsvertrag abstimmen. Zum Türkeibeitritt, so die Botschaft, würden sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal befragt werden. Dieses Signal kam jedoch in der breiten Öffentlichkeit nicht an. In die Referendumskampagne des „Non“ zum Europäischen Verfassungsvertrag spielte die Türkeifrage entscheidend mit hinein. Philippe de Villiers (MPF) verwies beispielsweise immer wieder darauf, dass der Verfassungsvertrag von der Türkei unterzeichnet worden sei und wertete dies als Zeichen dafür, dass mit der Befürwortung des Verfassungsvertrags automatisch auch dem Türkeibeitritt der Weg geebnet würde. Doch nicht nur Anhänger extremistischer oder nationalistischer Parteien wollten mit ihrer Ablehnung des Verfassungsvertrages ihre Opposition zum Türkeibeitritt unterstreichen. Auch 24 Prozent der traditionell sehr europafreundlichen UDF-Wähler stimmten gegen den Vertrag. Motiviert wurde diese Entscheidung unter anderem durch die Angst vor einem EUBeitritt der Türkei und einer in diesem Zusammenhang gefürchteten Verwässerung der politischen Vertiefung (vgl. Deloche-Gaudez, Lequesne 2006, S. 331-334).
4.3.2.1 Die Meinung der Medien Vom 1. Juli 2004 bis zum 30. Juni 2007 publizierte LM 39 und LF 56 Kommentare zum Türkeibeitritt (Abbildung 4.19). Im Vergleich zu den übrigen Fallstudien ist die Anzahl der Kommentare in beiden Zeitungen hier am geringsten. Die Frage des Türkeibeitritts wurde im Zeitraum der Fallstudie weitgehend mit der Diskussion um den Europäischen Verfassungsvertrag verknüpft und von dieser überlagert. Besondere Aufmerksamkeit erregte die Frage des Türkeibeitritts im September und Oktober 2004 aufgrund einer heftig geführten Debatte innerhalb der Regierungspartei UMP: Chiracs parteiinterner Gegenspieler, der damalige Wirtschafts- und Finanzminister Nicolas Sarkozy, forderte vom Präsidenten ein Referendum über die Aufnahme der Türkei. Im Oktober veröffentlichte außerdem die Europäische Kommission ihren Fortschrittsbericht zur Türkei. LF publizierte in diesem Monat mit Abstand die meisten Kommentare im Verlauf der Fallstudie. studie wurde der Artikel 88-5 erneut Gegenstand der politischen Diskussion: Zum einen wurde eine übermäßige Beschränkung der Handlungsfreiheit der Regierenden befürchtet, zum anderen wurde kritisiert, dass die Klausel unnötige Hürden für Kandidaten aufbaue, deren Beitritt politisch erwünschter sei als jener der Türkei. Eine erneute Revision des Artikels 88-5 vom 23. Juli 2008 hob schließlich den Automatismus eines Referendums auf: Wenn sich Nationalversammlung und Senat mit einer drei-fünftel Mehrheit auf einen wortgleichen Antrag einigen, kann der Rückgriff auf das Referendum verhindert werden.
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4 Fallstudien
Intensität der Kommentierung im Zeitverlauf LM
LF
30 25 20 15 10 5 0 07/04 08/04 09/04 10/04 11/04 12/04 01/05 02/05 03/05 04/05 05/05 06/05 07/05 08/05 09/05 10/05 11/05 12/05 01/06 02/06 03/06 04/06 05/06 06/06 07/06 08/06 09/06 10/06 11/06 12/06 01/07 02/07 03/07 04/07 05/07 06/07
Anzahl der Kommentare
LM+LF
Monat/ Jahr
Abbildung 4.19: Kommentierung zum EU-Beitritt der Türkei in LM und LF
Als der Europäische Rat im Dezember 2004, der Empfehlung der Kommission folgend, die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zum 3. Oktober 2005 beschloss, weckte dies erneut das Interesse der Medien. Besonders rege kommentierten sowohl LM als auch LF das Thema im unmittelbaren Umfeld des Referendums zum Europäischen Verfassungsvertrag. Vor allem im Juni 2005, nach dem Scheitern des Referendums, war die mediale Resonanz groß: Es wurde sowohl diskutiert, inwiefern die Türkeifrage für das „Non“ mit verantwortlich war, als auch die Frage gestellt, welche Konsequenzen für die Verhandlungen mit der Türkei gezogen werden sollten. In den Folgemonaten ließ die Kommentierung nach. Im Herbst 2005 beschäftigten sich einige Kommentare mit dem Streit um die Anerkennung Zyperns sowie mit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober. Danach stieg die Kommentierung erst wieder im Oktober 2006 auf insgesamt fünf Artikel an: Auslöser waren der Besuch von Präsident Chirac in Armenien sowie die Verabschiedung des Gesetzes zur Leugnung des Armenier-Genozids durch die französische Nationalversammlung. Im unmittelbaren Vorfeld der Präsidentschaftswahlen am 22. April und 6. Mai 2007 war die mediale Aufmerksamkeit zum Thema Türkeibeitritt gering. Im Mai schnellte die Anzahl der Kommentare noch ein letztes Mal schlagartig nach oben: Im Mittelpunkt stand eine erste Bewertung der neuen Europapolitik unter Nicolas Sarkozy. LM entzog sich mit einer negativen Stellungnahme sowie zwei positiven und 36 ambivalenten Kommentaren weitgehend einer klaren Positionierung zum
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
241
Türkeibeitritt. Die Wertung von LF fällt deutlich negativer aus: Drei befürwortende, 19 ablehnende und 34 ambivalente Meinungsäußerungen wurden im untersuchten Zeitraum publiziert. Die Gesamtwertung beider Medien stellt sich somit eher negativ dar (Abbildung 4.20). Medienmeinung
LM+LF
LF
LM
-45
-30
-15
0
15
30
45
Saldo der Bewertungen
Abbildung 4.20: Bewertung des Politikziels „EU-Beitritt der Türkei“ durch LM und LF
In der Bewertung des Regierungshandelns schlägt die politische Orientierung der beiden Medien durch: LM bewertete das Regierungshandeln in Fragen des Türkeibeitritts kritischer als LF. Interessanterweise beurteilen aber beide Medien die Politik Sarkozys positiver als die Chiracs. Bei Sarkozy wurde vor allem die Klarheit der Positionierung begrüßt: „[L]a nouvelle position de la France a au moins l’avantage de mettre fin à une hypocrisie.“516 Das von Valéry Giscard d’Estaing geprägte und auch von Nicolas Sarkozy immer wieder bemühte Argument, die Türkei sei nun einmal kein europäisches Land, wurde von den beitrittskritischen Zeitungskommentaren aufgegriffen.517 Häufiger noch als die europäische Zugehörigkeit oder die Beitrittsreife der Türkei stand aber die Aufnahmefähigkeit der EU im Mittelpunkt der Diskussion: Die EU habe einfach nicht die Kapazität, ein Land wie die Türkei zu absorbieren, so die Sorge mehrerer Kommentatoren.518 Ein Beitritt der Türkei sei 516 Daniel Vernet: Nicolas Sarkozy, révélateur des ambiguïtés turques. In: Le Monde, 20.06.2007, S. 2. 517 Vgl. Ivan Rioufol: La Turquie dévoilée par le Pape. In: Le Figaro, 01.12.2006, S. 17. 518 Vgl. Arnaud Leparmentier: Le choix sur la Turquie se fait aujourd'hui. In: Le Monde, 02.10.2004, S. 21.
242
4 Fallstudien
nicht vereinbar mit der Idee eines politisch integrierten Europas: „L’Union européenne a aujourd’hui un projet politique incompatible avec l’adhésion de la Turquie“519, so LF. Auch in Frankreich wurde die Idee einer Privilegierten Partnerschaft von den Beitrittsgegnern begrüßt.520 Man wolle der Türkei nicht den Rücken zuwenden, doch müssten außer der Vollmitgliedschaft auch noch andere Formen der Kooperation denkbar sein: „L’Europe est-elle à ce point privée d’imagination qu’elle ne peut encourager les réformes indispensables en Turquie sans continuellement brandir le mirage d’une adhésion inaccessible?“521 Die Beitrittsbefürworter hielten dem entgegen, dass die Türkei seit langem Europa fest verbunden und ein verlässlicher politischer Partner sei.522 Die EU müsse die Beitrittsperspektive glaubhaft aufrechterhalten, sonst drohe ein Ende der Reformen in der Türkei.523 Wenn die Türkei die Kriterien erfülle, dann müsse sie auch beitreten dürfen.524 Verwehre man den Türken diese Perspektive, so sei dies nicht nur zum Nachteil der Türkei, sondern auch zum Nachteil Frankreichs: „La Turquie avec ses 65 millions d’habitants, sa forte croissance et ses infrastructures en plein développement, se fermerait durablement à nos entreprises.“525 Vor allem aber wurde betont, welche Chance sich mit einem Beitritt der Türkei für das Verhältnis der EU mit der islamischen Welt böte: „nous avons un grand problème avec l’islam. Et nous avons, au cœur de cette tempête, une chance inespérée, qui s’appelle la Turquie.“526 Häufig wurde die ablehnende Haltung der französischen Bevölkerung thematisiert.527 Vor diesem Hintergrund begrüßten die Kommentare in ihrer Mehrheit die Idee, dass die Franzosen per Referendum über eine Aufnahme der Türkei abstimmen sollen.528 Einige Kommentare standen dieser Reform aber auch kritisch gegenüber.529 Das Referendum habe die Debatte unnötig verkompliziert und stelle eine Farce dar, weil die Bürger ganz am Ende eines solchen Beitrittsprozesses nicht mehr mit „Nein“ stimmen könnten, ohne eine größere Krise auszulösen: 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529
Voter oui pour mieux dire non. In: Le Figaro, 11.05.2005, S. 14. Vgl. Daniel Vernet: Les Turcs, responsables ou victimes. In: Le Monde, 08.06.2005, S. 18. Le prix de l'Union. In: Le Monde, 06.10.2005, S. 19. Vgl. Alexandre Adler: Turquie – des objections qui ne tiennent pas. In: Le Figaro, 13.10.2004, S. 14. Vgl. Thomas Ferenczi: Quelles frontières pour l'Union. In: Le Monde, 24.06.2005, S. 19. Vgl. La Turquie, si… In: Le Monde, 18.12.2004, S. 25. Alexandre Adler: La preuve par Ankara. In: Le Figaro, 31.08.2005, S. 13. Alexandre Adler: Turquie – des objections qui ne tiennent pas. In: Le Figaro, 13.10.2004, S. 14. Vgl. Stéphane Denis: Voter non au référendum? In: Le Figaro, 04.01.2005, S. 11; Thomas Ferenczi: Turquie – l'ombre d'un doute. In: Le Monde, 15.12.2006, S. 2. L'Europe et la Turquie. In: Le Monde, 07.10.2004, S. 22; Thomas Ferenczi: Les experts et les citoyens. In: Le Monde, 11.02.2005, S. 15; Ecombrante Turquie. In: Le Monde, 05.05.2007, S. 2. Vgl. Hypocrisies. In: Le Monde, 14.12.2006, S. 2.
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
243
„S’ils sont consultés dans dix ans, date probable de l’adhésion turque, les Français seront placés face au dilemme inhérent à tout référendum sur l’Europe: dites ‚oui‘, car il est trop tard pour dire ‚non‘ sans provoquer une crise grave isolant la France. […] Le cas turc illustre le déficit démocratique européen, les citoyens n’ayant jamais eu leur mot à dire sur ce dossier laissé aux diplomates.“530
Das demokratische Defizit der EU, die schlechte Einbindung der Bürger in europäische Entscheidungsprozesse sowie ein genereller Mangel öffentlicher Diskussion wurden beklagt.531 Vor diesem Hintergrund begrüßten beide Medien prinzipiell die Politisierung der Türkei-Debatte: „Voilà un événement européen qui mobilise les partis, suscite les prises de position de leurs dirigeants, intéresse les médias. Nombre de Français ont leur idée sur le sujet et sont résolus à la faire valoir. C’est plutôt rassurant pour la démocratie.“532 Mehrere Artikel von LF verstärkten den – von der Regierung so sorgsam zu vermeiden gesuchten – Eindruck, dass die Frage des Türkeibeitritts mit jener des Verfassungsvertrages zusammenhänge: So wies LF zum Beispiel darauf hin, dass die Türkei das Vertragsdokument unterzeichnet habe.533 Zu Recht sähen die Bürger die Türkei-Frage als Bestandteil des Verfassungsreferendums an: „Des millions de Français […] considéreront à bon droit que l’affaire de la Turquie est partie prenante du référendum.“534 Andere Kommentare hingegen plädierten dafür, beide Fragen zu trennen535 oder meinten gar, ein „Oui“ zum Verfassungsvertrag sei der beste Weg, um die Türkei langfristig von der EU auszuschließen. Denn je weiter die politische Integration fortschreite, desto schwieriger würde ein Beitritt der Türkei: „Ainsi, rejeter le projet de Constitution, en votant non, nous priverait de nos meilleurs atouts pour refuser l’adhésion de la Turquie à l’union.“536 Nachdem der Verfassungsvertrag von den Franzosen im Referendum mehrheitlich abgelehnt wurde, stellten die Zeitungen erneut Zusammenhänge zur Türkeifrage her: Die Skepsis der Bürger gegenüber dem Türkeibeitritt wurde mitverantwortlich für das Scheitern des Referendums gemacht.537 Die Regierenden sollten daraus Lehren ziehen und künftig besser auf die Bevölkerungs530 Arnaud Leparmentier: Le choix sur la Turquie se fait aujourd'hui. In: Le Monde, 02.10.2004, S. 21. 531 Vgl. Alexandre Adler: Turquie – des objections qui ne tiennent pas. In: Le Figaro, 13.10.2004, S. 14. 532 Thomas Ferenczi: Les experts et les citoyens. In: Le Monde, 11.02.2005, S. 15. 533 Vgl. Ivan Rioufol: Le bloc-notes d'Ivan Rioufol. In: Le Figaro, 01.04.2005, S. 14. 534 Stéphane Denis: Voter non au référendum? In: Le Figaro, 04.01.2005, S. 11. 535 Vgl. Pierre Rousselin: Responsabilité historique. In: Le Figaro, 23.04.2005, S. 14. 536 Voter oui pour mieux dire non. In: Le Figaro, 11.05.2005, S. 14. 537 Pierre Rousselin: L'onde du choc du 29 mai. In: Le Figaro, 02.06.2005, S. 17; Ivan Rioufol: Le bloc-notes d'Ivan Rioufol. In: Le Figaro, 03.06.2005, S. 19.
244
4 Fallstudien
meinung hören: „Le débat de fond sur les frontières de l’Union ne peut plus être remis à plus tard. Si les engagements pris à l’égard de la Roumanie et de la Bulgarie seront tenus, les relations de voisinage avec l’Ukraine et la Turquie doivent être redéfinies en termes réalistes, en écoutant l’opinion.“538 Themen der medialen Türkei-Debatte in Frankreich waren außerdem der Konflikt um die Anerkennung Zyperns539 sowie des Begriffs „Völkermord“ für die an den Armeniern verübten Massaker. Die Armenierfrage wurde von den französischen Medien deutlich stärker gewichtet als von den deutschen. Einige Kommentatoren forderten, dass das Eingeständnis eines Genozids Vorbedingung für einen möglichen EU-Beitritt der Türkei sein sollte und lobten den von den Sozialisten eingebrachten Gesetzentwurf, der eine Leugnung unter Strafe stellte: „Il est bienvenue que la France, en certaines circonstances, affirme son devoir de civilisation.“540 Andere warnten jedoch auch, dass man die Armenierfrage nicht instrumentalisieren dürfe, um der Türkei den Weg in die EU zu versperren.541 Von den Vorteilen eines Türkeibeitritts ließen sich die französischen Medien im Verlauf der Fallstudie mehrheitlich nicht überzeugen: Insgesamt blieb die Grundhaltung ablehnend.
4.3.2.2 Die Geschlossenheit der politischen Elite Der französische Staatspräsident Jacques Chirac (UMP) befürwortete einen EUBeitritt der Türkei und setzte sich auf europäischer Ebene zunächst mit Nachdruck hierfür ein. Im April 2004 kündigte ihm allerdings UMP-Chef Alain Juppé im Namen seiner Partei die Gefolgschaft in Sachen Türkeibeitritt auf. Die UMP sprach sich explizit gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aus und plädierte stattdessen für eine Privilegierte Partnerschaft mit der Türkei. Dieser offene Konfrontationskurs einer Partei gegenüber dem von ihr getragenen Präsidenten sei ein „einmaliger Vorgang in der V. Republik“, befindet Joachim Schild (2007, S. 245). UMP-Mitglieder, die wie der Parlamentsabgeordnete Pierre Lellouche, für einen Beitritt der Türkei warben, waren innerparteilich klar in der Minderheit. Ohne Rücksicht auf die präsidentielle Linie bezogen viele UMP-Mitglieder, wie etwa der langjährige Europaabgeordnete Alain Lamas-
538 Pierre Rousselin: L'Europe bloquée. In: Le Figaro, 16.06.2005, S. 13. 539 Alexandre Adler: La preuve par Ankara. In: Le Figaro, 31.08.2005, S. 13; Daniel Vernet: Grecs, Turcs, Chypriotes. In: Le Monde, 28.09.2005, S. 16, Daniel Vernet: Quand les Turcs déçoivent les Grecs. In: Le Monde, 28.06.2006, S. 2. 540 Yves Thréard: Devoir de civilisation. In: Le Figaro, 02.10.2006, S. 15. 541 Alexandre Adler: Il faut réconcilier Arméniens et Turcs. In: Le Figaro, 05.10.2006, S. 15.
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
245
soure oder der Sarkozy-Getreue Patrick Devedjian, öffentlich Stellung gegenüber einer türkischen EU-Mitgliedschaft.542 Premierminister Raffarin nahm eine zweideutige Haltung ein: Einerseits zeigte er sich loyal zu Präsident Chirac, andererseits verbarg er kaum seine persönliche Skepsis hinsichtlich einer Aufnahme der Türkei in die EU (vgl. von Oppeln 2005b, S. 395). Anlässlich der Parlamentsdebatte zum Thema am 14. Oktober 2004 stellte Raffarin zum einen klar, dass ein Türkeibeitritt seiner Ansicht nach in näherer Zukunft nicht zu erreichen sein werde, warnte zum anderen aber auch davor, eine voreilige Ablehnung auszusprechen: „[N]e mentons pas au peuple turc: affirmons clairement que son adhésion à l'Union européenne n'est pas possible aujourd'hui, ni demain, ni dans les prochaines années. Affirmons tout aussi clairement que, puisque les Françaises et les Français pourront être appelés à se prononcer par référendum sur le sujet, il est de notre devoir de poser honnêtement, sereinement, les termes de ce débat, sans chercher à le clore avant qu'il ne soit ouvert. […] La Turquie change parce qu'elle manifeste un vrai désir d'Europe. Laissons-lui du temps. L'heure est au débat, au dialogue, au rapprochement nécessaire pour une proximité qui reste à définir. C'est tout l'enjeu de la période qui va s'ouvrir bientôt avec la Turquie.“543
Während der Referendumsdebatte warben einzelne UMP-Politiker, wie der Abgeordnete Nicolas Dupont-Aignan, für das „Non“ und begründeten ihre Entscheidung damit, dass ein „Oui“ zum Verfassungsvertrag zugleich auch die Türen für die Türkei öffne. Die Wähler würden über diese Konsequenz des Verfassungsvertrages gezielt getäuscht, unterstellte Dupont-Aignan: „On veut nous faire signer le contrat de mariage en nous cachant la mariée. Voter NON c’est bloquer l’entrée de la Turquie.“544 Ein von der UMP als Ganzes herausgegebenes Faltblatt meinte hingegen: „Vous ne souhaitez pas l’entrée, à terme, de la Turquie? Votez oui!“545 Nach dem gescheiterten Referendum zum Europäischen Verfassungsvertrag ernannte Präsident Chirac am 31. Mai 2005 Dominique de Villepin zum neuen Premierminister, der sich in der Öffentlichkeit gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aussprach und diese Haltung vor allem mit der ungeklärten Zypernfrage begründete.
542 Vgl. Chirac pousse la Turquie à assumer son passé. In: Le Figaro, 02.10.2006; Alain Lamassoure: Pourquoi la Turquie ne peut pas entrer dans l’Union. In: Le Figaro, 06.10.2004. 543 Assemblée nationale: Déclaration du gouvernement sur la candidature de la Turquie à l'Union Européenne et débat sur cette déclaration. Deuxième séance, 14.10.2004. Online verfügbar unter http://assemblee-nationale.decenturl.com/turquie04, zuletzt geprüft am 03.08.2009. 544 Nicolas Dupont-Aignan: J'aime l'Europe. Je vote NON. Flugblatt, 2005. 545 UMP: Vous voulez changer d'Europe. Faltblatt, 2005.
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4 Fallstudien
Besonders kritisch gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei zeigte sich schon frühzeitig Chiracs Amtsnachfolger Nicolas Sarkozy, der im November 2004 Alain Juppé als Präsident der UMP ablöste und nach dem Amt des Wirtschafts- und Finanzministers von 2005 bis 2007 den Posten des Innenministers übernahm. Das von CDU/CSU in die europäische Diskussion eingebrachte Konzept einer Privilegierten Partnerschaft stieß bei Sarkozy auf große Zustimmung. In seinem Wahlkampf um die Präsidentschaft 2007 schlug er außerdem eine Mittelmeerunion vor, mit der er die Türkei – ohne den Schritt einer Mitgliedschaft – näher an die EU anbinden wollte.546 Anders als de Villepin und später auch Chirac, die ihre Skepsis vor allem mit einer Nichterfüllung bestimmter Kriterien durch die Türkei begründeten, lehnte Sarkozy die Idee eines türkischen Beitritts rundheraus ab. Am eingängigsten war dabei seine im Wahlkampf oft wiederholte Aussage, die Türkei liege nun mal nicht in Europa, sondern in Kleinasien. Diese geographisch begründete Ablehnung hat einen definitiven Charakter: Reformen sind prinzipiell durchführbar, Kriterien erfüllbar, politische Standpunkte anpassbar, selbst kulturelle Besonderheiten können sich im Laufe der Zeit wandeln – die Geographie hingegen scheint unveränderbar.547 Nach seiner Wahl zum Präsidenten ernannte Sarkozy François Fillon (UMP) zum Premierminister, der seine ablehnende Haltung zum Türkeibeitritt teilte. Der von 2004 bis 2005 amtierende Außenminister Michel Barnier (UMP) verwies darauf, dass die Frage eines Türkeibeitritts langfristig gedacht werden müsse. Ein Beitritt stehe nicht morgen und nicht übermorgen an, sollte aber auch nicht kategorisch abgelehnt werden (vgl. Deloche-Gaudez, Lequesne 2004, S. 337). Ähnlich positionierte sich Barniers Nachfolger Philippe Douste-Blazy (UMP), der während seiner Zeit im Amt vom Juni 2005 bis Mai 2007 immer 546 Unter französischer EU-Ratspräsidentschaft wurde die „Union für das Mittelmeer“ (deren Konzeption in einigen Punkten von Sarkozys ursprünglich geplanter „Mittelmeerunion“ abwich) schließlich am 13. Juli 2008 in Paris gegründet. 547 Auch bei der Festlegung geographischer Grenzen gibt es allerdings Spielraum für politische Deutung. So argumentiert beispielsweise der Politologe und Orientalist Udo Witzens, dass eine eindeutige geographische Abgrenzung Europas von Asien nicht möglich sei. Wenn die Türkei aus geographischen Gründen als nicht zu Europa zugehörig bezeichnet werde, handle es sich um eine Instrumentalisierung der Geographie, die unterschwellige kulturelle oder religiöse Ablehnungsmotive überdecken solle (vgl. Witzens 2004, S. 94-103). Auch Pierre Raffarin kam in seiner Regierungserklärung anlässlich der Parlamentsdebatte vom 14. Oktober 2004 zu dem Schluss, dass eine Ablehnung der Türkei nicht schlüssig über die Geographie oder die Geschichte begründet werden könne, da beide Aspekte stark deutungsabhängig seien: „Au total, l'histoire et la géographie ne nous permettent donc pas de donner une réponse pertinente à la question de l'adhésion de la Turquie à l'Union européenne.“ Assemblée nationale: Déclaration du gouvernement sur la candidature de la Turquie à l'Union Européenne et débat sur cette déclaration. Deuxième séance, 14.10.2004. Online verfügbar unter http://assemblee-nationale. decenturl.com/turquie04, zuletzt geprüft am 03.08.2009.
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
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wieder die Ergebnisoffenheit des Beitrittsprozesses betonte und eine strikte Einhaltung aller Kriterien durch die Türkei forderte. Bemerkenswerterweise ernannte Nicolas Sarkozy zu Beginn seiner Präsidentschaft einen bekennenden Befürworter des Türkeibeitritts zum Außenminister – den Sozialisten Bernard Kouchner.548 Auf breite Ablehnung stieß die Idee eines Türkeibeitritts in der Führungsriege der UDF bzw. ihrer Nachfolgeparteien MoDem und NC.549 Ein Beitritt der Türkei mache eine Vertiefung der politischen Integration Europas unmöglich, so die Befürchtung vieler Vertreter des Zentrums (vgl. (Lequesne 2006, S. 7). Wie schon dargestellt bezog der ehemalige Staatspräsident Giscard d’Estaing Position gegen den Beitritt. Ebenso skeptisch zeigten sich der UDF/MoDem-Vorsitzende François Bayrou und der Kopf der UDF-Abspaltung NC, Hervé Morin. Auch der langjährige Europaabgeordnete Jean-Louis Bourlanges (UDF/NC) sprach sich öffentlich mehrfach gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei aus. Die FN lehnte einen Beitritt der Türkei geschlossen ab. Sie nutze das Thema auch intensiv für ihre Kampagne gegen den Verfassungsvertrag. Dieser impliziere einen Beitritt der Türkei: „L’Europe sera dominée par la Turquie.“550 Ähnlich geschlossen, allerdings für einen Beitritt, positionierten sich die Grünen (vgl. von Oppeln 2005b, S. 394). Die PS wiederum zeigte sich intern zerstritten. Der ehemalige Premierminister Michel Rocard befürwortete den Türkeibeitritt und begründete dies vor allem mit einem strategischen geopolitischen Interesse der EU (vgl. Rocard 2004, S. 31). Auch der Parteivorsitzende François Hollande zeigte sich aufgeschlossen gegenüber einem Beitritt der Türkei, wenn diese alle notwendigen Kriterien erfülle. Der ehemalige Außenminister Hubert Védrine plädierte für das Konzept einer Privilegierten Partnerschaft. Robert Badinter, Justizminister unter Mitterrand, positionierte sich gegen einen Beitritt der Türkei (vgl. Lequesne 2006, S. 5). Von den drei Bewerbern für die sozialistische Präsidentschaftskandidatur sprach sich Laurent Fabius klar gegen, Dominique Strauss-Kahn hingegen für den Türkeibeitritt aus.551 Die im internen Nominierungsprozess letztlich erfolg548 Alain Frachon; Franck Nouchi: La dernière mission du docteur Kouchner. In: Le Monde, 18.05.2007. 549 Nachdem 29 UDF-Abgeordnete in das Regierungslager von Nicolas Sarkozy gewechselt waren, proklamierte der Parteivorsitzende François Bayrou am 10. Mai 2007 die Gründung einer neuen Partei unter dem Namen „Mouvement Démocrate“. Die von Hervé Morin angeführte Sarkozy-loyale UDF-Gruppe schloss sich daraufhin zum „Nouveau Centre“ zusammen. 550 FN: Le 29 mai, allez voter et dites 2x NON. NON à la Constitution européenne, NON à la Turquie en Europe. Flugblatt, 2005. 551 Henri de Bresson; Arnaud Leparmentier: Laurent Fabius défend une Europe de gauche sans la Turquie. In: Le Monde, 09.11.2004.
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4 Fallstudien
reiche Kandidatin Ségolène Royal versuchte die parteiinternen Spannungen auszugleichen, indem sie eine eigenständige Positionierung nahezu vollständig vermied. Nach ihrer Meinung zur Frage des Türkeibeitritts gefragt antwortete sie ausweichend: „Mon opinion est celle du peuple français.“552 Kurz vor dem Wahltermin im Mai 2007 präzisierte sie, dass sie grundsätzlich für eine Pause in der Erweiterungspolitik der EU plädiere. Der Türkei dürfe man dennoch nicht die Türe vor der Nase zuschlagen. Die islamische Orientierung der Türkei dürfe kein Ausschlusskriterium sein: Wenn das Land die Kriterien erfülle, solle es der EU beitreten können.553 Die Geschlossenheit der politischen Elite war zur Frage des Türkeibeitritts insgesamt gering. Das Thema nährte nicht nur den zwischenparteilichen Konflikt, sondern spaltete die Parteien auch intern. Die Gegner eines Beitritts traten dabei deutlich stärker in die Öffentlichkeit als die Befürworter. Wie Christian Lequesne (2007, S. 84) feststellt: „les élites politiques françaises – y compris celles qui se définissent traditionellement pro-européennes – n’ont jamais délivré un discours positif sur l’élargissement“.
4.3.2.3 Das Angebot politischer Alternativen Der Präsidentschaftswahlkampf 2007 war ein von Medien und Bürgern mit großer Aufmerksamkeit verfolgtes Ereignis. Seine Dynamik ist nicht ohne das Trauma der Wahl von 2002 zu verstehen, als sich der rechtsextreme Jean-Marie Le Pen überraschend für die Stichwahl gegen Jacques Chirac qualifiziert hatte. Das damalige Scheitern des sozialistischen Kandidaten, Lionel Jospin, war zum einen durch die niedrige Wahlbeteiligung zu erklären, zum anderen entfielen zahlreiche Stimmen auf die kleinen Parteien links der PS. Das Ergebnis, ein Duell „rechts gegen rechtsextrem“, hinterließ einen nachhaltigen Schock in Frankreich, dessen Folgen 2007 zu spüren waren. Die zwei Favoriten, Nicolas Sarkozy von der UMP und Ségolène Royal von der PS, führten beide einen sehr aktiven Wahlkampf und setzten sich wiederholt dem Populismus-Vorwurf aus. Doch eines gelang ihnen offenbar: Die Franzosen wieder für die Politik zu interessieren. Entsprechend hoch war die Wahlbeteiligung mit rund 84 Prozent bei beiden Wahlgängen. Eine zweite Konsequenz der Präsidentschaftswahl 2002 war Ségolène Royals Aufruf zur „vote utile“: Die linke Wählerschaft sollte vom ersten Wahlgang an für sie votieren und keine 552 Royal, zitiert nach: Isabelle Mandraud: Pour relancer l'UE, Ségolène Royal prône une " Europe par la preuve ". In: Le Monde, 13.10.2006, S. 9. 553 Vgl. Henri de Bresson: L'adhésion de la Turquie à l'UE oppose les candidats. In: Le Monde, 04.05.2007, S. 11.
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
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Stimme an die Kandidaten der kleineren linksextremen Parteien „verschenken“, so der Appell der sozialistischen Kandidatin. Der Aufruf erzielte Wirkung: Die kleineren Parteien waren die Verlierer der Wahl, während sich die Kandidaten von UMP und PS beide deutlich gegenüber den Stimmenanteilen ihrer Vorgänger Chirac und Jospin verbesserten. Die Stichwahl gewann schließlich Nicolas Sarkozy mit 53,1 Prozent der Stimmen.554 Die kurz darauf stattfindenden Parlamentswahlen am 10. und 17. Juni 2007 konnten die Menschen kaum mehr mobilisieren: Im ersten Wahlgang enthielten sich 39,6 Prozent, im zweiten gar 40,0 Prozent der französischen Bürger ihrer Stimme. Mit der Wahl des Präsidenten schien den Franzosen die wichtigste Entscheidung bereits getroffen zu sein. Die Parlamentswahl bestätigte lediglich deren Ergebnis, indem die UMP mit Abstand die meisten Sitze erzielte.555 Der Türkeibeitritt war sowohl in der Kampagne des Präsidentschafts- als auch des Parlamentswahlkampfes ein Thema. Innerhalb des Themenkomplexes Europa nahmen die Kandidaten häufig zum gescheiterten Verfassungsvertrag Stellung. Alle etablierten Parteien forderten eine Neuausrichtung Europas. Eine „weiter so“-Rhetorik pflegte niemand: Die Politiker wollten den Bürgern signalisieren, dass sie deren ablehnendes Votum im Referendum erhört hatten. Während die linken Parteien jedoch in erster Linie gegen das „neoliberale“ Europa polemisierten, betonten die rechten Parteien vor allem ihre Opposition zum Türkeibeitritt.
554 Nicolas Sarkozy (UMP) erzielte im ersten Wahlgang am 22. April 2007 31,2 Prozent der Stimmen, Ségolène Royal (PS) 25,9 Prozent. François Bayrou (UDF) errreichte 18,6 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang und verdreifachte damit fast sein Ergebnis von 2002. Le Pen (FN) verschlechterte sich massiv mit einem Stimmenanteil von 10,4 Prozent. Marie-George Buffet (PCF) konnte lediglich 1,9 Prozent und Dominique Voynet (Les Verts) nur 1,6 Prozent auf sich vereinen. Die Stichwahl am 6. Mai 2007 gewann Sarkozy mit 53,1 Prozent. Auf Royal entfielen im zweiten Wahlgang 46,9 Prozent der Stimmen. Obwohl Le Pen zur Enthaltung aufgerufen hatte, gaben fast drei Fünftel seiner Anhänger ihre Stimme Sarkozy. Der UMP-Kandidat konnte außerdem knapp die Hälfte der Bayrou-Wähler für sich gewinnen, obwohl Bayrou selbst erklärt hatte, ihn nicht zu wählen. Vgl. Kimmel 2007, S. 7. 555 Im ersten Wahlgang entfielen 39,5 Prozent der abgegebenen Stimmen auf die UMP, 24,7 Prozent auf die PS, 4,3 Prozent auf die PCF, 7,6 Prozent auf UDF-MoDem und 2,4 Prozent auf die „Majorité présidentielle“ mit der UDF-Abspaltung NC. Die Grünen erzielten 3,3 Prozent der Stimmen, die FN 4,3 Prozent. Die UMP konnte 313 Sitze für sich gewinnen. Auf die PS entfielen 186 und auf die PCF 15 Sitze. Die „Majorité présidentielle“ kam auf 22 Sitze während sich UDF-MoDem mit nur 3 Sitzen zufrieden geben musste. Die Grünen konnten 4 Sitze für sich verbuchen. Der FN gelang der Einzug in die Nationalversammlung nicht. Im Ergebnis war die Sitzverteilung der politischen Gruppen in der Nationalversammlung: UMP: 320, Socialiste, radical et citoyen: 204, Gauche démocrate et républicaine: 24, NC: 23, Sonstige: 6.
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4 Fallstudien
Im Präsidentschaftswahlkampf ergriff einzig die Kandidatin der Grünen, Dominique Voynet, klar Stellung für einen EU-Beitritt der Türkei.556 Die sozialistische Kandidatin, Ségolène Royal wich dem Thema aus: In ihrem Programm und diversen Werbemitteln warb sie unter dem Stichwort „Europa“ für eine soziale Neuausrichtung der EU und für eine erneute Volksbefragung zum Reformvertrag. Mit einem Präsidenten Sarkozy, so die Drohkulisse, wäre die Folge ein „Europe du libre échange, du libéralisme sauvage qui attaque les services publics“557. Auch die kommunistische Kandidatin, Marie-George Buffet, ging in ihrer Wahlkampagne nicht näher auf den Türkeibeitritt ein Nicolas Sarkozy von der UMP betonte immer wieder seine Gegnerschaft zu einem türkischen EU-Beitritt: „Je veux que l’Europe ait des frontières et je m’opposerai à l’entrée de la Turquie“558, versprach er in seinem Wahlprogramm. Auch in diversen Flugblättern präsentierte er sich als Garant eines Europas ohne die Türkei: „Je veux être le président d’une nouvelle Europe. Une Europe avec une identité et des frontières […]. Je m’opposerai à l’intégration de la Turquie.“559 François Bayrou (UDF) positionierte sich ebenfalls gegen einen EU-Beitritt der Türkei, ohne jedoch dieses Thema in seiner Kampagne besonders zu betonen. Mit Sarkozy teilte er die Einschätzung, dass die Türkei kein europäisches Land sei. Darüber hinaus befürchtete er eine Schwächung der politischen Vertiefung der Integration. In seinem Wahlprogramm plädierte er für eine generelle Pause in der Erweiterung. Seine Devise: „Privilégier l’approfondissement avant tout nouvel élargissement.“560 Der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Jean-Marie Le Pen (FN) warnte vor einer Islamisierung Frankreichs und Europas in Folge eines EU-Beitritts der Türkei und sprach sich für ein Europa der Nationen und „peuples de civilisation chrétienne“561 aus. Bei den Parlamentswahlen sind einheitliche parteipolitische Positionierungen schwerer zu bestimmen, da die einzelnen Kandidaten ihre Werbemittel 556 Dominique Voynet: Les Verts. Pour une France écologique et solidaire: 15 orientations – 50 propositions. Faltblatt, 2007. 557 Ségolène Royal: La France Présidente. Ségolène Royal. Le 6 mai, le choix décisif. Flugblatt, 2007. 558 Nicolas Sarkozy: Mon Projet. Ensemble, tout devient possible. Wahlprogramm, 2007, S. 10. 559 Nicolas Sarkozy: Je veux être le Président d'une nouvelle Europe. Ensemble, tout devient possible. Flugblatt, 2007. 560 François Bayrou: La France de toutes nos forces. Élection présidentielle 2007. Programme d'action de François Bayrou, S. 18. 561 Jean-Marie Le Pen: Le Bourget. Projet présidentiel. Discours prononcé à la Convention présidentielle du Front national, 12.11.2006. Online verfügbar unter http://frontnational.decenturl. com/pres07, zuletzt geprüft am 12.08.2009. Die Gegnerschaft zu einem EU-Beitritt der Türkei war außerdem eines der Hauptthemen der Kampagne von Philippe de Villiers (MPF).
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
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oft den eigenen Schwerpunkten entsprechend mitgestalten. Im vorliegenden Material wurde kein einziges Dokument gefunden, das eine Befürwortung des Türkeibeitritts zum Ausdruck brachte. Allerdings sprachen sich mehrere Abgeordnete offen dagegen aus: So forderte Philippe Goujon von der UMP: „Arrêter l’élargissement; refuser définitivement l’adhésion de la Turquie.“562 Lisa Morin von der Sarkozy-getreuen UDF-Abspaltung forderte ebenso „un statut d‘État associé, non État membre, pour la Turquie.“563 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Frage des Türkeibeitritts im Präsidentschafts- wie auch im Parlamentswahlkampf eine Rolle spielte. Vor allem die rechten und extremrechten Parteien besetzten dieses Thema und positionierten sich klar in Opposition zum Türkeibeitritt. Den Bürgern wurde somit eine deutlich wahrnehmbare Alternative zum ursprünglich beitrittsfreundlichen Kurs von Präsident Chirac geboten. Paradoxerweise stammte dieser Gegenentwurf jedoch nicht von den oppositionellen linken Parteien, sondern aus dem rechten Lager, insbesondere auch von Chiracs eigener Partei UMP. Die linken Parteien, die eher zu den Befürwortern eines Beitrittes zählen, sparten das Thema weitgehend aus. Ein klares Bekenntnis zum Türkeibeitritt war lediglich von Dominique Voynet zu hören.
4.3.2.4 Regierende und Regierte: Annäherung durch Responsivität Das Meinungsbild der Franzosen zu einem EU-Beitritt der Türkei ist von einer konstanten Ablehnung geprägt. Im gesamten Untersuchungszeitraum war kein Stimmungsumschwung zu verzeichnen – und dieses Bild ändert sich selbst dann nicht, wenn man jeweils eine Umfrage vor bzw. nach den Eckdaten der Fallstudie hinzuzieht (Abbildung 4.21).564 Eine effektive Führung der Bevölkerungsmeinung misslang ganz offensichtlich.
562 Philippe Goujon; Géraldine Poirault-Gauvin: 12ème circonscription de Paris. UMP. Faltblatt, 2007. 563 Lisa Morin; Jacques Vidican: 3ème circonscription de Paris. Parti social libéral européen. Faltblatt, 2007. (Die UDF-Abspaltung, die später zum „Nouveau Centre“ wurde, firmierte zunächst kurze Zeit unter der Bezeichnung „Parti social libéral européen“.) 564 Identische Fragestellung in allen untersuchten Eurobarometer-Umfragen: „For each of the following countries, would you be in favour or against it becoming part of the European Union… Turkey?“
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4 Fallstudien
Bevölkerungsmeinung zum EU-Beitritt der Türkei Pro
Contra
Keine Meinung
80 70
Prozent
60 50 40 30 20 10 0 Herbst 02 EB58 Frühjahr 05 EB63 Herbst 05 EB64
Herbst 06 EB66 Frühjahr 08 EB69
Ausgabe Standard Eurobarometer
Abbildung 4.21: Die Einstellungen der Franzosen zum EU-Beitritt der Türkei
Chirac zählte anfangs europaweit mit zu den engagiertesten Befürwortern eines türkischen EU-Beitritts. Für diese Politik fehlte ihm jedoch der innenpolitische Rückhalt: Nicht nur die Bevölkerung war strikt gegen den Türkeibeitritt, auch die Medien lehnten ihn mehrheitlich ab. Ähnlich wie in Deutschland zeigten sich zwar auch in Frankreich Unterschiede in der Medienmeinung je nach Verortung des Mediums im politischen Spektrum – die eher links gerichtete Zeitung LM stand dem Beitritt aufgeschlossener gegenüber als die eher rechts gerichtete Zeitung LF – in ihrer Gesamtheit war die Medienmeinung jedoch klar ablehnend. Von einer geschlossenen politischen Elite kann in der Frage des Türkeibeitritts ebenfalls keine Rede sein. Durch die etablierten Parteien zogen sich tiefe Gräben zwischen Befürwortern und Gegnern. Für Präsident Chirac ergab sich die schwierige Situation, dass er innerhalb seiner eigenen Partei eine Minderheitenposition vertrat. Sein innerparteilicher Rivale Nicolas Sarkozy wusste hingegen mit seiner Opposition zum Türkeibeitritt die Mehrheit der UMP hinter sich. Die Türkeifrage manifestierte sich schließlich auch in den zwei elektoralen Wettbewerben des Jahres 2007: Während in den Kampagnen kaum Befürworter des Beitrittes zu vernehmen waren und die linken Parteien weitgehend zum
4.3 Die Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei (2004-2007)
253
Thema schwiegen, positionierten sich mehrere, den rechten Parteien entstammende, Politiker klar gegen einen EU-Beitritt der Türkei – allen voran der UMPPräsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy. Nicht erst durch den per Wahl verursachten personellen Wechsel an der Staatsspitze, sondern schon seit Mitte 2005 war eine deutliche Anpassung des Regierungshandelns an die ablehnende Bevölkerungsmeinung zu erkennen. In einem Fernsehinterview vom 15. Dezember 2004 erteilte Chirac der Idee einer Privilegierten Partnerschaft noch eine klare Absage und bestätigte, dass er – wenn die Türkei die Beitrittskriterien erfülle – einen Beitritt befürworte. Mit dem Referendum über den Verfassungsvertrag wurden europapolitische Themen jedoch zunehmend innenpolitisch relevant und Chiracs Positionierung wurde für ihn zur Belastung. Er sah sich zu immer mehr Zugeständnissen gezwungen. Um den Skeptikern entgegenzukommen und insbesondere auch um die Debatte zum Verfassungsvertrag von der Türkeifrage zu lösen, veranlasste Chirac im März 2005 eine Änderung der französischen Verfassung, die ein obligatorisches Referendum über künftige EU-Beitritte vorschrieb. Dieser Akt implizierte weitreichende Konsequenzen: Chirac übertrug dem französischen Volk eine direkte Entscheidungskompetenz. Ein Beitritt der Türkei gegen den ausdrücklichen Willen der französischen Bürger sollte auf diesem Weg unmöglich gemacht werden. Bekanntlich gelang es trotzdem nicht, die Türkeifrage aus der Referendumsdebatte herauszuhalten. Nach dem gescheiterten Referendum stieg somit auch für Chirac der Druck weiter an, seine Haltung zum Türkeibeitritt anzupassen. Als die türkische Regierung am 29. Juli 2005 mit der Unterzeichnung des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen eine offizielle schriftliche Erklärung verband, der zufolge diese Unterzeichnung nicht die Anerkennung der Republik Zypern bedeute, nahm die französische Regierung dies zum Anlass, eine Wende ihrer Türkeipolitik einzuleiten. Präsident und Premierminister setzten sich nun auf europäischer Ebene dafür ein, dass die offizielle Anerkennung Zyperns durch die Türkei eine notwendige Voraussetzung der Beitrittsgespräche darstellen müsse. Wie Heinz Kramer feststellt, ist dieser Positionswechsel der französischen Regierung inhaltlich kaum zu begründen: Spätestens seit dem Tauziehen um die Anerkennung Zyperns beim Treffen des Europäischen Rates im Dezember 2004 kannte Präsident Chirac die Haltung der Regierung Erdoan in dieser Frage. Die türkische Weigerung, mit einer Unterzeichnung des Ankara-Protokolls die Republik Zyperns offiziell anzuerkennen, mag viele Staaten verärgert haben – überraschend war sie nicht. Sie war umso weniger erstaunlich, als es die EU ihrerseits versäumt hatte, dem türkischen Norden Zyperns die versprochenen Hilfen zukommen zu lassen. Dass Chirac den türkischen Vorbehalt nicht schon im Dezember 2004, sondern erst im Juli 2005 zum Anlass nahm, um den EU-
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4 Fallstudien
Beitritt der Türkei öffentlich in Frage zu stellen, „kann also nur mit den zwischenzeitlichen Ereignissen in Frankreich, dem deutlich verlorenen Referendum und den damit verbundenen Implikationen für die innen- und parteipolitische Stellung des Präsidenten erklärt werden.“565 Im Dezember 2006 schloss sich Chirac angesichts der anhaltenden türkischen Weigerung zur Ausweitung der Zollunion auf Zypern Angela Merkels Forderung nach einem Ultimatum mit „Revisionsklausel“ an und unterstrich damit einmal mehr seine zunehmend beitrittskritische Haltung. Weiterhin ist Chiracs Armenienreise Ende September 2006 als hoch symbolische Geste zu werten. Nach einem Besuch der Genozid-Gedenkstätte in Eriwan antwortete er auf die Frage von Journalisten, ob die Türkei den Völkermord anerkennen müsse, bevor sie der EU beitrete: „Honnêtement, je le crois.“566 Während das Umfeld des Präsidenten diese Äußerung offiziell nicht als Positionsänderung hinsichtlich des Türkeibeitritts verstanden wissen wollte, wurde die Aussage von den Beitrittsgegnern in Frankreich, auch in Chiracs eigener Partei, als ein wichtiger Schritt in die „richtige“ Richtung gewertet. Das responsive Verhalten der Regierung unter Chirac bestand demnach aus zwei Elementen: Zum einen erteilte er dem französischen Volk per Verfassungsänderung das letzte Wort in der Frage des Türkeibeitritts, zum anderen nahm er eine Anpassung der eigenen Position vor, indem er durch eine Betonung der Armenierfrage und des Zypernkonfliktes vermehrt Vorbehalte gegenüber einem Türkeibeitritt formulierte. Diesen beitrittskritischen Regierungskurs setzte Nicolas Sarkozy nach seiner Wahl zum Präsidenten fort. Da er nicht – wie Chirac – einen Positionswechsel zu begründen hatte, sondern schon immer zu den Gegnern eines Türkeibeitritts zählte, verschärfte sich die offen ablehnende Haltung der französischen Regierung. So blockierte der neue französische Präsident gleich zu Beginn seiner Amtszeit, am 26. Juni 2007, auf europäischer Ebene die Eröffnung des Verhandlungskapitels über die Teilnahme der Türkei an der Wirtschafts- und Währungsunion. Die hier untersuchte Fallstudie nimmt kurz nach dem Amtsantritt Sarkozys ihr Ende. Resümierend ist festzustellen, dass die Kluft zwischen Regierenden und Regierten durch Responsivität geschlossen wurde. Obwohl über die gesamte Fallstudie hinweg dieselbe Partei, die UMP, die Regierung stellte, war ein deutlicher Umschwung des Regierungshandelns zu beobachten. Dieser Umschwung nahm seinen Anfang unter der Präsidentschaft Chiracs und wurde von seinem Nachfolger Sarkozy weiter verstärkt. 565 Heinz Kramer: Türkei-Verhandlungen als Spielball der Interessen, 2005. (SWP-Aktuell, 42), S. 5. Online verfügbar unter http://swp-berlin.decenturl.com/spielball, zuletzt geprüft am 29.08.2009. 566 Chirac pousse la Turquie à assumer son passé. In: Le Figaro, 02.10.2006.
5
Synthese
5 Synthese
Die vorliegende Arbeit hat sich am Beispiel Deutschlands und Frankreichs mit nationalen Repräsentationsprozessen in europapolitischen Fragen auseinandergesetzt. Sie suchte zu erklären, warum das europapolitische Handeln nationaler Regierungen bisweilen über Jahre hinweg den Präferenzen der Bürger widerspricht. Basierend auf repräsentationstheoretischen Überlegungen wurde festgestellt, dass eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten entweder durch Responsivität (Anpassung des Regierungshandelns an die Bevölkerungsmeinung) oder Führung (Anpassung der Bevölkerungsmeinung an das Regierungshandeln) überwunden werden kann. Responsivität und Führung sind jedoch nur zwei von drei möglichen Handlungsstrategien, die sich an Wiederwahl interessierten Politikern im Fall einer ablehnenden Bevölkerungsmeinung bieten. Eine dritte Option besteht in der Depolitisierung der jeweiligen Streitfrage. Die vorliegende Arbeit argumentierte, dass die Regierenden nicht nur nach Amtserhalt („office“), sondern auch nach einer möglichst großen Aktionsfreiheit zur Verwirklichung ihrer inhaltlichen Ambitionen („policy“) streben. Die drei Handlungsoptionen – Responsivität, Führung und Depolitisierung – lassen sich vor diesem Hintergrund ihrer Attraktivität nach hierarchisieren: Da Responsivität den Handlungsspielraum der Regierenden maximal beschneidet, ist sie aus Sicht der Regierenden die unattraktivste Option. Depolitisierung bietet in ihren Augen hingegen die meisten Vorteile: Gelingt es ihnen, eine unpopuläre Politik sowohl von der öffentlichen Agenda als auch aus dem politischen Wettbewerb zu verbannen, so bewahren sie sich ihren Handlungsspielraum, ohne ihre Wiederwahl zu gefährden. Der Versuch, die Bevölkerungsmeinung zu führen, stellt aus der Perspektive der Regierenden lediglich die zweitattraktivste Option dar, da sie ein beträchtliches Risiko birgt: Sobald aktiv um ein Thema geworben wird, steigt dessen öffentliche Wahrnehmung und damit tendenziell die Relevanz, die die Bürger diesem Thema in ihrer Wahlentscheidung beimessen. Sollten die Überzeugungsversuche der Regierenden scheitern, wächst daher der Druck zu responsivem Verhalten. Zwei Leitfragen strukturierten die Suche nach den notwendigen Voraussetzungen zur Überbrückung einer Kluft: Unter welchen Bedingungen verhalten sich die Regierenden responsiv? Unter welchen Bedingungen ist politische S. Weske, Europapolitik im Widerspruch, DOI 10.1007/978-3-531-92748-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Synthese
Führung effektiv? In Form von Hypothesen wurden Antworten auf diese Fragen formuliert. Sowohl die Ausprägung des politischen Wettbewerbes als auch die Meinung der Medien galt es hierbei zu berücksichtigen: Zum einen wurde argumentiert, dass ein deutlich wahrnehmbares Angebot elektoraler Alternativen die Regierenden zu responsivem Handeln motiviert, während eine geschlossene politische Elite der Effektivität von Führungsversuche zugute kommt. Zum anderen wurde den Medien eine wichtige Rolle zugesprochen: Die Medienmeinung beeinflusst maßgeblich die Herausbildung der öffentlichen „herrschenden“ Meinung. Solange nur die Bürger, nicht aber die Medien, eine bestimmte Politik ablehnen, droht der Unmut der Bevölkerung ungehört zu bleiben, so die Argumentation dieser Arbeit. Erst wenn auch die Medien massiv Stellung gegen die Regierungspolitik beziehen, sehen sich die Regierenden einem signifikanten Druck zu responsivem Handeln ausgesetzt. Der Erfolg von politischer Führung wiederum wurde als abhängig von einer wohlwollenden oder zumindest neutralen Medienmeinung konzipiert. Im Folgenden werden zunächst die Hypothesen rekapituliert, um dann, in Zusammenschau mit den Ergebnissen der Fallstudien, ihre Gültigkeit und Reichweite zu evaluieren. Im Anschluss daran werden die deutschen und französischen Fallstudien auf Gemeinsamkeiten und Differenzen hin untersucht. Theoretische Erwartungen hinsichtlich systemischer Ausprägungen werden mit den empirischen Ergebnissen verglichen. Abschließend wird gefragt, welche Rahmenbedingungen sich im nationalen politischen Kontext für die Überwindung einer europapolitischen Kluft zwischen Regierenden und Regierten bieten.
5.1 Zur Erklärung einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten 5.1 Zur Erklärung einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten Responsivität wurde in dieser Arbeit über die Logik der rationalen Antizipation erklärt: Die Regierenden verhalten sich demnach nur dann in einer bestimmten politischen Frage responsiv, wenn sie ihre Wiederwahl aufgrund dieser Politik akut gefährdet sehen: Hypothese R1: Nur wenn dem Bürger zu einer bestimmten Politik eine politische Alternative geboten wird, verhalten sich die Regierenden responsiv. Hypothese R2: Nur wenn die Ablehnung einer bestimmten Politik durch die Medien stark ist, verhalten sich die Regierenden responsiv.
5.1 Zur Erklärung einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten
257
Führung wurde über die Widerspruchsfreiheit elitärer Botschaften erklärt. Führungsversuche seitens der Regierung sind demnach nur dann effektiv, wenn nicht andere einflussreiche Eliten Gegenteiliges behaupten: Hypothese F1: Nur wenn die Geschlossenheit der politischen Elite zu einer bestimmten Politik groß ist, wirkt Führung effektiv. Hypothese F2: Nur wenn die Ablehnung einer bestimmten Politik durch die Medien schwach ist, wirkt Führung effektiv. Die genannten Hypothesen zu Responsivität und Führung ließen im Umkehrschluss die Formulierung dreier Hypothesen zu, die erklären, unter welchen Bedingungen eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten langfristig bestehen bleibt: Hypothese K1: Immer wenn die mediale Ablehnung einer bestimmten Politik stark, aber kein politisches Angebot hierzu vorhanden ist, kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten nicht überbrückt werden. Hypothese K2: Immer wenn die mediale Ablehnung einer bestimmten Politik schwach, aber die Geschlossenheit der politischen Elite hierzu gering ist, kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten nicht überbrückt werden. Hypothese K3: Immer wenn die Geschlossenheit der politischen Elite zu einer bestimmten Politik gering ist, dem Bürger aber keine politische Alternative hierzu geboten wird, kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten nicht überbrückt werden. Anhand einer tabellarischen Aufstellung (Tabelle 5.1)567 der wichtigsten Fallstudienbefunde gilt es nun zu prüfen, inwieweit die empirischen Ergebnisse den theoretischen Erwartungen entsprechen. Von den sechs untersuchten Fällen wiesen insgesamt vier eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten auf: Einer davon betraf Frankreich („Türkei F 04-07“), die anderen drei Deutschland („EWU D 91-94“, „EWU D 95-98“ und „Türkei D 04-07“). Zweimal konnte die Kluft überbrückt werden: Einmal durch Responsivität („Türkei F 04-07“) und einmal durch Führung („EWU D 95-98“). Zweimal blieb die Kluft bestehen: Weder im Fall „EWU D 91-94“ noch im Fall 567 Jede Einteilung komplexer Realitäten in binäre Schemata stellt eine Vereinfachung dar. In dieser Arbeit wurde bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass lediglich Tendenzen abgebildet werden sollen. Beispielsweise wird nicht behauptet, dass die politische Elite in einer bestimmten Situation gänzlich geschlossen war, sondern dass sie, nach Abwägung aller Faktoren, eher als geschlossen denn als gespalten bezeichnet werden kann. Die ausführliche Begründung der jeweiligen Einstufungen findet sich in den Fallstudienkapiteln.
258
5 Synthese
„Türkei D 04-07“ gelang eine Annäherung zwischen Regierungshandeln und Bevölkerungsmeinung. In den Fällen „EWU F 91-94“ sowie „EWU F 95-98“ lag keine Kluft zwischen Regierenden und Regierten vor. Tabelle 5.1:
Empirische Ergebnisse
Fallstudie
Geschlossenheit der politischen Elite
Angebot politischer Alternativen
Ablehnung durch die Medien
Regierende und Regierte
EWU D 91-94
groß
nicht vorhanden
stark
Kluft
EWU F 91-94
gering
EWU D 95-98
groß
EWU F 95-98
gering
Türkei D 04-07
gering
Türkei F 04-07
gering
ÂKeine Überbrückung
(Konflikt eher innerals zwischenparteilich) nicht vorhanden
schwach
Keine Kluft
nicht vorhanden
schwach
Kluft
(Konflikt sowohl zwischen- als auch innerparteilich) ÂÜberbrückung durch Führung
(Konflikt eher innerals zwischenparteilich) vorhanden
schwach
Keine Kluft
vorhanden
stark
Kluft
(Konflikt sowohl zwischen- als auch innerparteilich) ÂKeine Überbrückung
(Konflikt eher zwischen- als innerparteilich)
(Konflikt sowohl zwischen- als auch innerparteilich)
vorhanden
stark
Kluft ÂÜberbrückung durch Responsivität
5.1.1 Gültigkeit der Hypothesen Beide Fallstudien, die die Überwindung einer Kluft beschreiben, weisen die in den Hypothesen genannten notwendigen Bedingungen auf. Im Fall „EWU D 9598“ konnte eine Kluft durch Führung überbrückt werden: Übereinstimmend mit den Hypothesen F1 und F2 lagen eine große Geschlossenheit der politischen Elite
5.1 Zur Erklärung einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten
259
und eine nur schwach ablehnende Medienmeinung vor. Die Fallstudie „Türkei F 04-07“ zeigt die Überbrückung einer Kluft durch Responsivität an: In Einklang mit den Hypothesen R1 und R2 wurden politische Alternativen angeboten und es gab eine stark ablehnende Medienmeinung. Von den in den Hypothesen K1, K2 und K3 genannten Konstellationen war in den untersuchten Fallstudien nur eine empirisch gegeben: Der Fall „EWU D 91-94“ bestätigt die Hypothese K1, der zufolge eine Kluft immer dann bestehen bleibt, wenn die mediale Ablehnung stark und kein politisches Angebot vorhanden ist. Da die Hypothesen zum Bestehenbleiben einer Kluft logisch aus den Hypothesen zur Überwindung einer Kluft abgeleitet wurden, bedürfen sie nicht zwingend einer eigenen empirischen Prüfung: Immer wenn die notwendigen Bedingungen zur Überwindung einer Kluft nicht gegeben sind, dauert diese langfristig an. Die Hypothesen K1, K2 und K3 beziehen ihre Erklärungskraft somit aus der Gültigkeit der Hypothesen R1 und R2 sowie F1 und F2. In einem ersten Schritt ist festzustellen, dass keine Hypothese durch die empirischen Befunde widerlegt wurde. In einem zweiten Schritt lässt sich nun noch die empirische Relevanz der Ergebnisse beurteilen: Diese wäre gering, wenn die als notwendig identifizierten Bedingungen immer und völlig unabhängig vom untersuchten Phänomen vorliegen würden (vgl. Kapitel 3.1.1). Die Ausprägungen der untersuchten Variablen variieren jedoch von Fall zu Fall. Es kann ihnen daher eine substanzielle Erklärungskraft zugesprochen werden.
5.1.2 Weiterführende Schlussfolgerungen Die in den Hypothesen K2 bzw. K3 genannten Kombinationen aus einer schwachen medialen Ablehnung und einer gespaltenen politischen Elite („EWU F 9194“ und „EWU F 95-98“) bzw. einer gespaltenen politischen Elite und einem Mangel an politischen Alternativen („EWU F 91-94“) waren zwar empirisch gegeben, doch lag in keinem dieser Fällen eine Kluft vor. Diese Fallbeispiele lassen demnach keine Aussage über die Gültigkeit der Hypothesen K2 und K3 zu, erlauben aber andere, weiterführende Schlussfolgerungen: Sie zeigen, dass die Bedingungen, die als notwendig für das Überwinden einer bestehenden Kluft identifiziert wurden, keineswegs notwendig sind, um das Entstehen einer Kluft zu verhindern. So ist es zwar beispielsweise durchaus plausibel, dass eine mangelnde Geschlossenheit der politischen Elite nicht nur die Führung einer bereits ablehnenden Bevölkerungsmeinung erschwert, sondern auch die Politikvermittlung gegenüber prinzipiell positiv eingestellten Bürgern beeinträchtigt: In den Studien
260
5 Synthese
„EWU F 91-94“ und „EWU F 95-98“ wuchs die Ablehnung der Bevölkerung in zeitlichem Zusammenhang mit dem offen ausgetragenen Streit der politischen Elite jeweils um über zehn Prozentpunkte. Gleichwohl ist eine gespaltene politische Elite sicherlich nicht alleine ursächlich dafür, dass sich eine ursprünglich positiv eingestellte Bevölkerungsmeinung ins Negative verkehrt: In den zitierten Fallstudien blieben die Befürworter einer Europäischen Währungsunion stets in der Mehrzahl. Abschließend lässt sich auf Basis der Fallstudien noch eine zweite, weiterführende Überlegung anstellen: Inwiefern können die genannten Bedingungen nicht nur als notwendig, sondern auch als hinreichend für Responsivität und Führung gelten? Bei der Entwicklung der Hypothesen (vgl. Kapitel 2.4) wurde bereits darauf verwiesen, dass Responsivität und Führung äußerst vielschichtige Phänomene sind, die eine Erklärung durch einzelne hinreichende Bedingungen wenig plausibel erscheinen lassen. Diese Annahme findet sich durch die Fallstudie „Türkei D 04-07“ bestätigt: Hier war zugleich die Ablehnung der Medien groß und ein Angebot politischer Alternativen vorhanden. Beide notwendigen Bedingungen für Responsivität waren also gemäß den Hypothesen R1 und R2 gegeben. Dennoch passten die Regierenden ihr Handeln nicht der Bevölkerungsmeinung an. Die genannten Bedingungen sind also nicht hinreichend für Responsivität. Die zur Erklärung von Führung identifizierten Bedingungen, also eine geschlossene politische Elite und eine geringe Ablehnung durch die Medien, waren nur in einem der untersuchten Fälle („EWU D 95-98“) gemeinsam gegeben. Obwohl die Führung der Bevölkerungsmeinung in diesem Fall tatsächlich gelang, ergibt es keinen Sinn, die genannten Bedingungen als hinreichend für Führung zu konzeptualisieren: In der Konsequenz würde das bedeuten, dass Impulse der medialen und politischen Eliten ausreichen, um die Meinungsbildung der Menschen quasi fernzusteuern. Dies widerspricht nicht nur theoretisch den Erkenntnissen der Kommunikationswissenschaft (vgl. Kapitel 2.3), sondern findet sich auch faktisch widerlegt, wenn man die empirische Basis über die Fallstudien dieser Arbeit hinaus erweitert: Selbst autoritären Regimes gelingt es, trotz einer Zensur der Presse und der Unterbindung politischer Opposition, keineswegs immer, die Bevölkerung von der „Richtigkeit“ ihres Handelns zu überzeugen. Es kann resümiert werden, dass die genannten Bedingungen zwar, in Übereinstimmung mit den Hypothesen, notwendig zur Überbrückung einer Kluft sind. Sie sind aber weder notwendig, um die Entstehung einer Kluft zu verhindern, noch sind sie hinreichend, um Responsivität bzw. Führung zu garantieren.
5.1 Zur Erklärung einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten
261
5.1.3 Reichweite der Ergebnisse Wie ist die Reichweite der gewonnenen Ergebnisse zu beurteilen und wo ergeben sich Anknüpfungspunkte für weiterführende Forschungsarbeiten? Da die Hypothesen den empirischen Test zeit-, themen- und systemübergreifend bestanden haben, kann ihnen ein zumindest begrenztes Generalisierungspotenzial zugesprochen werden. Ihre Reichweite darf dennoch nicht überschätzt werden: Bei der Anlage des komparativen Untersuchungsdesigns (vgl. Kapitel 3.1) wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Methode des strukturierten, fokussierten Vergleichs ihre Stärke in der Erklärung komplexer sozialer Phänomene durch kausale Mechanismen hat, sich aber nur sehr bedingt für weitreichende Generalisierungen eignet. Diese Einschränkung ist vor allem auf die geringe Fallzahl zurückzuführen. Der nächste sinnvolle Schritt im Forschungsprogramm wäre daher die Einbeziehung weiterer europäischer Mitgliedstaaten, um die Fallzahl zu erhöhen und den Geltungsanspruch der Befunde auszudehnen. Da nur wenige europapolitische Sachfragen in die nationalen Debatten vordringen und den definierten Kriterien einer Kluft entsprechen, ist eine Vergrößerung der Fallzahl über die Untersuchung zusätzlicher Themen nur begrenzt realisierbar. Soweit möglich, wäre die Einbeziehung weiterer europapolitischer Streitfragen aber auf jeden Fall hilfreich, um ein besseres Verständnis thematischer und temporaler Einflussfaktoren zu erlangen. So kann auf Grundlage der hier untersuchten Fallstudien beispielsweise keine verlässliche Aussage darüber getroffen werden, inwiefern die Tatsache, dass es zur Währungsunion tendenziell ein geringeres politisches Angebot gab als zur Frage des Türkeibeitritts, eher auf die untersuchten Zeitperioden oder auf Spezifika der jeweiligen Streitfrage zurückzuführen ist: Einerseits könnte der Befund, temporal, als Indiz einer wachsenden Bedeutung europapolitischer Themen und eines allmählich erodierenden Elitekonsenses interpretiert werden. Andererseits könnte themenbezogen argumentiert werden, dass der Türkeibeitritt, stärker als die Währungsunion, an den Wertvorstellungen der Bürger rührt und daher für die politischen Parteien im Wahlkampf besser nutzbar ist. Auf einer höheren Abstraktionsebene bietet sich außerdem ein politikfeldübergreifender Test der Hypothesen an, um ihre Reichweite auch über den Bereich der Europapolitik hinaus kritisch zu prüfen. Da die Hypothesen zwar durch ein europapolitisches Erkenntnisinteresse motiviert sind, aber explizit auf der Basis allgemeiner theoretischer Annahmen formuliert wurden, wäre eine solche Rückführung auf ein politikfeldallgemeines Niveau ebenso naheliegend wie vielversprechend.
262
5 Synthese
Neben einer Erweiterung der empirischen Datengrundlage scheint die konzeptionelle Ausarbeitung zweier Elemente lohnenswert, die das Handeln der Regierenden potenziell beeinflussen: Erstens: Die Dynamik elektoraler Zyklen. In der vorliegenden Arbeit wurde das Fallstudiendesign daraufhin angelegt, in beiden untersuchten Ländern identische Zeitperioden zu analysieren. Dies erhöht die Vergleichbarkeit der Ergebnisse, spiegelt aber nicht den natürlichen Rhythmus einer Legislaturperiode wider. Mehrere Responsivitätsstudien konstatieren eine Abhängigkeit des Drucks zu responsivem Verhalten von der Nähe des nächsten Wahltermins (vgl. CanesWrone, Shotts 2004; Steenbergen et al. 2007). Diese Annahme erscheint auch vor dem theoretischen Hintergrund dieser Arbeit plausibel: Politiker fürchten im unmittelbaren Vorfeld von Wahlen besonders akut um ihre Wiederwahl, da den Bürgern vor allem in dieser Zeit politische Alternativen geboten werden. Weiterführend wäre es daher interessant zu fragen, ob die in dieser Arbeit etablierte Handlungslogik, der zufolge die Regierenden Depolitisierung und Führung der Responsivität vorziehen, im Verlauf einer Legislaturperiode stabil bleibt oder ob sich spezielle Zeitfenster für Responsivität bzw. Führung ergeben. Zweitens: Die Handlungsbeschränkungen, denen sich die Regierenden auf europäischer Ebene ausgesetzt sehen. Die vorliegende Arbeit wollte in erster Linie notwendige Voraussetzungen für Responsivität und Führung identifizieren. Ob die Regierenden unter den gegebenen Voraussetzungen tatsächlich responsiv handelten oder aber, aufgrund diverser Handlungsbeschränkungen, ihren ursprünglichen Kurs beibehielten, war für die Prüfung der Hypothesen von untergeordneter Bedeutung. Weiterführend wäre jedoch die Frage zu vertiefen, inwiefern sich tatsächliche oder wahrgenommene Zwänge, die sich aus internationalen Verpflichtungen ergeben, auf die Responsivität der Regierenden auswirken. Die unterschiedlichen politischen Arenen, in denen sich die Regierenden gleichzeitig bewegen, implizieren teilweise widersprüchliche Handlungsanreize und -beschränkungen (vgl. Tsebelis 1990). Gerade im Themenfeld der Europapolitik ist eine starke „Pfadabhängigkeit“ des Regierungshandelns zu beobachten (vgl. Pierson 1996): Einmal eingeschlagene Richtungen können nur schwierig wieder geändert werden. Aufgrund des internationalen Verhandlungskontextes drohen Zugeständnisse, die an die heimische Wählerschaft gemacht werden, auf europäischer Ebene für Verstimmungen zu sorgen (vgl. Putnam 1988). So waren auch in den untersuchten Fallstudien die jeweils zu treffenden Entscheidungen stets an andere, bereits zuvor getroffene, Entscheidungen geknüpft, die einen Kurswechsel schwierig erscheinen ließen. Die faktische Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten durch frühere Verpflichtungen ist nicht zu leugnen. Gleichwohl verbleibt den Regierenden
5.2 Deutschland und Frankreich im Vergleich
263
stets ein gewisser Spielraum – auch wenn dieser, überspitzt formuliert, bisweilen nur in der Entscheidung besteht, eher die nationale Wählerschaft oder die europäischen Partner zu verärgern. Besonders interessant ist daher eine Analyse der öffentlichen Deutung des eigenen Handlungsspielraums durch die Regierenden. Diese kann vor einer Wahl signifikant anders ausfallen als danach, wie in der Fallstudie „Türkei D 04-07“ beispielhaft deutlich wurde: CDU und CSU stellten im Bundestagswahlkampf 2005, trotz der zahlreichen, bereits eingegangenen internationalen Verpflichtungen Deutschlands, ihre Gegnerschaft zu einem EU-Beitritt der Türkei heraus. Nach der Wahl berief sich dann Bundeskanzlerin Merkel mit der Formel „pacta sunt servanda“ wiederholt auf eben diese bereits eingegangenen Verpflichtungen in der Frage des Türkeibeitritts, um die Kontinuität der deutschen Position unter ihrer Kanzlerschaft zu rechtfertigen. Derartige Diskrepanzen zwischen dem Plädoyer für einen Kurswechsel vor der Wahl und der Berufung auf außenpolitische Kontinuität nach der Wahl laufen Gefahr, beim Wähler erst Erwartungen zu wecken und dann zu enttäuschen. Es ergibt sich folgendes Dilemma: Die Anwesenheit eines politischen Angebotes kann beim Wähler unter Umständen ähnliche Frustrationen hervorrufen wie dessen Abwesenheit. Auf der einen Seite fördert es die Politikverdrossenheit, wenn den Bürgern keine politische Artikulationsmöglichkeit für ihre Präferenzen geboten wird, auf der anderen Seite trägt es aber ebenfalls nicht zur Politikzufriedenheit bei, wenn den Bürgern im Wahlkampf Optionen angeboten werden, die nach der Wahl nicht umgesetzt werden können oder wollen (vgl. Mény, Surel 2002, S. 14).
5.2 Deutschland und Frankreich im Vergleich 5.2 Deutschland und Frankreich im Vergleich Das „most different systems design“ geht von der Annahme aus, dass die in den Hypothesen beschriebenen kausalen Mechanismen unabhängig vom jeweiligen politischen System wirken. Erst wenn sich diese Annahme widerlegt findet, muss auf systemische Besonderheiten eingegangen werden (vgl. Kapitel 3.1.1). Da die Hypothesen im Verlauf der sechs Fallstudien nicht falsifiziert wurden, können sie bis auf Weiteres als systemübergreifend gültig angesehen werden. Dennoch erscheint eine Prüfung der Frage interessant, inwiefern im deutsch-französischen Vergleich Unterschiede zutage getreten sind: Auch wenn in beiden Ländern die Phänomene Responsivität und Führung nach denselben Regeln ablaufen, wäre es denkbar, dass – abhängig von systemischen Bedingungen – in einem Land eher günstige Ausgangsvoraussetzungen für Responsivität
264
5 Synthese
bestehen, während das andere einen fruchtbaren Boden für effektive Führung bietet. Da das „most different systems design“ allerdings per Definition nicht auf die Entwicklung systemspezifischer, sondern -übergreifender Hypothesen angelegt ist, können die hier präsentierten Gedanken nur als Anreiz weiterführender und gesondert zu prüfender Überlegungen verstanden werden – verallgemeinerungsfähige Aussagen liefern sie nicht.
5.2.1 Zwischen Konsens und Konkurrenz Im politischen System der Bundesrepublik Deutschland haben mehrheitsdemokratische und konsensuale Entscheidungsmodi nebeneinander Gültigkeit (vgl. Korte, Fröhlich 2006, S. 75). Auch wenn Deutschland somit keine Reinform einer Konsensdemokratie verkörpert, überwiegen doch insgesamt – und vor allem im Bereich der Europapolitik – die verhandlungsdemokratischen Elemente (vgl. Lijphart 1999, S. 312). Dies illustrieren auch die im Rahmen der Arbeit untersuchten Fallstudien: Zweimal wurde eine geschlossene politische Elite konstatiert – beide Male in Deutschland („EWU D 91-94“ und „EWU D 95-98“). Die Regierenden versuchten in den untersuchten Fällen, Kritik an der Währungsunion als „anti-europäisch“ zu brandmarken und auf diesem Wege zu tabuisieren. Generell werden europapolitische Fragen in Deutschland nur selten Gegenstand einer offenen politischen Auseinandersetzung. Dieser konsensorientierte politisch-kulturelle Rahmen begünstigt den Erfolg politischer Führungsversuche. So war auch der einzige Fall einer erfolgreichen Führung tatsächlich in Deutschland zu beobachten („EWU D 95-98“). Responsivität wird in konsensdemokratischen Strukturen allerdings mangels Angebot an politischen Alternativen oft erschwert. Falls den Regierenden eine Überzeugung der Bevölkerung nicht gelingt – oder sie den Versuch gar nicht erst unternehmen – droht eine Kluft langfristig bestehen zu bleiben (vgl. Eckstein, Pappi 1999, S. 333). Das vorwiegend mehrheitsdemokratisch geprägte System Frankreichs bietet umgekehrte Voraussetzungen (vgl. Lijphart 1999, S. 312): In der stark wettbewerbsorientierten französischen Politik lassen sich Diskrepanzen zwischen Regierungshandeln und Bevölkerungsmeinung eher durch Responsivität denn Führung überbrücken. Die empirischen Ergebnisse der Fallstudienanalyse bekräftigen diese theoretische Erwartung: Der einzige Fall von Responsivität trat in Frankreich auf („Türkei F 04-07“). Außerdem waren in allen untersuchten französischen Fallstudien zwischenparteiliche Auseinandersetzungen zur jeweiligen Streitfrage zu beobachten, die meistens auch in einem Angebot politischer Alter-
5.2 Deutschland und Frankreich im Vergleich
265
nativen resultierten. Dies ist insofern bemerkenswert, als in zwei der drei französischen Fallstudien die Bevölkerung der untersuchten Politik grundsätzlich positiv gegenüberstand („EWU F 91-94“ und „EWU F 95-98“). Deutlich unbefangener als die deutschen politischen Eliten griffen die französischen etablierten Parteien nicht nur manifest vorhandene Widerstände in der Bevölkerung auf, sondern aktivierten auch gezielt latente Frustrationen, wie es sie zum Beispiel hinsichtlich der Austeritätspolitik zur Qualifizierung an der Europäischen Währungsunion gab. Im Rahmen der Arbeit geführte Hintergrundgespräche mit deutschen und französischen Spitzenpolitikern bestätigen den Eindruck, dass in Frankreich weniger Zurückhaltung besteht, im Wahlkampfkontext über Europapolitik zu streiten. Zwar waren, beispielsweise im Kontext der Maastricht-Debatte („EWU F 91-94“), auch in Frankreich Versuche zu beobachten, kritische Stimmen als „anti-europäisch“ zu diffamieren. Insgesamt hat sich dort jedoch früh die Idee etabliert, dass man über die Frage, welches Europa erstrebenswert sei, völlig legitim streiten kann. Die Kehrseite der französischen wettbewerbsorientierten Grundstruktur besteht darin, dass sich Führungsversuchen nur ungünstige Erfolgsbedingungen bieten: In keinem der untersuchten französischen Fälle konnte eine geschlossene politische Elite festgestellt werden.
5.2.2 Parteien und Wahlen In Deutschland wie auch in Frankreich waren intensive parteiinterne Konflikte zu den untersuchten europapolitischen Fragen auffällig. Intern umstrittene Themen eignen sich im Allgemeinen kaum für die Profilierung im zwischenparteilichen Wettbewerb und werden daher oft gemieden (vgl. Steenbergen, Scott 2004). Die Fallstudien haben allerdings gezeigt, dass parteiinterne Streitigkeiten nicht zwangsläufig in einem mangelnden politischen Angebot resultieren. Die Depolitisierung strittiger Themen liegt vor allem im Interesse der Parteivorsitzenden sowie der Regierungsmitglieder, die diesen Parteien entstammen (vgl. Hooghe, Marks 2009, S. 19). Basismitglieder, die den offiziellen Kurs der Partei nicht billigen, können sich hingegen zu einem Beharren auf ihren inhaltlichen Ambitionen ermutigt fühlen, wenn sie sich in Übereinstimmung mit der Bevölkerungsmeinung befinden (vgl. Steenbergen et al. 2007, S. 20). Ebenso besteht die Möglichkeit, dass parteiinterne Rivalen versuchen, sich über eine Positionierung als „Anwalt“ der Bürgerinteressen Legitimität zu verschaffen und ihre Stellung auf diese Weise zu stärken:
266
5 Synthese „Though the leaders of large parties have an interest in keeping European matters off the political agenda, the same is increasingly untrue [...] of challengers from within large parties. [...] Such challengers, where successful, can capture a major party and use it as a vehicle for gathering anti-European support.“ (van der Eijk, Franklin 2004, S. 48-49)
Derartige innerparteiliche Machtkämpfe waren sowohl in Deutschland wie auch in Frankreich zu beobachten: So forderte beispielsweise der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber den CSU-Vorsitzenden und Finanzminister Theo Waigel in der Frage des Euro heraus. In Frankreich profilierte sich Präsident Chiracs innerparteilicher Rivale Nicolas Sarkozy mit Hilfe der Frage des türkischen EU-Beitritts. Während aber in Deutschland die traditionell starke Parteiund Fraktionsdisziplin innerparteiliche Konfrontationen häufig abfedert, brechen sie in Frankreich offener durch. Es ist beachtlich, dass der französische Staatspräsident in zwei der drei untersuchten Fälle seine eigene Partei gegen sich hatte: Sowohl bei der Einführung des Euro als auch in der Frage des türkischen EUBeitritts vertrat Präsident Chirac eine Minderheitenposition. Bemerkenswert ist weiterhin, dass der Druck zu responsivem Handeln im Fallbeispiel „Türkei F 0407“ nicht von den Oppositionsparteien, sondern aus der Regierungspartei heraus erzeugt wurde: Es war die UMP, die zur ursprünglich beitrittsfreundlichen Regierungspolitik die markanteste Alternative formulierte. Vor diesem Hintergrund kann vermutet werden, dass von der Parteispitze angestrebte Depolitisierungsversuche europapolitischer Streitfragen eher in Ländern mit starker Parteidisziplin – wie Deutschland – wirksam sind. In Ländern mit schwacher Parteidisziplin – wie Frankreich – gelingt es tendenziell schlechter, innerparteilichen Protest zu unterbinden. Wie die Fallstudie „Türkei F 04-07“ gezeigt hat, kann es über interne Protestbewegungen gelingen, aus einer Regierungspartei heraus politische Alternativen zu formulieren und auf diesem Weg die Voraussetzungen für responsives Regierungshandeln zu schaffen. Besteht allerdings ein innerparteilicher Streit lediglich fort, ohne dass er zur Schaffung eines entsprechenden politischen Angebotes führt, so droht – der Hypothese K3 zufolge – eine unüberwindbare Kluft zwischen Regierenden und Regierten: Auf der einen Seite sind bei einem mangelnden politischen Angebot die Voraussetzungen für ein responsives Regierungshandeln nicht gegeben, auf der anderen Seite behindert ein Dissens innerhalb der politischen Elite effektive Führung. Ein letzter Aspekt der deutsch-französischen Unterschiede im parteipolitischen Wettbewerbs verdient nähere Beachtung: Als Bezugsgröße für responsives Regierungshandeln wurde in der vorliegenden Arbeit die relative Mehrheit der Bevölkerung konzeptualisiert. Dies ist repräsentationstheoretisch geboten, da die Regierenden in ihrem Handeln das ganze Volk, nicht nur ihre Wählerschaft ver-
5.2 Deutschland und Frankreich im Vergleich
267
treten. Aus der Handlungslogik der einzelnen Politiker heraus ist dieser Referenzpunkt jedoch nicht zwingend: „An important question to consider is ‚Responsive to whom?‘“ (Hobolt, Klemmensen 2008, S. 312). Die Antwort auf diese Frage hängt unter anderem vom Wahlsystem ab, argumentieren Steenbergen, Edwards und de Vries (2007, S. 18-19): In Mehrheitswahlsystemen, wie Frankreich, werde die Wahltaktik vor allem am Median der Gesamtbevölkerung ausgerichtet, während in Verhältniswahlsystemen, wie Deutschland, dem Median der parteispezifischen Klientel eine größere Bedeutung zukomme. Eine gezielte Klientelpolitik kann hier unter Umständen sinnvoll erscheinen, auch wenn sie den Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit widerspricht. In diese Richtung weist auch das Fallbeispiel „Türkei D 04-07“: Im Dezember 2004 schätzte die Bevölkerungsstatistik das türkischstämmige Wählerpotenzial auf rund 900.000 Stimmen; der Anteil der SPD-Sympathisanten wurde auf über zwei Drittel taxiert, jener der Grünen-Sympathisanten auf 17 Prozent.568 Diese Zahlen dürften für den unbeirrt beitrittsfreundlichen Kurs der rot-grünen Bundesregierung zumindest mitverantwortlich gewesen sein.
5.2.3 Die Rolle der Medien In den untersuchten deutschen und französischen Fällen teilten die Medien weitgehend die Bevölkerungsmeinung und wirkten somit tendenziell verstärkend auf diese ein. Unabhängig davon, wie die untersuchten Qualitätszeitungen die jeweiligen Politikziele bewerteten, fiel ihr Urteil über das Regierungshandeln eher kritisch aus. Den Regierungen wurde seitens der Medien häufig vorgeworfen, die Zweifel der Bevölkerung nicht mithilfe von Argumenten auszuräumen, sondern lieber „totzuschweigen“. Ein SZ-Journalist unterstellte den Regierenden am Beispiel der Währungsunion folgendes Räsonnement: „Die Ablehnung der neuen Währung, die in Meinungsumfragen immer wieder deutlich wird, ist so groß, dass ein Politiker, der sich vehement in der Öffentlichkeit für den Euro einsetzt, sogar seine Abwahl befürchten muss. Was also tun? Der Euro wird weiter auf kleiner politischer Flamme gekocht. Irgendwann werden Herr Meier aus Rostock und Frau Schulze aus Augsburg die neue Währung schon lieben lernen.“569
568 Vgl. Konrad Adam: Schröder baut auf die Türken als Wähler. In: Die Welt, 16.12.2004, S. 2. 569 Andreas Oldag: Nur Peanuts für den Euro. In: Süddeutsche Zeitung, 29.01.1997, S. 27.
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5 Synthese
Die Medien betonten vor diesem Hintergrund mehrfach ihre Rolle als Sprachrohr der Bevölkerung – sie wollten den Politikern die Sorgen des „einfachen Bürgers“ in Erinnerung rufen. Selbst in Fallstudien, die eine wohlwollende Bevölkerungsund Medienmeinung anzeigten („EWU F 91-94“, „EWU F 95-98“), wiesen die Medien alle Versuche der Regierung, Kritik an den jeweiligen europapolitischen Entscheidungen zu tabuisieren, scharf zurück. Die Zeitungen forderten in allen deutschen und französischen Fallstudien eine offene und freie Debatte ein und mahnten die Regierenden zu mehr Einsatz bei der Politikvermittlung. In den deutschen Fallstudien äußerten die Qualitätszeitungen SZ und FAZ ihre Opposition zu den untersuchten Politiken ebenso wie ihre Kritik am Regierungshandeln drastischer und deutlicher als die Bild. Obwohl das BoulevardBlatt für seinen polemischen Stil bekannt ist, war seine Berichterstattung zu den untersuchten politischen Themen relativ ausgewogen. Dieses kontraintuitive Ergebnis erklärt sich in der Zusammenschau mit anderen Analysen der BildZeitung: Nicht nur in den untersuchten Streitfragen, sondern generell fällt ihre politische Berichterstattung eher wohlwollend aus. Die berüchtigten Meinungskampagnen beziehen sich vor allem auf gesellschaftspolitische Skandale: „Ein Befund, der auf den ersten Blick überrascht, sich aber in mehreren Untersuchungen, die zu unterschiedlichen Zeiten durchgeführt wurden und mit unterschiedlichen Indikatoren für Negativität arbeiten, übereinstimmend zeigt, ist, dass keine deutsche Tageszeitung in ihrer alltäglichen Berichterstattung so wenig konfliktorientiert berichtet und Politiker und Parteien so positiv bewertet wie die Bild-Zeitung.“ (Maurer, Reinemann 2006, S. 132-133)
In den untersuchten Fallstudien hat die Bild-Zeitung vorhandene Meinungstrends höchstens verstärkt. Ein eigenständiger Einfluss auf die Meinungsbildung der Bürger bzw. auf die Handlungslogik der Politiker war hingegen nicht zu erkennen.
5.3 Nationale Repräsentationsprozesse in europapolitischen Fragen 5.3 Nationale Repräsentationsprozesse in europapolitischen Fragen Die empirischen Ergebnisse dieser Arbeit sollen nun abschließend in einen allgemeineren theoretischen Kontext gesetzt werden: Welcher Rahmen bietet sich nationalen Repräsentationsprozessen in europapolitischen Fragen und was folgt daraus für die Möglichkeiten zur Überwindung einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten?
5.3 Nationale Repräsentationsprozesse in europapolitischen Fragen
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5.3.1 Europäische Integration und nationaler Parteienwettbewerb In vielen EU-Mitgliedstaaten ist die Kritik an der europäischen Integration ein Charakteristikum der nicht etablierten Parteien – sowohl am rechten als auch am linken Rand des politischen Spektrums (vgl. Taggart 1998). Da die etablierten Parteien meist einen pro-europäischen Konsens pflegen, können sich Protestparteien auf diesem Weg wirksam abgrenzen. Peter Mair (2001) deutet Europakritik daher vor allem als Ausdruck einer generellen Oppositionshaltung. Auf diese Protestfunktion dürfe sie jedoch nicht reduziert werden, hält Hanspeter Kriesi (2007) dagegen. Seiner Einschätzung nach ist die Mobilisierung für oder gegen Europa zu einer neuen strukturellen Konfliktlinie im parteipolitischen Wettbewerb geworden. Inwiefern die europäische Integration tatsächlich zur Herausbildung neuer „cleavages“570 führt, bleibt in der Forschung umstritten (vgl. Harmsen 2005; Kriesi et al. 2006). Weitgehend einig sind sich neuere Arbeiten in der Diagnose, dass Europapolitik die nationale Parteienlandschaft zunehmend prägt (vgl. Mény, Surel 2002, S. 15). Diese gewachsene Bedeutung europapolitischer Themen resultiert allerdings nicht zwangsläufig in einem zwischenparteilichen Wettbewerb: „Although most mainstream parties publicly support European integration, very few such parties are perfectly united on this issue. Indeed, intraparty dissent over the issue has increased fairly consistently over the past 20 years“ (Gabel, Scheve 2007b, S. 38). In den Fallstudien der vorliegenden Arbeit fanden die Auseinandersetzungen der politischen Elite häufiger inner- als zwischenparteilich statt. Viele Analysen zu der Frage, ob und inwiefern die europäische Integration zur Entstehung einer neuen strukturellen Konfliktlinie führt, befassen sich ausschließlich mit der Dimension „pro/contra europäische Einigung“. Die vorliegende Arbeit hat bereits an anderer Stelle auf die konzeptionellen Grenzen dieser Dimension hingewiesen (vgl. Kapitel 1.1.3) – hier zeigen sie sich erneut. Wie Stefano Bartolini (2005, S. 395-396) feststellt, müssen die konkreten politischen Ziele, die mit der europäischen Einigung verbunden sind, in die Analyse einbezogen werden: „More integration may mean more market competition and openness, but it may also mean a greater European-level control of the market itself, of immigration fluxes, and of the exit options of globalized capital. More integration may mean breaking the unions’ strength via economic liberalization, decentralizing bargaining and dis570 Zur Cleavage-Theorie, die die Strukturierung von Parteiensystemen auf Basis langfristiger gesellschaftlicher Konfliktlinien zu erklären sucht, siehe die grundlegende Arbeit von Lipset, Rokkan 1967. Eine aktualisierte Aufarbeitung dieser Theorie bietet Karvonen 2001.
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5 Synthese mantling neo-corporatist structures, but it can also mean the exact opposite: regaining at the EU level that control over macroeconomic policies, negotiated orders and centralized bargaining which is being lost within the national context.“
Diverse Studien versuchen die vielfältigen Facetten der europäischen Integration über die, aus dem nationalen Kontext geläufige, sozio-ökonomische LinksRechts-Dimension (vgl. Hix 1999) zu greifen bzw. ergänzen diese um neue, werte- und identitätsbezogene Maßeinheiten (vgl. Hooghe, Marks 2009; Hooghe et al. 2002). Bartolini (2005) unterscheidet, ebenso wie Kriesi und Kollegen (vgl. Kriesi 2007; Kriesi et al. 2006), zwischen einer ökonomischen und einer kulturellen Dimension der europäischen Einigung. Übertragen auf die nationalen parteipolitischen Strukturen stehen diese beiden Dimensionen oftmals in einem konflikthaften Verhältnis: Etablierte linke Parteien befürworten in der Regel die kulturelle Öffnung über nationale Grenzen hinweg, sind aber skeptisch gegenüber ökonomischen Liberalisierungsmaßnahmen auf europäischer Ebene. Rechte Parteien begrüßen meist den Wegfall ökonomischer Schranken, weisen aber kulturell nationalistische Tendenzen auf (vgl. Kriesi 2007, S. 86-87).571 Generell ist vor diesem Hintergrund eine zwischenparteiliche Auseinandersetzung am ehesten zu Themen zu erwarten, die nur eine der beiden Dimensionen ansprechen. Die Europäische Dienstleistungsrichtlinie („BolkesteinRichtlinie“)572 ist beispielhaft für eine Streitfrage zu nennen, die sich aufgrund ihrer klaren Eingliederung in die Dimension „pro/contra ökonomische Liberalisierung“ gut für den zwischenparteilichen Wettbewerb eignete – und in vielen europäischen Mitgliedstaaten auch tatsächlich dessen Gegenstand wurde. Derartige Streitfragen bieten gute Voraussetzungen für Responsivität. Bei europapolitischen Themen, die in der öffentlichen Diskussion sowohl ökonomisch als auch kulturell gedeutet werden, ist hingegen das innerparteiliche Konfliktpotenzial besonders groß. Da Parteien in der Regel intern umstrittene Sachfragen im politischen Wettbewerb meiden, bieten sich hier schlechte Voraussetzungen für Responsivität, während gleichzeitig die Spaltung der politischen Elite eine effektive Führung behindert. Eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten droht unter derartigen Umständen langfristig bestehen zu bleiben.
571 Länderspezifische Eigenheiten müssen hier berücksichtigt werden: Hinsichtlich der kulturellen Dimension ist beispielsweise in Frankreich die Sorge um den Erhalt der nationalen Souveränität und Identität stärker ausgeprägt als in Deutschland. 572 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt. (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 376, 27.12.2006).
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5.3.2 Eine Politik der reaktiven Schadensbegrenzung Wie gehen politische Entscheidungsträger mit den geschilderten Ausgangsbedingungen um, die sich europapolitischen Themen im nationalen Parteienwettbewerb bieten? Eine erste Schlussfolgerung dieser Arbeit lautet: Zahlreiche Akteure sind daran interessiert, Europapolitik sowohl aus dem politischen Wettkampf als auch von der öffentlichen Agenda zu verbannen. Responsivität wird hierdurch erschwert. Die Depolitisierung europapolitischer Streitfragen liegt im Interesse der Regierenden, sobald sie gegen die Bevölkerungsmeinung handeln, und im Interesse der Parteispitzen573, sobald ein starker innerparteilicher Dissens zu dieser Frage besteht. Hinzu kommt, dass Politiker, selbst wenn sie in Einklang mit der Bevölkerungsmeinung handeln, nur selten eine Politisierung europapolitischer Fragen anstreben. Im Bereich der Europapolitik ist das Vermeiden elektoraler Sanktionen („blame avoidance“), nicht das Einwerben von Belohnungen („credit claiming“), die dominante Strategie (vgl. Weaver 1986). Eine überwältigende Anzahl der im Kontext dieser Arbeit befragten deutschen wie auch französischen Politiker vertrat die Ansicht, dass man mit europapolitischen Fragen keine Wahl gewinnen, wohl aber verlieren könne. Ähnlich stellen auch Steenbergen, Edwards und de Vries (2007, S. 16) fest: „Although parties may not be seeking to turn the EU into an issue to attract new voters, surely they are paying attention to their constituents in order to avoid losing them.“ Die etablierten Parteien und auch die einzelnen Politiker dieser Parteien verzichten daher häufig auf die Thematisierung konkreter europäischer Streitfragen und beschränken sich stattdessen auf die Vermittlung einer allgemeinen europapolitischen Kompetenz. Eine zweite Schlussfolgerung lässt sich hieraus ableiten: Kritik an europapolitischen Maßnahmen fällt im nationalen Kontext meist auf fruchtbaren Boden. Sie füllt ein Vakuum, da die Bevölkerung in vielen Fällen nicht durch eine proaktive Überzeugungsarbeit auf die jeweilige Politik vorbereitet wurde. Oftmals betreiben die Regierenden lediglich reaktive Schadensbegrenzung und werben erst dann um ihre Politik, sobald diese – von den Kritikern dieser Politik – bereits negativ in die nationale Debatte eingeführt wurde. Die Erfolgsbedingungen von Führung werden auf diese Weise aus dreierlei Gründen drastisch verschlechtert. Zum Ersten hat sich gezeigt, dass Parteien ihre Wählerschaft vor allem dann von ihrem Standpunkt überzeugen können, wenn sie das jeweilige Thema aktiv 573 Dies gilt für Regierungs- und Oppositionsparteien gleichermaßen.
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5 Synthese
in die öffentliche Diskussion einbringen. Spielt eine Partei die Bedeutung eines Themas herunter, so ist auch ihre Überzeugungskraft gering (vgl. Ray 2003; Steenbergen et al. 2007). Zum Zweiten haben kommunikationswissenschaftliche Studien ergeben, dass negative Informationen einen höheren Nachrichtenwert haben (vgl. Sarcinelli 1989, S. 304) und einprägsamer sind als positive Mitteilungen. Sie besitzen ein größeres Wirkungspotenzial und setzen sich, auch wenn sie den vorhandenen Einstellungen widersprechen, bei der Meinungsbildung langfristig durch (vgl. Kepplinger 2002, S. 265). Zum Dritten hat eine fast schon klischeehafte Feststellung offenbar immer noch Gültigkeit: Politiker schieben die Verantwortung für unpopuläre europapolitische Maßnahmen gerne auf „Brüssel“ ab. Erwartungsgemäß schrieb sich keiner der im Rahmen der Arbeit befragten Politiker dieses Verhaltensmuster selber zu. Fast jeder beklagte es aber bei seinen Kollegen und bezeichnete es als nach wie vor sehr gebräuchlich. Eine positive Akzeptanzgrundlage für konkrete europapolitische Sachfragen bietet dieser Missbrauch der EU als Sündenbock („blame-shifting“) nicht (vgl. Schmidt 2006b, S. 271).
5.3.3 Politische Repräsentation in der Sackgasse Wenn in einer als wichtig empfundenen Frage keine der etablierten Parteien anbietet, was die Mehrheit der Bevölkerung will, tritt in repräsentativen Demokratien eine problematische Konstellation ein (vgl. Eckstein, Pappi 1999, S. 328). In Anlehnung an Albert O. Hirschman (1993) werden gewöhnlich zwei Reaktionsmöglichkeiten unterschieden, die einem unzufriedenen Bürger in solch einer Situation bleiben: Widerspruch („voice“) und Abwendung („exit“). Wird dem Wähler keine Möglichkeit gegeben, seinen Widerspruch in einer europapolitischen Sachfrage politisch wirksam über eine der etablierten Parteien zu artikulieren, kann ihn das dazu bewegen, sich den, oftmals europakritischen, politischen Randparteien zuzuwenden: „Feelings of powerlessness, of not being able to voice dissatisfaction effectively, or of not being able to make oneself heard, are all fertile ground for populist parties“ (Mény, Surel 2002, S. 11). Alternativ bleibt ihm die Möglichkeit zum offenen Widerspruch „auf der Straße“. Bislang haben sich die europäischen Bürger nur selten auf diese Weise mobilisiert – der Protest gegen die „Bolkestein-Richtlinie“ ist eine der raren Ausnahmen. Da Europapolitik in der Wahrnehmung der Bürger zunehmende Wichtigkeit erlangt, ist eine verstärkte Ausprägung derartiger Protestformen aber durchaus denkbar. Die in verschiedenen Mitgliedstaaten zu beobachtenden
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Kampagnen anlässlich der europapolitischen Referenden deuten auf ein signifikantes Mobilisierungspotenzial hin. Die „exit“-Variante des stillen Rückzuges mündet meist in eine Sackgasse der Frustration und Resignation: Der Wähler fühlt sich in solchen Fällen nicht nur einflusslos. Aufgrund der oft mangelnden Führungsleistung der Regierenden erschließt sich ihm häufig auch langfristig nicht der Sinn der jeweiligen europapolitischen Maßnahme. Bietet sich ihm dann einmal die Möglichkeit zur direkten Einflussnahme per Referendum, droht sich die angestaute Frustration zu entladen: Der „sleeping giant“ (van der Eijk, Franklin 2004) erwacht.
Resümee Resümee
Unter welchen Bedingungen kann eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten in der Europapolitik überbrückt werden – und unter welchen Umständen bleibt sie langfristig bestehen? Diese doppelte Forschungsfrage wurde eingangs aufgeworfen und anhand von sieben Hypothesen zu beantworten versucht. Die Hypothesen konkretisierten die Bedingungen, unter denen eine Anpassung des Regierungshandelns an die Bevölkerungsmeinung (Responsivität) oder eine Überzeugung derselben (Führung) möglich ist. Sind diese Bedingungen nicht gegeben, so wurde argumentiert, bleibt eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten langfristig bestehen. Die empirische Fallstudienanalyse hat die Hypothesen in ihrer Gültigkeit bestätigt. Die Übertragung allgemeiner theoretischer Ansätze auf den Bereich der Europapolitik erwies sich somit als fruchtbar: Die Interaktion zwischen Regierenden und Regierten ließ sich erfolgreich mit Hilfe von politikfeldübergreifenden Annahmen erklären. Die Fallstudienanalyse veranschaulichte außerdem, wie die Erfolgsbedingungen von Responsivität und Führung je nach politisch-kulturellem Kontext variieren: Das französische politische System fördert tendenziell die Anpassung des Regierungshandelns an die Bevölkerungsmeinung, während das deutsche politische System effektive Führung begünstigt. Die vorliegende Arbeit folgte in erster Linie der empirisch-analytischen Forschungstradition. Ihre Ergebnisse beinhalten aber auch normative Implikationen: Es zeigte sich, dass ein mangelndes Angebot an politischen Alternativen den Regierenden häufig den Druck zu responsivem Verhalten nimmt und dass Streitigkeiten innerhalb der politischen Elite oftmals eine effektive Führung verhindern. Zudem wurde festgestellt, dass die Regierenden in vielen Fällen den Versuch zur Führung gar nicht bzw. nur im Sinne einer reaktiven Schadensbegrenzung unternehmen. Die so entstehende Kombination aus fehlenden Einflussmöglichkeiten und einer ungenügend funktionierenden Überzeugungsarbeit droht die Bürger immer weiter vom Prozess der europäischen Einigung zu entfremden. „Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint. Wir verwirklichen in der Europäischen Union unsere gemeinS. Weske, Europapolitik im Widerspruch, DOI 10.1007/978-3-531-92748-0, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Resümee
samen Ideale“574, hieß es in der Berliner Erklärung, die am 25. März 2007 anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge formuliert wurde. Etwa zur selben Zeit waren jedoch die „Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union“ mehrheitlich davon überzeugt, dass ihre Stimme im europäischen Integrationsprojekt nicht zähle.575 Damit sie dieses Projekt tatsächlich als das ihre begreifen, genügt es nicht, auf europäischer Ebene institutionelle Reformen und kommunikative Strategien zu verabschieden. Der nationale Kontext bietet nach wie vor einen zentralen politischen Bezugsrahmen für viele Menschen. Damit eine repräsentative Rückkoppelung von Bevölkerungsmeinung und Regierungshandeln gelingen kann, müssen die Parteien konstruktiv über europapolitische Fragen streiten und die Regierenden aktiv um die Unterstützung ihrer Politik werben. Eine Erfolgsgarantie gibt es auch dann nicht, aber der Weg für eine gegenseitige Annäherung wäre zumindest freigemacht.
574 Präsidentschaft der Europäischen Union: Erklärung anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge. 25. März 2007. Online verfügbar unter http://www. eu2007.de/de/News/download_docs/Maerz/0324-RAA/German.pdf, zuletzt geprüft am 17.09.2009. 575 Laut Standard Eurobarometer 67 gaben im Frühjahr 2007 55 Prozent der befragten Europäer an, ihre Stimme zähle nicht in der EU. Nur 35 Prozent glaubten an den Einfluss der eigenen Stimme. 10 Prozent der befragten hatten keine Meinung hierzu. Fragestellung: „Please tell me for each statement, whether you tend to agree or tend to disagree: My voice counts in the EU.“ Antwortvorgaben: „Tend to agree/tend to disagree/don’t know“.
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Anhang Anhang Anhang
A.1 Liste der Interviews Altmaier, Peter: CDU, 1994 bis 2005 Mitglied des Europaausschusses im Deutschen Bundestag, 2002 bis 2005 Vorstandsmitglied der CDU/CSUBundestagsfraktion, 2005 bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, seit 2004 Vizepräsident der Europäischen Bewegung Deutschland, seit 2006 Präsident der Europa-Union Deutschland.576 Face-toFace-Interview am 22. April 2008 in Berlin. Bodewig, Kurt: SPD, seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages, 2001 bis 2005 Mitglied des SPD-Bundesvorstandes, 2002 bis 2009 stellvertretender Vorsitzender des Europaausschusses im Deutschen Bundestag. Face-to-FaceInterview am 21. April 2008 in Berlin. Clauß, Michael: 2001 bis 2004 Leiter der Arbeitsgruppe „Konvent“ im Auswärtigen Amt, seit 2005 stellvertretender Leiter der Europaabteilung im Auswärtigen Amt und Beauftragter für Grundsatzfragen der EU. Face-to-FaceInterview am 8. April 2008 in Berlin. Cohn-Bendit, Daniel: Les Verts, seit 1994 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1999 bis 2002 Vorsitzender der Delegation im gemischten parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei, seit 2002 Co-Vorsitzender der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament. Face-to-FaceInterview am 27. Februar 2008 in München. Cresson, Édith: PS, 1991 bis 1992 französische Premierministerin, 1994 bis 1999 EU-Kommissarin für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung. Face-toFace-Interview am 25. Oktober 2007 in Paris. Dumas, Roland: PS, 1988 bis 1993 französischer Außenminister. Face-to-FaceInterview am 25. Oktober 2007 in Paris. Engholm, Björn: SPD, 1988 bis 1993 Ministerpräsident von SchleswigHolstein, 1991 bis 1993 Bundesvorsitzender der SPD, 1992 Kanzler-kandidat der SPD, 1993 Rücktritt von allen politischen Ämtern. Face-to-Face-Interview am 25. April 2008 in Lübeck. 576 Die Kurzbeschreibungen der Interviewpartner erfassen nur Tätigkeiten und Funktionen, die im zeitlichen und thematischen Kontext dieser Arbeit relevant sind.
S. Weske, Europapolitik im Widerspruch, DOI 10.1007/978-3-531-92748-0, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
308
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Garrigue, Daniel: UMP, seit 2002 Abgeordneter der französischen Nationalversammlung und Mitglied des Europaausschusses, seit 2007 Vizepräsident des Europaausschusses. Face-to-Face-Interview am 14. Mai 2008 in Paris. Genscher, Hans-Dietrich: FDP, 1965 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1974 bis 1992 Bundesminister des Auswärtigen und deutscher Vizekanzler. Face-to-Face-Interview am 12. November 2008 in München. Gerhardt, Wolfgang: FDP, seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1995 bis 2001 Bundesvorsitzender der FDP, 1998 bis 2006 Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion. Face-to-Face-Interview am 9. April 2008 in Berlin. Giscard d’Estaing, Valéry: UDF, 1974 bis 1981 französischer Staatspräsident, 2001 bis 2003 Vorsitzender des Europäischen Konvents. Face-to-Face-Interview am 16. Januar 2008 in Paris. Gloser, Günter: SPD, seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages, 2000 bis 2005 europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, 2002 bis 2005 Mitglied des Vorstandes der SPD-Bundestagsfraktion, 2005 bis 2009 Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt und Beauftragter für die deutschfranzösischen Beziehungen. Face-to-Face-Interview am 22. April 2008 in Berlin. Guigou, Élisabeth: PS, 1990 bis 1993 Europaministerin, 1994 bis 1997 Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 2002 Abgeordnete der französischen Nationalversammlung. Face-to-Face-Interview am 17. Dezember 2008 in Paris. Hamon, Benoît: PS, 2004 bis 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2005 bis 2007 Beauftragter der PS für europäische Fragen. Face-to-Face-Interview am 25. Juli 2007 in Paris. Herbillon, Michel: UMP, seit 1997 Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, stellvertretender Vorsitzender des Europaausschusses der französischen Nationalversammlung. Face-to-Face-Interview am 17. Dezember 2008 in Paris. Hoyer, Werner: FDP, seit 1987 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1994 bis 1998 Staatsminister im Auswärtigen Amt, Verhandlungsführer der deutschen Delegation bei den Regierungsverhandlungen für die Weiterentwicklung des Maastrichter Vertrages, seit 2002 stellvertretender Vorsitzender der FDPBundestagsfraktion. Face-to-Face-Interview am 24. April 2008 in Berlin. Issing, Otmar: 1998 bis 2006 Chefsvolkswirt und Direktoriumsmitglied der EZB. Face-to-Face-Interview am 1. Februar 2008 in Würzburg. Kinkel, Klaus: FDP, 1994 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1992 bis 1998 Bundesminister des Auswärtigen, 1993 bis 1998 deutscher Vizekanzler, 1993 bis 1995 Bundesvorsitzender der FDP. Face-to-Face-Interview am 26. Mai 2008 in Bonn.
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Lequiller, Pierre: UMP, seit 1988 Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, aktueller Vorsitzende des Europaausschusses der französischen Nationalversammlung. Face-to-Face-Interview am 14. Mai 2008 in Paris. Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine: FDP, seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1992 bis 1996 Bundesministerin der Justiz, 2005 bis 2009 stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, seit 1997 Mitglied des Präsidiums der FDP-Bundespartei, seit 2000 bayerische FDP-Landesvorsitzende. Face-to-Face-Interview am 22. April 2008 in Berlin. Machnig, Matthias: SPD, 1999 bis 2002 Bundesgeschäftsführer der SPD, als Koordinator der SPD-Wahlkampfzentrale „Kampa“ verantwortlich für die Kampagnen zu den Bundestagswahlen 1998 und 2002. Telefon-Interview am 2. April 2008. Moscovici, Pierre: PS, 1994 bis 1997 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1997 bis 2002 Europaminister, 2004 bis 2007 Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 2007 Abgeordneter der französischen Nationalversammlung. Face-toFace-Interview am 12. Juli 2007 in Paris. Myard, Jacques: UMP, seit 1993 Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, Mitglied des Europaausschusses. Face-to-Face-Interview am 15. Mai 2008 in Paris. Probst, Jean-François: bis Ende des Jahres 2000 Mitglied der RPR, ehemaliger Berater von Jacques Chirac, Charles Pasqua und Alain Juppé. Face-to-FaceInterview am 17. Juli 2007 in Paris. Schwall-Düren, Angelica: SPD, seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1998 bis 2002 Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, 2002 bis 2010 stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD mit der Zuständigkeit für Angelegenheiten der Europäischen Union. Face-to-Face-Interview am 9. April 2008 in Berlin. Steenblock, Rainder: Bündnis 90/Die Grünen, 1994 bis 1996 und seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 2002 europapolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Face-to-Face-Interview am 7. April 2008 in Berlin. Stoiber, Edmund: CSU, 1993 bis 2007 bayerischer Ministerpräsident, 1999 bis 2007 CSU-Vorsitzender. Face-to-Face-Interview am 1. April 2008 in München. Stübgen, Michael: CDU, seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1994 bis 1998 stellvertretender Vorsitzender des Europaausschusses des Deutschen Bundestages, seit 2005 Vorsitzender der Arbeitsgruppe Angelegenheiten der Europäischen Union der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Face-to-Face-Interview am 24. April 2008 in Berlin. Védrine, Hubert: PS, 1997 bis 2002 französischer Außenminister. Face-toFace-Interview am 10. Juli 2007 in Paris.
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Voisin, Gérard: UMP, seit 1988 Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, Mitglied des Europaausschusses. Face-to-Face-Interview am 14. Mai 2008 in Paris. Waigel, Theo: CSU, 1972-2002 Mitglied des Deutschen Bundestages, 19881999 Vorsitzender der CSU, 1989-1998 Bundesminister der Finanzen. Face-toFace-Interview am 10. April 2008 in München.
A.2 Interviewleitfaden 1.
Generelle Problemwahrnehmung 1.1. Oft spricht man von einem „Demokratischen Defizit“ der EU bzw. davon, dass die EU von ihren Bürgern zu weit entfernt sei. Inwiefern halten Sie diese Vorwürfe für gerechtfertigt? 1.2. Hat die Meinung der breiten Bevölkerung Ihrer Einschätzung nach einen signifikanten Einfluss auf die Gestaltung der [deutschen/französischen] Europapolitik? Wie groß sollte dieser Einfluss Ihrer Ansicht nach sein? 1.3. Was heißt es für Sie, Repräsentant zu sein? Inwiefern bedeutet das, auf „Volkes Stimme“ zu hören? 1.4. Ist es Ihrer Erfahrung nach schwer, die Bürger für Europa zu begeistern? Wenn ja: Wie erklären Sie sich das? 1.5. Wie versuchen Sie, die Meinung der Bevölkerung zu fassen? Welcher Hilfsmittel bedienen Sie sich? (Umfragen? Medien? Persönliche Gespräche? Etc.) 1.6. Was verstehen Sie unter „öffentlicher Meinung“? 1.7. Welche Rolle spielen die Medien Ihrer Ansicht nach in der Meinungsbildung zu europapolitischen Themen?
2.
Allgemeine Einschätzungen zur Handlungslogik (Responsivität/Führung/Depolitisierung) 2.1. Welche Rolle spielt Europapolitik in nationalen Wahlen? Glauben Sie, dass man mit Europapolitik eine Wahl gewinnen bzw. verlieren kann? 2.2. Finden Sie es legitim, mit europäischen Themen Wahlkampf zu betreiben? 2.3. Wann hat ein Politiker Ihrer Ansicht nach Interesse daran, proaktiv mit europapolitischen Themen an die Öffentlichkeit zu gehen? Unter welchen Umständen sollte er das nicht tun? 2.4. Wie schätzen Sie den Handlungsspielraum der [deutschen/französischen] Regierung in europapolitischen Fragen ein? Inwiefern ist es
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311 ihr möglich, Anpassungen an die Sorgen und Wünsche der Bevölkerung vorzunehmen?
3.
Einschätzungen zur untersuchten Streitfrage 3.1. Wie haben Sie die Bevölkerungsmeinung zum Thema [untersuchte Streitfrage] wahrgenommen? Mit welcher Reaktion der Bevölkerung hatten Sie im Vorfeld der Maßnahme gerechnet? 3.2. Inwiefern hat Sie die Haltung der Bevölkerung zum Thema [untersuchte Streitfrage] zum Umdenken bzw. zu einer Änderung Ihres politischen Handelns bewegt? 3.3. Wie haben Sie die Medienmeinung zum Thema [untersuchte Streitfrage] wahrgenommen? Fanden Sie die mediale Kommentierung angemessen? Inwieweit hat die mediale Kommentierung Ihr Handeln in dieser Frage beeinflusst? 3.4. Wurde das Thema [untersuchte Streitfrage] von der Regierung angemessen zu vermitteln und zu erklären versucht? Warum glauben Sie, ist es der Regierung gelungen bzw. nicht gelungen, die Bevölkerung von der Richtigkeit ihres Handelns zu überzeugen? 3.5. Hatten Sie das Gefühl, dass es Ihrer politischen Karriere schaden bzw. nutzen könnte, wenn Sie öffentlich für die Maßnahme [untersuchte Streitfrage] werben? 3.6. Wie haben Sie den parteiübergreifenden Konsens zum Thema [untersuchte Streitfrage] wahrgenommen? Welche Bedeutung hatte das Thema [untersuchte Streitfrage] Ihrer Einschätzung nach im Wahlkampf [untersuchter Wahlkampf]? 3.7. Wie war der interne Zusammenhalt Ihrer Partei zum Thema [untersuchte Streitfrage]?