MONIKA EIGMÜLLER STEFFEN MAU (HRSG.) GESELLSCHAFTSTHEORIE UND EUROPAPOLITIK
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MONIKA EIGMÜLLER STEFFEN MAU (HRSG.) GESELLSCHAFTSTHEORIE UND EUROPAPOLITIK
NEUE BIBLIOTHEK DER SOZIALWISSENSCHAFTEN Die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften versammelt Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und zur Gesellschaftsdiagnose sowie paradigmatische empirische Untersuchungen. Die Edition versteht sich als Arbeit an der Nachhaltigkeit sozialwissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft. Ihr Ziel ist es, die sozialwissenschaftlichen Wissensbestände zugleich zu konsolidieren und fortzuentwickeln. Dazu bietet die Neue Bibliothek sowohl etablierten als auch vielversprechenden neuen Perspektiven, Inhalten und Darstellungsformen ein Forum. Jenseits der kurzen Aufmerksamkeitszyklen und Themenmoden präsentiert die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften Texte von Dauer.
DIE HERAUSGEBER Jörg Rössel ist Professor für Soziologie an der Universität Zürich. Uwe Schimank ist Professor für Soziologie an der Universität Bremen. Georg Vobruba ist Professor für Soziologie an der Universität Leipzig. Redaktion: Frank Engelhardt
MONIKA EIGMÜLLER STEFFEN MAU (HRSG.) GESELLSCHAFTSTHEORIE UND EUROPAPOLITIK SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANSÄTZE ZUR EUROPAFORSCHUNG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16280-5
Inhalt
Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Eine Einleitung Monika Eigmüller und Steffen Mau
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I Gesellschaftstheorie: Anschlussmöglichkeiten der Europaforschung Die Rationalität des Regierens im europäischen Mehrebenensystem Richard Münch Demokratietheorie und Europäische Integration. Zur Dekonstruktion des Demos Günter Dux Die EU als entstehender Kommunikationsraum. Zum Theoriedefizit der soziologischen Europaforschung und ein Vorschlag, dieses zu verringern Klaus Eder Die europäische Gesellschaft als Ausdruck einer Fortentwicklung der Moderne? Hans-Peter Müller
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II Die territoriale Zuschreibung von Gesellschaft Räume und Grenzen in Europa. Der Mehrwert soziologischer Grenz- und Raumforschung für die Europasoziologie Monika Eigmüller
133
Raumdimensionen der Europaforschung. Skalierungen zwischen Welt, Staat und Stadt Martina Löw
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Die Konstitution von Räumen und Grenzbildung in Europa. Von verhandlungsresistenten zu verhandlungsabhängigen Grenzen Maurizio Bach
153
III EU-Integration als Sozialintegration Soziale Integration (in) der Europäischen Union Peter A. Berger
181
Die osterweiterte Europäische Union – ein optimaler Integrationsraum? Jan Delhey
194
Transnationales linguistisches Kapital der Bürger und der Prozess der Europäischen Integration Jürgen Gerhards
213
Einkommensungleichheiten in der Europäischen Union. Ihre innerund zwischenstaatliche Dynamik und ihre subjektive Bewertung Martin Heidenreich und Marco Härpfer
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Horizontale Europäisierung und Europäische Integration Sebastian Büttner und Steffen Mau
6
274
IV Institutionelle Entwicklung der Europäischen Union & europäische Sozialpolitik Der „Wohlfahrtsstaat Europa“ zwischen Wunsch und Wirklichkeit Stephan Lessenich Soziale Sicherheit durch die EU? Staatstheoretische und europasoziologische Perspektiven Heiner Ganßmann Vom Nationalstaat lernen? Möglichkeiten und Grenzen von Analogiebildungen zwischen nationaler und europäischer Sozialpolitikentwicklung Monika Eigmüller Europäische Flexicurity, eine Leitidee im Fokus einer Theorie gesellschaftlichen Wandels – Ein Essay Olaf Struck Die Interessen an der gemeinsamen europäischen Währung Peter Spahn
321
329
353
379 411
V Gesellschaftstheorie und Europapolitik Gesellschaftstheoretische Grundlagen der Europasoziologie. Die soziologische Beobachtung der Gesellschaft in der Europäischen Integration Georg Vobruba Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Eine Einleitung Monika Eigmüller und Steffen Mau
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Europa als sozialwissenschaftlicher Gegenstand
Der Prozess der Europäischen Integration stellt die Soziologie vor keine geringe Herausforderung – immerhin gilt es, ihren bis dato nationalstaatlich gefassten Gesellschaftsbegriff in seiner Geltung zu hinterfragen und Vorschläge zu seiner Revision zu unterbreiten. Lange Zeit nahm die Soziologie diese Herausforderung nicht an, wurde der Prozess der Europäischen Integration als ein bloß politischer wahrgenommen und wurden gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die sich aus dieser zunächst politischen Integration ergaben, von der Soziologie weitgehend ignoriert. Dies lag zunächst in der Geschichte des Fachs selbst begründet. Die Soziologie ist ein Kind des Nationalstaats und begleitete seine Entstehung mit ihrer Analyse des Zusammengehens moderner Staatlichkeit und gesellschaftlicher Integration. Dabei arbeiteten zentrale Theorieansätze mit den Prämissen, dass es sich bei einer Nationalgesellschaft um ein integriertes Ganzes handelt, dass eine Gesellschaft Mitglieder hat und dass es zwischen den gesellschaftlichen Gruppen geregelte soziale Beziehungen gibt. Diese Welt der europäischen Nationalstaaten ist nun durch Prozesse der Europäischen Integration, Globalisierung und Internationalisierung in Bewegung geraten. Mit der bisherigen Fokussierung auf die Nationalgesellschaft ist die Soziologie nicht in der Lage, diese Prozesse analytisch zu erfassen (Chernilo 2008). Der Soziologie ist deshalb auch ein „methodologischer Nationalismus“ vorgehalten worden (Bayer et al. 2008; Beck 1991; Berger/Weiß 2008; Giddens 1985; Wallerstein 1983), da sie oft unhinterfragt von einer Kongruenz territorialer, politischer, kultureller, ökonomischer und gesell-
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schaftlicher Grenzen ausging und damit die Ausdehnung der Gesellschaft weitgehend mit dem staatlichen Territorium gleichsetzte (Beck 1997).1 In Reaktion darauf sind Europa, Europäisierung und Europäische Integration in der jüngsten Vergangenheit verstärkt Themen soziologischer Auseinandersetzung geworden – Jahre beziehungsweise Jahrzehnte nachdem Nachbardisziplinen wie die Politikwissenschaften oder die Rechtswissenschaften schon zentrale Paradigmen der Europaforschung entwickelt und etabliert haben. Diese ist bisher stark empirisch ausgerichtet und orientiert sich deutlich an den Theorieperspektiven vor allem der Politikwissenschaften. Deren Ansätze zur Erklärung europäischer Integration beziehen sich allerdings vor allem auf den Gegenstand der politischen und das heißt in allererster Linie der institutionellen Integration Europas (für einen Überblick vgl. Bieling/Lerch 2006). Als Akteure werden in diesen Theorieangeboten vor allem politische und administrative Eliten vorgestellt. Dies hatte seine Berechtigung, solange das Projekt Europa die Gesellschaften selbst kaum betraf beziehungsweise Europa von den Bevölkerungen als Adressat sozialer und auch politischer Ansprüche kaum wahrgenommen wurde. Im Zuge des fortschreitenden Integrationsprozesses ändert sich aber genau dies – und so muss in einer aktualisierten Theorie der Europäischen Integration auch die Analyseperspektive erweitert werden. Genau dies kann eine soziologische Perspektive bieten, indem sie den Fundus sozialwissenschaftlicher Gesellschaftstheorie öffnet und die Möglichkeiten (und auch Grenzen) der Nutzung dieser Theorieangebote für den Gegenstand der Europäischen Integration prüft. Allerdings wird der Gegenstand der Europäischen Integration von der Gesellschaftstheorie bislang nur zögerlich thematisiert und in seinem Anregungs- und auch Irritationspotential kaum erkannt. Eine umfassende soziologische Beschreibung der gesamtgesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge, das heißt, wie der wirtschaftliche, politische und soziale Einigungsprozess hinsichtlich einer europäischen Gesellschaftsbildung wirkt, ist immer noch ein „Desiderat der Forschung“ (Bach 2000a: 14). Ansinnen dieses Bandes ist es daher, soziologische Gesellschaftstheorie mit empirischer Europaforschung zu verknüpfen und nach den Möglichkeiten einer hieraus entstehenden Soziologie der Europäischen Integration zu fragen. Umstritten ist dabei allerdings nach wie vor, ob sich Europa als Ganzes überhaupt die Attribute einer Gesellschaft zuschreiben lassen kann. So 1
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Dieses Modell des territorial wie sozial abgeschlossenen Nationalstaats ist auch als „Container-Modell“ bezeichnet worden (Agnew/Corbridge 1995).
konstatiert etwa Maurizio Bach (2008: 11f.) vor dem Hintergrund einer stark politisch-bürokratisch vorangetriebenen Europäisierung: „Mit Bezug auf Europa erscheint es (…) wenig sinnvoll, noch von Gesellschaft im Sinne eines politisch integrierten, die innergesellschaftliche Konfliktaustragung gewährleistenden und auf gemeinsam geteilten Werten basierenden Gebildes zu sprechen.“ Zentrale Leistungen der gesellschaftlichen Binnenintegration werden immer noch durch die Mitgliedstaaten und ihre Institutionen erbracht. Die Analogie zwischen der Nationalstaatsbildung und der Europäisierung im Sinne einer Staatswerdung Europas ist oft überstrapaziert worden. Nicht von ungefähr gibt es eine Lagerbildung zwischen denen, die Europa die gesellschaftlichen Qualitäten absprechen, und denen, die diese schon zu erkennen glauben. Die Skeptiker führen an, dass in Europa weiterhin vor allem nationale Identitäten, Egoismen und Schließungen vorherrschend sein werden. Es sei kein kollektives Subjekt erkennbar, welches auch nur annähernd die Rede von einem europäischen Volk oder einer europäischen Gesellschaft rechtfertigen würde (Kielmansegg 1996; Dewandre/Lenoble 1994; Reese-Schäfer 1999; Stråth 2000). Die Schwierigkeiten einer weitergehenden Integration ließen sich vor allem auch auf den „Erfolg“ der Nationalstaaten zurückführen. Die Nationalstaaten besäßen eine starke Selbstbehauptungsfähigkeit und könnten konkurrierende Ansprüche auf die Ausübung politischer Funktionen abwehren. In zentralen Bereichen, so der Außenpolitik, der Sozialpolitik und der Bildungspolitik, sei der Nationalstaat die wichtigste Instanz geblieben. Zu stark seien die Beharrungskräfte der nationalen Traditionen und institutionellen Bestände (Offe 2001, 2003). Mehr noch, eine Europäische Union, welche weitere Kompetenzen an sich zieht, stehe in der Gefahr, ein abgekoppeltes und technokratisches Gebilde zu werden, welches über keine entsprechende soziale Basis verfüge. Damit sei ein Missverhältnis zwischen Eliten, die auf Integration setzen, und den breiten Schichten der Bevölkerung vorprogrammiert (Haller 2008). Die Optimisten sind dagegen der Ansicht, dass wir in Europa, ähnlich wie bei der Herausbildung der Nationalstaaten, eine der politischen Integration nachgeordnete soziale Integration beobachten können. Hier wird nicht selten im Sinne neofunktionalistischer Integrationstheorien argumentiert, wonach die Integration im politischen und wirtschaftlichen Bereich auch Integrationsschritte in anderen Bereichen nach sich ziehe, es also Spill-overEffekte auch in Richtung gesellschaftlicher Vergemeinschaftung gäbe (Haas 1968; Keohane/Nye 1975). Auch die Nationalstaaten hätten nicht auf einem 11
vorpolitischen Gemeinschaftsgefühl aufgebaut, sondern nationale Identität und Gefühle der Zugehörigkeit hätten sich erst infolge der politisch initiierten Nationalstaatenbildung entwickelt (vgl. Anderson 1998; Wagner/Zimmermann 2003). Politische Zentralisierung, die Schaffung nationaler Institutionen, demokratische Teilhabe, nationale Symbole, ein eigenständiger Bildungskanon, territoriale Abgrenzung und Integrität – dies alles seien Entwicklungen gewesen, die erst dazu geführt haben, dass sich nationale Gesellschaften mit den ihnen eigenen Sozialstrukturen und Formen der Binnenkommunikation entwickelt haben. Daher hänge die Frage nach der europäischen Gesellschaft eng mit der Entwicklung des europäischen Institutionensystems und den weiteren Schritten der Integration zusammen. Gemäß dieser Perspektive wäre ein „Europe-building“ analog zum „Nation-building“ zumindest nicht ausgeschlossen (Lepsius 2003, 1999). So ließen sich parallele Entwicklungen mit der Gründung der USA feststellen, etwa die sukzessive Erweiterung und die Modalitäten des Beitritts, die Rolle der Markthomogenisierung nach innen, die gemeinsame Währung und die Rolle der Gerichte (vgl. Le Galès/Zagrodzki 2008). Wenn sich die Europäische Union auf dem Weg hin zu einem föderalen Staat befände, so ließe sich annehmen, würden sich auch die Orientierungen und Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger langfristig verschieben. 2
Europäische Gesellschaftsbildung in komparativer Perspektive?
Problematisch an dieser Diskussion ist zum einen ihr stark politisch-normativer Impetus, zum anderen die Tatsache, dass zumeist mit Projektionen eines zukünftigen Europas argumentiert wird. Dem kann und sollte die Soziologie einen stärker analytischen Zugang entgegenstellen. Zwei unterschiedliche Paradigmen können derzeit in der soziologischen Europaforschung identifiziert werden: Das erste nimmt eine komparative Perspektive ein und zielt auf den Vergleich unterschiedlicher europäischer Nationalgesellschaften, das zweite Paradigma hingegen fokussiert auf Europa als eine Formation „sui generis“ und interessiert sich im Sinne der oben aufgeworfenen Fragen für die gesellschaftlichen Qualitäten Europas insgesamt (vgl. Trenz 2008). Das komparative Paradigma beantwortet die Frage nach einer europäischen Gesellschaft mit Verweis auf die Gemeinsamkeiten der europäischen Nationalgesellschaften (für einen Überblick vgl. Kaelble 2005). Darauf 12
gründet sich etwa die Rede von der europäischen Industriegesellschaft, vom europäischen Sozialmodell oder von der spezifisch europäischen Moderne (vgl. Crouch 1999; Therborn 1995; Flora 2008; Mau/Verwiebe 2009). Trotz aller Unterschiedlichkeit wird den europäischen Gesellschaften im Hinblick auf ihre Basisinstitutionen, ihre Sozialstrukturen und ihre grundlegenden Werte eine „Wahlverwandtschaft“ unterstellt, wenn man zum Beispiel auf Familienstrukturen, Arbeitsmärkte, Staat-Markt-Beziehungen oder Wertvorstellungen schaut (vgl. Kaelble 1997, 2005). Vor dem Hintergrund dieser historischen Gemeinsamkeiten wird gefragt, ob im Zuge des Europäisierungsprozesses diese Gemeinsamkeiten in den vergangenen Jahrzehnten zunehmen oder ob die Unterschiede zwischen den europäischen Nationalgesellschaften infolge der politischen und wirtschaftlichen Integration Europas zunehmend nivelliert werden (vgl. Bach 2006; Kaelble 2005: 302ff.). Denn einerseits wurden direkt Vereinheitlichungen unterschiedlicher Institutionen und Ordnungen durchgesetzt (etwa im Hochschulbereich die Angleichung von Ausbildungswegen und Abschlüssen, auf dem Arbeitsmarkt die Angleichung von Schutzstandards oder ganz allgemein die Angleichung nationaler Verwaltungsstrukturen) und andererseits kann die durch den freien Binnenmarkt etablierte Konkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten zu einer quasi automatischen Abschwächung von Unterschieden führen. Die grundlegende Frage dieser Perspektive ist, ob wir im Hinblick auf zentrale gesellschaftliche Dimensionen Prozesse der Konvergenz oder der Divergenz beobachten können (Mau 2004). Die Abmilderung innereuropäischer Unterschiede wird dabei oft implizit (und manchmal auch explizit) als Voraussetzung für die Herausbildung von Gesellschaft angenommen. Aus dieser Perspektive lassen sich auch die Unterschiede dieser europäischen Gesellschaft gegenüber anderen, nicht-europäischen Gesellschaften untersuchen und darüber Ableitungen über den Grad der Vereinheitlichung im Innern der Union treffen. Göran Therborn (1997) hat einmal pointiert gefragt, ob „Europa als das Skandinavien der Welt“ bezeichnet werden kann und meint damit, ob Europa im Vergleich zu anderen Regionen und Gesellschaften eine ähnliche Stellung bekäme wie Skandinavien für Europa – mit spezifischen Institutionen, einer spezifischen Sozialstruktur und spezifischen politischen Leitbildern. Er argumentiert, dass es kaum wahrscheinlich ist, dass Europa sich als militärisch-politische oder als wirtschaftliche Weltmacht profilieren kann. Allerdings beschreibt er das Europäische Modell als bis heute einzigartig, was die Kombination aus wirtschaftlichem Erfolg und 13
durch sozialpolitische Innovation gewährleistete soziale Integration angeht. Sowohl die USA als auch die asiatischen Wachstumsländer wie China und Indien sind bisher nicht in der Lage gewesen, ihre eingeschlagenen Wachstumspfade mit einer ausgeglichenen sozialen Entwicklung zusammenzubringen. Die Vergrößerung der sozialen Ungleichheit und die Zunahme sozialer Spannungen sind vor allem deshalb zu beobachten, weil die Breite der Bevölkerung oft nicht am Wachstum beteiligt wird und erprobte Institutionen des sozialen Ausgleichs fehlen. Auf dieser Linie kann Europa anderen Regionen der Welt durchaus etwas anbieten. Das „Skandinavische“ an Europa wäre ein interventionistischer Wohlfahrtsstaat und ein effektives System der Umverteilung und des sozialen Ausgleichs (vgl. Kaelble/Schmid 2004; Giddens 2007). Die europäischen Gesellschaften zeichnen sich weiterhin dadurch aus, dass sie organisiert und intern hochgradig integriert sind, was sich beispielsweise in den Beziehungen zwischen der Sozialstruktur und dem politischen System, in den Arbeitsbeziehungen und dem Kollektivvertragssystem, der Rolle sozialer und religiöser Verbände oder der Organisation sozialer Großkollektive spiegelt. Europa verfügt über eine „strukturierte Diversität“ (Crouch 1999), also über eine geordnete und begrenzte Vielfalt von kulturellen Traditionen, Werten, Ordnungsmodellen, institutionellen Architekturen und sozialen Strukturen (Müller 2007). Im Gegensatz dazu wird etwa die Gesellschaft der USA in ihrer Struktur als komplexer, heterogener und unstrukturierter beschrieben (vgl. etwa Martinelli 2008). Weiterhin wird in der Literatur der Aspekt der spezifisch europäischen Werte hervorgehoben, wie etwa die Orientierung auf universalistische und überstaatliche Normen. Demnach sind Europäer statt auf Unilateralismus stärker an einer multilateralen Politik interessiert und sehen die Notwendigkeit globaler Verantwortungsübernahme. Auch bei anderen Werteeinstellungen können die Europäer – zumindest in modernisierungstheoretischer Perspektive – als Vorreiter angesehen werden, so beim Wandel der Geschlechterrollen, Toleranz gegenüber Homosexuellen und den positiven Einstellungen zum Umweltschutz (Inglehart 1998). In einem prominent platzierten Artikel haben Jürgen Habermas und Jacques Derrida (2003) spezifisch europäische Werte im Kontrast zur politischen Theologie des Islamismus und des christlichen Fundamentalismus, wie er in den USA Gewicht gewonnen hat, definiert. Sie begreifen die aus leidvollen Erfahrungen erwachsene Säkularisierung, die Domestizierung staatlicher Gewaltaus14
übung, die Rolle von Recht und Demokratie und die Verpflichtung auf soziale Gerechtigkeit gegen ein individualistisches Ethos der Leistungsgerechtigkeit als zentrale Bestandteile des europäischen Wertehaushalts. Als weitere typisch europäische Werte werden individuelle Freiheit, Toleranz, Innerlichkeit und Selbstverwirklichung genannt (vgl. Müller in diesem Band; Joas/Wiegand 2005). 3
Europa als Gebilde „sui generis“?
Allerdings ist das alleinige Verschwinden von Unterschieden beziehungsweise die Besinnung auf Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen nationalen Gesellschaften noch kein Beleg für die Herausbildung einer europäischen Gesellschaft. Die „sui generis“-Perspektive geht über den Vergleich hinaus und schreibt Europa eine eigenständige Gesellschaftsqualität zu beziehungsweise fragt danach, ob Europa diese besitzt oder besitzen kann. Dabei wird der von der Europäischen Integration ausgehende Integrationssog in den Mittelpunkt gestellt und es wird gefragt, welche Verbindungen sich zwischen den Nationalgesellschaften und den europäischen Institutionen (vertikale Integration) oder zwischen den unterschiedlichen Nationalgesellschaften (horizontale Integration) ergeben (Beck/Grande 2004). Die bisherigen Forschungen sind stark von den politikwissenschaftlichen Arbeiten zur Integration inspiriert, vor allem von den neofunktionalistischen Arbeiten von Ernst B. Haas (1968), der die politische und ökonomische Integration als zentrale Antriebskräfte auch einer gesellschaftlichen Integration ansah. Grundannahme ist die langfristige Transformation nationalgesellschaftlicher Strukturen in Richtung europäischer Vergesellschaftung als Folge der politischen und ökonomischen Vergemeinschaftung, wobei hier allerdings das Gesellschaftliche vor allem als Funktion des Politischen dargestellt wird, was aus soziologischer Perspektive unbefriedigend erscheinen muss. Der „blind spot“ (Trenz 2008: 3) der bisherigen Integration Studies besteht in der Tat darin, dass stark auf die institutionell-politische Dynamik der Integration abgehoben wird, weniger auf die soziale Dynamik. Genau hier können soziologische Ansätze eigenständige Sichtweisen zur gesellschaftlichen Dynamik und zum Zusammenspiel von nationaler Desintegration und europäischer Integration einbringen (vgl. Münch 2001). Differenzierung und gesellschaftliche Arbeitsteilung sowie der Aufstieg des modernen Individualismus 15
sind beispielsweise in der Durkheim’schen Theorie zentrale Erklärungen der gesellschaftlichen Entwicklung, die auch im europäischen Kontext an Gewicht gewinnen können. Wenngleich die Frage, was Europa eigentlich ist, nach wie vor als eine offene gelten muss, so zeigt sich doch zunehmend deutlich, dass durch den politischen Prozess der Europäischen Integration auch ein neuer Raum der Vergesellschaftung geschaffen wird, der bisher nationalstaatlich besetzte Handlungsbereiche neu definiert. Die Europäisierung ist somit etwas grundlegend anderes als die Globalisierung. Europa, oder spezieller die Europäische Union, tritt als neue Aggregationsebene in Erscheinung, die zwar die Nationalstaaten nicht ablöst, aber neue Formen der vertikalen und horizontalen Verflechtung hervorbringt (vgl. Müller 2007; Müller in diesem Band). Dabei liegt Europa zwischen der mit Begriffen wie Globalisierung und Weltgesellschaft umschriebenen „globalen“ Ebene und der Nationalgesellschaft beziehungsweise dem Nationalstaat. Während ein Teil der Globalisierungsforschung davon ausgeht, dass sich die Möglichkeiten, durch Regierungshandeln auf die Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen Einfluss zu nehmen, drastisch verkleinern, interessiert sich die Europäisierungsforschung für eine neue Gestaltungsebene zwischen Nationalstaat und Weltgesellschaft (Bach et al. 2006; Beck/Grande 2004; Outhwaite 2008; Rumford 2008). Die EU ist heute nicht nur ein intergouvernementales Arrangement zur Harmonisierung von Marktordnungen, sondern ein „Herrschaftsverband eigener Prägung“ (Lepsius 2000b: 201) mit starken sozialen Folgewirkungen für die Lebens- und Wohlfahrtschancen der Menschen in den Mitgliedsländern. Im Europäisierungsprozess treten einstmals tendenziell voneinander isolierte Bevölkerungen miteinander in Kontakt, Grenzen werden deinstitutionalisiert, Waren, Dienstleistungen, Kapital und in zunehmendem Maße auch Personen können frei zirkulieren, Arbeitsmärkte „europäisieren“ sich, Bildungsinstitutionen werden vereinheitlicht und die Europäische Union entwickelt sowohl regulative als auch redistributive Interventionsformen. Europäische Integration bedeutet darüber hinaus nicht nur supranationale Institutionenbildung, sondern auch und in Folge davon „Verflechtung, gegenseitige (…) Abhängigkeit, Gemeinschaftsbildung und Solidarität“ (Immerfall 2000: 487). Deshalb ist auch von der „Europäisierung nationaler Gesellschaften“ (Bach 2000b) gesprochen worden.
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Perspektiven der Europasoziologie
Nimmt man diese Beobachtungen ernst, dann kann es der soziologischen Bestimmung Europas nicht ausschließlich um die Frage Konvergenz versus Divergenz und die Besonderheiten der europäischen Gesellschaften im Vergleich zu anderen Ländern und Regionen gehen. Will man die gesellschaftlichen Qualitäten Europas bestimmen, muss man darüber hinausgehen und den Blick auf die Integration selbst und ihre gesellschaftlichen Folgen richten. Allerdings steht der soziologische Beobachter nun vor der Frage, welche gesellschaftlichen Qualitäten von Relevanz sind, und wie sie letztlich bestimmbar sind. In der bisherigen Diskussion um Gesellschaftskonzeptionen jenseits von Nationalgesellschaften wird nicht selten mit einem Gesellschaftsbegriff operiert, der von bestimmten Inhalten geprägt ist und zur Formulierung von Zielvorstellungen herangezogen wird, die anschließend mit den vorfindbaren Realitäten abgeglichen werden. Gesellschaft ist hierbei nicht selten eine normativ aufgeladene Beziehungskonstellation, umschrieben mit Begriffen wie Vertrauen, Solidarität, Homogenität, Abwesenheit von Konflikten etc. (vgl. beispielsweise Offe 2001). Das an die Suche nach diesen Kategorien anknüpfende, wenig überraschende Urteil, wonach es keine europäische Gesellschaft gäbe, ist nun allerdings in Hinblick auf das Ziel der Theoriebildung wenig weiterführend (vgl. Vobruba in diesem Band). Für eine Soziologie der Europäischen Integration steht die Aufgabe, sich von der herkömmlichen Vorstellung zu lösen, in sich kongruente Räume und Mitgliedschaften müssten die Grundlage für Gesellschaft bilden. Die wirkliche Herausforderung besteht also darin, den Prozess der gesellschaftlichen Europäisierung zu erfassen und abzubilden, obwohl Europa sich im Hinblick auf die politische Struktur und die räumliche und soziale Ordnung von den nationalen Gesellschaften grundlegend unterscheidet. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang erstens die nach wie vor bestehende Variabilität der Außengrenzen Europas (Bach in diesem Band; Bös/Zimmer 2006; Zielonka 2002), also die noch immer offene Frage, wer zu Europa gehört und wo Europa endet (Beck/Grande 2004). Auch zukünftig ist nicht zu erwarten, dass sich die EU zu einem eindeutig definierten, sozio-politischen Herrschaftsverband mit klar demarkierten territorialen, politischen, sozialen und ökonomischen Grenzen entwickeln wird. Vielmehr werden aufgrund der besonderen politischen und sozialen Konfiguration der Europäischen Union ihre Außengrenzen unschärfer sein als die 17
des klassischen Nationalstaats. Deutlich wird dies vor allem durch die „konzentrischen Grenzstrukturen“ (Bös 2000: 438), hervorgebracht durch unterschiedliche Integrationsgrade im Innern und spezifische Assoziationsformen mit Ländern außerhalb der Europäischen Union. Die EU stellt sich so als ein soziales Gebilde dar, das neben allen Befestigungstendenzen an seinen Rändern „ausfranst“ und sich hinsichtlich seiner Grenzen flexibel zeigt. Somit ist davon auszugehen, dass für diese soziale Formation nicht das westfälische Modell einer straffen Föderation zum Tragen kommt, welches auf einer scharfen Trennung zwischen Innen und Außen aufbaut. Vielmehr entwickelt sich eine neo-mittelalterliche Struktur, welche sich weniger durch zementierte Außengrenzen, Zentralisierung und hierarchische Organisation auszeichnet, sondern durch überlappende Autoritäten, geteilte Souveränitäten und unscharfe Grenzen (vgl. Wæver 1997; Zielonka 2001). Dies bedeutet im Vergleich zu nationalstaatlichen Grenzen ein Mehr an Variabilität und weniger Einheit und Homogenität (Bach 2003). Und daran zeigt sich, dass die Frage der finalité eine sehr viel weiter reichende ist, als nur die nach einer Ausweitung des europäischen Integrations- und Mitgliedschaftsraums; die Frage der Grenzziehung ist vielmehr die Frage, für welche Union man sich entscheidet, von welcher Gestalt diese Europäische Union ist (Habermas 2008: 85; Kocka 2005: 275). Damit in bedeutsamem Zusammenhang stehend ist zweitens der Mehrebenenbezug politischer und sozialer Loyalitäten, Zugehörigkeiten und Identitäten innerhalb des gesellschaftlichen Europas: War der Nationalstaat in der Lage, eindeutige Inklusionen und Exklusionen vorzunehmen, so ist dies im europäischen Raum nicht möglich. Europa tritt einerseits als ergänzender Inklusionsraum zum schon vorhandenen nationalstaatlichen Mitgliedschaftsraum in Erscheinung, andererseits ist die politische Ordnung selbst auf die Verteilung von Handlungskompetenzen auf verschiedenen Ebenen angelegt. Das politische System der Europäischen Union organisiert sich durch die Aufteilung und Verschachtelung unterschiedlicher Handlungsebenen, so der europäischen, der nationalstaatlichen und der subnationalen Ebene (Hooghe/Marks 2001). Auf der gesellschaftlichen Ebene findet dies seine Entsprechung im Hinblick auf Gefühle von Verbundenheit und Solidarität oder Fragen der Identitätszuordnung, die deutlich weniger exklusiv ausgerichtet sind und unterschiedliche Bezugskollektive und Reichweiten miteinander verbinden müssen.
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Europa ist damit insgesamt weitaus unübersichtlicher und verschachtelter als nationalstaatliche Gesellschaften. Die Implikationen für den Gesellschaftsbegriff sind enorm, da Diversität und Variabilität als die zentralen Eigenschaften des europäischen Gebildes ausgemacht werden können. Es braucht also einen Begriff des Sozialen, der diese Qualitäten aufnehmen kann und nicht zu stark auf normative Zielgrößen wie Homogenität, Binnenintegration und Kongruenz politischer, sozialer und territorialer Räume bezogen ist. Ein solcher Begriff muss offen sein für unterschiedliche Konstellationen und Kontexte, in denen Gesellschaft hergestellt wird. Konkret geht es um Fragen der Wechselwirkungen zwischen den nationalen Gesellschaften, wie etwa neue Konflikt- und Spaltungslinien, welche durch einen ausschließlich nationalstaatlichen Bezug zur Zurechnungseinheit Nationalstaat nicht mehr verstanden werden können; die Herausbildung von formellen und informellen Organisationen und kollektiven Akteuren unterhalb der Ebene der europäischen Institutionen; die Verdichtung der grenzüberschreitenden Austauschbeziehungen zwischen den Menschen und schließlich die zunehmende Rolle von Europa in den Köpfen der Menschen, was auch als „subjektive Europäisierung“ bezeichnet werden kann (vgl. hierzu Bach 2000a; Heidenreich 2006; Heidenreich/Härpfer in diesem Band, 2008; Beck/Grande 2004; Delhey 2005; Gerhards 2008; Gerhards/Lengfeld 2008; Haller 1988, 2008; Immerfall 2006; Mau 2005; Mau/Verwiebe 2009; Münch 2001, 2008; Outhwaite 2008; Rumford 2008; Vobruba 2001, 2005). Eine Soziologie der Europäisierung kann prinzipiell an drei Ebenen ansetzen: der Makro-, der Meso- und der Mikroebene (vgl. Trenz 2008: 9/10). Alle drei Ebenen sind letztlich auf neue Formen von Wechselwirkung und Verflechtung zwischen den europäischen Nationalgesellschaften ausgerichtet. Auf der ersten Ebene sind die tief greifenden Veränderungen vor allem mit Blick auf die zentralen makrogesellschaftlichen Strukturkomponenten analysiert worden, wie etwa Fragen der europäischen beziehungsweise internationalen Arbeitsteilung, der Veränderung des politischen Systems, der Rolle des Rechts oder des Entstehens neuer Spaltungslinien und Disparitäten (zum Beispiel Münch/Büttner 2006; Münch 2008; Bach 2008; Heidenreich/ Härpfer in diesem Band). Auf der Mesoebene kommen Fragen der Entstehung transnationaler zivilgesellschaftlicher Strukturen, einer europäischen Öffentlichkeit oder neuer zivilgesellschaftlicher, administrativer und politischer Netzwerkstrukturen in den Blick (vgl. etwa Eder 2004; Trenz 2002; Imig/Tarrow 2001). Auf der Mikroebene lässt sich Europäisierung als Ent19
stehung eines europäischen Erfahrungsraums und die Zunahme an transnationalen Interaktionen verstehen (Kaelble 1987, 2005; Favell/Recchi 2009; Gerhards 2008; Mau/Verwiebe 2009; Büttner/Mau in diesem Band). Zudem sollte thematisiert werden, inwieweit Europa von den Menschen selbst als relevanter Raum sozialer Zugehörigkeit und Vergesellschaftung wahrgenommen wird (Vobruba 2009). Im Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Ebenen ist es schließlich möglich, die Konturen eines gesellschaftlichen Europas genauer zu umreißen und auch zu fragen, ob es in Europa zu Formen einer Integration ohne Gesellschaft (Bach 2008) oder genauer gesagt zu einer systemischen Integration ohne Sozialintegration kommt, oder wie und wo Europa sich auch als Sozial- und Handlungsraum konstituiert. Das schließt durchaus mit ein, dass sich unterschiedliche Teilbereiche und Bevölkerungssegmente sehr unterschiedlich darstellen, so durch die Vergemeinschaftung einiger institutioneller Bereiche und die nach wie vor nationalstaatliche Gestaltung anderer oder durch die Orientierung einkommens- und bildungsstarker Schichten auf Europa und eine nach wie vor lokale oder nationale Fixierung von bildungsund einkommensschwachen Gruppen und Menschen aus besonders strukturschwachen Regionen (Lahusen 2008). Solche Divergenzen und Spannungen sind letztlich der Gegenstand eines empirischen Forschungsprogramms, welches sich für die gesellschaftliche Dynamik der Europäisierung interessiert. Integration tritt neben Desintegration, Solidarität neben Konflikt. Die Verwendung eines hinreichend offenen und normativ nicht überhöhten Gesellschaftsbegriffs ist für ein solches Unterfangen ein zentraler Ausgangspunkt, um überhaupt Entdeckungen von Gesellschaftsbildung jenseits des Nationalstaats zuzulassen. 5
Aufbau des Bandes
Der vorliegende Band geht auf eine Tagung aus Anlass des 60. Geburtstags von Georg Vobruba zurück, die gemeinsam vom Institut für Soziologie der Universität Leipzig und der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS) der Universität Bremen und der Jacobs University veranstaltet wurde. Georg Vobruba hat der soziologischen Europaforschung mit Pioniergeist und intellektuellem Gespür neue Türen geöffnet, was auch
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durch die Beiträge in diesem Band dokumentiert wird. Der Band ist in vier größere Teile gegliedert, die sich spezifischen Schwerpunkten widmen. Er beginnt mit einer Verknüpfung unterschiedlicher Theorieperspektiven mit dem Gegenstand Europa und Fragen der angemessenen Konzeptionalisierung europäischer Formen der Vergesellschaftung. Im ersten Beitrag geht Günter Dux der Diskussion um das vielerorts konstatierte europäische Demokratiedefizit nach und argumentiert, dass die Debatte hauptsächlich an einem falschen Verständnis des Bedingungsverhältnisses von Demokratie und Demos krankt. Ausgehend hiervon diskutiert Dux die Notwendigkeit der Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft und den Gewinn, der nicht nur der Europaforschung aus einem trennscharfen Gesellschaftsbegriff erwächst. Insbesondere der vielfach beschworene Zusammenhang von Nation, kollektiver Identität und gelebter Solidarität als sichtbarer Widerspruch zu jeder Möglichkeit von Europäisierung wird von ihm mit Verweis auf die legitimatorischen Grundlagen politischer Entscheidungen jenseits solcher Identitätsprinzipien hinterfragt. Klaus Eder diskutiert in seinem Beitrag die Frage nach einer entstehenden europäischen Öffentlichkeit, beziehungsweise nach einem entstehenden europäischen Kommunikationsraum, und verweist auf die Möglichkeiten, die auch jenseits einer „narrativen Hegemonisierung“, wie wir sie aus dem Nationalstaat kennen, in der Herausbildung gemeinsamer europäischer Narrative, wie sie in Europa zu beobachten sind, liegen. Hans-Peter Müller schließlich beschreibt in seinem Beitrag die entstehende europäische Gesellschaft als ein Gebilde sui generis, eine sich in strukturierter Diversität, also in geordneter, aber begrenzter Vielfalt entfaltende Realität. Befördert vom politischen Integrationsprozess entsteht jenseits von nationalen Gesellschaften und der Weltgesellschaft eine europäische Gesellschaft. Genau um dieses Spannungsverhältnis geht es auch im zweiten Teil des Bandes, in dem nach der territorialen Zuschreibung von Gesellschaft gefragt wird. Der Prozess der Europäischen Integration hat vor Augen geführt, dass für die soziologische Beschreibung von Gesellschaften die Perspektiven des Raums und der Territorialität von Gesellschaft ganz entscheidend sind. Das vielfach bemühte Containermodell der Gesellschaft hat diese oft nicht thematisiert, da die räumliche Ausdehnung von Gesellschaft als gegeben hingenommen wurde. Martina Löw verweist auf diese Raumdimension der Europaforschung, die insbesondere zwei Raumfiguren kennt: den vernetzten Raum der Staaten einerseits und den territorialen Raum als Container der 21
Staaten andererseits. Dass dies für die Erforschung sich entwickelnder europäischer Gesellschaftsräume unbefriedigend ist und nach neuen Formeln verlangt, ist offenkundig. Maurizio Bach beschäftigt sich mit der Grenzbildung in Europa und fragt danach wie sich das europäische Raum- und Grenzensystem transformiert. In Europa finden wir ein komplexes, multidimensionales und asymmetrisches territorial-politisches Gefüge vor, welches sich vom dominierenden Schließungsmodell des Nationalstaates unterscheidet. Da die EU-Grenzen geographisch unterbestimmt und verhandlungsabhängig sind, eignet sich das Territorialprinzip auch nicht als Grundlage für die Ausbildung einer supranationalen oder transnationalen kollektiven Identität. Der dritte Teil betrachtet die Europäische Integration unter der Maßgabe von Sozialintegration. Findet diese innerhalb Europas statt und ersetzt sie bereits verschiedene nationale Integrationsmuster? Jan Delhey stellt hier zunächst die Frage nach dem optimalen Integrationsraum. Was ist denn die optimale geographische Ausdehnung der EU? Ist es tatsächlich die osterweiterte Union? Dem widerspricht die Tatsache, dass das Integrationsniveau der EU nach der Osterweiterung insgesamt rückläufig ist. Die grundsätzliche Frage ist hier, ob Systemintegration tatsächlich notwendigerweise auf Sozialintegration angewiesen ist. Jürgen Gerhards greift diese Frage schließlich auf, wenn er in seiner Studie darauf verweist, dass schon aufgrund eines Mangels an Fremdsprachenkenntnissen ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger Europas vom Europäisierungsprozess ausgeschlossen ist. Ist die EU also doch nur ein Elitenprojekt? Martin Heidenreich und Marco Härpfer stellen in ihrem Beitrag die Frage nach der transnationalen Strukturierung sozialer Ungleichheit und zeigen, dass infolge der Europäischen Integration auch die Ungleichheiten zwischen den einzelnen Nationalstaaten zurückgehen, also auch in diesem Bereich eine Homogenisierung des europäischen Felds stattfindet. Auf der Ebene der Wahrnehmungen durch die Bürgerinnen und Bürger Europas ist zudem zu beobachten, dass der europäische Rahmen inzwischen zur entscheidenden Bezugsgröße von (Un-)Gleichheitsmustern wird. Dies fördert einmal mehr zutage, dass es immer weniger sinnvoll wird, Sozialstrukturen im nationalen Rahmen zu untersuchen. Vielmehr müssen viele verschiedene soziale Räume in die Analyse einbezogen werden, muss ein multipler Raumbezug die Untersuchungen leiten.
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Zu diesem Ergebnis kommen schließlich auch Steffen Mau und Sebastian Büttner, die als wesentlichen Indikator europäischer Integration die horizontale Verflechtung Europas identifizieren. Sie untersuchen daher in ihrer Studie das Ausmaß einer solchen horizontalen Europäisierung im gesellschaftlichen Alltagsleben und diskutieren mögliche Folgen auf der Ebene sozialer Wahrnehmungen und Einstellungen. Die Frage nach dem Verhältnis von Systemintegration und Sozialintegration behandeln schließlich auch die Beiträge des vierten Teils des Bandes, in dem die europäischen Institutionenbildungen und insbesondere die sozialpolitischen Implikationen der Europäisierung im Vordergrund des Interesses stehen. Die Frage nach den Möglichkeiten einer Europäisierung von Sozialpolitik beschäftigt die ersten beiden Beiträge des Abschnitts: Während Heiner Ganßmann in seinem Beitrag zu der These kommt, dass die EU in sozialpolitischer Hinsicht auch zukünftig nicht mehr leisten wird, als ursprünglich in der EWU angelegt war, die EU somit zwar ein Sicherheitsprojekt ist, aber eben keines der sozialen Sicherheit – und sie dies auch nicht werden wird, schließt Monika Eigmüller eine solche Entwicklung in ihrem Beitrag nicht aus. Mit Verweis auf das Potential historisch-soziologischer Forschung für die Analyse des europäischen Integrationsprozesses verweist sie darauf, dass die Frage nach den Möglichkeiten einer Europäisierung von Sozialpolitik durchaus noch offen ist. Olaf Struck widmet sich schließlich ganz konkret einem wesentlichen Feld europäischer Sozialpolitik und versucht, den europäischen Flexicurity-Ansatz gesellschaftstheoretisch zu verorten, indem er auf das Potential dieser Politik von Flexibilität und Sicherheit für den gesellschaftlichen Integrationsprozess verweist. Und schließlich fragt Peter Spahn nach den Interessen an einer gemeinsamen europäischen Währung und stellt fest, dass das mangelnde europapolitische Bewusstsein einer Verbesserung der ökonomischen Funktionsweise der EWU im Wege steht – ergo auch die institutionelle Entwicklung Europas letztlich auf eine politische und auch gesellschaftliche Integration angewiesen ist. Abschließend nimmt Georg Vobruba die grundsätzliche Frage nach der europäischen Gesellschaftsbildung wieder auf. Er nimmt die Europäische Integration zum Anlass, eine genuin soziologische Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Dies, so Vobruba, ist allerdings nur dann möglich und fruchtbar, wenn die Soziologie zunächst ihren Gesellschaftsbegriff und dessen Verwendung in der Forschungspraxis überdenkt und ihn insbesondere von kategorialen Präjudizen befreit. Vobruba schlägt vor, den Integrationspro23
zess aus der Perspektive der Beobachtung des Integrationsprozesses durch die in der EU lebenden und durch den Integrationsprozess auf unterschiedliche Weise mittelbar und unmittelbar betroffenen Menschen zu analysieren. Schließlich vermag es erst eine soziologische Annäherung an den Gegenstand der Europäischen Integration, die mit der Entwicklung einer neuen Perspektive auf Gesellschaft einhergeht, das Anregungs- und auch Irritationspotential, das die Europäische Integration für die soziologische Gesellschaftstheorie bietet, erfolgreich zu nutzen. Um den kommunikativen Charakter der Tagung zu erhalten, haben wir die Diskutanten der Tagung gebeten, in Reaktion auf die Vorträge und Diskussionen eigenständige kleinere Beiträge zu verfassen, die in die jeweiligen Abschnitte einführen, sie einordnen und mit eigenen Perspektiven bereichern. Richard Münch führt in den Teil der Gesellschaftstheorie ein, Monika Eigmüller in die Diskussion um die territorialen Strukturen der Union, Peter A. Berger in den Bereich der Sozialintegration und Stephan Lessenich schließlich in die Diskussion um Institutionen- und Sozialpolitikentwicklung. Wir danken Nancy Scharpff für ihr großes Engagement bei der Erstellung des Buches und Susanna Kowalik für ihren kritischen Blick auf das Endmanuskript. Literatur Abromeit, Heidrun, 2001: Wie demokratisch ist die EU – wie ist sie demokratisierbar? S. 263282 in: Ingeborg Tömmel (Hg.): Europäische Integration als Prozess von Angleichung und Differenzierung. Opladen: Leske + Budrich. Agnew, John A. und Stuart Corbridge, 1995: Mastering space: hegemony, territory and international political economy. London: Routledge. Anderson, Benedict, 1998: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Berlin: Ullstein. Aust, Andreas, Sigrid Leitner und Stephan Lessenich, 2002: Konjunktur und Krise des Europäischen Sozialmodells. Ein Beitrag zur politischen Präexplantationsdiagnostik, Politische Vierteljahresschrift 43 (2): 272-301. Bach, Maurizio, 2000a: Die Europäisierung der nationalen Gesellschaft? Problemstellungen und Perspektiven einer Soziologie der europäischen Integration. S. 11-38 in: Ders. 2000b. Ders. (Hg.), 2000b: Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 40, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
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I Gesellschaftstheorie: Anschlussmöglichkeiten der Europaforschung
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Die Rationalität des Regierens im europäischen Mehrebenensystem Richard Münch
Die Europäische Integration ist aus soziologischer Perspektive nicht nur der Zusammenschluss von Nationalstaaten zum Zweck der Friedenssicherung und der Steigerung des Wohlstands in Europa. Es ist ein umfassender und tief greifender Prozess der Restrukturierung des Regierens im europäischen Mehrebenensystem. Ein maßgeblicher Motor dieser Restrukturierung ist die europäische Erweiterungsdynamik, die Georg Vobruba (2005) eingehend untersucht hat. Die Beiträge von Günter Dux, Klaus Eder und Hans-Peter Müller beleuchten unterschiedliche Facetten dieses Restrukturierungsprozesses. Müller stellt die Konturen der europäischen Gesellschaft in den weltgeschichtlichen Kontext unterschiedlicher Varianten der Moderne. Dux diskutiert das zentrale Problem des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Demokratie im Kontext der Europäischen Integration, Eder die kommunikative Konstruktion Europas durch die Verknüpfung dreier maßgeblicher Stories, der Marktstory, der Staatsbürgerschaftsstory und der Story der kulturellen Besonderheit. Ich greife im Folgenden jeweils den Faden der drei Beiträge auf, um sie auf die Frage der Restrukturierung des Regierens im europäischen Mehrebenensystem zu beziehen. Dabei stelle ich die Restrukturierung des Verhältnisses zwischen Marktwirtschaft und Demokratie in den Mittelpunkt der Analyse. Andere Aspekte der Restrukturierung von Gewicht müssen dabei ausgeblendet bleiben (vgl. Münch 1993, 2008). Ich beginne mit der weltgeschichtlichen Perspektive Müllers, um dann nacheinander die Analysen von Dux und Eder aufzugreifen und zu diskutieren.
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1
Europa im weltgeschichtlichen Kontext
Hans-Peter Müller stellt die europäische Gesellschaft in den großen weltgesellschaftlichen Zusammenhang (vgl. auch Müller 2007). In Europa sind die gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen und kulturellen Ideen besonderer Art entstanden, die lange Zeit prägend für den Westen und die Moderne waren. Inzwischen unterscheidet man innerhalb des Westens das europäische vom angloamerikanischen Sozialmodell, wobei eher an Kontinentaleuropa gedacht wird als an ein Europa, zu dem auch Großbritannien gehört. Und statt von der westlich definierten Moderne spricht man mit Eisenstadt (2002) von multiplen Modernen. Man könnte sagen, dass gerade diese Differenzen innerhalb des Westens und innerhalb der Moderne eine Chance bieten, dass Europa in Abgrenzung zu anderen Konzepten des Westens und der Moderne zu sich selbst findet und sich auf seine eigenen Traditionen besinnt. In der Tat ist das der Gegenstand des intellektuellen Diskurses über Europa, auf den sich Müller vorzugsweise bezieht. In diesem Diskurs geht es zunächst überhaupt um die begriffliche Konstruktion Europas, weiterhin um eine europäische Wertegemeinschaft, strukturierte Diversität als gesellschaftliches Gestaltungsprinzip und die Herausbildung eines europäischen Erfahrungsraums. Zur strukturellen Diversität gehört insbesondere die Kunst des Trennens, so zum Beispiel zwischen Religion und Politik, Kirchenrecht und profanem Recht, Religion und Wissenschaften. Die Integrationsleistung der Europäischen Union und die Entwicklung eines europäischen Mehrebenensystems ist in Müllers Perspektive die jüngste Stufe der „europäischen Moderne“, die als ähnlich einzigartig gelten kann wie die Strukturen, Institutionen und kulturellen Ideen, die den Ursprung der europäischen Moderne ausgemacht haben. Alles zusammen bildet die Konturen der „europäischen Gesellschaft“. Müller verortet auf diese Weise den intellektuellen Europadiskurs im soziologischen Diskurs über die multiple Moderne. Es wird deutlich, was die (kontinental-)europäische Moderne im großen weltgeschichtlichen Zusammenhang ausmacht und von anderen westlichen und nicht-westlichen Modernen unterscheidet. Durch diesen Vergleichshorizont gerät das Bild der „europäischen Gesellschaft“ sehr großflächig. Zur europäischen Gesellschaft gehören sowohl Strukturen der europäischen nationalen Gesellschaften als auch Strukturen der sich herausbildenden europäischen Gesellschaft jenseits der Nationen, wobei Ersteren in der Analyse weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als Letzterer. Dadurch wird nicht deutlich, wie sich zum Bei34
spiel die nationale gesellschaftliche Organisation von struktureller Diversität durch die Europäisierung nationaler Gesellschaften im europäischen Mehrebenensystem maßgeblich durch den Sinngehalt der europäischen Verträge, durch europäische Rechtssetzung und Rechtsprechung verändert. Das gilt in besonderem Maße für die Trennung zwischen Wirtschaft und Politik beziehungsweise Marktwirtschaft und Demokratie. Der europäische Binnenmarkt als materielle Kraft und das strukturell dazu passende europäische Wettbewerbsparadigma als Sinn gebende Instanz setzen politischen Interventionen in die Wirtschaft engere Grenzen und gestalten damit das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik um. 2
Demokratie und Ökonomie: die Herausforderung der Europäischen Union
Genau um das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik im Kontext der Europäischen Integration geht es Günter Dux (vgl. auch Dux 2004, 2008, 2009). Dux bricht mit den substanzlogischen Prämissen der klassischen Demokratietheorie, den Annahmen der Einheit des Volks, der Einheit von Volk und Repräsentanten beziehungsweise Regierenden, der Einheit eines Allgemeinwillens, der sich von den vielen Einzelwillen unterscheiden lässt. Soweit, wie sich die Klage über das europäische Demokratiedefizit auf solche Prämissen stützt, ist sie in Dux’ Augen sinn- und zwecklos. Dux findet dagegen in der Idee der Selbstbestimmung als Selbstverwirklichung des Subjekts einen unter modernen Bedingungen bis heute unhintergehbaren, normativ gültigen wie auch faktisch bindenden Maßstab der Demokratie. Sie soll die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes, der Selbstverwirklichung des Subjekts dienendes Leben schaffen. In der Moderne ist die Marktgesellschaft die materielle Grundlage, auf der sich diese Selbstverwirklichung des Subjekts vollzieht. De facto bietet aber die Marktgesellschaft nicht für alle die gleichen Chancen der Selbstverwirklichung. Hier gerät die Demokratie in den Widerstreit mit der Ökonomie. Sie ist in der Pflicht, die Ökonomie so zu gestalten, dass sie für alle gleiche Chancen der Selbstverwirklichung bereithält. Im europäischen Nationalstaat war die Wohlfahrtsdemokratie das Arrangement einer erfolgreichen demokratischen Gestaltung der Ökonomie im Interesse der Selbstverwirklichung des Subjekts. Die globale Ökonomie hat die Fesseln dieses Arrangements gesprengt. Der Verlierer ist die Demo35
kratie. Bei allen Schwierigkeiten einer legitimen und effektiven Demokratisierung und aller Ungewissheit über den einzuschlagenden Weg sieht Dux die Europäische Union sowohl normativ als auch faktisch im Sinne der fordernden Bürger in der Pflicht, ein neues Arrangement der Verknüpfung von Demokratie und Ökonomie zu finden. Dux’ Argumentation ist zwingend, gleichwohl bleibt offen, welche Gestalt dieses Arrangement von Demokratie und Ökonomie unter den strukturellen Vorgaben des europäischen Mehrebenensystems und der globalisierten Ökonomie überhaupt annehmen kann. Im Kontext der nationalstaatlichen Demokratie hat die Zusammenarbeit von Parteien, Verbänden und Experten für eine starke Überlagerung der Ökonomie durch politisch-administrative und wohlfahrtsstaatliche Strukturierung gesorgt (Streeck 1999). Die nationale Wohlfahrtsdemokratie war das hegemoniale Projekt. Die Wirtschaft war die Dienerin der Wohlfahrtsdemokratie. Alle wirtschaftliche Aktivität hatte das Ziel, die nationale Wohlfahrt zu steigern. Jede wirtschaftspolitische Maßnahme musste sich an diesem Maßstab messen lassen. In diesem Sinne ist die Wirtschaft der Politik untergeordnet und man kann die Demokratie wie Dux als Gegenstruktur zur Wirtschaft begreifen, in der die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Subjekts jenseits der naturalistischen Marktdynamik als Maßstab des Handelns dient. Die Wohlfahrtsdemokratie war die nationalstaatliche historische Konkretisierung dieser Idee der Politik. Das europäische Integrationsprojekt war lange Zeit von dem Glauben begleitet worden, dass es darum gehe, das hegemoniale Projekt der Wohlfahrtsdemokratie auf einer höheren Stufe der Vergesellschaftung fortzusetzen. Erst heute, insbesondere seit der großen Erweiterung nach Mittelosteuropa im Mai 2004, beginnt sich eine Ernüchterung durchzusetzen, die den Abschied von dem alten hegemonialen Projekt einleitet. Die Europäische Integration ist nämlich in ihrer Strukturlogik als ein ökonomisches Liberalisierungsprogramm angelegt, das inzwischen zu einem neuen hegemonialen Projekt geworden ist. Dessen Ziel ist ein Verständnis der individuellen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, das die Befreiung aus gemeinschaftlichen, insbesondere nationalen Zwängen in den Vordergrund stellt und deshalb auf Empowerment und auf das unternehmerische Selbst in jedem Individuum setzt (Pongratz/Voss 1998; Bröckling 2007). Dieses hegemoniale Projekt hat auch die Politik weitgehend erfasst, so dass demokratische Politik gar nicht mehr als Gegenstruktur zur Ökonomie fungiert, viel36
mehr mit aller Macht am Programm der Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung und Vermarktlichung aller Lebensbereiche arbeitet. Eine weiter gehende Demokratisierung der europäischen Entscheidungsprozesse ist nicht mehr als ein weiterer Schritt auf diesem Wege, weil dann die traditionellen Vetospieler und die Trägheit von Traditionen auf der nationalen Ebene umso weniger Gewicht haben. Meines Erachtens trägt Dux’ Konzept von Demokratie als Gegenstruktur zur Ökonomie diesem paradigmatischen Wandel der Politik nicht genug Rechnung. Es ist bei allem Realismus immer noch zu wenig realistisch. Demokratie im postnationalen Zeitalter ist nur im liberalen Sinn denk- und legitimierbar, als ein System von Checks and Balances. In diesem System ist es gerade zweckmäßig, dass die Macht zwischen den europäischen und den nationalen Instanzen geteilt ist und erhebliche Teile der Politik nicht europäisiert sind, wenngleich dieser Spielraum zunehmend kleiner wird. Der Maßstab dieser liberalen Idee der Demokratie ist die Zahl der Hürden, die von der Gesetzgebung übersprungen werden müssen, und die Zahl der Einspruchsmöglichkeiten, die sich interessierten und betroffenen Akteuren bieten. Es ist ein System von Vetospielern und ein dezentralisiertes System, das Selbstregierung nur im Kleinen ermöglicht. Ein Gegengewicht gegen die Ökonomie ist es nur so weit, als die noch vorhandenen Traditionen des alten hegemonialen Projekts der Wohlfahrtsdemokratie in ihrer Trägheit als natürliches Hindernis des sozialen Wandels wirken. 3
Der Kommunikationsraum europäischer Erzählungen
Klaus Eders Plädoyer, das europäische Integrationsprojekt als die Herausbildung eines gemeinsamen Kommunikationsraums der inzwischen 27 EUMitgliedstaaten zu begreifen, in dem sich die europäische Gesellschaft als ein Ensemble emergenter narrativer Netzwerke bildet, sensibilisiert für die Offenheit, Vielfalt und Wandlungsfähigkeit der Gesellschaft, die sich als europäische herausbildet und sich sehr weit reichend von allen Strukturen unterscheidet, die nationale Gesellschaften bislang ausgezeichnet haben (vgl. auch Eder 2006, 2007). Es soll der Fehler vermieden werden, die europäische Vergesellschaftung mit normativen Finalitätsvorstellungen zu belasten, die nur enttäuscht werden können. Ebenso wenig hilft in Eders Augen der komparative Blick auf die europäischen Gesellschaften, um zu begreifen, welche Vergesellschaftung sich über ihre Grenzen hinweg im emergenten 37
europäischen Kommunikationsraum vollzieht. Welche Konturen die emergente europäische Gesellschaft zeigt, ist für Eder eine Sache von Narrationen im Plural. Losgelöst von den Festlegungen und Pfaden nationaler Traditionen ist die Konstruktion der europäischen Gesellschaft gewiss alles andere als homogen. Das möchte ich im Folgenden anhand unterschiedlicher nationaler Narrationen der Europäischen Union skizzieren (vgl. Jachtenfuchs 2002). Aus der dominanten britischen Sicht des Wirtschaftsliberalismus ist die europäische Gesellschaft nicht mehr als eine Marktvergesellschaftung mit einer gemeinsamen Marktordnung und ein willkommenes Instrument der europaweiten Liberalisierung der Märkte gegen die kontinentaleuropäischen Traditionen der Industriepolitik und der politischen Verzerrung des Wettbewerbs (vgl. Milfull 1999; Kremer 2004; Gamble 2006). Dass die EU ein Projekt der negativen Integration ist, erscheint in dieser Narration als vollkommen richtig und keineswegs ergänzungsbedürftig, indem die positive Integration vorangetrieben und damit zwangsläufig die politischen Kompetenzen der EU erweitert und die Demokratie in Europa weiter ausgehöhlt wird, die aus britischer Sicht allein auf der nationalstaatlichen Ebene einen festen Platz hat. Die britische Narration impliziert dementsprechend ein höchst ambivalentes Verhältnis zur Europäischen Union. Auf der einen Seite wird sie gern als europäische Freihandelszone genutzt, auf der anderen Seite als ein Herrschaftsapparat gefürchtet, der dem Heiligtum des britischen Verständnisses von Demokratie den Boden demokratischer Machtausübung entzieht, das heißt dem souveränen britischen Parlament. Die dominante französische Narration des europäischen Projekts ist eine ganz andere. Sie geht inzwischen davon aus, dass der Nationalstaat nicht mehr über die Macht verfügt, die Gesellschaft nach republikanischem Ideal im Sinne des von den Staatsbürgern gebildeten, de facto von der politischadministrativen Elite repräsentierten Allgemeinwillens zu gestalten (vgl. Ferry 2000; Sapir 2006). Auch die französische Narration beinhaltet ein höchst ambivalentes Verhältnis zur EU, allerdings von der diametral entgegengesetzten Seite. Für den französischen Republikanismus ist die EU inzwischen zu einem maßgeblichen Träger des Wirtschaftsliberalismus geworden, der den Mitgliedstaaten die Hände in der Gestaltung der Gesellschaft bindet, ohne im Entferntesten auf der europäischen Ebene jene Qualität der politischen Gestaltung im Sinne eines Allgemeinwillens der europäischen Bürger zu erreichen, die für die souveränen Nationalstaaten möglich war. 38
Die in Deutschland dominante Narration sieht in der EU in erster Linie die Chance der Verwirklichung einer der Bundesrepublik nachgebildeten Föderation, die allerdings bei weitem noch nicht die Konturen gebildet hat, die dem Idealbild entsprechen (vgl. Grimm 1995; Habermas 1996; von Bogdandy 1999). Deshalb enthält auch die dominante deutsche Narration ein ambivalentes Verhältnis zur EU. Einerseits wird in sie die Hoffnung einer föderalen Ordnung gesetzt, die den Widerspruch zwischen nationalen und supranationalen Interessen aufhebt. Andererseits hat die EU diese Hoffnungen bislang enttäuscht, weshalb den nationalen Parlamenten eine demokratische Kontrollfunktion in der europäischen Rechtssetzung zugedacht wird, die sie in der Praxis der quasi automatisierten Zustimmung zur europäischen Legislation de facto gar nicht erfüllen können, ohne das ganze europäische Projekt der rechtlichen Integration infrage zu stellen. Die Ambivalenz aller drei Narrationen hat zur Folge, dass es zur dominanten Narration immer auch eine abweichende Gegen-Narration gibt, die der Schattenseite der dominanten Narration besondere Aufmerksamkeit widmet und daraus andere Konsequenzen als die dominante Narration zieht. In Frankreich bedeutet das heftigen Widerstand gegen weitere Machtverlagerungen auf die Ebene der Union und gegen die Zersplitterung der Macht in einer europäischen Föderation. Im Referendum zum europäischen Verfassungsvertrag im Mai 2005 hat diese Gegen-Narration sogar die Mehrheit gewonnen. In Großbritannien ist es genau umgekehrt. Dort steht die Gegen-Narration auf der Seite Europas. Sie sieht, dass die europäische Wirtschaftsintegration längst die Qualität einer Freihandelszone hinter sich gelassen hat und auch nicht auf diesen Status zurückgeführt werden kann und de facto die nationalen Institutionen der demokratischen Willensbildung aushöhlt. Deshalb besteht aus dieser Sicht ein Bedarf der Beseitigung des europäischen Demokratiedefizits, der aber im britischen Verständnis in der Abkehr von Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene besteht und die Rückkehr zur Konsens- und Kompromissbildung zwischen souveränen, ihrem nationalen Parlament verantwortlichen Regierungen verlangt. In Deutschland wird die Gegen-Narration vom Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes repräsentiert, das die demokratische Legitimität des europäischen Rechts an die Zustimmung der nationalen Parlamente bindet, solange es keinen europäischen Demos, keine europäische Willensbildung und keine demokratisch kontrollierte europäische Regierung gibt.
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Allein diese drei Narrationen und Gegen-Narrationen zeigen, wie vielgestaltig sich die europäische Gesellschaft auf dieser Ebene der semantischen Konstruktion darstellt und wie offen sich die weitere Entwicklung gestaltet. Der Vorteil der von Eder propagierten Fokussierung der narrativen Konstruktion der europäischen Gesellschaft besteht darin, dass sie dieser Offenheit Rechnung trägt und der sich herausbildenden europäischen Gesellschaft weder ein normatives Ideal überstülpt, das nur unerfüllbare Hoffnungen weckt, noch ihrer besonderen Gestalt gar nicht gewahr wird, weil die auf die Nationalstaaten gerichtete komparative Vorgehensweise den Blick trübt. Trotzdem möchte ich infrage stellen, ob der europäische Integrationsprozess so vielgestaltig und offen abläuft, wie man mit dem Blick auf die Narrationen des Marktes, der Staatsbürgerschaft und der kulturellen Besonderheit als freischwebende intellektuelle Konstrukte annehmen möchte. Schließlich impliziert der Prozess handfeste Veränderungen des Wirtschaftsverkehrs, der Wirtschaftsordnung und in ihrem Gefolge der Gesellschaftsordnung, wie immer das durch Narrationen verarbeitet und mitgestaltet werden mag. Gewissermaßen verändern sich die Produktivkräfte – nämlich die fortschreitende, in sich verdichtete europäische Arbeitsteilung – und die Produktionsverhältnisse – nämlich die Wirtschaftsordnung. Diese Ordnung folgt einem Liberalisierungsprogramm. Sie ist im Vertrag von Rom angelegt und wurde programmatisch ausgebaut von der Europäischen Kommission als Agent des Vertrags und forciert vom Europäischen Gerichtshof (EuGH). Das hat weit reichende Konsequenzen für die nationalen Rechtstraditionen und Gesellschaftsordnungen. 4
Regieren im europäischen Mehrebenensystem
Man kann den Vertrag von Rom und seine Erweiterungen als eine Metanarration begreifen, die einer spezifischen Leitidee folgt, deren Verwirklichung maßgeblich in den Händen der Europäischen Kommission mit der Rechtssetzung und des EuGH mit der Rechtsprechung liegt. Beide wirken als Agenten einer Wirtschaftsordnung, deren Sinngehalt im europäischen Vertragswerk enthalten ist und auf dem Wege der europäischen Rechtssetzung und Rechtsprechung ins Werk gesetzt wird. Die europäische Metanarration bildet eine Legitimationsgrundlage für die tatsächliche Gestaltung der europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und für die entsprechende 40
Umgestaltung der nationalen Ordnungen, deren Legitimität aus eigener Tradition der Boden entzogen wird. Der Prozess der Legitimation der sich herausbildenden europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und der Delegitimation der nationalen Ordnungen wird durch eine grundlegende Machtverschiebung forciert, in der die von Parteien und Verbänden beherrschten nationalen Politikfelder von europäischen Politikfeldern überlagert werden. In der europäischen Politik haben die Wissenselite der Experten und die Wirtschaftselite der Manager die dominante Position inne; in den nationalen Politikfeldern hatten sie noch die dominierte Position eingenommen. Die Experten repräsentieren globale Rationalitätsmodelle, die mit wissenschaftlicher Autorität auftreten und darin ihren Legitimitätsvorsprung gegenüber nationalen Traditionen haben (Meyer 2005). In der Hand der Europäischen Kommission, der Komitologie und des EuGH ist die europäische Marktliberalisierung zu einem hegemonialen Projekt geworden (Gramsci 1971; Laclau/Mouffe 2001), das die an sich gegebenen Ambivalenzen und Widersprüche zwischen Narrationen und Gegen-Narrationen eindämmt und einem gemeinsamen Denken in Kategorien der Offenheit, des Wettbewerbs, der Nicht-Diskriminierung, der Chancengleichheit im Markteintritt und der unternehmerischen Aktivierung des Individuums unterwirft (Frerichs 2008; Höpner 2008; Münch 2008). Das sind Kategorien einer Governance im Mehrebenensystem jenseits staatlicher Territorialherrschaft und Disziplinarmacht, der es darum geht, maximale Freiheit bei Erhaltung wechselseitiger Berechenbarkeit des Handelns zu gewährleisten. Dabei dienen die Jurisdiktion im Sinne der Rechte des Individuums und die Veridiktion durch die Gesetze des Marktes als Eckpfeiler des Regierens. Die Beseitigung von Handelshemmnissen (Markt) und von Diskriminierung (Recht) jeglicher Art geschieht zum allseitigen Nutzen der einzelnen Individuen und legitimiert sich dadurch von selbst (Foucault 2006: 85-91, 405-430). Die europäische Integration ist diesen Weg nicht ohne Opposition gegangen. War sie in ihren Anfängen vom Denken des deutschen Ordoliberalismus geprägt (Manow et al. 2004), sind in den 1970er und 1980er Jahren, nachdrücklich durch den Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors vorangetrieben, erhebliche Versuche unternommen worden, die Wirtschaftsunion durch eine Sozialunion zu ergänzen. Dieser Versuch ist jedoch gescheitert, maßgeblich aus drei Gründen: (1) Es fehlt dafür auf der europäischen Ebene das auf der nationalen Ebene dominante politische 41
Kapital der sozialpolitischen Koalition von Parteien, Verbänden und Staat; stattdessen ist das Wissenskapital der ökonomischen Experten auf der europäischen Ebene dominant; (2) auf der europäischen Ebene werden die Chancen auf nationenübergreifende Solidarität durch die alte segmentäre Differenzierung in Nationen und durch die neue Individualisierung der Inklusion in die Mehrebenengesellschaft beschränkt; (3) sozialpolitische Maßnahmen müssen sich auf der europäischen Ebene in einem weiteren Horizont der Gerechtigkeit rechtfertigen, in dem die Rechte der bislang ausgegrenzten, in weniger entwickelten Mitgliedstaaten lebenden Unionsbürger auf einen Arbeitsplatz den Rechten der bisher besser gestellten Unionsbürger in den hoch entwickelten Wohlfahrtsstaaten auf ein hohes Niveau von Wohlstand und sozialer Sicherheit Grenzen setzen. Die auf der Regierungskonferenz 2000 beschlossene Lissabon-Strategie, die Union zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt unter gleichzeitig erreichter hoher sozialer Kohäsion zu machen, hat den Antagonismus von Wirtschafts- und Sozialunion durch ein einheitliches Wettbewerbsparadigma abgelöst, das Sozialpolitik nicht mehr als Korrektiv, sondern als Teil der Mobilisierung der Marktkräfte versteht. Dementsprechend rückt die Aktivierung des unternehmerischen Selbst im einzelnen Individuum durch lebenslanges Lernen ins Zentrum der Sozialpolitik (Bernhard 2008). Jenseits der Debatte über das Demokratiedefizit der EU vollzieht sich im Prozess der Europäischen Integration ein Wandel weg von demokratisch legitimiertem Regieren und hin zu einer rational begründeten Governance, die sich aus der sachlichen Autorität von Ökonomie und Jurisprudenz speist. Es handelt sich dabei um eine Art von „Output-Legitimität“ (Scharpf 1999), bei der die Experten in einem selbstreferenziellen Prozess zunächst definieren, was das Problem ist, um dann zu sagen, worin die beste Lösung besteht (Majone 1996). Treten dabei nicht-intendierte Folgen auf, dann müssen wiederum die Experten bestimmen, worin das Problem besteht und welche Lösung angemessen ist. Was immer die Wähler als Interessen, Probleme oder Stimmungen artikulieren mögen, es bildet sich daraus kein „Wählerwille“, den eine Regierung in Entscheidungen umsetzt, vielmehr handelt es sich dabei um Problemartikulationen, die im Prozess der europäischen Governance von der Codierung in Machtbegriffen in eine Codierung in Begriffen von Recht und Wahrheit übersetzt werden und in diesen Begriffen einer Entscheidung zugeführt werden (Gehring 2002). Die Rückübersetzung in die Begriffe der Macht erfolgt auf der europäischen Ebene über so lange 42
Ereignisketten, dass kaum noch eine Beziehung zwischen europäischer Rechtssetzung und der Artikulation von Wählerstimmen identifiziert werden kann. Was bleibt, ist ein unspezifisches Unbehagen, das zu keinem direkten Protest führt, allenfalls vereinzelt und indirekt bei Referenden über einen europäischen Verfassungsvertrag zum Ausdruck gebracht wird. Das heißt, dass in der europäischen Komitologie relativ unberührt von Parteipolitik regiert werden kann, was allerdings einem in sachliche Argumente verpackten Lobbyismus Tür und Tor öffnet (Lahusen/Jauß 2001). Das ist eine Legitimation durch Verfahren (Luhmann 1983), bei der schwer zu bewältigende Machtfragen in beantwortbare Fragen der Wahrheit und des Rechts übersetzt werden und dabei eine Lösung erhalten. Auf diesem Wege werden vollendete Tatsachen geschaffen, an denen dann in Machtbegriffen kaum noch gerüttelt werden kann. Es wird lautlos jenseits großer Debatten regiert. Die Veränderung der Gesellschaft durch dieses lautlose Regieren geschieht schleichend und wird erst bemerkbar, wenn schon alles gelaufen ist. Aus der Sicht des Paradigmas einer europäischen Marktgesellschaft stellen historisch gewachsene nationale Strukturen der staatlichen Verantwortung für Infrastrukturen, der professionellen Dienstleistung (Ärzte, Anwälte, Notare), der handwerklichen Ordnung, der Wohlfahrtspflege im öffentlichen Auftrag oder der Versicherung von Berufsrisiken in Berufsgenossenschaften nichts anderes als Monopole dar, die es im Interesse des freien Wettbewerbs durch Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung und Vermarktlichung zu beseitigen gilt. Der verschärfte Wettbewerb prämiert diejenigen Anbieter, die aufgrund von Größe, Allianzen, Skaleneffekten, geringeren Lohnkosten und dergleichen Wettbewerbsvorteile haben, und drängt diejenigen Anbieter aus dem Markt, die sich aufgrund ihrer Angepasstheit an ihr traditionelles Umfeld nicht auf den neuen Wettbewerb einstellen können. Durch Firmenzusammenschlüsse und -aufkäufe ergeben sich neue Marktschließungsprozesse, die der ursprünglichen Idee des offenen Wettbewerbs zuwiderlaufen. Angesichts des globalen Wettbewerbs sind dem Wettbewerbskommissar der EU oft die Hände gebunden, um dagegen einzuschreiten. Um Europa im globalen Wettbewerb zu positionieren, werden sogar „europäische Champions“ gefördert, die innerhalb Europas eine marktbeherrschende, wettbewerbsbeschränkende Position innehaben. Das europäische Liberalisierungsprojekt schreitet demnach in dem Widerspruch voran, durch die Leitidee der Marktöffnung und des Wettbewerbs legitimiert zu sein, gleichwohl aber Strategien von Unternehmen zu fördern, die auf eine Marktschließung hinauslaufen. 43
Derselbe Widerspruch haftet zum Beispiel auch der europäischen Forschungsförderung an. Sie eröffnet auf der einen Seite neue Chancen der Forschungskooperation jenseits nationaler Netzwerke, auf der anderen Seite verstetigt sie die herausgebildeten europäischen Forschungsnetzwerke zu Forschungskartellen, die einen Großteil der europäischen und nationalen Forschungsgelder monopolisieren und in die zirkuläre Akkumulation von monetärem und symbolischem Kapital umsetzen. So werden Konkurrenten dauerhaft in die europäische Peripherie verbannt. Rückt man also die im europäischen Vertragswerk enthaltene Metanarration ins Blickfeld, dann erscheint die Konstruktion der europäischen Gesellschaft weit weniger vielgestaltig und offen, als dies in Eders narrativem, auf eine Erfassung des diskursiven Feldes, seiner Konturen, Positionen, Akteure und Spielregeln verzichtenden Forschungsansatz zum Vorschein kommt. Man erkennt nicht das hegemoniale Liberalisierungsprojekt, das Narrationen und Gegen-Narrationen, Spieler und Gegenspieler, Privilegierte und Benachteiligte dazu zwingt, ihre Argumente in der herrschenden Sprache zu formulieren. Wer eine Position verteidigen will, muss sich der Sprache des offenen Wettbewerbs bedienen, wer sie erobern will, muss dies ebenso tun. Traditionen sind delegitimiert, soweit sie nicht dem Wettbewerbsparadigma entsprechen. Das Neue ist legitim, soweit es als Marktöffnung erscheint, wenn auch neue Prozesse der Marktschließung als zwangsläufige Folge eintreten. Die kleine berufsgenossenschaftliche Unfallversicherung kann sich nicht mehr auf die Solidargemeinschaft der Berufsgenossen berufen. Sie muss sich vielmehr der Konkurrenz der großen Versicherungskonzerne stellen, gegebenenfalls ihnen das Feld überlassen, gleichviel ob das den Berufsgenossen einen besseren Schutz gewährt oder nicht. Das alte Spiel ist aus. Dessen Begriffe haben ihre Unschuld verloren. Die Solidargemeinschaft der Berufsgenossen hat keine eigene Berechtigung mehr. Was zählt, ist die auf dem Markt gehandelte Unfallversicherung des einzelnen Erwerbstätigen. Sie allein ist jetzt legitim, weil das Denken in Begriffen des Marktwettbewerbs hegemonialen Charakter angenommen hat. Entscheidend für die Legitimität der Unfallversicherung der Erwerbstätigen ist wegen dieses hegemonialen Charakters der Marktphilosophie nicht die Erhaltung der Solidargemeinschaft von Berufsgenossen, sondern allein die Konformität zum Marktparadigma. Diese unangefochtene Stellung als Maßstab für die Beurteilung beliebiger Formen der Leistungserbringung macht das europäische Marktparadigma zu einem hegemonialen Projekt, von dem die 44
Gewinner profitieren, dem sich aber auch die Verlierer nicht entziehen können, weil sie sich seiner Sprache bedienen müssen, um ihre Interessen definieren, legitimieren und wahrnehmen zu können. Wie Lepsius (1995: 401) feststellt, bedeutet die europäische Governance in Begriffen von Recht und Wahrheit, orientiert an der Leitidee der Herstellung des europäischen Binnenmarkts zwecks Wohlfahrtssteigerung und deren Konkretisierung in den vier Freiheiten des Verkehrs von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen, dass zum Beispiel die sozialen Folgen dieses Programms auf die Mitgliedstaaten externalisiert werden. Infolgedessen ist dort das Interesse an der Vergemeinschaftung der Sozialpolitik gewachsen. Je mehr Politikfelder vergemeinschaftet werden sollen, umso mehr wird die EU jedoch von einem wirtschaftlichen Zweckverband zu einem Herrschaftsverband, der sich mit legitimen Erwartungen der Demokratisierung als Leitidee konfrontiert sieht. Weil dafür allerdings die Voraussetzungen eines vergemeinschafteten Parteien- und Verbandssystems und einer europäischen Öffentlichkeit fehlen, steckt die EU in einem in absehbarer Zeit nicht auflösbaren Dilemma der Ausübung von nicht-legitimer Herrschaft, wenn die im Nationalstaat geltenden Maßstäbe der Demokratie angelegt werden. Das Dilemma entsteht allerdings gerade auch deshalb, weil Erwartungen an demokratisches Regieren an die EU-Entscheidungsprozesse gerichtet werden, die von der EU mangels Voraussetzungen nicht beziehungsweise nur unzureichend erfüllt werden können. Der europäische Binnenmarkt wie auch der Weltmarkt können auch als eine Ausdifferenzierung der Wirtschaft aus nationalstaatlicher Umklammerung interpretiert werden, deren externe Effekte in der Politik jeweils dort so verarbeitet werden können, dass Konflikte ausreichend absorbiert und Zustimmung generiert werden, wo dafür jeweils die Voraussetzungen gegeben sind, sei es auf europäischer, nationaler oder kommunaler Ebene. Die europäische beziehungsweise die globale Wirtschaft sind in dieser Perspektive als Gegebenheiten zu betrachten, die das Mehrebenensystem der Politik in Verfahren zu bearbeiten hat. Diese Verfahren müssen in ausreichendem Maße Konflikte absorbieren, so dass Entscheidungen herauskommen, deren Legitimität nicht so in Zweifel gezogen wird, dass ihre Geltung und Implementation gar nicht möglich ist. Die mehrstufige Übersetzung von Machtfragen in Rechts- und Wahrheitsfragen und deren Rückübersetzung in Machtfragen im Mehrebenensystem ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Legitimation durch Verfahren.
45
Auf der Linie von Foucaults (2006) Geschichte der Gouvernementalität kann man das europäische System der Mehrebenen-Governance als einen gravierenden Schritt hin zu einer Regierungskunst deuten, bei der die Herrschaft eines Souveräns (zum Beispiel des im Parlament repräsentierten Volks) mittels Gesetz über ein genau abgegrenztes Territorium sowie die staatliche Disziplinierung des Individuums (Schule, Hochschule, lebenslanges Lernen) von einer Regierung der Bevölkerung jenseits des direkten Zugriffs auf Territorium und Individuum überlagert werden. Das heißt konkret, dass die wirtschaftliche Dynamik im europäischen Binnenmarkt weniger als die Volkswirtschaft auf der nationalstaatlichen Ebene einer direkten Kontrolle – etwa in einem korporatistischen Arrangement – unterworfen werden kann. Die Regierungskunst besteht dann darin, die Rahmenbedingungen für funktionierende Märkte zu schaffen und die unerwünschten externen Effekte des Marktgeschehens so auszugleichen, dass das Marktgeschehen nicht selbst ausgehebelt wird. Die Rahmensetzung der EU zu übertragen, das sozialpolitische Begleitprogramm den Mitgliedstaaten zu überlassen und durch Benchmarking und Monitoring im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung zu optimieren, erscheint in dieser Sicht durchaus als eine nahe liegende Form des „ökonomischen“, Kraft sparenden Regierens, in der Tat als eine dem europäischen Mehrebenensystem angepasste Verkörperung der liberalen Regierungskunst. 5
Schlussbemerkungen
Die europäische Moderne ist auch in der Gegenwart ein weltgeschichtlich einmaliges Projekt. Es ist der Versuch, aus historisch gewachsenen nationalen Gesellschaften eine europäische Gesellschaft zu konstruieren. Auf diesem Weg findet eine grundlegende und tief greifende Restrukturierung der Gesellschaft überhaupt statt. Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft und die Dekonstruktion der nationalen Gesellschaften gehen dabei Hand in Hand. Demokratie und Ökonomie werden neu arrangiert, die unterschiedlichen europäischen Narrationen fügen sich in eine Metanarration ein, die sich als hegemoniales Liberalisierungsprojekt begreifen lässt. Im europäischen Mehrebenensystem bildet sich eine neue Rationalität des Regierens jenseits staatlicher Territorialherrschaft und Disziplinarmacht, die man im Anschluss an Foucault als europäische Gouvernementalität be46
zeichnen kann. Die Beiträge von Günter Dux, Klaus Eder und Hans-Peter Müller helfen uns, diesen gesellschaftlichen Wandlungsprozess besser zu verstehen. Literatur Bernhard, Stefan, 2008: Die Produktion von Inklusion – Zur Entstehung eines europäischen Feldes. Dissertation an der Universität Bamberg. Bogdandy, Armin von, 1999: Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform. Zur Gestalt der Europäischen Union nach Amsterdam. BadenBaden: Nomos. Bröckling, Ulrich, 2007: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dux, Günter, 2004: Die Moral in der prozessualen Logik der Moderne. Warum wir sollen, was wir sollen. Weilerswist: Velbrück. Ders., 2008: Warum denn Gerechtigkeit. Die Logik des Kapitals. Die Politik im Widerstreit mit der Ökonomie. Weilerswist: Velbrück. Ders., 2009: Von allem Anfang an: Macht, nicht Gerechtigkeit. Studien zur Genese und historischen Entwicklung des Postulats der Gerechtigkeit. Weilerswist: Velbrück. Eder, Klaus, 2006: Transnationale Kommunikationsräume und die Entstehung einer europäischen Gesellschaft. S. 155-173 in: Robert Hettlage und Hans-Peter Müller (Hg.): Die europäische Gesellschaft. Konstanz: UVK. Ders., 2007: Europa als besonderer Kommunikationsraum, Berliner Journal für Soziologie 17 (1): 33-50. Eisenstadt, Shmuel N. (Hg.), 2002: Multiple Modernities. New Brunswick/London: Transaction Publishers. Ferry, Jean-Marc, 2000: La question de l’état européen. Paris: Gallimard. Foucault, Michel, 2006: Geschichte der Gouvernementalität. Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Frerichs, Sabine, 2008: Judicial Governance in der europäischen Rechtsgemeinschaft. Integration durch Recht jenseits des Staates. Baden-Baden: Nomos. Gamble, Andrew, 2006: The European Disunion, British Journal of Politics & International Relations 8 (1): 34-49. Gehring, Thomas, 2002: Die Europäische Union als komplexe internationale Institution. Wie durch Kommunikation und Entscheidung soziale Ordnung entsteht. Baden-Baden: Nomos. Gramsci, Antonio, 1971: Selections from the Prison Notebooks. Hg. von Quintin Hoare und Geoffrey Nowell-Smith. London: Lawrence and Wishart. Grimm, Dieter, 1995: Does Europe Need a Constitution?, European Law Journal 1 (3): 282302. Habermas, Jürgen, 1996: Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm. S. 185-191 in: Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt a.M: Suhrkamp.
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Höpner, Martin, 2008: Usurpation statt Delegation. Wie der EuGH die Binnenmarktintegration radikalisiert und warum er politischer Kontrolle bedarf, MPIfG Discussion Paper 08/12. Jachtenfuchs, Markus, 2002: Die Konstruktion Europas. Verfassungsideen und institutionelle Entwicklung. Baden-Baden: Nomos. Joerges, Christian und Jürgen Neyer, 1997: From Intergovernmental Bargaining to Deliberative Political Processes: The Constitutionalisation of Comitology, European Law Journal 3 (3): 273-299. Kremer, Thomas, 2004: The Missing Heart of Europe. Does Britain Hold the Key to the Future of the Continent? Devon: June Press. Laclau, Ernesto und Chantal Mouffe, 2001: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics. London: Verso. Lahusen, Christian und Claudia Jauß, 2001: Lobbying als Beruf: Interessengruppen in der Europäischen Union. Baden-Baden: Nomos. Lepsius, M. Rainer, 1995: Institutionenanalyse und Institutionenpolitik. S. 392-403 in: Birgitta Nedelmann (Hg.): Politische Institutionen im Wandel. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 35, Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas, 1983: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Majone, Giandomenico, 1996: Regulating Europe. London: Routledge. Manow, Philip, Armin Schäfer und Hendrik Zorn, 2004: European Social Policy and Europe's Party-Political Center of Gravity, 1957-2003, MPIfG Discussion Paper 04/6. Meyer, John W. 2005: Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Milfull, John (Hg.), 1999: Britain in Europe. Prospects for Change. Aldershot: Ashgate. Müller, Hans-Peter, 2007: Auf dem Weg in eine europäische Gesellschaft? Begriffsproblematik und theoretische Perspektiven, Berliner Journal für Soziologie 17 (1): 7-31. Münch, Richard, 1993: Das Projekt Europa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders., 2008: Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft. Frankfurt a.M./New York: Campus. Pongratz, Hans J. und G. Günter Voß, 1998: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1): 131-158. Sapir, Jacques, 2006: La fin de l’eurolibéralisme. Paris: Seuil. Scharpf, Fritz W., 1999: Regieren in Europa: Effektiv und demokratisch? Frankfurt a.M./New York: Campus. Streeck, Wolfgang, 1999: Korporatismus in Deutschland. Frankfurt a. M./New York: Campus. Vobruba, Georg, 2005: Die Dynamik Europas. Wiesbaden: VS.
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Demokratietheorie und Europäische Integration. Zur Dekonstruktion des Demos Günter Dux
1
Worum es geht
In der politischen Theorie gilt es als ausgemacht, dass die Europäische Integration ein Demokratiedefizit aufweist (Eriksen/Fossum 2000; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996). Der soziologische Beobachter, der den Diskurs zu rezipieren sucht, sieht sich mit einer irritierenden Feststellung konfrontiert: Das konstatierte Theoriedefizit stellt sich auf dem Boden eines Verständnisses von Demokratie dar, das von erkenntnistheoretischen Prämissen bestimmt wird, die bereits das Verständnis der Demokratie der Nationalstaaten problematisch sein lassen. Erst recht problematisch erscheint es jedoch, wenn man dieses Verständnis der Demokratie den veränderten Bedingungen einer transnationalisierten europäischen Politik anzupassen sucht, wie sie sich mit der Europäischen Union ausgebildet hat. Es will mir unverzichtbar erscheinen, vor einer Erörterung der Anforderungen, die an eine demokratische Verfassung der europäischen Politik zu stellen sind, die im Verständnis der Demokratie mitgeführten Erkenntnisvorgaben einer Kritik zu unterziehen. Das erfordert einigen Aufwand. Er ist notwendig. Denn man gelangt durch die Kritik zu Anforderungen an eine europäische Politik, die sich sehr von denen unterscheiden, die vom Boden eines traditionalen Verständnisses der nationalen Demokratie an sie gerichtet werden. 2
Die Defizitthese
Drei Gründe sind es, die wieder und wieder genannt werden, um die Defizitthese zu begründen: 49
1.
2.
3.
Den politischen Entscheidungen der Europäischen Union fehlt der Demos, der als Subjekt der politischen Entscheidungen gelten könnte. Ihnen fehlt auch eine Öffentlichkeit, die an den Demos gebunden verstanden wird. Die politischen Entscheidungen der Europäischen Union ermangeln der Partizipation derer, die von den Entscheidungen betroffen sind (Streeck 1998: 16f.). Den politischen Institutionen der Europäischen Union wie ihren Entscheidungen fehlt deshalb auch die Legitimation, wie sie für die politischen Institutionen und Entscheidungen in nationalen demokratischen Verfassungen in Anspruch genommen werden kann.
An Überlegungen und Vorschlägen, wie dem Defizit abgeholfen werden kann, mangelt es nicht (Wolf 2000: 177ff.; Klein et al. 2003). Es ist jedoch nicht sicher, dass ihm überhaupt abgeholfen werden kann (Guéhenno 1996). Der Diskurs über das europäische Demokratiedefizit ist in sich komplexer, als es die zuvor angeführten Defizite erkennen lassen. In ihm ist sehr wohl wahrgenommen worden, dass der Demokratiebegriff selbst einer Überprüfung bedarf; überdies gibt es nicht wenige Erörterungen, die die Veränderungen zu bestimmen suchen, der sich eine demokratisch fundierte Politik unter dem Einschlag der ökonomischen Globalisierung und einer supranational bestimmten Politik ausgesetzt sieht (Held 1998); die Reflexion auf das tradierte Verständnis der Demokratie geschieht jedoch in aller Regel lediglich unter dem Erkenntnisinteresse, die Bestimmung der Demokratie so zu modifizieren, dass sie aus ihren nationalstaatlichen Grenzen ausgelöst und für transnationale Politikformen zugänglich wird (Abromeit 2002). Die in der politischen Theorie mitgeführten erkenntnistheoretischen Vorgaben der Demokratie bleiben erhalten. In nicht wenigen werden sie erst recht in Stellung gebracht (Richter 1999). Der Demokratiebegriff, der dem Diskurs über das Demokratiedefizit zugrunde liegt, ist jedoch ungleich problematischer, als es die Bemühungen um eine Anpassung des bis dahin nationalstaatlich geprägten Begriffs an eine europäische Politik erkennen lassen. Es sind die erkenntnistheoretischen Vorgaben, die den Demokratiebegriff belasten. Sie sind es auch, die in ihrer Konsequenz die Theorie der Demokratie mit Blick auf die politischen Verhältnisse, wie wir sie vorfinden, irreal erscheinen lassen. Die Bedenken lassen sich prägnant bestimmen. Sie richten sich gegen jedes der zuvor angeführten Gravamina. 50
1. 2.
3.
Die Frage ist schon, ob es Sinn macht, die Demokratie einem substanziell verstandenen Demos verbunden zu sehen. Die Frage ist dann auch, ob es Sinn macht, den substanziellen Gehalt der Demokratie darin zu sehen, dass zwischen denen, die die politischen Entscheidungen treffen, und denen, die von ihnen betroffen sind, eine Identität besteht. Und die Frage ist schließlich auch, ob es Sinn macht, die Legitimation der politischen Entscheidungen aus einem solchen Identitäts- respektive Kongruenzprinzip gewinnen zu wollen.
Wenn man das Demokratieverständnis infrage stellt, das dem Diskurs um das europäische Demokratiedefizit zugrunde liegt, bürdet man sich eine Aufgabe auf, die schier nicht zu bewältigen ist. Man sieht sich genötigt, Demokratie anders zu bestimmen, als sie über zwei Jahrhunderte in der politischen Theorie bestimmt worden ist. So aufwendig die Aufgabe erscheinen will, auf die Seite setzen lässt sie sich nicht, wenn irgendeine verlässliche Einschätzung gewonnen werden soll, wie es um die Demokratie in der Marktgesellschaft bestellt ist – in der Europäischen Union ebenso wie in den Nationalstaaten. Ich werde mich deshalb den folgenden Aufgaben zuwenden: Ich werde zunächst die epistemischen Grundlagen der klassischen Demokratietheorie klären (3). Ich werde sodann die epistemische Defizienz dieser Demokratietheorie unter den Erkenntnisvorgaben der Moderne bestimmen. Sie hat die Logik philosophischen Denkens für sich, wie sie aus der Vergangenheit in die Neuzeit überführt worden ist, aber die Realität der Demokratie gegen sich (4). Die soziologische Irrealität der klassischen Demokratietheorie werde ich allerdings nur thesenartig aufzeigen (5). Wichtiger im Kontext der gegenwärtigen Erörterung scheint mir, die Konturen einer prozessualen Theorie der Demokratie zu entwickeln. Dazu ist ihre materiale Zielvorgabe, Selbstbestimmung, ebenso zu erörtern wie der Widerstreit, in den sie zur Ökonomie geraten ist (6). Schließlich und endlich aber ist zu klären, was Demokratie im Prozess der Europäischen Integration verlangt. Die Klärung lässt sich nicht erreichen, ohne den Strukturwandel der Marktgesellschaft in der Epoche der Globalisierung der Ökonomie und der Transnationalisierung der Politik zu erörtern. Ein epistemisch bereinigtes und soziologisch realistisches Verständnis der Demokratie sieht auch die Politik der Europäischen Union der materialen Zielvorgabe der Demokratie unterworfen, befreit sie aber von den prozeduralen Anforderungen, die sich 51
aus der Übertragung ihres substanzlogischen Verständnisses der Vergangenheit ergeben (7). 3
Der klassische Demokratiebegriff als Problem
3.1 Die substanzlogische Struktur der klassischen Demokratietheorie „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind“, so hat bekanntlich Carl Schmitt konstatiert, „säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, sondern auch in ihrer systematischen Struktur“ (Schmitt 1934: 49, gekürzte Wiedergabe). Die Prägnanz dieses Befundes gilt in besonderer Weise für die zentralen Begriffe der klassischen Demokratietheorie: für den Begriff des Volkes, des Gemeinwillens, der Souveränität, der Partizipation, schließlich der Legitimation. Jeder dieser Begriffe zeichnet sich dadurch aus, dass ihm die Vorstellung einer politischen Gemeinschaft zugrunde liegt, in der die substanzielle Gemeinsamkeit der Interessen der Subjekte wie ihrer normativen Überzeugungen die politische Gestaltungshoheit bestimmt. Der substanzlogische Vorstellungsgehalt eignet sich deshalb in besonderer Weise für die politische Theorie, weil mit ihm der subjektlogische Vorstellungsgehalt verbunden ist. Denn die Substanz ist in der abendländischen Theologie wie Philosophie eine subjektlogische Kategorie. Sie schließt das Moment schöpferischer Tätigkeit in sich ein. Eine Substanz, sagt Leibniz, kann von Natur nicht ohne Tätigkeit sein (Leibniz 1971: 161). Der klassischen, aber eben nicht nur klassischen, sondern auch der modernen Demokratietheorie zufolge stellt denn auch das Volk das Subjekt der Politik dar (Abromeit 2002). Beide Vorstellungsgehalte bestimmen die Identitätslogik, durch die sich die Demokratietheorie auszeichnet. In prägnanter Form findet sie ihren Ausdruck durch jene Formel, die Lincoln 1863 in der Gettysburg Address geprägt hat. Sie ist seither zur Standardformel für den Kerngehalt der Demokratie geworden. Demokratie, sagt Lincoln, sei „government of the people, by the people, for the people“ (Lincoln 1953). Eine Formierung der Demokratietheorie durch eine substanzlogische Subjektstruktur, die in der Formel von der Identität der Regierenden und der Regierten ihren Ausdruck findet, drängte sich für die Jahrhunderte der frühen Neuzeit auf. Denn ungeachtet dessen, dass das Universum in der naturwissenschaftlichen Revolution zu einem in sich geschlossenen System 52
geworden war (Newton 1963), blieb das 17. und auch noch das 18. Jahrhundert einer grundhaft-absolutistischen Logik der Begründung verhaftet. Die Philosophie beider Jahrhunderte sah sich, wie übrigens auch Newton selbst, weiterhin einer theistischen Schöpfungsgeschichte verpflichtet. Locke hielt daran ebenso fest wie Montesquieu und Hume. Es blieb Spinoza vorbehalten, das Absolute in den Innenraum des Universums einzuholen und einer deistischen Konstruktion der Welt das Wort zu reden (Spinoza 1979). Grundhaft-absolutistisch war auch sie. Wenn man nach allem bereit ist, dem 17. und 18. Jahrhundert ein substanzlogisch verfasstes Denken zugute zu halten, weil es einer Logik des Geistes entsprach, der sich die frühe Neuzeit nicht entziehen konnte; wenn man schließlich auch noch bereit ist, den Denkern des 19. Jahrhunderts zu konzedieren, in einem Jahrhundert zu leben, in dem die Bedingungen, sich dieser Logik zu entziehen, allenfalls in Ansätzen und eigentlich erst in der zweiten Hälfte sichtbar wurden, so ist es doch einigermaßen irritierend festzustellen, dass sich diese Logik auch heute noch fortsetzt. Denn heute weiß man, kann es jedenfalls wissen, dass eine grundhaft-absolutistische Logik, und das ist die Substanzlogik ihrer Struktur nach, die Ordnung von ihrem Ausnahmezustand her zu denken verlangt. Eine politische Theorie, die sich der substanzlogischen Verortung ihrer Begrifflichkeiten verschreibt, führt deshalb strukturnotwendig Demokratie und Totalitarismus zusammen (Agamben 2002: 19f.). Carl Schmitt hat auf diese Konsequenz explizit hingewiesen (Schmitt 1989: 237). Gleichwohl ist auch noch für das Demokratieverständnis der Gegenwart festzustellen, dass für ihre zentralen Theoreme die substanzlogische Struktur bestimmend bleibt. 3.2 Substanzlogische Transformationen moderner Demokratietheorien Demokratietheorien gibt es in nicht geringer Zahl (Schmidt 2000; Held 2006). Im mainstream der theoretischen Bestimmungen liegen Konzeptualisierungen, die der klassischen Begründung der Demokratie folgen, wie wir sie bei Rousseau finden (Rousseau 1959). Gesellschaften werden als Gemeinschaften verstanden, in der Subjekte als freie und gleiche Kooperationspartner sich zu dem Zwecke verbunden haben, das gemeinsame Beste ihrer Lebensführung zu bewirken. So steht es bei Rawls (Rawls 1994). Ersichtlich stellt die Bestimmung der Gesellschaft als Gemeinschaft keine bloße façon de parler dar. Sie meint, was sie sagt: Gesellschaften werden als 53
Gemeinschaften angesehen, deren Ordnung als Verabredung zwischen freien und gleichen Subjekten verstanden wird. Der substanzlogische Gehalt dieses Verständnisses der Gesellschaft behauptet sich zum einen in der Annahme eines gemeinsamen Interesses, das mit der Verabredung der Subjekte den Bodensatz der Gemeinschaft ausmacht; er behauptet sich jedoch zum andern darin, dass die Verabredungen von normativen Vorgaben bestimmt gesehen werden, die keiner weiteren, insbesondere keiner weiteren konstruktiven Erklärung zugänglich sind. Rawls erklärt explizit, die Verabredung basiere auf der Anlage (!) eines Gerechtigkeitssinns des Subjekts, durch den jeder fähig sei, sich des Guten als eines letzten Ziels im Handeln um seiner Selbst willen zu vergewissern (Rawls 1994: 268). Die Begründung liest sich wie eine Fußnote zu Platons Ideenlehre und der darin begründeten Geltung des Guten als eines letzten Grundes auch der Gerechtigkeit (Platon 1972; Dux 2009). In vergleichbarer Weise wie die Demokratietheorie Rawls’ ist die deliberative Theorie der Demokratie bei Habermas angelegt (Habermas 1992). Habermas hat sie im engen Konnex mit der Theorie kommunikativen Handelns entwickelt, das er als Grundlage der Gesellschaft verstanden wissen will. Er sieht die Gesellschaft auf die Verpflichtung eines jeden gegründet, Differenzen der Interessen in einem diskursiven Prozess einverständlich zu regeln. Die Prozeduralität, die damit in das Verfahren der Gesellschaftsbildung eingeführt ist, kann nicht darüber hinwegsehen lassen, dass sie auf einer normativen Vorgabe: der Anerkennung der Gleichheit der Subjekte, beruht. Die Gesellschaft wird in einer transzendentalen Moral verortet. Letztendlich stellt deshalb die Moral die Bedingung der Möglichkeit der Gesellschaft dar. Es ist diese Form einer kommunikativen Begründung der Gesellschaft, die Habermas in eine prozessuale Theorie der Demokratie überführt, denn in der vollzieht sich die Meinungs- und Willensbildung über differente Ebenen der Prozeduralität hinweg ebenfalls in einem kommunikativen Prozess. Der demokratische Prozess der Meinungs- und Willensbildung ist allerdings von den rigiden Anforderungen der Kommunikation im privaten Leben entlastet. Grundlage bleibt jedoch auch in den Diskursen der politischen Willensbildung eine transzendental verstandene Moral der Verständigung. Sie wird als ein dem Subjekt a priori eigenes Vermögen in den Meinungs- und Willensbildungsprozess eingebracht. Weil das so ist, und nur weil das so ist, kann Habermas sich hinreißen lassen, in den demokratischen Verfahren der Willensbildung „den idealen Gehalt der praktischen Vernunft 54
in pragmatischer Gestalt“ zu sehen (Habermas 1992: 367). Was Habermas nicht sieht und auch nicht sehen kann, ist, dass die transzendentallogische normative Begründung der Theorie kommunikativen Handelns wie auch der deliberativen Theorie der Demokratie in der Struktur (!) der Begründung der vormaligen substanzlogischen Struktur des Denkens verhaftet geblieben ist (Dux 2009: 192ff.). Die jedem Einzelnen als transzendentales Apriori zugeschriebene Moral verdichtet sich im politischen Prozess der Meinungs- und Willensbildung zu einer apriorischen Grundverfassung der Gesellschaft, die mit der Moral auch die Gerechtigkeit einschließt. Gesellschaften sind immer schon auf sie gegründet. Kann es irgendwie zweifelhaft sein, dass die substanzlogische Fundierung der Demokratie in diesem normativen Apriori ihre Fortsetzung erfährt? Wir finden ihre substanzlogische Fundierung auch sonst in der Demokratietheorie der Moderne. In den Grundvorstellungen, die mit der Theorie der Demokratie in der Gegenwart verbunden werden, erhalten sich die vertragstheoretischen Vorstellungen der frühen Neuzeit auch dort, wo Rousseaus Theorie des contrat social nicht ausdrücklich rezipiert wird. Dazu zählt vor allem eine Annahme – ich habe sie schon hervorgekehrt: die Gesellschaft als Gemeinschaft zu verstehen. Zum Verständnis der Gesellschaft geht man, so will es Heidrun Abromeit, vom einzelnen Individuum aus und sieht dessen Interesse dadurch bestimmt, sich mit anderen so zu verbinden, dass ihm im Verfolg gemeinsamer Interessen die Freiheit seiner Entscheidung gesichert bleibt (Abromeit 2002: 165ff.). Ersichtlich bleibt auch für Heidrun Abromeit das Rousseau’sche Modell eines Vertrags, dem eine Gemeinsamkeit der Interessen unterliegt, für das Verständnis der Gesellschaft ebenso wie der Politik grundlegend. Auch Claus Offe sieht in der Figur des Gesellschaftsvertrags die Grundlage der Gesellschaft (Offe 1998: 101). Die Bedingung der Möglichkeit eines solchen Vertrags liegt, folgt man der Retrospektive Guéhennos auf die Demokratie, in der Solidarität jener, die sich einer Nation verbunden wissen. Solidarität wie Nation formieren sich aus der Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte (Guéhenno 1996: 21). Die Ordnung der Gesellschaft, die der demokratischen Verfassung unterliegt, ist deshalb die schöne Ordnung der Solidarität und des Gemeinschaftsinteresses der Nation. Die Politik bringt immer nur ein sekundäres Ordnungsmoment ein (Guéhenno 1996: 40). Solange die Demokratie bestand, lag ihr die Einheit des Volkes in der Einheit der Interessen und der Solidarität der Bürger zugrunde. Guéhenno sieht sie vergangen. Ihr ist, so Guéhenno, mit der Nation die Grund55
lage weggebrochen. Das sehen nicht alle so. Für die, die sie fortbestehen lassen, bleiben auch die Grundlagen erhalten, auf die sie vormals gegründet wurde. Ohne Anzeichen irgendeiner Irritation nutzt Fritz Scharpf die Lincoln’sche Formel von der Demokratie als der Herrschaft des Volkes durch das Volk (Scharpf 1970). Auch Heidrun Abromeit bedient sich der Formel (Abromeit 2002: 19). Scharpf lässt sich dabei von der Vorstellung leiten, es gäbe so etwas wie eine starke kollektive Identität als sozialstrukturelle Vorbedingung. Durch eben diese Identität sieht er auch gegenwärtig die demokratische Willensbildung bestimmt (Scharpf 1999: 16). Hängt man diesem Verständnis von Politik an, ist deren Aufgabe auf eine überaus einfache Weise zu bestimmen. Es geht um nicht mehr, als konkret zu bestimmen, auf welche Weise der substanziellen Gemeinsamkeit der Interessen im Gemeinwohl am effizientesten Rechnung getragen werden kann (Offe/Preuss 1991: 166ff.). Subjekt- und handlungslogisch konzipierte Theorien der Politik folgen darin dem Verständnis alltäglichen Handelns, dass sie die Politik von gemeinsamen Überzeugungen bestimmt sehen (Tocqueville 1985: 219). Sie zeichnen sich durch eine eigenartige Gemengelage der normativen und der faktischen Geltung aus. Die normativen Überzeugungen erweisen sich als zumindest im Bewusstsein faktisch existent. Gäbe es die normativen Überzeugungen nicht als faktisch in der Gesellschaft mitgeführte Überzeugungen, bräche, so sagen die Vertreter der klassischen Demokratietheorie, das Vertrauen der Minderheit weg, dass die Interessen aller, vor allem aber die Interessen der unterlegenen Minderheit, in die Willensbildung der Mehrheit Eingang fänden (Scharpf 1999: 19). Wenn das eine Problem des substanzlogischen Verständnisses der Demokratie darin zum Ausdruck kommt, dass Gesellschaft als Gemeinschaft verstanden wird, so das andere darin, den Strukturen der Gesellschaft wie der demokratischen Verfassung des politischen Systems deren normative Sollwerte eingebildet zu sehen. Das gilt auch für die Gerechtigkeit. Für die aber lässt sich die Annahme weder von den vorneuzeitlichen Gesellschaften noch von der Marktgesellschaft der Gegenwart halten (Dux 2008, 2009). Es hat nie eine gerechte Gesellschaft gegeben, nie eine, in der Gerechtigkeit schon in deren Strukturen eingelassen gewesen wäre. Es gibt sie auch heute nicht. Anders stellen sich die Verhältnisse für die Moral dar. Es ist keine Frage, dass in einer Gesellschaft der Verkehr der Bürger von Moral bestimmt sein muss. Die reicht jedoch nicht weiter, als es der Schutz der Person des anderen in den je konkreten Interak56
tionen verlangt. Die Bestimmung, welche Position jemand in der Gesellschaft einnimmt, wie seine Lebenslage beschaffen ist, welche Lebenschancen daran haften, ist einer Prozessualität im Bildungsprozess des ökonomischen Systems unterworfen. Und in der hat Gerechtigkeit keinen Platz. Diese Feststellung gilt insbesondere für den Bildungsprozess der Marktgesellschaft. In ihm bestimmt die Prozessualität des Marktes die Strukturen der Gesellschaft. Die Strukturen der Marktgesellschaft werden, das muss man sehen, um zu verstehen, in welcher Gesellschaft wir leben, gerade nicht von Gerechtigkeit bestimmt. Eben das aber ist communis opinio der politischen Theorie der Demokratie. Man wird nicht zögern, Fritz Scharpf zuzustimmen, wenn er erklärt, „dass bei der Definition des öffentlichen Interesses alle Interessen berücksichtigt werden sollen und dass Kosten und Nutzen von Maßnahmen im öffentlichen Interesse nach überzeugenden Normen distributiver Gerechtigkeit auszuführen sind“ (Scharpf 1999: 22). Die Frage ist jedoch, wie man ein solches Postulat zu verstehen hat. Die politische Theorie der Demokratie geht davon aus, dass ein normatives Bewusstsein, das diesem Postulat entspricht, die Grundlage der Gesellschaft und eben deshalb auch die Grundlage der Demokratie ausmacht. Obwohl im philosophischen Verständnis des Sollens von Kant bis Habermas das Sollen selbst ohne jede empirische Beimengung verstanden wird (Kant 1968; Habermas 1982), gilt der politischen Theorie das so verstandene Sollen als in die Strukturen der Gesellschaft eingelassen. Ohne die faktische Umsetzung dieser normativen Überzeugung, mag sie auch mehr schlecht als recht erfolgen, gäbe es die Demokratie nicht. Weil es diese Grundlage aber gibt, und nur weil es sie gibt, bildet die Demokratie im Verständnis der politischen Theorie auch die Grundlage des Wohlfahrtsstaats. „Beide“, stellt Claus Offe fest, Demokratie und Wohlfahrtsstaat, „sind auf die Zufuhr von verpflichtenden Motiven angewiesen, die ihrerseits an die nationalstaatliche Form der politischen Integration gebunden sind“ (Offe 1998: 105). Demokratie und Wohlfahrtsstaat speisen sich, das ist die Botschaft, aus einer Moral, der die substanzielle Identität der Interessen wie der Überzeugungen der politischen Gemeinschaft zugrunde liegt. Der politischen Philosophie kommt deshalb, so hat Rawls sich im Hinblick auf das Postulat der Gerechtigkeit verlauten lassen, lediglich die Aufgabe zu, danach zu forschen, wie die normativen Ideale, „die in der öffentlichen Kultur einer demokratischen Gesellschaft implizit oder latent vorhanden sind“, am besten verwirklicht werden können (Rawls 1994: 272). 57
Die republikanische Theorie der Demokratie, wie sie im „Contrat social“ Rousseaus Gestalt gewonnen hat, ist eine von der Konzeption eines gemeinsamen Interesses und eines Gemeinwillens bestimmte Theorie. Ihr geht es um eines: um das Prinzip der Selbstbestimmung des Einzelnen und der Selbstgesetzgebung des Volkes. Darum geht es auch in der anderen Theorietradition, der liberalen. Sie setzt jedoch die Akzente anders. Für sie ist das Interesse entscheidend, das Prinzip der Selbstbestimmung auf dem Markt nutzen zu können. In Rousseaus Theorie bleibt die ökonomische Betätigung außen vor. Denn in der bestimmt nicht die Gemeinsamkeit, sondern die Differenz der Interessen das Geschehen. Für die liberale Theorietradition ist die Differenz der Interessen zentral. Die historische Wurzel der liberalen Theorietradition kann man in Lockes „Two Treatises on Government“ sehen (Locke 1977). Locke folgt dem theorieleitenden Interesse an der Freiheit der Betätigung auf dem Markt, wenn für ihn die Gewaltenteilung in der Verfassung des Staats einen zentralen Stellenwert gewinnt. Die Idee der Gewaltenteilung hat durch Montesquieus „Vom Geist der Gesetze“ eine nachhaltige Verbreitung gefunden (Montesquieu 1951). Praktisch ist sie vor allem auf eines aus: auf eine Begrenzung der Regierungsgewalt. Mit eben diesem Ziel ist sie in die Verfassung der Vereinigten Staaten eingegangen (Madison 1982: 292-314). Theoretisch ist die Differenz der beiden Theorietraditionen jedoch weniger grundlegend, als es den Anschein hat. Die substanzlogische Struktur der Theorie der Demokratie ist jedenfalls beiden Theorietraditionen gemeinsam. Locke wie Montesquieu halten die gesellschaftliche Ordnung dadurch der Schöpfungsgeschichte verbunden, dass sie die Ordnung von „natürlichen Gesetzen“ bestimmt sehen. Montesquieu hat ihnen eine transzendentale Begründung zuteil werden lassen, die keinen Zweifel aufkommen lässt, dass sie nicht als „natürliche Gesetze“ des physikalischen Universums zu verstehen sind. „Naturgesetze“ heißen sie, so lässt sich Montesquieu vernehmen, „weil sie einzig und allein aus unserer Wesensart entspringen“ (Montesquieu 1951: 12). Strukturlogisch bleiben sie substanzhaft verortet. Und ganz ebenso wie im liberalen Verständnis der frühen Neuzeit das einzelne Subjekt substanzhaft verstanden wurde, wurde auch das Volk als Subjekt der demokratischen Verfassung und der von ihr bestimmten Politik von den substanzlogischen Vorgaben natürlicher Gesetze bestimmt gesehen (Madison 1982: 285). Theoriestrategisch sind denn auch die beiden Theorietraditionen, die republikanische und die liberale, in
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der politischen Theorie des westlichen Europas nicht als wirkliche Gegensätze verstanden worden. 4
Die epistemische Defizienz der klassischen Demokratietheorie
Erkenntniskritisch muss man eine Demokratietheorie, die einer substanzund identitätslogischen Struktur der Begründung verpflichtet ist, unter den erkenntnistheoretischen Vorgaben der Neuzeit und vollends der Moderne als überholt verstehen. Sie stellt das Relikt einer Geistesgeschichte dar, in deren Frühzeit die Handlung die dominante Struktur der Erklärung für das, was in der Welt vorgefunden wird und geschieht, darstellt. Sie hat die grundhaft-absolutistische Form der Erklärung bewirkt, die das vorneuzeitliche Denken bestimmt hat (Dux 2000). Wenn sich die grundhaft-absolutistische Form der Erklärung in der Aufklärung zu behaupten vermochte und sich als eine letzte Form ihrer entwicklungslogischen Transformation auch noch in den transzendentalen Begründungen der Gegenwart findet, so deshalb, weil Strukturen sich nur äußerst mühsam reflexiv überwinden lassen. Sie kehren in der Reflexion auf sie wieder. Wenn sich die Form einer grundhaft-absolutistischen Logik auch noch in der Aufklärung zu behaupten vermag, so deshalb, weil sich die philosophische Reflexion des 18. Jahrhunderts nicht in der Lage sah, die kategorialen Formen des menschlichen Geistes anders als transzendental zu begründen. Sie erachtete das Vermögen, sie aus sich herauszusetzen, schlicht als gegeben (Kant 1923). Ersichtlich bleibt das transzendentallogisch verankerte Denken in der transzendentalen Vorgabe des Vermögens, die Lebensformen aus sich herauszusetzen, einer grundhaft-absolutistischen Struktur verhaftet. In der Moderne ist die substanzund identitätslogische Struktur erkenntniskritisch deshalb überholt, weil es im geschlossenen Universum der Neuzeit kein Absolutum und schon gar keine Absoluta gibt. An die Stelle einer subjekt- und substanzlogischen Struktur tritt in der Moderne die prozessuale Struktur einer systemischen Begründung der Organisationsformen des Lebens. Auch das Denken erfährt fortan eine prozessuale Begründung aus seiner konstruktiven Genese. Die aber wird, wie alles in der Welt, von angebbaren Bedingungen bestimmt. Für ein strukturlogisch aufgeklärtes Verständnis der Geistesgeschichte ist nach allem nicht zweifelhaft, dass sich in der Stellung, die dem Volk als Substanz und Subjekt des Geschehens in der Demokratie zugeschrieben 59
wird, eine obsolet gewordene Struktur des Denkens behauptet. Selbstredend weiß man in der politischen Theorie, dass das Volk nicht wirklich regiert; und selbstredend weiß man, dass die Formel von der Demokratie als Herrschaft des Volkes durch das Volk für das Volk irreal ist. Man benötigt die Formel gleichwohl, weil sie von der argumentativen Struktur der Logik verlangt wird. Gewiss, diese Logik ist nicht länger die vorneuzeitliche Logik, nicht die Subjekt- und Substanzlogik der Antike und des Mittelalters. In der ließ sich das Verlangen nach einem substanziellen Endpunkt der Erklärung schlechterdings nicht verweigern. Im aufgeklärten Verständnis der Moderne bilden sich die kategorialen Formen, die der Erkenntnis wie des Sollens, erst konstruktiv. In ihrer Rekonstruktion wird jede transzendentale Begründung obsolet (Dux 2000: 138ff.) Die Eliminierung jeder grundhaften Form der Erklärung lässt auch die klassischen Theorien der Demokratie alt aussehen. Der epistemische Widerspruch gegen eine substanz- und subjektlogisch unterlegte Demokratietheorie lässt sich nach allem prägnant bestimmen: Endpunkte der Erklärung sind im modernen Verständnis der Welt nicht auffindbar. Eine Theorie der Gesellschaft respektive der Politik, die auf diese Struktur fixiert ist, muss daher in ihren Erklärungsleistungen defizient werden. Sie sieht sich außerstande, die realen Verhältnisse abstraktiv so in eine Theorie zu fassen, dass die Prozessualität, durch die sich die Verhältnisse bilden, transparent wird. Die Zurechnung der Politik zu der phantasmagorischen Substanz des Volkes ist ein eindrückliches Beispiel. Dadurch entsteht eine nicht weniger phantasmagorische Legitimation der Politik. Denn wer das Volk als Subjekt der Politik versteht, nimmt eine verfassungsrechtliche Zurechnung vor, die das Ziel hat, eine Prozeduralität zu legitimieren, die sie gar nicht erfasst. Die Legitimation läuft dadurch so leer wie die Bestimmung der Prozessualität der sozialen Systeme: des gesellschaftlichen Gesamtsystems wie des politischen Systems. Die klassische Demokratietheorie konnte denn auch durch Theorien, die sich wie die von Schumpeter und Zolo als realistische Theorien verstehen, mühelos auf die Seite gesetzt werden (Schumpeter 1950; Zolo 1997). Unter den erkenntnisleitenden Vorgaben der Neuzeit sieht sich eine Theorie der Demokratie von der Anforderung bestimmt, das kategoriale Gerüst aus den Bedingungen einsichtig zu machen, unter denen sich die demokratische Verfassung bildet und entwickelt. Unter dieser Anforderung gewinnen zwei Auszeichnungen der Demokratie eine überragende Bedeutung:
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1.
2.
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Demokratie muss als Verfassung eines politischen Systems verstanden werden, das einer systemisch differenzierten Gesellschaft eingefügt ist, in der das ökonomische System das eigentlich Gesellschaft begründende System ist. Die demokratische Verfassung des politischen Systems lässt sich, das wird sich zeigen, nicht verstehen, wenn sie nicht als im Widerstreit zur ökonomischen Verfassung verstanden wird. Nicht minder bedeutsam ist, die der Politik eigene Gestaltungshoheit von einer normativen Zielvorgabe des kulturellen Systems bestimmt zu sehen, die sich mit der Marktgesellschaft mitentwickelt hat und das Selbstverständnis der Subjekte in der Neuzeit bestimmt: Selbstbestimmung. Normative Zielvorgaben dürfen allerdings nicht länger einer grundhaft-absolutistischen Logik verhaftet verstanden werden. Bevor ich die Konturen einer soziologischen Theorie skizziere, die diesen Anforderungen Rechnung trägt, scheint es ratsam, die Irrealität der klassischen Demokratietheorie thesenartig festzuhalten. Ich markiere sie an vier Befunden. Die Irrealität der klassischen Demokratietheorie
Irreal ist, der demokratischen Verfassung eine Einheit der Interessen des Volkes zugrunde zu legen. Denn eine Einheit des Interesses, von der gesagt werden könnte, dass sie es wäre, die die Politik bestimmte, ist nicht ersichtlich. Die Marktgesellschaft ist ihrem Bildungsprozess wie ihrer historischen Entwicklung nach eine Klassengesellschaft. Zu keiner Zeit hat die Politik die Einheit der Interessen für sich in Anspruch nehmen können. Sie kann es auch heute nicht. Unter dem Einschlag der Globalisierung ist das ökonomische System in eine Epoche seiner Entwicklung eingetreten, in der sich die Klassengesellschaft neu formiert, wenn auch der Klassenbegriff und die reale Ausprägung der Klassen anders bestimmt werden müssen als im 18. und 19. Jahrhundert. Irreal ist auch, die Grundlage der Politik in der Gemeinsamkeit des Nationalstaats finden zu wollen. Diese Feststellung gilt bereits für den Nationalstaat der Vergangenheit. Der Nationalstaat ist schlecht verstanden, wenn man meint, die Gemeinsamkeit der Geschichte und die daran haftende historische Erinnerung für die Politik in Anspruch nehmen zu können (Kielmannsegg 1996; Guéhenno 1996: 21). Es gibt ein Bewusstsein der Gemein61
samkeit. Das ist jedoch – je länger, desto mehr – das Bewusstsein einer Gemeinsamkeit des Verschwindens; es ist auch politisch relevant. Die Frage ist jedoch: wofür? Wenn die Bürger eines Staats jemals meinten, im politischen System des Nationalstaats eine Identität stiftende Gemeinschaft zu finden, so deshalb, weil sie diese Gemeinschaft in der vom ökonomischen System bestimmten Grundverfassung der Gesellschaft gerade nicht zu finden vermochten. Und wenn sie hofften, durch ihre Integration in den Nationalstaat eine Identität wiederzugewinnen (Gellner 1983), die ihnen unter der Entwicklung der Marktgesellschaft abhanden gekommen war, so war das schon damals eine Illusion. Der Nationalismus ist nicht die Grundlage der Demokratie, er war es auch in der Vergangenheit nicht. Er ist ihre Ideologie. Das zeigt sich nirgends eindringlicher als in seiner Radikalisierung im Nationalsozialismus (Dux 2008: 170ff.). Ebenfalls irreal ist es, die Teilhabe des Volkes an der Politik durch Wahlen und Abstimmungen als demokratisches Kongruenzprinzip verstehen zu wollen, durch das zwischen denen, die die Politik machen, und denen, die von ihr betroffen sind, eine Identität begründet würde. Wahlen und Abstimmungen stellen ein Verfahren dar, um Machtpotenziale in der Gesellschaft zu sichern, gegebenenfalls auch um sie zu gewinnen. Unter der Vorherrschaft des ökonomischen Systems in der Marktgesellschaft haben sie während der längsten Zeit ihrer Geschichte den Effekt gezeitigt, den vom ökonomischen System Begünstigten die Vorzüge dieses Systems zu sichern. Bestenfalls kann man sie als Chance der anderen verstehen, sich ein Machtpotenzial zu verschaffen, um den Reichtum der Gesellschaft anders zu verteilen, als er im ökonomischen System verteilt wurde. Darauf komme ich zurück. Irreal ist schließlich die in die Demokratietheorie eingegangene Vorstellung, die Einheit der Gesellschaft werde durch allen gemeinsame moralische Überzeugungen begründet, die bewirkten, dass jeder ein aktives Interesse am Wohlergehen des anderen mitverfolge (Offe 1998: 104). Diese Moral gibt es in sozialen Systemen, in denen das Leben gemeinsam in Interaktionen und Kommunikationen face to face geführt wird, in Gemeinschaften also. In Gesellschaften gibt es sie nicht. Es gibt sie insbesondere nicht in der Marktgesellschaft. Gesellschaften sind nicht, als was die politische Theorie sie verstehen will: als Gemeinschaften. Gewiss, es bedarf auch in der Gesellschaft der Akzeptanz moralischer Prinzipien, um sie möglich sein zu lassen. Der Begegnungsverkehr auf dem Markt erfordert sie ebenso wie der ano62
nyme Verkehr unter Fremden in der Öffentlichkeit. Aber die moralischen Prinzipien reichen auch nicht weiter, als den Verkehr möglich zu machen (Dux 2004). Sie sind es nicht, die der Marktgesellschaft Form und Inhalt geben. Schon gar nicht gewährleisten sie einen Ausgleich der Interessen in der Marktgesellschaft. Hätte in der Marktgesellschaft jeder ein „aktives Interesse am Wohlergehen des anderen“, müsste die Marktgesellschaft anders aussehen. Realiter hätte sie sich erst gar nicht bilden können. Denn die dem ökonomischen System immanente Logik ihrer Prozessualität, über die sich die Grundverfassung der Gesellschaft bildet, widerspricht diesem Interesse (Friedman 2004: 164f.). Die Irrealität der von den substanz- und identitätslogischen Vorgaben bestimmten Demokratietheorie lässt sich auf den Punkt bringen. Sie besteht darin, durch die substanzlogische Verortung die prozedurale Form der Demokratie mit ihrem materialen Gehalt zur Deckung zu bringen. Denn die Substanz enthält, was immer an idealen, normativen Gehalten die demokratische Verfassung des politischen Systems bestimmt. Die auch noch in der Gegenwart vorherrschende Demokratietheorie folgt darin der logischen Struktur ihrer Konzeptualisierung, dass sich in ihr die demokratische Verfassung der Gesellschaft als eine Verfassung darstellt, die jedenfalls ihrer Anlage nach als eine gute und gerechte Gesellschaft erscheint. Der normative Sollgehalt wird als den Strukturen eingebildet verstanden. Gewiss, es ist der politischen Theorie nicht entgangen, dass sich einige der ihr zugeschriebenen Gehalte nicht haben realisieren lassen. Sie werden als „broken promisses“ notiert und abgeschrieben (Bobbio 1987: 26-41). Die Idealität der demokratischen Verfassung wird dadurch nicht infrage gestellt. Tatsächlich nehmen sich die Verhältnisse allerdings anders aus. Die Theorie der Demokratie konnte nur so lange meinen, mit den Verhältnissen in der Gesellschaft im Einklang zu sein, wie sie ihre politischen Vorgaben mit den Interessen einer bürgerlichen Gesellschaft zur Deckung brachte, in der das Bürgertum als Schicht konsolidiert war. Die liberale Theorie Lockes zielte überhaupt nur auf die Sicherung des Eigentums. Selbstbestimmung als „Sicherung des Eigentums an der Person“ meinte ökonomische Selbstbestimmung, wie sie das Bürgertum für sich in Anspruch nahm. Die republikanische Theorie Rousseaus schloss aus dem Gemeinwillen alle divergierenden Interessen aus und sicherte dem Bürgertum durch deren Exklusion mehr noch als durch den ohnehin vom Bürgertum bestimmten Gemeinwillen die „freie Entfaltung“ der Selbstbestimmung in der Ökonomie. Beide, die liberale wie die 63
republikanische Theoriestrategie, halten den Konflikt verdeckt, der die demokratische Verfassung bestimmt: den Konflikt zwischen einer von der Ökonomie bestimmten selbstorganisatorischen Machtverfassung der Gesellschaft und den selbstreflexiven Anforderungen der Subjekte an die Gesellschaft, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Realistische Demokratietheorien tendieren dazu, die normative Dimensionierung der Demokratie zu eliminieren. Sie lässt sich aber nicht eliminieren. Denn die normative Zielvorgabe der Selbstbestimmung gründet nicht auf einer absolutistischen Setzung, wie Zolo meint (Zolo 1997: 53), sie beruht vielmehr auf einem Selbstverständnis des Subjekts, wie es in einer säkular verstandenen Welt imperativisch wird. Realistisch will jede soziologische Theorie der Demokratie sein, die sich daran gebunden sieht, einer „Wirklichkeitswissenschaft“ verpflichtet zu sein (Weber 1968). Um es sein zu können, muss sie die bestimmenden Prozesse der Genese der Demokratie eruieren und in eben diesem Sinne eine prozessuale Theorie sein. 6
Eine prozessuale Theorie der Demokratie
6.1 Zur Genese der Demokratie Demokratie ist als Organisationsform des politischen Systems der Marktgesellschaft aus der Konvergenz einer sozialstrukturellen und einer kulturellen Entwicklung in den Jahrhunderten der frühen Neuzeit hervorgegangen. Sozialstrukturell hat die Ausbildung eines in seiner prozeduralen Logik auf die Kapitalakkumulation fixierten ökonomischen Systems die Ausbildung eines korrelaten politischen Systems notwendig gemacht. Das politische System vermochte Organisations- und Funktionsvorgaben des absolutistischen Staats zu nutzen, bildete sich aber unter der vorlaufenden Entwicklung des ökonomischen Systems zu einem Teilsystem innerhalb der Marktgesellschaft aus. Ihm fiel eine Gestaltungshoheit innerhalb der Gesellschaft zu, die niemand im Vorhinein definiert hat, für die aber zwei Aufgaben gleichsam in der Intentionalität und Logik ihres Bildungsprozesses lagen: Das politische System schuf und garantierte die normativen Regeln, die für das Zusammenleben der Subjekte in der Marktgesellschaft notwendig sind. Seither ist die Moral in das Recht integriert. Und es schuf und garantierte die Rechtsformen, die das ökonomische System benötigt, um die Austausch64
prozesse effizient und verlässlich abwickeln zu können. Das ist die eine der Entwicklungslinien der demokratischen Verfassung des politischen Systems. Die andere geht aus einer kulturellen Entwicklung hervor: Sie verdankt sich der in der Neuzeit gewonnenen Einsicht, dass sich die Welt als Resultat der konstruktiven Kompetenz des Menschen bildet. Konstrukteur ist der Mensch in der gesellschaftlich verfassten Interaktion und Kommunikation mit anderen – wenn man so will: als Gattungssubjekt. Auch wenn die Umarbeitung und Weiterentwicklung der je historischen Welt nur gesellschaftlich erfolgen kann, liegt die zur (Re-)Konstruktion erforderliche Verarbeitungskompetenz beim einzelnen Subjekt. Fortan konvergiert deshalb das Verständnis der Welt, der Natur wie der Sozialwelt, auf das konstruktive Vermögen im Subjekt. Fortan konvergiert insbesondere alle Wertigkeit, auf die hin die Gesellschaft konstruktiv gestaltet wird, auf das einzelne Subjekt. Und das ist schlicht deshalb so, weil im säkularen Verständnis der Welt alle Wertigkeit vom Subjekt herrührt. Wie jedes soziale System wird auch das politische System durch eine paradigmatische Form von Handlungen bestimmt, durch deren Vernetzung es sich als soziales System bildet. Die paradigmatische Form der Handlungen wird durch deren Zielvorgabe bestimmt. Zielvorgabe der Politik sind zum einen die System sichernden Funktionen, die das politische System insbesondere für das ökonomische System übernimmt, und zum anderen die materiale, kulturelle Zielvorgabe, die von dem in der Neuzeit gewonnenen Verständnis des Menschen, Konstrukteur seiner eigenen Lebensform zu sein, bestimmt wird. Sie setzt sich in die Maxime der Selbstbestimmung des Einzelnen und der Selbstgesetzgebung des Volkes um. Alle politischen Theorien führen von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung als Leitprinzipien der Politik mit (Dux 2008: 52ff.; Klein et al. 2003: 10; Florida 2002: XIX, passim). Unter der Zielvorgabe der Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung formiert sich das politische Projekt der Moderne. Projekt ist es deshalb, weil es auf eine konstruktive Gestaltung zielt, durch die sich das Postulat der Selbstbestimmung allererst realisieren sollte. Es ließ sich aber nicht realisieren. Zwischen dem ökonomischen System und der materialen Zielvorgabe der demokratischen Verfassung des politischen Systems besteht ein tief gehender Widerstreit.
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6.2 Was Selbstbestimmung meint Das Subjekt der Moderne befindet sich in der Marktgesellschaft in einer Grenzlage der Gesellschaft, aus der heraus es sich allererst selbst durch seine Handlungen und Kommunikationen in die Gesellschaft integrieren muss. Das gilt prinzipiell auch für die Position des Subjekts in vorneuzeitlichen Gesellschaften (Dux 2003). Die Situation des Subjekts der Marktgesellschaft unterscheidet sich jedoch dadurch von der der Subjekte in den vorneuzeitlichen Gesellschaften, dass die Gesellschaft keine Platzhalterfunktion für seine Integration kennt. Zwar bleibt das familiale Ambiente für den Erwerb der kognitiven, normativen und affektiven Kompetenzen bedeutsam, das ändert jedoch nichts daran, dass es dem Subjekt selbst obliegt, sich mit der Integration in die Gesellschaft die Bedingungen einer gelungenen Lebensform zu schaffen. Doch damit ist die Bedeutung dessen, was Selbstbestimmung meint, noch nicht erfasst. Die zeigt sich erst, wenn man wahrnimmt, dass zwischen der Aufgabe, der jedes Subjekt unterworfen ist, sich in die Gesellschaft zu integrieren, und der Verfassung des Subjekts eine höchst signifikante Rückkoppelung besteht. Das Subjekt bildet sich ontogenetisch durch den Erwerb einer Handlungskompetenz in der Interaktion mit der Umwelt. In der Marktgesellschaft wird der Bildungsprozess des Subjekts deshalb, je weiter er fortschreitet, davon abhängig, dass das Subjekt die Integration in die Sozialwelt auch bewältigt. Einzig dadurch erfährt das Subjekt eine Bestätigung seiner Selbst, die es in Einklang mit sich leben lässt. Als in der griechischen Antike ein erstes Bewusstsein gewonnen wurde, unter konstruktiven Bedingungen zu leben, und sich eben damit auch das Bewusstsein ausbildete, sich zur Integration in die Gesellschaft „bilden“ zu müssen, hat Platon für die damit dem Subjekt zufallende Verantwortung für sich selbst eine zum Nachdenken anstiftende Formulierung gefunden. Es gelte, so sagt er in der Politeia, die Kräfte der Seele so zu rüsten, dass jeder Mensch „Freund seiner selbst sei“ (Platon 1972: 443d). Um eben diese rückbezügliche Form der Selbstfindung geht es in der Marktgesellschaft in einer prinzipalisierten Form. Das Subjekt wird in der Marktgesellschaft sich selbst zur Bedingung eines gelungenen Lebens. Es kann dazu aber nur durch eine Hinwendung zur Außenwelt gelangen, durch die es sich selbst bildet und bestätigt. In der Marktgesellschaft der Moderne zwingt deshalb die Entwicklung des Verhältnisses von Welt und Subjekt dem Subjekt die Maxime der Selbstbestim66
mung auf. Selbstbestimmung meint Selbstverwirklichung. Sie muss als ein „anthropologisches Dispositiv“ des Subjekts der Neuzeit verstanden werden. Als anthropologisches Dispositiv enthält das Postulat der Selbstbestimmung ein Moment der Steigerung der Subjektstruktur. Das Subjekt kann den Anforderungen an eine selbstbestimmte Lebensform nur durch eine gesteigerte Form von Bildung nachkommen. Sie vor allem lässt das Subjekt sich auf sich selbst richten. Ein Abglanz dieser Bedingtheit der Lebensform des Subjekts ist in die jüngere liberale Theorie eingegangen. „It is indispensable“, so John Stuart Mill, „to enable average human beings to attain the mental stature, which they are capable of“ (Mill 1991: 17, 63). Die knappe Reflexion über das, was die Wertigkeit der Selbstbestimmung ausmacht, war zum einen notwendig, um zu verstehen, was Selbstbestimmung meint: Selbstverwirklichung. Für sie werden die in der Moderne eröffneten Möglichkeitsdimensionen der Lebensführung in Anspruch genommen. Sie war zum andern notwendig, um zu verstehen, weshalb Selbstbestimmung als Projekt der Demokratie manifest geworden ist. Sie war aber vor allem notwendig, um deutlich zu machen, dass die Partizipation des Bürgers am Prozess der politischen Willensbildung zwar selbst schon als ein Moment der Selbstbestimmung verstanden werden muss, in ihrer demokratischen Intentionalität jedoch auf eine Form der Selbstbestimmung zielt, durch die das Subjekt die Praxis des täglichen Lebens in einer Weise gestalten will, dass es sich in der Gesellschaft als bedeutsam erfährt. Es will von dieser Praxis sagen können: So will ich leben, weil ein so gelebtes Leben ein (für mich) bedeutsam gelebtes Leben ist. Exakt das ist gemeint, wenn man sagt: Selbstbestimmung stelle das anthropologische Dispositiv des Subjekts der Moderne dar. Für diese Form der Selbstbestimmung soll die demokratische Verfasstheit des politischen Systems die Bedingungen schaffen. Der politischen Dimension dieser Zielvorgabe der Demokratie wird man erst gewahr, wenn man auch den Widerstreit wahrnimmt, in den Demokratie und Politik mit der Ökonomie geraten sind. 6.3 Demokratie im Widerstreit mit der Ökonomie Selbstbestimmung stellt seiner Genese nach ein subjektives Verlangen der Lebensführung dar, das sich in eine normative Anforderung an die Politik übersetzt. Seine Bestimmung als anthropologisches Dispositiv stellt klar, dass es sich als normatives Postulat keiner Setzung verdankt, die einer abso67
luten Letztbegründung entstammt, sich vielmehr aus einer reflexiven Selbstverständigung des Subjekts unter den Verständnisvorgaben einer säkularen Welt bildet. Das Postulat der Selbstbestimmung nimmt deshalb für sich eine Stringenz der Erkenntnis in Anspruch, die unabweisbar ist. Eben deshalb ist Demokratie nicht verhandelbar. Es kennzeichnet die Lebenslage des Subjekts in der Moderne, mit diesem Selbstverständnis in Widerstreit mit der vom ökonomischen System formierten Gesellschaft geraten zu sein. Der auf jedem Subjekt lastende Zwang, sich in das ökonomische System zu integrieren, widerstreitet dem Anspruch auf Selbstverwirklichung deshalb, weil Arbeit im ökonomischen System nur in einem kontingenten Verhältnis zur Selbstverwirklichung steht. Es sind nur wenige, die eine Form von Selbstverwirklichung in der Arbeit finden. Prinzipiell gilt der Widerstreit deshalb für so gut wie jedes Subjekt. Eine existenziell bedrohliche Dimension gewinnt der Widerstreit für jene Millionen, die sich nicht oder nur unzureichend in das ökonomische System der Arbeit zu inkludieren vermögen. Denn ihnen wird mit der Verweigerung der Subsistenzen der Lebensführung auch der Boden einer selbstbestimmten Lebensführung entzogen. Unter dem Widerstreit zwischen der Maxime der Selbstbestimmung und den vom ökonomischen System bewirkten Verhältnissen fällt der Demokratie die Aufgabe zu, Verhältnisse zu schaffen, die jedem die Möglichkeit eröffnen, diejenigen Sinnvorgaben der Gesellschaft zu realisieren, die sich aus den in der Gesellschaft ausgebildeten Möglichkeitsdimensionen der Lebensführung herauskristallisieren (Dux 2009). Das Bürgertum hat in den Jahrhunderten der Neuzeit diesen Widerstreit zwischen der Selbstbestimmung als anthropologischem Dispositiv des neuzeitlichen Subjekts und der Verfassung der Gesellschaft verdeckt gehalten. Das ökonomische Bürgertum war und ist entschlossen, seinen ökonomischen Erfolg als Manifestation der Selbstbestimmung zu verstehen. Locke verlangte deshalb vom Staat kaum mehr als die Sicherung des Eigentums. Als Eigentum aber galt ihm vorzüglich das „Eigentum an seiner eigenen Person“ (Locke 1977: 216). Reflexiv bedachtsamen Zeitgenossen will die Selbstbestimmung, die die für sich in Anspruch nehmen, die sich der Kapitalakkumulation verschreiben, so selbstbestimmt nicht erscheinen. Damit stehe es, wie es wolle. Am ehesten noch konnte das Bildungsbürgertum Arbeit und Selbstverwirklichung vereinen. Für die, die sich als Arbeiter oder Angestellte den Bedingungen der Subsistenzsicherung im ökonomischen System unterworfen sahen, war Selbstbestimmung durch die Jahrhunderte 68
ein Anathema. Auch wenn gar nicht in Abrede gestellt werden kann, dass Produktion und Bürokratie unter der Entwicklung der Marktgesellschaft Anforderungen an die Entfaltung der Persönlichkeit stellten, so waren es nur wenige, die sie für eine selbstbestimmte Lebensform zu nutzen in der Lage waren. Die gegenwärtige Entwicklung der Marktgesellschaft nimmt sich für die große Zahl der lohnabhängig Beschäftigten, misst man sie am Dispositiv der Selbstbestimmung, wenig günstiger aus. In der Marktgesellschaft erfolgt eine Verlagerung der Arbeit vom produktiven Sektor hin zu einer Arbeit, die von Wissen, Kommunikation und von kreativer Projektarbeit bestimmt wird. Überdies ändert sich die Form der Arbeit. Wie viel Raum dabei für eine kreative Selbstverwirklichung besteht, bleibt gleichwohl kontingenten Bedingungen verhaftet (Boltanski/Chiapello 2003). Auch wenn man die Zweifel beiseite lässt, sind es bei einer optimistischen Schätzung lediglich 25 bis 30%, die die so genannte „kreative Klasse“ bilden (Florida 2002: XIV). Unter den verbleibenden 70 bis 75% nimmt sich die Lebenslage derjenigen, die ihr Leben an oder wenig über der Armutsgrenze fristen – und das ist ein Drittel der Bevölkerung –, bedrückend aus. Es verschlägt nicht, dass ihnen das Existenzminimum gesichert ist. Demokratie bemisst sich nicht am Überleben, sondern am Dispositiv der Selbstbestimmung. Sie konkretisiert sich in zwei Postulaten: in einer Form von Bildung, die beträchtlich über das bisherige Niveau hinausgeführt werden muss, und in Freiräumen der Lebensführung. Beide Postulate sind an komplexe Bedingungen ihrer Realisierung gebunden. Eines erfordert eine selbstbestimmte Lebensführung allemal: eine Sicherung der Subsistenzgrundlage ein gutes Stück oberhalb der Armutsgrenze. Beide Postulate lassen sich durch das ökonomische System nicht realisieren. Denn das operiert nach einer Logik, in der das Interesse des Subjekts an einer selbstbestimmten Lebensführung keinen Platz hat. Wenn deshalb in der Marktgesellschaft das eine wie das andere Postulat eine Chance der Realisierung finden soll, muss sie durch das politische System geschaffen werden. Wer dagegen einwenden wollte, durch die Geschichte belehrt worden zu sein, der Politik nicht die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse überlassen zu können, zeigt lediglich, dass er mit dem schnellen gesellschaftlichen Wandel nicht Schritt zu halten vermag. Es geht nicht, wie man im 19. Jahrhundert meinen konnte, um die Abschaffung des ökonomischen Systems; es geht um die Gestaltung einer Gesellschaft, die nicht belassen werden kann, wie sie vom ökonomischen System geformt 69
wird, wenn dem Anspruch des Subjekts auf Selbstbestimmung Genüge getan werden soll. Man kann sich über die Chancen der Demokratie, in der Marktgesellschaft der materialen Zielvorgabe der Selbstbestimmung respektive Selbstverwirklichung Geltung zu verschaffen, keinen Illusionen hingeben. Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung lagen, eng verbunden mit dem Postulat der Gerechtigkeit, im Horizont des Sozialstaats. Der ist, misst man ihn an seiner materialen Zielvorgabe, der Sicherung der Autonomie der Subjekte (Vobruba 1997), in Deutschland gleich zwei Mal gescheitert: ein erstes Mal am Ende der Weimarer Republik, ein zweites Mal in der Bundesrepublik, als ausgerechnet eine sozialdemokratische Regierung sich entschloss, die Sicherung des Existenzminimums für ausreichend zu erachten. Gescheitert ist der Sozialstaat, gescheitert ist deshalb nicht auch die Demokratie, so eng sie dem Sozialstaat auch verbunden ist. Die Demokratie ist in ihrer normativen Zielvorgabe gegenüber der Entwicklung der Verhältnisse widerständig. Als praktisch-politische Umsetzung des Selbstverständnisses des Subjekts der Moderne ist sie, wie wir gesagt haben, nicht verhandelbar. Sie zwingt uns jedoch, umzudenken und für den Sozialstaat andere Organisationsformen zu finden, als sie unter den nationalstaatlich verfassten Gesellschaften geschaffen wurden (Dux 2008: 270ff.). Umdenken müssen wir aber auch, weil die Marktgesellschaft in eine Epoche ihrer historischen Entwicklung eingetreten ist, in der sich ihre Strukturen grundlegend ändern. 7
Demokratie und Europäische Integration
7.1 Strukturwandel der Marktgesellschaft Globalisierung der Ökonomie und Transnationalisierung der Politik verändern die systemische Verfassung der Marktgesellschaft in einer Weise, durch die ihr kategoriales Gerüst neu bestimmt werden muss. Von den nationalen Gesellschaften vor dem Eintritt der Marktgesellschaft in die Epoche der Globalisierung und Transnationalisierung konnte man mit einigem Recht sagen, sie seien informativ offene, operativ aber geschlossene Systeme. Von der Marktgesellschaft nach dem Eintritt in die Epoche der Globalisierung der Ökonomie und der Transnationalisierung der Politik lässt sich das nicht länger sagen. In ihr haben sich die nationalen Gesellschaften zwar nicht 70
aufgelöst, sie sind jedoch operativ offen zu transnationalen Gesellschaften wie der Europäischen Union und zur Weltgesellschaft geworden. Transnationale Gesellschaften und Weltgesellschaft haben sich als gesellschaftliche Systeme allererst unter der Globalisierung und Transnationalisierung gebildet. In der Literatur wird die so entstandene Verfassung der Marktgesellschaft als Mehrebenengesellschaft und deren politisches System als Mehrebenendemokratie verstanden (Münch 1998: 400). Mir will es systemisch näher liegend erscheinen, die Marktgesellschaft fortan als ein soziales System zu verstehen, das sich in einander konzentrisch zugeordnete gesellschaftliche Systeme gliedert. Denn dadurch wird deutlich, dass die jeweils umfassenderen Systeme, europäische Gesellschaft und Weltgesellschaft, die nationalen Gesellschaften einschließen. 7.2 Das Verständnis von Demokratie und Politik in der Epoche der Globalisierung und Transnationalisierung Bereits unter der noch nationalstaatlich verfassten Marktgesellschaft war die Annahme, das Volk als Subjekt von Demokratie und Politik verstehen zu müssen, epistemisch rückständig und soziologisch irreal. Darauf habe ich eingangs hingewiesen. Sie fand jedoch einen Anhalt an den realen Gegebenheiten der systemischen Verfassung. 1.
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Das ökonomische System formierte sich in den Grenzen des Nationalstaats. Es war in dieser Epoche seiner Entwicklung überdies in seiner Operationalität auf eine Innen-Außen-Differenzierung angewiesen, um einen Teil des Mehrwerts zu realisieren. Außen waren in erster Linie die nicht-kapitalistisch verfassten Gesellschaften. Daher rührt der von der Ökonomie gestützte Imperialismus! Außen waren aber auch die anderen bereits kapitalistisch verfassten Gesellschaften (Hardt/Negri 2000: 221-239). Im politischen System wurde die Vorstellung des Volkes als Subjekt der Politik durch einen Nationalismus gestützt, durch den die Subjekte der Marktgesellschaft im Staat eine Identität wiederzugewinnen suchten, derer sie durch die Marktgesellschaft gerade verlustig gegangen waren (Gellner 1983; Dux 2008: 171ff.). Das kulturelle System konnte zwar schon zu Zeiten ihrer nationalstaatlichen Verfassung nicht als Grundlage der Marktgesellschaft verstanden 71
werden, das Konstrukt einer nationalen Identität bewirkte jedoch den Anschein, als seien es die kulturellen Gemeinsamkeiten, die die Gesellschaft begründeten. Unter dem Strukturwandel der Marktgesellschaft wird jede der angeführten Verständnisvorgaben der Marktgesellschaft obsolet. Unter ihm behauptet sich einzig eines: deren Grundverfassung. Jetzt kann länger kein Zweifel bestehen, dass das ökonomische System das eigentlich Gesellschaft begründende System darstellt. Das gilt für die Marktgesellschaft als Gesamtsystem wie für die Teilsysteme, die nationalen Gesellschaften und die europäische Gesellschaft. Europa kann man als territorialen oder als kulturellen Begriff verstehen. Zum gesellschaftlichen System ist Europa erst durch die Globalisierung der Ökonomie und die Transnationalisierung der Politik geworden. Wenn es nach allem schon aus epistemischen Gründen keinen Sinn macht, das Verständnis der Demokratie aus den Zeiten des Nationalstaats auf die Europäische Union zu übertragen, so erst recht nicht, nachdem die Marktgesellschaft eine systemische Verfassung gefunden hat, die sich den Begrifflichkeiten der Demokratie, wie sie für den Nationalstaat entwickelt wurden, vollends entzieht. Es macht keinen Sinn, nach einem europäischen Demos zu verlangen und zu erwarten, er werde sich schon bilden, wenn es ihn noch nicht gäbe (Scharpf 1999: 19ff). Es gibt kein europäisches Volk, das die Subjektrolle in der Demokratie übernehmen könnte. Es wird auch dann kein europäisches Volk geben, wenn sich in der Europäischen Union ein entschiedeneres Bewusstsein einer gesellschaftlichen und politischen Einheit bilden sollte. Es macht deshalb auch keinen Sinn, nach den kulturellen Gemeinsamkeiten zu fahnden, durch die die europäische Gesellschaft und ihre demokratische Verfassung begründet werden könnte. Auch diese Suche ist dem Restbestand eines substanzlogischen Verständnisses zuzuschreiben, dessen Plausibilität dadurch gestützt wird, dass die Gesellschaft als Gemeinschaft verstanden wird. Es gibt in den nationalen wie in der europäischen Gesellschaft kulturelle Gemeinsamkeiten, aber sie begründen nicht das soziale System der europäischen Gesellschaft. Normativ ist ohnehin nicht mehr notwendig als eine in jeder Gesellschaft von den Subjekten ausgebildete Moral, die für den Begegnungsverkehr die Bedingung der Möglichkeit darstellt. Eben weil das so ist, erfährt die Politik der Europäischen Union ihre Legitimation auch nicht durch ein europäisches Volk. Wenn irgendetwas Europa kulturell eint, dann dies: einem säkularen Verständnis 72
der Welt verpflichtet zu sein. In der steht der Politik als Legitimation nur noch eine einzige Instanz zur Verfügung: das einzelne Subjekt in der globalen Menge. Einzig um die Anforderungen an dessen Lebensform kann es in Demokratie und Politik gehen. Auch für die europäische Gesellschaft gilt: Alle Wertigkeit konvergiert auf das Subjekt, weil alle Wertigkeit von ihm ihren Ausgang nimmt. 7.3 Die Machtverfassung des politischen Systems Gesellschaften formieren sich durch die Vernetzung der Handlungs- und Machtpotenziale, die die Subjekte in ihr zu erwerben vermögen (Dux 2009). Das gilt auch für die Marktgesellschaft. Und es gilt insbesondere für das politische System der Marktgesellschaft. In der vernetzen sich die Machtpotenziale von Gruppierungen, die sich über gemeinsame Interessen gebildet haben. Das können materielle wie ideelle Interessen sein. Der Bildungsprozess der Marktgesellschaft durch das ökonomische System zeitigt jedoch die Folge, dass es zuvörderst ökonomische Interessen sind, die die Formierung der politischen Machtgruppierungen bestimmen. Die ideellen Interessen färben die materiellen nur ein. Auch die Formierung der politischen Parteien wird vorherrschend von der Absicht bestimmt, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse ihrer Klientel so zu gestalten, dass deren ökonomischer Status gesichert oder gebessert wird. Auch wenn andere als ökonomische Interessen in den Vordergrund rücken, die Sicherung der Umwelt etwa, verlangen die ökonomischen Interessen eine Positionierung im Machtspektrum des ökonomischen Systems, wenn die Partei ihre Klientel festigen oder erweitern will. Bürgerliche Parteien haben durch die Jahrhunderte die für sie günstigen ökonomischen Verhältnisse zu nutzen gewusst. Für einen kurzen historischen Augenblick konnte nach dem Zweiten Weltkrieg der Anschein entstehen, als könnten gedeihliche Verhältnisse für so gut wie alle geschaffen werden. Der Ausbau des Sozialstaats, der daraus hervorging, war jedoch den kontingenten Verhältnissen der Nachkriegsgesellschaft zuzuschreiben. Unter der Normalisierung der ökonomischen Entwicklung verlangte die Logik des ökonomischen Systems erneut ihr Recht. In die Logik des ökonomischen Systems lassen sich aber die Anforderungen des Sozialstaats nicht oder nur sehr bedingt integrieren. Denn die stellen Anforderungen von Subjekten außerhalb des Systems der Arbeit dar, für die das ökonomische System keine Gegenleistung verbuchen kann – wie für Arbeitslose und 73
Sozialhilfeempfänger. Auch Leistungen, die eigentlich zur Entlohnung der Arbeitskraft zählen, wie die Sicherung des Lebens in Zeiten von Krankheit und Alter, sucht es zu minimieren oder sich überhaupt zu entziehen, wie es das immer getan hat. Unter dem Einschlag des Strukturwandels der Marktgesellschaft in der Epoche der Globalisierung entfaltet sich die Logik des ökonomischen Systems in voller Reinheit. Unter dieser Entwicklung treibt die Gesellschaft in „oben“ und „unten“ auseinander. Das politische System gerät unter dieser Entwicklung in eine prekäre Lage. Es sieht sich den Forderungen einer Sozialstaatsklientel ausgesetzt, die es aber im ökonomischen System von den Unternehmen nicht zu refundieren vermag. In allen Marktgesellschaften besteht deshalb im politischen System die Tendenz, darauf in doppelter Weise zu reagieren: die sozialstaatlichen Leistungen bis zur Grenze des Existenzminimums abzubauen und Ansprüche auf Gerechtigkeit zurückzuweisen. Das nackte Interesse beherrscht den Liberalismus der politischen Theorie. Der Konflikt ist dadurch nicht aus der Welt. Die Klientel des Sozialstaats bleibt dem politischen System erhalten. Nicht nur für die unterste Unterschicht, das Prekariat (MüllerHilmer 2006), wird die politische Gestaltung der Lebenschancen eine Frage des Überlebens. Bis in die untere Mittelschicht sind die Subjekte darauf angewiesen, die gesellschaftlichen Verhältnisse so gestaltet zu sehen, dass ihnen die von der Marktgesellschaft eröffneten Möglichkeitsdimensionen der Lebensführung zugänglich sind. 7.4 Die prozedurale Gestaltung der europäischen Politik Die knappe Erörterung der politischen Machtverfassung und der ihr anhaftenden Problemlage war notwendig, um das eigentliche Problem der Demokratie in der europäischen Politik überhaupt wahrzunehmen. Prozedural lässt es sich noch am ehesten in den Griff kriegen. Wenn man die systemische Verfasstheit der Marktgesellschaft der Gegenwart versteht, wie ich sie hier verstanden haben will, als konzentrisch gegliederte Gesellschaft, sehe ich keine Barrieren, die hinderten, dass sich eine prozedurale „Beteiligung des Volkes“ auch fürderhin in einer Öffentlichkeit realisierte, die den nationalen Gesellschaften zugehört. Denn unter dem Strukturwandel der Gesellschaft stellen die nationalen Gesellschaften im Hinblick auf die europäische Gesellschaft systemisch offene Gesellschaften dar und werden von Letzterer umfasst. Auch die in der Öffentlichkeit agierenden politischen Parteien 74
können national organisierte Parteien sein und bleiben. Das hindert in gar keine Weise, sie auch im europäischen Parlament ihre Repräsentation finden zu lassen, um dort die europäische Politik mitzubestimmen. Wenn einmal die demokratietheoretischen Begriffe „Volk“ und „Öffentlichkeit“ entmythologisiert sind, entfallen auch die demokratischen Defizite, die der europäischen Politik angeheftet erscheinen. „Volk“ bezeichnet im systemischen Verständnis der Marktgesellschaft die bloße Summe der Subjekte, deren Lebensführung in der Gesellschaft vernetzt ist. Die nationale Gliederung des „europäischen Volkes“ stellt dann systemisch nicht mehr als die Nutzung historisch gewachsener Einheiten dar, auch wenn sich in ihnen Reste eines nationalen Gemeinschaftsbewusstseins halten und nicht eben selten störend bemerkbar machen. „Öffentlichkeit“ bezeichnet lediglich das Medium, durch das sich Meinungen und Interessen zu Machtpotenzialen verdichten und bestehende Machtpotenziale ihre Klientel finden und sich ihrer versichern. So wenig es deshalb länger noch Sinn macht, nach einem „europäischen Volk“ im substanziellen Sinne Ausschau zu halten, so wenig sinnvoll ist es auch, eine „europäische Öffentlichkeit“ zu verlangen und damit Vorstellungen zu verbinden, wie sie für die nationalstaatliche Öffentlichkeit kennzeichnend waren. Für die Europäische Union lässt sich eine „nach außen geschlossene, nach innen homogene Öffentlichkeit“ (Trenz 2003: 164) nicht herstellen; sie ist aber auch nicht notwendig. Eine „föderale“ Form der Öffentlichkeit durch die Nationalstaaten genügt vollauf. Worauf es für die Demokratisierung der europäischen Politik ankommt, ist, die in der Öffentlichkeit gebildeten Interessen- und Machtpotenziale Eingang ins europäische Parlament finden und dadurch auch Einfluss auf die europäische Politik der Kommission wie des Ministerrats gewinnen zu lassen. Transmissionsorgan der „Mitwirkung des Volkes“ bleibt das Parlament. Es wird nicht dadurch bedeutungslos, dass sich die mit ihm verbundenen Vorstellungen einer deliberativen Meinungs- und Willensbildung als Illusion erwiesen haben (Schmitt 1996: 63). Die materiale Zielvorgabe der Demokratie, für alle Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens zu schaffen, trifft in den nationalen Gesellschaften auf eine soziale Problemlage, die für sich in den Marktgesellschaften der EU weitgehend homogen ist. Wenn in ihnen das Interesse derer, die nicht oder in nicht zureichender Weise in das ökonomische System integriert sind, eine Chance finden soll, dann kann das nur durch die Bildung eines Machtpotenzials geschehen, das sich im politischen System formiert und im Parlament seine Repräsentation erfährt – im nationalen wie 75
europäischen Parlament. Auch wenn man registriert, dass eine Verschiebung der realen Entscheidungskompetenz vom Parlament zur Regierung erfolgt ist, bleibt die Repräsentation der Machtgruppierung im Parlament, an das die Regierung rückgebunden ist, von ausschlaggebender Bedeutung. Im europäischen politischen System gewinnt das Parlament überdies dadurch eine gesteigerte Bedeutung, dass ihm in der Kommission und im Ministerrat national bestimmte Repräsentanten gegenüberstehen. Die schwierigen prozeduralen Probleme, die im europäischen politischen System im Verhältnis von Parlament und Kommission einerseits und Parlament und Ministerrat andererseits entstehen (Bach 2008), sind hier nicht zu erörtern. 7.5 Die materiale Zielvorgabe der europäischen Politik Demokratie ist ein irredentistisches Projekt. Die außerordentliche Entwicklungsfähigkeit, die das ökonomische System gezeigt hat, zwingt die Politik, dem Strukturwandel des ökonomischen Systems zu folgen. Deren Konfliktlage haben wir erörtert. Die materiale Zielvorgabe der Demokratie verlangt von der Politik, die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu belassen, wie sie vom ökonomischen System bewirkt werden, sie vielmehr so zu gestalten, dass für alle Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens geschaffen werden. Die Politik sieht sich aber außerstande, diese Vorgabe durch einen Sozialstaat zu realisieren, wie er vordem bestand. Es besteht Einmütigkeit in der soziologischen Literatur, dass unter der Entwicklung des ökonomischen Systems in der Epoche seiner Globalisierung der Sozialstaat weiter zurückgedrängt wird. So unbestreitbar der Befund selbst ist, so unbestreitbar ist, dass dem politischen System die soziale Konfliktlage erhalten bleibt. In der gerät mit dem Auseinanderdriften der Gesellschaft die materiale Zielvorgabe der Demokratie in Not. Mehr als jede andere Entwicklung stellt sie die Bedrängnis der Demokratie dar. Von der materialen Vorgabe der Demokratie, der Selbstbestimmung, aber haben wir gesagt, dass sie so wenig wie die Demokratie selbst verhandelbar sei. Denn an ihr haftet alle Wertigkeit, die die Demokratie für sich in Anspruch nehmen kann. Auch die Wertigkeit, die der Sicherung des Rechtsstaats durch die prozedurale Gestaltung der demokratischen Verfahren zukommt, rührt daher, dass das Subjekt einen nicht negierbaren Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben erheben kann. Dessen moderne Lebensform ist an die materiale Vorgabe der Demokratie gebunden. Für beide, die nationale wie europäische Verfassung der Demokra76
tie, kommt es deshalb entscheidend darauf an, welche Seite des Irredentismus der Demokratie in der europäischen Politik die Überhand gewinnt: die blinde, selbstorganisatorische Macht der Ökonomie oder die sozial gestaltende Macht der Politik. Die Legitimation der Demokratie entscheidet sich daran, ob es gelingt, das Auseinanderdriften der Gesellschaft aufzufangen und jenen Subjekten, die vom ökonomischen System an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, die Möglichkeitsdimensionen der Lebensführung in der Moderne zu eröffnen. Es will mir deshalb für die Politik der Europäischen Union unabweisbar erscheinen, es nicht bei der vorherrschenden Zielvorgabe, die ökonomische Einheit Europas zu bewirken, zu belassen, sie vielmehr der materialen Zielvorgabe der Demokratie unterworfen zu sehen. Das europäische politische System muss nicht anders als die nationalen politischen Systeme die Beförderung der ökonomischen Einheit mit der Aufgabe verbinden, ein soziales Sicherungssystem für eine selbstbestimmte Lebensform des Subjekts zu schaffen. Diese Einsicht beginnt, auch in der Europäischen Kommission virulent zu werden (Gallie/Paugam 2002). Möglich wird eine Politik für das bedrohte Subjekt auch in der europäischen Politik nur, wenn sich im politischen System der Marktgesellschaft die dazu notwendigen Machtpotenziale ausbilden. Ob sie sich ausbilden, ist eine offene Frage an die Geschichte. Literatur Abromeit, Heidrun, 2002: Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie. Opladen: Leske + Budrich. Agamben, Giorgio, 2002: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bach, Maurizio, 2008: Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der Europäischen Integration. Wiesbaden: VS. Bobbio, Norberto, 1987: The Future of Democracy: A Defence of the Rules of the Game. Minneapolis: University of Minnesota Press. Boltanski, Luc und Ève Chiapello, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Dux, Günter, 2000: Historisch-genetische Theorie der Kultur. Instabile Welten. Zur prozessualen Logik im kulturellen Wandel. Weilerswist: Velbrück. Ders., 2003: Das Subjekt in der Grenze der Gesellschaft. S. 233-267 in: Nikos Psarros, Pirmin Stekeler-Weithofer und Georg Vobruba (Hg.): Die Entwicklung sozialer Wirklichkeit. Auseinandersetzungen mit der historisch-genetischen Theorie der Gesellschaft. Weilerswist: Velbrück.
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Die EU als entstehender Kommunikationsraum. Zum Theoriedefizit der soziologischen Europaforschung und ein Vorschlag, dieses zu verringern Klaus Eder
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Der defizitäre soziologische Blick auf Europa
Der soziologische Blick auf Europa hat sich nur mit Mühe gegen die politikwissenschaftliche Analyse durchsetzen können. Europa ist bislang das Objekt par excellence für politische Institutionenanalyse gewesen; es hat ein ideales Objekt für spieltheoretische Perspektiven auf politische Akteurskonstellationen abgegeben und dabei einen Berg an unüberschaubarer Literatur produziert. Mit dem Thema „europäische Öffentlichkeit“, vor 15 Jahren noch ein Exotikum, hat sich ein wenig Soziologie in die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Europa einbringen können. Inzwischen gehört auch dieses Thema zu jenen übererforschten Ereignissen, die sich täglich in Brüssel und den Hauptstädten der Mitgliedsländer und in den regionalen Vorhöfen dieser Hauptstädte ereignen. Es sind vor allem politische Ereignisse, Entscheidungen politischer Eliten, NGOs, Lobbys, Experten, bisweilen Protest, die das Bild Europas bestimmen. Das vorgestern Geschriebene wird heute schon Geschichte, ohne dass die Historiker, die sich nun darum zu kümmern hätten, darauf schon vorbereitet sind. Zugleich verändert sich die soziale Realität hinter diesen politischen Ereignissen. Diese Realität ist zwar auch ein Effekt dieser politischen Ereignisse, doch zugleich auch deren konstitutive Bedingung. Jedes politische Ereignis ist in ein Netz sozialer Handlungen und Beziehungen eingebunden, in dem diese Ereignisse entstehen, Effekte produzieren und vergehen. Diese soziale Realität ist das, was die Soziologie beobachten möchte. Doch sie tut 80
sich in dieser Hinsicht mit Europa schwer. Es gibt viel soziologische Forschung, aber ein zunehmend problematischeres Theoriedefizit, das die Beobachtung Europas als einer sozialen Realität sui generis orientieren könnte. Wenn man so will: Die Vergesellschaftung des Raums, den wir mit EUEuropa benennen, findet seit langem statt. Anfangs hat sie es gar nicht gemerkt. Als sie es dann merkte (vor etwa zehn Jahren), kamen seltsame Fragen auf wie: Gibt es eine europäische Gesellschaft?1 Das ist aber nur eine rhetorische Frage. Es gibt eine, und es gibt sie schon seit langem. Sie sieht nur immer wieder anders aus. Die Soziologie hat sich begrifflich darauf aber noch nicht einstellen können. Damit ist die Stoßrichtung dieses Beitrags gekennzeichnet: Europäische Gesellschaft ist ein in dem als Europa benannten Raum stattfindender Prozess, der einen Anfang hat, immer wieder Diskontinuitäten erfährt, neu ansetzt, eine andere Richtung nimmt, weitergeht, und von dem niemand weiß, wo er endet (Normativisten, von denen es in der Europaforschung eine Menge gibt, wissen nur, wo er enden sollte). Warum hat die Soziologie so spät gemerkt, dass es in Europa – wie es so schön heißt – eine Gesellschaft gibt? Ein Grund ist ein methodischer. Die vorherrschende Methode der Analyse ist der nationale Vergleich.2 Wenn man vergleichen will und das Vergleichen als den Königsweg der soziologischen Erklärung auszeichnet, dann muss eine Form der Beobachtung des Vergesellschaftungsprozesses systematisch minimiert werden: das Ausmaß der Interaktion zwischen den zu vergleichenden Einheiten. Denn je stärker höher zu vergleichende Einheiten miteinander interagieren, umso weniger leistet der Vergleich (Goldthorpe 2000). Wenn man nun nationale Vergleiche macht, dann muss man Europa neutralisieren, da Europa ja eine Vermehrung von Interaktionseffekten zwischen nationalen Gesellschaften als Einheiten des Vergleichs impliziert. Am Ende hat es die Soziologie gemerkt. Man vergleicht nun – wenn man konsequent ist – nationale Gesellschaften in Europa, so wie man die 1
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Zunächst wurde die Frage noch mit Fragezeichen versehen (Offe 2001; Deken 2000; Crouch (n.d.); Flora 1991; Kaelble 1987). Mit leichter Verspätung und mit normativen Fragen verknüpft wird das Thema weiter gepflegt (Richter 1997; Knodt/Finke 2005; Hurrelmann 2005). In den letzten Jahren blieb dann das Fragezeichen weg (Hettlage/ Müller 2006; Münch 2008; Mau 2007). Zur Reflexion dieses Prozesses siehe Vobruba 2008. Vgl. dazu etwa Immerfall 1994; Crouch 1999; Therborn 2000.
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Bundesländer in der BRD vergleichen kann. Womit aber lässt sich Europa vergleichen, damit man das Besondere des Vergesellschaftungsprozesses in Europa fassen kann? Offensichtlich nur mit Vergleichbarem. Daraus hat die These des methodologischen Nationalismus die Forderung nach einer grundlegenden erkenntnistheoretischen Wende abgeleitet (Glick-Schiller/ Wimmer 2003), eine völlig überzogene Schlussfolgerung, geht es doch schlicht darum, Vergleichbares zu vergleichen. Worum geht es dann eigentlich? In dem Maße, wie die EU ein institutionell homogener sozialer Raum wird, werden die Differenzen zwischen den Mitgliedschaften über eine institutionelle Gemeinsamkeit vermittelt, die vorher nicht bestand. Ähnliches können wir etwa für die USA feststellen: Wir können die einzelnen US-Staaten miteinander vergleichen, aber das macht nur Sinn, wenn wir uns auf die USA beschränken. Wir können die einzelnen EU-Mitgliedstaaten vergleichen, aber das macht nur Sinn, wenn man sie als Elemente eines sie umfassenden institutionell definierten Raums sieht. Man könnte aber auch die emergente EU mit den schon lange emergierten USA vergleichen oder Teile der USA mit Teilen der EU (etwa arme Staaten in beiden Kontexten). Das macht dann wieder Sinn. Aber es macht keinen Sinn mehr, die USA mit Deutschland zu vergleichen, so wenig wie es Sinn macht, die Schweiz mit Europa oder den USA zu vergleichen. Was Not tut, ist die Ebenen des Vergleichs neu zu bestimmen und nationale Gesellschaften als lokale Phänomene eines sie umfassenden institutionellen Raums zu analysieren. Nun hat der Diskurs des methodologischen Nationalismus wie der populäre Diskurs zum Weltgeschehen gleichermaßen gleich auf das Ganze gesetzt und von Globalisierung geredet. Alles, auch Staaten werden voneinander abhängig, in permanente Kommunikations- und Tauschprozesse eingebunden. Das mag richtig sein und war schon immer in den letzten paar Jahrtausenden richtig. Worum es geht, ist, die Differenzen in diesen globalen Zusammenhängen richtig zu positionieren und die über den Nationalstaat weisenden emergenten Formen institutioneller Fixierung sozialer Räume neu zu bestimmen. Womit ist nun die EU vergleichbar? Ein wenig mit den USA, vermutlich auch mit China, mit Lateinamerika, mit dem Nahen Osten usw. Die Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) ist da den Soziologen in der Beobachtung (weniger in den begrifflichen Konstruktionen) voraus: Sie wissen, dass die Einheiten neu gezogen werden müssen und sprechen von Regionen, und 82
in diesem Sinne ist Europa eine Region. Die These ist, dass in dieser Region, einem institutionell definierten sozialen Raum, seit 60 Jahren eine Gesellschaft emergiert, und zwar mit einer offensichtlichen Diskontinuität im bereits Jahrtausende währenden Prozess der „Vergesellschaftung Europas“. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten sich die Siegermächte darüber einigen, was sie mit den besiegten Mächten machen sollten, und legten die Ausgangsbedingungen eines Vergesellschaftungsprozesses fest, der seither an Dynamik zugelegt hat. Es wurden institutionelle Festlegungen getroffen, die die souveränen Nationalstaaten miteinander enger verbanden als mit anderen Nationalstaaten auf der Welt. Dieser durch politische Institutionenbildung hergestellte soziale Raum fungiert als „Container“ eines transnationalen Vergesellschaftungsprozesses, als ein sozialer Raum, der sich von anderen sozialen Räumen (Regionen in der Sprache der IB) durch besondere Formen der internen Vernetzung der Subeinheiten unterscheidet sowie durch besondere Formen der Grenzziehung zu anderen Räumen auszeichnet. Es sind zwei Begriffe, die diese Besonderheit zu fassen versuchen und dies in bislang nicht recht überzeugender Form geleistet haben: „Europäisierung“ und „europäische Identität“.3 Das Erste hat mit der Form der Binnenstruktur dieses Raums, das Zweite mit den Grenzen dieses Raums zu tun. In diesem Sinne rede ich dann von der EU als einem „emergenten Kommunikationsraum“ (vgl. hierzu auch die Explikationsversuche in Eder 2006a, 2006b, 2007b).4 2
Kommunikationsräume
Der Begriff des Kommunikationsraums als begrifflicher Schlüssel zur Analyse von Gesellschaft als Prozess zeichnet sich durch zwei Referenzen aus, die Materiales und Symbolisches miteinander zu koppeln erlauben und 3
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Beide Begriffe füllen inzwischen lange Literaturlisten. Zur Orientierung eignen sich im Hinblick auf Europäisierung Olsen 2003; Featherstone/Radaelli 2003; Bartolini 2007; im Hinblick auf europäische Identität Kaelble 2001; Kohli 2002; Schmidt-Gernig 1999; Bruter 2005; Cederman 2001; Hedetoft 1997; Stråth 2002. Ob die Bestimmung von Gesellschaft als Kommunikationsraum einem eher dünnen Begriff von Kommunikation (als Information) oder einem dicken Begriff von Kommunikation (als Verständigung) folgt, mag hier offen bleiben. Eine durch diese Debatten schneidende Konzeptualisierung ist die der Gesellschaft als narrativer Kommunikationsräume oder auch als „narrativer Netzwerke“. Siehe dazu weiter unten in diesem Text.
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zugleich analytisch scharf trennen: Kommunikation und Raum. Eine dritte Referenz bleibt implizit: die Strukturierung des Raums selbst. Sie ergibt sich aus dem Zusammenspiel von kommunikativen Ereignissen in einem durch diese Ereignisse konstituierten „objektiven“ Raum. Dieser Begriff eines Kommunikationsraums kann sich auf eine Reihe von Arbeiten beziehen, die diesen Begriff benutzen, ihn mit Hilfe von passenden Klassikern zu begründen versuchen (etwa Deutsch 1953), ihn mit Forschungen zu politischer Öffentlichkeit in Verbindung bringen und dabei ein kleines und das Soziale reifizierende Stück Realität sichtbar machen. Das alles unterstellt eine Theorie, die noch zu entwickeln wäre. Bevor ich darauf eingehe, wie eine solche Theorie unter Rückgriff auf laufende Theorieentwicklungen in der Soziologie entwickelt werden könnte, möchte ich auf zwei wichtige, jedoch theoretisch auf Holzwege führende soziologische Zugriffe auf das, was in Europa als Gesellschaft emergiert, eingehen. Der erste Zugriff ist der normative Zugriff, der das Theoriedefizit soziologischer Analyse durch normative Modellkonstruktionen ersetzt; der zweite Zugriff ist der deskriptiv-komparative, der dem emergenten Neuen durch den Vergleich von Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen den diversen alten Formen näher zu kommen sucht. 2.1 Der normative Blick auf Europa Die gegenwärtige Konjunktur von normativen Theorien in der sozialwissenschaftlichen Beschreibung von Europa ist ein Effekt des bestehenden Theoriedefizits. Ein Blick in die Europaforschung, wie sie insbesondere von der EU selbst mit ihren Rahmenprogrammen seit Jahren gefördert wird, macht deutlich, dass Theorie dort vor allem normative Theorie ist. Diese reicht von Demokratietheorien, die auf eine herzustellende demokratische Gesellschaft projiziert werden, über Theorien einer europäischen Zivilgesellschaft bis hin zu Theorien eines sozialen Europas, das dem normativen Verständnis einer wohlfahrtsstaatlich verfassten Gesellschaft folgt. Ein Blick in die laufende Europaforschung mit soziologischer Orientierung verdeutlicht dies. So beschäftigen sich etwa EUROSPHERE (http:// www.eurosphere.uib.no/) und RECON (http://www.reconproject.eu/) mit Europa unter dem Gesichtspunkt, wie die europäische Gesellschaft „von unten“ demokratisch organisiert werden könnte und welches die Modelle
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sind, mit deren Hilfe dies gelingen kann.5 Sie gehen davon aus, dass Bürger und Eliten, Medien und politische Institutionen zusammenwirken und besondere Regeln der Koordination von Bürgern und Eliten hervorbringen (Fossum/Trenz 2005). Andere Projekte beschäftigen sich mit der Frage, wie Ungleichheit in Europa eingegrenzt werden kann. Diese unter dem Titel „Exklusion“ laufenden Forschungen (Woodward/Kohli 2001) unterstellen als analytischen Rahmen ein sozialpolitisches Programm, die Idee eines solidarischen, dem Markt nicht ausgelieferten Europas (Vobruba 2001). Hier sind vor allem jene Studien angesiedelt, die „citizenship“ im Marshall’schen Sinne zum Fokus der Analyse machen. Auch hier ist die normative Fragestellung dominant: das Modell einer Staatsbürgerschaft, das die Rechte und Pflichten in einer solidarischen Gesellschaft ausbalanciert. Dies alles sind wichtige Analysen gewesen, die vor allem zur Selbstverständigung eines politischen Willens in Europa geführt haben. Sie haben aber nicht den objektivierenden soziologischen Blick befördert, der Europa als Gegenstand und nicht als Projekt oder Hoffnung behandelt. Die soziologische Europaforschung ist in einer präparadigmatischen Phase befangen, die sie nur um den Preis der soziologischen Objektivierung der normativen Diskurse um Europa, an denen sie selber mitstrickt, überwinden kann. 2.2 Vom komparativ-deskriptiven Blick zum transnationalen Blick auf Europa Gegen diesen normativen Zugriff richtet sich die komparativ-deskriptive Gesellschaftsanalyse. Sie lebt von der Distanz zur normativen Debatte und rechtfertigt sich durch ihren rein empirischen Bezug. Allerdings ist diese komparative Forschung nicht theoriefrei. Sie lebt vielmehr von einer Gesellschaftstheorie, die sich mit der Etablierung der modernen Nationalgesellschaft formiert und etabliert hat. Insbesondere die Modernisierungstheorie liefert hier (immer noch) die analytischen Stichworte. Vergleichende Arbeiten in der Tradition der „national comparisons“ (Crouch 1999; Therborn 2000; Mau 2007; Bartolini 2007) vermessen den europäischen Raum entlang von Ähnlichkeiten und Differenzen. So werden die Differenzen von Wertvorstellungen in Europa (Gerhards/Hölscher 2005), die Differenzen von Arbeitslosigkeitsraten, von Scheidungsraten und 5
Dies ist auch die Intention der Europaforschung von Ulrich Beck, eines Soziologen mit großer Breitenwirkung (Beck/Grande 2004).
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von Schulerfolg untersucht. Dahinter steht der Glaube, dass der auf Europa beschränkte Vergleich etwas über Europa sagt. Er sagt in der Tat etwas, nämlich dass es Unterschiede in Europa gibt, so wie es in jeder nationalen Gesellschaft Unterschiede zwischen Nord und Süd, Ost und West usw. gibt. Nur, aus der Differenz von Bayern und Brandenburg erfahre ich nicht, was die deutsche Gesellschaft als besondere Gesellschaft konstituiert. Solche Studien wecken den kompetitiven Geist der Empiriker oder sie produzieren Achselzucken, weil man über Europa als einem emergenten Phänomen nicht mehr weiß als vorher. Doch die europäische Gesellschaft kommt am Ende nicht heraus. Es gibt viele Teile, die verortet, klassifiziert und bewertet werden. Doch die Summe der Teile macht keine europäische Gesellschaft. Der operative Begriff, der die Erweiterung der Perspektive über die nationale Gesellschaft hinaus tragen soll, ist der der „Transnationalisierung“ geworden.6 Nun sagt der Begriff nichts Bestimmtes, außer dass es etwas jenseits der nationalen Grenzen gibt, das wichtig geworden ist. Er öffnet einen Blick, aber der Gegenstand, den man sieht, bleibt unscharf. Nur wenn wir die Grenzen dieses transnationalen Raums mit den Außengrenzen der EU gleichsetzen, wird der Gegenstand klarer; doch das erzeugt wenig zusätzlichen Erkenntniswert. Mit der Strategie, die unterstellten transnationalen Prozesse mit Institutionen in Zusammenhang zu bringen, die diesen Prozessen einen Rahmen vorgeben, wären wir wieder bei den europäischen Institutionen, aber nicht bei der Gesellschaft angelangt. Der theoretische Blick wäre dann wieder der, dass Institutionen die Gesellschaft „machen“. In diesem Sinne „verschwindet“ die Gesellschaft und wir würden, wenn wir auf diese Weise Europasoziologie betrieben, nur politische Soziologie betreiben. Das ist eine verführerische Einladung, die aber eine Bankrotterklärung für einen soziologischen Blick auf die Welt nach dem Nationalstaat im 21. Jahrhundert wäre. Doch die Soziologie hat mehr zu bieten als eine politische Soziologie europäischer Integration. Sie kann auch etwas über Transnationalisierungsprozesse in Europa sagen. Doch dies gelingt nicht mehr mit den Mitteln der traditionellen Gesellschaftsanalyse, die im Nationalstaat, aber nicht mehr jenseits des Nationalstaats funktioniert.
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Dieser Begriff ist zunächst im Rahmen von Migrationsstudien entwickelt (Bauböck 1994; Pries 2007; Glick-Schiller et al. 1992), dann auf Europa transferiert (Beckert et al. 2004; Berger/Weiß 2008; Herrmann et al. 2004; Ifversen 2008; Mau 2007; Münch 2008) und schließlich normativ gewendet worden (Dryzek 1999; Fraser 2007).
2.3 Ein Vorschlag: Europa als ein narratives Netzwerk Was tun angesichts der Feststellung, dass die aus der traditionellen soziologischen Theorie (inklusive Gesellschaftstheorie) gewonnenen analytischen Perspektiven nicht geeignet sind, jenes Modell von Vergesellschaftung zu fassen, das sich im Kontext des europäischen Integrationsprozesses ausbildet? Was tun, wenn Transnationalisierung nur auf etwas verweist, was nicht (mehr) national ist, wenn Europäisierung offen lässt, was dabei herauskommt. Es tut sich etwas, und das seit Jahrzehnten: es entsteht ein besonderer „Kommunikationsraum“. Zunächst liegt der Rückgriff auf alltagsvertraute Begriffe nahe, um diesen Kommunikationsraum zu bestimmen. Dazu gehören Begriffe wie „Identität“, die ein solcher Kommunikationsraum hat. Europa ist (oder sollte) ein Raum sein, der eine besondere „Identität“ hat. Ähnlich gelagert sind Begriffe wie „Werte“. Dann sind es europäische Werte, die die Besonderheit dieses Kommunikationsraums ausmachen, ihn von anderen Kommunikationsräumen unterscheidbar machen (Joas/Wiegandt 2005). Weniger hoffähig, aber durchaus für das Alltagswissen nachvollziehbar sind Abgrenzungsversuche von anderen, Europa als anders als Amerika, als anders als Russland, als anders als die Türkei zu verstehen (Neumann 1999). All diese Varianten wurden vielfach durchgespielt, mehr oder weniger von empirischer Forschung abgesichert. Was offen bleibt, ist die Theorie, die hinter solchen „plausiblen“ Analyseversuchen steht. Es sind Begriffe, die aus der Teilnehmerperspektive gewonnen werden, daraus, dass wir mitten in Europa leben und von Europa aus Europa zu bestimmen versuchen. Das liefert viel Material für das Feuilleton, für politische Reden, für Auftragsforschung und für Werbeunternehmen, von der Bertelsmann-Stiftung bis hin zur Kampagnenpolitik der Europäischen Kommission. Das ist zwar nicht Wissenschaft. Aber es gibt einen Hinweis auf eine kommunikative Verdichtung, die in Europa stattfindet. Europa ist ein Medium kommunikativer Prozesse, es eignet sich hervorragend als eine Semantik, die auf soziale Beziehungen wirkt und von diesen reproduziert wird. Damit ist bereits ein erster Schritt in Richtung auf eine Abkehr von der Teilnehmerperspektive gewonnen. Es werden zunehmend Geschichten in
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Europa kommuniziert, die von Europa erzählen.7 Und warum nicht alle diese Geschichten verwenden, einschließlich derer, die Sozialwissenschaftler benutzen, um dieses Europa zu analysieren und aus einer Beobachterperspektive zu betrachten? Das Modell, das ich vorschlagen möchte, ist das Modell eines narrativ strukturierten Kommunikationszusammenhangs, in dem eine Gesellschaft emergiert und sich reproduziert. Dabei wird ein dürres begriffliches Gerüst vorausgesetzt: Es gibt Positionen, die über Relationen verbunden sind und einen Raum konstituieren, in dem Prozesse stattfinden, die die Grenzen dieses Raums zu kontrollieren versuchen. Es sind also die Begriffe Raum, Grenzen, Kontrolle und Relationen, nicht Werte, Identifikationen, Motive etc., die die Analyse anleiten. Es sind von letzteren Bestimmungen abstrahierende Begriffe, die es erlauben zu sehen, wie Werte, Motive etc. benutzt werden, um einen sozialen Zusammenhang, ein Netzwerk sozialer Beziehungen über binäre Codierungen räumlich abzugrenzen und über narrative Semantiken (Stories) zu verzeitlichen. Der emergente Kommunikationsraum Europa wird also als ein narrativ geordnetes Netzwerk sozialer Beziehungen gedacht, in dem ökonomische, politische und kulturelle Prozesse als Serien von Ereignissen eingebettet sind. Diese hier hoch abstrakt bestimmte Vorstellung soll im Folgenden im Hinblick auf die Kontrolle der Grenzen dieses Kommunikationsraums spezifiziert werden. 3
Europäische Identität als Kontrollprojekt der Grenzen einer europäischen Gesellschaft
3.1 Von der Identifikation mit Europa zu europäischen Identitätskonstruktionen Von Grenzen eines Kommunikationsraums zu reden, ist gleichbedeutend mit der Rede von der Identität eines Kommunikationsraums. Identität ist nichts anderes als ein Kontrollprojekt dieses Kommunikationsraums. Die Kontrolle der Grenzen eines Kommunikationsraums kann stark oder schwach sein, variiert also empirisch, was dem Alltagsverstand schon widerspricht, der davon ausgeht, dass man eine Identität hat oder nicht hat. In 7
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Timothy Ash, ein einflussreicher Europakommentator, spricht in eher intuitiver Weise davon, dass es viel Sinn mache, von Stories zu reden, die die Identität Europas machen (Ash 2007).
diesem Sinne knüpfe ich also zunächst an die (inflationären) Überlegungen zur Debatte um eine „europäische Identität“ an.8 Ein Durchgang durch die Forschung zu europäischer Identität zeigt, dass sie zum größten Teil von Varianten des „social identity paradigm“ bestimmt ist (Tajfel 1982; Verkuyten 2004). Das social identity paradigm geht davon aus, dass Identifikationen gruppenspezifische Effekte im Hinblick auf Nähe und Ferne haben. Dieses Paradigma erlaubt es, Umfragedaten zu nutzen, die messen, inwieweit Personen „stolz“ auf „ihre“ Institutionen sind (oder ihnen zumindest vertrauen) und sich mit Europa „identifizieren“ (Kohli 2002; Bruter 2005). Eine andere, eher minoritäre Forschungstradition betont die Rolle von Symbolen wie Flagge, Hymnen, repräsentative Gebäude oder die ritualisierte Erinnerung an einen Gründungsakt und unterstellt deren identifikatorische Kraft, was wiederum den Anschluss an das social identity paradigm erlaubt (Cerulo 1995). Wenn man diese Phänomene (also Einstellungen wie Identifizierungsobjekte) als Indikatoren für das „Ausmaß“ kollektiver Identität nimmt, dann unterstellt man, dass starke Identifikationen eine starke kollektive Identität indizieren.9 Doch von Identifikationen zu Identitäten ist ein langer und in seiner Richtung noch zu klärender Weg. Statt nun auf die Annahme zu setzen, dass Identifikationen Identitäten erzeugen, soll im Folgenden umgekehrt argumentiert werden: dass der Weg in die entgegengesetzte Richtung, von Identitäten zu Identifikationen geht. Daraus ergibt sich eine andere Lesart der Ergebnisse der dem social identity paradigm folgenden Forschung: Identifikationen sind Feedback-Effekte von kollektiver Identität in den emotionalen (manchmal auch kognitiven) Motiven („Identifikationen“) von Individuen. Das empirische Ergebnis bisheriger Forschung deutet auf eine schwach ausgeprägte Identifikation mit Europa. Die EU als politische Gemeinschaft ist kein relevantes Identifikationsobjekt, was die Suche nach den kulturellen Grundlagen dieser Form politischer Gemeinschaft in Gang setzte: Wenn schon nicht die politische Verfassung10, dann sollte doch die kulturelle Ge8 9
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Ich tue das in einem kannibalistischen Sinne: Ich eigne sie mir gegen ihren Willen an. Die Europäische Gemeinschaft hat ihre Datenerhebung auf diese theoretischen Annahmen gegründet (Commission of the European Communities 2001). Bruter (2005) hat mit solchen Daten eine interessante Analyse von kollektiver Identität in Europa „von unten“ vorgelegt. Die Idee eines konstitutionellen Patriotismus ist ein Versuch, einem Rechtsraum eine identitätsgenerierende Bedeutung zu geben. Allerdings ist das bislang nicht erfolgreich gewesen, wie die euroskeptischen Ereignisse der letzten Jahre zeigen.
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meinschaft der Europäer genauer bestimmt werden, um die Identifikationsstärke mit Europa bestimmen zu können. Diese Debatte spaltet sich in die klassischen Positionen auf, die wir bereits aus der Nationalstaatsdebatte kennen: in solche, die eher eine republikanische Idee von Europa, und andere, die eine kulturelle Idee von Europa verfolgen (Brubaker 1992; Giesen 2001).11 Unabhängig von dieser Debatte um Identifikation (ob republikanisch oder traditionell) erweitert sich der Kommunikationsraum Europa auf der Ebene sozialer Netzwerkbildung (Eder 2006b). Dies wird bislang in Umfragen nicht gespiegelt. Dieser expandierende Raum produziert Ereignisse, die Bedeutungen erzeugen. Allerdings sind diese Bedeutungen nicht notwendig auf Europa als einen politischen Raum oder als eine alte kulturelle Tradition bezogen. Diese Bedeutungen definieren die Grenzen eines Raums, der nicht notwendig mit dem Raum zusammenfällt, der von politischen und kulturellen Eliten definiert wird. Es entsteht ein Kommunikationsraum, in dem soziale Beziehungen evolvieren, die eine Dynamik jenseits politisch gewollter Beziehungen erzeugen. Euroskeptizismus ist ein Aspekt eines solchen Europas jenseits des offiziellen Europas. Um einer entstehenden kollektiven Identität, verstanden als ein Kontrollprojekt der Grenzen eines Kommunikationsraums (Eder 2006b, 2007b), in Europa auf die Spur zu kommen, muss man zunächst die vorfabrizierten Identifikationsobjekte zur Disposition stellen. Sie können relevante Objekte sein, müssen es aber nicht. Das Fehlen einer Identifikation mit diesen Objekten heißt noch lange nicht, dass es keine kollektive Identität gäbe, die die Grenzen einer europäischen Kommunikationsgemeinschaft indizieren würde. Deshalb ist nicht das Identifikationsobjekt der Ausgangspunkt, sondern der Prozess der Herstellung von bedeutsamen Objekten, das heißt die narrative Konstruktion von bedeutsamen Dingen in Europa. Solche narrativen Konstruktionen emergieren in der Dynamik von Netzwerken sozialer Beziehungen in Europa. Es lassen sich bislang mindestens drei solcher narrativer Konstruktionen, die Objekte jenseits nationaler Identitätsobjekte herstellen, ausmachen. Die erste ist die Konstruktion der mörderischen Vergangenheit Europas. Der narrative Kommunikationsraum eines geteilten Gedächtnisses ist die 11
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Diese Reproduktion der alten Debatten um nationale Identität weist zugleich auf ein weiteres Problem dieser Forschung hin: in dem gefangen zu sein, was als „methodologischer Nationalismus“ kritisiert worden ist.
Quelle oft sehr starker Gefühle. Geschichten, die eine gemeinsame Vergangenheit erzählen, erzeugen Grenzen mit hoher emotionaler Besetzung. Eine andere narrative Konstruktion ist die Story eines erfolgreichen europäischen Integrationsprozesses, die Story vom friedlichen Nachkriegseuropa, das von einem ökonomisch zu einem politisch integrierten Europa mutiert. Diese Story begründet ein besonderes „citizenship narrative“, wenn es die Mitglieder dieses friedlichen Europas als Träger dieser Story auszeichnet. Dieses „citizenship narrative“ lässt sich gut mit einer anderen Geschichte verbinden, dem Narrativ eines über Solidarität zusammengehaltenen Sozialverbands, was das „citizenship narrative“ wohlfahrtsstaatlich überhöht. Ein drittes Narrativ erzählt über Europa als einer besonderen Kultur, ein Narrativ, das Max Weber mit der These der Besonderheit des okzidentalen Rationalismus auch noch mit sozialwissenschaftlicher Autorität versehen hat. Ob diese drei Narrative Effekte in den Köpfen der Menschen zeitigen, die dann auch gemessen werden können, bleibt abzuwarten. Bislang sind diese Effekte eher gering. Um aber solche Effekte zu haben, braucht man Stories, die diese Effekte erzeugen. Eine erklärende Theorie der Entstehung einer kollektiven Identität als eines Kontrollprojekts der Grenzen einer europäischen Gesellschaft darf also nicht bei den Identifikationen mit Objekten, sondern muss an der sozialen und genauer: narrativen Konstruktion dieser Objekte in sozialen Beziehungsnetzwerken ansetzen. Normative Ansätze werden damit selbst zum Gegenstand der Analyse: Sie beschreiben die Rechtfertigungen der Grenzen von Netzwerken sozialer Beziehungen, die als semantische Objektivierungen solcher Grenzdefinitionen zu einem Teil des Konstruktionsprozesses selber werden. Dies gilt auch für psychologische Ansätze, die uns darüber berichten, welche Gefühle wie viele Menschen gegenüber einem Ding wie Europa haben. Wenn sie denn Gefühle haben und diese als Statements zu „Identifikationsgraden mit Europa“ existieren, werden sie selbst Teil jenes Prozesses, in dem kollektive Identitäten emergieren. Kollektive Identitäten fixieren einen Kommunikationsraum und stabilisieren seine Grenzen über narrative Konstrukte. Sie stellen ein Kontrollprojekt der Grenzen eines Netzwerks auf Dauer dar und begrenzen seine Beliebigkeit. Narrationen fügen Beliebiges in eine sequentielle Ordnung ein, die als erkannte und anerkannte zum Medium weiterlaufender Kommunikation wird. Geschichten, die Menschen verbinden, variieren mit dem kommunikativen Netzwerk, das sie konstituieren. Deshalb ist der Gegenstand kollekti91
ver Identitäten ein Netzwerk kommunikativer Beziehungen mit Grenzen, die von einer Identität identifiziert und kontrolliert werden. Kommunikative Netzwerke generieren also Identitäten als ein Projekt der Kontrolle ihrer Grenzen (White 1992). 3.2 Orte europäischer Identitätskonstruktionen Netzwerke sozialer Beziehungen in Europa sind weitgehend bestimmt durch Techniken der Herstellung indirekter sozialer Beziehungen. Europa wird in dieser Perspektive vor allem durch Radio, TV, Film, Zeitungen, Internet konstituiert. Es sind gerade nicht die persönlichen Beziehungen (zwischen Eliten oder ein paar Erasmus-Studenten), die Europa als Kommunikationsraum hervorbringen.12 Solche indirekten Beziehungsnetzwerke erzeugen viele Orte indirekter Kommunikationsnetze und damit eine „Interobjektivität“ (Latour 2001, 2005). Diese Interobjektivität zeigt sich etwa in Forschungen zu einer europäischen Öffentlichkeit, in der nicht mehr die gemeinsame Sprache oder das gemeinsame Medium, sondern die Kommunikation von Themen zur gleichen Zeit zum Kriterium für europäische Öffentlichkeit wird.13 Diese Interobjektivität unterstellt besondere Beziehungen zwischen „Orten“ der Konstruktion kollektiver Identität. Drei solcher Orte lassen sich in Europa ausmachen. Der erste ist der Markt (Konsummarkt, Geldmarkt, Produktionsmarkt), der von der Story bestimmt wird, dass er dafür sorge, dass es allen am Ende besser gehe als zuvor. Ein anderer Ort ist die Öffentlichkeit, die von der Story zusammengehalten wird, dass Bürger Rechte und Pflichten haben, die sie aus Einsicht in ihre Vernünftigkeit beziehungsweise Begründbarkeit übernehmen. Ein dritter Ort sind Erinnerungsorte, wo die Erinnerung an Europa eingeübt und auf Dauer gestellt wird (Kriegerdenkmale, Heldendenkmäler, Opfermahnmale). 12 13
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Das heißt nicht, dass diese Phänomene irrelevant wären. Doch relativ zu den indirekten sozialen Beziehungen nehmen sie an Bedeutung ab. Die Debatte um die Frage, ob es nun eine solche gäbe oder nicht, lässt sich leicht auflösen als eine Debatte über unterschiedliche Modelle der Konstruktion von Öffentlichkeit. Nationale Öffentlichkeiten funktionieren anders als transnationale Öffentlichkeiten. Die Forschung zu einer europäischen Öffentlichkeit (für eine exzellente Diskussion siehe Trenz 2005) könnte als Analyse der Emergenz von Interobjektivität in Europa gelesen werden, in dem kollektive Identität in anderer Weise als in den auf die Illusion von KoPräsenz gegründeten nationalen Öffentlichkeiten hergestellt wird.
Diese Orte sollten nun nicht, wie es viele Analysen gemäß dem nationalen Modell tun, hierarchisiert werden, als ob es ein Kontinuum von weichen (ökonomischen) zu harten (kulturellen) Orten gäbe, wo sich dann die narrative Ordnung eindeutig ausmachen lässt, die Narration ein „Ende“ hat. Orte produzieren funktional äquivalente Stories. Welche strukturelle Position sie in einem Netzwerk sozialer Beziehungen besetzen, ist abhängig davon, welche Position ihnen in der narrativen Konstruktion von Grenzen dieser Netzwerke zugewiesen wird. Die europäische Story ist ein Versuch, die in nationalen Stories stattfindende Hierarchisierung durch Temporalisierung zu ersetzen, unterschiedliche Orte in den Fortgang der Narration einzubauen und Kohärenz über das Fortlaufen der Story zu erzeugen. Es kommt zu Kombinationen und Rekombinationen, die über narrative Sequenzialisierung Identität über Zeit sicherzustellen versuchen. 3.3 Das Referenzobjekt einer europäischen kollektiven Identität Eine genuin soziologische Theorie europäischer Identität zielt nicht nur darauf ab, ob, wie und in welchem Ausmaß an bestimmten Orten Identitätsmarkierungen emergieren. Sie muss zugleich klären, welche Referenzobjekte für die Konstruktion einer europäischen Identität zur Verfügung stehen. Europa selbst ist ein leerer Bedeutungsträger. Es kann alles Mögliche bedeuten, etwas, das durch territoriale Grenzen identifizierbar wird, das als Rechtsraum bestimmt wird oder als die Summe der Länder, die dem Europarat zugehören. Wir könnten solche „Vorstellungen“ von Europa als Annäherungen oder stellvertretende Bedeutungsträger für ein bereits existierendes „Objekt“ Europa heranziehen. Dann sprechen wir etwa von einem kulturellen, einem geographischen Europa, also von einem durch Adjektive bestimmten Ding Europa (Eder 2006a). Doch diese Adjektive verweisen auf etwas, das ihnen Sinn verleiht, nämlich Narrative, die für das geographische oder das kulturelle oder das soziale oder das westliche Europa oder das primordiale Europa stehen. Europas Grenzen sind narrative Grenzen, und je mehr die Narrative variieren, umso offener sind die Grenzen, die als Grenzen Europas kommuniziert werden. Dass der Gemeinsame Markt ein solches Referenzobjekt bilden könnte, ist eine Annahme, die häufig heftig bestritten wird. Der Markt könne in dieser Lesart kein Objekt kollektiver Identitätskonstruktion sein. Dabei wird übersehen, dass der Markt jenem Zusammenfallen von Individuum und 93
Gesellschaft als Objekten kollektiver Identitätskonstruktion am nächsten kommt. Der Gemeinsame Markt in Europa ist mehr als die Aggregation von Marktteilnehmern. Der Gemeinsame Markt liefert, vermittelt durch die Interaktion der Marktteilnehmer, eine Reihe von Objekten, die in gut funktionierende Narrative eingebaut werden können, nämlich Produktobjekte (etwa den Airbus) und Konsumobjekte (etwa Parmigiano) oder Tauschobjekte (etwa den Euro), die in ein Narrativ von dem sich in seinen Produkt- und Konsum- und Tauschobjekten konstituierenden Europa eingebaut werden können. Wenn wir den Fall eines rechtlich definierten Europas nehmen, dann wird das Referenzobjekt über Erzählungen rechtlicher Zugehörigkeit, über „citizenship narratives“ hergestellt. Rechtliche Beziehungen werden wegen der Zunahme rechtlicher Regelungen dichter und generieren Grenzen dieses Systems der Mitgliedschaft über besondere Definitionen dessen, was dazugehört, insbesondere über eine politische Definition von Mitgliedschaft. Dieses politische Kontrollprojekt, objektiviert in Semantiken und realen Objekten wie Reisepässen, definiert die Grenzen einer „politischen Kommunikationsgemeinschaft“ von Europäern. Dieses „citizenship narrative“ kann an ein altes Narrativ anschließen, auf das ein Kontrollprojekt der Grenzen eines europäischen Kommunikationsraums bauen kann (vgl. dazu die Beiträge in Eder/Giesen 2001).14 Um die Differenz zum nationalen Staatsbürgernarrativ herzustellen, werden Adjektive bemüht, die den Bürger der nationalen Gemeinschaft vom Bürger der europäischen Gemeinschaft unterscheiden. Ein in jüngerer Zeit modisch gewordenes Adjektiv ist „kosmopolitisch“. Europäische Identität definiert Grenzen einer Gemeinschaft von kosmopolitischen Bürgern. Eine andere „Staatsbürgerreferenz“ ist die soziale Staatsbürgerschaft in Europa mit der Idee, die identitären Grenzen als die eines Solidaritätsraums zu bestimmen. Die Erzählung einer besonderen europäischen Kultur, eines europäischen „kulturellen Erbes“ konstituiert ein weiteres Referenzobjekt. Im Narrativ der Wiedergeburt der Kultur in Europa, im Narrativ der „Renaissance“ wird dieses Referenzobjekt thematisch. In dieser sich wiedergebärenden Kultur findet Europa seine Werte in Abgrenzung zu Werten anderer Kulturen (Joas/Wiegandt 2005). Diese anderen nicht-europäischen Werte werden 14
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Das Interesse der Europäischen Kommission an „citizenship research“ im letzten Jahrzehnt kann man als einen Prozess beschreiben, in dem europäische Staatsbürgerschaft als eine geteilte Story in Europa etabliert wird.
in Narrativen mit den europäischen Werten in einen Zusammenhang gebracht und liefern die narrativen Grenzen dieses Kommunikationsraums (Eder 2007a). Dies leisten Geschichten, die wir über den anderen erzählen, mal als Geschichten über den „Osten“, mal als Geschichten über den „Orient“, bisweilen auch als Geschichten über „Amerika“. Die schwankenden Referenzen zeigen, dass Europa nicht in einer kulturellen Substanz zu suchen ist, sondern in variierenden narrativen Relationierungen zum anderen. Die Suche nach einer europäischen Kultur besteht also in der Konstruktion einer auf relativ beliebige kulturelle Objekte bezogenen Story. Es ist eine Story der dauernden Begegnung mit anderen Kulturen, die dauerndes Wiedergebären erzeugt. Je häufiger Europa wiedergeboren wird, umso häufiger wird es immer wieder anders. Dies wird an zwei für Europa kritischen kulturellen Referenzen deutlich: der Referenz zur jüdischen und der Referenz zur arabischen Kultur (die griechische wurde erfolgreich „eingemeindet“ und assimiliert). Beide haben Renaissancen ausgelöst. Im Fortspinnen dieser Geschichten kommen nicht nur Juden und Araber, sondern auch Mongolen und Gypsies, Türken und Kelten hinzu, die ihre Spuren in Südeuropa, in Österreich und Frankreich, in Rumänien und Deutschland hinterlassen haben. Die damit verbundenen Ereignisse werden oft als furchterregende und entsetzliche Ereignisse erzählt (die Geschichtsbücher sind voll davon), was aber nicht heißt, dass sie in der Hölle enden – im Gegenteil: Europa präsentiert sich heute als das Gegenteil dieser Hölle, also als ein anderes „Ende“ dieser Story. Wie in den meisten dieser Stories kann die Geschichte weitergehen. Neue Ereignisse kulturellen Konflikts treiben diese Story weiter – und erzeugen eine neue Story als Fortsetzung der alten. All das heißt Europa, und doch geht es immer wieder um etwas Neues und anderes. Mit den drei angedeuteten Stories, der Marktstory, der Staatsbürgerschaftsstory und der Story der kulturellen Besonderheit, lassen sich drei unterschiedliche Grenzen und damit unterschiedliche Projekte der Kontrolle dieser Grenzen, das heißt „Identitäten“ bestimmen.15 Europäische Identität 15
Diesen Kontrollprojekten lassen sich jeweils spezifische theoretische Ansätze zuordnen. Rationalistische Ansätze argumentieren, dass der durch europäische Institutionen erzeugte Vorteil zusammenbindet, dass also die Herstellung des größtmöglichen Glücks der Europäer identitätsgenerierend im Sinne von zunehmender Identifikation mit EUInstitutionen sei. Normative Ansätze argumentieren, dass das ethische Selbstverständnis diejenigen, die miteinander interagieren, zur Kooperation zwingt. Bezogen auf die EU
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entsteht damit aus konkurrierenden Geschichten, die mit Hilfe des Objektbezugs Europa verknüpft werden. Ob sich diese Stories am Ende empirisch in eine europäische Story zusammenfügen lassen, stellt sich dann als Folgeproblem. Dies hängt wiederum von der Evolution der sozialen Beziehungen in dem bereits konstituierten narrativen Kommunikationsraum Europa ab. Mit dieser Beobachtung konkurrierender Identitätskonstrukte wird auch eine besondere Differenz zum Modell nationaler Identität sichtbar. Im nationalen Modell fallen verschiedene narrative Grenzen zusammen; ökonomische, politische und kulturelle Grenzen werden harmonisiert.16 Das zeigt sich in Begriffen wie „Volkswirtschaften“, „Nationalstaaten“ oder „Nationalkulturen“. Genau dies findet bislang in Europa nicht statt.17 Die Nicht-Koinzidenz der möglichen Grenzen mag gar das werden, was Europas besondere kollektive Identität ausmacht. Diese besondere Identität bestünde in einem Kontrollprojekt, das mit vielfältigen Grenzen hantieren kann. Aber ohne Kontrollprojekt, das heißt ohne kollektive Identität, sind auch Vergesellschaftungsprozesse auf europäischer Ebene nicht denkbar. Die narrative Verknüpfung von parallelen oder sich überschneidenden oder sich widersprechenden Narrativen wird so zum Zentralproblem dieses Netzwerks sozialer Beziehungen. Das lässt sich nicht mehr mit einer hegemonischen Story wie im Nationalstaat bewerkstelligen. Dazu bedarf es eines nicht-hegemonischen Konstruktionsmodus, dessen Elemente im Folgenden angedeutet werden sollen.
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heißt das, dass ethische Selbstbindung der Europäer diese zur Zusammenarbeit zwingt und identitätserzeugende Effekte hat (Kantner 2006). Davon lässt sich ein dritter phänomenologisch ansetzender Vorschlag unterscheiden, der auf gemeinsam geteilte Hintergrundüberzeugungen verweist, die das soziale Band zwischen Akteuren herstellen. Die Reihenfolge der Koordination dieser Grenzen, also die temporale Abfolge, variiert und hat zu Unterscheidungen wie dem eines französischen und deutschen Modells geführt. Diese sind aber keine substantiell differenten Formen, sondern zeitlich unterschiedlich arrangierte Stories der Konstruktion einer Einheitsstory (siehe dazu auch die Debatte um die Evolution der citizenship story, die zwar unterschiedliche Wege nimmt, aber am Ende die gleiche Story in den Nationalstaaten wird: Marshall 1950; Mann 1987). Das ist das Modell der Integration verschiedener Staaten in eine nationale Story. Dort wurde dies allerdings mit der Durchsetzung einer dominanten Sprache erleichtert. Wenn Europa das mit seinen vielen Sprachen wollte, wäre schon eine erste erschwerende Bedingung gegeben.
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Europäische Identität als ein Fall der Verknüpfung multipler Stories
4.1 Der Mechanismus narrativer Verknüpfung Kollektive Identitäten sind keine kulturellen Substanzen, sondern Dinge, die in der sozialen Welt als Teil dieser Welt erzeugt werden. Kollektive Identitäten sind weder Anfang noch Ende von sozialen Beziehungen. Sie emergieren mit den sozialen Beziehungen und liefern Momente von Stabilität im Fluss sich dauernd verändernder sozialer Beziehungen. Aber auch Identitäten sind nicht stabil. Auch sie ändern sich und dies oft auch recht abrupt. Kollektive Identitäten sind deshalb nur dann Momente relativer Stabilität, wenn existierende Geschichten in einem Narrativ beziehungsweise in narrativen Sequenzen miteinander verknüpft werden. Das Besondere europäischer Identität ist nun, dass die Stabilität, die eine narrative Ordnung hervorbringt, eine permanente Fortsetzung des Erzählens notwendig macht. Europäische Identität ist also immer „in the making“ und das analytische Beobachtungsarsenal muss im Fall europäischer Identitätskonstruktion auf diese temporale Struktur ausgerichtet werden. Europäische Identität ist ein Prozess, der an verschiedenen Orten zu bestimmten Zeitpunkten beobachtbar wird.18 Debatten darüber, ob Europa nur eine weiche Identität haben könne, weil Identifikationen fehlen würden oder weil es keine gemeinsame Sprache gäbe oder weil die nationalen Kulturen zu unterschiedlich seien, erübrigen sich dann. Die oben entwickelte Konzeption weist darauf hin, dass auch Europa auf eine starke Konzeption von Identität angewiesen ist, da komplexe Gesellschaften besonders viel Identität als Kontrollprojekte des in ihnen laufenden Kommunikationszusammenhangs brauchen. Dieser Idee wurde die Idee hinzugefügt, dass die europäische Identität nicht mehr in einer dominanten Story fixiert werden kann, sondern von einer Multiplizität von Stories bestimmt ist, die ihrerseits wieder verknüpft werden müssen, um ein Kontrollprojekt des in Europa emergierenden Kommunikationsraums zu erzeugen. Diese Verknüpfung erfordert, und das ist die aus der narrationstheoretischen Begründung sich ergebende These, selbst wiederum ein sequentielles 18
Das methodologische Problem, den zeitlichen Punkt der Beobachtung mitzubestimmen, mag hier außen vor gelassen werden (zur theoretischen wie methodischen Diskussion vgl. Abbott 2001).
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Arrangement dieser konkurrierenden Geschichten, ihre narrative Organisation. Damit ist ein Mechanismus des Konstruktionsprozesses transnationaler Kommunikationsräume benannt. Die Idee der Aggregation von Geschichten wird ersetzt durch die Idee der kommunikativen Zirkulation dieser Geschichten, deren Zusammenspiel selbst wieder eine narrative Ordnung hervorbringt und mit ihr ein Kontrollprojekt der variablen Grenzen eines Kommunikationsraums in Europa.19 Doch wie lassen sich die Geschichten, die in Europa benutzt werden, um ein Netzwerk sozialer Beziehungen zu kontrollieren, in eine narrativ plausible Sequenz bringen? Sequenzialisierung heißt zunächst nichts anderes, als eine methodologische Perspektive zu bezeichnen, die Ordnung der verschiedenen Geschichten in der narrativen Sequenz ihrer Verknüpfung zu suchen. Wie in jede Geschichte gehen auch in dieses emergente europäische Narrativ Interessen, normative Prinzipien und kollektive Erinnerungen ein, die an Aktanten gebunden sind, die in ein narratives Plot eingebaut werden. Dabei entstehen mehr oder weniger plausible Stories, die Helden und Bösewichte, Täter und Opfer verknüpfen und offen lassen, wer diese Positionen besetzt. Es scheint so zu sein, dass europäische Narrative die Besetzung dieser Positionen variabel halten können mit der Konsequenz, dass Nationen, Gruppen oder Individuen immer Gefahr laufen, entweder die Position von Bösewichten, Tätern oder Opfern zu besetzen oder das Glück haben, zu Helden zu werden, die die Opfer retten und die Bösewichte bestrafen. Man kann sich diese changierende Rollenverteilung in Europa gut vorstellen. Europäische Identität ist also ein Kontrollprojekt von Grenzen, das zwar einen Plot kennt, das aber die Besetzung der Rollen offen hält. 4.2 Die kollektive Identität Europas als ein Kontrollprojekt von sich überschneidenden Netzwerken sozialer Beziehungen Europäische Identität ist ein Fall multipler Stories, die verknüpft werden und in diesem Prozess in eine neue Ordnung gebracht werden. Diese Verknüpfung findet allerdings nicht im luftleeren Raum statt, sondern vor dem Hintergrund der besonderen Form des Zusammenschlusses von Nationalstaaten unter dem institutionellen Dach der EU. Die EU als ein Zusammen19
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Die Idee von Europa als einem Kommunikationsraum liefert das Brückenkonzept zwischen Netzwerken sozialer Beziehungen und der Storyproduktion (zur Explikation dieses Konzepts siehe Eder 2007b).
schluss von Nationalstaaten, die auf nationalen Gesellschaften mit einer je eigenen Tradition gründen, modifiziert bereits die in der Idee der Nation implizierte Exklusivität einer nationalen Story, die sich politisch als Souveränitätsanspruch, ökonomisch als nationale Wirtschaft und kulturell als nationale Kultur artikuliert hat. Diese nationalen Gesellschaften werden in ein Netzwerk von Beziehungen eingebunden, die dazu zwingen, verschiedene nationale Narrative miteinander zu verknüpfen. Noch folgenreicher für die narrative Neuordnung Europas (und den durch Europäisierung ausgelösten Transformationsprozess der Nation beschleunigend) ist die Veränderung der nationalen Gesellschaften selbst, nämlich die zunehmende Heterogenität der nationalen Gesellschaften, in denen nationale Identität nurmehr gegen die Evidenz ethnischer Differenzierung inszeniert werden kann. Man kann zwar weiterhin die Assimilation der Fremden (Migranten) an nationale Kulturen fordern; doch lässt sich dieses Ansinnen nicht mehr problemlos durchsetzen. 20 Die Fremden werden zu Ethnien in der Nation und quer zur Nation. Die Nation ist nicht nur mit ethnischen Gruppen konfrontiert, die sich der Assimilation verweigern; auch die Einheimischen werden in ethnische Gruppen transformiert, so dass nationale Gesellschaften nicht mehr nur Einwanderungsgesellschaften, sondern letztlich multiethnische Gesellschaften sind, in der auch Majoritäten „ethnisiert“ werden. Alle diese Ethnien klagen gleichermaßen Narrative ihrer Besonderheit ein. Deshalb sind nationale Gesellschaften gezwungen, ein Netzwerk ethnischer Geschichten herzustellen, das narrative Plausibilität für sich reklamieren kann.21 Nationale Geschichten hatten noch klare Helden, die kollektive Idealsubjekte repräsentierten. Die narrative Schließung nationaler Gesellschaften baute die zentralen Ereignisse der Selbstkonstitution einer Nation als Helden in die Geschichte ein und beendete damit zugleich die Geschichte. Die 20 21
Das ist vermutlich auch das Problem mit den Assimilationstheorien, die immer noch, trotz multikultureller Realitäten, verteidigt werden. Das gelang hervorragend in den USA. Allerdings waren die Zuwanderer in diesem Fall nicht nur herrschende Schicht im Einwandererland, sondern auch Migranten, deren nationale Identität noch nicht jene narrative Stabilität erreicht hatte, die sich in Europa erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzen konnte. Erst die späteren Einwanderer werden nicht mehr problemlos Amerikaner, sondern werden ethnisch kategorisiert. Dies führte zu jenem ethnischen Amerika, das mit der Nation konkurriert. Das postethnische Amerika (Hollinger 1995) ist ein Versuch, die Story der Nation auf die multiethnische Realität zurückzuprojizieren.
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Nachfahren konnten nurmehr Heldenverehrung betreiben, außer es kam, wie in vielen Ländern, etwa in Deutschland, zu Diskontinuitäten in der nationalen Story. In der Realität setzte sich aber zunehmend die multiethnische Realität durch: sichtbar gleichermaßen in Fußballteams wie in der populären Musik, weniger sichtbar bislang in der politischen Form der Gesellschaft, wo ethnische Vertreter immer noch die bemerkenswerte Ausnahme sind. Das verändert die Besetzung der Positionen in der narrativen Struktur des Netzwerks postnationaler Vergesellschaftung: An die Stelle eindeutiger nationaler Helden treten die kleinen hybriden Helden der Fußballclubs oder der Popszene, oft Akteure, die in mehreren Kulturen zu Hause und zugleich nicht zu Hause sind. Es kommt zu hybriden Helden in den emergenten Narrativen, nicht nur lokal oder national, sondern vor allem auch in Europa. Hier tritt der Faktor hinzu, dass die Nationen füreinander innerhalb der Europäischen Union zu konkurrierenden Gruppen werden, die die Einmaligkeit der Nation und der sie tragenden Erzählung unterminieren. In den emergenten narrativen Netzwerken Europas müssen also viele Teilnetzwerke und ihre narrativen Teilgeschichten miteinander gekoppelt werden, ohne dass sie die Struktur eines Netzwerks mit einem eindeutigen Zentrum haben. Diese Teilnetzwerke brauchen zunehmend Broker, um diese Verknüpfung herstellen zu können. Solche Broker sind vor allem die, die mehr als einer Ethnie zugehören, sei es durch Mischehen, sei es durch doppelte Sozialisation. Diese Broker sind nicht mehr Repräsentanten eines kollektiven Individuums wie im Fall der Nation. Sie sind vielmehr besondere Subjekte, eben Individuen, die besondere Varianten kollektiver Identität repräsentieren. So werden Individuen zu Knotenpunkten in narrativen Netzwerken, in denen sich eine europäische Gesellschaft zu ordnen beginnt. Europäische Identität entsteht demnach in einem Prozess narrativer Strukturierung, in dem hybride Subjekte zu Brokern zwischen Netzwerkteilen werden, die ansonsten unverbunden wären. Sie werden zu den Helden eines Netzwerks, das nationale Grenzziehungen überschreitet und eine postnationale Gesellschaft erzeugt.22 22
Diese Überlegungen knüpfen nicht direkt an parallele Überlegungen im Poststrukturalismus an. Sie nehmen diese Anregungen auf und sind zugleich ein Versuch, diese Anregungen analytisch und methodisch auf formal überzeugendere Beine zu stellen (in diesem Zusammenhang siehe die Beiträge in Cheah/Robbins 1998 und dort insbesondere Anderson 1998; daneben auch Bhabha 1990; zur Aufwertung des „hybriden Subjekts“ als dem Kennzeichen der Moderne siehe jetzt auch Reckwitz 2006).
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Europa hat also mehr als eine Story. Zugleich erzählt Europa von sich selbst, dass es viele solcher Stories hat, die es zusammenhalten. Europa ist ein idealer Fall für die Analyse einer Gesellschaft, die mit einer Pluralität von Geschichten lebt, ohne diese Pluralität in eine hegemonische Story transformieren zu können. Geschichten werden relationiert und die daraus resultierende neue Geschichte wird zum Medium der Herstellung neuer partikularer sozialer Beziehungsnetzwerke, die in einem emphatischen Sinne ethnische Netzwerke sind.23 Dieser dynamische Prozess kann nicht mehr auf eine dominante Geschichte bezogen werden, die alle anderen Geschichten assimiliert und sich einverleibt. Die Väter der europäischen Einigung produzierten eine solche Story, die bis heute immer wieder zitiert wird: die Story der Völker Europas, die in Frieden miteinander leben sollen und wollen. Europa fängt also bereits von Anfang an mit der Verknüpfung unterschiedlicher nationaler Geschichten an, die in eine emergente neue nationenübergreifende Story überführt werden. Allerdings bleibt in diesem steten Wandel und Weiterschreiben der europäischen Story das Problem der Identität im Wandel besonders prekär. Europa muss die Zukunft im Weiterspinnen der Story blockieren, muss die Gegenwart gegen die offene Zukunft festhalten, um eine Identität im Wandel zu behaupten (Bearman et al. 1999). Allerdings ist dieses Blockieren problematisch, da die Einheit der Nation oder eines funktionalen Äquivalents als Blockieren der Modernisierung und ihres Festschreibens im Nationalstaat nicht mehr zur Verfügung steht.24 Hinzu kommt, dass die Kosten des nationalen Blockierens der Zukunft, nämlich die Bestimmung der Einheit und Reinheit der Gegenwart, zu traumatischen Ereignissen geführt hat, die Europa in identitäre Konflikte und am Ende in Bürgerkriege geführt hat. Wenn wir das Experiment des Blockierens der Zukunft in Europa unternehmen, dann kommen Semantiken zum Zuge, die sich nicht mehr auf einfache Begriffe wie Nation (oder Imperium, ein in jüngerer Zeit modisch gewordener Vorschlag) bringen lassen. Wie oben angedeutet, eignet sich 23
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Um Missverständnisse zu vermeiden: der Begriff „ethnisch“ wird hier als ein analytischer Begriff verstanden, der die Artifizialität der Konstruktion einer Gemeinschaft betont: Ethnien sind in noch stärkerem Maße Erfindungen als es Nationen sind. Entstanden als koloniale Konstruktionen verweist dieser Begriff auf die Kontingenz der Referenz, die zum Definiens einer Gemeinschaft gemacht wird. Ähnliches versuchte Hegel, als er im preußischen Staat das Zusichkommen des objektiven Geistes angelegt sah.
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dafür eher der Begriff der Hybridität, der dieses Feste im Fluss des dauernden Wandels zu bestimmen erlaubt. Europa ist also ein narrativer Mix aus vielen Geschichten, aus deren Mixtur sich, so die intuitive These der öffentlichen Inszenierung der EU, die Identität Europas ergeben soll. Damit lässt sich auch, zumindest für eine gewisse Zeit, die Idee eines Europas mit beweglichen Grenzen durchhalten; denn es geht nur um variierende Mixturen dieser Stories. Keine Story vermag sich durchzusetzen und die anderen zu dominieren und damit kann auch keine Grenze als endgültige benannt werden.25 Diese Intuition ist nicht ganz unsinnig, bleibt aber analytisch noch ungenügend. Denn worum es geht, ist ein Kontrollprojekt für das „Mixen“ von narrativen Teilnetzwerken in Europa zu finden. Dieses Kontrollprojekt findet sich in einer Geschichte, die die Verknüpfung von Geschichten weitererzählt und damit Anschlussfähigkeit an nationale Geschichten herstellt. Zugleich sind es aber die hybriden Broker, die in variabler Weise immer wieder die Einheit dieses narrativen Netzwerks herstellen. Das Blockieren der Zukunft ist also selber ein Prozess, der die Zeit des Wandels zu begrenzen sucht. Man kann Europa nicht auf eine neo-liberale oder kosmopolitische oder soziale Geschichte festnageln. Stories koexistieren nicht einfach nebeneinander, sie beeinflussen sich gegenseitig und produzieren emergente Effekte durch ihre immer wieder stattfindenden Rekombinationen, die in das narrative Fortspinnen von Stories eingebaut werden. Allerdings sind Struktur und Muster dieser Rekombinationen unbekannt. Wir wissen nur, dass sie stattfinden. In der narrativen Struktur europäischer Identität sind es am Ende dann die hybriden Broker, die das Identische im Fluss der Zeit zu fixieren erlauben. Was als Gegenstand europäischer Identitätskonstruktion dann herauskommt, ist eine Story konfligierender Stories, in der hybride Subjekte zu Brokern zwischen diesen Geschichten und zu den neuen Helden eines emergenten europäischen Narrativs werden. Die Identität Europas lässt sich nurmehr begrenzt blockieren und es sind die neuen Broker, die zugleich blockieren und öffnen und in dieser Doppelrolle eine neue Form der Konstruktion kollektiver Identität in Gang setzen, die sich als Kontrollprojekte für transnationale Vergesellschaftungsprozesse eignet. 25
Eine Nation ohne genaue Grenzen ist unvorstellbar – das ist ein Punkt, an dem das Neue Europas besonders deutlich wird. Das gilt auch, wenn die Grenzen Europas oft mit den Grenzen einer Festung verglichen werden. Doch die Art der Befestigung der Grenzen und die Verschiebbarkeit von Grenzen sind unabhängig voneinander.
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Schlussfolgerung
Europa ist ein idealer Fall zur Analyse sich gegenseitig beeinflussender und zugleich voneinander abgrenzender Geschichten und ein Fall evolutionär variierender Rekombinationen von Stories. Solche Prozesse können immer wieder von Teilidentitäten abgebrochen werden (etwa der Unterstellung von gemeinsamen politischen oder kulturellen Identitäten). Der Vorschlag in diesem Aufsatz war, kollektive Identitätskonstruktion in Europa an unterschiedlichen sozialen Orten („sites“) zu beobachten: am Markt, in der Öffentlichkeit und an den Erinnerungsorten. Die Debatte zu europäischer Identität hat sich bislang auf die politisch-öffentliche Dimension, wie etwa die Diskussion um einen konstitutionellen Patriotismus in Europa, oder auf die kulturelle Dimension, wie in der Diskussion um ein säkulares Europa, bezogen. Die Stories, die dafür erfunden werden, erzählen die Geschichte von einem politisch sich einigenden Europa oder die Geschichte von einem sich seiner Geschichte vergewissernden Europa. Solche Projekte können an gegebene institutionelle Arrangements anschließen. Eine erste Option ist eine an die Kommission und den Europäischen Rat andockende Geschichte; eine zweite Option schließt eher an den Europarat an, der eine andere Geschichte über Europa nahe legt. Die Story eines seinen Reichtum fördernden Europas läuft dazu parallel und in ihr spielt die Kommission eine ambivalente Rolle, vom Helden bis hin zum Narren. Die soziale Basis dieser Geschichten ist in einer Gesellschaft zu suchen, die sich zunehmend in sich überschneidenden sozialen Netzwerken organisiert. Jedes dieser Netzwerke hat seine eigene Story, die es als Modell für Europa anbietet. Die damit ausgelöste Dynamik zu fassen, erfordert ein Erklärungsmodell, das die komplexe Interaktion vieler Stories, die in diesen Netzwerken zirkulieren, zu fassen vermag. Daraus ergibt sich die empirische Suchstrategie: zu zeigen, wo, wann und wie diese Stories miteinander in Berührung kommen und die dabei wirksamen Restriktionen und Opportunitäten für die Konvektivität dieser Stories zu benennen. Europa ist eine Gesellschaft mit überlappenden Netzwerken, und an diesen Berührungspunkten finden auch Kreuzungen von Geschichten statt. Bei der Frage nach einer europäischen Identität geht es um ein Netzwerk von gekoppelten Identitäten, die eine besondere zeitliche Dynamik erzeugen, in der Europa sich selbst erzeugt und als Identisches herstellt. Diese Diversität von Geschichten ist von Vorteil für offene Netzwerke: 103
Anstatt nach einer besonderen Story für Europa zu fahnden, müssen wir nach den Knotenpunkten suchen, die das Andocken von Geschichten an andere Geschichten erlauben. Die europäische Story ist ein offener Prozess, der viele andere Geschichten aufnehmen kann, ohne sie assimilieren zu müssen. Das einzige Kriterium, das bleibt, um eine Identität ausmachen zu können, ist: in der Lage zu sein, eine Story im Geflecht vieler Stories weiterspinnen zu können. Das Ende der theoretischen Erzählung ist die Beobachtung, dass Europa ein Raum mit konkurrierenden Stories ist und dass es deren Konfrontation ist, die bindende Wirkungen hat. So können in Europa viele Geschichten hinzukommen, die vor kurzer Zeit kaum denkbar waren. Dabei sind es die Broker, Träger hybrider Identitätskonstruktionen, die die verschiedenen Teilgeschichten miteinander verknüpfen und somit ein neues Narrativ erzeugen: ein Narrativ der Hybridität, in dem Europa ein besonderes Kontrollprojekt seiner Grenzen entwickeln und als eine „Gesellschaft“ jenseits des Nationalstaats emergieren kann. Das Besondere kollektiver Identitätskonstruktion in Europa ist folglich, dass wir es mit einem permanenten Prozess des Koppelns von Geschichten zu tun haben, ohne erwarten zu dürfen, dass sich aus diesen eine einzige dominante Erzählung herausbildet, wie dies im Prozess der Nationalstaatsbildung versucht wurde und was auch immer wieder, wenn auch mit Kosten, gelang. Europa kann nicht mehr diesen Mechanismus der narrativen Hegemonisierung bemühen. Europa besteht aus zeitlich und räumlich zu spezifizierenden Konstellationen von Geschichten, die immer weitergehen und jeweils für den Augenblick das sichtbar machen, was Europa ist. Morgen mag es schon wieder ein bisschen anders sein. Literatur Abbott, Andrew, 2001: Time Matters. On Theory and Method. Chicago/London: University of Chicago Press. Anderson, Benedict, 1998: Nationalism, identity, and the world-in-motion. S. 117-133 in: Cheah/Robbins 1998. Ash, Timothy Garton, 2007: Europe's true stories, Prospect Magazine 131: 36-39. Bartolini, Stefano, 2007: Restructuring Europe. Centre Formation, System Building, and Political Structuring between the Nation State and the European Union. Oxford: Oxford University Press.
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Europa als Problem und ewiges Werden
Am Anfang war alles eins: Europa, der Westen und die Moderne. Nirgendwo kommt das deutlicher zum Ausdruck als in Max Webers (1972b: 1) berühmter Problemstellung, warum, wie und in welcher Form ausgerechnet Europa eine solche Entwicklung nehmen konnte. „Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ Die Antwort, die Weber gibt, kommt einer Skizze der gesellschaftsgeschichtlichen Konfiguration der Moderne nahe, die sich den drei Revolutionen verdankt: der ökonomischen Revolution und der Entstehung des Kapitalismus, der politischen Revolution und der Heraufkunft der Demokratie und der kulturellen Revolution und der Durchsetzung des Individualismus. Nur im Westen, so Max Weber, hat es rationalen Kapitalismus, rationale Wissenschaft, rationale Kunst, rationales Recht, einen rationalen Staat, rationale Bürokratie und rational geschultes Fachbeamtentum sowie freie Lohnarbeit gegeben. Schon die Art, so zu fragen, unbefangen und neugierig nach der Eigenart und Einzigartigkeit dieser Konfiguration, also eines Modells des Okzidents, des Westens oder des Abendlandes als historischem Individuum (vgl. Müller 2007b: 50ff.) – Weber gebraucht diese Begriffe noch synonym –, hat
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ihm den Vorwurf des Eurozentrismus1 eingetragen, ja des westlichen Rassismus. Der deutsche Soziologe scheint die Modernität für Europa pachten zu wollen, übersieht geflissentlich die Errungenschaften anderer Völker und Kontinente und unterschätzt das, was heute „multiple modernities“2 genannt wird. Diese Interpretation gehört heute zum guten Ton und hat sich als „mainstream“ global durchgesetzt. Doch verwechselt dieser populäre und politisch korrekte Vorwurf den Unterschied zwischen Genese und Geltung. Nur weil diese Entwicklung einst von Europa und dem Westen ausging, muss sie nicht auf ihn beschränkt bleiben – genau das moniert ja der meist in gleichem Atemzug erhobene Vorwurf einer okzidentalen Weltherrschaft, wonach die westliche Welt bis zum heutigen Tage den Rest der Welt auf Trab hält, also Takt, Tempo, Richtung und Zielsetzung der Entwicklung vorgibt. Gerade weil sie von universeller Bedeutung ist, scheinen diese evolutionären Errungenschaften der Moderne von einer unwiderstehlichen Attraktivität und einer vielfältigen Applikabilität gekennzeichnet zu sein. Beides – globale Dissemination und universelle Bedeutung der Modernität – scheint heute der Fall zu sein. Wer wollte also ernsthaft leugnen, dass es mittlerweile zahlreiche Wege in die Moderne gibt und der westliche in der Tat nur einer davon ist? Wer könnte abstreiten, dass das moderne Spiel im Kern zwar immer noch kapita1
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Die Rede von Eigenart und Einzigartigkeit scheint auf Anhieb die Vorstellung von Superiorität nahe zu legen, wonach die europäische Zivilisation dem Rest der Welt überlegen sein soll – eine Vorstellung, die im 19. Jahrhundert in Europa durchaus verbreitet war (vgl. Osterhammel 1998). „Ethnozentrismus ist die mutmaßlich in allen Gesellschaften anzutreffende Grundüberzeugung, dass die eigene Lebensform allen anderen überlegen ist. Der Eurozentrismus teilt diese Überzeugung, unterscheidet sich aber von anderen Ethnozentrismen dadurch, dass er zum einen die Überlegenheit der eigenen Lebensform begründet sieht in einer – instrumentalistisch verstandenen – wissenschaftlichen Vernunft und dass er zum anderen sowohl den Willen als auch die Machtmittel entwickelt hat, die ganze Welt nicht nur zu unterwerfen, sondern nach seinem Bilde zu formen“ (Hauck 2003: 14). Weder Eurozentrismus noch Ethnozentrismus im strengen Sinne kennzeichnen indes Webers Position. Allenfalls könnte man mit Schluchter (1988b: 283ff.) von einem „heuristischen Eurozentrismus“ im methodischen Sinne sprechen, als Weber sich nun einmal primär für die okzidentale Entwicklung interessiert und den Rest der Welt, Regionen wie Religionen, nur als Kontrastfolie benutzt, also gerade keine umfassenden Kulturanalysen anstrebt, um die Eigenart des Westens typologisch umso genauer zu erfassen. Seine eigene ambivalente Haltung gegenüber der okzidentalen Moderne lässt ihn auf jegliches Suprematiegehabe von vornherein verzichten. Vgl. dazu Eisenstadt (2002). Zur Frage der Einheit oder Vielfalt der Moderne siehe als geeigneten Überblick den Sammelband von Schwinn (2006).
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listisch, demokratisch und individualistisch angelegt zu sein scheint, wir heute indes zahlreiche autoritäre und kollektivistische Varianten und Konfigurationen erleben? Diese neuartigen Spielarten sind durchaus von Erfolg gekrönt und gehen mit bemerkenswertem Macht- und Reichtumszuwachs einher. Russland und China etwa wird man kaum ihre Anstrengungen hin zur „Modernität“ absprechen können, auch wenn ihr Entwicklungsgang westlichen Vorstellungen kaum entsprechen dürfte. Insofern gibt es nicht nur multiple Modernen, sondern das Konzept scheint sich so differenziert und verflüssigt zu haben, dass wir auch neotraditionale und neofeudale Spielarten zu Erscheinungsformen zeitgenössischer „Modernitäten“ oder „Modernitäter“ rechnen müssen. Je erfolgreicher diese „defekten“ Varianten sich gerieren, desto größer wird die Neigung okzidentaler Eliten ausfallen, unter dem Diktat von vermeintlichen Sicherheitsinteressen und imaginierten terroristischen Bedrohungsszenarien ihrerseits demokratische und freiheitliche Errungenschaften abzubauen. Auch wenn dieses Szenario die zeitgenössischen Trends und Tendenzen auf globaler Ebene widerzuspiegeln für sich in Anspruch zu nehmen vermeint, so scheint sich Europa seit geraumer Zeit und wieder einmal auf einem Sonderweg zu befinden. War es einst die Wiege der Moderne, so drängt sich heute die Frage auf, ob es die Hoffnung auf eine neue Form der Sozietalität erfüllen könnte: die europäische Gesellschaft. Es scheint, als ob diese neuartige Form sui generis gleichweit entfernt ist von dem Nationalstaat alter Prägung wie dem Horizont einer Weltgesellschaft. Zwischen nationale und globale Ebene schiebt sich ein regionales Sozialgebilde, das an der bewährten Tradition der Moderne anknüpft und sie in zeitgemäßer, wenn auch eigenartiger und einzigartiger Weise fortführt. Deutet sich damit also schon wieder das Skandalon eines Sonderwegs von globaler Ausstrahlung und universeller Bedeutung wie zu Zeiten Max Webers an? Bevor diese Frage abschließend beantwortet wird, sollen Konturen und Gestalt des Modells der europäischen Gesellschaft knapp in vier Schritten skizziert werden.
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Die europäische Gesellschaft und ihre analytische Konzeptualisierung
2.1 Europa und sein Begriffsproblem Wie der jahrhundertealte Diskurs über Europa demonstriert, ist Europa ein unbestimmter Begriff in Raum und Zeit, der nur in den Varianten seiner kulturellen Aufladung und der selbstreflexiven Diskurstradition an Konturen gewinnt. Europa „umschreibt keine feste historische Größe, weder geographisch noch religiös, noch sprachlich-kulturell, noch politisch. Geographisch gesehen gab es das Problem der Grenzziehung im Osten; religiös gesehen das der Grenzziehung gegenüber orthodoxem Christentum und Islam; sprachlich-kulturell das der Grenzziehung gegenüber den nichtromanischen und nichtgermanischen Sprachen; politisch zum Beispiel das der Grenzziehung gegenüber Russland und dem Osmanischen Reich“ (Schluchter 2005: 239). Aber diese Probleme der Eindeutigkeit haben niemals den Charakter von Europäizität zu verwischen vermocht, noch die evolutionäre Herausbildung seiner beiden prinzipiellen Wege verstellt: erstens die Koordination über eine einheitliche Reichsidee für ganz Europa wie unter Karl dem Großen. Dieses Projekt war zum Scheitern verurteilt, was aber keineswegs ausschloss, dass es in der Geschichte Europas nicht immer wieder versucht wurde: durch das Habsburger Reich, das französische Kaiserreich und durch das Dritte Reich. Erst im 20. Jahrhundert nach zwei Weltkriegen, Tod und Zerstörung Europas bis in seine Grundfesten scheint sich im Westen nach 1945, im Osten nach 1989 die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass Imperiumsbildung nach dem Grundsatz oktroyierter Einigung und verordneter Einheit der Vielfalt Europas widerspricht; zweitens die Kooperation verschiedener Nationalstaaten auf der Basis einer gemeinsamen Kultur und einer paktierten Balance, die ein Gleichgewicht der Kräfte in Aussicht stellt. Mit der Europäischen Union scheint indes ein dritter Weg oder doch zumindest ein neuer Pfad beschritten worden zu sein. An die Seite des kulturellen Überbaus tritt ein rechtlich geprägter Überbau in Gestalt einer neuartigen politischen Gemeinschaft. Weder (Super-)Staat noch Staatenbund, weder ausschließlich supranational noch intergouvernemental agieren die politischen Institutionen der EU wie eine network-polity – ein Wesen sui generis. Das Ergebnis ist eine institutionelle Architektonik, die einem Mehrebenensystem gleicht: an oberster Stelle die europäische Ebene mit ihren Orga112
nen, als intermediäre Instanzen die Nationalstaaten, gefolgt von Ländern, Kommunen und Gemeinden als niedrigster Ebene. Ein geeigneter terminus technicus für diese europäischen Koordinations-, Kooperations- und Entscheidungsmechanismen ist bis heute nicht gefunden worden. Das kann auch weiter kaum verwundern, wenn die EU ein emergentes soziales und politisches Phänomen darstellt, welches immer noch in den Bahnen konventioneller Begriffsbildung bearbeitet wird (vgl. Schmitter 1996). Auf jeden Fall trägt die Europäische Union durch ihre Regulierungsund Harmonisierungsarbeit enorm dazu bei, dass auf dem alten Kontinent allmählich eine europäische Gesellschaft entstehen kann. Sie ist nicht deckungsgleich mit der Europäischen Union, aber sie ist ebenfalls eine Realität sui generis und eine dritte Form, die weder eine nationale Gesellschaft auf erweiterter Stufenleiter darstellt noch einfach die Vereinigten Staaten von Europa repräsentiert. Was ist sie dann und wie lässt sie sich charakterisieren? Europas Eigenart, so die einhellige Auffassung vieler Denker, die den Charakter des alten Kontinents zu fassen versucht haben, ist seine Vielfalt (Rehberg 2006; Frevert 2003; Joas 2005; Joas/Mandry 2005; Landfried 2004; Lützeler 1998). Dennoch handelt es sich nicht einfach um beliebige Varietät, sondern um eine „strukturierte Diversität“ (Crouch 1999; Müller 2007a), welche die Familienähnlichkeit eines europäischen Modells von Gesellschaft unterschwellig erkennen lässt. Einfach ist diese strukturierte Diversität nicht auf den Begriff zu bringen, denn sie ist heute mehr denn je reflexiv angelegt. Zu Europa gehört konstitutiv der Diskurs über Europa (vgl. Zingerle 2006), also die Konstruktion und Kritik, der Entwurf und die Infragestellung jener „imaginierten Gemeinschaft“ (Anderson 2003), die sich als Europa begreift. Wenn die Leitformel von der strukturierten Diversität Sinn machen soll, dann muss sie sich soziologisch als Ideen-, Struktur- und Institutionenprinzip bewähren. Die europäische Gesellschaft lässt sich als eine Konfiguration von kulturellen Traditionen und Werten, historischen Erfahrungen und spezifisch ausgestalteten Institutionen und ihrer Ordnung fassen. Diese Konfiguration macht die Eigenart und Einzigartigkeit des europäischen Projekts aus, seine Unverwechselbarkeit sowie die Erkennbarkeit der Familienähnlichkeit als zugehörig zum Typus societas Europaea.
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2.2 Die europäische Gesellschaft als Wertegemeinschaft Jüngst haben Geistes- und Sozialwissenschaftler (Joas/Wiegandt 2005) die kulturellen Traditionen und Werte Europas analysiert mit dem Ergebnis, dass sechs Werte, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, das europäische Selbstverständnis formieren und inspirieren: „,Freiheit‘, ‚ertragene Differenz‘ und ein ‚praktischer Rationalismus der Weltbeherrschung‘ (…) – damit haben wir einige der basalen kulturellen Werte Europas benannt. ‚Innerlichkeit‘, ‚die Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens‘ und ‚Selbstverwirklichung‘ sind drei weitere Werte (oder Wertkomplexe), die in bestimmten Phasen der europäischen Geschichte entstanden und heute zur kulturellen Selbstverständlichkeit geworden sind“ (Joas 2005: 30). Freiheit steht an der Wiege der griechisch-römischen Tradition und markiert historisch eine erste Differenz zwischen Europa und Asien. Die Auseinandersetzung zwischen „Zivilisation“ und „Barbarei“, welche paradoxerweise die ungleich grobschlächtigeren Griechen mit den wesentlich kultivierteren Persern führten, dreht sich um einen zentralen Gegensatz, den man auf die Formel „Kulturbildung aus Freiheit statt aus Herrschaft“ (Meier 2005: 97) bringen kann. Hier findet sich also der Keim von Freiheits- und Bürgerrechten, die erst aus der schmerzhaften Erfahrung mit Sklaverei und Knechtschaft in der Moderne zur Formulierung universaler Menschen- und Bürgerrechte führen sollten. Die „ertragene Differenz“, mehr als Tolerierung, aber weniger als Toleranz oder Anerkennung, ist ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit religiöser Vielfalt im Mittelalter und ihrer praktischen Duldung. Rationalität oder Vernunftbegabung ist eine allgemein menschliche Eigenschaft. Aber der „praktische Rationalismus der Weltbeherrschung“, so Max Weber (1972b), ist ein Resultat des asketischen Puritanismus, der im Verein mit dem Kapitalismus, dem modernen Staat und der modernen Wissenschaft die Welt umgestalten sollte. Die Kehrseite von beziehungsweise das Gegenprogramm zu dem ausgreifenden äußeren Aktivitätskomplex ist die „Innerlichkeit“ als ein Wert, der von der platonischen Philosophie bis zu Augustinus’ „Bekenntnissen“ und darüber hinaus reicht, wie Charles Taylor (1996) in seiner Studie zu den „Quellen des Selbst“ gezeigt hat. Innerlichkeit schafft Distanz zwischen innerer und äußerer Welt, zwischen eigener Seele und Gesellschaft, und ist eine wichtige Voraussetzung für den Individualismus. Die „Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens“ als Wertkomplex verortet Wolfgang Reinhard, der eine große Studie über die „Lebensformen 114
Europas“ (Reinhard 2004) vorgelegt hat, im Zeitraum zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert und macht die Aufwertung von Arbeit, Geld und Liebe an der Emanzipation der Laien von der Kirche fest. Die Selbstverwirklichung, erstmals als Begriff von Hegel im 18. Jahrhundert verwendet, wird massenhaft wirksam erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts und hält sich von da ab als höchste Form des Individualismus. Dieses Ensemble von Wertkomplexen rekurriert einerseits auf Werte als kulturelle Ausdrucksformen des Wünschenswerten, andererseits ist es eingebettet in die historische Erfahrungswelt der europäischen Gesellschaft. Europa blickt auf eine lange Geschichte von zwischenstaatlichen Kriegen und imperialen Hegemonieversuchen zurück, die ihren Höhe- und (vorläufigen) Endpunkt im 20. Jahrhundert gefunden hat. Eine erste Konsequenz aus diesem historischen Erfahrungsbündel ist der Versuch, kritische Bewertungsmaßstäbe zur Be- und Verurteilung dieser Taten und Untaten aus dem Hort der eigenen Traditionen aus griechischer und römischer Antike, dem Christentum, der Renaissance, Reformation und Aufklärung zu entwickeln. „Aufgrund dieser verwirrenden coincidentia oppositorum“, so Claus Offe (2001: 420), „stellt die selbstkritische Bewertung der Untaten, welche die Europäer in der eigenen Geschichte begingen, wiederum eine europäische Besonderheit dar.“ So hat der Holocaust, eine deutsche Untat von universeller Bedeutung, längst Eingang ins europäische und westliche kulturelle Gedächtnis (vgl. Zingerle 2006) gefunden als Menetekel für Gewalt, Krieg und Rassismus. Die Kultivation der öffentlichen Erinnerung daran wird als bestes Remedium angesehen, um durch kollektive Ächtung solche Vorgänge in der Zukunft undenkbar und – noch mehr – unmöglich zu machen. Eine zweite Konsequenz nach der Perhorreszierung von Gewalt ist der Umgang mit Konflikten. Schon früh sah man sich in Europa gezwungen, angesichts der Spaltungen und Konflikte (vgl. Rokkan 2000; Flora 2000) Mittel und Wege der Mediation, Einhegung und Teilung von dilemmatischen Problemsituationen zu finden. Die Lösung besteht zum einen in kreativen Formen institutioneller Arrangements zur Konfliktbewältigung (vgl. Dahrendorf 1965; Lepsius 1990; Offe 2001), zum anderen in Formeln des Ausgleichs durch Kompromissbildung. „Versöhnen statt Spalten“ (Johannes Rau) lautet das europäische Motto. So hat die Institutionalisierung des Klassenkonflikts in Europa etwa zur allmählichen Integration und Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppierungen geführt, und diese organische Solidarität in Europa wird durch entwickelte Wohlfahrtsstaaten abgesichert. 115
Eine dritte Konsequenz besteht darin, dass die europäische Schicksalsgemeinschaft aus ihren geschichtlichen Hypotheken durch kollektive Lernprozesse so etwas wie „historisches Kapital“ gebildet hat. So hat die erschütternde Erfahrung von Gewaltexzessen Europa gelehrt, den Krieg als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln abzulehnen. An seine Stelle tritt die Zivilisierung von Gewalt nach innen wie nach außen. Nach innen, denn in Europa ist die Todesstrafe abgeschafft und der private Waffenbesitz restriktiv reguliert. Nach außen, denn die Europäische Union ist nicht nur selbst ein multilaterales Gebilde, sondern Multilateralismus in Gestalt von Verhandlungen, Vereinbarungen und Kompromissen gehört zu dem bevorzugten institutionellen Instrumentarium ihrer Politik. Der Versuch, Frieden nach innen und außen zu regeln, hängt eng mit dem Umgang mit und den Einstellungen zu Religion und Kirche zusammen. Längst ist aus der ertragenen Differenz Toleranz und Anerkennung geworden, was der Säkularisierung Europas als historischer Grundlage und der Ökumene als bevorzugtem Medium des zwischenreligiösen Austauschs geschuldet ist. Der Frieden nach innen hilft zudem, die organisierte Solidarität in Gestalt einer öffentlichen sozialen Sicherung aufrechtzuerhalten, so dass idealiter kein Europäer sich plötzlich als Folge eines Schicksalsschlags nackt dem Hobbes’schen Naturzustand des „Kampfes aller gegen alle“ ausgesetzt sieht. 2.3 Das Prinzip der strukturierten Diversität Kulturelle Traditionen und Werte wie historische Erfahrungen haben nur dann die Aussicht, historisch-empirische Wirklichkeit zu werden, wenn sie in institutionellen Verhältnissen adäquat eingebettet und klug arrangiert sind. Die wichtigste institutionelle Erfindung Europas besteht sicher in der Kunst der produktiven Trennung. So verallgemeinert Jenö Szücs (1994: 26) die von Papst Gelasius I. (492-496) bereits im Frühmittelalter propagierte und dann von Thomas von Aquin im Herbst des Mittelalters kodifizierte Zwei-Gewalten-Lehre: „Diese Trennung der spirituellen und weltlichen, der ideologischen und politischen Sphären ist eine jener produktiven Separationen des Westens, ohne die weder die zukünftigen ‚Freiheiten‘ und die grundsätzliche Emanzipation der ‚Gesellschaft‘ noch die späteren Nationalstaaten, die Renaissance oder die Reformation vorstellbar sind.“ Dieses Prinzip der Institutionsbildung – die Kunst der produktiven Separation – lässt sich verallgemeinern: „Gott und Natur – auch hier liegt vom religiösen 116
Konzept her eine ‚produktive Trennung‘ vor. Die Beispiele ließen sich ergänzen z.B. um Sakralsprache und Nationalsprache, Kirchenrecht und profanes Recht oder Theologie und Philosophie bzw. insgesamt Religion und Wissenschaften“ (Mitterauer 2003: 294). Das lässt sich fortsetzen mit zwei weiteren, entscheidend wichtigen Trennungen, der Freiheit von Lohnarbeit und Kapital (Karl Marx) und der Trennung von Haushalt und Betrieb (Max Weber), ohne die der moderne Kapitalismus keine Entwicklungschance gehabt hätte und die erst die Differenzierung von Wirtschaft und Gesellschaft eingeleitet haben. Soziologisch gewendet und abstrakt formuliert ist die europäische Gesellschaft als ein Produkt institutioneller Differenzierungsprozesse zu verstehen. Wenn diese Prozesse die Logik und Dynamik der europäischen Gesellschaft definieren, dann muss sich die strukturierte Diversität über den Mechanismus kunstvoller Separation hinaus in einer vergleichbaren institutionellen Konfiguration wie auch in ähnlich gearteten Institutionen wiederfinden lassen. Freilich, strukturierte Diversität heißt gerade nicht monistische Einheit, sondern geordnete, aber begrenzte Vielfalt. Das Strukturprinzip lässt stets unterschiedliche Strukturformen zu, weil ansonsten die Rede von Diversität leer und die Wirklichkeit der Vielfalt bloße Behauptung bliebe. Aber deren Familienähnlichkeit als europäisch muss stets noch erkennbar bleiben, wenn strukturierte Diversität nicht einfach eine neue europäische Ideologie werden soll. Tatsächlich findet sich in Europa überall eine vergleichbare institutionelle Konfiguration, die durch Differenzierungs- und Rationalisierungsprozesse in den vergangenen Jahrhunderten entstanden ist. Die Trennung von Wirtschaft und Gesellschaft hat zur Etablierung kapitalistischer Marktwirtschaften beigetragen; die Trennung von Religion und Politik hat zu säkularen Demokratien geführt; die Trennung von Religion und Wissenschaft hat bewirkt, dass Wissenschaft und Technik zur ersten Produktivkraft im Zeitalter der Wissensgesellschaft geworden sind. In ganz Europa gewährleisten die „Herrschaft des Gesetzes“ (Berman 1991) und der Rechtsstaat die Kalkulierbarkeit aller möglichen Formen des Handelns. In der säkularisierten europäischen Gesellschaft darf Religion als Privatsache behandelt werden, also als eine Frage der freien Wahl und des freiwilligen Engagements ohne staatliche oder kirchliche Bevormundung. Diese Einrichtungen gelten mittlerweile als so selbstverständlich, dass sie als natürlich angesehen werden. In Europa bedeutet es buchstäblich, Eulen nach Athen zu tragen, wenn man 117
an diese institutionellen Errungenschaften erinnert. Und dennoch gelten sie in Westeuropa uneingeschränkt erst seit 1945 und in Osteuropa erst seit 1989. Die institutionelle Infrastruktur in ihrer modernen Konfiguration ist trotz ihrer historischen Ursprünge und Vorläufer recht junger Natur. Hartmut Kaelble (1987, 1997, 2005) ist noch einen Schritt weiter gegangen und hat nicht nur die Vergleichbarkeit der institutionellen Konfiguration Europas behauptet, sondern die Ähnlichkeit der Institutionen selbst herausgearbeitet. Er nennt sechs solcher institutionellen Komplexe als Basis der europäischen Gesellschaft: Erstens existiert so etwas wie eine europäische Familienform, wie die historische Familienforschung gezeigt hat (Laslett 1988; Mitterauer/Sieder 1977; Rosenbaum 1982). Ein höheres Heiratsalter, eigene Haushaltsgründung, folglich ein geringerer Grad von DreiGenerationen-Familien, die geringere Geburtenrate im Vergleich zu anderen Teilen der Welt sowie ein höherer Grad von Privatheit und Intimität sind einige Kennzeichen dieses europäischen Familienmusters. Zweitens, und das hat schon Max Weber (1972a) demonstriert, gibt es einen europäischen Typus von Stadt. Die europäische Stadt ist nicht nur der Hort von Bürgerund Freiheitsrechten, sondern ist Industrie-, Gewerbe- und Handelsort und erst in zweiter Linie Herrschafts- und Verwaltungszentrum. Zudem überwiegen mittelgroße Städte und es gibt weniger Großstädte als in anderen Teilen der Welt. Ferner gibt es eine kontinuierliche Stadtplanung, die für die Aufteilung von öffentlichem und privatem Raum sorgt, aber auch für städtische Sozialpolitik. Drittens, der Wohlfahrtsstaat und die „europäische Pfadabhängigkeit der öffentlichen sozialen Sicherung“ (Kaelble/Schmidt 2004: 12) erlauben die Rede von einem „europäischen Sozialmodell“ mit vielen Gemeinsamkeiten, aber in durchaus unterschiedlichen Typen, Formen und Leistungsprofilen (vgl. Esping-Andersen 1990, 1999; Scharpf/Schmidt 2000; Alber/Kohl 2001; Leibfried/Pierson 1998; Schmid 2002). Dennoch überwiegt programmatisch und performatorisch in allen europäischen Ländern das Ziel von sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit, die vor allem die sozialen Ungleichheiten in Europa (vgl. Mau 2006) in einer egalitaristisch vertretbaren Bandbreite halten sollen. Elementare Versorgung und keine zu großen Unterschiede zwischen Armut und Reichtum, ja die Beseitigung von Armut machen die Eigenart des europäischen Sozialmodells aus. Dabei spielt aus verständlichen Gründen Osteuropa eine andere Rolle, weil hier bis 1989 andere Formen der Versorgung vorherrschten und danach sich die meisten EU-Beitrittskandidaten einen teuren Sozialstaat westeuropäischen 118
Zuschnitts kaum leisten konnten. Viertens, und in engem Zusammenhang mit Familie und Wohlfahrtsstaat, steht der Komplex von Arbeit, Beruf und Industrie. Eine hohe Wertschätzung von Beruf und Erwerbsarbeit, die vor allem im industriellen Sektor ausgeübt wurde und wird, wird begleitet von einer strikten Trennung von Arbeit und Freizeit, einer Verkürzung der Arbeitszeit und großzügigen Urlaubs- und Feiertagsregelungen. Westeuropäer arbeiten weniger, verdienen mehr und haben mehr Freizeit als etwa Amerikaner oder Japaner. Fünftens sind die soziale Schichtung und die sozialen Milieus in Europa durchaus vergleichbar – ein Erbe der feudal-ständischen Gesellschaft wie der entstandenen Industriegesellschaft: Das tonangebende Besitz- und Bildungsbürgertum, das Kleinbürgertum, die Arbeiter- und Bauernschaft sowie der Adel formen distinkte Sozialmilieus, die sich aber mit der Wohlstandswelle von den 1950er bis in die 1970er Jahre stark abgeschwächt haben. Das hat, sechstens, vor allem mit der Herausbildung des europäischen Massenkonsums und der Vereinheitlichung von prosperitätsinduzierten Lebensstilen zu tun. Breiter Wohlstand, breite Partizipation an Massenkonsum und Reisen haben die Klassenunterschiede verblassen lassen, wenn auch soziale Milieus in der europäischen Erlebnisgesellschaft durchaus noch erkennbar bleiben (Schulze 1992; Vester et al. 2001; Hradil 1987; Müller 1993). 2.4 Die europäische Gesellschaft als Erfahrungsraum und Erwartungshorizont Es sind aber nicht nur die europäischen Traditionen und Werte, die historischen Erfahrungen, die institutionelle Konfiguration und die einzelnen Institutionen, welche die Rede von einer europäischen Gesellschaft rechtfertigen. Vielmehr sind es vielfältige Prozesse, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg zur Abmilderung der innereuropäischen Unterschiede, zur wachsenden Harmonisierung und Konvergenz und zur stärkeren innereuropäischen Verflechtung geführt haben (vgl. Kaelble 2005). Diese Kommunikations-, Interaktions-, Transaktions- und Austauschprozesse führen zur Erhöhung und Verdichtung des gesellschaftlichen Verkehrs in Europa. Luhmanns (1997) Definition von Weltgesellschaft als „kommunikativer Erreichbarkeit“ trifft also vor allem und in besonderem Maße auf die europäische Gesellschaft zu. Es gibt eine Reihe von Faktoren und Ursachen für diese Entwicklung: ein halbes Jahrhundert von Frieden und Demokratie, der gestiegene 119
Wohlstand und zunehmende Lebenschancen, seit den 1980er Jahren die Globalisierung, aber auch Europäisierung, die Informations- und Kommunikationsrevolution und die Politik der Angleichung und Harmonisierung der EU etwa in Gestalt der vier Grundfreiheiten. All das macht Europa zu einem immer vertrauter werdenden Erfahrungsraum und stets relevanter werdenden Erwartungshorizont für Europäer wie Nicht-Europäer. „Europe matters“ – und zwar in allen Lebensbereichen, ob man das mag oder nicht, und das steigert die Europäizität der Alltagserfahrung. In Europa ist Europäisierung eine ebenso mächtige Kraft wie die Globalisierung (vgl. Fligstein/Merand 2002). Da ist der Bologna-Prozess (vgl. Wolter 2006; Hettlage/Müller 2006), welcher die Bildungs- und Ausbildungswege europäisiert. Schon davor sorgten die Erasmus- und Sokrates-Programme für Mobilität von Studenten und Dozenten in Europa. Gleichzeitig ist Europa schon heute neben den USA der größte Ausbilder für die Eliten aus aller Welt. Da ist die Europäisierung der Arbeitsmärkte, die berufliche Migration und Beschäftigung von jungen Arbeitskräften in verschiedenen Ländern. Da ist der Lissabon-Prozess als der Versuch, Europa zur produktivsten Wirtschaftsregion und zum innovativsten Wissensraum der Welt zu machen. Da ist die enorme Reisetätigkeit, sei es aus professionellen Interessen, sei es aus touristischer Neugier. Europa ist zugleich „der größte Tourismusmagnet der Welt. Im Jahr 1998 kamen rund 500 Millionen Touristen nach Europa, in die USA dagegen rund 15 Millionen, nach China rund 7 Millionen, nach Indien nur rund 2 Millionen“ (Kaelble 2005: 325). Wenn es indes um Paradigmen und Modelle für die Welt von morgen geht, fällt als Folge der Medien- und Sprachhegemonie das helle Licht zunächst auf die anglo-amerikanische Welt, ihrerseits Weltmeister in der euphemisierenden Selbstdarstellung und -vermarktung. Der alteuropäische Kontinent zieht im grellen Scheinwerferlicht dabei stets den Kürzeren: alt, starr, verkrustet und inflexibel. Genüsslich werden die Probleme des alten Kontinents aufgezählt, wie die demografische Schrumpfung, die ökonomische Wachstumsschwäche, die hohe Arbeitslosigkeit, die Zweitklassigkeit der Bildungseinrichtungen, die niedrigen Ausgaben für Bildung und Forschung. Das ewig gleiche Resultat dieses Diskurses ist seit Jahrzehnten Stagnation und Eurosklerose (Lacqueur 2005). Doch Totgesagte leben bekanntlich länger und immer dann, wenn Europa in einer seiner periodischen Krisen landet, springt überraschenderweise der Motor der europäischen Dynamik (Vobruba 2005) wieder an. 120
Abbildung:
Die europäische Gesellschaft
Dimensionen Ebene
Begriffe der Gesellschaft
Regulierungsmodus
Weltgesellschaft globale oder internationale Governance
Globalisierung
global
historische Kontinuität
europäische Gesellschaft
institutionelle Konvergenz
-Traditionen -Werte -Erfahrungen
strukturierte Diversität
-Politik -Ökonomie -Recht EU
europäisch Gemeinsamkeiten
„Gemeinschaft“?
Vereinheitlichung
Europäisierung
national
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Nationalgesellschaft bzw. Nationalstaat
nationale Regierungen
Die europäische Gesellschaft und die zeitgenössische Moderne
Zusammengefasst scheint die europäische Gesellschaft nicht nur eine soziologische Schimäre oder eine normative Vision zu sein – obwohl sie Letzteres durchaus auch ist. Vielmehr verkörpert sie nicht nur eine historische Erfahrungs- und Schicksalsgemeinschaft, sondern auch eine Wirtschafts-, Arbeits-, Bildungs-, Solidaritäts-, Rechts-, Religions- und Kulturgemeinschaft. Zusammengehalten und vorangetrieben wird sie durch eine politische Gemeinschaft, die Europäische Union, die, ohne selbst Staat zu sein, mehr und mehr hoheitliche Aufgaben in enger Kooperation mit den europäischen Nationalstaaten und Regionen vollbringt. Wie weit dieser Prozess schon gediehen ist, zeigt ein Blick auf den eindrucksvollen Stand der „Aufgabeneuropäisierung“ (Schmidt 2005). „In zahlreichen Bereichen – Binnenmarkt, Landwirtschaft, Beschäftigung, Migration, Justizwesen, Verkehr, 121
Währung, Sozialpolitik, Industrieentwicklung, Regionalförderung, Umwelt, Energie, Forschung und Bildung (…) – beanspruchen mittlerweile Leitprinzipien, Normen sowie Rationalitätskriterien Geltung, die in transnationalen Arenen paktiert oder durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes eingeführt wurden. (…) ‚Europäische‘ Leit- und Rationalitätskriterien durchdringen die Mitgliedstaaten und befestigen so die Definitionsund Regelungshoheit der europäischen Organe“ (Bach 2008: 8f.). Zugleich hat die europäische Gesellschaft eine chamäleonartige Gestalt: halb latente, halb manifeste Tendenz, halb unsichtbar, halb sichtbar, halb empirisch erfahr- und analytisch erfassbar, halb normativ erwünscht oder vehement abgelehnt. Die europäische Gesellschaft bietet weniger an Ordnung, Kohäsion, Integration und Solidarität (und damit „Heimat“) als die alte Nationalgesellschaft, aber deutlich mehr als der kommunikative Fluchtpunkt der Weltgesellschaft. Trotz ihrer Symbolik und ihres kollektiven Gedächtnisses vergesellschaftet sie durch Regeln und Regulationen, orientiert an sachlichen Rationalitätsstandards und pragmatischen Kompromissen, denn dass sie durch eine gemeinsame wertrationale Moral vergemeinschaftet und affektiv bindet. Sie riecht eher nach Schweiß denn nach Blut, ist eine Sache der Vernunft, nicht der Leidenschaft, und lädt zu kognitiver, nicht emotionaler Identifikation ein. Auch darum ist sie eher ein Projekt der Eliten in Europa, während sie die Massen buchstäblich kalt lässt. Für „Nationalisten“ beziehungsweise am Modell des demokratischen Nationalstaats orientierte Vertreter ist die Europäische Union ein neues „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ (Weber 1972b), eine Art von „Eurokratie“ mit Brüssel als Kommandozentrale, und die europäische Gesellschaft gilt ihnen als eine gefährliche Illusion. Es ist von „Europa-Chauvinismus“ und dem „Hochmut der Institutionen“ (Vaubel 2001) die Rede, von der europäischen Integration als einem Eliteprozess (Haller 2008) beziehungsweise einer technokratischen Bürokratie statt von demokratischer Integration. Es wird vor allem vor den fünf Mythen des europäischen Integrationsprozesses gewarnt, welche Europa als normatives Modell weiterer gesellschaftlicher Entwicklung so attraktiv machen: die Demokratisierbarkeit, die Staatlichkeit, die europäische Nationswerdung, die europäische Verfassung sowie die europäische Identität (Bach 2008). Für „Integrationisten“ und Europa-Befürworter gleicht die Europäische Union eher einem „schöpferischen Gehäuse der Hörigkeit“ (Simmel 1987), das mit seinem ewigen Gestalt-, Größen- und Aufgabenwandel dem 122
lebensphilosophischen Prinzip des „Stirb und Werde“ zu folgen scheint. Die europäische Gesellschaft wird als natürliche Realität akzeptiert, und was Grad, Ausdehnung und Durchsetzung angeht, wird nach „mehr Europa“ verlangt. Nicht selten wird Europa als letzte Utopie, als erstrebenswertes Ideal und als normative Vision angesehen, die Zukunftsfähigkeit für die Menschen dieses Kontinents verheißt. Europa als Vorbild heißt dann das Streben nach Frieden, Freiheit, Wohlstand, Demokratie und Menschenrechten nicht als genuin europäisches Privileg, sondern als kosmopolitisches Programm. Kurz: das kosmopolitische Europa (Beck/Grande 2004; Rumford 2007). Soziologisch gilt dennoch: „L’Europe est un objet non identifié.“ Was Jacques Delors für das politische Europa feststellte, kann auch für die europäische Gesellschaft gelten: „L’Europe forme une société non identifiée.“ Vielleicht ist die europäische Gesellschaft noch nicht identifiziert – soziologisch gewendet noch nicht theoretisiert, systematisiert und analysiert, obgleich die theoretischen Anstrengungen in jüngerer Zeit beachtlich ausfallen (vgl. Bach 2008; Delanty 2006; Delanty/Rumford 2005; Giddens 2007; Habermas 2008; Müller 2007a; Münch 2008; Outhwaite 2008). Das bedeutet indes keineswegs, dass es sie nicht als Realität sui generis gibt. Die wichtigsten Stichworte zur Charakterisierung der europäischen Gesellschaft lauten systematisch: strukturierte Diversität als Leitmotiv, die Dialektik von Einheit und Differenz als Motor, die kulturellen Traditionen und Werte Europas ebenso wie seine historischen Erfahrungen im 20. Jahrhundert, die Kunst der Separation und die Logik institutioneller Differenzierung, die institutionelle Konfiguration und die Institutionen selbst als ihr Ergebnis. Die evolutionäre Dynamik Europas folgt keinem groß angelegten und von langer Hand geplanten ideellen Entwurf. Seine Verfasstheit ist vielmehr Folge kollektiver Lernprozesse. Vielleicht ist ja das Geheimnis Europas, dass die europäische Gesellschaft selbst ein Nebenprodukt des fortschreitenden Integrationsprozesses ist: von keinem geplant, von einigen gewünscht, von anderen umso vehementer abgelehnt. Was daran ist modern, was ist europäisch? Europa und die europäische Gesellschaft ähneln von Beginn an und im Prinzip der Moderne als Programm und als Projekt (Habermas 1985). Es gilt zwar das Prinzip der Historizität als Leitidee gesellschaftlicher Entwicklung und gerichteten sozialen Wandels, wie auch die Moderne ihre Leitideen (Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit) und Kerninstitutionen (wie Kapitalismus, Demo123
kratie, Wissenschaft und Technologie, Individualismus und Menschenrechte) weiter elaborieren und bei Fehlentwicklungen revidieren können muss. Aber über dieses selbstreflexive Monitoring der eigenen Entwicklung am Maßstab der Historizität hinaus gibt es weder Telos noch Stillstand, sondern das ewige Werden und die kontinuierliche Amelioration in kleinen Schritten. Fortschritt ist eine Schnecke, das gilt hier wie dort. Mit der globalen Ausbreitung der Moderne und der Entstehung multipler Modernen hat jedoch die Varietät dessen, was als „Modernität“ gelten darf, enorm zugenommen. Wie wir eingangs gesehen haben, wird ökonomische und technologische Modernisierung mittlerweile ohne das ursprünglich europäische Handgepäck, also Demokratie und Individualismus, vorangetrieben, was aus europäischer Sicht zu „defekten Modernen“ führt – ohne demokratische Mitbestimmung und ohne individuelle Freiheitsrechte im Rahmen eines verlässlichen Rechtsstaats. Dennoch dürfen Russland und China etwa als „multipel modern“ gelten, folgt man der großzügigen Devise des von Eisenstadt (2002) angestoßenen Diskurses. Jedem Land und jedem Kontinent seine Moderne als global geltendes, demokratisches Diskursrecht zuzugestehen, weicht nicht nur die Konturen des Begriffs auf, was einmal als „modern“ (Berger 2006) und „Modernisierung“ (Zapf 2006) angesehen wurde; es hat auch für den Diskurs über Europa unintendierte und perverse Effekte. Hier, wo einst die Wiege der Moderne stand, was auch mit Abstrichen vom postkolonialen Diskurs nicht völlig geleugnet wird, scheint es heute nur noch „Modernität“, aber keine „Europäizität“ mehr zu geben. Wie ist das möglich? Zwar dürfen alle Regionen und Länder, sofern sie sich auf den Modernisierungspfad begeben, ihre eigene Moderne für sich reklamieren, nur Europa scheint mit der „Moderne-Moderne“ ohne europäische Eigenart zurechtkommen zu müssen. So behauptet John Meyer (2005: 164): „Europa beruht zwar auf einer kulturellen institutionellen Grundlage, aber nicht auf einer primordialen und expressiven. Vielmehr besteht die institutionelle Grundlage Europas aus einem Bündel rationalistischer kultureller Modelle.“ Mit anderen Worten: Die Verfasstheit Europas ist modern, aber nicht genuin „europäisch“. Ähnliches konstatiert Maurizio Bach (2008: 15) in seiner Diskussion der Frage, „ob die Europäische Verfassung einen spezifischen europäischen Eigenwert darstellen würde, auf dem eine europäische Identifikation aufbauen könnte. Ihre politischen Leitideen und Wertbindungen – Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Marktwirtschaft – sind weitgehend Derivate der Mitgliedstaaten oder globaler Modelle mit universalistischem An124
spruch. Die Europäische Union repräsentiert in ihrem Wertekanon insofern eher ein universales ‚Weltmodell‘ als ein spezifisch europäisches Wertemuster.“ Gleichgültig ob aus Weltsystemperspektive oder aus einem institutionalistischen Ansatz heraus fällt es offenkundig schwer, angesichts von Globalisierung und Universalisierung noch so etwas wie „europäische Positivität“ primordialer oder expressiver Natur aufzufinden. Wie bizarr diese Argumentation operiert, lässt sich im Rückblick auf klassische europäische Bestände ermessen: Die griechische Philosophie hatte nicht nur zum Ziel, die griechischen Stadtstaaten vorbildlich und verbindlich zu regieren, sondern sollte Modelle guter sozialer Ordnung mit universalem Anspruch für alle Gesellschaften bereitstellen – sonst hätten diese Entwürfe wohl kaum den Test der Philosophie bestanden. Das römische Recht wurde vor allem mit Blick auf die Regelung der Belange des römischen Imperiums entwickelt. Was sich für die erfolgreiche Regierung eines Weltreichs bewähren würde, konnte nach Ansicht der Römer ruhig von anderen Völkern und Regierungen übernommen werden î und das bis auf den heutigen Tag. Das Christentum als monotheistische Weltreligion galt zwar vor allem für die eigenen Gläubigen, aber ebenso wie im Judentum und im Islam verbergen sich in diesen Lehren verallgemeinerungsfähige Modelle zur Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch, Religion und Gesellschaft. Kurz und nochmals wiederholt: Genese und Geltung gilt es wie globale Ausbreitung und universelle Bedeutung stets zu trennen. Nur weil bestimmte Errungenschaften zufällig auf europäischem Boden entstanden und von da aus ihren Siegeszug durch die Welt angetreten haben, verlieren sie deshalb noch lange nicht ihre europäische Imprägnierung. Zwar gilt: Was europäisch war, kann modern werden. Der Umkehrschluss – nach dem Motto: wenn etwas modern geworden ist, ist es nicht mehr europäisch, sondern eben modern – ist indes irreführend. Dagegen gilt es festzuhalten: Es kann etwas modern sein und doch europäisch bleiben. Die europäische Gesellschaft ist sicherlich modern, aber nicht nur î in ihrer Eigenart und Einzigartigkeit darf sie eben als spezifisch europäisch gelten. Es kommt ja nicht nur auf Werte und Traditionen, Regeln und Institutionen an sich an, sondern stets auf ihre Kombination und die daraus resultierende institutionelle Konfiguration und Konstellation je nach Situation und Kontext. Das macht Webers Redeweise von einem „historischen Individuum“ mit Nachdruck deutlich. Die europäische Gesellschaft nach dem hier entwickelten Verständnis ist nicht nur europäisch, weil sie in und 125
für Europa gilt – das auch. Sondern sie ist europäisch, weil sie ein neuartiges und in diesem Sinne eigenartiges und einzigartiges Verständnis von „Sozietalität“ nahe legt, was in dieser Form nirgendwo sonst auf der Welt bislang realisiert worden ist. Die europäische Gesellschaft, so meine abschließende These, ist daher die jüngste Stufe der europäischen Moderne. Sicher î die einstmalige Trias gilt nicht mehr: Europa, der Westen und die Moderne. Was eins war, hat sich in Raum und Zeit ausdifferenziert und multiple Modernen ermöglicht. Aber die europäische Gesellschaft, die sich auf europäischem Boden in den letzten 50 Jahren herausgebildet hat, ist modern und europäisch. Die Besonderheit dieses „historischen Individuums“ markiert Differenz, Andersund Neuartigkeit, aber stellt keinen Anspruch auf Superiorität oder Suprematie. Es darf als zweifelhaft gelten, dass andere Weltregionen und -kulturen dem europäischen Modell folgen werden – dazu sind die historischen Voraussetzungen und Erfahrungen zu unterschiedlich. Aber als ebenso offen und kontingent darf gelten, ob diese Entwicklung gut oder schlecht ist, Fort- oder Rückschritt verheißt. Das wird erst die Zukunft zeigen. Literatur Alber, Jens und Jürgen Kohl, 2001: Arbeitsmarkt und Sozialstaat. Wiesbaden: Chmielorz. Anderson, Benedict, 2003: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso. Bach, Maurizio, 2008: Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der Europäischen Integration. Wiesbaden: VS. Beck, Ulrich und Edgar Grande, 2004: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der zweiten Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Berger, Johannes, 2006: Die Einheit der Moderne. S. 201-226 in: Schwinn 2006. Berman, Harold, 1991: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Crouch, Colin, 1999: Social Change in Western Europe. Oxford: Oxford University Press. Dahrendorf, Ralf, 1965: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München: Piper. Delanty, Gerard (Hg.), 2006: Europe and Asia beyond East and West. London: Routledge. Delanty, Gerard und Chris Rumford, 2005: Rethinking Europe: Social Theory and the Implications of Europeanization. London: Routledge. Eisenstadt, Shmuel N. (Hg.), 2002: Multiple Modernities. New Brunswick/London: Transaction Publishers. Esping-Andersen, Gøsta, 1990: The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge: Polity Press.
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II Die territoriale Zuschreibung von Gesellschaft
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Räume und Grenzen in Europa. Der Mehrwert soziologischer Grenz- und Raumforschung für die Europasoziologie Monika Eigmüller
Fest steht: Im Zuge von Globalisierung und Europäisierung haben sich die Raumbezüge von Politik und Gesellschaft verändert. Aber wie genau gestaltet sich das Verhältnis von Raum und Gesellschaft heute? Was ist neu und was ist anders? Zunächst einmal scheint es die Definition des Raumbezugs zu sein, die an Selbstverständlichkeit verliert: Im postnationalen Raum eines politisch vereinigten Europa wird die Eindeutigkeit nationaler Bezugssysteme durch die Mehrdeutigkeit unterschiedlicher Mitgliedschaftsräume und nach wie vor verhandelbarer Territorialräume abgelöst (Bös 2000, 2006). Die „Raumbindung kollektiver Identitäten“ (Bach 2009), die durch die Erfindung der Nation erst Gestalt annehmen konnte, gerät so nun ins Wanken. Die wesentliche Frage ist: Werden diese Raumbindungen, die Zusammenkunft von Territorialem, Politischem und Sozialem, nun in der Ära des Post-Nationalen ersatzlos gestrichen? Oder aber doch transformiert? Und wenn ja, wie und wohin? Und schließlich: Welcher Beitrag kommt bei der Bearbeitung dieser Fragen soziologischer Raum- und Grenzforschung zu? Maurizio Bach nähert sich dem Thema ausgehend von einem Blick auf die Staatsgrenzen. Grenzen unterliegen in diesem Prozess selbst einer entscheidenden Transformation: Erwiesen sie sich in Zeiten des Nationalstaats sowohl als Konflikt- wie auch als Kontaktzonen, die nicht nur eine territoriale Marke darstellten, sondern zugleich Sprach-, Kultur- und damit auch Identitätsgrenzen bildeten, sind genau diese Funktionen der EU-Außengrenze (bislang) fremd. Wesentliche Funktion nationalstaatlicher Grenzen und Voraussetzung für den Erhalt des gesamten Systems war die Differenzierung zwischen Inklusion und Exklusion. Die exkludierende Funktion ist im Zuge der Abschaffung der europäischen Binnengrenzen im Rahmen des Schengener Ab133
kommens inzwischen komplett an die EU-Außengrenze übertragen worden. Die zugleich stattfindende „Erosion nationalstaatlicher Inklusion“ (Halfmann 2002: 271) lässt hingegen nach wie vor eine Lücke aufscheinen, zeigt sich doch bislang noch kein neuer (territorialer) Rahmen, in dem diese organisierbar wäre: Denn „aufgrund des expansiven und kontingenten Charakters, der äußerst vagen geographisch-kulturellen Identität sowie der weder territorial noch kulturell begrenzbaren, sondern globalen Wertebasis der EU eignen sich ihre Außengrenzen nicht zu einer territorialen Fixierung und Raumbindung des transnationalen Integrationsprojekts“ (Bach in diesem Band: 175) Vielmehr beschreiben die neuen europäischen Außengrenzen bislang nicht mehr – aber auch nicht weniger – als den Geltungsraum europäischen Rechts und werden somit, im Gegensatz zu nationalstaatlichen Grenzen, zu einem Verhandlungsgegenstand – zumindest solange die Frage der finalité Europas eine ungeklärte bleibt. Und tatsächlich scheint genau dies – zumindest aus einer grenzsoziologischen Perspektive –, die entscheidende Frage zu sein. Denn so unterschiedlich sich die verschiedenen nationalstaatlichen Grenzen im Laufe der Geschichte auch materialisiert haben, so unterschiedlich sie in ihrem Bestand geschützt und verteidigt wurden: Alle diese Grenzen zeichnen sich durch einen durchgehenden, linearen Grenzverlauf aus, eine Grenzlinie, die das ganze Territorium umschloss und auf das Engste mit staatlicher Souveränität und Machtausübung verbunden war. Genau diese Verbindung der Grenze mit dem sie umschließenden staatlichen Machtbereich lässt allerdings die präzise Festlegung des Grenzverlaufs in Form einer Demarkationslinie zur Notwendigkeit werden (Horn et al. 2002: 12). Betrachten wir den historischen Prozess der Herausbildung der modernen Nationalstaaten, dann zeigt sich die Bedeutung von Grenzbildung und Grenzverlauf für die je spezifische Gestaltung der Gesellschaft sehr deutlich, gingen doch mit jeder Grenzetablierung zum einen Abgrenzungsprozesse nach außen und zum anderen Integrationsprozesse im Innern einher. Und wenngleich die Grenzziehung selbst stets Ergebnis politischer Absichten war, war die tatsächliche Etablierung der Grenze zumeist erst das Ergebnis eines längeren diskursiven Prozesses, an dessen Beginn nicht selten das Konzept der so genannten „natürlichen Grenzen“ bemüht wurde, angereichert mit weiteren einheitsschaffenden Symbolen, wie etwa einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen Geschichte und Kultur, um so schließlich das
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Konzept des einheitlichen Staates im Innern zu untermauern.1 Letztlich konnte sich so die Idee einer quasi natürlichen Einheit zwischen Nation, Staat und Territorium herausbilden. Und auch diese Idee der Einheit von Territorium, Volk und Nation in bestimmten gegebenen Grenzen war eine durchaus machtvolle, die je nach politischem Bedarf interpretiert und definiert wurde: Denn ebenso wie hierdurch das Konzept des Einheitsstaats durchgesetzt werden konnte, wurden auch, je nach politischem Bedarf, Expansionspläne, also die Ausweitung des territorialen Geltungsraums hierüber gerechtfertigt. Auch die Grenzen der Nationalstaaten sind also weder gegeben noch unveränderbar, sondern ebenso nur das Ergebnis politischer Interessen und Verhandlungen um die territoriale Verfestigung homogener Kontrollräume (Horn et al. 2002: 16; Eigmüller 2008). Dabei entstehen sie allerdings nicht alleine in Verhandlungen zwischen zentralstaatlichen Akteuren, sondern insbesondere auch in den Auseinandersetzungen zwischen lokalen Akteuren in den betreffenden Grenzregionen (vgl. Sahlins 1989; Saurer 1989). Nicht nur, wie etwa von Simmel (1903) angenommen, sind Grenzen zunächst soziologische Tatsachen, die sich schließlich räumlich formen, sondern auch umgekehrt können wir in der Geschichte der nationalstaatlichen Grenzentstehung vielfach Prozesse beobachten, in denen erst in der Auseinandersetzung der lokalen Bevölkerungen mit der Grenze eine überhaupt gesellschaftlich relevante Grenze entstehen konnte – indem etwa lokale Konflikte in nationale transformiert und an die Zentralstaatlichkeit im Zentrum adressiert wurden.2 Auch die der Grenze zugeschriebenen Funktionen der Exklusion und der Inklusion verändern sich stets mit der Grenze und ihrem Verlauf; so können wir in der Geschichte der nationalstaatlichen Grenzziehungen etwa 1
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Wenngleich diese so genannten „natürlichen Grenzen“, also Berge, Flüsse, Seen, zunächst keine unüberwindlichen Hindernisse darstellten, kam es doch im Zuge der Umdefinition in Grenzen, die dann befestigt wurden, zur Wahrnehmung dieser Grenzen als unüberwindlich. Diesen Prozess zeichnet Peter Sahlins eindrucksvoll in seiner Studie zur Entstehung der Grenze zwischen Frankreich und Spanien in den Pyrenäen nach, wo eine zunächst recht willkürlich gezogene und zudem vollkommen bedeutungslose Grenze, die durch ein sprachlich, religiös und kulturell homogenes Gebiet verlief, in einem mehrere Jahrhunderte dauernden Prozess der Auseinandersetzungen zwischen lokalen Akteuren schließlich in die Grenze zwischen zwei Nationalstaaten transformiert wurde und aus Katalanen schließlich Spanier und Franzosen machte (vgl. Sahlins 1989, 1998).
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beobachten, wie durch die „Schaffung und Abschaffung staatlicher Grenzen Mitgliedschaften politisch (gewaltsam oder friedlich) verändert“ wurden (Bös/Zimmer 2006: 161). Gleiches gilt auch heute für die Europäische Union: Auch hier wird durch eine Veränderung der Grenzverläufe (beziehungsweise einer Veränderung des Geltungsraums von Recht und Souveränitäten) das bislang existierende Ordnungsmodell irritiert. Die Frage ist nun, ob auch in diesem Fall aus dem zunächst neuen, heterogenen politischen und sozialen Raum „durch Institutionalisierung schließlich ein immer homogenerer sozialer, politischer und rechtlicher Raum geschaffen“ werden kann (ebd.). Wie oben bereits beschrieben reicht es allerdings nicht aus, allein die zentralen Prozesse der Institutionalisierung und die Versuche politischer Steuerung zu analysieren; vielmehr ist es notwendig, den Blick auch in die Peripherie und in die Grenzräume selbst zu lenken, denn auch für die EU gilt, dass sie am Besten von ihren Grenzen her verstanden werden kann (Vilar 1985; Mau 2006). Und das heißt, neben eine Analyse Brüsseler Politik und der hier zentral geschaffenen Institutionen eben auch die lokalen Gesellschaften und deren Interessen an einer vertieften Europäisierung in den Blick zu nehmen. Genau in diesem Verständnis liegt schließlich der Schlüssel zu dem, was soziologische Grenzforschung für die Europasoziologie an Erklärungskraft zu bieten hat. Das lenkt den Blick von der Grenze auf den Raum und auch hier auf die Frage, ob Räume mehr sind als nur der Ausdruck spezifischer gesellschaftlicher Verhältnisse. Wirken Räume ebenso strukturierend auf die Gesellschaft zurück, wie wir es bei Grenzen beobachten können? Und wie gestaltet sich dieses Verhältnis von Raum und Gesellschaft in Zeiten der Europäisierung? Welche Räume sind es, die nun, angesichts der zunehmenden Auflösung nationalstaatlicher Bindungskräfte wichtig werden? Anscheinend tragen alte Kategorien und Konzepte hier immer weniger und braucht es neue Modelle, um die Restrukturierungsprozesse und die neuen räumlichen Gegebenheiten, die sie produzieren, angemessen zu erfassen. Nicht ein Verständnis von Raum als eine vorgegebene und feststehende territoriale Einheit scheint hier sinnvoll, sondern vielmehr eine Interpretation von Raum als „sozial konstruierte und historisch sich verändernde Größe“, der „Ordnungs-, Habitualisierungs- und Konventionsschemata erzeugt“ (Löw in diesem Band: 49) und damit selbst zur strukturierenden Kraft wird. Dabei steht nun aber eben nicht mehr der Territorialstaat als wesentliche Einheit im Vordergrund, sondern neben der nationalen geraten nun 136
auch globale, regionale und urbane Formen vermehrt in den Blick, die die territoriale Dimension Europas ausmachen. Zwar leben die Menschen nach wie vor in Nationalstaaten, aber diese sind nicht länger selbstverständlicher Rahmen und primärer Bezugspunkt sozialen Handelns oder gesellschaftlicher Identitätsbildungen. Vielmehr können wir feststellen, dass es zu Ergänzungen und Überlagerungen kommt, sich multiple Identitätsbezüge herausbilden, in denen die lokale neben der nationalen und der globalen Ebene steht, und damit letztlich die nationale Ebene in ihrer Strukturierungskraft deutlich beschnitten wird. Und dieser Wandel der Raumkonfigurationen zwingt letztlich zu einer Reformulierung des Raumkonzepts. Greifen wir etwa den Vorschlag der Betrachtung von Räumen in Scales auf und trennen uns von einer Betrachtungsweise, die die Welt in Makro-, Meso- und Mikroebenen einteilt, dann eröffnet sich die Möglichkeit, Stadt als hierzu quer liegende Einheit zu verstehen, als eine Art Prisma, das eben diese Ebenen bricht, neu zueinander positioniert und so schließlich auch die Vorstellung neuer Anordnungen von Räumlichkeiten überhaupt ermöglicht.3 Denn letztlich treffen in der Stadt alle drei Ebenen aufeinander und existieren in der Wahrnehmung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner nebeneinander her, teilweise stärker, teilweise schwächer ausgeprägt. Deutlich zeigt sich dies etwa in der Frage der in der jüngsten Vergangenheit gewachsenen „urban citizenship“, die quer zu nationalen Zugehörigkeiten (und auch zu meisten Teilen unabhängig hiervon) die aktive politische Teilhabe aller Europäerinnen und Europäer an kommunaler und munizipaler Politik fördert und damit einerseits Zugehörigkeiten zum Lokalen unabhängig von der Nationalität stärkt (vgl. Holsten/Appadurai 2003) und andererseits zugleich direkt auf die europäische Ebene verweist. Und noch in einer weiteren Hinsicht scheint der von den Stadtsoziologinnen und -soziologen vorgeschlagene Blickwinkel auf die Stadt für die Europaforschung sehr lohnenswert: Es zeigt sich, dass es vor allem die Städte sind, die die heranwachsenden Europäer/-innen beherbergen, von ihnen geprägt werden und auch sie nachhaltig prägen; denn wie wir wissen, hängt die Identifikation mit Europa maßgeblich von Sprachenkompetenz, Bildungsniveau, Erfahrungswerten ab – das heißt, es sind insbesondere die (zumeist städtischen) Eliten, die sich mit Europa identifizieren (vgl. Haller 2008; Herrmann/Brewer 2004). Zugleich gewinnen die lokale und auch die 3
Vgl. hierzu etwa die neuen Raumkonzepte von Thrift (2004, 2008) und Amin (2004); für einen Überblick vgl. Hentschel (2009).
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urbane Ebene aufgrund des in der EU geltenden Grundsatzes der Subsidiarität zunehmend an Bedeutung – und in dem Maße, in dem der lokalen und regionalen Ebene in der EU politisch mehr und mehr Kompetenzen zugesprochen werden, wächst hier auch die Zustimmung zu weiteren Europäisierungsschritten.4 Der Blick in die Stadt und aus der Stadt heraus auf Europa hilft uns also in mehrerer Hinsicht: Zum einen ist die Stadt der Rahmen zur Bündelung ganz verschiedener identitärer Bilder, die hier gesammelt, gebrochen und neu angeordnet werden. Und zum anderen zeigt sich, dass die Stadt selbst einen wesentlichen Raum darstellt, in dem Europäisierungsprozesse stattfinden. Es ist nicht lediglich der Ort, an dem schließlich Brüsseler Entscheidungen umgesetzt werden, sondern es ist genauso der Raum, in dem überhaupt erst die Vorstellungen dessen entstehen, was Europa ist und wohin es sich zukünftig entwickeln soll; in denen sich Europa also konstituiert.5 Der Beitrag soziologischer Grenz- und Raumforschung liegt schließlich genau hierin: In einer Verschiebung des Blickwinkels, mit dem wir die gesellschaftlichen Prozesse des politischen Zusammenwachsens Europas beobachten. Wie wir gesehen haben, sind es gerade die Raumbezüge, die im Zuge der Europäisierung an Eindeutigkeit eingebüßt haben. Die nach wie vor ungeklärte Frage der finalité Europas und damit auch der Europäischen Union lässt ihre Grenzen zum politischen Verhandlungsgegenstand werden. Das ist nicht ohne Wirkung auf die Frage der Strukturierungskraft der Grenzen nach innen, etwa auf Identitätsbildungprozesse. Zugleich haben wir aber gesehen, dass es nicht lediglich die Frage eindeutiger Außengrenzen ist, die in diesem Kontext von Bedeutung ist, sondern dass wir bei Fragen kollektiver Bewusstseinsbildungsprozesse immer auch 4
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Die Zustimmung zur Europäisierung ist vor allem in solchen Regionen groß, die sich mit ihrer Eingliederung in die Nationalstaaten schwer tun, wie etwa das Baskenland, Korsika, Katalonien etc., Regionen also, die sich im Zuge der Europäisierung und der damit einhergehenden abnehmenden Kompetenzen der Nationalstaaten als Gewinner von Europäisierung begreifen (vgl. Laible 2008). Und dabei unterscheiden sich die einzelnen europäischen Städte voneinander (Löw 2008). Allerdings werden wir wohl feststellen, dass es in Bezug auf die Europäisierungsprozesse und die Rolle, die den Städten dabei zukommt, zwar einen wesentlichen Unterschied macht, ob ich in Bayreuth oder London lebe, wohl aber weniger entscheidend ist, ob ich in Madrid, Berlin oder Paris zu Hause bin, kommt es doch zumindest im Kontext unserer Fragestellung nach dem Verhältnis von Europäisierung und Stadt schließlich auf die tatsächliche Größe der Stadt und ihren „Europäisierungsgehalt“ an (vgl. hierzu auch Le Galès 2002).
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die lokalen Bevölkerungen selbst und deren Interessen mit einbeziehen müssen. Maßgeblich ist ein relationales Verständnis von Räumen, Grenzen und Bevölkerungen, eine Sichtweise, die von einer Wechselbeziehung zwischen beidem ausgeht. Einem solchen Verständnis folgend können wir bei der Betrachtung von Räumen und Grenzen nicht nur Wesentliches über die Konstitution europäischer Grenzen und eines europäischen Raums erfahren, sondern vor allem andersherum Erkenntnisse über die spezifischen gesellschaftlichen Prozesse im Innern Europas erlangen. Deutlich wird, dass es der Blickwinkel ist, der zählt und der uns schließlich etwas darüber erzählt – wie etwa der von Löw vorgeschlagene Blick auf die Stadt und auch aus der Stadt heraus auf die darin lebenden Menschen in ihrem Verhältnis zu Europa. Schließlich ist dies eine Perspektive, die in originär soziologischer Absicht eben nicht nur politische Akteure und Institutionen im europäischen Raum unabhängig von den Bewohnerinnen und Bewohnern betrachtet, sondern grundsätzlich eine Wechselwirkung des Politischen mit dem Sozialen annimmt. Erst eine solche Sichtweise eröffnet schließlich ein Verständnis von Europäisierung als Prozess, der vor allem die Gesellschaft selbst betrifft. Deutlich geworden ist, dass es im Zuge der Europäisierung nicht darum geht, Raumkonzepte vollkommen aufzulösen, im Gegenteil: Raum ist nach wie vor eine wesentliche Kategorie zur Erfassung dieser Neuordnung gesellschaftlicher Verhältnisse. Und es ist auch nicht notwendig, das Raumkonzept zu de-territorialisieren, wie die Beobachtung sich herausbildender Mitgliedschaftsräume (Bös 2000) oder Kommunikationsräume (Eder in diesem Band), die quer zu den Nationalstaaten liegen, auf den ersten Blick vielleicht nahe legen. Vielmehr gilt es, einerseits diese neu zu beobachtenden Anordnungen sozialer Beziehungen in ihrer je spezifischen Wirkung auf Räume zu analysieren, zum anderen aber nach den Wirkungen dieser sich durch den Prozess der Europäisierung verändernden Räume auf die hiervon betroffene Gesellschaft zu fragen. Es ist also nicht nur die Europaforschung, die von der soziologischen Grenz- und Raumforschung profitieren kann, sondern ebensolches gilt natürlich letztlich auch andersherum.
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Raumdimensionen der Europaforschung. Skalierungen zwischen Welt, Staat und Stadt Martina Löw
Europa wird raumlogisch als schwieriger Fall betrachtet. Erstens weil Europa – abgesehen vom Atlantik und dem Mittelmeer – keine Grenzen besitzt, die als natürlich in Erscheinung treten und somit soziale Ordnung legitimieren (Bach 2006: 146), und zweitens weil Europa auf die Herausbildung der europäischen Nationalstaaten als Territorialstaaten (Agnew 1998) aufsetzt, so dass Europa sich geografisch als Super-Container bewähren muss. Europa ist supranational und trotzdem Territorialraum, welcher historisch als Nationalstaat Gestalt gewonnen hat. Das heißt, in der Debatte um und in die raumtheoretischen Annäherungen an Europa mischen sich zwei Raumfiguren, die sich begrifflich-konzeptionell gegenseitig überschreiben: der vernetzte Raum der Staaten und der territoriale Raum als Container der Staaten. Oder anders formuliert: Raum als relationale Anordnung (vgl. Löw 2001) wird in der Europaforschung in zwei Formate gesetzt: den Netzwerkraum und den Territorialraum. Dass diese beiden Raumkonzepte moderne Konkurrenten sind, ist nicht neu. So schreibt zum Beispiel Markus Schroer die beiden Konzepte in Beziehung setzend: „Auf der einen Seite haben wir es mit Räumen zu tun, die nach dem traditionellen Modell des Containers gebaut sind. Unter diese Kategorie fasse ich Vorstellungen über die Festung Europa, einen aggressiven Lokalismus und private Sicherheitsräume. Auf der anderen Seite entstehen Räume, die diesem Modell nicht mehr entsprechen. Unter diese Kategorie möchte ich Global Cities, transnationale und virtuelle Räume fassen“ (Schroer 2006: 207f., Hervorhebung im Original). Europa konfrontiert nun mit der Einsicht, dass diese Doppelkonstruktion räumlicher Anordnung für denselben Gegenstand geltend gemacht wird. Für das Thema des Beitrags relevant sind deshalb nicht die Bewertungen der Formationen, sondern eine Analyse der Denkpfade, die durch die jeweilige Raumfigur
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eingeschlagen werden, sowie die Frage nach Blindflecken, die mit dem jeweils beobachteten Raumformat einhergehen. Raum ist eine Kategorie der gleichzeitigen Platzierungen. So wie die Zeit die Ordnungsdimension des Nacheinanders erfasst, markiert der Raum die Gleichzeitigkeit der Ereignisse (siehe auch Massey 2006). Das heißt, Raumkategorien inhärent ist ein Verweisungszusammenhang zu gleichzeitig sich herausbildenden Anordnungen. Bezieht man dies zurück auf die Europaforschung, so zeigt sich, dass mit der Doppelkonstruktion zwei Relationen den Blick auf Europa alternativ plausibilisieren: der Bezug in die Welt sowie in die Regionen. Denkt man Europa vom Begriffspaar TerritoriumGrenze aus (vgl. den Band von Eigmüller/Vobruba zu Grenzsoziologie 2006), reflektiert man konsequenter Weise das Verhältnis des Territorialraums Europa zur größeren „Einheit“ Welt. In den Vordergrund rücken Fragen danach, ob der Gesellschaftsbegriff nun – nach der Kritik am methodischen Nationalismus (zusammenfassend Berking 2006) – statt an den Staat an die nächst größere Einheit, nämlich Europa, angebunden wird. Macht es Sinn von einer europäischen Gesellschaft zu sprechen? Oder wird doch Weltgesellschaft zur Bezugskategorie (zur Debatte zum Beispiel Bayer et al. 2008; Bonacker/Weller 2006)? Wer hingegen statt dem Territorialraum das „Gefüge“ Europa, den Netzwerkraum, forschungsrelevant werden lässt, öffnet den Horizont selten in globale Formate, sondern analysiert die Bestandteile dieses Gefüges. Das Europa der Regionen wird zum Stichwort für eine raumkonzeptionelle Analyse, welche die Qualität Europas aus der Figur lokaler sozial-räumlicher Überlagerungen denkt. Angesichts der weit reichenden Konsequenzen, die der in Anwendung kommende Raumbegriff für die Ergebnisproduktion der Forschung hat, möchte ich in meinem Beitrag den konzeptuellen Stellenwert von Raum für die Europaforschung reflektieren. Dabei geht es mir um dreierlei: erstens um die Plausibilisierung, dass räumliche Skalierungen nicht nur zeitdiagnostisch einsetzbar sind, sondern auch und vor allem als Untersuchungsreichweiten relevant werden, wenn sie expliziert werden. Auf dieser Basis soll zweitens die lokale Dimension der Skalierung insofern genauer betrachtet werden, als in einer urbanisierten Gesellschaft Europa in seinen lokalen Dimensionen nicht nur über Regionen, sondern auch über Städte als zentrale Vergesellschaftungseinheiten zu denken ist. Städten aber wird in der Europaforschung bislang noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Drittens schließlich soll abschließend, aus der Stadtforschung die These, Raum sei 143
nicht nur der Niederschlag des Sozialen, sondern auch als strukturierende Struktur zu denken, auf den Gegenstand der Europaforschung zurückbezogen werden. 1
Scale
Seit den 1980er Jahren in der Geografie, später in den Politikwissenschaften und schließlich auch in der Stadt- und Raumsoziologie gewinnt „Scale“ als Basiskategorie des wissenschaftlichen Arbeitens an Bedeutung und an Streitwert. Den Anfangspunkt setzt Peter Taylor (1982) mit der Argumentation, dass Immanuel Wallerstein (zum Beispiel 1974) in der „world system theory“ eine Globalisierung des Kapitalismus als territorial geweitete Fortsetzung der nationalen Logik begreife und somit die Unterscheidung von städtisch-national-global nur horizontal einsetze, währenddessen der Erkenntnisgewinn einer Skalierung des wissenschaftlichen Gegenstands an Bedeutung gewinne, wenn man sie gleichzeitig als (vertikale) hierarchische Dimensionierung sozialer Phänomene betrachte. Das Nachdenken über die sozialwissenschaftliche Bedeutung von „Scale“ verbindet von Anbeginn an zwei verschiedene Aspekte: Zeitdiagnose und Methodologie. Die gestiegene Aufmerksamkeit für Skalierungsprozesse erklärt sich erstens aus der Beobachtung, dass Restrukturierungsprozesse neue räumliche Formate produzieren (also Verstärkung der Globalisierung, Europäisierung, Regionalisierung). In Skalen von lokal, national, supranational (zum Beispiel Europa) und global gedacht, gewinnt die Einsicht an Bedeutung, dass Globalisierung die als Nationalstaat skalierbare Ebene relativiert und stattdessen die sub- und supranationalen Formen territorialer Organisationsform intensiviert (Brenner 1999: 52). Diese Veränderung der sozialwissenschaftlichen Beobachtungs- und Analysemodi, also die systematische Reflexion der Reichweite des eigenen Vorgehens wie auch des latenten methodischen Nationalismus vieler Studien, wird auch von Erik Swyngedouw (1997) als „rescaling“ oder von Neil Smith (1993) als „jumping scales“ beschrieben. Gleichzeitig und zweitens bezeichnet Scale die Herausforderung, beim wissenschaftlichen Arbeiten alle sozialen Phänomene auch auf die verschiedenen möglichen skalierbaren Ebenen hin zu konzipieren beziehungsweise sich selbst der erhobenen Reichweite zu versichern (Smith 1992a, 1992b; 144
vgl. auch hier Swyngedouw 1992). Smith begreift Scale daher als Matrix der Produktion von Raum (Smith 2001: 155). Scale ist dabei mehr als nur der raumtheoretische Begriff für die Wiedereinführung der Unterscheidung von Mikro-/Meso-/Makro-Ebene. Scales werden nicht als vorgegebene territoriale Einheiten begriffen, sondern als sozial konstruierte und historisch sich verändernde Größen gedacht. In diesem Sinne benennt Scale Territorialisierung als Herstellungsprozess (Globalisierung, Europäisierung, Nationalisierung, Regionalisierung, Urbanisierung). Das heißt, die Deutungskraft von Scale lässt sich nicht aus vorsozial existierenden Raumausschnitten ableiten, sondern ist der begrifflich-konzeptionelle Ausdruck räumlich-sozialer Prozesse der Herausbildung moderner Lebensweisen. Dies setzt voraus, dass Scale konsequent relational verstanden wird: Jeder Raumausschnitt zieht seine Plausibilität eben auch aus der Abgrenzung zur je anderen. Hier allerdings schließt sich der Kreis zur gesellschaftsdiagnostischen Dimension von Scale. Gerade weil diese Raumdimensionen nicht containerförmige Ausschnitte bezeichnen, kann eine Transformation der skalaren Hierarchie (aktuell: Die Debatte um den Bedeutungsverlust der nationalstaatlichen Raumskalierung) angenommen werden. Zusammenfassend bedeutet das: Nach den Raumdimensionen der Europaforschung zu fragen, heißt, Europa als sich auch territorial verfestigendes Gefüge zu begreifen, das unentwegt sich zu anderen Skalen moderner Lebensführung verhält: zu globalen, nationalen, regionalen und urbanen Formen. Raumsoziologisch gesprochen stellt sich an den Anfang jeder Lektüre der Europaforschung damit die Frage, wie sich Gesellschaftsdiagnose mit der räumlichen Reichweite der Analyse verbindet und wie das relationale Gefüge der Raumausschnitte gebaut wird. Dabei fällt auf (vgl. die Beiträge in diesem Band), dass wer über Europa forscht, selten Städte in die Analyse integriert (anders als die Europapolitik, der in der Stadtpolitik ein zentraler Stellenwert zukommt, wie zum Beispiel Susanne Frank 2005 darlegt). Die lokale Dimension wird als Region, nicht als Stadt relevant gemacht. Zu Unrecht, wie ich argumentieren möchte. 2
Lokale Dimensionen
Seit der regierende Berliner Oberbürgermeister Klaus Wowereit Berlin als „arm, aber sexy“ charakterisiert hat, ist Armut nicht nur in ihrer Stadtspezi145
fik auf ein Schlagwort gebracht worden, sondern auch die Frage nach den lokalen Qualitäten von Armut ist damit öffentlichkeitswirksam formuliert worden. Selbstkritisch kann die Soziologie nur eingestehen: Es existiert kaum ein soziologisches Wissen über die stadtspezifischen Lebensbedingungen in Armut. Mehr ahnt als weiß man, dass in Barcelona, Wien oder Amsterdam Armut in unterschiedlicher Weise sozial sinnhaft wird beziehungsweise dass in einem reichen Umfeld wie München oder Stuttgart arm sein sich anders gestaltet als in Berlin oder Bremerhaven (siehe Berking et al. 2007). Gleichzeitig ist arm sein in Bremerhaven überhaupt nicht sexy konnotiert, während in Berlin kulturelles Erbe, Hauptstadtinszenierung und Zukunftsoptionen eine positive Umwertung möglich machen. Seit den 1970er Jahren hat sich soziologisch ein Konsens gebildet, dem zufolge Stadt nicht mehr als eigene Vergesellschaftungseinheit gedacht wird, sondern in die Vergesellschaftungsqualität des Nationalstaats eingelagert wird (siehe ausführlich Löw 2008). Europa zwingt dazu, über die Unterordnung der Stadt unter den Staat neu nachzudenken, gerade weil das „Haus“ Europa nicht nur aus Nationalstaaten, sondern aus unterschiedlichen regionalen Struktur-Handlungsgeflechten gebildet wird, die sich um städtische Zentren herum bilden. Die Bildung supranationaler Verbünde wie Europa steigert gerade deshalb die Konzentration auf Städte, weil Nationalstaaten gerade, um den Verbund zu stabilisieren, nicht mehr als nötig adressiert werden sollen. Susanne Frank zufolge führen die Versuche des europäischen Rats, die Union „bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“ (Frank 2005: 315), dazu, dass Städten deutlich mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, sie aber auch höherem Konkurrenzdruck ausgesetzt sind. Aber nicht nur das Beispiel Europa, nicht erst seit Städte als „global cities“ oder „world cities“ gefasst werden (vgl. Friedmann 1986; Sassen 1996), bilden Städte Vergesellschaftungseinheiten quer zu Territorialstaaten. Gerd Held (2005: 136ff.) argumentiert, dass bereits mit der Unterscheidung von Binnen- und Außenmarkt der Ansatz zur Differenzierung eines ZweiTerritorien-Modells angelegt wird, das im Kontext der Globalisierung stets reproduziert wird. Im Anschluss an die Beobachtung Fernand Braudels (1985: 560), dass Stadt und Territorialstaat in der Moderne konkurrierende Organisationsformen räumlicher Einheiten darstellen, entwickelt Held die These der Komplementarität von Großstadt und Territorialform als räumliches Anordnungsmuster der Moderne. Nicht die Differenzierung in Stadt 146
und Land, sondern die Unterscheidung zwischen räumlicher Einschlusslogik als strukturelle Offenheit der modernen Großstadt und räumlicher Ausschlusslogik als geschlossene Behälterkonstruktion des modernen Nationalstaats bildet die Konstruktionen der sich entwickelnden modernen Gesellschaft. Die Konstruktion des staatlichen Territoriums basiert, so Held, auf Grenzziehungen und erhöht auf diese Weise die Homogenität im Inneren; die Konstruktion der modernen Stadt verneint die Eindeutigkeit der Grenze und erhöht auf diese Weise Dichte sowie Heterogenität. So gewendet hat die Moderne mit den zwei Vergesellschaftungsformen „Territorium/Ausschluss“ und „Stadt/Einschluss“ die räumliche Differenzierung der Gesellschaft systematisch verankert. Die moderne Stadt bildet das notwendige Pendant zur Begrenzungs-, Homogenisierungs- und Heimatlogik des Nationalstaats. Sie stellt eine eigene Form der Vergesellschaftung dar, die es genauer zu verstehen gilt und deren Prinzipien nach unterschiedlichen städtischen Kulturen und Organisationsformen aufzuschlüsseln sind. Nimmt man die Stadt als lokale Dimension mit eigener Vergesellschaftungsqualität ernst, so steht die Soziologie vor der Herausforderung, einen Gegenstand wie Europa nicht nur aus der Differenz der Nationalstaaten, sondern auch aus den Ähnlichkeiten städtischer Vergesellschaftungsprinzipien quer zu den Nationalstaaten zu denken. Europa ist – leider, wenn man es forschungsstrategisch denkt – nicht nur eine räumliche Anordnung, die sich relational zur Welt, zum Nationalstaat und zur Region verhält, sondern sich auch aus der eigenlogisch wirkenden Vergesellschaftungsqualität städtischer Kulturen bildet. Urbanisierung als skalierbaren Raumausschnitt konzeptionell zu denken, meint konsequenter Weise, dass es nicht reicht, soziologisch erhobene Daten auf Städteebene „herunterzurechnen“; konzeptionell betont die Einsicht, dass sich die Stadt zur Gesellschaft nicht als einfach zu beobachtender, begrenzter Ausschnitt des komplexen Gefüges verhält. Lokal ist nicht einfach die Ebene des Individuellen, Informellen, „Kleinen“; Europa dagegen nicht das Überindividuelle, Organisierte, „Große“ (Heintz 2004), wie die Stadtsoziologie und die lokale Politikforschung häufig glauben machen. So wie man die wichtigen Themen moderner Gesellschaftsbildung in den Städten analysieren kann, so können auch umgekehrt die Gesellschaft oder moderne Formationen wie Europa in den Städten und damit in ihren spezifischen, gleichwohl typisierbaren, Ausformungen untersucht werden (vgl. dazu auch die angloamerikanische Debatte um Place-in-societyund Society-in-place-Ansätze zum Beispiel bei Lobao et al. 2007). 147
Nimmt man das Lokale als Scale, als sozial konstruiert und relational, ernst, dann sind Städte selbst emergente Gebilde mit eigener Qualität. Aussagen über europäische Städte sind nicht einfach Spezifizierungen umfassender Erhebungen, sondern Feststellungen über lokale Erfahrungs- und Handlungsqualitäten. Sie sind demnach auch nicht ohne Prüfung auf andere Städte übertragbar. Gerade wenn Städte emergente Gebilde sind, erlangen sie eine spezifische Realität, deren Dynamik zu untersuchen gerade erst begonnen wird (dazu zum Beispiel Taylor et al. 1996: XII; Lee 1997; Lindner 2003; Lindner/Moser 2006; Berking/Löw 2005a, 2005b, 2008). Die Kategorie des „Ortes“ ist somit für die Europaforschung bedeutsamer, als die Kleindimensioniertheit des Gegenstands vermuten lässt. Von Pierre Bourdieu (1998: 159ff.) als „Orteffekte“ thematisiert existieren Deutungsmuster, Praktiken und Machtfigurationen, die an „diesen“ Orten höhere Plausibilität aufweisen als an „jenen“ Orten. Das bedeutet nicht, raumdeterministische Verhaltenszwänge zu behaupten. Vielmehr entwickeln Orte als sozial konstruierte, sich verändernde sozialräumliche Phänomene Eigenlogiken, welche sich auf die Erfahrungsmuster derer, die in ihnen leben, auswirken und deshalb für das Verständnis von Europa konstitutiv sind. 3
Die Strukturierungskraft von Räumen und Orten
Bislang existiert in vielen Disziplinen eine widersprüchliche, aber wirkungsmächtige Selbstverständlichkeit in der Reflexion über Raum: Je globaler Raum gedacht wird, desto eher wird eine strukturierende Wirkung angenommen; je stärker lokale räumliche Anordnungen als prägend analysiert werden, desto schneller wird der Argumentation ein Raumdeterminismus unterstellt. Eine raumtheoretisch fundierte Soziologie muss aber eine Antwort auf die Frage geben, ob (sozial konstruierte, sich historisch wandelnde) Räume nur als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse begriffen werden oder ob man annimmt, dass von diesen Räumen eine aktive formende Kraft ausgeht. Warum fällt es so leicht anzunehmen, dass Europa das Handeln direkt beeinflusst, während es schwer fällt sich vorzustellen, dass in Darmstadt zu leben aus jemandem einen anderen Menschen macht, als Leipzig es tun würde. Dabei ist es ein Gebot der Logik, nicht mit dem Skalierungswechsel die Betrachtungsweise zu ändern.
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Bislang korrespondiert die Nähe/Distanz zu Strukturierungsannahmen mit theoretischen Zuständigkeiten für Mikro- beziehungsweise Makrophänomene. Wenn überhaupt, dann ist die Potenz von Räumen, soziale Ereignisse zu provozieren, bislang eher in strukturtheoretischen Argumentationen berücksichtigt worden, wohingegen handlungstheoretische und phänomenologische Ansätze Raum stärker als Ergebnis oder als Kontext von Handeln konzeptualisieren. Die materialistische Theorie ist immer von der Prämisse ausgegangen, dass gesellschaftliche Strukturen Handeln in spezifischer Weise prägen. Die Übertragung nun, dass räumliche Strukturen auf die Körper wirken, ist theoretisch nahe liegend und erscheint unproblematisch, weil der Gegenstand der Analyse meist sehr abstrakt ist. So betonen zum Beispiel Lefebvre (1991) oder Harvey (1989), dass die kapitalistische Raumordnung Fragmentierungserfahrungen mit sich bringt. Je stärker sich sozial- und geisteswissenschaftliche Analysen von Räumen den Alltagspraktiken nähern, desto häufiger wird Raum als Kontext/Locale „stillgestellt“ (siehe zum Beispiel Giddens 1984; Werlen 2000). Raum wird explizit nicht als strukturierende Dimension konzeptualisiert. Hierfür stehen Bilder wie: Raum sei der „Spiegel der Gesellschaft“ oder Handeln „schlage sich“ im Raum „nieder“. Die Denkbewegungen sind in der Regel einseitig angelegt. Nähme man aber an, dass Europa in Wien und Berlin gleichermaßen Gestalt gewinnt, dann verweigerte man die Einsicht, dass räumliche Anordnungen an lokale Konventionen gebunden sind. Räume homogenisieren Handeln nicht, so möchte ich meinen Beitrag zuspitzen, aber sie schaffen Ordnungs-, Habitualisierungs- und Konventionsschemata, die Handlungsabläufe und Deutungsformen auf ortstypische Weise nahe legen. Steht man heute vor der Aufgabe, eine raumtheoretisch fundierte Europaforschung weiterzuentwickeln, dann zwingt die Reflexionskultur um Scale dazu, die Frage nach der Strukturierung des Alltags durch Raumanordnungen nicht länger zu beantworten, indem in der Differenzierung von global-supranational ein prägender Einfluss durch räumliche Gefüge angenommen wird, wohingegen lokal-urbane Räume nur als Abbild und damit als strukturierungsschwach gedacht werden. Von den gesellschaftlichen Strukturen ausgehend ist es ein kleiner Schritt zu sagen, dass raumstrukturelle Muster wie zum Beispiel nationalstaatliche Grenzen oder deren Beseitigung soziale Prozesse vorstrukturieren. Die Logik der Argumentation zwingt jedoch dazu (wenn diese Annahme akzeptiert wird und Raum nicht
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nur im Handeln gesucht wird), auch nach den lokalen Raummustern und ihrer Strukturierungsdynamik zu fragen. 4
Ausblick
In Scales zu denken, ermöglicht es, das Globale, das Nationale und das Urbane als Bezugssysteme neben dem Europäischen zu fassen und Hypothesen über deren Verhältnis zu entwickeln. Öffnete man die Europaforschung nur in Richtung Weltgesellschaft und Region, dann verschwände die Stadt als Vergesellschaftungseinheit aus dem Erkenntnisfeld. Wenn Raum relational konzeptualisiert wird, dann sind aber Städte nicht einfach nur partikulare Momente innerhalb einer Welt der Nationalstaaten, Kontinente und der Weltgesellschaft. Wenn das Globale nicht nur das Lokale konstituiert, sondern auch umgekehrt das Lokale das Globale, dann sind Städte auch die räumlichen Formen, durch die Europa konstituiert wird. Will das Denken in Scales kein Reproduzieren verschieden großer Containerräume sein, sondern relationale Räume erfassen, dann steht Europa nie für sich, sondern wird in den verschiedenen Raumdimensionen unterschiedlich aufgeladen. Ob man Europa zur Welt oder zur Region in Beziehung stellt, macht einen Unterschied ums Ganze. Literatur Agnew, John, 1998: Geopolitics. Re-visioning World Politics. London/New York: Routledge. Bach, Maurizio, 2006: Unbounded Cleavages. Grenzabbau und die Europäisierung sozialer Ungleichheit. S. 145-156 in: Eigmüller/Vobruba 2006. Bayer, Michael, Gabriele Mordt, Sylvia Terpe und Martin Winter (Hg.), 2008: Transnationale Ungleichheitsforschung. Eine neue Herausforderung für die Soziologie. Frankfurt a.M./New York: Campus. Berking, Helmuth, 2006: Raumtheoretische Paradoxien im Globalisierungsdiskurs. S. 7-22 in: Ders. (Hg.): Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen. Frankfurt a.M./New York: Campus. Berking, Helmuth und Martina Löw (Hg.), 2005a: Die Wirklichkeit der Städte. Soziale Welt, Sonderband 16, Baden-Baden: Nomos. Dies., 2005b: Wenn New York nicht Wanne-Eickel ist … Über Städte als Wissensobjekt der Soziologie. S. 9-22 in: Dies. 2005a Dies. (Hg.), 2008: Eigenlogik der Städte. Frankfurt a.M./New York: Campus.
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Die Konstitution von Räumen und Grenzbildung in Europa. Von verhandlungsresistenten zu verhandlungsabhängigen Grenzen Maurizio Bach
1
Einleitung
Die soziologische Beobachtung findet in der Gesellschaft statt (Vobruba 2009). Das wird auch daran deutlich, dass sie Selbstverständlichkeiten erst zu beobachten beginnt, wenn diese keine mehr sind. Eine solche Selbstverständlichkeit war lange Zeit die Existenz von Staatsgrenzen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs galten die Staatsgrenzen in Europa als unveränderlich gegebene Größen. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs erlebte Europa eine Phase relativ stabiler politischer Ordnungen mit eindeutigen, nur in wenigen regionalen Sonderfällen (Südtirol, Baskenland, Katalonien, Galizien und Nordirland) umstrittenen Grenzen. Die Staaten waren die relevanten politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Raumeinheiten. Innerhalb ihrer Grenzen entstanden raumhaft strukturierte und unterscheidbare gesellschaftliche Ordnungen. Darauf gründete das europäische Raumund Grenzensystem, dessen Struktur durch „mehrere flächenmäßig in sich geschlossene Machtgebilde mit einheitlicher zentraler Regierung und Verwaltung und festen Grenzen“ charakterisiert ist (Schmitt 1950: 112). Parallel zur Konsolidierung der staatlichen Raum- und Grenzenstruktur entstanden in Nachkriegseuropa allerdings auch neue Genzregimes. Trotz der Stabilität der Staatsgrenzen gab es damit in den letzten Jahrzehnten beträchtliche Veränderungen, die auf eine große Variabilität und Komplexität der Grenzen- und Raumkonstellationen hindeuten. Hauptsächlich zwei Entwicklungen sind dafür verantwortlich: der in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einsetzende Prozess der europäischen Einigung und 153
die aktuelle Dynamik der Globalisierung. Mit den Außengrenzen der EG/ EU bildeten sich neue territoriale Trennlinien, die vor allem die ökonomischen Innen- und Außenverhältnisse des „Mitgliedschaftsraums“ der Europäischen Union und ihrer Vorgängerorganisationen regulieren. Diese Grenzen expandierten schrittweise in mehreren Erweiterungsrunden.1 Der Zerfall der Sowjetunion, die Wiedervereinigung Deutschlands und die Befreiung der Staaten Mittelosteuropas Ende der 1990er Jahre lösten einen zweiten grundlegenden Wandlungsprozess in der politischen Raum- und Grenzenstruktur Gesamteuropas aus (vgl. Judt 2006: Kapitel XXIII). Die Slowakei spaltete sich von Tschechien ab. Jugoslawien zerfiel in mehrere autonome Staaten mit in Kroatien, Bosnien-Herzegovina, Serbien, Montenegro, Mazedonien sowie im Kosovo umkämpften Grenzen und Territorien. Die EUAußengrenze verschob sich im Osten bis an die Westgrenzen der Ukraine, Weißrusslands und Russlands. Durch den Beitritt Bulgariens und Rumäniens im Jahre 2007 wurde die EU-Grenze im Südosten bis ans Schwarze Meer und an die Türkei verlängert. Aber die Anziehungskraft der EU reicht heute viel weiter, nämlich bis tief in den euro-mediterranen Raum und euroasiatischen Kontinent hinein. Mit der Türkei besteht bereits ein Assoziationsabkommen und seit 2004 werden Aufnahmeverhandlungen geführt. Ein Beitritt der Türkei würde die EU-Außengrenze im Südosten bis an die Grenzen des Kaukasus und des Nahen Ostens (Iran, Irak, Syrien) verschieben. Auch Georgien, die Ukraine und Weißrussland haben bereits ihr Interesse an einem zukünftigen Beitritt zur EU erklärt. Im Zusammenhang mit der Europäischen Integration haben außerdem noch die Regionen als territoriale Akteure mit legitimer Verhandlungsmacht (im Rahmen der Strukturfondspolitik) und institutioneller Repräsentation (Ausschuss der Regionen) sowie als wichtige Referenzeinheiten für raumbezogene Ungleichheitsdefinitionen und -regulierung (NUTS) als eigenständige politische Kräfte auf der europäischen Ebene an Bedeutung gewonnen. Dasselbe gilt für die nahezu zweihundert institutionalisierten Grenzregionen, die so genannten EUREGIOS, die auf lokaler Ebene erfolgreich grenzüberschreitende Kooperation verwirklichen und damit die früher meist infrastrukturell und wirtschaftlich benachteiligten grenznahen Peripherien der 1
1973 traten Irland, Großbritannien und Dänemark bei, 1981 Griechenland, 1986 Portugal und Spanien, 1995 Österreich, Schweden und Finnland, 2004 Polen, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn, Lettland, Estland, Litauen, Malta, Zypern, 2007 schließlich noch Bulgarien und Rumänien.
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Mitgliedstaaten in neuartige Kontakt- und Entwicklungszonen verwandelten (vgl. Association 2008). Hinzu kommen noch zahlreiche Staatenbündnisse mit unterschiedlicher Integrationsdichte und Mitgliedschaft, wie der Europarat, die OSZE, der Ostseerat, der auch Russland einschließt, der Nordische Rat, die EFTA, an der auch die Schweiz beteiligt ist, oder die Schwarzmeerkooperation, zu der auch die Türkei gehört. An diesem neuen „Europa der Staatenbündnisse“ ist bemerkenswert, dass deren Mitgliedstaaten ein sich kreuzendes und überlappendes Netzwerk von politischen Zusammenschlüssen bilden, dessen Außengrenzen asymmetrisch sind. Die Staatsgrenzen der Nationen, die Außengrenzen der EU, die Grenzen der substaatlichen Einheiten wie der Regionen oder NUTS sowie die Außengrenzen der europäischen Staatenbündnisse bilden somit insgesamt ein komplexes, multidimensionales und asymmetrisches territorial-politisches Gefüge, das auf eine grundlegende Transformation des europäischen Raum- und Grenzensystems hindeutet. Im Zentrum dieses epochalen Transformationsprozesses steht zweifellos die Europäische Union. Nichts davon lässt sich durch geographische Deskription erklären, und doch bilden Europas geographische Grenzen nach wie vor wichtige Referenzeinheiten für den politischen Prozess der Integration und der Neustrukturierung Europas. In dem Maße wie durch das europapolitische Großprojekt die Staatsgrenzen und mit ihnen das politische und soziale Schließungsmodell des Nationalstaats irritiert und verändert werden, treten die territoriale Dimension politischer Gemeinschafts- und Herrschaftsbildung, und damit auch die Grenzen, wieder stärker ins Bewusstsein. Mit der Relativierung der Staatsgrenzen im Binnenraum der EU wird die EU-Außengrenze, obwohl selbst keine Staatsgrenze, akzentuiert und mit neuen Funktionen und Bedeutungen überlagert. Doch weder die Staatsgrenzen noch die Verbandsgrenzen des Mitgliedschaftsraums der Europäischen Union besitzen eine unabhängige ordnungsbildende Funktion. Es sind immer politische Institutionen, deren Strukturprinzipien und soziale Schließungsbestrebungen, von denen die Außenabgrenzungen und Binnenstrukturen der politischen Vergesellschaftungen abhängen. In diesem Beitrag skizziere ich zunächst einen analytischen Bezugsrahmen, mit dem die Prozesse der Grenz- und Raumbildung als Funktionen von sozialer Schließung und territorial-politischer Institutionenbildung erschlossen werden können (2). In einem zweiten Schritt wird das bisher in 155
Europa erfolgreichste und dominierende politische Schließungsmodell des modernen Nationalstaats unter dem Gesichtspunkt der grenzenbildenden Institutionalisierung der klassischen Trinität von territorialer Herrschaft, politischer Gemeinschaft und sozialer Solidarität betrachtet (3). Dem neuen Spannungsverhältnis von nationalen Staatsgrenzen und supranationaler Schließung im Rahmen des EU-Mitgliedschaftsraums, wie es mit dem fortschreitenden Prozess der Vertiefung und Erweiterung der EU einhergeht, wende ich mich daran anschließend zu (4). In diesem Abschnitt werden der Funktions- und Bedeutungswandel der europäischen Binnengrenzen einerseits und die Voraussetzungen der Konstituierung sowie der spezifische Charakter der EU-Außengrenzen andererseits untersucht. Der Vergleich zwischen den herkömmlichen staatlichen und den neuen supranationalen Schließungsformen offenbart eine grundlegende Differenz in der Qualität und Funktion der beiden Typen von Grenzen: Während erstere prinzipiell als nicht verhandelbare Grenzen gelten, sind letztere im Gegenteil Objekte und Ergebnisse von zwischenstaatlichen Verhandlungsprozessen. 2
Analytischer Bezugsrahmen
Dem traditionellen europäischen Raum der Staaten entspricht ein Begriff von Gesellschaft, der sich im Rahmen der Grenzen des staatlichen Territoriums konstituiert (vgl. Luhmann 1997: 24f.; Beck/Grande 2004). Die Staatsgrenzen trennen somit nicht nur souveräne Staaten, sie unterbrechen auch Gesellschaften und machen sie als unterscheidbare Struktureinheiten erkennbar. Unmittelbar jenseits der linearen Staatsgrenze schließt, soweit es sich nicht um Meeresküsten handelt, eine andere nationale Gesellschaft an, meist mit einer differenten Standardsprache und eigener kultureller Selbstbeschreibung. Grenzen sind daher nicht nur konstitutiv für politische Herrschaftsgebilde sowie für staatliche Souveränität. Auch Gesellschaften und politische Gemeinschaften, sei es als ethnische Völker oder als Demoi (vgl. Lepsius 1990: 247ff.), gewinnen ihre autonome Einheitsgestalt und politische Handlungsfähigkeit erst durch die Existenz von Grenzen. Dadurch ermöglichen Grenzen politisches Handeln.2 Die deutsche Staatsrechtlehre 2
Auch soziale Klassen, soweit sie sich als politische Gemeinschaften zu organisieren vermochtn, entfalteten historisch erst als nationale Bewegungen eine nennenswerte politische Handlungsfähigkeit, selten als internationale Bewegungen. Ein herausragendes Bei-
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verdichtete diesen Sachverhalt in der bekannten Trinitäts-Formel von „Staatsvolk“, „Staatsgebiet“ und „Staatsgewalt“ (Jellinek 1959: 394ff.). Was in der Staatslehre eine Reifikation als Identität von Herrschaft, politischer Gemeinschaft und Territorium erfährt, muss für die soziologische Beobachtung in eine inkongruente Begriffsperspektive gerückt und analytisch desaggregiert werden. Dafür bietet die Theorie sozialer Schließung einen heuristischen Anknüpfungspunkt. Im Mittelpunkt der Theorie der sozialen Schließung stehen nach der klassischen Definition Max Webers soziale Prozesse, mit denen Akteure, Organisationen oder Institutionen versuchen, die Teilnahme anderer Akteure, Organisationen oder Institutionen systematisch auszuschließen oder zu beschränken, um damit die Chancen zum Erhalt von materiellen Ressourcen, Macht, Privilegien oder Prestige zu monopolisieren (vgl. Weber 1972: 23f.; Mackert 2004: 11). Soziale Schließungen sind immer auf Grenzen angewiesen. Letztere sichern erst die relativ dauerhafte Monopolisierung von ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen Chancen sowie Rechten nach innen ab. Zugleich regulieren sie die Außenverhältnisse, indem sie Öffnung und Grenzüberschreitungen in dem Maße zulassen, wie die beteiligten Bevölkerungen und Eliten dadurch eine Chancenverbesserung erwarten können. Staatsgrenzen fungieren somit als soziale Institutionen, die soziale Schließung für die Politik-, Rechts- und Verwaltungssysteme, die nationalen und lokalen Märkte, die Sprachvergesellschaftungen und kulturellen Räume sowie für politische Gemeinschaften auf bestimmten Territorien absichern. Als gesellschaftliche Konstruktionen übernehmen territoriale Grenzen somit, allgemein gesprochen, ordnungsbildende Inklusions- und Exklusionsfunktionen. Sie fungieren damit als Barrieren oder „Interdependenzunterbrecher“ (Mau 2006: 116) und regulieren die Exit- sowie die Zutrittschancen für Personen, Güter und Informationen. Die Schließungsmechanismen beziehen sich also immer zugleich auf den geographischen Herrschaftsraum eines Staats sowie auf die Bevölkerung des dadurch abgegrenzten Siedlungsgebiets (vgl. Rokkan 2000). Analytisch lassen sich nach Weber vier grundlegende Dimension der sozialen Schließung differenzieren. Demzufolge sind „traditionale“, „affektuelle“, „wertrationale“ sowie „zweckrationale“ Schließungen idealtypisch zu unterspiel dafür ist die europäische Arbeiterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deren programmatischer Internationalismus im Ersten Weltkrieg rasch dem in der Arbeiterschaft tief verwurzelten Chauvinismus zum Opfer fiel.
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scheiden. Diese Dimensionen gelten für ganz unterschiedliche soziale Makro- wie Mikrogebilde.3 In den nächsten beiden Abschnitten (3 und 4) soll dieses analytische Modell erst auf das Raum- und Grenzensystem des europäischen Nationalstaats und danach auf die Grenzendynamik der EU angewendet werden. Territorialgrenzen als solche haben eine begrenzte, zumeist nur auf den unmittelbaren Grenzraum bezogene Vergesellschaftungsfunktion (vgl. Eigmüller/Vobruba 2006). Selbst bei territorialen Sozialverbänden, wie Staaten oder Staatsverbünden, resultiert die Dynamik der sozialen Schließung in aller Regel nicht aus der Natur der Grenzen oder vorgegebener sozialer Einheiten (vgl. Simmel 1908). Mein theoretischer Leitgedanke lautet deshalb: Nicht Grenzen an sich bestimmen die interne politische Struktur, sondern politische Institutionen. Genauer: Aus den institutionalisierten Ordnungsideen der jeweiligen politischen Vergesellschaftung ergeben sich Konsequenzen sowohl für die Festlegung und Funktion von Außengrenzen wie für die Art der jeweiligen Binnenordnung (vgl. Lepsius 1990: 234). Grenzen tragen zwar wesentlich zur Stabilisierung der politischen Gemeinschaften und Staaten in ihrem Inneren bei. Insofern sind politische Gemeinschaften und Staaten immer auf Grenzen angewiesen (Offe 1998). Aber Grenzen wirken nicht aus sich heraus ordnungsbildend.4 Die Grenze eignet sich daher auch nicht als unabhängige Variable zur Erklärung von Prozessen politischer Raumbildung. Für die moderne Staatsentwicklung seit der Französischen Revolution erwiesen sich dafür vor allem, wie im nachfolgenden Ab3
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Traditionale Grenzziehungen sind nach Weber für Familien und Sippen typisch, affektuelle beispielsweise für Intimbeziehungen und Sprachvergesellschaftungen, wertrationale für religiöse Gemeinschaften (Mönchsgemeinschaften, Sekten) und zweckrational motivierte Geschlossenheit ist regelmäßig bei Märkten, aber auch bei politischen Vergesellschaftungen zu erwarten (vgl. Weber 1972: 24). In der neueren analytischen Grenzenliteratur dominiert ein konstruktivistisches Verständnis von Grenzen als sozial-räumliches Wechselwirkungsphänomen, wie es klassisch von Georg Simmel entwickelt wurde (Simmel 1908). Damit ist aber das Zuschreibungsproblem nicht geklärt, weshalb es häufig zu einiger Verwirrung kommt. Denn die Soziologie kann Grenzbildungen entweder als Zuschreibungseinheiten von sozialen und politischen Prozessen analysieren. Dann hätten die Grenzen den methodologischen Status einer unabhängigen Variable oder eines Explanans (dafür exemplarisch Turner 1935; Flora 2000). Oder sie betrachtet umgekehrt die gesellschaftlichen und politischen Prozesse, die zu spezifischen Grenzendynamiken führen. Letztere Sichtweise muss der ersten logisch vorausgehen, weil Grenzen erst einmal sozial konstruiert werden müssen, bevor sie auf die gesellschaftliche Strukturierung ein- oder zurückwirken können.
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schnitt gezeigt werden soll, eine Verknüpfung zweier Ordnungsvorstellungen und deren Institutionalisierung als grundlegend: das Prinzip der Volkssouveränität und das der Gebietshoheit. 3
Die Grenzen-Kongruenz des Nationalstaats
Überträgt man Webers Modell der sozialen Schließung auf den Nationalstaat, dann wird deutlich, dass er als politisches Makrogebilde drei5 geschlossene Vergesellschaftungen mit entsprechenden Grenzziehungen kongruent in sich vereint: erstens eine sich in der Sprachkultur, im „Wir-Gefühl“ und im Patriotismus verdichtende affektuelle Schließung; zweitens eine aufgrund des Eigenwerts der partikularen Nation, der Volkssouveränität und der nationalen Solidarität begründete wertrationale Schließung; schließlich drittens einen in der Operationsweise von ökonomischen Märkten und in der zentralisierten Rechts- und Verwaltungssouveränität begründeten Aufbau von selektiven Exit- und Zutrittsbarrieren. Das zeigt, dass es bei der politischen Vergesellschaftung des Nationalstaats zu einer historisch äußerst erfolgreichen grenzenidentischen Symmetrie von zweck- und wertrationaler sowie affektueller sozialer Schließungen mit entsprechender Raumfixierung gekommen ist. Diese besondere institutionalisierte Form der Grenzenidentität umfasst sowohl kognitive wie territoriale, politische wie soziale Schließungsprozesse. Den Nationalstaaten gelang die Verwirklichung einer stabilen Deckungsgleichheit der Grenzen von Kultur (Sprache), Gesellschaft und Politik. Diese kontingente und im Grunde unwahrscheinliche Koextension sozialer Schließungen im Rahmen des Nationalstaats wurde zum selbstverständlichen Bestandteil des Hintergrundwissens moderner Gesellschaften und entsprechend naturalisiert (Anderson 1991; Giesen 1993, 1999). Welche Rolle spielen dabei die politischen Institutionen? Die Institutionalisierung der Leitidee der Volkssouveränität erfordert ein relativ homogenisiertes Kollektivsubjekt als – tatsächliche oder nur vor5
Die „traditionale“ Schließung berücksichtige ich hier nicht weiter, weil sie nicht trennscharf von den anderen Schließungsmechanismen unterscheidbar ist. Traditionelle Beziehungen können sowohl „affektuell“ wie „wertrational“ wie auch „zweckrational“ geschlossen sein. Im Übrigen ist der begriffliche Status heterogen: Während die letzten drei Schließungsmechanismen auf Handlungsmotive verweisen, bezeichnet „traditional“ eine Strukturdimension von sozialen Gebilden.
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gestellte beziehungsweise geglaubte – Zuschreibungseinheit der Selbstkonstituierung und Legitimierung des Nationalstaats, das von anderen Kollektiven – „Völkern“ oder „Bürgergemeinschaften“ – möglichst eindeutig abgrenzbar ist. Die Durchsetzung einer solchen relativen Binnenhomogenität erfolgte bekanntlich in einem langen historischen Prozess, in dem sich die Politik durch die Erzeugung eines nationalen Kollektivs als Referenzeinheit für ihre kollektiv bindenden Entscheidungen gewissermaßen selbst ermöglichte (Luhmann 2000: 210ff.). Dabei wurden zuvor bestehende ethnische Völker – teils durch Unterdrückung, teils durch rituelle, kulturelle oder institutionelle Konstruktion kollektiver Identitäten – in politische Nationen und Staatsvölker überführt. Die Bindung der kollektiven Identität an ein Territorium wurde zu einem zentralen Merkmal der modernen Staatsbürgernation (Eisenstadt 2000: 42). Der abstrakte Raumbezug tritt dabei an die Stelle der „mittelalterlichen Bindungen kirchlicher, feudalrechtlicher und ständischer Art“ (Schmitt 1950: 116). Der Raum als Kollektiv begründende und identitätsstiftende Sinndimension ist eine abstrakte und objektivierte Herkunftsund Zugehörigkeitskategorie, die die bestehenden gesellschaftlichen Differenzierungen nach Ethnien, Klassenzugehörigkeit, Konfession, Region und Lokalität zu überwölben und in einer „imagined community“ (Anderson 1991) aufzuheben vermag. Das Territorium eignet sich daher auch in der gegenüber transzendentalen und geburtsständischen Legitimationsmustern weitgehend indifferenten Moderne besonders gut zur „natürlichen Klassifikation“ von Menschen (vgl. Giesen 1993: 48ff.). Damit ermöglicht der Sinn des Raums eine Primordialisierung von kollektiven Identitätskonstruktionen als paradoxes soziales Konstrukt. Eine Paradoxie ist diese Primordialisierung deshalb, weil in der modernen Gesellschaft durch den permanenten sozialen Wandel gerade der die Blutsabstammung verdinglichende „Stammesverwandtschaftsglaube“ (Max Weber), die lokal begrenzte soziale Kommunikation und damit die traditionellen Kultgemeinschaften zunehmend ihre Integrationskraft einbüßen (vgl. Weber 1972; Smith 2000). Die räumliche Vorstellung einer gemeinsamen nationalen Herkunft – im Wort ‚natio’ verschmelzen die Semantiken „räumliche Herkunft“ und „Volkszugehörigkeit“ zur Sinneinheit eines kollektiven „Hineingeborenwerdens in ein Land“ (vgl. Brunner et al. 2004: Bd. 7, 214ff.) – erweist sich in der Moderne als eine der wirksamsten „Kontingenzformeln“ im Sinne Luhmanns (Luhmann 2000: 118ff.). Das Kontingente der territorialen Herkunft der Menschen wird durch diese Vorstellung in etwas Notwendiges und normativ Verpflichten160
des verwandelt, in die Vorstellung, dass das Gemeinsame und Verbindende „an jene dingliche Ordnung der Welt gebunden (ist), die durch willkürliches Handeln scheinbar nicht verändert werden kann“ (Giesen 1993: 48). Territoriale Grenzen erfahren also in der Moderne eine Naturalisierung. Damit fungieren sie auch als Symbolisierungen von Eigenheit und Alterität. Kollektive Selbstbeschreibungen in termini von Landesangehörigkeit ziehen vor allem Grenzen zu Landesfremden, zu Menschen anderer Nationalität und regionaler Herkunft. Deshalb konnten Staatsgrenzen konstitutive Funktionen für die nationale Identitätsbildung im Sinne eines Zusammengehörigkeitsgefühls unter sozial Fremden übernehmen. Noch vor jeder materiellen Identifikation mit konkreten Kulturinhalten, wie Sprache, Geschichte, Mentalität oder politische Verfassung, legt die rein räumliche, auf ein abstrakt abgegrenztes Herrschaftsterritorium bezogene Herkunftsbestimmung das kognitive Fundament für einen Gemeinsamkeitsglauben von Bevölkerungen. Deshalb konnte sich der Raumbezug zu einer der wichtigsten Katalysatoren für nationale Identitätsbildung entwickeln. Deshalb eignen sich Raum und Grenzen aber auch nicht für politische Verhandlungen und den politischen Tausch, soweit sie kollektive Identitäten anzeigen.6 Diese Art von Grenzkonstruktionen ist, weil es sich um kollektive Identitätskonstrukte handelt, prinzipiell nicht verhandlungsfähig. Es sind häufig Quellen von „nicht-trivialen Konflikten“ (Luhmann 2000: 218) – ethnische Konflikte, religiöse Konflikte, Identitätskonflikte. Diese lassen sich nicht auf reine Interessenkonflikte reduzieren und entziehen sich daher der Logik von Verhandlungsregimes und „distributivem Bargaining“ mit Hilfe von Koppelgeschäften, Tauschhandel oder Paketlösungen (vgl. Scharpf 2000: 214ff.). Im Gegenteil, jede Veränderung von Grenzen geht unweigerlich mit Spannungen und sozialen Konflikten einher, wenn sie räumlich definierte kollektive Identitäten und damit die Sinndimension politischer Vergemeinschaftungen infrage stellen. Werte und Überzeugungen, Loyalität, soziale und politische Anerkennung sowie kollektive Zugehörigkeitsdefinitionen und Identifikati6
Selbstverständlich hat es in der Geschichte immer, besonders nach Kriegen, Gebietsverhandlungen gegeben. Dabei ging es meist darum, unter den Siegern zu klären, welches Territorium zu welchem Staat gehört. Dabei wird über die Lage von Grenzen verhandelt, wobei einerseits Territorien geteilt werden, andererseits auf soziale Identitäten der auf den Gebieten lebenden Bevölkerung keine Rücksicht genommen wird. Exemplarisch dafür sind der Westfälische Frieden von 1648, der Vertrag von Versailles von 1919 oder die Konferenz von Potsdam von 1945 (siehe dazu Iklé 1964, 1971).
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onen sind weder quantifizierbar noch teilbar und daher durch NichtVerhandelbarkeit charakterisiert.7 Aber erst in Verbindung mit dem Institutionengefüge und der politischen Macht des Staats erhält die Raumbindung kollektiver Identitäten ihre volle historische Tragweite und Handlungsrelevanz. Das ist in erster Linie durch die Geltung der staatlichen Verwaltungs- und Rechtsordnung bedingt. Die „Gebietshoheit“ des Staats beansprucht, wie schon Max Weber darlegte, Geltung „nicht nur für die – im wesentlichen durch Geburt in den Verband hineingelangenden – Verbandsgenossen, sondern in weitem Umfang für alles auf dem beherrschten Gebiet stattfindende Handeln“ (Weber 1972: 30). Gebietshoheit kann daher auch als Chiffre für den allumfassenden und abstrakten Herrschaftsanspruch des modernen Staats verstanden werden. Souveränität definiert sich dabei nicht mehr, wie noch im Mittelalter und bis zum 16. Jahrhundert üblich, allein über die rechtliche und militärische Kontrolle des Territoriums eines Fürsten. Der Begriff „Gebietshoheit“ ist gleichbedeutend mit dem modernen Begriff der Souveränität, wie ihn Michel Foucault (2006) definierte: mit Gouvernementalität. Das heißt: „Regieren von Bevölkerungen“ und nicht mehr nur Recht begründende „Landnahme“ (Schmitt 1950) und politisch-militärische Sicherung des Fürsten und seiner Gebietsherrschaft. Bevölkerung und Territorialität sind in dieser Perspektive komplementäre politische Dimensionen. Aber auch die Bevölkerung ist ein abstraktes und eigensinniges, tatsächlich nur über aggregierte Daten (vor allem Wirtschafts- und Sozialstatistiken) in ihren „Interessen“ und „Erwartungen“ beobachtbares soziales Konstrukt der Politik. Seit dem Merkantilismus und Kameralismus bildet die Bevölkerung ein „privilegiertes Korrelat der modernen Machtmechanismen“ (Foucault 2006: 120). Diese zielen hauptsächlich darauf ab, über die Selbstermöglichung und Kontrolle von sozialen und ökonomischen „Zirkulationen“, die „produktiven Kräfte“ einer Bevölkerung freizusetzen, positive Wohlfahrtseffekte durch geeignete Steuerung zu stimulieren und öffentliche Ressourcen im Interesse einer Maximierung der ökonomischen Leistungsbilanz zu investieren. Grenzen markieren unter diesem Blickwinkel immer auch den Bezugsraum eines 7
Das bedeutet nicht, kollektive Identitäten spielten bei Verhandlungen generell keine Rolle. Im Gegenteil, sie können gerade auch bei Verhandlungen (z.B. bei industriellen Beziehungen oder zwischenstaatlichen Friedensverhandlungen) strategisch zum Tragen kommen, etwa als Destabilisierungsdrohung für die bestehende Ordnung oder auch als Katalysator für Identitätsstärkungen (vgl. Pizzorno 1978; Rusconi 1984).
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politisch und institutionell definierten „Gemeinwohls“. Das Territorialprinzip des cuius regio eius religio erweiterte sich so mit der „Emergenz der Bevölkerung“ als produktiver Kraft und naturalisiertem Objekt der staatlichen Machtökonomie zum cuius regio eius oeconomia (vgl. Foucault 2006: 103ff.). Die territorialen und mit Bezug auf Bevölkerungen koextensiven Volkswirtschaften werden dadurch gewissermaßen politisch verfügbar. „Das Territorium nicht mehr befestigen und markieren, sondern die Zirkulationen gewähren lassen, die Zirkulationen kontrollieren, die guten und die schlechten aussortieren, bewirken, dass all dies stets in Bewegung bleibt, sich ohne Unterlass umstellt, fortwährend von einem Punkt zum nächsten gelangt, doch auf eine solche Weise, dass die diesen Zirkulationen inhärenten Gefahren aufgehoben werden“ (Foucault 2006: 101). Territorialherrschaft bezieht sich somit immer auch auf Bevölkerungen. Gebietsherrschaft unterscheidet sich von anderen Formen der Herrschaft, wie etwa dem Markt, dadurch, dass sie die auf einem umgrenzten Territorium lebende Bevölkerung regiert. Territorium und Bevölkerung sind somit zwei konstitutive Dimensionen von Gebietsherrschaft. Souveränität hat ein Doppelgesicht: Sie zielt auf Sicherung des Territoriums einerseits und andererseits auf Regieren von Bevölkerungen – beides sind unverzichtbare Voraussetzungen für die Selbstermöglichung von Politik in der Moderne (vgl. Luhmann 2000: 212f.). Fassen wir die bisherige Analyse zusammen: Der moderne Nationalstaat als Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt konstituiert und legitimiert sich selbstbezüglich durch territoriale Grenzziehungen und durch Bezugnahme auf Bevölkerungen, als deren gemeinsames Band die territoriale Herkunft (natio) einerseits und das naturalisierte Klassifikationsschema der nationalen Kollektividentität gelten. Sowohl die Art und Ausdehnung der Grenzen des Territoriums wie die kulturellen Selbstbeschreibungen und Abgrenzungen des Kollektivsubjekts werden wesentlich durch „Volkssouveränität“ und „Gebietshoheit“, den grundlegenden politischen „Kontingenzformeln“ der modernen Staatlichkeit, bestimmt. Das bestätigt die These von der Vorrangigkeit der politischen Institutionenbildung gegenüber der Grenzbildung. Die Außengrenzen des Herrschaftsgebiets decken sich mit den naturalisierten Selbst- und Fremdklassifikationen der Bevölkerungen, die als segmentär strukturierte „Nationalvölker“ politisch konstituiert sind. Dadurch ermöglicht sich der Nationalstaat selbst als eine grenzenziehende Macht, die sich in der Aufrechterhaltung der Koextension von
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politischer, volkswirtschaftlicher und sozialer Schließung und in der Kongruenz der damit korrespondierenden Systemgrenzen evolutionär bewährt. Staatsgrenzen sind, auch das zeigt uns die Entwicklung des Nationalstaats eindringlich, selbst komplexe multidimensionale Institutionen der sozialen Schließung. Staatsgrenzen sind Mechanismen der Schließung von Herrschaftssystemen und Gesellschaften; sie bilden zugleich Katalysatoren für das Zustandekommen von politischen Gemeinschaften mit kollektiver Identität. Darüber hinaus wirken sie als Regulative für das binnenstaatliche Gemeinwohl, gleichsam als „decision points“ (Offe 1998: 102) für die positive wie negative Saldierung von ökonomischen Wohlstandseffekten. Grenzen sind zudem Zuschreibungseinheiten für kulturelle Abgrenzung und damit Referenzgrößen für die Definition von legitimer Zugehörigkeit einerseits und Fremdheit beziehungsweise Alterität andererseits. Damit bilden sie einen konstitutiven Bezugsrahmen für die Selbstbeschreibung von Kollektivsubjekten und für die Selbstermöglichung von Politik im Rahmen moderner, auf den Ideen der Volkssouveränität und der Gebietshoheit beruhenden staatlichen Verfassungen. Grenzen erweisen sich dabei zugleich als Konflikt- und Kontaktzonen, als Orte des sozialen Austauschs oder als Separationslinien. In jedem Falle aber sind diese Arten von Grenzkonstruktionen, wie wir sahen, nicht verhandlungsfähig. Aufgrund ihres prä-reflexiven Charakters, der die Selbstbeschreibungen der nationalen Kollektive der Selbstbeobachtung enthebt, entziehen sie sich der Berechenbarkeit, Teilbarkeit und einem Interessenausgleich über politischen Tausch und „distributives Bargaining“. Grenzen kollektiver Identitäten sind grundsätzlich nicht verhandlungsfähig und damit in gewisser Weise gegen die Logik des politischen Tauschs immun. Anders verhält es sich mit den Grenzen eines politischen Verbands, wie der EU. Hier sind Grenzen Objekte und Ergebnisse von zwischenstaatlichen Verhandlungsprozessen im Rahmen des europäischen Verhandlungs- und Rechtssystems. 4
Funktions- und Bedeutungswandel der Grenzen in der EU
In Europa deutet seit mehreren Jahrzehnten vieles auf eine grundlegende Neustrukturierung der überkommenen Raumordnung und auf die Herausbildung eines neuen europäischen Grenzensystems hin. Dabei werden, wie oben in der Einleitung bereits angedeutet, einige Grenzen durchlässiger, 164
andere aufgerichtet oder verstärkt; kollektive Identitäten und politische Gemeinschaften formieren sich zum Teil neu, andere erfahren einen Bedeutungsverlust oder eine Entwertung. Auch sind seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und im Zuge der letzten EU-Erweiterungen zum Teil neue politische und soziale Konfliktherde entstanden; es wurden aber auch welche entschärft oder neutralisiert. Die entscheidende Rolle bei dieser Neustrukturierung der territorial-politischen Ordnung spielt das politische Großprojekt der Europäischen Integration. Aber es gibt in Europa auch Grenzbildungen, die von der EU-Politik gar nicht oder nur marginal tangiert werden (zum Beispiel auf dem Balkan). Europa befindet sich somit in einem komplexen und spannungsreichen Prozess des Grenzenabbaus und des Grenzaufbaus, der Relativierung traditioneller Funktionen von Grenzen, bei gleichzeitiger Überlagerung mit neuen Aufgaben und Bedeutungen. Dabei entsteht eine historisch beispiellose Konstellation von Grenzen und Räumen. Im Folgenden konzentriere ich mich auf Grenzbildungen im Zusammenhang mit der Europäischen Integration. Mit der in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzenden Europäischen Integration werden die bisherigen Grenzen der Staaten teilweise neu definiert, womit der Nationalstaat zunehmend seine Selbstverständlichkeit und die ihm zugeschriebene Naturalität als politisches und kulturelles Schließungsmodell einbüßt. Mit anderen Worten: Der Prozess der Europäischen Integration irritiert das Ordnungsmodell des geschlossenen Nationalstaats. Dies in zweifacher Hinsicht: einerseits durch die Überlagerung der Grenzen der Mitgliedstaaten mit neuen Bedeutungen und Funktionen; andererseits durch das Auseinandertreten und die Dissoziation der Beziehungen zwischen affektuellen, wertrationalen und zweckrationalen sozialen Schließungen. Ich verwende für diese Prozesse der Überlagerung und Asymmetrisierung im Folgenden den Begriff institutionelle Supercodierung, weil es sich um einen Prozess des Bedeutungs- und Funktionswandels von Grenzen handelt, der von den Institutionen und der „Institutionenpolitik“8 der EU ausgeht und wesentlich von deren Logik geprägt wird.
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„Institutionenpolitik“ lässt sich mit Lepsius (1995: 393-403, insbesondere 400) als „die bewusste Einflussnahme auf den Grad und die Richtung der Leitideen, die institutionalisiert oder de-institutionalisiert werden“ bestimmen.
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a) Friedfertigkeit Ein grundlegendes Kennzeichen der gegenwärtigen europäischen Ordnung ist die Friedfertigkeit der Grenzendynamik. Der Funktions- und Bedeutungswandel der Grenzen im Zuge der europäischen Einigung geht praktisch mit ganz wenigen Ausnahmen (Gibraltar, kroatisch-slowenischer Grenzkonflikt, Zypern) konfliktfrei vonstatten (vgl. Anderson/Bort 2001: 174). Das unterscheidet die heutige Situation grundlegend von früheren historischen Epochen, in denen Verschiebungen von Staatsgrenzen meist im Zusammenhang mit zwischenstaatlichen Kriegen, seien es Erbfolge-, Religions- oder Eroberungskriegen, standen (vgl. Anderson 1996: 13ff.; Münkler 2006). So verbindet sich mit den Staatsgrenzen traditionell die Vorstellung von strategisch-militärischen Konflikt- und Trennzonen, an denen oder um deren Veränderung in der europäischen Geschichte vielfach Machtkonflikte militärisch ausgetragen wurden. Im gegenwärtigen Europa hängt die Neustrukturierung der Grenzen- und Raumordnung dagegen von dem pacta sunt sevanda der politischen Verhandlungen und völkerrechtlichen Paktierungen auf europäischer Ebene ab, mithin von den vertraglichen Verpflichtungen, die die europäischen Leviathane freiwillig eingehen. Die Selbstbindung erfolgt in erster Linie nach Maßgabe der Leitideen und Verfahren der Europäischen Union und damit gemäß einer institutionellen Logik, die auf politische Kooperation und Konfliktvermittlung unter den beteiligten Staaten zielt. Dabei handelt es sich zwar in gewisser Hinsicht um eine Institutionalisierung des Misstrauens, insofern die Mitgliedstaaten durch eine unabhängige dritte Institution, die das Initiativmonopol in der Gesetzgebung innehat und mit eigenständigen Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen ausgestattet ist – die EU-Kommission – in der Verfolgung ihrer Eigeninteressen begrenzt und zur Kompromissfindung gebracht werden (vgl. Bach 2008). Durch diesen institutionalisierten Zwang9 zur Kooperation in den Organen und Komitees der EU und durch die Erhöhung der Interaktionsrate, die eine Iteration des Spiels erzwingt, wird eine stabile und selbsttragende Kooperation ermöglicht und Vertrauen nicht nur in die supranationalen Institutionen selbst, sondern auch bei den Mitgliedstaaten im Verhältnis zueinander gebildet (vgl. Axelrod 1987). Jedenfalls treten militärisch-strategische Aspekte dabei in den Hintergrund; sie sind als Handlungsoptionen im EU9
Zur Analyse der Handlungsstruktur von „Zwangsverhandlungssystemen“ siehe Scharpf 2000: 243ff.
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System nicht nur präskriptiv, sondern auch strukturell delegitimiert. Die kontinuierliche institutionalisierte Kooperation ersetzt somit die konflikthafte Konfrontation. Das normative Postulat der Konfliktlosigkeit, die institutionalisierte Praxis der Kooperationsstabilisierung in den zwischenstaatlichen Relationen sowie das Beharren auf territoriale Integrität innerhalb der bestehenden Grenzen durch die EU bedingen einen grundlegenden Bedeutungs- und Funktionswandel der Staatsgrenzen in Europa. Zwei gegenläufige Entwicklungen erweisen sich als durchschlagend: die politisch beschlossene und gesteuerte De-Institutionalisierung von funktionalen zwischenstaatlichen Grenzen als Folge der Verwirklichung des paktierten Kooperationsprojekts des europäischen Binnenmarkts einerseits, die Konstituierung der EU-Außengrenzen als Folge der EU-Erweiterungen durch Kooptation neuer Mitgliedstaaten andererseits. In beiden Fällen kommt eine europäische Supercodierung der bestehenden Staatsgrenzen zum Tragen. b) Europäische Supercodierung der Grenzen durch den Binnenmarkt Den bedeutendsten Funktionswandel erfuhren die zwischenstaatlichen Grenzen der EU-Mitgliedstaaten10 im Prozess der Integration dadurch, dass tarifäre sowie technische und andere nicht-tarifäre Hindernisse, die den Mitgliedstaaten hauptsächlich zum Schutz der nationalen Güter-, Kapitalund Arbeitsmärkte dienten, deinstitutionalisiert und damit funktional bedeutungslos wurden. Einzelstaatliche Rechtsnormen, mit denen die Kosten für Exit- und Zugangsoptionen beim grenzüberschreitenden Güter- und Kapitalverkehr hoch- und mit Hilfe systematischer Grenzkontrollen aufrechterhalten wurden, traten im Zuge der Umsetzung des europäischen Binnenmarktrechts seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre praktisch außer Kraft. Dadurch erfolgte eine Institutionalisierung der ökonomischen Rationalitätskriterien der „vier Freiheiten“ – Güter-, Kapital- und Dienstleistungsfreiheit sowie Freizügigkeit –, von denen die politischen und ökonomischern Eliten durchweg positive Skalen- und Wohlstandseffekte für den gesamten binneneuropäischen Wirtschaftsraum, mithin ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, höhere Kapitalrenditen, einen Zuwachs an Arbeitsplätzen, eine Optimierung von Vermarktungschancen und dergleichen mehr, erwarteten (dazu 10
Siehe dazu und zum Folgenden die ausführliche Darstellung der Grenzpolitiken der EU von Mau 2006.
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kritisch: Bach 2008). Vorausgegangen war dem eine Reihe einschneidender institutioneller Weichenstellungen. Dazu gehört nicht nur die systematische Aufwertung des europäischen Rechts als grundsätzlich vorrangig gegenüber dem einzelstaatlichen Normensystem durch die Rechtsprechung des EuGH (vgl. Münch 2008: 64ff.). Eine weitere Weichenstellung erfolgte durch die von den Mitgliedstaaten mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) ausgehandelte Vereinfachung der Abstimmungsverfahren. Seitdem sind bei binnenmarktbezogenen Beschlüssen prinzipiell Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat möglich. Damit wurden die Chancen auf einzelstaatliche Vetoblockaden nachhaltig erschwert. Die Abwertung der Binnengrenzen im Zuge der Umsetzung des Maßnahmepakets der EU-Kommission zur Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts unter der Präsidentschaft Jacques Delors’ ist somit eine Konsequenz der erfolgreichen intergouvernementalen Verhandlungen auf europäischer Ebene, die zu einer relance des Integrationsprojekts führten. In diesem Zusammenhang kann deshalb von einer europäischen Supercodierung gesprochen werden, weil die zwischenstaatlichen Grenzen nunmehr dem höheren, dem supranationalen Recht unterliegen. Das europäische Recht erzwingt deren Durchlässigkeit und relativiert damit die Grenzen in ihren traditionellen ökonomischen Schließungsfunktionen. Sind die Weichen im Funktionssystem der Warenökonomie erst einmal auf Durchlässigkeit und Minimierung von Transaktionskosten umgestellt, entfaltet sich schon aufgrund der dem Markt inhärenten funktionalen Interdependenzen eine Eigendynamik, die zunehmend weitere gesellschaftliche Funktionsbereiche für grenzüberschreitende Öffnung verfügbar macht. Beispiele sind die Maßnahmen zur Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit, zur Anerkennung von Bildungszertifikaten oder zur Einführung der einheitlichen Währung. c) Europäische Supercodierung durch Konstitution der EU-Außengrenzen Das europäische Integrationsprojekt zielt grundsätzlich auf territoriale Expansion, dessen „Vollendung“ im Sinne eines „moving target“ durch schrittweise Kooptation weiterer europäischer Mitgliedstaaten, mithin ebenfalls auf dem Verhandlungsweg, erfolgt. Es ist somit ein prinzipiell offenes und expansiv angelegtes Projekt, dessen geographische Grenzen in den Gründungsverträgen materiell nicht näher definiert wurden. Die Verträge enthalten weder geographische noch kulturelle Präzisierungen, auf deren Grundla168
ge man eine eindeutige Unterscheidung zwischen Europa einerseits und nicht zu Europa gehörigen Ländern andererseits treffen könnte. Obwohl laut EU-Vertrag Anträge auf Mitgliedschaft explizit nur von „europäischen Staaten“ angenommen werden können (§ 49 EUV), bleibt in den Vertragstexten das Attribut „europäisch“ (zum Beispiel „europäischer Kontinent“, die „europäischen Völker“) ebenso vage wie die gemeinte geographische Ausdehnung Europas. Konkretere Aufnahmebedingungen finden sich hingegen dort im EUV, wo die Achtung und Förderung von Werten wie Demokratie, Menschenrechte, Marktfreiheit, Rechtstaatlichkeit, Minderheitenschutz bestimmt werden. Dabei handelt es sich allerdings um universale Anforderungen, die nicht als spezifisch europäische Werte oder Kulturinhalte bezeichnet werden können. Der inhaltliche Konkretisierungsgewinn der so genannten Kopenhagener Kriterien wird durch deren globalen Geltungsanspruch gewissermaßen konterkariert. Demnach verkörpert die EU in dem im Reformvertrag von Lissabon nochmals bekräftigten11 Bekenntnis zu Wertbeziehungen keinen grundsätzlich neuen Wertehorizont, sondern, wie M. Rainer Lepsius (2006: 118) feststellte, „ein ‚Weltmodell‘, aus dem kein spezifisch europäischer Eigenwert folgt, auf dem eine Identifikation aufbauen könnte.“ Die Frage der geographischen Grenzen Europas, insbesondere im Osten und im Südosten, bleibt daher ebenso ungelöst wie die Grenzen des genuin europäischen Wertehorizonts. Daran änderte auch die letzte große Erweiterung der EU um die Länder Mittel- und Osteuropas grundsätzlich nichts. Deren Zugehörigkeit zum Territorial- und Kulturraum Europa stand sowohl für die betreffenden Staaten selbst wie für die EU insgesamt außer Frage. Die Kopenhagener Beschlüsse von 1993, mit denen die EU-Osterweiterung auf Beschluss des Europäischen Rats eingeleitet wurde, konnten zwar von der Selbstverständlichkeit der kulturellen Zugehörigkeit der mittelosteuropäischen Länder ausgehen, was die öffentliche Akzeptanz der Erweiterungsziele erhöhte. Gleichzeitig wurden aber die bereits angesprochenen, von konkreten kulturellen und geographischen Gegebenheiten abstrahierenden, universalen Beitrittskriterien festgeschrieben. Diese waren letztlich ausschlaggebend bei der Heranführung der Beitrittskandidaten an die EU. Darin kommt eine grundlegende Ambivalenz von geographisch-kulturellen und universal-politischen Selbstbildern des europäischen Verbands 11
Siehe auch Art. 2 des Reformvertrags von Lissabon, wo sich die „Werte der Union“ aufgelistet finden.
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zum Ausdruck. Dieses ungelöste Spannungsverhältnis wird die zukünftigen Beitrittsverhandlungen nachhaltig belasten. Es überschattete bereits die 2005 eröffneten Beitrittsverhandlungen mit der Türkei: Erstmals in der Geschichte des europäischen Verbands12 wurde in der öffentlichen Debatte die Zugehörigkeit eines Beitrittskandidaten unter geographischen sowie kulturellen Gesichtspunkten infrage gestellt (vgl. Madeker 2008). Hierin tritt der Widerspruch zwischen den präziser bestimmbaren universalen Beitrittskriterien einerseits und der nur vage konstruierten „Europäizität“ andererseits offen zutage. Eine Lösung dieser Ambivalenz, die letztlich auf den Antagonismus zwischen primordialen oder „euronationalistischen“ Grenzziehungen einerseits und den pragmatischen und politisch definierten Wert- und Rationalitätskriterien, die sich vor allem die EU-Kommission zu eigen macht, andererseits beruht, ist nicht absehbar. Vielleicht handelt es sich um ein unlösbares Grundproblem der strukturellen Identitätsschwäche der Europäischen Union und Europas insgesamt. Das wird jedenfalls auch in Zukunft die Erweiterungsfrage der EU stets offen und in der Schwebe halten. Das verdeutlicht auch den politischen Charakter jeder Entscheidung über Aufnahme oder Nichtaufnahme von weiteren Staaten. Denn wenn sich weder aus den EU-Verträgen noch aus den traditionellen geographischen Europavorstellungen verbindliche und deutungsfähige Anhaltspunkte für Grenzziehungen ergeben, dann werden auch die zukünftigen Erweiterungsentscheidungen der EU letztlich immer von zufälligen Machtkonstellationen und strategischen Interessen, wie etwa die Sicherung der Energieversorgung, das Interesse an Migrationskontrolle oder am Schutz der wohlhabenden Kernzone vor unerwünschten Nebenfolgen der Erweiterungen13, abhängen und keinem kohärenten Integrationsplan folgen. Halten wir fest: Die EU-Außenabgrenzung wird nicht durch eine kulturell und gesellschaftlich homogene Ordnung gebildet, sondern durch Beitritte bestehender und politisch verfasster Staaten zum europäischen Verband auf der Basis von zwischenstaatlichen Verhandlungen und von Kooptatio12
13
Abgesehen vom Beitrittsgesuch Marokkos aus den späten 1980er Jahren, der von der Kommission mit der Begründung abgelehnt wurde, das Maghreb-Land sei kein „europäischer Staat“ im Sinne des EG-Vertrags. Das war bisher, so weit ich sehe, das einzige Mal, dass ein Beitrittsgesuch eines Landes mit Verweis auf Art. 49 EGV abgelehnt wurde (vgl. Bainbridge 2002: 386). Zur Perpetuierungstendenz der Erweiterungsdynamik infolge der Schutzinteressen der ökonomischen Zentren der EU ausführlich Vobruba 2007.
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nen. Es sind transnational ausgehandelte Verbandsgrenzen. Die EU-Außengrenze zieht sich entlang der Staatsgrenzen von Mitgliedsländern, die an Nicht-EU-Länder angrenzen. Sie ist aber im strengen Sinn keine Staatsgrenze. Sie markiert stattdessen die Reichweite des Geltungsraums des Europarechts sowie die Ausdehnung des europäischen Raums der institutionalisierten zwischenstaatlichen Kooperation. Die EU-Außengrenze trennt die EUStaaten, die untereinander eine relative Kohäsion im wirtschafts- und außenpolitischen Handeln aufweisen, von jenen Staaten, die im Vergleich dazu überwiegend einzelstaatlich isoliert handeln beziehungsweise in einem loseren Assoziationsverhältnis zur EU stehen. Die EU-Außengrenze wird vor allem durch die europäische Verhandlungs- und Institutionenpolitik konstituiert und dabei kommt der EU-Migrationspolitik eine Schlüsselrolle zu. d) Migrationspolitisches Grenzmanagement Alle territorialen Sozialsysteme unterliegen einer je eigenen Dialektik der Grenzüberschreitung und der Grenzbefestigung, weil keine Raumöffnung ohne erneute Schließung denkbar ist (vgl. Rokkan 2000). Im Zuge der Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts sowie als Folge von Beitritten neuer Mitgliedsländer bildet sich im integrierten Europa mit den so genannten EU-Außengrenzen ein genuin europäisches Grenzenregime heraus. Dieses trägt nicht nur zur Befestigung der EU-Außengrenzen, sondern auch zur Regulierung der Beziehungen zu den angrenzenden Randstaaten außerhalb der EU bei. Erst durch die Herausbildung eines eigenen „europäischen Genzverwaltungssystems“ (Tohidipur/Fischer-Lescano 2009) entwickeln sich die EU-Außengrenzen zu handlungsrelevanten Institutionen mit europäisch überlagerten Schließungsfunktionen. Der entscheidende Handlungsbedarf auf europäischer Ebene ergibt sich aus dem gemeinsamen Interesse der EU-Mitgliedsländer, nach Wegfall der Binnengrenzkontrollen im Rahmen des Schengen-Besitzstands, verstärkte Kontrollen an den Grenzen jener Mitgliedsländer sicherzustellen, die zugleich EU-Außengrenzen sind. Mit der Übernahme des Schengen-Übereinkommens in den EU-Rechtsbestand im Jahre 1999 beseitigten die Unterzeichnerstaaten die Personenkontrollen sowie die materiellen Grenzkontrollanlagen an den Binnengrenzen und schufen gemeinsame Regelungen über Kontrollen an den Außengrenzen. Dazu gehört eine gemeinsame Visapolitik, flankierende Maßnahmen wie verbesserte polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit sowie der 171
Aufbau des Schengener Informationssystems (SIS), eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen, Gegenstände und Fahrzeuge. Zugleich trat die EUKommission als grenzpolitischer Akteur aus den Schatten des traditionalen nationalstaatlichen Grenzenmonopols und betrieb planmäßig die Institutionalisierung eines weitgehend verselbstständigten EU-eigenen Grenzenregimes. Die rechtliche Grundlage dafür ist der Schengener Grenzkodex von 2006, mit dem die EU ihren Randstaaten strenge und verbindliche Vorgaben macht, wie die EU-Außengrenzen zu schützen und zu kontrollieren sind. Die administrative und polizeiliche Grenzsicherung übernimmt seit 2005 eine durch die Kommission in eigener Kompetenz als dezentralisierte Verwaltungskörperschaft gegründete Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an Außengrenzen, auch FRONTEX (von frontières extérieures abgeleitet) genannt.14 FRONTEX ist zuständig für die Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der Außengrenzen, für die Ausbildung von Grenzschutzbeamten, die Durchführung von Risikoanalysen. Ihren Aufgaben kommt die Agentur durch die Zusammenlegung von grenzschutzrelevanten Ressourcen und Experten, die Optimierung des Informationsaustauschs zwischen nationalen Datenbanken, die Durchführung von Operationen zum Schutz der Land-, See- und Luftgrenzen sowie durch die Implementierung eines Grenzkontrollregimes mit wanderungsroutenspezifischen Einsatzformen nach.15 Die FRONTEX-Agentur bildet den institutionellen Kern der integralen europäischen Grenzbildungsstrategie zum Schutz der EU-Außengrenze. Das europäische Regime zur Abwehr unerwünschter Einwanderung aus Drittstaatenländern konstituiert somit die EU-Außengrenzen als handlungsrelevante Rechts- und Kontrollinstitutionen. Damit ist die Überwachung des Zugangs von Drittstaatenangehörigen zur EU „weitestgehend europarechtlich geregelt“ (Weinzierl 2009: 375). Die EU-Außengrenze erhält eine eigene Rechtsqualität, die EU-Außengrenze konstituiert sich als handlungsrelevante euro14
15
Für eine umfassende Darstellung zu den Aufgaben, Kompetenzen, zum Rechtsstatus und zur Arbeitsweise von FRONTEX siehe Tohidipur/Fischer-Lesacano 2009; außerdem Weinzierl 2009 mit normativem Bezug auf die Menschenrechtsproblematik. Beispielsweise die Rapid Border Intervention Teams (RABITs) oder das European Patrols Network. In den Jahren 2006/2007 führte FRONTEX auf den vier Hauptrouten der Migration – die südlichen Seeaußengrenzen, die östlichen Landaußengrenzen, der Balkan und die bedeutenden internationalen Flughäfen – mehrere operative Einsätze, unter Beteiligung von bis zu sieben EU-Staaten, durch (vgl. Tohidipur/Fischer-Lescano 2009).
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paweit agierende Rechtsinstitution. Obwohl die FRONTEX-Statuten formal die nationale Grenzkontrollkompetenz unangetastet lassen, führt die faktische Bündelung der Bedarfs- und Einsatzplanung, der technischen und personellen Ausstattung sowie der operativen Koordinierung und Durchführung der Grenzkontrollen in der Agentur zu einer Monopolisierung der Grenzschutzfunktionen in ihrer Hand. Die Kosten der Grenzkontrollen an den EU-Außengrenzen tragen nunmehr alle Mitgliedstaaten zusammen; sie wurden vergemeinschaftet, obwohl zwischen den Mitgliedstaaten weder von einer Interessenhomogenität auszugehen ist noch ein EU-internes Lastenverteilungssystem erkennbar ist. Die Ausdifferenzierung des europäischen Grenzensystems ermöglicht es den an verschärften Außengrenzkontrollen interessierten Mitgliedstaaten, die Kosten für das Grenzregime entweder in die EU oder in die Peripheriestaaten zu externalisieren. Zugleich gestattet das europäische Genzenmanagement, insbesondere an den Seeaußengrenzen der EU, eine weitgehende Entbindung von menschenrechtlichen Verpflichtungen sowie eine effektive Vorverlagerung der Grenzkontrollen in die Hoheitsgebiete im Vorfeld der territorialen EU-Außengrenzen, etwa auf hoher See im Mittelmeer und im Atlantik, auf Schiffen oder auch in den Abfahrtshäfen in den Maghrebstaaten (vgl. Weinzierl 2009). Ein zentrales Charakteristikum des europäischen Grenzenregimes ist dessen Verhandlungsabhängigkeit. Der Abbau der Binnengrenzen im Zuge der Verwirklichung des europäischen Markts, die Einstellung der Personenkontrollen im Schengen-Raum sind ebenso Resultate von zwischenstaatlichen Verhandlungen und Paktierungen wie die Expansion der EU-Außengrenzen als Folge der ausgehandelten Kooptation neuer Mitglieder in den europäischen Verband. Mit den Verhandlungen über den Aufbau eines EUeigenen Grenzregimes im Rahmen des Schengener Grenzenkodex, der FRONTEX-Aktivitäten und besonders auch der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP)16 berühren die Verhandlungen direkt die Grenzsicherung, mithin die territoriale Schließungsfunktionen der EU-Verbandsgrenzen. Dabei ist eine folgenreiche „Modifizierung des politischen Tausches“ festzustellen (vgl. Eigmüller/Vobruba 2009), die mit der Konstituierung der äußeren Grenzen der Randstaaten als gemeinsame EU-Außengrenze und insbesondere mit dem Übergang von der Erweiterungspolitik zur Europäischen Nachbarschaftspolitik zusammenhängt. Als Gegenleistung für die 16
Zur ENP siehe ausführlich Vobruba 2008.
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Rücknahme von in der EU abgeschobenen Migranten und für die Zulassung von extraterritorialen Einsätzen im Zusammenhang der Vorverlagerung der Grenzkontrollen bietet die EU im Rahmen der ENP den kooperierenden Peripheriestaaten neuerdings quotalisierte Visa-Erleichterungen und temporäre Zuwanderungsmöglichkeiten für bestimmte Gruppen an. Bislang profitierten davon beispielsweise 4000 Senegalesen und 60.000 Tunesier, die Saisonarbeiter-Visa erhalten haben (vgl. Weinzierl 2009: 379). Die Modifizierung des politischen Tauschs zeigt sich an dem Wechsel von dem bisher praktizierten Verhandlungsziel „maximaler möglicher Undurchlässigkeit“ der Außengrenzen des nationalstaatlichen Schließungsmodels hin zu einer Politik der „selektiven Grenzöffnung“ als Gegenleistung für die Übernahme europäischer Exklusionsaufgaben durch die Anrainerstaaten. „Die selektive Grenzöffnung wird (...) zu einem zentralen Bestandteil der Verhandlungen mit den ENP-Ländern“ (Eigmüller/Vobruba 2009: 498). Das europäische Grenzverwaltungssystem veranschaulicht somit den Funktionswandel und die unmittelbare Verhandlungsabhängigkeit der EUAußengrenzen. Es zeigt, dass die Europäisierung der Staatsgrenzen weder die vollständige Auflösung der Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten noch ihren Ersatz durch EU-Verbandsgrenzen bedeutet. Die Staatsgrenzen existieren weiter: als Begrenzungen der staatlichen Hoheitsgebiete, als Rechtsund Verwaltungsgrenzen, als kognitive „Marker“ nationaler Identitäten, als Sprach- und Kulturraumgrenzen und als Begrenzung des Mitgliedschaftsraums wohlfahrtsstaatlicher Solidargemeinschaften. „Frontiers are changing their characteristics“, stellen Anderson und Bort somit zu Recht fest, „and are being redifined in popular and elite consciousness. The long retreat of the nation state means that the international frontier is losing some of its characteristics thought to be basic to it. But there is a strengthening of some frontiers in the sense of frontiers as ‚us-them‘ divides, between the ‚inside‘ and the ‚outside‘” (Anderson/Bort 2001: 21). Die europäischen Staatsgrenzen wandeln sich also zu einem integralen Bestandteil des neuen europäischen Grenzensystems. Es konstituieren sich die EU-Außengrenzen als Verbandsgrenzen eigener Qualität. Darauf baut das europäische System des Grenzmanagements auf. Die Staatsgrenzen der betroffenen Länder, die als solche unverändert bestehen bleiben, erfahren eine institutionelle Supercodierung gemäß den politischen Zielen und Rationalitätskriterien namentlich der EU-Migrationspolitik. Sie nehmen besonders auf diesem Regulierungsgebiet zusätzliche Funktionen im Interesse der 174
EU und der an selektiver Schließung interessierten Mitgliedsländer wahr. Sie werden von den institutionellen Ordnungsprinzipien der EU überlagert und dadurch in europäische Verwaltungs- und Funktionsgrenzen umdefiniert. Die Staatsgrenzen der äußeren Mitgliedstaaten übernehmen damit zusätzliche Regulierungsfunktionen für den europäischen Rechts- und Marktraum. Sie sind insofern strukturrelevant sowohl für den EU-Verband als auch für die betreffenden Mitgliedstaaten, dies aber nicht auf gleiche Weise. Nach außen grenzen sie den supranationalen Staatenverband der EU gegenüber Nachbarstaaten, die nicht zur EU gehören, ab. Die Staatsgrenzen behalten aber ihre herkömmliche Strukturrelevanz nach innen: Für den Mitgliedstaat mit EU-Außengrenzen sind die Grenzen, wie für alle Nationalstaaten auf europäischem Boden, Bestandteil der national definierten sozialen Schließung: Sie grenzen einen nationalen Demos ab und sind insofern konstitutiv sowohl für die nationale Selbstbeschreibung als distinkte Gesellschaft mit einer segmentären Kollektividentität wie für die Selbstermöglichung des einzelstaatlichen politischen Systems. Als EU-Außengrenzen umschließen sie hingegen den Geltungsraum des europäischen Rechts und des EURegimes. Die staatlichen Grenzen entziehen sich prinzipiell den Modalitäten des politischen Tauschs, während die EU-Außengrenzen sich erst durch zwischenstaatliche Verhandlungen im Rahmen des europäischen Mehrebenensystems konstituieren. 5
Schlussbemerkung
Die EU-Außengrenzen sind, obwohl sie in ihren grenztypischen Schließungsfunktionen in mancher Hinsicht gestärkt wurden, nicht mit herkömmlichen Staatsgrenzen vergleichbar. Das verweist auf die Systembesonderheiten der EU als supranationalen Zweckverband mit prinzipieller Erweiterungsoffenheit. Aufgrund des expansiven und kontingenten Charakters, der äußerst vagen geographisch-kulturellen Identität sowie der weder territorial noch kulturell begrenzbaren, sondern globalen Wertebasis der EU eignen sich ihre Außengrenzen nicht zu einer territorialen Fixierung und Raumbindung des transnationalen Integrationsprojekts. Die EU-Außenabgrenzung weist nicht das tradierte Schließungs- und Stabilitätsmuster wie die Nationalstaaten auf. War es für die territoriale und politische Konsolidierung der Nationalstaaten unerlässlich, dass deren 175
Staatsgrenzen stabil, unveränderlich und eindeutig waren, so sind die EUAußengrenzen fluide, geographisch unterbestimmt und dadurch verhandlungsabhängig. Das folgt einerseits aus den Leitideen und Ordnungsprinzipien des supranationalen Verbands. Es ist aber andererseits auch der geographischen Unbestimmtheit der EU und ihrer politisch-institutionellen Finalität geschuldet. Damit eignet sich für die EU das Territorialprinzip auch nicht zur Bildung einer transnationalen kollektiven Identität. Die äußerst fragile politisch-geographische Identität sowie die universale und damit grenzenlose Wertebasis der EU gewinnen durch die Konstituierung der EU-Außengrenzen keine schärferen Konturen, sondern zerfasern weiter und drohen sich in einer Vielzahl von potentiellen politisch-territorialen Identitäten mit unterschiedlichen und asymmetrischen Grenzverläufen und Institutionalisierungschancen aufzulösen, gleichsam in einer Pluralität von verschiedenen Europas auszudifferenzieren. Damit wird sich die europäische Identität aber auch immer weniger als sinnvolle und tragfähige Bezugseinheit von politischen Integrationsbemühungen eignen, was voraussichtlich zu verstärkten Bemühungen der Gründungs- und Kernländer der EU führen könnte, sich ihrer gemeinsamen Interessen und ihrer inzwischen, nach einem halben Jahrhundert Integrationsgeschichte, auch historisch begründeten Verbandsidentität als „Kerneuropa“, etwa im Rahmen der „verstärkten Zusammenarbeit“ und einer Politik der „variablen Geographie“, zu versichern. Literatur Anderson, Benedict, 1991: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York: Verso. Anderson, Malcolm, 1996: Frontiers. Territory and State Formation in the Modern World. Oxford: Polity Press. Anderson, Malcolm und Eberhard Bort, 2001: The Frontiers of the European Union. Basingstoke: Palgrave. Association of European Border Regions (Hg.), 2008: Cooperation between European Border Regions. Review and Perspectives. Baden-Baden: Nomos. Axelrod, Robert, 1987: Die Evolution der Kooperation. München: Oldenbourg. Bach, Maurizio, 2008: Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der Europäischen Integration. Wiesbaden: VS. Bainbridge, Timothy, 2002: The Penguin Companion to European Union. 3. Aufl., London: Penguin.
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III EU-Integration als Sozialintegration
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Soziale Integration (in) der Europäischen Union Peter A. Berger
Fragen nach der gesellschaftlichen „Integration“ gehören zu den klassischen, gleichwohl immer wieder aktualisierten Traditionsbeständen soziologischen Denkens: Von Emile Durkheim über Talcott Parsons, David Lockwood, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann bis zu Anthony Giddens oder Richard Münch – um hier nur einige einflussreiche Autoren zu nennen, in deren Theorieentwicklung das Integrationsthema zumindest phasenweise einen zentralen Stellenwert hatte – finden sich immer wieder neue Anläufe zur Präzisierung des Konzepts der Integration, zur Identifizierung zentraler integrativer Mechanismen oder von Gefahren der Desintegration (vgl. Friedrichs/Jagodzinski 1999; Imbusch/Heitmeyer 2008; Heitmeyer 1997; Münch 1995). Auch die in diesem Abschnitt versammelten Beiträge beschäftigen sich mit „Integration“, allerdings nicht mit Blick auf einzelne (National-)Gesellschaften. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Integration (in) der Europäischen Union (EU), wozu zwar alle Beiträge empirisch vorgehen, jedoch nicht nur jeweils eigene Indikatoren und unterschiedliche Datenquellen heranziehen, sondern zugleich verschiedene theoretische Perspektiven wählen. So stellt sich etwa Jan Delhey in Anlehnung an wirtschaftswissenschaftliche Vorstellungen eines „optimalen Währungsraums“ die Frage, ob die Europäische Union auch nach der Osterweiterung ein „optimaler Integrationsraum“ im geographischen Sinne sei, und vertritt dazu die These, dass sich die EU mit den jüngsten Erweiterungen weiter von einem – wie auch immer bestimmbaren – „Optimum“ entfernt habe. Unter Systemintegration wird dabei die politisch-rechtliche (auch als „formal“ bezeichnete) Integration verstanden; Momente der sozialen Integration (in) der EU sollen dagegen durch gegenseitige „Vertrautheit“ beziehungsweise wechselseitiges „Vertrauen“ der EU-Bürger operationalisiert werden. Auf der Basis der 181
gewählten Indikatoren gilt die EU dann nach der Osterweiterung als „sozial weniger integriert“, wobei weniger die einem Konvergenzparadigma entsprechende Vorstellung, nach der die EU-Integration auf Ähnlichkeiten der Nationalgesellschaften beruht, leitend ist, sondern ein „Transaktionsansatz“ herangezogen wird, der Integration an der Dichte und Solidarität grenzüberschreitender Beziehungen festmachen will. Auch Jürgen Gerhards legt in seinen Analysen zur Sprachkonstellation in der EU eine Unterscheidung zwischen „systemischer“ und „lebensweltlicher“ (oder „sozialer“) Integration zugrunde; auf „systemischer“ Ebene gesellen sich hier zur politisch-rechtlichen Integration allerdings noch ökonomische Austauschbeziehungen und Prozesse der Migration. Vor dem Hintergrund eines „Spannungsverhältnisses“ zwischen der institutionellen europäischen Ordnung („systemische“ Integration) und der sozial-lebensweltlichen Integration, die als „kommunikationsvermittelt“ beschrieben wird, nimmt er an, dass Letztere durch die Ausbreitung von Mehrsprachigkeit unter den Bürgern Europas „entscheidend begünstigt“ werde. Er kann dazu unter anderem zeigen, dass die Ausstattung mit „transnationalem, linguistischem Kapital“ auf struktureller Ebene sowohl durch die Größe wie den Modernitätsgrad einer Nationalgesellschaft beeinflusst wird und auf individueller Ebene von der Verfügung über „institutionalisiertes kulturelles Kapital“ (Bourdieu 1983) sowie von der als Berufsgruppeneinteilung operationalisierten „Klassenlage“ abhängt. Für Martin Heidenreich und Marco Härpfer stellen ökonomische und politische Integrationsprozesse, wozu sie als weiteres Moment einer „systemischen“ Integration noch die Herausbildung „supranationaler Regulationsstrukturen“ im Bereich von Sozial- und Beschäftigungspolitik zählen, den Hintergrund für ihre Untersuchung zu Ausmaß und Entwicklung von (Einkommens-)Ungleichheiten in Europa dar. Trotz der nach wie vor ausgeprägten Nationalspezifik von Ungleichheitsmustern und darauf bezogenen sozialpolitischen Kompensationsbestrebungen lassen sich ihrer Ansicht nach sowohl mit Blick auf ungleichheitsgenerierende und -reproduzierende Mechanismen wie auch mit Blick auf die Wahrnehmung und Bewertung von Ungleichheiten durchaus schon übergeordnete Bedingungskomplexe und transnationale Maßstäbe auffinden (vgl. Bach 2008a; Heidenreich 2006; König et al. 2008). Alles in allem füge sich dies zu einem Trend der „Angleichung“ von Einkommensungleichheiten zwischen den europäischen Nationalgesellschaften zusammen, wobei in vielen dieser Gesellschaften seit 1995 182
zwar auch die innergesellschaftlichen Ungleichheiten abzunehmen scheinen, sich jedoch statt eines einheitlichen Ungleichheitsraums eher ein „Mehrebenensystem“ sozialer Ungleichheiten mit regionalen, nationalen und europäischen Bezügen abzeichne, das aus der Perspektive einer „Transnationalisierung sozialer Ungleichheit“ (Berger/Weiß 2008) als sich „überlappende, durch grenzüberschreitende Verflechtungen gekennzeichnete soziale Räume“ beschrieben werden könne.1 „Verflechtungen“ und „Vernetzungen“ als Momente einer „horizontalen Europäisierung“ werden schließlich mit dem Beitrag von Sebastian Büttner und Steffen Mau direkt in den Blick genommen (vgl. auch Mau 2007). Vor dem Hintergrund des politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Integrationsprozesses und gestützt auf ausgewählte Daten zeichnen sie Stand und Ausbau transnationaler Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen, von innereuropäischer Migration, Mobilität und Tourismus, des Jugendund Studentenaustauschs und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von europäischen Städten, Gemeinden und Regionen nach. Die sich intensivierenden Verflechtungen und Vernetzungen gehen für sie einher mit einer „wachsenden Dichte an grenzüberschreitenden sozialen Interaktionen“ und tragen so im Sinne einer „horizontalen“ Europäisierung zur Erweiterung des europäischen Erfahrungs- und Handlungsraums, zur Zunahme interkultureller Erfahrung und Fremdheitsfähigkeit sowie zur Entstehung eines europäischen Interdependenzbewusstseins bei. Unter Berufung auf Neil Fligstein (2008) machen sie jedoch auch darauf aufmerksam, dass die Miteinbeziehung in diesen entstehenden europäischen „Sozialraum“ keineswegs gleichmäßig erfolge, sondern sich, wie schon am ungleich verteilten „linguistischen Kapital“ bei Jürgen Gerhards zu sehen war, je nach sozialem Status durchaus unterschiedlich gestalten kann. Auch aus diesem
1
Die „Transnationalisierung sozialer Ungleichheit(en)“ wird vor allem in den Sammelbänden von Bach/Sterbling (2008), Bayer et al. (2008), Berger/Weiß (2008) und Heidenreich (2006) analysiert und zum Beispiel auch von Ulrich Beck (2008a) in den Mittelpunkt seiner „Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen“ gestellt. „Transnationale Vergesellschaftung“, „transnationle Integration“ und „Transnationalisierung“ stehen zudem bei Mau (2007), Münch (2008) sowie Pries (2008a, 2008b) im Zentrum; neuere Beiträge zum Zusammenhang von Migration und Integration finden sich schließlich in Hunger et al. (2008) sowie in Kalter (2008).
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Blickwinkel weist „Europa“ also nach wie vor Züge eines hegemonialen „Projekts“ von Eliten auf.2 Fragt man nun nach dem Verständnis von „Integration“, das diesen Beiträgen – explizit oder implizit – zugrunde liegt, finden sich einerseits Formulierungen, die von Identität(en) oder zumindest Ähnlichkeit(en) als Grundlage beziehungsweise Voraussetzung von Integration ausgehen und damit an die Vorstellung von „mechanischer Solidarität“ bei Emile Durkheim (1992), die ja als Solidarität durch Ähnlichkeit bestimmt wird, erinnern. Das mag insofern sinnvoll sein, als es sich ja bei den Gesellschaften in der EU in der Regel um demokratisch verfasste Rechtsstaaten oder um Gesellschaften auf dem Weg dorthin, zumindest also in diesem Sinne um „ähnliche“ Einheiten handelt – wobei freilich, wie nicht zuletzt die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung gezeigt hat, den „Ähnlichkeiten“ mit Blick auf die konkreten Ausformungen wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und sozialer Sicherungssysteme durchaus Grenzen gesetzt sind (vgl. Esping-Andersen 1990, 1999; Kaufmann 2006; Lessenich/Ostner 1998; Schmid 2002). Trotzdem deuten Jürgen Gerhards Überlegungen zum „Modernitätsgrad“ oder die von Martin Heidenreich und Marco Härpfer untersuchten Muster von Einkommensungleichheiten auf Tendenzen der Angleichung europäischer Gesellschaften (bei möglicherweise intensivierten innergesellschaftlichen Ungleichheiten) hin, sodass Aspekte einer segmentären Differenzierung und einer darauf aufruhenden Solidarität aus Ähnlichkeit oder gar unter „Gleichen“ (zum Beispiel in der Abschottung der EU nach außen, etwa gegen Migrationsströme oder gegen unerwünschte Produkte) durchaus eine Rolle spielen dürften. Andererseits scheint das zugrunde gelegte Integrationsverständnis über weite Strecken aber auch dem von Durkheim als charakteristisch für moderne Gesellschaften betrachteten Modus der „organischen Solidarität“ zu entsprechen, nach dem die „Einheit“ eines gesellschaftlichen Gebildes auf der Basis von „Arbeitsteilung“ (oder funktionaler Differenzierung) durch wechselseitige Abhängigkeiten und (Aus-)Tauschbeziehungen entsteht (vgl. Münch/Büttner 2006; Schimank 1999). In diesem Zusammenhang vermutete Durkheim zwar, dass durch die dabei eingegangen „sozialen Beziehun2
Zu damit implizit angesprochenen Fragen nach „transnationalen“ Eliten- oder Klassenbildungen vgl. Gerhards (2008), Hartmann (2007, 2008) und Sklair (2001, 2008); zur Herausbildung einer „hegemonialen“ Ordnung beziehungsweise von vorherrschenden Diskursen oder Semantiken vgl. besonders Münch (2008).
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gen“ auch wechselseitige und dauerhaftere „moralische“ Verpflichtungen entstehen würden (vgl. Baurmann 1999) – und dieser Spur scheinen sowohl Jan Delhey wie auch Sebastian Büttner und Steffen Mau zu folgen. Da sich Durkheim aber unsicher darüber gewesen zu sein scheint, ob aus eher zufälligen Kontakten allein schon jenes „Kollektivbewusstsein“ als Gesamtheit gemeinsamer Überzeugungen und Gefühle hervorgehen könne, das ihm für Einheit und Zusammenhalt von Gesellschaften notwendig schien, hielt er nach zusätzlichen Mechanismen und Garanten dafür Ausschau, die er dann bekanntlich vor allem in der „Erziehung“, aber auch in der Stärkung von „Professionen“ zu finden glaubte.3 Für die weitere Theorieentwicklung in der Soziologie schien damit lange Zeit ausgemacht, dass die Integration von Gesellschaften auch vor dem Hintergrund fortschreitender Arbeitsteilung und funktionaler Differenzierung durch moralische „Gefühle“ und kollektive Bindungen, also durch „Solidarität“, zu gewährleisten sei. Insbesondere im Werk von Talcott Parsons (zum Beispiel 1968, 1971) finden sich vielfältige Anläufe, die Integration von Individuen in eine Gesellschaft beziehungsweise Gemeinschaft vermittelt über deren Versorgung mit normkonformen Handlungsmotiven im Sozialisationsprozess einerseits, die Spezifizierung von Werten und Normen in institutionalisierten Erwartungsmustern oder „Rollen“ andererseits, sowie durch die Einführung eines „Systems der gesellschaftlichen Gemeinschaft“ begrifflich-analytisch zu erfassen. Gegen den bei Parsons normativ-moralisch aufgeladenen – manche würden mit Niklas Luhmann (zum Beispiel 1997) vielleicht auch sagen: überladenen (vgl. Schmidt 1999) – Integrationsbegriff konnte David Lockwood (1971) dann im Übergang von den 1960er in die 1970er Jahre seine Unterscheidung zwischen sozialer Integration und Systemintegration profilieren: Systemintegration meint bei ihm das Ausmaß der Abstimmung der einzelnen Systeme einer Gesellschaft, also den Zusammenhalt gesellschaftlicher Subsysteme (zum Beispiel Wirtschaftssystem, Rechtssystem usw.). Sozialintegration zielte dagegen – ganz im Sinne von 3
Dazu wären, ähnlich wie bei der Frage nach der transnationalen Elitenbildung, weitere Analysen berufsgruppenspezifischer, transnationaler Mobilitätsprozesse, wie sie neben Mau und Mewes (2008) unter anderen auch Braun/Recchi (2008) und Verwiebe (2004, 2008) vorgelegt haben, ebenso hilfreich wie Untersuchungen zu den sozialisatorischen Auswirkungen von Bildungssystemen, die nicht so sehr Differenzen in deren Leistungsfähigkeit betonen – wie etwa die PISA-Studien –, sondern, beispielsweise nach dem Muster der Studien von Meyer/Ramirez (2005) zur Institutionalisierung von Bildung im Globalisierungsprozess, auf kulturell-institutionelle Gemeinsamkeiten zielen.
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Durkheim oder Parsons – auf die Beziehungen von Individuen untereinander beziehungsweise auf deren (normativ-moralische) Integration in Gemeinschaften beziehungsweise in die Gesellschaft, hebt also auf soziale Gruppen sowie auf Inklusion und Teilhabe von Menschen ab. Ihre theoretisch anspruchsvollste Neuinterpretation erfuhr die von Lockwood vorgeschlagene Unterscheidung dann durch Jürgen Habermas in seiner „Theorie des Kommunikativen Handelns“ (1981): Sozialintegration wird dort aus einer „Innen-“ oder „Teilnehmerperspektive“ als „lebensweltliche“ Koordination von Handlungen durch normativ abgesicherte oder im Diskurs hergestellte, konsensuelle Handlungsorientierungen konzipiert – Richard Münch (1995) nennt dies auch „kulturelle Integration“. Systemintegration, die erst aus einer „Außen-“ oder „Beobachterperspektive“ greifbar wird, erscheint dagegen als häufig „hinter dem Rücken“ der Akteure verlaufende, „systemische“ Koordination über Handlungsbedingungen und -folgen, die durch die „Medien“ Geld und Macht stabilisiert wird. Bei Habermas ist die Trennung zwischen Sozial- und Systemintegration aber bekanntlich nicht nur eine begrifflich-analytische Unterscheidung. Sie ist vielmehr auch Grundlage einer längerfristig angelegten Modernisierungstheorie sowie einer tief schürfenden Gesellschaftsdiagnose, der zufolge „Modernisierung“ zunächst in einer „Entkopplung“ von System und Lebenswelt beziehungsweise in einer Freisetzung der „systemischen“ Medien Geld und Macht aus den traditionellen „Zwängen“ soziokultureller Lebenswelten besteht. Im Zuge dieser Freisetzungen kommt es jedoch nicht nur zu historisch einzigartigen Leistungssteigerungen wissenschaftlich-technischer, ökonomischer, politischer oder rechtlicher Systeme. Zugleich erwächst daraus eine Gefährdung der normativ-moralischen oder kulturell-diskursiven, kurz: der sozialintegrativen Potentiale der „Lebenswelt“ – was Habermas in die folgen- und einflussreiche Metapher einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ gefasst hat. Trotz der vielfältigen Kritik an dieser Begriffskonstruktion scheinen mir nun daran angelehnte Gegenüberstellungen einer beschleunigten, gewissermaßen „selbstläufig“ und zugleich unkontrollierbar gewordenen – oder bestenfalls von den Herrschaftsinteressen einer hegemonialen Elite kontrollierten4 –, also „von oben“ und „von außen“ einwirkenden Systemintegrati4
Dann kann, wie etwa bei Bach (2008b), die Europäische Integration auch als Herausbildung eines supranationalen Herrschaftsverbands erscheinen, dem keine soziale Basis – im Sinne von „Sozialintegration“ – zugrunde liegt.
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on und einer demgegenüber mehr „von unten“ und „von innen“ kommenden, in der unmittelbaren Lebenswelt, in der Alltagskultur und in alltäglichen Sozialkontakten verankerten und insgesamt auch „langsameren“ Sozialintegration nach wie vor weite Teile der Diskussion um die Integration moderner Gesellschaften – und damit auch um die EU-Integration – zu prägen. Entsprechend diesem Verständnis kann dann beispielsweise in einem hier zufällig herausgegriffenen Aufsatz zu „Europas Jugend“ ganz selbstverständlich davon die Rede sein, dass die Systemintegration „voranschreitet“, während die Sozialintegration demgegenüber „deutlich langsamer“ verlaufe (Rippl 2006: 37). Und auch die hier versammelten Beiträge scheinen die darin aufscheinenden Vorstellungen einer qualitativen Differenz zwischen System- und Sozialintegration sowie eines mehr oder weniger ausgeprägten „Nachhinkens“ der sozialen gegenüber der systemischen Integration zu teilen. So bezieht Delhey seine Überlegungen zur „Optimalität“ der EU als Integrationsraum zum einen auf die gegenseitige „Relevanz“ (Vertrautheit) der EU-Staaten, die mit Face-to-face-Interaktionen, mit dem Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Informationen, Kapital oder auch mit gegenseitiger Aufmerksamkeit und Kenntnissen übereinander in Zusammenhang gebracht werden. Zum anderen soll die Sozialintegration der EU als Staatengemeinschaft am „Gemeinschaftssinn“ ihrer Bürger, also am wechselseitigen „Vertrauen“ festgemacht werden. Zentral ist aber, dass „Sozialintegration“ als etwas Informelles, Spontanes, Nicht-Verordenbares betrachtet wird – und zugleich als etwas, das im Unterschied zur Systemintegration durch Vergrößerungen der EU geschwächt werden beziehungsweise mit formal-rechtlichen Erweiterungen nicht ohne weiteres Schritt halten könne. Für Jürgen Gerhards ist darüber hinaus klar, dass das Ausmaß, in dem der „systemische Prozess“ der Europäisierung von einer „lebensweltlichen Europäisierung“ begleitet werden kann, von den Möglichkeiten der Kommunikation – und dabei insbesondere von der Mehrsprachigkeit der EU-Bürger – abhängt. Dies wird dann freilich nicht nur in einem zeitlichen Verhältnis des „Nachhinkens“ sprachlicher Kompetenzen gegenüber der systemischen Europäisierung, sondern auch in einem Verhältnis sozialer Ungleichheit zwischen multilingualen EU-Eliten als „Teil einer neuen transnationalen Klasse“ und sprachlich weniger privilegierten Bürgern der EU gesehen. Obwohl explizite Bezüge weniger deutlich sind, da die Integrationsfrage dort in der Traditionslinie der „mechanischen Solidarität“ mehr mit Blick 187
auf Ähnlichkeiten und Differenzen (der Einkommensverteilungen) diskutiert wird, taucht die Vorstellung von Verwerfungen und einer Art „time lag“ zwischen System- und Sozialintegration bei Martin Heidenreich und Marco Härpfer ebenfalls auf. Und zwar spätestens dann, wenn sie zwischen „objektiven“ („systemischen“) Ungleichheiten einerseits, „subjektiven“ Bewertungen und Gerechtigkeitsmaßstäben, die eher in einer „sozialintegrativen“ Dimension zu verorten wären, andererseits unterscheiden und feststellen, dass es trotz einer tendenziellen Angleichung in den „objektiven“ Ungleichheitsmustern nicht zu einer „größeren politischen Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses durch die Bevölkerung“ gekommen sei. Klarer werden die Bezüge zur System-Sozialintegration-Unterscheidung dann wiederum bei Sebastian Büttner und Steffen Mau, in deren Augen – und ganz im Sinne von Durkheims Argumentation zu „organischer Solidarität“ – Europäisierung mit einer „wachsenden Dichte an grenzüberschreitenden sozialen Interaktionen“ einhergeht. Nur wenn über die Entstehung „supranationaler Institutionen“ (als Momente einer systemischen Integration) hinaus „zwischenmenschliche Kontakte“ gefördert werden, wollen sie von „Europa als emergentem Sozialraum“ im Sinne von Sozialintegration sprechen – wobei auch hier Vorstellungen eines zeitlichen Nacheinanders von systemischer Integration, die unter anderem auch die Herstellung entsprechender Infrastrukturen für die Mobilität von Menschen, Gütern und Informationen umfasst, und der sozialen Integration, die in Anlehnung an Anthony Giddens (1984) an unmittelbaren Interaktionen festgemacht wird, leitend zu sein scheinen.5 Versucht man nun abschließend, die unterschiedlichen theoretischen Perspektiven auf die Integration (in) der Europäischen Union, die in den folgenden Beiträgen auftauchen, zu ordnen, mag es hilfreich sein, neben der bisher diskutierten Unterscheidung zwischen einer sozialen und einer systemischen Integration zusätzlich zwischen einer „Logik der Differenzen“ (beziehungsweise der (Un-)Ähnlichkeiten) und einer „Logik des Austauschs“ (beziehungsweise der „Ströme“; vgl. zum Beispiel Castells 2001) zu 5
Obwohl sich auch darauf einige implizite Bezüge finden lassen, kann hier auf die von Anthony Giddens (1984: 139ff.) in seiner Strukturierungstheorie vorgeschlagene Reformulierung der Lockwood’schen Begriffe, nach der Sozialintegration sich auf Mechanismen bezieht, die „in circumstances of co-presence“ Reziprozität erzeugen, während Systemintegration die Reziprozität von Akteuren oder Kollektiven „across extended time-space, outside conditions of co-presence“ bezeichnen soll, nicht näher eingegangen werden.
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unterscheiden (vgl. Weiß/Berger 2008). Die Rede von einer Logik der Differenzen (und Identitäten) erinnert dabei an Durkheims Vorstellung von „mechanischer Solidarität“, soll jedoch darüber hinaus darauf aufmerksam machen, dass eine Sozialintegration unter Ähnlichen oder Gleichen sich meist „nach innen“ richtet und dabei in der Regel die Differenzen oder Ungleichheiten „nach außen“ beziehungsweise gegenüber anderen sozialen Einheiten und Gruppen vergrößert – oder zumindest aufrecht erhält.6 Und auch wenn die Rede von einer Logik des Austauschs zumindest im ökonomischen Sinne an durch Arbeitsteilung bedingte (Aus-)Tauschvorgänge und mithin an die „organische Solidarität“ bei Durkheim anschließt, umfasst sie insofern mehr und anderes, als es nicht nur um tauschinduzierte gegenseitige Abhängigkeiten und Verpflichtungen geht, sondern auch solche weniger gerichteten „Ströme“ in den Blick kommen sollen, auf die – wie zum Beispiel bei Informationsflüssen, bei „multimedialen“ Strömen oder bei Migrationsvorgängen – Reziprozitätsvorstellungen nicht oder nur eingeschränkt angewendet werden können. Integrationsvorstellungen, die von einer Logik der Differenzen/Identitäten ausgehen, tendieren dabei nur allzu leicht zu jenem „methodologischen Nationalismus“, dessen Überwindung etwa Ulrich Beck (2004, 2007, 2008a, 2008b; Beck/Grande 2004) immer wieder eingefordert hat – eine Logik der Ströme scheint dagegen offener für die Herausbildung so genannter „transnationaler Räume“ und für darüber hinaus greifende Prozesse der „Transnationalisierung“ (vgl. Weiß/Berger 2008; Mau 2007; Pries 2008a, 2008 b). Allerdings kann der Bezug auf fortbestehende (nationalstaatliche) Differenzen, Ungleichheiten und Grenzen (vgl. auch Eigmüller/Vobruba 2006) auch den Blick schärfen für jene Ströme von Gütern und Kapital, aber vor allem auch von Informationen und Menschen, die durch zwischenstaatliche und/oder regionale Ungleichheiten, wie sie zum Beispiel Martin Heidenreich und Marco Härpfer herausarbeiten, möglicherweise erst ausgelöst werden (vgl. zum Beispiel Vobruba 1995). Im Sinne einer Logik des Austauschs können dann beispielsweise Migrationsströme (ähnlich wie soziale Mobilität generell) als zentrale Mechanismen der (Sozial-)Integration Europas aufgefasst werden: Nach dem Muster eines „Mobilitätszirkels“ (vgl. Berger 1996, 2004; Turner 1984) erhöhen Bewegungen von einzelnen Men6
Genau deshalb hat Reinhard Kreckel (2004) im Übrigen in seiner theoretischen Begründung von Ungleichheitsressourcen oder -dimensionen den Modus der „selektiven Assoziation“ unter „Gleichen“ als ungleichheitsgenerierenden Mechanismus eingeführt.
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schen in neue (soziale) Räume die Wahrscheinlichkeit von Kontakten zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Subpopulationen oder Gruppen. Dies zwingt insbesondere die „mover“, also die mobilen Personen, sich mit anderen Verhaltensweisen, Einstellungen und Werthaltungen auseinanderzusetzen und sollte – als Mechanismus der Sozialintegration – auch zu mehr Empathie für die Wünsche und Motive anderer, wenigstens aber zu einer wachsenden Toleranz gegenüber „abweichenden“ Formen der Lebensführung, anderen Verhaltensweisen und Wertorientierungen führen – eine Vermutung, die David Lerner (1979) übrigens schon in den frühen 1960er Jahre in seiner Theorie der „Modernisierung des Lebensstils“ formulierte. Zugleich nimmt mit der Zunahme von Mobilität die Homogenität von Bevölkerungen ab, Grenzen werden in der Folge undeutlicher – und ein sich selbst verstärkender Kreislauf einer mobilitätsbedingten Integration kann in Gang kommen. Grenzüberschreitende Prozesse der Migration und der beruflichen Mobilität, aber auch, wie insbesondere Sebastian Büttner und Steffen Mau betonen, jene grenzüberschreitenden „Ströme“ von Menschen in Form des Tourismus oder des Schüler- und Studentenaustauschs, können dabei schließlich auch dazu beitragen, dass die europäische (Sozial-)Integration kein „Elitenprojekt“ bleibt. Zwar werden Ungleichheiten in der Ausstattung mit kulturellem Kapital – wobei mit Jürgen Gerhards die Aufmerksamkeit vor allem dem „linguistischen Kapital“ zu gelten hat – nach wie vor eine Rolle spielen. Im Sinne einer Logik des Austauschs sollten hier jedoch weniger sprachliche Differenzen und mögliche Verständnisschwierigkeiten betont, sondern mit Jan Delhey vielmehr die Chancen der Herausbildung von „Vertrautheit“ und „Vertrauen“ in den Blick genommen werden. In Anlehnung an Richard Münch (2008: 13) kann man dann die Europäische Integration auch als einen „fortlaufenden Diskurs“ begreifen, in dem „die national verankerten Semantiken der Legitimation sozialer Ordnung um eine konsentierte Deutung der sich herausbildenden europäischen Sozialordnung und gegebenenfalls auch gegen das faktische Fortschreiten der ökonomischen Integration ohne kulturelle Legitimation kämpfen.“ Und ein solcher Diskurs ist auf das Zusammentreffen von Menschen und Argumenten gleichermaßen angewiesen.
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Die osterweiterte Europäische Union – ein optimaler Integrationsraum? Jan Delhey
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Fragestellung
Auf anekdotischer Basis erleben wir beinahe täglich, dass die nach Osten erweiterte Europäische Union (EU) (noch) kein optimaler Integrationsraum ist. Ich möchte nur drei Beispiele nennen. Ein erstes ist der Aufschrei in den Medien der „alten“ EU-15, nachdem beim letztjährigen European Song Contest der serbische Beitrag gewonnen hatte; verschwörungstheoretisch wurde gemutmaßt, die post-sozialistischen Länder hätten sich die Punkte gegenseitig zugeschanzt. Ein zweites Beispiel ist die gegenwärtige Pogromstimmung gegen Roma und Rumänen in Italien. Sie hat zum Ziel, rumänische Einwanderer, die für Kriminalität und Sozialmissbrauch verantwortlich gemacht werden, wieder des Landes zu verweisen. Ein drittes Beispiel ist die Entscheidung einiger westeuropäischer Regierungen (unter anderem der deutschen), die Arbeitsmärkte noch nicht für die neuen EU-Bürger zu öffnen. In diesem Beitrag möchte ich die Frage, inwieweit die EU nach der Osterweiterung ein optimaler Integrationsraum ist, auf eine systematischere Basis stellen.1 Dazu werde ich zunächst einen Vorschlag unterbreiten, was soziologisch unter einem optimalen Integrationsraum zu verstehen ist. Dann werde ich anhand einer europaweiten Umfrage empirisch illustrieren, wie sich die EU mit ihren jüngsten Erweiterungen von einem optimalen Integrationsraum entfernt hat – und wie sie es durch ihre Erweiterungspläne fast zwangsläufig weiter tun wird. Das Konzept des optimalen Integrationsraums ist eine Anleihe aus den Wirtschaftswissenschaften. Jede Währung konstituiert einen Währungsraum – einen Raum mit intern fixierten und nach außen variablen Wechselkursen. 1
Diese Frage wurde meines Wissens erstmals von Immerfall (2000) aufgeworfen.
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Die D-Mark tat dies in ihrem Geltungsgebiet, der Euro heute in Euroland. Die entscheidende Frage ist, was die optimale geografische Ausdehnung eines Währungsraums ist. Derzeit gibt es kein Konsenskriterium für Optimalität, aber einige Vorschläge. Die Klassiker sind flexible und mobile Arbeits- und Gütermärkte (Mundell 1961) oder die Offenheit der Volkswirtschaften (McKinnon 1963). Nur wenn sich also die Arbeitskräfte in einem Währungsraum annähernd frei bewegen und die Volkswirtschaften der beteiligten Länder eng miteinander verflochten sind, ist der Währungsraum optimal – der Nutzen der Währungsunion übersteigt dann die Kosten. Analog lässt sich fragen: Ist die EU nach den vielen Erweiterungsrunden ein optimaler Integrationsraum? Das führt uns zu der ersten, trivialeren Frage, was sie zu einem Integrationsraum macht, und zur zweiten, weniger trivialen, was soziologisch betrachtet unter einem optimalen Integrationsraum zu verstehen ist. Und es führt uns schließlich zur dritten Frage: Was wissen wir darüber empirisch? 2
Der Integrationsraum EU: Systemintegration
Was Europa zu einem Integrationsraum werden lässt, ist die politisch-rechtliche Integration im Rahmen der Europäischen Union. EU-Europa ist ein Raum formaler Integration. Im Kern ist hier die politische Verschmelzung und Zusammenarbeit zu nennen, also das, was landläufig unter Europäischer Integration verstanden wird – das politische Projekt. Es geht dabei um die Teilung von Souveränität zwischen vormals unabhängigen Staaten und die Errichtung gemeinsamer Institutionen, die in der Kompetenzhierarchie über beziehungsweise neben den nationalen Regierungen und Institutionen angesiedelt sind und auf die Kompetenzen übertragen werden (Peterson 2001): Europäische Kommission, Ministerrat, Gerichtshof, Parlament, Europäische Zentralbank usw. Die Kompetenzverlagerung schlägt sich nieder in einer steigenden Zahl von Politikbereichen, bei denen die Musik ganz oder teilweise in Brüssel spielt. Diese politische Denationalisierung (Beisheim et al. 1999) hat eine Breitendimensionen (Anzahl der übertragenen Politikbereiche) und eine Tiefendimension (Grad der Kompetenzübertragung nach Brüssel in den jeweiligen Politikbereichen). Die Mitgliedstaaten gewinnen dadurch viel, büßen aber auch einiges ein – sie sind nurmehr semi-souveräne Staaten. 195
Zur rechtlich-formalen Integration Europas zählt auch die Unionsbürgerschaft. 1992 eingeführt ergänzt sie die bereits bestehenden Rechte von Freizügigkeit und Nicht-Diskriminierung um eine politische Dimension. In anderen Mitgliedstaaten lebende EU-Bürger haben das Recht, bei den dortigen Europa- und Kommunalwahlen zu wählen und sich wählen zu lassen. Weiterhin genießen die EU-Bürger diplomatischen und konsularischen Schutz durch Botschaften der Partnerländer, sofern das eigene nicht vertreten ist. Auf EU-Organe bezogene Rechte wie das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament und das Recht auf Anrufung des Bürgerbeauftragten runden das Paket ab (Bergmann 2001; Panebianco 2004). Waren die Gesellschaften der Mitgliedstaaten zu Zeiten Jean Monnets, und selbst noch in den 1970er Jahren, rechtlich relativ geschlossene Einheiten – eben „Container“ (Beck 2002) –, bildet die Staatengemeinschaft heute einen pan-europäischen Mitgliedschaftsraum, der einen Sockel gleicher Rechte für alle EU-Bürger definiert. Die Unionsbürgerschaft hat die Einwohner der anderen Mitgliedstaaten zu „QuasiLandsleuten“ aufgewertet. Die nationalen gesellschaftlichen Gemeinschaften öffnen sich rechtlich füreinander, sie werden europäisiert. Teil der formalen Integration ist auch der Euro, der es möglich macht, in der gesamten Euro-Zone mit einer Währung zu zahlen – lästiger Umtausch entfällt. Neben diesen Großprojekten sind schließlich noch eine Vielzahl weiterer Regelungen und Verordnungen zu nennen, die Gesetze und Normen EU-weit vereinheitlicht haben. Im Extremfall sind „single social areas“ (Threlfall 2003) entstanden, bei denen die Grenze zwischen Inund Ausland verschwimmt und EU-Bürger in allen Mitgliedstaaten wie Inländer agieren können und wie Inländer gesetzlich behandelt werden (müssen) – etwa in punkto Arbeitsmarktfreiheit, Konsumentenrechte, medizinische Behandlung und, wichtig zuvorderst für Kriminelle, bei der Strafverfolgung. Allen genannten Beispielen ist gemein, dass sie auf Regime- und politische Systembildung abstellen (Bartolini 2005). Und sie folgen alle einer rechtlich-formalen Logik. Durch supranationales Recht werden die Herrschaftssysteme und Gesellschaften der Mitgliedstaaten auf komplexe Weise „vergemeinschaftet“, standardisiert und harmonisiert (Lepsius 1991). So wird die Staatengemeinschaft als rechtlicher Integrationsraum konstituiert, ein Formalraum EU-Europa. Auch wenn der Begriff in der allgemeinen Soziologie schon anderweitig besetzt ist (durch Lockwood 1969), möchte ich diese Seite des europäischen Projekts als Systemintegration bezeichnen. 196
Systemisch war Europa noch nie so integriert wie heute. Seit der Montanunion als Keimzelle wurde die Einigung schrittweise vorangetrieben, zunächst als Europäische Gemeinschaft, schließlich als Europäische Union. In einer Art Parallelbewegung wurden durch Erweiterungen immer mehr Länder in den Vertiefungsprozess einbezogen – durch die gestaffelte Osterweiterung von 2004 und 2007 sind es mittlerweile 27. Und eine Reihe weiterer Länder sehen sich als zukünftige Clubmitglieder. Insbesondere die Erweiterungen werfen die Frage auf, ob die Union von heute ein optimaler Integrationsraum ist. Was wir nun brauchen ist ein Optimalitätskriterium. Hier kann man ganz verschiedenen Traditionen folgen. Man könnte einem Konvergenzparadigma folgen und sagen: Je ähnlicher die EU-Gesellschaften sind, desto optimaler der Integrationsraum. Wohlstand und Modernisierungsgrad kommen hier ebenso in Betracht wie Werthaltungen der Bevölkerung (Gerhards 2005; Heidenreich 2003). Tatsächlich ist die Staatengemeinschaft nach der Osterweiterung heterogener als zuvor und in diesem Sinne weniger optimal. Mein Vorschlag folgt einem anderen Paradigma, dem Transaktionsansatz. Optimalität definiert sich dann so: Je dichter und solidarischer die grenzüberschreitenden Beziehungen zwischen den EU-Gesellschaften und ihren Bevölkerungen, desto optimaler der Integrationsraum. 3
Das Optimalitätskriterium allgemein formuliert: Sozialintegration
Obige Definition bedeutet, die soziologischen Scheinwerfer auf die Beziehungen zwischen den Gesellschaften Europas und ihren nationalen Kollektiven zu richten (siehe auch Immerfall 2000). Diese grenzüberschreitenden Verflechtungen und Vermischungen sind vom Wesen her transnational und horizontal. Die informellen Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen, Franzosen und Belgiern, Belgiern und Polen usw. sind die kleinsten Einheiten, aus der in einer makrosoziologisch-transaktionalistischen Perspektive europäische Sozialintegration erwächst. Der soziologische Blick muss deshalb zur Seite gehen, zu den Partnerländern, nicht nach oben, nach Brüssel (vgl. Beck/Grande 2004). Auf die Staatengemeinschaft angewandt: Sind die EU-Gesellschaften beziehungsweise Bevölkerungen dyadisch eng verbunden, so ist der systemische Formalraum EU auch sozial integriert – und eben kein beziehungsleerer Raum.
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Leben kommt in diesen Formalraum unter anderem durch Urlaubsreisen, Geschäftskontakte, Einkaufstouren, Städtepartnerschaften, Schüleraustausche und Studienaufenthalte, durch Arbeitsmigration, Freundschaften und Heiraten. Die Arenen und Trägerschichten des Austauschs sind sehr unterschiedlich: mal unorganisiert wie der Individualtourismus, mal organisiert wie die Fußball-Champions-League oder die Jugendbegegnungen des Deutsch-Französischen Jugendwerks; mal von Eliten wie Politikern, Managern, Künstlern und Wissenschaftlern getragen, mal von der breiten Bevölkerung (zur Schichtung transnationaler Kontakte vgl. Fligstein 2008; Mau 2007; Mau/Verwiebe 2009). Ein erstes Optimalitätskriterium ist also, wie relevant die Partnerländer füreinander sind. Sozialintegration findet dann statt, wenn die nationalen Gruppen in einer Staatengemeinschaft nicht nebeneinander her existieren, als Paralleluniversen, sondern füreinander bedeutsam sind: durch Face-toface-Interaktionen (Blau 1977) oder den Austausch von Informationen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital (Deutsch 1966). Im weitesten Sinne kann man Relevanz schließlich auch an Aufmerksamkeit festmachen: an medialen Bezügen (Eder/Kantner 2000; Trenz 2005), an Kenntnissen von und Aufmerksamkeit für Vorgänge in den Partnerländern, an einem Sichaneinander-Orientieren und Sich-gegenseitig-Vergleichen. Der Begriff gegenseitige Relevanz ist flexibel genug, um die ganze Bandbreite realer und virtueller Transaktionen abzudecken. Die Quantität der grenzüberschreitenden Beziehungen ist eine Sache – deren Qualität eine andere. Für Letzteres finde ich den Begriff des Gemeinschaftssinns (Sense of Community) von Karl Deutsch sehr brauchbar. Im Kern geht es darum, wie solidarisch die Handlungen und Handlungsdispositionen derjenigen Bevölkerungen sind, die an einer Staatengemeinschaft beteiligt sind. Minimal sind hier solcherlei Handlungen und Einstellungen zu nennen, die negative Folgen für die Mit-Europäer vermeiden sollen (nach Durkheim die negative Solidarität; vgl. Münch 2001a). Maximal geht es darum, Gutes füreinander zu bewirken – also positive Solidarität. Ein Beispiel für negative Solidarität wäre nichtdiskriminierendes Verhalten gegenüber EUAusländern bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche. Ein Beispiel für positive Solidarität wäre grenzüberschreitende Unterstützung in Notfällen. Gemeinschaftssinn lässt sich aber auch als Handlungsdispositionen messen – in Frage kommen hier alle gegenseitigen Wahrnehmungen, Einstellungen und Bewertungen der Europäer, die sich auf einer Skala von „freundlich bis unfreund198
lich“ oder „positiv bis negativ“ anordnen lassen. Vertrauen ist in diesem Zusammenhang ein idealer Indikator (Delhey 2004, 2007), dazu später mehr. Ein anderer, häufiger verwendeter ist die europäische Identität.2 Die Sozialintegration einer Staatengemeinschaft lässt sich also an der gegenseitigen Relevanz und dem Gemeinschaftssinn der Bevölkerungen festmachen. Beide Dimensionen sind sinnvolle Kriterien eines optimalen Integrationsraums. Bevor wir diese Überlegung konkretisieren, sei noch auf die grundlegenden Unterschiede von System- und Sozialintegration hingewiesen (vgl. Delhey 2005): Bei Ersterer verschmelzen Staaten mit ihren politischen Systemen und Mitgliedschaftsräumen; bei Letzterer interagieren Gesellschaften und ihre Einwohner. Systemintegration ist immer rechtlich-formaler Natur, durch Verträge besiegelt und durch Verregelung und Institutionenbildung umgesetzt (Beisheim et al. 1999; Higgott 1997). Sozialintegration ist dagegen informell, spontan, lässt sich anregen, aber nicht verordnen. Der Modus der Systemintegration ist überwiegend supranational, ein neues Zentrum bildend, auch wenn die EU immer mehr Netzwerkelemente entwickelt, die nicht dem klassischen Modell von Supranationalität entsprechen. Sozialintegration ist horizontal ausgerichtet, nach nebenan, ohne Spitze und Zentrum. Schließlich ein letzter, entscheidender Unterschied: Beitritte tangieren die Systemintegration nach den derzeitigen Aufnahmeverfahren nur peripher. Neue Mitglieder müssen den gemeinsamen Besitzstand an Verträgen und Verordnungen komplett übernehmen, was eine weitgehende Invarianz der politisch-rechtlichen Verschmelzung gegenüber Erweiterungen garantiert.3 Allenfalls verändert sich der Anteil der Länder, die an einzelnen Integrationsprojekten beteiligt sind, wie Schengen oder Euroland. Dagegen können Erweiterungen die Sozialintegration deutlicher stärken oder schwächen. Relevanz und Gemeinschaftssinn lassen sich in keinem „Besitzstand“ festschreiben, der auf neue Mitglieder einfach übertragen wird.
2
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Auch wenn es eine Vielzahl von Untersuchungen zur europäischen Identität gibt, wird die Brücke zur Sozialintegration selten geschlagen (unter den Ausnahmen: Gerhards/Rössel 1999). Allerdings hat die europäische Identität neben der sozialkulturellen Komponente („cultural identity“) auch eine auf die EU als politisches System gerichtete Komponente („civic identity“) (Bruter 2003). Europäische Identität misst deshalb eine Mischung aus transnationaler und supranationaler Orientierung. Was die Chancen weiterer politischer Integrationsbemühungen anbelangt, ist diese Invarianz natürlich nicht garantiert.
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Empirisches Beispiel: Vertrauen und Vertrautheit
Aus Anlass der jüngsten Erweiterungen der EU soll im Folgenden die „Optimalität“ des Integrationsraums anhand von interpersonalem Vertrauen und interpersonaler Vertrautheit illustriert werden. Zwischenmenschliches Vertrauen ist spätestens seit Putnam ein wichtiges sozialwissenschaftliches Konzept. Vertrauen ist die Erwartung, dass sich andere verlässlich und freundlich verhalten (Inglehart 1991). Wer vertraut, geht davon aus, dass andere ihm nicht wissentlich schaden und, wenn immer möglich, in seinem Sinne handeln (Newton 2001). Die Sozialkapitalforschung geht von vielfältigen positiven Wirkungen für alle Arten menschlicher Organisation aus (Fukuyama 1995). Hier sollen wenige Argumente genügen: In der Regel wird argumentiert, dass mit Vertrauen Empathie, Solidarität und Inklusionsbereitschaft gegenüber „anderen“ einhergehen (Putnam 2000; Uslaner 2002). Vertrauen erleichtere Zusammenarbeit und die Erstellung kollektiver Güter; beinhalte eine moralische Selbstverpflichtung, sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern; stärke die Bindung der Menschen an die Gemeinschaft und erhöhe die Bereitschaft, sich Fremden gegenüber zu öffnen. Die Europäer müssen nun nicht allen Menschen weltweit vertrauen. Für die Staatengemeinschaft ist die Erwartung zentral, dass sich die Bevölkerungen der Partnerländer verlässlich und freundlich verhalten. Der sich vertiefenden Systemintegration im Rahmen der EU würde entsprechen, dass sich die EU-Bürger untereinander grenzüberschreitend vertrauen, im Idealfall ebenso sehr wie den eigenen Landsleuten. Interpersonales Vertrauen sollte sich zumindest EU-weit generalisieren und nicht an der eigenen Landesgrenze halt machen. Für eine Staatengemeinschaft ist Vertrauen deshalb eine so wichtige Ressource, weil die „mechanische“ Solidarität des Nationalstaats nicht vorausgesetzt werden kann (Münch 2001b). Vertrauen misst die Qualität der informellen Beziehungen in der Staatengemeinschaft. Vertrautheit, mein zweiter Beispielindikator, misst deren Quantität, also wie relevant die Europäer füreinander sind. Vertrautheit definiere ich hier als die Sicherheit, mit der die Europäer einander einschätzen können. Wissen sie, ob sie den Mit-Europäern vertrauen können, sind sie füreinander relevant. Sind die Mit-Europäer hingegen ein Buch mit sieben Siegeln, so dass keine Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit, weder positiv noch negativ, möglich ist, spricht das für eine geringe Relevanz. Aus diesem Grund ist der hier verwendete Begriff von Vertrautheit ein Indikator für die quantitati200
ve Verflechtung im Sinne von Relevanz. Inhaltlich ist er hier, anders als die umgangssprachliche Verwendung von Vertrautheit, neutral. Er impliziert nicht zwangsläufig Solidarität, wie es unser umgangssprachliches Verständnis von Vertrautheit durchaus tut. Man kann sich beispielsweise sehr sicher in seinem Urteil sein, anderen nicht zu vertrauen, aus welchen Gründen auch immer. In diesem Fall ist, so mein Argument, die Vertrautheit hoch (Relevanz), aber eben nicht das Vertrauen (Gemeinschaftssinn). Die folgenden Auswertungen beruhen auf einem aggregierten Datensatz dyadischer Vertrauensbekundungen, die aus der aktuellen European Election Study 2004 gewonnen wurden (Schmitt/Loveless 2004). Bis auf Malta nahmen alle Länder der EU-25 teil. Die EES-Umfragen sind jeweils repräsentativ für die für Europawahlen wahlberechtigte Einwohnerschaft, mithin Inländer und EU-Ausländer. Insgesamt wurden 28.861 Personen interviewt. Für meine Auswertungen habe ich jeweils nur die Inländer berücksichtigt, also diejenigen mit entsprechendem Pass. Die Samplegrößen liegen zwischen 500 in Griechenland und Luxemburg und 2100 in Schweden. In den meisten Ländern wurden um die 1000 Personen befragt. Unter anderem wurde gefragt, wie sehr sie der Bevölkerung verschiedener Länder vertrauen (darunter auch das eigene), wobei jedes Land als Vertrauensadressat einzeln abgefragt wurde (siehe Abbildung 1):4 Die Antwortvorgaben waren „viel Vertrauen“ und „wenig Vertrauen“. Aus den individuellen Antworten lässt sich berechnen, wie sich die Europäer als nationale Kollektive einschätzen: wie sehr die Deutschen den FRANZOSEN vertrauen, die Franzosen den DEUTSCHEN usw.5 Für jedes Länderpaar wurde ein Vertrauensindex gebildet (nach Merritt 1968). Bei positiven Werten überwiegt viel Vertrauen (Maximalwert +100), bei negativen wenig Vertrauen (Minimalwert -100). Beim Wert 0 halten sich beide die Waage. Der Vertrautheitsindex lässt sich aus der gleichen Frage gewinnen: als Anteil derer, die eine dezidierte Meinung, gleich ob positiv oder negativ, über die Vertrauenswürdigkeit der Partnervölker haben. Der Wertebereich ist hier 0 (völlige Unvertrautheit, das heißt, alle Befragten antworten mit „weiß nicht“ oder verweigern die Auskunft) bis 100 (alle Befragten haben eine dezidierte Meinung). Die Vertrauensfrage wurde leider nicht in Belgien, 4 5
Der Fragetext nimmt keinen Bezug auf die Europäische Union und „framed“ damit die Frage nicht. Um Sender und Adressat des Vertrauensurteils besser auseinander halten zu können, sind die Adressaten in Kapitälchen gedruckt.
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England, Schweden und Litauen gestellt; Malta nahm, wie bereits erwähnt, nicht an der Umfrage teil. Somit liefert die Umfrage für die EU-25 460 überwiegend wechselseitige Einschätzungen, zusätzlich 60 Einschätzungen mit BULGAREN, RUMÄNEN und TÜRKEN als Vertrauensadressaten. Damit lassen sich rund drei Viertel der theoretisch möglichen 600 Dyaden der EU25 abdecken und zwei Drittel der 756 Dyaden der „EU-27 plus Türkei“. Abbildung 1 zeigt einerseits, wie viel transnationales Vertrauen die EUBürger haben (linke Abbildung, Nationen als Vertrauensgeber); andererseits, wie die Vertrauenswürdigkeit einzelner Nationen eingeschätzt wird (rechte Abbildung, Nationen als Vertrauensempfänger). Abbildung 1:
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Nationen als Vertrauensgeber und -empfänger6
Für die Auswertungen in diesem Beitrag wurden nur die Länder der EU-27 plus die Türkei berücksichtigt.
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Abbildung 2:
Vertrauen und Vertrautheit zwischen den Europäern (Stand 2004)
Jeder Punkt steht für ein Länderpaar (Bewertung von Land B durch Land A).
203
Im Folgenden wird eine heute (Datenlage von 2004) bestehende EU-15, EU25 und „EU-27 plus“ simuliert.7 Der Grad der Systemintegration dieser drei EU-Varianten ist, so lässt sich argumentieren, praktisch unverändert. Wir wollen nun wissen, inwieweit das auch für die Sozialintegration gilt – unser Optimalitätskriterium. Die obere Grafik in Abbildung 2 zeigt, wo die Länderpaare der EU-15 im Hinblick auf Vertrautheit und Vertrauen angesiedelt sind. Jeder Punkt steht für ein Länderpaar (Einschätzung der bewerteten Bevölkerung durch die bewertende Bevölkerung). In der Mehrzahl sind die Dyaden in der rechten oberen Ecke angesiedelt. Das bedeutet: Ganz überwiegend bringen die Bürger der alten Mitgliedstaaten einander hohes Vertrauen entgegen und sie sind sich in diesem Urteil recht sicher. Zunächst zum Vertrauen: Im Mittel erreicht das Vertrauensbarometer einen Wert von 46 – auf einer Skala, wie erwähnt, von +100 bis -100. Sechs von zehn Länderpaaren sind durch sehr hohes Vertrauen gekennzeichnet (definiert als ein Wert von 75 oder höher). Als besonders vertrauenswürdig beurteilen die Franzosen die BELGIER, die Luxemburger die NIEDERLÄNDER (und umgekehrt), die Deutschen, Luxemburger und Niederländer die DÄNEN und SCHWEDEN, die Dänen die SCHWEDEN, FINNEN, LUXEMBURGER und NIEDERLÄNDER, um nur einige Beispiele zu nennen. Hingegen fällt die Bewertung in nur 4% der Fälle unterkühlt aus (Werte unterhalb der Nullmarke). „Wenig Vertrauen“ überwiegt in folgenden Dyaden: Franzosen gegenüber BRITEN, Niederländer gegenüber ITALIENERN, Iren gegenüber GRIECHEN, Portugiesen gegenüber BRITEN und GRIECHEN und Griechen gegenüber BRITEN. Letztere Dyade ist die einzig wirklich frostige Dyade der alten EU (Indexwert von -58). Das Vertrautheitsbarometer, unser Relevanzindikator, liegt im Schnitt bei 83. Das heißt, acht von zehn Befragten wissen die Bevölkerung der Partnerländer in ihrer Vertrauenswürdigkeit einzuschätzen. Nur ein Länderpaar liegt unter der 60%-Marke: Vier von zehn Italienern wissen nicht anzugeben, ob sie nun den LUXEMBURGERN vertrauen können oder nicht. In einer Reihe weiterer Dyaden liegt dieser Anteil bei rund einem Drittel. Insbesondere Portugiesen und Italiener sind sich unsicher darüber, wie sie die MitEuropäer einschätzen sollen. Die Osterweiterung von 2004 verändert das Bild deutlich (mittlere Grafik). Viel mehr Punkte sind nun in der unteren und linken Hälfte des Dia7
Für eine Simulation aller historischen Erweiterungsschritte siehe Delhey 2006, 2007. Das Bezugsjahr ist hier allerdings 1997, also vor der Osterweiterung.
204
gramms platziert. Inhaltlich bedeutet das, dass sich die Sozialintegration auf beiden Dimensionen verringert hat. Wenige der neu hinzugekommenen Länderpaare sind durch überschäumendes Vertrauen gekennzeichnet; überwiegend werden Dyaden mit durchschnittlichem oder unterdurchschnittlichem Vertrauen hinzugefügt. In der EU-25 sind nur noch 43% der Bewertungen durch großes Vertrauen gekennzeichnet, während sich der Anteil unterkühlter Dyaden auf ein Viertel versechsfacht hat. Der Minimalwert liegt nun bei -78. Konsequenterweise fällt das Barometer des durchschnittlichen Vertrauens um 22 Punkte auf nunmehr 24 – ein statistisch hochsignifikanter Schwund an Vertrauenskapital. Doch nicht nur das Vertrauen, auch die Vertrautheit ist geringer. Der Anteil der Dyaden mit einem hohen Grad an Vertrautheit ist auf zwei Drittel geschrumpft – nicht zuletzt Ausdruck der geografischen Entfernungen in einer Staatengemeinschaft, in der sich der Anteil der Grenzanrainer drastisch verringert hat (Delhey 2006). Mit anderen Worten: In der osterweiterten EU sind die Europäer im Mittel weniger relevant füreinander. Tabelle 1:
Kennziffern der Sozialintegration
Vertrauen Verfügbare Fälle (Dyaden) Mittelwert Standardabweichung Maximum Minimum Großes Vertrauen (>50) Mittleres Vertrauen Geringes Vertrauen (<0) Vertrautheit Fälle (Dyaden) Mittelwert Standardabweichung Maximum Minimum Große Vertrautheit (>75) Mittlere Vertrautheit Geringe Vertrautheit (<50)
EU-15
EU-25
EU-27 + Türkei
157 46 28 96 -58 60 % 36 % 4%
460 24 36 96 -78 43 % 34 % 23 %
520 16 40 96 -93 40 % 31 % 29 %
157 83 10 98 56 85 % 15 % 0%
460 74 14 99 40 64 % 32 % 4%
520 74 14 99 40 63 % 33 % 4%
Datenbasis: EES 2004; eigene Berechnungen.
205
Das dritte Diagramm bildet die EU-27 nach der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien ab plus der Türkei (um deren Mitgliedschaft seit Jahren heftig gestritten wird). Alle drei Länder können allerdings nur als bewertetes Land berücksichtigt werden, nicht als bewertendes. Die hinzukommenden 60 Dyaden (20 Mitgliedstaaten, in denen die Vertrauensfrage gestellt wurde, mal die drei Adressaten) sind überwiegend in der unteren Hälfte platziert, nicht wenige davon im rechten Viertel. Menschen in den alten wie neuen Mitgliedstaaten schätzen BULGAREN, RUMÄNEN und TÜRKEN nur wenig Abbildung 3:
Vertrauen in und Vertrautheit mit den Türken
wert – „wenig Vertrauen“ überwiegt „viel Vertrauen“ bisweilen deutlich. EU-weit sind nun fast ein Drittel der Länderdyaden im roten (negativen) Bereich, das Vertrauensbarometer fällt auf einen Wert von 16. Insbesondere die TÜRKEN werden quer durch die EU-25 als wenig vertrauenswürdig eingeschätzt. Eisig ist das Klima den TÜRKEN gegenüber in Zypern und in 206
Griechenland, primär wegen des Zypernkonflikts und der historischen Rivalität. Frostig ist es aber auch in Länder wie Italien, Portugal und Polen. Unter den weniger frostigen Ländern findet sich übrigens Deutschland. Die im Kontrast zum Vertrauen überwiegend hohen Vertrautheitswerte zeigen an, dass die EU-Bürger mehrheitlich eine gefestigte negative Einstellung gegenüber den TÜRKEN haben. Ein türkischer Beitritt würde, legt man die derzeitige Stimmungslage zugrunde, sozial desintegrativ wirken – zumindest was Vertrauen als Ausdruck von Gemeinschaftssinn anbetrifft. 5
Schlussbemerkung
Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück: Ist die EU in ihrer jetzigen territorialen Ausdehnung ein optimaler Integrationsraum? Nach der doppelten Osterweiterung ist die EU sozial weniger integriert als zuvor. Das gilt insbesondere für das grenzüberschreitende interpersonale Vertrauen (Dimension Gemeinschaftssinn), etwas schwächer für die grenzüberschreitende Vertrautheit (Dimension Relevanz). Wie im konzeptionellen Teil beschrieben sind diese beiden Indikatoren nicht die einzigen Möglichkeiten, Sozialintegration konkret zu messen. Weitere Forschung muss zeigen, ob andere Indikatoren dieselbe Geschichte erzählen. Beim jetzigen Kenntnisstand müssen wir allerdings davon ausgehen, dass die heutige Union ein weniger optimaler Integrationsraum ist, als es die alte Union der 15 war. Zwischen Systemintegration und Sozialintegration hat sich mit der Osterweiterung eine Lücke aufgetan. Ein Einwand, zu Recht, ist der Faktor Zeit. Die Gründungsländer der EG haben sich sicherlich zu Beginn auch nicht in dem Maße vertraut, wie sie es jetzt tun (die Datenreihe beginnt leider erst Anfang der 1970er Jahre). In der Tat ist das Vertrauen zwischen den West- und Südeuropäern mit wenigen Ausnahmen mit den Jahren gewachsen, ebenso deren Vertrautheit (Delhey 2007; Niedermayer 1995). Insofern ist anzunehmen, dass auch die osterweiterte EU zusammenwachsen wird, insbesondere wenn die nachholende Modernisierung der neuen Mitgliedstaaten weiterhin so erfolgreich ist. Aber auf mittlere Sicht gilt die obige Diagnose: Das durchschnittliche Vertrauenskapital ist geschrumpft, die Vertrautheit auch – die Schere zwischen System- und Sozialintegration hat sich geöffnet.
207
Zudem hat der Faktor Zeit einen Gegenspieler: die weitere Expansion der Staatengemeinschaft. Auch nach der jüngsten „kleinen“ Osterweiterung um Bulgarien und Rumänien wird die EU weiter wachsen. Nicht weniger als acht Länder Südosteuropas machen sich Hoffnung auf die Mitgliedschaft.8 Grenzüberschreitendes Vertrauen folgt, dies haben Untersuchungen gezeigt, einfachen Regeln (Delhey 2007; Inglehart 1991). Zuvorderst bestimmt auf beiden Seiten, Vertrauensgeber wie -adressat, das sozio-ökonomische Modernisierungsniveau das Vertrauen (je höher desto mehr Vertrauen), weiterhin kulturelle Nähe und die Bevölkerungsgröße des Adressaten (hier nach dem Motto: small is beautiful). Die mit Abstand wichtigste Größe ist aber das Modernisierungsniveau. Die Osterweiterung war nun eine „kalkulierte Inklusion“ (Vobruba 2000, 2005) von Ländern mit Modernisierungsrückstand. Sie war in vielerlei Hinsicht erfolgreich und vorteilhaft, politisch wie wirtschaftlich. Das gefallene Vertrauensbarometer ist jedoch ein Beispiel der von Vobruba prognostizierten Kosten dieser Strategie. Die Geschichte wird sich bei zukünftigen Erweiterungen wiederholen mit vermutlich noch höheren Kosten. Denn mit Ausnahme Kroatiens sind die potentiellen Mitgliedstaaten den Kernländern der EU kulturell ferner und ihr Modernisierungsrückstand ist keine Lücke, sondern ein tiefer Graben. Weitere Expansion nach dem Muster kalkulierter Inklusion wird deshalb ein mächtiger Gegenspieler des Faktors Zeit sein. Bleibt ein letzter Punkt zu behandeln. Braucht die Systemintegration überhaupt Sozialintegration? Oder ist schwindendes Vertrauenskapital innerhalb der Staatengemeinschaft zwar soziologisch interessant, aber für den europäischen Einigungsprozess letztlich folgenlos? In der Tat ist die Systemintegration zuvorderst Sache der Eliten – im Großen ausgehandelt von Regierungschefs und Ministern und im Kleinen vorangetrieben von den Brüsseler Eurokraten (Bach 1999). Insofern könnte man argumentieren, dass das Vertrauen zwischen den Merkels, Sarkozys und Tusks wichtiger ist als zwischen den Unionsbürgern. (Hier ist allerdings die Bemerkung von Juncker 8
Kroatien und die Türkei sind derzeit Beitrittskandidaten. Am 3. Oktober 2005 wurden die Beitrittsverhandlungen mit ihnen eröffnet. Im Dezember 2005 hat die Europäische Kommission der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien den Status eines Beitrittslandes verliehen, die Beitrittsverhandlungen haben aber noch nicht begonnen. Alle anderen westlichen Balkanländer sind potenzielle Bewerber: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Serbien einschließlich des Kosovo im Sinne der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats.
208
(2003) interessant, dass die Regierungschefs untereinander heute nicht einmal mehr alle Namen kennen, wenn sie zu Verhandlungen zusammenkommen). Ich möchte zwei Punkte nennen, warum interpersonales Vertrauen der breiten Bevölkerung durchaus von Bedeutung sein kann. Erstens, Vertrauen als Einstellung geht mit Vertrauenshandlungen und kooperativem Verhalten einher. Dies wissen wir aus Experimenten (Fehr et al. 2002) und aus der Umfrageforschung. Die Systemintegration Europas macht es immer wahrscheinlicher, dass die Europäer in ihrem Arbeits- und Lebensalltag miteinander zu tun bekommen. Nicht zuletzt ist es eine Frage des Vertrauens, ob sie sich dabei primär als Partner oder Konkurrenten wahrnehmen – und entsprechend handeln (zu Bedrohungsgefühlen im Zuge der Osterweiterung siehe Rippl et al. 2005). Zweitens ist der Gemeinschaftssinn der Bürger eine Basis der Legitimation jedes politischen Systems – auch einer Staatengemeinschaft. Empirisch lässt sich zeigen, dass nicht in allen, aber vielen Mitgliedstaaten grenzüberschreitendes Vertrauen eine von mehreren Größen ist, die die individuelle Haltung zum politischen Einigungsprozess beeinflusst (Delhey 2008). Es ist nicht die stärkste Determinante, aber die Tendenz ist eindeutig: Je mehr Partnervölkern die Europäer vertrauen, umso eher sind sie geneigt, das politische Projekt Europa zu unterstützen. Die Frage, ob die osterweiterte EU ein optimaler Integrationsraum ist, ist also mehr als nur eine akademische Frage. Die Relevanz für die Europapolitik liegt damit auf der Hand. Was lernen wir daraus für die Theorie der europäischen Gesellschaft oder genauer gesagt: für unsere Kategorien, mit denen wir die entstehende europäische Gesellschaft einzufangen versuchen? Dieser Ansatz belebt eine Tradition neu, Gesellschaft an der Dichte von Beziehungen festzumachen. Dies ist der Kern des Gesellschaftsbegriffs von Blau und Deutsch, wobei Letzterer ihn von der nationalen Gesellschaftsanalyse ablöste und auf multi- und supranationale Gebilde übertrug. Es ist gewissermaßen ein Gegenentwurf zum Modell, Gesellschaft über politische Institutionen und rechtliche Normen zu bestimmen. Beide Grundkonzepte sind natürlich legitim. Und legt man den Schwerpunkt auf das eine, muss man das andere nicht ausblenden. Ganz im Gegenteil: Ich habe in diesem Beitrag die EU-Gesellschaft als systemisches Gebilde vorausgesetzt und nach der Beziehungsdichte dieses formal abgesteckten Raums gefragt. Zu einer Gesellschaftstheorie würde man dann kommen, wenn man mit den konzeptionellen Bausteinen kausale Überlegungen zur Entstehung der europäischen Gesellschaft anstellt. Das Be209
griffsdoppel von System- und Sozialintegration nutzend könnte man zum Beispiel postulieren, dass die europäische Systembildung der Sozialintegration im Sinne von sich verdichtenden Beziehungen – Relevanz und Solidarität – vorausgeht. Dazu wäre zunächst eine Theorie zu entwickeln, was die systemisch-vertikale Integration Europas angestoßen hat und vorantreibt, und weiterhin die Mechanismen und Kanäle zu benennen, durch die zunehmende Systemintegration sich in horizontale Europäisierung übersetzt. Die sich verdichtenden Sozialbeziehungen zwischen den Europäern könnten ihrerseits zum Motor weiterer Systemintegration werden, wobei wiederum die Mechanismen und Bedingungen zu bestimmen wären, wie dies geschieht. Eine solche Theorie jedoch ist noch nicht geschrieben. Literatur Bach, Maurizio, 1999: Die Bürokratisierung Europas. Verwaltungseliten, Experten und politische Legitimation in Europa. Frankfurt a.M.: Campus. Bartolini, Stefano, 2005: Restructuring Europe. Centre formation, system building, and political structuring between the nation state and the European Union. Oxford/New York: Oxford University Press. Beck, Ulrich, 2002: Cosmopolitan Society and Its Enemies. S. 389-406 in: Günter Burkart und Jürgen Wolf (Hg.): Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen. Opladen: Leske + Budrich. Beck, Ulrich und Edgar Grande, 2004: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beisheim, Marianne, Sabine Dreher, Gregor Walter, Bernhard Zangl und Michael Zürn, 1999: Im Zeitalter der Globalisierung? Thesen und Daten zur gesellschaftlichen und politischen Denationalisierung. Baden-Baden: Nomos. Bergmann, Jan, 2001: Recht und Politik der Europäischen Union. Der Integrationsverbund vor der Osterweiterung. Grevenbroich: Omnia. Blau, Peter M., 1977: Inequality and Heterogeneity. A Primitive Theory of Social Structure. New York: Free Press. Bruter, Michael, 2003: Winning Hearts and Minds for Europe. The Impact of News and Symbols on Civic and Cultural European Identity, Comparative Political Studies 36 (10): 1148-1179. Delhey, Jan, 2004: Nationales und transnationales Vertrauen in der Europäischen Union, Leviathan 32 (1): 15-45. Ders., 2005: Das Abenteuer der Europäisierung. Überlegungen zu einem soziologischen Begriff europäischer Integration und zur Stellung der Soziologie zu den Integration Studies, Soziologie 34 (1): 7-27. Ders., 2006: Erweiterungen contra Integration? Zum Verhältnis von territorialer Expansion und innerer Integration der Europäischen Union. S. 309-332 in Jens Alber und Wolf-
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Transnationales linguistisches Kapital der Bürger und der Prozess der Europäischen Integration1 Jürgen Gerhards
Die Entwicklung der Europäischen Union ist seit ihrer Gründung neben einer Ausdehnung des territorialen Herrschaftsbereichs durch die Aufnahme neuer Mitglieder durch eine zunehmende Vertiefung gekennzeichnet. Die damalige Europäische Gemeinschaft startete bekanntlich mit der Festlegung einer gemeinsamen Verwaltung für die Kohle- und Stahlindustrie, institutionalisiert durch die Montanunion. Schritt für Schritt wurden andere, zunächst nur wirtschaftliche Bereiche in den Prozess der Vertiefung einbezogen: Eine Zollunion wurde gegründet, ein gemeinsamer Binnenmarkt und eine Wirtschafts- und Währungsunion wurden gebildet, und für eine Teilgruppe der EU-Länder wurde eine gemeinsame Währung eingeführt. Mit dem Vertrag von Maastricht wurden die Handlungsfelder europäischer Politik über die engeren wirtschaftlichen Bereiche hinaus auf die Bereiche Außen-, Innenund Sicherheitspolitik ausgedehnt. Die Ausdehnung der Handlungsfelder europäischer Politik findet ihr institutionelles Pendant in der Entwicklung und Ausdehnung einer europäischen Institutionenordnung, eines eigenständigen, zunehmend mehr Aufgaben übernehmenden Herrschaftsverbands. Dazu haben die Staaten der EU einen Teil der nationalen Souveränitätskompetenzen auf die EU übertragen; die Nationalstaaten und ihre Bürger sind den Beschlüssen der EU unmittelbar unterworfen, Europarecht bricht nationales Recht. Die Kommission überwacht die Implementierung der Beschlüsse und der Europäische Gerichtshof kann die Mitgliedstaaten bei Nichtbefolgung sanktionieren (Lepsius 1990). 1
Ich bedanke mich bei Inga Ganzer, David Glowsky und Mike S. Schäfer für eine Kommentierung des Artikels, bei Monika Hufnagel für die Unterstützung bei der Datenanalyse.
213
Der politische Integrationsprozess hat eine Europäisierung der Mitgliedsländer der EU bewirkt. Unter Europäisierung verstehe ich einen Spezialfall von Transnationalisierungsprozessen. Transnationalisierung wiederum haben wir an früherer Stelle in Anlehnung an Karl W. Deutsch (1953) als die Zunahme von Austauschprozessen, die über die nationalstaatlichen Grenzen hinausreichen, definiert (vgl. Gerhards/Rössel 1999; vgl. auch de Swaan 1995; Pries 2008); andere Autoren sprechen von Denationalisierung und meinen Ähnliches (vgl. Beisheim et al. 1999; Zürn 1998). Dehnen sich Austauschprozesse unterschiedlicher Art über die nationalstaatlichen Grenzen aus und finden sie in erster Linie innerhalb Europas statt, kann man von Europäisierungsprozessen sprechen (Gerhards/Rössel 1999; ähnlich Delhey 2005). Empirisch gibt es nun eine Vielzahl von Hinweisen, dass der politische Integrationsprozess zu einer Europäisierung der Gesellschaften Europas beigetragen hat (aus historischer Perspektive vgl. Kaelble 2005, 2007). Vor allem die Herstellung des europäischen Binnenmarkts sowie die damit verbundene Freizügigkeit für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräfte hat grenzüberschreitende Wirtschaftsprozesse befördert und entscheidend das Anwachsen des binneneuropäischen Handels, die Zunahme grenzüberschreitender und vor allem europäischer Wertschöpfungsketten, die Transnationalisierung des Kapitals und eine innereuropäische Migration begünstigt (vgl. zum Beispiel Ambrosius 1996; Hirst/Thompson 1998; Fligstein/Stone Sweet 2002; Fligstein/Merand 2002; Verwiebe 2004). Die Frage, ob dieser systemische Prozess der Europäisierung aber von einer lebensweltlichen Europäisierung begleitet und somit die Europäisierung „von oben“ durch eine Europäisierung „von unten“ (Mau 2007: 53) ergänzt wird, ist erst jüngst in den Aufmerksamkeitsfokus der Forschung geraten (vgl. Mau/Mewes 2007; Mau 2007; Delhey 2004, 2005). Georg Vobruba, der zur Profilierung einer genuin soziologischen Europaforschung beigetragen hat (Vobruba 2001, 2005), geht in einem programmatischen Aufsatz zur Bestimmung der Aufgaben einer Europasoziologie davon aus, dass die Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen der institutionellen europäischen Ordnung auf der einen Seite und der sozialen Integration Europas auf der anderen Seite zu den zentralen Aufgaben einer sich entwickelnden Europasoziologie gehört (Vobruba 2008). Genau an diese Problemstellung knüpfen die folgenden Überlegungen an. Der Prozess der lebensweltlichen Integration im Sinne einer Zunahme der Kommunikation zwischen den Bürgern verschiedener Mitgliedsländer, in denen be214
kanntlich unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, wird entscheidend begünstigt, wenn die Bürger mehrere Sprachen beherrschen. In welchem Maße dies der Fall ist und wie man die Unterschiede in der Ausstattung mit transnationalem, linguistischem Kapital – der Begriff wird an späterer Stelle mit Rückgriff auf die Theorie Bourdieus erläutert – erklären kann, ist das Thema der folgenden Ausführungen. In einem ersten Schritt werde ich die Sprachpolitik der Europäischen Union beschreiben. Diese ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: die Akzeptanz der sprachlichen Heterogenität der Europäischen Union und der Verzicht auf eine Politik der sprachlichen Homogenisierung einerseits und die Förderung der Mehrsprachigkeit der Bürger Europas zur Verbesserung der Integration Europas andererseits. Im zweiten Schritt analysiere ich auf der Basis einer Auswertung einer Eurobarometer-Befragung, über welches linguistische Kapital die Bürger Europas verfügen, das sie in die Lage versetzt, am Europäisierungsprozess zu partizipieren. Die Ergebnisse werden zeigen, dass die Kompetenzen der Mehrsprachigkeit zwischen den Ländern und innerhalb der Länder sehr unterschiedlich verteilt sind, es ähnlich wie bei anderen Kapitalien eine Ungleichheit in der Kapitalausstattung der Bürger gibt. Im dritten Schritt gehe ich der Frage nach, wie man diese Ungleichheit erklären kann. Dazu werden zuerst einige Hypothesen formuliert, die dann durch eine multivariate Analyse überprüft werden. Die Mehrsprachigkeit der Bürger kann durch folgende Faktoren relativ gut erklärt werden: den Grad der Modernität und die Größe eines Landes, in dem jemand lebt, die Verfügung über institutionalisiertes kulturelles Kapital und die Klassenlage des Befragten. Dieser Befund bestätigt andere Ergebnisse, die gezeigt haben, dass es vor allem die oberen Schichten sind, die vom Prozess der systemischen europäischen Integration profitieren, weil sie in der Lage sind, daran zu partizipieren. 1
Die Sprachkonstellation Europas und die Sprachpolitik der Europäischen Union
1.1 Die Sprachkonstellation Europas Eine Sprache besteht im Wesentlichen aus einer Grammatik und aus einem Wortschatz. Personen bezeichnen mit Sätzen, die sie aus dem Wortschatz und mithilfe der Grammatik bilden, Dinge in der Welt, bringen Handlungs215
absichten zum Ausdruck und äußern über Sprache ihre Gefühle. Andere Personen, die die gleiche Sprache sprechen, verstehen die Bedeutungen der Aussagen und können auf dieser Basis wiederum ihre Äußerungen tätigen, die dann wiederum von dem anderen Interaktionspartner verstanden werden. Über diesen wechselseitigen Austausch von Symbolen können Menschen ihre Handlungsabsichten koordinieren und miteinander kooperieren. Voraussetzung für eine sprachliche Koordination von Interaktionen ist folglich, dass die Sprecher die gleiche Sprache sprechen, also über das gleiche Lexikon und die gleiche Grammatik verfügen. Die einzelnen insgesamt auf der Erde existierenden Sprachen unterscheiden sich voneinander durch verschiedene Grammatiken und unterschiedliche Lexika. Sie sind entsprechend dadurch gekennzeichnet, dass Sprecher mit unterschiedlichen Einzelsprachen sich nicht beziehungsweise nur mit sehr großem Aufwand verständigen können. Die Tatsache, dass Akteure nicht über eine gemeinsame Sprache verfügen, bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht auch miteinander interagieren können. Die Transaktionskosten der Interaktion sind aber im Vergleich zu einer Verfügung über eine gemeinsame Sprache enorm hoch. Jeder, der in einem Land war, dessen Sprache er nicht spricht und der versucht hat, den Weg zum Bahnhof oder zum Flughafen herauszufinden, weiß dies.2 Die Menge der Einzelsprachen, die auf der Erde gesprochen werden, die Dominanz mancher Sprachen und die Bedeutungslosigkeit anderer werden entscheidend durch die Machtstrukturen der gesellschaftlichen Institutionenordnung geprägt (de Swaan 1993, 2001b). So ist zum Beispiel die Dominanz des Englischen in der Welt unter anderem das Resultat der überwiegend englischsprachigen Kolonialreiche in der Vergangenheit und der herausragenden Bedeutung der USA in der internationalen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg (Crystal 1998; Trabant 2008). Insofern ist die Sprachkonstellation immer auch ein Spiegelbild der hierarchisch strukturierten Weltordnung. Dies gilt auch für die Sprachkonstellation in Europa.
2
Die These, dass eine Verständigung über die Grenzen von Sprachen und Kulturen hinweg und insofern auch die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit möglich ist, wird von Cathleen Kantner (2004) mit grundlagentheoretischen hermeneutischen Argumenten begründet. Die grundsätzliche Verständigungsmöglichkeit sagt aber noch nichts über die empirische Verständigungswahrscheinlichkeit aus. Diese wird entscheidend von der Tatsache beeinflusst, ob zwei Sprecher ein und dieselbe Sprache sprechen.
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Die Menge der Einzelsprachen, die im Europa der 27 Mitgliedsländer gesprochen werden, ist das Resultat eines langen historischen Prozesses, der eng verknüpft ist mit der Entstehung der Nationalstaaten in Europa (zum Folgenden vgl. Haarmann 1993). Die Entstehung der europäischen Nationalstaaten geht in fast allen Fällen einher mit einer Politik der sprachlichen Homogenisierung, der Ausbildung einer Einheitssprache also, die dann auch zur Amtsprache wird, bei gleichzeitiger Verdrängung und Unterdrückung der Minderheitensprache (vgl. Mann 2001). Einige der kleineren Staaten Europas – zum Beispiel Belgien und die Schweiz – bilden dabei eine Ausnahme von diesem allgemeinen Muster; hier wurde die interne sprachliche Spaltung gesellschaftlich institutionalisiert und hat zu einem versäulten und föderalen Institutionensystem insgesamt geführt, wie Stein Rokkan herausgearbeitet hat (Flora 1999). Den zentralen Transmissionsriemen für die Politik der sprachlichen Homogenisierung der Nationalstaaten bildet die Etablierung eines nationalen Schulwesens und die Inklusion aller Bürger in die Schule durch die allgemeine Schulpflicht. Nationalstaatliche Sprachpolitik ist aber nicht nur ein Instrument einer nationalstaatlichen Vergesellschaftung gewesen, sondern meist auch ein Medium der Vergemeinschaftung. Die Einheitssprache wird nicht nur zur Amtssprache, sondern auch zur Nationalsprache, zum zentralen Merkmal der Identitätskonstruktion. Fast alle Nationalstaaten haben Institutionen der Sprachpflege entwickelt, regeln den verbindlichen Sprachgebrauch durch den Aufbau eines Wörterbuchs und durch Überwachungseinrichtungen zur Sprachkontrolle. Sie beginnen, die in ihrer Sprache gesprochene Nationalliteratur zu kanonisieren, pflegen Volkslied und Volkskultur und beschreiben ihre Identität unter anderem durch die jeweilige Nationalsprache. All dies ist hinreichend gut von Historikern beschrieben worden, ist damit aber kein historisches Relikt, sondern bis heute wirkungsmächtig, wenn man sich die Sprachkonstellation in Europa anschaut. Die Europäische Union ist ein Zusammenschluss von 27 Nationalstaaten. Nirgendwo sonst zeigt sich der Staatenbundcharakter so deutlich wie in der Sprachkonstellation. In 18 von 27 Ländern der EU gibt es nur eine Amtssprache; daneben gibt es sechs Länder, die eine Amtssprache haben, aber für bestimmte, kleine Regionen eine zweite Amtssprache zulassen; dazu gehören Österreich, Spanien, Italien, Finnland, die Slowakei und die Niederlande. Die dritte Gruppe bilden die wenigen Länder, die flächendeckend zwei oder mehrere Amtssprachen zulassen; dazu gehören Luxemburg, Bel217
gien und Malta. Die 27 nationalstaatlichen Container der EU, die durch eine je spezifische Institutionenordnung gekennzeichnet sind, verfügen in den meisten Fällen also über eine einheitliche Sprache. Die Grenze der nationalstaatlichen Institutionenordnung ist damit sehr häufig identisch mit einer eigenständigen Sprache, was der Sprachenordnung insgesamt eine ganz besondere Festigkeit verleiht. 1.2 Die Sprachpolitik der Europäischen Union Diese segmentär, nach Nationalstaaten differenzierte Sprachenkonfiguration bildet die Ausgangskonstellation für die Sprachpolitik der EU, die durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist: Im Unterschied zu den Nationalstaaten betreibt die Europäische Union keine Politik der sprachlichen Homogenisierung der Mitgliedsländer durch Förderung einer einheitlichen „lingua franca“, die dann für die Europäische Union verbindlich wäre. Die EU akzeptiert und fördert sogar die sprachliche Heterogenität Europas (1). Zugleich fördert die Europäische Union durch eine Vielzahl von Programmen die Mehrsprachigkeit ihrer Bürger zur Verbesserung der Integration Europas (2). 1.
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Während die EU in vielen Politikbereichen auf eine Homogenisierung und Konvergenz der Mitgliedsländer drängt – einen einheitlichen Markt, eine einheitliche Währung, eine Vereinheitlichung des Rechts etc. –, gilt dies für die Sprachpolitik gerade nicht. Die Akzeptanz der Vielsprachigkeit der EU ist vertragsrechtlich eindeutig verbrieft. Grundlage ist die Verordnung Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG 1958), die 1958 vom Rat festgelegt und später um die Sprachen der neuen Mitgliedsländer erweitert wurde. Aufgrund von Artikel 22 der im Jahr 2000 verabschiedeten Charta der Grundrechte der EU muss die Union die sprachliche Vielfalt respektieren; laut Artikel 21 ist jegliche Diskriminierung aus sprachlichen Gründen verboten. Die Europäische Union stützt damit die Gleichberechtigung der verschiedenen Nationalsprachen und hat bis dato keine Bemühungen unternommen, auf eine europäische Einheitssprache hinzuwirken. Die Mitgliedsländer würden dies auch nicht akzeptieren, denn die jeweilige Sprache ist Teil der nationalen Identität der jeweiligen Mitgliedsländer und damit ein Kernbestand ihrer Souveränität, die sie nicht aufgeben.
Die Gleichbehandlung aller europäischen (Amts-)Sprachen ist damit das erste und zentrale Ziel der EU in der Sprachpolitik. Sämtliche nationale Amtsprachen der Mitgliedsländer sind zugleich auch die Amtssprachen der EU. Eine Ausnahme bildet hierbei das Luxemburgische, da die Regierung des Landes freiwillig darauf verzichtet hat, Luxemburgisch zur Amtssprache der EU zu machen. Insgesamt gibt es damit 23 Amtssprachen bei 27 Mitgliedsländern: Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Estnisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Irisch, Italienisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Slowakisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch und Ungarisch.3 Die aus Nationalstaaten gebildete EU bleibt damit bezüglich ihrer sprachlichen Konfiguration im hohen Maße segmentär differenziert. Die Akzeptanz der Amtssprachen der Mitgliedsländer als Amtssprachen der EU und der Verzicht auf eine Politik zur Förderung einer „lingua franca“ ist mit entsprechenden Folgen für die Kommunikation innerhalb der Institutionen der EU verbunden: Alle Gesetze, Dokumente und Verordnungen müssen zugleich in allen 23 Amtssprachen abgefasst werden; und auch die Bürger und die Nationalstaaten können sich in ihrer Sprache an die EU wenden und haben das Recht, in ihrer Sprache eine Antwort zu erhalten; auch die Informationsseiten der EU sind in alle Amtssprachen übersetzt. Über die Arbeitssprachen, die die Institutionen intern verwenden, entscheiden die jeweiligen Geschäftsordnungen (Schumann-Hitlzer/Ostarek 2005: 21). Im Folgenden beschreibe ich kurz, wie die einzelnen Institutionen die Sprachvielfalt handhaben. Man bekommt darüber einen Eindruck, mit welchen gewaltigen Transaktionskosten das Prinzip der Vielsprachigkeit verbunden ist. Die Sprachdienstleistungen der EU-Institutionen kosten die EU circa 1,1 Milliarden Euro pro Jahr (Generaldirektion Übersetzung 2008). EU-Kommission: Seit 2001 gebraucht die Kommission Deutsch, Englisch und Französisch als interne Arbeitssprachen (Peterson/Shackleton 2006: 61), wobei Englisch und Französisch bevorzugt werden (Ozvalda 2005: 66f.; Schumann-Hitzler/Ostarek 2005: 21). Erst wenn Entscheidungsprozesse 3
Da manche Sprachen Amtssprachen in zwei Ländern zugleich sind (Flämisch in den Niederlanden und in Belgien, Französisch in Frankreich und in Belgien, Deutsch in Österreich und in Deutschland, Griechisch auf Zypern und in Griechenland), ist die Anzahl der Amtsprachen nicht identisch mit der der Mitgliedsländer.
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abgeschlossen sind, erfolgt die Übersetzung in die anderen Amtssprachen (ebd.). Die Generaldirektionen Übersetzung und Dolmetschen der Kommission sind auch für die anderen Organe der EU, außer für das Parlament und den Gerichtshof, zuständig (Mickel/Bergmann 2005: 33). Allein die Generaldirektion Übersetzung beschäftigt 2.350 Mitarbeiter und hat ein jährliches Budget von etwa 280 Millionen Euro (Generaldirektion Übersetzung 2008). Sie ist damit der größte Übersetzungsdienst der Welt. Rund 15% aller Bediensteten der Kommission gehören zum Sprachendienst (Mickel/Bergmann 2005: 33). Um die Übersetzungsdienste der Institutionen zu entlasten, wurde 1994 das Übersetzungszentrum für die Einrichtungen der Europäischen Union (CdT) geschaffen. Der Europäische Rat: In allen Sitzungen des Europäischen Rats wird aus und in alle Amtssprachen übersetzt. Alle Dokumente werden dem Europäischen Rat ebenfalls in allen Amtssprachen vorgelegt (Mickel/Bergmann 2005: 32). Der Rat der Europäischen Union: Auch alle Dokumente, über die der Ministerrat berät, werden in alle Amtssprachen der EU übersetzt. Bei den Sitzungen des Rats wird aus und in alle Sprachen gedolmetscht (vgl. Homepage des Rats der Europäischen Union). Bei informellen Treffen scheint sich aber die „Drei-plus-eins“-Lösung (Englisch, Französisch, Deutsch und die Sprache der Ratspräsidentschaft) durchzusetzen (Ozvalda 2005). Im Ausschuss der Ständigen Vertreter (ASTV) gilt das Drei-Sprachen-Regime (Englisch, Französisch, Deutsch). In den Ratsarbeitsgruppen der Fachbeamten wird in alle Amtssprachen übersetzt, wenn ein Gesetz vorbereitet wird. In der überwiegenden Zahl der Gruppen werden nur fünf EU-Sprachen gedolmetscht (Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch und Italienisch). In 45 Gruppen wird auf Dolmetschen ganz verzichtet und nur Englisch und/oder Französisch gesprochen. Für die Ratsarbeitsgruppen wird das so genannte „Marktmodell“ angewandt, das heißt, dass sich die Mitgliedstaaten im Einzelfall für oder gegen eine eigene Übersetzung aussprechen, sich aber an den Kosten mitbeteiligen (Mickel/Bergmann 2005: 32). Während der Rat der Europäischen Union für das Dolmetschen auf die Generaldirektion Dolmetschen zurückgreift, verfügt er auch über einen eigenen Sprachendienst des Generalsekretariats des Rats mit mehr als 700 Übersetzern.
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Der Europäische Gerichtshof: Bei Klagen vor dem EuGH ist die Sprache der Klageschrift Verfahrenssprache, soweit es sich um eine der EU-Amtssprachen handelt. In Vorabentscheidungssachen wird die Sprache des nationalen Gerichts, das den Gerichtshof anruft, zur Verfahrenssprache. In den Sitzungen werden die Verhandlungen je nach Bedarf in verschiedene Amtssprachen der Europäischen Union simultan übersetzt (Website des EuGH). Als Arbeitssprache wird allein Französisch verwendet (Weidenfeld/Wessels 2006: 408). Der EuGH verfügt über eine eigene Direktion Dolmetschen und eine Direktion Übersetzung. Anfang 2006 gehörten der Direktion Übersetzung des Gerichtshofes 796 Mitarbeiter an, die alle mindestens drei Sprachen sprechen und voll ausgebildete Juristen sein müssen. Dies entspricht circa 45% des Personals des Gerichtshofs. Das Europäische Parlament: Die Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments legt fest, dass alle Schriftstücke des Parlaments in allen Amtssprachen verfasst werden. Weiterhin haben alle Parlamentsmitglieder das Recht, in ihrer (Amts-)Sprache zu sprechen und alle anderen Amtssprachen in diese Sprache simultan gedolmetscht zu bekommen. Dies gilt ebenso für die Amtssprachen der Anwesenden in Ausschuss- und Delegationssitzungen, kann jedoch unter Einverständnis der Mitglieder in Ausnahmefällen umgangen werden (Art. 138 Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments). Das Europäische Parlament hat sich in besonderer Weise der Vielsprachigkeit verschrieben. Auf der Homepage wird dazu erklärt: „In Bezug auf das Dolmetschen unterscheidet sich das Europäische Parlament von den anderen Organen der EU dadurch, dass in der täglichen Arbeit das Prinzip der umfassenden kontrollierten Mehrsprachigkeit eingehalten wird.“ Um Engpässe in der Übersetzung zu umgehen, hat das Europäische Parlament ein System von „Relais-Sprachen“ eingeführt, das heißt, dass „Texte zunächst in die gebräuchlichsten Sprachen übersetzt werden (Englisch, Französisch oder Deutsch). Längerfristig könnten noch weitere Sprachen der Gemeinschaft (Spanisch, Italienisch und Polnisch) ebenfalls zu RelaisSprachen werden.“ Das Parlament beschäftigt einen eigenen Übersetzungsdienst mit circa 700 Übersetzern. 2.
Bildet die Akzeptanz und die Unterstützung der Vielsprachigkeit das erste Ziel der EU-Sprachpolitik, dann ist das Prinzip der Förderung der Mehrsprachigkeit der Bürger Europas das zweite zentrale Ziel. Jeder 221
Bürger, so die Vorstellung, soll neben seiner Muttersprache zwei in der EU gesprochene Sprachen sprechen. Seit 2007 gibt es in der Kommission einen eigenen Kommissar für Mehrsprachigkeit. Welche weiter gehenden Ziele verfolgt die EU nun aber mit ihrer Politik der Förderung der Mehrsprachigkeit (a) und mit welchen Maßnahmen versucht sie diese zu erreichen (b)? a.
4
Das folgende Zitat, das der Website des Kommissars für Mehrsprachigkeit entnommen ist, bringt die Ziele, die sich in vielen rechtlichen Dokumenten der EU ähnlich formuliert finden, recht gut zum Ausdruck: „Die Fähigkeit, in mehreren Sprachen zu kommunizieren, ist ein großer Vorteil für Menschen, doch auch für Organisationen und Unternehmen. Sie verstärkt die Kreativität, überwindet kulturelle Vorurteile, fördert das Denken abseits der ausgetretenen Pfade und kann bei der Entwicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen helfen. All diese Fähigkeiten und Tätigkeiten sind volkswirtschaftlich wertvoll. Mehrsprachigkeit macht Menschen auch mobiler, so dass sie leichter in anderen Ländern Ausbildungsmöglichkeiten oder eine Arbeitsstelle suchen können. Sie ist gut für den Einzelnen, die Unternehmen und die Wettbewerbsfähigkeit, und damit auch entscheidend für die Verwirklichung des übergeordneten Ziels der Europäischen Union – die Lissabon-Strategie zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Förderung des Wirtschaftswachstums. (…) Ziel der Kommissionspolitik zur Mehrsprachigkeit ist es, diese Stärken miteinander zu verknüpfen. Insbesondere hat sie zum Ziel, das Sprachenlernen und die Sprachenvielfalt in der Gesellschaft zu fördern, eine gesunde, mehrsprachige Wirtschaft zu fördern und den Bürgerinnen und Bürgern in ihrer eigenen Sprache Zugang zu den Rechtsvorschriften der Europäischen Union zu geben.“4 Die Legitimation einer Politik der Förderung der Mehrsprachigkeit speist sich, wie das Zitat zeigt, aus zwei Motiven, einem kulturellem und einem wirtschaftspolitischen. Die Union möchte zum einen durch die Mehrsprachigkeit ihrer Bürger zur Verbesserung der Verständigung zwischen den Menschen und zum Abbau von Vorurteilen beitragen; sie begreift die Mehrsprachigkeit zum anderen als eine Investition in die http://ec.europa.eu/commission_barroso/orban/policies/policies_de.htm (letzter Zugriff am 20.11.2008).
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b.
Verbesserung des Humankapitals der Bürger, das diese in die Lage versetzt, auf dem europäischen Markt mobil zu sein und ihre Arbeitskraft auch außerhalb des Nationalstaats einsetzen zu können und damit einen Beitrag für das wirtschaftliche Wachstum Europas insgesamt zu leisten. Mit der Sprachpolitik verhält es sich wie mit vielen anderen Politikbereichen der Europäischen Union: Die EU ist in erster Linie eine Wirtschaftsunion; die Legitimationsbeschaffung für nicht-ökonomische Politikfelder erfolgt in der Regel mit ökonomischen Argumenten (vgl. für die Geschlechter- und Familienpolitik Gerhards et al. 2009; für die Umweltpolitik Gerhards/Lengfeld 2008). Die Maßnahmen, die die EU zur Förderung der Mehrsprachigkeit ihrer Bürger ergriffen hat, sind vielfältig und in aller Regel eingebunden in die Maßnahmen zur Bildungspolitik der EU im Allgemeinen. Dabei waren „Sokrates“ und „Leonardo da Vinci“ die wichtigsten Programme, die 2007 in das „Programm für Lebenslanges Lernen“ integriert wurden. Hierbei handelt es sich um ein Aktionsprogramm zur Förderung der transnationalen Zusammenarbeit im Bildungsbereich. Die EU hat für das Programm von 2007 bis 2013 circa 7 Milliarden Euro bewilligt; es integriert folgende Einzelprogramme (vgl. zum Folgenden Generaldirektion Bildung und Kultur 2008): COMENIUS richtet sich an vorschulische Einrichtungen und Schulen bis zum Ende des Sekundarbereichs II sowie an Einrichtungen der Schulverwaltung und der Lehreraus- und -fortbildung. Es unterstützt die Mobilität von Schülern, Lehramtsstudierenden und Lehrkräften und fördert damit das Erlernen moderner Fremdsprachen. Gefördert werden Schulpartnerschaften und die Mobilität von Schülern; Assistenzzeiten von Studierenden der Lehramtsfächer an Schulen im Ausland; Fortbildungskurse für Lehrkräfte im Ausland. ERASMUS richtet sich an Hochschulen und fördert die Mobilität von Studierenden, Dozenten und anderem Hochschulpersonal. Gefördert werden Auslandsstudium, Auslandspraktikum, Gastdozenturen, die Organisation der Mobilität, Intensivprogramme und vorbereitende Besuche. LEONARDO DA VINCI ist das Programm für die Zusammenarbeit in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Gefördert werden Auslandsaufenthalte in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, Projekte zum Transfer und zur Entwicklung von Innovationen, Partnerschaften, Netzwerke, vorbereitende Besuche und Kontaktseminare. Zielgruppen sind Einrichtungen der beruflichen Bildung 223
wie berufsbildende Schulen, außer- und überbetriebliche Bildungsstätten, Unternehmen, Sozialpartner und ihre Organisationen, Berufsverbände und Kammern. GRUNDTVIG ist das Programm für die allgemeine Erwachsenenbildung. Das Programm steht allen Einrichtungen der Erwachsenenbildung in den Teilnehmerstaaten offen. Dies können öffentliche Institutionen sein wie Behörden, Verwaltungen und Regierungsstellen oder Einrichtungen in öffentlicher oder privater Trägerschaft wie Initiativen, Vereine, Volkshochschulen oder Nichtregierungsorganisationen. Gefördert werden die Mobilität von Beschäftigten in der Erwachsenenbildung in Form von individuellen Fortbildungen, Lernpartnerschaften zur Kooperation von Einrichtungen aus verschiedenen Teilnehmerstaaten, Projekte zur Entwicklung, Erprobung und Verbreitung von Produkten und Netzwerke zur Weiterentwicklung von spezifischen Fachgebieten und Themen der Erwachsenenbildung. In allen Programmen geht es nicht nur um den Erwerb einer Fremdsprache. Aber der Fremdsprachenerwerb ist ein zentrales Ziel dieser Programme. Und auch in der Förderung der Fremdsprachenkompetenz gibt es keine Homogenisierungsbemühung der Europäischen Union, also keine Präferenz für eine bestimmte Fremdsprache. Der Erwerb der kleineren Sprachen wird von der EU genauso gefördert wie das Erlernen der weit verbreiteten Sprachen. 2
Transnationales linguistisches Kapital der Bürger der EU
Wieweit die von der EU geforderte und geförderte Mehrsprachigkeit der Bürger Europas entwickelt ist, ist eine empirische Frage, der ich im Folgenden nachgehen möchte. Mehrsprachigkeit scheint bei einer Konstellation von 23 gleichberechtigten Amtssprachen eine zentrale Voraussetzung zu sein, damit die Menschen am Prozess der Europäisierung der nationalstaatlichen Gesellschaften partizipieren können. Die Kompetenz, eine oder mehrere Sprachen zu sprechen, bezeichne ich hier als linguistisches Kapital. Der Begriff ist von Pierre Bourdieu eingeführt worden (Bourdieu 1992; Bourdieu/Passeron 1971). Ich erläutere zuerst, was Bourdieu unter linguistischem Kapital versteht und ergänze dann dessen Definition um ein weiteres Bestimmungselement.
224
Bourdieu unterscheidet bekanntlich drei zentrale Kapitalien (vgl. Bourdieu 1982, 1983).5 Das ökonomische Kapital umfasst das Einkommen und das Vermögen einer Person. Die Lebensqualität und die Konsummöglichkeiten von Personen hängen entscheidend von der Höhe des ökonomischen Kapitals ab. Das soziale Kapital bezeichnet die Ressource, die Personen aus Beziehungsnetzwerken und Gruppenzugehörigkeiten schlagen können. Je größer das Beziehungsnetzwerk einer Person und je mehr ökonomisches und kulturelles Kapital die anderen Netzwerkmitglieder besitzen, desto höher ist das soziale Kapital einer Person. Das soziale Kapital kann zur Erwirtschaftung von neuen Beziehungen und zum Erwerb der anderen Kapitalien genutzt werden (Bourdieu 1983: 190f.). Das kulturelle Kapital ist selbst in drei Unterformen differenziert. Das institutionalisierte kulturelle Kapitel umfasst die Bildung beziehungsweise die Bildungszertifikate, die eine Person durch die Bildungsinstitutionen einer Gesellschaft verliehen bekommen hat. Die Bildungsabschlüsse sichern den Personen den Zugang zu bestimmten Berufen und dadurch den Zugang zu einem bestimmten Einkommen und zu sozialen Netzwerken. Das objektivierte kulturelle Kapital manifestiert sich in Form des Besitzes von Büchern und Gemälden, von kulturellen Artefakten also. Das inkorporierte kulturelle Kapital besteht in der Fähigkeit von Menschen, ästhetische Kriterien zur Beurteilung von „Dingen“ anzuwenden; diese ästhetische Kompetenz steuert die Freizeitaktivitäten von Menschen und prägt ihren Lebensstil. Das linguistische Kapital ist Teil des inkorporierten kulturellen Kapitals (vgl. Bourdieu/Passeron 1971: 109ff.; Bourdieu 1992). Es besteht in der Fähigkeit, sich in der Hochsprache eines Landes elaboriert mündlich wie schriftlich auszudrücken. Linguistisches Kapital wird ähnlich wie das inkorporierte kulturelle Kapital von Personen eingesetzt, um innerhalb der Klassenstruktur einer Gesellschaft Distinktionsgewinne gegenüber den unteren Klassen zu erzielen. Die Fähigkeit, in der Hochsprache eines Landes in einem elaborierten Code zu kommunizieren, eröffnet die Möglichkeit, sich gegenüber der Alltagssprache der unteren Klassen mit ihrer „vulgären Spra5
Das symbolische Kapital als vierte Kapitalsorte bezeichnet die soziale Anerkennung der anderen drei Kapitalsorten und dient damit der Legitimierung sozialer Ungleichheit. Ein Bauunternehmer zum Beispiel, der über ein großes finanzielles Vermögen verfügt, kann dieses ökonomische Kapital in symbolisches Kapital (Legitimierung durch gesellschaftliche Anerkennung) transferieren, wenn er einen Teil seines Vermögens an eine gemeinnützige Hilfsorganisation spendet.
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che“ (Bourdieu/Passeron 1971: 110) und ihrem restringierten Code abzugrenzen. Vor allem die Ausbildungsinstitutionen prämieren die Fähigkeit, sich in der Hochsprache gewählt artikulieren zu können. Und da die Verfügung über linguistisches Kapital von der Klassenlage von Personen abhängig ist, reproduzieren die Ausbildungsinstitutionen die Klassenstruktur einer Gesellschaft. Welche Sprache nun als Hochsprache gilt und sich gegenüber anderen Sprachen und Dialekten durchgesetzt hat, ist das Resultat eines historischen Prozesses. Bourdieu (1992) hat diesen Prozess für Frankreich rekonstruiert und gezeigt, wie es den Eliten gelungen ist, eine Einheitssprache durchzusetzen und andere Sprachen und Dialekte zu delegitimieren (Bourdieu 1992; vgl. dazu auch Loos 2000; aus der Perspektive eines Historikers vgl. Weber 1976). So wie die Arbeiten Bourdieus insgesamt in hohem Maße dem methodologischen Nationalismus (Beck/Grande 2004) verhaftet bleiben, indem sie vor allem die Klassenstruktur einer nationalstaatlich verfassten Gesellschaft analysieren, so bleibt auch sein Konzept des linguistischen Kapitals weitgehend auf den Nationalstaat bezogen. Der Begriff des linguistischen Kapitals bezieht sich in erster Linie auf die elaborierte Beherrschung der jeweiligen Hoch- und Amtssprache eines Landes. Im Kontext von Transnationalisierungs- und Europäisierungsprozessen werden aber Kapitalienausstattungen erforderlich, die ein Agieren jenseits des nationalstaatlichen „Containers“ (Taylor 1994; Beck 1997) ermöglichen. Die Beherrschung von Fremdsprachen stellt eine solche Ressource dar und wird hier entsprechend als transnationales linguistisches Kapital bezeichnet. Die Fähigkeit, in mehreren Sprachen zu kommunizieren, ist mit zwei Vorteilen verbunden: Sie erleichtert es zum einen erheblich, mit Bürgern anderer Länder in Kontakt zu treten, mit ihnen zu kommunizieren, wirtschaftlich zu handeln, wissenschaftlich zu kooperieren, politische Verhandlungen zu führen, Proteste über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus zu organisieren, Liebesbeziehungen einzugehen etc. Peter A. Kraus (2004: 99) bezeichnet dies auch als die instrumentelle Funktion von Sprache, in diesem Fall von Mehrsprachigkeit. Neben diesem instrumentellen Nutzen hat Multilingualität aber auch einen expressiven Nutzen (vgl. Kraus 2004: 100). Akteure, die mehrsprachig sind und dies in Interaktionssituationen zeigen und sich mit dieser Kompetenz inszenieren, definieren sich selbst als Teil einer transnationalen Klasse, die sich mit dieser Kompetenz als „cosmopolitans“ gegenüber den „locals“ abgrenzt und entsprechende symbolische Distinktionsgewinne einfährt. 226
Die Ausstattung mit linguistischem Kapital versetzt also diejenigen, die über eine Mehrsprachigkeit verfügen, in die Lage, am Transnationalisierungsund Europäisierungsprozess teilzunehmen und entsprechende transnationale Interaktionsbeziehungen aufzubauen und zugleich den symbolischen Gewinn, Teil einer neuen Elite zu sein, zu akkumulieren. Insofern ist das transnationale linguistische Kapital eine zentrale Ressource der Produktion sozialer Ungleichheit im Kontext von Prozessen der Transnationalisierung. Die Auswertung einer Eurobarometer-Befragung aus dem Jahr 2005 (Eurobarometer 63.4) ermöglicht es, zu prüfen, ob und in welchem Maße die Bürger in den 27 Ländern der EU mehrsprachig sind (vgl. für eine Auswertung der Fremdsprachenkompetenz in 15 EU-Ländern Fligstein 2008: 147ff.). Die Frage, mit der die Fremdsprachenkompetenz der Bürger erhoben wurde und die auch den folgenden Auswertungen zugrunde liegt, lautet: „Welche Sprache sprechen Sie gut genug, um darin ein Gespräch führen zu können?“ Die Umfrage wurde im Mai und Juni 2005 vom Institut TNS im Auftrag der Europäischen Kommission durchgeführt. Befragt wurden in Form von Face-to-face-Interviews Personen, die 15 Jahre und älter sind. Die erreichte Sample-Größe pro Land ist repräsentativ für die Bevölkerung des jeweiligen Landes. Der Datensatz ist über das Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln zugänglich. Tabelle 1 gibt die Mehrsprachenkompetenz der Bürger für die 27 Mitgliedsländer der EU wieder. Für die Kategorien „keine“, „eine“, „zwei“ sowie „drei und mehr“ Fremdsprachen habe ich den Mittelwert und die Standardabweichung pro Land berechnet.
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Tabelle 1:
Transnationales linguistisches Kapital in den Ländern der EU-27 (2005)
EU-27
Keine Fremd- Eine Fremdsprache (%) sprache (%) 50,7 26,9
Zwei Fremdsprachen (%) 15,3
Drei und mehr Mittel S Fremdsprachen (%) - wert 7,1 0,79 0,95
Ungarn Großbritannien Portugal Spanien Rumänien Italien Irland Frankreich Bulgarien Polen Griechenland Deutschland Tschechien Österreich Finnland Zypern Slowakei Belgien Estland Schweden Dänemark Litauen Slowenien Niederlande Malta Lettland Luxemburg
73,9 70,0 69,9 64,2 61,7 61,0 60,6 55,8 55,0 52,5 51,3 43,8 42,1 40,9 38,8 33,3 33,1 28,4 16,0 13,6 13,5 12,5 12,0 9,0 7,6 7,0 1,2
7,9 7,4 11,0 9,1 12,9 10,2 11,8 12,5 12,4 12,0 13,3 17,6 18,7 15,1 20,4 12,5 21,0 24,6 29,0 27,4 34,5 31,1 33,8 43,6 40,4 32,9 27,2
1,8 2,3 4,8 3,3 4,3 2,3 2,7 3,9 4,0 9,6 3,4 3,6 8,3 10,4 18,2 4,4 18,0 24,2 16,5 18,6 26,7 12,6 27,2 26,2 17,8 8,3 67,5
16,5 20,3 14,3 23,4 21,1 26,6 24,9 27,8 28,6 25,9 32,0 35,0 30,8 33,6 22,7 49,9 27,9 22,8 38,6 40,4 25,2 43,9 27,1 21,1 34,2 51,8 4,2
0,38 0,42 0,51 0,52 0,60 0,54 0,57 0,64 0,65 0,79 0,69 0,81 0,93 0,95 1,12 0,88 1,24 1,45 1,46 1,51 1,74 1,44 1,76 1,87 1,68 1,42 2,61
0,71 0,73 0,87 0,79 0,87 0,77 0,80 0,84 0,85 0,99 0,83 0,85 0,97 0,99 1,13 0,79 1,10 1,14 0,95 0,94 1,00 0,86 0,98 0,90 0,85 0,74 0,63
N= 26.520
1.
2.
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Wie die Ergebnisse zeigen, ist die Europäische Union von dem Ideal, dass alle Bürger mindestens zwei Fremdsprachen sprechen können, weit entfernt. Über die Hälfte der Bürger spricht keine einzige Fremdsprache, circa ein Viertel spricht zumindest eine Fremdsprache, ein knappes Viertel spricht zwei oder mehr Fremdsprachen. Zugleich zeigen die Berechnungen, dass die Unterschiede zwischen den Ländern in der Ausstattung mit linguistischem Kapital ganz beträchtlich sind. Während in Luxemburg fast jeder Bürger zumindest zweisprachig ist, in Lettland, Malta oder den Niederlanden 90% der Bürger zwei und mehr Sprachen beherrschen, liegt die Quote der Menschen, die zumin-
3.
dest eine Fremdsprache sprechen, in Ungarn, Portugal, Großbritannien und Spanien bei nur circa einem Drittel der Bevölkerung. Und schließlich zeigen die Befunde, dass die länderinterne Streuung sehr hoch ist. Die durchschnittliche Standardabweichung beträgt 0.90 bei einer Skala, die von 0 bis 3 reicht. Es gibt also innerhalb jedes Landes Bürger, die über ein hinreichendes linguistisches Kapital verfügen, und es gibt Bürger, für die dies nicht zutrifft.
Interpretiert man die Fähigkeit, mehrere Sprachen zu sprechen, als eine zentrale Ressource, die es erlaubt, an Transnationalisierungs- und Europäisierungsprozessen teilzunehmen, dann zeigt sich, dass diese Ressource sehr ungleich verteilt ist. Dies bringt für diejenigen, die über eine hinreichende linguistische Kapitalausstattung verfügen, Vorteile, für die anderen Nachteile mit sich. Mehrsprachigkeit erleichtert es, in anderen Ländern zu studieren, zu arbeiten, Kontakte zu Bekannten, Freunden und potentiellen Partnern zu knüpfen; es erleichtert Firmen beziehungsweise ihren Mitarbeitern, sich neue Märkte zu erschließen, es erleichtert Wissenschaftlern, ihre Erkenntnisse zu distribuieren und damit ihre eigene Wertschätzung zu erhöhen. Insofern ist der aus der Ökonomie entlehnte Begriff des transnationalen linguistischen Kapitals durchaus berechtigt, weil es sich um einen Produktionsfaktor handelt, dessen Verfügung die eigene Rendite zu steigern vermag und damit auch eine Ressource für die Herstellung von Ungleichheit ist. 3
Erklärung der Unterschiede in der Verfügung über transnationales linguistisches Kapital
Wir hatten gesehen, dass die Kompetenz zur Mehrsprachigkeit sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder recht unterschiedlich ausfällt. Ich versuche im Folgenden, die Unterschiede in der Verfügung über transnationales linguistisches Kapital zu erklären und unterscheide dabei zwischen Faktoren, die auf der Individualebene und Faktoren, die auf der Ebene der Länder zu lokalisieren sind. Die genaue Operationalisierung der im Folgenden erläuterten Variablen findet sich im Anhang. Ich beginne mit der Explikation von Erklärungsfaktoren, die sich aus der Theorie Bourdieus ergeben und auf der Individualebene verortet sind.
229
3.1 Klassenlage und institutionalisiertes kulturelles Kapital Die Bourdieu’sche Theorie ist eine moderne Klassentheorie; sie erklärt Ungleichheit mit Rückgriff auf die Klassenstruktur einer Gesellschaft. Auch wenn Bourdieu die eigene Theorie nicht zur Erklärung der Verfügung über transnationales linguistisches Kapital angewandt hat, kann man sie problemlos auf diesen Fall applizieren. Die Verfügung über linguistisches Kapital ergibt sich dann aus der Klassenlage einerseits und der hinter den Klassen gelagerten relevanten Kapitalausstattung andererseits. a) Klassenlagen/Klassenfraktionen und Berufsposition Die Klassenstruktur einer Gesellschaft ergibt sich aus der Aggregation der Kapitalien, über die Personen verfügen, und der Zuordnung der Personen mit der gleichen Kapitalausstattung zu ein und derselben Klasse. Bourdieu unterscheidet bekanntlich drei Klassen, die sich im Niveau des Kapitalvolumens voneinander unterscheiden (die Oberklasse, die Mittelklasse und die Unterklasse). Innerhalb der drei Klassen sind die Klassenfraktionen platziert, die durch eine unterschiedliche Zusammensetzung von kulturellem und ökonomischem Kapital gekennzeichnet sind (Bourdieu 1982, 1983). Die Klassen und die Klassenfraktionen werden von Bourdieu nicht nur abstrakt benannt, sondern mit der Angabe von konkreten Berufspositionen genauer bezeichnet. Dies ist für unsere empirische Analyse wichtig, weil der Datensatz es ermöglicht, auf die erhobenen Berufspositionen zurückzugreifen. In der Oberklasse gibt es eine Klassenfraktion mit viel kulturellem Kapital und eine Gruppe mit wenig kulturellem Kapital. Das Besitzbürgertum, bestehend vor allem aus den Selbstständigen, verfügt über hohes ökonomisches und im Verhältnis dazu über wenig kulturelles Kapital. Beim Bildungsbürgertum liegt ein umgekehrtes Verhältnis vor: Hier dominiert das kulturelle Kapital vor dem ökonomischen. Zum Bildungsbürgertum zählt Bourdieu vor allem Professoren und andere akademische Berufe. Die Mittelklasse oder das Kleinbürgertum besteht aus den Inhabern mittlerer Berufspositionen, vor allem aus den mittleren Angestellten. Das Kleinbürgertum ist intern weiter differenziert: Das absteigende Kleinbürgertum besitzt wenig oder weniger werdendes ökonomisches und kulturelles Kapital; über ein mittleres Volumen der beiden Kapitalsorten kann das exekutive Kleinbürgertum verfügen und als Komplementärklasse zur neuen Bourgeoisie 230
existiert, entsprechend mit mittlerem Kapitalvolumen ausgestattet, das neue Kleinbürgertum. Die Unterklasse beziehungsweise die Arbeiter- und Bauernschaft wird von Bourdieu nicht weiter in Klassenfraktionen differenziert. Zur Arbeiterschaft gehören die gering Gebildeten und die in manuellen Berufen Tätigen. Der Datensatz enhält keine Einkommens- und Vermögensfragen, so dass eine Operationalisierung des ökonomischen Kapitals unmittelbar nicht möglich ist. Die Interviewten wurden aber nach ihrer Berufsposition befragt und diese wird von Bourdieu zur Beschreibung der Klassen und Klassenfraktionen benutzt. Wenn Interviewte zum Zeitpunkt der Befragung nicht erwerbstätig waren – sei es, weil sie zu diesem Zeitpunkt im Haushalt tätig, verrentet oder arbeitslos waren –, dann wurden sie nach ihrer früheren Berufsposition gefragt. In einem ersten Schritt wurden die Anworten auf die aktuelle und die frühere Berufsposition miteinander fusioniert. Aus den verschiedenen Kategorien wurden dann folgende Berufsgruppen gebildet:
Angestellte oder selbstständige „Professionals“: Darunter fallen Ärzte, Architekten, Rechtsanwälte, Hochschullehrer etc. Höhere und mittlere Leitungskräfte: Darunter fallen Direktoren und Manager, Abteilungsleiter, Techniker, Lehrer etc. Selbstständige: Erfasst werden hier Geschäfts- und Firmenbesitzer, selbstständige Handwerker etc. Mittlere Angestellte und Facharbeiter Ungelernte Arbeiter und Angestellte
Für die Regressionsanalysen wurde aus diesen Berufsgruppen jeweils eine dichotome Variable gebildet. Die ungelernten Arbeiter und Angestellten bilden die Referenzgruppe für die Analysen. Ich gehe erstens davon aus, dass alle Berufsgruppen im Vergleich zu der Referenzgruppe der ungelernten Arbeiter und Angestellten, die Bourdieu dem Proletariat zuordnet, im höheren Maße über linguistisches Kapital verfügen. Ich vermute zweitens, dass die Mittelklasse der Angestellten im geringeren Maße über linguistisches Kapital verfügt als die Selbstständigen, die Leitungskräfte und die Professionals. Schließlich kann man vermuten, dass es eine Differenz gibt zwischen den Professionals und den Leitungskräften auf der einen Seite und den Selbstständigen auf der anderen. Alle drei Gruppen gehören zur Oberschicht, bilden
231
aber zwei unterschiedliche Fraktionen innerhalb der Oberklasse.6 Die Selbstständigen sind diejenigen, die über viel ökonomisches Kapital, aber über relativ wenig kulturelles Kapital verfügen. Für die anderen beiden Gruppen gilt die umgekehrte Kapitalstruktur. Entsprechend vermute ich, dass die Selbstständigen im Vergleich zu den Professionals und den Leitungskräften im schwächeren Maße über eine transnationale linguistische Kapitalausstattung verfügen. b) Institutionalisiertes kulturelles Kapital Das institutionalisierte kulturelle Kapital umfasst die Bildung beziehungsweise die Bildungszertifikate, die eine Person durch die Bildungsinstitutionen einer Gesellschaft verliehen bekommen hat. Bildungsabschlüsse in 27 Ländern mit unterschiedlichen Bildungssystemen zu erheben, so dass die Bildungszertifikate miteinander vergleichbar sind, ist nicht einfach. Das Eurobarometer enthält aber eine Variable, die einen Vergleich der Bildungszertifikate trotz der Unterschiede in den Bildungssystemen ermöglicht. Die Interviewten wurden gefragt, wie alt sie waren, als sie ihre Ausbildung beendet haben. Je älter ein Befragter zum Zeitpunkt der Beendigung seiner Ausbildung, desto höher ist sein Bildungsabschluss und desto höher ist sein institutionalisiertes kulturelles Kapital. Mit Bourdieu kann man davon ausgehen, dass das institutionalisierte kulturelle Kapital einen positiven Einfluss auf die Verfügung über transnationales linguistisches Kapital hat, da Fremdsprachen in der Regel über die Ausbildungsinstitutionen vermittelt werden.7 Je länger Menschen in den Institutionen verweilen, desto höher wird ihre Verfügung über linguistisches Kapital sein. Neben Bildung und Klassenlage habe ich das Alter des Befragten als Kontrollvariable in die Analyse eingefügt. 3.2 Länderspezifische Kontextfaktoren Individuen sind nicht nur in die Klassenstruktur ihres jeweiligen Landes eingebunden, die Länder selbst unterscheiden sich voneinander durch ver6
7
Da die Kategorie nicht nur Unternehmer, sondern auch „kleine“ Selbständige wie Handwerker, die Bourdieu eher dem Kleinbürgertum zuordnen würde, enthält, ist die Operationalisierung etwas unscharf. Die durch die Bildungsinstitutionen vermittelte Fremdsprachenkompetenz kann dann wiederum zur Erhöhung des institutionalisierten kulturellen Kapitals in Form von Bildungszertifikaten führen.
232
schiedene Merkmale, die für den Erwerb der Mehrsprachigkeit eher förderlich beziehungsweise eher hinderlich sein können. a) Modernisierung der Gesellschaft Die 27 Länder unterscheiden sich im Grad der Modernisierung. Wir wissen bis heute nicht genau, welche Faktoren eine Modernisierung befördert haben und wie die Kausalbeziehungen zwischen den verschiedenen Faktoren zu bestimmen sind. Das Ergebnis des Prozesses der Modernisierung ist aber die Entstehung einer Gesellschaft, die durch ein Set von Merkmalen beschreibbar ist, die zusammen ein „Syndrom“ bilden (vgl. Norris 2002: 20ff.). Daniel Bell (1979, 1996) unterscheidet zwei Phasen des Modernisierungsprozesses. Modernisierung im Sinne von Industrialisierung meint, dass die industrielle Produktion von Gütern der dominante Produktionsbereich wird und Fabriken und formale Organisationen die dominanten Produktionseinheiten werden; Güter und Dienstleistungen werden über Märkte vermittelt und distribuiert; der Grad der Technisierung der Produktion ist hoch, das Bildungsniveau steigt an, die Urbanisierung ebenfalls. Die zweite Phase der Modernisierung bezeichnet Bell (1979) als Postindustrialisierung. Postindustrialisierung ist mit einer Bedeutungszunahme des Dienstleistungssektors verbunden, so dass dieser zum dominanten Produktionsbereich wird. Technik und Wissenschaftsentwicklung gewinnen zunehmend an Bedeutung, das Niveau der Bildung einer Gesellschaft steigt erheblich. Die Zunahme der Bedeutung von Bildung im Kontext des Modernisierungsprozesses manifestiert sich in einer Vielzahl von Indikatoren: dem Rückgang der Analphabetenrate, der Zunahme der Verweildauer von Personen im Bildungssystem, der Zunahme der Anzahl von Personen eines Jahrgangs mit höheren Bildungsabschlüssen etc. Ein Teil der Verbesserung der Bildung im Kontext von Modernisierungsprozessen ist die Verbesserung der Ausbildung der Fremdsprachenkompetenz. Insofern kann man vermuten, dass das Niveau der Modernität eines Landes einen Einfluss auf die Fremdsprachenkompetenz seiner Bürger hat. Menschen, die in einem Land leben, das einen hohen Grad der Modernität erreicht hat, werden mehr Fremdsprachen können als Menschen, die in einem Land leben, das geringer modernisiert ist. Zur Messung des Grades der Modernisierung benutzen wir den „Human Development Index“ (HDI) aus dem Jahr 2004. In den HDI gehen das reale Bruttosozialprodukt pro Einwohner, das Bildungsniveau und die durchschnittliche Lebenserwartung ein. 233
b) Größe eines Landes Je kleiner ein Land ist, desto größer ist seine internationale Vernetzung. Je größer die internationale Vernetzung eines Landes, desto besser ist die Fremdsprachenkompetenz seiner Bürger. Für diesen Zusammenhang lassen sich in der Literatur verschiedene Argumente finden. Ich orientiere mich im Folgenden vor allem an den Überlegungen von Hans Geser (1992). Aus der Geometrie kann man lernen, dass der Grenzumfang einer Fläche im degressiven Verhältnis zu seiner Innenfläche wächst. Dies bedeutet, dass ein kleines Land (Innenfläche) überdurchschnittlich viel Grenzfläche mit seinen Nachbarländern hat. Dieser Tatbestand allein erhöht die Wahrscheinlichkeit von Außenkontakten. Wenn das Ausland zugleich durch eine andere Sprache gekennzeichnet ist, dann wirkt sich dies positiv auf den Fremdsprachenerwerb aus. Dies gilt erst recht und besonders für moderne, arbeitsteilige Gesellschaften. Die Wahrscheinlichkeit, einen Kommunikations- und Handelspartner für seine Interessen und Güter zu finden, der selbst Mitglied der eigenen Gesellschaft ist, ist in kleinen Gesellschaften deutlich geringer als in großen Gesellschaften. Entsprechend sind kleine Gesellschaften in der Regel in einem wesentlich höheren Maße in internationale wirtschaftliche und kommunikative Austauschprozesse integriert als größere Länder. Der Austausch mit anderen Ländern wird wiederum wesentlich erleichtert, wenn die Menschen die Sprache des Auslands sprechen. Es gibt noch einen weiteren Grund, warum die Größe eines Landes wahrscheinlich einen Einfluss auf die Fremdsprachenkompetenz der Bürger hat. Menschen lernen eine Fremdsprache nicht nur durch Bildungsinstitutionen und durch unmittelbare Kontakte mit Menschen, die eine andere Sprache sprechen, sondern auch durch die Rezeption medialer Produkte (Bücher, Musik, Filme). Die Übersetzung und Synchronisation von ausländischen Medienprodukten lohnt sich für einen Verlag, einen Filmvertrieb oder für die Radio- und Fernsehanstalten nur, wenn die Menge der Abnehmer der Produkte eine bestimme Größenordnung erreicht. Ist das nicht der Fall, werden die Produkte nicht übersetzt und nur in der Originalsprache distribuiert beziehungsweise (bei Filmen und Fernsehsendungen) allein mit Untertiteln versehen ausgestrahlt. Der Anteil der Medienprodukte, die in der Originalsprache distribuiert werden, ist entsprechend in kleinen Ländern deutlich höher als in großen Ländern. Menschen, die fremdsprachige Medienprodukte rezipieren, werden dadurch ihre Fremdsprachenkompetenz 234
verbessern. Die Größe eines Landes habe ich durch die Menge der Einwohnerzahl operationalisiert. c) Die Dominanz der Muttersprache In der ökonomischen Theorie wird die Wahrscheinlichkeit des Erwerbs einer Fremdsprache aus dem Kommunikationsnutzen einer Sprache abgeleitet (vgl. de Swaan 2001a, 2001b). Der Kommunikationsnutzen des Erwerbs einer Fremdsprache ist gering, wenn Menschen eine Muttersprache sprechen, die von vielen anderen im Ausland auch gesprochen wird, sei es als Muttersprache, sei es als Fremdsprache. Es ist dann wahrscheinlich, dass sie sich in ihrer Muttersprache mit Leuten im Ausland verständigen können, weil diese ihre Sprache sprechen; die Notwendigkeit, selbst eine Fremdsprache zu lernen und zu sprechen, ist also gering. Diese Randbedingung scheint für das Englische zu gelten. Es ist diejenige Sprache, die innerhalb Europas, aber auch innerhalb der Welt, am häufigsten gesprochen wird (Crystal 1998). Nach unserer Berechnung sind es 43% der Bürger der 27 Länder der EU, die angeben, Englisch als Mutter- oder als Fremdsprache sprechen zu können. Englisch ist damit die mit Abstand meist verbreitete Sprache in Europa. Entsprechend vermute ich, dass diejenigen, die Englisch als Muttersprache sprechen, über ein geringeres transnationales linguistisches Kapital verfügen als Personen, für die dies nicht gilt. 3.3 Überprüfung der Hypothesen Ich habe zwei verschiedene multivariate Analysen durchgeführt; zum einen eine lineare Regression, in der die Menge der Fremdsprachen, die jemand spricht, die abhängige Variable bildet. Da die Variable rechtsschief verteilt ist (siehe Tabelle 1), habe ich zusätzlich eine logistische Regression durchgeführt, in der die Frage, ob jemand überhaupt eine Fremdsprache beherrscht oder nicht, die dichotome abhängige Variable bildet. Die Ergebnisse der logistischen und der linearen Regressionsanalysen sind nahezu identisch. Eine weitere methodische Vorbemerkung ist nötig. Zwei der unabhängigen Variablen sind Makrovariablen, die auf der Länderebene erhoben wurden, bei allen anderen Variablen handelt es sich um Mikrovariablen, die auf der Individualebene erhoben wurden. Diese Datenstruktur macht es an sich notwendig, eine Mehrebenenanalyse durchzuführen. Die Ergebnisse 235
der Mehrebenenanalyse sind ebenfalls identisch mit denen der linearen Regressionsanalyse, so dass ich mich im Folgenden auf die einfacher zu interpretierenden Befunde der linearen Regressionsanalyse konzentriere. Tabelle 2 enthält sieben verschiedene Modellrechnungen, die ich im Folgenden nacheinander interpretiere.8 Tabelle 2:
Erklärung der Verfügung über transnationales linguistisches Kapital (lineare Regressionen) Modell 1
Klassen und 1 Klassenfraktionen Angestellte, selbstständige Professionals Höhere und mittlere Leitungskräfte Selbstständige Mittlere Angestellte und Facharbeiter
Modell 2
Modell 3
Modell 4
Modell 5
Modell 6
Modell 7
0,20*** 0,20*** 0,06*** 0,06*** 0,08***
0,08***
0,24*** 0,24*** 0,09*** 0,09*** 0,10***
0,10***
0,05*** 0,07*** 0,11*** 0,11***
Kulturelles Kapital (Bildung) Alter
0,03* 0,03
0,03** 0,03
0,03** 0,03*
0,03* 0,03*
0,36*** 0,36*** 0,34***
0,33***
0,04*** 0,04*** 0,14***
0,03*** 0,14***
0,10***
Englisch als Muttersprache Modernitätsgrad eines Landes (HDI) Größe eines Landes
0,09**
0,12***
-0,21**
N
13164
13164
13164
13164
13164
13164
0,19*** 13164
R2
4,8%
5,7%
15,8%
15,9%
17,9%
3,8%
21,2%
Angegeben sind die standardisierten Regressionskoeffizienten. * pt<,05; *** pt<,001 1 Referenzkategorie bilden die ungelernten Arbeiter.
8
Die Stichproben der Länder wurden so gewichtet, dass sie der Bevölkerungsanzahl der jeweiligen Länder entsprechen.
236
1.
2.
3.
In einem ersten Schritt wurde die Berufsposition der Befragten in die Analyse aufgenommen. Es bestätigt sich die Erwartung, dass alle Berufsgruppen im Vergleich zur Referenzgruppe der ungelernten Arbeiter und Angestellten im höheren Maße über linguistisches Kapital verfügen. Vergleicht man die Berufsgruppen untereinander, dann sieht man, dass die Mittelklasse der Angestellten im geringeren Maße mehrsprachig ist als die zwei Gruppen der Oberklasse (Leitungskräfte, Professionals); auch dies entspricht der Bourdieu’schen Hypothese. Weiterhin zeigt sich eine Differenz zwischen den Professionals und den Leitungskräften auf der einen Seite und den Selbstständigen auf der anderen Seite. Dies deutet darauf hin, dass die beiden Gruppen zwei Fraktionen innerhalb der Oberklasse bilden. Die Selbstständigen sind diejenigen, die über viel ökonomisches, aber über relativ wenig kulturelles und linguistisches Kapital verfügen. Im zweiten, dritten und vierten Modell wurde zusätzlich das institutionalisierte kulturelle Kapital des Befragten in die Analyse einbezogen, jeweils mit und ohne Kontrolle des Alters. Zum einen zeigt sich, dass der Alterseffekt fast vollständig von der Bildung des Befragten „aufgesaugt“ wird. Die jüngeren Befragten sind auch die besser Ausgebildeten und dies erklärt, warum in Modell 2, in dem allein die Altersvariable, nicht aber die Bildungsvariable enthalten ist, ein starker Effekt vom Alter auf die Mehrsprachigkeit ausgeht. Dieser Einfluss verschwindet fast vollständig, wenn man zusätzlich den Einfluss der Bildung des Befragten berücksichtigt. Wie das Vorzeichen des Koeffizienten zeigt, geht der Effekt in die theoretisch erwartete Richtung: Je höher die Bildung des Befragten, desto besser ist die Ausstattung mit linguistischem Kapital. Die Berücksichtigung der Bildung reduziert zugleich den Einfluss der Klassenlage auf die Erklärung des linguistischen Kapitals. Schließlich zeigen die Analysen, dass die Berücksichtigung des institutionalisierten kulturellen Kapitals die Erklärungsleistung des Modells von 4,8% auf 15,8% erhöht. Von der Bildung des Befragten geht also der stärkste Effekt auf die Mehrsprachigkeit aus. Insgesamt werden durch die Analysen die Bourdieu’schen Annahmen sehr gut bestätigt. Die Verfügung über linguistisches Kapital wird entscheidend bestimmt durch die Klassenlage und die Kapitalausstattung des Befragten. Die Modelle 5 bis 7 berücksichtigen die Kontext-/Makrovariablen für die Erklärung von Mehrsprachigkeit. Modell 5 fügt zuerst die auf der 237
Individualebene erhobene Frage, ob jemand Englisch als Muttersprache spricht, hinzu. Die aufgeklärte Varianz erhöht sich auf 17,9%, der Effekt geht in die erwartete Richtung. Diejenigen, die Englisch als Muttersprache sprechen, verfügen über eine geringere Fremdsprachenkompetenz. Modell 6 enthält nur die Makrovariablen. Vergleicht man die aufgeklärte Varianz in Modell 5 mit der in Modell 6, dann sieht man, dass die Kontextvariablen deutlich weniger zur Erklärung beitragen als die Individualvariablen. Die Effekte der beiden unabhängigen Makrovariablen gehen aber in die theoretisch erwartete Richtung: Je modernisierter und je kleiner ein Land ist, desto besser ist die Ausstattung seiner Bevölkerung mit transnationalem linguistischen Kapital. Das letzte Modell schließlich berücksichtigt alle theoretisch begründeten Einflussfaktoren. Wie der R2-Wert von 21,2% ausweist, kann man die Fremdsprachenkompetenz mit den unabhängigen Variablen sehr gut voraussagen. Zudem werden alle unsere theoretischen Annahmen bestätigt. Den stärksten Einfluss auf die Mehrsprachigkeit des Befragten haben das institutionalisierte kulturelle Kapital des Befragten und die Größe des Landes, aus dem er kommt. 4
Bilanz der Befunde
Der politische Prozess der Europäischen Integration hat zu einer Europäisierung der Mitgliedsländer im Sinne einer Erhöhung der transnationalen Austauschbeziehungen und der wechselseitigen Interdependenzen geführt. Ob dieser systemische Prozess der Europäisierung von einer lebensweltlichen Europäisierung im Sinne einer Zunahme der Kommunikation zwischen den Bürgern verschiedener Mitgliedsländer begleitet wird, hängt entscheidend davon ab, ob und in welchem Maße die Bürger miteinander kommunizieren können. Wir hatten gesehen, dass die EU im Unterschied zu den Nationalstaaten keine Politik der sprachlichen Homogenisierung und der Förderung einer Einheitssprache betreibt. Die Europäische Union akzeptiert die Amtssprachen der Mitgliedsländer als ihre eigenen Amtssprachen, so dass in der Union 23 Sprachen den Status einer Amtssprache haben; die EU fördert zugleich die Mehrsprachigkeit der Bürger Europas. Unter den Bedingungen von Transnationalisierungs- und Europäisierungsprozessen und einer Politik der Akzeptanz eines multilingualen Euro238
pas ist die Fähigkeit, eine oder mehrere Fremdsprachen zu sprechen, eine wichtige Ressource zur Partizipation am Europäisierungsprozess. Die Ausstattung mit transnationalem linguistischen Kapital erleichtert es, mit Bürgern anderer Länder in Interaktionsbeziehungen unterschiedlicher Art treten zu können; die Fremdsprachenkompetenz bietet zudem die Möglichkeit, sich als Teil einer neuen transnationalen Klasse darstellen zu können und entsprechende symbolische Distinktionsgewinne zu akkumulieren. Insofern ist das transnationale linguistische Kapital eine zentrale Ressource der Produktion sozialer Ungleichheit im Kontext von Prozessen der Transnationalisierung. Unsere empirischen Analysen zeigen zum einen, dass es mit der Fremdsprachenkompetenz der Bürger nicht so weit her ist; mehr als 50% der Bürger sprechen keine Fremdsprache; deren Partizipationschancen am Europäisierungsprozess sind also sehr eingeschränkt. Die Auswertungen zeigen zum Zweiten, dass die Kompetenzen der Mehrsprachigkeit zwischen den Ländern und innerhalb der Länder sehr unterschiedlich verteilt sind, es ähnlich wie bei anderen Kapitalien eine Ungleichheit in der Kapitalausstattung der Bürger gibt. Ich habe deswegen untersucht, wie man diese Ungleichheit erklären kann. Neben der Größe eines Landes und der Frage, ob in dem Land Englisch als Muttersprache gesprochen wird, hat die Ungleichheit zwischen den Ländern und die Ungleichheit innerhalb der Länder einen entscheidenden Einfluss auf die Ausstattung mit transnationalem linguistischen Kapital: Je modernisierter ein Land ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Bürger über eine bessere linguistische Kapitalausstattung verfügen. Und es sind die oberen Klassen, die über eine gute Bildung verfügen und für eine Teilhabe am Prozess der Europäischen Integration gut gerüstet sind, weil sie über eine entsprechende Fremdsprachenkompetenz verfügen. Das Projekt Europa ist neben allen anderen Dingen eben auch ein Klassenprojekt (Fligstein 2008). Und es sind die oberen Klassen, die für den Europäisierungsprozess besser ausgestattet sind und von diesem am meisten profitieren, die sich mit dem Projekt Europa auch am stärksten identifizieren, die also die „Kerneuropäer“ darstellen (Fligstein 2008: 145). Zugleich muss man aber in Rechnung stellen, dass nicht nur der Prozess der Europäisierung nationalstaatlich verfasster Gesellschaften eine enorme Dynamik aufweist, sondern auch der Fremdsprachenerwerb der Bürger. Während in der Gruppe der über 65-Jährigen 58,4% angeben, keine Fremdsprache zu sprechen, beträgt der Anteil in der Gruppe der 15- bis 24239
Jährigen nur noch 22,8%. Insofern mögen sich die Unterschiede in der Fremdsprachenkompetenz zwischen und innerhalb der Länder im Zeitverlauf verringern, wenn es den Ländern gelingt, sich weiter zu modernisieren, das Bildungsniveau insgesamt anzuheben und die Klassenunterschiede abzuschwächen. Literatur Ambrosius, Gerold, 1996: Wirtschaftsraum Europa. Vom Ende der Nationalökonomien. Frankfurt a.M.: Fischer. Beck, Ulrich, 1997: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich und Edgar Grande, 2004: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beisheim, Marianne, Sabine Dreher, Gregor Walter, Bernhard Zangl und Michael Zürn, 1999: Im Zeitalter der Globalisierung? Thesen und Daten zur gesellschaftlichen und politischen Denationalisierung. Baden-Baden: Nomos. Bell, Daniel, 1979: Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit. Frankfurt a.M.: Fischer. Ders., 1996: Die nachindustrielle Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Campus. Bourdieu, Pierre, 1982: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders., 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. S. 183-198 in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheit. Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen: Schwartz. Ders., 1992: Language and Symbolic Power. Cambridge: Polity Press. Bourdieu, Pierre und Jean-Claude Passeron, 1971 : Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart : Klett. Crystal, David, 1998: English as a Global Language. Cambridge: Canto. Delhey, Jan, 2004: Nationales und transnationales Vertrauen in der Europäischen Union, Leviathan 32 (1): 15-45. Ders., 2005: Das Abenteuer der Europäisierung. Überlegungen zu einem soziologischen Begriff europäischer Integration und zur Stellung der Soziologie zu den Integration Studies, Soziologie 34 (1): 7-27. De Swaan, Abram, 1993: The Evolving European Language System: A Theory of Communication Potential and Language Competition, International Political Science Review 14 (3): 241-255. Ders., 1995: Die soziologische Untersuchung der transnationalen Gesellschaft, Journal für Sozialforschung 35 (2): 107-120. Ders., 2001a: The Language Constellation of the European Union. S. 170-181 in: Martin Kohli und Mojca Novak (Hg.): Will Europe Work? Integration, employment and the social order. London/New York: Routledge. Ders., 2001b: Words of the World: The Global Language System. Cambridge: Polity Press.
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243
Anhang Beschreibung der Variablen Variable Ausprägung Transnationales 0-3 linguistisches Kapital Klassen 0/1 - Angestellte/ selbstständige Professionals - Höhere/ mittlere Leitungskräfte - Selbstständige - Mittlere Angestellte und Facharbeiter Institutionalisier0-65 tes kulturelles Kapital
Alter
15-97
Englisch als Muttersprache
0/1
Modernisierungsgrad
0,805 (Rumänien)0,956 (Irland)
Größe eines Landes
450000 (Luxemburg)82534000 (Deutschland)
244
Beschreibung Menge der gesprochenen Fremdsprachen; Kodierung: 0 „keine“, 1 „eine Fremdsprache“, 2 „zwei Fremdsprachen“, 3 „drei oder mehr Fremdsprachen“ Dummyvariablen gebildet aus derzeitiger und früherer Beschäftigung; Kodierung: 0 „nein (nicht der Klasse zugehörig)“, 1 „ja (der Klasse zugehörig)“; Referenzkategorie: Ungelernte Arbeiter und Angestellte
Datenquelle EB 63.4
Alter (in Jahren) bei Ausbildungsende; Kodierung: 0 „noch studierend“, 98 „keine (Vollzeit-)Ausbildung“, 99 „weiß nicht“; Operationalisierung: Kategorie 0, 98 und 99 = Missing Alter (in Jahren) zum Zeitpunkt der Befragung Dummyvariable; Kodierung: 0 „nicht angegeben (beziehungsweise Englisch nicht als Muttersprache)“, 1 „angegeben (Englisch als Muttersprache)“ Human Development Index: zusammengesetzt aus Alphatisierungsgrad, Einschulungsrate, Lebenserwartung und BIP pro Kopf Anzahl der Einwohner pro Land
EB 63.4
EB 63.4
EB 63.4 EB 63.4
Human Development Report 2006 Datenreport 2006
Einkommensungleichheiten in der Europäischen Union. Ihre inner- und zwischenstaatliche Dynamik und ihre subjektive Bewertung Martin Heidenreich und Marco Härpfer
1
Einleitung
Die 1754 von der Académie de Dijon gestellte Preisfrage nach dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen war Dahrendorf (1974: 353) zufolge „historisch die erste Frage der soziologischen Wissenschaft.“ Die Antwort von Jean-Jacques Rousseau auf diese Frage setzte bei der Differenz von natürlichen und sozialen Ungleichheiten an und erklärte Letztere durch Privilegien, das heißt durch die Umwandlung von Gemeineigentum oder herrenlosem Land in Privateigentum (Berger 2004). Damit öffnete er den Blick für die soziale Konstruktion von Ungleichheiten durch den privilegierten Zugang zu Erwerbschancen, das heißt durch soziale Schließungsprozesse. Soziale Ungleichheiten liegen somit überall dort vor, „wo die Möglichkeiten des Zuganges zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/ oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt werden“ (Kreckel 2004: 17, eigene Hervorhebung). Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen innerstaatliche Schließungsprozesse, auch wenn „Pass und Visum (…) heute zu den wichtigsten Institutionen sozialer Ungleichheit“ gehören (Kreckel 2006: 4). Im Rahmen einer nationalstaatlich fokussierten Sozialstrukturanalyse werden dauerhafte Bevorzugungen beziehungsweise Benachteiligungen durch Besitzklassen (Marx), durch Erwerbsklassen (Weber), durch soziale Schichten oder durch soziale Milieus und Lebensstile erklärt, das 245
heißt durch unterschiedliche, aber in jedem Fall national strukturierte soziale Gruppen. Mit dem schrittweisen Abbau der Binnengrenzen in der EU für Personen, Güter, Dienstleistungen und Kapital verlieren Pass und Visum in Europa jedoch ihre Bedeutung als Instrumente sozialer Schließung. Damit stellt sich die Frage nach der transnationalen Strukturierung sozialer Ungleichheiten in Europa: Können die Einkommensungleichheiten in Europa im Sinne des methodologischen „Universalismus des wirtschaftswissenschaftlichen Marktverständnisses“ (Kreckel 2004) ausschließlich durch individuelle Qualifikations- und Leistungsunterschiede erklärt werden? Vieles spricht dafür, dass regionale Wirtschafts- und Arbeitsmarktstrukturen mit zu den neuen sozialstrukturellen Grundlagen sozialer Ungleichheiten in Europa zu zählen sind (Heidenreich/Wunder 2008). Nicht nur die Genese sozialer Ungleichheiten, sondern auch ihre Wahrnehmung wird durch nationalstaatliche Rangordnungen und Maßstäbe für die Diagnose von Gleichheit und Ungleichheit vorstrukturiert. Die relevanten Vergleichsmaßstäbe sind in der Regel subnationale oder nationale. Europäische oder gar globale Einkommensunterschiede können daher streng genommen zunächst nicht als Ungleichheiten, sondern nur als Disparitäten bezeichnet werden (Heidenreich 2003: 35). Neuerdings verdichten sich allerdings die Hinweise, dass zumindest in Europa auch supranationale Referenzgruppen an Bedeutung gewinnen (vgl. Delhey/Kohler 2006), so dass es Sinn macht, von einer ansatzweisen Europäisierung von (Un)Gleichheitsvorstellungen zu sprechen (Gerhards/Lengfeld 2008). Die europaweiten Disparitäten der Einkommensbedingungen transformieren sich somit zunehmend zu Ungleichheiten in einem wirtschaftlich und rechtlich integrierten transnationalen Raum (Mau 2007). Nicht nur die Genese und Diagnose sozialer Ungleichheiten, sondern auch ihre Regulierung durch nationalstaatliche Umverteilungs- und Konfliktregulierungsmuster verweisen auf die zentrale Bedeutung nationalstaatlicher Ordnungsrahmen (Schwinn 2008). Die Wahrnehmung und Artikulation sozialer Risiken und Ungleichheiten ebenso wie ihre politische Bearbeitung erfolgen auch in einer global vernetzten Welt noch weitgehend auf nationaler Ebene. Nationalstaaten sind bislang die größte bekannte Ebene, auf der Gleichheitsnormen und Strukturen solidarischen Handelns wirksam verankert sind; Adressaten für sozialpolitische Erwartungen und Ansprüche gibt es (fast) nur auf nationalstaatlicher Ebene – auch wenn grenzüberschreitende wirtschaftliche Entwicklungsdynamiken und soziale Prozesse 246
selbstverständlich die Verteilung knapper und begehrter Güter und Positionen und damit die Lebenschancen der Menschen beeinflussen. Die Europäische Union (EU) allerdings hat seit ihrer Gründung nicht nur die wirtschaftliche Integration der europäischen Volkswirtschaften erfolgreich vorangetrieben, sondern auch die politische Integration. Sie hat sich zu einer politischen Gemeinschaft entwickelt, die einen erheblichen Teil der nationalen Gesetzgebung insbesondere in den Bereichen Umwelt, Landwirtschaft, Regionalplanung, Justiz, Finanzen, Wirtschaft, Familie und Gesundheit erklärt (Töller 2008). Auch wenn angesichts nationalstaatlicher Entscheidungsvorbehalte und der außerordentlichen Heterogenität nationaler Sozialschutzsysteme nicht mit dem Aufbau eines europäischen Wohlfahrtsstaats oder einer massiven Ausweitung zwischenstaatlicher Transferzahlungen zu rechnen ist (vgl. Leibfried/Obinger 2009), trägt die EU durch die Harmonisierung und Koordinierung der nationalen Wirtschafts-, Finanz-, Rechts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitiken zunehmend zur Regulierung sozialer Ungleichheiten bei. Gerade das Scheitern der Referenden über den europäischen Verfassungsvertrag beziehungsweise den Vertrag von Lissabon zeigt, dass sich die EU zunehmend mit Gleichheitserwartungen konfrontiert sieht und dass die seit der Gründung der EU existierende Kluft zwischen einer hochqualifizierten, mobilen, jungen europäischen Elite und einer Bevölkerung, die soziale Sicherheit bislang nur vom Nationalstaat erwarten kann, sich zu einem fundamentalen Problem für die EU auswachsen kann (Fligstein 2008; Vobruba 2008; Haller 2009; Berger/Weiß 2008). Damit stellt sich die Frage nach der Entwicklung der Einkommensungleichheiten nunmehr auch für Europa. In der Regel werden zur Beantwortung dieser Frage regionale oder nationale Durchschnittswerte herangezogen (vgl. etwa Heidenreich/Wunder 2008). Allerdings sagt die durchschnittliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Gebiets nichts über die Verteilung von Einkommen aus, da in einer Region sowohl reiche als auch arme Menschen wohnen. Anstelle der durchschnittlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sollen daher im Folgenden die Ungleichheiten des verfügbaren Äquivalenzeinkommens1 herangezogen werden. Dieses hängt
1
Das verfügbare Einkommen eines privaten Haushalts ergibt sich, indem das Einkommen aller Haushaltsmitglieder (zum Beispiel Löhne und Gehälter, Einkommen aus unternehmerischer Betätigung, Vermögenserträge) addiert wird, die monetären Sozialleistungen und sonstigen laufenden Transfereinkommen hinzugefügt und die Einkommen- und
247
nicht nur von der nationalen oder regionalen Wirtschaftskraft ab, sondern auch von den Ungleichheiten der Markteinkommen innerhalb einer Region, von steuer- und sozialpolitischen Entscheidungen des jeweiligen Staats und von den Erwerbsstrategien aller Mitglieder eines Haushalts. Im Folgenden wird zunächst diskutiert, wie die Europäisierung der Einkommensungleichheiten begrifflich gefasst werden kann. Vor dem Hintergrund der einschlägigen Diskussionen werden hierzu zwei Hypothesen zur Entwicklung der Einkommensungleichheiten in Europa entwickelt (2). Auf dieser Grundlage wird anschließend die Entwicklung der inner- und zwischenstaatlichen Einkommensungleichheiten analysiert. Anders als die These der „großen Kehrtwende“ (Alderson/Nielsen 2002) unterstellt, kann dabei in Europa keinesfalls eine durchgängige Zunahme der innerstaatlichen Ungleichheiten beobachtet werden. Die ebenfalls zu beobachtende Abnahme der zwischenstaatlichen Einkommensungleichheiten kann als Hinweis auf die zunehmende Homogenisierung des europäischen Felds interpretiert werden (3). Im nächsten Schritt wird neben den objektiven ökonomischen Lebensbedingungen auch die subjektive Beurteilung der finanziellen Situation beleuchtet. Es wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich die Europäisierung sozialer Ungleichheiten auch auf subjektiver Ebene beobachten lässt (4). Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und als Hinweis auf die sozialstrukturelle Wirksamkeit europäischer Regulationsmuster und Verflechtungen interpretiert (5). Vermögensteuern, Sozialbeiträge und sonstige laufende Transfers, die von den privaten Haushalten zu leisten sind, abgezogen werden. Zur Berechnung des Äquivalenzeinkommens wird das verfügbare Einkommen eines Haushalts durch die Summe der Gewichte der Personen im Haushalt geteilt. Hierbei geht man von Kostenersparnissen bei zunehmender Haushaltsgröße aus. Bei der neuen OECD-Äquivalenzskala erhält die erste Person ein Gewicht von 1, jede weitere (erwachsene) Person von 0,5 und Kinder unter 14 Jahren ein Gewicht von 0,3. Durch diese Gewichtung wird das verfügbare Einkommen von Mehrpersonenhaushalten mit dem Einkommen einer alleinstehenden Person vergleichbar gemacht (Schwarze 2003). Des Weiteren fließen Preisunterschiede zwischen den Ländern mittels entsprechender Kaufkraftparitäten ein. Daher sind die folgenden Einkommensangaben in der fiktiven Währungseinheit PPS (purchasing power standards) ausgewiesen (wobei in Deutschland ein PPS etwa 0.96 Euro entspricht). Somit erhält man ein länderübergreifend vergleichbares Äquivalenzeinkommen, über das die Haushalte in dem jeweiligen Jahr verfügen konnten. Um bevölkerungsrepräsentative Aussagen treffen zu können, werden die von Eurostat bereitgestellten Hochrechnungsfaktoren eingesetzt (vgl. Eurostat 2008a).
248
2
Der europäische Raum zwischen Öffnung und Schließung
Der egalitäre Kapitalismus der Nachkriegszeit (Kenworthy 2004) war die Grundlage für den methodologischen Nationalismus der Ungleichheitsforschung: In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems (1971/1973) gelang es, durch sozialstaatliche Leistungen, starke Gewerkschaften, Flächentarifverträge, leistungsfähige Ausbildungssysteme auch für Industriearbeiter, interregionale Umverteilungen und eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik die Einkommensungleichheiten im Rahmen der meisten entwickelten Industrieländer deutlich zu reduzieren. Damit konnte sich die Vorstellung durchsetzen, dass der Nationalstaat die zentrale Bezugseinheit zur Analyse und zur Regulierung von Einkommensungleichheiten sei. Seit den 1970er Jahren wird diese Vorstellung herausgefordert. Zum einen nehmen die Einkommensungleichheiten in vielen Staaten wieder deutlich zu (vgl. Brandolini/Smeeding 2006 für die USA, Großbritannien, Kanada, Schweden, Finnland, Deutschland, die Niederlande, nicht aber Frankreich). Diese Zunahme innerstaatlicher Ungleichheiten kann ausgehend von der von Kuznets (1955) entwickelten These der umgekehrten U-Kurve diskutiert werden. Diese These bezieht sich auf die Entwicklung sozialer Ungleichheiten im Zuge nationaler Industrialisierungsprozesse und prognostiziert geringe Ungleichheiten zu Beginn der Industrialisierung, eine deutliche Zunahme beim Übergang zu einer Industriegesellschaft und einen Rückgang der Ungleichheiten in entwickelten, wohlhabenden Gesellschaften. Erklärt wird dies vor allem durch den sektoralen Wandel von einer gering produktiven Landwirtschaft zu einem hochproduktiven Industriesektor. Die in den letzten Jahren in einigen Ländern beobachtete Zunahme der Einkommensungleichheiten widerspricht somit der von Kuznets prognostizierten Entwicklung. Anstelle eines umgekehrten U ist Alderson und Nielsen (2002) zufolge vielmehr eine „große Kehrtwende“ zu beobachten, das heißt eine Zunahme der Ungleichheiten. Diese wird von den Autoren durch die Globalisierung der Wirtschaft erklärt – insbesondere durch die zunehmende Bedeutung des Handels zwischen entwickelten und weniger entwickelten Ländern und die Zunahme ausländischer Direktinvestitionen. Andere Autoren verweisen auf endogene Ursachen – etwa auf die zunehmende Bedeutung der Erwerbstätigkeit von Frauen, die zu einer egalitäreren Einkommensverteilung führen kann (Kenworthy 2004), die Tertiarisierung der Wirt249
schaft und damit die größere Heterogenität der Wirtschaft (Nollmann 2006) und die demographischen Entwicklungen (Korzeniewicz/Moran 2005). Komplementär zur Verringerung der nationalen Einkommensungleichheiten nahmen bis in die 1970er Jahre die Einkommensungleichheiten zwischen verschiedenen Staaten zu. Für Kreckel (2006: 4) sind daher Nationalstaaten „entscheidende Schaltstellen für die Zuweisung von Lebenschancen im Weltkontext.“ Auch dies ändert sich mit dem Ende der Nachkriegszeit. Vieles spricht für die Abnahme der globalen Einkommensungleichheiten (Firebaugh 2003; Sala-i-Martin 2006; nicht jedoch Milanovic 2002). Gemessen am Gini-Index2 hat sich die weltweite Einkommensungleichheit von 1979 bis 2000 um 3,8% verringert (gemessen an der mittleren logarithmischen Abweichung MLD, einem anderen Ungleichheitsmaß, sogar um 9%; vgl. Sala-i-Martin 2006: 384). Dies geht im globalen Maßstab mit einer deutlichen Abnahme und einer „Afrikanisierung“ der (absoluten) Armut einher. Firebaugh (2003) hat die Zunahme der innerstaatlichen und die Abnahme der zwischenstaatlichen Einkommensungleichheiten als „neue Geographie“ der globalen Einkommensungleichheiten bezeichnet, da damit eine seit Beginn des 19. Jahrhunderts begonnene Entwicklung gebrochen wurde – die Zunahme der zwischenstaatlichen und die Verringerung der innerstaatlichen Ungleichheiten. Damit stellt sich die Frage, ob diese Entwicklungen auch in Europa beobachtet werden können. Zu erwarten ist, dass die innerstaatlichen Einkommensungleichheiten auch in Europa zunehmen, da die Öffnung nationaler Wirtschaftsräume mit dem Auftauen bislang nationalstaatlich domestizierter und regulierter Konfliktpotenziale einhergeht (Heidenreich 2003; Heidenreich/Wunder 2008; Ferrera 2003). Die Öffnung nationaler Wirtschaftsräume konfrontiert die Bevölkerung mit neuen Chancen und Risiken: Während jüngere, gut ausgebildete Beschäftigte zu den Europäisierungsgewinnern gehören, werden gering qualifizierte, ältere Erwerbspersonen eher mit den negativen Konsequenzen von Grenzöffnungsprozessen konfrontiert (Münch 1999). Die Europäisierung und der damit einhergehende Strukturwandel
2
Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß zur Messung von Ungleichverteilungen. Er kann beliebige Größen zwischen 0 und 1 (beziehungsweise 0 und 100 Prozent) annehmen. Erreicht der Gini-Koeffizient einen Wert von 0, kann von einer perfekten gleichmäßigen Verteilung gesprochen werden. Erreicht der Wert dagegen 1, ist die Verteilung perfekt ungleich. Je näher der Gini-Koeffizient an 1 ist, desto größer ist die Ungleichheit.
250
von Wirtschaft und Gesellschaft werden somit – so die erste Hypothese – auch in Europa zu einer Zunahme der innerstaatlichen Einkommensungleichheiten führen (H1). Die Frage, wie sich die zwischenstaatlichen Einkommensungleichheiten in Europa entwickeln werden, verweist auf grundlegende Annahmen über Art und Ergebnisse des europäischen Integrationsprozesses. Wenn Europa nur als gemeinsamer Markt und die europäische Integration als Liberalisierungs- und Marktöffnungsprojekt konzipiert wird, dann kann parallel zur Entwicklung der innerstaatlichen Einkommensungleichheiten auch eine Zunahme der zwischenstaatlichen Ungleichheiten erwartet werden. Die Liberalisierung der Güter-, Waren-, Kapital- und Arbeitsmärkte und der Abbau bisheriger nationaler Marktzutrittsbarrieren könnten zu einer stärkeren Differenzierung der verschiedenen nationalen Volkswirtschaften in Europa führen. Hierfür spricht etwa die These von Bartolini (2005: Kapitel 7), dass die Entwicklung europäischer Außengrenzen angesichts der Offenheit des Binnenmarkts, des tendenziell deterritorialen Charakters des europäischen Rechts, der rein technischen Ausrichtung der europäischen Geldpolitik und der kontinuierlichen Erweiterungsprozesse kaum möglich ist. Auch wenn der europäische Raum nicht durch eine klare, militärisch, polizeilich und administrativ durchgesetzte Differenz zwischen Innen und Außen gekennzeichnet ist, ist Europa unseres Erachtens kein vollkommen offener Raum. Wir begreifen Europa vielmehr als einen transnationalen Verdichtungsraum (Heidenreich 2006) in weltweiten Wertschöpfungs- und Regulierungsprozessen, der durch kommunikative Verdichtungen, ein hohes Maß wirtschaftlicher Integration und durch einheitliche rechtliche Rahmenbedingungen gekennzeichnet ist. Im Spannungsfeld von nationalstaatlichen Räumen und Weltgesellschaft ist die Europäische Union weder ein geschlossener „Behälterraum“ noch ein offener, rein geographisch bestimmter Raum. Er ist vielmehr durch die Verdichtung innereuropäischer Interaktions- und Regulationsstrukturen im Rahmen einer zunehmend global integrierten Wirtschaft gekennzeichnet. Europa entwickelt sich somit zu einem relativ einheitlich geregelten sozialen Feld (Fligstein/Stone Sweet 2002; Fligstein 2008). Hierzu trägt die EU auf verschiedene Weisen bei: Zum einen ist sie die am stärksten internationalisierte Wirtschaftsregion der Welt. Zwei Drittel ihres Außenhandels wickeln die EU-27-Staaten untereinander ab (2007: 68,1% der Exporte und 64,3% der Importe). 49,2% (2003) aller Auslandsinvestitionen der Welt stammen aus den 15 alten EU-Mitgliedstaaten. Gemessen am Bruttoin251
landsprodukt sind die Direktinvestitionsbestände der EU-Staaten mit etwa einem Drittel höher als in jeder anderen Region der Welt. Fast die Hälfte aller multinationalen Unternehmen der Welt hat ihren Stammsitz in den 15 EU-Ländern (UNCTAD 2004: 400). Zum anderen wird die starke wirtschaftliche Verflechtung durch die rechtliche Integration der EU-Staaten – insbesondere durch einheitliche Wettbewerbsbedingungen und den Binnenmarkt – flankiert. Der gemeinsame europäische Rechtsraum ist eine wichtige Voraussetzung für grenzüberschreitende Investitionen. Insbesondere bei Beitrittsverhandlungen, in denen es vor allem um die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstands (acquis communautaire) und seiner etwa 20.000 Rechtsakte geht, wird deutlich, dass keinesfalls von einem allgemeinen, von Nicht-EU-Staaten problemlos zu übernehmenden Korpus von Rechten die Rede sein kann. Die rechtliche Integration der europäischen Länder ist die zentrale Voraussetzung für die starke wirtschaftliche Integration der europäischen Waren- und Kapitalmärkte. Drittens betreibt die EU insbesondere über ihre Struktur- und Regionalfonds eine begrenzte Politik der supranationalen Umverteilung. Viertens trägt sie durch die rechtliche Harmonisierung der Sozialschutzregelungen zu einer Angleichung der europäischen Arbeitsmarktstrukturen und Sozialschutzordnungen bei. Auch durch weiche Governance-Instrumente wie die Offene Methode der Koordinierung wird eine Angleichung der nationalen Sozial- und Beschäftigungsordnungen vorangetrieben (Heidenreich/Bischoff 2008). Durch die wirtschaftliche, rechtliche, regional- und sozialpolitische Integration Europas hat die EU somit eine eigenständige Bedeutung für die Entwicklung von Einkommensungleichheiten gewonnen. Erwartet werden kann daher – so die zweite These –, dass die Integration der europäischen Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Arbeitsmärkte ebenso wie ihre einheitliche Regulierung und die ersten Ansätze einer europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik zur Verringerung der zwischenstaatlichen Ungleichheiten in Europa beitragen können, da weniger wohlhabende Staaten überproportional von der Integration der europäischen Märkte und der Vereinheitlichung der rechtlichen Rahmenbedingungen und Sozialpolitiken profitieren (H2). Diese beiden Hypothesen werden im Folgenden auf Grundlage der verfügbaren Panelstudien diskutiert.
252
3
Die Entwicklung der inner- und zwischenstaatlichen Einkommensungleichheiten in Europa
In diesem Abschnitt soll untersucht werden, ob eine Zu- oder Abnahme der Ungleichheiten des verfügbaren Einkommens im Rahmen der Mitgliedstaaten der europäischen Union (EU) und in der EU insgesamt beobachtet werden kann. Anders als in vorangegangenen Veröffentlichungen (Heidenreich 2003, 2006; Heidenreich/Wunder 2008) stützen wir uns hierbei nicht auf nationale oder regionale Durchschnittswerte, sondern auf die nationalen und europaweiten Verteilungen der bedarfsgewichteten Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen pro Kopf (disposable income per capita). Abbildung 1: Land
Entwicklung der Ungleichheiten des verfügbaren Einkommens in Europa (Gini-Koeffizient; 1980-2005) Erste Erhebungswelle (etwa 1980)
Zweite Erhebungswelle (etwa 1985) 0,227 0,254
0,236
0,244
0,268
0,257
0,209
0,210
0,217
0,247
0,298
0,287
0,288
0,278
0,349
0,333
Belgien Dänemark Deutschland
Dritte Erhebungswelle (etwa 1990) 0,232
Vierte Erhebungswelle (etwa 1995) 0,266
Fünfte Erhebungswelle (etwa 2000) 0,279
Sechste Erhebungswelle (etwa 2005)
0,218
0,225
0,228
0,273
0,275
Estland
+
0,361
Finnland Frankreich
Entwicklung 1980er Jahre bis 2005 ++
0,288
Griechenland Irland
0,328
Italien
0,306
0,252
++ -
0,336
0,313
-
0,290
0,338
0,333
+
Luxemburg
0,237
0,239
0,235
0,260
Niederlande
0,256
0,266
0,257
0,231
-
Österreich
0,227
0,277
0,257
+
Polen
0,271
0,318
0,313
++
0,274
Rumänien Schweden
0,197
0,218
0,229
0,221
0,189
0,241
Slowenien 0,318
Tschechien Ungarn Vereinigtes Königreich
+
0,277
Slowakei Spanien
0,268
0,270
0,303
0,252
0,250
0,249
0,303
0,353
0,336
0,207
0,259
0,283
0,323
0,292
0,336
0,344
0,343
0,237
+
+
0,345
++
Quelle: Luxembourg Income Study (www.lisproject.org; Zugriff: 23.8.08).
253
Die Hypothese zunehmender Einkommensungleichheiten in den europäischen Nationalstaaten kann für die 1980er und 1990er Jahre auf Grundlage des Luxembourg Income Study nicht generell bestätigt werden (vgl. Abbildung 1). Zum einen liegen insbesondere für die mitteleuropäischen Länder keine entsprechenden Datenreihen vor, zum anderen nehmen die Einkommensungleichheiten in vier Ländern ab beziehungsweise bleiben stabil (Dänemark, Frankreich, Irland und die Niederlande). In zehn anderen Ländern nehmen sie hingegen zu, am stärksten in Belgien, Polen, Großbritannien und Finnland. Abbildung 2:
Entwicklung der Ungleichheiten des verfügbaren Einkommens in der erweiterten EU (Gini-Koeffizient (in %); 1995-2006)
Quellen: ECHP und SILC-Daten (http://epp.eurostat.ec.europa.eu; Abruf am 23.8.08). Die erste Säule und der entsprechende Wert in dem unteren Kästchen beziehen sich bei den alten Mitgliedstaaten in der Regel auf das Jahr 1995 und bei den neuen Mitgliedstaaten auf das Jahr 2000.
254
Noch eindeutiger sprechen die Ergebnisse des Europäischen Haushaltspanels (ECHP) beziehungsweise der neuen SILC-Daten3 für den Zeitraum von 1995 bis 2006 gegen die These einer generellen Zunahme der nationalen Einkommensungleichheiten (vgl. Abbildung 2). In diesem Zeitraum sind die Ungleichheiten des verfügbaren Einkommens in 13 Ländern gesunken, während sie in zehn Ländern zugenommen haben – am stärksten in Ungarn, Lettland, Litauen, Rumänien, Finnland und Dänemark. Insgesamt sind die Ungleichheiten – gemessen am ungewichteten durchschnittlichen Gini-Koeffizienten – in den alten Mitgliedstaaten von 0,31 (1995) auf 0,29 (2006) gesunken, während sie in den zehn neuen Mitgliedstaaten von 0,29 auf 0,32 angestiegen sind. Dies verweist darauf, dass die marktwirtschaftliche Restrukturierung der mitteleuropäischen Länder und ihre Integration in den europäischen Wirtschaftsraum mit einer erheblichen Zunahme der Ungleichheiten in diesen Ländern einhergingen. Durch die Zunahme der Ungleichheiten in den bislang egalitäreren nord-, mittel- und osteuropäischen Ländern sind die europäischen Länder ähnlicher geworden; die Standardabweichung und der Variationskoeffizient sind in den betrachteten 11 Jahren geringer geworden. Die Abnahme der Ungleichheiten in 13 von 27 Ländern zeigt, dass die Zunahme der Ungleichheiten des verfügbaren Einkommens kein generelles Merkmal und kein unausweichliches Schicksal einer globalisierten Welt ist: Durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilungsmaßnahmen und durch eine Ausweitung der Beschäftigungsmöglichkeiten insbesondere für Frauen (durch3
Die SILC-Daten (Statistics on Income and Living Conditions) sind eine EU-weit vergleichbare Datenquelle über Einkommen, Armut und Lebensbedingungen in Europa, die seit 2004 (in Deutschland seit 2005) erhoben wird. Für die Statistik gelten in allen Mitgliedstaaten einheitliche Definitionen sowie methodische Mindeststandards. EU-SILC wird auch in Island und Norwegen durchgeführt. Die Erhebung besteht aus einem Haushaltsfragebogen und einem Personenfragebogen für Haushaltsmitglieder ab16 Jahren und wird schriftlich durchgeführt. In Deutschland werden jedes Jahr rund 14 000 repräsentativ ausgewählte Privathaushalte befragt. Der große Vorteil von EU-SILC liegt in der Einheitlichkeit und Harmonisierung der verwendeten Instrumente und Methoden, und dies gilt bereits für die Erhebung der Daten. Sehr detailliert werden die Einkommen und materiellen Lebensbedingungen privater Haushalte in Europa erfasst. Zudem ist EU-SILC als Längsschnitterhebung angelegt, das heißt, dieselben Haushalte und Personen werden jährlich wiederholt befragt. Dadurch kann nicht nur die gegenwärtige Situation, sondern auch die Dynamik der Lebensbedingungen angemessen erfasst werden. In absehbarer Zeit wird EU-SILC damit die zentrale Datenbasis für solche Auswertungen bilden.
255
aus auch im Niedriglohnbereich) gelingt es insbesondere den westeuropäischen Ländern, eine Zunahme der Ungleichheiten zu verhindern (Kenworthy 2004). Ein besonders interessantes Beispiel sind in dieser Hinsicht Deutschland und die Niederlande: Während in diesen Ländern die Ungleichheit der Bruttoverdienste für Vollzeitbeschäftigte von 1996 bis 2006 zugenommen hat, ist die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen im gleichen Zeitraum geringer geworden.4 Im Gegenzug gilt, dass zunehmende Einkommensungleichheiten auch das Ergebnis selektiver Beschäftigungsordnungen sind: In Ländern mit hochgradig selektiven Beschäftigungsordnungen sind die Chancen für Mitglieder ärmerer Haushalte schlechter, das Haushaltseinkommen durch mehrere Jobs zu erhöhen: „We observe sizeable increases in market household inequality in most countries. This development appears to have been driven largely, though not exclusively, by changes in employment: in countries with better employment performance, low-earning households benefited relative to high-earning ones; in nations with poor employment performance, low-earning households fared worse“ (Kenworthy/Pontusson 2005: 461).
Egalitäre Einkommensstrukturen können somit nicht nur durch egalitäre Lohnstrukturen und sozialpolitische Umverteilungsprogramme gewährleistet werden, sondern auch durch inklusive Arbeitsmärkte. Nachdem bislang die Ungleichverteilung der verfügbaren Einkommen im Rahmen der einzelnen europäischen Nationalstaaten betrachtet wurde, soll nun die Ungleichverteilung dieser Einkommen in der Europäischen Union insgesamt betrachtet werden. Diskutiert werden soll, ob die europaweiten Einkommensunterschiede im Zuge der Öffnung, Liberalisierung und Europäisierung der nationalen Märkte geringer geworden sind oder nicht. Diese Frage kann nur für den Zeitraum 1994/1995 bis 2006 diskutiert werden, da für längere Zeiträume keine europaweiten Einkommensdaten verfügbar sind (vgl. Härpfer/Schwarze 2006). Die auf Grundlage der ECHP- und SILCDaten berechneten Ergebnisse wurden in Abbildung 3 zusammengestellt. 4
Die OECD (2008: 358) berichtet für den Zeitraum von 1996 bis 2008 von einer Zunahme des Dezilverhältnisses (D9/D1) der Bruttoeinkommen für Vollzeitbeschäftigte von 2,91 auf 3,26 (Deutschland) beziehungsweise 2,78 auf 2,91 (Niederlande), während die Dezilverhältnisse der verfügbaren Einkommen von 3,3 auf 3,0 (Deutschland) beziehungsweise von 3,2 auf 2,9 (Niederlande) gesunken sind (Quellen: eigene Berechnungen auf Grundlage der ECHP- und SILC-Daten).
256
Abbildung 3:
Europaweite Einkommensungleichheiten und Armutsquoten (EU-11-EU-24; 1994-2006)
Jahr
Europaweiter Gini 0,329 0,318 0,306 0,298 0,296 0,296 0,292 0,291
Europaweites Dezilverhältnis P90/P10 4,643 4,378 4,100 3,967 3,965 3,805 3,798 3,785
Zahl der einbezogenen Länder 11 13 14 15 15 15 15 15
Armut (europaweite Armutsgrenze) 20,4 19,8 18,8 18,5 18,2 17,5 17,6 17,2
Armut (nationale Grenze) 17,0 16,8 16,2 15,3 14,8 14,9 14,7 14,9
1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 (2004) 2005 2006
(0,303) 0,337 0,328
(3,917) 4,981 4,806
(13) 24 24
(17,9) 22,0 21,6
(16,2) 15,4 15,5
Quelle: 1994-2001: ECHP (1995 ohne Finnland und Schweden); 2004-2006: EU-SILC (EU25 ohne Malta), eigene Berechnungen.
Für die alten Mitgliedstaaten ist von 1995 bis 2001 eine deutliche Abnahme auch der europaweiten Einkommensungleichheiten festzustellen. Nicht nur die innerstaatlichen, sondern auch die zwischenstaatlichen Einkommensungleichheiten verringern sich somit in den alten Mitgliedstaaten. Die Größenordnungen der durchschnittlichen innerstaatlichen und die der europaweiten Einkommensungleichheiten entsprechen sich weitgehend (1995: 0,31 und 0,32; 2001: 0,29 und 0,29). Dies verweist darauf, dass ein Großteil der Ungleichheiten des verfügbaren Einkommens in Europa innerstaatliche Ungleichheiten sind (Härpfer/Schwarze 2006: 147). Im Rahmen der bisherigen EU ist deshalb auch eine Angleichung der nationalen und der europaweiten Armutsquote zu beobachten: Während die durchschnittliche nationale Armutsquote, das heißt der Anteil der Bevölkerung, der weniger als 60% des nationalen Durchschnittseinkommens verdient, im Jahre 1995 noch 3 Prozentpunkte unter der europaweiten Armutsquote liegt, unterscheiden sich die nationalen und die europäische Armutsquote 2001 nur noch um 2,3 Prozentpunkte. Wenn dem Plädoyer von Fahey (2007) für eine europaweite Armutsgrenze gefolgt wird, würde dies im Rahmen der alten Mitgliedstaaten nicht zu einer erheblichen Zunahme der Armut führen – auch wenn sich die territoriale Verteilung der Armut natürlich ändern würde, da fast kein Luxem-
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burger mehr arm wäre, hingegen gut 40% der Portugiesen und etwa 20% der Spanier und Italiener. Die SILC-Daten erlauben erstmals eine Berechnung der Ungleichheitsund Armutsquoten für die erweiterte EU (EU-25 ohne Malta). Im Vergleich zu den alten Mitgliedstaaten ist die europaweite Ungleichheit erwartungsgemäß erheblich höher, da 2004 zehn ärmere Länder der EU beigetreten sind (Länder, die mit Ausnahme von Zypern, Slowenien, Malta und Tschechien ärmer waren als Portugal, dem bislang ärmsten Mitgliedstaat). Insgesamt sind die europaweiten Einkommensungleichheiten auf Gini=0,34 angestiegen, während sich die europaweite Armutsquote auf 22% erhöht hat. Auf Grundlage einer europaweiten Armutsgrenze von 60% des europäischen Durchschnittseinkommens ist über die Hälfte der Bevölkerung in den baltischen Ländern, in Polen, Ungarn und der Slowakei arm. Dies ist keinesfalls nur ein statistisches Artefakt: „(T)hose in the upper income quartile in the poorest EU states feel deprived to a degree that is strikingly in keeping with their objective position: they feel better off than the poor in their own states but worse off than low- or middle-income groups in the rich states“ (Fahey 2007: 45). Von 2005 bis 2006 ist allerdings auch in der erweiterten EU eine deutliche Abnahme der europaweiten Ungleichheit und Armutsbetroffenheit zu konstatieren. Wenn sich dieser Trend über einen längeren Zeitraum bestätigen sollte, spräche dies für die erwartete und für die EU-15 bestätigte europaweite Angleichung der Einkommensverhältnisse. Aber auch auf dem jetzigen Niveau sind die Ungleichheiten des verfügbaren Einkommens im Vergleich zu den USA überraschend gering: Für die USA liegt der entsprechende Gini-Koeffizient im Jahre 2006 bei 0,368, während in Europa (EU-24) eine Ungleichheit von Gini=0,328 gemessen wird. Auch die Armutsquoten sind in den USA etwa ebenso hoch wie in der EU25 (22,8% beziehungsweise 23% bei einer europaweiten Armutsgrenze; vgl. Brandolini 2007). Festgehalten werden kann, dass die nationalen Ungleichheiten des verfügbaren Einkommens in den 1980er und 1990er Jahren in den meisten westeuropäischen Staaten und in Polen, nicht jedoch in Dänemark, Frankreich, Irland und den Niederlanden zunehmen. Von 1995 beziehungsweise 2000 bis zum Jahr 2006 ist eine Zunahme der Ungleichheiten vor allem in den skandinavischen und den mittel- und osteuropäischen Ländern zu beobachten; die Ungleichheiten in den anderen europäischen Ländern bleiben stabil oder ver258
ringern sich. Dies kann als Hinweis auf die politische Gestaltbarkeit von Einkommensdynamiken interpretiert werden: Zum einen geht von der zunehmenden Liberalisierung der europäischen Märkte und der Öffnung nationalstaatlicher Räume ein Druck in Richtung zunehmender Einkommensungleichheiten aus. Zum anderen können inklusivere Beschäftigungsordnungen und staatliche Umverteilungspolitiken insbesondere in den kontinentaleuropäischen Ländern durchaus eine ungleichere Verteilung der Markteinkommen kompensieren. Die Verringerung der innerstaatlichen Einkommensungleichheiten in den bisherigen EU-Mitgliedstaaten kann daher als Hinweis auf die Wirksamkeit nationaler Regulationsstrukturen interpretiert werden, während die Verringerung der europaweiten Ungleichheiten zwischen den bisherigen Mitgliedstaaten auf die Wirksamkeit europaweiter wirtschaftlicher und politischer Verflechtungen und Regulationsstrukturen verweist. 4
Die subjektive Wahrnehmung von Einkommensungleichheiten im Spannungsfeld von nationalstaatlichem und europäischem Bezugsrahmen
Bislang wurde der Einfluss der Europäisierung von Wirtschaft und Politik auf die Verteilung der Einkommen herausgearbeitet. Damit wurde die objektive Seite der Ressourcenausstattung von Personen und Haushalten betrachtet. Neben dieser objektiven Dimension kommt aber der Beurteilung des Einkommens und des Lebensstandards durch das Individuum eine zentrale Bedeutung zu. Denn die individuelle Wohlfahrt besteht nicht nur aus den objektiven Lebensbedingungen – wofür das personelle Einkommen als Indikator herangezogen wird –, sondern auch aus dem subjektiven Wohlbefinden des Einzelnen. Durch Einbeziehung des Letzteren wird der Mehrdimensionalität des umfassenderen Konzepts der Lebensqualität Rechnung getragen (vgl. Zapf 1984). Die Menschen stützen sich bei der Bewertung ihres materiellen Lebensstandards nicht nur auf die Möglichkeiten, die ihnen die materielle Ausstattung zur Erfüllung ihrer Wünsche und Ziele bietet. Sie vergleichen diese sowohl mit der eigenen Vergangenheit als auch mit anderen Menschen (vgl. Zapf 1984; Clark et al. 2008). Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, wie die Ausweitung des wahrgenommenen sozialen Raums im Zuge der
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europäischen Integration den Vergleich der eigenen Einkommensposition mit derjenigen anderer Menschen beeinflusst. Die Frage nach den sozial relevanten Vergleichsmaßstäben steht im Mittelpunkt der Referenzgruppen-Theorie (vgl. Delhey/Kohler 2006). Die Referenzgruppe kann dabei unterschiedlich definiert werden. So zeigt etwa Ferrer-i-Carbonell (2005) für Deutschland, dass die Zufriedenheit einer Person umso höher ist, je besser ihre Einkommensposition im Vergleich zu ähnlich Gebildeten und Gleichaltrigen derselben Region ist. Hierbei können leichte Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland beobachtet werden. Einen ähnlichen Zusammenhang können Clark und Oswald (1996) für britische Arbeiter nachweisen. Deren Wohlbefinden korreliert negativ mit dem jeweiligen Referenzlohn, das heißt, je geringer der Referenzlohn ist, der als Vergleichsmaßstab genutzt wird, desto zufriedener sind sie. Dagegen hat der absolute Lohn überraschenderweise keinen Einfluss auf das Urteil der Arbeiter. Senik (2008) erweitert diesen Ansatz auf mehrere Länder. Sie nimmt als Referenzpunkt ein individuelles Erwerbseinkommen, das auf Grundlage des Jahres, der Region und der „professional peers“ (ähnlich unter anderem hinsichtlich Alter, Berufserfahrung, Beruf, Sektor) geschätzt wird. Ebenso wie Clark und Oswald (1996) stellt sie für die bisherigen Mitgliedstaaten der EU einen negativen Effekt des Referenzeinkommens auf die subjektiven Urteile fest.5 Dagegen stellt sie einen positiven Einfluss in den meisten neuen EU-Mitgliedstaaten und den USA fest. Senik erklärt dies dadurch, dass das Referenzeinkommen nicht nur eine Vergleichs-, sondern auch eine Informationsfunktion übernimmt, welche über zukünftige Entwicklungen Auskunft gibt. Die Menschen in diesen dynamischen und mobilen Ländern antizipieren bereits jetzt mögliche zukünftige Wohlstandssteigerungen. Easterlin (1995) wählt in seiner Analyse alle Angehörigen eines Staats als Bezugsrahmen und stellt in einem internationalen Vergleich fest, dass Personen mit höherem Einkommen im jeweiligen Land durchschnittlich glücklicher sind. Er weist aber gleichzeitig auf die Grenzen des Zusammenhangs hin. Zwar sind die Einkommen in den betrachteten Ländern seit den 1970er Jahren gestiegen, aber die durchschnittliche Zufriedenheit ist
5
Seniks Schlussfolgerung – „in stable European countries the sign of Reference Income is predominantly negative“ (Senik 2008: 503) – kann allerdings nicht unbesehen gefolgt werden, denn von 14 untersuchten Ländern findet sie zwar bei sechs signifikant negative Zusammenhänge, aber in immerhin vier fallen diese signifikant positiv aus (Senik 2008: 504).
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nicht im gleichen Maß gewachsen. Das subjektive Wohlbefinden kann somit auch bei positiver Einkommensentwicklung stagnieren oder zurückgehen. Bei der Diskussion um die Europäisierung sozialer Ungleichheiten kann ebenfalls an die Referenzgruppen-Theorie angeknüpft werden. So kann gefragt werden, ob sich der Bezugsrahmen der Menschen durch die Europäische Integration verändert und erweitert. Tritt neben den Nationalstaat eine neue europäische Vergleichsebene? Wenn gezeigt werden könnte, dass sich die Menschen über Ländergrenzen hinweg vergleichen, kann erwartet werden, dass die weiter oben festgestellte Konvergenz der Einkommensentwicklungen in Europa auch einen Einfluss auf die subjektive Beurteilung der materiellen Lebensbedingungen hat. Delhey und Kohler (2006) weisen nach, dass sich die Bevölkerung durchaus an europäischen Vergleichsmaßstäben orientiert, da die Situation in anderen europäischen Ländern auch in die Bewertung der eigenen Lebensumstände einfließt. Der Einfluss nimmt jedoch mit dem Wohlstand eines Landes ab. In reicheren Ländern wird die Bewertung der Lebensumstände eher von innerstaatlichen Vergleichsmaßstäben beeinflusst, während Einwohner ärmerer Länder sich eher an der Situation in anderen Ländern orientieren. Vergleiche sind somit eher aufwärts- als abwärtsgerichtet. Die beiden Autoren betonen aber den weiterhin bestehenden zentralen Stellenwert nationalstaatlicher Vergleichsmaßstäbe. Für eine stärkere Gewichtung der europäischen Ebene sprechen sich Fahey et al. (2005) aus. Um Deprivation und soziale Ungleichheit angemessen fassen zu können, ist eine explizite europäische Referenz notwendig. Als Beispiel für ihre empirischen Befunde führen sie reiche Einwohner ärmerer Ländern an: „(T)hey feel better off than the lower-income groups in their own countries, but worse off than low or middle income groups in the wealthy countries“ (Fahey et al. 2005: 36). Dementsprechend kann Fahey (2007) einen starken Zusammenhang zwischen relativer Einkommensarmut – gemessen am EU-Median – und der durchschnittlichen subjektiven Beurteilung der finanziellen Situation nachweisen. Hingegen ist das subjektive Wohlbefinden und die nationalstaatliche Einkommensarmut – gemessen am nationalen Median – tendenziell voneinander unabhängig. Im Gegensatz zu Fahey unterstreicht Böhnke (2008) den zentralen Stellenwert, den nationalstaatliche Vergleichsmaßstäbe und -gruppen für die individuelle Zufriedenheit haben. Je besser die sozialstaatliche und politische Situation eines Landes beurteilt wird, desto zufriedener ist die Bevölkerung. Je größer die wahrgenommenen Ungleichheiten sind, desto unzufriedener 261
sind die Menschen. Whelan et al. (2001) betonen ebenfalls die Bedeutung nationaler Bezugspunkte: „(I)t is clear that relative deprivation in comparison with households in one’s own country plays the primary role in generating feelings of economic strain“ (Whelan et al. 2001: 369). Damit stellt sich die Frage, inwieweit Unterschiede in der Beurteilung der eigenen finanziellen Möglichkeiten eher an europäischen oder an nationalen Vergleichsmaßstäben ausgerichtet sind. Dieser Frage wird im Folgenden nachgegangen. Sollte die Beurteilung der eigenen finanziellen Möglichkeiten wesentlich auf zwischenstaatliche Unterschiede zurückzuführen sein, spräche dies für eine – wenn nicht unbedingt europäische, so doch zumindest – länderübergreifende Dimension. Andere Länder wären Bezugspunkte auch für die individuelle Einschätzung der eigenen finanziellen Möglichkeiten. Dies gilt vor allem, wenn sich die materiellen Lebensbedingungen zwischen den Ländern bereits objektiv angenähert haben. Beschränkt sich dagegen die Streuung der geäußerten Zufriedenheit auf das eigene Land, stützt das die Annahme, dass innerstaatliche Verhältnisse zentral für die Bewertung der eigenen ökonomischen Situation sind. Der Referenzrahmen wäre dann der eigene Nationalstaat, die Beurteilung würde anhand der nationalen Einkommensposition erfolgen. Die Datengrundlage für die folgende Analyse ist die aktuelle Querschnittswelle der EU-SILC-User-Database (für das deutsche EU-SILC vgl. Körner et al. 2005). Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2006 und decken die damaligen 25 Mitgliedstaaten der EU (ohne Malta und ohne die erst 2007 beigetretenen Länder Bulgarien und Rumänien) ab. Die folgenden Auswertungen beruhen auf Erhebungen von 193.354 Haushalten, die im Jahr 2006 auf die Frage nach ihrem Einkommen geantwortet und plausible Angaben gemacht haben. Neben dem Einkommen wird in EU-SILC auch die subjektive Wahrnehmung der eigenen finanziellen Situation erfragt. Der Haushaltsvorstand – also die Person im Haushalt, die den besten Überblick über die ökonomischen Verhältnisse hat – schätzt ab, wie gut der Haushalt mit dem erzielten Haushaltseinkommen zurechtkommt. Dies geschieht mithilfe einer sechsstufigen Skala, welche von 1 „mit großen Schwierigkeiten“ über 3 „mit einigen Schwierigkeiten“ und 4 „eher leicht“ zu 6 „sehr leicht“ reicht (vgl. Eurostat 2008b: 97). Leider werden in EU-SILC keine weiteren Variablen wie etwa die allgemeine Lebenszufriedenheit berücksichtigt. Im Folgenden wird daher ausschließlich die subjektive Bewertung der ökonomischen Situation 262
herangezogen, um herauszuarbeiten, ob sich die Menschen hinsichtlich ihrer Einkommensposition eher mit Menschen in anderen europäischen Ländern oder mit ihren Landsleuten vergleichen (für ein ähnliches Vorgehen vgl. etwa Fahey et al. 2005; Whelan et al. 2001; Böhnke 2008). In Abbildung 4 werden zunächst die beiden zentralen Variablen Einkommen und subjektive Bewertung der finanziellen Situation beschrieben. Zur Vereinfachung wird Letztere als metrisch skaliert unterstellt. Durchschnittlich verfügen die privaten Haushalte in der EU-24 über ein jährliches Haushaltsnettoeinkommen in Höhe von 15.685 PPS. Deutliche Spitzenreiter sind die luxemburgischen Haushalte, die mit über 30.000 PPS am wohlhabendsten sind, gefolgt von den Briten, Iren und Österreichern. Am geringsten sind die durchschnittlichen Haushaltseinkommen in den baltischen Ländern. Litauische Haushalte erreichen mit 5.631 PPS etwa ein Drittel des EU-24-Durchschnitts. Neben der Höhe ist auch die Streuung der Einkommen wichtig, da ein Durchschnittswert nichts darüber aussagt, wie gleich oder ungleich das Einkommen verteilt ist. In der Abbildung 4 wird die mittlere logarithmische Abweichung (MLD) herangezogen – ein Maß, das stärker auf Veränderungen am unteren Ende der Einkommensverteilung reagiert („bottom sensitive“). Bei einem Wert von Null sind die Einkommen gleich verteilt. Je größer der MLD ist, umso ungleicher sind die Einkommen verteilt, bei ln y wäre die Ungleichheit maximal. Mit einem MLD-Wert von 0,110 sind die Einkommen in Dänemark am egalitärsten verteilt, gefolgt von Tschechien, Slowenien und den Niederlanden. Dagegen ist die Ungleichheit in Lettland am größten, gefolgt von Portugal, Litauen und Estland. Dieses Bild entspricht in etwa der Rangfolge aus Abbildung 2. In Dänemark ist nicht nur die Einkommensstruktur am egalitärsten, sondern die Menschen kommen dort im Mittel auch am besten mit ihrem Einkommen aus (vgl. Abbildung 4, Spalte (3)), dicht gefolgt von den Luxemburgern, die einen Durchschnitt von 4,41 aufweisen, und damit beinahe einen Punkt über dem europäischen Wert liegen. Mit leichtem Abstand schließen sich die Niederlande und Schweden an. Für die EU-24 ergibt sich ein arithmetisches Mittel von 3,45, was in etwa der Mitte der Skala entspricht. Am schlechtesten beurteilen die Letten, Griechen und Polen ihre finanzielle Situation. Die Einschätzung fällt hier beinahe einen Punkt niedriger als im EU-24-Durchschnitt aus. Auffällig bei den Ländern mit der höchsten Zufriedenheit (Niederlande, Dänemark und Schweden) ist, dass dort die Urteile 263
stark streuen. Das heißt, dort gibt es zwar sehr viele, die mit ihrem Einkommen sehr gut zurechtkommen. Der Anteil derjenigen, die große Schwierigkeiten haben, ist aber ebenfalls sehr hoch (vgl. Abbildung 4, Spalte (4)). Abbildung 4:
Deskriptive Maße für das Einkommen und die Bewertung der finanziellen Situation in 24 EU-Mitgliedstaaten (ohne Malta, 2006)
Land
Durchschnittseinkommen (PPS) (1)
Streuung des Einkommens (MLD-Koeffizient) (2)
Österreich Belgien Zypern Tschechien Deutschland Dänemark Estland Spanien Finnland Frankreich Griechenland Ungarn Irland Italien Litauen Luxemburg Lettland Niederlande Polen Portugal Schweden Slowenien Slowakei Vereinigtes Königreich EU-24 (ohne Malta)
19122 17417 18796 9431 16691 17019 6918 14547 16973 17014 13954 7486 19430 16428 5631 31932 5693 18627 6957 11383 15848 13365 7042 20014 15685
0,133 0,135 0,169 0,116 0,143 0,110 0,207 0,186 0,130 0,133 0,192 0,195 0,191 0,190 0,227 0,138 0,277 0,124 0,193 0,263 0,134 0,122 0,144 0,196
Durchschnittliche Bewertung der finanziellen Situation (3) 3,87 3,72 2,69 3,05 4,00 4,46 3,37 3,15 4,08 3,42 2,53 2,71 3,28 2,84 2,84 4,41 2,50 4,15 2,60 2,79 4,13 3,11 2,73 3,78
Streuung der Bewertung der finanziellen Situation (4) 1,09 1,29 1,22 1,10 1,05 1,26 1,00 1,20 1,20 1,02 1,12 1,04 1,22 1,10 0,95 1,07 1,04 1,35 1,18 1,14 1,26 1,09 0,99 1,21
0,206
3,45
1,25
Quelle: EU-SILC UDB 2006; eigene Berechnungen. Hinweise: PPS: Purchase Power Standards; Bewertung der finanziellen Situation von 1 „mit großen Schwierigkeiten“ bis 6 „sehr leicht“.
264
Die Verteilungen der beiden Variablen verweisen auf eine erhebliche Heterogenität in Europa. Zum einen ist die Höhe des Einkommens sehr unterschiedlich. So erzielen die Menschen im „ärmsten“ Land durchschnittlich nur etwas mehr als ein Sechstel des jährlichen Einkommens der Menschen des „reichsten“ Landes. Ähnlich verhält es sich mit der Einkommensungleichheit, denn im egalitärsten Land ist die Ungleichheit etwa halb so groß wie die Ungleichheit im ungleichsten Land. Die Urteile über die finanziellen Möglichkeiten der Haushalte unterscheiden sich im Mittel ebenfalls deutlich, denn der Abstand zwischen den zufriedensten und unzufriedensten Ländern beläuft sich auf zwei Punkte – und das auf einer sechsstufigen Skala. Lassen sich diese Unterschiede nun auf die Verhältnisse in einem Land oder auf die Differenzen zwischen den Ländern zurückführen? Hierzu bietet sich das Zusammenhangsmaß Ș² (Eta-Quadrat) an, welches die Streuung innerhalb und zwischen bestimmten Gruppen angibt. Für das Einkommen ergibt sich ein Wert von Ș² =0,104: 10,4% der Einkommensunterschiede lassen sich auf die Abweichungen zwischen den Ländern zurückführen und knapp 90% auf die Verhältnisse im Land. Bei der Beurteilung der finanziellen Situation steigt der Anteil der zwischenstaatlichen Differenz dagegen auf einen Ș² -Wert von 0,185. Es lassen sich also 18,5% dieser subjektiven Dimension auf die Unterschiede zwischen den Ländern zurückführen. Demnach sind sich die materiellen Lebensbedingungen in Europa ähnlicher, als dies ihre subjektiven Beurteilungen vermuten lassen. Die zentrale Frage, mit wem sich die Haushalte bei der Einschätzung ihrer finanziellen Möglichkeiten vergleichen, kann damit aber bislang noch nicht beantwortet werden. Theoretisch sind hier zwei Möglichkeiten denkbar: Zum einen können die von Land zu Land unterschiedlichen Bewertungen der eigenen finanziellen Möglichkeiten daher rühren, dass es in den Ländern unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe von Ungleichheit gibt. Dies wäre dann der Fall, wenn in einem Land Ungleichheiten viel stärker als „Gerechtigkeitsproblem“ als in einem anderen Land wahrgenommen werden. Eine von Land zu Land unterschiedliche Sensibilität für Einkommensungleichheiten könnte somit durchaus die nationalen Unterschiede bei der Bewertung der eigenen finanziellen Möglichkeiten erklären. Andererseits könnte die eigene Position in der Einkommensverteilung des eigenen Landes nur eine untergeordnete Rolle spielen, da sich die Befragten an den Verhältnissen in anderen Ländern orientieren. Entscheidend für die Bewertung der eigenen Situation wäre die Einkommensposition im internationalen 265
Vergleich. Dies könnte ebenfalls die länderübergreifenden Unterschiede bei der Bewertung des eigenen finanziellen Spielraums erklären. Die Frage nach dem zugrunde gelegten Bewertungsmaßstab kann beantwortet werden, wenn sowohl nationalstaatliche als auch länderübergreifende Referenzpunkte in ein Modell integriert werden. Hierzu werden im Folgenden die Ergebnisse einer schrittweisen Regressionsanalyse präsentiert, welche die beiden Ebenen explizit berücksichtigt. Damit kann die eigenständige Erklärungskraft der beiden einbezogenen Ebenen getrennt angegeben werden. Bei dieser Analyse ist natürlich zu berücksichtigen, dass die drei verwendeten Faktoren nur einen kleinen Teil der Lebenswirklichkeit abbilden. Wie gut oder wie schlecht ein Haushalt mit seinen finanziellen Mitteln auskommt, hängt sicherlich noch von zahlreichen weiteren soziokulturellen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Faktoren ab, die auf unterschiedlichsten Ebenen (nicht nur national und europäisch, sondern auch individuell, regional etc.) verortet sind. Dennoch können von den folgenden Analysen erste Hinweise auf das relative Gewicht nationalstaatlicher und internationaler Bezugspunkte für die subjektive Beurteilung der eigenen Einkommensposition erwartet werden. Modell 1 in Abbildung 5 zeigt den Einfluss, den das Haushaltseinkommen auf die Bewertung der finanziellen Situation hat. Wie üblich wird hierfür das Einkommen logarithmiert, um den konkaven Verlauf zwischen dem subjektiven Indikator und dem Einkommen angemessener darzustellen: Je höher das Einkommen ist, desto geringer ist der zusätzliche Nutzen weiterer Verdienste. Der Zusammenhang ist positiv: Je höher das Einkommen ist, umso leichter fällt es den Haushalten damit zurechtzukommen. Dieses Ergebnis ist weniger trivial, als es sich anhört, da durchaus erwartet werden könnte, dass Personen mit einem bestimmten Einkommen in reicheren Ländern weniger gut zurechtkommen als in ärmeren Ländern (etwa da sich Wohlhabende in ärmeren Ländern reicher fühlen als in reicheren Ländern oder da sich Ärmere in reicheren Ländern ärmer fühlen als in ärmeren Ländern). Aber dies ist nicht der Fall: Da die Einkommensposition im europäischen Maßstab zugrunde gelegt wurde, verweist das Ergebnis auf die Relevanz eines europaweiten Vergleichsmaßstabs (genauer: EU-24). Das zweite Modell beschreibt die Beziehung zwischen den nationalen Verhältnissen und der Bewertung der eigenen Situation. Als Referenzrahmen dient die nationale Einkommensverteilung: Sowohl deren Niveau – gemessen am logarithmierten Durchschnittseinkommen – als auch deren 266
Streuung – gemessen an der mittleren logarithmischen Abweichung (MLD) – haben einen signifikanten Einfluss auf die Bewertung der eigenen finanziellen Situation. Bemerkenswert ist der positive Effekt des nationalen Durchschnittseinkommens. Wenn die eigenen Landsleute die relevante Referenzgruppe bilden, wäre ein negativer Zusammenhang zu erwarten, da bei gleichem Einkommen die Zufriedenheit zunehmen müsste, wenn die Referenzgruppe weniger verdient (vgl. die oben referierten Ergebnisse von Clark/Oswald 1996; Ferrer-i-Carbonell 2005). Senik (2008) zufolge kann dies auch als Informationseffekt interpretiert werden, da die Haushalte das Referenzeinkommen als Punkt interpretieren, den sie selbst erreichen möchten. Anders ausgedrückt: Die Anreizfunktion des Referenzeinkommens dominiert dessen Neidfunktion. Wie erwartet fällt der Einfluss der Ungleichheit negativ aus. Je geringer die Ungleichheit ist, umso eher wird die eigene finanzielle Situation als hinreichend angesehen. Steigt dagegen die Ungleichheit, fällt es den Haushalten subjektiv schwerer, mit dem Einkommen über die Runden zu kommen. Abbildung 5:
OLS-Regression auf die Bewertung der finanziellen Situation
Einkommen (logarithmiert) Nationales Durchschnittseinkommen (arithmetisches Mittel, logarithmiert) Streuung des Einkommens im nationalen Maßstab (MLD*100) Konstante Erklärte Varianz (R²)
Modell 1 0,809 -
Modell 2 0,893
Modell 3 0,714 0,179
-
-0,070
-0,063
-4,204 0,196
-3,911 0,109
-3,986 0,228
Quelle: EU-SILC UDB 2006; eigene Berechnungen. Hinweise: Bewertung der finanziellen Situation von 1 „mit großen Schwierigkeiten“ bis 6 „sehr leicht“; n=193354; alle Koeffizienten signifikant auf 1%-Niveau; keine wesentliche Multikollinearität feststellbar.
In Modell 3 werden nun die drei Faktoren zusammen in die Analyse einbezogen. Die Vorzeichen der Koeffizienten und damit deren Wirkrichtung verändern sich nicht. Mithilfe des dritten Modells kann zusätzlich abgeschätzt werden, welche Erklärungskraft welcher der beiden betrachteten Ebenen zukommt. Zusammen erklären der nationalstaatliche und der länderübergreifende ökonomische Referenzrahmen 22,8% der Streuung der Beurteilung der finanziellen Situation, da das in der letzten Zeile angegebene R² als der Anteil der erklärten Varianz interpretiert werden kann. Durch den 267
Vergleich mit den beiden vorhergehenden Modellen kann das jeweilige Gewicht der beiden Vergleichsmaßstäbe berechnet werden. Der zwischenstaatlichen Ebene (Modell 1) alleine können 11,9% der Varianz zugeschrieben werden (22,8%-10,9%). Dagegen fällt der Anteil der innerstaatlichen Einkommensverhältnisse mit 3,2% deutlich geringer aus (22,8%-19,6%). Auf beide Ebenen gemeinsam entfallen 7,7% (22,8%-(11,9%+3,2%)). Dieser Anteil kann nicht eindeutig dem einen oder den anderen Faktoren zugeschrieben werden. Vielmehr geht in das Urteil sowohl der innerstaatliche Vergleich als auch die Orientierung an anderen Europäern mit ein. Festgehalten werden kann, dass die subjektive Bewertung der eigenen finanziellen Situation wesentlich auch auf länderübergreifende Vergleichsmaßstäbe verweist. Dies spricht für einen europäischen Referenzrahmen. Die Haushalte vergleichen sich offenbar mit anderen europäischen Haushalten und sehen hinsichtlich ihrer Einkommensposition Europa als wichtigen Bezugspunkt. Der gesondert einbezogene nationalstaatliche Bezugsmaßstab hat zwar ein geringeres Gewicht. Zusammen mit dem Beitrag, den die Ebenen gemeinsam einbringen, kommt dem Nationalstaat als Referenzrahmen nach wie vor eine wichtige Bedeutung zu. Die Verhältnisse im eigenen Land sind somit immer noch ein zentraler Orientierungspunkt. Daher ist Fahey (2007: 45) zuzustimmen, der für die Einbeziehung sowohl der nationalstaatlichen als auch der internationalen, insbesondere des europäischen Referenzrahmens plädiert. 5
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Mit der wirtschaftlichen Integration Europas und der wirksamen Bekämpfung nationalstaatlicher Diskriminierungspolitiken verringert sich in Europa der Stellenwert der wichtigsten Institution transnationaler Ungleichheitsbeziehungen, die Abschottung nationaler Wirtschafts- und Gesellschaftsräume. Dies geht zum einen mit der Entwicklung supranationaler Regulationsstrukturen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen – auch im Bereich der Sozial- und Beschäftigungspolitik – einher. Zum anderen führt dies zu einer zunehmend grenzüberschreitenden Verflechtung individueller und kollektiver Lebenswelten. Erwartet werden kann daher, dass die zunehmende Integration der europäischen Nationalstaaten auch zur Europäisierung sozialer Ungleichheiten führt. Tatsächlich konnte gezeigt werden, dass sich 268
die europaweiten Einkommensungleichheiten tendenziell angleichen. Dies wurde als Hinweis auf die wirtschaftliche und politische Vereinheitlichung des europäischen Felds interpretiert: Sowohl der gemeinsame Binnenmarkt und der acquis communautaire, der in der EU relativ einheitliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Umwelt- und Arbeitsschutzvorschriften gewährleistet, als auch die europäische Struktur-, Sozial- und Beschäftigungspolitik könnten einen Beitrag zur Verringerung von Einkommensungleichheiten leisten. Der EU gelingt es somit, auch im Rahmen einer zunehmend integrierten Weltgesellschaft einen Beitrag zu einer Angleichung der nationalen Ungleichheitsmuster zu leisten. Dies kann allerdings nicht als Hinweis auf die Entwicklung eines europäischen Sozialstaats nach dem Muster der nationalen Wohlfahrtsstaaten interpretiert werden. Allerdings führt die Globalisierung und Europäisierung der Wirtschaft nicht automatisch und auf jeden Fall zu einer Zunahme der Einkommensungleichheiten. Dem steht die Rolle der Nationalstaaten bei der innerstaatlichen Konfliktregulierung und der Organisation von Umverteilungspolitiken entgegen. Auf die relative Autonomie der Nationalstaaten bei der Gestaltung und Regulierung nationaler Ungleichheiten verweist die Tatsache, dass die Einkommensungleichheiten in den 1980er und 1990er Jahren in einigen EU-Ländern sogar geringer geworden sind. Für den Zeitraum von 1995 bis 2006 ist sogar in mehr Ländern eine Abnahme als eine Zunahme der Ungleichheiten zu verzeichnen. Trotz aller Kritik am methodologischen Nationalismus der Ungleichheitsforschung kann der Staat somit in den meisten westeuropäischen Ländern immer noch das Ausmaß sozialer Ungleichheiten entscheidend beeinflussen. Nicht nur sozialstaatliche Konfliktregulierungsund Umverteilungspolitiken, sondern auch inklusivere Beschäftigungsordnungen scheinen eine egalitärere Einkommensstruktur zu gewährleisten. Auf jeden Fall zeigt sich im europäischen Vergleich, dass der überwiegende Anteil der innereuropäischen Ungleichheiten auf innerstaatliche Unterschiede zurückzuführen ist. Diese Angleichung trägt paradoxerweise nicht zu einer größeren politischen Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses durch die Bevölkerung bei, da die zu erwartende Zufriedenheit mit der Verbesserung der eigenen Einkommenssituation insbesondere in den ärmeren süd-, mittelund osteuropäischen Ländern (und in Irland) von der Europäisierung der Maßstäbe zur subjektiven Bewertung der eigenen Einkommensposition überlagert wird. Ein Großteil der europäischen Bevölkerung fühlt sich des269
halb ärmer, als dies gemessen an nationalen Vergleichsmaßstäben zu erwarten wäre. Die Europäisierung der Maßstäbe bei der Bewertung von Einkommensungleichheiten führt somit zu einer „Anspruchsinflation“, mit der die größere Zufriedenheit aufgrund der realen Verbesserung der Einkommenssituation anscheinend nicht Schritt halten kann. Soziale Ungleichheiten können somit immer weniger ausschließlich im Rahmen von Nationalstaaten analysiert werden. Keinesfalls tritt jedoch ein neuer, diesmal europäischer Raum an die Stelle der bisherigen nationalen Containerräume. Ungleichheiten werden vielmehr in einem regional-national-europäischen Mehrebenensystem hervorgebracht und reguliert. An die Stelle eines einheitlichen nationalen Raums, bei dem sozio-kulturelle, wirtschaftliche, politische und geographische Grenzen weitgehend deckungsgleich sind, treten neue, sich überlappende, durch grenzüberschreitende Verflechtungen gekennzeichnete soziale Räume. Eine zentrale Herausforderung für die Soziologie sozialer Ungleichheiten ist somit die Untersuchung multipler Raumbezüge: Wie werden knappe und begehrte Güter und Positionen im Spannungsfeld von Regionen, Nationalstaaten, Europa und weltweiten Verflechtungen verteilt? Literatur Alderson, Arthur S. und François Nielsen, 2002: Globalization and the Great U-Turn. Income Inequality Trends in 16 OECD Countries, American Journal of Sociology 107: 1244-1299. Bartolini, Stefano, 2005: Restructuring Europe. Centre Formation, System Building, and Political Structuring between the Nation State and the European Union. Oxford: Oxford University Press. Berger, Johannes, 2004: „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“. Zur Vergangenheit und Gegenwart einer soziologischen Schlüsselfrage, Zeitschrift für Soziologie 33 (5): 354-374. Berger, Peter A. und Anja Weiß (Hg.), 2008: Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft. Böhnke, Petra, 2008: Does Society Matter? Life Satisfaction in the Enlarged Europe, Social Indicators Research 87 (2): 189-210. Bornschier, Volker, 2000: Ist die Europäische Union wirtschaftlich von Vorteil und eine Quelle beschleunigter Konvergenz? Explorative Vergleiche mit 33 Ländern im Zeitraum von 1980 bis 1998. S. 178-204 in: Maurizio Bach (Hg.): Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 40, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
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Horizontale Europäisierung und Europäische Integration1 Sebastian Büttner und Steffen Mau
1
Einleitung
In den vergangenen Jahren ist erheblicher Forschungsaufwand betrieben worden, um die Wurzeln und die Besonderheiten einer europäischen Gesellschaft zu ergründen. Politische Entscheidungsträger und Wissenschaftler verweisen gerne auf die Gemeinsamkeiten zwischen europäischen Ländern, um die Schritte der vertieften wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Integration zu deuten und zu rechtfertigen. Häufig wird davon ausgegangen, dass die Europäer eine gemeinsame Tradition, eine gemeinsame Kultur und damit auch eine gemeinsame Identität eint. Obwohl der europäische Kontinent einst auch die Wiege des modernen Nationalstaats und des rivalisierenden Nationalismus war, wird heute verstärkt betont, dass es eine gemeinsame europäische Zivilisation und „natürliche“ Formen der Verbundenheit zwischen Europäern gäbe, die dem politischen Einigungsprozess vorausgeht. Inwiefern wir angesichts der langen Phase nationalstaatlicher Abschottung in Europa heute bereits von der Herausbildung einer europäischen Gesellschaft sprechen können, ist allerdings eine offene Frage (siehe dazu Müller in diesem Band). Maurizio Bach (2008) etwa deutet den Prozess der Europäischen Integration in erster Linie als Herausbildung eines neuartigen supranationalen Herrschaftsverbands ohne entsprechende soziale Basis – als Herausbildung eines neuen transnationalen Raums politischer Machtausübung ohne Gesellschaft. Andere wiederum sehen im Prozess der Europäischen Integration einen offenen und dynamischen Prozess der horizontalen Europäisierung nationaler Gesellschaften, der zum Abbau nationaler Egoismen und Eigenstän1
Wir danken Djubin Pejouhandeh für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Artikels. Den Teilnehmern der Tagung „Gesellschaftstheorie und Europapolitik“, insbesondere Peter A. Berger, sei für ihre Kommentare und Anregungen gedankt.
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digkeiten und möglicherweise sogar zur Entstehung einer neuen kosmopolitischen Gesellschaft führen kann (Beck/Grande 2004). Wir gehen davon aus, dass sich die Verbundenheit und horizontale Europäisierung der europäischen Nationalstaaten auch und vor allem im gesellschaftlichen Alltagsleben in vielfältigen horizontalen Aktivitäten und sozialen Verflechtungen über staatliche Grenzen hinweg widerspiegeln müsste, bevor man sinnvoller Weise von der Herausbildung einer europäischen oder gar kosmopolitischen Gesellschaft sprechen kann. Wir möchten deshalb in diesem Beitrag ein Bild vom derzeitigen Ausmaß der horizontalen Verflechtung Europas zeichnen, um die Annahmen einer zunehmenden Europäisierung nationaler Gesellschaften – beziehungsweise der Entstehung einer europäischen Gesellschaft auf eine empirisch breitere Grundlage zu stellen. Historiker haben immer wieder darauf hingewiesen, dass intensive Austauschbeziehungen über den ganzen europäischen Kontinent hinweg eine lange Tradition haben (vgl. Kaelble 1987; Seibt 2002; Le Goff 2004). Europa hat nie aus getrennten „Inseln“ bestanden, zwischen denen vielfältige Interaktionen und Austauschbeziehungen nur eine Ausnahme waren. Die europäischen Adelsfamilien etwa waren immer schon eng miteinander verflochten und aufgrund ihres komplexen Heiratsmusters brachten sie ein dichtes Netz transeuropäischer Verwandtschaftsbeziehungen hervor. Als Resultat bildete sich auf der Basis von vielfältig verstrickten Loyalitäts- und Klientelbeziehungen schon vor Jahrhunderten eine transeuropäische Adelsgesellschaft heraus. Auch Wissenschaftler, Künstler und Gelehrte reisten immer schon durch ganz Europa und standen in regem Austausch mit ihren Kollegen und aristokratischen Förderern, ganz zu schweigen von fahrenden Kaufleuten und Seehändlern. Die Hauptstädte multiethnischer Reiche und vor allem auch die Hafenstädte waren multikulturelle Orte, an denen viele Menschen unterschiedlicher Abstammung und religiöser Prägung nebenund miteinander lebten. Lange Zeit existierte auch noch kein großformatiges und vereinheitlichtes System zur Regulierung von Bewegungsfreiheit. Die Kontrolle der Personenmobilität oblag allein der lokalen Obrigkeit, den Stadtherren und Grundbesitzern. Mit der Herausbildung moderner Nationalstaaten entstand ein historisch völlig neuartiges soziales und politisches Gefüge innerhalb Europas. Eines der wichtigsten Charakteristika des modernen Nationalstaats war die Monopolisierung der Herrschaft über ein bestimmtes Territorium, durch welche der Staat die absolute Kontrolle über ein Staatsgebiet und die ansäs275
sige Bevölkerung zu erlangen suchte (Giddens 1990; Rokkan 2000). Maßnahmen wie die Einführung des Passwesens, der Grenzkontrolle, der Regulierung von Mobilität sowie die Ausstattung von Personen mit einem Staatsbürgerstatus trugen maßgeblich zur Regelung und Regulierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens bei (Torpey 2000). Erst die Herausbildung von modernen Nationalstaaten brachte somit deutlich voneinander abgegrenzte Nationalgesellschaften und entsprechende nationale Gemeinschaften innerhalb Europas hervor (Anderson 1983). Das Zeitalter der wechselseitigen Abgrenzung und Abschottung europäischer Nationalgemeinschaften ist inzwischen jedoch längst von Prozessen der internationalen Annäherung und Vereinigung sowie der supranationalen Integration abgelöst worden. Obwohl das Nachkriegseuropa durch einen tiefen Graben zwischen zwei gegenüberstehenden Blöcken geprägt war, wurde gerade während der Zeit des Kalten Kriegs der Grundstein für die Europäische Integration gelegt. Zwar lag im Streben nach wirtschaftlicher Integration der Ausgangspunkt der Annäherung zwischen den europäischen Nationalstaaten, doch daraus ging ein umfassendes Projekt der politischen sowie der sozialen Integration hervor (Therborn 1995). Nach dem Niedergang des Staatssozialismus und der darauf folgenden wirtschaftlichen und politischen Transformation Osteuropas gehört nunmehr ein großer Teil des europäischen Kontinents zum Territorium der Europäischen Union (EU). In zahlreichen Politikfeldern, die vormals allein dem Kompetenzbereich der Nationalstaaten vorbehalten waren, werden heute verbindliche Entscheidungen auf supranationaler Ebene getroffen. Damit ist die EU heute zu einem Herrschaftsverband eigener Prägung geworden und hat ein gewaltiges Ausmaß an regulativer Macht an sich gezogen (vgl. Wallace/Wallace 1998; Green Cowles et al. 2001; Rumford 2002; Featherstone/Radaelli 2003; Bach 2008). Die Soziologie der Europäisierung interessiert sich vor dem Hintergrund dieses politisch, rechtlich und wirtschaftlich relativ weit vorangeschrittenen Integrationsprozesses vor allem für die gesellschaftlichen Veränderungen und die besondere Dynamik grenzüberschreitender Aktivitäten und Beziehungen im gesamteuropäischen Raum (vgl. Lepsius 1991; Münch 1993; Bach 2000; Immerfall 2000; Vobruba 2005, 2008; Beck/Grande 2004; Delanty/Rumford 2005; Delhey 2005; Müller 2007; Fligstein 2008; Mau/ Verwiebe 2009). Betrachtet man etwa das Beispiel der Öffnung europäischer Binnengrenzen und die damit verbundene Erleichterung grenzüberschrei276
tender Austauschprozesse, wird ersichtlich, dass sich Europäisierung ausgehend von zahllosen Aktivitäten einzelner Bürger im Alltagsleben auch auf der gesellschaftlichen Mikroebene vollzieht. Durch die Intensivierung des Austauschs über Grenzen hinweg werden die nationalen Gesellschaften grundlegend verändert und es bilden sich neue Formen der Verbundenheit auf europäischer Ebene heraus (vgl. Münch 2001). Die Zunahme transnationaler sozialer Vernetzung und Verflechtung wird in vielen Theorien zur Europäischen Integration und zur Europäisierung nationaler Gesellschaften zumeist selbstverständlich vorausgesetzt. Jedoch stehen Daten zur horizontalen Verflechtung Europas derzeit noch kaum oder nur in begrenztem Umfang zur Verfügung. Zudem ist ein Großteil der bisherigen europabezogenen Forschungsarbeiten vergleichender Art und es herrscht nach wie vor Mangel an Informationen über das tatsächliche Ausmaß horizontaler Vernetzung über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg. Dies ist der Ausgangspunkt unserer folgenden Analyse. Wir werden zunächst unsere These von der besonderen sozialen Dynamik des europäischen Integrationsprozesses genauer ausführen und einige denkbare Auswirkungen der horizontalen Europäisierung auf die subjektive Ebene skizzieren. Daran anschließend werden wir ein Bild der derzeitigen Ausdehnung der horizontalen sozialen Verflechtung Europas in einigen ausgewählten Bereichen des Alltagslebens zeichnen. Dies sind im Einzelnen: der derzeitige Entwicklungsstand und der weitere Ausbau transnationaler Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur, innereuropäische Migration, Mobilität und Tourismus, die Expansion von Jugend- und Studentenaustausch und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von europäischen Städten, Gemeinden und Regionen. Auf dieser Grundlage kehren wir abschließend zur eingangs formulierten Frage nach der Herausbildung einer europäischen Gesellschaft zurück und plädieren für ein differenziertes Verständnis des sozialen Integrationsprozesses Europas, das auch den Blick für dessen Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten nicht verliert. 2
Die horizontale Verflechtung Europas und subjektive Europäisierung
Seit Durkheims (1992 [1893]) Klassiker Über soziale Arbeitsteilung gehört die Frage nach dem Zusammenhang von wachsender sozialer Interdependenz 277
und sozialem Zusammenhalt zu den Kernthemen der soziologischen Gesellschaftsanalyse. Im Gegensatz zur liberalen Wirtschaftslehre nahm Durkheim an, dass durch Intensivierung von Austauschbeziehungen und sozialer Vernetzung auch engere emotionale Bindungen zwischen einander fremden Tauschpartnern entstehen können. Auf der Basis von Durkheims Ansatz liegt es nahe anzunehmen, dass die zunehmende Verflechtung der EU-Staaten auch die Entwicklung solidarischer Bindungen über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus fördert (vgl. Münch/Büttner 2006). Obwohl Durkheim selbst vor über 100 Jahren in einer Zeit des übersteigerten Nationalismus, der gegenseitigen Abschottung und inneren Homogenisierung europäischer Nationalstaaten lebte, stellte er – nichts ahnend von den folgenden verheerenden Verwerfungen im 20. Jahrhundert – jedoch bereits zu dieser Zeit Anzeichen für die Herausbildung einer europäischen Gesellschaft fest: „Wir haben schon gesehen, daß sich über die europäischen Völker hinweg in spontaner Bewegung eine europäische Gesellschaft zu bilden beginnt, die schon jetzt ein Gefühl ihrer selbst hat und sich zu organisieren beginnt. Wenn die Bildung einer einzigen menschlichen Gesellschaft auch für immer unmöglich ist (was zu beweisen wäre), so bringt uns doch die Bildung von immer größeren Gesellschaften diesem Ziel immer näher“ (Durkheim 1992 [1893]: 476). Auf die besondere soziale Qualität grenzüberschreitender Austauschbeziehungen hob auch Karl W. Deutsch mit seinem TransaktionalismusAnsatz ab (Deutsch et al. 1957; Deutsch 1968). Er betonte, dass politische Integration zwangsläufig auch intensivere Kommunikations- und Austauschbeziehungen zwischen den Bevölkerungen unterschiedlicher Nationen nach sich ziehe. Deutschs theoretischen Annahmen zufolge blieben diese intensiveren Austauschbeziehungen nicht nur auf den Bereich des Ökonomischen beschränkt, sondern weiten sich insbesondere auch auf die Ebene persönlicher Kontakte und alltäglicher Interaktionen aus (siehe auch Delhey 2004). Er beschrieb die Dynamik dieses Prozesses auf der Basis eines kybernetischen Modells als einen sich selbst verstärkenden Prozess, innerhalb dessen ökonomische und politische Transaktionen weiterführende soziale Transaktionen zwischen Individuen befördern. Durch die Intensivierung des grenzüberschreitenden Austauschs würden sich mehr und mehr Leute seiner Vorteile bewusst. Dadurch würden letztlich auch soziale Distanzen überwunden und bestehende Vorurteile abgeschwächt. Ohne dieser linearen Prognose im Einzelnen zu folgen, kann man mit Karl W. Deutsch 278
für die derzeitige soziale Dynamik der Europäischen Integration jedoch durchaus die Hypothese aufstellen, dass politische Integrationsleistungen, wie etwa die Bildung eines gemeinsamen Markts, das Ermöglichen grenzüberschreitender Mobilität oder auch der Ausbau transnationaler Verkehrsnetze, eine Grundlage für stärkere individuelle Transaktionen über nationalstaatliche Grenzen hinweg bilden. Diese vielfältigen politischen Integrationsanstrengungen treiben die horizontale Verflechtung Europas „von unten“ weiter voran (Fligstein 2008). Allerdings muss die Zunahme grenzüberschreitender Interaktionen und Austauschbeziehungen innerhalb Europas nicht zwingend zur Herausbildung von immer stärkeren emotionalen Bindungen zwischen Europäern, das heißt zur „mentalen Europäisierung“ der Bevölkerung oder gar zur Herausbildung einer übergreifenden europäischen Solidarität führen (vgl. Mau 2008). Handeln über nationale Grenzen hinweg mag Gefühle der Reziprozität und Gemeinsamkeit befördern, dennoch sind viele Situationen denkbar, in denen ein derartiger „Spill-over“-Effekt ausbleibt. Selbst Durkheim, der häufig als der klassische Vertreter einer funktionalistischen Logik sozialen Wandels angesehen wird, erinnert mit seinen Analysen zur „anomischen Arbeitsteilung“ (Durkheim 1992 [1893]: 421ff.) auch an die Möglichkeit des Scheiterns und an die besondere Fragilität grenzüberschreitender solidarischer Bindungen.2 Durkheim zufolge besteht immer auch die Möglichkeit, dass grenzüberschreitende Integration infolge eines wiederaufkeimenden nationalen Protektionismus beziehungsweise neuer Formen nationalgesellschaftlicher Schließung zusammenbricht (Durkheim 1961: 195ff.). Wachsende grenzüberschreitende Austausch- und Interaktionsbeziehungen sind daher keine Garanten für das Entstehen eines Zusammengehörigkeitsgefühls oder gar einer neuen Solidargemeinschaft. Stabilere Formen der Vergemeinschaftung können nur in lebendigen und „gelebten“ übergreifenden Institutionen entstehen, sie müssen permanent praktiziert und reproduziert werden; und ob dies im heutigen Europa der Fall ist, ist eine empirisch offene Frage und wird ausgiebig diskutiert (vgl. Habermas 2008). Man kann jedoch die horizontale soziale Verflechtung Europas als eigenständiges Element der Europäisierung begreifen, ohne unmittelbar nach den politischen Folgen für die Unterstützung und Legitimität der Europäisierung zu fragen. Dann geht es aber weniger um Fragen der Funktionalität 2
Dazu auch ausführlicher Münch/Büttner 2006.
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transnationaler Vernetzung für die politische oder soziale Stabilität der Europäischen Union, sondern um eine Forschungsperspektive, die auf jene Formen der transnationalen Vernetzung abstellt, die den Europäisierungsprozess – quasi durch die Hintertür – eigenständig mittragen und beeinflussen. Favell (2005: 1115) hat diese spezifische Perspektive in folgender Weise prägnant und pointiert formuliert: „Political scientists think of voting and „revealed preferences“, of course, but „being European“ nowadays is as much likely to be about this, as it is about shopping across borders, buying property abroad, handling a common currency, looking for work in a foreign city, taking holidays in new countries, buying cheap airline tickets, planning international rail travel, joining cross-national associations – and a thousand other actions facilitated by the European free movement accords. These ways of being European (that can all be counted, or interrogated for meaning), are notably also enjoyed by many who overtly profess themselves to be Eurosceptic or to have no European identity at all. Thought of this way, we may indeed discover ‘social identities’ that are genuinely transnational, if they turn out to be rooted behaviourally in new forms of cross-national action and interaction.“
Wir haben eingangs schon erörtert, dass mit den Prozessen der horizontalen Verflechtung viele Hoffnungen im Hinblick auf die europäische Identitätsund Gemeinschaftsbildung verbunden sind. Es ist allerdings höchst fraglich, ob die horizontale Europäisierung nationaler Gesellschaften unmittelbar zur Herausbildung einer europäischen Gemeinschaft mit einem festen Identitätskern führen wird. Überhaupt sollten alle Versuche der wissenschaftlichen Konstruktion eines neuen europäischen Kollektivbewusstseins in Analogie zur Vergemeinschaftung von Nationalgesellschaften mit Skepsis betrachtet werden, weil sich die Integration Europas nicht analog zur Herausbildung von Nationalgesellschaften vollzieht (vgl. Vobruba 2001: 123). Dennoch lassen sich unserer Ansicht nach aufgrund der Erweiterung des sozialen Aktivitätsradius der Europäer und der Steigerung und Verdichtung des transnationalen paneuropäischen Austauschs auch Veränderungen auf der individuellen Ebene erwarten. Diese fassen wir nicht in Begriffen wie „Identität“ oder „Gemeinschaftsgefühl“, weil diese Konzepte äußerst voraussetzungsvoll sind und nicht einfach aus der horizontalen Verflechtung Europas abgeleitet werden können. Wir gehen aber davon aus, dass sich die verstärkte soziale Transnationalisierung Europas auf der subjektiven Ebene insbe-
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sondere in den folgenden drei Dimensionen in konsekutiver Logik niederschlägt: 1.
2.
Erweiterung des individuellen Erfahrungs- und Handlungsraums: Mit der Transnationalisierung alltäglicher Aktivitäten geht eine Veränderung gewohnter räumlicher Orientierungen einher. Der regionale und nationalstaatliche Rahmen wird zunehmend als einengend und Handeln im transnationalen Raum wird vermehrt als reale Handlungsoption begriffen. Es ist davon auszugehen, dass sich mit der Zunahme der grenzüberschreitenden Aktivitäten auch die räumliche Vorstellungskraft der Europäer, die Imaginationen des eigenen und bekannten Territoriums beziehungsweise die alltäglichen „mental maps“ (Gould/White 1974) grundlegend verändern. Mit jeder Grenzüberschreitung, mit jeder Urlaubsreise ins europäische Ausland wird die Vorstellung von einem größeren Handlungs- und Erfahrungszusammenhang konkreter. Fremdes, unbekanntes Gebiet wird als bekanntes oder gar gewohntes Territorium wahrgenommen. Die Vorstellung des heimischen nationalen Containerraums wird erweitert und durch neue räumliche Bezüge jenseits der nationalstaatlichen Grenzen ergänzt. Soweit diese Ausweitung des Erfahrungsraums auf den territorialen Zielhorizont Europa bezogen ist, kann man darin eine Form der subjektiven Europäisierung sehen. Zunahme von interkultureller Erfahrung und Fremdheitsfähigkeit: Es ist weiterhin davon auszugehen, dass Erlebnisse im Ausland und mit Personen anderer Nationalität nicht nur die Vorstellungen vom eigenen Handlungsraum, sondern auch den kulturellen Erfahrungs- und Erwartungshorizont von Menschen grundlegend verändern. Der Umgang mit anderen Kulturen und Nationen verändert sich, Menschen lernen vermehrt Differenz zu ertragen und zu überbrücken, sie werden insgesamt „fremdheitsfähiger“. Ungeachtet aller Konflikte, Enttäuschungen und Ängste, die auch mit dem europäischen Integrationsprozess einhergehen, kann die stärkere Eingebundenheit in paneuropäische Aktivitäten und Beziehungen eine Triebfeder für universelle und kosmopolitische Einstellungen sein. Schon die klassische „Kontakttheorie“ (vgl. Allport 1954; Pettigrew 1998) impliziert, dass verstärkte Kontakte zwischen verschiedenen Gruppen durchaus helfen, Vorurteile abzubauen und gegenseitiges Verständnis zu fördern. Mit repräsentativen Daten aus einer Umfrage in Deutschland lässt sich zeigen, dass Personen, die stär281
3.
282
ker in grenzüberschreitenden Austausch involviert sind, in der Tat eine aufgeschlossenere Haltung gegenüber Fremden einnehmen (vgl. Mau et al. 2008). Doch auch wenn die zunehmende Einbindung in transnationale Verflechtung im Einzelfall keine offeneren Einstellungen fördert, wird dadurch zumindest eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft angeregt. Unhinterfragte Wertemuster und eingeschliffene kulturelle Alltagspraktiken werden häufig erst in der Begegnung mit Fremden bewusst. Entstehung eines europäischen Interdependenzbewusstseins: Mit der fortschreitenden Integration, der Vereinheitlichung von Zahlungsmitteln, der ungehinderten grenzüberschreitenden Verbreitung von Konsum- und Kulturgütern, der medialen Repräsentation anderer Länder und durch die Expansion gemeinsamer europäischer Regeln und Standards in einem einheitlichen Regelwerk kommt es zur Herausbildung eines paneuropäischen Interdependenzbewusstseins. Unterschiedliche Räume, Kontexte und Ebenen werden nicht mehr unverbunden und voneinander isoliert, sondern als miteinander verflochten betrachtet. Zudem werden Problemlagen in größeren Zusammenhängen und Wechselwirkungen wahrgenommen. Dieser Effekt ist ebenso (und vor allem) dann zu erwarten, wenn „Europa“ die Lebenswelten der Menschen durchdringt und erfasst. Wir gehen davon aus, dass die Zunahme an transnationaler Erfahrung, die Ausweitung des individuellen Aktionsradius und das Mehr an transnationaler Interaktion das Verständnis für Problemlagen und Lebensumstände fernab von gewohnten lokalen Handlungszusammenhängen fördern. Durch eigene Erlebnisse und Erfahrungen im Alltag werden sich die Menschen immer mehr über Lebenslagen in anderen Ländern und Regionen bewusst. Dies prägt sich umso mehr aus und gewinnt an sozialer Tiefe, je mehr Europa „aus erster Hand“ erlebt wird und je mehr sich die alltäglichen Lebenszusammenhänge europäisieren. Dieses Zusammenhangsgefühl mag diffuser und weniger greifbar sein als die Vorstellungen von Zusammengehörigkeit und Verbundenheit im nationalstaatlichen Rahmen (vgl. Anderson 1983), aber es führt dennoch dazu, dass Menschen lernen, die Gesellschaft und Politik Europas mehr in ihrer Verflechtung und Abhängigkeit zu begreifen.
Auf Basis dieser Annahmen wollen wir im Folgenden ein Bild der horizontalen Vernetzung beziehungsweise der Häufigkeit und Intensität transnationaler Erfahrungen und Mobilität der Bürger Europas vermitteln. Unser Vorhaben ist in erster Linie deskriptiver Natur. Wir verzichten auf weitergehende theoretische Erörterungen des Zusammenhangs von transnationaler Verflechtung und subjektiver Europäisierung und konzentrieren uns vielmehr auf die empirische Darstellung der horizontalen Verflechtung Europas. Es soll unter anderem gezeigt werden, dass sich die horizontale Verflechtung Europas trotz der deutlichen Entwicklungsdynamik der vergangenen Jahrzehnte sowohl in sozialräumlicher als auch in sozialstruktureller Hinsicht ganz unterschiedlich auswirkt. Dies ist ein Aspekt, der in vielen theoretischen Erörterungen zur sozialen Dynamik europäischer Integration zu kurz kommt, welcher aber eine erhebliche politische Brisanz und Sprengkraft besitzt, wenn man sich die jüngeren europaskeptischen Äußerungen einiger Parteien und Bevölkerungsgruppen vergegenwärtigt (Fligstein 2008). Da bisher noch nicht viele Daten zur horizontalen Vernetzung und Verflechtung Europas zur Verfügung stehen und die Studien mit einer dezidiert horizontalen Perspektive derzeit noch in den Kinderschuhen stecken, stammen viele der nachfolgend präsentierten Daten und Fakten von der Statistikbehörde der EU (Eurostat), von EU-Institutionen sowie weiteren supraund internationalen Organisationen.3 Wir haben uns bemüht, verschiedenste Daten zusammenzutragen, um ein möglichst ausgewogenes Bild vom derzeitigen Ausmaß der sozialen Transnationalisierung Europas zu zeichnen. Doch obwohl wir nur einen kleinen und recht vorläufigen Ausschnitt dieser horizontalen Verflechtung darstellen können, lässt sich die Ausweitung grenzüberschreitender Interaktionen und Verflechtungen in Europa anhand ausgewählter Beispiele und Indikatoren in bis vor kurzem noch unbekannten und vor allem unbeachteten Ausmaß durchaus nachzeichnen. Im folgenden Abschnitt beginnen wir zunächst mit einem Blick auf die sich herausbildende transnationale Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur innerhalb Europas, deren Entwicklung zweifelsohne vor allem topdown, das heißt durch gezielte politische Entscheidungen, vorangetrieben worden ist. Wir betrachten den Ausbau von Transport- und Kommunikationsnetzen jedoch sowohl als einen wichtigen Indikator für die alltägliche Transnationalisierung als auch als eine entscheidende Triebkraft der hori3
Als ein Beispiel für die Erfassung von Primärdaten zur sozialen Transnationalisierung der deutschen Gesellschaft siehe Mau 2007.
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zontalen Europäisierung. Denn gäbe es keine Nachfrage für transnationale Bewegung und Austausch, bräuchte es auch keinen Ausbau der hierfür erforderlichen Infrastruktur und umgekehrt. Weiterhin gehen wir zur Darstellung verschiedener Formen transnationaler Aktivitäten in Europa über – dies sind im Einzelnen: innereuropäische Migration, Tourismus, Mobilität und horizontale Vernetzung von Studenten und Jugendlichen, Städtepartnerschaften und einige Formen grenzüberschreitender Kooperation auf der regionalen Ebene. Natürlich müssten auch alltägliche Geschäftsbeziehungen und wirtschaftliche Austauschprozesse und weitere unzählige politisch initiierte grenzüberschreitende Dialoge und Kooperationen in die Darstellung explizit mit einbezogen werden. Diese Aspekte werden hier jedoch ganz bewusst vernachlässigt, da unser Hauptaugenmerk vor allem auf Bereichen der sozialen Interaktion und Vernetzung im Alltagsleben liegt, um ganz im Sinne Durkheims (1992 [1893]) all jene Aspekte des Austauschs hervorzuheben, die nicht in erster Linie ökonomisch, politisch oder rechtlich motiviert sind. 3
Die Infrastruktur der sozialen Transnationalisierung: Grenzüberschreitende Transport- und Kommunikationsnetze
Wenn man über die Faktoren zur Begünstigung grenzüberschreitender horizontaler Verflechtung nachdenkt, dann stehen die großen politischen und rechtlichen Veränderungen im Vordergrund, die unternommen wurden, um grenzüberschreitenden Austausch und Mobilität zwischen den EU-Mitgliedsländern zu fördern. Dies sind vor allem die Öffnung der Grenzen für den Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehr, die Einführung des Euro, die Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen den Schengen-Staaten sowie die Einführung der rechtlichen Kategorie des EU-Bürgers (Mau 2006). Doch neben diesen größeren politischen und rechtlichen Schritten der Europäischen Integration haben auch die Ausweitung des transeuropäischen Transportnetzes und die Öffnung der Telekommunikationsmärkte die Möglichkeiten für grenzüberschreitende Aktivitäten innerhalb Europas erheblich ausgeweitet. Die Entwicklung und grenzüberschreitende Expansion der Telekommunikations- und Verkehrsinfrastruktur ist ein zentraler Bestandteil der zunehmenden Verdichtung von Raum und Zeit innerhalb Europas – mit erheblichen Auswirkungen auf die subjektiven Erfahrungs- und Hand284
lungsdimensionen der europäischen Bevölkerung (vgl. Kaschuba 2004).4 In den letzten 20 bis 30 Jahren wurden etliche grenzüberschreitende Autobahnen, Zuglinien und Schifffahrtswege errichtet, um die Mobilität zwischen Nachbarländern zu erleichtern (vgl. Espon 2004, 2006b).5 Die Bahnunternehmen der einzelnen Nachbarländer kooperieren in zunehmendem Ausmaß miteinander und schaffen immer mehr und immer schnellere Verbindungen zwischen den urbanen Zentren Europas. Nachbarländer und -regionen intensivieren ihre Zusammenarbeit, um die Zahl der Grenzüberschreitungen zu erhöhen und regelmäßigen grenzüberschreitenden Verkehr zu vereinfachen.6 Eine wichtige Rolle spielt nicht zuletzt die von der EU-Kommission vorangetriebene Liberalisierung des Luftverkehrs (Europäische Kommission 2004). Eine direkte Folge dieser Reform ist ein enormer Zuwachs an europäischen Luftfahrtunternehmen und transeuropäischen Flugverbindungen. Derzeit gibt es innerhalb Europas mehr als 130 Fluggesellschaften, die ein Netzwerk von über 450 Flughäfen miteinander bilden.7 Darüber hinaus hat der Aufstieg neuer so genannter Billig-Airlines die Reisemöglichkeiten und Reiseformen innerhalb Europas erheblich gesteigert. Durch den Ausbau vieler neuer Fluglinien und Flugverbindungen hat sich der europäische Luftraum innerhalb kürzester Zeit enorm verdichtet. Die neuen Fluglinien haben oftmals eigene Flughäfen abseits der urbanen Ballungszentren eröffnet und auf diese Weise bisweilen sogar sehr entlegene und bisher relativ unver4
5
6
7
Zur allgemeinen Auswirkung ansteigender Mobilität auf die Veränderung der Wahrnehmung, Aneignung und Restrukturierung von Raum und Zeit siehe auch Larsen et al. 2006; Urry 2007. Die EU-Kommission visiert eine Verdopplung des grenzüberschreitenden Verkehrs zwischen EU-Mitgliedstaaten bis 2020 an und fördert daher den Ausbau transeuropäischer Transportnetze (vgl. Europäische Kommission 2001, 2005). Ein herausragendes Beispiel dieser neuen grenzüberschreitenden Infrastrukturprojekte ist der Eurotunnel, ein Unterwassertunnel von etwa 50km Länge, der Dover (Großbritannien) und Calais (Frankreich) verbindet. Interessanterweise wurde dieses Projekt bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts anvisiert, musste allerdings aufgrund von unzähligen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden beteiligten Regierungen immer wieder aufgeschoben werden. Im Zuge wachsender grenzüberschreitender Kooperationen und fortlaufender Europäischer Integration entschieden sich beide Regierungen dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts schlussendlich dafür, das Projekt zu realisieren. Heute wird der 1994 offiziell eröffnete Eurotunnel von etwa sieben Millionen Menschen pro Jahr genutzt (www.eurotunnel.com, 10.02.07). Am Ende des Jahres 2006 laut Eurocontrol (www.eurocontrol.int, 10.02.2007).
285
bundene Winkel Europas miteinander verknüpft. Die Wachstumsraten bei Billigflügen liegen derzeit bei circa 20% jährlich8, damit haben die so genannten Billig-Airlines bereits einen Gesamtmarktanteil von über 16% erorbert.9 War der Anteil an Billigflügen im Jahr 2000 noch verschwindend gering, befördern die circa 50 derzeit operierenden europäischen Billigfluglinien heute bereits etwa ein Viertel aller Flugpassagiere in Europa. Vor allem der Großraum London war mit über 3.200 Abflügen pro Woche im Sommer 2007 der durch Billigflüge am häufigsten frequentierte Ort in ganz Europa mit entsprechend etwa einem Zehntel aller Abflüge von Billig-Airlines. In Großbritannien standen im Sommer 2007 dementsprechend mit insgesamt 824 Billigflugverbindungen die meisten Billigflüge in Europa zur Verfügung, in Deutschland waren es immerhin 568 Verbindungen. Im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Billig-Airlines ist auch die Zahl der Fluggäste innerhalb der Europäischen Union deutlich gestiegen: allein im Zeitraum von 2003 bis 2004 um 8,8% auf insgesamt mehr als 650 Millionen Flugpassagiere (in der EU-25).10 Etwa ein Viertel (24%) dieser Passagiere befand sich auf Inlandsflügen, weitere 34% auf Flügen mit Zielen außerhalb der EU und 42% flogen innerhalb Europas. In den letzten Jahren hat es auch einen gewaltigen Anstieg der Reisen mit Hin- und Rückflug am selben Tag gegeben. Abbildung 1 zeigt, dass die größten Ballungsräume Europas eng miteinander verbunden sind (vgl. Espon 2006b: 34ff.). Dies gilt vor allem für die Zentren der Europäischen Union, also für Städte wie Paris, Brüssel, Frankfurt und London; in leicht eingeschränktem Maße auch für andere Städte wie Kopenhagen, Amsterdam, Hamburg, Berlin, Köln, München, Zürich, Prag, Wien und Rom.
8 9 10
Diese Information stammt von einer von der Arthur D. Little Consultancy (Schweiz) veröffentlichten Analyse des europäischen Billigflugmarkts (www.adlittle.ch, 10.02.2007). Nach Angaben von Eurocontrol (www.eurocontrol.int, 10.02.2007). Nach einer Studie von Eurostat (siehe De La Fuente Layos 2006).
286
Abbildung 1:
Tägliche Erreichbarkeit der 72 größten Ballungsräume in Europa per Flugzeug (2003)*
Quelle: Espon Atlas (2006: 39); eigene Reproduktion. * Die Verbindungslinien geben die Möglichkeit täglicher Hin- und Rückflüge in beide Richtungen an. Die Punkte stellen die wichtigsten Flughäfen des europäischen Luftverkehrs dar. Die zugrunde liegenden Daten stammen aus dem Jahr 2003.
Doch trotz der enormen Verdichtung des europäischen Verkehrsraums in den vergangenen Jahren gilt zu beachten, dass das transeuropäische Verkehrs- und Transportnetz keineswegs gleichmäßig über das Territorium der Europäischen Union verteilt ist. Vielmehr kann man von einem klaren West-Ost- und Nord-Süd-Gefälle hinsichtlich der Vernetztheit und Erreichbarkeit sprechen (vgl. Espon 2004, 2006a). Die zentraleuropäischen Länder 287
mit der höchsten Bevölkerungsdichte wie Deutschland, Österreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Frankreich sind über zahlreiche tägliche Flugverbindungen, aber auch grenzüberschreitende Autobahnen und Zuglinien relativ stark vernetzt (Strelow 2006). Ein hohes Maß an Vernetztheit besteht auch zwischen Zentraleuropa (Benelux, Frankreich, Deutschland und Österreich) und den Britischen Inseln sowie Italien. Im Verhältnis dazu sind die Autobahnen und Zuglinien zwischen den westeuropäischen Staaten und ihren östlichen Nachbarn bisher nur rudimentär ausgebaut. Die am leichtesten zu erreichenden Orte in den neuen EU-Mitgliedstaaten und in Osteuropa generell sind die Hauptstädte und einige wenige regionale Zentren. Teilweise trifft dies auch auf die nord- und südeuropäischen Länder zu. Obwohl diese Länder intern sehr gute Transportwege haben, sind es nur einige urbane Ballungszentren, die als Knotenpunkte für den internationalen Reise- und Warenverkehr dienen. Neben der Herausbildung grenzüberschreitender Transport- und Verkehrsnetze ist auch der Ausbau von neuen Kommunikationsnetzen und -technologien ein wichtiger Faktor der horizontalen Verflechtung Europas. Ein großer Teil transnationaler Interaktionen im Alltag findet heute via Telekommunikation und weiteren Formen des Austauschs über elektronische beziehungsweise digitale Medien statt. Nie zuvor war grenzüberschreitende Kommunikation so schnell, so einfach und so günstig wie heute. Sowohl die Digitalisierung des Datentransfers als auch die Entmonopolisierung und Privatisierung des Telekommunikationssektors in den EU-Mitgliedstaaten haben dem starken Anstieg der internationalen Kommunikation Vorschub geleistet. Die massenhafte Verbreitung von Internetzugängen hat einen immensen Anstieg der Email-Kommunikation zur Folge. Außerdem hat sich seit der Abschaffung der staatlichen Monopole im Jahre 1998 eine völlig neue Situation auf dem Telekommunikationsmarkt ergeben: Die Preise für Ferngespräche sind innerhalb weniger Jahre erheblich gesunken. So hat beispielsweise ein zehnminütiges Ferngespräch innerhalb Deutschlands im Jahr 1997, also kurz vor dem Fall des staatlichen Telekommunikationsmonopols, noch etwa 2,80 Euro gekostet; ein internationaler Anruf gleicher Länge konnte abhängig vom Zielort doppelt so teuer und noch teurer sein. Heute, also nur zehn Jahre später, kostet derselbe Anruf durchschnittlich nur noch ungefähr 4% des früheren Preises.11 11
Diese Information stammt aus einer Analyse zu „Sprachtelefondienste“ der Bundesnetzagentur (siehe www.bundesnetzagentur.de, Sachgebiete: Telekommunikation, 02.02.07).
288
Die Verbreitung moderner Kommunikationstechnologie ist sicherlich kein spezifisch europäisches Phänomen. Dennoch haben die „digitale Revolution“ und die Schaffung eines europäischen Telekommunikationsmarkts auch die Europäer näher zusammengebracht. Hinsichtlich des Ausbaus der Kommunikationsinfrastruktur stellt Europa sicher eine der am weitesten entwickelten Regionen der Welt dar (OECD 2005). Einer Studie zum Telekommunikationsmarkt in Europa zufolge existieren circa 226 Millionen Festnetzanschlüsse in den Ländern der EU-25 und die Zahl der Mobilfunkverträge in den EU-Ländern ist auf über 400 Millionen angewachsen (Lumio 2006). Mehr als 90% aller europäischen Unternehmen sowie etwa die Hälfte der EU-Bevölkerung haben bereits Zugang zum Internet und nutzen es regelmäßig. Die Studie weist auch darauf hin, dass das Internet vor allem auch zur Email-Kommunikation genutzt wird. Es lässt sich jedoch ein spürbares Nord-Süd-Gefälle bezüglich der Internetnutzung feststellen. In Ländern wie Island und Norwegen sowie in Schweden, Dänemark und Finnland ist die private Internetnutzung ziemlich weit verbreitet (ungefähr 75% der Bevölkerung). In südeuropäischen Ländern und in den neuen EU-Mitgliedstaaten hingegen ist die Verbreitung noch um einiges geringer (lediglich 30% der Bevölkerung und weniger; vgl. Demunter 2005a, 2005b). 4
Transnationale Migration in Europa
In der jüngeren Geschichte war Europa zumeist eher Ausgangspunkt als Ziel von Migrationsbewegungen. Man denke allein an die Zeit des Kolonialismus und an die großen Emigrationswellen in die „Neue Welt“ in den vergangenen Jahrhunderten. Insbesondere während der Industrialisierung wanderte ein großer Teil der europäischen Bevölkerung nach Nordamerika, Australien und Südamerika aus (Fischer 1985).12 Während der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mussten Millionen von Europäern ihre Heimat verlassen. Allerdings ist insgesamt seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 12
Es wird angenommen, dass in dieser Zeit in ganz Europa etwa 60 bis 80 Millionen Menschen durch Vertreibung, Deportation, Evakuierung oder Umsiedlung gezwungen waren, in andere Länder zu emigrieren (vgl. Kulischer 1948). Einige Formen der erzwungenen Migration und „ethnischen Säuberung“ setzten sich mancherorts in Europa sogar noch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs während der Konsolidierung neuer Nationalstaaten fort (Schechtman 1946; Therborn 1995; Naimark 2001).
289
ein grundsätzlicher Wandel der Hauptrichtung der Migrationsbewegungen festzustellen: Europa ist immer mehr zur Zielregion für Migranten aus aller Welt geworden (Bade 2003; Currle 2004). Bedeutend waren vor allem die postkolonialen Migrationsbewegungen insbesondere in Länder wie Großbritannien, Frankreich und die Niederlande oder die massenhafte Anwerbung von Arbeitsmigranten durch Länder wie Österreich, Deutschland oder Schweden in der Hochphase der industriellen Massenproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg. In den vergangenen 20 Jahren wanderten auch zahlreiche Flüchtlinge und Asylbewerber, insbesondere Bürgerkriegsflüchtlinge aus Südosteuropa und anderen Krisengebieten außerhalb Europas in die EU ein. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs Ende der 1980er Jahre ist Europa auch von einem deutlichen Migrationsstrom von Ost- nach Westeuropa gekennzeichnet (OECD 2006). Während die politischen Entscheidungsträger in Europa zahlreiche Maßnahmen ergriffen haben, um die Migrationsströme von außen einzudämmen und zu regulieren, ist die innereuropäische Mobilität in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark gefördert worden. Allerdings ist daraus (bisher) kein Massenphänomen geworden. Nach jüngeren Berechnungen haben sich bis heute offiziell nur etwa 1,5% aller EU-Bürger langfristig in einem anderen EU-Land niedergelassen, wobei ein großer Teil davon noch der ersten Generation von Gastarbeitern aus den 1960er und 1970er Jahren angehört (Rother 2005). Sogar in Deutschland, einem der Länder mit dem höchsten Anteil an Migranten in Europa (circa 8 Millionen Personen), machen die Einwanderer aus anderen EU-Mitgliedsländern nur etwa ein Drittel aller Migranten aus (Recchi et al. 2003). Zwar sind die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten erheblich, doch bis auf einige nachvollziehbare „Ausreißer“ wie Luxemburg übersteigt der Anteil von EU-Ausländern an der Gesamtbevölkerung in keinem EU-Mitgliedsland mehr als 3% (Verwiebe 2006: 160ff.). Eine Eurobarometer-Untersuchung zur innereuropäischen Mobilität aus dem Jahr 2005 zeigt, dass die Europäer insgesamt relativ immobil sind; vor allem im Verhältnis zu den US-Amerikanern, die als besonders umzugswillig gelten und daher in internationalen Vergleichen häufig als Referenzpunkt herangezogen werden (Vandenbrande et al. 2006: 7ff.). Dieser Studie zufolge sind nur etwa 4% der EU-Bevölkerung in ein anderes EULand umgezogen, und nur etwa 18% der Befragten sind überhaupt jemals aus ihrem Herkunftsort weggezogen. Dies macht deutlich, dass die meisten Europäer trotz einer im Vergleich zu den Vereinigten Staaten höheren Ar290
beitslosigkeit und der enorm gestiegenen Möglichkeiten innereuropäischer Migration kaum eine Notwendigkeit sehen, ihre Heimat zu verlassen und in andere Länder und Regionen zu ziehen. Die meisten von ihnen scheinen demnach mit ihrer augenblicklichen Lebens- und Arbeitssituation in ihrem Heimatland beziehungsweise in ihrer Heimatregion zufrieden zu sein. Menschen neigen für gewöhnlich eher nicht dazu, in ein anderes Land oder eine andere Region umzuziehen, solange sie in ihrer lokalen Umgebung wohlsituiert sind und ihre soziale und ökonomische Situation als akzeptabel erleben (vgl. Faist 2006). Neben diesen rein sozio-ökonomischen Gründen hat die relative Immobilität der Europäer im Vergleich zur Binnenmigration in den USA vor allem auch mit sozialen und kulturellen Barrieren zu tun. Ein Umzug in ein anderes EU-Land bedeutet zumeist die Konfrontation mit einer fremden Sprache und Kultur sowie mit einer anderen Organisation des öffentlichen Lebens (Verwiebe 2005). Die bisherigen Ausführungen sollen allerdings nicht zu der vorschnellen Schlussfolgerung führen, dass Migration innerhalb Europas nur ein nachrangiges Phänomen darstellt. Es muss vielmehr beachtet werden, dass viele Formen der heutigen innereuropäischen Migration kaum von der offiziellen Migrationsstatistik erfasst werden. Neuere Arbeiten zur EU-Binnenmigration zeigen, dass die bisherige Vorstellung von Migration als einseitigem Wanderungsprozess von einer Herkunfts- in eine Zielregion mit dem Ziel eines langfristigen Aufenthalts auf die meisten EU-Arbeitsmigranten heute nicht mehr anwendbar ist (Mau et al. 2007).13 Viele Menschen wandern heute nur noch mit einer kurz- beziehungsweise mittelfristigen Perspektive aus oder pendeln ständig zwischen Heimat und Gastland hin und her. Ein vollständiger Umzug, wie noch zu Zeiten der großen Migrationsund Auswanderungswellen in den vergangenen Jahrhunderten – mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten und Konsequenzen – wird nur von
13
Den umfassendsten Versuch, die Dynamiken der innereuropäischen Mobilität und Migration auch quantitativ zu erforschen, stellt das von Ettore Recchi geleitete PIONEURProjekt dar (PIONEUR 2006). Es wurde nachgewiesen, dass die klassischen „Push“- und „Pull“-Faktoren Wanderungsprozesse in andere EU-Länder nicht vollständig erklären können. Wie bereits erwähnt spielen nicht-ökonomische Faktoren wie familiäre Netzwerke, Liebesbeziehungen oder Lebensqualität insgesamt eine wichtige Rolle. Auf die Frage nach dem Umzugsgrund nannten 30% der Befragten „familiäre Gründe/Beziehung“, 25% „Jobperspektiven“, 24% „Lebensqualität“, 7% „Studium“ und 13% „andere Gründe“ (zu Migrationsgründen siehe auch Verwiebe 2005).
291
einem Teil realisiert (vgl. Pries 1999, 2001, 2004; Faist 2000; Levitt et al. 2003; Verwiebe 2004). Saisonale Migration und Pendelmigration waren noch bis Anfang der 1990er Jahre hauptsächlich durch Migration aus Südeuropa in Richtung Westeuropa gekennzeichnet. In den letzten zehn Jahren haben jedoch zahlreiche Menschen aus Osteuropa auf saisonaler Basis als Krankenpfleger, AuPairs, Reinigungskräfte, Erntehelfer, Handwerker etc. in Westeuropa gearbeitet und die Saisonarbeiter aus Südeuropa abgelöst (Morokvasic 1994; Hess 2005). Dieser Trend hat sich mit dem Beitritt der neuen EU-Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa im Mai 2004 noch weiter verstärkt. In Polen beispielsweise, dem mit 38,5 Millionen Einwohnern mit Abstand bevölkerungsreichsten der neuen EU-Mitgliedsländer, geht man gemäß einer neueren Studie davon aus, dass seit Mai 2004 ungefähr drei Millionen Menschen zum Arbeiten ins Ausland gegangen sind.14 Formen der Pendelmigration sind jedoch kein allein auf Mittel- und Osteuropa begrenztes Phänomen, sie nehmen derzeit auch unter Westeuropäern zu. Deutschland beispielsweise erlebt einen Zuwachs an Arbeitsmigration in Länder wie Schweiz, Dänemark, Großbritannien, Irland, die Niederlande und Norwegen (Mau et al. 2007). Ein weiterer Aspekt innereuropäischer Migration ist auch die Wanderung von älteren Menschen gerade aus der gehobenen Mittelschicht (Williams et al. 1997; King et al. 1998). Unter pensionierten Europäern ist es zunehmend verbreitet, in bestimmten Jahreszeiten in attraktive Touristengebiete in Frankreich, Portugal, Spanien, Italien und Griechenland zu ziehen. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Europäer heutzutage in der Tat sehr viel mehr in Bewegung sind als zu Zeiten geschlossener Grenzen und nationaler Abschottung. Immer weniger Leute betrachten die innereuropäischen Grenzen und die kulturellen Unterschiede als großes Hindernis für Migration. Es ist einfacher denn je, Beziehungen zu Freunden 14
Die Studie wurde im März 2007 vom Public Opinion Research Center in Warschau veröffentlicht (www.cbos.pl, 13.03.07): Anfang 2007 waren demnach etwa 1,1 Millionen Menschen aus Polen aktuell entweder im Ausland beschäftigt oder dort auf Jobsuche, die meisten von ihnen in anderen EU-Ländern. Eine noch größere Zahl hatte bereits für eine bestimmte Zeit im Ausland gearbeitet und war wieder in die Heimat zurückgekehrt. Bis vor kurzem wanderten polnische Emigranten größtenteils noch in nichteuropäische Länder aus, insbesondere in die Vereinigten Staaten und nach Australien, heute vor allem nach Westeuropa. Allein ein Viertel der polnischen Arbeitsmigrant/-innen lebt in Großbritannien, weitere 10% in Irland, beides Länder, die mit der EU-Erweiterung 2004 auch ihre Arbeitsmärkte öffneten. Eine große Zahl von Polen pendelt regelmäßig in ihr Heimatland.
292
aufrechtzuerhalten und sich Möglichkeiten der Rückkehr in die Heimat zu bewahren. Dennoch bewegt sich die Mobilität der Europäer noch auf einem moderaten Niveau und es wird auch in nächster Zukunft kein drastischer Anstieg erwartet (vgl. Vandenbrande et al. 2006: 31ff.). Auch wenn Wanderung im Alter zunehmend beliebter wird, sind die jüngeren Menschen insgesamt betrachtet die mobilsten Menschen in Europa (vgl. Espon 2006b: 10ff.). Europas Wunschziele für junge Fachleute und qualifizierte Arbeiter sind vor allem Metropolen wie London, Paris und Brüssel, pulsierende urbane Ballungszentren in Irland und Großbritannien und die prosperierenden Regionen Schwedens, Dänemarks, Frankreichs, der Niederlande, Deutschlands und der Schweiz sowie kleinere regionale Zentren. Insofern werden die urbanen Ballungsräume immer multikultureller. Im Gegenzug sinken die Einwohnerzahlen in weniger prosperierenden, ländlicheren Gebieten sowie in altindustriellen Regionen; dort „altert“ die Bevölkerung schneller und homogenisiert sich in sozialstruktureller Hinsicht. 5
Tourismus in Europa
Neben Migration ist auch das Wachstum des europäischen Tourismus ein nicht zu vernachlässigender Aspekt der horizontalen Verflechtung Europas. Erste Erfahrungen mit anderen Lebensstilen und Kulturen machen Menschen in aller Regel durch Urlaubsreisen ins Ausland. Natürlich ist auch Skepsis im Hinblick auf die Frage angebracht, inwieweit Tourismus tatsächlich zu veränderten Wahrnehmungen und intensivem interkulturellen Kontakt führt, da viele der Begegnungen in der Tat oberflächlich bleiben.15 Aus unserer Sicht gibt es dennoch gute Gründe anzunehmen, dass der Tourismus ein Türöffner zu anderen Formen transnationaler Einbindung sein kann. Touristische Reiseerfahrungen sind oftmals eine erste Gelegenheit, sich zu begegnen und sich kennen zu lernen und können unter bestimmten Bedin15
Der Tourismusforscher Meethan (2001: 142) argumentiert beispielsweise: „As tourists cross borders in the literal sense, they also cross cultural barriers (…). Such cross-border and transnational movements are by their nature temporary, and contacts between hosts and guests are transitory. Tourists as transient visitors may remain outsiders, as anonymous to their hosts, as the hosts are anonymous to their guests. Each party will view the other as a generalised type, as the opportunities to develop any form of social interaction above and beyond the superficial level are generally limited, may not even be desired or encouraged.“
293
gungen die gefühlte Distanz zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft verringern. Daher kann das touristische Reisen unserer Ansicht nach durchaus als eine wichtige Dimension des Überschreitens nicht bloß physischer, sondern auch kultureller Grenzen begriffen werden (vgl. Mau 2007: 149ff.). Hinsichtlich der Erreichbarkeit und der Reisekosten sind viele ausländische Ziele häufig kaum mehr von inländischen Reisezielen zu unterscheiden. Vielmehr ist ein Ergebnis der Entwicklung des modernen Massentourismus, dass Reiseziele im Ausland manchmal sogar einfacher und günstiger zu erreichen sind als vergleichsweise nahe Ziele (Opaschowski 2006). So hat der Anteil der Personen, die ihre Ferien im Ausland verbringen, in den meisten OECD-Ländern massiv zugenommen. Der Welttourismusorganisation (UNWTO) zufolge hat der internationale Tourismus – gemessen an internationalen Ankünften – seit den 1950er Jahren weltweit um das Dreißigfache zugenommen.16 Europa ist bezogen auf den Tourismus die bedeutendste Region weltweit, sowohl hinsichtlich der internationalen Ankünfte (circa 500 Millionen) als auch der Einnahmen aus dem Tourismus (UNWTO 2006). Auf der Liste der zehn beliebtesten Reiseländer weltweit finden sich allein sieben europäische Staaten, sechs davon sind EU-Mitgliedstaaten.17 Europa ist allerdings nicht nur das Hauptreiseziel für Touristen. Die Europäer reisen auch am häufigsten, ein Großteil davon innerhalb Europas. Eine Eurostat-Studie zeigt, dass im Jahre 2004 ungefähr 40% der EU-Bürger (EU25) circa 400 Millionen längere Ferienreisen mit vier oder mehr Übernachtungen ins In- oder Ausland unternommen haben (siehe Bovagnet 2006a). Die Studie zeigt allerdings auch ein starkes Gefälle zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten hinsichtlich der touristischen Aktivitäten. Dies überrascht nicht, denn der Großteil des Tourismus in Europa spielt sich nach wie vor zwischen einigen Ländern in West- und Südeuropa ab. Die Entscheidung, eine Ferienreise ins Ausland anzutreten, hängt natürlich direkt mit der jeweiligen finanziellen Situation einer Person oder eines Haushalts zusammen. Daneben spie-
16
17
Es sollte erwähnt werden, dass auch Geschäftsreisen in dieser Rechnung enthalten sind; 2005 machten sie einen Anteil von 16% aller internationalen Ankünfte aus. Die Hälfte der Ankünfte machen jedoch reine Urlaubsreisen aus. Weitere 26% sind Reisen aus anderen Gründen, wie etwa der Besuch von Freunden oder Verwandten, religiöse oder gesundheitliche Gründe (UNWTO 2006). Dies sind im Einzelnen: Spanien, Frankreich, Italien, Großbritannien, Deutschland und Österreich (in der genannten Reihenfolge), das siebte europäische Land ist die Türkei, mittelfristig auch ein Kandidat für die Mitgliedschaft in der EU (UNWTO 2006).
294
len allerdings auch andere Faktoren wie Alter, Bildung und Beschäftigungsstatus eine wichtige Rolle (Europäische Kommission 1998: 1). Tabelle 1:
Hauptziele größerer Urlaubsreisen mit vier oder mehr Übernachtungen in Europa (2004)* Inland Anteil an Gesamtzahl
Land
1
Urlaubsreisen nach Reisezielen Ausland Anteil an davon innerhalb EU-25 Gesamtzahl
davon außerhalb EU-25
EU-25 EU-15
56.9 55.7
43.1 44.3
65.9 66.6
34.1 33.4
BE CZ DK DE EE EL ES FR IE IT CY LV LT LU HU MT NL AT 2 PL PT SI SK FI SE UK
21.2 57.9 30.9 36.0 50.7 90.2 88.1 82.9 27.4 75.1 : 41.8 38.9 0.7 72.8 : 37.7 35.3 81.8 77.4 27.0 56.6 69.5 52.5 41.4
78.8 42.1 69.1 64.0 49.3 9.8 11.9 17.1 72.6 24.9 : 51.5 61.1 99.3 27.2 : 62.3 64.7 18.2 22.6 73.0 43.4 30.5 47.5 58.6
77.1 55.6 72.3 67.8 : 46.9 59.1 47.6 78.0 54.1 68.7 41.0 43.2 82.1 : : 76.0 59.2 71.9 67.1 14.1 53.8 58.9 65.6 72.1
22.9 44.4 27.7 32.2 : 53.1 40.9 52.4 22.0 45.9 31.3 59.0 56.8 17.9 : : 24.0 40.8 28.1 32.9 85.9 46.2 41.1 34.4 27.9
Quelle: Bovagnet (2006a: 2). * Die Tabelle zeigt die Ziele (Inland/Ausland beziehungsweise EU-Ausland/außerhalb EU) von Europäern bei größeren Urlaubsreisen (vier Übernachtungen und länger) nach einzelnen EU-Ländern (EU-25) im Jahr 2004 (Länder-Kürzel gem. Eurostat). 1) EU-25 bis auf CY und MT (betrifft Haushalte und ausgehenden Verkehr); EE und HU auf Grundlage der geographischen Gliederung (vgl. Bovagnet 2006a). 2) Schätzwerte (vgl. Bovagnet 2006a).
295
Die reisefreudigsten Europäer sind in der Regel vor allem Studenten und Hochschulabsolventen im Alter zwischen 25 und 39 Jahren, dicht gefolgt von der Gruppe der gut situierten 40- bis 59-Jährigen. Allerdings hat sich in den letzten Jahren wie oben bereits angedeutet ein deutlicher Wandel im Hinblick auf das Reiseverhalten von älteren Menschen eingestellt. Die älteren Europäer sind heutzutage wesentlich reisefreudiger, als dies früher der Fall war. Die bereits erwähnte Eurostat-Studie verdeutlicht allerdings auch, dass es viele EU-Bürger vorziehen, ihre Ferien in ihrem Heimatland zu verbringen. 2004 wurden circa 57% aller Ferienreisen mit vier oder mehr Übernachtungen im Inland verbracht. Mehr als zwei Drittel aller längeren Auslandsreisen gingen jedoch in andere EU-25-Länder (siehe Tabelle 1). Insbesondere Bürger kleinerer EU-Länder wie Slowenien und Luxemburg, aber auch Menschen aus Belgien, Irland, Dänemark und Deutschland reisen öfter ins Ausland als jene aus anderen EU-Staaten. Die Neigung, den Urlaub im Heimatland zu verbringen, ist mit Ausnahme Polens (82% aller längeren Ferienreisen waren Inlandsreisen) vor allem in Südeuropa verbreitet, namentlich in Griechenland (90%), Spanien (88%) und Frankreich (83%). Viele Leute leben in diesen Ländern selbst vom Tourismus und wenn sie reisen, dann vorzugsweise im Inland und um Freunde oder Verwandte zu besuchen. Die beliebtesten Reiseziele der Europäer (EU-25) sind Spanien, Italien und Frankreich. Andere populäre Ziele sind Österreich, Großbritannien, Deutschland, die Niederlande, Portugal und Irland. Diese zehn Länder verbuchen 90% des grenzüberschreitenden Tourismus innerhalb der Europäischen Union (Europäische Kommission 2006: 3ff.). Vor allem die Mittelmeerländer sind als touristisches Ziel äußerst beliebt. Spanien ist in allen nordeuropäischen und den meisten zentraleuropäischen Ländern das mit Abstand meist frequentierte Urlaubsziel.18 Belgier, Niederländer und Luxemburger bevorzugen Frankreich, während Menschen aus den baltischen Staaten und aus Polen am häufigsten nach Deutschland reisen. Abbildung 2 zeigt die Hauptströme des europäischen Tourismus.
18
Seit 1995 hat Spanien die EU-weit höchsten Zuwachsraten beim Tourismus. Während klassische Urlaubsziele der Europäer wie Frankreich, Österreich oder Italien im selben Zeitraum eher rückläufig bereist wurden, zog Spanien zusammen mit Griechenland die meisten Touristen aus dem EU-15-Gebiet an (European Commission 2006: 38).
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Abbildung 2:
Wichtigstes europäisches Zielland von Touristen aus verschiedenen EU-Ländern (EU-25)*
Quelle: Bovagnet (2006b: 5); eigene Reproduktion. * Die Pfeile zeigen die wichtigsten Ziele des innereuropäischen Auslandstourismus gegliedert nach den jeweiligen EU-Mitgliedsländern (EU-25). Ausschlagend für die Darstellung der Pfeile ist das am meisten gewählte Zielland.
Da in dieser Darstellung lediglich Reisen mit vier oder mehr Übernachtungen berücksichtigt werden, bleibt die wachsende Bedeutung von Kurztrips gerade für die touristischen Aktivitäten von Europäern unberücksichtigt. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass heute mehr als die Hälfte aller Reisen innerhalb Europas Kurztrips mit ein bis drei Übernachtungen sind (European Commission 2006: 23ff.). Eine Vorliebe für Kurzreisen findet sich vor allem bei finnischen, schwedischen und spanischen Touristen (70% und mehr). Vor allem in Dänemark, Deutschland, Spanien, Frankreich, Ita297
lien und Luxemburg ist der Zuwachs an Kurztrips größer als bei längeren Reisen. Die wachsende Bedeutung von Kurzreisen steht natürlich in engem Bezug zu den bereits angesprochenen strukturellen Veränderungen Europas in den letzten zehn Jahren. Die neuen Fluglinien schaffen nicht nur neue Reisemöglichkeiten, sondern erschließen auch ganz neue Bevölkerungsgruppen für den grenzüberschreitenden Tourismus. Die massenhafte Verbreitung von preiswerten Flugverbindungen erleichtert es, Orte in ganz Europa schneller, häufiger und viel spontaner als früher zu erreichen (Espon 2006c). Das hat selbstverständlich auch erhebliche Auswirkungen auf die jeweiligen Touristenorte. Immer mehr Menschen unterschiedlichster Herkunft halten Einzug ins Alltagsleben der lokalen Bevölkerung und bewirken somit gravierende Veränderungen des örtlichen Mikrokosmos (vgl. Boissevain/Selwyn 2004; Sheller/Urry 2004). 6
Transnationale Mobilität von Studenten und Jugendlichen
Ein besonderes Gewicht bei der Erfassung der zunehmenden horizontalen Vernetzung von Europäern kommt unserer Ansicht den Jugendbegegnungen und der Studentenmobilität zu. In den vergangenen Jahrzehnten und verstärkt im letzten Jahrzehnt bildeten vor allem junge Menschen und junge Erwachsene in idealtypischer Weise die „Trägerschicht“ der horizontalen Europäisierung. Erste Erfahrungen im Ausland machen junge Menschen in Europa heute zumeist schon in früheren Lebensphasen, etwa im Rahmen von institutionalisierten Schüler- und Jugendaustauschen oder internationalen Praktika. Daher möchten wir hier zunächst auf grenzüberschreitende Jugendaustauschprogramme und andere Formen der transnationalen Mobilität von Jugendlichen eingehen. Die Anfänge von grenzüberschreitenden Jugendbegegnungen liegen zwar schon relativ weit zurück – hervorzuheben sind dabei vor allem die antiautoritären Jugend- und Pfadfindervereinigungen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Doch erst nach den Exzessen des Nationalsozialismus und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Jugendbegegnungen und Austauschprogramme für Jugendliche enorm ausgebaut, nicht zuletzt als ein Instrument der politischen Annäherung zwischen Nationen.19 Ein solches 19
Auf europäischer Ebene war zunächst der Europarat einer der wichtigsten Förderer und Promoter der gemeinsamen europäischen Idee und des Austauschs der Jugend in Euro-
298
Beispiel ist die Gründung des bilateralen Jugendaustauschprogramms zwischen Frankreich und Deutschland im Jahre 1963. Der Grundsatz dieses Austauschprogramms ist, die Beziehungen junger Menschen beider Nationen zu intensivieren. Das Programm unterstützt Jugend- und Studentenaustausch, Sprachkurse, Praktika und andere Formen interkulturellen Lernens. Seit seiner Gründung 1963 haben mehr als 7 Millionen junge Menschen aus Frankreich und Deutschland an den angebotenen Aktivitäten teilgenommen.20 Neben diesen genannten Formen gibt es für junge Europäer heute unzählige weitere Möglichkeiten, europaweite Kontakte zu knüpfen, andere Kulturen, Länder und Sprachen kennen zu lernen.21 Viele Schulen haben internationale Partnerschulen und bieten regelmäßig Austauschprogramme an. Junge Menschen können aus einer Vielzahl unterschiedlicher, regelmäßig angebotener Sprachkurse, Praktika, ehrenamtlicher Tätigkeiten und vielen anderen Angeboten wählen. Lokale Jugendorganisationen, Sportvereine und Pfadfindergruppen organisieren internationale Events oder nehmen an internationalen Sommercamps in ganz Europa teil. Betrachtet man diese zahlreichen Aktivitäten, kann man in der Tat sowohl von einem großen Ausmaß als auch von einer hohen Dichte an grenzüberschreitenden Aktivitäten junger Europäer ausgehen. Diese Aktivitäten sind bei weitem nicht auf den europäischen Raum begrenzt – man denke nur an die große Zahl derer, die zum Lernen und Arbeiten bis nach Australien, Japan, die USA und insbesondere auch nach Lateinamerika oder Afrika gehen. Doch diese vielfältigen Aktivitäten haben seit Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem auch die europäische Bevölkerung näher zusammen gebracht. Der Modus nationaler oder regionaler Abgrenzung ist zunehmend vom Modus internationaler Begegnung und Offenheit für andere Länder und Kulturen abgelöst worden. Die grenzüberschreitende Mobilität von Studierenden ist eine besondere Dimension der grenzüberschreitenden Mobilität junger Menschen und junger Erwachsener in Europa und stellt ein ganz zentrales Element der
20 21
pa. Gerade in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war er sehr aktiv, insbesondere im Hinblick auf die Förderung interkultureller Bildung und die Interessenartikulation von jungen Menschen auf der europäischen Ebene (siehe http://www.coe.int/youth). Dieser Aspekt wird aber zunehmend auch von der Europäischen Kommission hervorgehoben und gefördert (siehe http://europa.eu/youth/). Für weitere Informationen siehe http://www.dfjw.org. Für weitere Informationen siehe http://europa.eu/youth/ (10.02.2007).
299
Transnationalisierung Europas „von unten“ dar – auch wenn es sich hierbei um ein altes Phänomen handelt. Die Universitäten sind immer schon Knotenpunkte des grenzüberschreitenden Austauschs und der grenzüberschreitenden Wissensvermittlung gewesen (vgl. Stichweh 2000). Mit dem Aufkeimen des modernen Nationalstaats und der darauf folgenden Restrukturierung der Bildungssysteme im 19. und 20. Jahrhundert wurde aber das Universitätsleben stärker „nationalisiert“. Dies hat sich in den vergangenen Jahren jedoch erheblich verändert: Studieren in einem multikulturellen Kontext ist heute wieder zunehmend zur Normalität geworden. Auslandserfahrungen bilden heute einen zentralen Bestandteil von Ausbildungsphasen, sind oftmals ein erster wichtiger Einschnitt im Lebenslauf junger Menschen und zuweilen sogar der Beginn einer internationalen Karriere. Zu den Besonderheiten zählt hierbei vor allem der Erwerb von so genannten interkulturellen Kompetenzen wie etwa das Erlernen von Fremdsprachen, das Knüpfen von Kontakten mit Menschen aus anderen Ländern und die Lösung alltäglicher Probleme in einer fremden Umgebung (vgl. Isserstedt/ Schnitzler 2005; Bracht et al. 2006). Ein Blick auf die Statistiken bestätigt den zunehmenden Trend zu internationaler Studentenmobilität und zeigt, dass sie gerade in den vergangenen 25 Jahren deutlich angestiegen ist (OECD 2001). Die Studentenströme bewegen sich dabei vor allem innerhalb und in Richtung der OECD-Staaten (OECD 2001, 2004: 11ff.). Der europäische Kontinent ist mit einem Gesamtanteil von 30% das Hauptziel für Auslandsstudierende, ein Großteil von ihnen geht nach Großbritannien, Deutschland oder nach Frankreich. Das weltweit größte Zielland von Auslandsstudenten ist jedoch die USA mit einem Anteil von 22% (UNESCO Institut für Statistik 2006). Betrachtet man die Mobilität von Studierenden innerhalb Europas detaillierter, dann zeigen sich länderspezifische Muster, die im Zusammenhang mit Faktoren wie geographischer Nähe sowie der historischen Verbindung zwischen einzelnen Ländern stehen. Tabelle 2 stellt die Wanderungsströme von Studenten in ausgewählten EU-Ländern nach jeweiligen Herkunfts- und Zielländern dar: zunächst die fünf attraktivsten Länder der EU für Studierende aus dem Ausland (in absoluten Zahlen) Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und Belgien; weiterhin einige ausgewählte Beispiele aus
300
den unterschiedlichen geographischen Hauptregionen der EU.22 Es zeigen sich Unterschiede hinsichtlich der Zusammensetzung der aus dem Ausland einreisenden Studenten zwischen Großbritannien, Frankreich und Deutschland – jene drei Länder, die den größten Teil von Auslandsstudierenden in Europa beherbergen. Während die Mehrheit der ausländischen Studenten in Großbritannien aus Nordamerika und Westeuropa sowie aus Ostasien und dem pazifischen Raum stammt, sind es in Deutschland Studierende aus den östlichen Nachbarstaaten und aus Osteuropa. In Frankreich hingegen machen Studierende aus Westeuropa und Nordamerika lediglich einen Anteil von 16% aus, während die Hälfte aller einreisenden Studierenden aus arabischen Ländern und aus Nordafrika stammt. Zudem fällt die große Differenz zwischen ein- und ausreisenden Studierenden in allen drei Ländern auf: In Großbritannien ist das Ungleichgewicht von Einreisenden und Ausreisenden mit 13:1 am größten (vgl. Tab. 2), in Frankreich und Deutschland kommen immerhin noch fünf Mal so viele ausländische Studierende ins Land wie einheimische ins Ausland gehen. Tabelle 2 zeigt auch, dass das Verhältnis von einwandernden zu auswandernden Studierenden in südeuropäischen Ländern wie in Italien und Portugal relativ ausgeglichen ist; wohingegen auffällig viele griechische Studierende ins Ausland gehen, aber nur relativ wenige nach Griechenland kommen. Eine neue Dynamik ist außerdem durch Studierende aus den neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten und aus Osteuropa entstanden. Es lässt sich ganz klar ein Wanderungstrend von Ost nach West erkennen: zunächst aus den neuen EU-Mitgliedstaaten in die westlichen EU-Nachbarländer sowie aus den östlicher gelegenen Nicht-EU-Staaten in die neuen EU-Mitgliedsländer Mittel- und Osteuropas. Ein Großteil aller mobilen Studenten und Studentinnen aus den postkommunistischen Ländern strebt allerdings eindeutig in Richtung Westeuropa und in die USA.
22
Der Übersichtlichkeit halber und aus Platzgründen haben wir nur ein bis zwei typische Vertreter der verschiedenen geographischen Regionen Europas neben den fünf am meisten frequentierten Ländern dargestellt. Die Daten stammen ebenfalls von der UNESCO (2006).
301
Tabelle 2:
Land
Internationale Studentenmobilität in ausgewählten EU-Mitgliedsländern (2004)* Anzahl von Auslandsstudenten
Höchste Anteile von Auslandsstudenten nach Ursprungsregion in %
Anzahl ausreisender Studenten
VerhältBeliebteste Zielländer nis: ausreisender Einreise/ Studenten Ausreise
Beliebteste EU-Zielländer:
Großbritannien
300.056
Nordamerika Westeuropa
Ostasien und Pazifikraum
Süd- und Westasien
1. USA (36%) 2. Frankreich (11%) 23.542
3. Deutschland (9%)
13:1
4. Irland (9%) 39%
31%
8%
Zentralund Osteuropa
Nordamerika Westeuropa
Ostasien und Pazifikraum
5. Australien (7%) 1. GB (21%)
Deutschland
260.314
2. USA (16%) 3. Frankreich (12%) 56.410
4. Schweiz (10%)
5:1
5. Österreich (10%) 40%
21%
16%
Arabische Länder
Subsaharisches Afrika
Nordamerika Westeuropa
32%
17%
16%
Zentralund Osteuropa
Nordamerika Westeuropa
Lateinamerika und Karibik
39%
36%
8%
Nordamerika Westeuropa
Subsaharisches Afrika
Arabische Länder
60%
12%
9%
1. Belgien (23%)
Frankreich
237.587
2. GB (21%) 53.350
3. USA (13%) 4. Deutschland (13%)
5:1
5. unbekannt (12%) 1. Deutschland (21%)
Italien
40.641
38.544
2. Österreich (16%) 3. GB (14%) 4. Frankreich (12%)
1:1
1. Frankreich (26%)
Belgien
37.103
2. GB (23%) 10.729
3. Niederlande (19%) 4. Deutschland (10%) 5. USA (8%)
302
4:1
Ausgewählte Beispiele aus Nord-/ Süd- und Osteuropa:
Schweden
32.469
Nordamerika Westeuropa
Keine Angabe
Zentralund Osteuropa
1. GB (25%) 13.392
2. USA (23%) 3. Norwegen (8%)
2:1
4. Australien (8%) 50%
22%
12%
Subsaharisches Afrika
Nordamerika Westeuropa 21%
Lateinamerika und Karibik
Nordamerika Westeuropa 82%
Zentralund Osteuropa
Arabische Länder
11%
3%
Nordamerika Westeuropa 62%
Ostasien und Pazifikraum 15%
Süd- und Westasien
Zentralund Osteuropa
Nordamerika Westeuropa
Arabische Länder
60%
22%
10%
5. Deutschland (6%) 1. Frankreich (24%)
Portugal
15.483
57%
2. GB (24%) 11.213
3. Deutschland (17%)
1:1
4. Spanien (12%) 5. USA (8%)
16%
1. GB (46%) Griechenland
12.456
2. Deutschland (15%) 49.631
3. Italien (14%) 4. Frankreich (5%)
1:4
5. USA (4%) 1. GB (84%)
Irland
10.201
17.570
2. USA (6%) 3. Frankreich (3%)
1:2
4. Deutschland (3%) 6%
5. Australien (1%) 1. Frankreich (22%)
Rumänien
Polen
9.730
7.608
Zentralund Osteuropa 63%
2. Deutschland (20%) 20.680
Nordamerika Westeuropa 18%
Zentralasien
Zentralund Osteuropa
Süd- und Westasien
42%
4%
3. USA (16%) 4. Ungarn (15%)
1:2
5. Italien (6%) 1. Deutschland (54%) 2. Frankreich (11%) 28.786
3. USA (10%)
1:4
4. Österreich (4%) 5. Italien (5%)
8%
1. Russland (27%) Lettland
2.390
Nordamerika Westeuropa 49%
3.730
2. Deutschland (25%) 3. USA (11%)
1:2
4. Estland (8%) 5. GB (5%)
Quelle: UNESCO Institute for Statistics (2006), eigene Berechnungen. * Diese Tabelle zeigt die Menge einreisender und ausreisender Studenten in ausgewählten EU-Mitgliedstaaten sowie ihre jeweiligen Hauptherkunfts- und Zielländer (in % der jeweiligen Menge). Die Definitionen der Weltregionen folgen denen des UNESCO Institute of Statistics (2006: 188ff.).
303
Die Zunahme der Studentenmobilität in Europa beruht nicht zuletzt auf dem Wachstum institutioneller Kooperationen und internationaler Austauschprogramme. So haben Organisationen wie die OECD und die EU die internationale Mobilität von Studenten in der jüngeren Vergangenheit intensiv gefördert. Viele Studiengänge sind mittlerweile „europäisiert“ beziehungsweise an die so genannten Bologna-Standards angepasst worden.23 Ferner sind zahlreiche Mobilitätshindernisse durch Erleichterungen bei der Erlangung von Aufenthaltsgenehmigungen oder durch Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen in den letzten Jahren weitgehend überwunden worden. Die wichtigste Maßnahme zur Förderung innereuropäischer Studentenmobilität und Kooperation zwischen europäischen Bildungsinstituten stellt sicherlich das im Jahr 1987 initiierte ERASMUS-Austauschprogramm dar.24 Es fördert hauptsächlich Auslandsaufenthalte von ein bis zwei Semestern und baut auf dem Prinzip der Reziprozität zwischen beteiligten Institutionen auf. Dies bedeutet, dass eine Bildungsinstitution nur so viele Studierende an eine andere Institution ins Ausland schicken kann, wie sie umgekehrt von dieser empfängt. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass Teilnehmer am ERASMUS-Programm freien Zugang zur gewünschten Universität im Ausland erhalten und dass ihre bisher erworbenen Leistungen an allen teilnehmenden Universitäten anerkannt werden. Zusätzlich erhalten sie auch eine geringe finanzielle Unterstützung und werden an ihren Gastuniversitäten für gewöhnlich auch individuell betreut. Seit seiner Einführung haben mehr als 1,4 Millionen Studenten im Rahmen des ERASMUS-Programms im Ausland studiert. Im Jahre 1987/ 1988 startete das Programm mit 3.000 und wuchs bis 2004/2005 auf jährlich
23
24
Der fortlaufende Prozess der Europäisierung von Studiengängen wurde durch die Bologna-Erklärung der europäischen Bildungsminister im Juni 1999 initiiert. Die Minister einigten sich unter anderem auf eine erhöhte Kompatibilität und Vergleichbarkeit der europäischen Hochschulausbildung zur Förderung der Mobilität, des Wettbewerbs und der Berufschancen der europäischen Studierenden (Bektchieva 2004). Dieser Name, der sich explizit auf den holländischen Theologen und „europäischen Kosmopoliten“ Desiderius Erasmus Roterodamus (1466-1536) bezieht, ist das Akronym für European Region Action Scheme for the Mobility of University Students. Aufgrund des großen Erfolgs des ERASMUS-Programms hat die EU im Jahr 1995 das SOKRATES-Programm eingeführt, um die Europäisierung der Hochschullandschaft außerdem durch Förderung der Mobilität von Lehrenden, Erneuerung der Lehrpläne und spezielle Unterstützung der nicht-mobilen Studenten weiter zu befördern. Seither ist das ERASMUSProgramm ins SOKRATES-Programm eingegliedert.
304
144.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen an.25 Heutzutage vereint das Programm ungefähr 2.200 höhere Bildungseinrichtungen in 31 Ländern (der EU-27, der Türkei, Island, Norwegen und Liechtenstein). Es muss allerdings hervorgehoben werden, dass das ERASMUS-Programm heute bei weitem nicht die einzige Möglichkeit des Auslandsaufenthalts für Studierende ist. Eine zunehmende Zahl von Studierenden entscheidet sich dafür, ihr komplettes Studium im Ausland zu absolvieren oder sich in einen der in den letzten Jahren immer zahlreicher angebotenen transnationalen Studiengänge einzuschreiben. Dennoch haben die ERASMUS-/SOKRATES-Programme einen besonderen Stellenwert, weil sie die Kooperation von Bildungsinstitutionen fördern und weil sie eine Gelegenheitsstruktur gerade für all jene Studierende darstellen, die aus finanziellen Gründen oder mangelndem Wissen möglicherweise keinen Auslandsaufenthalt in Erwägung gezogen hätten. Zudem ist insbesondere die ERASMUS-Erfahrung ein Türöffner für weitere Auslandskontakte im späteren Berufsleben.26 Das ERASMUS-/SOKRATES-Programm scheint auch einen neuen Schub der horizontalen Integration der europäischen Bevölkerung zu befördern: Vergleicht man die Zahl der Studierenden aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien, die ihre Heimat im Rahmen des ERASMUSProgramms verlassen haben, mit der Anzahl derer, die im gleichen Zeitraum zum Studieren in die USA gegangen sind, zeigt sich vor allem für Deutschland und Frankreich ein rapider Anstieg der innereuropäischen Mobilität seit 1990 – bei relativ gleich bleibender Mobilität in Richtung USA (siehe Abbildung 3)27: 25 26
27
Download: http://ec.europa.eu/education/programmes/socrates/erasmus/statisti/table 8.pdf (02.02.2007). Einer aktuellen Studie zur Bedeutung der ERASMUS-Mobilität für den beruflichen Werdegang zufolge glauben ehemalige ERASMUS-Studierende mehrheitlich, dass ihr Auslandsaufenthalt förderlich für die Bewerbung um ihren ersten Job war. Sie gaben an, dass ein Auslandsaufenthalt für Arbeitgeber bei der Auswahl eines Bewerbers zunehmend eine Rolle spielt. Des Weiteren zeigt sich, dass ehemalige ERASMUS-Studenten im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit doppelt so häufig Aufgaben mit Auslandsbezug bekleiden wie Hochschulabsolventen ohne Auslandsaufenthalt (vgl. Bracht et al. 2006). In Großbritannien stieg die Zahl der ERASMUS-Teilnehmer bis 1995/96 ebenso stark an und ist seitdem rapide abgefallen. Dies ist erklärungsbedürftig: Zu vermuten ist, dass die britischen Universitäten das ERASMUS-Programm weniger unterstützen, weil es auf dem Grundprinzip des gegenseitigen kostenlosen Austauschs beruht und somit das kommerzielle Interesse der britischen Universitäten untergräbt, ausländische Studenten aus aller Welt anzuziehen. Das britische Hochschulsystem zählt zu den attraktivsten Zie-
305
Abbildung 3:
ERASMUS- vs. USA-Aufenthalt: Ausreisende Studenten aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien*
25000
Gesamtanzahl ausreisender Studenten
20000
15000
D (Erasmus) F (Erasmus) UK (Erasmus) D (USA) F (USA) UK (USA)
10000
5000
0
1990/91
1993/94
1995/96
1997/98
1999/00
2001/02
2003/04
2005/06
Semester
Quelle: Europäische Kommission1; Institute of International Education (USA)2. * Diese Abbildung zeigt eine Zeitreihe mit der Anzahl von Studenten aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien (den drei Ländern Europas mit der höchsten Studentenmobilität), die jährlich im Rahmen des ERASMUS-Programms mobil sind (dicke Linien), und der Anzahl derer, die in die USA gehen (dünne Linien; seit 1993/94). 1 http://ec.europa.eu/education/programmes/socrates/erasmus/statisti/table8.pdf (02.02. 07). 2 http://opendoors.iienetwork.org/page/113181/ (24.11.07).
len für Auslandsaufenthalte weltweit, umgekehrt bleiben überproportional viele britische Studenten in ihrer Heimat oder bevorzugen, wie bereits erwähnt, eher einen Auslandsaufenthalt im vertrauten englischsprachigen Umfeld als in Kontinentaleuropa.
306
7
Städtepartnerschaften und grenzüberschreitende regionale Kooperation
Ähnlich wie institutionalisierte Austauschprogramme für Schüler und Studenten sind Städtepartnerschaften ein weiterer Indikator des paneuropäischen Austauschs. Sie basieren auf dem Prinzip der Institutionalisierung langfristiger Beziehungen zwischen zwei oder mehr Städten aus unterschiedlichen Ländern und sind zumeist vertraglich besiegelt und weitgehend formalisiert. Städtepartnerschaften werden häufig zwischen Städten und Gemeinden geknüpft, die gemeinsame Interessen oder bestimmte gemeinsame Charakteristika haben wie zum Beispiel eine ähnliche Größe, historische Erfahrung, religiöse Bevölkerungsstruktur, soziale und ökonomische Situation, geographische Lage oder einfach nur einen ähnlichen Namen. Ein wesentliches Ziel ist die Förderung persönlicher Kontakte und des Austauschs in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem in der öffentlichen Verwaltung und der Politik, in der Wirtschaft sowie im sozialen und kulturellen Bereich. Das Prinzip der Städtepartnerschaft ist ähnlich wie das Konzept des Jugendaustauschs natürlich bei weitem nicht auf den europäischen Kontinent beschränkt. Vielmehr haben viele Städte und Gemeinden mindestens eine Partnerschaft auf einem anderen Kontinent. Im Zuge der Europäischen Integration hat die Idee der Städtepartnerschaft jedoch eine noch höhere Popularität und Verbreitung erlangt. Die ersten Partnerschaften dieser Art wurden schon am Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet. Ihre massenhafte Verbreitung begann allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Ausdruck der Versöhnung und gegenseitigen Annäherung zwischen den Völkern Europas. Innerhalb kurzer Zeit wurden sie so populär, dass heute kaum noch eine Stadt oder Gemeinde in Europa keine internationale Städtepartnerschaft unterhält. Neben der ersten Welle in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den 1990er Jahren eine zweite Welle der Intensivierung von offiziellen Partnerschaften zwischen Städten und Gemeinden aus West- und Osteuropa (Vion 2002). Es überrascht nicht, dass auch die Idee der Städtepartnerschaft vor allem von Verfechtern der europäischen Idee aufgegriffen und intensiv gefördert wurde. Neben dem Europarat hat auch die Europäische Union diese Rolle seit 1989 in zunehmendem Maße übernommen. Der wichtigste Förde307
rer von Städtepartnerschaften in Europa ist jedoch der Rat der Gemeinden und Regionen Europas, die offizielle Selbstorganisation der europäischen Städte und Gemeinden mit mehr als 100.000 Mitgliedern in über 35 europäischen Ländern.28 Ein weiteres Beispiel für die Intensität des innereuropäischen Austauschs, die Kooperation und die Interessenbündelung von Städten ist das Netzwerk EUROCITIES, ein Verbund von größeren europäischen Ballungszentren, der auch über das Gebiet der Europäischen Union hinaus reicht. Das Netzwerk besteht derzeit aus über 130 größeren Städten 30 europäischer Länder. Das erste durch und durch transeuropäische Netzwerk ist die so genannte Douzelage Association, eine multilaterale Partnerschaft von Städten und Gemeinden aus allen EU-Mitgliedsländern. Sie wurde 1991 von 12 Gemeinden aus den damaligen EU-Mitgliedstaaten gegründet und hat sich mit der EU-Erweiterung kontinuierlich vergrößert. Das Hauptziel des Netzwerks ist es, innereuropäischen Austausch zu fördern, hauptsächlich durch Kultur-, Sport- und Jugendprojekte. Einen weiteren Bereich der grenzüberschreitenden Kooperation von Regionen, lokalen Akteuren und lokalen Verwaltungen stellt das INTERREG-Programm im Rahmen der europäischen Regionalpolitik dar. Seit Ende der 1980er Jahre hat die Europäische Union grenzüberschreitende Kooperationen von benachbarten Regionen verschiedener Länder sowie transnationale Kooperationen zwischen nationalen, regionalen und lokalen Behörden in ganz Europa aktiv gefördert.29 Gegenwärtig kooperieren nahezu alle europäischen Grenzregionen (NUTS-III Level) in mindestens einer grenzüberschreitenden Euro-Region oder zumindest in gemeinsamen Arbeitsgruppen. Gewichtet nach der Bevölkerungszahl kann das größte Ausmaß transnationaler Kooperation – im Gebiet um die Ostsee ausgemacht werden, hier insbesondere in Süd- und Mittelschweden, den meisten finnischen Regionen, dem mittleren und nördlichen Teil Norwegens, den drei baltischen Staaten und in Nordostdeutschland (Espon 2006b: 56). Es wird zwar bezweifelt, dass mit den vielen unterschiedlichen Formen der grenzüberschreitenden Kooperation beziehungsweise mit einer „künstlichen“ Zusammenarbeit von Regionen auf Verwaltungsebene – tatsächlich so etwas wie ein gemeinsames Bewusstsein, soziale Nähe und gegenseitiges Vertrauen 28 29
Siehe http://www.ccre.org (10.02.2007). Für weitere Informationen siehe: http://ec.europa.eu/regional_policy/interreg3/index _en.htm (10.02.2007).
308
zwischen den Einwohnern von Grenzregionen gefördert wird (vgl. Banse/ Stobbe 2004); die unterschiedlichen Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sind für viele involvierte Regionen jedoch sowohl in wirtschaftlicher wie auch in sozialer Hinsicht nicht ganz unbedeutend. Da die meisten dieser Regionen eher in der geographischen Peripherie ihres jeweiligen Landes liegen, eröffnet grenzüberschreitende Zusammenarbeit ganz neue Möglichkeiten der Entfaltung jenseits der eigenen Staatsgrenzen. Dies kann durchaus zur Erhöhung eines breiteren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Austauschs und in manchen Fällen sogar zur Intensivierung sozialer Bande über den nationalstaatlichen „Container“ hinweg führen. 8
Abschlussdiskussion: Horizontale Europäisierung und Europäische Integration
In diesem Artikel haben wir uns der Frage nach dem derzeitigen Ausmaß transnationaler Vernetzungen und Verflechtungen innerhalb Europas zugewandt. Unser Ausgangspunkt war die Annahme, dass der europäische Integrationsprozess nicht nur durch ökonomische und politische Formen der Zusammenarbeit gekennzeichnet ist, sondern dass die Europäisierung auch mit einer wachsenden Dichte an grenzüberschreitenden sozialen Interaktionen einhergeht. Nur wenn dies gegeben ist, lässt sich auch sinnvollerweise von Europa als einem emergenten Sozialraum sprechen (vgl. Müller 2007). Unser zentrales Anliegen war es, populäre Annahmen zur Entstehung eines europäischen Erfahrungsraums oder gar zur Herausbildung einer europäischen Gesellschaft durch alltagsweltliche Europäisierung auf eine empirische Basis zu stellen. Es wurde gezeigt, dass sich innerhalb Europas bereits durchaus ein transnationaler Sozialraum herausgebildet hat. Vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts – aber ganz massiv innerhalb der letzten zwei bis drei Jahrzehnte – lässt sich eine enorme Intensivierung und Verdichtung dieses Austauschs beobachten. Die zunehmende politische, rechtliche und wirtschaftliche Integration Europas hat in der Tat zu einer wachsenden horizontalen Verflechtung der europäischen Bevölkerung geführt. Allerdings darf der Prozess horizontaler Europäisierung im Alltagsleben keinesfalls als linear verstanden werden. Auch verläuft die Transnationalisierung der europäischen Bevölkerung nicht analog zur Öffnung nationalstaatlicher Grenzen 309
oder zur Verlagerung von politischer Entscheidungskompetenz auf die europäische Ebene. Weiterhin muss man auch darauf hinweisen, dass nicht alle Europäer in ähnlichem Maße von der horizontalen Integration Europas erfasst werden. Es gibt erhebliche regionale und sozialstrukturelle Differenzen hinsichtlich des Zugangs zu grenzüberschreitenden Transport- und Kommunikationsmitteln und der innereuropäischen Migration und Mobilität. Viele der europäischen Nationalgesellschaften lassen sich nach Fligstein (2008) in drei Gruppen einteilen: jene, die enge ökonomische und soziale Beziehungen innerhalb Europas haben und für die Europa längst zur Lebenswirklichkeit gehört, jene mit eher oberflächlichen Beziehungen und Erfahrungen und jene, die kaum den nationalstaatlichen Container verlassen, wenig reisen und wenig Kontaktmöglichkeiten haben. Da sich diese Gruppen auch stark hinsichtlich ihres sozialen Status unterscheiden, können die unterschiedlichen Formen der Einbeziehung in den europäischen Sozialraum auch sozialstrukturell verankerte Konflikte mit sich bringen. Die wichtigste Frage bleibt damit, ob sich langfristig die europäische Erfahrung sozial breiter verankert. Fligstein (2008: 252) schreibt diesbezüglich: „Subsequent rounds of integration will depend on drawing more citizens into finding virtue in increasing their interdependence on their neighbors.“ Ein möglicher Hinweis darauf könnte die Zunahme der „europäischen“ Erfahrung im Zeitverlauf und auch die starke Trägerrolle der jüngeren Generationen sein. Es ist generell davon auszugehen, dass wir von all den dargestellten Bewegungs- und Kommunikationsformen über die nationalen Containergrenzen hinweg – und nicht nur von den großen politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Integrationsschritten – Langzeiteffekte in Richtung einer zunehmenden Europäisierung nationaler Gesellschaften erwarten können. Dies geschieht in dem Maße, in dem die Europäisierung den Alltag erfasst und immer mehr Menschen ganz selbstverständlich über Ländergrenzen hinweg agieren und interagieren. Die zunehmende horizontale Verflechtung der Bevölkerung Europas führt vielleicht nicht unweigerlich zur Herausbildung einer europäischen Gesellschaft, aber wir gehen davon aus, dass sie die grundlegenden Orientierungs- und Handlungsmuster der einbezogenen Gruppen so verändert, dass ein Zurück zu nationalstaatlicher Abschottung immer weniger vorstellbar ist. Wir haben im ersten Teil drei Dimensionen der subjektiven Europäisierung vorgestellt, die unserer Ansicht nach 310
eher geeignet sind, die Auswirkungen der durch die Dynamik der horizontalen Verflechtung Europas angestoßenen Veränderungsprozesse zu erfassen, als es Konzepte wie „Identität“ und „Gemeinschaft“ zu leisten vermögen. Diese drei Dimensionen sind in konsekutiver Reihenfolge: 1) die Erweiterung des individuellen Erfahrungs- und Handlungsraums, 2) die Zunahme interkultureller Erfahrung und Fremdheitsfähigkeit und 3) die Entstehung eines europäischen Interdependenzbewusstseins. Aus der vorangegangenen empirischen Analyse ist deutlich geworden, dass sich das Alltagsleben und die Alltagswahrnehmungen aller Europäer in den vergangenen Jahren gerade in diesen drei Dimensionen erheblich verändert haben. Allerdings sei nochmals unterstrichen, dass die Intensität und Ausprägung dieser Veränderungsprozesse äußerst ungleich verteilt ist. Hierin liegt eine besondere Herausforderung für eine Soziologie der Europäisierung, die einen Beitrag zum Verständnis Europäischer Integration leisten will. Eine weitere Herausforderung liegt in der adäquaten Einordnung und Bewertung der sozialen Verflechtung Europas vor dem Hintergrund beschleunigter Globalisierungsprozesse. Die Rede von der horizontalen Europäisierung unterstellt, dass Europa ein spezifischer Verdichtungsraum transnationaler Aktivitäten und Interaktionen sei. Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten jedoch betont, dass die Intensivierung des grenzüberschreitenden Austauschs nicht allein auf den europäischen Kontinent beschränkt bleibt. Die Globalisierungsforschung hat gezeigt, dass grenzüberschreitende Aktivitäten nicht nur in Europa, sondern in den vergangenen 30 Jahren weltweit substantiell zugenommen haben (vgl. Held et al. 1999). Auch mag die Europäische Integration aus der Distanz betrachtet als ein Teil der Globalisierung von Kommunikation oder Interaktion, also als Zwischenschritt in Richtung Weltgesellschaft, erscheinen (vgl. Münch 2001). Dies führt die Soziologie der Europäisierung zur konzeptionellen Frage, inwieweit sich die horizontale Verflechtung Europas eher als Teil des Prozesses der Globalisierung begreifen lässt (vgl. Delanty/Rumford 2005; Müller 2007). Es gibt aber eine Reihe von Gründen, die besondere Natur des Europäisierungsprozesses hervorzuheben. Zunächst ist es in der Tat so, dass Europa für viele der grenzüberschreitenden Aktivitäten und neuen Formen der Verbundenheit eine Art territorialer und sozialer Bezugshorizont darstellt. Der Grad der Verdichtung dieses Austauschs innerhalb Europas ist deutlich größer als über die europäischen Grenzen hinweg (Mau 2007). Weiterhin gilt, dass viele der dargestellten Prozesse auf der Mikro311
ebene nicht oder zumindest nicht in diesem Ausmaß zustande kommen würden, wenn der Europäisierungsprozess nicht zu einer De-Institutionalisierung der Grenzen geführt hätte. Ebenso wenig würden wir heute dieselbe Dichte des paneuropäischen Austauschs haben, wenn die EU nicht die Entwicklung eines dichten Kommunikations- und Transportnetzes sowie verschiedener Formen von Mobilität, Migration und Zusammenarbeit unterstützt hätte. Wie gezeigt wurde, wirkt der Prozess der Europäischen Integration als wichtige Triebkraft neuer, grenzüberschreitender Aktivitäten. Auf diese Weise schafft die vertikale Europäisierung mehr als nur supranationale Institutionen: Sie fördert auch zwischenmenschliche Kontakte und die Bildung paneuropäischer Netzwerke, aus denen dann weitere Formen der transnationalen Verflechtung hervorgehen. Es ist daher wahrscheinlich, dass Europa nicht einfach von der Weltgesellschaft überlagert wird, sondern einen ganz eigenständigen Aggregations-, Erfahrungs- und Beziehungsraum darstellt. Allerdings wäre eine solche europäische Gesellschaft weniger integriert und vereinheitlicht als die alten, territorial gebundenen nationalen Gesellschaften und zugleich eingebettet in größere globale Netzwerke. Es ist ebenso nicht zu erwarten, dass sich die bisherige nationalstaatliche Logik interner Homogenisierung durch Exklusion von Differenz auf europäischer Ebene einfach reproduziert (vgl. Vobruba 2005). Damit wäre Europa wohl am ehesten als ein neuartiger Typus einer Makroregion zu begreifen – als eine eigenständige gesellschaftliche Sphäre zwischen Nation und Weltgesellschaft. Literatur Allport, Gordon W., 1954: The nature of prejudice. Cambridge: Addison-Wesley. Anderson, Benedict, 1983: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York: Verso. Bach, Maurizio (Hg.), 2000: Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 40, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Ders., 2008: Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der Europäischen Integration. Wiesbaden: VS. Bade, Klaus J., 2003: Migration in European History. Oxford: Blackwell. Banse, Christian und Holk Stobbe, 2004: Nationale Grenzen in Europa: Wandel der Funktion und Wahrnehmung nationaler Grenzen im Zuge der EU-Erweiterung. Frankfurt a.M.: Peter Lang.
312
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IV Institutionelle Entwicklung der Europäischen Union & europäische Sozialpolitik
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Der „Wohlfahrtsstaat Europa“ zwischen Wunsch und Wirklichkeit Stephan Lessenich
Die Beiträge des folgenden Abschnitts kreisen in der einen oder anderen Weise allesamt um das Diktum Georg Vobrubas, dass es der Europäischen Union zumindest einstweilen an einer „umverteilungsfesten Identität“ fehle und damit an einem der wesentlichen Insignien moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit. Die mit dieser Behauptung aufgeworfenen Fragen – Ist Umverteilungstoleranz tatsächlich die unverzichtbare kulturelle Basis jedweden Wohlfahrtsstaats? Vermögen wohlfahrtsstaatliche Institutionen nur aus ihr hervorzugehen oder können sie ihr womöglich auch vorausgehen (und gleichsam ihr eigenes sozialmoralisches Fundament produzieren)? Wie stehen im Lichte dessen die Chancen eines Transfers sozialpolitischer Kompetenzen und Ressourcen vom nationalen Wohlfahrtsstaat in den Raum transnationaleuropäischer Vergesellschaftung? – lassen unter den vier Autoren der nachfolgenden Beiträge gewissermaßen zwei Fraktionen entstehen: Während Monika Eigmüller und Olaf Struck dezidiert als Eurooptimisten auftreten, darf man Heiner Ganßmann und Peter Spahn wohl zutreffend als Europessimisten bezeichnen. Nun könnte man diese Fraktionsbildung recht einfach als Ausdruck eines europawissenschaftlichen clash of generations deuten: Hier die jungen Visionäre eines am Horizont oder gar schon weit davor zu erkennenden, veritablen „sozialen Europas“, dort die in Skepsis gegenüber den Möglichkeiten und „Wollungen“ europäischer Sozialpolitik gealterten Desillusionierten. Man könnte auch – schlichter noch – eine bloße Perspektivenverschiebung diagnostizieren, womit dann ein und dasselbe Glas namens „Wohlfahrtsstaat Europa“ in der Wahrnehmung der einen Seite halb voll, aus Sicht der anderen hingegen halb leer wäre. Ich halte die erste Annahme für gewagt und die zweite für falsch. Vielmehr scheinen mir europapolitischer Optimismus und Pessimismus, wie sie in den nachfolgenden Beiträgen ge321
äußert werden, für tiefer liegende analytische Differenzen mit Blick auf das Untersuchungsobjekt zu sprechen – Differenzen, die es zu markieren gilt. Ich werde eben dies, in aller gebotenen Kürze und daraus resultierenden Unvollkommenheit, auf den nächsten Seiten zu tun versuchen, nicht ohne dabei anzudeuten, welcher der beiden hier aufeinander treffenden Positionen ich letztlich – wir leben in Zeiten allumfassender Bonitätsprüfungen – mehr Kredit einzuräumen geneigt wäre. Monika Eigmüllers Beitrag fragt nach den Konstitutionsbedingungen eines „europäischen Sozialraums“ – beziehungsweise nach den Bedingungen der Möglichkeit der Eröffnung und Erweiterung eines sozialpolitischen Handlungsraums auf der europäischen Ebene. Aus klassisch soziologischer Perspektive zu Recht bezeichnet sie die Verminderung interner Disparitäten, also ein gewisses Maß an sozialer Homogenisierung oder jedenfalls an „sozialem Ausgleich“, als zentralen Modus der Integration von Sozialräumen, womit unvermeidlicherweise Georg Vobrubas eingangs referierte Problematisierung angesprochen ist: die Frage nach den Möglichkeiten redistributiver Politik im europäischen Rahmen (beziehungsweise genauer: im Rahmen der Europäischen Union). Der Optimismus Eigmüllers ist letztlich – obschon immer wieder auch die Bedeutung von Interessenpolitik betont wird – ein strukturfunktionalistisch begründeter: Es sind in letzter Instanz strukturelle Probleme und Krisen, die den europäischen Wohlfahrtsstaat auf den Plan rufen, sprich eine nicht mehr nur nationale politische Reaktion nationaler wie supranationaler politischer Akteure herausfordern. So habe die EU bereits mit nicht unerheblichen Kompetenzausweitungen der Gemeinschaft „auf bestimmte strukturelle Erfordernisse geantwortet“ – und angesichts der gegenwärtigen „Handlungskrise“ der nationalen Wohlfahrtsstaaten sei eine weitere Problembearbeitungsverschiebung auf die europäische Ebene nicht unwahrscheinlich. Nicht nur aus theoretischen Gründen einer allzu automatisch anmutenden funktionalen Dynamik vermag Eigmüllers Position jedoch nicht ganz zu überzeugen; schon ihre Interpretation des beginnenden Integrationsprozesses, bei dem aus prosperitätsbedingter Abwesenheit drängender sozialer Probleme im Gründungsakt auf die Zuweisung genuiner sozialpolitischer Kompetenzen an die E(W)G verzichtet worden sei, lässt Zweifel an der Erklärungskraft eines funktionalistischen Ansatzes aufkommen. Aber auch die Empirie der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart spricht eigentlich eine andere Sprache. Zum einen beschränkt sich – wie in dem Beitrag selbst 322
mehrfach angesprochen wird – die aktuelle Tendenz zur insbesondere EuGH-getriebenen, somit insgesamt wenig politisierten Ausweitung des „sozialen Europas“ ganz wesentlich auf den Bereich regulativer Politiken, deren sozialräumliches Integrationspotenzial eher gering zu veranschlagen sein dürfte und bei denen ganz unklar bleibt, wie von ihnen ausgehend (gewissermaßen per Spill-over-Effekt) die Schwelle zum redistributiven Politikmodus genommen werden sollte. Zum anderen ist die in dem Beitrag zum Ausdruck kommende Hoffnung (wenn man dies so sagen darf) auf den europapolitischen windfall profit der „aktuellen Krise des Nationalstaats und seiner zunehmend eingeschränkten ökonomischen und sozialpolitischen Handlungsspielräume“, soweit man sehen kann, im Zuge der aktuellen Finanzmarktkrise nachdrücklich enttäuscht worden: Selbst die vermutlich bedeutsamste ökonomische Krisensituation der vergangenen Jahrzehnte hat bislang keinen qualitativen Schub (womöglich auch sozialpolitikrelevanter) europäischer Kooperation nach sich gezogen – und auch eher gezeigt, dass die vielstimmigen Nachrufe auf die (national-)staatliche Handlungsfähigkeit wohl doch etwas voreilig waren. Schon an diesem Beitrag fällt auf, dass eine eurooptimistische Positionierung im hier zu dokumentierenden impliziten Deutungsstreit mit einer Ausblendung des vor allem anderen „liberalen“, das heißt marktschaffenden Charakters von 50 Jahren Europäischer Integration einhergeht – und vermutlich auch kausal zusammenhängt. Dieser Zusammenhang zeigt sich deutlicher noch in dem zweiten von mir zu diskutierenden Beitrag. Olaf Struck sieht in dem so genannten „Flexicurity“-Ansatz der Europäischen Union einen potenziell bedeutsamen Beitrag zum Prozess europäischer Vergesellschaftung – ohne diesen Ansatz jedoch explizit und systematisch im Kontext des marktliberalen europäischen Integrationsprojekts zu diskutieren. Er interpretiert ihn vielmehr als den zeitgenössischen Ausdruck des modernen Kapitalismus, in welchem Flexibilität und Sicherheit gleichsam „immer schon“ eine nicht nur funktionale, sondern auch ideologische Verbindung eingegangen seien. Struck zufolge hat die Sicherheitsdimension stets – seit Adam Smith bis in unsere Tage – einen zentralen Platz in der Selbstbeschreibung des kapitalistischen Wirtschaftssystems eingenommen. Dieses Argument weitet er im Zuge seiner Argumentation immer weiter aus: So werden nicht nur „soziale Sicherheit“, sondern auch „soziale Teilhabe“ beziehungsweise „Partizipation“, „sozialer Aufstieg“, auch individuelle „Selbstbestimmung“ zu originären Wertbezügen der kapitalistischen Ord323
nung bestimmt, mit Blick auf deren nicht zuletzt in staatlicher Verantwortung liegende Garantie „ein großer Konsens zwischen Kritikern und Verteidigern der kapitalistischen Marktwirtschaft“ bestehe und bestanden habe. In diesem Lichte besehen müsste man sich fragen, worin denn dann historisch eigentlich der interessenpolitische Antagonismus der kapitalistischen Gesellschaftsformation seinen Bezugspunkt gehabt haben mag? Wie dem auch (gewesen) sei: In jedem Fall verhindert diese harmonisierende Sicht auf die Konstitution (im Sinne der Verfassung) des „modernen sozialen Kapitalismus“ auch eine systematische Diskussion gegenwärtiger „Flexicurity“Konzepte unter dem Gesichtspunkt konkurrierender gesellschaftlicher Interessen beziehungsweise ihrer womöglich interessenpolitisch konträren – „liberalen“ versus „sozialen“ – Ausdeutung und -gestaltung. Die sozialanalytische Harmonielehre setzt sich in Strucks Beitrag im Übrigen über die intellektuelle Versöhnung von Marktorthodoxie und Kapitalismuskritik sowie die Annahme einer im Kern widerspruchsfreien Komplementarität von Flexibilität und Sicherheit hinaus fort. Dies wohl am deutlichsten in seinem heuristischen Modell zur Analyse gesellschaftlicher Entwicklungsdynamik, das letztlich als Gleichgewichtsmodell konstruiert ist, dessen Logik zufolge auf allfällige Spannungen systemisch in Form von (wechselseitigen) Anpassungsreaktionen des Spannungsausgleichs reagiert wird – ganz in diesem Sinne gilt ihm das „Flexicurity“-Konzept als Medium, durch welches potenziell destruktive gesellschaftliche Krisenphänomene in produktive „dynamische Spannungslagen“ stabiler Gesellschaftsentwicklung überführt werden können. Und auch die europäische (Sozial-)Politik ist, zumindest soweit es um „Flexicurity“ geht, in Strucks Darstellung keine Arena des ideen-, institutionen- und/oder interessenpolitischen Konflikts, sondern eine der kollektiven Konsensbildung rund um das sozialpolitische f-word und also der hohen Wahrscheinlichkeit eines (auch) zukünftig koordinierten Vorgehens und Voranschreitens der Mitgliedstaaten auf dem Pfad der flexicurisation – in konstruktiver Erfüllung der „Bedürfnisse der Wirtschaft und Gesellschaft nach Anpassungsflexibilität und Risikobereitschaft“. Wo sozialpolitisch anscheinend so viel Gutes sich vollzieht in Europa, seien dem Beobachter des Beobachters einige wenige kritische Nachfragen erlaubt: Was an dem geschilderten „Flexicurity“-Ansatz ist politisches Programm, was reale politische Praxis? Welche sind die intendierten, welche die erzielten Effekte von „Flexicurity“-Politiken? Ist das präsentierte Bild europäischer Sozialstaatlichkeit – auch hier – durch die Tatsache geschönt, dass 324
die „Flexicurity“-Programmatik der Europäischen Union weitgehend dem Bereich regulativer Politik zuzuordnen ist, der Interessenkampf um ihre (re-) distributiven Implikationen hingegen nach wie vor der nationalen politischen Arena überlassen bleibt? Vor allen Dingen aber: Wie viel am europäischen „Flexicurity“-Konzept ist eigentlich „Flexi-“, wie viel „-curity“? Weist dieses nicht eine recht offensichtliche strukturelle Asymmetrie auf? Steht das im engeren Sinne sozialpolitische (Sicherheits-)Programm nicht ganz unter beschäftigungspolitischem (Flexibilitäts-)Vorbehalt? Struck selbst lässt daran ja eigentlich keinen Zweifel aufkommen: „Beschäftigung und Beschäftigungsfähigkeit bleiben (?) primäres Ziel der Politik.“ Aber was bedeutet das für die Qualität eines „Flexicurity“-Sozialstaats, was für seine „Verheißung“ sozialer Sicherheit, was für die Integration eines europäischen Sozialraums im Sinne Eigmüllers? Der „Flexicurity“-Ansatz ist funktional wie ideologisch, in seinen Voraussetzungen wie Konsequenzen, nur zu verstehen im Kontext des liberalen Marktintegrationsprojekts der Europäischen Union – ein Bezug, der aber von Struck (wie schon von seiner optimistischen Fraktionskollegin) nicht systematisch hergestellt wird. Ohne diesen kritischen Bezug aber ist es nahe liegend, den Wohlfahrtsstaat – hier auf europäischer Ebene – nicht als Wert an sich, als Institution mit einer Normativität sui generis zu begreifen, sondern ihn, ganz auf der Linie des liberalen Paradigmas, nur oder jedenfalls vorrangig in seiner „Funktion als Produktivkraft“ zu verstehen, die „zu einer Entlastung der angespannten Situation am Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen beitragen“ kann. Peter Spahns Beitrag zur Frage nach den Interessen an der europäischen Währungsunion scheint aus dem Konzert der in diesem Abschnitt versammelten, sozialpolitisch interessierten Texte heraus zu fallen – und tut dies sicher auch. Doch indem er den Zusammenhang zwischen monetärer Vergemeinschaftung und (daraus resultierenden) politischen Handlungseinschränkungen thematisiert, knüpft auch er, wenn auch nur mittelbar, an die von Georg Vobruba betonte Umverteilungsproblematik an – und begibt sich, jedenfalls implizit, in Frontstellung zu den bis hierher diskutierten sozialpolitischen Eurooptimisten. Es sind insbesondere Eigmüllers Argumente, die hier konterkariert werden. So stützt sich Spahns Analyse auf die ebenso plausible wie gut belegbare These, dass die kulturelle Heterogenität einer Gesellschaft die politisch-ökonomischen Kosten der Bereitstellung öffentlicher Güter stark an325
steigen lässt – eine Einsicht, die sogleich die Grenzen einer europäischen Sozialpolitik strictu sensu markiert und deren Grunddilemma offenbart: Eine Politik des europäischen sozialen Ausgleichs bedürfte jenes redistributiven Impulses, dem wegen der soziokulturellen Heterogenität der europäischen Gesellschaften die normative Basis fehlt. Eben diese Basis aber, so Spahn gegen Eigmüllers Münchhausen-These institutioneller Selbstschöpfung normativer Ressourcen, konnte etwa durch die politische Dekretierung der Institution Währungsunion nicht „von oben“ geschaffen werden: Der Euro hat sich bislang nicht als identitätsprägend erwiesen, weder im Sinne einer „‚gefühlten‘ EU-Staatsbürgerschaft“ noch im Sinne eines besseren Rufs „Brüssels“ oder aber eben gar im Hinblick auf eine innereuropäischtransnationale Umverteilungsbereitschaft der „Europäer“. Und das, obwohl – auch dies ein Dilemma – gerade die gemeinsame europäische Währung finanzielle Transfers zwischen einzelnen Mitgliedstaaten funktional notwendig werden ließe und entsprechende monetäre Umverteilungsansprüche generiert: von Seiten jener – zumindest situativen oder temporären – Verlierer der Währungsunion nämlich, die, ihres konjunkturpolitischen Instrumentariums nationaler Geldpolitik beraubt, absolute und relative Wachstumseinbußen hinnehmen müssen. Dass eine Umverteilung zugunsten dieser Staaten ausgeblieben ist, erweist sich mit Spahn als wenig verwunderlich, „bedenkt man, dass aus stabilitätspolitischen Gründen in den vergangenen Jahren die ‚armen‘ Länder Griechenland und Spanien Transferzahlungen an das ‚reiche‘ Deutschland hätten leisten müssen, um dort die Konjunktur zu bremsen und hier anzutreiben“. Aus diesem Beispiel lässt sich zweierlei lernen: Was funktional geboten (oder dem systemischen „Spannungsausgleich“ förderlich) wäre, stellt sich nicht schon deswegen quasi-automatisch oder aber interessenvermittelt her. Und die Grenzen europäischer Solidarität, die eine nicht bloß regulative, sondern auch redistributive Politik tragen könnte, lassen sich nicht ohne weiteres überwinden und verlaufen nach wie vor, ob man dies will oder nicht und für wie artifiziell oder „imaginiert“ man dies auch halten mag, wesentlich entlang nationalgesellschaftlicher Zugehörigkeitskonstruktionen. Heiner Ganßmann kommt das Verdienst zu, im Kreis der hier versammelten Autoren endlich Klartext zu reden bezüglich des politischideologischen Rahmens sozialpolitischer „Staatstätigkeit“ der Europäischen Union: „Europa“ war und ist seit einem halben Jahrhundert gleichbedeutend mit einem gigantischen Projekt der Marktintegration, Politik in der EU 326
operiert seither stets und überall unter dieser Maßgabe, der Prozess fortschreitender Marktintegration drängt die europäischen Gesellschaften „in Richtung liberaler Kapitalismus“. Dies, so will mir scheinen, musste doch einmal ausdrücklich gesagt werden. Und gesagt werden muss mit Ganßmann wohl auch, weit über die Autoren und Diskussionen dieses Bandes hinaus zielend, dass mit Bezug auf das „soziale Europa“ Wunsch und Wirklichkeit bis heute so weit auseinanderklaffen – und soweit erkennbar, dies auch in absehbarer Zukunft tun werden –, „dass man die Persistenz des Wunsches zum Erklärungsproblem machen könnte“. Mit Ganßmanns Hilfe lassen sich die bereits vorgebrachten Zweifel an der hier durch Eigmüller und Struck besetzten eurooptimistischen Position nochmals schärfen und verdeutlichen. So stellt er klar, dass ein als Raum sozialer Sicherheit verstandener Sozialraum – ganz gleich welcher Ausdehnung – notwendig der Existenz beziehungsweise Etablierung sozialer Beziehungen bedarf, die der Belastung durch im Zweifelsfall einseitige Ansprüche auf Unterstützung standzuhalten vermögen. Von einem solchen sozialen Fundament redistributiver Intervention weit entfernt konzentriert sich europäische Sozialpolitik auf regulative Politiken der „Flexibilisierung“, die man auch, etwas unschöner, als solche der Deregulierung bezeichnen könnte: Die EU nutzt ihren politischen Einfluss nach Kräften zur Förderung einer negativen Integration, sprich zur Konstitution und Liberalisierung von Märkten – und in diesem Kontext einer alle Produktionsfaktoren einbeziehenden Marktfähigkeitsförderung ist auch die „Flexicurity“-Option zu sehen. Eine ähnlich konsequente Verfolgung von Zielen der positiven Integration, und das hieße auch einer nicht-liberalen, dem skandinavischsozialdemokratischen Modell entsprechenden Variante von „Flexicurity“, ist hingegen im europapolitischen Kontext nicht zu erwarten – im Gegenteil, die Möglichkeitsbedingungen eben jenes Modells universalistisch-umverteilender Wohlfahrtsstaatlichkeit werden durch europäische Politik vielmehr tendenziell untergraben. In dieser Konstellation müsste, wer an der Idee des „sozialen Kapitalismus“ hängt, tatsächlich eher für eine gebremste und begrenzte Integrationsdynamik plädieren denn für eine aktive Rolle der Europäischen Union im Feld der Sozialpolitik. Aber ein solches Plädoyer passt natürlich nicht ins Bild sozialpolitischer Europablütenträume. Was bleibt als Fazit der hier vorgenommenen Querlektüre? Wohl am ehesten die Feststellung, dass der Sinn für die – konsequent marktliberale – politische Ökonomie der Europäischen Integration die Zentraldifferenz und 327
interpretative Wegscheide der vier nachfolgenden Beiträge markiert. Damit rückt die eingangs leichthin verworfene Deutung des in diesen Beiträgen aufscheinenden Deutungs- als eines Generationenkonflikts doch wieder in den Bereich des Plausiblen: Denn während die Einübung des politökonomischen Blicks für die Generation der Spahns, Ganßmanns und Vobrubas gewissermaßen kaum zu vermeiden war, ist diese analytische Perspektive spätestens mit dem Ende des Staatssozialismus – um es vorsichtig auszudrücken – aus der Mode geraten. Mag sein, dass sich dieses Blatt mit dem gegenwärtig sich vollziehenden Kollaps des liberalen Finanzmarktkapitalismus erneut zu wenden beginnt. In jedem Fall aber ist Heiner Ganßmann zuzustimmen, dass auf dem gegenwärtigen Stand des europäischen Integrationsprojekts und seiner politisch-sozialen Implikationen die Soziologie nicht mehr allein als Medium historisch und/oder international vergleichender „Beobachtung“, sprich in ihrer „kognitiven Funktion“ gefragt ist, sondern auch und insbesondere als Praxis der kritischen Positionierung in einem Möglichkeitsraum konkurrierender Optionen der politischen Gestaltung von Gesellschaft. Dass eine solche (Selbst-)Verortung der Soziologie ganz nach dem Geschmack Georg Vobrubas ist – als Skeptiker im wahrsten Sinne des Wortes (und nicht nur in Sachen „Europa“) und als Soziologe, der seiner Profession immer wieder auch (zuletzt regelmäßig in der „Soziologie“) eine normative Anspruchshaltung ans Herz legt –, scheint mir unzweifelhaft zu sein. Übrigens ganz so wie sein heimliches Einverständnis mit Ganßmanns unbefangener, wie nebenbei eingeflochtener Bemerkung: „Warum sollen wir nicht alles wollen?“ Stimmt schon: Warum eigentlich nicht? Soziologie ist, wenn durch Wissenschaft Wirklichkeit und Wunsch zu ihrem Recht kommen.
328
Soziale Sicherheit durch die EU? Staatstheoretische und europasoziologische Perspektiven Heiner Ganßmann
Diskussionen um soziale Sicherheit und Wohlfahrtsstaaten wurden, auch wenn es um internationale Vergleiche geht, bisher meist im Rahmen des „methodologischen Nationalismus“ geführt. Die EU bietet Anlass, diesen Rahmen zu überschreiten. Mit der EU wird, wohl zum ersten Mal, ein supranationalstaatlicher Verbund zum Adressaten für Forderungen nach sozialer Sicherheit. Der häufig von links bis zur politischen Mitte artikulierte Wunsch nach einem „sozialen Europa“ richtet sich darauf, im Prozess der fortschreitenden wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Integration den – unter Umständen durch diese Integration selbst erhöhten – Bedarf nach sozialer Sicherheit nicht zu vernachlässigen. Die beteiligten Nationalstaaten sollen in koordinierter Form kompensatorisch tätig werden oder die EU selbst soll zu einem (Mit-)Garanten sozialer Sicherheit werden. Dabei klaffen Wunsch und Wirklichkeit bisher so deutlich auseinander, dass man die Persistenz des Wunschs zum Erklärungsproblem machen könnte. Lassen wir aber Wünsche beiseite und versuchen wir, die faktische Rolle der EU bei der Gewährleistung sozialer Sicherheit zu verstehen. Das Thema lässt sich aufgliedern anhand der Fragen: 1. 2. 3.
4.
Was heißt soziale Sicherheit? Welche Rolle spielt der Staat bei der Gewährleistung sozialer Sicherheit? Wie modifiziert die Europäisierung die Rolle der Nationalstaaten? Hier stellt sich einerseits angesichts unterschiedlicher sozialpolitischer Aktivitätsniveaus die Konvergenzfrage, andererseits die Frage nach Kompetenzverteilungen zwischen nationalstaatlicher und EU-Ebene. Entsteht mit dem Mehrebenensystem/Vielstaatengebilde der EU eine neue Adresse für die Gewährleistung sozialer Sicherheit? Lässt sich der 329
EU-Exekutive Verantwortung für die soziale Sicherheit der EUBevölkerung zuschreiben? Die Fragen 1 und 2 gehören zum alten Brot der Sozialstaatsforschung und ich werde mich damit hier nicht lange aufhalten. Die Fragen 3 und 4 kann ich in diesem Rahmen nicht hinreichend empirisch beantworten. Ich werde mich auf skizzenhafte theoretische Überlegungen und eine – so gut es geht – empirisch gestützte Stellungnahme zu den einschlägigen Diskussionen beschränken. Zusammenfassend sollte sich schließlich bilanzieren lassen: Impliziert das Projekt EU Gewinne oder Verluste an sozialer Sicherheit? Was können wir mit Blick auf die Wohlfahrt der betroffenen Bevölkerungen erwarten? Die These, die diesem Beitrag zugrunde liegt und die ich mit den folgenden Ausführungen zu erhärten suche, ist, dass man von der EU einen Beitrag zu sozialer Sicherheit nur in der Verlängerung dessen erwarten kann, was schon bei der Gründung der EWG vorgesehen war: durch wirtschaftliche Integration ein friedliches Europa herzustellen. Dieses Projekt ist – wenn man es vor dem Hintergrund über Jahrhunderte immer wieder aufflackernder, verheerender Kriege zwischen europäischen Staaten sieht – für die Kernmitgliedsländer gelungen. Aber dabei ging und geht es mehr um Sicherheit als um soziale Sicherheit, und nicht nur das. Da die fortschreitende Marktintegration die Mitgliedsländer in Richtung liberaler Kapitalismus drängt, schafft die EU durch Deregulierung und Privatisierung in den konservativen und – mit Abstrichen – sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten tendenziell soziale Verunsicherung. Im Trend kann deshalb die Weiterentwicklung der EU in einem „Trade-off“ zwischen Frieden und sozialer Sicherheit münden. 1
Was heißt soziale Sicherheit?
In der Tagungsmappe zu der Konferenz „Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Sozialwissenschaftliche Ansätze zur Europaforschung“, für die dieser Beitrag ursprünglich entstand, befand sich ein Theater-Programm, das, wie heute üblich, außen bestückt war mit Werbung, in diesem Fall von der Sparkasse Leipzig. Sie zitiert aus Schillers Wallenstein: „Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an, wenn man den sichern Schatz im Herzen trägt.“ Worauf der Hin330
weis folgt: „Auch Sie können mit einer Anlage im LeipzigDynamikDepot Ihren ‚Schatz‘ vermehren.“ Die Sparkasse hängt sich an Schiller, verwandelt aber dessen Sicherheit als Herzensangelegenheit in ein Geldanlageproblem. Das ist nicht untypisch im Lichte der ökonomischen und politischen Bearbeitungsmöglichkeiten des Problems der sozialen Sicherheit. Aus einem komplexen Zusammenhang, in dem es nicht nur um ökonomische Risiken, sondern auch um solche für Status und Psyche geht, machen Marktakteure ein enges Problem, das sich mit Geldakkumulation lösen lässt. Das SchillerZitat sollte dabei die inzwischen brüchig gewordene Assoziation wecken, auch die Geldanlage in einem Fond könne zu heiterer Gelassenheit angesichts der im Leben lauernden Risiken führen. Zwar trägt man einen Geldschatz sicherlich nicht im Herzen, aber ich will mich nicht mit Kulturkritik aufhalten. Folgen wir stattdessen der Sparkassenidee und fassen das, was soziale Sicherheit heißt, eng (umfassend informiert darüber nach wie vor Kaufmann 1973): Das Adjektiv „sozial“ verstehe ich einfach so, dass es bei der Herstellung/Gewährung von Sicherheit letztlich um den Erwerb von Ansprüchen an andere gehen muss, die für den Fall einlösbar sind, dass man sich nicht (mehr) durch eigene Leistungen versorgen kann. Hintergrund ist also die Spannung, die in modernen Gesellschaften zwischen Selbstbestimmung und Eigenverantwortung einerseits und gesteigerter Abhängigkeit von anderen andererseits besteht. Dabei verträgt sich, wenn wir zum Beispiel Simmel in der „Philosophie des Geldes“ folgen, gesteigerte soziale Abhängigkeit mit mehr individueller Selbstbestimmung und Freiheit durch die Vermehrung der wirtschaftlichen Wahlmöglichkeiten aufgrund verbesserter materieller Ausstattung einerseits und der Depersonalisierung der Abhängigkeiten andererseits. Sie sind anonymisiert und versachlicht durch das Dazwischentreten des Geldes, wobei wiederum das Geldsystem jene wirtschaftliche Dynamik freisetzt, die zur Steigerung der Abhängigkeiten und der damit verbundenen Lebensrisiken führt. Gehen wir aus von der üblichen Unterscheidung von drei Hauptadressen1 für soziale Sicherheitsansprüche:
1
Wenn ich von „Adressen“ rede, will ich damit ausdrücken, dass soziale Sicherheit auch das nicht-intendierte Ergebnis bestehender, stabiler gesellschaftlicher Ordnungen ist, deren Störung beziehungsweise Zerstörung Interventionsbedarf hervorruft. Wer immer solchen Interventionsbedarf anmeldet, wendet sich an die genannten Adressen.
331
Abbildung 1:
Adressaten sozialer Sicherheitsansprüche Familie/Gemeinschaft Reziprozität
Markt Austausch
Staat Redistribution
Man kann den Polen dieses Dreiecks typische Transaktionsformen (nach Polanyi 1957) zuordnen: Reziprozität dominiert in Familie/Gemeinschaft, Austausch auf Märkten, Redistribution im Staat. In den uns vertrauten sozialen Sicherungssystemen werden alle drei Adressen in Anspruch genommen, man kann sie jedoch nach ihrem relativen Gewicht unterschiedlich in diesem Dreieck verorten. Im historischen Rückblick lässt sich leicht sehen, dass die verunsichernden Auswirkungen der kapitalistisch-geldwirtschaftlichen Dynamik durch Familie und nachbarschaftliche Hilfe allein zumindest in den unteren Klassen nicht aufgefangen werden konnten. Es blieben also die Adressen Markt und Staat. Da es vor der ideologischen Dominanz des Neoliberalismus nicht ganz zu unrecht absurd erschien, von Marktinstanzen Sicherheit genau gegen die vom Markt produzierten Risiken2 zu erwarten, blieb die Adresse Staat. 2
An dieser Stelle wäre es nützlich, die Unterscheidung zwischen Risiko und Unsicherheit (uncertainty) wieder einzuführen, die Frank Knight (1921) vorgeschlagen hat. Demnach
332
2
Welche Rolle spielt der Staat bei der Gewährleistung sozialer Sicherheit?
Der Staat kann auf zwei Hauptwegen Schutz gegen vom Markt oder anderweitig generierte Risiken bieten; erstens durch Regulierung (Rechtssetzung und -durchsetzung) und zweitens durch Redistribution, die Gewährung von Sach- und Geldleistungen mit dem Ziel, ein politisch gewähltes Versorgungsniveau zu garantieren beziehungsweise das jeweilige Einkommen zu stabilisieren und Einkommensungleichheiten abzubauen. Da Nationalstaaten solchen Schutz in verschiedenen Formen und Ausmaßen organisiert haben, ist es zweckmäßig, an dieser Stelle die übliche Wohlfahrtsstaatstypologie einzuführen (Titmuss 1974; Esping-Andersen 1990). Wir erhalten so das nächste schematische Dreieck (werden aber sehen, dass vier oder fünf Ecken besser wären) von liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimen. Wir können nun das Sicherheits-Dreieck mit der StandardWohlfahrtsstaatstypologie kombinieren und kommen zu einer Anordnung, wonach liberale Wohlfahrtsstaaten vorzugsweise die Adressen-Kombination Familie und Markt, konservative die Kombination Familie und Staat und sozialdemokratische die Kombination Markt und Staat wählen, um den Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerungen entgegenzukommen (Abbildung 2). Weil es in meiner weiteren Argumentation eine Rolle spielen wird, möchte ich hier noch ein staatstheoretisches Bermudadreieck anfügen. Demnach bewegen sich moderne politische Systeme in dem Dreieck von Demokratie, Plutokratie (Herrschaft des Reichtums) und Autokratie (Verselbstständigung der staatlichen Akteure) (Przeworski 1990). Wegen der jeweils traditionellen Kompetenzzuweisungen bei der Lösung sozialer Probleme kann man vermuten, dass die drei Wohlfahrtsstaatstypen vom Referenzmodell Demokratie aus gesehen jeweils unterschiedlichen Gefährdungen ausgesetzt sind:
sind Risiken berechen- und deshalb privat versicherbar, wohingegen Marktakteure keinen Schutz gegen systemisch generierte Unsicherheit anbieten können.
333
Abbildung 2:
Typologie der Wohlfahrtsstaaten Familie/Gemeinschaft
liberal
Markt
Abbildung 3:
konservativ
Staat
sozialdemokratisch
Herrschaftsformen und Wohlfahrtsstaaten Plutokratie
liberal
Demokratie
334
konservativ
sozialdemokratisch
Autokratie
Das soll bedeuten, dass liberale Wohlfahrtsstaaten vor autokratischen Tendenzen vergleichsweise gut geschützt sind, aber zum Abkippen in Plutokratie neigen. Reichtum lässt sich dort leicht in politische Macht übersetzen. In sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten dominiert hingegen eine antiplutokratische Einstellung, aber auf der Suche nach staatlichen Lösungen neigt man zu – wenn auch meist harmloseren Formen der – Autokratie. In konservativen Wohlfahrtsstaaten dominieren elitär-paternalistische Tendenzen, die mitunter zur Vernachlässigung demokratischer Prozeduren und Legitimationen führen. Versuchen wir nun mit Hilfe dieser begrifflichen Grundausstattung zu verstehen, inwiefern sich die Rolle der Staaten bei der Gewährleistung sozialer Sicherheit durch die Europäisierung verändert. 3
Wie modifiziert die Europäisierung die Rolle der Nationalstaaten bei der Gewährung sozialer Sicherheit?
3.1 Kompetenzgewinne und -verluste Was verstehe ich hier unter „Europäisierung“? Es geht mir um drei Aspekte in der Entwicklung der Europäischen Union: um wirtschaftliche, rechtliche und politische Integration im Sinne a) des Bedeutungsverlusts nationalstaatlicher Abgrenzungen für Wirtschaftstransaktionen, b) der Vereinheitlichung rechtlicher Regelungen und c) der zunehmenden Bedeutung auf supranationaler Ebene getroffener Entscheidungen. Ich vernachlässige also solche Dimensionen wie kognitive und kulturelle Europäisierung. Um Europäisierungseffekte auf nationalstaatliche Kompetenzen genauer ablesen zu können, müssten wir die Nationalstaaten sozusagen dort abholen, wo sie vor der Europäisierung waren. Das erfordert allerdings eine weit ausgreifende historische Betrachtung. Begnügen wir uns stattdessen mit der groben Registrierung der Funktionen europäischer Nationalstaaten im Hinblick auf soziale Sicherheit in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gab so etwas wie eine Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik auf nationalstaatlicher Ebene. Den Nationalstaaten oblag es, ihre Produkt-, Kapital- und Arbeitsmärkte zu regulieren und Geld- und Fiskalpolitik im Hinblick auf Wachstum und Beschäftigung aufeinander abzustimmen. Außenwirtschaftlich erfolgte die Einbindung in das Bretton-Woods-System, in dem einiger335
maßen stabile Wechselkurse mit eingeschränkter Kapitalmobilität kombiniert wurden. Wenn man der keynesianischen Version der jüngeren Wirtschaftsgeschichte folgen will, war die Gewährung sozialer Sicherheit ein tragender Faktor in einem stabilen, mitunter durch zusätzliche staatliche Nachfrage gestützten Wirtschaftskreislauf, der hohes Wachstum und niedrige Arbeitslosigkeit garantierte. Andere Varianten dieser Wirtschaftsgeschichte, etwa die von der „sozialen Marktwirtschaft“, zeichnen ein ähnliches Bild: Der Nationalstaat rahmt und stützt die Wirtschaft und stabilisiert sie, nicht zuletzt durch Sozialpolitik. Vergleichen wir dieses Bild mit einem neueren Schema der Kompetenzverteilung in der EU nach Politikfeldern (Sapir 2005). National
EU
Mikro
Arbeitsmarktregulierung
Produkt- u. Kapitalmarktregulierung
Makro
Fiskalpolitik
Geldpolitik
Sozialpolitik taucht in diesem Schema nicht auf, was vielleicht daran liegt, dass – für die traditionellen Sozialpolitikfelder von Altersversorgung, Krankheit, Unfall, Pflege und Arbeitslosigkeit – wohl eindeutig eine Zuordnung zur nationalstaatlichen Ebene, aber nicht eindeutig eine Mikro-MakroDifferenzierung möglich ist. Abgesehen von rechtlichen Regulierungen und den Möglichkeiten, die beschränkten Regional- und Strukturfonds sozialpolitisch zu nutzen, hat die EU-Ebene keine sozialpolitische Kompetenz. Im nationalstaatlichen Rahmen wirkt hingegen Sozialpolitik sowohl auf der Mikro- (Arbeitsmarktregulierung, Anreizsetzungen durch Steuer-/Beitragspolitik, Einkommenszuteilung und -stabilisierung durch Sozialleistungen) als auch auf der Makroebene (Nachfrage- und Beschäftigungsstabilisierung). Dabei wird die Rolle der Nationalstaaten im Rahmen dieser Kompetenzverteilung unterschiedlich beschrieben und legitimiert. Seit mehr als 20 Jahren dominiert der von der Marktintegration als Prämisse ausgehende TINADiskurs (frei nach Thatcher: There Is No Alternative!). Er lässt sich in das Schema der Kompetenzverteilung als Forderungspaket eintragen.
336
Mikro
Makro
National
EU
Arbeitsmarktregulierung
Produkt- u. Kapitalmarktregulierung
Deregulierung!
Tiefere Integration!
Fiskalpolitik
Geldpolitik
Haushaltsdisziplin!
(EZB:) Währungsstabilität!
In Worten: Es steht nicht infrage, dass das Kernprojekt der alten EWG, die Marktintegration, weiter gehen soll. Voraussetzung dafür sind, wenn nicht die gemeinsame Währung, dann zumindest stabile Wechselkurse im EUBinnenmarkt. Diese zu garantieren, ist eine Aufgabe, die auf der EU-Ebene anfällt. Um die Geldpolitik nicht zu unterminieren, sollen die Nationalstaaten mit einem durch die Maastricht-Kriterien stark verkleinerten fiskalpolitischen Spielraum auskommen. Das lässt für die Beschäftigungspolitik ebenfalls nur minimale Spielräume und deshalb als beste Möglichkeit den Rückzug der Nationalstaaten aus diesem Feld offen: Man überlasse es den Marktkräften. Die Devise lautet deshalb nicht nur für den Arbeitsmarkt Deregulierung! oder positiv ausgedrückt Flexibilisierung! Man kann dem neoliberalen TINA-Diskurs den gealterten keynesianischen Diskurs gegenüberstellen, der von der nationalstaatlichen Ebene ausgeht. Demnach stabilisieren Fiskal- und Geldpolitik über die gesamtwirtschaftliche Nachfrage die Beschäftigung unter der – unabdingbaren – Voraussetzung einer gemeinsam von den Nationalstaaten durchgesetzten Einhegung der Kapitalmobilität (wie im Bretton-Woods-System). Gemessen an diesen keynesianischen Konzepten ist, ob man nun TINA akzeptiert oder nicht, ein Kompetenzverlust der Nationalstaaten unverkennbar. Ersatz auf der europäischen Ebene gibt es für diesen Kompetenzverlust nicht. Vielmehr lassen sich mit jeder Erweiterung zunehmende Schwierigkeiten (das Muster lieferte auch hier Frau Thatcher) für eine Koordination sowohl in einzelnen Politikfeldern als auch bei der Herstellung von Konsistenz, vor allem im Sinne einer auf Geld- und Fiskalpolitik abgestimmten Beschäftigungs- und Sozialpolitik, beobachten. Dabei gilt prinzipiell: Wenn sich keine Einigung für aktive Interventionen erzielen lässt, bieten sich Marktlösungen quasi-automatisch als Default-Optionen an. Diese werden auch dadurch gestärkt, dass mit der tieferen Marktintegration die Beseitigung institutioneller Differenzen einhergehen muss. Das folgt aus dem schlichten Umstand, dass jede institutionelle Differenz – angefangen bei unterschiedlichen Lan337
dessprachen – Transaktionskosten bedingt, die den Marktzugang für Outsider erschweren. Auf den Abbau institutioneller Differenzen zielende Deregulierungen sind und waren deshalb häufig gekoppelt mit Privatisierungen öffentlicher beziehungsweise gemeinwirtschaftlicher Unternehmen, die im nationalen Kontext oder örtlich meist Monopolstellungen innehatten (Post, Telekommunikation, Gesundheitsversorgung, Bahn, Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung usw.). Diese Privatisierungen führen teilweise zu enormen Verunsicherungen für erhebliche Bevölkerungsanteile, nicht nur für die bei ehemals öffentlichen Unternehmen Beschäftigten, sondern auch für die Kunden und Klienten der privatisierten Unternehmen, die sich häufig weniger an den Segnungen der Marktkonkurrenz erfreuen können, als vielmehr mit vermachteten Märkten und Gewinn maximierender Preisbildung rechnen müssen. Werden – neben den tradierten Problemen der sozialen Sicherung – diese neueren, EU-generierten Probleme sozialpolitisch bearbeitet und, wenn ja, auf welcher Ebene? Wie sieht die Verteilung der sozialpolitischen Kompetenzen zwischen den Ebenen Nationalstaat und EU aus? Aus Sicht der einschlägigen Theoriebestände verspricht die Marktintegration auf der einen Seite Effizienzgewinne, auf der anderen Seite gesteigerte Abhängigkeiten und Betroffenheit von weiträumigeren Wechselfällen von Konjunktur und Krise. Nach der in der Globalisierungsdiskussion wieder aufgenommenen Kompensationsthese (Katzenstein 1985) müsste man auch für die EU-interne Marktintegration erwarten, dass die mit Marktöffnungen für eine Mehrheit der abhängig Beschäftigten verbundenen Risikozuwächse sozialpolitisch klein gearbeitet werden – gleichsam als Preis für die Akzeptanz der Marktöffnungen. Demnach bestünde eine positive Beziehung zwischen wirtschaftlicher Offenheit und sozialstaatlichen Leistungsniveaus. Der Kompensationsthese steht jedoch die „Race-to-the-bottom“-These gegenüber, der zufolge die in einem gemeinsamen Markt integrierten Nationalstaaten in eine steuer- und sozialpolitische Konkurrenz um die besten Angebotsbedingungen gezwungen werden. Sie müsste letztlich zur Konvergenz auf dem kleinsten sozialpolitischen Nenner, also für die meisten etablierten EU-Mitgliedsländer zu schwächeren Sozialleistungen, führen. Ein „Race-tothe-bottom“ wäre allenfalls durch Koordination und Standardsetzung auf supranationaler Ebene zu verhindern. Das wäre eine genuine Funktion für die EU, die zudem das in der Sozialcharta festgeschriebene Subsidiaritätsprinzip (Atkinson 1995) nicht verletzen müsste. Die EU könnte so die nati338
onalen Regierungen entlasten, die sich einerseits Bevölkerungen gegenüber sehen, die auf Kompensation für ihre Risikobereitschaft und ihre Akzeptanz offener Märkte bestehen, und die sich andererseits unter dem Druck der Standortkonkurrenz und auf Anraten der OECD etc. zu sozialpolitischer Austerität gezwungen sehen. Empirische Befunde sprechen jedoch – jedenfalls bisher – nicht für ein solches „Race-to-the-bottom“. Eine Ausnahme scheint die Entwicklung der Körperschaftssteuern darzustellen, die im OECD-Durchschnitt von 1982 bis 2001 von 40% auf 29% gefallen sind, bei abnehmender Varianz. Bei den Gesundheitsausgaben, in den meisten reichen Ländern der zweitgrößte Posten in den Sozialausgaben, sprechen die Daten eher für ein „Race-to-themiddle“ (Glyn 2006: 167). In der EU fallen die durchschnittlichen gesamten Sozialausgaben, gemessen als Anteile am Bruttoinlandsprodukt, nicht, wobei – abgesehen von Aufholbewegungen der südeuropäischen Länder – die Differenzen zwischen den Wohlfahrtsregimen deutlich erhalten bleiben (Aiginger et al. 2007: 9f.). Man könnte aus diesen im Großen und Ganzen stabilen Trends auf der Ausgabenseite der sozialen Sicherungssysteme schließen, dass eine supranationale Koordinationsrolle der EU nicht erforderlich ist, weil das „Race-to-the-bottom“ gar nicht stattfindet. Allerdings reichen die gestiegenen Ausgabenanteile in den meisten Ländern nicht aus, um die gleichzeitig gestiegene Ungleichheit der Markteinkommen zu kompensieren. Die verfügbaren Nettoeinkommen sind seit den 1980er Jahren ungleicher geworden und die Armut hat zugenommen (vgl. zum Beispiel LIS Key Figures; Ersteres gemessen am Dezilverhältnis 90/10, Letzteres als 50% des Medians Armutsquote). Nur in Dänemark, Österreich und den Niederlanden hat die Einkommensungleichheit nach der Umverteilung seit den 1980er Jahren abgenommen. Mit wenigen Ausnahmen hat also der (in den Niederlanden noch nicht einmal) gestiegene Umverteilungsaufwand nicht ausgereicht, um die größere Ungleichheit der Markteinkommen auszugleichen. Versuchen wir ein Zwischenfazit zu der Frage: Wie modifiziert die Europäisierung die Rolle der Nationalstaaten bei der Gewährung sozialer Sicherheit? Welche Kompetenzgewinne und -verluste lassen sich beobachten? Man kann nicht sagen, dass die EU große Kompetenzen an sich gezogen hat, die spürbare Umverteilungen ermöglichen. Zugleich kann man sehen, dass die Mitgliedstaaten, zumindest die der Eurozone, auf der nationalen Ebene geld-, fiskal-, beschäftigungspolitische und damit auch sozialpolitische Handlungsspielräume verloren haben. Selbst wenn man offen lässt, wie 339
viel die Marktintegration im Rahmen der EU zu der beobachtbaren deutlichen Vergrößerung der Ungleichheit der Markteinkommen beigetragen hat, gilt, dass es der Sozialpolitik in den meisten Mitgliedsländern nicht gelungen ist, das Durchschlagen dieser Ungleichheit auf die verfügbaren Einkommen der Haushalte entscheidend zu verhindern. Dabei bleiben die großen Unterschiede erhalten, die zwischen den Mitgliedsländern in Sachen Armut und Einkommensungleichheit bestehen.3 3.2 Divergenz oder Konvergenz? Aus wenigstens zwei Gründen ist diese Nicht-Konvergenz überraschend. Einerseits könnte man erwarten, dass zunehmend integrierte Märkte Druck zum Abbau institutioneller Differenzen erzeugen. Andererseits besteht angesichts von Divergenzen auch die Möglichkeit, dass sich die wirtschaftsund sozialpolitisch weniger erfolgreichen Länder an „Erfolgsmodellen“ orientieren. Wie sieht die sozialpolitische Landschaft innerhalb der EU genauer aus? Die Rolle der EU ist, wie in den Diskussionen über ein „soziales Europa“ oft beklagt wird, begrenzt und als solche in Form des Subsidiaritätsprinzips festgeschrieben (Atkinson 1995). Aus der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung wissen wir, dass wir die EU-Mitgliedsländer als Wohlfahrtsstaaten nach wie vor allen drei von Esping-Andersen (1990) gebildeten Typen zuordnen können und – vor allem nach der letzten Erweiterung – sinnvollerweise noch zwei Typen hinzufügen sollten, einen südeuropäischen und einen postsozialistischen. Der liberale Typ ist mit UK und Irland, der sozialdemokratische mit Schweden, Dänemark und Finnland (nach manchen Vorschlägen auch der Niederlande), der konservative mit den kontinentaleuropäischen Ländern (Österreich, Belgien, Deutschland, Frankreich und Italien) vertreten. Mit der Erweiterung zur EU-15 wandert Italien ab zum südeuropäischen Typ, zusammen mit Portugal, Griechenland, Spanien (in der geld- und fiskalpolitischen Klassifikation heißen die vier Länder neuerdings „the PIGS“, weil sie gravierende Probleme mit der Einhaltung der Maastricht-Kriterien haben); mit der Erweiterung zur EU-27 kommt der postsozi-
3
Die D90/10-Verhältnisse, die angeben, um das Wievielfache das Einkommen der obersten 10% das der untersten 10% übersteigt, variieren zwischen 4,5 (UK) und 2,8 (DK, NL, S); die Armutsquoten zwischen 14,1% (Spanien) und 4,9% (NL) (LIS, Key Figures).
340
alistische Typ hinzu (Fuchs/Offe 2007).4 Angesichts des Drucks auf tradierte Institutionen durch die Marktintegration, angesichts der Kompetenzverteilung zwischen nationalstaatlicher und EU-Ebene und eingedenk von TINA – als dominantem Politikkonzept nach der Ära Delors – stellt sich die Frage, wie sich diese Typenvielfalt bislang erhalten konnte. Wenn man den üblichen Erklärungen folgt – ohne hier auf Feinheiten wie „path dependency“ etc. einzugehen –, liegt das daran, dass politische und kulturelle Traditionen zu unterschiedlichen, relativ stabilen wirtschafts- und sozialpolitischen Prioritäten führen. Beispielhaft lässt sich das mit dem von Iversen und Wren (1998) behaupteten Ziel-Trilemma für die Sozialpolitik in postindustriellen Gesellschaften illustrieren (Abbildung 4): Abbildung 4:
Das Trilemma der Dienstleistungsökonomie Budgetausgleich
liberal
konservativ
hohe Beschäftigung
Einkommensgleichheit sozialdemokratisch
Die Trilemma-These besagt: Auch wenn alle reichen Länder sich im gleichen Grundprozess, hier der Tertiarisierung, entwickeln, reagieren sie darauf unterschiedlich. Von den drei wirtschaftspolitischen Zielen lassen sich im4
Da es hier um lang- beziehungsweise mittelfristige Entwicklungen geht, lasse ich die in der letzten Erweiterungsrunde beigetretenen Länder außer Betracht.
341
mer nur zwei verwirklichen. Welches Ziel hintangestellt wird, hängt von den tradierten, in den Wohlfahrtsstaatstypen institutionell verankerten Präferenzen ab. Ich will hier nicht die Angemessenheit dieser Schematisierung behaupten. Sie soll nur illustrieren, dass es Ordnungs- und Erklärungsvorschläge für die in der EU vorfindbare sozialstaatliche Vielfalt und die damit kombinierten, sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Erfolge gibt. Gegen die ursprüngliche Trilemma-These spricht im Rückblick: Viele Länder bringen es noch nicht einmal bei einem der drei Hauptziele auf ein akzeptables Niveau; bei anderen scheint kein Trilemma zu existieren. So erreichen die nordischen Länder seit mehr als zehn Jahren alle drei Ziele in einem beneidenswerten Ausmaß. Wenn wir die Trilemma-These auf eine Klassifikation mit vier Wohlfahrtstypen beziehen, können wir beobachten, dass gemessen an den drei Zielen die liberalen Wohlfahrtsstaaten hohe Beschäftigung und (in den USA zumindest vor Bush junior) Haushaltsdisziplin realisieren konnten und die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten zusätzlich bei der Erhaltung von Einkommensgleichheit erfolgreich waren. Demgegenüber dominiert das Beschäftigungsproblem bei den konservativen Wohlfahrtsstaaten, mit immer deutlicheren negativen Konsequenzen für die Einkommensgleichheit und zum Teil auch für den Haushaltsausgleich. Die südeuropäischen Länder haben die größten Schwierigkeiten mit allen drei Zielen. Warum ist das so? Ökonomen führen, sobald es um Sozialpolitik geht, gern als Erklärung das im neoklassischen Theorierahmen zwangsläufige Dilemma von Equity versus Efficiency an (Okun 1975; bezogen auf die EU vgl. Berthold/Brunner 2008). Demnach lässt sich mehr Gleichheit nur unter Effizienzeinbußen verwirklichen und umgekehrt. Jenseits der Theorie, im Hinblick auf die empirisch beobachtbare Verwirklichung dieser beiden Ziele, lassen sich die EU-Länder grob wie folgt ordnen (Sapir 2005): Efficiency Equity
niedrig
hoch
niedrig
südeuropäisch
angelsächsisch
hoch
kontinental
nordisch
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Auch hier sehen wir also, und darauf kommt es mir vor allem an, Vielfalt innerhalb der EU, aber zugleich einen eindeutigen Siegertyp: Die nordischen Länder (man müsste hier die Niederlande dazu zählen) scheinen nicht nur das Iversen-Wren-Trilemma, sondern auch den neoklassischen Trade-off zwischen Gleichheit und Effizienz vermeiden zu können. Die fortdauernde Divergenz zwischen den Ländern signalisiert, dass ein häufig angeführter Faktor für Konvergenz anscheinend nicht so wirkungsmächtig ist, wie häufig angenommen. Offenbar können sich die EU-Mitgliedstaaten – zumindest zum Teil und bisher – dem von der Marktintegration ausgehenden Druck in Richtung institutionelle Angleichung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner eines residualen Wohlfahrtsstaats entziehen. Wenn das so ist, wieso gibt es dann keine Konvergenz in die – eher entgegengesetzte – Richtung, hin zu den erfolgreichen nordischen Ländern? Wem es im Rest der EU im Sinne evidenzbasierter Sozialpolitik in der Tat um die Verwirklichung von sowohl mehr Effizienz als auch mehr Gleichheit geht oder um Auswege aus dem skizzierten Trilemma der Dienstleistungsökonomie – und warum sollen wir nicht alles wollen? –, der müsste die nordischen Länder als Modell für einen institutionellen Umbau wählen. Man kann sich auch – bei aller Zurückhaltung in Sachen Machbarkeit von „institutional design“ – Schrittkombinationen auf der jeweils nationalen und der EU-Ebene in Richtung „sozialdemokratische Angebotspolitik“ (Boix 1998) vorstellen und etwa die Lissabon-Strategie in diesem Sinne interpretieren. Aber die Möglichkeit einer bewusst herbeigeführten Konvergenz in Richtung sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat im nordischen Sinn ist in den meisten EU-Ländern nicht einmal Thema der öffentlichen Diskussion, selbst wenn Parteien, die Mitglied in der Sozialistischen Internationale sind, an der Regierung (beteiligt) sind. Vielmehr dominiert bezogen auf nordisch-sozialdemokratische Sozialpolitik ein massenmedial stark gestützter Unmöglichkeitsdiskurs, in dem seit Jahrzehnten immer wieder der Tod des „Schwedischen Modells“ ausgerufen wird (Lindbeck 1995). Tatsächlich stirbt weder das schwedische Modell noch lässt sich empirisch ein Verschwinden der Regimeunterschiede in Europa beobachten (Lindbom/Rothstein 2004; Aiginger 2004). Vielleicht lässt sich die Akzeptanz und damit das Beharrungsvermögen auch der mit weniger wirtschafts- und sozialpolitischen Erfolgen assoziierten nationalstaatlichen Institutionensysteme wie folgt erklären: Die EUEbene hat zwar über allgemein verbindliche Regulierung hinaus nur be343
grenzten Einfluss, den sie aber nach Kräften zur Förderung von Marktintegration und Liberalisierung nutzt. Daran entzünden sich Konflikte auf der Ebene der Nationalstaaten. Man ist entweder für oder gegen Deregulierung, Privatisierung, Flexibilisierung und neoliberal inspirierte Reformen. Diese Konflikte dominieren die jeweiligen politischen Auseinandersetzungen und fixieren die beteiligten Akteure in einer binären Schematisierung: Erhalten der tradierten Institutionen versus neoliberale Reformen. Für einen auch nur programmatischen Ausweg in Richtung nordisch-sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat scheinen die in einer solchen binären Weltsicht Befangenen noch nicht einmal einen gedanklichen Platz übrig zu haben. Was bewirkt also die Europäisierung in der Sozialpolitik? Bisher bewirkt sie trotz modifizierter Kompetenzverteilung und trotz „open method of coordination“ jedenfalls keine Angleichung, vor allem nicht, wenn man die wirtschafts- und sozialpolitischen Outputs (Wachstum, Produktivitätsentwicklung, Beschäftigung, Einkommensungleichheit, Armut) vergleicht. Der Haupteffekt scheint mir eher eine jeweils nationalstaatsinterne Polarisierung zwischen den Konservierern dort jeweils tradierter Institutionen und EU-gestützten, marktliberalen Reformierern zu sein. Diese Polarisierung bedingt eine Verarmung sozialpolitischer Optionen.5 4
Entsteht mit dem Mehrebenensystem/Vielstaatengebilde der EU eine neue Adresse für die Gewährleistung sozialer Sicherheit?
Angesichts der Frage nach der tatsächlichen und möglichen Rolle der EUEbene bei der Gewährleistung sozialer Sicherheit wird immer wieder deutlich, dass die EU vor allem ein Projekt der Marktintegration war und ist, auch wenn bei den Gründern der Gedanke einer Instrumentalisierung der Marktintegration zur Herstellung eines dauerhaften Friedens in Europa dominiert hat und geopolitische Gesichtspunkte die jüngsten und die lau5
Alternativ zu der hier vorgeschlagenen Klassifizierung der EU-Länder nach Wohlfahrtsstaatstypen lassen sie sich auch nach ihrer Größe in Anknüpfung an Katzenstein (1985) ordnen. Denn nicht nur sind die erfolgreichen EU-Länder, zu denen man neben den nordischen Staaten auch Österreich und – mit etwas Zurückhaltung – die Niederlande zählen darf, klein, sondern es gibt auch eine interessante Hypothese (Lindert 2003), die deren wirtschafts- und sozialpolitischen Erfolge erklären könnte: In kleinen, offenen Volkswirtschaften sind Politikfehler schmerzhafter und leichter beobachtbar. Deshalb werden sie seltener gemacht.
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fenden Erweiterungsbestrebungen motivieren. Welche Implikationen hat die Einsetzung des Markts als Integrationsmotor für eine sozialpolitische Rolle der EU-Ebene? Einerseits geht es bei dieser Frage um die Möglichkeit einer neuen eigenständigen Rolle, die Nationalstaaten gerade nicht spielen können, andererseits darum, ob und in welchem Ausmaß die EU sozialpolitische Funktionen der Nationalstaaten übernehmen kann. Eine eigenständige Rolle ist leicht vorstellbar im Hinblick auf supranationalen Regelungsbedarf, der einfach aus der Marktintegration entsteht. Probleme, wie zum Beispiel die eines portugiesischen Bauarbeiters, der am Potsdamer Platz für eine schottische Firma arbeitet und einen Unfall hat, entstehen erst durch die Marktintegration und müssen irgendwie kleingearbeitet werden. Welches Recht gilt, wer ist zuständig usw.? Von einer über solche Regulierung hinausgehenden eigenständigen Rolle ist ansonsten abgesehen vom Einsatz der vergleichsweise mager ausgestatteten Struktur- und Regionalfonds in Betonprojekten wenig zu sehen. Dieses sozialstaatliche Defizit mag einerseits daran liegen, dass für viele Unternehmen der europäische Markt gerade ein Weg ist, um sich den nationalstaatlichen Umverteilungszumutungen durch Umsiedlung zu entziehen, andererseits daran, dass die EU-Ebene, gleichsam als Kehrseite des oft beklagten Demokratiedefizits, nicht darauf angewiesen ist, sich über sozialpolitische Umverteilung „Massenloyalität“ zu sichern. Zudem hat die EU-Exekutive offenbar zu wenig Macht, um Sozialpolitik in diesem Sinne zu instrumentalisieren. Warum wird sie ihr nicht gegeben? Aus der oben beschriebenen Typenvielfalt der Wohlfahrtsstaaten in der EU lässt sich ganz formal schlussfolgern, dass eine greifbare sozialpolitische Rolle der EU-Exekutive eine Einigung unter den Mitgliedstaaten voraussetzt, die einige von ihnen dazu zwänge, die EU-Ebene etwas tun zu lassen, was sie als Nationalstaaten nicht tun. Man sieht das Problem: Warum sollen nationale Regierungen der EU-Ebene mehr kostspielige sozialpolitische Kompetenzen einräumen, als sie selbst beanspruchen? Insoweit gemeinsame Schritte eine zwanglose Einigung voraussetzen, kann man solche Schritte nicht erwarten, was bei den bisherigen Entscheidungsmodi auf der Ratsebene bedeutet, dass die sozialpolitische Null-Option die besten Durchsetzungschancen hat. Könnte man auch residuale Wohlfahrtsstaaten zu einer Unterstützung für mehr sozialpolitische Kompetenz auf der EU-Ebene motivieren, wenn es klare, gemeinsame sozialpolitische Ziele und Einigkeit darüber gäbe, was 345
die erforderlichen Mittel sind? Wir haben schon gesehen, dass der vorzeigbare, dauerhafte Erfolg des „nordischen Modells“ eigentlich Nachahmung provozieren müsste. Was die empirischen Befunde angeht, gibt es kaum einen Zweifel daran, dass die nordischen Länder mit ihren sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten bei allen möglichen Vergleichen (hinsichtlich Ungleichheit, Armut, Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Stagnation, Bildung usw.) am besten abschneiden. Warum kann man also nicht das, was die Politik in diesen Ländern offenbar richtig macht, auch von Brüssel aus tun oder fördern? Ob man das kann, hängt zuvörderst von einer Diagnose ab: Was macht die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten so erfolgreich? Lassen sich diese Erfolgsbedingungen auf andere Länder übertragen? Sodann geht es um Interessenlagen: Wer gewinnt, wer verliert bei einem möglichen Übergang aus andern Wohlfahrtsregimen zur sozialdemokratischen Variante? Ich komme auf das Problem, die wirtschafts- und sozialpolitischen Erfolge der nordischen Länder zu erklären, sofort zurück, möchte aber zuvor noch einmal unterstreichen, was uns das Beispiel dieser Länder lehren kann: Es ist im gegebenen Rahmen der EU nach wie vor möglich, anspruchsvolle sozialpolitische Ziele zu verwirklichen, ohne auf ebenso anspruchsvolle wirtschaftspolitische Ziele zu verzichten. Damit sind die Erfolgsbedingungen nicht geklärt, aber zumindest gibt es einen starken Hinweis darauf, dass es umgekehrt falsch ist, den jeweiligen und häufigen Misserfolg nationalstaatlicher Politik auf die EU oder die hinter deren Horizont aufscheinende Globalisierung als Sündenböcke zu schieben. Es stellen sich drei Fragen, für die ich lediglich Antwortrichtungen angeben kann: 1. 2. 3.
Was sind die Erfolgsbedingungen der nordischen Länder? Warum üben diese Erfolge keine Sogwirkung auf den Rest der EU aus? Besteht das Risiko, dass die weiter gehende Marktintegration die Bedingungen der Möglichkeit des nordischen Modells zerstört?
Ad 1. Die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten operieren als Komponenten einer wirtschaftspolitischen Strategie, die man als sozialdemokratische Angebotspolitik beschreiben kann (Boix 1998). Im Gegensatz zur konservativen Angebotspolitik, die den Rückzug des Staats zugunsten der Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Unternehmen anzielt, setzt die sozial346
demokratische Angebotspolitik darauf, dass sich hohe öffentliche Investitionen in Innovation, Forschung und Bildung, in Kommunikationstechnologien, Gesundheit und Infrastruktur auch für die Unternehmen auszahlen und damit langfristiges Wachstum ermöglichen (Aiginger 2004). Die Unternehmen werden vergleichsweise wenig durch direkte Steuern belastet (Lindert 2003). Die aufwändige Sozialpolitik, charakterisiert durch einen hohen Anteil von Dienstleistungen und einen entsprechend hohen Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Sektor (OECD 2008), wird durch Besteuerung der Masseneinkommen finanziert. Insgesamt zeigen die Vergleiche, dass die unter dem Etikett „Reform“ von internationalen Organisationen eingeforderten Deregulierungen im Sinne einer Angleichung von Institutionen auf dem Niveau der liberalen Default-Option für wirtschaftlichen Erfolg nicht sehr wichtig sind (Aiginger 2004; Lindert/Allard 2006). Das heißt nicht, dass traditionell nachfrageorientierte Fiskal- und Konjunkturpolitik der neoliberalen Angebotspolitik überlegen ist. Makroökonomische Politik im nationalstaatlichen Rahmen kann unter den Bedingungen offener Märkte nicht mehr die im klassischen Keynesianismus vorgesehene positive Rolle spielen. Umgekehrt bedeutet das aber nicht, dass man nicht – wie die häufig stramm prozyklische Fiskalpolitik in Deutschland gezeigt hat – schwere Politikfehler auf diesem Gebiet machen kann. Ad 2. Von den nordischen Erfolgen geht einerseits keine Sogwirkung aus, weil sich bei den relevanten politischen Akteuren offenbar Ignoranz mit kognitiver Verarmung paart. Die neoklassische Lehre von den Segnungen der reinen Marktwirtschaft hat sich in der Anleitung der Wirtschaftspolitik so weit durchgesetzt, dass Alternativen gar nicht mehr in den Blick kommen. Hinzu kommen andererseits starke Interessen am Status quo, die gegen „nordische“ Lösungen mit ihrer Kombination aus hohem Steuer-, Umverteilungs- und Koordinationsaufwand zu sprechen scheinen. Auch abgesehen von eher ideologisch motivierten Abneigungen gegen eine größere Rolle des Staats und eine größere Gemeinwohlorientierung insgesamt kann man jedoch die praktischen Schwierigkeiten kaum übersehen, denen eine Strategie der EU-weiten Skandinavisierung begegnen muss. Institutionen bilden Systeme und lassen sich als solche nicht einfach kopieren. Braucht man zum Beispiel das Gent-System der Arbeitslosenversicherung (Leonardi 2006), um starke Gewerkschaften zu ermöglichen, die wiederum eine tragende Rolle bei der Aushandlung nachhaltiger makroökonomischer Politik 347
spielen? Eine Strategie der „Skandinavisierung“ müsste auf langfristige systemische Übergänge setzen; sie ließe sich wegen institutioneller Komplementaritäten sicher nicht durch Ad-hoc-Übertragung einzelner Institutionen realisieren. Ad 3. Ob „Skandinavisierung“ eine realistische Reformoption in der EU sein kann, hängt nicht nur davon ab, ob sich entsprechende Strategien konstruieren und umsetzen lassen, sondern auch davon, ob die sozial- und wirtschaftspolitisch attraktiven Eigenarten der nordischen Länder überhaupt erhalten bleiben. Ist nicht der Druck zur Angleichung in Richtung liberales Regime im Rahmen der Marktintegration auf Dauer zu groß? Die Frage lässt sich umformen: Gilt für Europäisierung eine Analogie zu Rodriks Globalisierungstrilemma (Rodrik 2002)? Abbildung 5:
Globalisierungstrilemma (nach Rodrik 2002) deep integration
golden straitjacket
global federalism
national sovereignty
democratic politics Bretton Woods
Rodrik behauptet damit, dass tiefere wirtschaftliche Integration nur entweder auf Kosten nationalstaatlicher Souveränität oder auf Kosten demokratischer Politik zu haben ist, wobei der gegenwärtige Globalisierungsprozess
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die Regierungen in ein „golden straitjacket“ der Anpassung an Markterfordernisse zwängt. Analog geht die Integrationsdynamik der EU von der Wirtschaft aus, wobei Nationalstaaten das unter Bedingungen der fortschreitenden Marktintegration jeweils noch mögliche Ausmaß an Souveränität je nach Interessenlage mehr oder weniger zäh verteidigen. Nach innen, gegenüber ihren Bevölkerungen, spielen sie „Mediator“ angesichts der „Sachzwänge“, die sich aus der Marktintegration ergeben und die sie auf der EU-Ebene mit artikuliert haben. Diese Mediatoren-Rolle lässt sich bisher noch unterschiedlich füllen. Je nach dominanter sozialpolitischer Tradition finden wir Thatchers TINA oder rot-grüne Hartz-Reformen, dänische oder niederländische Flexicurity-Ansätze oder Besitzstandswahrung in den Ruinen des Male-breadwinner-Modells. Das heißt, bisher erlaubt das Ausmaß der Wirtschaftsintegration noch eine sozialpolitische Vielfalt, die demokratische Politik innerhalb der Nationalstaaten in unterschiedliche Optionen übersetzen kann – oder könnte: Lassen wir uns von der Bewegung für die „Neue Soziale Marktwirtschaft“ überzeugen, dann wählen wir das liberale Modell, den residualen Wohlfahrtsstaat. Finden wir, dass die mit einer – aus nationalstaatlicher Perspektive gesehen – weiteren Marktöffnung verbundenen Risiken sozialstaatlich kompensiert werden sollen, dann optieren wir für das sozialdemokratische Modell. Sehen wir schließlich kein Heil jenseits der verbliebenen Nischen von Stabilität, dann optieren wir für Besitzstandswahrung. Aus Rodriks Trilemma ergibt sich jedenfalls die These, dass weitere Integration der Märkte zu immer mehr Angleichungsdruck auf den nach nationalstaatlichen Traditionen unterschiedlich gestalteten institutionellen Rahmen der Wirtschaften führt. Die Begründung ist einfach: Institutionelle Differenzen, angefangen bei der Sprache als Basisinstitution, erhöhen die mit transnationalen wirtschaftlichen Aktivitäten anfallenden Transaktionskosten. Gewinnmaximierung bedeutet, dass alle Möglichkeiten der Kostensenkung genutzt werden. „An ever closer union“ bedeutet im Hinblick auf institutionelle Differenzen, dass sie zur Senkung der Transaktionskosten wo immer möglich abgebaut werden. Aber es sind eben diese Differenzen, denen wir noch die Möglichkeit umfassender Sozialpolitik verdanken. Im Rodrik-Trilemma bleibt rein mechanisch die Option des globalen Föderalismus mit einer Kombination von deep integration und democratic politics offen. Auf den europäischen Rahmen übertragen müsste man auf die Möglichkeit einer Revitalisierung demokratischer Politik in der „postnationalen Konstel349
lation“ (Habermas 1998) eines EU-Föderalismus setzen. Dem steht entgegen, was an Schwierigkeiten für demokratische Politik in der EU beobachtbar ist. Wenn man die EU im Dreieck Demokratie-Plutokratie-Autokratie verorten müsste, käme eine Platzierung zwischen Pluto- und Auto-, ziemlich weit weg von der Demokratie zustande. Dabei geht es nicht um eine Diagnose, in der die aufrechte demokratische Gesinnung der relevanten Akteure bezweifelt wird, sondern um die Folgen der Architektur und Konstruktion der EU. Die Instrumentalisierung der wirtschaftlichen Integration im Sinne einer Verhinderung von europäischen Kriegen ist gelungen, aber die Bändigung der Kräfte, die durch die wirtschaftliche Integration freigesetzt werden, nicht. Einigermaßen realistisch ist deshalb nicht die Forderung nach mehr föderaler Demokratie in einem „sozialen“ Europa, sondern die Option einer gebremsten und begrenzten Integration, in Analogie zum vor der Schwelle einer Integration der Kapitalmärkte verbliebenen Bretton-Woods-System. Immer tiefere wirtschaftliche Integration muss nicht sein. Dabei kommen natürlich normative Gesichtspunkte ins Spiel. Wer realistisch bleiben und trotzdem ein „soziales“ Europa will, muss primär versuchen, die in den Mitgliedsländern der EU noch bestehenden Spielräume für Sozial-, Fiskalund Arbeitsmarktpolitik zu erhalten, so dass auch in den nicht-nordischen Staaten die Option einer „Skandinavisierung“ wenigstens offen bleibt. 5
Schluss: Impliziert das Projekt EU Gewinne oder Verluste an sozialer Sicherheit?
Wenn man den eben angesprochenen Sicherheits-Aspekt, die Verhinderung von europäischen Kriegen, mit einbezieht, ist die Wohlfahrtsbilanz der EU trotz neuer Balkankriege eindeutig positiv. Wenn man das Problem hingegen enger ökonomisch fasst und nach einer Kombination von höherem, nachhaltigem Wohlstand und höherer materieller Sicherheit für möglichst große Bevölkerungsteile fragt, stellt sich die Frage: „höher“ im Vergleich zu was? Wir können nicht wissen, wie sich die Wirtschaften und sozialen Sicherungssysteme in europäischen Nationalstaaten entwickelt hätten, hätten sie sich nicht in der EWG, EG, EU oder als Euro-Länder zusammengeschlossen. Vergleiche mit den Entwicklungen in den USA und den wenigen anderen, reichen, nicht-europäischen Ländern zeigen, dass die unterschiedlichen Kombinationen von Kapitalismus, Wohlfahrtsstaat und Demokratie in den 350
letzten 30 Jahren auf eine relativ klare Alternative hinauslaufen (Hicks/ Kenworthy 2002). Auf dem Weg in die postindustrielle Gesellschaft erscheinen die konservativen und südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten zunehmend unfähig, anspruchsvolle wirtschafts- und sozialpolitische Ziele, zum Beispiel das Lissabon-Dreieck von sozialer Kohäsion, nachhaltigem Wachstum und mehr und besseren Arbeitsplätzen, zu verwirklichen. Wie viel soziale Sicherheit in der EU künftig gewährleistet wird, hängt also davon ab, wie die sich allmählich immer deutlicher aufdrängende Wahl zwischen liberalen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimen ausfällt. Da dabei neben Interessen normative Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle spielen, kommt das sozialwissenschaftliche Verfahren, durch Vergleiche Handlungsoptionen und ihre Konsequenzen sichtbar zu machen, an sein Ende. Die Vergleiche erlauben lediglich, die eigenen, nahe liegenden, in vieler Hinsicht problembelasteten, sozialen Verhältnisse im Lichte anderer Möglichkeiten zu beobachten. Das ist eine kognitive Funktion der Soziologie, die für sich nicht ausreicht, um normativ getönte Handlungsempfehlungen für gute Europäer abzuleiten. Literatur Aiginger, Karl, Alois Guger, Thomas Leoni und Ewald Walterskirchen, 2007: Reform Perspectives on Welfare State Models in Global Capitalism, WIFO working paper 303, Wien. Alber, Jens, 2006: Das ‚europäische Sozialmodell‘ und die USA, Leviathan 34 (2): 208-241. Atkinson, Anthony Barnes, 1995: Towards a European safety net? S. 277-289 in: Ders.: Incomes and the Welfare State. Essays on Britain and Europe. Cambridge: Cambridge University Press. Berthold, Norbert und Alexander B. Brunner, 2008: The Struggle between Equity and Efficiency: Evidence from the Luxembourg Income Study, LIS Working Paper 489. Boix, Charles, 1998: Political Parties, Growth and Equality. Conservative and Social Democratic Economic Strategies in the World Economy. Cambridge: Cambridge University Press. Esping-Andersen, Gøsta, 1990: The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge: Cambridge University Press. Glyn, Andrew, 2006: Capitalism Unleashed. Finance, Globalization, and Welfare. Oxford: Oxford University Press. Habermas, Jürgen, 1998: Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie. Rede vor dem „Kulturforum der Sozialdemokratie“, Berlin (www.fes-onlineakademie.de). Hicks, Alexander und Lane Kenworthy, 2002: Varieties of Welfare Capitalism, LIS Working Paper 316.
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Vom Nationalstaat lernen? Möglichkeiten und Grenzen von Analogiebildungen zwischen nationaler und europäischer Sozialpolitikentwicklung1 Monika Eigmüller
1
Einleitung
Die voranschreitende politische und ökonomische Integration Europas zeitigt zunehmenden Einfluss auch auf ihre Gesellschaften und wird damit zum Gegenstand soziologischer Analysen. Dabei geht es der Soziologie insbesondere um Fragen der gesellschaftlichen Integration beziehungsweise um die für die Gesellschaften wesentlichen Implikationen aus diesem politischen und wirtschaftlichen Zusammenwachsen unterschiedlicher nationaler Gesellschaften. Die Frage, die sich dabei vor allem stellt, ist, ob es sich bei der EU nach wie vor um eine „Verflechtungsgemeinschaft von Nationalstaaten“ (Hrbek 1989) handelt, die EU also nach wie vor vornehmlich in Nationalgesellschaften organisiert und der europäische Integrationsprozess ein bloß politischer beziehungsweise ökonomischer ohne wirklich tief greifende Folgen für die nationalen Gesellschaften sei, oder ob und in welchem Maße die nationalen Gesellschaften bereits im Auflösen begriffen sind und in einer europäischen Gesellschaft aufgehen. Verlieren die Nationalstaaten im Zuge voranschreitender Integration bereits an Einfluss und damit an Bindungskraft und tritt an ihre Stelle langfristig ein europäischer Staat beziehungswei-
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Der Aufsatz basiert auf einem Antrag für ein Forschungsprojekt, das seit Juni 2008 mit einem Schumpeter-Fellowship der VW-Stiftung gefördert wird. Ich danke insbesondere Georg Vobruba und Steffen Mau für viele hilfreiche und weiter führende Kommentare und Anmerkungen.
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se eine neue politische Form, die diese europäische Gesellschaft organisieren würde? Im Wesentlichen konzentriert sich die Diskussion also auf die Frage, wie und wodurch Gesellschaft in Europa heute strukturiert wird, von welchen Institutionen welche Bindungskräfte ausgehen, wo heute gesellschaftliche Zusammenhänge entstehen und wodurch diese organisiert werden; kurz also die Frage, ob die Europäische Union einen neuen Sozialraum bildet, der den Nationalstaat ablöst beziehungsweise neben ihm besteht.2 Interessanterweise eint dabei viele der vorliegenden Analysen die mehr oder weniger explizite Bezugnahme auf Erfahrungswerte nationalstaatlicher Gesellschafts- und Gemeinschaftsbildung; das heißt, zur Bewertung gegenwärtiger Entwicklungstendenzen europäischer Gesellschaftsbildung wird nach den entsprechenden Gegebenheiten in den Nationalstaaten gefragt, um diese dann mit der Situation in der EU zu vergleichen.3 Indem allerdings der Nationalstaat per se zur quasi „natürlichen“ Einheit der Untersuchungen gemacht wird, wird systematisch der analytische Blick auf die Konstitutionsbedingungen und Voraussetzungen dieser Herausbildungsprozesse verstellt. Am Beispiel der Diskussion um die Perspektiven der Herausbildung einer europäischen Sozialpolitik möchte ich dies im Folgenden kurz problematisieren, um anschließend zu zeigen, welches Potential dennoch in einer historisch-soziologischen Studie gerade für die Analyse des europäischen Integrationsprozesses liegen kann, die sich allerdings aus der Umklammerung des „methodologischen Nationalismus“ befreit hat und den Blick hinter den Nationalstaat richtet. Schließlich, so die These dieses Aufsatzes, kann so endlich die Frage nach den Bedingungen der Konstituierung eines Sozialraums in Europa auf einer ausreichend empirischen Grundlage tatsächlich sinnvoll bearbeitet werden. Wie ein solches Forschungsdesign aussehen könnte, werde ich am Ende skizzieren. 2
Europäische Sozialpolitik in der Diskussion
Die Herausbildung eines gemeinsamen Sozialraums, so zeigt ein Blick in die Vergangenheit, ist zum einen abhängig von der Verankerung gesellschaftli2 3
Vgl. dazu zum Beispiel Rumford 2002; Delanty/Rumford 2005; Heidenreich 2006; Hettlage/Müller 2006; Münch 2008; Bach 2000, 2008. Vgl. beispielsweise Münch 1993; Münkler 1997; Offe 1998, 2001; Supiot 2003.
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cher Zusammenhänge in einem territorial eindeutig definierten und nach außen abgegrenzten Handlungsrahmen, zum anderen von der Integration im Innern. Mit Gründung der Europäischen Union hat sich Europa einen solchen eindeutig definierten Handlungsrahmen geschaffen, der, wenngleich in seiner territorialen Erstreckung nach wie vor umstritten4, in seinem Geltungsbereich doch klar definiert ist. Ob dieser „institutionalisierte Herrschaftsverband“ (Lepsius 2006: 111) jedoch auch die Integration in seinem Innern voranbringt, sich also zum Bezugsobjekt europäischer Identitätsbildung zu entwickeln vermag, ist nach wie vor strittig (vgl. Münkler 1997; Lepsius 2003). Die Erfahrungen mit nationalen Integrationsprozessen zeigen, dass eine solche Integration neben der Entwicklung gemeinsamer Wertvorstellungen und dem Anerkenntnis vorgegebener Herrschaftsstrukturen vor allem die Herausbildung gemeinsam verbindlicher Institutionen wie etwa einer Verfassung und anderer rechtlicher Regelwerke voraussetzt. Zudem ist es vor allem die Verminderung interner Disparitäten, die die Integration im Innern ermöglicht. In der Europäischen Union findet dies auf unterschiedlichen Ebenen statt, angefangen bei gemeinsamen rechtlichen Regelwerken wie dem acquis communautaire, der Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof sowie schließlich durch die Instrumente der Struktur- und Kohäsionsfonds, die eine Angleichung der Lebensverhältnisse innerhalb der Europäischen Union zum Ziel haben. Allerdings sind die Kompetenzen der Europäischen Union auf diese einerseits regulativen Mechanismen und andererseits regional begrenzte Transfers zur Bewältigung sozialer Ungleichheiten beschränkt. Die Entwicklung eines europäischen Instrumentariums zur Verminderung individueller sozialer Unterschiede, also eines europäischen Wohlfahrtsstaats, scheint zumindest zur Zeit noch unrealistisch. Die Argumentationen gehen hierbei in zwei unterschiedliche Richtungen: Zum einen geht es um die Frage nach den für die Ausbildung einer europäischen Sozialpolitik notwendigen institutionellen Strukturen, zum anderen um die Frage nach der hierfür erforderlichen sozialen Kohäsion der Bürgerinnen und Bürger Europas.
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Wie etwa die Debatte um den Türkei-Beitritt der EU deutlich belegt (für einen Überblick vgl. Madeker 2008).
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In institutionalistischer Perspektive werden von den Skeptikern einer europäischen Sozialpolitik vor allem drei Argumente angeführt: Erstens existiert nach wie vor kein ausgebautes europäisches Sozialrecht, welches individuelle Leistungsansprüche gegenüber der EU verleiht. Zweitens erhebt die EU keine direkten Steuern beziehungsweise Beiträge, aus denen sich solche Ansprüche finanzieren ließen. Und drittens gibt es ebenso wenig eine europäische Wohlfahrtsbürokratie, die solche Ansprüche verwalten würde (vgl. insbesondere Streeck 1998; Scharpf 1999; der Überblick stammt von Leibfried/Pierson 1998: 58). Dem entgegen verweisen insbesondere Leibfried und Pierson (1998) auf die entscheidende Rolle, die der EuGH in der Entwicklung einer europäischen Sozialpolitik spielte und spielt; so wurde in der Vergangenheit durch seine Rechtsprechung bereits das Territorialprinzip des nationalen Wohlfahrtsstaats außer Kraft gesetzt, so dass nun bestimmte Leistungen auch jenseits der Staatsgrenzen bezogen werden können und zudem das soziale Leistungsrecht nicht mehr zwischen Inländern und im Land lebenden EU-Ausländern unterscheiden darf. Durch seine Rechtsprechung hat der EuGH letztlich einen gemeinsamen Sozialrechtsraum, eine „single social area“ (Threlfall 2003) geschaffen, innerhalb derer „die Sozialstaatsbürger die EU als einen nahezu grenzenlosen und zusammenhängenden Sozialrechtsraum erfahren können“ (Lamping 2008: 605). Einhergehend mit dieser neuen, einerseits räumlichen, andererseits mitgliedschaftlichen Dimension wohlfahrtsstaatlicher Politik entsteht schließlich, so Leibfried und Pierson, ein einzigartiges Mehrebenensystem, das zum einen eng an das Bemühen um die Schaffung eines gemeinsamen Marktes gebunden ist und zum anderen wesentlich durch die herausragende Rolle des EuGH vorangebracht wird. Und auch die EU-Kommission, von beiden damals noch zu Recht als „hohler Kern“ bezeichnet, hat ihre Kompetenzen in den vergangenen Jahren beträchtlich ausweiten können, wie etwa die Entwicklungen im Arbeits- und Gesundheitsschutz deutlich belegen. Bleibt die Tatsache, dass an die EU nach wie vor keine individuellen sozialen Ansprüche gerichtet werden können und damit das, was die Sozialpolitik einem engen Verständnis nach vor allem auszeichnet, für die EU nach wie vor nicht gegeben ist. Entlang der Frage, ob dies zukünftig möglich sein wird, entspinnt sich die zweite wesentliche Diskussion, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde. Die zentrale Frage ist hier, ob und unter welchen Bedingungen sich die Europäische Union als postnationale Alternative wohlfahrtsstaatlicher Politik 356
entwickeln kann – und das heißt, nicht nur wie bislang lediglich die Bereitstellung gleicher Rahmenbedingungen zur Lösung umfassender sozialpolitischer Problemlagen zu gewährleisten, sondern eben auch Adressat spezifischer individueller Probleme zu werden. In der Diskussion hierüber wird von der einen Seite auf die bislang erreichten sozialpolitischen Kompetenzen der EU verwiesen und auf das darin liegende Potential zur weiteren Supranationalisierung der Sozialpolitik (vgl. Falkner 1999, 2000; Leibfried 2000). Die Gegenposition bestreitet, dass ein solcher Weg gangbar oder auch nur wahrscheinlich ist. Neben dem Verweis auf die wesentliche Rolle des Staates bei der Organisierung und Lösung sozialer Konflikte (Offe 2001) wird hier vor allem bezweifelt, dass die europäischen Instanzen tatsächlich Adressaten von sozialpolitischen Ansprüchen sind beziehungsweise werden könnten, da die Solidaritätsleistungen, die durch den Wohlfahrtsstaat erbracht werden, noch immer eng an Vorstellungen kollektiver Zugehörigkeit gebunden sind (vgl. Mau 2005). Diese „umverteilungsfeste Identität“ (Vobruba 2001: 115ff.), so die Skeptiker, ist auf europäischer Ebene aber nach wie vor nicht vorhanden: Da der Europäischen Union die notwendigen Voraussetzungen wie eine gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte fehlten, sei auch zukünftig die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Identität und Solidarität – und damit die notwendige Grundlage zur Entwicklung europäischer Sozialpolitik – ausgeschlossen (vgl. Münch 1993: 182; Offe 1998). Schließlich seien „Europas Staaten (…) ‚zu alt‘, mit zuviel Geschichte befrachtet und zu stolz auf ihre je spezifischen Errungenschaften, um als plausible Kandidaten für eine Fusion in Betracht zu kommen“ (Offe 2001: 433). Es wird zwar nachdrücklich auf die Bedeutung der Entwicklung sozialpolitischer Instrumentarien und Institutionen für das Integrationsprojekt der europäischen Gesellschaft verwiesen; Sozialpolitik gilt hiernach als wesentliche Voraussetzung zur Integration und Stabilisierung von Gesellschaft. Zugleich gilt aber gerade die Sozialpolitik in ihrer Einrichtung als äußerst voraussetzungsvoll: So braucht es eine klar definierte Gemeinschaft, die auf gegenseitigem Vertrauen basiert und die Grundlage einer umverteilungsfesten Solidarität unter den Mitgliedern dieser Gemeinschaft bildet (vgl. Mau 2008). Sozialpolitik gilt somit in der Diskussion sowohl als Ergebnis wie auch als Voraussetzung erfolgreicher Gesellschaftsbildung. Interessant an dieser Argumentation ist zweierlei: zum einen, dass mit Kategorien argumentiert wird, deren Zusammenhang mit der Entstehung von Sozialpolitik unterstellt, jedoch nicht belegt wird; und zum anderen, 357
dass in der Diskussion um die europäische Sozialpolitik die These, wonach die Institutionenbildung der Bewusstseinsbildung voransteht (Lepsius 1990), negiert und das Verhältnis umgedreht wird. Aber sind denn tatsächlich die Herausbildung einer gemeinsamen Identität, Solidarität und das Entstehen einer „gefühlten“ Gemeinschaft Voraussetzungen für die Errichtung einer redistributiven europäischen Sozialpolitik und müssen der Institutionenbildung voranstehen? Vor allem der Blick auf die historische Entwicklung von nationalstaatlicher Sozialpolitik lässt an einem einseitigen Zusammenhang zwischen diesen Kategorien und der Entstehung von Sozialpolitik begründete Zweifel aufkommen, so dass sich die Frage eher andersherum stellen lässt: Sind es nicht vielmehr die Institutionen, die das Bewusstsein der Gesellschaft formen und so zur Entstehung ebensolcher Kategorien beitragen können (vgl. Lepsius 1990, 2006)? 3
Das Forschungsprogramm: Historische Soziologie
Tatsächlich können solche Fragen recht fruchtbar mit den Methoden der historisch-soziologischen Forschung bearbeitet werden. Dabei ist aber zunächst zu klären, was das Programm der historischen Soziologie ausmacht und von welchen Prämissen sie ausgeht, um schließlich zeigen zu können, warum gerade sie dazu geeignet ist, Fragen der Europäischen Integration methodisch und theoretisch fundiert zu bearbeiten. Im Mittelpunkt soziologischen Theorieinteresses stehen Handlungen und Prozesse beziehungsweise die Analyse der Wechselwirkungen zwischen beiden. Letztlich geht es um die Frage, wie aus Handlungen Institutionen entstehen und wie sich Institutionen durch Handlungen verändern. Dies kann sinnvoller Weise nur mit Blick auf die Vergangenheit betrachtet werden. Die historische Soziologie liefert hierzu das methodische Instrumentarium, das es ermöglicht, einen analytischen Blick auf bestimmte Prozesse zu werfen, die sie als die Verbindung zwischen Handlung und Struktur vor dem Hintergrund spezifischer historischer Konstellationen interpretiert (Abrams 1982: 108ff.). Dies kann in unterschiedlicher Weise und vor allem in unterschiedlicher Absicht geschehen (für einen Überblick vgl. Skocpol 1984; Smith 1991). Die zentrale Frage ist dabei wiederum, inwieweit sich historische Analysen zur Übertragung auf gegenwärtige Tendenzen und zur Analyse gegenwärtiger 358
Problemlagen nutzen lassen, kurz: ob und in welcher Weise also Analogiebildungen möglich und sinnvoll sind. Dabei gilt zunächst, dass Ereignisse per se singulär sind. Begreifen wir ein Ereignis allerdings als den spezifischen Moment des Aufeinandertreffens von Handlung und Struktur und stellen eine Untersuchung dieser jeweiligen Kontextbedingungen von Ereignissen in den Vordergrund der Untersuchung, können wir hieraus entscheidende Informationen gewinnen, wie etwa folgendes Beispiel veranschaulicht: 1839 kommt es in Preußen zur Verabschiedung eines Gesetzes, das Kinderarbeit verbietet. Die Schäden, die die bisweilen recht schwere körperliche Arbeit bei den Kindern anrichtete, waren auch vorher bereits gut bekannt und ließen bereits rund 20 Jahre zuvor den preußischen Kultusminister ein Kinderschutzgesetz verfassen. Dennoch kommt es erst im Jahr 1839 zu einem Verbot. Warum? Nicht das reine soziale Problem, das wahrgenommene Elend und die schrecklichen Folgen von Kinderarbeit führten zu diesem Verbot, sondern schlicht die Tatsache, dass dem Staat im Angesicht zunehmender Kriegsbedrohung ein Rückgang der Militärtauglichkeit und damit der Nachschub an Soldaten durch die frühe Vernutzung seines Nachwuchses drohte (vgl. Lampert 1991: 45; Dux 2008: 88). Nicht das soziale Problem der Kinderarbeit führte also zu dieser sozialpolitischen Intervention. Ausschlaggebend war vielmehr ein Rückgang an Wehrtauglichkeit und damit ein militärpolitisches Problem. Kinderarbeit wurde so aufgrund des Interesses des Staates an intakter Wehrkraft zum Gegenstand sozialpolitischer Intervention (vgl. ausführlich Vobruba 1983). Dieses Beispiel zeigt, dass ein umfassendes Verständnis eines Ereignisses die Analyse von Interessen und Intentionen der beteiligten Akteure im Kontext der spezifischen strukturellen Bedingungen voraussetzt. Dann nämlich kann man nach den institutionalisierten Interessen spezifischer Akteure fragen und hieraus das Auftreten von Ereignissen erklären. Die entscheidenden Fragen zielen dann auf den Entstehungszusammenhang, die Motive und die Interessen dieser beteiligten Akteure, auf das Handeln, das durch diese Motive angeleitet wird, sowie auf die gesellschaftlichen, institutionellen und auch außerinstitutionellen Rahmenbedingungen der Handlungen. Übertragen auf unsere Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen historischer Analogiebildungen bedeutet dies also nicht, dass Kinderschutzpolitik im Jahr 2008 als indirekte Kriegstreiberei zu interpretieren ist. Wohl aber lernen wir aus dieser historischen Analyse, die Strukturen, die damals zu einem Verbot von Kinderarbeit geführt haben, in den Blick zu nehmen und vor diesem Hin359
tergrund die beteiligten Akteure in ihren Absichten und Interessen zu analysieren. Es geht uns also letztlich darum, Struktur und Handlung gemeinsam zu denken und in der Spezifikation ihres historischen Aufeinandertreffens zu nutzen, um Analogieschlüsse zur Gegenwart zu ziehen. Dieser Analogiebildung sind freilich Grenzen gesetzt, denn es kann – wie obiges Beispiel verdeutlicht hat – nicht darum gehen, nach analogen Ereignissen zu fragen, sondern nur darum, Strukturen und Handeln als die kontextuellen Bedingungen von Ereignissen in den Blick zu nehmen und so „die spezifisch historische Strukturierung des Handelns aufzudecken, ohne dabei Struktur und Handlung getrennt voneinander zu behandeln“ (Mikl-Horke 1994: 7). 3.1 Die Herausbildung des nationalen Wohlfahrtsstaats: Die historische Verknüpfung von Nationalem und Sozialem Zurückkommend auf die Ausgangsfrage, ob eine europäische Gesellschaftsbildung im Allgemeinen und eine europäische Sozialpolitikentwicklung im Besonderen möglich ist, heißt das zunächst, die Verbindung von Nation und Gesellschaft zu analysieren beziehungsweise nach den Voraussetzungen dieser Verbindung zu fragen. Dabei können wir davon ausgehen, dass die Nation nichts Vorherbestimmtes, sondern vielmehr etwas historisch Gewachsenes, also das Ergebnis eines historischen Prozesses ist; nicht etwa das Sein bestimmt dabei die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, sondern vielmehr das Bewusstsein, geprägt durch politische Absichten, rechtliche Zuordnung und soziale, kulturelle und wirtschaftliche Mobilisierungen.5 Wie anhand unterschiedlicher Nationalisierungsprozesse gezeigt werden kann, liegt der Keim der Nation zunächst in Ideen, in der Vorstellung gemeinsamer Kultur, Geschichte, Religion etc., ohne dass sich daraus allerdings zunächst irgendwelche bestimmten politischen Folgen abgeleitet hätten (vgl. Hobsbawm 1990: 23f.). Diese Ideen wurden allerdings bald von politischen Bewegungen aufgegriffen und fanden in der Formulierung des Nationengedankens alsbald Eingang in den politischen Prozess (vgl. Münkler et al. 1998). Schließlich konnte sich so in den Gesellschaften die Vorstellung der Nation als einer ethnisch und kulturell homogenen Gemeinschaft 5
Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Günter Dux in diesem Band.
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und der Nationalstaat als die natürliche Organisationseinheit eines solch homogenen Gemeinwesens vermehrt durchsetzen.6 Nationen sind also vorgestellte Gemeinschaften (Anderson 2005), Produkte interessengeleiteter und durch verschiedene Akteure geprägter Aushandlungsprozesse.7 Allerdings war es genau dieses Gesellschaftsprojekt artifizieller Gemeinschaftsbildung, das sich seit dem 19. Jahrhundert so erfolgreich durchzusetzen vermochte, dass schließlich „die Nation weithin als die „natürliche“ Form der menschlichen Gemeinschaft überhaupt angesehen wurde“ (Wagner/Zimmermann 2003: 249). Und dies hat Gültigkeit bis heute, wie nicht zuletzt ein Blick in die wissenschaftlichen Diskurse zeigt: Nation und Gesellschaft werden seither untrennbar voneinander gedacht; dies vermochte auch nicht die, zwar immer wieder zitierte, aber dennoch in ihrer Konsequenz nur wenig beachtete kritische Diagnose vom methodologischen Nationalismus (Scholte 1996) zu durchbrechen. Die Tatsache also, dass mit der erfolgreichen Durchsetzung der Idee der Nation Staat und Gesellschaft eine einzigartige Symbiose eingingen, an deren Ende die Vorstellung einer in einem festgeschriebenen Territorium verankerten eindeutig definierten Gemeinschaft stand, führte schließlich dazu, dass auch in der Wissenschaft entscheidende Momente der Gesellschaftsbildung nicht hinterfragt wurden (vgl. Wagner/Zimmermann 2003: 249). Vielmehr, so zeigen bereits die eingangs genannten Beispiele, wurde und wird die nationale Gesellschaft als quasi naturgegeben vorausgesetzt und damit in Zusammenhang stehende Fragen wie etwa die der Mitgliedschaft oder die nach der Entstehung von Solidaritätsbeziehungen zwischen diesen Mitgliedern werden kaum gestellt. Genau diese Frage aber – nach der Beziehung zwischen Nationalem und Sozialen – muss angesichts der aktuellen Krise des Nationalstaats und seiner zunehmend eingeschränkten ökonomischen und sozialpolitischen Hand6
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Vgl. hierzu insbesondere die vergleichenden Studien von Reinhard Bendix 1964; Otto Dann 1978, 1995, 1999; Michael Mann 1990, 1992. Für einen Überblick vgl. Rokkan 1969; Smith 1991. „Vorgestellt“ soll allerdings nicht bedeuten, dass sie nicht real wären. Wirklichkeit und ihre Imagination beschreiben hiernach keine Dichotomie, vielmehr ist die Wirklichkeit einer Gesellschaft zugleich ihre Imagination und umgekehrt. Gerade in einem wesentlichen Moment der Konstruktion der Nation zeigt sich schließlich ihre Wirkungsmacht sehr deutlich: Die Identität einer Nation wird letztlich erst durch die Konstruktion des „Anderen“ fixiert, mit all den Ausschlussmechanismen, die dies mit sich bringt (vgl. Argast 2007: 81; Holz 2000).
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lungsspielräume neu aufgeworfen werden. Wie kam es denn dazu, dass ausgerechnet die Nation den Rahmen für die Organisation sozialer Solidaritäten in Form des nationalen Wohlfahrtsstaats und ökonomischer Funktionszusammenhänge in Form nationaler Ökonomien schuf und nicht andere denkbare – und teilweise bereits erprobte – Handlungsrahmen genutzt wurden?8 Ein Blick auf die Prozesse der Herausbildung nationaler Sozialpolitik beziehungsweise nationaler Wohlfahrtsstaaten im „nordwestlichen Viertel der Welt“ (Wagner 2000: 96) zeigt, dass es infolge der aufkommenden Moderne spätestens mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu gewandelten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Strukturen kam, die zur Herausbildung dieser nationalen Sozialpolitik führten.9 Zunächst war in den bürgerlich-intellektuellen Milieus spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts „die Idee kulturell-linguistischer Identität“ (Wagner 2000: 24), mit fester Verankerung in den gebildeten Schichten, aufgekommen.10 Daneben war die Idee der Arbeiterklasse „parallel zu den Arbeitskämpfen entwickelt worden und gab großen Teilen der arbeitenden Bevölkerung eine soziale Identität. Zusammengenommen ergab sich aus diesen beiden Ideen die Vorstellung eines Nationalstaats als der relevanten Einheit, auf die sich soziales Handeln beziehen sollte, in kohärentem Zusammenhang mit einer nationalen, nach sozialen Klassen strukturierten Gesellschaft“ (ebd.).11 Das diskursive Feld war also lange vorbereitet, aber dennoch vergingen noch
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So existierten bereits etliche nicht-nationale soziale Sicherungsformen, die sich auf räumliche oder auf Interessenhomogenität beruhende soziale Einheiten mit begrenztem Mitgliederkreis wie etwa Regionen oder Gemeinden sowie Berufsgruppen, Betriebe und Verbände bezogen. Vgl. hierzu beispielsweise die ausführlichen Studien von Sachße/Tennstedt 1980; Tennstedt 1981; Ritter 1998; Noiriel 1986; Ewald 1993. Allerdings weist Münkler zu Recht darauf hin, dass diese Nationen, wenngleich sie sich zumeist erst im ausgehenden 19. beziehungsweise beginnenden 20. Jahrhundert zu Nationalstaaten bildeten, ihren Ursprung doch bereits in den diskursiven Praktiken des späten Mittelalters und in der frühen Neuzeit haben, also in „Diskurse(n), in deren Verlauf sie (die Nationalstaaten; Anm. d. A.) mit Vorstellungen von einer gemeinsamen Vorgeschichte und einer gemeinsamen Zukunft, einer gemeinsamen Sprache und einem gemeinsamen Territorium, einer gemeinsamen Abstammung und – gelegentlich – einer gemeinsamen institutionellen Verfaßtheit, gemeinsamen Sitten und Gebräuchen und gemeinsamen Bezugsgestalten verbunden und umstellt worden sind“ (Münkler 1997a: 123f.). Zum Zusammenhang von Nation und sozialen Klassen und ihrer Funktion für die soziale Organisation moderner Gesellschaften vgl. ausführlich Fine/Chernilo 2003.
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einmal rund 100 Jahre, bis eine umfassende Lösung der sozialen Probleme mit der Einführung der nationalen Sozialpolitik gefunden war. Hierzu kam es erst infolge der mit Industrialisierung und der damit verbundenen Arbeiterfrage aufkommenden gesamtgesellschaftlichen Krise, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich alle industrialisierenden Gesellschaften gegenüber sahen. In ihrer Folge mussten nicht nur Risiken und soziale Problemlagen neu definiert werden, auch der Rahmen, in dem sie gelöst werden sollten, musste neu bestimmt werden. Dass die Wahl nun auf den nationalen Rahmen fiel, hatte auch ökonomische Gründe, denn mit zunehmender Mobilität der Arbeitskräfte gegen Ende des 19. Jahrhunderts erwies sich der bis dahin gültige kommunale Rahmen zur Verwaltung und Lösung entstehender sozialpolitischer Problemlagen als zunehmend ungenügend (Zimmermann 2006). Und schließlich kam es tatsächlich nachhaltig im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg zu einer umfassenden Reorientierung auf die Nation hin (vgl. Didry/Wagner 2000). Im Zuge konzertierter Kriegsanstrengungen wurde die Nation für weite Teile der Bevölkerung erstmals wirklich sichtbar und erlebbar und zugleich zum Bezugsrahmen produktiver Tätigkeit, indem sie „schließlich den Raum (bildete), in dem Arbeitgeber und Lohnarbeiter einander gegenübertreten und ihre Interessenkonflikte regeln (konnten)“ (Wagner/Zimmermann 2003: 251).12 Wenngleich die Ausgestaltung der Lösungswege, die zur Bewältigung dieser neu aufkommenden sozialen Fragen gewählt wurden, in den verschiedenen Nationen jeweils anders aussahen, führten die sich drastisch ändernden gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Strukturen letztlich in allen diesen Ländern zu einer Verknüpfung von Nation, Staat und Lohnarbeit. Zwar können wir davon ausgehen, dass die Herausbildung der Nation als entscheidende Ressource zur Organisierung gesellschaftlicher Interessen nicht von allen beteiligten Akteuren tatsächlich gewollt, vielfach aber immerhin indirekt vorangebracht wurde (vgl. etwa Conze/Groh 1966). Die sich hieraus letztlich ergebende „Reorganisation der Gesellschaft“ kann so als das Ergebnis durchaus konfliktiver Aushandlungsprozesse zwischen 12
Für Großbritannien verweist Titmuss auf die besondere Rolle, die der Zweite Weltkrieg im Ausbau und der Etablierung staatlicher Sozialpolitik spielte; auch hier waren die wesentlichen Sicherungsprogramme bereits bis 1911 entstanden, allerdings kam es vor allem im Zuge des Zweiten Weltkriegs zu einer neuen Gemeinschaftsrhetorik, die insbesondere den Bereich der Sozialpolitik nachhaltig prägte (vgl. Titmuss 1987).
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verschiedenen gesellschaftlichen Kräften interpretiert werden, denen die Reichweite ihrer Reformen allerdings durchaus bewusst war: „Die Befürworter etwa einer verbesserten Armenhilfe oder der Arbeiterunfallversicherung waren sich darüber im klaren, daß die Schaffung neuer kollektiver Institutionen einen größeren Schritt in Richtung auf eine grundlegende Reorganisation der Gesellschaft bedeuten konnte. Die Befürworter solcher Innovationen verwandten häufig das Argument, daß sich die Gesellschaft selbst verändert habe und institutionelle Anpassung erforderlich sei“ (Wagner 1995: 103). Und tatsächlich zeigt sich, dass diese ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen von solch großer Wirkungsmacht waren, dass es letztlich in der Mehrzahl der europäischen Länder zur Herausbildung nationaler Wohlfahrtsstaaten kam, die mittels der Schaffung nationaler arbeitsregulierender Institutionen eine Zusammenführung des Ökonomischen mit dem Sozialen ermöglichten (vgl. insbesondere Wagner/Zimmermann 2003; Wagner et al. 2000). Die „Erfindung“ der Nation als Rahmen zur Organisierung gesellschaftlicher Differenzen muss also im Kontext dieser strukturellen Bedingungen analysiert werden. Klar zeigt sich, dass es nicht eine irgendwie geartete Solidarität zwischen den verschiedenen Mitgliedern einer Gesellschaft, nicht ein plötzlich entstehendes Verantwortungsbewusstsein des einen für den anderen war, das zur Ausbildung der nationalen Wohlfahrtsstaaten führte, sondern schlicht neu entstehende beziehungsweise sich deutlich verschärfende Problemlagen (und die sich hieraus ergebenden Interessenkonstellationen) in spezifischen gesellschaftlichen und politischen Kontexten, die die Nation als spezifischen territorialen Rahmen für die Regulierung sozialpolitischer Problemlagen entstehen ließen. Demnach können wir davon ausgehen, dass erst und vor allem die Existenz nationaler Strategien zur Bewältigung sozialer Probleme und die damit verbundenen Umverteilungsmechanismen zwischen den verschiedenen Teilen einer Gesellschaft zur Herausbildung und Vertiefung eines irgendwie empfundenen wechselseitigen Zusammenhangs zwischen den Mitgliedern führten. Auf unseren Gegenstand der Europäischen Union und der zukünftigen Organisation ihrer Gesellschaft bezogen, bedeutet dies, dass wir uns ebenso einerseits auf die strukturellen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen und andererseits auf die beteiligten Akteure und deren Interessen und Intentionen konzentrieren müssen, wollen wir Antworten 364
auf die Frage nach der Zukunft des europäischen Sozialraums erhalten. Diese Frage kann sinnvollerweise nicht aus der Perspektive des heute bestehenden nationalen Rahmens und seiner Konditionen heraus gestellt werden; nicht die Frage, ob es auf europäischer Ebene bereits Solidaritätsnetzwerke oder eine irgendwie geartete Gemeinschaft – vergleichbar der nationalen – gibt, ist wesentlich, sondern ob die gegenwärtigen strukturellen Bedingungen die Herausbildung europäischer Instrumentarien zur Bearbeitung sozialpolitischer Probleme befördern oder nicht und ob und unter welchen Bedingungen diese akzeptiert werden oder nicht. 3.2 Entwicklungsperspektiven europäischer Sozialpolitik Die strukturellen Bedingungen, unter denen zur Zeit über einen weiteren Rahmen zur Organisation gesellschaftlicher Zusammenhänge nachgedacht wird, liegen auf der Hand: Angesichts zunehmend eingeschränkter nationalstaatlicher Handlungsmöglichkeiten einerseits und eines wachsenden ökonomischen Zusammenhangs zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union anderseits stellt sich die Frage, ob die Europäische Union zum Adressaten sozialer Rechtsansprüche wird, ob ein Bedarf an europäischer Sozialpolitik besteht, wie dieser Bedarf artikuliert wird und wie er von den europäischen politischen Eliten wahrgenommen und eventuell umgesetzt wird. Hierbei müssen zwei Analyseebenen unterschieden werden: Zum einen geht es um die Frage der Interessen und Intentionen beteiligter Akteure, also der Bevölkerungen und der politischen Eliten. Zum anderen geht es um die Frage der Etablierung entsprechender Institutionen und ihrer Einbindung in das politische System der Union. Mit Rückgriff auf die oben formulierte These, wonach die nationale Gestaltung der Wirtschaft und des Sozialen Ergebnis eines kontingenten Prozesses unter spezifischen historischen Vorzeichen gewesen ist, kann so nach den Möglichkeiten einer räumlichen Erweiterung des (sozial-)politischen Handlungsspielraums gefragt werden. Kann die Europäische Union diesen neuen politischen Rahmen bilden? Hierbei geht es nicht um die Frage des Wünschbaren, vielmehr verfolgt diese Fragestellung das Ziel, die derzeit entstehenden politischen Strukturen beziehungsweise deren Deutungen zu systematisieren und darüber Rückschlüsse auf die theoretische Frage nach den allgemeinen Voraussetzungen politischer Formgebung zu ermöglichen.
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Im Folgenden werde ich daher zunächst einen knappen Überblick über die bisherige sozialpolitische Entwicklung der Europäischen Union geben, um anschließend die Frage nach den Interessen und Intentionen daran beteiligter Akteure zu stellen. a) Die Entwicklung europäischer Sozialpolitik seit 1957 Die Entwicklung europäischer Sozialpolitik geht auf die Anfänge europäischer Integrationsbemühungen zurück. Bereits im Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 findet sich im Vertragstext das Kapitel III zur „Sozialpolitik“. Wenngleich zu dieser Zeit die sozialpolitischen Verlautbarungen wenig mehr als bloße Absichtserklärungen darstellten (vgl. Falkner 2000: 280) und gemeinhin galt, dass eine erfolgreiche gemeinsame Wirtschaftspolitik Koordinierungen im Bereich der Sozialpolitik überflüssig macht, wurden doch bereits hier die ersten Schritte im Sinne einer Vereinheitlichung sozialpolitischer Regelungen gegangen. Zwar verblieb die Sozialpolitik in der Konstruktion des EWG-Vertrags nach wie vor im Zuständigkeitsbereich der Nationalstaaten, und der Kommission wurde lediglich eine zwischen den Nationalstaaten koordinierende Funktion zugedacht, aber bereits damals erhielt die Gemeinschaft die Kompetenz, die Mobilität von Arbeitskräften zu fördern. So wurden Nachteile von Wanderarbeitnehmern und -nehmerinnen in den Sozialversicherungen beseitigt, de facto also einerseits die Zugangsvoraussetzungen zu den Sozialversicherungen einander angeglichen und andererseits die Übertragbarkeit von erworbenen Ansprüchen sichergestellt (vgl. Schulte 2004). Zudem sah der Vertrag die Einrichtung des Europäischen Sozialfonds (ESF) vor, der zwar zunächst nur mit wenigen Ressourcen ausgestattet war, dessen Anteil am Gesamthaushalt der Gemeinschaft aber seither ständig wächst und gegenwärtig nahezu 9% ausmacht (vgl. Knelangen 2006: 22). So geriet schon bald der noch bis in die 1980er Jahre geltende Grundsatz, wonach Sozialpolitik uneingeschränkt nationale Politik sei, zunehmend ins Wanken. Dass die EU nun sozialpolitische Aufgaben wahrnimmt, gilt allerdings nach wie vor ausschließlich für den Bereich der regulativen Sozialpolitik, redistributive Sozialpolitik ist davon im Kern noch immer unberührt. Wenngleich im Rahmen des ESF in der Periode von 2000 bis 2006 rund 60 Milliarden Euro bereitgestellt wurden, sind dies doch zum einen Mittel, die nicht einem allgemeinen Sozialprogramm zur Verfügung stehen, 366
sondern lediglich ein Instrument zur Qualifizierung besonders gefährdeter Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Arbeitsmarkts bilden. Und zum anderen stehen diesen etwa 9% des Gemeinschaftsetats durchschnittliche Aufwendungen für Sozialpolitik in Höhe von etwa 27% des BIP der einzelnen Mitgliedstaaten (EU-15) gegenüber (vgl. Knelangen 2006: 29). Zu beachten ist jedoch, dass die geschaffenen sozialpolitischen Institutionen sich in der Vergangenheit deutlich gewandelt haben (für einen Überblick vgl. Kohler-Koch et al. 2002: 186ff.). Zum einen hinsichtlich der Kompetenzaufteilung zwischen EG und Nationalstaaten: Schon mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte und dem Beginn des gemeinsamen Binnenmarktprogramms konnte zunächst im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, später dann auch in weiteren Bereichen, die Blockadehaltung mancher Mitgliedstaaten durch die Einführung qualifizierter Mehrheiten durchbrochen werden. Und mit der Vertragsreform von Maastricht wurden zudem die sozialpolitischen Kompetenzen der Gemeinschaft noch weiter gestärkt; ihr obliegt nun die Zuständigkeit für die meisten Bereiche des Arbeitsrechts und viele Bereiche des Sozialrechts (vgl. Däubler 2004: 276). Zwar ist in Fragen des Arbeitsentgelts und des Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrechts eine EU-Zuständigkeit nach wie vor ausgeschlossen und es gilt in vielerlei Bereichen des Sozialrechts nach wie vor die Einstimmigkeitsregel, aber auch in substanziellen Bereichen wie der Beschäftigungspolitik wurden neue Kooperationsversuche unternommen und damit die sozialpolitischen Gegenstandsbereiche, in denen die Gemeinschaft Einfluss erhält, entschieden ausgeweitet. Ob aus dieser Methode der Koordinierung einzelstaatlicher Politiken jemals Gemeinschaftsrecht wird, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt offen. Festgestellt werden kann allerdings, dass mit diesen Kompetenzausweitungen der Gemeinschaft einerseits und der Ausweitung der Gegenstandsbereiche, in denen die Gemeinschaft Einfluss erhält, andererseits auf bestimmte strukturelle Erfordernisse geantwortet wurde. Diese strukturellen Erfordernisse stellten sich zu Beginn des Integrationsprozesses, in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität, nicht, worauf die Grundentscheidung zurückzuführen ist, der Gemeinschaft keine sozialpolitischen Kompetenzen zu übertragen. Angesichts gewandelter struktureller Bedingungen war es allerdings möglich, hieran etwas zu ändern; so zeigt Falkner (2002) am Beispiel der Zustimmung der ökonomisch schwächeren Staaten Südeuropas zur Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung im Bereich der Sozialpolitik bei den Verhandlungen in Maastricht (1991), dass 367
unter bestimmten Kontextbedingungen Lernprozesse greifen können, die zu entscheidenden Veränderungen führen. Gerade in der Sozialpolitik haben sowohl die Kommission als auch der EuGH vielfache Reformprozesse auf den Weg bringen und Veränderungen durchsetzen können, wie etwa im Hinblick auf Fragen der Gleichstellung oder auch in der Legitimierung der von der Kommission sehr weit ausgelegten Befugnisse im Bereich der Sozialvorschriften der Einheitlichen Europäischen Akte zu erkennen ist (vgl. Knelangen 2006: 36).13 Einen letzten bemerkenswerten Schritt hat die EU mit der Aufnahme der Grundrechtecharta in das Primärrecht 2004 unternommen. Denn wenngleich dies ein Akt von bloß symbolischer Bedeutung war (Brusis 2005), ist doch bemerkenswert, dass damit „die Verfassung auch über die Charta hinaus ein neues Gewicht auf sozialpolitische Werte und Zielvorstellungen legt“ (Knelangen 2006: 28). Mit dieser Stärkung sozialpolitischer Werte hat der Europäische Gerichtshof nun eine beachtliche Handhabe, die soziale Dimension weiter auszubauen (Treib 2004: 24f.). Dieser kurze Überblick über die Entwicklungen im Bereich der europäischen Sozialpolitik zeigt dreierlei: erstens, dass die Bereiche, in denen die Gemeinschaft in sozialpolitischen Belangen Kompetenzen erhält, sich stetig ausweiten, zweitens, dass obwohl diese Kompetenzausweitung und -übertragung auf die Gemeinschaft in vielen Fällen nationalen Interessen zuwiderläuft, bestimmte Kontextbedingungen dennoch zu einer Stärkung der EUInstitutionen in diesem Bereich führen (vgl. Falkner 2002) und drittens, dass gerade der EuGH – eine kaum an Bevölkerungspräferenzen rückgebundene Institution – zur Europäisierung der Sozialpolitik entscheidend beigetragen hat. Dies bedeutet nun keineswegs, dass die beschriebenen Entwicklungsschritte im Bereich der regulativen Sozialpolitik auch das Entstehen beziehungsweise die Ausweitung redistributiver Sozialpolitik auf europäischer Ebene wahrscheinlicher werden lassen. Es zeigt allerdings, dass unter be13
Allerdings führt die Rechtsprechung des EuGH nicht alleine zu einer Ausweitung europäischer sozialpolitischer Kompetenzen, sondern zugleich zu einer deutlichen Einschränkung nationaler Handlungsspielräume, wie etwa die Fälle Laval (Rs. C-341/05), Viking (Rs. C-348/05) und Rüffert (Rs. C-346/06) eindrücklich zeigten. In allen drei Fällen hatte der EuGH gegen die Geltung nationaler arbeitsrechtlicher Regelungen und insbesondere gegen die Rechte der Gewerkschaften und im Sinne der Verwirklichung eines freien Binnenmarktes entschieden und damit sowohl Tarifautonomie als auch Arbeitnehmerrechte entscheidend eingeschränkt.
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stimmten Bedingungen die Gemeinschaftsorgane der EU und insbesondere die EU-Kommission zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen in der Lage sind, auch wenn dies den Interessen verschiedener Mitgliedstaaten entgegenläuft. So entstehen bereits jetzt auf europäischer Ebene sozialpolitische Institutionen, deren Akzeptanz weitere Vergemeinschaftungsschritte zumindest nicht unplausibel erscheinen lässt. b) Zur Akzeptanz europäischer sozialpolitischer Institutionen Zur Beantwortung der Frage nach den Entwicklungsperspektiven europäischer Sozialpolitik muss neben einer Bestandsaufnahme bereits entstandener sozialpolitischer Institutionen die Frage nach dem Bedarf an europäischen sozialpolitischen Kompetenzen im Fokus des Interesses stehen. Bei der Frage nach einem solchen Bedarf geht es primär um die Wahrnehmung politischer Akteure; zum einen um deren eigene Interessen und Zielsetzungen, zum anderen aber auch um ihre Wahrnehmung eines auf Seiten der EU-Bürgerinnen und -Bürger entstehenden Bedarfs an einem Kompetenztransfer. Auf Seiten der politischen Akteure muss dabei zwischen unterschiedlichen EU-Institutionen unterschieden werden: Während der Europäischen Kommission ein originäres Interesse an einem Kompetenztransfer auch im Bereich der Sozialpolitik unterstellt werden kann, sind die Interessen der Mitglieder des Rats der Europäischen Union und seiner Unterorganisationen gespalten. Maßgebliche Institution ist hier der Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“, daneben aber auch der ECOFIN-Rat mit Kompetenzen im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Da der Rat selbst nach wie vor eine Institution intergouvernementaler Kooperation darstellt, spielen hier nationale Interessen nach wie vor eine vorrangige Rolle. Auch eine Untersuchung der Interessen an einem sozialpolitischen Kompetenztransfer muss also die verschiedenen nationalen Interessen beachten.14 14
Dabei kann davon ausgegangen werden, dass erstens die Bevölkerungen aus Staaten mit einem steuerfinanzierten sozialen Sicherungssystem größere Vorbehalte gegenüber einer Europäisierung haben und zweitens Staaten, die ein hohes Niveau an sozialer Sicherung gewähren, weniger geneigt sind, Kompetenzen an die EU zu übertragen (vgl. Mau 2005). Eine weitergehende Untersuchung müsste daher für die Auswahl der betrachteten nationalen Interessen im Rat der EU die Sozialstaatstypologie von Bonoli (1997) heranziehen und für einen Vergleich der nationalen Positionen aus den vier verschiedenen Typen auswählen: steuerfinanziert, hohes Niveau (Skandinavien); steuerfinanziert, niedriges Niveau
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Wenngleich eine solche Untersuchung noch aussteht, können doch einige plausible Annahmen bereits jetzt formuliert werden: So weisen die bisherigen Vergemeinschaftungstendenzen im Bereich der Sozialpolitik auf ein von allen nationalen als auch europäischen Beteiligten gemeinsam verfolgtes Ziel der Kooperation im Bereich der Sozialpolitik hin. Einen deutlichen Beleg hierfür liefert Falkner (2004) mit einer quantitativen Analyse europäischer sozialpolitischer Aktivitäten, aus der hervorgeht, dass trotz vielfältiger Blockadeprobleme im Sozialministerrat in den 1990er Jahren gerade diese Phase eine der aktivsten im Voranbringen gemeinschaftlicher Sozialpolitik gewesen ist (so stammen mehr als die Hälfte aller bis Ende 1999 beschlossenen EU-Sozialrichtlinien aus den 1990er Jahren). Zudem zeigt die Studie, dass, wenngleich auch bislang viele Bereiche der EU-Sozialpolitik stark von Marktintegration einerseits und Jurisprudenz andererseits geprägt sind, auch hier Schritte „positiver Integration“ durchaus vorhanden sind. So haben „sowohl die finanzielle(n) Anreizsetzung als auch das weiche Steuern via Empfehlungen und peer pressure heute beträchtliche Bedeutung im Rahmen der EU-Sozialpolitik (...). Dass das verbindliche Sozialrecht tatsächlich überproportional zu den anderen Steuerungsformen der EG-Sozialpolitik (wie etwa Geld oder unverbindliche Empfehlungen) anwächst, kann daher nicht behauptet werden“ (Falkner 2004: 54). Wenngleich also davon ausgegangen werden kann, dass die verschiedenen Nationalstaaten und daher auch der EU-Ministerrat weiterhin Blockadepolitiken gegen eine weitere Supranationalisierung europäischer Sozialpolitik betreiben, zeigt sich doch, dass vor allem die Kommission und mit ihr die einschlägigen Generaldirektionen mit ihren unterschiedlichen Strategien der sozialpolitischen Regulierung recht erfolgreich sind. Unterstützt wird dies nicht zuletzt durch das bereits existierende Institutionenarrangement wie etwa die relevanten Arbeitsgruppen des Ministerrats, aus denen letztlich die entsprechenden, rechtlich verbindlichen Initiativen hervorgehen. Anzunehmen ist allerdings, dass aufgrund dieser bestehenden divergierenden Interessenlagen einerseits und der verschiedenen externen Faktoren andererseits nur bestimmte sozialpolitische Bereiche von der nationalen auf die europäische Arena gebracht werden. Aufgrund der spezifischen politischen Dynamik dieses Prozesses werden bislang periphere Bereiche nationaler Sozialpolitik einen neuen Stellenwert erlangen, andere hingegen margina(GB, Irland); beitragsfinanziert, hohes Niveau (Kontinentaleuropa) und beitragsfinanziert, niedriges Niveau (Südeuropa).
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lisiert werden.15 Eine zunächst noch offene Frage bleibt, ob diese Bereiche sozialpolitischer Intervention seitens der EU auch weiterhin als peripher angesehen werden oder ob sich die EU hierdurch als sozialpolitischer Anspruchsgegner etablieren kann, ob sich also eine neue, europäische Kategorie politischen Handelns zu etablieren vermag. Ein schließlich letzter Analyseschritt müsste dann die Wirksamkeit dieser Institutionenbildungen in Relation zu den Bevölkerungen setzen: Werden diese Institutionen von den Bürgerinnen und Bürgern überhaupt wahrgenommen und wenn ja, werden sie von ihnen lediglich „routinemäßig“ hingenommen, akzeptiert oder gar bekämpft? Dieser Befund würde schließlich nicht nur Aufschluss über mögliche zukünftige Entwicklungschancen europäischer Sozialpolitik geben, sondern zudem erlauben, anhand der vorliegenden rein institutionalistischen Sozialpolitikentwicklung auf europäischer Ebene die weiter führende theoretische Frage nach dem Verhältnis von Institutionen- und Bewusstseinsbildung empirisch zu beantworten. 4
Fazit – Was kann uns die historische Soziologie über Europa lehren?
Die Frage nach der Zukunft des europäischen Sozialraums ist somit eine nach wie vor offene; daran wird sich auch in nächster Zukunft nichts ändern. Allerdings zeigt sich, dass eine Annäherung an den Gegenstand eine Veränderung des Blickwinkels unerlässlich macht. Wie der Rekurs auf die gegenwärtig geführte Diskussion zeigt, krankt die Debatte zum einen an einer Fehldiagnose historischer Begebenheiten und zum anderen an einer fragwürdigen Analogiebildung zwischen dem Historischen und dem Aktuellen. Wie oben ausführlich beschrieben war die Herausbildung der Nation als Rahmen zur Lösung neu auftretender gesamtgesellschaftlicher Probleme zum Ende des 19. Jahrhunderts das Ergebnis bestimmter Interessenkonstel15
So zeigt die aktuelle Entwicklung europäischer Rechtssetzung und Rechtsprechung sehr deutlich, dass einerseits Bereiche wie etwa Fragen der Antidiskriminierung neu in den sozialpolitischen Kanon aufgenommen und mit viel Aufmerksamkeit bedacht werden, wohingegen Fragen, die in den nationalen Wohlfahrtsstaaten zum Kern sozialpolitischen Engagements gehörten, wie etwa Tarif- und Gewerkschaftsrecht, nicht nur auf europäischer Ebene selbst eine marginale Rolle spielen, sondern zudem durch europäische Rechtsprechung in den Nationalstaaten zunehmend eingeschränkt werden (siehe auch FN 13; vgl. Scharpf 2008).
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lationen im Kontext gewandelter gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Gegebenheiten; so forderte die im 19. Jahrhundert aufgekommene „soziale Frage“ neue Lösungswege, um auf die veränderten Gegebenheiten angemessen zu reagieren. Die Bewältigung dieser neuen sozialen Problemlagen konnte allerdings erst im Zuge der Schaffung kollektiver Akteure realisiert werden; und hilfreich hierfür erwies sich die Herausbildung zweier neuer Kategorien, Nation und Klasse. Erst durch sie wurde die Stiftung gemeinsamer Identität zwischen ihren Mitgliedern ermöglicht und damit auch kollektives Handeln beziehungsweise die Behandlung als Kollektiv in einer „vorgestellten Gemeinschaft“ (Anderson 2005), deren Mitglieder aufeinander bezogen sind. Und ebenso wie die Herausbildung des Nationalstaats als Antwort auf die aufkommende „nationale Frage“ gelesen werden muss, ist die Herausbildung des nationalen Wohlfahrtsstaats als Antwort auf die aufkommende „soziale Frage“ in den sich industrialisierenden Gesellschaften zu begreifen. Nicht Vertrauen und Solidarität sind hier die analytischen Kategorien, die diese Entwicklung zu verstehen helfen. Vielmehr müssen wir uns in den Analysen auf politische Absichten und Interessen, Institutionenbildungen und Herrschaftsstrukturen konzentrieren.16 Dieses historische Wissen zeigt uns nun auf zugleich prägnante und komplexe Weise die Dynamik, die auch hinter der möglichen Entwicklung eines neuen territorial festgeschriebenen Gemeinschaftsraums Europa steht. Der von mir vorgeschlagene Blickwinkel der historischen Soziologie kann hierbei wesentliche Erkenntnisse liefern, indem er dazu anhält, sowohl Handlung als auch Struktur als Kontextbedingungen von Ereignissen zu begreifen. Es geht also nicht nur darum, aus historischem Wissen soziologische Theorien zu formulieren, sondern vor allem darum, historische Ge16
Ob es überhaupt angebracht ist, im Zusammenhang mit staatlicher Sozialpolitik von solidarischem Verhalten zu sprechen, halte ich für fragwürdig; letztlich setzt solidarisches Verhalten eine exit-Option voraus, das heißt, es muss freiwilliges Handeln vorliegen. Das Zahlen von Beiträgen und das Abführen von Steuern zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme ist allerdings keineswegs eine freiwillige Angelegenheit. Das mag man beklagen (Titmuss 1970; Habermas 1991) oder auch nicht, wichtig scheint mir, dass Solidarität beziehungsweise solidarisches Verhalten innerhalb einer Gruppe von Menschen keinesfalls als Voraussetzung staatlicher Sozialpolitik gelten kann. Denn die Abwesenheit von Protest gegen eine bestimmte Politik oder Institution ist keinesfalls gleichzusetzen mit einer aktiven Unterstützung, die auf einer solidarischen Einstellung beruht (vgl. hierzu und auch zur Frage nach der Akzeptanz politischer Entscheidungen Abromeit 2000).
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genstände überhaupt erst einmal soziologisch zu deuten. Und das wiederum bedeutet, ein Ereignis sowohl im Kontext politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturen als auch als Ergebnis der „Intentionen der sozial verbundenen Handelnden und deren Auseinandersetzung innerhalb der und durch die Strukturen und Institutionen“ (Mikl-Horke 1994: 23) zu interpretieren. Das hier vorgeschlagene Verständnis der Herausbildung des nationalen Wohlfahrtsstaats als eines Produkts verschiedener politischer Interessen in einem spezifischen institutionellen und auch situativen Kontext ermöglicht es dann, die Frage nach der Zukunft des Sozialraums Europa neu zu stellen. Ist die heute zu beobachtende Handlungskrise des nationalen Wohlfahrtsstaats eine so tief greifende, dass sich andere Konzepte zur Lösung sozialer Problemlagen durchzusetzen vermögen? Und welche werden das sein? Wie oben bereits beschrieben musste sich die Nation als Rahmen sozialpolitisch relevanter Solidarität gegen andere, nicht-territoriale Konzepte in einem konfliktreichen Prozess durchsetzen. Dagegen müsste sich die Europäische Union heute gegen eine andere territoriale Ordnung, nämlich die nationalstaatliche durchsetzen, wollte sie den Rahmen für Sozialpolitik bilden. Als Hypothese könnte nun formuliert werden, dass die EU heute einen quasi „evolutionären Vorteil“ besitzt, ist doch das territoriale Prinzip bereits „eingeübt“ beziehungsweise als Deutungsmuster vorhanden. Möglich wäre aber auch, dass genau hierin ein besonderes Hindernis liegt, da mit dem Nationalstaat bereits ein territorialer Rahmen sozialpolitisch relevanter Solidarität vorhanden ist; die an diesem nationalen territorialen Rahmen stabilisierten Interessen aber behindern womöglich eine Neuordnung nach einem ähnlichen Prinzip. Welche dieser beiden Annahmen plausibler ist, muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen bleiben – und zeigt einmal mehr den Forschungsbedarf, der in der Frage nach den Voraussetzungen der Einrichtung von Sozialpolitik in einem weiteren territorialen Rahmen und auch nach den Grenzen einer solchen räumlichen Erweiterung politischer Handlungsfähigkeit steckt.
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Europäische Flexicurity, eine Leitidee im Fokus einer Theorie gesellschaftlichen Wandels – Ein Essay Olaf Struck
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Einführung
Der folgende Aufsatz hat eine hohe Integrationsleistung zu vollbringen. Gemäß der allgemeinen Zielstellung des Bandes soll er einen Beitrag zu einer Gesellschaftstheorie liefern. Darüber hinaus soll er – dem Wunsch der Herausgeber folgend – den Flexicurity-Ansatz als „neues“ Leitbild der europäischen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik thematisieren. Dies läuft auf einen Versuch hinaus, den Flexicurity-Ansatz der Europäischen Kommission gesellschaftstheoretisch zu verorten. Der Flexicurity-Ansatz zielt darauf, eine empirisch konstatierte und aus sozialen und ökonomischen Gründen gewünschte Steigerung der Anpassungsfähigkeit von Erwerbspersonen durch geeignete Sicherungsmaßnahmen zu flankieren. In meiner Lesart fokussiert er zugleich auf gesamtgesellschaftliche Effizienz und Produktivität, die durch mehr Flexibilität und Sicherheit am Arbeitsmarkt gesteigert werden sollen. Dabei kann dem Ansatz ein großes Potential zur Stärkung eines europäischen Vergesellschaftungsprozesses beigemessen werden.1 Inwieweit dieses Potential genutzt wird, ist offen. Es hängt davon ab, ob es den nationalen Akteuren gelingt, ihre Einzelinteressen in der Weise auszurichten, dass weitgehend spannungsfreie Zustände zwischen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft und institutionel-
1
Dieser Versuch der Neuabstimmung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist im Grundsatz durchaus geeignet, der Kohäsionskraft vorheriger Entwicklungen der europäischen Rechtsprechung, der Sicherheitspolitik und der Wirtschafts- und Währungsabkommen ebenbürtig zu sein.
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len Praxen sowie zwischen organisatorischen und individuellen Handlungsressourcen und Präferenzen erzielt werden. Nach einem kurzen Prolog über Ziele und Rahmenbedingungen des europäischen Flexicurity-Ansatzes (2) werde ich darlegen, dass Flexibilität und Sicherheit als funktionale und ideenlogische Basis des modernen sozialen Kapitalismus die Selbstbeschreibungen der europäischen Marktgesellschaften schon seit längerem kennzeichnen (3). Nachfolgend werden anhand eines heuristischen Gesellschaftsmodells grundsätzlich bestehende gesellschaftliche Spannungslinien zwischen den Ebenen der Gesellschaft, der Organisationen und der Individuen aufgezeigt (4). Diese Spannungslinien werden dann mit Blick auf bestehende Krisenmomente in den Nationalstaaten konkretisiert, wobei Potentiale zum Abbau bestehender Spannungen sowie Auftrittsrisiken neuer Krisenmomente, die durch die Implementierung von Flexicurity-Maßnahmen entstehen, diskutiert werden (5). Konstatiert wird dabei, dass auch nach der Umsetzung zentraler Maßnahmen des Flexicurity-Ansatzes deutliche Divergenzen zwischen den genannten Ebenen fortbestehen werden. Vor diesem Hintergrund werden abschließend Ansatzpunkte für eine Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik vorgestellt, die Spannungen mindern können und zugleich geeignet sind, auf effiziente Weise die Flexibilität und Sicherheit in Beschäftigungsregimen zu erhöhen (6). 2
Die Ziele des europäischen Flexicurity-Ansatzes
Die Ziele des neuen Flexicurity-Ansatzes der Europäischen Union sind eingebunden in die Europäische Beschäftigungsstrategie. Vor dem Hintergrund gemeinsamer beschäftigungspolitischer Herausforderungen beschlossen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union im Jahr 1997, die nationalen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitiken gemeinsam zu koordinieren (Goetschy 1999). Die damit aus der Taufe gehobene Europäische Beschäftigungsstrategie beschränkte sich inhaltlich jedoch zunächst weitgehend auf Einzelmaßnahmen gegen Arbeitslosigkeit. Das Verfahren der Umsetzung in den Mitgliedsländern der EU basiert auf dem so genannten „Luxemburg-Prozess“ und setzt auf iterative Prozesse des Erstellens von Leitlinien, gegenseitiger Evaluationen und Benchmarking. Dabei handelt es sich um eine kompromissorientierte „Offene Methode der Koordi380
nierung“ (so betitelt seit der Tagung des Europäischen Rats im Frühjahr 2000 in Lissabon) im Spannungsfeld von Subsidiarität und Zentralisierung (Heidenreich/Bischoff 2008; Schmid/Kull 2004). Im Rahmen dieser Entwicklung entfaltete sich innerhalb der Europäischen Beschäftigungsstrategie zunehmend die gemeinsame Vorstellung einer umfassenden Beschäftigungsförderung. Entsprechend wird mit der Tagung des Europäischen Rats in Lissabon die Europäische Beschäftigungsstrategie in das Leitbild eines aktiven, wachstums- und innovationsbasierten Europäischen Sozialmodells eingebettet (Europäischer Rat 2000). Der FlexicurityAnsatz und die darin enthaltene Grundidee fokussieren darauf, „auf dem Weg zu einer dynamischen, erfolgreichen Wissensgesellschaft“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2007a: 4) die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitskräfte zu stärken, statt Beschäftigungsverhältnisse zu schützen.2 Ziele sind eine Erhöhung der Mobilität und der individuellen Anpassungsfähigkeit und damit verbunden eine Überwindung der sozialen Segmentation auf Arbeitsmärkten, die in Zentral- und Südeuropa besonders deutlich zutage tritt. Diese Ziele sollen durch Maßnahmen der aktiven und aktivierenden Arbeitsmarktpolitik flankiert werden. Orientiert an den Erfolgen des historisch gewachsenen dänischen Flexicurity-Modells (Madsen 2002; Bogedan 2008) gehören hierzu das Konzept des lebenslangen Lernens aller Erwerbspersonen und die zielgerichtete Qualifizierung von insbesondere Arbeitssuchenden. Am Ende der auf Aktivierung und Teilhabe gerichteten Strategie wartet die Umsetzung des Versprechens, dass der „Prozess des Wandels (…) mehr Gewinner hervorbringen und zu umfassenderen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs führen“ wird (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2007a: 4).
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„Flexicurity is a policy strategy to enhance, at the same time and deliberately, the flexibility of labour markets, work organizations and labour relations on the one hand, and security – employment security and social security – on the other. The key principles that underpin a flexicurity strategy are that flexibility and security should not be seen as opposites, but can be made mutually supportive“ (European Expert Group on Flexicurity 2007: 2). Eine ähnlich allgemeine Definition verwendet der Europäische Rat: „Flexicurity is an integrated approach aiming to enhance at the same time flexibility and security in the labour market. Within the Lisbon Strategy, it is a mean to successfully manage change and progress employment and welfare reform to meet the challenges of globalization, technological innovation and an ageing population“ (Council of the European Union 2007).
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In den letzten Jahren wurden in etwa der Hälfte der Mitgliedstaaten der EU umfangreiche arbeitsmarkt- und sozialpolitische Reformen im Sinne der Flexicurity-Leitidee entwickelt und umgesetzt (López-Santana 2006; Annesley 2007; Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2007a: 11). Dabei treten verschiedene Aktivierungsregime (Serrano Pascual/Magnusson 2007; Barbier/Ludwig-Mayerhofer 2004), europäische Sozialmodelle (Sapir 2005), institutionelle Felder der Beschäftigungspolitik (Heidenreich/Bischoff 2008) oder Flexicurity-Praktiken (European Expert Group on Flexicurity 2007) in Erscheinung. Die Vielfalt dieser politischen Praktiken ist wenig überraschend, denn unterschiedliche nationale Beschäftigungsordnungen in Westeuropa können als Ergebnis jeweils historisch gewachsener, gesellschaftlicher Kooperations- und Konfliktregulierungsmuster betrachtet werden (Streeck/Thelen 2005). Deren Wirkung zeigt sich in verschiedenartigen Institutionalisierungen jeweiliger Interpretationsmuster, Verhaltensregeln und Beziehungsstrukturen, die interessen- und wertgeleitete Austauschprozesse zwischen den involvierten Akteuren und Organisationen vermitteln und vorstrukturieren (Jepperson 1991). Wenn sich die EU-Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund ihrer nationalen institutionellen und organisatorischen Besonderheiten auf gemeinsame Grundsätze für den Flexicurity-Ansatz verständigen, dann handelt es sich also um einen erklärungsbedürftigen Vorgang. Gründe für eine gemeinsame Koordinierung ergeben sich erstens durch vergleichbare Problemlagen auf institutioneller und sozialstruktureller Ebene. Begrenzt im Zugang zu natürlichen Ressourcen und wechselseitig getrieben zu mehr Produktivität, Forschung und Innovation stehen alle Länder vor der Anforderung, das Wissensniveau möglichst vieler Menschen zu steigern und im ökonomischen Prozess einzubeziehen. Zudem gewinnen im Zuge der europäischen und internationalen Wirtschaftsintegration sowohl kurzfristigere als auch höhere Gewinnerwartungen der nunmehr weltweit flexibleren Kapitalgeber an Bedeutung. Im alltäglichen Kampf um Kapital und Gewinnmargen reichen Unternehmen Marktrisiken unmittelbarer als zuvor an Beschäftigte weiter. Eine wichtige Folge ist die steigende Zahl flexibler und zum Teil ungeschützter Formen von Beschäftigung. Hinzu kommen in vielen Ländern verhältnismäßig geringe durchschnittliche Beschäftigungsquoten, hohe Arbeitslosigkeitsraten sowie in einzelnen Ländern sehr hohe Langzeitarbeitslosigkeit. Beides gefährdet die Sozialschutzsysteme, unterstützt qualifikatorische Fehlanpassungen und verschärft Arbeits382
marktsegmentationen zwischen „Insidern“ in einer (derzeit noch) geschützten Beschäftigung und ungeschützten „Outsidern“ außerhalb oder an den Rändern der Betriebe. Zweitens existieren in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft (und darüber hinaus) gleichartige und miteinander verwandte gesellschaftliche Selbstbeschreibungen. Sie ähneln sich hinsichtlich der Gleichzeitigkeit von einerseits Forderungen nach Anpassungsfähigkeit, Produktivität und Effizienz und andererseits der Gewährleistung von Sicherheit und sozialer Teilhabe.3 Hierauf gehe ich im nächsten Kapitel näher ein. Im Zuge der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung wird es drittens zunehmend schwieriger, die gesellschaftlichen Leitbilder in den europäischen Staaten mit den jeweiligen und zum Teil widersprüchlichen Praxen der Institutionen sowie mit den sozialökonomischen Strukturen in Einklang zu bringen. Insbesondere für die wachsende Zahl von Beschäftigten in zeitflexiblen Vertragsformen, mit unsteten Erwerbsverläufen, mit geringem Einkommen und für Arbeitslose stellen die sozialstaatlichen Institutionen nur unzureichende Teilhabechancen bereit. Zugleich zeigen Bildungssysteme fortwährende Mängel in der Erfüllung ihrer gesellschaftlich zugewiesenen Aufgaben, d.h. hinreichend Wissen und Werte für eine chancenreiche Lebens- und Berufsbiographie zu vermitteln und die Leistungs- und Chancengerechtigkeit zu erhöhen. Dabei schränken Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung die Spielräume zusätzlich ein. So baut sich in vielen Ländern ein Reformdruck auf, der durch nationale Konkurrenzen zwischen den wirtschaftlich und rechtlich miteinander verflochtenen Staaten zusätzlich gesteigert wird.
3
Neben den vergleichbaren Selbstbeschreibungen und Leitwerten weisen die europäischen Sozialstaaten (bei aller Vielfalt) auch eine Reihe institutioneller Gemeinsamkeiten auf. Beispielhaft genannt seien die gemeinsame Marktorientierung, die demokratischrechtsstaatliche Verfasstheit wie auch gemeinsame Merkmale der sozialen Absicherung und gesellschaftlichen Partizipation – beispielsweise auf dem Solidaritätsprinzip beruhende soziale Sicherungssysteme zur Absicherung der großen Lebensrisiken, gesetzlich und tarifvertraglich geregelte Arbeitsschutzbedingungen, Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmer- und Interessenvertretungen, allgemein zugängliche Systeme der (hoch-)schulischen und beruflichen Bildung sowie gemeinwohlorientierte Dienste zur Bereitstellung gesellschaftlich notwendiger sozialer Infrastrukturleistungen (Schubert et al. 2008; darin insbesondere den zusammenfassenden Beitrag von Bazant/Schubert).
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Eine solche Parallelität muss nicht in transnationale Vereinbarungen münden. Die Wahrscheinlichkeit von Absprachen ist jedoch zwischen wirtschaftlich, sozial und kulturell eng verflochten Nachbarstaaten, wie wir sie in der Europäischen Union vorfinden, sehr hoch. Dies trifft umso mehr zu, wie die EU-Mitgliedstaaten zugleich auf eine gemeinsame Vorgeschichte verbindlicher Koordinierungen vor allem in Recht und Wirtschaft zurückblicken können, in denen nationale Auseinandersetzungen um gemeinschaftliche Wettbewerbsvorteile und individuelle Chancengleichheit zusehends auf europäische Ebene verlagert wurden. Dennoch bleiben nationale Beschäftigungs- und Sozialordnungen durchaus unterscheidbar. Zudem ist das Netz der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verflechtung der neuen Mitgliedstaaten sowohl untereinander als auch zu älteren EU-Mitgliedern derzeit noch grobmaschiger als zwischen den EU-15-Staaten. Und sicherlich gilt, dass Leitbilder und Instrumente der Europäischen Beschäftigungsstrategie immer auch als strategische Ressource innerhalb der jeweils nationalen konfliktreich ausgetragenen Kompromisspraxis genutzt werden (Giddens 1984; Heidenreich 2004: 208). Je nach Interesse dienen sie dann der Begründung von Maßnahmen zur Erhöhung von Leistung und Anpassungsbereitschaft (Flexibilitätsdimension) oder zur Berücksichtigung von Bedarfslagen und Bedürftigkeiten (Sicherheitsdimension). Nichtsdestotrotz haben die EU-Mitgliedstaaten gemeinschaftlich ein besonderes Funktionsprinzip und ein gesellschaftliches Ziel anerkannt: die Erhöhung der gesellschaftlichen Produktivität und Effizienz durch die Förderung der Balance von Flexibilität und Sicherheit, um Aufstiegsmöglichkeiten für möglichst viele Menschen zu erreichen. So ist unübersehbar: Die Flexicurity-Leitidee entfaltet im öffentlichen und politischen Diskurs schon jetzt erhebliche Ausstrahlungskraft. 3
Flexicurity: Ein althergebrachtes Versprechen im modernen Kapitalismus
Nachdem ich knapp Rahmungen und Zielstellungen des FlexicurityKonzepts der EU umrissen habe, möchte ich die Frage stellen, in welcher Weise sich ein solcher Leitansatz in eine Gesellschaftstheorie einbinden lässt. Der Ertrag, den eine Beantwortung dieser Frage bietet, erscheint zunächst gering. Ist doch der Flexicurity-Ansatz zugleich normativ, politikfeld384
spezifisch und territorial gebunden und in seiner derart geformten Beengtheit diametral entfernt von Wertfreiheits- und Verallgemeinerungsansprüchen an eine Theorie: a. b. c.
Normativ ist das Leitbild des Flexicurity-Ansatzes, da zukünftige Politik auf ein Gleichgewicht von Flexibilität und Sicherheit zielen soll. Politikfeldspezifisch ist der Ansatz, da er sich auf die Sozial- und Beschäftigungspolitik beschränkt und mikroökonomisch ausgerichtet ist. Territorial gebunden ist das Konzept erstens, weil die EU-Kommission den Nationalstaaten entsprechend der „Offenen Methode der Koordinierung“ Spielräume bei der Umsetzung der Ziele lässt. Sie setzt allein auf „naming and shaming“ und die Nationalstaaten haben in der Wahl ihrer Mittel nahezu völlige Freiheit. Zweitens besteht eine regionale Bindung, weil auch eine europäische Staatengemeinschaft, ebenso wie Nationalstaaten, ihre Legitimation durch die Bearbeitung vergleichbarer Ungleichheiten im Inneren erhält und damit räumliche Grenzen gegenüber (allenfalls tolerierten) Unvergleichbarkeiten zieht.4
Ist es also überhaupt lohnenswert, ein derart gebunden erscheinendes Konzept in ein enges Verhältnis zu einer Gesellschaftstheorie zu setzen? Ich denke ja: Es muss sich dann allerdings zeigen lassen, dass das Leitbild der Gleichzeitigkeit von Anpassungsfähigkeit, Produktivität und Effizienz einerseits und Sicherheit und sozialer Teilhabe anderseits schon seit langem der Selbstbeschreibung der modernen kapitalistischen Gesellschaften (zumindest) in Europa entspricht. Oder mit anderen Worten: Es muss zu zeigen sein, dass die Anforderungen an Effizienz und Flexibilität im modernen Kapitalismus funktional mit Sicherheit verbunden sind. Dementsprechend kann dann auch das – so betrachtet gar nicht so neue – Leitbild des Flexicurity-Ansatzes der EU als konstitutiv für die Wirtschafts- und Sozialordnungen entwickelter Gesellschaften gelten. Ohne allzu weit auszuholen, möchte ich dies kurz verdeutlichen. Es ist zu zeigen, dass der zuvor benannte „Gleichlauf“ zwischen Flexibilität und Sicherheit, geronnen in institutionellen Rahmungen, den wirtschaftlichen Erfolg des modernen Kapitalismus auf
4
Ebenso wie die aktuell (noch) vorherrschende nationalstaatliche Sicht „befreit“ auch eine europäisch territorial begrenzte Sicht vom Blick auf das Elend der Welt – wie Ulrich Beck (2005) sagen würde.
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funktionaler und damit verbunden motivationaler Ebene überhaupt erst möglich machte. „Der heutige (…) Kapitalismus erzieht und schafft sich (…) die Wirtschaftssubjekte (…), deren er bedarf“, schreibt Weber in der protestantischen Ethik (1991: 12). Er nötigt den Subjekten eine ihm dienliche Lebensführung auf und verlangt ihnen eine kalkulierte Profitmaximierung sowie Wettbewerbs- und Wachstumsstreben ab. Dabei ist die Logik kapitalistischen Produzierens in ihrem Kern dynamisch: Mit dem Erfolg kapitalistischen Wirtschaftens sind permanente Innovationen verbunden, einerseits zur Steigerung der Effizienz um Wettbewerbspositionen zu erhalten oder zu verbessern, anderseits aber auch zur Bearbeitung reproduktionsgefährdender Nebenfolgen. So erzwingt die Logik kapitalistischen Produzierens fortwährende Veränderungen und Flexibilität sowohl auf struktureller und institutioneller als auch auf individueller Ebene. Die Erfüllung dieser Anforderungen ist allerdings in der Moderne immer mit einer Verheißung verbunden worden: Die Probleme materieller Knappheit werden zumindest für jene, die sich sozial angepasst und leistungswillig zeigen, gelöst. So wird von Adam Smith (1776) über Walter Eucken (1960), Wilhelm Röpke (1958) und Ludwig Erhard (1957) bis heute versichert, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem die effizienteste Wirtschaftsform ist, die den Menschen zum Teil direkt, zum Teil über notwendig erachtete staatliche Umverteilungen die materiellen Ressourcen bereitstellt, um Armut, Ressourcenknappheit, Unwissenheit und übergroße Heteronomie hinter sich zu lassen und Teilhabechancen und Selbstbestimmung zu erlangen.5 Dabei besteht ein großer Konsens zwischen Kritikern und Verteidigern der kapitalistischen Marktwirtschaft, dass die moderne Vergesellschaftung 5
Wilhelm Röpke stellt diesbezüglich fest: „(…) die Marktwirtschaft ist nicht alles. Sie muß in einen höheren Gesamtzusammenhang eingebettet sein, der nicht auf Angebot und Nachfrage, freien Preisen und Wettbewerb beruhen kann. Sie muß vom festen Rahmen der Gesamtordnung gehalten sein, die nicht nur die Unvollkommenheiten und Härten der Wirtschaftsfreiheit durch Gesetze korrigiert, sondern auch dem Menschen die seiner Natur gemäße Existenz nicht verweigert. Der Mensch aber kann nur dann volle Erfüllung seiner Natur finden, wenn er sich willig einer Gesellschaft einfügen und sich ihr solidarisch verbunden fühlen kann“ (Röpke 1958: 131). Und ebenso deutlich schreibt Ludwig Erhard: „»Wohlstand für alle« und »Wohlstand durch Wettbewerb« gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt“ (Erhard 1957: 9, Hervorhebungen im Original).
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der über Tauschprozesse utilitaristisch kalkulierenden Akteure mit selbstzerstörerischen Folgen auf der Makro- wie auf der Mikroebene einhergeht: Aus der Makroperspektive besteht die Gefahr, dass sich die Strukturen und Regeln der Wirtschaft gegenüber den Strukturen und Regeln des sozialen Zusammenhalts verselbstständigen. Wirtschaftliche Tauschprozesse werden unabhängig von sozialen Beziehungen. Soziale Prozesse und das Gemeinwesen werden zunehmend abhängig von wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit, so etwa Karl Polanyi (1957). Und aus der Mikroperspektive zerstört der Prozess Körper und Geist, unternehmerische Initiative und produktive Arbeit, staatsbürgerliche Loyalität und Verteidigungsbereitschaft. „Dies ist die Lage, in welche (…) die Masse des Volkes in jeder entwickelten und zivilisierten Gesellschaft gerät, wenn der Staat nichts unternimmt, sie zu verhindern“, schreibt schon Adam Smith (1974: 663). So ist dann auch den Befürwortern und Kritikern einer kapitalistischen Marktwirtschaft der funktional notwendige Kern der Verheißung wie auch die Bedeutung staatlicher Verantwortung immer bewusst gewesen. Nur dann, wenn die Verheißung offenbar und institutionell programmiert wird, kann sowohl die Effizienz als auch die Reproduzierbarkeit des Gesamtsystems sichergestellt werden. a.
b.
Auf der materiellen Ebene stellen Institutionen und die in ihnen geronnene Verheißung die gesellschaftlichen Ressourcen bereit, die für das Funktionieren einer kapitalistischen Marktwirtschaft wichtig sind. Einerseits sichern sie – von der Geburtsvorsorge über die Bildung und den Gesundheitsschutz bis hin zur Altersicherung – die Leistungsfähigkeit einer ausreichenden Zahl von Arbeitskräften. Anderseits mindern sie Zukunftssorgen und fördern aktuell Leistungen und Investitionen bis an die (individuelle) Leistungsgrenze. Damit festigen staatliche und betriebliche Arbeits- und Sozialpolitiken produktive Zeitregime und gewährleisten zugleich soziale Teilhabe. Vergleichbares gilt für die Manifestation der Verheißung auf der Legitimationsebene. Wiederum auf staatlicher und betrieblicher Ebene fördern dabei vor allem als gerecht empfundene Verfahren der direkten und indirekten Beteiligung sowie Verfahren zur Verteilung von Pflichten, Rechten und Ressourcen die Motivation und Zufriedenheit und damit die Leistungs-, Investitions- und Flexibilitätsbereitschaft bis hin
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zum gesellschaftssolidarischen Verhalten und zur politischen Beteiligung. Es geht mir an dieser Stelle nicht darum zu zeigen, ob und inwieweit die wechselseitig verknüpften Verheißungen tatsächlich erfüllt wurden. Kritische Anmerkungen über Ambivalenzen der Moderne und über Spannungen im funktionalen Gefüge folgen in späteren Absätzen. Wichtig ist mir zunächst, deutlich zu machen, dass im Leitbild des modernen Kapitalismus ökonomische Effizienz, erzielt durch Wettbewerb und Flexibilitätsbereitschaft, seit langem Hand in Hand geht mit Sicherheitsversprechen über wirtschaftliche und soziale Teilhabe und Partizipation. Mit Blick auf die „europäische“ Leitidee von Flexicurity wird dann aber auch deutlich, dass diese Leitidee der Grundauffassung der vorherrschenden sozialen Marktordnungen Europas entspricht. Wenn ich nunmehr die Leitidee von Flexibilität und Sicherheit als einen funktional konstitutiven und zugleich ideenlogisch wichtigen Bestandteil des modernen Kapitalismus betrachte, dann bin ich gezwungen, darüber Auskunft zu geben, wie sich ein solches gesellschaftliches Leitbild in eine Theorie moderner Gesellschaften einbinden lässt. Zum jetzigen Zeitpunkt und an dieser Stelle kann ich diesen Gedanken nur holzschnittartig und unter Verwendung eines lediglich heuristischen Modells der Gesellschaftsanalyse ausführen. Dieses im Folgenden charakterisierte Modell bietet eine Grundlage für die Diskussion zentraler gesellschaftstheoretischer Fragen. So können dann nachfolgend auch Anlässe für Flexicurity-Reformen und Folgeprobleme einbezogen werden. 4
Ein heuristisches Modell zur Gesellschaftsanalyse
Für den Versuch, Gesellschaften in ihren prozessualen Relationen zu modellieren, orientiere ich mich an einem Modell von Rosa und Schmidt (2007), das im Sonderforschungsbereich 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ diskutiert und aktuell weiterentwickelt wird. Dieses Modell wird von mir um die Ebene der Organisation ergänzt. Zugleich nehme ich eine stärker auf Ressourcen (entgegen der von Rosa und Schmidt verwendeten Kategorie des „Habitus“) und damit eine analytisch trennschärfere und auf Akteure bezogene Sichtweise ein. 388
In dem Modell werden sechs Bereiche der sozialen Wirklichkeit unterschieden. Grundlage dieser analytischen Differenzierung ist die Existenz von Spannungsverhältnissen zwischen diesen Bereichen: a.
b.
6
Erstens sind in das Modell die in Gesellschaften entwickelten Selbstbeschreibungen und (normativen) Erwartungen einzubeziehen. Auf dieser Ebene wird das Selbstverständnis einer Kultur thematisiert und gegen konkurrierende Werte und Leitbilder verteidigt. Um eben ein solches, an grundlegende Werte der Gesellschaft gebundenes Leitbild handelt es sich bei der Vorstellung einer sozialen kapitalistischen Marktwirtschaft, die zugleich Effizienz und Flexibilität wie auch Sicherheit und demokratische Teilhabe gewährleisten soll. Neben diesen Leitbildern existieren auf gesellschaftlicher Ebene zweitens soziale Institutionen, wie etwa Wirtschafts- und Sozialordnungen oder Bildungssysteme.6 Leitbilder können prägend auf Institutionen einwirken und institutionelle Praxen ergänzen. Andererseits können sich wiederum in Institutionen Verhaltenserwartungen, Normen oder Anforderungen herausbilden, die in Konflikt zur aktuellen Selbstauffassung von Gesellschaften stehen, so dass veränderte Praxen in Institutionen oder deren unzureichende Anpassung aneinander Leitbilder verändern – Letzteres jedoch nur, wenn handlungs- und deutungsmächtige Organisationen dazu beitragen, bisherigen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen ein neues Leitbild entgegenzusetzen. Vergleichbares gilt für Organisationen (Betriebe, Verwaltungseinheiten, Verbände bis hin zu organisierten Netzwerken). Auch sie haben Ziele, Programme und Regeln für Mitglieder (im Sinne von Leitbildern) sowie zureichende oder unzureichende Ressourcen, die sich aufeinander abgestimmt ergänzen oder in Ziel-Mittel-Konflikten entladen können. Auch auf der Ebene der Organisation stehen diese zwei Dimensionen zum Teil in jeweils gespannten oder wechselseitig bestärkenden Beziehungen zu geDie Ausgestaltung dieser Institutionen ist von historisch-kulturellen Rahmenbedingungen in ihrer Entstehungszeit abhängig. Mit der Zeit kommt es zu einem „lock-in“, das heißt, verschiedene Institutionen werden aufeinander abgestimmt und stabilisieren das Gesamtsystem, so dass etablierte Strukturen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Neuerungen haben. Veränderungen sind alltäglich, grundlegende Reformen allerdings schwierig (Arthur 1988) und nationale Entwicklungspfade typisch (Borchert 1998; Crouch/Farrell 2002; Esping-Andersen 1990; Streeck/Thelen 2005).
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c.
sellschaftlichen Werten und Leitbildern und/oder institutionellen Praxen sowie zu individuellen Selbstbildern und/oder Handlungsressourcen. Zu unterscheiden sind schließlich auf der Ebene der Individuen reflexive Selbstbilder in Form individueller Lebensziele, Werte und Einstellungen sowie individuelle Handlungsressourcen, die wiederum beide in wechselseitig bestärkenden oder gespannten Beziehungen zueinander stehen. Und auch die „Außenbeziehungen“ zu Organisationen, Institutionen und ihren jeweiligen Normen und Leitbildern können spannungsgeladene Belastungen oder unterstützende Ressourcen sein.
Deutlich geworden ist, dass die sechs Bereiche wechselseitig miteinander verkoppelt sind. In ausdifferenzierten Gesellschaften sind Spannungen zwischen ihnen unvermeidlich. Knappheit, begrenzte Rationalität, divergierende (organisierte und organisierbare) Interessen und unintendierte Handlungsfolgen sind allgegenwärtig. Hierdurch verursachte Spannungen zwischen individuellen und kollektiven Akteuren und ihren jeweiligen Zielen, Bedürfnissen, Werten und Normen einerseits und der jeweiligen Verfügbarkeit von Ressourcen in Form institutioneller Ordnungen und Strukturen anderseits verbrauchen wiederum (knappe) Ressourcen und bieten so einen Anreiz zur Verminderung von Spannungen. Hierbei erweisen sich alle Bereiche als mehr oder weniger dynamisch und erzeugen in ihrem Umgang mit der spannungsgeladenen Kontingenz eigenständige Veränderungstendenzen. Gewöhnlich wird auf Spannungen in Form wechselseitiger flexibler Anpassungen einer oder mehrerer Bereiche reagiert. Dabei erzeugen schnelle Kompromissbildungen, Austausch von Ressourcen, Ambivalenztoleranzen oder Modifikationen von Leitbildern kontinuierlichen Wandel. Der Grad an Eigenständigkeit und die Elastizität im Umgang mit Spannungen und Zumutungen in den jeweiligen Bereichen hängen dann nicht zuletzt von den Möglichkeiten ab, ökonomische, soziale oder kulturelle Ressourcen und/oder Legitimation aus den jeweiligen Selbstbeschreibungsebenen oder den Strukturebenen zu beziehen.
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Abbildung 1:
Basismodell zur Erfassung von Gesellschaft und sozialen Spannungslinien 4
Gesellschaftliche Selbstbeschreibungen (Leitbilder, Werte)
1
4
7
Organisationsziele (Programme, Werte)
7
2
4
Individuelles Selbstbild (Präferenzen, Werte)
7
3
Entscheidungen kollektiver und individueller Akteure
6
Gesellschaftliche Institutionen und Strukturen
6
6
Kapitalausstattung
5
(ökonomisch/ sozial/ kulturell)
Organisationsstrukturen
5
Individuelle Kapitalausstattung
(ökonomisch/ sozial/ kulturell)
5 Identifizierbare Spannungslinien: (1) Institutionelle/ideologische Krise; (2) Organisationskrise; (3) Identitätskrise; (4) Legitimationskrise; (5) materielle (sozialstrukturelle) Krise; (6) Kooperationskrise (Entfremdung oder Erosion/Zerfall von Institutionen/Organisationen); (7) kulturelle Krise (bis hin zu Ausgrenzung oder Rebellion).
Kommt es zu schwerwiegenden Spannungen, die konfliktreiche und dauerhafte Unvereinbarkeiten ausdrücken, entstehen Krisen und beschleunigte Wandlungsprozesse. Von Krise soll gesprochen werden, wenn eine Situation, die einen Handlungsbedarf auslöst, mit einer Entscheidung einhergeht, die mit einem Pfadwechsel verbunden ist.7 Indem in umfänglichen Krisensituationen zunächst eindimensional-instrumentelle und häufig schnelle Bewältigungsversuche im Vordergrund stehen, werden diese vielfach wiederum zu neuen und spannungsgeladenen Herausforderungen – auch für weitere Bereiche. Insbesondere die Bewältigung eruptiver Krisen, ausgelöst etwa durch kontinuierliche Wandlungsprozesse, ist dementsprechend ein länger7
Ich verwende den Begriff Krise in einer weichen Konnotation. Das Wort Krise stammt aus dem Griechischen (ƪƱƟƳƩƲ, krísis) und bezieht sich ursprünglich auf Meinung, Beurteilung oder auf Entscheidung. Wichtig ist mir der Aspekt einer verändernden Entscheidung.
391
fristiger Prozess, bei dem fortlaufenden (häufig unintendierten) Herausforderungen zu begegnen ist. Betrachten wir kurz, in welcher Weise „klassische“ Großtheorien solche Krisensituationen zwischen den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen beobachten, dann stoßen wir auf das Problem, dass diese Theorien zumeist jeweils einseitige Richtungen vorgeben, nach denen Reaktionen auf Herausforderungen zu erwarten sind. In materialistischen Ansätzen etwa verlangen Veränderungen der materiellen Basis und damit einhergehende Interessenkonflikte einen veränderten Überbau. Individualistische Zugänge verweisen auf selektive Wahrnehmungen von sozialen Situationen und auf Entscheidungsfreiräume der Akteure, die etwa bei Analysen veränderter Anpassungserfordernisse an soziale Veränderungen zu berücksichtigen sind. Strukturalistische Ansätze betonen die Struktur prägenden Wirkungen von Normen, Werten und sozialen Institutionen usw. In der Architektonik der gesellschaftlichen Realität können jedoch soziale Wandlungsprozesse in jede der im Modell genannten Richtungen verlaufen (Rosa/Schmidt 2007: 59), wobei auftretende Spannungslinien differenziert zu betrachten sind. Eine erste Form sind Spannungen und hierin angelegte Krisenmomente zwischen Selbstbeschreibungen und Strukturen auf jeweils der gesellschaftlichen, der organisatorischen und der individuellen Ebene: 1.
2.
3.
392
So können zwischen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen und sozialen Institutionen Differenzen bestehen. Hier handelt es sich um institutionelle oder ideologische Krisen. Eine Gesellschaft definiert sich beispielsweise als funktional geschichtete Leistungsgesellschaft. Im Rahmen der „meritokratischen Triade“ aus Bildungssystem, Arbeitsmarkt und sozialem Status werden dann jedoch nicht durch eigenes Handeln erworbene Eigenschaften und Leistungen honoriert, sondern durch eigenes Zutun nicht veränderbare zugeschriebene Merkmale wie soziale Herkunft (Kreckel 2004: 228). Von Organisationskrise soll gesprochen werden, wenn die Leitziele einer Organisation nicht mehr mit den Ressourcen zusammenpassen. Beispielsweise kann die Gewinnerwartung eines Unternehmens durch Fehlqualifizierungen der Mitarbeiter unerfüllt bleiben. Identitätskrisen treten auf, wenn das individuelle Selbstbild nicht mit den individuell verfügbaren Ressourcen übereinstimmt.
Eine Auflösung von Spannungen zwischen Leit- beziehungsweise Selbstbildern und Strukturen und Ressourcen erfordert erstens Erwartungsanpassungen (dies vor allem dann, wenn Ressourcen für Strukturveränderungen nicht zu mobilisieren sind)8 und/oder zweitens Reformen in Form pfadabhängiger Neuanpassungen. Letzteres können beispielsweise Innovationen als Kopierversuch angemessener Lösungen anderer Systeme sein oder eine Neuordnung von Strukturen und Ressourcen, die häufig zuvor in Nischen experimentell erprobt wurde. 4.
5.
8
9
Andere Formen nicht oder nicht erfolgreich bearbeiteter Spannungen sind Legitimationskrisen. Sie treten auf, wenn gesellschaftliche, organisatorische und individuelle Leitbilder und Normvorstellungen nicht übereinstimmen. Bei Akteuren fördert dies Erwartungsanpassungen oder Opportunismus. Eine aktive Auflösung von Spannungen durch Protest ist dann möglich, wenn auf Seiten individueller oder kollektiver Akteure ausreichende Ressourcen und geringe Spannungen zwischen Leitbildern und Ressourcen vorhanden sind. Unzureichende Ressourcen für Veränderungen fördern hingegen den Rückzug in soziale Nischen. Eine weitere Form von Spannungen sind Differenzen zwischen institutionellen, organisatorischen oder individuellen Strukturen und Ressourcen. Sie können sich zu materiellen Krisen der Akteure oder Organisationen ausweiten. Auf Seiten der Individuen fördern solche Krisen Rückzüge. Dies beispielsweise dann, wenn institutionelle oder organisatorische Anforderungen an eine individuell zu leistende Selbstaktivierung mit unzureichend mobilisierbaren Ressourcen auf Seiten der Betroffenen einhergehen. Personen erweisen sich dann als nicht-integrierbar. Sind solche Krisen zudem mit Differenzen zwischen gesellschaftlichen oder organisatorischen Leitbildern und den individuellen oder organisatorischen Ressourcen zur Erreichung der gesellschaftlichen Ziele verbunden, wird deviantes Verhalten gefördert. Auf Seiten der Institutionen oder Organisationen gehen derartige Krisen mit Leistungsdefiziten einher.9 Eine Auflösung von Spannungen auf der Ebene von OrganisatioVgl. etwa Elder (1974), der anhand der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren zeigt, dass fehlende Ressourcen mit Erwartungsanpassungen an materiellen Wohlstand einhergingen. Beispielsweise können in beitragsfinanzierten Sozialsystemen oder in Gewerkschaftsorganisationen Leistungsdefizite durch unzureichende finanzielle Mittelzuflüsse aufgrund
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nen und Institutionen erfordert wiederum Reformen oder Innovationen in Form einer Neuordnung von Strukturen und Ressourcen. Entsprechen derartige materielle Spannungen und Anpassungserfordernisse nicht dem Selbstbild von Institutionen (etwa Chancengerechtigkeit durch partielle Umverteilung) oder Organisationen (etwa Gewinnmaximierung, Qualitätsproduktion etc.), so werden zügige Neuordnungen wahrscheinlicher. Eine sechste Spannungsform kann zwischen Selbstbildern von Individuen beziehungsweise Organisationen und den Strukturen/Ressourcen auf institutioneller beziehungsweise organisatorischer Ebene bestehen. Hier kann es zu Kooperationskrisen kommen. Bestehen auf Seiten von Individuen oder Organisationen neben der Zieldifferenz zur Institutionsbeziehungsweise Organisationspraxis zugleich unzureichende Ressourcen zur Bearbeitung der ungewünschten Strukturvorgaben, so werden Entfremdungsprozesse ausgelöst, die einen Rückzug in soziale Nischen fördern. Existieren hingegen größere Ressourcenspielräume, ist Protest gegen gesellschaftliche Institutionen und sozialstrukturelle Verteilungen beziehungsweise gegen Organisationsstrukturen wahrscheinlich. In Fällen, in denen sich bedeutsame Gegenbewegungen (etwa Interessenverbände oder religiöse Gruppen) mit nachhaltigem Einfluss gegen die gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen formieren, geraten Institutionen in besonderer Weise unter Druck. Kooperationskrisen gehen dann mit institutionellen Krisen einher. Und zuletzt können Spannungen zwischen gesellschaftlichen Leitbildern und individuellen oder organisatorischen Ressourcen sowie zwischen Organisationszielen und individuellen Ressourcen hervortreten. Hier soll von kultureller Krise gesprochen werden. Akzeptieren Gesellschaften oder Organisationen bestimmte – aus spezifischen Ressourcen (gegebenenfalls gestärkt durch individuelle Selbstbilder) resultierende – Lebensformen nicht, kann es im Extremfall zu Ausgrenzung, Verfolgung oder im Fall von Organisationen zur Aufkündigung der Mitgliedschaft kommen. Entsprechen dabei die gesellschaftlichen Leitbilder zugleich nicht den individuellen oder organisatorischen Präferenzen, ist wiederum bei geringer Ressourcenausstattung Rückzug und bei guter
6.
7.
von Massenarbeitslosigkeit oder durch steigende Anteile gering entlohnter Beschäftigung verursacht sein. Vergleichbar kann die Struktur von Erwerbsorganisationen durch unzureichend qualifizierte Arbeitskräfte beeinträchtigt werden.
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Ressourcenausstattung Protest zu erwarten. Es ist allerdings auch möglich, dass die gesellschaftlichen Leitbilder den individuellen oder organisatorischen Präferenzen grundsätzlich entsprechen, jedoch die jeweiligen Ressourcen zur Erreichung kollektiver Ziele nicht genügen. In diesen Fällen kann erwartet werden, dass Akteure und Organisationen versuchen, ihre Ressourcenausstattung den gesellschaftlich formulierten Anforderungen anzupassen. Erleichtert wird dies durch Rückgriffsmöglichkeiten auf institutionelle Unterstützungsleistungen. 5
Flexicurity-Maßnahmen im Kontext aktueller Spannungslagen
Ich hatte eingangs festgestellt, dass die europaweite Orientierung an der Leitidee Flexicurity in nicht unerheblichem Maße auf vergleichbaren Krisenprozessen in den Nationalstaaten basiert. Vier der vorgenannten Spannungslinien sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung: a.
Zu beobachten sind erstens institutionelle Krisen. Das Versprechen von Autonomiegewinnen auf der Basis einer gesicherten Teilhabe am Erwerbsleben oder durch Förderung von Teilhabechancen im Bildungsund Sozialsystem wird im Rahmen der bestehenden Institutionenordnung vielfach nicht eingelöst. 2005 waren von den 372 Millionen Einwohnern aller 25 EU-Mitgliedstaaten 17 Millionen Menschen arbeitslos (8,8%).10 15% der Einwohner verfügen über ein Einkommen unterhalb der so genannten Armutsgefährdungsgrenze von 60% des Medianeinkommens. Weitere 9% sind von Armut bedroht, wenn eine Armutsschwelle von 70% zugrunde gelegt wird (Liddle/Lerais 2007). 8% der Arbeitnehmer sind trotz Erwerbstätigkeit von Armut betroffen (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2007b: 7). Zudem wird die Bildungssituation als problematisch angesehen. 15,3% der Absolventen eines Bildungsjahrgangs verlassen derzeit die Schule mit höchstens einem Abschluss der Sekundarstufe I und beteiligen sich (zumindest bis
10
Dabei beträgt der Anteil der Langzeitarbeitslosen in Belgien, der Tschechischen Republik, Deutschland, Ungarn, Polen, Portugal und der Slowakei mehr als die Hälfte aller Arbeitslosen. In den nordischen Mitgliedsländern Schweden, Dänemark, Finnland, Norwegen sowie in Zypern, Spanien, Luxemburg, Österreich und dem Vereinigten Königreich ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen mit unter 25% vergleichsweise gering.
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zum 24. Lebensjahr) auch nicht an einer allgemeinen oder beruflichen Bildungsmaßnahme (ebd.: 14). Gerade weil das Leitbild von Flexibilität und Sicherheit hohe Akzeptanz erfährt, zugleich jedoch unzureichend umgesetzt ist und so die Ressourcen und Kompetenzen zahlreicher Menschen überfordert, kommt es zweitens zu kulturellen Krisen. Ein Indikator für derartige Spannungen ist der zunehmende Einsatz von Aktivierungsmaßnahmen der Sozial- und Arbeitsmarktverwaltungen. Gesellschaften und hier konkret staatliche Arbeits- und Sozialagenturen akzeptieren bestimmte, aus spezifischen Ressourcen (gegebenenfalls gestärkt durch individuelle Selbstbilder) resultierende Lebens- und Handlungsformen von Erwerbslosen nicht und drohen mit Sanktionen. Zum Teil direkt damit verknüpft sind drittens zugleich auch materielle, das heißt sozio-ökonomische Krisen zu beobachten. Insbesondere die staatlicherseits bestehenden Probleme, die Einnahmeseite über Steuern und Abgaben zu stärken, wie auch die hohe Arbeitslosigkeit und zum Teil bestehende berufsqualifikatorische Defizite führen dazu, dass die Spannungen nur noch schwer über die Mobilisierung individueller und organisatorischer Ressourcen abgebaut werden können. Außerdem wird erwartet, dass geringe Geburtenraten, Alterung, der weltweit steigende Konkurrenzdruck durch Marktöffnungen und nicht zuletzt ökologisch bedingte Kostenzuwächse die Situation zukünftig noch verschärfen. Viertens deuten sich Kooperationskrisen an. Zunehmend mehr Akteure weigern sich, zum Erhalt oder Ausbau der aus ihrer Sicht fehlerhaft ausgerichteten Institutionen beizutragen. Mitgliederrückgänge in Parteien und Verbänden, Steuerhinterziehung oder Mitnahmeeffekte im Sozialsystem sind Anzeichen für derartige Akzeptanzverluste.11
b.
c.
d.
Vor dem Hintergrund dieser – hier nur kurz skizzierten – Spannungen soll das Leitkonzept Flexicurity zu einer Neuausrichtung von Handlungsstrukturen und Ressourcen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen und individuellen Akteuren beitragen.
11
Da das gesellschaftliche Leitbild von Produktivität und Anpassung bei gesicherter Teilhabe von der überwiegenden Mehrzahl der kollektiven und individuellen Akteure getragen wird, existiert hier zunächst keine Legitimitätskrise.
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Es ist dabei davon auszugehen, dass das Konzept aufgrund seiner funktionalen Bedeutung für die wirtschaftliche Effizienz, seiner Motivation und Legitimation unterstützenden Wirkung, seiner ideenlogischen Anbindung an die gesellschaftlichen Leitbilder europäischer Wohlfahrtsstaaten sowie der doppelten territorialen Begrenzung und angesichts der geschilderten Krisenkonstellationen, die Reaktionen erwarten lassen, zunächst einmal gute Startchancen hat. Ob und inwieweit eine solche Neuausrichtung tatsächlich gelingt, wird primär davon abhängen, in welchem Maße erstens die genannten Krisenmomente abgebaut werden können und zweitens inwieweit dabei ein Auftreten neuer Spannungen vermieden werden kann. 5.1 Zum Abbau bestehender Krisenmomente durch Flexicurity-Maßnahmen Den existierenden Spannungen soll durch folgende Ziele und anvisierte Mittel zugunsten einer insgesamt Wohlfahrt steigernden Lösung entgegengearbeitet werden (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2007a).12 a.
Ein Abbau bestehender Krisenmomente soll durch „flexible und zuverlässige vertragliche Vereinbarungen (…), durch moderne Arbeitsgesetze, Kollektivvereinbarungen und Formen der Arbeitsorganisation“ (ebd.: 6) erreicht werden. Hier zielt der Flexicurity-Ansatz auf eine Verringerung der Segmentierung von Verträgen. Für Arbeitskräfte mit befristeten oder abrufbaren Verträgen, Teilzeitbeschäftigte oder Leiharbeitnehmer sollen sowohl direkte Schutzmaßnahmen, wie Entgeltgleichheit oder eine Mindestanzahl von Arbeitsstunden bei Abrufverträgen, als auch indirekte Beschäftigungsbedingungen, etwa der Zugang zu Qualifizierungsmaßnahmen für Übergänge in primäre Arbeitsmarktsegmente, gefördert werden. Gleichzeitig sollen Vorschriften zum Kündigungsschutz aus wirtschaftlichen Gründen auf niedrigem EU-Niveau angeglichen werden.13 Ziel des Flexicurity-Ansatzes ist es – neben einer
12
Diese Zielstellungen sind im Frühjahr des Jahres 2008 dann auch noch einmal auf dem informellen Treffen der Arbeits- und Sozialminister in Brdo (Slovenien) bestätigt worden (Informal meeting of ministers for employment and social affairs 2008). Konkrete Initiativen bestehen derzeit allerdings nur in sehr wenigen EU-Mitgliedstaaten. In Lettland, Bulgarien, Rumänien und in den Niederlanden wird – derzeit noch ergebnis-
13
397
verbesserten unternehmerischen Anpassung an Marktschwankungen –, Diskriminierungswirkungen gegenüber jenen Gruppen abzubauen, die beim Eintritt in den Arbeitsmarkt am ehesten mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben (wobei junge Menschen, Frauen, gesundheitlich beeinträchtigte oder ältere Arbeitnehmer in den Blick genommen werden; siehe hierzu auch Algan/Cahuc 2004; Nickel/Layard 1999; Struck 2006). Maßnahmenvorschläge richten sich auf mehr Flexibilität bei Neueinsteigern und einen teilweisen Ausbau der Beschäftigungsschutzvorschriften für diskriminierte Zielgruppen und längerfristig Beschäftigte. Dabei kann den Schutzinteressen von beschäftigten „Insidern“ ebenso Rechnung getragen werden wie den „Zugangsinteressen“ von „Outsidern“. Zudem bleiben die Produktivität sichernden und damit positiven Auswirkungen dieser Vorschriften auf Seiten der Unternehmen unberührt. Letztere bestehen etwa im Erhalt und im Ausbau der Leistungsfähigkeit durch Anreize zur Weiterqualifizierung sowie durch die Sicherstellung von Leistungsbereitschaft der mit zunehmender Beschäftigungsdauer optionsgeminderten Arbeitnehmer. Zudem sollen „umfassende Strategien des lebenslangen Lernens, durch die sich die ständige Anpassungsfähigkeit und Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer gewährleisten lassen, insbesondere der am meisten gefährdeten“ (ebd.: 6), die Sicherheit in flexibilisierten Erwerbssystemen erhöhen. Investitionen in Humanressourcen von der (vor-)schulischen über die berufliche und die Weiterbildung stärken die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen sowie eine langfristige Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitnehmern. Tatsächlich besteht eine positive Korrelation zwischen einer hohen Beteiligung an Maßnahmen des lebenslangen Lernens und einer hohen Beschäftigungsquote sowie einer niedrigen (Langzeit-)Arbeitslosigkeit (European Commission 2006: 108). Allerdings kommen diese Investitionen zumeist nur den bereits hoch Qualifizierten zugute (OECD 2005). Insbesondere Erwerbstätigengruppen mit dem größten Lernbedarf, wie zum Beispiel gering Qualifizierte, Arbeitnehmer mit Zeitverträgen, Selbstständige und ältere Arbeitnehmer partizipieren am wenigsten an Qualifikationsmaßnahmen, in denen Bildungsabschlüsse nachgeholt oder berufliche Anschlussoder Weiterbildungsqualifikationen vermittelt werden. Als geeignete
b.
offen – versucht, Kündigungsschutzgesetze für unbefristet Beschäftigte zu vereinfachen (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2007b: 12).
398
c.
d.
Maßnahmen werden eine verbesserte (vor-)schulische Bildung, Ausbildungsinstitute auf Branchenebene sowie auf Unternehmensebene individuelle Lernkonten und steuerliche Förderungen von Qualifizierungsmaßnahmen vorgeschlagen, für deren Einrichtung dann insbesondere die Tarifparteien die Verantwortung tragen. Staatliche Maßnahmen einer aktiven arbeitsmarktpolitischen Qualifizierungspolitik werden in diesem Zusammenhang interessanterweise nicht genannt. Orientiert wird drittens auf „wirksame aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die Menschen tatsächlich dazu verhelfen, den raschen Wandel zu bewältigen, die Zeiten der Arbeitslosigkeit verkürzen und Übergänge zu neuen Arbeitsverhältnissen erleichtern“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2007a: 6). Anders als in den anderen Zielbereichen werden hier keine Angaben zu Mitteln der Umsetzung gemacht. Positive Maßnahmen einzelner Staaten wie beispielsweise Fortbildungsmaßnahmen, Eingliederungszuschüsse für benachteiligte Gruppen am Arbeitsmarkt oder Existenzgründerzuschüsse bleiben unerwähnt. Vielmehr wird darauf hingewiesen, dass eine Erhöhung der staatlichen Aufwendungen die Wirksamkeit der Maßnahmen nicht verbessern kann (ebd.: 14). Der Fokus richtet sich deshalb auf eine qualitative Verbesserung der aktiven Arbeitsmarktpolitik, etwa durch eine stärkere Orientierung auf die Anforderungen des Arbeitsmarkts, eine schnellere Vermittlungsleistung (Bestenauswahl), eine Zielgruppenorientierung vor allem auf Langzeitarbeitslose und Personen, die häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind, um deren langfristige Arbeitsmarktintegration zu verbessern, sowie individuelles Coaching zur Erhöhung des Aktivierungsgrades. Dabei wird der Aktivierung – im Zusammenhang mit der im Folgenden angesprochenen staatlichen Einkommenssicherung – eine besondere Bedeutung beigemessen, um den Negativanreizen staatlich finanzierter Sicherungsleistungen in Form einer verminderten Bereitschaft zur Arbeitssuche und -aufnahme entgegen zu wirken (ebd.: 8). Viertens sollen „moderne Systeme der sozialen Sicherheit, die eine angemessene Einkommenssicherung bieten, die Beschäftigung fördern und die Arbeitsmarktmobilität erleichtern“, gefördert werden. „Dazu gehört eine umfassende Abdeckung durch Sozialschutzleistungen (Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Renten und Gesundheitsfürsorge), die den Menschen dazu verhelfen, einen Beruf mit privaten und familiären 399
Aufgaben zu verbinden, wie zum Beispiel der Kinderbetreuung“ (ebd.: 6). Hier wird konstatiert, dass angemessene Leistungen bei Arbeitslosigkeit zusammen mit aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im Rahmen dynamischer Arbeitsmärkte eine positivere Wirkung entfalten als strenge Beschäftigungsschutzregelungen (insbesondere Kündigungsschutz) (ebd.: 8). Doch wiederum bleiben Vorschläge für Maßnahmen unkonturiert. Genannt werden lediglich ergänzende Einkommen bei Armutslöhnen. Vor allem aber werden Überwachungsnotwendigkeiten der aktiven Stellensuche und der Anspruchsvoraussetzungen betont. Wie sind diese Maßnahmen vor dem Hintergrund der zuvor vorgestellten gesellschaftlichen Spannungslinien zu beurteilen? Insgesamt gilt: Diese Maßnahmen stehen in einem engen Wechselverhältnis zueinander und können in ihrer Grundausrichtung als geeignet angesehen werden, bisher unzureichend bearbeitete Spannungen zwischen Normen und Strukturen der jeweiligen gesellschaftlichen, organisatorischen und individuellen Ebenen zu verringern. Institutionelle Neuabstimmungen der Entkopplung von Erwerbseinkommen und sozialer Sicherung können Kooperationskrisen mindern. Dies gilt etwa für Maßnahmen der Stärkung lohnunabhängiger (das heißt stärker steuerfinanzierter) Sozialsysteme. Die Belastung des Arbeitsverhältnisses wird verringert, Beschäftigungsspielräume erweitert und die Binnennachfrage nach Konsumgütern auf Seiten der Beschäftigten erhöht. Dies gilt auch für den Ausbau gleichzeitiger Bezugsmöglichkeiten von Erwerbs- und Sozialtransfereinkommen. Eine stärkere finanzielle Unterstützung von Niedrigentgelten erhöht die Bereitschaft zur Übernahme von Teilzeittätigkeiten und zeitvariabler Beschäftigung. Um Mitnahme- und Verdrängungseffekte zu vermeiden, ist diese Förderung auf ausgesuchte Zielgruppen zu beschränken. Eine gewünschte Flexibilität in so genannten geschützten und besser bezahlten Beschäftigungsverhältnissen kann durch die Sicherung von Ansprüchen bei Arbeitslosigkeit und Rentenbezug über Grundfreibeträge bei Beitragstarifen und/oder über Steuerfreibeträge erreicht werden. Kooperationskrisen mindernd wirken zudem Maßnahmen der Verbesserung qualifikatorischer Abstimmungsprozesse auf Arbeitsmärkten, eine zielgerichtete und auch langfristig stabilisierende Aktivierung sowie die Verbesserung der Einkommenssituation von Arbeitslosen. Hierdurch werden qualifikatorische Mismatches vermieden und Transaktionskosten vermindert. 400
Kombinationen derartiger Maßnahmen finden sich in Europa eher in Ländern, deren Sozialstaatsregime stärker am „Beveridge-System“ (also insbesondere in den Niederlanden, Dänemark, Schweden und zum Teil in Großbritannien und Irland) als am „Bismarck-System“ (also insbesondere in Deutschland und Belgien) ausgerichtet sind. Diese Maßnahmen gehen bei einer erfolgreichen Umsetzung zugleich mit einer Verminderung materieller, kultureller und institutioneller Krisen einher. Im Vordergrund steht einerseits die Steigerung der Mobilität zwischen Betrieben, etwa durch die Verbesserung der allgemeinen (Schlüssel-)Qualifikationen der Beschäftigten und eine EU-weite Angleichung des Kündigungsschutzes auf ein vergleichsweise niedriges Niveau. Anderseits soll der soziale Schutz der zunehmend flexiblen und mobil beschäftigten Arbeitnehmer erhöht werden. Erreicht werden soll dies wiederum durch die Steigerung der Qualifikation und Beschäftigungsfähigkeit, eine angemessene Einkommenssicherung bei (vorübergehender) Arbeitslosigkeit, gesicherte Ansprüche auf Kinderbetreuungseinrichtungen, einen umfänglichen Gesundheitsschutz und eine auskömmliche Rente. Dabei orientiert sich die Kommission nach wie vor an dem LissabonZiel eines „Mehr“ an Beschäftigung (ebd.: 3; Kok et al. 2004). Erwerbsarbeit gilt als primäre Bedingung für ökonomische, soziale und kulturelle Teilhabechancen. Anders allerdings als noch beim bisherigen Ziel einer Vollbeschäftigung (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1993; zur Kritik daran siehe Vobruba 1997) wird nunmehr verstärkt auf den Austausch von Beschäftigten im Rahmen einer grundsätzlich zu steigernden, doch nunmehr realistischer betrachteten Menge von Arbeitsplätzen fokussiert. Es erfolgt damit eine Abkehr von einer „statischen“ Arbeitsplatzsicherheit, die In- und Outsider segmentiert, und eine Hinwendung zu einer dynamischen „Beschäftigungssicherheit“ durch mobile Übergänge zwischen Betrieben. Gleichwohl: Beschäftigung und Beschäftigungsfähigkeit bleiben primäres Ziel der Politik. Hierbei weist das Flexicurity-Konzept der Kommission den staatlich-sozialen Rahmenbedingungen eine passive Rolle zu und lässt die Potentiale, die in der sozialen Sicherung bei Übergängen im Lebensverlauf liegen (und die sich nicht allein auf Übergänge zwischen Betrieben beschränken), unausgeschöpft. Die Folge ist, dass Spannungen zwischen individuellen Präferenzen/Leitzielen und Institutionen (Kooperationskrise) wie auch zwischen individuellen Ressourcen und institutionellen und organisatorischen Anforderungen (materielle Krise) fortbestehen. 401
5.2 Auftreten neuer Krisenmomente Neben der Fortexistenz bestehender Krisenmomente besteht also die Gefahr neuer Spannungen. Zu berücksichtigen ist hier insbesondere die stärkere Gewichtung von Beschäftigungssicherheit gegenüber der Arbeitsplatzsicherheit bei einem spezifischen Arbeitgeber. Aufgrund unterschiedlicher Präferenzen hinsichtlich der Arbeitsplatzsicherheit deuten sich vor allem Legitimitätskrisen an. So, wie in der Leitidee des Flexicurity-Konzepts zum Ausdruck gebracht, streben Unternehmen nach einer Erhöhung numerischer Beschäftigungsflexibilität. Demgegenüber messen jedoch 95% der abhängig Beschäftigten in der EU der Sicherheit des Arbeitsplatzes eine hohe oder sehr hohe Priorität bei (Eurobarometer 2001 auf der Basis von 15 EU-Mitgliedstaaten; zitiert nach Noll/Weick 2003). Ihnen gilt Arbeitsplatzsicherheit als elementare Basis von Anerkennung, Selbstwert und einer gesicherten Lebensführung. Die zentrale Frage ist also: Wie ist die von der EU gewünschte Mobilität in (geschlossenen) internen Arbeitsmärkten überhaupt zu erreichen? Grundsätzlich sprechen gewichtige Argumente gegen eine rigide Orientierung auf betriebliche Arbeitsplatzsicherheit. Letztere bietet angesichts des beschleunigten Strukturwandels und der damit verbundenen Zunahme freiwilliger und unfreiwilliger Wechsel immer weniger sozialen Schutz. Im Grundsatz haben Beschäftigungsschutzvorschriften durchaus positive Wirkungen. Sie bestehen in Form von Investitionsanreizen in Ausbildung sowie als Kooperations- und Loyalitätsgewinne bei Insidern gerade auch im Hinblick auf Rationalisierungsmaßnahmen. Insider beteiligen sich nur dann an Erfahrungstransfers oder an Arbeitsplatz gefährdenden Maßnahmen, wenn sichergestellt ist, dass sie vor Negativfolgen geschützt sind. Doch diese Vorteile bestehen nur für einzelne Akteure und Betriebe oder, mit Blick auf die Gesamtgesellschaft, allein in wirtschaftlichen Prosperitätsphasen, sofern diese mit Räumungseffekten am Arbeitsmarkt verbunden sind. Ansonsten geht der Insider-Schutz mit Negativfolgen für Outsider einher. Untersuchungen zeigen, dass durch strenge Beschäftigungsschutzvorschriften die Zahl der Entlassungen verringert, zugleich aber auch die Zahl der Übergänge von Arbeitslosigkeit in Erwerbstätigkeit negativ beeinflusst wird (Algan/Cahuc 2004; Nickell/Layard 1999; Struck 2006). Da Unternehmen bei Neueinstellungen mögliche Entlassungskosten antizipieren, bestehen gerade für jene Gruppen Eintrittsschwierigkeiten, die innerbetrieb402
lich einen besonderen Schutz erfahren würden oder Produktivität mindernde Signale aussenden (etwa gering qualifizierte oder gesundheitliche beeinträchtigte Arbeitnehmer sowie zum Teil Frauen, Ältere oder Personen mit Migrationshintergrund). So unterstützen restriktive Regeln des Arbeitsplatzbeziehungsweise Kündigungsschutzes Segmentierungen auf Arbeitsmärkten. Begünstigten Erwerbstätigen in geschützter Beschäftigung stehen immer mehr Personen gegenüber, die in befristeten oder in einfach zu kündigenden Beschäftigungsverhältnissen (Leiharbeitnehmer, geringfügig Beschäftigte) tätig sind. Letztere tragen besondere Anpassungslasten: einerseits in Form einer schlechteren sozialen Absicherung in der Erwerbsarbeit, andererseits durch mangelnde Absicherungen und Anschlussperspektiven im Verlauf von Phasen der Arbeitslosigkeit, arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dabei sind stark regulierte und segmentierte Arbeitsmärkte häufig auch durch hohe Langzeitarbeitslosigkeit gekennzeichnet. Nicht zuletzt kumulieren diese Risiken in Einkommensarmut im höheren Alter und in der Rentenphase. Vor diesem Hintergrund gilt die Segmentierung des Arbeitsmarkts nicht nur als sozial ungerecht, sondern auch als ökonomisch fragwürdig: Je ausgeprägter die soziale Sicherung auf Dauerarbeitsplätzen ist, desto schwerer fällt den etablierten Beschäftigten der Wechsel auf eine andere Stelle. Zudem dürfte ein starker Arbeitsplatzschutz die Bereitschaft beeinträchtigen, innovatives Wissen zu erwerben, das nicht unmittelbar am eigenen Arbeitsplatz nutzbar ist. Dies alles vermindert die Mobilität und Flexibilität am Arbeitsmarkt und behindert den Strukturwandel. Allerdings ist es nur auf mobilen Arbeitsmärkten möglich, Erwerbslosen auch im mittleren und höheren Alter einen Zugang in nicht-prekäre Beschäftigung zu ermöglichen. So bestehen aus Effizienz- und Gerechtigkeitsgründen gute Argumente, den Schwerpunkt beim Sozialschutz der Arbeitnehmer nicht auf den Schutz des Arbeitsplatzes, sondern auf die Beschäftigungssicherheit zu legen. Arbeitsmärkte sind durch eine Zunahme von Flexibilität und Mobilität gekennzeichnet. Gleichwohl werden bislang geschützte Insider bestrebt sein, ihre Interessen nach Schutz und Schließung umzusetzen. Dies trifft umso mehr zu, wie der Wiedereintritt in eine Status sichernde Beschäftigung mit geringen Chancen verbunden ist und als hoch riskant wahrgenommen wird. Ob und inwieweit folglich auch Insider bereit sein werden, sich in verstärktem Maße mobil zu verhalten, und in welcher Weise sich die bestehende Mobilität und Flexibilität vor allem an den Rändern des Arbeits403
markts als chancen- oder risikoreich erweist, ist nicht zuletzt abhängig von der Ausgestaltung der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. 6
Krisenminimierende Flexicurity-Maßnahmen
Angesichts fortbestehender und neuer Spannungslinien stellt sich die Frage: In welcher Weise können Flexicurity-Maßnahmen die Bedürfnisse der Wirtschaft und Gesellschaft nach Anpassungsfähigkeit und Risikobereitschaft und damit aber auch nach Sicherheit für Investitionen und Anpassungsbereitschaft sowohl für Beschäftigte wie auch für Arbeitgeber verbinden. Erst durch eine soziale Absicherung von Flexibilitätsansprüchen können Sozialstaaten ihre Funktion als Produktivkraft voll entfalten und zu einer Entlastung der angespannten Situation am Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen beitragen. Im Grundsatz gilt: Soziale Sicherungssysteme sind in der Lage, innovatives Verhalten zu stärken. Sie erleichtern auf Seiten der Akteure Anpassungen an institutionelle und organisatorische Neuarrangements, seien es Neuausrichtungen im Bildungssystem, in der Kinderbetreuung, der Altersicherung, der Aktivierung in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik oder im Erwerbsleben selbst. Versicherungen fördern also nicht nur Versuchungen zur „Mitnahme“ von Leistungen (obgleich diese zu berücksichtigen sind), sondern ebenso die Bereitschaft zu Investitionen und riskanten Entscheidungen, die sonst ausbleiben würden. Letzteres wird im Flexicurity-Konzept der EU nach wie vor zu wenig berücksichtigt. Dabei zeigt der jüngste Beschäftigungsbericht der OECD (2007), dass Länder mit vergleichsweise generösen mittelfristigen Lohnersatzleistungen und gleichzeitig hohen Ausgaben für eine aktive Arbeitsmarktpolitik eine höhere Produktivität aufweisen als Länder mit geringen und bedarfsgeprüften Pauschalleistungen. Mögliche Erklärungsgründe für diese Produktivitätsgewinne sind folgende: Großzügige und auf mittlere Frist angelegte Lohnersatzleistungen verbessern die qualifikatorischen und motivationalen Ausgleichsprozesse auf Arbeitsmärkten vor allem durch eine effizientere Suche nach einem passgerechten Arbeitgeber. Insbesondere aber fördert eine aktive Arbeitsmarktpolitik höhere Investitionen auf Seiten der Arbeitnehmer, etwa in Qualifizierung oder in Übergänge zu Selbständigkeit u.Ä. Auf Seiten der
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Arbeitgeber bieten sie Anreize für die Schaffung neuer Stellen oder für eine stärkere Berücksichtigung von so genannten Problemgruppen. Heute bieten jedoch die Sozialsysteme der meisten Mitgliedstaaten (eine gewisse Ausnahme stellen die nordischen Mitgliedsländer dar) weder ausreichend Schutz gegen drohende Risiken und normale Brüche im Erwerbsleben, noch offerieren sie hinreichende Anreize für den Einzelnen, sich offensiv den veränderten Herausforderungen zu stellen. Dabei mangelt es vor allem an einer Absicherung von Risiken, die es den Menschen erlaubt, während ihres Lebenslaufs kritische Übergänge zu wagen. Weitgehend unberücksichtig bleiben dabei zeitweilige Übergänge zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung sowie zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbständigkeit (et vice versa), Übergänge in einen zweiten oder auch dritten Bildungsweg, Kombinationen von Arbeit und Bildung, flexible Übergänge zwischen Erwerbstätigkeit und Pflegezeiten von Angehörigen oder graduelle (anstelle abrupter) Übergänge in die Rentenphase. Hier zeigen sich wichtige Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung der Maßnahmen im Kontext des Flexicurity-Leitbildes. Die wichtigsten Vorteile einer solchen Strategie liegen erstens in einer Stärkung des innovativen Verhaltensrisikos sowohl auf Arbeitnehmer- als auch auf Arbeitgeberseite. Die Neugestaltung zielt darauf, die Flexibilität der Arbeitszeiten im Lebenslauf, die zwischenbetriebliche Mobilität und die Weiterbildungsbereitschaft zu steigern. Sie bietet Beschäftigten Schutz vor Abstiegen bei Entlassungen, sie setzt Anreize zur Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit und sie verbessert Chancen, Arbeit und Familie besser miteinander zu vereinbaren. Zweitens ermöglicht die soziale Absicherung von Flexibilitätsansprüchen auch den Menschen in höheren Einkommens- und Qualifikationsgruppen temporär ihre Erwerbsarbeitszeiten zu vermindern oder für eine gewisse Zeit aus der Erwerbsarbeit auszusteigen. Dabei bieten die hierdurch entstehenden Phasen der Nichtarbeit Raum für Arbeitssuchende. Das ist ein wichtiger Punkt, der auch von Protagonisten einer verbesserten „Übergangssicherung“ (etwa Schmid 2008) vernachlässigt wird. Allerdings setzt die Absicherung von Übergängen voraus, dass das Qualifizierungsniveau dieser Gruppen durch aktive Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik fortlaufend an den Anforderungsstand der Tätigkeiten angepasst wird. Eine derartige Flexicurity-Strategie wäre stärker an gesellschaftlichen Reproduktionsnotwendigkeiten orientiert. In Übereinstimmung mit der weitgehend durch Konsens getragenen gesellschaftlichen Selbstbeschrei405
bung würde eine auf diese Weise neu gestaltete institutionelle Praxis wirtschaftliche Produktivität, Lernen und Innovationen und dementsprechend die ökonomische Wohlfahrt steigern. Sie bietet darüber hinaus Raum für Innovations- und Investitionsbereitschaft nicht nur im Bereich der Arbeitswelt, sondern auch für die Familiengestaltung. Und nicht zuletzt eignet sich diese Strategie auch dazu, Polarisierungen zwischen (noch) geschützten Beschäftigten, prekär Beschäftigten und Arbeitslosen zu verringern. So könnten die ansonsten fortbestehenden materiellen Krisen wie auch Kooperationskrisen in dynamische Spannungslagen der sich stetig fortentwickelnden Gesellschaften zurückgeführt werden. 7
Fazit
Der Flexicurity-Ansatz der EU zielt ab auf die gleichzeitige Förderung der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und der sozialen Sicherheit. Mit einer sorgsamen Austarierung der funktionalen Balance zwischen Flexibilitätsund Sicherheitsmaßnahmen können die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft dem Versprechen der sozialen kapitalistischen Marktwirtschaft einer konkurrenzlos hohen wirtschaftlichen Effizienz bei gleichzeitig gewährleisteten rechtlichen und materiellen Teilhabechancen ein gutes Stück näher kommen. Der dabei eingeschlagene Weg erscheint viel versprechend. Die sich andeutenden Maßnahmen, die im Rahmen des Flexicurity-Ansatzes entwickelt werden, sind im Grundsatz geeignet, bestehende Krisenmomente zumindest teilweise zu bewältigen. Ob und inwieweit sie in den jeweiligen Mitgliedsländern umgesetzt werden, ist allerdings eine offene Frage und in starkem Maße von den jeweiligen institutionellen und strukturellen Bedingungen abhängig. Die Wahrscheinlichkeit eines koordinierten Vorgehens der Mitgliedstaaten ist – so meine Anfangs entwickelte These – hoch. Dabei ist schon die dokumentierte Anerkennung des funktionalen Zusammenhangs von Flexibilität und Sicherheit und damit der Steigerung der gesellschaftlichen Produktivität und Effizienz durch die Förderung der Balance zwischen beiden ein beachtenswerter Schritt. Unabhängig von den immer auch zu erwartenden Beharrungsmomenten und Pfadabhängigkeiten bestehen jedoch auch konzeptionelle Probleme. Diese konnten durch das knapp skizzierte heuristische Modell der Gesellschaftsanalyse verdeutlicht werden. Insbesondere mangelt es dem Flexicuri406
ty-Ansatz an Maßnahmenvorschlägen für die Absicherung von Übergangsrisiken, die es den Menschen erlauben würde, während ihres Lebenslaufs kritische Übergänge zu wagen. Dazu gehören eine vergleichsweise großzügige Einkommenssicherung bei Übergangsarbeitslosigkeit, ein hoher Arbeitskräfteumschlag, sowohl getragen durch eine starke Wirtschaftsdynamik als auch durch sozial gesicherte Ausstiegsphasen im Rahmen rechtlich gesicherter Gelegenheitsstrukturen, sowie das Recht auf Arbeitszeitreduzierung, auf Erziehungs- und Pflegezeiten oder auf Weiterbildung und nachholende Bildungsabschlüsse im Erwachsenenalter. Ein derart an gesellschaftlichen Reproduktionsnotwendigkeiten orientiertes soziales Sicherungssystem kann aktuell Beschäftigte vor Lohndumping und übergebührlichen Flexibilitätsund Leistungsanforderungen schützen, es kann Polarisierungen zwischen (noch) geschützten Beschäftigten, prekär Beschäftigten und Arbeitslosen verhindern, es kann die Innovations- und Investitionsbereitschaft fördern sowie neue Freiheiten im Lebens- und Berufsverlauf ermöglichen und es kann im Zuge der Steigerung geschützter Mobilität Arbeitssuchenden neue Chancen am ersten Arbeitsmarkt bieten. Für alle Mitgliedsländer der EU gilt deshalb: Nie in ihrer Geschichte waren sie einer Produktivität und Effizienz fördernden Balance von Flexibilität und Sicherheit, die Teilhabechancen für alle Gesellschaftsmitglieder schafft, näher als heute. Im Zuge der Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten hat sich damit für viele Gesellschaftsmitglieder ein guter Teil der mit einer sozialen kapitalistischen Marktwirtschaft verbundenen Versprechen erfüllt. Es gilt aber auch: Für viele sind diese Versprechen bis heute nicht in Erfüllung gegangen. Dies betrifft vor allem Menschen mit riskanten Übergängen im Lebensverlauf. Zudem bestehen einflussreiche Reproduktionsprobleme fort, so etwa Bildungs-, Beschäftigungs-, Fertilitäts- oder staatliche Haushaltsdefizite. Daneben gewinnen weitere Problemkonstellationen im Zuge demographischer und ökologischer Entwicklungen an Bedeutung. Tief verankert in der Selbstbeschreibung von Gesellschaften besitzt der Flexicurity-Ansatz großes Potential, die bestehenden und zu erwartenden Krisenmomente in sozial und ökonomisch ausbalancierte Spannungslagen zu überführen. Dieses Potential auszubauen, ist eine europapolitische Gemeinschaftsaufgabe. Die Beobachtung der Entwicklung und der (Nicht-) Entfaltung dieses Potentials ist dann wiederum eine Aufgabe der Gesellschaftsanalyse. Das hier vorgeschlagene gesellschaftstheoretische Modell ist zunächst ein erster Versuch der Systematisierung der Beobachtung, bei dem 407
mögliche Problemkonstellationen und Lösungswege exemplifiziert wurden. Wenn dieses Essay (kritische) Anregungen für eine Weiterentwicklung der gesellschaftstheoretischen Verortung aktueller Wandlungsprozesse und/ oder gar Anstöße zur empirischen Analyse dieser spannungsgeladenen Entwicklung geboten hat, dann hat sich dieser Versuch gelohnt. Literatur Algan, Yann und Pierre Cahuc, 2004: Job Protection: the Macho Hypothesis, IZA Discussion Paper 1192, Bonn. Annesley, Claire, 2007: Lisbon and Social Europe: Towards a European ‚Adult Worker Model‘ Welfare System, Journal of European Social Policy 17 (3): 195-205. Arthur, W. Brian, 1988: Self Reinforcing Mechanisms in Economics. S. 9-33 in: Philip W. Anderson, Kenneth J. Arrow und David Pines (Hg.): The Economy as an Evolving Complex System. Redwood City/California: Addison-Wesley. Barbier, Jean-Claude und Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, 2004: The many worlds of activation, European Societies 6 (4): 423-436. Beck, Ulrich, 2005: Europäisierung – Soziologie für das 21 Jahrhundert, Aus Politik und Zeitgeschichte 34-35/2005: 3-11. Bogedan, Claudia, 2008: Mehr als Flexicurity. Lehren aus der dänischen Arbeitsmarktpolitik. S. 267-285 in: Olaf Struck und Hartmut Seifert (Hg.): Arbeitsmarkt und Sozialpolitik. Kontroversen um Effizienz und Sicherheit. Wiesbaden: VS. Borchert, Jens, 1998: Ausgetretene Pfade? Zur Statik und Dynamik wohlfahrtsstaatlicher Regime. S. 137-176 in: Stephan Lessenich und Ilona Ostner (Hg.): Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Frankfurt a.M./New York: Campus. Council of the European Union, 2007: Joint Opinion on the Common Principles of Flexicurity. Brüssel. Crouch, Colin und Henry Farrell, 2002: Breaking the Path of Institutional Development? Alternatives to the New Determinism, European University Institute Working Paper 2002/4, Florence. Elder, Glen H., 1974: Children of the Great Depression: Social Change in Life Experience. Chicago: University of Chicago Press. Erhard, Ludwig, 1957: Wohlstand für alle. Düsseldorf: Econ Esping-Andersen, Gøsta, 1990: The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge: Polity Press. Eucken, Walter, 1960: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Tübingen/Zürich: J.C.B. Mohr. European Commission, 2006: Employment in Europe 2006. Brüssel. European Expert Group on Flexicurity, 2007: Flexicurity pathways. Turning hurdles into stepping stones. Interim report, Brüssel. Europäischer Rat (Hg.), 2000: Schlussfolgerungen des Vorsitzenden. Europäischer Rat in Lissabon 23.-24. März, Brüssel. Giddens, Anthony, 1984: The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration. Berkeley: University of California Press.
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Die Interessen an der gemeinsamen europäischen Währung Peter Spahn
Die Entscheidung zugunsten einer gemeinsamen Währung in Europa ist ein historisches Faktum, seine sozialwissenschaftliche Erklärung jedoch keineswegs evident. Schon die Frage, ob dem Ereignis ein gesellschaftlicher Willensbildungsprozess, eine irgendwie geartete Einigung der Bürger zugrunde liegt oder ob dieses eher als ein Experiment technokratischer Effizienzsteigerung im Rahmen einer monetären Ordnungspolitik zu sehen ist, lässt sich nicht umstandslos beantworten. Auch ist unklar, ob die Bürger – einmal vorausgesetzt, ihre Präferenzen stehen hinter der Einführung des Euro – diese gemeinsame Währung als Ausdruck einer pro-europäischen Gesinnung und als Vorgriff auf die spätere Institutionalisierung eines politischen Europas wünschen. Denkbar ist umgekehrt auch, dass sie die Währungsunion als eine Abkehr von den lange Zeit politisch gesteuerten Nationalwährungen verstehen, so dass der Wunsch nach einer unpolitischen und ökonomisch stabilen supranationalen Währung im Vordergrund steht – verbunden vielleicht sogar mit der Befürchtung, dass auch der Euro eines Tages wieder von Politikern zur Realisierung wohlgemeinter Projekte instrumentalisiert wird. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) beziehungsweise der Europäischen Währungsunion (EWU) wird von den Bürgern Europas nicht ganz eindeutig bewertet. Zunächst zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Höhe der Zuwendungen aus Brüssel und der subjektiven Wahrnehmung der Vorteilhaftigkeit der EU-Mitgliedschaft (Abbildung 1). Dies hat zwar direkt nichts mit der europäischen Währung zu tun, aber möglicherweise wird in vielen Ländern die EU- beziehungsweise EWUMitgliedschaft als ein Paket angesehen. Kleine Länder haben in der Regel ohnehin keinen Vorteil durch eine eigene Währung, wenn sie bei freiem Kapitalverkehr nicht über die Autonomie des nationalen Finanzmarkts und 411
der nationalen Geldpolitik verfügen. Daher wird der Beitritt zur EU zumeist als Vorstufe zur Übernahme des Euro gesehen. Jedoch gibt es auch einige EU-Länder, die durchaus nicht unmittelbar in den Euro streben. Folglich empfiehlt sich eine Konzentration auf die EWU-Mitgliedschaft. Umfragen zu den Vor- und Nachteilen des Euro führen teilweise zu deutlich abweichenden und auch in sich widersprüchlichen Ergebnissen; man vergleiche die Resultate bei Lane (2006) und Eichengreen (2007a, Abbildung 2). Die Werte sind im Einzelfall auch nicht leicht zu erklären: So ist die Zustimmung zur EU in Portugal und Griechenland relativ gering, obwohl man in Fachkreisen gerade von den großen Integrationsgewinnen dieser „Schwellenländer“ spricht. Abbildung 1:
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Zustimmung zur EU und Zuwendungen aus dem EUHaushalt (Fux 2007)
Abbildung 2:
Umfrage zur Vorteilhaftigkeit des Euro im Jahr 2006 (Eichengreen 2007a)
Wofür braucht man überhaupt eine nationale oder gegebenenfalls supranationale Währung? Hier wird der Soziologe zurecht eine Antwort vom Ökonomen verlangen. Jedoch wirkt die Wirtschaftswissenschaft bei dieser Frage oft wie auf dem falschen Fuß erwischt. Dies kommt nicht von ungefähr, da sie ihre Gesetze für die realwirtschaftlichen Beziehungen zwischen Wirtschaftssubjekten, Gütern und Diensten aufzustellen trachtet, wobei dem Geld traditionellerweise nur eine Hilfsfunktion zugedacht wird. Allseits bekannt ist die schon von Adam Smith vermerkte Trivialität, dass Geld den direkten Tausch erleichtert. Zumeist denkt man dabei an eine Konstellation, in der die Tauschpartner nicht über die wechselseitig eigentlich gewünschten Dinge verfügen. Dass sich hinter diesem Bild ein grundsätzlicheres Problem verbirgt, wird in der folgenden Anekdote angesprochen: „Zwei ältere Herren leben auf einer Insel. Ihr einziger Kontakt besteht darin, sich in unregelmäßigen Abständen zum Essen einzuladen. Da Kochen mühsam ist, vereinbaren sie abwechselnde Einladungen. Aber weil sie so selten zu-
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sammenkommen und ihr Gedächtnis nicht mehr so gut wie früher ist, können sie sich nicht immer darauf einigen, wer zuletzt gekocht hat. Diese Meinungsverschiedenheiten erzeugen so viele Spannungen, dass ihre Treffen noch seltener werden.
Um dieses Problem zu beheben, kommt einer der Herren auf die Idee, einen kleinen Stein in unverwechselbarer Weise grün anzumalen und ihn bei der nächsten Einladung mitzubringen. Der Besitz des Steins gibt von nun an dem jeweiligen Gastgeber die Gewissheit, dass er demnächst eine Einladung des anderen erwarten kann; bei dieser Gelegenheit muss er dann den Stein als Gastgeschenk präsentieren, um gleichsam seine Berechtigung auf ein Abendessen zu dokumentieren. Diese einfache Geschichte zeigt das wesentliche Merkmal von geldlichen Transaktionen. Geld ist ein gesellschaftlich anerkanntes Buchhaltungsmedium. Jeder der beiden Robinsons ‚zahlt‘, indem er diesen Beleg seinem Partner aushändigt und so ihm das Recht überträgt, später seinerseits eine Dienstleistung zu beanspruchen“ (Ostroy/Starr 1990: 8f., gekürzte Übersetzung).
Man sieht, dass man Geld auch in dem extrem einfachen Fall benötigt, in dem die zu handelnden Güter qualitativ und quantitativ identisch sind. Es geht also nicht um die technische Erleichterung von Tauschaktionen, sondern formal um mangelnde Information, inhaltlich und ökonomisch um Fairness in der Einkommensverteilung. Der Einzelne liefert nur dann etwas für sein Gegenüber, wenn er (unter Umständen später) eine entsprechende Gegenleistung erwarten kann. Nur über als fair empfundene bilaterale Wirtschaftsbeziehungen wird ein Verteilungsmodus auch gesellschaftliche Akzeptanz finden. Geld wirkt so als ein Substitut für fehlendes Vertrauen zwischen den Wirtschaftssubjekten. Bilaterale Beziehungen werden durch das Geld zu Drei-Parteien-Geschäften (Gale 1982: 239; Ingham 2000). Die allseits praktizierte Norm, dass Güter und Einkommen (im Prinzip) nicht auf dem Wege eines Übervorteilens im bilateralen Tausch, nicht durch persönliche Beziehungen oder unmittelbare Gewalt verteilt werden, kann insoweit den Prozess individueller Interessenverfolgung beruhigen; die Marktakteure wissen, dass die Güteraneignung „objektiv“ via Geldzahlung erfolgt. Geld fungiert dabei nicht nur als ein Kommunikationsmittel, sondern auch und vor allem als Medium der legitimen Übertragung von Eigentumsrechten. Der Ressourcenstreit verlagert sich damit auf eine monetäre Ebene. 414
„Das Problem Knappheit wird durch Geld (...) in eine andere Form gebracht (...): in die Form von Geldknappheit. Das Problem Knappheit (...) entsteht, wenn jemand im Interesse der eigenen Zukunft andere vom Zugriff auf Ressourcen ausschließt. Die Frage ist: Wann und wie darf er das? (...) Die Antwort, die das Kommunikationsmedium Geld ermöglicht, lautet: wenn er zahlt.“ „Der ‚unit act‘ der Wirtschaft ist die Zahlung“ (Luhmann 1988: 252, 52).
Es ist offensichtlich, dass sich Vertrauens- und Reputationsprobleme nun auf das Geldmedium selbst beziehen. In der obigen Anekdote wird dies kaum deutlich, sie legt möglicherweise sogar eine argumentativ falsche Fährte: Es scheint, als ob der grüne Stein als Geldmedium deshalb akzeptiert wird, weil er auf zuvor geleistete Dienste seines Besitzers verweist; wesentlich ist jedoch die Erwartung, dass der Geldbesitz eine künftige Aneignung von Ressourcen verspricht. Am Beispiel der Bereitschaft von Lohnabhängigen und Sparern, Dienste und Konsumverzicht im Tausch gegen bloß nominale Zahlungsversprechen zu liefern, zeigt sich die Berechtigung von Luhmanns (1968: 27) Diktum, Vertrauen als „riskante Vorleistung“ zu definieren. In den als Zahlungswirtschaften organisierten Marktgesellschaften kommt der Institution der Zentralbank deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sie allein den Realwert der Währung zu sichern imstande ist. Ein Blick auf die europäische Inflationsgeschichte der letzten Jahrzehnte zeigt, dass das Vertrauen in die Währungsstabilität nach 1970 ganz erheblich erschüttert wurde (Abbildung 3). Bereits die Gründung des Europäischen Währungssystems 1979 ist als Versuch zu sehen, die (relative) Geldwertstabilität in Deutschland über die feste Bindung der europäischen Währungen an die D-Mark gleichsam in die Nachbarländer zu exportieren. Die Selbstbindung an den festen Wechselkurs war das Vehikel, um die nationalen Gewerkschaften und Unternehmen durch die Drohung des Verlusts an Marktanteilen gegenüber deutschen Produzenten zur Lohn- und Preiszurückhaltung zu bewegen. Der Vertrag von Maastricht 1992 markiert einen weiteren, in sich konsequenten Schritt auf diesem Weg mit der Ankündigung, die Wechselkurse überhaupt abzuschaffen und eine gemeinsame Währung einzuführen, die mindestens die Qualitätsstandards der D-Mark aufweisen sollte. Bereits vor Einführung des Euro 1999 war das Ziel der Angleichung der europäischen Inflationsraten auf niedrigem Niveau in etwa erreicht.
415
Abbildung 3:
Inflation in Deutschland und zehn weiteren Ländern der heutigen EWU (in %) EWS
25
Vertrag von Maastricht
Beginn der Währungsunion
20 15 10 5 0 1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Quelle: EZB, Sachverständigenrat; eigene Berechnungen.
Abbildung 4:
Realer Kapitalmarktzins (in %) in Deutschland und zehn weiteren Ländern der heutigen EWU
16 Beginn der Währungsunion
12 8 4 0 -4 -8 -12 -16 1970
1975
1980
1985
1990
Quelle: EZB, Sachverständigenrat; eigene Berechnungen.
416
1995
2000
2005
Diese „Erfolgsstory“ bedeutet allerdings nicht, dass alle Beteiligten davon in gleicher Weise profitiert haben. Dies wird deutlich, wenn man die Inflationsentwicklung in Relation zu den Zinssätzen auf dem Kapital- und Kreditmarkt betrachtet. Die Differenz „Zins-minus-Inflation“ lässt sich als Realzins definieren. Er misst einerseits den realen, das heißt um die Geldentwertung korrigierten Ertrag, den die Sparer mit ihrer Geldvermögensbildung erzielen, und – spiegelbildlich – andererseits die realen Kapitalbeschaffungskosten der Schuldner, das heißt der privaten Unternehmen und des Staats. Mit Blick auf die Realzinsentwicklung in Europa lassen sich in etwa drei Phasen unterscheiden (Abbildung 4): Von Anfang der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre wurde zwar der Sparer in Deutschland zumindest teilweise vor der Inflation geschützt (ein explizites Ziel der Bundesbankpolitik), jedoch weniger in den übrigen Ländern. Der Realzins war phasenweise sogar deutlich negativ, das heißt, Geldvermögen wurde durch die Inflation entwertet. Profitiert haben insoweit die Schuldner; die seit dieser Zeit allgemein steigende Staatsverschuldung war demnach zunächst noch kein großes Problem. Dies änderte sich in der zweiten Phase. Zwischen circa 1985 und dem Beginn der Europäischen Währungsunion war Deutschland die Volkswirtschaft mit dem niedrigsten Realzins. In den europäischen Nachbarstaaten zeigten sich die ökonomischen Kosten der Anpassung an die niedrige deutsche Inflationsrate: Mit besonders hohen Zinsen musste die Wirtschaftsaktivität eingedämmt werden; mittels vermehrter Arbeitslosigkeit wurde ein stärkerer Druck auf Lohnzurückhaltung ausgeübt, der schließlich zum Inflationsabbau führte. Arbeitslosigkeit und die hohen Realzinsen belasteten nun aber auch die Staatshaushalte. Diese Konstellation war weder politisch noch finanzwirtschaftlich lange durchzuhalten.
417
Abbildung 5:
Gesamtwirtschaftliche Lohnstückkosten in 11 Ländern der EWU
135 BEL
130
DEU FIN
125
FRA 120
GRI IRL
115
ITA NLD
110
ÖST POR
105
SPA 100 1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
Quelle: OECD Economic Outlook, Index 1999 = 100; eigene Berechungen.
In der dritten Phase hat nun der Übergang zur EWU die Schuldner Europas deutlich entlastet. Die Staatshaushalte in Deutschlands Nachbarstaaten sind die Gewinner der Währungsunion, weil die Zinslasten deutlich gesunken sind. Deutschland hat nun tendenziell den höchsten Realzins, weil der nominale Kapitalmarktzins in der gesamten Währungsunion sich praktisch angeglichen hat, die Inflation in vielen Ländern aber noch ein wenig höher als in Deutschland ist. Darüber hinaus bedeutet diese anhaltende, wenn auch geringe Inflationsdifferenz im Euro-Währungsraum, dass sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrien, getrieben von den Lohnstückkosten, immer weiter auseinander entwickelt (Abbildung 5). Die Leistungsbilanzsalden zwischen den EWU-Teilnehmerländern sind deshalb außergewöhnlich hoch und zeigen Anzeichen einer Verfestigung (Abbildung 6).
418
Abbildung 6:
Leistungsbilanzsaldo/BIP in 11 Ländern der EWU
9
BEL DEU
6
FIN
3
FRA
0
GRI IRL
-3
ITA
-6
NLD ÖST
-9
POR -12 1999
SPA 2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
Quelle: OECD Economic Outlook; eigene Berechnungen.
Im Hinblick auf die Frage, wer nun Gewinner oder Verlierer der Währungsunion ist, sind unterschiedliche Meinungen in Umlauf. Betrachtet man die Kontinuität der deutschen Exportüberschüsse im Euro-Raum, so mag man die Einführung des Euro als Zementierung der Vorherrschaft der deutschen Industrie auf den europäischen Gütermärkten interpretieren, weil nun das Ausland nicht länger über die Möglichkeit verfügt, sich wie früher immer wieder geschehen mit Währungsabwertungen gegen den deutschen Vorsprung an preislicher Wettbewerbsfähigkeit zu wehren. Allerdings könnte dies in einem Pyrrhussieg Deutschlands enden: Gerade weil diese früher betriebene nationalstaatliche Verteidigung gegen die deutsche Wirtschaftsstärke nicht mehr zur Verfügung steht, wird eine drohende Verfestigung von Wettbewerbsschieflagen und Leistungsbilanzdefiziten zu einem Thema der europäischen Politik. Will man nicht den Ausstieg einzelner Länder oder gar den Zusammenbruch der EWU riskieren, so hält das Arsenal Brüsseler Politikinstrumente das Konzept von Transferzahlungen an notleidende Industrien und Staatshaushalte bereit, als deren Financier wiederum Deutschland als Nettozahler Europas aufzutreten hätte. Auf die monetäre Vergemeinschaftung folgt die Vergemeinschaftung der Ansprüche. Länder, die sich durch die gemeinsame Währung benachteiligt 419
fühlen, könnten sozialpolitische Umverteilungen auf europäischer Ebene verlangen (Nollmann 2002). In diesem pessimistischen Szenario wiederholt sich das pathologische Muster der deutschen Währungsunion auf europäischer Ebene: die Entstehung einer Transferunion aufgrund verfehlter Lohnpolitik (Flassbeck/Spiecker 2005). Nach einer anderen Sichtweise hat Deutschland überhaupt mit dem Übergang von der D-Mark zum Euro im Vergleich zu den übrigen Ländern ein schlechtes Geschäft gemacht (Goodhart 1996a). Während die übrigen Länder ihre mehr oder weniger schwachen Währungen gegen eine supranationale Variante der weltweit angesehenen D-Mark tauschen konnten und damit auch die Zinslasten ihrer Staatsverschuldung deutlich verringerten, gab Deutschland das einzig durchschlagende Instrument einer nationalen Konjunktursteuerung, nämlich die Geldpolitik, aus der Hand. Seit Mitte der 1990er Jahre bewegen sich die deutschen Wachstumsraten meist am unteren Rand des europäischen Spektrums (Abbildung 7), ein Spiegelbild der hohen Realzinsen (Abbildung 4). Es besteht weithin Einvernehmen darüber, dass die Zinspolitik der EZB in den vergangenen Jahren für die deutsche Volkswirtschaft zu hoch war; mit der Bundesbank wäre man in dieser Zeit besser gefahren. Nach Hinweisen ausländischer Fachleute auf die volkswirtschaftlichen Kosten des Euro für Deutschland scheint man hier oft peinlich berührt: Hat man die D-Mark zu billig verkauft? „The whole project rested on Germany’s willingness to give up its currency“ (Wyplosz 2006: 246).
420
Abbildung 7:
Wirtschaftswachstum in Deutschland und zehn weiteren EWU-Ländern (in % vom BIP)
10 8 6 4 2 0 -2 1995
1997
1999
2001
2003
2005
2007
Quelle: Sachverständigenrat; eigene Berechnungen.
Es ist in der Tat nicht unmittelbar einsichtig, dass den Deutschen der Abschied von der D-Mark so leicht fiel, insbesondere wenn man bedenkt, welch tief gehend kulturelle Rolle der Währung gerade in Deutschland zugeschrieben wird: „Eine Mentalitätsscheide zum übrigen Westen tut sich im Begriff der Währung auf. In diesem deutschen Wort stecken obrigkeitliche Versprechen wie die Gewähr, unbedenklich die Früchte seiner Arbeit dagegen eintauschen zu dürfen, und die Wahrhaftigkeit, ihren Wert zu behalten. Die lateinischen Völker Europas haben für Währung ein eher abschätziges Wort. Es klingt nach Moneten und ihr Wert blieb Regierungsbeschlüssen unterworfen. Dort ist es kein Vergehen, mit inflatorischen Mitteln Konjunktur und Arbeitsmärkte zu beleben. Für die Angelsachsen ist Währung ein bloßer Umlauf, ‚currency‘, weitab von Gewähr und Wahrheit. Den Franzosen war die deutsche Währungs- und Finanzpolitik schon lange ein Dorn im Auge. Sie hielten eine unabhängige Bundesbank für eine Vierte Gewalt im Staat und baten im Zuge der Wiedervereinigung um ihre Abschaffung. Die Deutschen hatten zu tun, die nachfolgende Europäische Zentralbank auf ihr Territorium zu locken und sie mit ähnlichen Prinzipien auszustatten und durchzusetzen“ (Schmid 2007).
421
Eine Antwort auf dieses Rätsel könnte darin bestehen, dass die immer wieder beschworene besondere innere Beziehung der Deutschen zu ihrer Währung letztlich nichts als ein Mythos ist. Aber diese Antwort ist wenig plausibel. Das Standardargument ist hier der Verweis auf die besondere Geldentwertungserfahrung der Deutschen, die im letzten Jahrhundert zweimal zu einer nahezu völligen Vernichtung der Geldvermögen geführt hat; allerdings lagen diese Ereignisse – 1923 und 1948 – beim Eintritt in die Währungsunion schon lange zurück. Bedeutsamer ist möglicherweise die Institution der Bundesbank: Sie wurde von den Alliierten – zur geplanten Schwächung Deutschlands – als politisch unabhängige Institution geschaffen, die sehr rasch und ganz gegen die Intentionen der deutschen Politiker ihre Eigenständigkeit zu verteidigen lernte (und später zu einem Exportmodell eines effizienten „Central Banking“ wurde). Der deutschen Bevölkerung bot die Bundesbank damit eine Projektionsfläche für ein Staatsvertrauen, das der Parteienstaat und wechselnde Regierungen immer weniger zu begründen imstande waren. Der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, brachte dies beim 50-jährigen Jubiläum der Bundesbank 2007 spöttisch auf den Punkt, als er vermerkte, dass die Deutschen zwar nicht alle an Gott, aber sehr wohl an die Bundesbank glauben. „Das Verlangen nach dem Gelde ist ein bloßer unvollkommener Repräsentant des höheren Verlangens nach der Vereinigung, nach dem Staat“ (Müller 1922: 139).
Der entscheidende Punkt des Erfolgsmodells der deutschen Währungspolitik war gerade ihre Herauslösung aus dem politischen Tagesgeschäft, anders formuliert: ihre mangelnde „demokratische Legitimation“. Dieser Gedanke fand zunehmend auch im Ausland Anhänger. Die Zustimmung zur Idee der europäischen Währungsunion in den einzelnen Ländern hing in starkem Maße von dem Grad der Laxheit der nationalen Geld- und Finanzpolitik ab (Gärtner 1997). Es war jedoch aus europapolitischen Gründen undenkbar, die Bundesbank einfach zur europäischen Zentralbank umzurüsten (Wyplosz 2006); auch in Deutschland drängte niemand darauf. Aber es musste mit großem Aufwand der Eindruck erweckt werden, dass die in Frankfurt (!) anzusiedelnde EZB die Politik der Bundesbank fortführen werde. Die Deutschen hatten kein Problem mit der Vorstellung, eine gute Währung mit den Nachbarstaaten zu teilen. Schließlich ist eine Währung auf 422
den ersten Blick eine Art „öffentliches Gut“, dessen Nutzen für den Einzelnen nicht darunter leidet, dass es auch von anderen verwendet wird. Vielleicht gab es sogar ein gewisses „Sendungsbewusstsein“ derart, dass „unmäßige“ individuelle Interessenverfolgung in so manchem Nachbarstaat nun auch durch eine strenge Geldversorgung beschränkt werden könne; ein bisschen mehr an deutscher Währungsordnung könne nicht schaden (Feldstein 1997). Die Deutschen haben sich geirrt. Währung und Geldpolitik ändern ihren Charakter dadurch, dass man sie „exportiert“, das heißt einen größeren Währungsraum etabliert. Das Problem besteht in der mangelnden Integration der europäischen Arbeitsmärkte und der Autonomie der nationalen Lohnpolitik. Eben weil es an Flexibilität und Mobilität auf dem europäischen Arbeitsmarkt mangelt, ist die EWU aus ökonomischer Sicht kein „optimaler Währungsraum“ ein Kriterium, das man bei der Einführung des Euro meinte missachten zu können (Feldstein 1997; Wyplosz 2006). Die Folge sind zwar geringe, aber anhaltende Inflationsdifferenzen zwischen den EWUTeilnehmerstaaten; und die Ironie der Geschichte besteht darin, dass die EZB gerade durch den Auftrag, den „deutschen“ Grad an Geldwertstabilität in ganz Europa durchzusetzen, eine Zinspolitik betreibt, die für die deutsche Volkswirtschaft über lange Phasen hinweg zu restriktiv ist. Auf der anderen Seite impliziert die schlichte Logik der Kontrolle einer durchschnittlichen europäischen Inflation, dass die Geldpolitik in Ländern wie Portugal und Spanien zuwenig zur Stabilisierung beitragen kann. „One size fits all“ oder „one size fits none“? In einigen EWU-Ländern klagt man über zu hohe Inflation, geringe Wettbewerbsfähigkeit und hohe Leistungsbilanzdefizite. Stellenweise wird das Schlagwort „Ausstieg aus dem Euro“ in die Diskussion geworfen. Kann die Währungsunion scheitern? In älteren Statements wurde, mehr oder weniger übertrieben, die zivilisatorische, historische und geopolitische Rolle der EWU betont, aus der es kein Zurück mehr gibt: „Der Euro ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument im Interesse des Wachstums. (...) Er ist das einzige Mittel für Europa, um gegen die amerikanische Hegemonie zu kämpfen“ (Ministerpräsident Jacques Chirac). „Die gemeinsame Währung Euro ist die strategische Antwort Europas auf die Herausforderungen der Globalisierung“ (Bundesfinanzminister Theo Waigel).
423
„Letzten Endes ist eine Währungsunion eine nicht mehr kündbare Solidargemeinschaft“ (Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer; alle Handelsblatt 31.12.1996). „Der Euro ist doch primär keine ökonomische Veranstaltung. Das glauben nur die Waigels, Tietmeyers und andere Geldpolitiker. (...) Der Euro ist eine strategische Veranstaltung. Er ist Teil des Aufbaus Europas in Etappen“ (ExBundeskanzler Helmut Schmidt, zitiert in Issing 1997). „The argument in favor of the single currency should be based on the desire to live together in peace“ (EU-Kommissionspräsident Jacques Delors, zitiert in Eichengreen 2007a: 13).
Vertreten wurde auch die These, dass sich der Euro als Beschleuniger der europäischen Institutionen erweisen, die Ausweitung einer europäischen Staatsbürgerschaft befördern und die öffentliche Aufmerksamkeit schrittweise nach Brüssel, der „Hauptstadt Europas“, umlenken werde (Nollmann 2002). Aus ökonomischer Sicht wurde diese These mit dem Argument gestützt, dass sich die politische Identität eines Landes an seiner Zahlungsbilanz festmacht und aufgrund der fehlenden zwischenstaatlichen Zahlungsbilanzen in der EWU die Wirtschaftsprobleme der Teilnehmerländer in der Öffentlichkeit zu weniger interessanten Regionalproblemen degenerieren werden. „Balance of payment data almost force one to concentrate on the well-being of that sub-entity whose balance is under consideration. Without them, the focus of attention will shift to the larger whole grouping“ (Goodhart 1996b: 1087).
Beide Prognosen haben sich bislang nicht erfüllt. Zwar kann man wegen des einheitlichen Finanzmarkts in der EWU nicht mehr sinnvoll von Kapitalbilanzen zwischen den Mitgliedsländern sprechen, aber die Leistungsbilanzdefizite sind ein sichtbarer Ausdruck der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit mancher Volkswirtschaften innerhalb der EWU (Abbildung 6). Vor allem ist wenig von einer „gefühlten“ EU-Staatsbürgerschaft spürbar und das Image von Brüssel ist eher negativ besetzt. Nicht Globalisierung und geopolitischer Wettbewerb bedrohen das Projekt EWU, sondern die ungelösten Konstruktionsprobleme von ökonomischer und politischer Union.
424
„The fundamental issue is that European economic integration is built on a group of countries each of which wants to stay largely as it was before integration“ (Dominguez 2006: 68).
Der ursprüngliche Streit drehte sich hier um die Frage, ob die Währungsunion erst eine bereits erfolgte politisch-ökonomische Integration krönen oder umgekehrt selbst befördern soll. Eine dritte Position plädierte für eine monetäre Integration ohne politische Union, um der Institution der Notenbank einen Machtvorsprung zu geben und die Währungsstabilität nicht durch die Interessenpolitik europäisch handelnder Regierungen und Gewerkschaften zu gefährden (Sievert 1997; Issing 2000). Heute bildet sich mehr und mehr die Meinung heraus, dass die EWU langfristig ohne eine politische Union nicht funktionsfähig ist (De Grauwe 2006; Goodhart 2007). So verweist zum Beispiel die bisherige Erfahrung anhaltender nationaler Konjunkturbewegungen, die durch die gemeinsame Geldpolitik eben nicht stabilisiert werden können, auf die Notwendigkeit finanzpolitischer Transferzahlungen zwischen den EWU-Mitgliedsländern, wie dies in föderativen Staatsgebilden zumeist auch institutionalisiert ist. Aber das politische Europabürger-Bewusstsein reicht dazu eben (noch) nicht aus, die europäische Identität ist nicht „umverteilungsfest“ (Vobruba 2003: 1373). Dies ist auch wenig verwunderlich, bedenkt man, dass aus stabilisierungspolitischen Gründen in den vergangenen Jahren die „armen“ Länder Griechenland und Spanien Transferzahlungen an das „reiche“ Deutschland hätten leisten müssen, um dort die Konjunktur zu bremsen und hier anzutreiben. „Citizens of different countries will be less enthusiastic about giving money to one another; lacking a common national identity, they lack the requisite political solidarity, absent significant steps toward political integration at the European level“ (Eichengreen 2007a: 32).
Damit wird ein Dilemma deutlich: Das mangelnde politische Europabewusstsein steht einer Verbesserung der ökonomischen Funktionsweise der EWU im Wege, und diese Funktionsprobleme wiederum verstellen die Einsicht, dass sich individuelle beziehungsweise nationale „Vorleistungen“ letztlich für alle als lohnend erweisen können. Der mögliche Ausstieg einzelner Länder aus der EWU wird offenkundig einem politisch-ökonomischen Interessenkalkül folgen. Ein wohl nur 425
hypothetischer Fall wäre der Austritt Deutschlands, vorstellbar als Reaktion auf einen grundlegenden Kurswechsel der EZB in Richtung auf eine Tolerierung höherer Inflation; aber ein solcher Kurswechsel ist aus vielen Gründen unwahrscheinlich. Realistischer ist die Überlegung einzelner anderer Länder, durch die Wiedereinführung ihrer nationalen Währung und die Fixierung eines günstigeren Wechselkurses zum Euro ihre verloren gegangene Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen zu können. Die Abwertung der nationalen Währungen zum Euro impliziert aber zugleich, dass die Last der ebenfalls wieder in nationaler Währung notierten Staatsschuld zunimmt, erstens wegen des Umtauscheffekts, zweitens wegen der dann vermutlich wieder steigenden nationalen Zinsen. Schließlich würde man solche Länder auch auf der europapolitischen Bühne ächten. Die Kosten eines EWUAustritts würden so vermutlich die Vorteile übersteigen (Eichengreen 2007a; Goodhart 2007). Bleibt Europa auf halbem Weg von der ökonomischen zur politischen Union in einer ineffizienten Struktur stecken? Es ist sicher richtig, dass die bisherigen historischen „Vorbilder“ von Währungsunionen aus vielen Gründen nicht dazu taugen, Kriterien für das Überleben der EWU zu liefern (Eichengreen 2007b), und dass Letztere wiederum durchaus den Weg für ähnliche Versuche in Asien oder Südamerika bahnen könnte. Aber die Erfahrungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte geben genügend Anlass zu der These, dass Europa nicht nur kein optimaler Währungs-, sondern auch kein optimaler Regierungsraum ist, weil einerseits die politischökonomischen Kosten der Bereitstellung öffentlicher Güter in großen, kulturell heterogenen Gesellschaften stark ansteigen (Alesina et al. 1995; Alesina 1997) und andererseits die Einigung auf einen europäischen Minimalstaat, der die gewachsenen nationalen europäischen Wohlfahrtsstaaten ablösen könnte, illusorisch ist. Die gemeinsame Währung in Europa bleibt damit das sichtbare Relikt einer politischen Vision, die ihren Erfolg dadurch gefährdet, dass ihr gesellschaftlicher Bezugsraum überdehnt wird.
426
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428
V Gesellschaftstheorie und Europapolitik
429
Gesellschaftstheoretische Grundlagen der Europasoziologie. Die soziologische Beobachtung der Gesellschaft in der Europäischen Integration Georg Vobruba
1
Die zweite Süderweiterung der Europäischen Union
Die Insel Mayotte liegt zwischen Madagaskar und Mosambique. Sie hat nach offizieller Zählung 187000 Einwohner, die tatsächliche Zahl ist, vor allem auf Grund der illegalen Zuwanderer, nicht bekannt. Im März 2009 haben 95,2% der Wahlberechtigten für die immer währende Zugehörigkeit zu Frankreich gestimmt. Die Wahlbeteiligung lag bei 61%. Mayotte ist ab dem Jahr 2011 ein Teil Frankreichs und damit der Europäischen Union (vgl. Süddeutsche Zeitung 31.3.2009: 7) Gibt es eine Europäische Gesellschaft? 2
Einleitung
Die Europäische Integration bietet der soziologischen Gesellschaftstheorie erhebliches Anregungspotential. Denn der rasche institutionelle Wandel führt zu Irritationen der routinisierten Gesellschaftsbeobachtung, woraus sich besondere Chancen ergeben, zentrale Probleme der Konstitution von Gesellschaft und der Verwendung des Gesellschaftsbegriffs als Probleme der Gesellschaftstheorie zu untersuchen. Ich sehe zwei wesentliche Impulse der Europäischen Integration für die soziologische Gesellschaftstheorie. Zum einen bietet sie Anstöße zu Reflexionen über Probleme des Zuschnitts ihres Gegenstandes, nötigt also zur Vergewisserung dessen, was überhaupt Gegenstand der Gesellschaftstheorie 431
sein kann. Und zum anderen eröffnen sich durch sie Möglichkeiten zu Fragen nach neuen Zusammenhängen von Ursachen und Wirkungen, also Gelegenheiten zur Konstruktion von Erklärungen im Rahmen von Gesellschaftstheorie. Folglich müssen bei meinem Versuch, Europasoziologie und soziologische Gesellschaftstheorie wechselseitig füreinander anschlussfähig zu machen, zwei Aufgaben bewältigt werden: Erstens muss die Europasoziologie so formuliert werden, dass sie nicht schon ein fertiges Verständnis von Gesellschaft – und also auch: von Gesellschaftstheorie – mit sich führt. Und zweitens muss die Gesellschaftstheorie so angelegt werden, dass sie für die Europasoziologie als empirisches Fach offen ist. Diese beiden Aufgaben erfordern einen reflexiven Einstieg ins Thema: Um die Europäische Integration in den Rahmen der soziologischen Gesellschaftstheorie zu stellen, müssen die modernen Bedingungen soziologischen Denkens selbst in den soziologischen Blick genommen werden. Darum werde ich zuerst kurz erläutern, was „modern denken“ bedeutet, ich werde also die Erkenntnisbedingungen des Weltbildes der Moderne knapp skizzieren und damit klären, was „Erklären“ in einem modernen Sinne bedeutet. Daraus ergeben sich Konstruktionsanleitungen für eine soziologische Gesellschaftstheorie, die auf das Programm einer Soziologie als Beobachtung zweiter Ordnung hinausläuft (vgl. Vobruba 2009). Dann werde ich die wichtigsten gegenwärtigen Angebote der Europasoziologie im Hinblick auf die Frage durchgehen, in welcher Weise sie einen Gesellschaftsbegriff mitführen. Und schließlich werde ich anhand des Europathemas die Problematik der Konstitution des Gesellschaftsbegriffs zugleich als empirisches Problem und als Kern der soziologischen Gesellschaftstheorie darstellen. Theoretisch läuft das auf eine umfassende Ent-Ontologisierung der soziologischen Vorstellungen von Gesellschaftskonstituierung und Gesellschaft hinaus, forschungspraktisch soll es die unterschiedlichen politik- und kultursoziologischen, institutionen- und akteurssoziologischen Ansätze zu Europasoziologie wechselseitig anschlussfähig machen. 3
Wissenssoziologische Grundlagen
„Die Alten“ dachten bis zu einem Punkt, den sie als „einen klaren Abschluss anerkennen“ (Wittgenstein 1971: 110). Heute lässt sich wissenssoziologisch relativ leicht Einigkeit darüber herstellen, dass die spezifischen 432
Erkenntnisbedingungen der Moderne dazu zwingen, Begründungen ohne Rekurs auf einen „Abschluss“ als absoluten Bezugspunkt anzulegen. Dies ist das Resultat der „Entzauberung der Welt“, die mit den drei Revolutionen, der naturwissenschaftlich-technischen, der bürgerlich-politischen und der kapitalistisch-ökonomischen eingeleitet wurde und seitdem in Durchsetzung begriffen ist. In strukturlogischer Sicht bedeutet das: Es ist nicht länger möglich, alles, was ist, als Emanation eines absoluten Ursprungs zu begreifen und alle Warum-Fragen durch Rekurs auf einen absoluten Anfang zu beantworten. „Das Absolute im vorneuzeitlichen Denken vom Vorrang des Geistes war darin absolut, dass es als Substanz enthielt, was es aus sich heraussetzte. Der Modus der Erklärung bestand darin, das Explanandum in es zurückzuführen, um es emanativ aus ihm hervorgehen zu lassen“ (Dux 2000: 181). Die Erklärungskraft des absoluten Bezugspunkts lag in seiner Unbefragbarkeit.1 Darum ist Erklären im Rahmen dieser Logik in dem Maße unmöglich geworden, in dem sich jeder Anfang von Erklärungen selbst der Warum-Frage nicht mehr entziehen kann. „In einer radikal säkular gewordenen Welt, in der (...) nichts vorgefunden wird, das sich überhaupt einem Bedingungszusammenhang entzieht, müssen sich auch die konstruktiv geschaffenen Welten über die Bedingungen, unter denen sie sich haben bilden können, aufklären lassen, ihre Logiken nicht ausgeschlossen“ (Dux 2000: 173, 174). Es geht also nicht darum, dass diese oder jene Erklärung ihre Überzeugungskraft verloren hat. Es geht also nicht um Probleme auf der Ebene von Semantiken. Vielmehr geht es um die Ablösung einer logischen Struktur von Erklärung. Es geht um eine logische Struktur, bei der Erklären bedeutet, von konkreten Phänomenen auf einen sie verursachenden absoluten Bezugspunkt zurückzufragen, um die Phänomene dann aus diesem Bezugspunkt mit Kausalitätsanspruch abzuleiten. Erklärungen, denen diese logische Struktur unterliegt, haben ihre explikatorische Kraft verloren, weil jeder Bezugspunkt von Erklärungen der Warum-Frage ausgesetzt ist, keiner mehr als absoluter Erklärungsanfang vorgestellt werden kann und darum jeder
1
Wittgenstein (1971: 115) versucht, diese traditionale Unbefragbarkeit des absoluten Anfangs durch die Sprachregelung seines berühmten Schlusssatzes zu substituieren: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Aber das nützt nichts. Das Fragen lässt sich nicht aufhalten und erzeugt immer weiter Antwortversuche.
433
Versuch einer Verankerung von Erklärungen in einem absoluten Bezugspunkt in einen infiniten Regress führt (vgl. auch von Foerster 2008: 29).2 In der Konsequenz werden alle Arten von Erklärungen unbefriedigend, bei denen das Explanandum bereits im Explanans enthalten ist, zum Beispiel die Erklärung eines sozialen Sachverhalts aus dem a priori gesetzten Willen eines verursachenden Akteurs, in dem dieser Sachverhalt bereits enthalten ist, oder die Erklärung konkreter sozialer Sachverhalte aus a priori gesetzten Eigenschaften der „Gesellschaft“. Konsequenz der wissenssoziologisch eruierbaren Bedingungen modernen Denkens für die Praxis soziologischer Forschung ist, „dass man sich keiner Erkenntnisstrategie verschreiben darf, die erst den Begriff bestimmt (...), um ihn dann auf das Phänomen der Untersuchung anzuwenden, vielmehr den umgekehrten Weg gehen und fragen muss, mit welchem eigenartigen System man es zu tun hat“ (Dux 2003: 265). Was bedeutet dies für die Konzipierung eines für die soziologische Forschung brauchbaren Gesellschaftsbegriffs? Meine Kernthese lautet: Der Gesellschaftsbegriff, von dem in der Soziologie die Rede ist, hat einen unterschiedlichen Status, je nachdem, ob er als Begriff zum Zweck von Beobachtungen erster Ordnung oder Beobachtungen zweiter Ordnung gebraucht wird (vgl. Vobruba 2009). 4
Gesellschaft in zwei Beobachtungsperspektiven
Die Perspektive der Beobachtung erster Ordnung ist die Perspektive der Leute, welche die sozialen Verhältnisse beobachten, interpretieren und dementsprechend handeln. In der Perspektive zweiter Ordnung wird das Handeln der Leute, samt ihren Beobachtungen und Interpretationen, welches sie anleitet, soziologisch beobachtet. Mit dieser Unterscheidung von Beobachtungsebenen sind keine sozialstrukturellen Zuordnungen verbunden. Vielmehr wird alles, was sich in der Gesellschaft aus der Perspektive zweiter Ordnung beobachten lässt, zu Beobachtungen erster Ordnung.
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Dass die Welt auf dem Rücken einer Schildkröte ruht, ist nur so lange eine Erklärung für die Stabilität der Welt, wie nicht danach gefragt werden kann, worauf die Schildkröte ruht. Sobald aber diese Frage denk- und stellbar wird, entsteht ein unendlich hoher Schildkrötenturm, der sinnlos ist; das heißt: um dessen Erklärungskraft es geschehen ist.
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Der entscheidende Unterschied zwischen der Ebene der Beobachtungen erster Ordnung und der Ebene der Beobachtungen zweiter Ordnung besteht darin, dass die Leute auf der Grundlage ihrer Beobachtungen erster Ordnung realitätstüchtig handeln müssen, während die soziologischen Beobachtungen zweiter Ordnung handlungsentlastet sind. Der Realismuszwang, unter dem die Beobachtungen der Leute stattfinden, begrenzt ihren Interpretations- und Handlungsrahmen. „Was folgt daraus für die soziologische Bestimmung von ‚Gesellschaft‘? Jede soziologische Definition, die den Anspruch auf Nachvollziehbarkeit nicht aufgibt, muss auf Handlungen von Gesellschaftsangehörigen und ihr Handlungswissen Bezug nehmen, in denen ‚Gesellschaft‘ identifiziert werden kann“ (Balog 1999: 70). Gerade weil „die gesellschaftliche Einheit von ihren Elementen, da sie bewußt und synthetisch-aktiv sind, ohne weiteres realisiert wird“ (Simmel 1992: 43), gerade weil sich die Gesellschaft auch ohne die Beobachtungen der Soziologie konstituiert, muss sich die soziologische Beobachtung daran halten, wie die Leute die sozialen Verhältnisse in der Gesellschaft beobachten, interpretieren und dementsprechend handeln. Diese Rückbindung bewahrt die Soziologie vor beliebigen Begriffskonstruktionen; und zwar deshalb, weil die Interpretationen der Leute nicht beliebig sein können. Denn will man mit seinem Handeln im Rahmen der gegebenen sozialen Verhältnisse nicht Schaden erleiden, muss man sich weitgehend an die Vorgaben in der Gesellschaft halten. Indem die Soziologie die Beobachtungen, Interpretationen und Handlungen der Leute selbst beobachtet und interpretiert, dies also als ihre Empirie aufnimmt, schließt sie an den Realismuszwang der Leute an und entgeht so der Gefahr, in Beliebigkeiten der eigenen Begriffsbildung unterzugehen. „Der ‚feste Grund‘, auf dem die Begriffsbildung beruht, der überhaupt eine Gewissheit über die Identität sozialer Phänomene ermöglicht und der soziologischen Kategorisierung enge Grenzen setzt, ist das Alltagswissen, das die Grundlage für die Orientierung der Akteure in ihrer alltäglichen Welt bildet und in ihren Handlungen und in der Umgangssprache zum Ausdruck kommt“ (Balog 1999: 77). In diesem Sinn ist Soziologie nur als Beobachtung zweiter Ordnung möglich. Im soziologischen Normalbetrieb (ohne wissenssoziologische Reflexionsschleife) geht es darum, dass beobachtet wird, was und wie die Leute in der Gesellschaft beobachten, interpretieren und handeln (vgl. dazu ausführlich Vobruba 2009). Da sich aber aus der Perspektive der Beobachtung zweiter Ordnung alles in der Gesellschaft beobachten lässt, also auch die 435
Soziologie selbst, können durch diesen Perspektivenwechsel die soziologisch Beobachtenden prinzipiell immer auch als soziologisch forschende Leute beobachtet werden. Und da alles, was aus der Perspektive zweiter Ordnung beobachtet wird, zu Beobachtung erster Ordnung wird, wird auch die soziologische Forschungspraxis zur Beobachtung erster Ordnung und es werden die soziologischen Beobachter selbst zu „Leuten“ (vgl. Vobruba 2009). Wenn man das tut, sieht man, wie sie in ihrer soziologischen Forschungspraxis beobachten, interpetieren und handeln. Die Soziologie kann sich reflexiv auf sich selbst beziehen, weil sie sich zu ihrem eigenen Beobachtungsobjekt machen kann (vgl. Peters 1993: 390ff.).3 Die Konsequenzen dieser allgemeineren Überlegung sind deshalb nicht ganz einfach vorzustellen, weil in ihr Soziologie zweimal auftritt: einmal in der Perspektive der Beobachtung zweiter Ordnung, in der beobachtet und interpretiert wird; und einmal in der Perspektive der Beobachtung erster Ordnung, in der beobachtet, interpretiert und gehandelt wird; in der die Soziologie also eine beobachtete beobachtende Praxis ist. In der Perspektive von Beobachtungen erster Ordnung, also für die Praxis der Forschung, kann und muss ein soziologischer Gesellschaftsbegriff nicht mehr leisten, als das Untersuchungsfeld abzustecken und damit ein Vorverständnis herzustellen, wovon in der soziologischen Gesellschaftstheorie die Rede ist. Die Verwendung des Gesellschaftsbegriffs ist in diesem Sinn ein Instrument zur Ermöglichung von Forschungspraxis. In dieser Absicht skizzierte Gesellschaftsbegriffe sind darum nicht „richtig“ oder „falsch“, sondern praktisch oder unpraktisch. Sie erfüllen eine heuristische Aufgabe und treten unvermeidlich im Plural auf: Jeder soziologische Akteur kann einen Gesellschaftsbegriff mit Verbindlichkeitsanspruch entwerfen, kann mit praktischem Unbedingtheitsanspruch auftreten und Folgen an seinen Begriff knüpfen (dass die XY-Gesellschaft etwas bewirkt). Aber es ist zu erwarten – und jeder Akteur muss damit rechnen –, dass andere Akteure mit anderen Begriffsentwürfen kommen. Eine Entscheidung für den „richtigen“ Begriff ist mit sozialwissenschaftlichen Mitteln nicht möglich. Empi3
Dies unterscheidet die Soziologie von anderen Disziplinen. Es kann keine Medizin der Medizin, keine Rechtswissenschaft der Rechtswissenschaft und keine Ökonomie der Ökonomie geben. Wohl aber gibt es: Medizinsoziologie, Rechtssoziologie, Soziologie der Ökonomie und eben: eine Soziologie der Soziologie im Sinne der wissenssoziologischen Analyse der Denkvoraussetzungen der Soziologie. Dass die Soziologie von ihrer Reflexionskompetenz nicht immer Gebrauch macht, ist ein anderes – ein empirisches – Phänomen.
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risch lässt sich dies an der Vielzahl von Gesellschaftsbegriffen (vgl. zum Beispiel Kneer et al. 2001) ablesen. Der Preis des Verbindlichkeitspostulats ist seine Unentscheidbarkeit. Diese Regel, welche die Soziologie (als Praxis) an sich selbst richtet, ergibt sich aus den Erkenntnisbedingungen der Moderne und der Reflexivität der Soziologie: Würde die Soziologie ihre Forschungspraxis mit einem substanziellen Gesellschaftsbegriff starten, fiele sie in die absolutistische Logik des vormodernen Denkens zurück. Sie würde die Explananda auf ein absolutes Explanans – eben eine a priori mit Eigenschaften ausgestattet gedachte Gesellschaft – erst zurückrechnen und dann aus ihr erklären. Solche Erklärungsstrategien scheitern an der wissenssoziologischen Einsicht, dass Denken im Rahmen der absolutistischen Logik historisch obsolet ist, da Erklärungen aus einem Absoluten im modernen Verständnis von Wissen nichts erklären.4 In der Perspektive der Beobachtung zweiter Ordnung wird der heuristische Begriff „Gesellschaft“ also zur kategorialen Erfassung dessen eingesetzt, was in der Gesellschaft (empirisch) als Gesellschaft beobachtet und interpretiert wird. Der Gesellschaftsbegriff, der sich in der Perspektive zweiter Ordnung soziologisch beobachten lässt, ist also jener, der in der Gesellschaft existiert und wirksam ist. Da die soziologische Theorie der Gesellschaft auf Beobachtungen zweiter Ordnung festgelegt ist, hat sie darum „Gesellschaft“ in dem Sinn zum Untersuchungsgegenstand, in dem sie in der Gesellschaft ein Verständnis von Gesellschaft empirisch vorfindet. Der bisherige Verlauf der institutionellen Integration der Europäischen Union bietet Anhaltspunkte für die heuristische Vermutung, dass sich an ihr ein historischer Konstitutionsprozess von „Gesellschaft“ soziologisch beobachten lässt. Am Beispiel der Europäischen Integration werden Gesellschaftsbegriff und Gesellschaftsbildung als soziologische Untersuchungsgegenstände vor allem deshalb anschaulich, weil sich sowohl der Territorialbezug als auch die institutionelle Struktur der sozialen Verhältnisse im Zuge der Europäischen Integration so rasch ändern, dass sich keine stabilen Anknüpfungsmöglichkeiten für ontologische („immer schon“), auf substanzhafte Vorstellungen („natürliche Grenzen“) rekurrierende Gesellschaftsvorstellungen bieten. Die spezifischen Eigenschaften des europäischen Integrationsprozesses ermöglichen Erfahrungen, welche mit traditional-vormo4
Sondern allenfalls etwas über den Erklärenden sagen (vgl. von Foerster 2008: 29).
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dernen Gesellschaftsvorstellungen unverträglich sind. In diesem Sinne jedenfalls ist die Europäische Integration unmittelbar Ausdruck einer sich durchsetzenden Moderne (vgl. Müller in diesem Band). Indem die soziologische Gesellschaftstheorie den Gesellschaftsbegriff aus der Perspektive zweiter Ordnung beobachtet und so das Gesellschaftsverständnis in der Gesellschaft zum Untersuchungsgegenstand macht, vollzieht sie genau die Wende von einer Gesellschaftsbestimmung zu einer Soziologie der Gesellschaft (vgl. Vobruba 2009), wie die Kritische Theorie zu einer Soziologie der Gesellschaftskritik oder eine religiöse Soziologie zur Soziologie der Religion. All diese Wenden beruhen auf der Beachtung der strikten Unterscheidung zwischen diesen beiden Beobachtungsebenen: der Ebene, auf der die Leute ihre Beobachtungen machen, sie interpretieren und dementsprechend handeln; und der Ebene, auf der dies soziologisch beobachtet und interpretiert wird. Die einfachste Methode, sich gegenüber „Gesellschaft“ in eine Position der Beobachtung zweiter Ordnung zu bringen, besteht darin, sich kurz der Entwicklung seiner praktischen Verwendung zu vergewissern. 5
Zur Entwicklung des Gesellschaftsbegriffs
Der Begriff „Gesellschaft“ bezeichnete in den historisch frühen Formen seines Auftretens soziale Zusammenhänge, die intentional hergestellt und auf partikulare Zwecke gerichtet waren. In der frühen Neuzeit wird unter einer Gesellschaft eine intentionale Veranstaltung Gleicher (Bürger) zu wirtschaftlichen Zwecken verstanden (vgl. Brunner et al. 1975: 808, 812, 835). Darum taucht der Begriff im Plural auf. Später erfolgt die Übertragung des Gesellschaftsbegriffs auf soziale Ordnungsprobleme, wobei die intentionale Grundstruktur des Gesellschaftsverständnisses zunächst noch erhalten bleibt. Da Politik die Domäne der Entfaltung von Intentionalität ist, wird Gesellschaft als politische Gesellschaft gedacht, die Begriffe Staat und Gesellschaft verschmelzen. Entscheidend für die Ausbildung des modernen Gesellschaftsverständnisses ist, dass die zunehmende Inklusivität des Gesellschaftsbegriffs mit der Ausbildung einer neuen Perspektive der Beobachtung der sozialen Verhältnisse Hand in Hand geht. In dieser Perspektive konnten von Intentionen abgekoppelte Effekte in der Gesellschaft gesehen und systematisiert werden: Entscheidend dafür war die Entdeckung, dass individuelle Ab438
sichten kollektive Folgen haben können, die sich von diesen Absichten qualitativ unterscheiden. Diese Idee ist Bernhard Mandeville (1979) zu verdanken, ihr Durchbruch der Entwicklung des Marktparadigmas (Smith 2007). Das ist zugleich der Anfang vom Ende der Vorstellung, dass sich Gesellschaft aus überindividuellen Kräften oder auch aus gleichgerichteten Intentionen konstituiert, die auf gesellschaftliche Einheit gerichtet sind. Die Ausbildung einer Beobachtungsebene, von der aus man Intentionen und Effekte unterscheiden kann, ist die Voraussetzung für die „Entmoralisierung und Kognitivierung des Gesellschaftlichen“ (Giesen 1991: 79). Gesellschaft wird so zum Beobachtungsobjekt und zum Inbegriff der Effekte, die sich aus sozialen Relationen ergeben. Diese Entdeckung wird vorerst zwar mit der Vorstellung einer „invisible hand“ und Konstruktionen hypothetischer Gesellschaftsverträge aller Gesellschaftsmitglieder noch einmal intentionalistisch eingeholt – also in das traditionale absolutistische Weltbild integriert. Auch Durkheim steht mitten in dem Bruch zwischen traditionalabsolutistischem und modernem Denken, zwischen substanzialistischem Gesellschaftsbild und Gesellschaft als emergentem Prozess. Die Menschen in der modernen Gesellschaft sind infolge der Arbeitsteilung zunehmend aufeinander angewiesen, was ihren Egoismus mäßigt und sie zu moralischen Wesen macht. „Mit einem Wort: Dadurch, daß die Arbeitsteilung zur Hauptquelle der sozialen Solidarität wird, wird sie gleichzeitig zur Basis der moralischen Ordnung“ (Durkheim 1992: 471). Modern ist die Problemdiagnose, von der ausgegangen wird: Arbeitsteilung als Inbegriff von Differenzen. Vormodern dagegen ist die Lösung des Integrationsproblems: Durkheim kann die Integration von Differenzen zu einer Gesellschaft nur über ein einigendes Prinzip, als moralische Ordnung, denken. Konsequenz dieser Gemengelage der Logiken vormodernen und modernen Denkens ist, dass das Prinzip, das die Gesellschaft einigt, nur als durch die Differenzen selbst hervorgebracht gesehen werden kann. Diese Gemengelage wurde in Marktgleichgewichtstheorien und im Strukturfunktionalismus5 konserviert. Aber dieser Deutungsrahmen trägt zum Verständnis des Problems der Gesellschaftskonstitution nichts mehr bei und baut sich, funktionslos geworden, mit der Zeit ab. Sobald Handlungsintentionen und Handlungseffekte voneinander entkoppelt sind, sobald es also möglich ist, Gesellschaft als Inbegriff nicht5
Vermutlich wird der Unterschied zwischen diesen beiden Theorietraditionen deshalb so betont, weil er so klein ist.
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intendierter Effekte zu denken, verlieren „gute Absichten“ ihre gesellschaftskonstitutive Bedeutung. Kooperation und Konflikt werden damit zu empirisch gleichrangigen Möglichkeiten der Gesellschaftskonstitution. Moral ist nur noch ein mögliches Handlungsmotiv neben vielen anderen. Gesellschaftliche Sachverhalte lassen sich im modernen Gesellschaftsverständnis auf Handeln zurückführen, aber nicht mehr aus den Intentionen erklären, die dieses Handeln anleiten. Als eine weitere Folge setzen nun Erwägungen ein, die sich nicht nur um die richtige Fassung des Gesellschaftsbegriffs drehen, sondern um Beobachtungen, wie der Gesellschaftsbegriff in der Praxis verwendet wird: etwa als „Dritterstandsbegriff“, wie Johann Caspar Bluntschli meinte (Brunner et al. 1975: 848, vgl. 842). Durch die Entdeckung der Differenz zwischen Intentionen und Effekten und durch die Abkoppelung des Gesellschaftsbegriffs von Intentionen (vgl. Mandeville 1979) entsteht der semantische Raum für die Entgegensetzung von Gesellschaft (nicht-intentional) und Gemeinschaft (intentional). Daran knüpfen dann historisch spätere Versuche an, Gesellschaft doch noch intentionalistisch zu konstruieren: Sie nehmen Gemeinschaft als Gesellschaftsprojekt (vgl. Vobruba 1994). Der Sozialismus als Staatsform war der letzte groß angelegte Versuch dazu. Und empirisch handelte es sich dabei ja bezeichnenderweise um zwei „Gesellschaften“: eine offizielle, die intentional geplante, und eine informelle, nicht-intendierte. 6
Gemeinschaft, Gesellschaft und Gesellschaftsbegriff
„Gemeinschaft“ ist ein moderner Begriff, in dem eine Ordnungsvorstellung von Gesellschaft gefasst wird, die sich aus dem Rückgriff auf vormoderne soziale Verhältnisse ergibt. „Gemeinschaft als Gesellschaftsprojekt“ versucht, Integrationsprobleme der modernen Gesellschaft durch (vorgestellte) Formen vormoderner Sozialintegration zu lösen (Vobruba 1994: 19), und transportiert damit die absolutistische Logik des vormodernen Weltbildes: Gemeinschaft wird als ein ihren Mitgliedern vorausgesetzter sozialer Zusammenhalt vorgestellt, dem sie eingeordnet sind und den sie durch ihre gemeinschaftsorientierten Motivlagen reproduzieren. Wenn Gesellschaft nach dem Muster von Gemeinschaft gedacht wird, sind Nähe und Konsens die beiden entscheidenden Merkmale sozialer Beziehungen, aus denen sich Gesellschaft konstituiert. Die Versuche der Klas440
siker der Soziologie zur Entwicklung eines soziologischen Gesellschaftsbegriffs kann man als schrittweise Emanzipation von den traditionalen Vorstellungen dieser räumlichen und qualitativen Voraussetzungen von Gesellschaftsbildung lesen. Durkheim löst die Nähevorstellung auf, sieht aber die Integration von Gesellschaft noch über qualitative Gemeinsamkeiten verwirklicht, nämlich durch eine gemeinsam geteilte Moral. Spiegelbildlich setzt Simmel zwar keine gemeinsame Moral voraus, baut seine Gesellschaftsvorstellung aber auf „Wechselbeziehungen“, die er sich im Wesentlichen als direkte Interaktionszusammenhänge vorstellt. Solchen Gesellschaftsvorstellungen entsprach in der politischen Realisierung der Nationalstaat als räumliche und die nationale Identität als qualitative Voraussetzung sozialer Integration. In diesem Sinn wird von Nationalstaaten zurecht als „imagined communities“ (Anderson 1983) gesprochen. Welcher Art und wie intensiv müssen solche Zusammenhänge sein, damit etwas in Differenz zu etwas anderem als Gesellschaft bezeichnet wird? In den konventionellen Versuchen zur Beantwortung dieser Frage stecken zwei Fehler: Zum einen fühlt sich die Soziologie mit dieser Frage direkt angesprochen. Aber für die Soziologie als Beobachtung zweiter Ordnung ist das keine Aufforderung zur Begriffsbildung, sondern eine empirische Frage. Und zum anderen beantwortete die Soziologie diese Frage die längste Zeit (meist implizit) mit dem Hinweis auf den Nationalstaat und nationalstaatliche Grenzen. Der Gesellschaftsbegriff, wie er in der alltäglichen soziologischen Forschungspraxis bisher verwendet wird, ist immer noch eine ontologische Konstruktion unter Rückgriff auf nationale Grenzen (vgl. Eder in diesem Band). Das ist zum einen das Erbe der Koevolution der Begriffe „Gesellschaft“ und „Staat“ und zum anderen die Konsequenz der nur halbherzigen Reflexion der Soziologie auf ihre eigenen Wissensgrundlagen. „Gesellschaft“ als ontologische Vorgabe und ihre nationalstaatliche Formatierung waren für die Soziologie so selbstverständlich, dass die Frage nach ihrem epistemischen Status und ihrem Zuschnitt kaum gestellt wurde. Ein zentrales Anregungspotential der Europäischen Integration für die soziologische Gesellschaftstheorie besteht darin, dass diese beiden Selbstverständlichkeiten aufgebrochen werden. Die nationalstaatliche Formatierung von „Gesellschaft“ als soziologisches Untersuchungsobjekt wird zwar seit einiger Zeit kritisiert (vgl. zum Beispiel Smelser 1997: 49; Beck/Grande 2004: 10; Bach 2008: 155f.). Aus dieser Kritik am „methodologischen Nationalismus“ der empirischen Sozialforschung hat sich aber bisher keine an441
gemessene neue Konzeptualisierung des Gesellschaftsbegriffs ergeben, denn die bisher geläufigen Antworten haben die Mehrschichtigkeit des Begriffsproblems verdeckt. Diese Mehrschichtigkeit erschließt sich mit der Frage: Wer muss diese Zusammenhänge beobachten und mit „Gesellschaft“ etikettieren, damit von Gesellschaft die Rede sein kann? Macht man aus den wissenssoziologisch analysierbaren Grundlagen modernen Wissens hier – reflexiv – eine Aufforderung an die Theoriebildung, so ergibt sich dieses erste Kriterium: Der Gesellschaftsbegriff darf nicht ontologisierend angesetzt werden. Das heißt, er darf nicht in eine solche Position in der Theorie gebracht werden, dass er alles zu erklären hat, selbst aber vorausgesetzt und jeder Erklärung enthoben ist. Solche Rückfälle in die vormoderne absolutistische Logik finden wir überall dort, wo ein Begriff von „Gesellschaft“ erst mit Eigenschaften aufgeladen wird und dann Phänomene in dieser Gesellschaft als Folgen dieser Eigenschaften abgeleitet werden. Insbesondere in Darstellungen, die unter dem Verlegenheitsbegriff „Zeitdiagnosen“ firmieren, findet sich diese Zirkularität: Die „Risikogesellschaft“ birgt zahlreiche Risiken, die „Multioptionengesellschaft“ bietet viele Optionen, in der Erlebnisgesellschaft kann man etwas erleben und so weiter (zur Kritik vgl. Balog 1999: 86ff.). All das sind historisch späte Ausdrucksformen der überkommenen absolutistischen Logik, in der „Erklären“ bedeutete, aus einer a priori gesetzten Ursache Wirkungen abzuleiten, die bereits in ihr eingeschlossen sind. Dasselbe gilt für die Auffassung, die Erklärung von Unterschieden in der Gesellschaft „erfordert als Ausgangspunkt die Einheit des diese Unterschiede erzeugenden Gesellschaftssystems“ (Luhmann 1997: 162). „Gesellschaft“ lässt sich nicht als Ursprung und Ursache aller soziologisch erklärungsbedürftigen Phänomene setzen. Eine solche erklärungsstrategische Positionierung des Gesellschaftsbegriffs ist – angesichts der Denkmöglichkeiten der Moderne – obsolet. Darum also wird man sich soziologisch auf einen Gesellschaftsbegriff nur so weit einlassen, dass überhaupt ein Verständnis davon entsteht, wonach man sucht, wenn man Gesellschaft als Inbegriff von „Wechselwirkungsformen“ (Simmel 1992: 62) oder als „Vernetzung der Praxisformen, in denen Menschen ihr Leben führen“ (Dux 2003: 239) – also über empirisch überprüfbare Bezüge zum Handeln in der Gesellschaft – rekonstruiert, und wenn man nach in der Praxis vorhandenen Verständnissen von Gesellschaft fragt. Dieser Begriff sollte also vorsichtig an Relationen zwischen Elementen orientiert und nicht mit Subjekt- oder 442
Substanzkonnotationen belastet sein. Darüber hinaus muss man auf die definitorische Vorgabe eines Gesellschaftsbegriffs verzichten. Das bedeutet keineswegs das Ende der Theorie der Gesellschaft. Vielmehr legt man erst damit die Möglichkeit frei, eine soziologische empirisch gehaltvolle Theorie der Gesellschaft zu formulieren: eine Theorie also, welche die in der Praxis vorfindbaren, mit „Gesellschaft“ konnotierten Sachverhalte verstehend erfassen sowie nach ihren Ursachen und nach ihren Folgen fragen kann. Empirisch steht fest: Es gibt den Begriff „Gesellschaft“, er wird verwendet, bietet Orientierung und zieht Handlungsfolgen nach sich. Also kann man sagen, dass es Gesellschaft im Sinne eines Wissensbestandes in der Gesellschaft gibt, der sich soziologisch beobachten lässt. Und es lässt sich empirisch beobachten, dass Gesellschaft in der Alltagspraxis ganz überwiegend zur Beschreibung sozialer Verhältnisse im Rahmen von Nationalstaaten gebraucht wird. Gesellschaft gerät so in die Perspektive der Beobachtung zweiter Ordnung. Sie wird soziologisch als Ergebnis in der Praxis stattfindender Beobachtungen beobachtet. Ob dem soziologischen Beobachter die Unterschiede zwischen Paraguay und Uruguay als gesellschaftskonstitutiv einleuchten oder nicht (vgl. Luhmann 1997: 25), ist unerheblich, solange sie in der Beobachtung erster Ordnung, also für die Leute in Paraguay und Uruguay, ausreichend relevant sind, um zwei Gesellschaften zu unterscheiden. Ebenso ist als empirisches Datum zu registrieren, dass Gesellschaften in der offiziellen Statistik, in der international vergleichenden Forschung etc. national zugeschnitten werden. „Der Nationalstaat bildet die gängige nominale Rechnungseinheit der Sozialforschung“ (Bach 2000: 19). Darüber hinaus kann man soziologisch beobachten, dass bestimmte Akteursgruppen in der Gesellschaft besondere Affinitäten zu bestimmten Zuschnitten von Gesellschaft haben. Die Frage ist, welche Akteure für welche Gesellschaftsbegriffe eintreten und wovon dies abhängt; insbesondere welche Akteure welche territorialen Zuschnitte von Gesellschaft präferieren. 7
„Gesellschaft“ in der Europäischen Integration
In der Perspektive der Beobachtung zweiter Ordnung geht es darum, dass die Soziologie beobachtet, wie die Gesellschaft von den Leuten beobachtet wird. In dieser Beobachtungsperspektive werden Gesellschaftsbegriffe nicht formuliert, sondern Gesellschaftsbeobachtungen der Leute beobachtet und 443
(allenfalls) interpretiert. Solche beobachteten Gesellschaftsbegriffe können zum Gegenstand analytischer Fragestellungen gemacht werden und insbesondere können Fragen nach dem Bedingungszusammenhang und nach dem Wirkungszusammenhang praktisch verwendeter Gesellschaftsbegriffe angeschlossen werden. Für die Europasoziologie zentral sind die folgenden Fragen: Welche Akteursgruppen versuchen unter welchen Bedingungen den Gesellschaftsbegriff europäisch zu formatieren? Und welche Akteursgruppen insistieren auf einem nationalstaatlich verfassten Gesellschaftsbegriff? Und wovon hängt es ab, welche Deutungen sich in solchen Interpretationskämpfen durchsetzen (vgl. Vobruba 2008)? Dabei lassen sich, wenn ich recht sehe, für eine empirische Untersuchung der Entwicklung und Verwendung des Gesellschaftsbegriffs zwei Gruppen von Variablen unterscheiden; zum einen Variablen, mit denen sich der Einfluss sozialstruktureller Lagen, und zum anderen Variablen, mit denen sich der Einfluss nationaler Besonderheiten (kulturelle Traditionen, Narrationen, Institutionen) auf die präferierte Konzeption von Gesellschaftsbegriffen fassen lässt. Zu beiden Zusammenhängen finden sich in der Europasoziologie begründete Vermutungen, aber keine empirischen Einsichten. Vermutungen über sozialstrukturelle Bedingungen der Fassung von Gesellschaftsbegriffen laufen darauf hinaus, dass sich in konkurrierenden Gesellschaftsbegriffen unterschiedliche Interessenlagen manifestieren (vgl. Münch 2001: 294). Das betrifft sowohl die Vorstellungen über den Integrationsmodus als auch über den territorialen Zuschnitt von Gesellschaft. Vorstellungen über den Integrationsmodus von Gesellschaft bewegen sich im Spektrum zwischen Identität und Differenz. Auf Identität fokussiert sind Gesellschaftsvorstellungen, die zentral auf Gemeinsamkeiten innerhalb Europas, einem europäischen Demos und einer gemeinsamen europäischen Identität aufbauen (vgl. zum Beispiel Weiler 1999). Auf Differenz stellen jene Gesellschaftsverständnisse ab, in deren Zentrum Konflikte und Konkurrenz stehen. Mit der territorialen Rahmung eines Gesellschaftsbegriffs sind Vorentscheidungen darüber verbunden, wen Grenzen abschirmen und wen sie ausschließen. Durch Grenzschließungen werden Konkurrenzbeziehungen beschränkt, durch Grenzöffnungen erweitert. Darum sind Interpretationskämpfe um Gesellschaftsgrenzen zugleich Auseinandersetzungen um Lebenschancen (vgl. allgemein Bach in diesem Band; am Beispiel Arbeitsmarkt Gerhards 2006; Nissen 2009).
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Auseinandersetzungen um den Gesellschaftsbegriff als Identität oder Differenz sind zugleich Auseinandersetzungen um die Frage der Zulassung von Konflikten in der Gesellschaft. Konflikte sind im Rahmen von Identitätskonzepten Störungen, im Rahmen von Differenzkonzepten essentielle Merkmale von Gesellschaft. Dass die Frage nach dem institutionellen Rahmen, in dem Konflikte zugelassen werden, virulent wird, ist selbst ein Ergebnis des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses: Interpretationskämpfe um den Gesellschaftsbegriff entwickeln sich, wenn die Leute so in den europäischen Integrationsprozess involviert werden, dass mit dem institutionellen Zuschnitt von Gesellschaft für sie etwas auf dem Spiel steht. Insbesondere wird mit dem Zuschnitt des Raumrahmens der Gesellschaft über drinnen und draußen entschieden und es werden damit Interessenpositionen und sich daraus ergebende Konflikte in der Gesellschaft strukturiert. Die generelle Vermutung dazu lautet, dass konflikthafte Gesellschaftsverständnisse und Erweiterungen des Raumrahmens einer Gesellschaft von denen abgewehrt werden, die durch die Neustrukturierung von Konflikten mehr zu verlieren als zu gewinnen haben. „Personen und Gruppen, die ihre Position aufrechterhalten wollen, neigen viel eher zur Auffassung, dass eine ‚gute Gesellschaft‘ eine solche ist, in der es keine Konflikte gibt“ (Haller 2009: 284). Die soziologische Beobachtung zweiter Ordnung muss also in Rechnung stellen, dass Interpretationskämpfe um unterschiedliche Gesellschaftsbegriffe mit unterschiedlichen Präferenzen für die alternativen Integrationsmodi und unterschiedlichen Raumrahmen von Gesellschaft zusammenhängen. Um dies in den Griff zu bekommen, darf sich die Soziologie nicht auf eine dieser beiden Möglichkeiten festlegen, sondern muss die praktischen Begriffsbildungen aus der Perspektive zweiter Ordnung beobachten und interpretieren. Mit anderen Worten: Die Europasoziologie muss grundbegrifflich so angelegt werden, dass weder die Alternative zwischen Identität und Differenz noch der territoriale Rahmen der Gesellschaft kategorial präjudiziert wird. In der politischen Praxis mag es zwar nach wie vor ontologische Gesellschaftsvorstellungen geben. „Auch moderne Politik entgeht nicht diesem Zwang, sich in einer Annahme kollektiver Identität zu begründen. Es geht allerdings nicht mehr um den Auftrag Gottes oder das Charisma des Fürsten, sondern um unpersönliche Vorstellungen des nicht weiter begründungsbedürftigen Heiligen“ (Giesen 2008: 324). Aber gerade wenn man in der soziologischen Perspektive der Beobachtung zweiter Ordnung sieht, dass es sich dabei um eine „notwendige Selbsttäuschung“ (ebd.) han445
delt, sollte man solche Gesellschaftsvorstellungen nicht durch einfühlsame Beschreibungen verdoppeln, sondern sie strikt als empirisches Phänomen nehmen und auf ihre Bedingtheit hin untersuchen. Präzise in diesem Sinn fasst Klaus Eder (in diesem Band) historische Narrationen strikt in der Perspektive der Beobachtung zweiter Ordnung und untersucht ihre Folgen. „Der Vorteil, der von Eder propagierten Fokussierung der narrativen Konstruktion der europäischen Gesellschaft besteht darin, dass sie (...) der sich herausbildenden europäischen Gesellschaft weder ein normatives Ideal überstülpt, das nur unerfüllbare Hoffnungen weckt, noch ihrer besonderen Gestalt gar nicht gewahr wird (...)“ (Münch in diesem Band: 40). In zahlreichen geschichtswissenschaftlichen Darstellungen dagegen ist nicht immer ganz klar, ob über Narrationen berichtet wird oder Beiträge zu ihnen (mit der Intention, selbst zur Entwicklung einer europäischen Gesellschaft beizutragen) geliefert werden. Indem so die Perspektiven der Beobachtung zweiter und erster Ordnung vermengt werden, schleicht sich leicht das Apriori eines substanzialistischen Gesellschaftsverständnisses wieder ein. Steht für den Historiker implizit vorweg schon fest, was eine europäische Gesellschaft ist, kann die historische Rekonstruktion nur noch der Bestätigung dienen. Konsequenz eines aprioristischen Begriffs von „Europäischer Gesellschaft“ sind dann panische bis aggressive Reaktionen auf den möglichen EU-Beitritt von Ländern mit realen oder imaginierten Merkmalen, die dieser Begriff nicht abdeckt.6 Werden die Resultate solcher historischer Erzählungen soziologisch einfach aufgenommen, läuft die Soziologie Gefahr, deren substanzialistische Vorannahmen ungeprüft mit zu übernehmen. Dagegen hilft die Empfehlung von Münch (in diesem Band: 37f.), Narrationen, in denen Gesellschaft konstruiert wird (vgl. auch Münch 2008), stets im Plural ins Auge zu fassen und in ihrer Bedingtheit durch unterschiedliche nationale Traditionen zu untersuchen. Die sozialstrukturellen und die aus nationalen Traditionen resultierenden Bedingtheiten der Konstitution unterschiedlicher Verständnisse von europäischer Gesellschaft lassen sich, wenn ich recht sehe, zu empirischen Untersuchungen so kombinieren, dass der Verdacht, man wolle einseitig von Texten auf Wirklichkeit, von Narrationen auf Institutionen schließen, gegenstandslos wird.
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Vgl. die Stellungnahmen von Hans-Ulrich Wehler (2004) und Heinrich August Winkler (2004) gegen einen möglichen EU-Beitritt der Türkei (dazu Vobruba 2007: 101ff.).
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Die impliziten Gesellschaftsbegriffe in der Europasoziologie
In der Europasoziologie besteht ein breiter Konsens, dass die Europäische Integration bisher als von politischen und bürokratischen Eliten betriebene Entwicklung von Institutionen stattfand (vgl. Lepsius 1999; Bach 1999; Vobruba 2001; Haller 2009). Die Einigkeit geht aber über diese Diagnose nicht hinaus. Bezüglich der Frage, ob, wie und in welchem Sinn die institutionelle Integration eine Gesellschaftsbildung bewirkt, bestehen grundlegende Auffassungsunterschiede (vgl. Berger in diesem Band). Ich sehe die wichtigsten einschlägigen Positionen in diesem Band ausgezeichnet dokumentiert, werde mich darum weitgehend an sie halten und zeigen, dass sich diese Auffassungsunterschiede auf unterschiedliche implizite Gesellschaftsbegriffe zurückführen lassen. Im Folgenden geht es also darum, die soziologischen Gesellschaftsverständnisse zu rekonstruieren, anhand derer soziologische Untersuchungen ihre Beobachtungen der Europäischen Integration hinsichtlich der möglichen Entwicklung einer europäischen Gesellschaft organisieren. Mein Thema sind also die impliziten Gesellschaftsbegriffe, mit denen die Soziologie beobachtet, ob die Beobachtungen in der Gesellschaft auf die Entwicklung einer europäischen Gesellschaft weisen. In der europasoziologischen Forschung kann man drei Ansätze unterscheiden, welche sich der Frage nach der Entwicklung einer europäischen Gesellschaft widmen, hinter denen drei unterschiedliche Verständnisse von Gesellschaft stehen. Ich nenne sie den Institutionenansatz, den Identitätsansatz und den Konfliktrahmenansatz. a) Der Institutionenansatz Die EU entwickelte sich, ausgehend von den Römischen Verträgen bis zur Gegenwart (vgl. Brunn 2002), in zahllosen institutionell-organisatorischen Schritten als „ein institutionalisierter Herrschaftsverband“ (Lepsius 2006: 111; vgl. Bach 2008: 93ff.). Aus dieser historischen Evidenz gewinnt der Satz seine empirische Plausibilität: „Die Institutionenbildung geht der Bewußtseinsbildung voraus“ (Lepsius 1999: 206; vgl. Lepsius 2006). Denn mit der Entwicklung des europäischen Integrationsprojekts entstanden Gelegenheitsstrukturen für die Identifikation mit ihm. In diesem Interpretationsrahmen stehen auch die vielfältigen Diagnosen „einer Art ‚time lag‘ zwischen System- und Sozialintegration“ (Berger in diesem Band: 88) im Zuge 447
der Europäischen Integration. Daran knüpft die explizite oder implizite Erwartung einer nachholenden sozialen Integration, durch die sich die Spannungen zwischen den EU-Eliten und den Leuten abbaut. Aber die Tragkraft der Konstruktion einer von Institutionen auf Bewusstsein gerichteten Kausalbeziehung ist in zweierlei Hinsicht begrenzt. Zum einen blendet die These einer solchen eindeutig gerichteten Kausalität die lange Vorgeschichte des ideellen Engagements für die „Vereinigten Staaten von Europa“ (Coudenhove-Kalergi 1924: 39) aus. Und zum anderen muss der Zusammenhang zwischen Bewusstseinsbildung und Institutionenbildung als für unterschiedliche Möglichkeiten empirisch offen konzipiert werden. Prinzipiell gibt es drei Möglichkeiten eines solchen Zusammenhangs: a) Das Bewusstsein der Leute bleibt bis auf weiteres indifferent gegenüber der EU-Institutionenbildung; b) das Bewusstsein entwickelt sich konform zur Institutionenbildung; c) die Bewusstseinsentwicklung kollidiert mit der Institutionenentwicklung. Empirisch ist jedenfalls die Möglichkeit in Rechnung zu stellen, dass es sich bei der als „Indifferenz“ beziehungsweise „permissive consensus“ bezeichneten Konstellation einer Institutionenbildung ohne die Involvierung der Leute um eine (wenn auch relativ lange) historische Übergangsperiode in der Entwicklung der Europäischen Union handelt. Tatsächlich gibt es für die gegenwärtig zunehmende Involvierung der Leute sowohl empirische Evidenz als auch praktisches Anschauungsmaterial. Zwar mögen – nach dem Schock durch das Scheitern des Verfassungsvertrages – die politischen Versuche, die Institutionenentwicklung von den Leuten wieder abzukoppeln, vorübergehend erfolgreich sein. Auf die Dauer aber kann gerade der Erfolg der Integrationspolitik dazu führen, dass die institutionelle Integration die Lebensbedingungen der Leute in einer für sie erkennbaren Weise erfasst und sie sich darum zur EU positionieren (vgl. Vobruba 2007). Dies aber kann sowohl sozialintegrative wie auch desintegrative Folgen haben. Systematisch kann darum die Institutionenentwicklung genauso wenig als Apriori von Gesellschaftsbildung gesetzt werden wie ein soziales Substrat, ein Demos oder eine kollektive Identität (vgl. Menon/Weatherill 2008: 399; Dux in diesem Band). In den Beiträgen, die ich dem Institutionenansatz zurechne, finden sich unterschiedliche Strategien, den Zusammenhang zwischen Institutionenentwicklung und sozialer Integration zu diskutieren.
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1. 2. 3.
Das Verhältnis von Institutionenentwicklung und sozialer Integration wird als Problemverhältnis untersucht. Ironischerweise ist die Untersuchung gerade dieser Konstellation eine Domäne der Ökonomen. Das Thema wird so auf Institutionenentwicklung konzentriert, dass die Frage der sozialen Integration offen bleibt. Als europasoziologisches Thema wird ein Politikfeld gewählt, in dem das Verhältnis zwischen Institutionenentwicklung und sozialer Integration relativ unproblematisch ist.
Ad 1. Peter Spahn (in diesem Band) zeigt am Beispiel der europäischen Währung, in welcher Weise Defizite an sozialer Unterfütterung auf institutionelle Arrangements destruktiv zurückzuwirken drohen. Die Soziologie ist auf Fragen der sozialen Bedingungen und Konsequenzen der gemeinsamen Währung extrem schlecht vorbereitet. Sie hat sich für die Währungsunion insgesamt kaum interessiert (vgl. Nollmann 2002). Ist die Europäische Union ein „optimaler Währungsraum“? Was sind die sozialen Bedingungen für das Funktionieren der Institution „gemeinsame Währung“? Da die Soziologie diese für die Integration zentrale Frage bisher völlig übersehen hat, gibt es keinen Versuch, die Problematik des optimalen Währungsraumes soziologisch zu rekonstruieren. Dies kann ich hier nicht systematisch entwickeln.7 Aber generell lässt sich sagen, dass ein Währungsraum dann optimal ist, wenn in seinem Rahmen soziale Mechanismen ökonomische Differenzen ausgleichen, die ansonsten nur über den Wechselkursmechanismus ausgleichbar sind. Dabei geht es vor allem um Produktivitätsunterschiede zwischen unterschiedlichen ökonomischen Räumen. Sind Räume mit unterschiedlichen Produktivitäten in einem Währungsraum zusammengeschlossen, fehlt die Möglichkeit, die Wettbewerbsposition von schwächeren Räumen durch Abwertungen zu stützen. Soziale Mechanismen, welche den Wechselkursmechanismus substituieren könnten, sind Mobilität und sozialpolitische Umverteilung. Optimalität eines Währungsraums setzt also voraus, dass die Produktionsfaktoren in der Lage und willens sind, zu den jeweils produktivsten Einsatzmöglichkeiten zu wandern, oder dass Umverteilungsbereitschaft von dauerhaft produktiveren zu weniger produktiven Räumen besteht. Da beide Voraussetzungen im Rahmen des Euro-Raumes nicht erfüllt sind, ist er den sozialen Spannungen, die aus den unausgleichba7
Vgl. dazu vorläufig Vobruba (2001: 115ff.).
449
ren Differenzen entstehen, schutzlos ausgesetzt (vgl. auch Vobruba 2001: 115ff.). Der nicht-optimale Währungsraum des Euro wirkt darum destruktiv auf die Möglichkeit einer europäischen Gesellschaftsbildung und die politische Handlungsfähigkeit in ihrem Rahmen zurück (Spahn 2001: 169ff). Ad 2. Heiner Ganßmann (in diesem Band) konzentriert sich auf institutionelle Prozesse und lässt die Frage der soziologischen Beobachtung der Interpretation dieser Prozesse durch die Leute explizit offen. Gleichwohl handelt es sich um ein konfliktanfälliges Politikfeld, da sich Ganßmann mit Sozialpolitik, folglich mit Verteilungsfragen, befasst. Die Frage, ob sich die EU zur Adressatin für sozialpolitische Ansprüche entwickelt, wird skeptisch beantwortet mit Blick auf den Umstand, dass 1) die EU schwächerem Legitimationsdruck ausgesetzt ist als der Nationalstaat und dass 2) die Nationalstaaten nicht bereit sind, sozialpolitische Zuständigkeiten an die EU abzugeben. Ergebnis ist einerseits eine klare institutionelle Europäisierungstendenz in einem präzise definierten „Sinne a) des Bedeutungsverlusts nationalstaatlicher Abgrenzungen für Wirtschaftstransaktionen, b) der Vereinheitlichung rechtlicher Regelungen und c) der zunehmenden Bedeutung auf supranationaler Ebene getroffener Entscheidungen“ (Ganßmann in diesem Band: 335). Dem allerdings korrespondiert keine sozialintegrative Entwicklung auf der EU-Ebene. Denn die Europäische Union ist strukturell unfähig, eine den nationalen Wohlfahrtsstaaten analoge zentrale Quelle ihrer Akzeptanz durch die Leute auszubilden. Für die Analyse der Möglichkeit einer europäischen Formatierung von Sozialpolitik entwickelt Monika Eigmüller (in diesem Band) einen analytischen Rahmen für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den Konstitutionsprozessen politischer Räume und Sozialpolitik. Einerseits setzt sie mit einem historischen Rückgriff an, so dass sich retrospektiv relativ leicht funktionale Entsprechungen konstruieren lassen. Als Heuristik für die Untersuchung gegenwärtiger Prozesse der Gesellschaftsbildung ist das deshalb problematisch, weil das Ergebnis einer auf einen funktionalistischen Gesellschaftsbegriff fokussierten Analyse, auch wenn man sie handlungstheoretisch unterfüttert, nur funktionalistische Entsprechungsverhältnisse sein können. Wissen um Funktionszusammenhänge kann in soziologischen Erklärungen aber nur dann als Ursache eingesetzt werden, wenn es empirisch als Akteurswissen nachweisbar ist (vgl. Vobruba 1991: 90ff.). Damit wird es zu einem Handlungsmotiv unter vielen. Andererseits fasst Eigmüller 450
„die nationale Gestaltung der Wirtschaft und des Sozialen (als) Ergebnis eines kontingenten Prozesses unter spezifischen historischen Vorzeichen“ (Eigmüller in diesem Band: 365; Hervorhebung im Original) auf und setzt sich so explizit von funktionalistischen Ex-post-Konstruktionen ab. Dabei bleibt jedoch ungeklärt, worauf die Möglichkeit einer Analogiebildung zwischen Nationenbildung und der Bildung einer europäischen Gesellschaft noch gründen kann. Denn von einer kontingenten Entwicklung lässt sich nichts Verallgemeinerbares sagen, außer dass sie eben kontingent ist. Funktionalität und Kontingenz markieren offensichtlich die beiden Eckpunkte, zwischen denen eine soziologische Gesellschaftstheorie die Bedingungen der Entstehung einer europäischen Gesellschaft in Wechselwirkungen von Institutionenentwicklung und Bewusstseinsbildung zu untersuchen hat. Olaf Struck (in diesem Band) konzentriert sich auf die institutionellen Kapazitäten der EU, Sozialpolitik zu betreiben. Zu einer sozialpolitisch und damit sozialintegrativ optimistischeren Perspektive kommt er deshalb, weil er die sozialpolitische Entwicklung im Rahmen eines funktionalen Entsprechungsverhältnisses zwischen ökonomischer Effizienzsteigerung durch Flexibilisierung und deren sozialer Ermöglichung durch Sozialpolitik verortet. Damit gelingt es ihm, nicht nur sozialpolitische Sicherungsinteressen, sondern politisch hoch durchsetzungsfähige ökonomische Interessen an Sozialpolitik – virtuell – anzukoppeln. Allerdings bleibt seine Argumentation vor dem entscheidenden Schritt stehen, in dem zu zeigen wäre, wie sich sozialwissenschaftliche Einsichten in Funktionalitätsbeziehungen zwischen Flexibilität und Sicherheit tatsächlich in politisch folgenreiche Interessen an „Flexicurity“ umsetzen (vgl. Commission 2007). Stephan Lessenich (in diesem Band) hat Recht, wenn er betont, dass mit der Übersetzung von Diagnosen funktionaler Entsprechungsverhältnisse in handlungstheoretische Kategorien in jedem Fall wohl ein Abbau von Integrationsoptimismus einhergeht. Die Frage der Umsetzbarkeit von funktionalen Entsprechungsverhältnissen über Handlungsorientierungen in Möglichkeiten der Gesellschaftsbildung muss empirisch offen gehalten werden. Ad 3. Unter den auf Institutionen orientierten Untersuchungen kommt Richard Münch am ehesten zu einem integrationsoptimistischen Ergebnis. Er betont zwar immer wieder, „dass transnationale Integration von den Modernisierungseliten forciert wird und zwangsläufig die Erosion nationaler Kollektivsolidaritäten hervorruft“ und dass die Europäische Integration 451
„ohne schöpferische Zerstörung und die von ihr erzeugten Modernisierungskonflikte“ (Münch 2001: 294) nicht zu haben ist. Der Prozess der Konstruktion einer europäischen Gesellschaft findet im Spannungsfeld zwischen europäisch und nationalstaatlich geformten Interessen statt und ist darum sozialintegrativ prekär. Aber die Konsequenzen dieser Interessenkonflikte und Interpretationskämpfe für die Entwicklung einer europäischen Gesellschaft werden nicht wirklich als offene Frage behandelt. Das Ergebnis einer sich durchsetzenden europäischen Gesellschaft steht vielmehr weitgehend fest. Dieser Anlehnung an ein Durkheim’sches Gesellschaftsapriori entspricht empirisch die Konzentration auf Gruppen von politischen Akteuren, für die diese Konflikte deshalb keine Rolle spielen, weil sie sich immer schon weitgehend zugunsten der europäischen Option entschieden haben: die Richter am EuGH und die intellektuellen Teilnehmer am europäischen Integrationsdiskurs (vgl. Münch 2008a). Münch (2008) untersucht den Beitrag der Rechtsprechung des EuGH zur Konstruktion einer europäischen Gesellschaft in den folgenden Schritten. Die zunehmende Transnationalisierung von Märkten führt zu einer Erosion der segmentären Differenzierung in Nationalstaaten und zur Schwächung nationalstaatlich verfasster Solidarität. Damit werden die bisher nationalstaatlich interpretierten und institutionalisierten Gesellschaften für Europäisierung gleichsam geöffnet. Prozesse der Institutionalisierung einer europäischen Gesellschaft kommen freilich erst dadurch in Gang, dass sie von politischen Eliten betrieben und gegen (präsumtive) Verlierer durchgesetzt werden. Die Institutionalisierung einer europäischen Rechtsprechung ist dabei von besonderer Bedeutung. Eine europaorientierte Elite schafft einen Institutionenkomplex (EuGH), dieser Institutionenkomplex operiert so, dass Lebensverhältnisse für weite Personenkreise institutionell gestaltet werden (etwa durch sozialpolitisch relevante Urteile; vgl. Mau 2008) und dass sich zugleich diese Institutionenkomplexe reproduzieren und expandieren können. Der autonome Anteil einer elitenbetriebenen Institution an der Entwicklung einer europäischen Gesellschaft lässt sich am Beispiel des EuGH deshalb besonders gut zeigen, weil der Gerichtshof allgemeiner demokratischer Einflussnahme so gut wie nicht ausgesetzt ist und daher relativ separiert von den Interessen der Leute funktioniert. Empirisch reicht für sein stabiles Funktionieren die „Legitimität“, die ihm im Rahmen der juristischen epistemic community zugesprochen wird. Auch im Fall der Intellektuellendiskurse gibt es keine Rückbindung an die Interessen der Leute, dar452
um weitgehende Freiheit, die europäische Gesellschaft zu definieren und dafür zu argumentieren. Anders als der EuGH haben Intellektuelle als Konstrukteure einer europäischen Gesellschaft aber kaum einen direkten institutionellen Einfluss. Die Wirkung von intellektuellen Entwürfen auf die Entstehung einer europäischen Gesellschaft kann darum nur sehr vermittelt sein – was zu starken soziologischen Interpretationsleistungen herausfordert. Hier ist ein Einfallstor für einen zu starken, das heißt: aprioristischen, Gesellschaftsbegriff. Die Beiträge im Rahmen des Institutionenansatzes haben gemeinsam, dass sie die Frage der Entwicklung einer europäischen Gesellschaft indirekt ansteuern. Im Zentrum ihres Interesses stehen institutionelle Entwicklungen. Auffällig ist, dass jene Spielarten dieses Ansatzes zu optimistischen Einschätzungen über Gesellschaftsentstehung kommen, welche Institutionen als starken Ausgangspunkt für Erklärungen nehmen und die Institutionenentwicklung von der Ebene der Einstellungen und des Handelns der Leute fern halten. So gerät diese Argumentationsstrategie zumindest in die Nähe von Ontologisierungen der Institutionenentwicklung. Dies ist speziell immer dann der Fall, wenn aus dem historischen Vorlauf der Institutionenentwicklung im Prozess der Europäischen Integration ein systematisches Apriori für die Gesellschaftsentwicklung gemacht wird. Den sich hier manifestierenden Restbestand absolutistischer Logik überwindet man, indem man die ganze Variationsbreite der Möglichkeiten empirischer Zusammenhänge zwischen Institutionen einerseits und Handeln andererseits kategorial offen hält. „Vielleicht ist es ja das Geheimnis Europas, dass die europäische Gesellschaft selbst ein Nebenprodukt des fortschreitenden Integrationsprozesses ist: von keinem geplant, von einigen gewünscht, von anderen umso vehementer abgelehnt“ (Müller in diesem Band: 123). b) Der Identitätsansatz Anders als der Institutionenansatz zielt der Identitätsansatz direkt darauf, die Entstehung wesentlicher Merkmale einer europäischen Gesellschaft zu beschreiben und zu erklären. Die Untersuchungen konvergieren darin, die Frage nach der Möglichkeit der Entwicklung einer europäischen Gesellschaft durch den empirischen Nachweis einer Zunahme von solidarischen Beziehungen oder gemeinsam geteilten Einstellungen in dem durch die in453
stitutionelle Integration abgesteckten Rahmen zu klären. Im Rahmen des Identitätsansatzes lassen sich zwei Untersuchungsstrategien unterscheiden: Bei der einen Variante des Identitätsansatzes werden im ersten Schritt die Qualitäten von interpersonellen Beziehungen identifiziert, die für die soziale Integration einer europäischen Gesellschaft relevant sind. Im zweiten Schritt wird nach den Bedingungen gefragt, unter denen mit dem zunehmenden Auftreten solcher Beziehungen zu rechnen ist. Und im dritten Schritt wird der empirische Nachweis des vermehrten Auftretens von solchen Beziehungen als Indiz für die sich entwickelnde europäische Gesellschaft genommen. Diese Untersuchungsstrategie findet sich in unterschiedlichen Ausprägungen: Die vielfältigen Formen gesteigerter Personenmobilität führen zu einer zunehmenden Anzahl von transnationalen Sozialkontakten mit der Konsequenz immer dichterer, kooperativer, „solidarischer“ Sozialbeziehungen. Dies wird als „horizontale Europäisierung“ und damit als schrittweise Realisierung einer Voraussetzung für eine europäische Gesellschaft aufgefasst (vgl. Mau/Verwiebe 2009). Büttner und Mau (in diesem Band: 280) versuchen zwar, Abstand zu „Begriffen wie ‚Identität‘ oder ‚Gemeinschaftsgefühl‘“ zu halten, „weil diese Konzepte äußerst voraussetzungsvoll sind und nicht einfach aus der horizontalen Verflechtung Europas abgeleitet werden können.“ Konsequent wollen sie mit ihrer Untersuchung der Entwicklungsbedingungen eines europäischen „Interdependenzbewusstseins“ nicht das Interesse der EU-Politik an einer europäischen Identität als politischer Steuerungsressource bedienen. Es geht ihnen „weniger um Fragen der Funktionalität transnationaler Vernetzung für die politische oder soziale Stabilität der Europäischen Union“ (ebd.). Aber mit ihrem Vorverständnis, dass aus zunehmend dichteren Begegnungen mehr „Interdependenzbewusstsein“ (Büttner/Mau in diesem Band: 287ff.) entsteht, das zur Bildung einer europäischen Gesellschaft beiträgt – nicht aber zu mehr Konkurrenz! –, bleibt Identität doch der Fluchtpunkt ihrer Analyse. Dieser Analysestrategie verwandt ist das Argument, dass durch zunehmend intensive grenzüberschreitende Beziehungen, durch „Urlaubsreisen, Geschäftskontakte, Einkaufstouren, Städtepartnerschaften, Schüleraustausche und Studienaufenthalte, durch Arbeitsmigration, Freundschaften und Heiraten“ (Delhey in diesem Band: 198; vgl. Gostmann/Schatilow 2009) transnationales interpersonelles Vertrauen entsteht (vgl. Delhey 2007, 2008). Als Ergebnis wird im Anschluss an Karl Deutsch die Ausbildung eines „Gemeinschaftssinns (Sense of Community)“ gesehen, dessen Qualität von einer 454
Minimalmoral wechselseitiger Rücksichtnahme bis zu der Bereitschaft, „Gutes füreinander (zu) bewirken – also positive Solidarität“ (Delhey in diesem Band: 198), reichen kann. In diesem Sinne schlägt Delhey vor, von einem „optimalen Integrationsraum“ dann zu sprechen, wenn in dem von der Institutionenbildung abgesteckten Raum dichte und solidarische grenzüberschreitende Beziehungen bestehen. Aber diese aprioristische Festlegung auf die gesellschaftskonstitutive Relevanz von Identität blendet aus, dass durch die institutionelle Entwicklung ebenso ein neuer gesellschaftlicher Rahmen entstehen kann, in dem Konkurrenz- und Konfliktbeziehungen ausgetragen werden. Spätestens dann, wenn es um die Europäisierung von Politikfeldern geht, in denen Verteilungskonflikte ausgetragen werden, sind „nicht Vertrauen und Solidarität (...) die analytischen Kategorien, die diese Entwicklung zu verstehen helfen. Vielmehr müssen wir uns in den Analysen auf politische Absichten und Interessen, Institutionenbildungen und Herrschaftsstrukturen konzentrieren“ (Eigmüller in diesem Band: 372). Der Identitätsansatz dagegen beruht auf einem Verständnis von Gesellschaft, in dem Konflikte kategorial nicht vorgesehen sind und darum nur als gesellschaftsstörend erscheinen können. Die andere Variante des Identitätsansatzes interessiert sich für die Frage nach gleichgerichteten sozialen Einstellungen als dem sozialen Substrat einer europäischen Gesellschaftsbildung. Der Ansatz operiert mit zwei Ausgangsannahmen: Sowohl die Relevanz der diversen gesellschaftlichen Themengebiete, zu denen Einstellungen erhoben werden, als auch die Annahme, dass Homogenität der diesbezüglichen Einstellungen integrationsförderlich ist, steht a priori fest. Gegenstand der empirischen Untersuchungen sind entweder Relationen zwischen den Einstellungen der Bevölkerungen unterschiedlicher Mitgliedsländer oder Relationen zwischen Bevölkerungseinstellungen und institutionell fixierten Auffassungen zu gesellschaftsrelevanten Themen. Im ersten Schritt werden Einstellungen zu diversen gesellschaftsrelevanten Problembereichen erhoben, im zweiten Schritt werden die erhobenen Einstellungen zueinander und zu institutionell fixierten Auffassungen zu gesellschaftsrelevanten Themen in Relation gesetzt. Ergebnis sind Vergleiche zwischen den Bevölkerungen einzelner Mitgliedsländer, Vergleiche zwischen Mitgliedsländern und Beitrittskandidaten und Vergleiche zwischen den Einstellungen der Bevölkerungen und textförmig dokumentierten Elitenvorstellungen auf EU-Ebene (vgl. Gerhards 2006; Hölscher 2006; Gerhards/Hölscher 2003, 2005; Gerhards/Lengfeld 2006, 2009.) In den 455
Schlussfolgerungen finden sich die Ausgangsannahmen wieder: Übereinstimmungen werden als integrationsförderlich, Divergenzen als Integrationshindernisse interpretiert. Jan Delhely (2008) findet dafür die zutreffende (Selbst-)Bezeichnung „identity approach“. Die empirische Sozialforschung hat im Rahmen der Europasoziologie mittlerweile einen beachtlichen Bestand an wertvollen Beschreibungen von subjektseitigen Einstellungen und ihren Bedingungen gesammelt. Das Grundproblem dieser Untersuchungen besteht freilich darin, dass an sie fallweise weitreichende Schlussfolgerungen geknüpft werden, die auf Annahmen beruhen, welche selbst der empirischen Überprüfung entzogen sind. Dies ist dann der Fall, wenn vor der Formulierung der empirisch zu überprüfenden Vermutungen davon ausgegangen wird, dass eine gemeinsame Identität sich aus dem Abbau von Differenzen konstituiert und dass dies Voraussetzung einer europäischen Gesellschaftsbildung ist. In solchen Auffassungen zeigt sich „der substanzlogische Gehalt dieses Verständnisses der Gesellschaft“ (Dux in diesem Band: 54). Denn in den Ausgangsannahmen der Untersuchungen in dieser Variante des Identitätsansatzes steckt als ein Apriori ein Verständnis von Gesellschaft als Einheit, in welchem Reste der Idee von „Gemeinschaft als Gesellschaftsprojekt“ (Vobruba 1994) wirksam sind. In der Annahme, dass sich Gesellschaft über Gemeinsamkeiten, Werte und Vertrauen integriert, manifestieren sich Gemeinschaftsvorstellungen, also Vorstellungen eines sozialen Zusammenhaltes Gleichgesinnter als Substanz von Gesellschaftsbildung. Dies wiederum wird als Voraussetzung und Bedingung für die weitere institutionelle Integration aufgefasst (vgl. Offe 2001). In einem solchen Vorverständnis des „Sozialen“ als Einheit und als Voraussetzung von Gesellschaft manifestieren sich Restbestände traditionalabsolutistischen Denkens: Gesellschaft wird als aus einem sozialen Apriori erklärbar vorgestellt. Aus Differenzen resultierende Spannungen und Konfliktbeziehungen erscheinen immer nur als Problemkonstellationen, die sich im Zuge der Integration entweder abbauen oder aber die Entstehung einer europäischen Gesellschaft verhindern. Die kategorialen Vorentscheidungen, auf denen die Forschungen im Rahmen des Identitätsansatzes beruhen, lassen Differenzen als konstitutive Merkmale einer möglichen europäischen Gesellschaft nicht in den soziologischen Blick kommen. Aber ist es tatsächlich denk-möglich, dass sich Gesellschaft in der Moderne über Gemeinsamkeiten integriert? Dagegen steht nicht nur die Evidenz, dass in der Gesellschaft Differenzen aller Art nicht via Einstellungen beseitigt, sondern als 456
Interessenkonflikte permanent ausgetragen werden; dagegen richten sich auch starke Argumente sowohl diverser Varianten der Konflikttheorie als auch der Theorie autopoietischer Systeme. Selbstverständlich ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass sich in der Gesellschaft Vorstellungen von „Gesellschaft als Gemeinschaftsprojekt“ finden, und insbesondere damit, dass solche Gesellschaftsdeutungen als Instrumente in Konflikten eingesetzt werden (vgl. Vobruba 1994: 131ff.). Aber gerade wenn man die soziologische Beobachtung auf diese empirische Möglichkeit einstellen will, muss man ihren heuristischen Gesellschaftsbegriff von den Restbeständen traditionaler Gemeinschaftslogik frei halten. Der Identitätsansatz ist stark im Erheben von Einstellungen und Handlungsdispositionen, die im Rahmen der sozialen Verhältnisse, der institutionellen Europäisierung, relevant sein können. Aber bei der theoretischen Zuschreibung, worin diese Relevanz besteht, ist der Ansatz zu unbesorgt. Das liegt daran, dass die Untersuchungen mit einem Apriori starten, welches empirisch gehaltvolle Fragen kategorial präjudiziert. Dadurch schleicht sich unter der Hand ein Gesellschaftsbegriff ein, mit dem Restbestände vormoderner Gemeinschaftsvorstellungen, welche in der Gesellschaft praktisch wirksam sind, nicht beobachtbar sind, sondern bestätigt werden. c) Die Europäische Union als Konfliktrahmen Auf die Europäische Union als neuen, institutionell definierten Konfliktrahmen konzentrieren sich jene europasoziologischen Untersuchungen, in deren Zentrum diese beiden Fragen stehen: 1.
2.
Welche Folgen haben die durch den europäischen Integrationsprozess veränderten Rahmenbedingungen für die Konfliktkonstellationen und für die sich aus ihnen ergebenden Resultate, die Verteilungsmuster von Macht, Einkommen und Lebenschancen? In welcher Weise werden die Raumrahmen solcher Konflikte selbst Gegenstand von Konflikten?
Ad 1. Es liegen zahlreiche Untersuchungen zur Frage vor, in welcher Weise die Europäische Integration Gewinner und Verlierer (beziehungsweise Gewinner- und Verlierererwartungen) und entsprechende Interessenprofile hervorbringt (vgl. Tang 2000; Heidenreich 2003; Fligstein 2008). Die Unter457
suchungen konzentrieren sich auf Untersuchungen zur sozialen Ungleichheit, insbesondere auf die Frage der Entwicklung europäisierter Ungleichheitsstrukturen (vgl. Heidenreich 2006; Bach/Sterbling 2008; Berger/Weiß 2008). Als gesichert kann angesehen werden, dass im Zuge von Globalisierung und speziell Europäischer Integration die Ungleichheit zwischen Nationen abnimmt und innerhalb von Nationen zunimmt. Heidenreich und Wunder (2008: 32) zeigen dies im ersten Schritt und testen im zweiten Schritt Hypothesen, warum sich die Ungleichheitsstrukturen so entwickeln. Dann schließen sie die Entwicklung der Ungleichheitsmuster mit eher allgemein gehaltener Empirie zur Unzufriedenheit der Leute mit der EU kurz. Zwar fassen sie mit der Formel der „transformation from heterogeneity to inequality“ sehr einprägsam den Unterschied zwischen der empirischen Erhebung von Unterschieden und der soziologischen Beobachtung, wie die Leute diese Unterschiede als Ungleichheiten beobachten. Aber einen Kausalzusammenhang zwischen Unterschieden, deren Wahrnehmung als Ungleichheit und deren Zurechnung, sei es zum Nationalstaat, sei es zur EU, stellen sie empirisch (also unter Rekurs auf die Interpretationen der Leute) nicht her. Der Kausalzusammenhang zwischen Ungleichheit und Unzufriedenheit ist hier also kein Ergebnis der Beobachtung zweiter Ordnung, sondern der Praxis der (hier natürlich: soziologisch informierten) Gesellschaftsinterpretation der beiden Autoren. Entsprechend ziehen sie aus ihren Ergebnissen erst einmal eine Konsequenz für die Praxis der empirischen Sozialforschung: „Social inequalities can be analysed (...) less and less exclusively within the framework of nation-states“ (Heidenreich/Wunder 2008: 33). Dagegen kann ihre Anschlussvermutung, dass regionale Ungleichheit der Hauptgrund für Unzufriedenheit mit der EU ist, nur Platzhalterfunktion haben; und zwar Platzhalterfunktion für soziologische Beobachtungen, in welcher Weise die relevanten Akteure (Leute) die Ungleichheiten, mit denen sie leben, beobachten, interpretieren und wie sie dementsprechend handeln. Heidenreich und Härpfer (in diesem Band) führen diese Argumentation um den entscheidenden Schritt weiter, dass auch Leute selbst die Entwicklung dieser Ungleichheitsmuster zunehmend als europäisch bedingt beobachten und interpretieren. Sie ergänzen die Beschreibung von europäisierten Ungleichheitsmustern durch die soziologische Beobachtung, dass die Leute dies zunehmend auch so beobachten und interpretieren. Diese praktischen Zurechnungen von Ungleichheitstatbeständen zur Europäischen Union werden durch die Institutionenentwicklung der EU ermöglicht oder forciert; 458
und zwar einerseits, indem allgemein sichtbar wird, dass die Europäische Union an der Entstehung von neuen Ungleichheitsmustern beteiligt ist, und andererseits, indem die EU als Adressatin für Ansprüche auf Behebung oder Minderung von Ungleichheit und/oder ihrer Folgen auftritt. Kann man also sagen, dass sich eine europäische Gesellschaft damit abzeichnet, dass die Leute durch die Institutionenentwicklung in transnationale Konfliktbeziehungen zu anderen Leuten gezwungen werden? Heidenreich und Härpfer scheinen unentschieden, was die Positionierung ihres Beitrags zum Problem der Konstitution einer europäischen Gesellschaft betrifft. Einerseits stellen sie die begrifflichen Weichen ihrer Fragestellung nicht auf Gesellschaft, sondern auf individuelle Lebenslagen und Einstellungen, wenn sie betonen, einen Beitrag zur elaborierten Fassung von subjektiv empfundener „Lebensqualität“ in Europa zu leisten. Andererseits aber weisen sie mit ihren Ergebnissen darauf, dass die Leute ihre Lebenslagen als europäisch vernetzt beobachten und interpretieren. Die Untersuchungen der Europäisierung sozialer Ungleichheit führen zur soziologischen Beobachtung, dass relevante Gruppen den Verdichtungsraum der Europäischen Union als Kooperationsund Konfliktraum beobachten, interpretieren und dementsprechend handeln. Dabei verstehe ich unter einem Verdichtungsraum in Anlehnung an einen Definitionsvorschlag von Stefan Immerfall (2000: 487; vgl. Büttner/Mau in diesem Band) ein Territorium, innerhalb dessen Grenzen die Wahrscheinlichkeit von Austauschbeziehungen höher ist als über sie hinweg. Der Begriff Austauschbeziehung ist dabei so weit gefasst, dass Untersuchungen nicht bereits kategorial auf Kooperations- oder auf Konfliktbeziehungen festgelegt werden. In der Forschung zur Europäisierung sozialer Ungleichheit zeichnet sich zweierlei ab, zum einen eine Verbindung von Institutionenentwicklung und darauf bezogenen Deutungen der Leute („Bewusstsein“) und zum anderen die Notwendigkeit der Fokussierung der Forschung auf die Frage, wie die Räume definiert werden, in denen Konflikte ausgetragen werden. Ad 2. Europa ist „raumlogisch“ tatsächlich ein „schwieriger Fall“ (Löw in diesem Band: 142). Denn im Zuge der institutionellen Integration der EU werden Raumrahmen neu definiert, die soziale Konflikte strukturieren und darum selbst Gegenstand von Konflikten werden. Daraus ergibt sich die gesellschaftskonstitutive Bedeutung von Grenzen.
459
Grenzen unterliegen im Zuge des europäischen Integrationsprozesses zweierlei Veränderungen. Zum einen werden Grenzfunktionen nach außen verschoben (vgl. Bös/Zimmer 2006), zum anderen dissoziieren unterschiedliche Arten von Schließungsfunktionen von Grenzen (vgl. Bach in diesem Band). Die Außenverschiebung von Grenzen ist die Folge des Erweiterungsprozesses und der damit einhergehenden Inklusion der vormaligen Peripherie in die „Räume“ der EU, Schengenraum, Euro-Raum etc. Die Dissoziation von Schließungsfunktionen folgt daraus, dass die Inklusion der Peripherien nicht in allen Dimensionen simultan erfolgt. Die EU-Grenzen fungieren nicht mehr umfassend als „Interdependenzunterbrecher“ (Mau 2006: 116), sondern erfassen und regulieren die verschiedenen grenzüberschreitenden Prozesse unterschiedlich. Die Außengrenze der EU ist „im strengen Sinn keine Staatsgrenze. Sie markiert stattdessen die Reichweite des Geltungsraumes des Europarechts sowie die Ausdehnung des europäischen Raumes der institutionalisierten zwischenstaatlichen Kooperation“ (Bach in diesem Band: 171). Die Grenzen unterschiedlicher EU-institutionell definierter – und potentiell europagesellschaftlich relevanter – Räume verlaufen unterschiedlich und regeln deren Schließung oder Öffnung. Der Schengenraum umfasst nicht alle EU-Mitgliedsländer (und schließt mehrere NichtMitgliedsländer ein), der europäische Raum der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist anders zugeschnitten und ändert sich laufend (vgl. Nissen 2009). Ebenso hat der Euro-Raum eigene funktionsspezifische Grenzen (vgl. Bös 2000). Auch Sprachgrenzen definieren sozial relevante Räume, deren Öffnung oder Schließung durch die Verteilung von Fremdsprachenkompetenzen bestimmt wird. Einerseits erleichtert eine gemeinsame Sprache die Herstellung von Konsensen, andererseits sind Sprachkenntnisse Bedingung für den Eintritt in Konkurrenzzusammenhänge. Die Ungleichverteilung von „transnationalem linguistischen Kapital“ (Gerhards in diesem Band) ist gleich bedeutend mit einer sozialen Selektivität der Durchlässigkeit von Sprachgrenzen und ist damit eine Ursache für die Ungleichverteilung der Chancen, im EUIntegrationsprozess angelegte Möglichkeiten zu nutzen. Sprachgrenzen sind durchlässig für jene, „die über eine gute Bildung verfügen, die für eine Teilhabe am Prozess der Europäischen Integration gut gerüstet sind, weil sie über eine entsprechende Fremdsprachenkompetenz verfügen. Das Projekt Europa ist neben allen anderen Dingen eben auch ein Klassenprojekt“ (ebd.: 294).
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Aus der Dissoziation und Selektivität von Grenzen ergeben sich für Kapital, Waren und diverse Personenkategorien unterschiedliche Konstellationen, in denen Kooperation möglich ist und Konkurrenz und Konflikte ausgetragen werden müssen (vgl. Bach 2006).8 Solche unterschiedlichen Dimensionen von Grenzöffnung und -schließung, die bei nationalstaatlichen Grenzen in eins gefallen waren, werden durch ihre Dissoziation überhaupt erst sichtbar – ein schönes Beispiel für die eingangs erwähnte Erkenntnischance, welche die EU-Integration bietet, indem sie die routinisierte Gesellschaftsbeobachtung irritiert. In der Summe führt dies zu abgestuft integrierten Mitgliedsländern, zu Übergangsformen zwischen EU-Vollmitgliedschaften und diversen Assoziationsformen („special relationship“) sowie zu selektiv durchlässigen Grenzen (vgl. Vobruba 2007: 77ff.; Vobruba 2008a; Eigmüller/Vobruba 2009). Die unterschiedlichen institutionellen Definitionen der Grenzfunktionen, Öffnung und Schließung von Grenzen, sind das Ergebnis von politischen Verhandlungsprozessen im Rahmen komplexer politischer Tauschverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie der EU. Indem Grenzfunktionen in unterschiedlichen Dimensionen ausgehandelt werden, geraten unterschiedliche Akteursgruppen zueinander in intensivere Austausch-, Kooperations- und Konfliktbeziehungen. Mit der Öffnung und Schließung von Grenzen werden die Raumrahmen für diese Beziehungen institutionell verbindlich definiert.9 Mit den spezifischen institutionellen Definitionen von Grenzfunktionen im Zuge der Europäischen Integration entsteht „a much wider repertoire of ‚locality‘ options“ (Ferrera 2005: 207). Damit wird zugleich darüber entschieden, wer an den Kooperations- und Konfliktbeziehungen im Inneren der EU (und nach Maßgabe ihrer Regeln) teilnehmen darf. Darum stellen Grenzen soziale Konfliktrah8
9
Die grundbegriffliche Einführung der Unterscheidung von „vernetztem Raum“ und „territorialem Raum“ (Löw in diesem Band) verfehlt, dass die Bildung von Netzwerkräumen im Rahmen von politisch strukturierten territorialen Räumen stattfindet und von ihnen maßgeblich bestimmt wird. Man vergleiche etwa den Wandel der Netzwerkbeziehungen zwischen Moskau, Paris und Berlin vor und während der UdSSR und speziell dem Stalinismus (vgl. Hulten 1979: Paris – Moscou 1900-1930; Antonowa/Merkert 1995: Berlin – Moskau 1900-1950). Eine grundbegriffliche Parallelisierung von Netzwerkraum und territorialem Raum kann dies nicht erfassen. Im Übergang von nationalstaatlichen zu postnationalen Grenzen erfolgt ein Wandel von Grenzverschiebungen zu funktionsspezifischen Codierungen von Grenzen; damit werden Grenzen von außenpolitischen zu sozialpolitischen Konfliktgegenständen, in denen es nicht mehr um territoriale Herrschaft, sondern um Inklusion und Exklusion geht.
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men dar und sind selbst Gegenstand von Interessenkonflikten. Es trifft zu, dass sich die spezifischen Definitionen von Grenzen aus „institutionalisierten Ordnungsideen der jeweiligen politischen Vergesellschaftung“ (Bach in diesem Band: 158) ergeben, aber in diesen Ordnungsideen manifestieren sich Interessen und Machtkonstellationen, welche auf die Definitionen der Grenzfunktionen wirken. Als Anzeichen einer europäischen Gesellschaftsbildung lassen sich die empirischen Hinweise darauf interpretieren, dass der weitere Konfliktrahmen, den die Europäische Union durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit institutionell definiert, zumindest auf der Ebene erhebbarer Einstellungen überraschend hohe Akzeptanz findet (vgl. Gerhards/Lengfeld 2009; Nissen 2009). Zentral für die Europasoziologie ist es, die Entstehung einer europäischen Gesellschaft als Entwicklung eines neuen institutionell definierten Kooperations- und Konfliktrahmens zu fassen, der so weit akzeptiert wird, dass die Institutionen funktionieren können. Dazu muss sie empirische Ergebnisse des Institutionen- und des Identitätsansatzes aufnehmen und diese mit Analysen von Institutionenbildung und Grenzbildung verknüpfen. Einerseits muss der Institutionenansatz klar auf die Frage ausgerichtet werden, welche neuen Kooperations- und Konfliktbeziehungen aus der EUInstitutionenbildung entstehen. Diese Anforderung ergibt sich aus der Entwicklung der Europäischen Integration selbst, nämlich aus dem Ende des „permissive consensus“, mit dem jene Forschung an ihre Grenzen gerät, die sich in der Analyse der politischen Institutionenmechanik und normativen Ratschlägen an politische Akteure erschöpft. Und andererseits muss man am Identitätsansatz anknüpfen und fragen, unter welchen Bedingungen Einstellungen entstehen, welche einen gemeinsamen Konfliktrahmen stützen. In dieser Sicht besteht die Bedeutung der Ergebnisse der Forschungen im Identitätsansatz nicht darin, zu zeigen, wodurch Differenzen einvernehmlich aufgelöst werden, sondern darin, Konsense darüber zu ermitteln, in welchen – vor allem: territorialen – Rahmenbedingungen Konkurrenz zugelassen wird und Konflikte ausgetragen werden.
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Fragen der Europasoziologie
Daraus ergeben sich die folgenden forschungsleitenden Fragen: Welche Konstellationen im Verhältnis zwischen EU-Institutionen und den Einstellungen der Bevölkerungen lassen sich als Konsense über einen europagesellschaftlichen Konfliktrahmen beschreiben? Und welche Ursachen lassen sich für die Entwicklung solcher Konsense über Konfliktrahmen eruieren? Wenn die Europäische Integration im Kern Marktintegration ist (vgl. Ganßmann 2009a: 200), ist sie vor allem die Institutionalisierung von neuen Konkurrenzverhältnissen. Also ist die entscheidende Frage, ob die institutionellen Erweiterungen der Rahmen, in denen Märkte operieren, akzeptiert werden. Diese Frage wird für die Sozialintegration virulent, sobald Mehrheiten in die erweiterten Markt- und Konkurrenzverhältnisse existentiell involviert sind. Also geht es in erster Linie um neue Raumrahmen für den Arbeitsmarkt. Bedingungen für Konsense über Konfliktrahmen lassen sich anhand des Arbeitsmarktes deshalb gut verdeutlichen, weil es sich bei der Frage nach dem Konsens über Inklusionsregeln in den Arbeitsmarkt praktisch um einen existentiellen Aspekt der Vergesellschaftung, theoretisch also um einen harten Test für das soziologische Verständnis von Gesellschaftsbildung als Beobachtung zweiter Ordnung handelt: Lässt sich am Arbeitsmarkt soziologisch beobachten, dass die Leute den von der EU institutionell definierten europäischen Arbeitsmarkt als gemeinsamen Konfliktrahmen beobachten und interpretieren? Welche Gruppen akzeptieren ihn, welche nicht? Die Institution der Arbeitnehmerfreizügigkeit schafft einen europäischen Arbeitsmarkt und damit neue Konkurrenzsituationen zwischen Arbeitskräften aus unterschiedlichen Mitgliedsländern der EU. Die empirische Frage ist, ob die Leute, die in diesen neuen Konkurrenzsituationen stehen, in die neuen Konflikte eintreten und sie inhaltlich austragen, den Konfliktrahmen somit akzeptieren; oder ob sie versuchen, sich den neuen Konfliktkonstellationen zu entziehen, indem sie einen alten, engeren Konfliktrahmen verteidigen, indem sie auf der Schließungsfunktion der nationalstaatlichen Grenze insistieren, um neue Konkurrenten vom Arbeitsmarkt fern zu halten. Die ersten Ergebnisse, die zu dieser Frage vorliegen, überraschen. Wenn ich recht sehe, gibt es gerade für diese existentiell wichtige Frage der europäischen Inklusion in den Arbeitsmarkt Anzeichen für einen Konsens über den EU-institutionell definierten Konfliktrahmen. Die „gebremste Europäisie463
rung“ (Nissen 2009) und damit die neu institutionalisierten Konkurrenzverhältnisse auf einem territorial erweiterten Arbeitsmarkt werden von den Bevölkerungen mehrheitlich akzeptiert (vgl. Gerhards/Lengfeld 2009). Die Kernfrage der Europasoziologie lautet also: Unter welchen Bedingungen werden neue institutionelle Konfliktrahmen akzeptiert, so dass die Entwicklung einer europäischen Gesellschaft nicht an „Konflikten um den Konfliktrahmen“10 scheitert? Dazu müssen die Forschungen des Identitätsansatzes auf die Frage nach Bedingungen für Konsense über Konfliktrahmen, welche sich durch die europäische Institutionenbildung entwickeln, eingestellt werden. Was also ist zu tun? Erstens bedarf es, um Forschung dazu in Gang zu setzen, eines heuristischen Gesellschaftsbegriffs, der kategoriale Präjudize vermeidet. Dann geht es darum, genau zu zeigen, welche neuen Konfliktund Konkurrenzzusammenhänge die institutionelle Integration der EU herstellt. Und schließlich ist zu untersuchen, welche Entwicklungen von Beziehungen und Einstellungen dazu führen, dass dieser neue Konfliktrahmen akzeptiert wird, von wem er akzeptiert wird und von wem nicht. Bei dem Gesellschaftsbegriff, von dem die Europasoziologie ausgeht, handelt es sich um ein heuristisches Hilfsmittel, nicht um eine definitorische Bestimmung, die mit irgendeinem Allgemeinverbindlichkeitsanspruch auftritt. Genau hier liegt die Grenze zur Ontologisierung des Gesellschaftsbegriffs: Er muss praktisch sein, kann aber nicht mit irgendeinem wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch auftreten. Um es ganz deutlich zu machen: Der heuristisch einsetzbare Begriff von einer europäischen Gesellschaft als Kooperations- und Konfliktraum ergibt sich aus Beobachtungen erster Ordnung von den Leuten, deren Praxis soziologische Forschung ist. Anhand dieses Begriffs findet dann professionelle soziologische Beobachtung, Beobachtung zweiter Ordnung, statt. Konsequenz des Verzichts auf ein ontologisches Verständnis von Gesellschaft kann nur sein, die Fragestellung der soziologischen Gesellschaftstheorie auf die Möglichkeit der Genese einer europäischen Gesellschaft zu richten. Dabei lässt sich keinerlei Substanz, etwa in einem vorsoziologischen Begriff von „Demos“ gefasst, voraussetzen, aus der sich Gesellschaft ergibt. Das zeigt schon die „zweite Süderweiterung“ der Europäischen Union, der Beitritt von Mayotte. „Es macht
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Ich entlehne diese Formel von Thilo Fehmel (2010), der sie für ein analoges Problem in einem verbändesoziologischen Zusammenhang geprägt hat.
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keinen Sinn, nach einem europäischen Demos zu verlangen und zu erwarten, er werde sich schon bilden, wenn es ihn noch nicht gebe“ (Dux in diesem Band: 72). Man muss aber keineswegs auf die Frage nach der Möglichkeit einer europäischen Gesellschaft verzichten, wenn man den Gegenstand der Soziologie im Sinne der Beobachtung zweiter Ordnung versteht: Gesellschaft ist das, was die Leute als Gesellschaft beobachten. Gesellschaft entsteht aus der Relation von Institutionenbildung, den sich daraus ergebenden sozialen Verhältnissen und deren Perzeption durch die Leute. Im europasoziologischen Kontext bedeutet dies, Entwicklungen zu rekonstruieren, in deren Folge ein sozialer Verdichtungsraum innerhalb eines EU-institutionellen Rahmens entsteht. Die Europasoziologie muss also jene politischen Institutionenzusammenhänge und sozialen Verhältnisse beobachten, die in der Praxis als Momente der entstehenden europäischen Gesellschaft beobachtet und interpretiert werden. In der Perspektive der soziologischen Gesellschaftstheorie geht es also darum, in welcher Weise von relevanten Akteuren die Entwicklung einer europäischen Gesellschaft beobachtet, interpretiert und betrieben wird. Der heuristische Gesellschaftsbegriff ist sparsam. Er besteht aus wenigen Elementen: In der Inhaltsdimension nimmt er Verdichtungen – und zwar im Sinne von Kooperations- und Konfliktbeziehungen – auf. In der Raumdimension lenkt er die Aufmerksamkeit vor allem auf die Raumrahmen, in denen Konkurrenz und Konflikte ausgetragen werden. In der Zeitdimension hält er die Frage nach der Richtung der Gesellschaftsentwicklung empirisch offen. Damit wird es möglich, Europäisierung und Ent-Europäisierung (sei es als Renationalisierung, Regionalisierung oder Globalisierung) als kategorial gleichwertige Möglichkeiten zu behandeln sowie Kombinationen von Europäisierung und unterschiedlichen Formen von Ent-Europäisierung zu untersuchen. Historisch-empirisch finden die Europäisierungsprozesse in einer nationalstaatlich verfassten Welt statt. Ansätze zu einer europäischen Gesellschaft müssen darum in einem Spannungsverhältnis zu nationalstaatlich verfassten Institutionen, Interessen und Gesellschaftsinterpretationen untersucht werden (vgl. Vobruba 2008). Die Europasoziologie beobachtet und interpretiert, ob und wie unterschiedliche relevante Akteure und Akteursgruppen die sozialen Verhältnisse als „national“ oder „europäisch“ beobachten, interpretieren und dementsprechend handeln. Im Sinne der soziologischen Gesellschaftstheorie kann man dann von einer europäischen Gesell-
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schaft sprechen, wenn im Zuge der Europäischen Integration ein neuer Kooperations- und Konfliktrahmen institutionalisiert und akzeptiert wird. Literatur Anderson, Benedict, 1983: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York: Verso. Antonowa, Irina und Jörn Merkert (Hg.), 1995: Berlin – Moskau 1900-1950. München/New York: Prestel. Bach, Maurizio, 1999: Die Bürokratisierung Europas. Verwaltungseliten, Experten und politische Legitimation in Europa. Frankfurt a.M.: Campus. Ders., 2000: Die Europäisierung der nationalen Gesellschaft? Problemstellungen und Perspektiven einer Soziologie der europäischen Integration. S. 11-35 in: Ders. (Hg.): Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 40, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Ders., 2006: Unbounded Cleavages. Grenzabbau und die Europäisierung sozialer Ungleichheit. S. 145-156 in: Monika Eigmüller und Georg Vobruba (Hg.): Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes. Wiesbaden: VS. Ders., 2008: Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der Europäischen Integration. Wiesbaden: VS. Ders., 2009: Die Konstitution von Räumen und Grenzbildung in Europa. Von verhandlungsresistenten zu verhandlungsabhängigen Grenzen (in diesem Band). Bach, Maurizio und Anton Sterbling (Hg.), 2008: Soziale Ungleichheit in der erweiterten Europäischen Union. Hamburg: Krämer. Balog, Andreas, 1999: Der Begriff „Gesellschaft“, Österreichische Zeitschrift für Soziologie 24 (2): 66-93. Beck, Ulrich und Edgar Grande, 2004: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Berger, Peter A., 2009: Soziale Integration (in) der Europäischen Union (in diesem Band). Berger, Peter A. und Anja Weiß (Hg.), 2008: Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Wiesbaden: VS. Bös, Mathias, 2000: Zur Kongruenz sozialer Grenzen. Das Spannungsfeld von Territorien, Bevölkerungen und Kulturen in Europa. S. 429-455 in: Maurizio Bach (Hg.): Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 40, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Bös, Mathias und Kerstin Zimmer, 2006: Wenn Grenzen wandern: Zur Dynamik von Grenzverschiebungen im Osten Europas. S. 157-184 in: Monika Eigmüller und Georg Vobruba (Hg.): Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes. Wiesbaden: VS. Brunn, Gerhard, 2002: Die Europäische Einigung. Stuttgart u.a.: Reclam. Brunner, Otto, Werner Conze und Reinhard Koselleck, 1975: Gesellschaft, Gemeinschaft. S. 801-862 in: Dies. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Maurizio Bach, Dr., geb. 1953, Professor für Soziologie an der Universität Passau. Peter A. Berger, Dr., geb. 1955, Professor für Allgemeine Soziologie/ Makrosoziologie an der Universität Rostock. Sebastian Büttner, Dipl.-Soz., geb. 1978, Ph.D. Fellow an der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS). Jan Delhey, Dr., geb. 1969, Professor für Soziologie an der Jacobs University Bremen. Günter Dux, Dr., geb. 1933, Professor für Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Freiburg. Klaus Eder, Dr. rer.soc., geb. 1946, Professor für vergleichende Strukturanalyse an der Humboldt-Universität zu Berlin. Monika Eigmüller, Dr., geb. 1975, Leiterin der Nachwuchsforschergruppe „Sozialraum Europa“ am Institut für Soziologie der Universität Leipzig. Heiner Ganßmann, Dr. rer.pol., geb. 1944, Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Jürgen Gerhards, Dr., geb. 1955, Professor für Makrosoziologie an der Freien Universität Berlin. Marco Härpfer, Dipl.-Soz., geb. 1975, Doktorand und ehem. Mitarbeiter am Jean Monnet Chair for European Studies in Social Sciences an der Universität Oldenburg.
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Martin Heidenreich, Dr., geb. 1956, Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Oldenburg. Stephan Lessenich, Dr., geb. 1965, Professor für Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse am Institut für Soziologie der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Martina Löw, Dr., geb. 1965, Professorin für Soziologie mit den Arbeitsschwerpunkten Raum- und Stadtsoziologie an der TU Darmstadt. Steffen Mau, Dr., geb. 1968, Professor für Politische Soziologie und Vergleichende Analyse von Gegenwartsgesellschaften an der Universität Bremen. Hans-Peter Müller, geb. 1951, Professor für Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Richard Münch, Dr., geb. 1945, Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Peter Spahn, Dr., geb. 1950, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Hohenheim. Olaf Struck, Dr., geb. 1964, Professor für Arbeitswissenschaft an der Universität Bamberg. Georg Vobruba, Dr., geb. 1948, Professor für Soziologie an der Universität Leipzig.
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