William Faulkner Der Strom
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William Faulkner
Der Strom Roman
Mit einem Nachw...
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William Faulkner Der Strom
Fischer Bibliothek
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William Faulkner
Der Strom Roman
Mit einem Nachwort von Elisabeth Kaiser
S. Fischer Verlag
Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Old Man‹ Deutsch von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser
Copyright © 1957 by Fretz & Wasmuth Verlag AG, Zürich © für das Nachwort: S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1978 Lizenzausgabe für den S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlagentwurf: Hannes Jahn Satz und Druck: Georg Wagner, Nördlingen Einband: G. Lachenmaier, Reutlingen Printed in Germany 1978 ISBN 3 10 020403 4
Erstes Kapitel
Es waren einmal (in Mississippi, im Mai des Überschwemmungsjahres 1927) zwei Sträflinge. Der eine war etwa fünfundzwanzig, war groß, mager, flachbäuchig, mit sonnenverbranntem Gesicht und indianerschwarzem Haar und porzellanhellen, empörten Augen – eine Empörung nicht gegen die Männer, die sein Verbrechen vereitelt, nicht einmal gegen die Anwälte und Richter, die ihn hierhergeschickt hatten, sondern gegen die Schriftsteller, gegen die gestaltlosen Namen, die mit den Geschichten, den Zeitungsromanen verbunden waren – die Diamond Dicks und Jesse James und ähnliche – und denen er die Schuld an seiner augenblicklichen Lage gab, weil sie für die übernommene Aufgabe, die ihnen schließlich bezahlt wurde, zu unwissend und leichtgläubig waren und sich mit Informationen zufriedengaben, denen sie obendrein den Stempel der Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit aufdrückten (was um so schandbarer war, als keine eidesstattliche notarielle Beglaubigung angefügt und die Information deshalb nur noch bedingungsloser hingenommen wurde von jedem, der keine Beglaubigung verlangte, erbat oder erwartete und damit die gleiche gute Absicht voraussetzte, die er dadurch bewies, daß er einen Nickel oder fünfzehn Cent dafür bezahlte) und die sie für Geld 5
verkauften, obwohl sie sich bei einer Nachahmung als unbrauchbar und (für den Sträfling) als taktisch falsch erwiesen; manchmal hielt er seinen vor den Pflug gespannten Maulesel mitten in der Ackerfurche an (in Mississippi gibt es kein Zuchthausgebäude; die Sträflinge arbeiten dort auf einer Baumwollpflanzung, bewacht von den Gewehren und Schrotflinten der Wärter und Vertrauensmänner) und grübelte in wutentbrannter Ohnmacht und wühlte in dem Kehricht, der ihm von seiner einmaligen und einzigen Erfahrung mit Gericht und Gesetz verblieben war, wühlte darin, bis sich die sinnlose und geschwafelte Erkenntnis endlich herauskristallisierte (und suchte damit ausgerechnet an jener dunklen Quelle Gerechtigkeit, wo er der Gerechtigkeit begegnet und zurück- und niedergeschlagen worden war): Er hatte sich die Post auserkoren, um zu betrügen: er, der sich von dem drittklassigen Postsystem betrogen fühlte, nicht um das blöde und ordinäre Geld, auf das er gar keinen großen Wert legte, sondern um Freiheit und Ehre und Stolz. Man hatte ihn verurteilt zu fünfzehn Jahren (kurz nach seinem neunzehnten Geburtstag war er hier angekommen), verurteilt wegen versuchten Eisenbahnraubs. Er hatte alles im voraus geplant gehabt, war der gedruckten (und falschen) Autorität bis auf den Buchstaben gefolgt; zwei Jahre lang hatte er Romanhefte gesammelt, sie wieder und wieder gelesen und auswendig gelernt, Handlung und Methode mit Handlung und Methode verglichen und abgewogen, hatte von allem nur das Beste ausgewählt und alles Wertlo6
se weggeworfen, als sich ein brauchbarer Plan herausbildete, hatte Augen und Ohren offengehalten, um noch in letzter Minute in Ruhe und Geduld kleine Änderungen vornehmen zu können, wenn an den fälligen Tagen die neuesten Hefte erschienen, so wie ein gewissenhafter Schneider an einem Ballkleid für die Vorstellung bei Hofe noch kleine Änderungen vornimmt, wenn die neueste Zeitschrift erscheint. Als dann jedoch der große Tag kam, fand er nicht einmal Gelegenheit, durch die Wagen zu gehen und Uhren und Ringe, Broschen und verborgene Geldgürtel einzusammeln, denn man schnappte ihn bereits beim Eindringen in den Postwagen, in dem das Safe und das Gold sein mußten. Er hatte auf niemand geschossen, weil die Pistole, die man ihm abnahm, obzwar geladen, keine solche Pistole war; später gestand er vor dem Distriktsanwalt, er habe sie, ebenso wie die abgedunkelte Laterne mit der brennenden Kerze und das vors Gesicht gebundene schwarze Tuch, dadurch erworben, daß er bei seinen Nachbarn auf dem Kiefernhügel mit Abonnements auf den DETEKTIVANZEIGER hausiert hatte. Und so grübelte er jetzt oft (genügend Muße dazu hatte er ja) in wütender Ohnmacht, denn es gab da noch etwas, das er vor Gericht nicht hatte sagen können, einfach weil er nicht wußte, wie er es hätte sagen sollen. Es war nicht das Geld, das er gewollt hatte. Es waren nicht Reichtümer, nicht bloß die zu erbeutenden Schätze; sie wären für ihn nicht mehr als eine Spange gewesen, die er auf der Brust seines Stolzes hätte tragen können, wie der Olympialäufer seine Medaille – ein Symbol, ein Zei7
chen dafür, daß er auf seine Weise der Beste war, der Beste dieses erwählten, gewagten Spiels in der fort und fort lebenden und fließenden Welt seiner Zeit. Wenn er daher in der tief aufgerissenen, schwarzen Erde hinter dem Pflug hertrottete oder in den sprießenden Baumwoll- und Maisfeldern mit einer Hacke jätete oder nach dem Essen auf seinem mürrischen Rücken im Bettkasten lag, fluchte er in einem rauhen, unablässigen, nicht wiederzugebenden Wortschwall, nicht auf jene leibhaftigen Männer, die ihn hierhergeschickt hatten, sondern auf die Pseudonyme, von denen er nicht einmal wußte, daß es Pseudonyme waren, nicht einmal wußte, daß es keine wirklichen Menschen, sondern lediglich die Namen von Schatten waren, die über Schatten schrieben. Der zweite Sträfling war klein und dick. Die wenigen Haare, die er noch hatte, waren weiß. Er sah aus wie das, was zum Vorschein kommt, wenn man verfaulte Balken oder Planken umdreht, und auch er brannte (zwar nicht in den Augen, wie der erste Sträfling) innerlich vor heißem und ohnmächtigem Zorn. Doch man merkte es ihm nicht an, und niemand wußte davon. Aber schließlich wußte niemand viel über ihn, nicht einmal die Leute, die ihn hierhergeschickt hatten. Sein Zorn richtete sich nicht gegen gedruckte Worte, sondern gegen die paradoxe Tatsache, daß er gezwungen gewesen war, aus freier Wahl und freiem Willen hierherzukommen. Er war gezwungen gewesen, zu wählen zwischen der Zuchthausfarm des Staates Mississippi und dem Bundeszuchthaus in Atlanta, und da er, der einer nackten, bleichen Schnecke glich, 8
die freie Natur und das Sonnenlicht gewählt hatte, lieferte er damit nur einen weiteren Beweis für seinen verschlossenen, abwägenden, einzelgängerischen Charakter, einen ebenso flüchtigen Beweis, wie wenn irgend etwas Erkennbares in einem stehenden, klaren Gewässer für einen Augenblick aufsteigt und dann wieder versinkt. Keiner seiner Mitgefangenen wußte, was für ein Verbrechen er begangen hatte; sie wußten nur, daß er zu hundertneunundneunzig Jahren verurteilt worden war – eine unglaubliche und unmögliche Freiheitsstrafe, die ihnen geradezu abgefeimt und sagenhaft vorkam und die bezeugte, daß jene Männer, die Herz und Hirn von Recht und Gerechtigkeit waren und ihn hierhergeschickt hatten, in der Minute des Urteils zu blinden Aposteln nicht nur des bloßen Rechts, sondern aller menschlichen Würde geworden waren, zu blinden Instrumenten nicht nur der Gerechtigkeit; sondern aller menschlichen Wut und Rachsucht, indem sie – Richter, Anwalt und Geschworene – in einem empörten, privaten Einverständnis handelten und dadurch bestimmt das Recht und wahrscheinlich auch das Gesetz übergingen. Vielleicht wußten überhaupt nur die Bundes- und die Staatsanwälte, um was für ein Verbrechen es sich eigentlich handelte. Jedenfalls hatte es mit einer Frau zu tun und einem gestohlenen Wagen, der über eine Grenze geschafft worden war, weiterhin mit einer ausgeraubten Tankstelle und einem erschossenen Tankstellenwart. Zur selben Zeit war noch ein zweiter Mann im Wagen gewesen, und jeder, der den Häftling auch nur für eine Sekunde angesehen hätte (so wie die beiden Anwälte), 9
würde sofort gewußt haben, daß er nicht einmal im Alkoholrausch den Mut aufbrächte, eine Waffe gegen jemand zu richten. Aber er und die Frau und der gestohlene Wagen waren gefaßt worden, wohingegen der zweite Mann, zweifellos der wahre Mörder, entkommen konnte, und als er, gehetzt und verwirrt und jappend, schließlich im Amtszimmer des Staatsanwaltes in die Zange genommen wurde – vor sich zwei abstoßende, unerbittliche und bösartige, grinsende Anwälte und hinter sich die jetzt randalierende Frau, im Vorraum festgehalten von zwei Polizisten –, stellte man ihn vor die Wahl. Man konnte ihn nach dem Mann-Gesetz und wegen des Autos vor das Bundesgericht bringen, das heißt also, wenn er durch den Vorraum zu gehen bereit war, in dem die Frau randalierte, hatte er die Möglichkeit, sich wegen des geringeren Verbrechens vor das Bundesgericht bringen zu lassen, wenn er jedoch die Verurteilung wegen Totschlags vor dem Strafgericht auf sich nehmen wollte, durfte er das Zimmer durch eine Hintertür verlassen, ohne noch einmal an der Frau vorbei zu müssen. Er hatte gewählt; und dann stand er vor der Schranke und hörte, wie ein Richter (der auf ihn herabblickte, als hätte der Distriktsanwalt wahrhaftig mit der Schuhspitze eine verfaulte Planke umgedreht und dabei ihn zum Vorschein gebracht) ihn zu hundertneunundneunzig Jahren, zu verbüßen in der Staatlichen Farm, verurteilte. Und so (auch er hatte Muße genug; vergeblich hatten sie versucht, ihm das Pflügen beizubringen, hatten ihn darauf in der Schmiede untergebracht, wo der Vertrauensmann selbst darum bat, ihn 10
dort wieder wegzunehmen: und so stand er jetzt in einer langen Schürze gleich einer Frau in den Barakken der stellvertretenden Direktoren und kochte und fegte und staubte ab) grübelte auch er manchmal voller Ohnmacht und Zorn, wenn man es ihm, im Gegensatz zu dem ersten Sträfling, auch nicht ansah, weil er sich dabei nicht an einen stützenden Besen lehnte und somit niemand seine Empfindungen ahnen konnte. Es war der zweite Sträfling, der Ende April damit anfing, den andern die Tageszeitungen vorzulesen, nachdem sie, an den Fußgelenken aneinandergefesselt, von den bewaffneten Wärtern in den Feldern gesammelt und heimwärtsgetrieben worden waren, gegessen hatten und nun in ihrer Schlafbaracke zusammenhockten. Es war eine Zeitung aus Memphis, welche die stellvertretenden Direktoren beim Frühstück einander weitergereicht hatten; der Sträfling las daraus seinen Mitgefangenen vor, die von sich aus nur wenig Teilnahme für die Außenwelt aufbrachten und von denen viele sowieso nicht hätten lesen können und auch kaum wußten, wo die Stromgebiete des Ohio und des Missouri lagen, denn manch einer von ihnen hatte den Mississippi noch nie gesehen, obwohl sie bisher über Zeiträume von Tagen bis zu zehn und zwanzig und dreißig Jahren (und künftig von ein paar Monaten bis lebenslänglich) im Schatten seines Deiches gepflügt und gepflanzt und gegessen und geschlafen hatten; manch einer wußte überhaupt nur vom Hörensagen, daß dahinter Wasser floß, oder wußte es, weil hin und wieder aus der Ferne das 11
Schrillen der Dampfer gellte und in der vergangenen Woche achtzehn Meter über ihren Köpfen Schornsteine und Ruderhäuser zu sehen gewesen waren, die sich am Himmel entlang bewegten. Aber sie hörten zu, und bald begriffen sogar jene, die, wie der große Sträfling, vielleicht noch nie ein anderes Wasser gesehen hatten als eine Pferdeschwemme, was neun Meter Pegelstand in Cairo und Memphis bedeuteten, und vermochten sich nun (was sie auch taten) fachmännisch über das Abdichten mit Sandsäcken zu unterhalten. Wahrscheinlich beschäftigten sie dabei am stärksten die Berichte über die zwangsverpflichteten Deichmannschaften, die sich aus Schwarzen und Weißen zusammensetzten und die in Schichten gegen das stetig steigende Wasser ankämpften, Geschichten von Männern – mochten sie auch Neger sein –, die wie sie zu einer Arbeit gezwungen wurden und keinen anderen Lohn dafür empfingen als schlechtes Essen und im Zelt einen Schlafplatz auf der bloßen Erde – Geschichten, Bilder, die durch die lesende Stimme des kleinen Sträflings vor ihren Augen entstanden: die dreckbespritzten Weißen mit den unvermeidlichen Schrotflinten, die Reihe von Sandsäcke schleppenden Negern, die an dem steilen Hang des Deiches ameisengleich hinaufrutschten und krochen, um ihre wirkungslose Munition in die Flut zu schleudern und dann umzukehren und neue zu holen. Aber vielleicht war es auch nicht nur dies. Vielleicht verfolgten sie das Nahen des Unheils mit der gleichen erstaunten und ungläubigen Hoffnung jener Sklaven – der Löwen und Bären und Elefanten, der Stall12
knechte und Bademeister und Pastetenbäcker –, die in den Gärten des Aenobarbus die aus Rom aufzüngelnden Flammen verfolgten. Doch sie hörten zu, und dann war es Mai, und die Zeitung der stellvertretenden Direktoren brachte fünf Zentimeter hohe Schlagzeilen – diese schwarzen Stakkatopeitschenhiebe aus Druckerschwärze, von denen man eigentlich denken sollte, daß auch die Analphabeten sie lesen könnten: Überschwemmungsflut erreicht um Mitternacht Memphis 4 000 Obdachlose im Stromgebiet des White River Gouverneur ruft Nationalgarde auf Folgende Distrikte zu Notstandsgebieten erklärt Zug des Roten Kreuzes verläßt heute abend mit Präsident Hoover Washington; drei Abende später (es hatte den ganzen Tag geregnet – nicht mit überraschenden, kurzen Wolkenbrüchen, wie sie im April und Mai niedergehen, sondern mit den langsamen, grauen, endlosen Fäden des November und Dezember, die stets den kalten Nordwind ankündigen. Die Männer hatten den ganzen Tag nicht auf die Felder hinausgekonnt, und der aus zweiter Hand erhaltene Optimismus jener vierundzwanzig Stunden alten Nachrichten widerlegte in gewisser Weise sich selbst): Überschwemmungsflut wandert von Memphis nach Süden ab 22 000 Flüchtlinge aus der Gefahrenzone nach Vicksburg gebracht Armeepioniere erklären die Dämme für unbedingt sicher. »Das heißt also, daß sie heute nacht noch brechen«, meinte einer der Sträflinge. »Vielleicht hält der Regen an, bis das Wasser hierherkommt«, sagte ein zweiter. Sie waren sich alle mit ihm einig, denn der bohrende, unausgesprochene Ge13
danke, den sie hegten, war nichts anderes als: wenn sich das Wetter aufklärte, müßten sie in jedem Fall auf die Felder hinaus und plangemäß arbeiten, mochten auch die Dämme brechen und die Wassermassen die Farm überschwemmen. Dieser instinktive Gedanke war gar nicht so widersinnig, wenn sie auch den Grund dafür nicht hätten angeben können: das Land, das sie bebauten, und die Produkte, die sie ernteten, gehörten weder ihnen, die dort arbeiteten, noch denen, die sie mit vorgehaltener Waffe dazu zwangen, und darum hätten es für beide Teile, Sträflinge und Wärter, Kieselsteine sein können, die sie in den Boden steckten, und Baumwoll- und Maissprößlinge aus Papiermaché, die sie jäteten. Darum schliefen sie nach der jähen, wilden Hoffnung und dem müßigen Tag und den abendlichen Schlagzeilen unruhig unter dem Trommeln des Regens auf dem Blechdach, als plötzlich um Mitternacht das elektrische Licht aufgrellte und sie die Stimmen der Wärter und das Grummeln wartender Lastwagen hörten. »Alles aufstehn!« schrie der stellvertretende Direktor. Er war vollständig angezogen – Gummistiefel, Regenmantel und Schrotflinte. »Vor einer Stunde ist der Damm bei Mounds Landing gebrochen. Los, los!«
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Zweites Kapitel
Als die verspätete, regenströmende Morgendämmerung anbrach, befanden sich die zwei Sträflinge, zusammen mit zwanzig andern, in einem Lastwagen. Ein Vertrauensmann fuhr, und zwei bewaffnete Wärter saßen mit ihm im Führerhaus. In dem hohen, stallähnlichen, dachlosen Laderaum standen die Sträflinge zusammengedrängt wie Streichhölzer in einer aufrechtstehenden Schachtel oder wie bleistiftförmige Reihen rauchschwachen Schießpulvers in einem Geschoß, an den Knöcheln gefesselt durch eine einzige Kette, die zwischen den regungslosen Füßen und schwankenden Beinen und einem Haufen von Pickeln und Schaufeln schlingerte und an beiden Enden am Stahlrahmen des Lastwagens befestigt war. Dann sahen sie unversehens die Überschwemmung, von der ihnen der dicke Sträfling vorgelesen hatte und über die sie ihm seit über zwei Wochen zugehört hatten. Die Straße verlief in südlicher Richtung. Sie war auf einem Damm erbaut, den man hierzulande den Deich nannte, etwa zweieinhalb Meter über dem flachen Land, und auf beiden Seiten eingerahmt von den ausgekarrten Gräben, die durch das Ausheben der Erde für den Damm entstanden waren. Diese Gräben hatten den Winter über alles Regenwasser aufgefangen, ganz zu schweigen von dem gestrigen Regen, 15
nun aber sahen sie, daß der Graben zu beiden Seiten der Straße verschwunden war und sich statt dessen nur noch ein glattes, bleiernes, braunes Tuch ausbreitete, das sogar auf den Feldern jenseits der Gräben lag und in den Pflugfurchen zu langen, starren Fäden ausfranste und in dem grauen Licht dumpf glänzte wie die Stäbe eines riesigen Rostes. Und dann (der Lastwagen fuhr recht schnell), während sie schweigend schauten (sie hatten nie viel geredet, aber jetzt waren sie völlig stumm und sehr ernst und drehten sich und reckten wie ein Mann die Köpfe, um gespannt zur Westseite der Straße hinüberzublicken), verschwanden auch die Kämme der Furchen, und sie sahen nur noch ein einziges, glattgezogenes und lebloses, stahlfarbenes Tuch, in dem die Telegrafenmasten und die schnurgeraden Hecken, die als Abgrenzungen dienten, so steif und fest standen, als wären sie einbetoniert. Wahrhaftig, völlig leblos, völlig glatt. Die Wasserfläche sah zwar nicht unschuldig, aber doch sanft aus. Sie sah geradezu scheu aus. Sie sah aus, als könnte man auf ihr gehen. Sie sah so still aus, daß die Männer einfach kein Leben in ihr für möglich hielten, bis sie dann zur ersten Brücke kamen. Die Brücke führte über einen Graben, einen kleinen Bach, aber Graben und Bach waren jetzt nicht mehr zu entdecken, nur noch Zypressenalleen und Brombeersträucher markierten ihren Lauf. Hier sahen und hörten sie das Leben des Wassers – die langsame Gegenströmung flußauf gen Osten (»Sie läuft zurück«, sagte einer der Sträflinge gelassen) der stummen, starren Oberfläche 16
und das ferne Unterwassergemurmel aus der Tiefe, das (wenn auch keiner in dem Lastwagen auf diesen Vergleich gekommen wäre) an eine mit beängstigender und geheimnisvoller Geschwindigkeit entfernt unter der Straße durchfahrende Untergrundbahn erinnerte. Es war, als besäße das Wasser drei geologische Schichten, genau abgegrenzt und unterschieden: die sanfte und unbewegte Oberfläche, auf der Schaum und Miniaturtreibgut von Zweigen und Durchgeschleustem schwammen und das den Eindruck erweckte, mit boshafter Absicht das Rauschen und Rasen der Flut verkörpern zu wollen, und darunter der wahre Strom, ränkevoll röhrend in entgegengesetzter Richtung, unbehelligt und unbemerkt seinem ausgeklügelten, einem Liliputziel dienenden Kurs folgend, gleich einer Kette von Ameisen, die zwischen den Schienen eines Schnellzuges dahinziehen und die (die Ameisen) ebensowenig merken von der Kraft und dem Rasen über ihnen wie ein den Saturn passierender Wirbelsturm. Jetzt lagen zu beiden Seiten der Straße Wasser, als hätte das Wasser jetzt, da sie sein Leben wahrgenommen hatten, jede Täuschung und Heimlichtuerei aufgegeben, und sie vermeinten, es die Flanken des Dammes erklimmen zu sehen; die Bäume, die noch vor ein paar Meilen auf hohen Stämmen übers Wasser geragt hatten, barsten nun aus dem Wasserspiegel gleich Ziersträuchern auf geschorenem Rasen. Der Lastwagen fuhr an einer Negerhütte vorbei. Das Wasser reichte bis zu den Fenstersimsen. Eine Frau, die zwei Kinder umklammerte, kauerte auf dem Dachfirst, ein 17
Mann und ein Halbwüchsiger standen bis zu den Hüften im Wasser und versuchten, ein quiekendes Schwein mit Flaschenzug auf ein schräges Scheunendach zu befördern, auf dem bereits ein paar Hühner und ein Truthahn hockten. Neben der Scheune ein Heuschober, auf dem eine brüllende Kuh an der Mittelstange angepflockt war; ein gellender Negerjunge auf einem ungesattelten Maulesel, auf den er unablässig einschlug, die Beine an den Leib des Tieres gepreßt, den Körper gegen das gespannte Seil gelehnt, das einen zweiten Maulesel mitzerrte, ritt spritzend und platschend auf den Heuschober zu. Die Frau auf dem Hausdach schrie dem vorbeifahrenden Lastwagen etwas nach, und ihre Stimme hallte schwach und klangvoll über das braune Wasser, wurde schwächer und schwächer, während der Lastwagen weiterfuhr, und verstummte schließlich, ob wegen der Entfernung oder weil sie zu schreien aufgehört hatte, wußten die Männer im Lastwagen nicht. Dann verschwand die Straße. Sie hatte kein wahrnehmbares Gefälle, sie glitt einfach, ohne langsam oder hart abzufallen, hinein in das braune Wasserlaken, so wie eine scharfe, dünne, von feinfühliger Hand geführte Klinge unmerklich ins Fleisch gleitet, kühlte sich ohne Aufhebens hinein ins Wasser, als hätte sie es seit Jahren nicht anders gekannt, als hätte man sie so gebaut. Der Lastwagen hielt. Der Vertrauensmann stieg aus und kam zu ihnen nach hinten und zog zwei Schaufeln zwischen ihren Füßen heraus, und das Metall dengelte die Schlangenwindungen der ihre Knöchel umschließenden Kette. »Was ist los?« sagte 18
einer. »Was willst du denn da machen?« Der Vertrauensmann gab keine Antwort. Er kehrte zum Fahrerhaus zurück, aus dem einer der Wärter, ohne sein Gewehr mitzunehmen, geklettert war. Er und der Vertrauensmann schritten in ihren hüfthohen Gummistiefeln und jeder mit einer Schaufel bewaffnet vorsichtig ins Wasser, wobei sie mit den Schaufelstielen nach Grund tasteten. Wieder sprach derselbe Häftling. Es war ein Mann mittleren Alters mit einem wirren Schopf eisengrauen Haares und einem leicht irren Gesicht. »Was zum Teufel machen die?« sagte er. Wieder gab ihm niemand Antwort. Der Lastwagen fuhr weiter und schob dabei eine feiste, träge, zähe Welle schokoladebraunen Wassers vor sich her. Da fing der grauhaarige Sträfling an zu brüllen. »Gott verdammt noch mal, macht die Kette los!« Er tobte, schlug um sich, stieß die neben ihm Stehenden zurück und kämpfte sich vor bis zum Fahrerhaus, trommelte mit den Fäusten auf das Dach und brüllte. »Gott verdammt noch mal, macht die Kette ab! Die Kette ab! Ihr Dreckskerle!« brüllte er drauflos. »Die lassen uns ersaufen! Macht die Kette ab!« Aber nach der Antwort zu schließen, die er bekam, hätten die Männer innerhalb der Reichweite seiner Stimme genauso gut tot sein können. Der Lastwagen kroch weiter, der Wärter und der Vertrauensmann tasteten mit den umgedrehten Schaufeln die Straße vor sich ab, ein zweiter Wärter saß am Steuer, und die zweiundzwanzig Sträflinge standen zusammengepreßt wie Sardinen im Laderaum, gefesselt die Knöchel an den Lastwagen. Noch einmal fuhren sie über eine Brücke – 19
zwei gebrechliche und widersinnige eiserne Geländer schrägten aus dem Wasser und verliefen dann für eine Weile parallel und schrägten auf geradezu bösartige Weise wieder hinein, so gewichtig und doch offensichtlich sinnlos wie in einem Traum, der in einen Alp überzugehen droht. Der Lastwagen kroch weiter. Gegen Mittag kamen sie in eine Stadt, an ihren Bestimmungsort. Die Straßen waren gepflastet; die Räder des Lastwagens zischten jetzt wie reißende Seide. Der inzwischen schneller fahrende Wagen, in den der Wärter und der Vertrauensmann wieder eingestiegen waren, hatte nun obendrein einen Knochen zwischen den Zähnen, die Bugwelle, die sich über die überschwemmten Bürgersteige und die angrenzenden Rasenstücke ergoß und an den Fundamenten und Veranden der Häuser hochzüngelte, wo Menschen inmitten ihres Hausrats standen. Sie fuhren durch das Geschäftsviertel; ein Mann in hüftlangen Gummistiefeln tauchte, bis zu den Knien im Wasser, aus einem Laden auf und zog ein flaches kleines Boot hinter sich her, in dem ein Stahltresor lag. Schließlich erreichten sie die Bahnlinie. Diese schnitt die Straße im rechten Winkel und teilte die Stadt in zwei Hälften. Auch sie verlief auf einem Erdwall, einem Damm, etwa zweieinhalb bis drei Meter höher als die Stadt; die Straße führte genau darauf zu und bog dann im rechten Winkel ab zu einer Baumwollpresse und einer auf Pfählen errichteten Laderampe in Höhe einer Güterwagentür. Auf der Laderampe standen ein khakifarbenes Armeezelt und davor eine uni20
formierte Wache von der Nationalgarde, mit Gewehr und Wehrgehänge. Der Lastwagen drehte bei und kroch heraus aus dem Wasser und die für Baumwollwagen bestimmte Rampe hinauf, an der jetzt mit Hausrat beladene Lastautos und Personenwagen vorfuhren. Die Männer wurden von der Kette befreit und paarweise Knöchel an Knöchel gefesselt, und dann stiegen sie die Rampe hinauf in ein unglaubliches Gewirr von Betten und Koffern, Gasherden und elektrischen Öfen, Radiogeräten und Tischen und Stühlen und gerahmten Bildern, die ein paar Neger unter der Aufsicht eines unrasierten Weißen, in schmutzigem Cord und hüfthohen Stiefeln, Stück um Stück in die Baumwollpresse trugen, vor deren Tür wieder eine Wache mit Gewehr stand, aber sie (die Sträflinge) blieben hier nicht stehen, sondern wurden von den zwei bewaffneten Wärtern weiter getrieben, hinein in das düstere, höhlenartige Gebäude, wo unter den aufgestapelten Möbeln aller Art Baumwollballen und Spiegel von Ankleidetischen und Büffets stumm und nichts reflektierend das trübe Licht in sich vereinten. Sie gingen weiter, hinaus auf die Laderampe, wo das Armeezelt und die andere Wache standen. Dort warteten sie. Niemand sagte ihnen wozu oder warum. Während sich die beiden Wärter vor dem Zelt mit der Wache unterhielten, saßen die Sträflinge am Rand der Plattform aufgereiht wie Bussarde auf einem Zaun, und ihre gefesselten Füße baumelten über der leblosen braunen Flut, aus der sich der Bahndamm erhob, beständig und heil, gleich einer widersinnigen Ver21
leugnung und Verwerfung des Wechsels und des Außerordentlichen, saßen da ohne zu reden, blickten nur stumm über die Geleise, hinter denen die andere Hälfte der amputierten Stadt zu schwimmen schien: Häuser und Sträucher und Bäume, wohlgeordnet und kulissenartig und tot auf der grenzenlosen Wasserwüste unter dem schweren, grauen Himmel. Nach einiger Zeit kamen die übrigen vier Lastwagen von der Farm. Sie fuhren dicht hintereinander, Scheinwerfer auf Schlußlicht, zischten auf viererlei Weise wie reißende Seide und verschwanden hinter der Presse. Gleich darauf hörten die Sträflinge auf der Rampe die Schritte, das gedämpfte Klirren der Fesseln, und die erste Wagenladung ergoß sich aus der Tür der Presse, dann die zweite, die dritte; sie waren jetzt mehr als hundert Männer in Drell-Overalls und Jacken und dazu fünfzehn oder zwanzig Wärter mit Gewehren und Schrotflinten. Die ersten standen auf und vermischten sich paarweise mit den anderen, zu Zwillingen verdammt durch ihre klingenden und klirrenden Nabelschnüre; da setzte der Regen ein, träges, unablässiges, graues Geriesel wie im November, nicht wie im Mai. Doch nicht einer von ihnen ging auf die offene Tür der Presse zu. Sie blickten nicht einmal hinüber, weder mit noch ohne Verlangen oder Hoffnung. Wenn sie überhaupt etwas dachten, dann nur, daß der verfügbare Raum für Möbel gebraucht wurde, mochte er augenblicklich auch nicht ausgefüllt sein. Vielleicht wußten sie überdies, daß der Raum, selbst wenn er noch unbelegt wäre, nicht für sie bestimmt war; nicht weil die Wärter sie absichtlich 22
naß werden lassen wollten, sondern weil die Wärter nicht auf die Idee kamen, sie aus dem Regen zu holen. So verstummten sie lediglich und standen herum, die Kragen ihrer Jacken hochgeschlagen und in eiserne Bänder gelegt wie bei einem Wettbewerb vorgeführte Hunde, unbeweglich, geduldig, versonnen, die Rükken gegen den Wind gestellt gleich Schafen oder Kühen. Nach einer Weile merkten sie, daß die Zahl der Soldaten um etwa ein Dutzend angewachsen war, die warm und trocken unter ihren Gummiponchos warteten; bei ihnen befand sich ein Offizier mit umgeschnallter Pistole, und dann rochen sie, ohne sich umzudrehen, dampfendes Essen, und als sie sich schließlich umdrehten, sahen sie eine Feldküche, die soeben neben der Tür der Presse aufgestellt wurde. Aber sie rührten sich nicht, geduldeten sich, bis man sie in eine Reihe drängte, und nun rückten sie vorwärts, mit ergeben gesenkten Köpfen im Regen, und nahmen jeder eine Schüssel mit Schmorfleisch, einen Becher Kaffee und zwei Scheiben Brot in Empfang. Sie aßen im rieselnden Regen. Da die Rampe naß war, setzten sie sich nicht, sondern hockten sich nur wie Landarbeiter auf die Absätze, weit vorgebeugt, um Schüssel und Becher zu schützen, und dennoch spritzte der Regen darin wie in Pfützen und weichte das Brot auf, unsichtbar und lautlos. Als sie drei Stunden auf der Rampe gestanden hatten, kam ihr Zug. Die vorne Stehenden sahen ihn, beobachteten ihn – ein Personenzug, der offenbar mit eigener Kraft lief und aus einem nicht erkennbaren Schornstein eine Rauchwolke ausstieß, eine Wolke, 23
die sich nicht erhob, sondern langsam und schwerfällig seitwärts schob und sich dann schwerelos und bar jeder Kraft auf die wasserbedeckte Erde senkte. Er kam heran und hielt; ein einzelner, altmodischer hölzerner Wagen, gekuppelt an die Schnauze einer beträchtlich kleineren, ihn vorwärtsschiebenden Rangierlokomotive. Sie wurden hineingetrieben und drängten sich zum andern Ende, wo sich ein kleiner eiserner Ofen befand. Es brannte kein Feuer darin, aber sie scharten sich dennoch um ihn – um diesen kalten und stimmlosen Eisenbrocken, der verdreckt war von verblaßtem Tabaksaft und umgeistert von den Gespenstern ungezählter Sonntagsausflüge nach Memphis oder Moorhead und zurück: den Erdnüssen, Bananen und verschmierten Kinderkleidern –, drängelten und suchten möglichst in seine Nähe zu kommen. »Weiter, weiter«, rief einer der Wärter. »Hinsetzen, los, los!« Schließlich legten die drei Wärter die Gewehre weg und kamen herbei und zerstreuten den Haufen und trieben sie zu den Sitzen. Die Sitzplätze reichten nicht für alle. Die andern standen im Gang, standen gefesselt und hörten die Luft aus den Bremsen entweichen, dann pfiff die Lokomotive viermal, ruckte an und setzte sich in Bewegung; Rampe und Presse sausten vorbei – der Zug hatte aus dem Stand heraus volle Fahrt aufgenommen, ebenso unwirklich, wie er aufgetaucht war, und nun hastete er wieder zurück, wenn sich auch die Maschine jetzt vorne befand, während sie sich vorhin, als er vorwärts fuhr, hinten befunden hatte. Als nun auch die Schienen ins Wasser tauchten, merk24
ten es die Sträflinge nicht einmal. Sie fühlten nur, daß der Zug hielt, hörten die Lokomotive einen langen Pfiff ausstoßen, der in der Wüstenei ohne Echo blieb, einen verstörten und verlorenen Schrei, aber sie waren nicht einmal neugierig; sie saßen oder standen hinter den regenüberströmten Fenstern, als der Zug endlich weiterkroch und seinen Weg ertastete, wie schon der Lastwagen, und das Wasser zwischen dem Wagengestell und den sich drehenden Radspeichen sprudelte und, von Dampfwolken umhüllt, gegen den ziehenden, feuergefüllten Bauch der Lokomotive klatschte; wieder stieß sie vier kurze, heisere Pfiffe aus, die nach wildem Triumph und Rachsucht klangen, aber auch nach Verleugnung und Abschied, als wüßte selbst der genietete Stahl, daß er weder anzuhalten wagte noch fähig wäre, umzukehren. Zwei Stunden später erkannten sie durch die überströmten Fenster im Zwielicht eine brennende Farm. Gestellt ins Nichts und vom Nichts benachbart stand sie da, eine helle, steile Scheiterhaufenflamme, die steif ihr Spiegelbild floh und im Dämmer über der wäßrigen Ödnis höhnend und widersinnig und bizarr loderte. Irgendwann nach Einbruch der Nacht hielt der Zug. Die Sträflinge wußten nicht, wo sie sich befanden. Sie fragten auch nicht. Sie wären ebensowenig darauf gekommen zu fragen, wo sie seien, wie sie gefragt hätten, warum und wozu. Sie konnten nicht einmal etwas sehen, denn der Wagen war nicht beleuchtet und die Fenster beschlagen, da von außen der Regen gegen die Scheiben drängte und von innen die Wärme, die den aneinandergepreßten Körpern ent25
strömte. Alles, was sie ausmachen konnten, war ein milchiges und ursprungsloses Flackern und die Lichtkegel von Taschenlampen. Sie hörten Rufe und Befehle, und dann riefen auch die Wärter im Wagen; sie wurden aufgestört und zum Ausgang getrieben, und ihre Fußfesseln klangen und klirrten. Sie sprangen hinaus in das zornige Zischen des Dampfes, der in Schleierfetzen am Wagen vorbeizog. Längsseits des Zuges und selbst einem Zug gleichend dümpelte eine breitbauchige, schwerfällige Motorbarkasse mit Kähnen und flachen Booten im Schlepp. Auch hier standen Soldaten; die Taschenlampen spielten um Gewehrläufe und Wehrgehänge und flimmerten und glitzerten auf den Fußketten der Sträflinge, als sie zögernd in das knietiefe Wasser traten und in die Boote kletterten; nun verschwanden Wagen und Lokomotive völlig im Dampf, während der Heizer das Feuer löschte. Nach einer weiteren Stunde sahen sie voraus Lichter – eine schwache, zitternde Schnur roter Nadelstiche, die sich am Horizont entlangzog und tief unten am Himmel zu hängen schien. Aber es dauerte fast noch einmal eine Stunde, bis sie die Lichter erreichten, und die Sträflinge kauerten mit eingezogenen Schultern in den nassen Kleidern (sie empfanden den Regen längst nicht mehr als einzelne Tropfen) in den Booten und richteten den Blick auf die Lichter, die näher und näher kamen, bis sich schließlich die Krone des Deiches abhob; bald unterschieden sie darauf eine Zeltreihe und dunkle Gestalten, die um Feuer hockten, Feuer, deren wabernde Spiegelbilder übers Wasser 26
züngelten und viele andere Boote erhellten, die an der Böschung des sich hoch und dunkel vor ihnen erhebenden Deiches vertäut waren. Taschenlampen blitzten auf und winkten entlang der Binnenberme und zwischen den festgemachten Booten; die Barkasse legte mit abgestelltem Motor an. Als sie die Deichkrone erreicht hatten, sahen sie die lange Reihe der Khakizelte, unterbrochen von Feuern, um die herum viele Menschen – Männer, Frauen und Kinder, Neger und Weiße – teils hockten, teils standen zwischen formlosen Kleiderballen, die Köpfe ihnen zugewandt und glänzend die Augäpfel im Flammenschein, als sie stumm die gestreiften Anzüge und die Fesseln musterten; ein Stück weiter drängten sich, wenn auch nicht angepflockt, eine Mauleselherde und ein paar Kühe aneinander. Da hörte der größere Sträfling ein großmächtiges Geräusch. Er hörte es nicht in einem bestimmten Augenblick, er merkte nur auf einmal, daß er es schon die ganze Zeit gehört haben mußte, ein Geräusch, das jenseits all seiner Erfahrung und Aufnahmefähigkeit lag und für das er bis zur Stunde ebenso taub gewesen war wie die auf einer Lawine reitenden Ameisen oder Flöhe für deren Tosen; nun war er schon seit dem frühen Nachmittag durchs Wasser gefahren und hatte bereits sieben Jahre Pflug und Egge und Pflanzmaschine im Schatten eben jenes Deiches geführt, auf dem er jetzt stand, aber dieses abgründige, dunkle Raunen, das von der andern Seite herüberdrang, konnte er nicht sogleich deuten. Er blieb stehen. Die Schlange der ihm folgenden Sträflinge stieß ruckartig gegen ihn wie ein anhal27
tender Güterzug, und ihre Fesseln klirrten wie dessen Wagen. »Weiter!« rief ein Wärter. »Was is’n das?« sagte der Sträfling. Ein Neger, der an einem nahen Feuer saß, antwortete ihm: »Das is’ er. Is’ Ole Man.« »Old Man?« sagte der Sträfling. »Weiter! Weiter da vorn!« schrie der Wärter. Sie gingen weiter; erneut begegneten sie einer Mauleselherde, und auch diese verfolgte sie mit den Blicken, und die Augäpfel in den langen, mürrischen Tiergesichtern drehten sich glänzend im Feuerschein; die Sträflinge gingen an ihnen vorbei bis zu einigen leeren Zelten: leichte, läppische Zweierzelte, wie man sie für Felddienstübungen verwendet. Die Wärter schoben die Sträflinge hinein, je Zelt drei gefesselte Paare. Sie krochen auf allen vieren hinein wie Hunde in enge Hundehütten und versuchten, sich einzurichten. Sofort erwärmten ihre Körper das Zelt. Schließlich verstummten sie, und nun hörten es alle und lagen und horchten auf das tiefe, starke und mächtige Baßraunen. »Old Man?« sagte der Zugräuber-Sträfling. »Ja«, sagte ein anderer. »Der hat’s nicht nötig, sich aufzuspielen.« Gegen Morgen weckten die Wärter sie, indem sie mit den Stiefeln gegen die aus den Zelten vorlugenden Füße stießen. In Höhe des morastigen Anlegeplatzes und des Gewirrs von Booten war eine Feldküche aufgestellt worden, und sie rochen bereits den Kaffee. 28
Der größere Sträfling war, obwohl er gestern nur eine Mahlzeit bekommen hatte und auch die schon mittags und im strömenden Regen, der einzige, der sich nicht sofort um sein Essen bemühte. Er sah jetzt zum erstenmal den Strom, in dessen Schatten er die letzten sieben Jahre seines Lebens verbracht und den er doch nie zuvor gesehen hatte; still und verwundert grübelte er und betrachtete die starre, stahlfarbene, wellenlose und doch wallende Oberfläche. Von dem Deich aus, auf dem er stand, dehnte sich weiter, als sein Auge reichte, eine träge, trübe, schwere, schokoladenschaumige Fläche, die in mindestens einer Meile Entfernung von einer dünnen Linie unterbrochen war, zart wie ein einzelnes Haar und nach kurzem Nachdenken von ihm erkannt. Das is’n anderer Deich, dachte er. So also sehn wir für die dort drüben aus. So sieht das hier von dort drüben aus. Da bekam er einen Stoß in den Rükken; und hinter sich hörte er die Stimme eines Wärters: »Vorwärts! Vorwärts! Hast noch genug Zeit, dir das anzusehn!« Wie gestern erhielten sie wieder Schmorfleisch und Kaffee und Brot; und wie tags zuvor hockten sie mit ihren Schüsseln und Bechern auf den Fersen, obwohl es nicht regnete. Im Laufe der Nacht war eine guterhaltene hölzerne Scheune angeschwemmt worden. Jetzt hing sie, von der Strömung zerstört, am Deich, und ein Haufen Neger fiel über sie her und riß die Bretter und Balken los und trug sie die Böschung herauf; während er gleichmäßig und gemächlich kaute, beobachtete der größere Sträfling, wie die 29
Scheune im Nu bis zum Wasserspiegel abgebaut wurde – so wie sich eine tote Fliege unter einem rastlosen, geschäftigen Schwärm Ameisen in nichts auflöst. Sie hatten gegessen. Wie auf ein verabredetes Signal fing es erneut zu regnen an, und sie standen oder saßen herum in ihren klammen Kleidern, die in der Nacht nicht hatten trocknen können, wenn sie auch wenigstens etwas wärmer als die Luft geworden waren. Endlich wurden sie aufgescheucht und in zwei Gruppen eingeteilt, von denen die eine bei einem nahen Stapel mit erdverkrusteten Pickeln und Schaufeln ausgerüstet wurde und auf dem Deich davonmarschierte. Kurz darauf kam die Motorbarkasse mit ihrem Schwanz von Booten, kam gefahren über das, was vier Meter unter ihrem Kiel wahrscheinlich ein Baumwollfeld gewesen war; die Boote hochbeladen bis zu den Dollborden mit Negern und einzelnen Weißen, und ein jeder hegte behutsam ein Bündel in seinem Schoß. Als der Motor abgestellt wurde, hörte man übers Wasser sanfte Gitarrenschläge. Die Boote legten an und wurden ausgeladen; die Sträflinge sahen, wie sich die Männer, Frauen und Kinder die glitschige Böschung herauf kämpften mit ihren schweren Rupfensäcken und in Decken geschlagenen Bündeln. Noch immer war die Gitarre nicht verstummt, und nun sahen die Sträflinge ihn auch: einen jungen, schwarzen, schmalhüftigen Mann, der die Gitarre an einem groben Baumwollstrick um den Hals hängen hatte. Und noch immer schlug er die Gitarre, als er den Deich heraufstieg. Nichts sonst 30
trug er bei sich, keinen Proviant, keine Kleider, nicht einmal einen Mantel. Der größere Sträfling war dem Schauen so hingegeben, daß er den Wärter erst hörte, als dieser neben ihm stand und ihn beim Namen rief. »Schlaf nich!« schrie der Wärter. »Könnt ihr mit nem Boot umgehn?« »Wo?« sagte der größere Sträfling. »Im Wasser natürlich«, sagte der Wärter. »Wo zum Teufel denn sonst?« »Ich denk nich daran, mit irgend ’nem Boot irgendwo da rüber zu rudern«, sagte der große Sträfling und deutete mit dem Kopf auf den unsichtbaren Strom jenseits des Deiches. »Nein, auf dieser Seite hier«, sagte der Wärter. Er bückte sich rasch und schloß die Kette auf, die den großen Sträfling an den dicken Kahlköpfigen gekoppelt hatte. »Nur ’n kleines Stück weiter unten an der Straße.« Er richtete sich auf. Die beiden Sträflinge folgten ihm zu den Booten. »Du ruderst einfach den Telegrafenmasten entlang, bis du an ’ne Tankstelle kommst. Kannst sie am Dach erkennen, das noch übers Wasser ragt. Dann weiter auf ’nen Bayou, den erkennst du an den überstehenden Baumkronen. Immer den Bayou weiter, bis zu der Zypresse, wo ’ne Frau auf einem Aststumpf sitzt. Die holst du runter und biegst nach Westen ab, bis du zu ’nem Baumwollschuppen kommst. Dort sitzt ’n Mann auf dem Dach – « Er wandte sich um und blickte die beiden Sträflinge an, die sich überhaupt nicht rührten und erst das Boot und dann das Wasser aufmerksam und abwägend betrachteten. »Was ist? Worauf wartet ihr noch?« 31
»Ich kann nicht rudern«, sagte der dicke Sträfling. »Dann wird’s höchste Zeit, daß du’s lernst«, sagte der Wärter. »Einsteigen.« Der größere Sträfling schob den andern vor. »Steig ein«, sagte er. »Das Wasser wird dir schon nichts tun. Verlangt kein Mensch nich, daß du ’n Bad nimmst.« Als sie sich vom Deich abstießen, der Dicke im Bug und der andere im Heck, sahen sie, wie weitere Paare entfesselt und in die Boote geschickt wurden. »Möcht mal wissen, ob noch mehr von den Brüdern zum erstenmal im Leben so viel Wasser sehn«, sagte der große Sträfling. Der andere gab keine Antwort. Er kniete auf dem Boden des Bootes und stakste hin und wieder zimperlich mit dem Paddel ins Wasser. Sein dicker, speckiger Rücken war geradezu das Sinnbild wacher und gespannter Unruhe. Kurz nach Mitternacht legte ein Rettungsschiff, in dem die dicht zusammengedrängten obdachlosen Männer und Frauen und Kinder von der Reling nur noch mühsam gehalten wurden, in Vicksburg an. Es war ein Dampfer mit geringem Tiefgang; den ganzen Tag lang war er über von Zypressen und Kautschukbäumen verstopfte Bayous und über Baumwollfelder gefahren (wo der Dampfer zeitweise eher watete als schwamm) und hatte seine traurige Fracht zusammengelesen, von Hausdächern und den Firsten der Scheunen und sogar aus Bäumen, und nun legte er in dieser wie ein Pilz wachsenden Stadt der Verlorenen und Verzweifelten an, wo im Regengeriesel Kerosinlampen flackerten und sich eilends aufgereihte Glüh32
birnen in den Seitengewehren kampfesfreudiger Polizisten und in den Rote-Kreuz-Messingschildchen der Ärzte und Schwestern und Kantinenhelfer spiegelten. Das hochgelegene felsige Ufer vor ihnen war fast zugedeckt von Zelten, aber noch immer fanden nicht alle Menschen Obdach; sie saßen oder lagen, einzeln oder in Familien, auf jedem geschützten Fleck, den sie finden konnten, und manchmal auch im Regen, verharrten in dem kleinen Tod völliger Erschöpfung, während die Ärzte und Schwestern und Soldaten über sie hinweg und um sie herum und zwischen ihnen hindurch schritten. Unter den ersten, die ausgeschifft wurden, befand sich einer der stellvertretenden Direktoren, und dicht hinter ihm gingen der dicke Sträfling und ein anderer Weißer – ein kleiner Mann mit hagerem, unrasiertem, bleichem Gesicht, das noch immer von ungläubiger Empörung gezeichnet war. Der stellvertretende Direktor wußte offenbar genau, wohin er wollte. Dicht gefolgt von seinen beiden Gefährten, bahnte er sich behende einen Weg zwischen den Möbelbergen und schlafenden Leibern und stand bald in einem grell erleuchteten und hastig improvisierten Büro, das an einen Befehlsstand erinnerte und in dem der Zuchthausdirektor mit zwei Armeeoffizieren im Majorsrang saß. Der stellvertretende Direktor machte keine Umschweife. »Wir haben ’nen Mann verloren«, sagte er. Und er nannte den Namen des großen Sträflings. »Verloren?« sagte der Direktor. »Ja. Is’ ertrunken.« Ohne den Kopf zu drehen, wandte 33
er sich an den dicken Sträfling. »Erzählen Sie«, sagte er. »Er war es, der behauptet hat, er könne rudern«, sagte der dicke Sträfling. »Nicht ich. Ich hab ihm gleich gesagt – « er deutete mit dem Kopf nach dem stellvertretenden Direktor » – daß ich es nicht kann. Ja, und als wir dann zu dem Bayou kamen – « »Was wollten Sie denn dort?« sagte der Direktor. »Die Barkasse hatte ’ne Meldung mitgebracht«, sagte der stellvertretende Direktor, »’ne Frau auf ’nem Zypressenast am Bayou, und dieser Mann da – « er zeigte auf den dritten Mann; der Direktor und die beiden Offiziere blickten den dritten Mann an » – auf ’nem Baumwollschuppen. Hatten in der Barkasse keinen Platz mehr gehabt, sie mitzunehmen. Weiter.« »Als wir dann zu dem Bayou kamen«, fuhr der dicke Sträfling mit flacher, monotoner Stimme fort, »ist ihm das Boot unter den Füßen weggerutscht. Ich weiß selber nicht, was da eigentlich los war. Ich saß nur so da, denn er war ja fest überzeugt, daß er mit einem Boot umgehen könne. Ich sah auch keinen Strudel. Aber auf einmal drehte sich das Boot um sich selbst und schoß zurück, als hätte man es an einen Zug angehängt, und dann wirbelte es wieder herum, und ich schaute auf und sah genau über mir einen Ast, und ich griff gerade noch rechtzeitig danach, und da wurde das Boot auch schon unter mir weggezogen, wie wenn einem jemand die Socken auszieht, und dann sah ich es noch einmal kieloben, und der Bursche, der behauptet hatte, mit einem Boot umgehen zu können, hielt sich mit der einen Hand daran fest, 34
und in der anderen hatte er immer noch das Paddel – « Er verstummte. Seine Stimme war nicht abgefallen, sie verstummte lediglich, und der Sträfling stand da und blickte versunken nach dem halbvollen Whiskyglas auf dem Tisch. »Woher wollen Sie denn wissen, daß er ertrunken ist«, sagte der Direktor zu dem stellvertretenden Direktor. »Woher wollen Sie wissen, daß er nicht einfach eine Möglichkeit zur Flucht sah und sie ergriffen hat?« »Wohin soll er ’n geflohen sein?« sagte der andere. »Das ganze Delta is doch überschwemmt. Fünfzig Meilen weit und breit nichts wie Wasser, über vier Meter hoch, bis hin zu den Bergen. Und das Boot schwamm ja auch kieloben.« »Der ist ertrunken«, sagte der dicke Sträfling. »Sie brauchen sich deswegen keine Gedanken zu machen. Der hat seine Amnestie; und es mußte nicht einmal jemand den Finger krumm machen, um sie zu unterschreiben.« »Und sonst hat ihn niemand gesehen?« sagte der Direktor. »Was war denn mit der Frau auf dem Baum?« »Weiß nich«, sagte der stellvertretende Direktor. »Hab sie noch nich gefunden. Wahrscheinlich is’ sie von ’nem andern Boot aufgelesen worden. Aber hier is’ der Mann von dem Baumwollschuppen.« Wieder sahen der Direktor und die beiden Offiziere zu dem dritten Mann auf, zu dem hageren, unrasierten, verstörten Gesicht, in dem immer noch die durchgestandene Angst, die durchgestandene Furcht und 35
Ohnmacht und Wut flackerten. »Zu Ihnen ist er nicht gekommen?« sagte der Direktor. »Sie haben ihn nicht gesehen?« »Zu mir ist überhaupt keiner gekommen«, sagte der Obdachlose. Er fing an zu zittern, wenn er auch noch ruhig sprach. »Saß da auf dem gottverdammten Dach und mußte jede Minute darauf gefaßt sein, daß es wegschwimmt. Sah die Barkasse un’ die Boote, aber die hatten für mich ja keinen Platz nich. War’n bis obenhin voll von Niggerbastarden, un’ einer von denen spielte auch noch Gitarre, aber für mich hatten sie keinen Platz nich. Gitarre!« schrie er, kreischte er nun, zitternd und geifernd, und in seinem Gesicht ruckte und zuckte es. »Platz genug für die Gitarre von ’nem Niggerbastard, aber nich für mich – « »Beruhigen Sie sich«, sagte der Direktor. »Beruhigen Sie sich.« »Geben Sie ihm etwas zu trinken«, sagte einer der Offiziere. Der Direktor goß ein. Der stellvertretende Direktor reichte dem Flüchtling das Glas, und der nahm es in die zuckenden Hände und versuchte, es an den Mund zu bringen. Sie sahen ihm wohl an die zwanzig Sekunden zu, bis ihm der stellvertretende Direktor das Glas aus der Hand nahm und es ihm an die Lippen hielt, und der Mann schluckte, aber auch dann rann ihm noch etwas von dem Naß aus den Mundwinkeln in die Bartstoppeln. »Wir haben ihn und – « der stellvertretende Direktor nannte den Namen des dicken Sträflings, »kurz vor Dunkelwerden aufgelesen und sin’ gleich hierhergekommen. Aber der andere is’ verschwunden.« 36
»Hm«, sagte der Direktor. »Na schön. Da habe ich nun zehn Jahre lang keinen einzigen Gefangenen verloren, und jetzt – na ja, ich schicke Sie morgen zur Farm zurück. Benachrichtigen Sie sofort seine Familie und füllen Sie die Entlassungspapiere aus.« »In Ordnung«, sagte der stellvertretende Direktor. »Noch was, Chef: er war kein übler Bursche, un’ vielleicht hätte man ihn wirklich nich in das Boot setzen soll’n. Wenn er auch behauptet hat, daß er paddeln kann. Was meinen Sie dazu – könnte ich nich in seine Entlassungspapiere schreiben, während der großen Überschwemmung im Jahre 1927 ertrunken, als er sein Leben zur Rettung anderer einsetzte – und es dann dem Gouverneur zur Unterschrift schicken? So was war doch nett für seine Leute, könnten’s an die Wand hängen, von wegen den Nachbarn und so. Vielleicht geben sie seinen Leuten dann sogar ’ne Prämie; schließlich war er ja auf der Farm, um Baumwolle zu pflanzen, un’ nich, um bei ’ner Überschwemmung mit ’nem Boot herumzukutschier’n.« »Gut«, sagte der Direktor. »Ich werde es mir überlegen. Hauptsache, sein Name verschwindet aus den Büchern, ehe irgend so ein ganz Raffinierter auf die Idee kommt, seine Essenszuteilung einzuheimsen.« »Gut«, sagte der stellvertretende Direktor. Er drehte sich um und schob seine Begleiter hinaus. Wieder in der triefenden Finsternis, sagte er zu dem dicken Sträfling: »Tja, da hat dich dein Kumpan ja ausgestochen. Der is’ frei. Hat seine Zeit abgesessen, während du noch ’n ganz schönen Kanten vor dir hast.« »Naja«, sagte der dicke Sträfling. »Frei. Von mir aus.« 37
Drittes Kapitel
Wie vom kleinen Sträfling bezeugt, hielt der große, als er wieder an die Oberfläche kam, immer noch das, was der kleine das Ruder genannt hatte. Er klammerte sich daran, nicht in dem Instinkt, daß er es benötigen würde, wenn er endlich im Boot säße, denn geraume Weile glaubte er nicht daran, je wieder das Boot zu erwischen noch sonst etwas, woran er sich festhalten könnte, sondern er umklammerte es einfach, weil er keine Zeit fand, es loszulassen. Es war alles zu schnell gegangen. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, hatte den ersten saugenden Zugriff der Strömung gespürt, hatte gesehen, wie das Boot herumwirbelte und sein Gefährte sich plötzlich in die Luft erhob wie bei einer Himmelfahrt im Buche Jesaja, und da lag er auch schon selbst im Wasser, und jedesmal, wenn er wieder die Oberfläche gewann und nach dem wirbelnden Boot tastete, mußte er gegen das Zerren des Paddels ankämpfen, von dem er immer noch nicht wußte, daß er es festhielt, und wenn das Boot in der einen Sekunde noch drei Meter weit weg war, hing es in der nächsten bereits über seinem Kopf, als wollte es ihn zerschmettern, bis er schließlich das Heck zu fassen bekam und sein Körper zum Seitenruder für das Boot wurde und die beiden, Mann und Boot, und das Paddel senkrecht über ihnen wie ein Fahnenmast, den 39
Blicken des kleinen Sträflings entschwanden (der denen des großen Sträflings mit derselben Geschwindigkeit entschwunden war, wenn auch in vertikaler Richtung), gleich einem Gruppenbild, das in dem Augenblick, da es fertig ist, mit gewalttätiger Hast von der Staffelei gerissen wird. Er trieb in einem versumpften Flußbett dahin, in einem Bayou, das seit den Tagen der zornbebenden Erdausbrüche, die dieses Land geschaffen, wahrscheinlich keine Strömung mehr gekannt hatte. Jetzt dagegen herrschte hier nur noch Strömung; und von seiner Mulde unterhalb des Hecks sah er Bäume und Himmel schwindelerregend vorbeistürzen und zwischen den Gassen kalten Gelbs kummervoll und klagend-erstaunt auf ihn herabblicken. Aber sie standen ja auch fest und sicher und er erinnerte sich in einem Moment verzweifelter Auflehnung an die starke Erde, die für ewig sicher und fest fundiert und dauerhaft und haltbar geschmiedet war vom Schweiß arbeitsamer Generationen und die sich irgendwo unter ihm befand, jenseits der Reichweite seiner Füße; daran mußte er denken, als das Heck des Bootes ihm, wiederum ohne jede Warnung, einen heftigen Schlag aufs Nasenbein gab. Der Instinkt, der ihn das Paddel bisher hatte festhalten lassen, befahl ihm jetzt, es ins Boot zu schleudern, um mit beiden Händen das Dollbord packen zu können, ehe das Boot erneut herumwirbelte und davonschoß. Da er nun beide Hände frei hatte, konnte er sich übers Heck ziehen, und dann lag er ausgestreckt auf dem Bauch, triefend von Blut und Wasser und keuchend, weniger vor Erschöpfung als 40
vielmehr jener erregten Empörung, die der Angst folgt. Aber er mußte gleich wieder aufstehen, weil er glaubte, viel schneller (und damit weiter) vorangekommen zu sein, als er in Wahrheit vorangekommen war. So erhob er sich triefend aus der wäßrig-roten Pfütze, in der er gelegen hatte, eisenschwer der vollgesogene Drillich an seinen Gliedern, am Schädel klebend das schwarze Haar, die Jacke verschmiert vom blutgefärbten Wasser, und wischte hastig, wenn auch achtsam, mit dem Unterarm über das Gesicht und musterte dann seinen Ärmel, nahm das Paddel und versuchte, das Boot stromaufwärts zu richten. Es kam ihm überhaupt nicht der Gedanke, daß er gar nicht wußte, wo sich sein Gefährte befand, in welchem Baum von den vielen, an denen er vorbeigefahren war oder noch vorbeifahren würde. Er dachte nur deswegen nicht darüber nach, weil er fest davon überzeugt war, daß der andere stromaufwärts sein müsse, und zudem schloß nach seinen letzten Erfahrungen der bloße Begriff ›stromaufwärts‹ eine solch außerordentliche Gewalt und Kraft und Schnelle mit ein, daß der Verstand, die Vernunft sich weigerte, ihn sich anders als eine gerade Linie vorzustellen, genauso wie sie sich weigern würde, sich eine Gewehrkugel in der Größe eines Baumwollfeldes vorzustellen. Der Bug drehte zurück, stromaufwärts. Es drehte nur zu bereitwillig, kam dem grausamen, scheußlichen Augenblick zuvor, in dem er erkannte, daß es viel zu leicht drehte und übers Ziel hinausgeschossen war und nun breitseits zur Strömung lag und erneut mit 41
dem boshaften Trudeln begann, und er saß mit entblößten Zähnen in dem blutüberströmten Gesicht und drosch, mit erschöpften Armen, mit ohnmächtigem Paddel, auf das Wasser ein, auf dieses unschuldig aussehende Element, das ihn vorhin wie eine Anakonda eisern und verschlingend umschlossen hatte, jetzt aber dem Angriff seiner Bedrängnis und Not nicht mehr Widerstand bot, als wäre es Luft, ebensowenig wie die Luft; das Boot, das ihn bedroht und schließlich mit der erschreckenden Härte eines Mauleselhufes ins Gesicht getroffen hatte, schien auf einmal federleicht wie eine Distel auf dem Wasser zu liegen, drehte sich wie eine Windmühle, während er mit dem Paddel schlegelte und sich ausmalte, wie sein Gefährte sicher, untätig und bequem in einem Baum hockte, ohne eine andere Pflicht als zu warten, und er grübelte machtlos und angstvollzornig über die Willkür des Schicksals nach, das diesen in einen schützenden Baum setzte und jenen in ein hysterisches und nicht zu meisterndes Boot, nur weil es wußte, daß er von den beiden der einzige war, der wenigstens den Versuch machen würde, umzukehren und seinen Gefährten zu retten. Das Boot hatte sich ergeben und trieb nun mit der Strömung. Abermals wechselte es aus dem Stillstand in höchste Geschwindigkeit über, und er vermeinte, schon meilenweit von jener Stelle entfernt zu sein, an der sein Gefährte ihn verlassen hatte, obwohl er in Wirklichkeit nur einen großen Kreis beschrieben hatte, seitdem er wieder im Boot saß, und das Hindernis (eine Zypressengruppe, in der sich angeschwemmte Balken und sonstiges Treibgut gesam42
melt hatten), gegen das das Boot jetzt anrennen wollte, genau dasselbe war, an dem es vorhin gekentert war, als das Heck ihn getroffen hatte. Doch dies alles ahnte er nicht, da er bisher den Blick nicht über den Bug erhoben hatte. Er hob ihn auch jetzt nicht höher und spürte dennoch, daß er kentern würde; er fühlte durch den fühllosen Rumpf des Bootes eine Strömung gierigen, grinsenden, gemeinen, unverbesserlichen Eigensinns; und er, der keinen Augenblick aufgehört hatte, mit äußerster Kraft (wie er glaubte) aufs sanfte, trügerische Wasser einzuschlagen, brachte nun von irgendwoher, aus irgendeiner letzten, geheimen Reserve, eine letzte Ausdauer auf, einen Willen zur Ausdauer, der nur bedingt mit Muskeln und Nerven in Verbindung stand, und er schlegelte weiter und weiter, bis sein Boot das Hindernis rammte, wobei er im gleichen Moment in einem Verzweiflungsreflex noch einen einzigen Versuch machte, mit dem Paddel auszugreifen, es durchzuziehen und das Fahrzeug auf Kurs zu halten, so wie ein Mann, der auf dem Eis bereits ausrutscht und doch noch nach Hut und Brieftasche greift, als das Boot auch schon auflief und ihn erneut flach aufs Gesicht warf. Diesmal stand er nicht sofort auf. Er lag flach auf dem Gesicht, mit ausgestreckten Armen und Beinen, in einer fast friedlich zu nennenden Haltung armseliger Meditation. Natürlich würde er irgendwann wieder aufstehen müssen, denn schließlich besteht das ganze Leben daraus, früher oder später wieder aufzustehen und nach einiger Zeit, früher oder später, sich wieder hinzulegen. Er war nicht ausgesprochen erschöpft, er 43
war auch nicht ausgesprochen verzweifelt, und er fürchtete sich eigentlich auch nicht vor dem Aufstehen. Aber es kam ihm eben so vor, als hielte ihn zufällig eine Situation gefangen, in der ständig Raum und Zeit, nicht etwa er selbst, hypnotisiert wurden; er war zum Spielball der Strömung geworden, die nirgendwohin floß, und unter einem Tag, der keinen Abend hatte; und wenn sie des Spiels mit ihm müde war, würde sie ihn wieder zurückschleudern in die mehr oder weniger sichere Welt, aus der er herausgerissen worden war, und bis dahin blieb es ziemlich einerlei, was er tat oder nicht tat. So blieb er auf dem Gesicht liegen und fühlte nicht nur, sondern hörte jetzt auch das starke, geheime Rauschen der Strömung unter den Planken des Bootes. Dann hob er den Kopf und betastete, diesmal mit der Handfläche, behutsam das Gesicht und betrachtete abermals das Blut, hockte sich nun auf die Absätze und beugte sich über das Dollbord, klemmte die Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und schneuzte einen Schuß Blut heraus und wischte gerade die Hand an der Hüfte ab, als eine Stimme, ein wenig über Augenhöhe, gelassen sagte. »Das hat ja ’ne ganze Weile gedauert«, und er, der bis zu dieser Sekunde weder Grund noch Zeit gefunden hatte, den Blick höher als bis zum Bug zu erheben, sah auf und entdeckte, sitzend in einem Baum und ihn betrachtend, eine Frau. Sie war keine drei Meter von ihm entfernt. Sie saß auf dem untersten Ast, in einem der Bäume, welche die von ihm gerammte Treibgutinsel zusammenhielten, saß dort in einer Kattunkleiderschürze und dem Militärmantel 44
eines gemeinen Soldaten und einem Sonnenhut, eine Frau, die er gar nicht weiter in Augenschein nahm, denn schon beim ersten, erschrockenen Blick hatte er all die Generationen ihres Lebens und ihrer Herkunft erkannt; sie hätte seine Schwester sein können, wenn er eine Schwester gehabt hätte, oder seine Frau, wenn er nicht schon in einem Alter ins Zuchthaus gekommen wäre, da er kaum die Jünglingszeit hinter sich hatte und immer noch ein paar Jahre jünger gewesen war, als die jungen Männer seiner fruchtbaren und monogamen Rasse bei ihrer Heirat zu sein pflegen – eine Frau, die sich an dem Baumstamm festhielt, die nackten Füße in plumpen, ungeschnürten Männerstiefeln, die knapp einen Meter überm Wasser baumelten, eine Frau, die zweifellos jemandes Schwester und bestimmt (wenigstens hätte sie es sein müssen) jemandes Frau war, obwohl er, um das herauszufinden, ebenfalls zu jung ins Zuchthaus gekommen war und darum eigentlich nur theoretische Erfahrungen in Frauenangelegenheiten besaß. »Dacht schon, Sie kämen nich mehr zurück.« »Zurück?« »Nach dem erstenmal. Nachdem Sie das erstemal in das Gestrüpp hier gefahren und ins Boot geklettert und weitergepaddelt war’n.« Er sah sich um und betupfte wieder behutsam sein Gesicht; es mochte durchaus dieselbe Stelle sein wie die, an der er das Boot auf die Nase bekommen hatte. »Ja«, sagte er. »Aber jetzt bin ich ja da.« »Könnten Sie nich das Boot ’n bißchen näher herkriegen? Es hat mich gerade genug Kraft gekostet, hier 45
raufzukommen; ich möchte lieber …« Er hörte nicht zu; er hatte soeben entdeckt, daß das Paddel verschwunden war; als das Boot diesmal herumgewirbelt war, hatte er das Paddel nicht hinein, sondern hinter sich geworfen. »Es hangt da oben im Gebüsch«, sagte die Frau. »Sie können’s sich leicht hol’n. Hier. Halten Sie sich daran fest.« Es war ein Weinstock. Er war mit dem Baum verwachsen, und die Flut hatte seine Wurzeln unterspült. Die Frau hatte sich vorgebeugt, ihn losgerissen und ihm zugeschleudert, damit er das untere Ende fasse. Während er sich an der Ranke festhielt, zog er das Boot um die Treibgutinsel herum, holte sich das Paddel, zog das Boot dann unter den Ast und achtete darauf, daß es nicht wegtrieb, und verfolgte, wie sie sich aufrichtete, sich schwerfällig und vorsichtig zum Abstieg bereitmachte – eine Schwerfälligkeit, die nicht von Schmerzen begleitet, sondern nur angestrengte Vorsicht war, diese unglaubliche und nahezu stumpfe Ungeschicktheit, die nichts mehr hinzufügte zu der Summe jenes ersten, entsetzten Erstaunens, das bereits den Katafalk seines unsterblichen Traumes bestätigt hatte, denn selbst in der Haft hatte er fortgefahren (mit der alten Gier überdies, obwohl sie an seiner Vernichtung schuld gewesen waren), die unmöglichen Schundgeschichten zu verschlingen, die sorgsam ins Zuchthaus geschmuggelt worden waren und ebenso sorgsam studiert wurden; er, der beim Besteigen des Bootes mit seinem Gefährten von einer Helena, einer leibhaftigen Garbo geträumt hatte, die er von felsiger Klippe oder aus Drachenklauen erretten dürfte. Er schaute ihr zu 46
und machte keinerlei Anstalten, ihr zu helfen, außer daß er erbittert das Boot festhielt, während sie sich von dem Ast herunterließ – den an den Armen hängenden Körper, den formlos angeschwollenen Bauch, der den Kattun wölbte, und er dachte Ausgerechnet das ist mir zugefallen. Von all dem Weiberfleisch, das herumläuft, muß es ausgerechnet das sein, womit sie mich in dem abgetriebenen Boot aufgreifen werden. »Wo ist der Baumwollschuppen?« sagte er. »Baumwollschuppen?« »Mit dem Mann drauf. Dem andern.« »Gibt ’ne Menge Baumwollschuppen hier herum. Un’ wahrscheinlich auch mit Leuten drauf.« Sie musterte ihn. »Sie bluten wie ’ne gestochene Sau«, sagte sie. »Sehn ja wie’n Sträfling aus.« »Ja«, sagte er. Fauchte es. »Komm mir auch vor wie bereits gehängt. Na, dann will ich jetzt mal mein’ Kumpel such’n un’ dann den Baumwollschuppen.« Er stieß ab. Das heißt, er ließ die Weinranke los. Mehr brauchte er nicht zu tun, denn er hatte schon, als der Bug des Bootes noch auf der Treibgutinsel festgesessen und er es in dem verhältnismäßig stillen Wasser hinter der Treibgutinsel an der Ranke gehalten hatte, stetig und unablässig das Raunen gespürt, die starke gurgelnde Gewalt des Wassers wenige Zentimeter unter den dünnen Planken, auf denen er hockte, ein Raunen, das sich mit dem Loslassen der Ranke auf das Boot stürzte, nicht mit einem einzigen kräftigen Tatzenhieb, sondern mit leichtem, tupfendem, katzenpfotenähnlichem Streicheln; nun erst wurde ihm klar, daß er völlig grundlos die Hoffnung gehegt hatte, das 47
zusätzliche Gewicht werde ihm die Kontrolle über das Boot erleichtern. Während der ersten Sekunden hegte er noch immer die verzweifelte (und noch immer grundlose) Überzeugung, daß sich diese Hoffnung erfüllt habe; er hatte den Bug stromauf gerichtet, und es gelang ihm auch, ihn bei größter Anstrengung so zu halten und nicht nachzulassen, als er merkte, daß sie zwar geradeaus, aber mit dem Heck voran fuhren, und auch dann nicht nachließ, als der Bug abdrehte: die alte, unbesiegbare Bewegung, die er jetzt schon gut genug kannte, zu gut, um dagegen anzugehen, und so ließ er den Bug stromab schwingen in der Hoffnung, die Schwungkraft des Bootes ausnützen und einen vollen Kreis schlagen und dadurch den Kurs wieder stromaufwärts richten zu können, doch das Boot, das sich erst breitseits stellte und dann flußauf, stellte sich abermals breitseits und fuhr diagonal zum Lauf des Flusses auf die gegenüberliegende Wand überschwemmter Bäume zu; mit panischer Eile flog es unter ihm dahin: ohne es zu wissen, waren sie in einen Strudel geraten; er fand keine Zeit, zu überlegen oder sich auch nur zu wundern; er lag auf dem Bauch, die Zähne in dem blutverkrusteten und geschwollenen Gesicht entblößt, lag mit keuchenden Lungen und schlegelte aufs Wasser, während sich die Bäume riesig über ihn hereinbogen. Das Boot rammte, wirbelte herum, rammte wieder; die Frau lag im Bug und krampfte sich ans Dollbord, als wollte sie sich hinter ihre eigene Schwangerschaft ducken; er schlug mit dem Stechpaddel jetzt nicht mehr aufs Wasser, sondern auf das lebendige, im Mark verblu48
tende Holz, denn er hatte nicht mehr das Bedürfnis, irgendwohin zu gelangen, ein Ziel zu erreichen, sondern nur noch den Wunsch, das Boot davon abzuhalten, sich an den Baumstämmen zu zerschmettern. Dann barst irgend etwas, diesmal an seinem Hinterkopf, und die überhängenden Bäume und das hastende Wasser, das Gesicht der Frau und alles schossen ineinander und verschwanden in strahlendem, stillem, aufblitzendem Glanz. Eine Stunde später zog das Boot langsam einen alten Holzweg herauf und gelangte somit heraus aus dem Flußbett und dem Wald in ein (oder auf ein) Baumwollfeld – eine graue und grenzenlose Ödnis ohne Aufruhr, unterbrochen nur durch eine dünne Zeile von Telegrafenmasten, die einem watenden Tausendfüßler glichen. Jetzt paddelte die Frau, paddelte gleichmäßig und bedächtig mit jener merkwürdigen, stumpfen Vorsicht, während der Sträfling, den Kopf zwischen den Knien, dahockte und versuchte, den immer neuen und offenbar unerschöpflichen Blutstrom aus seiner Nase mit Händen voll Wasser zum Einhalten zu bringen. Dann hörte die Frau zu paddeln auf, das Boot trieb gemächlich weiter, und sie sah sich um. »Da wär’n wir«, sagte sie. Der Sträfling hob den Kopf und sah sich ebenfalls um. »Wo?« »Dachte, das wüßten Sie.« »Ich weiß nicht mal, wo wir vorhin war’n. Selbst wenn ich gewußt hätte, wo Norden ist, hätt ich doch immer noch nich gewußt, ob ich dorthin wollte.« Wieder führte er mit gewölbten Händen Wasser zum 49
Gesicht und senkte dann die Hände und betrachtete die nun rotverfärbte Flüssigkeit auf den Handflächen, betrachtete sie nicht niedergeschlagen, ja nicht einmal aufmerksam, sondern eher mit höhnischer, empörter Verwirrung. Die Frau starrte auf seinen Hinterkopf. »Irgendwo müssen wir schließlich hin.« »Weiß ich auch. Der eine auf ’nem Schuppen. Die andere auf ’nem Baum. Und nun das Ding da in Ihr’m Bauch.« »Es wär noch nich soweit gewesen. Vielleicht liegt’s daran, daß ich gestern so schnell den Baum raufklettern un’ die ganze Nacht dort sitzen mußte. Ich tu ja, was ich kann. Aber es wär schon besser, wenn wir bald irgendwohin kämen.« »Schon, schon«, sagte der Sträfling. »Ich wollte auch bloß irgendwohin und hatte kein Glück damit. Nun schau’n Sie sich mal nach was Gescheitem um, wo man hin kann, und dann können Sie ja Ihr Heil versuch’n. Geben Sie das Ruder her.« Die Frau reichte ihm das Paddel. »Wo woll’n Sie denn jetzt hin?« sagte die Frau. »Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Halten Sie lieber noch ’ne Weile durch.« Er paddelte weiter über das Baumwollfeld. Wieder begann es zu regnen, wenn auch nicht stark. »So is’ das«, sagte er. »Fragen Sie doch das Boot. Ich sitz nun schon seit heut morgen drin un’ hab keinen Augenblick gewußt, wo ich eigentlich hin sollte und wo ich hinfuhr.« Das war um ein Uhr. Als sich der Nachmittag neigte (sie befanden sich wieder in einem Flußbett, schon seit geraumer Zeit; sie waren hineingeraten, ehe sie es 50
merkten, und als sie es merkten, war es zu spät, um noch zurück zu können, falls es überhaupt einen Grund gegeben hätte, zurückzufahren, denn es gab, wenigstens für den Sträfling, wahrhaftig keinen, und die Tatsache, daß sie an Geschwindigkeit gewonnen hatten, war Grund genug, darin zu bleiben), schoß das Boot hinaus auf eine Fläche treibgutsatten Wassers, die der Sträfling als Fluß erkannte und, an seiner Breite, als den Yazoo-River, wenn er auch von diesem Land wahrhaftig wenig genug gesehen hatte, obwohl er es in den vergangenen sieben Jahren seines Lebens noch für keinen einzigen Tag verlassen hatte. Was er nicht wußte war, daß der Yazoo-River jetzt stromauf floß. Darum paddelte er, als die Drift des Bootes den Lauf der Strömung anzeigte, in jene Richtung, die er für flußab hielt und in der er Städte wußte – Yazoo City, und als letzte Zuflucht Vicksburg, falls er soviel Pech haben sollte, und wofern nicht kleinere Städte, deren Namen er nicht kannte, wo aber Menschen, Häuser, irgend etwas sein mußten, irgend jemand, den er erreichen, dem er seine Last übergeben könnte, um dann für immer ihr all diesem schwangeren und weiblichen Leben, den Rücken zu kehren, zurückzukehren zu seinem Mönchsdasein bei Schrotflinten und Fesseln, in dem er vor dergleichen sicher wäre. Jetzt, da Ansiedlungen näher rückten und damit die Aussicht, die Frau loszuwerden, haßte er sie nicht einmal mehr. Als er auf den schwellenden und ungefügen Körper vor sich blickte, wollte ihm scheinen, es sei überhaupt nicht die Frau, sondern eine getrennte, fordernde, drohende, träge und doch lebendige 51
Masse, deren Opfer er und sie gleichermaßen waren; und er dachte, wie schon in all den vergangenen Stunden, an die minutenlange – ach was, sekundenlange – Verirrung von Auge oder Hand, die genügte, um die Frau jählings ins Wasser zu stürzen, so daß sie in die Tiefe gezogen würde von jenem fühllosen Mühlstein, der seinerseits nicht einmal Todesangst auszustehen hätte und als dessen Wächter er keinerlei Rachegedanken mehr gegen sie hegte, sondern sie bloß bedauerte wie ein im Schuppen liegendes lebendiges Holz, das verbrannt werden muß, weil es voller Ungeziefer ist. Er paddelte weiter, half ausdauernd und kraftvoll der Strömung nach, half nach mit wohlüberlegter, geschäftiger Zielstrebigkeit, um in jene Richtung zu fahren, die er für stromabwärts hielt und in der er Städte und Menschen und festen Boden erwartete, während sich die Frau von Zeit zu Zeit erhob, um das angesammelte Regenwasser aus dem Boot zu schöpfen. Es regnete jetzt unablässig, wenn auch immer noch nicht stark, immer noch ohne Ungestüm, und der Himmel, der Tag schwand, ohne sich aufzulehnen, dahin; das Boot glitt weiter in einem Schimmer, einem Schleier grauen Nebels, der fast unsichtbar mit dem trüben, speichelschaumigen, treibgutsatten Wasser verschmolz. Nun der Tag, das Licht sich endgültig neigte, erlaubte sich der Sträfling ein paar Stufen größerer Anstrengung zu bewältigen, weil es ihm plötzlich scheinen wollte, als ließe die Geschwindigkeit des Bootes nach. Dem war auch so, obwohl es der Sträfling nicht wußte. Er nahm dies lediglich als 52
eine Erscheinung der wachsenden Dunkelheit oder allenfalls als die Folge des langen, angestrengten, mahlzeitlosen Tages, der noch erschwert worden war durch die Ebbe- und Flutphasen seiner Angst und seines ohnmächtigen Grimms über diese völlig unverdiente Lage. Darum vermehrte er seine Paddelschläge, nicht aus Furcht, sondern eher aus dem Gegenteil, da er einen weiteren Auftrieb empfangen hatte von der bloßen Anwesenheit eines ihm bekannten Flusses, eines durch seinen unauslöschlichen Namen schon bei vielen Menschengeschlechtern bekannten Flusses, die er verlockt hatte, an seinen Ufern zu leben, so wie der Mensch stets verlockt war, am Wasser zu leben, und das bereits, noch ehe er einen Namen für Wasser und Feuer gefunden hatte, verlockt war vom lebendigen Wasser, weil sein Schicksal und seine äußere Gestalt unausweichlich vom Wasser bestimmt wird. Darum hatte er keine Furcht. Er paddelte weiter, paddelte flußab, ohne es zu wissen, ohne zu merken, daß all die Wassermassen, die seit vierzig Stunden durch den gebrochenen Deich nach Norden strömten, vor ihm lagen; auf seinem Weg zurück zum großen Strom. Es war jetzt dunkel. Das heißt, die Nacht war hereingebrochen, der graue, milchige Himmel verschwunden, und doch hatte sich, wie durch ein widernatürliches Gesetz, die Sichtbarkeit der Wasserfläche erhöht, als hätte sich das Licht, das der Regen am Nachmittag aufgesogen, auf dem Wasser gesammelt gleich dem Regen selbst, so daß sich die gelbe Flut nun wie phosphoreszierend vor ihm ausbreitete, so weit das Auge reichte. Die Dunkelheit hatte ihre Vorteile, er 53
brauchte den Regen nicht mehr zu sehen. Er und seine Kleider waren nun über vierundzwanzig Stunden naß, so daß er ihn längst nicht mehr spürte, und da er den Regen jetzt auch nicht mehr sehen konnte, hatte er in gewissem Sinne für ihn aufgehört. Auch brauchte er sich jetzt nicht mehr zu bemühen, den angeschwollenen Bauch seiner Gefährtin zu übersehen. Er paddelte ausdauernd und kraftvoll weiter, nicht in Furcht und nicht in Unruhe, nur ein wenig verwirrt, weil er bisher nicht den geringsten Widerschein auf den Wolken entdecken konnte, einen Widerschein der von ihm in der Nähe vermuteten Stadt oder der Städte, die in Wirklichkeit aber meilenweit hinter ihm lagen, und da auf einmal hörte er etwas. Er wußte nicht, was es war, weil er es nie zuvor gehört hatte und von dem man auch kaum annehmen konnte, daß er es je noch einmal hören würde, denn es ist nicht jedem Mann gegeben, es überhaupt, und keinem, es mehr als einmal in seinem Leben zu hören. Er war auch nicht erschrocken, da er keine Zeit dazu fand, denn mochte die Sicht vor ihm trotz all ihrer Klarheit auch nicht weit reichen, so sah er noch schon im nächsten Augenblick, was er eben gehört und nie zuvor gesehen hatte. Der dünne Strich, in dem das phosphoreszierende Wasser mit dem Dunkel zusammenstieß, stand plötzlich gut drei Meter höher als vorher und wurde vorangewälzt wie ein Teigboden, den man zu einem Kuchen aufrollt. Niederschießend bäumte er sich auf, seine Kuppe flatterte wie die Mähne eines galoppierenden Pferdes und flackerte und flammte gleich Feuer. Und während sich die Frau im Bug zusam54
menkauerte, blind oder sehend, das wußte der Sträfling nicht, paddelte er (der Sträfling) weiter, das geschwollene, blutgestreifte Gesicht verzerrt von entsetztem und ungläubigem Staunen, paddelte genau darauf zu. Wieder fand er einfach nicht die Zeit, seinen vom Rhythmus hypnotisierten Muskeln Einhalt zu gebieten. Er paddelte weiter und weiter, obwohl sich das Boot überhaupt nicht von der Stelle bewegte, sondern im Raum zu hängen schien, während das Paddel noch immer ausgriff, durchzog, gegenlenkte und wieder ausgriff und plötzlich war das Boot, anstatt vom Raum, von einem Chaos anstürmenden Treibguts umringt, von Planken, kleinen Gebäuden, Leibern ertrunkener, grotesk verkrümmter Tiere, ganzen Bäumen, die wie Tümmler sprangen und tauchten und über denen das Boot in schwereloser, ätherischer Unentschlossenheit zu schweben schien gleich einem Vogel über einer dahinfliegenden Landschaft, unentschlossen, wo oder ob es sich überhaupt niederlassen sollte, und dennoch hockte der Sträfling im Boot und vollführte unentwegt seine Paddelbewegungen und wartete auf eine Gelegenheit, zu schreien. Er fand sie nie. Eine Sekunde schien das Boot aufrecht auf dem Heck zu stehen und sprang dann krabbelnd und krallend auf der rollenden Wasserwand dahin wie eine Katze, schwang sich auf den gischtenden Widerrist und schaukelte nun zwischen Himmel und Wasser, in der Krone eines Baumes, in dessen Laube grünblättriger Äste und Zweige der Sträfling gleich einem Vogel im Nest auf eine Gelegenheit zum Schreien wartete und unentwegt seine Paddelbewe55
gungen machte, obwohl er längst kein Paddel mehr hatte, und hinunterblickte auf eine Welt, die sich in erbittertem Aufruhr und nie erlebtem Rücklauf befand. Irgendwann nach Mitternacht, begleitet von den Kanonaden grollender Donner und blendender Blitze, in denen sich die vierzigstündige Stauung der Elemente, des Firmamentes, zu entladen schien mit schmetterndem, gleißendem Salut für die endliche Ergebung in den verzweifelten und erbitterten Aufruhr, passierte das Boot, immer noch als Anführer des in seiner Obhut befindlichen Chaos toter Kühe und Maulesel und Schuppen und Hütten und Hühnerställe, die Stadt Vicksburg. Doch der Sträfling wußte es nicht. Er blickte nicht hoch genug übers Wasser; er duckte sich noch immer ins Boot und umkrampfte das Dollbord und starrte auf den gelben Aufruhr, in dem ganze Bäume, Spitzgiebel, lange, grämliche Mauleselköpfe auf- und niederwogten, Tierköpfe, die er mit einer zersplitterten Latte, irgendwo und irgendwann im Vorbeifahren erhascht, wegstieß (und die ihm weichlippig und ungläubig erstaunt mit vorwurfsvollen Blicken aus den augenlosen Gesichtern nachzustarren schienen), und das Boot schob sich weiter und weiter, einmal bugvoran, einmal breitseits, einmal heckvoran, manchmal im Wasser, manchmal meterweit auf Hausdächern und Bäumen und Mauleselrücken reitend, als könnten diese Kreaturen selbst im Tod ihrem lastenschleppenden Verhängnis nicht entgehen, zu dem ihre Eunuchenrasse verdammt war. Doch er sah Vicksburg nicht; das Boot schoß in unheimlicher Schnelle durch einen brodelnden 56
Schlauch, vorbei an sich türmenden, riesigen Ufern, über denen ein Lichtschein waberte; aber der Sträfling sah den Lichtschein nicht, er sah nur, wie das Treibgut vor ihm sich auf einmal teilte, sich übereinanderschob und übereinanderkletterte, und dann wurde er durch die sich bildende Gasse hindurchgesogen, viel zu geschwind, um das Gerüst einer Eisenbahnbrücke erkennen zu können; einen entsetzlichen Augenblick lang klebte das Boot in verharrender Unentschlossenheit vor der aufsteigenden Wand eines Dampfers, als wüßte es nicht recht, ob es sich darüber schwingen oder darunter durchtauchen sollte, doch da blies ein eisiger, scharfer Wind, geschwellt vom Geruch und Geschmack und Gefühl nasser und grenzenloser Wüstenei, das Boot davon; und es machte nicht mehr als einen einzigen Satz, als der Heimatstaat des Sträflings ihn mit einem letzten Würgen ausspie, hinaus auf die wogende Brust des Vaters aller Ströme. Das war es, was er sieben Wochen später erzählte, als er in neuem Drillich, frisch rasiert und mit geschnittenen Haaren auf seinem Bettkasten in der Baracke saß: Während der nächsten drei oder vier Stunden (nachdem Donner und Blitz sich erschöpft hatten) krebste das Boot in pechschwarzer, regenströmender Finsternis auf einer schlammigen Fläche dahin, die, selbst wenn er weiter hätte sehen können, offenbar keine Grenzen hatte. Unbändig und unsichtbar bäumte und stemmte sie sich unter dem Boot, gekrönt von phosphoreszierenden, schmutzigem Schaum und geschwollen vom Treibgut der Vernichtung, von namenlosen und riesigen und unsichtbaren Dingen, die 57
gegen das Boot prellten und prallten und dann weitertrudelten. Er wußte nicht, daß er jetzt auf dem Strom fuhr. Und zu jener Zeit würde er sich auch geweigert haben, es zu glauben, selbst wenn er es gewußt hätte. Gestern hatte er an den regelmäßigen Abständen der Bäume zu beiden Seiten erkannt, daß er sich in einem Flußlauf befand. Nun aber, da er nicht einmal bei Tageslicht irgendwelche Grenzen hätte ausmachen können, wäre der letzte Ort unter der Sonne (oder vielmehr unter dem schüttenden Himmel), auf dem er sich gewähnt hätte, ein Strom gewesen; falls er überhaupt über seinen augenblicklichen Standort, über die Geographie unter ihm nachgedacht hätte, würde er angenommen haben, er rase in schwindelerregender und unbegreiflicher Schnelle über das größte Baumwollfeld der Welt; wenn er, der gestern gewußt hatte, daß er sich in einem Flußlauf befand, und diese Tatsache in gutem Glauben und Vertrauen hingenommen hatte, um dann erleben zu müssen, wie sich dieser selbe Fluß unvorhergesehen auf ihn stürzte, entfesselt und unheilbringend gleich einem durchgehenden Hengst auf dem Feldwege – wenn er auch nur für eine Sekunde geahnt hätte, daß die urweltliche, unendliche Ebene vor ihm ein Fluß war, hätte sich seine Vernunft bestimmt dagegen gesträubt; er wäre einfach ohnmächtig geworden. Als der Tag aufstieg – ein graues, zerfetztes Dämmer, gehetzt von Regenschauern und frostigen Böen – und er den Blick wieder schweifen lassen konnte, erkannte er, daß er keinesfalls über ein Baumwollfeld trieb und daß die wilden Wasser, auf denen das Boot tanzte und 58
strudelte, nicht über eine Erde strömten, auf der sonst Menschen hinter den schwitzenden und schwingenden Hinterbacken von Mauleseln trotteten. Und da kam ihm die Einsicht, daß das Phänomen dieses Jahrzehnts nicht der augenblickliche Zustand war, sondern daß das Phänomen vielmehr die langen Jahre gewesen waren, in denen der Strom den hinfälligen Machwerken plumper menschlicher Erfindung gestattet hatte, auf seiner friedevollen und schläfrigen Brust dahinzuziehn – der augenblickliche Zustand dagegen war seine Natur; der Strom tat jetzt, was er wollte, denn er hatte zehn Jahre geduldig gewartet, um es eines Tages zu tun, so wie ein Maulesel zehn Jahre für jemand arbeiten kann, um ihn ein einziges Mal treten zu dürfen. Und er begriff überdies etwas vom Wesen der Angst, etwas, das er damals nicht begriffen, als er sich doch wahrhaftig gefürchtet hatte – damals, in seiner Jugend, in den wenigen Sekunden jener Nacht, als er auf den zweimal aufblitzenden Pistolenlauf des erschrockenen Bahnpostbeamten geblickt hatte, ehe dem Beamten klargemacht werden konnte, daß sein (des Sträflings) Revolver gar nicht schoß: daß, wenn man nur lange genug in der Angst durchhält, eine Zeit kommt, in der die Angst nicht mehr einem Todeskampf gleicht, sondern allenfalls einem gräßlichen, aufreizenden Jucken, als hätte man sich heftig verbrannt. Er brauchte jetzt nicht mehr zu paddeln, er steuerte nur noch (er, der seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen und seit fünfzig Stunden nicht nennenswert geschlafen hatte), während das Boot über die gurgeln59
de Verwüstung schnellte, auf der zu treiben er schon lange nicht mehr zu glauben wagte, obwohl es daran gar nichts zu zweifeln gab, und nun versuchte er, mit dem Fragment seiner zersplitterten Latte das Boot wenigstens heil und sicher zwischen den Häusern und Bäumen und toten Tieren hindurchzuschleusen (zwischen diesen Städten, Läden, Wohnhäusern, Parks und Bauernhöfen, die um ihn herumspielten und sprangen gleich Fischen), und dabei gar nicht erst versuchend, irgendein Ziel zu erreichen, sondern nur noch versuchend, das Boot flott zu halten, bis er ein Ziel gewinne. Er wollte ja so wenig. Er wollte überhaupt nichts für sich selbst. Er wollte lediglich die Frau samt ihrem Bauch loswerden, und er bemühte sich, dies gut zu machen, nicht seinetwegen, sondern ihretwegen. Er hätte sie schließlich jederzeit in einem andern Baum wieder absetzen können – »Oder du hättest aus dem Boot springen und sie mit dem Boot absaufen lassen können«, sagte der kleine Sträfling. »Dann hätten sie dir wegen Flucht zehn Jahre aufgebrummt und dich obendrein wegen Mord aufgehängt, und für das Boot hätten sie deinen Leuten eine Rechnung geschickt.« »Schon, schon«, sagte der große Sträfling. – Aber das hatte er nicht getan. Er wollte es gut machen, wollte irgend jemanden oder irgend etwas finden, dem er sie übergeben, irgendeinen festen Grund, wo er sie absetzen konnte, um dann ins Wasser zu springen, falls er damit jemandem einen Gefallen täte. Das war alles, was er wollte – nur irgendwohin zu kommen, irgendwas zu finden. Das war wahrhaftig nicht zuviel ver60
langt. Aber nicht einmal das gelang ihm. Er erzählte, wie das Boot weiterflog – »Bist du denn an nichts vorbeigekommen?« sagte der dicke Sträfling. »An einem Dampfer oder so etwas?« »Weiß nich«, sagte der Große – während er versuchte, es wenigstens flott zu haken, bis die Dunkelheit sich lichtete und hob und davonstahl – »Dunkelheit?« sagte der dicke Sträfling. »Sagtest du nicht, es ist schon Tag gewesen?« »Wohl, wohl«, sagte der Große. Er drehte sich eine Zigarette und schüttete den Tabak bedächtig aus einem neuen Beutel in das gefaltete Papier. »Das war ’ne andre Nacht. Es war öfters Nacht, solange ich weg war.« – und das Boot noch immer pfeilschnell eine windungsreiche Wasserstraße, gesäumt von halbertrunkenen Bäumen, hinauffuhr, die der Sträfling wiederum als einen Flußlauf erkannte und die ebenfalls in jene Richtung führte, die er bereits vor zwei Tagen als stromauf ausgemacht hatte. Es war eigentlich nicht sein Instinkt, der ihn wissen ließ, daß dieser Flußlauf, genau wie jener vor zwei Tagen, stromauf zog. Er wollte nicht gerade behaupten, daß er sich jetzt auf demselben Fluß befinde, obwohl er nicht erstaunt gewesen wäre, wenn man ihm gesagt hätte, daß er im stillen fest daran glaubte, denn er lebte, wie bisher und jetzt und offenbar noch für lange Zeit, in einem Zustand, in dem er Spielball und Pfand einer heimtückischen und rebellischen Geographie war. Er machte sich bloß klar, daß er wieder auf einem Fluß dahintrieb, mit all den sich daraus ergebenden Folgen eines nicht unbekannten, womöglich gar vertrauten 61
Elements der Erde. Er bildete sich ein, nur weiter und weiter paddeln zu müssen, wenn er irgend etwas Horizontales, über dem Wasser Liegendes erreichen wollte, mochte es auch nicht trocken und vielleicht nicht einmal bewohnt sein, und daß er, wofern er nur schneller und schneller paddelte, auch rechtzeitig dorthin gelange; bildete sich ein, sonst bloß noch den einen Wunsch zu haben, sich dazu zu überwinden, die Frau nicht mehr anzusehen, die mit der Rückkehr des Lichtes in der Morgendämmerung und damit der Sicht – seiner Gefährtin unabwendbar und offenbar unausweichlich verbunden – aufgehört hatte, ein menschliches Wesen zu sein und (man durfte jetzt weitere vierundzwanzig Stunden zu den ersten vierundzwanzig und den ersten fünfzig hinzufügen, selbst wenn man das Huhn miteinbezog. Es war tot gewesen, ertrunken und hatte sich mit den Flügeln in den Schindeln eines Daches verfangen, das gestern vorübergehend neben dem Boot hergeschwommen war, und dann hatte er ein Stück von ihm roh gegessen, obwohl die Frau nichts davon wollte) statt dessen zu einer einzigen, trägen, monströsen, empfindsamen Gebärmutter geworden war, die, wie er glaubte, aus seinen Augen entschwinden würde, wenn er nur den Blick von ihr wenden und fernhalten könnte, und wenn er seinen Blick nur davon abzuhalten vermöchte, auf dem von ihr eingenommenen Platz zu verweilen, auch nie wieder zurückkehrte. Das war es, was ihn beschäftigte, als er die anrollende Welle entdeckte. Er wußte nicht, woran er entdeckte, daß sie zurückkam. Denn er hörte keinen Laut, es war nichts zu 62
spüren und nichts zu sehen. Er fühlte sich wohl nicht einmal dadurch gewarnt, daß jetzt Stillwasser herrschte – das heißt, daß die Strömung, die bisher, ob flußauf oder flußab, wenigstens horizontal verlaufen war, nun ihr Fließen aufgegeben und eine vertikale Richtung angenommen hatte. Vielleicht war nur sein unzerstörbarer und fast fanatischer Glaube daran schuld, sein Glaube an die Erfindungsgabe und angeborene Boshaftigkeit dieses Elements, dem sein Schicksal anscheinend für ewig überantwortet war; die schnell gewonnene, weit jenseits allen Staunens und Schreckens liegende Überzeugung, daß dieses Element ein wenig zu spät kam mit seinen Vorbereitungen für das, was es sich ausgedacht hatte. So riß er das Boot auf der Hinterhand herum wie ein galoppierendes Pferd, worauf er – nun in entgegengesetzter Richtung – nicht einmal mehr den Flußlauf sichten konnte, den er heraufgekommen war. Er ahnte nicht, ob er ihn einfach nicht sah oder ob er ihn, ohne es gemerkt zu haben, vor einiger Zeit verloren hatte; ob der Fluß in der ertrunkenen Welt versunken oder ob die Welt in einem einzigen, unbegrenzten Fluß ertrunken war. Darum konnte er jetzt nicht sagen, ob er genau vor der Welle herschoß oder ihren Kurs kreuzte; er konnte jetzt nichts weiter tun, als diese sich hinter ihm überstürzende, steigernde Raserei nicht außer acht zu lassen und so schnell zu paddeln, als seine erschöpften und empfindungslos gewordenen Muskeln es erlaubten, und zu versuchen, nicht auf die Frau zu stieren, den Blick von ihr zu lösen und fernzuhalten, bis er eine Ebene, etwas übers Wasser 63
Ragendes finde. Nur so konnte es geschehen, daß er, hager und hohläugig und mit seinen Augen kämpfend und ringend, als wären sie zwei aus Kindergewehren abgeschossene Saugpropfenpfeile, und mit Muskeln, die nicht mehr dem Willen gehorchten, sondern jener Schwäche, die fern bloßer Erschöpfung liegt, die so hypnotisch wirkt, daß es leichter ist, in ihr zu verharren als sich von ihr loszureißen, wieder einmal voller Wucht gegen etwas anrannte, an dem er nicht vorbeigekommen war, wieder einmal hart nach vorn auf Hände und Knie geworfen wurde, und so starrte er auf allen vieren, mit lechzendem, geschwollenem Gesicht, hinauf zu dem Mann und seiner Schrotflinte und sagte rauhhalsig: »Vicksburg? Wo ist Vicksburg?« Sogar als er davon erzählte, noch sieben Wochen später und in guter Hut, fest verankert und doppelt gesichert durch die zehn Jahre, die sie ihm wegen Fluchtversuchs zusätzlich aufgehalst hatten, trat abermals etwas von der alten ungläubigen Erbitterung in sein Gesicht, seine Stimme, seine Sprache. Er war überhaupt nie auf das andere Boot gelangt. Er erzählte, wie er sich an einem Laufsteg festgehalten hatte (es war ein verwahrlostes, ungestrichenes Hausboot mit einem betrunkenen, windschiefen Ofenrohr, und als er es rammte, hatte es sich in Fahrt befunden und offenbar nicht einmal den Kurs gewechselt, obwohl die drei Leute an Deck ihn schon seit langem gesehen haben mußten – der zweite Mann, der barfuß und dessen Haar und Bart verfilzt waren, stand ebenfalls am Ruder, und außerdem lehnte, wenn er auch nicht 64
wußte, wie lange schon, eine Frau in einem verdreckten Sammelsurium von Männerkleidern an der Kajütentür und betrachtete ihn ebenfalls kalt abschätzend) und gewaltsam mitgezogen wurde, wobei er sich verzweifelt bemühte, seine so einfachen und (für ihn wenigstens) einleuchtenden Wünsche klarzumachen; als er dies erzählte, zu erzählen versuchte, empfand er erneut die alte, unvergeßliche Demütigung gleich einem Schüttelfrost, während er lediglich wahrnahm, wie der störrische Tabak leise und unaufhaltsam zwischen seinen zitternden Händen hindurchrann und dann als Papier mit dünnem, trockenem Knall zerriß: »Meine Kleider verbrennen?« schrie der Sträfling. »Verbrennen?« »Wie zum Teufel woll’n Sie sich denn mit diesen Zebrastreifen da dünnemachen?« sagte der Mann mit der Schrotflinte. Er (der Sträfling) versuchte, es zu erzählen, zu erklären, so wie er es nicht nur den drei Leuten auf dem Hausboot hatte erklären wollen, sondern zugleich der ganzen Umgebung – dem trostlosen Wasser und den verlorenen Bäumen und dem Himmel –, nicht um sich zu rechtfertigen, denn das hatte er nicht nötig, da er wußte, daß seine Zuhörer, die andern Sträflinge, es nicht von ihm verlangten, sondern weit eher aus dem Gefühl eines Mannes, der im Zustand höchster Erschöpfung sich traumhaft und ungläubig gegen die Betäubung wehrt. Er erzählte dem Mann mit der Flinte, daß er und sein Kumpel in das Boot gesetzt worden seien, um einen Mann und eine Frau zu holen, daß er seinen Kumpel verloren und den Mann nicht gefunden habe und daß er jetzt 65
nur noch das eine wünsche, festen Boden zu finden, auf dem er die Frau absetzen könne, um dann einen Beamten, einen Sheriff aufzutreiben. Er dachte an zu Hause, an den Ort, wo er mehr oder weniger seit seiner Kindheit gelebt hatte, an seine alten Freunde, in denen er sich auskannte, so wie sie sich in ihm auskannten, an die vertrauten Felder, auf denen zu arbeiten er gelernt, gut gelernt hatte und die er liebte, an die Maulesel mit ihren Eigenheiten, die er verstand und die er achtete, ebenso wie er die Eigenheiten gewisser Menschen verstand und achtete; er dachte an die abendliche Baracke, die im Sommer Fliegenfenster gegen die Insekten und im Winter einen warmen Ofen hatte und in der man mit Brennstoff und Essen versorgt war; dachte an die sonntäglichen Fußballspiele und Filmvorführungen – lauter Dinge, von denen er, mit Ausnahme des Fußballs, nie zuvor etwas gewußt hatte. Am meisten aber dachte er an sich selbst (Vor zwei Jahren hatte man ihm angeboten, Vertrauensmann zu werden. Er hätte dann nicht mehr pflügen und das Vieh füttern müssen, hätte nur noch denen, die dies alles taten, mit einem geladenen Gewehr zu folgen brauchen, und doch lehnte er es ab. »Ich denk, ich bleib beim Pflügen«, sagte er ohne jeden Humor. »Hab schon einmal zuviel im Leben ’nen Schießprügel in die Hand genommen.«), an seinen guten Namen, an seine Verantwortung, nicht nur gegenüber sich selbst, an sein Ehrgefühl in der Erfüllung seiner Pflichten, an seinen Stolz, sie gut zu erfüllen, ganz gleich, worin sie bestanden. An dies alles dachte er, als er dem Mann mit der Flinte zuhör66
te, der von Flucht sprach, und während er sich festhielt und gewaltsam mitgezogen wurde (hier war es, sagte er, wo ihm zum erstenmal die moosigen Ziegenbärte an den Bäumen auffielen, obwohl diese natürlich schon seit Tagen dort sein mochten; sie waren ihm eben nicht eher aufgefallen), glaubte er, gleich platzen zu müssen. »Es will wohl nich in Ihren Schädel, daß ich auf alles, bloß nich aufs Durchbrennen scharf bin?« schrie er. »Sie können ja mit Ihrer Knarre danebensitzen un’ auf mich aufpassen; ganz wie Sie woll’n. Möcht weiter nichts, als die Frau – « »Hab ich nich gesagt, daß sie an Bord kommen kann?« sagte der Mann mit der Flinte unbeteiligt. »Aber auf mei’m Boot is’ kein Platz nich für einen, der ’nen Sheriff sucht, ganz egal in was für ’nem Anzug, un’ schon gar nich in so ’ner Zuchthauskombination.« »Schlag ihm die Flinte übern Schädel, wenn er an Bord kommt«, sagte der Mann am Ruder. »Der is’ ja besoffen.« »Der kommt mir nich an Bord«, sagte der Mann mit der Flinte. »Verrückt is’ der.« Dann sprach die Frau. Sie rührte sich nicht einmal, lehnte nur an der Tür, in verschossenen und geflickten und schmutzstarrenden Overalls wie die beiden Männer: »Gib ihnen etwas zu essen und sag ihnen, sie soll’n verschwinden.« Sie löste sich von der Tür und kam übers Deck und blickte kalt und mürrisch auf die Gefährtin des Sträflings herunter. »Wie lange ist’s denn noch hin?« 67
»Eigentlich war’s erst nächsten Monat fällig«, sagte die Frau im Boot. »Aber jetzt – « Die Frau in den Overalls wandte sich an den Mann mit der Flinte. »Gib ihnen was zu essen«, sagte sie. Doch der Mann mit der Flinte schaute noch immer hinunter auf die Frau im Boot. »Los«, sagte er zu dem Sträfling. »Bringen Sie die Frau an Bord un’ hau’n Sie ab.« »Was glaubst’n, was sie mit dir machen«, sagte die Frau in den Overalls, »wenn du sie bei der Polizei ablieferst? Wenn du bei ’nem Sheriff längsseits gehst un’ der Sheriff dich fragt, wer du bist?« Der Mann mit der Flinte sah sie noch immer nicht an. Unbeweglich hielt er die Flinte quer vor der Brust, als er mit dem Handrücken der Frau hart ins Gesicht schlug. »Du Dreckskerl«, sagte sie. Der Mann mit der Flinte sah sie noch immer nicht an. »Was is’ nun?« sagte er zu dem Sträfling. »Verstehen Sie denn nich, daß das nich geht?« schrie der Sträfling. »Sehn Sie’n das nich ein?« Da, so erzählte er, gab er es auf. Er war verdammt. Das heißt, daß ihm jetzt klar wurde, von Anfang an dazu verdammt gewesen zu sein, sie nie mehr loszuwerden, ebenso wie jene, die ihn mit dem Boot ausgeschickt hatten, sich darüber klar gewesen waren, daß er niemals aufgab; als er sah, daß eines der Dinge, welche die Frau in den Overalls ins Boot fallen ließ, eine Büchse Kondensmilch war, schien ihm dies ein Vorzeichen zu sein, so unverdient und unwiderruflich wie eine telegrafierte Todesanzeige, ein Vorzeichen dafür, daß er nicht einmal rechtzeitig ein Fleckchen 68
festen Bodens finden würde, auf dem das Kind geboren werden könnte. So erzählte er, wie er das Boot längsseits des Hausbootes festgehalten hatte, als das erste spielerische Tändeln der zweiten Woge unter ihm zu spüren war und die Frau in den Overalls zwischen Kajüte und Reling hin- und herging und etwas zu essen – einen Brocken Pöckelfleisch, eingetrocknete Fladen kalten Maisbrotes, die sie aus einer übervollen Pfanne in das Boot schüttete, als wären es Abfälle, und eine zerfetzte und schmuddelige Decke herunterwarf, während er sich, gegen den zunehmenden Druck der Strömung kämpfend, an den Laufsteg klammerte und die neue Woge vorübergehend vergaß, weil er noch immer versuchte, seine wahrlich harmlose Bitte begreiflich zu machen, bis der Mann mit der Flinte (der einzige von den dreien, der Schuhe trug) ihm auf die Hände trat und der Sträfling jedesmal eine Hand wegzog, um den schweren Stiefeln zu entgehen, dann wieder nach dem Laufsteg griff, bis der Mann mit der Flinte ihn ins Gesicht trat und er sich duckte, um dem Schuh auszuweichen, und dabei den Halt verlor und mit seinem Gewicht das Boot in die anwachsende Strömung drängte, so daß es das Hausboot weit hinter sich ließ, und abermals paddelte, verbissen paddelte, so wie ein Mann auf den Abgrund zuläuft, weil er nun endlich weiß, daß er verdammt ist; und er schaute zurück zu dem Hausboot, auf die drei mürrischen und höhnischen und rohen und schnell jenseits der sich weitenden Wasserfläche verschwindenden Gesichter, und schließlich hob er – nahe daran, den Verstand zu verlieren, fast erstik69
kend an der unerträglichen Wahrheit, nicht, daß man ihm etwas verweigert, sondern daß es so wenig war, was man ihm verweigert hatte, daß er so wenig gewollt, um so wenig gebeten hatte, und daß man ihm dafür den einzigen Preis aller Preise abverlangte, ohne den er (und das mußten sie gewußt haben), sofern er ihn überhaupt hätte bezahlen können, nicht gewesen wäre, wo er jetzt war, nicht um das gebeten hätte, worum er bat – das Paddel und schüttelte es und verfluchte sie kreischend, selbst dann noch, als die Schrotflinte aufblitzte und die Ladung neben dem Boot ins Wasser spritzte. Er erzählte, wie er dagehockt, das Paddel geschüttelt und gebrüllt hatte, als er sich plötzlich der andern Woge erinnerte, jener zweiten Wasserwand, die sich, gemästet mit Häusern und toten Mauleseln, hinter ihm im Sumpf erhob. Da hörte er auf zu schreien und begann, wieder zu paddeln. Er versuchte nicht, ihr zu entgehen. Er wußte jetzt aus Erfahrung, daß er, auch wenn sie ihn einholte, in derselben Richtung weiter mußte, ob er nun wollte oder nicht, und wenn sie ihn einholte, würde sie ihn zu schnell mitreißen, als daß er dann noch irgendwo anlegen könnte, einerlei, was für Möglichkeiten sich ihm böten, die Frau abzusetzen, rechtzeitig an Land zu bringen. Die Zeit: sie war jetzt sein Stachel, und so hatte er keine andere Wahl, als vor der Woge herzuhasten, solange er konnte, und zu hoffen, daß er irgendein Ziel erreichte, ehe sie sich auf ihn stürzte. Und so paddelte er fort und fort, trieb das Boot voran mit Muskeln, die schon lange so ausgemergelt waren, daß sie nichts mehr spürten – gleich 70
einem Mann, der so lange Pech gehabt hat, daß er es gar nicht mehr für Pech hält. Sogar als er aß – diese eingetrockneten, baseballgroßen Fladen, die noch immer das Gewicht und die Dauerhaftigkeit von Steinkohlen hatten, obwohl sie bereits geraume Zeit im Bauch des Bootes gelegen hatten, in den die Frau von dem Hausboot sie hatte fallen lassen, diese eisenharten, bleischweren Dinger, die kein Mensch als Maisbrot erkannt hätte, wenn sie ihm nicht in der verkrusteten und noch heißen Pfanne, in der sie gebacken waren, gezeigt worden wären –, tat er es nur mit einer Hand und gönnte sich selbst dies des Paddelns wegen nicht. Auch dies versuchte er zu erzählen: von jenem Tag, als das Boot zwischen den bärtigen Bäumen dahinfloh, während immer wieder kleine, lautlose, sich aus der Woge hinter ihm vortastende Fühler zu spüren waren, die mit dem Boot spielten, tändelnd und neugierig, dann mit leisem, zischendem Seufzer sanft kichernd wegsackten, und das Boot weiterflog und nichts zu sehen war außer Bäumen und Wasser und Einsamkeit: bis er bald nicht mehr das Gefühl hatte, Raum und Abstand hinter sich zu vergrößern oder Raum und Abstand vor sich zu verkleinern, sondern samt der Woge schwebend und verharrend in der reinen Zeit zu hängen, über einer traumhaften Wüstenei, durch die er paddelte, nicht in der Hoffnung, irgendwohin zu gelangen, sondern lediglich, um den kleinen Abstand aufrechtzuerhalten, den die Länge des Bootes zwischen ihm und der trägen, unausweichlichen Masse weiblichen Fleisches geschaffen hatte; dann war wieder Nacht, und das Boot glitt 71
schnell dahin, schnell, weil jede Bewegung über unbekanntes und unsichtbares Gebiet zu schnell erscheint, und er hatte nichts vor sich, und hinter sich bloß die bestürzende Vorstellung über ihn hereinbrechenwollenden Wassers, dessen Kamm gleich Fangzähnen schaumig und gezackt war, und dann eine neue Morgendämmerung (wieder einer jener traumhaften Wechsel vom Tag zur Nacht und wieder zum Tag mit jener anachronistischen, unwirklichen Zeitrafferatmosphäre des zunehmenden und abnehmenden Lichts auf einer Theaterszene), in der das Boot langsam an Konturen gewann und die Frau nicht länger wie tot unter dem geschrumpften, nassen Militärmantel lag: sie saß vielmehr bolzengerade und umkrampfte mit beiden Händen die Dollborde, die Augen geschlossen und die Zähne in die Unterlippe verbissen, und da paddelte er gleich einem Wahnsinnigen mit der zersplitterten Latte und stierte sie aus seinem verwüsteten, verschwollenen, schlaflosen Gesicht an und schrie und krächzte: »Durchhalten! Um Gottes willen durchhalten!« »Tu was ich kann«, sagte sie. »Aber machen Sie schnell! Schnell!« Und er erzählte alles, das Unglaubliche: schnell, schnell: man sage einem Mann, der von einem Felsen stürzt, er solle sich irgendwo festhalten und retten; allein das Berichten darüber wirkte schattengleich und burlesk, lächerlich, komisch und irr, und die Szene tauchte aus dem Schüttelfrost unerträglichen Vergessens traumhaft und grausiger auf als jedes Drama im Rampenlicht. Er befand sich jetzt in einem Becken – 72
»Einem Becken?« sagte der dicke Sträfling. »So eines, in dem man sich wäscht?« »Stimmt«, sagte der Große rauh, über die Hände gebeugt. »Hab mich ja auch drin gewaschen.« Mit äußerster Anstrengung konnte er sie lange genug stillhalten, um die beiden Fetzen Zigarettenpapier loszulassen und ihnen nachzusehen, wie sie in schwebender, flatternder Unentschlossenheit zwischen seinen Füßen zu Boden trudelten, ja er konnte die Hände sogar noch eine Sekunde länger stillhalten –, in einem Becken, einem breiten, friedvollen, lehmgelben See von unmittelbarem und seltsam geordnetem Aussehen, so daß der Sträfling im selben Augenblick den Eindruck gewann, dieser See sei an Wasser gewohnt, wenn nicht gar an riesige Überschwemmungen; er erinnerte sich sogar noch an den Namen, den ihm einige Wochen später jemand gesagt hatte: Atchafalaya – »In Louisiana also?« sagte der dicke Sträfling. »Willst du damit behaupten, daß du bereits aus Mississippi raus warst? Verdammt!« Er glotzte den Großen an. »Quatsch«, sagte er. »Das ist doch nicht in der Nähe von Vicksburg.« »Dort, wo ich war, ham sie überhaupt nie von Vicksburg gesprochen«, sagte der Große. »Nur von Baton Rouge.« Und dann erzählte er von einer Stadt, einer kleinen, sauberen weißen Bilderbuchstadt, die sich zwischen hohen, sattgrünen Bäumen duckte und die in seiner Geschichte ebenso unerwartet auftauchte wie wahrscheinlich in Wirklichkeit, gleich einer Fata Morgana, schnell und leicht und unsagbar heiter hinter 73
einem Gewirr von Booten, die an einem bis zu den Türen im Wasser stehenden Güterzug vertäut waren. Und nun versuchte er auch das zu erzählen: wie er hüfttief im Wasser stand und noch einmal zu dem Boot zurückblickte, in dem die Frau lag, mit geschlossenen Augen, weiß die Knöchel am Dollbord, und mit dem Blutfaden, der von der zerbissenen Lippe über ihr Kinn lief – und sie anschaute in ohnmächtiger Verzweiflung. »Wie weit muß ich gehn?« sagte sie. »Weiß nich«, schrie er. »Aber irgendwo da hinten is’ Land! Land, Häuser!« »Wenn ich mich vom Fleck rühre, wird’s nich mal in ’nem Boot gebor’n werden«, sagte sie. »Sie müssen näher ran.« »Ja«, schrie er ungestüm, ungläubig, verzweifelt. »Warten Sie. Ich geh hin und stelle mich, dann müssen die Sie – « Er vollendete den Satz nicht, wartete gar nicht erst, um ihn zu vollenden; und auch das erzählte er: wie er platschte und stolperte und schluchzend und keuchend zu laufen versuchte; und dann sah er es – die Laderampe über der gelben Flut und Khakigestalten wie jene damals, genau die gleichen; er erzählte, wie die dazwischenliegenden Tage seit jenem ersten, unschuldigen Morgen schrumpften, verschwanden, als wären sie nie gewesen, erzählte von den beiden folgenden Augenblicken (folgenden? gleichzeitigen), mit denen sich das Durchqueren des dazwischenliegenden Raumes aufgehoben und er sich lediglich in seinen eigenen Fußspuren umgedreht hatte, platschend und plumpsend, mit erhobenen Armen und heiser kräch74
zend. Er hörte den erstaunten Ruf. »Da ist einer von denen!«, dann den Befehl, das Waffengeklirr und Alarmgebrüll: »Dort geht er! Dort geht er!« »Ja!« schrie er und hastete und platschte. »Hier bin ich! Hier! Hier!« und hastete weiter, hinein in die erste verstreute Salve und blieb zwischen den schwirrenden Kugeln stehen und schwenkte die Arme und kreischte, »Ich will mich stell’n! Ich will mich stell’n!« und sah, nicht in Angst, sondern in verwunderter und quälender Verbitterung, wie ein Klumpen hockender Khakigestalten auseinanderstob, und dann sah er das Maschinengewehr, sah die plumpe, grobe Mündung sich senken und heben und auf ihn richten, und er kreischte noch immer mit heiserer Krähenstimme, »Ich will mich stell’n! Hört ihr denn nich?« und kreischte noch immer, als er herumschnellte und sich platschend duckte und untertauchte und, tack-tacktack, die Kugeln übers Wasser schnalzen hörte, während er auf dem Grund dahinkroch und noch immer zu kreischen versuchte, obwohl er noch immer untergetaucht war bis auf sein unverkennbares Hinterteil, und versuchte, das empörte Kreischen auszustoßen, bevor er überhaupt auf die Füße kam, ein Kreischen, das in blubbernden Blasen aus seinem Mund quoll: er wollte nichts weiter, als sich stellen. Hier war er verhältnismäßig sicher, war nicht mehr im Schußfeld, wenn auch nicht für lang. Denn (er erzählte nicht wie oder wo) dann mußte er einen Augenblick einhalten, mußte Atem holen, ehe er wieder loslief, die Strecke zum Boot zurück, die gerade unbehelligt war, wenn er auch noch immer Rufe hinter sich hörte und hie 75
und da einen Schuß, und er keuchte und schluchzte und hatte einen langen, tiefen Riß in der Hand, von dem er nicht wußte, wann oder wie er in sich zugefügt hatte, und er verschwendete kostbaren Atem daran, ins Nichts hineinzusprechen, gleich dem sterbenden Kaninchen, dessen Schrei sich weniger an sterbliche Ohren richtet, sondern eher eine Anklage allen Atems und seiner Torheiten und Leiden ist, seiner unerschöpflichen Gabe zur Torheit und zum Schmerz, die seine einzige Unsterblichkeit zu sein scheint: »Ich möchte doch, um alles in der Welt, nichts anderes als mich stell’n.« Er kehrte zum Boot zurück und stieg ein und nahm die zersplitterte Latte wieder auf. Und jetzt, als er davon erzählte, war es (das Erzählen), trotz dem alles übertreffenden Aufruhr des Elements, ganz einfach; er faltete nun sogar erneut ein Zigarettenpapier zwischen den Fingern, die nicht mehr zitterten, und füllte das Papier aus dem Tabaksbeutel, ohne eine Krume zu verschütten, als wäre er aus dem Maschinengewehrfeuer in eine Oase eingekehrt, die sich nicht mehr fassen ließ: und so erreichte der nächste Teil seines Berichts die Zuhörer wie von jenseits eines leicht milchigen und doch noch durchsichtigen Glases, erreichte sie stumm und doch sichtbar – konturenlose und dennoch klar erkennbare Silhouetten, sanft dahinfließend, logisch und ruhig und lautlos: Sie saßen im Boot, inmitten des breiten, friedlichen Beckens, das keine Grenzen kannte und in dem das winzige, verlorene Boot der unbezwingbaren Gewalt einer Strömung entgegenfloh, von der er wieder einmal 76
nicht wußte, wohin sie zog, und die sauberen kleinen eichenbeschatteten Städte hingen unerreichbar gleich einer Fata Morgana im Nichts über dem durchsichtigen und sich nicht verändernden Horizont. Er traute ihnen nicht, sie kümmerten ihn nicht, er war ja verdammt; sie waren für ihn weniger als Rauchgebilde oder Hirngespinste, und er führte sein nimmer ruhendes Paddel jetzt ohne Ziel und ohne Hoffnung und schaute nur ab und zu auf die Frau, die mit angezogenen, zusammengepreßten Knien und mit völlig verkrampftem Körper vor ihm saß, während ihr Fäden blutigen Speichels aus der zerbissenen Unterlippe rannen. Er fuhr nirgendwohin und floh vor nichts, er paddelte nur weiter, weil er nun schon so lange gepaddelt hatte, daß er sich einbildete, wenn er aufhörte, müßten seine Muskeln vor Schmerzen schreien. Darum war er nicht einmal überrascht, als es geschah. Er vernahm das Rauschen, das er so gut kannte (er hatte es doch erst ein einzigesmal vernommen, aber kein Mensch kann sich wünschen, es auch nur ein einziges Mal zu vernehmen), und das er sogar erwartet hatte; er blickte, immer noch paddelnd, zurück und sah sie, eingerollt und gekrönt von den strohhalmleicht schwimmenden Bäumen und von Treibgut und von toten Tieren, und er schaute gut eine Minute über die Schulter zurück, tat es aus jener Schwäche, die fern der Wut liegt, und selbst das Leiden, die Fähigkeit, noch länger gedemütigt zu werden, hatte aufgehört, und aus dieser Schwäche heraus erwog er mit wahnwitziger und unverwundbarer Neugier, wieviel die betäubten Nerven wohl 77
noch zu ertragen vermöchten und welche Prüfung als nächste für sie ausgedacht würde – und da erhob sich die Woge grollend über seinem Kopf. Jetzt erst wandte er den Kopf ab. Sein Paddelschlag blieb gleichmäßig, ging weder schneller noch langsamer; er paddelte noch immer in erschöpftem, hypnotischem Takt, als er den schwimmenden Hirsch sah. Er wußte nicht, was es war, und auch nicht, daß er den Kurs des Bootes geändert hatte, um ihm zu folgen, er beobachtete lediglich den schwimmenden Kopf, als die Woge sich duckte und das Boot, wie er es nun schon kannte, auf ihr Floß aus entwurzelten Bäumen und Häusern und Brücken und Zäunen hob, doch er paddelte noch immer, obwohl das Paddel keinen Widerstand mehr fand außer dem der Luft, paddelte sogar noch, als er und der Hirsch Seite an Seite, auf Armeslänge voneinander entfernt, vorwärtsstürmten, und er beobachtete den Hirsch und beobachtete, wie der Hirsch plötzlich aus den Wellen aufstieg und auf dem Wasserspiegel dahinlief, sich höher und höher erhob und schließlich völlig vom Wasser losriß und aufwärts verschwand in einem absterbenden Crescendo von Plätschern und knackenden Zweigen, beobachtete, wie sein nasser Wedel aufblitzte und das Tier aufwärts verschwand gleich einer Rauchwolke. Und nun schleifte das Boot und lief auf, und jetzt stand auch er draußen, stand knietief und sprang und fiel und rappelte sich wieder auf und starrte hinter dem entschwundenen Hirsch her. »Land!« rief er heiser. »Land! Durchhalten! Durchhalten!« Er packte die Frau unter den Armen und zog sie aus dem Boot und stolperte und keuchte 78
hinter dem entschwundenen Hirsch her. Und da tauchte tatsächlich Erde vor ihm auf – eine lehmige und glatte und steile Böschung, bizarr, fest und unfaßlich, ein Indianerdamm; und er stolperte den glitschigen Abhang hinauf, rutschte zurück, und die Frau in seinen glitschigen Händen wehrte sich mit Händen und Füßen. »Loslassen!« schrie sie. »Loslassen!« Doch er hielt sie fest und stürzte keuchend und schluchzend den glitschigen Hang hinauf; er hatte mit der kaum noch zu bewältigenden Last fast die Kuppe erreicht, als sich ein Knüppel unter seinem Fuß dick und zuckend zusammenrollte. Eine Schlange, dachte er, als sein Fuß ausglitt und er mit letzter Kraft die Frau die Böschung hinaufstieß, ja geradezu schleuderte, ehe er mit den Beinen voraus in das Element zurückglitt, in dem er nun mehr Tage und Nächte gelebt hatte, als er sich erinnern konnte, und dem er überhaupt nicht ganz entstiegen war; man hätte denken können, sein erschöpfter und versagender Leib wolle um jeden Preis den unbändigen, unerschütterlichen Willen zur Trennung von jener Bürde ausführen, zu der er, ohne es zu wissen und zu wollen, verdammt worden war, und sollte er dabei auch ertrinken. Später schien es ihm, als hätte er in die Tiefen des Wassers etwas mit sich hinuntergenommen: des Kindes ersten wimmernden Schrei.
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Viertes Kapitel
Die Frau fragte ihn, ob er ein Messer habe, als er vor ihr stand in triefendem Drillzeug, auf das nun schon zum zweitenmal mit einem Maschinengewehr ge schossen worden war, beide Male, als er endlich Menschen gesehen, seitdem er vor vier Tagen den Deich verlassen hatte, und bei dieser Frage kam er sich genauso vor wie damals in dem dahinschnellenden Boot, da die Frau ihn gebeten hatte, sich zu beeilen. Wiederum empfand er empört, wie grotesk dies jeder Vernunft ins Gesicht schlug, und wiederum empfand er empört die Ohnmacht, eine Antwort darauf zu finden; so daß er, als er ganz erschöpft und halb erstickt und gurgelnd vor ihr stand, eine volle Minute brauchte, um zu begreifen, was sie rief. »Die Büchse! Die Büchse im Boot!« Er begriff nicht einmal, was sie damit wollte; er überlegte es sich auch gar nicht, er fragte weder, noch blieb er stehen. Er drehte sich um und eilte davon; diesmal dachte er Schon wieder ’ne Mokassinschlange, als sich der feiste Leib in jenem widerlichen Reflex zusammenzog, der nicht dem Erschrecken entsprang, sondern allein der Wachsamkeit, und er (der Sträfling) wich nicht einmal aus, obwohl er wußte, daß sich sein eilender Fuß kaum einen Meter neben dem flachen Kopf befand. Der Bug des Bootes klebte an der Böschung, wo die Woge es 81
abgesetzt hatte, und soeben glitt eine Schlange übers Heck hinein, und als er sich nach der Konservenbüchse bückte, sah er etwas auf den Damm zuschwimmen – einen Kopf, ein Gesicht an der Spitze eines V’s aus sich kräuselnden, kleinen Wellen. Er schnappte sich die Büchse; und da sie nun einmal so dicht am Wasser lag, füllte er sie und kehrte sofort um. Und wieder sah er den Hirsch – falls es derselbe war. Jedenfalls sah er einen Hirsch – ein flüchtiger Blick, ein helles, rauchfarbenes Phantom zwischen den Zypressen, dann verschwunden, fort –, doch er blieb nicht stehen, um ihm nachzusehen, sondern rannte zurück zu der Frau und kniete nieder und hielt ihr die Büchse an die Lippen, bis sie ihn eines Besseren belehrte. Die Büchse hatte einmal Bohnen oder Tomaten oder so etwas enthalten, war luftdicht verschlossen gewesen und mit vier Axtschlägen geöffnet worden, und nun war der Blechdeckel zurückgebogen und der gezackte Rand rasiermesserscharf. Sie sagte ihm, wie er es machen mußte, und er verwendete den Deckel an Stelle eines Messers und zog einen seiner Schuhnestel heraus und schnitt ihn an dem scharfen Blech durch. Dann wollte sie warmes Wasser – »Hätt ich nur’n bißchen heißes Wasser«, sagte sie mit schwacher, gleichmütiger Stimme, sagte es ohne viel Hoffnung, aber bei dem Gedanken an Streichhölzer empfand er wieder das gleiche wie vorhin, als sie nach einem Messer gefragt hatte, doch dann fingerte sie in die Tasche des geschrumpften Militärmantels (auf der einen Manschette befand sich ein dunkles doppeltes V und auf der Schulter ein dunkler Fleck, wo die 82
Dienstzeittressen und ein Divisionszeichen abgetrennt worden waren, aber das sagte ihm gar nichts) und zog eine Streichholzschachtel heraus, die beim Auseinanderschieben zwei Patronenhülsen freigab. So schleifte er die Frau ein Stück vom Wasser zurück und ging, trockenes Holz zu suchen, und diesmal dachte er Is’ nur wieder ’ne Schlange, aber eigentlich, erzählte er, hätte er denken müssen, zehntausend Schlangen: Und nun wußte er auch, daß es nicht derselbe Hirsch war, weil er drei auf einmal sah, allerdings – ob Hirsche oder Hindinnen, vermochte er nicht zu sagen, da sie jetzt im Mai keine Geweihe trugen und er außerdem nie welche gesehen hatte außer auf einer Weihnachtspostkarte; und dann das Kaninchen, ertrunken, tot jedenfalls, bereits aufgerissen, und darüber der Vogel, der Habicht – das gesträubte Kopfgefieder, die harte, grausame Patriziernase, das gnadenlose, alles verschlingende gelbe Auge –, und er trat nach ihm, trat ihn, bis er taumelnd und mit breiten Schwingen in die Lüfte stob. Als mit dem Holz und dem toten Kaninchen zurückkehrte, lag das Baby, in den Militärmantel gewickelt, eingekeilt zwischen zwei Zypressenstümpfen, doch die Frau war nirgends zu sehen, aber als sich der Sträfling in den Schlamm kniete und die magere Flamme blasend anfachte, kam sie langsam und schwankend vom Wasser her. Dann war das Wasser endlich heiß, und auf einmal hatte sie – er erfuhr nie woher, und vielleicht wußte auch sie nicht woher, bis sie es brauchte, vielleicht weiß das eine Frau nie, nur würde sich eine Frau nie darüber wundern – ein 83
viereckiges Zwischending von Sackleinwand und Seide; und er hockte neben ihr, und seine feuchten Kleider dampften in der Hitze des Feuers, und er sah mit unersättlicher Neugier zu, mit einer Anteilnahme, die sich zum erstaunten Unglauben wandelte, wie sie das Kind badete, und dann stand er über den beiden und blickte hinunter auf die winzige terrakottafarbene Kreatur, die nichts glich, und dachte Das ist also alles. Das war es, was mich mit Gewalt von allem getrennt hat, das mir je vertraut war und das ich nicht verlassen wollte, und mich in ein Element warf, das zu fürchten ich geboren bin, und das mich schließlich an einem Ort absetzte, den ich nie zuvor gesehen und an dem ich überhaupt nicht weiß, wo ich bin. Dann kehrte er zum Wasser zurück und füllte die Büchse abermals. Es ging auf Sonnenuntergang zu (oder vielmehr auf das, was Sonnenuntergang gewesen wäre ohne diese dichten, unbesiegbaren Wolken), den Sonnenuntergang eines Tages, an dessen Morgen er sich nicht einmal mehr erinnern konnte; als er dorthin zurückkehrte, wo das Feuer in einem verflochtenen Dämmer der Zypressen flackerte, war der Abend während seiner kurzen Abwesenheit hereingebrochen, wie wenn auch die Dunkelheit auf diesem viertelmorgengroßen Damm Zuflucht gesucht hätte, auf jener alttestamentarischen Arche Noah aus Erde, auf dieser düsteren, feuchten, zypressenverdunkelten, lebensstrotzenden, zusammengedrängten Einöde, von deren Lage und Entfernung zu irgend etwas er genauso wenig wußte wie vom Datum dieses Tages, und mit dem Untergang der Sonne war das Dunkel wei84
tergekrochen und hatte sich auch über die Wasser gesenkt. Er kochte die einzelnen Stücke des Kaninchens nacheinander, während das Feuer in der Finsternis röter und röter leuchtete und die scheuen, wilden Augen kleiner Tiere – und einmal auch der runde, warme, beinahe tellergroße Blick eines Hirsches – aufglühten und verschwanden und wieder aufglühten, und nach den vier langen Tagen war die Fleischbrühe für sie heiß und fett; er glaubte, seinen Speichel wässern zu hören, als er die Frau anstierte, wie sie die erste Büchse ausschlürfte. Dann trank auch er; dann aßen sie die auf den Weidenzweigen verkohlten und ausgedörrten einzelnen Stücke; es war Nacht. »Sie schlaf ’n am besten im Boot mit ihm«, sagte der Sträfling. »Wir woll’n morgen früh gleich weiter.« Er schob den Bug des Bootes etwas zurück, damit es eben liege, und verlängerte die Leine mit einer Weinranke, kehrte dann zum Feuer zurück und band sich die Weinranke ums Handgelenk und legte sich nieder. Es war Schlamm, auf dem er lag, aber es war etwas Festes unter ihm, es war Erde, die sich nicht bewegte; wenn man auf ihr stürzte, brach man sich womöglich die Knochen an ihrer beharrlichen Geduld, aber sie zog einen wenigstens nicht verschlingend und erstikkend und körperlos hinunter und hinunter und hinunter; manchmal war es zwar schwer, einen Pflug auf ihr zu führen, und dann schickte sie einen bei Sonnenuntergang erschöpft und müde und fluchend über ihre tagelangen unersättlichen Forderungen zurück in den Bettkasten, aber sie riß einen wenigstens nicht mit Gewalt aus der vertrauten Umgebung heraus, um 85
einen über viele Tage weg sklavisch und ohnmächtig und ohne jede Wiederkehr mitzuschleppen. Ich weiß nicht, wo ich bin, und ich glaube auch nicht, daß ich den Weg dorthin zurück weiß, wohin ich möchte, dachte er. Aber immerhin hat das Boot nun lange genug festgelegen, um mir die Chance zu geben, es umzudrehen. Er erwachte bei Tagesanbruch, bei zartem Licht und narzißgelbem Himmel; es würde ein schöner Tag werden. Das Feuer war heruntergebrannt; auf der andern Seite der erkalteten Asche lagen drei Schlangen regungslos und parallel wie unterstreichende Striche, und aus dem schnell steigenden Licht wuchsen weitere Schlangen hervor: die Erde, die noch einen Augenblick zuvor bloß Erde gewesen war, zerfiel nun in starre Rollen und Schlingen, und die Äste, die einen Augenblick zuvor bloß Äste gewesen, wurden jetzt zu unbeweglichen Schlangengirlanden, und der Sträfling erhob sich und dachte nach, was er zu essen kochen, was er heiß machen könne, bevor sie aufbrächen. Aber dann entschloß er sich anders, entschloß sich, nicht so viel Zeit zu verschwenden, da im Boot noch ein paar von den steinernen Fladen lagen, die ihnen die Frau vom Hausboot heruntergeworfen hatte, und außerdem (so dachte er) konnte er noch so bald und erfolgreich auf die Jagd gehen, er wäre ja doch nie fähig, genug Proviant zusammenzubringen, um dorthin gelangen zu können, wo sie hinwollten. Darum ging er zum Boot, ließ sich von der Weinranke dorthin führen, zurück zum Wasser, über dem ein dicker Nebel wie Baumwollwatte lag (wenn auch offensichtlich nicht hoch, nicht tief), und im Nebel ver86
schwamm das Heck des Bootes, obwohl es mit dem Bug fast an den Damm stieß. Die Frau wachte auf und rührte sich. »Geht’s weiter?« fragte sie. »Ja«, sagte der Sträfling. »Oder woll’n Sie etwa heut morgen noch mal eins kriegen?« Er stieg ein und stieß das Boot ab, und das Land verschwand unverzüglich im Nebel. »Geben Sie mir das Ruder«, sagte er über die Schulter, ohne sich umzudrehen. »Das Ruder?« Er wandte den Kopf. »Das Ruder. Sie liegen doch drauf.« Aber sie lag nicht darauf, und einen Augenblick lang, während der Damm, die Insel, langsam in den Nebel zurückglitt und dieser das Boot in schwereloser und nicht greifbarer Wolle zu umschließen schien gleich einem kostbaren oder zerbrechlichen Spielwerk oder Juwel, saß der Sträfling nicht bestürzt da, sondern in der wahnsinnigen und erstaunten Empörung eines Mannes, der soeben einem stürzenden Geldschrank entgangen ist und nun getroffen wird von dem fünfzig Gramm schweren Papier, das darauf gelegen hatte: und dies war ihm um so unerträglicher, weil er nie im Leben weniger Zeit gehabt hatte. Er zögerte nicht. Er nahm die Weinranke und sprang ins Wasser, verschwand plumpsend und senkrecht, tauchte senkrecht wieder auf und (er, der nie schwimmen gelernt hatte) schlug und schlegelte sich auf den fast verschwundenen Damm zu, erst durchs Wasser, dann auf dem Wasser wie gestern der Hirsch, dann krabbelte er den glitschigen Abhang hinauf und lag japsend und jachernd und umklammerte noch immer die Weinranke. 87
Als erstes suchte er sich den seiner Meinung nach günstigsten Baum aus (obwohl er wußte, daß er verrückt war, dachte er einen Augenblick daran, ihn mit dem Deckel der Konservendose abzusägen) und machte unten am Stamm ein Feuer. Dann ging er auf Nahrungssuche. Damit verbrachte er die nächsten sechs Tage, und währenddessen brannte der Baum durch und stürzte und brannte dann wiederum in der passenden Länge durch, und nun schürte der Sträfling die kleinen, gleichmäßigen, zierlichen Flammen an den Seiten des Balkens, um ihm die Form eines Paddels zu geben, schürte sie auch bei Nacht, wenn die Frau und das Baby (es trank jetzt, wurde genährt, und sobald sie sich anschickte, den verschlossenen Militärmantel zu öffnen, kehrte er ihr jedesmal den Rücken oder ging in den Wald) im Boot schliefen. Er lernte es, auf die niederschießenden Habichte zu achten, und fand dadurch noch mehr Kaninchen und zweimal auch Beutelratten; sie aßen tote Fische, von denen sie anfangs einen Hautausschlag und dann heftigen Durchfall bekamen, und einmal auch eine Schlange, von der die Frau sich einbildete, es sei eine Schildkröte, und die ihnen durchaus bekam, und eine Nacht regnete es, und er stand auf und schaffte Astwerk herbei und verscheuchte die Schlangen daraus (er dachte schon längst nicht mehr Is’ nur wieder ’ne Mokassinschlange, sondern trat nur zur Seite, so wie sie sich zu ihrer Zeit vor ihm grämlich zusammenrollten) in dem gewohnten Gefühl persönlicher Unverwundbarkeit und baute ein Schutz88
dach, und da hörte der Regen unversehens auf und setzte nicht wieder ein, und die Frau kehrte zum Boot zurück. Und dann kam eine Nacht – das langsam und langwierig verkohlende Holz hatte schon fast die Form eines Paddels –, und er lag bereits im Bett, in seinem Bett in der Baracke, und es war kalt, und er wollte die Decken hochziehen, aber sein Maulesel ließ es nicht zu und stupste und stieß dauernd nach ihm und wollte zu ihm in das schmale Bett, und dann war auch das Bett kalt und naß, und er wollte aufstehen, aber der Maulesel ließ es nicht zu und hielt ihn mit den Zähnen am Gürtel fest und zog und stieß ihn zurück in das kalte, nasse Bett und streckte sich vor und leckte ihm mit kalter, weicher, kräftiger Zunge übers Gesicht, und da erwachte er, und das Feuer war erloschen, und nicht einmal Glut schwelte unter dem nahezu vollendeten Paddel, und wieder glitt etwas Langes und Kaltes und Weiches über seinen Körper, der zehn Zentimeter tief im Wasser lag, und der Bug des Bootes zerrte unablässig an der um seine Taille gewundenen Weinranke und ruckte und riß ihn immer wieder ins Wasser zurück. Dann kam etwas anderes daher und knabberte an seinem Knöchel (es war das Brett, das Ruder), und er tastete sich gehetzt auf das Boot zu und hörte bereits das huschende Rascheln aus dem Bootsinnern, und da schlug die Frau auch schon um sich und kreischte. »Ratten!« schrie sie. »Alles voller Ratten!« »Nich bewegen!« schrie er. »Das sin’ bloß Schlangen. Können Sie’n nich solange stillhalten, bis ich das Boot gefunden hab?« Dann fand er es und stieg mit 89
dem unvollendeten Paddel ein; wieder zuckte ein dicker, muskulöser Leib unter seinem Fuß; aber er (der Leib) griff nicht an; und der Sträfling kümmerte sich auch gar nicht darum, sondern blickte achteraus, wo er noch am ehesten etwas erkennen konnte – das matte Licht des offenen Wassers. Er trieb das Boot darauf zu, stieß die schlangenumwundenen Äste weg, und der Boden des Bootes hallte schwach von festen, dumpfen Plumpsen wider, und die Frau kreischte ohne Unterlaß. Dann war das Boot frei von schattenden Bäumen und dem Damm, und jetzt spürte er die Leiber um seine Knöchel schlagen und hörte das schleifende Schaben, als sie über das Dollbord glitten. Er nahm das Brett und schaufelte damit über den Boden und hob es hoch und hielt es über Bord; auf dem Hintergrund des fahlen Wassers sah er drei weitere Vipern in peitschenden Konvulsionen, ehe sie seiner Sicht entschwanden. »Ruhe!« schrie er. »Maul halten! Mir wär’s auch lieber, ich war ’ne Schlange un’ könnt hier raus.« Als die blasse und wärmelose Oblate der frühen Sonne in ihrem Strahlenkranz feiner Baumwolle ins Boot leuchtete (ob sie überhaupt vorwärtskamen, wußte der Sträfling nicht), vernahm der Sträfling wieder jenes Rauschen, das er nun schon zweimal vernommen hatte und nie vergessen würde – dieses Rauschen wohlüberlegten und unaufhaltbaren und bis auf den Grund aufgestörten Wassers. Aber diesmal hätte er nicht zu sagen vermocht, aus welcher Richtung es kam. Es schien überall zu sein, schien anzuschwellen und anzuschwellen; es glich einem Phan90
tom hinter der Nebelwand, jetzt Meilen fern, dann so nah, als wollte es in der nächsten Sekunde das Boot überrollen; und in dem Augenblick, als er glaubte (ermattet der Körper, nahe am Zerspringen und Aufschreien), er fahre geradenwegs hinein mit diesem unvollendeten Paddel von der Farbe und Beschaffenheit rußiger Backsteine, diesem zwanzig Pfund schweren Paddel, das Biber aus einem alten Schornstein hätten herausgenagt haben können, riß er kopflos das Boot herum, und da stand es genau vor ihm. Dann bellte es gräßlich über seinem Kopf, und er hörte menschliche Stimmen, und eine Glocke läutete, und dann verstummte sie, und der Nebel zerriß, als striche eine Hand über beschlagene Fensterscheiben, und da lag das Boot auf sonnenglitzerndem braunem Wasser querab von einem etwa dreißig Meter entfernten Dampfer. Auf dem Deck drängten sich Männer und Frauen und Kinder, die zwischen armseligen Haufen eilends zusammengerafften Hausrats saßen oder standen und schweigend und schwermütig auf das Boot herunterstarrten, während der Sträfling und der Mann mit dem Megaphon vorm Ruderhaus über dem Schuffeln der rückwärtslaufenden Maschinen sich gegenseitig in dünnem Schreien und Brüllen zuriefen. »Was zum Kuckuck machen Sie denn hier? Sind Sie auf Selbstmord aus?« »Wo geht’s nach Vicksburg?« »Vicksburg? Vicksburg? Kommen Sie längsseits, nehme Sie an Bord.« »Das Boot auch?« 91
»Das Boot? Das Boot?« Jetzt fluchte das Megaphon in röhrenden Wellen der Blasphemie und des biologischen Einmaleins, fluchte so leer und höhlenartig und körperlos, als hätten das Wasser und die Luft und der Nebel sie gesprochen, und es brüllte die Worte heraus und sagte sie wieder zurück, und so war kein Unrecht getan, keine Wunde, keine Beleidigung zugefügt. »Wenn ich jede schwimmende Sardinenbüchse an Bord nehmen wollte, wie ihr verdammten Bisamratten euch das vorstellt, dann hätt ich da vorn nicht mal Platz für den Mann mit dem Lot. Kommen Sie an Bord! Glauben Sie, ich lasse meine Maschinen rückwärtslaufen und klebe hier fest, bis die Hölle einfriert?« »Ich komme nich ohne das Boot«, sagte der Sträfling. Jetzt sprach eine andere Stimme, sprach so ruhig und sanft und verständig, daß es anfangs noch fremder und unangebrachter klang als das Bellen und körperlose Fluchen des Megaphons: »Wo wollen Sie denn hin?« »Ich will nich nur«, sagte der Sträfling, »ich komme auch hin: Parchman.« Der Mann, der zuletzt gesprochen hatte, drehte sich um und verhandelte mit einem dritten Mann im Ruderhaus. »Carnarvon?« »Was?« sagte der Sträfling. »Parchman?« »Schon gut. In die Gegend wollen wir auch. Wir setzen Sie irgendwo ab, von wo aus Sie heimkönnen. Kommen Sie an Bord.« »Mit dem Boot?« »Jaja. Kommen Sie. Wir verbrauchen hier für unsere Unterhaltung bloß unnütz Kohle.« So ging der Sträf92
ling längsseits und verfolgte, wie sie der Frau mit dem Baby über die Reling halfen, und dann kletterte auch er hinauf, hielt aber noch immer die Weinranke in der Hand, bis das Boot auf das Kesseldeck gehievt wurde. »Mein Gott«, sagte der Mann, der Sanfte, »haben Sie das etwa als Paddel benützt?« »Allerdings«, sagte der Sträfling. »Ich hatt die Latte verlor’n.« »Die Latte«, sagte der Sanfte (flüsterte es, wie der Sträfling erzählte). »Die Latte. Na schön. Kommen Sie und essen Sie etwas. Ihr Boot ist ja nun in Sicherheit.« »Ich warte lieber hier«, sagte der Sträfling. Denn jetzt, so erzählte er ihnen, bemerkte er zum erstenmal, daß die anderen Leute, die anderen Flüchtlinge, die das Deck bevölkerten und sich in einem stummen Kreis um das umgedrehte Boot versammelt hatten, auf dem die Frau und er saßen, die Weinranke noch immer umklammert und mehrmals ums Handgelenk geschlungen, und ihn und die Frau eigentümlich und gierig und schwermütig anstarrten, keine Weißen waren – »Also Nigger?« sagte der dicke Sträfling. »Nein. Keine Amerikaner.« »Keine Amerikaner? Warst du etwa schon über Amerika hinaus?« »Weiß nich«, sagte der Große. »Sie nannten’s Atchafalaya.« – Denn nach einer Weile sagte er »Was?« zu dem Mann, und der Mann machte wieder Koller-Koller – »Koller-Koller?« sagte der dicke Sträfling. 93
»Genauso hat sich’s angehört«, sagte der Große. »Koller-Koller, wäng, ko-ko-tu-tu.« Und er saß da und schaute zu, wie sie miteinander kollerten und dann wieder ihn anblickten, zurückwichen, und da kam der Sanfte (er trug ein Abzeichen des Roten Kreuzes), gefolgt von einem Mann, der ein Servierbrett brachte. Der Sanfte trug zwei Whiskygläser. »Trinken Sie das«, sagte der Sanfte. »Das wärmt Sie auf.« Die Frau nahm ihr Glas und trank, aber der Sträfling, so erzählte er, schaute es an und dachte Sieben Jahre hab ich keinen Whisky nich verschmeckt. Er hatte ihn vorher nur ein einziges Mal versucht; das war in der tief im Kiefernwald gelegenen Schwarzbrennerei gewesen; damals war er siebzehn gewesen und mit vier Freunden dort hingegangen; zwei davon ausgewachsene Männer, der eine zwei- oder dreiundzwanzig, der andere etwa vierzig; er wußte es noch genau. Das heißt, er wußte noch etwa ein Drittel jenes Abends: ein wildes Durcheinander in höllenfarbenem Feuerschein, Faust um Faust und Schlag um Schlag auf seinem Kopf (und seine Fäuste wiederum auf anderen harten Knochen), dann das Erwachen unter stechender, schmerzheller Sonne in einem Schuppen, den er nie zuvor gesehen hatte und der sich später als zwanzig Meilen von daheim entfernt erwies. Wie er erzählte, dachte er daran, als er in die umstehenden Gesichter sah und sagte, »Lieber nich.« »Nur zu«, sagte der Sanfte. »Trinken Sie.« »Ich will aber nich.« »Unsinn«, sagte der Sanfte. »Ich bin Arzt. Hier. Dann 94
dürfen Sie auch essen.« So nahm er das Glas, und selbst da zögerte er noch, und wieder sagte der Sanfte, »Los, runter damit; Sie halten uns nur auf«, sagte es mit dieser immer noch ruhigen und verständigen Stimme, in der aber auch eine gewisse Schärfe lag, der Stimme eines Mannes, der ruhig und leutselig bleiben konnte, weil er nicht gewöhnt war, daß man sich ihm widersetzte – und der Sträfling trank den Whisky, und noch in der Sekunde zwischen dem wohltuenden starken Feuer im Magen und dem Augenblick, da es geschah, versuchte er zu erklären, »Ich wollt’s Ihnen ja sagen! Ich wollt’s ja sagen!« Aber jetzt war es zu spät dazu, jetzt in dem falben Sonnenglanz der zehn Tage des Schreckens und der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung und Ohnmacht und Wut und Empörung, und es gab nur noch ihn und den Maulesel, diesen Maulesel (dem er einen Namen hatte geben dürfen – John Henry), mit dem seit fünf Jahren keiner außer ihm gepflügt hatte und dessen Eigenheiten und Gewohnheiten er kannte und achtete und der wiederum seine Eigenheiten und Gewohnheiten so gut kannte, daß beide des anderen Bewegungen und Absichten zu erraten vermochten; es gab nur noch ihn und den Maulesel, und die kleinen kollernden Gesichter schwirrten an ihnen vorbei, und die vertrauten, harten Schädelknochen trümmerten gegen seine Fäuste, und seine Stimme brüllte, »Komm, John Henry! Pflüg sie nieder! Koller sie nieder, alter Junge!« und brüllte noch, als die helle, heiße, rote Welle zurücklief und er ihr froh und glücklich und leicht und schwebend begegnete und triumphierend und gellend durch 95
den Raum wirbelte – und dann wieder der alther bekannte trümmernde Schlag gegen seinen Hinterkopf: er lag auf dem Deck, ausgestreckt auf dem Rücken, festgehalten die Arme und Beine, und wieder nüchtern und klar, und wieder stürzte es aus der Nase, und über ihn gebeugt der Sanfte mit der dünnen, randlosen Brille und den kältesten Augen, die der Sträfling je gesehen – Augen, so erzählte er, die nicht ihn ansahen, sondern nur das stürzende Blut, und in denen nichts sonst lag als völlig unpersönliche Wißbegierde. »Mein lieber Mann«, sagte der Sanfte. »Ist ja noch eine Menge Leben in dem alten Kadaver, was? Und eine Menge gutes rotes Blut. Hat Ihnen je mal einer gesagt, daß Sie an Hämophilie leiden?« (»Was?« sagte der dicke Sträfling. »Hämophilie? Was ist denn das?« Die Zigarette des großen Sträflings brannte jetzt, und sein Körper klappte wie ein Messer in den sargähnlichen Raum zwischen den oberen und unteren Bettkästen, und der blaue Rauch wand sich rank und schlank und steil vor dem schlanken, dunklen, frischrasierten Adlergesicht. »Das is’n Kalb, das zugleich ’n Bulle und ’ne Färse is.« »Stimmt nicht«, sagte ein dritter Sträfling. »Is ’n Mittelding zwischen Kalb un’ Fohl’n.« »Verdammt noch mal«, sagte der Dicke. »Das eine oder andere muß er ja sein, sonst war’ er bestimmt ersoffen.« Er wandte keinen Blick von dem Großen im Bettkasten; und nun sprach er wieder ihn an: »Und das hast du dir gefallen lassen?«) Der Große ließ es sich gefallen. Er gab dem Arzt keine Antwort (und 96
von da an nannte er ihn im stillen auch nicht mehr den Sanften). Er konnte sich noch nicht rühren, fühlte sich jedoch wohl, fühlte sich wohler als je in diesen zehn Tagen. Sie halfen ihm hoch und stellten ihn auf die Beine und setzten ihn neben die Frau auf das umgedrehte Boot, wo er vornübergebeugt und mit aufgestützten Ellbogen sitzenblieb, und in dieser unsterblichen Positur betrachtete er sein helles auf das verdreckte Deck tropfende Rot, bis die sorgfältig gepflegte Hand des Arztes mit einem Fläschchen vor seiner Nase erschien. »Riechen Sie mal«, sagte der Arzt. »Tief einatmen.« Der Sträfling atmete ein, und scharfer Ammoniakgeruch stieg ihm in die Nase und hinunter in die Kehle. »Noch einmal«, sagte der Arzt. Gehorsam atmete der Sträfling ein. Diesmal mußte er husten und spie einen Schuß Blut aus, und die Nase wurde ihm so gefühllos, als wäre sie ein Fußnagel, nur daß sie ihn so riesig und so kalt dünkte wie eine fünfundzwanzig Zentimeter breite Schaufel. »Bitte, entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich hab nich – « »Wieso?« sagte der Arzt. »Sie haben sich mit vierzig oder fünfzig Männern die schönste Schlägerei geleistet, die ich je gesehen habe. Sie haben sich mindestens zwei Sekunden gehalten. Und nun essen Sie gefälligst. Oder glauben Sie, ich möchte Sie noch mal zu Mus schlagen?« Sie aßen beide auf dem Boot sitzend und wurden von den kollernden Gesichtern nicht länger beachtet, und der Sträfling kaute langsam und mühselig an dem dicken belegten Brot, saß gekrümmt und mit seitlich 97
zum Brot und parallel zur Erde geneigtem Kopf, so wie ein Hund kaut; der Dampfer fuhr weiter. Mittags gab es heiße Suppe und Brot und wieder Kaffee; auch diesmal aßen sie nebeneinandersitzend auf dem Boot, und der Sträfling hatte noch immer die Weinranke um das Handgelenk geschlungen. Das Baby wachte auf und trank und schlief wieder ein, und sie unterhielten sich leise: »Hat er gesagt, daß er uns nach Parchman mitnimmt?« »Ich hab ihm gesagt, daß wir dort hinwoll’n.« »Mir klang’s nich nach Parchman. Es klang, als hätte er was andres gesagt.« Dem Sträfling war es auch so vorgekommen. Er hatte schon, seitdem sie an Bord gegangen waren, allen Ernstes darüber nachgedacht; und vor allem dann, als ihm die Rasse der andern Passagiere aufgefallen war, dieser Männer und Frauen, die wesentlich kleiner waren als er und deren Hautfarbe ganz anders wirkte, als wenn sie nur Sonnenbräune wäre, obwohl manche blaue oder graue Augen hatten, diese Menschen, deren Sprache er nie zuvor gehört hatte und die offenbar auch die seine nicht verstanden, Menschen, wie er sie weder in Parchman noch sonstwo je gesehen und von denen er nicht annehmen konnte, daß sie dorthin oder überhaupt in diese Gegend wollten. Als Hinterwäldler mochte er jedoch nicht fragen, da er gelernt hatte, jede Auskunft sei eine Gunst, und von Fremden erbitte man sich keine Gunst; wenn sie einem angeboten wurde, konnte es sein, daß man sie annahm und in weitschweifigen Wiederholungen seinen Dank aus98
drückte, aber fragen tat man nicht. So wollte er weiter warten und beobachten, um so gut wie möglich das zu tun, was zu tun ihm sein Eindruck nahelegte. Und so wartete er, und am Nachmittag schnaufte und schob sich der Dampfer durch eine von Weiden eingeschnürte Flußenge und kam wieder ins freie Wasser, und nun wußte der Sträfling, daß es der Strom war. Jetzt erst glaubte er es – eine endlose Fläche, gelb und schläfrig im Nachmittag (»Er is’ einfach zu groß«, erzählte er ihnen gewichtig. »Es gibt überhaupt keine Überschwemmung nich in der Welt, die groß genug sein könnte, ihn mehr als ’n bißchen zum Steigen zu bringen; der steigt bloß, um sich umdrehn un’ sehn zu können, wo der Floh sitzt un’ wo er sich kratzen muß. Das sin’ die kleinen, die kleinen Plantschwasser, die Flüsse, die heut den Berg rauflauf’n, morgen den Berg runterlauf’n un’ dann mir nichts, dir nichts über einen reinfall’n mit ihren toten Mauleseln un’ Hühnerställ’n.«), und über diese Fläche fuhr der Dampfer nun stromauf (wie ’ne Ameise, die über ’n Teller krabbelt, dachte der Sträfling neben der Frau auf dem Boot, und wieder trank das Baby, das offenbar auch hinaus aufs Wasser blickte, und dort, zu beiden Seiten eine Meile entfernt, lagen parallel zueinander die Zwillingslinien der Deiche gleich nirgends gerissenen schwimmenden Fäden), und als es auf Sonnenuntergang zuging, hörte er, achtete er erstmals auf die Stimmen des Arztes und des Mannes, der ihn durch das Megaphon angebrüllt hatte und der jetzt im Ruderhaus, genau über seinem Kopf, brüllte: »Halten? Halten? Bin ich etwa ein Straßenbahnschaffner?« 99
»Dann halten Sie eben, weil es mal etwas anderes ist«, sagte die schmeichelnde Stimme des Arztes. »Ich weiß nicht, wie oft Sie nun schon auf und ab gefahren sind und wie viele der sogenannten Bisamratten Sie herausgefischt haben. Aber da sind nun zum erstenmal zwei Leute – nein, drei, die nicht nur den Namen des Ortes wissen, wo sie hinwollen, sondern sich auch wirklich bemüht haben, dorthin zu kommen.« Und der Sträfling wartete, während die Sonne schräger und schräger einfiel und die Dampferameise unermüdlich über den leeren und riesigen sich immer kupferner färbenden Teller krabbelte. Aber er fragte nicht, er wartete nur. Vielleicht war’s Carrolton, was er gesagt hat, dachte er. Fing mit ’nem C an. Doch auch daran zweifelte er. Er wußte nicht, wo er war, aber er wußte, daß er sich hier keinesfalls in der Nähe jenes Carrolton befand, an das er sich gut erinnerte, denn dort war er vor sieben Jahren, Hand bei Hand an den Sheriff gefesselt, mit dem Zug durchgefahren – abwartendes, sich langsam wiederholendes, knatterndes Lastwagengepuff an der Kreuzung zweier Bahnlinien, stumme, weiße Häuser, willkürlich verstreut zwischen sommerlich saftigen Bäumen auf grünen Hügeln, aufstrebend die Spitze eines Turms, dieses Fingers von Gottes Hand. Aber dort war kein Fluß gewesen. Den kann man unmöglich übersehn, wenn man in seiner Nähe ist, dachte er. Na, mir ist’s einerlei, wo ich bin und wo ich mein Leben lang war. Dann schwang der Bug des Dampfers quer über den Strom, und sein Schatten schwang mit, fuhr ihm lange auf dem Wasser voraus, auf den einsamen weidenbedeckten 100
Damm zu, der bar allen Lebens schien. Nichts war zu sehen, nicht einmal Wasser oder Erde sah der Sträfling dahinter; man konnte denken, der Dampfer wolle langsam die dünne, niedrige, zarte Weidenbarriere durchbrechen und in den leeren Raum schiffen, sofern er die Fahrt nicht verlangsamte und die Maschine zurücklaufen ließ und ihn unter aufstrudelnden Wassern in den Raum ausschiffte, vorausgesetzt, daß er ihn überhaupt ausschiffen wollte, und vorausgesetzt, daß dies der Ort war, der weder Parchman noch Carrolton hieß, obgleich er mit einem C anfing. Dann wandte er den Kopf und sah, wie sich der Arzt über die Frau beugte und mit dem Zeigefinger das Augenlid des Babys hochzog und hineinlinste. »Wer war noch mit dabei, als er kam?« sagte der Doktor. »Niemand«, sagte der Sträfling. »Haben Sie alles allein gemacht?« »Ja«, sagte der Sträfling. Der Arzt richtete sich auf und sah den Sträfling an. »Das ist Carnarvon«, sagte er. »Carnarvon?« sagte der Sträfling. »Das ist nicht – « Dann stockte er, verstummte. Und dann erzählte er davon – von den durchdringenden Augen, leidenschaftslos wie Eis hinter der randlosen Brille, dem glattrasierten, lebhaften Gesicht, das nicht daran gewöhnt war, auf Lügen oder Widerstand zu stoßen. (»Ja«, sagte der dicke Sträfling. »Das wollte ich schon längst fragen. Deine Klamotten. Die mußten doch jedem auffallen. Wenn dieser Doktor so klug war wie du behauptest – « 101
»Ich hatt zehn Nächte darin geschlafen, meistens im Schlamm«, sagte der Große. »Un’ seit Mitternacht hatt ich das Ruder in der Hand gehabt, das Ruder aus dem jungen Baum, den ich ausgebrannt hatte, un’ ich hatte nich mal Zeit, das Verkohlte abzukratzen. Aber ich glaube, es is’ was anderes, das die Kleider verändert: es is’ die Angst, un’ daß man sich aufregt un’ Angst hat un’ sich wieder aufregt, Tage un’ Tage un’ Tage lang. Das verändert nich nur die Hosen.« Er lachte nicht. »Auch das Gesicht. Aber der Doktor wußte’s.« »Na gut«, sagte der Dicke. »Weiter.«) »Ich weiß es«, sagte der Arzt. »Ich bin dahintergekommen, als Sie dort auf dem Deck lagen und wieder zu sich kamen. Aber nun lügen Sie mich an. Lügen kann ich nicht vertragen. Das Schiff fährt nach New Orleans.« »Nein«, sagte der Sträfling schnell, ruhig und endgültig. Er hörte es wieder – das Tack-tack-tack über dem Wasser, auf dem er vor kurzem noch gewesen war. Aber er dachte nicht an die Kugeln. Er hatte sie vergessen, verziehen. Er dachte daran, wie er schluchzend und keuchend auf allen vieren dahingekrochen, bevor er weitergerannt war – dachte an seine Stimme, die Anklage, den Schrei letzter und unwiderruflicher Verwünschung des uralten, ersten, unzuverlässigen Urhebers all der Lust und Torheit und des Unrechts: Ich wollte doch, um alles in der Welt, nichts anderes als mich stellen; er dachte daran, erinnerte sich ohne Zorn daran, ohne Leidenschaft und kürzer als eine Grab102
schrift: Nein. Damit hab ich’s einmal versucht. Un’ sie ham auf mich geschossen. »Also Sie wollen nicht nach New Orleans. Und nach Carnarvon wollten Sie eigentlich auch nicht. Aber Sie ziehen Carnarvon New Orleans vor.« Der Sträfling sagte nichts. Der Arzt schaute ihn an, und die durch die Brille vergrößerten Pupillen glichen zwei riesigen Nagelköpfen. »Weswegen waren Sie denn eingesperrt? Haben ihn schwerer getroffen, als Sie wollten, was?« »Nein. Ich wollt’n Zug ausrauben.« »Sagen Sie das noch mal.« Der Sträfling sagte es noch einmal. »Na und? Weiter. Mann, Sie können mir doch im Jahre 1927 so etwas nicht zu erzählen anfangen und dann einfach aufhören.« So erzählte der Sträfling, auch er leidenschaftslos – erzählte von den Heften, von der durch Abonnements erworbenen Pistole, die nicht schoß, und der Maske und der verdunkelten Laterne, die keinen Abzug besaß, ohne den die Kerze aber kaum brennen konnte und beinahe schon mit dem Streichholz erlosch, obwohl das Metall gleich so heiß wurde, daß sich die Laterne kaum anfassen ließ. Aber er sieht mir ja gar nich in die Augen oder auf’n Mund, dachte er. Man könnt meinen, er wollte beobachten, wie mir das Haar auf ’m Kopf wächst. »So, so«, sagte der Arzt. »Aber dann ist es schiefgegangen. Na, Sie haben ja eine Menge Zeit gehabt, darüber nachzudenken, um sich klarzuwerden, was Sie falsch gemacht, was Sie versäumt haben.« »Ja«, sagte der Sträfling. »Darüber hab ich ’ne ganze Weile nachgedacht.« 103
»So werden Sie also das nächstemal nicht mehr denselben Fehler machen.« »Ich weiß nich«, sagte der Sträfling. »Es gibt ja kein nächstes Mal.« »Warum denn nicht? Wenn Sie wissen, was Sie falsch gemacht haben, werden Sie das nächstemal auch nicht geschnappt.« Der Sträfling blickte den Arzt fest an. Sie blickten einander fest an; ihrer beider Blicke unterschieden sich eigentlich gar nicht. »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen«, sagte der Sträfling endlich. »Aber damals war ich achtzehn. Jetzt bin ich fünfundzwanzig.« »Ach so«, sagte der Arzt. Er (der Sträfling versuchte es zu erklären) rührte sich überhaupt nicht, er hörte nur auf, den Sträfling anzustarren. Dann zog er eine Packung billiger Zigaretten aus dem Rock. »Wollen Sie eine?« sagte er. »Ich mach mir nichts draus«, sagte der Sträfling. »Na gut«, sagte der Arzt mit leutseliger, knapper Stimme und steckte die Zigaretten weg. »Meiner Gattung (der medizinischen Gattung) ist ebenfalls die Macht zu binden und zu lösen erteilt worden, wenn auch vielleicht nicht von Jehova persönlich, so doch jedenfalls von der Amerikanischen Ärzteschaft – auf die ich übrigens in diesen Tagen Unseres Herrn mein ganzes Geld auf jede Chance, in jeder Höhe, zu jeder Zeit setzen würde. Ich weiß zwar nicht, wie weit ich bei diesem besonderen Fall meine Befugnisse überschreite, aber ich denke, wir lassen es darauf ankommen.« Er wölbte die Hände um den Mund und wandte sich dem Ruderhaus über ihren Köpfen zu. 104
»Käpt’n!« brüllte er. »Wir wollen die drei Passagiere hier absetzen!« Dann wandte er sich wieder an den Sträfling. »Ja«, sagte er. »Ich denke, wir überlassen es Ihrem Heimatstaat, aufzulecken, was er ausgespuckt hat. Hier.« Wieder tauchte seine Hand aus der Tasche auf, diesmal mit einem Geldschein. »Nein«, sagte der Sträfling. »Los, los; ich kann es nicht vertragen, wenn man mir widerspricht.« »Nein«, sagte der Sträfling. »Hab ja keine Möglichkeit, es Ihnen zurückzuzahl’n.« »Habe ich Sie gebeten, es mir zurückzuzahlen?« »Nein«, sagte der Sträfling. »Aber ich hab Sie auch nicht gebeten, es mir zu borgen.« Und so stand er wieder einmal auf trockenem Land, er, der bereits zweimal von dieser lächerlichen und konzentrierten Gewalt des Wassers daraufgeworfen worden war, und wieder einmal stand er, der doch auf das Grundstück irgendeines Mannes, irgendeiner Lebenszeit hätte fallen müssen, während noch eine ganz andere, kaum glaubhafte Wiederholung auf ihn wartete, mit der Frau auf dem einsamen Dach, das schlafende Kind in den verschossenen Militärmantel gewickelt und die Weinranke noch immer um sein Handgelenk geschlungen, und sie verfolgten, wie sich der Dampfer absetzte und drehte und wieder auf der tellergleichen Fläche des kahlen Wassers dahinkrabbelte, das sich mehr und mehr kupfern färbte, und wie sein Rauchfaden in langsamen, kupfergeränderten Püffen aufstieg und sich dünner werdend über den Fluß schlängelte, wie er verblaßte und sich dann in der 105
weiten, friedvollen Einsamkeit auflöste, wie das Schiff kleiner und kleiner wurde, bis es nicht mehr zu krabbeln, sondern nur noch auf einem Fleck im zarten, ungreifbaren Sonnenuntergang zu hängen schien und dann zu Nichts wurde wie ein winziger Klumpen dahintreibenden Schmutzes. Dann drehte er sich um, und zum erstenmal sah er um sich, sah er hinter sich und prallte zurück, nicht vor Schrecken, sondern nur in einem Reflex, keinem körperlichen, sondern einem seelischen, geistigen Reflex, prallte zurück aus der tiefen, nüchternen, wachen Aufmerksamkeit des Gebirglers, der Fremde um nichts bitten mag, nicht einmal um eine Auskunft, und er dachte gleichgültig. Nein. Das is’ auch nich Carrolton. Denn er sah jetzt hinunter auf die fast senkrecht abfallende, landwärts gerichtete, achtzehn Meter tiefe Böschung des Deiches, sah hinunter auf eine Fläche, ein Terrain, das so flach war wie eine Waffel und auch die Farbe einer Waffel hatte, allenfalls vielleicht die des Sommerfells von einem TreidelPferd, und das auch die gleiche gewebartige Dichte eines Felles oder Pelzes hatte und sich wellenlos erstreckte und dennoch, wie eine Flüssigkeit, den merkwürdigen Anschein unwägbarer Festigkeit erweckte, hie und da unterbrochen von arsenikgrünen dicken Warzen, die jedoch eben zu sein schienen, und von sich windenden, tintigen Adern, die er, wenn auch mit großer Skepsis, für Wasser hielt, und sogar dann noch mit Skepsis, als er bereits darin watete. Das war es, was er ihnen sagte, erzählte: Sie gingen weiter. Er erzählte nicht, wie er das Boot mit einer Hand die 106
Stützmauer hinauf und über die Krone und die abfallenden achtzehn Meter hinunter bekommen hatte, er sagte nur, daß sie in einer schwirrenden Wolke von Moskitos weitergegangen waren, die glühenden Ascheteilchen geglichen hatten; und dann stießen und bahnten sie sich durch das messerscharfe Gras, das bis über seinen Kopf reichte und das gleich elastischen Messern gegen Arme und Gesicht zurückschnellte, während er das Boot an der Weinranke hinter sich her zog, in dem die Frau saß, und er watete und stolperte knietief in etwas, das weniger Erde als Wasser war, watete an einem dieser schwarzen, gewundenen Kanäle entlang, die weniger Wasser als Erde waren: und dann (jetzt saß auch er im Boot und paddelte mit dem verkohlten Brett, denn was immer er für einen Grund unter den Füßen gehabt haben mochte: vor einer halben Stunde jedenfalls hatte der Grund plötzlich nachgegeben und nur noch die luftgefüllte Blase vom Jackenrücken des Sträflings leicht gebläht auf dem zwielichtigen Wasser schwimmen lassen, bis er [der Sträfling] wieder an die Oberfläche kam und ins Boot kletterte) das Haus, die Hütte, die kaum größer war als eine Pferdebox, errichtet aus Zypressenholz und mit einem Blechdach, eine Hütte, auf drei Meter hohen, spinnendünnen Beinen, wie eine erbärmliche und tödlich verwundete (und womöglich giftige) watende Kreatur, die zu tief in diese ebene Wüste geraten war und nun starb, ohne weit und breit etwas zu finden, wo sie sich niederlegen könnte, und am Fuß einer primitiven Leiter war eine Piroge vertäut, und unter der offenen Tür stand ein Mann und hielt eine 107
Laterne hoch (so dunkel war es schon) und sprach kollernd zu ihnen herunter. Davon erzählte er: von den nächsten acht oder neun oder zehn Tagen, wieviel wußte er nicht mehr genau, da sie zu viert – er und die Frau und das Baby und der kleine, sehnige Mann mit den verfaulten Zähnen und den warmen, wilden, hellen Augen einer Ratte oder eines Eichhörnchens und einer Sprache, die keiner von ihnen verstand – in den anderthalb Räumen lebten. Genaueres erzählte er nicht, ebenso wie er es nicht für erwähnenswert gehalten hatte, zu beschreiben, wie er das dreiundsechzig Kilo schwere Boot allein über den achtzehn Meter hohen Deich gebracht hatte. Er sagte nur. »Nach ’ner Weile kamen wir zu ’nem Haus un’ blieben dort acht oder neun Tage, bis sie den Deich mit Dynamit in die Luft jagten un’ wir gehn mußten.« Das war alles. Aber er erinnerte sich gut daran, in aller Ruhe jetzt, mit der Zigarre, der guten Zigarre, die ihm der Direktor gegeben hatte (wenn sie auch noch nicht angezündet war), in der gelassenen und sicheren Hand, erinnerte sich jenes ersten Morgens, als er auf der dünnen Matratze neben seinem Gastgeber erwacht war (die Frau und das Baby schliefen in dem einzigen Bett) und die stechende Sonne sich bereits durch das Gitterwerk der rohen Lattenwand bohrte und er auf dem wackligen Vorplatz stand und über die flache, fruchtbare Wüste schaute, die weder Erde noch Wasser war und vor der selbst die Sinne zweifelten, was nun was sei, was üppige und schwere Luft und was labyrinthische und schwer zu erkennende Vegetation, und er dachte bedächtig Ir108
gendwas muß er ja machen, wenn er essen und leben will. Wenn ich nur wüßte was. Und bis ich weiterkann, bis ich dahinterkomme, wo ich bin un’ wie sich diese Stadt umgehn läßt, ohne daß sie mich sehn, muß ich ihm bei seiner Arbeit helfen, damit wir essen un’ leben können – wenn ich nur wüßte, was er macht. Und dann wechselte er an diesem ersten Morgen erst einmal die Kleider, und ebensowenig wie über das Boot oder den Deich erzählte er, wie er sich von dem Mann, den er sich vor zwölf Stunden nicht einmal näher betrachtet hatte und mit dem er an jenem Tage, als er ihn zum letztenmal sah, noch immer kein Wort tauschen konnte, die Kattunhosen borgte oder sie kaufte, die selbst der Cajun als unbrauchbar abgelegt hatte, schmutzige, knopflose Hosen, deren Beine zerrissen waren und Fransen hatten wie ein Liegestuhl um 1890 und in denen er, nackt von der Taille aufwärts, vor der Frau stand und ihr die schmutzstarrende und von Holzwolle verschmierte Jacke und die Hosen hinhielt, nachdem sie an diesem ersten Morgen in der ungefügen, in einer Ecke errichteten und mit trockenem Gras gefüllten Bettkiste erwacht war, und sagte: »Waschen. Aber sauber. Die Flecken müssen alle raus. Alle.« »Und die Jacke?« sagte sie. »Hat er nich noch ’n altes Hemd? Bei der Sonne und den Moskitos – « Aber er gab ihr nicht einmal eine Antwort, und da sagte sie auch nichts mehr, doch als er und der Cajun gegen Abend zurückkehrten, war der Anzug sauber, wenn auch immer noch fleckig von dem alten Schlick und der Kohle, aber sauber und wieder dem ähnelnd, was er darstellen sollte, und der Sträfling (Arme und Rük109
ken bereits feuerrot und morgen wahrscheinlich voller Blasen) breitete den Anzug aus und begutachtete ihn und rollte ihn dann sorgfältig in eine sechs Monate alte Zeitung aus New Orleans und steckte das Bündel hinter einen Dachsparren, wo es liegenblieb, während ein Tag dem andern folgte und die Blasen auf seinem Rücken aufbrachen und eiterten und er, mit dem ausdruckslosen Gesicht einer Holzmaske, unter perlendem Schweiß dasaß, als der Cajun ihm den Rücken mit irgend etwas auf einem schmutzigen Lappen betupfte, den er in eine schmutzige Schüssel getaucht hatte, und sie sagte immer noch nichts, denn sie wußte zweifellos, was er für Gründe hatte, wußte es nicht aus jener Übereinkunft Verheirateter, die ihr durch die zwei Wochen verliehen worden war, Wochen, in denen sie gemeinsam gefühlsmäßige und soziale und wirtschaftliche und sogar moralische Krisen durchgestanden hatten, wie sie oft nicht einmal in normalen fünfzig Ehejahren vorkommen (diese alten Verheirateten: man kennt sie ja, diese galvanisch versilberten Reproduktionen, diese tausend sich gleichenden Paargesichter, bei denen lediglich ein kragenloser Hemdknopf oder ein Fichu aus Louisa Alcott das Geschlecht kennzeichnen und die Paar für Paar aussehen wie die Siegerpaare bei einem Hundezüchterwettbewerb, kennt sie heraus aus den dichten Reihen von Unglück und Schrecken und grundloser Sicherheit und Hoffnung und unsagbarer Gefühllosigkeit und In-den-Tag-Hineinleben, gestützt durch tausend morgendliche Zuckerschalen oder Kaffeemaschinen; oder dann einzeln, wie sie im Schaukelstuhl auf der 110
Veranda oder unter tabakbespienen Säulenhallen von tausend Distriktsgerichten in der Sonne sitzen, als hätten sie sich durch den Tod des andern verjüngt, wären unsterblich geworden; verwitwet gewinnen sie neue Zuversicht und scheinen ewig zu leben, als ob das Fleisch, das moraltheologisch von jener weit zurückliegenden Zeremonie, jenem Ritual, geläutert und legalisiert worden war, dies in Wahrheit vielmehr durch die lange, lästige Gewohnheit geworden wäre, und als hätte er oder sie, der oder die zuerst in die Erde eingegangen, alles Fleisch mit sich genommen und nur die alten, ewigen, überdauernden Knochen frei und fessellos zurückgelassen, frei und fessellos) – nicht deswegen also, sondern weil auch sie in gewisser Hinsicht von demselben dumpfen berggeborenen Abraham abstammte. So blieb das Bündel hinter dem Dachsparren, und ein Tag folgte dem andern, während er und sein Partner (er stand jetzt in Partnerschaft mit seinem Gastgeber und jagte mit ihm Alligatoren auf Halbpart, HalbeHalbe nannte er es – »Halbe-Halbe?« sagte der dicke Sträfling. »Wie konntest du denn eine geschäftliche Verabredung treffen mit einem Mann, den du angeblich nicht einmal verstanden hast?« »Ich brauchte ihn nich zu verstehn«, sagte der Große. »Geld hat nur eine Sprache.«) Morgen für Morgen in der Dämmerung aufbrachen, anfangs gemeinsam in der Piroge, später einzeln, der eine in der Piroge, der andere in dem Boot, der eine mit dem abgegriffenen, zernarbten Gewehr, der andere mit dem Messer und einem zusammengeknoteten Seil und einer Leicht111
holzkeule in Größe und Gewicht und Form einer germanischen Kampfkeule, und dann stakten sie ihre diluvialen Alpträume die verborgenen, tintigen Kanäle auf und ab, die das flache, messingfarbene Land durchzogen. Auch daran erinnerte er sich: an jenem ersten Morgen, als er sich bei Sonnenaufgang auf der wackligen Plattform umdrehte und die Haut zum Trocknen an die Wand genagelt sah und sie gleichmütig betrachtete und gleichmütig und nüchtern dachte Das ist’s also. Das macht er, um essen und leben zu können, da er wußte, daß es eine Haut war, aber von welchem Tier, das wußte er weder durch Eingebung noch Vernunft noch durch Erinnern an irgendein Bild aus seiner toten Jugend, er wußte nur, daß dies der Grund war, die Erklärung für das kleine, spinnenbeinige Haus (das schon zu sterben begonnen hatte, das bereits von den Beinen an aufwärts faulte, ehe noch das Dach festgenagelt worden war), hineingestellt in diese tausendschichtige und tausendfältige Einsamkeit und beschlossen und verloren in der unersättlichen Umarmung fließender Stutenerde und Hengstsonne – erriet es aus dem Gleichklang von Menschenschlag zu Menschenschlag, von Hinterwäldler zu BayouRatte, denn sie waren zwei sich gleichende Wesen und hatten dasselbe mißgönnte Leben und dasselbe geizige Schicksal harter und unaufhörlicher Arbeit, die nicht einer sicheren Zukunft diente, einem finanziellen Ausgleich auf der Bank oder womöglich in einer vergrabenen Sodabüchse für ein geruhsames und leichtes Alter, sondern lediglich der Gewährung, zu dauern und zu dauern, um sich immer wieder für kurze Zeit 112
Luft zum Leben und Sonne zum Trinken erkaufen zu können, und er (der Sträfling) dachte Ich werd bestimmt nur zu bald rausfinden, was es is’, und so war es auch, und er trat zurück ins Haus, wo die Frau gerade in dem kläglichen, eingebauten, heugefüllten Bettkasten erwachte, den der Cajun ihr überlassen hatte, und verzehrte das Frühstück (den Reis, dieses halbflüssige Durcheinander, das hauptsächlich aus Pfeffer und einem unverkennbar angegangenen Fisch bestand, und den mit Zichorie gedickten Kaffee) und folgte dann ohne Hemd dem kleinen, eilenden, tänzelnden, helläugigen, faulzahnigen Mann die Leiter hinunter und in die Piroge. Er hatte zwar noch nie eine Piroge gesehen und konnte sich kaum vorstellen, daß sie nicht kentern würde – nicht, weil sie leichtsinnig und waghalsig mit der offenen Seite nach oben balanciert wurde, sondern weil das Holz, die Planken ein anhaltendes und nimmermüdes Naturgesetz bargen, einen Willen, der seine augenblickliche Lage verwünschte und sabotierte –, doch er anerkannte die Piroge ebenso wie die Tatsache, daß jene Haut etwas Größerem als nur einem Kalb oder Schwein gehört haben mußte und daß eine Kreatur, die von außen derart aussah, höchstwahrscheinlich auch Zähne und Klauen hatte, anerkannte alles und hockte in der Piroge und umklammerte steif und starr die Dollborde, als hätte er ein nitroglyzeringefülltes Ei im Mund, und atmete kaum und dachte Wenn’s das is’, kann ich’s auch, un’ wenn er mir nich erklär’n kann wie, so kann ich ihn immerhin beobachten un’ es ihm nachmachen. Und auch dies geschah, wie er sich, selbst jetzt ganz ruhig, 113
erinnerte, und er dachte Ich hab mir gleich gedacht, daß man’s so macht, un’ ich glaube, ich würd’s mir auch heute noch so denken, selbst wenn ich’s jetzt zum erstenmal tun müßte – und der eherne Tag brannte stechend auf seinem nackten Rücken, und die sich schlängelnde Wasserader glich einem gewundenen Tintenfaden, und die Piroge glitt stetig unter dem Paddel vorwärts, das lautlos ins Wasser hineintauchte und wieder heraustauchte; dann plötzlich hielt das Paddel ein, und der Cajun in seinem Rücken kollerte erregt und zischelnd, und er hockte wie ein Blinder mit angehaltenem Atem und gespannt und starr und völlig hingegeben und horchte, während sich die dünne hölzerne Schale in der verwischenden Pfeilspitze des von ihr geteilten Wassers weiterstahl. Später erinnerte er sich auch wieder an das Gewehr – an den von dem Cajun mit ins Boot genommenen verrosteten Einzellader, mit dem primitiv angebrachten Kolben und einer Mündung, in die man einen Whiskykorken hätte stekken können –, aber nicht jetzt; jetzt hockte er bloß geduckt und unbeweglich und unsagbar vorsichtig atmend, und sein ernster, rastloser Blick wanderte hierhin und dorthin, während er dachte Was denn? Was denn? Nich nur, daß ich nich weiß, wonach ich Ausschau halte, ich weiß noch nich mal, wohin ich schauen soll. Dann spürte er die Bewegung der Piroge, als der Cajun sich rührte, und dann das gespannte, zischelnde Kollern, hitzig, schnell und unterdrückt an seinem Hals und Ohr, und als er den Blick senkte, sah er zwischen seinem Arm und Körper die Hand des Cajuns sich von hinten mit dem Messer vorschieben, 114
und als er wieder aufblickte, sah er den flachen, dicken Spieß aus Lehm, der sich auf einmal teilte und zu einem dicken, lehmfarbenen Klotz wurde, und dieser Klotz wiederum, obwohl noch immer unbeweglich, schien plötzlich in drei – nein, vier Dimensionen gegen seine Netzhäute zu springen: in Umfang, Festigkeit, Form – und noch einer: nicht in Angst, sondern in reiner und gespannter Erwartung, und er starrte auf diese schuppige, regungslose Form und dachte nicht Es sieht gefährlich aus, sondern Es sieht groß aus, dachte Wenn er mir nur sagen könnte, was ich tun soll, würden wir Zeit sparen, und die Piroge glitt näher, schlich sich an, ohne das Wasser auch nur zu kräuseln, und er vermeinte, den angehaltenen Atem seines Gefährten zu hören, und dann nahm er ihm das Messer aus der Hand, obwohl er dies gar nicht wahrnahm, weil alles so geschwind, so blitzartig ging; er handelte nicht aus Verzweiflung, aus Resignation, dafür war sein Handeln viel zu besonnen, war so sehr Teil von ihm, als hätte er es mit der Muttermilch eingesogen und sein Leben lang damit gelebt: Schließlich kann ein Mann nich nur tun, was er muß, mit dem tun, womit er es nach seinem besten Wissen tun muß, es so tun, wie er es gelernt hat. Un’ ich meine, Schwein bleibt Schwein, einerlei, wie’s aussieht. Also los, und er saß noch einen Moment ganz still, bis der Bug der Piroge leichter als ein fallendes Blatt Grund faßte, und er stieg aus und hielt kurz inne, während ein Zipfel seines Bewußtseins die unpathetischen, schlichten Worte Es sieht groß aus in Sekundenschnelle vor sich sah, bis sie erloschen und er sich breitbeinig bückte und das 115
Messer einstieß, wobei er zugleich nach dem ihm nächsten Vorderbein griff, und im selben Augenblick traf ihn auch schon der peitschende Schwanz brutal auf den Rücken. Aber das Messer hatte seine Wirkung getan, und das wußte er, obgleich er auf dem Rücken im Schlamm lag und das peitschende Tier mit vollem Gewicht auf ihm lastete, der gezackte Rücken sich in seinen Bauch grub und er den Arm um des Tieres Kehle schlang und dessen zischelnden Kopf gegen seinen eigenen Kiefer preßte, während der Schwanz zornig drosch und schlegelte und das Messer in der andern Hand des Sträflings nach dem Sitz des Lebens tastete und ihn fand, diesen heißen, hitzigen Strahl: und dann saß er neben dem rätselvollen, auf dem Rücken liegenden Kadaver, den Kopf wie eh und je zwischen den Knien, und sein Blut frischte jenes andere Blut auf, das ihn getränkt hatte, und er dachte Schon wieder diese verdammte Nase. So saß er, den Kopf, das Blut verströmende Gesicht zwischen den Knien, nicht niedergeschlagen, sondern bloß grübelnd, in sich gekehrt, als die schrille Stimme des Cajun aus weiter Ferne an sein Ohr prallte; schließlich blickte er auf zu der grotesken, sehnigen Gestalt, die hysterisch um ihn herumtanzte, wild und verzerrt das Gesicht, hoch und kollernd die Stimme; und der Sträfling hielt den Kopf schräg, auf daß das Blut ungehindert abfließe, und äugte nach ihm mit der kalten Aufmerksamkeit eines Museumsdirektors oder Aufsehers, der vor einem der ihm anvertrauten Glaskästen stehenbleibt, und der Cajun schleuderte das Gewehr hoch und schrie, »Bum-bumbum!« und 116
fing es und führte die soeben abgelaufene Szene pantomimisch noch einmal auf und gestikulierte und schrie, »Magnifique! Magnifique! Cent d’argent! Mille d’argent! Tout l’argent sous le ciel de Dieu!« Aber der Sträfling hatte den Blick abermals gesenkt, hielt mit gewölbten Händen das kaffeefarbene Wasser vors Gesicht und betrachtete die sofortige helle, karminrote Verfärbung darin und dachte Is ’n bißchen spät, mir das jetzt zu sagen, aber er dachte es nicht lange, weil sie gleich darauf wieder in der Piroge saßen, der Sträfling wie ehedem starr und mit verhaltenem Atem, als könnte er dadurch sein Gewicht verringern, und vor ihm im Bug lag die blutige Haut, und er stierte sie an und dachte Ich kann ihn nich mal fragen, wie groß mein halber Anteil sein wird. Aber auch dies dachte er nicht lange, denn, wie er dem dicken Sträfling später erzählte: Geld kennt nur eine Sprache. Er erinnerte sich auch daran (sie waren jetzt zu Hause, und die Haut lag auf der Plattform ausgebreitet, und der Cajun wiederholte vor der Frau die Pantomime – die Sache mit dem unbenutzten Gewehr, den Nahkampf; zum zweitenmal wurde der unsichtbare Alligator erschlagen, unter Schreien erschlagen, und der Sieger erhob sich und bemerkte diesmal, daß ihn auch die Frau nicht beachtete. Sie betrachtete vielmehr das geschwollene und zerschundene Gesicht des Sträflings. »Soll das heißen, daß Sie von dem Biest ins Gesicht getroffen worden sind?« »Ach was«, sagte der Sträfling rauh, wütend. »Soweit kam’s gar nich. Un’ es war noch nich mal zum Bluten meiner Nase gekommen, wenn der Kerl ihm ’ne 117
Bohne in den Schwanz gejagt hätte.«) – er erinnerte sich auch daran, aber erzählte es nicht. Wahrscheinlich hätte er es auch gar nicht erzählen können: wie zwei Menschen, die sich nicht einmal verstanden, einen Vertrag schließen konnten, den sie nicht nur begriffen, sondern von dem sie auch wußten, daß der andere ihn halten würde, mit größerer Sicherheit halten als einen aufgesetzten und beglaubigten Kontrakt. Auf irgendeine Art besprachen und verabredeten sie sogar, daß sie von nun an getrennt jagen wollten, jeder in seinem Boot, um die Beutechancen zu vergrößern. Aber dies war nicht schwer: der Sträfling glaubte, die Worte fast zu verstehen, mit denen der Cajun sagte, »Sie brauchen mich und mein Gewehr nicht; wir würden Sie nur hindern, Ihnen im Weg sein.« Und nicht nur das, sie wurden sich sogar über die Sache mit dem zweiten Gewehr einig: irgendwo gab es jemand, einerlei wen – einen Freund oder Nachbarn oder vielleicht auch einen am Geschäft Beteiligten –, von dem sie ein zweites Gewehr mieten konnten; in ihrem Patois, der eine in schlechtem Englisch, der andere in schlechtem Französisch – der eine sprunghaft, mit wilden, hellen Augen und einem redegewandten Mund voller Zahnstummel, der andere überernst, geradezu verbissen, mit geschwollenem Gesicht und einem blasenbedeckten und vernarbten Rücken wie bei einem Ochsen –, diskutierten sie, wobei sie einander an den beiden Seiten der angenagelten Haut gegenübersaßen wie zwei Mitglieder einer Aktiengesellschaft an einem Mahagonitisch, und stimmten dagegen, was heißt, der Sträfling stimmte 118
dagegen: »Lieber nich«, sagte er. »Wenn ich genug davon verstünde, mein’ ich, würd ich so lang warten un’ dann mit ’nem Gewehr anfangen. Aber da ich nun ohne eins angefangen habe, will ich’s lieber gar nich erst anders versuch’n.« Denn alles war eine Frage des Geldes und der Zeit, der Tage. (Komisch, das einzige, was der Cajun ihm nicht sagen konnte, war, wieviel die Hälfte ausmachte. Doch der Sträfling wußte, daß es die Hälfte war.) Er hatte ja nur so wenige. Er mußte bald weiter, und er (der Sträfling) dachte Dieser ganze verdammte Blödsinn hört zum Glück bald auf, un’ dann kann ich zurück, und jählings ertappte er sich bei dem Gedanken muß ich zurück, und er wurde sehr still und blickte sich um in der satten, fremden Wüste, die ihn umgab und in der er vorübergehend verloren war in Frieden und Hoffnung und in der die letzten sieben Jahre versunken waren wie bedeutungslose Kiesel in einem Teich, ohne auch nur eine einzige Welle zu hinterlassen, und er dachte gleichmütig und in nahezu belustigtem Erstaunen Ja. Hatt wohl vergessen, was für ’ne feine Sache das is’, Geld zu verdienen. Verdienen zu dürfen. So nahm er also kein Gewehr, sondern nur das geknüpfte Seil und die germanische Kampfkeule, und jeden Morgen schlugen er und der Cajun mit den beiden Booten ihre getrennten Wege ein, um die verborgenen Wasseradern in dem verlorenen Land zu durchkämmen, aus dem hin und wieder weitere pygmäenhafte, dunkle Männer kollernd und unversehens, wie aus dem Boden geschossen auftauchten – auch sie in ausgehöhlten Baumstämmen – und ihm lautlos 119
folgten und seinen Einzelkämpfen zusahen, Männer namens Tine und Toto und Theule, die nicht viel größer waren als jene ihnen überdies ähnelnden Bisamratten, die der Cajun gelegentlich aus den Fallen holte (sein Gastgeber hatte auch dies übernommen, sorgte auch für den Speisezettel und erklärte auch dies, wie die Sache mit dem Gewehr, in seiner Sprache, und der Sträfling verstand auch dies, als wäre es Englisch gewesen: »Sie, Herkules, kümmern Sie sich nich ums Essen. Fangen Sie lieber Alligatoren; ich sorg schon für den Kochtopf.«), so wie man ein Ferkel im Notfall aus dem Koben holt, und mit denen er Abwechslung in den ewigen Reis und Fisch brachte (der Sträfling erzählte: wie er abends in der Hütte, deren Tür und einziges, rahmenloses Fenster gegen die Moskitos abgedichtet war – eine Handlung, ein Ritual, das so sinnlos war wie das Kreuzen von Fingern oder das Klopfen gegen Holz –, neben der von Ungeziefer umschwirrten Laterne an dem rohen Tisch saß, bei einer Temperatur, die das Blut zum Sieden brachte, und auf seinen schwitzenden Teller mit dem schwimmenden Fleischstück blickte und dachte Das kann nur Theule sein. Der war so fett ) – und ein Tag folgte dem andern, einförmig und gleichmäßig, ein jeder wie sein Vorgänger und wie sein Nachfolger, und des Sträflings theoretischer Anteil stieg und stieg, der Anteil einer Summe, von der er nicht wußte, ob er sie sich in Pennies, Dollars oder Zehndollars vorstellen sollte – jene Vormittage, da er auszog und, wie der Matador seine aficionados, die kleinen Gruppen hartnäckiger und ehrerbietiger Pirogen vor120
fand, jene grausamen Nachmittage, da er, mehr oder weniger umringt von schmalen, regungslosen Nußschalen, seine Einzelkämpfe ausfocht, und jene Abende, da er heimkehrte und die Pirogen eine nach der andern in winzigen Buchten und Gängen verschwanden, die er anfangs nicht einmal voneinander unterscheiden konnte, dann die Plattform im Zwielicht, wo der Cajun vor den zwei wachsenden Reihen von Kerben in der Hüttenwand und der unbewegten Frau und dem wie immer trinkenden Kind und den ein oder zwei blutigen Häuten des Tages seine rituelle, sieggeschwellte Pantomime aufführte; dann die Nächte, wenn die Frau und das Kind in dem einzigen Bett lagen und der Cajun bereits auf der Matratze schnarchte und er (der Sträfling) neben der blakenden Laterne auf den nackten Fersen saß, schwitzend und schwitzend, das Gesicht erschöpft und geduldig, hingegeben und unzähmbar, der gebeugte Rücken mit den eiternden ehemaligen Blasen und den tiefen Schwanzstriemen roh und blutig wie Ochsenfleisch, und an dem verkohlten jungen Baum herumschabte und -schnitzte, der jetzt nahezu ein Paddel erkennen ließ, und nur hie und da hielt der Sträfling inne und hob den Kopf, während große Moskitowolken um ihn herum summten und surrten, und er starrte die Wand an, bis nach einer Weile die ungehobelten Bretter zurücktraten und den leeren, toten Blick ungehindert weiter und weiter schweifen ließen, durch die satte, vergessenmachende Finsternis, vielleicht sogar darüber hinaus, vielleicht sogar hinaus über die sieben verschwendeten Jahre, in denen man ihm, wie er jetzt 121
fand, Spielereien, nicht Arbeit, beigebracht hatte. Dann fing er sich wieder, warf einen letzten Blick auf das gerollte Bündel hinter den Dachsparren und blies die Laterne aus und legte sich wie er war neben den schnarchenden Partner und lag nun schwitzend (auf dem Bauch, da er auf dem Rücken keine Berührung vertrug) in der summenden, ofenheißen Finsternis, die vom verlorenen Brüllen der Alligatoren widerhallte, und dachte nicht Sie haben mir keine Gelegenheit gegeben, es zu lernen, sondern Ich hatt vergessen, was für ’ne feine Sache es is’, zu arbeiten. Dann, am zehnten Tage, geschah es. Und es geschah schon zum drittenmal. Zuerst weigerte er sich, es zu glauben, nicht weil er meinte, daß er nunmehr ausgedient und seine Lehrzeit im Unglück beendet, daß er mit der Geburt des Kindes den Hügel Golgatha erreicht und überschritten habe und jetzt, wenn nicht gerade mit Erlaubnis, so doch wenigstens unbeachtet, im Freilauf den andern Abhang hinuntereile. So empfand er es keineswegs. Was er einfach nicht hinnehmen wollte, war die Tatsache, daß eine Macht, eine Gewalt wie jene, die hartnäckig genug gewesen war, sich wochenlang mit tödlicher Ausschließlichkeit auf ihn zu konzentrieren, bei all der Fülle von kosmischer Kraft und Schrecken, so bar jeder Erfindungsgabe und Phantasie, so ohne jeden Künstler- und Handwerkerstolz sein sollte, sich selbst gleich zweimal zu wiederholen. Einmal hatte er es hingenommen, das zweite Mal noch vergeben, aber das dritte Mal weigerte er sich einfach, es zu glauben, zumal ihm beim dritten Mal klargemacht wurde, daß er nicht durch die 122
blinde Gewalt von Masse und Bewegung verscheucht worden war, sondern durch Menschenhand: daß der kosmische Spaßmacher, der zweimal danebengetroffen hatte, sich jetzt rachsüchtig darauf versteifte, Dynamit anzuwenden. Dies erzählte er nicht. Zweifellos wußte er selbst nicht, wie es geschah, was geschah. Aber er erinnerte sich (besonnen bei der dicken, vollfarbenen, vormaligen Zigarre in der sauberen, sicheren Hand) zweifellos an das, was er gewußt, erraten hatte. Es war Abend, der neunte Abend, und er und die Frau saßen sich beim Abendessen zu beiden Seiten des leeren Platzes ihres Gastgebers gegenüber, und er vernahm von draußen die Stimmen, ohne im Essen einzuhalten, ohne im Kauen aufzuhören, denn was machte es schon für einen Unterschied, ob er sie sah oder nicht: die zwei oder drei oder vier Pirogen auf dem dunklen Wasser unterhalb der Plattform, auf der jetzt ihr Gastgeber stand, und die kollernden und plappernden Stimmen, unverständlich und keineswegs zitternd vor Angst und nicht einmal vor Wut oder auch nur Überraschung, sondern weit eher wie eine Kakophonie aufgestörter Sumpfhühner klingend; und er (der Sträfling) hörte nicht auf zu kauen, er hob nur gelassen den Blick, wenn auch nicht fragend oder erstaunt, als der Cajun hereinstürzte, erregt und mit funkelnden Augen, die schwarzen Zähne klaffend vor der tintigen Öffnung des aufgerissenen Mundes, und er (der Sträfling) verfolgte, wie der Cajun die brutale Pantomime brutaler Aussiedlung und Vertreibung vorführte, etwas Unsichtbares in die Arme raffte und hinaus- und 123
hinunterschleuderte, und im Augenblick der Vollendung dieser Geste wechselte er vom Befehlenden zum Opfer dessen, den er soeben pantomimisch dargestellt hatte, und dann umklammerte er seinen Kopf und beugte sich vor und schien, ohne sich zu rühren, auf einmal hinweggefegt zu werden, und dabei schrie er, »Bum! Bum! Bum!« und der Sträfling verfolgte dies, wenn auch nur für einen Augenblick, ohne zu kauen, und dachte Was? Was will er damit sagen? und dachte (wiederum nur blitzartig, denn er hätte es nicht ausdrücken können und wußte daher nicht einmal, daß er es je einmal gedacht hatte), wenn auch sein Leben hierher verschlagen worden war, begrenzt durch diese Landschaft, hingenommen von dieser Landschaft und sie ebenfalls hinnehmend (und er hatte hier sogar Erfolg gehabt – was er klar und nüchtern ausgedrückt hätte, wenn er fähig gewesen wäre, es zu denken, anstatt es nur zu wissen –, mehr Erfolg als je, er, der bis dahin nicht einmal geahnt hatte, wie gut es tat, zu arbeiten, Geld zu verdienen), daß es dennoch nicht sein Leben sei, denn für immer und ewig würde er nicht mehr sein als der Teichläufer auf dem Spiegel eines Sees, der nie um die grundlosen und lauernden Tiefen unter sich weiß; seine einzige Berührung mit dem Leben waren jene Augenblicke, wenn er vor den einsamen und glotzenden, lehmigen Spießen unter der erbarmungslosen Sonne und, wie in einem Amphitheater, umgeben von dem stummen und klaffenden Halbkreis der zuschauenden Pirogen das Spiel annahm, das er nicht gewählt hatte und den peitschenden Radius des gepanzerten Schwanzes betrat und mit 124
der Leichtholzkeule auf den schwingenden und zischelnden Kopf einschlug oder ihn auch verfehlte und ohne Zögern den gepanzerten Körper umarmte kraft seines zarten Gewebs aus Fleisch und Knochen, in dem er hauste und sich bewegte, und das sich zornig wehrende Leben mit einer zwanzig Zentimeter langen Messerklinge suchte. So sahen er und die Frau bloß zu, als der Cajun vor ihnen die Scharade einer Vertreibung aufführte, sahen zu, wie der kleine sehnige Mann aufgeregt gestikulierte und sein hysterischer Schatten an der rohen Holzwand hinaufsprang und abglitt, während er pantomimisch das Verlassen der Hütte darstellte, in der Pantomime seine wenigen Habseligkeiten von den Wanden und aus den Ecken nahm, lauter Dinge, die kein anderer Mann hätte haben wollen und die ihm nur eine höhere Gewalt, wie blindwütiges Wasser oder Erdbeben oder Feuer, je rauben könnte, und auch die Frau sah zu, den vollen Mund leicht geöffnet und gelassenes Erstaunen im Gesicht, und sagte: »Was? Was meint er?« »Ich weiß nich«, sagte der Sträfling. »Wenn’s was is’, das uns angeht, werden wir’s schon zur rechten Zeit merken.« Er war nicht aus der Ruhe zu bringen, obwohl er längst begriffen, was der andere vorhatte. Der macht sich davon, dachte er. Und er will mir beibringen, daß auch ich mich davonmachen soll – dachte er später, als sie vom Tisch aufgestanden und der Cajun und die Frau bereits zu Bett gegangen waren und der Cajun sich noch einmal von der Matratze erhob und dem Sträfling auf den Leib rückte und die Pantomime 125
des Verlassens der Hütte von Anfang bis Ende wiederholte, diesmal so, als gälte es, ein mißverstandenes Gespräch zu wiederholen, unablässig wiederholend und weitschweifig wie vor einem Kind, und man konnte meinen, er halte den Sträfling mit der einen Hand fest, während er mit der anderen fuchtelte und sprach, als redete er abgehackt in einzelnen Silben, und der Sträfling (mit offenem Messer auf dem Boden hockend und das fast vollendete Paddel über die Knie gelegt) sah ihm zu und nickte und sprach sogar, sagte auf englisch: »Jaja. Gewiß doch. Ganz richtig. Klar« –, und schnitzte wieder an dem Paddel, wenn auch nicht schneller, nicht hastiger als an jedem anderen Abend, schnitzte gelassen in dem Glauben, daß sich alles von selbst erledige, wenn es erst soweit wäre und er erführe, worum immer es sich handeln mochte, denn er hatte sich längst und ohne es zu wissen – noch ehe die Möglichkeit, die Frage überhaupt auftauchte – geweigert, auch nur den Gedanken ans Weiterziehen anzuerkennen, und er dachte nun an die Häute, dachte Wenn er mir nur irgendwie erklären könnte, wem ich meinen Anteil bringen muß, um das Geld zu kriegen, aber er dachte dies bloß in dem Augenblick zwischen zwei zarten Schnitten mit dem Messer, denn nahezu gleichzeitig dachte er Solang ich’s fertigbringe, welche zu fangen, wird’s mir auch nicht schwerfallen, einen aufzutreiben, der sie kauft. So half er am nächsten Morgen, die wenigen Habseligkeiten in die Piroge des Cajuns einzuladen – das zerschrammte Gewehr und ein kleines Kleiderbündel (wieder trieben sie, die nicht einmal miteinander re126
den konnten, ihren Handel, und diesmal ging es um die Aufteilung der paar Kochtöpfe und rostigen Fallen und um irgendeine mehr oder weniger abstrakte, den Herd umschließende Schutzhülle, um das erbarmungswürdige Bett, das Haus oder das Wohnrecht, eins von beiden, und all dies im Austausch gegen die Haut eines Alligators) –, und dann hockten sie beisammen wie Kinder, die Stäbchen teilen, und teilten die Häute, schichteten sie auf zwei Stöße, eine-fürmich-und-eine-für-dich, zwei-für-mich-und-zweifür-dich, und dann lud der Cajun seinen Anteil ein und stieß sich von der Plattform ab und hielt noch einmal inne, wenn er auch nur das Paddel hinlegte, etwas Unsichtbares zusammenraffte und es mit großem Schwung in die Luft schleuderte und in ansteigender Modulation schrie, »Bum – ? Bum – ?« und lebhaft dem halbnackten und grausig zernarbten Mann auf der Plattform zunickte, der ihm mit verbissenem Gleichmut nachsah und sagte, »Gewiß. Bum. Bum.« Dann fuhr der Cajun davon. Er blickte nicht zurück. Sie schauten ihm nach, wie er schnell in die Ferne zog – wenigstens tat es die Frau; der Sträfling hatte sich bereits umgedreht. »Vielleicht wollte er uns klarmachen, wir sollten auch gehn«, sagte sie. »Gut möglich«, sagte der Sträfling. »Hab ich mir heut nacht auch schon überlegt. Geben Sie mal das Paddel her.« Sie reichte es ihm – den jungen Baum, an dem er nächtelang geschnitzt hatte und der noch immer kein Paddel war, wenn auch zu dessen Vollendung ein einziger Abend genügte (er hatte bisher stets ein unbe127
nutztes Paddel des Cajuns genommen. Der andere hatte ihm angeboten, es zu behalten, es samt dem Herd und dem Bett und dem Wohnrecht in der Hütte anzunehmen, was der Sträfling jedoch abgelehnt hatte. Vielleicht hatte er im Geiste die Größe des Paddels an einer ebenso großen Alligatorenhaut abgemessen und sich gesagt, daß er nur noch einen Abend gründlichen und sorgfältigen Schnitzens brauche), und dann ging auch er, fuhr mit dem geknüpften Seil und der Keule in die entgegengesetzte Richtung, als wäre er nicht nur zufrieden mit der Weigerung, diesen Ort zu verlassen, vor dem er gewarnt worden war, sondern als wollte er die unwiderrufliche Endgültigkeit dieser Weigerung auch noch bekräftigen, indem er immer weiter und tiefer ins Land eindrang. Und da plötzlich raffte sich der glosende, grelle Tagtraum seiner Einsamkeit auf und stürzte über ihn herein. Er hätte es nicht erzählen können, selbst wenn er es versucht haben würde – wie er am frühen Morgen dahinpaddelte, zum erstenmal allein, ohne daß von irgendwoher eine Piroge kam, um sich ihm anzuschließen, aber das hatte er auch gar nicht erwartet, weil er wußte, daß die andern ebenfalls abgezogen waren; dies war es also nicht, sondern es war die geschwellte Einsamkeit, diese Öde, die jetzt nur ihm, einzig ihm gehörte, da er das Bleiben gewählt hatte; dann das Sich-Ausruhen des Paddels, während das Boot noch ein Stück weiterglitt, und er dachte Was? Was? Dann Nein. Nein. Nein, als Stille und Einsamkeit und Leere mit höhnischem Gebrüll auf ihn hereinbrachen; und nun alles noch einmal in entgegenge128
setzter Richtung: das Boot wendete hastig, und er, der Betrogene, paddelte wütend zur Plattform zurück, obwohl er wußte, daß er bereits zu spät kam, paddelte zu jener Zitadelle, wo die Qual und der Odem seines Lebens – die Chance, arbeiten zu dürfen und Geld zu verdienen, dieses Privileg, das er sich ohne fremde Hilfe verdient zu haben glaubte, denn er hatte niemand und nichts um eine Gunst gebeten außer darum, seinen Willen und seine Kraft gegen die fossile Hauptfigur eines Landes, einer Region einzusetzen, in die zu geraten er nicht gebeten hatte – in Gefahr waren, und er führte das selbstgeschnitzte Paddel in wilder Wut, gelangte schließlich in Sichtweite der Plattform und sah die längsseits liegende Barkasse, sah sie ohne im geringsten erstaunt zu sein, viel eher war er amüsiert über diese sichtbare Rechtfertigung seiner Empörung und seiner Angst, über das Recht, seinem eigenen Beleidigtsein hinzufügen zu dürfen Ich hab’s ja gesagt, und wie im Traum paddelte er darauf zu und schien überhaupt nicht voranzukommen, schien wie im Traum unbehindert und gelähmt ein gewichtloses Ruder in einem widerstandslosen Element zu führen, mit Muskeln ohne Kraft oder Elastizität, schien das Boot unendlich klein über das sonnenbeglänzte Wasser bis hin zur Plattform kriechen zu sehen, während ein Mann in der Barkasse (es waren fünf im ganzen) auf ihn einkollerte in derselben Sprache, die er nun seit neun Tagen gehört hatte und von der er doch immer noch kein Wort verstand, als auf einmal ein zweiter Mann aus dem Haus trat, gefolgt von der Frau mit dem Baby, zur Abfahrt bereit in ihrem verschossenen 129
Militärmantel und dem Sonnenhut, und der Mann (er trug noch einiges, aber der Sträfling sah nur dies) hielt das papierumwickelte Bündel in der Hand, das der Sträfling vor zehn Tagen hinter den Dachsparren gesteckt und das niemand seither berührt hatte, und dann stand auch er (der Sträfling) auf der Plattform, in der einen Hand das Tau des Bootes, in der andern das knüppelförmige Paddel, und brachte es schließlich fertig, in traumhafter und gelähmter und unglaublicher Ruhe der Frau zu sagen: »Nehmen Sie’s ihm weg un’ bringen Sie’s ins Haus zurück.« »Sie können also doch Englisch, was?« sagte der Mann in der Barkasse. »Warum sind Sie denn nicht weggefahren, wie man Ihnen gestern abend gesagt hat?« »Weg?« sagte der Sträfling. Wieder schaute, ja stierte er den Mann in der Barkasse an und versuchte, die Stimme zu zügeln: »Hab keine Zeit nich, Reisen zu machen. Hab zu tun«, und wandte sich zu der Frau um, den Mund bereits zur Wiederholung des Befehls geöffnet, als die traumhaft summende Stimme des Mannes von hinten an sein Ohr drang und er sich in höchster und unüberwindlicher Erregung erneut umdrehte und schrie, »Überschwemmung? Was für ’ne Überschwemmung? Zum Teufel nochmal, die is’ doch schon seit zwei Monaten an mir vorbei! Die is’ vorbei! Was für ’ne Überschwemmung?« und dann (er dachte dies nicht in wirklichen Worten, und doch wußte er es, erduldete er die blitzartige Erleuchtung seines Wesens und Schicksals: daß in seinem gegenwärtigen Leben ein merkwürdiges Gesetz der Wieder130
kehr waltete und daß nicht nur die nahezu schöpferischen Krisen mit einer gewissen Monotonie wiederkehrten, sondern auch die physischen Umstände einem sturen, phantasielosen Muster folgten) sagte der Mann in der Barkasse, »Packt ihn«, und für ein paar Minuten hielt er sich noch auf den Beinen und drosch und hieb in keuchender Wut um sich, bis er abermals rücklings auf harten unnachgiebigen Brettern lag, während die vier Männer in einer wütenden Woge harter Knochen und keuchender Flüche über ihm zusammenschlugen – und schließlich das dünne, trokkene, bösartige Zuschnappen von Handschellen. »Verdammt noch mal, sind Sie verrückt?« sagte der Mann in der Barkasse. »Begreifen Sie denn nicht: heute mittag wird der Deich mit Dynamit gesprengt. – Los«, sagte er zu den andern. »Ins Boot mit ihm. Wir müssen hier weg.« »Ich will meine Häute un’ mein Boot«, sagte der Sträfling. »Zum Teufel mit Ihren Häuten«, sagte der Mann in der Barkasse. »Wenn die den Deich nicht bald in die Luft jagen, können Sie über kurz oder lang vorm Kongreßgebäude in Baton Rouge Alligatoren fangen. Und wozu brauchen Sie noch ein Boot? Danken Sie Gott, daß Sie in dem hier fahren dürfen.« »Ich geh nich ohne mein Boot«, sagte der Sträfling. Er sagte es leise und endgültig – so leise, so endgültig, daß ihm fast eine Minute lang niemand antwortete; sie standen nur um ihn herum und blickten auf ihn hinunter, auf ihn, der halbnackt, verschwärt und vernarbt, hilflos und an Händen und Füßen gefesselt auf 131
dem Rücken lag und sein Ultimatum so still und friedlich stellte, als unterhielte er sich vor dem Einschlafen mit einem Bettgenossen. Dann richtete sich der Mann in der Barkasse auf; gelassen spie er ins Wasser und sagte mit ebenso stiller und gelassener Stimme wie der Sträfling: »Na schön. Nehmt sein Boot mit.« Sie halfen der Frau, die das Baby und das papierumwickelte Bündel trug, in die Barkasse. Darauf stellten sie den Sträfling auf die Beine, und die Fesseln an seinen Händen und Füßen klirrten. »Ich würde Sie gerne losmachen, wenn Sie mir versprächen, sich jetzt anständig aufzuführen«, sagte der Mann. Der Sträfling gab überhaupt keine Antwort. »Ich möcht das Seil halten«, sagte er. »Das Seil?« »Ja«, sagte der Sträfling. »Das Seil.« So setzten sie ihn ins Heck und gaben ihm das Ende des Taus, nachdem sie es an der Schleppklampe belegt hatten, und dann fuhren sie ab. Der Sträfling sah nicht zurück. Aber er sah auch nicht voraus; die gefesselten Füße von sich gestreckt, lag er auf dem Boden und hielt das Seil in der gefesselten Hand. Die Barkasse legte noch einmal an; als die diesige Oblate der unduldsamen Sonne senkrecht über ihren Köpfen stand, waren sie fünfzehn Menschen in der Barkasse; und dann sah der ausgestreckte und regungslose Sträfling das flache, messingfarbene Land ansteigen und sich zu einem grünlichschwarzen, bärtigen, windungsreichen Moor wandeln, aber auf einmal lag auch das Moor achteraus, und nun breitete sich vor ihnen eine weite Was132
serfläche aus, von einer bläulichen, zerflossenen Uferlinie umgeben und leicht glitzernd in der Nachmittagssonne, ein größeres Gewässer, als er je eines gesehen, und dann erstarb das Tuckern des Motors, und die auslaufende Bugwelle nahm den ihr nachgleitenden Rumpf auf. »Was ist?« sagte der Bootsführer. »Es ist Mittag«, sagte der Rudergänger. »Ich dachte, man konnte die Sprengung hören.« So lauschten sie alle, die Barkasse hatte jede Fahrt verloren und wiegte sich sanft, und die vom Glitzern gebrochenen kleinen Wellen plätscherten und wisperten gegen den Bootsrumpf, doch kein Laut, nicht einmal ein Beben war unter dem stechenden, verhangenen Himmel zu vernehmen; der langgezogene Augenblick sammelte sich und wandte sich ab, und Mittag war vorbei. »Na schön«, sagte der Bootsführer. »Weiter.« Der Motor sprang an, und die Barkasse nahm wieder Fahrt auf. Der Bootsführer kam nach achtern und beugte sich mit dem Schlüssel über den Sträfling. »Ich denke, Sie werden sich jetzt wohl anständig aufführen, ob Sie wollen oder nicht«, sagte er und schloß die Fesseln auf. »Also?« »Ja«, sagte der Sträfling. Sie fuhren weiter; bald entzog sich das Ufer ihren Blicken, und das Gewässer dehnte sich zu einem kleinen Meer aus. Der Sträfling war jetzt zwar frei, lag aber immer noch wie zuvor im Heck, in der Faust das Bootstau, das er ein paarmal ums Handgelenk geschlungen hatte; er wandte den Kopf und blickte zurück auf das Boot im Schlepp, das im Kielwasser der Barkasse tänzelte und hüpfte; manchmal sah er auch hinaus auf den See, wobei sich 133
jedoch nur seine Augen bewegten, das Gesicht dagegen ernst und ausdruckslos blieb, und er dachte Die Weite des Wassers, der Wüste und Einsamkeit ist größer, als ich sie je erlebt habe; aber vielleicht dachte er es auch nicht; denn drei oder vier Stunden später, als die Uferlinie wieder hervortrat, gebrochen von dem Gewirr ungezählter Schaluppen und Sturmboote, dachte er Das sind mehr, als ich mir je hätte vorstellen können, ein Seefahrervolk, von dem ich genau so wenig gewußt hatte, aber vielleicht dachte er es auch nicht, sondern verfolgte, wie sich die Barkasse durch die von Molen eingedämmte Enge der Einfahrt bohrte, dahinter die Stadt im grauen Dunst, und dann ein Kai, an dem die Barkasse anlegte; eine schweigsame Menschenmenge sah ihnen entgegen mit der ihm schon vertrauten, verlorenen Ergebenheit, und er erkannte ihre Herkunft sofort, obwohl er damals, als er an Vicksburg vorbeigekommen war, es gar nicht bemerkt hatte – Menschen mit dem unverkennbar eingebrannten Stempel der gewaltsam zur Heimatlosigkeit Verdammten, den er noch mehr als alle andern trug, er, der dennoch keinem erlaubt hätte, ihn einen der ihren zu nennen. »So«, sagte der Bootsführer zu ihm. »Da wären wir.« »Und das Boot?« sagte der Sträfling. »Sie haben es doch bekommen. Was wollen Sie denn nun noch – ’ne Quittung?« »Nein«, sagte der Sträfling. »Nur das Boot.« »Dann nehmen Sie’s doch. Aber Sie werden einen Riemen brauchen, damit Sie es sich um den Hals hängen und forttragen können.« (»Tragen?« sagte der 134
dicke Sträfling. »Wohin denn tragen? Wohin solltest du es denn tragen?«) Er (der Große) erzählte es: wie er und die Frau ausstiegen und einer der Männer ihm half, das Boot aus dem Wasser zu heißen, und wie er dann dastand, die Leine ums Handgelenk gewickelt, und wie ein Mann geschäftig hin und her eilte und sagte, »So. Nun die nächste Ladung! Die nächste Ladung!« und wie dann er (der Sträfling) auch diesem Mann die Sache mit dem Boot vortrug, und der Mann »Boot? Boot?« schrie, und wie er (der Sträfling) mit den Leuten ging, die das Boot eine Strecke weit trugen und aufbockten und festmachten neben den andern Booten, und wie er den Abstand zwischen einem Coca-Cola-Plakat und dem Bogen einer Zugbrücke schätzte, um das Boot wiederzufinden, wenn er zurückkäme, und wie er und die Frau (er mit dem papierumwickelten Bündel) in einen Lastwagen verladen wurden, und wie der Lastwagen nach einer Weile vom Verkehr aufgenommen wurde und zwischen eng stehenden Häusern hindurchfuhr: und dann ein großes Gebäude, eine Turnhalle – »Turnhalle?« sagte der Dicke. »Du meinst ein Gefängnis.« »Nein. Es war irgend so ’ne Halle, in der viele Leute mit Bündeln auf dem Boden lagen.« Und wie er gedacht hatte, vielleicht sei auch sein Partner hier, und nach dem Cajun suchte und dabei eine Gelegenheit abwartete, zurück zur Tür zu kommen, wo der Soldat stand, und wie er schließlich zur Tür kam, die Frau hinter ihm, und das Gewehr auf seine Brust gerichtet wurde. 135
»Weg da, weg da«, sagte der Soldat. »Zurück hier. Es gibt ja gleich was anzuziehn. So können Sie sowieso nich auf der Straße rumlauf’n. Un’ was zu essen gibt’s auch bald. Vielleicht sin’ bis dahin schon Ihre Leute da.« Er erzählte auch dies; und wie die Frau meinte, »Wenn Sie ihm gesagt hätten, daß hier Ihre Leute wär’n, hätt er uns vielleicht rausgelassen.« Und daß er es nicht getan hatte; aber auch dies hätte er nicht erklären können, weil es zu tief in ihm saß, zu verwurzelt war; denn er hatte es noch nie in Worten zu denken brauchen in all den langen Generationen seines Ichs – als Gebirgler hatte er einen nüchternen und besorgten Respekt, nicht vor der Wahrheit, sondern vor der Macht, der Gewalt der Lüge – : nicht geizig zu sein im Lügen, sondern es mit Hochachtung und Geschick zu tun, behutsam, gewandt und treffend wie eine dünne, tödliche Klinge. Und wie sie ihm dann Kleider gebracht hatten – eine blaue Bluse und Overalls – und kurz darauf auch etwas zu essen (eine forsche, steif gestärkte, junge Frau sagte, »Aber das Baby muß gebadet, gewaschen werden, sonst stirbt es Ihnen«, und die Frau sagte. »Natürlich. Er wird zwar ’n bißchen brüll’n, is’ ja noch nie gebadet worden. Aber es is’n braves Baby«), und dann war es Nacht, und die kahlen Glühbirnen brannten grell und hart und verloren über den Schnarchenden, und er erhob sich und weckte die Frau. Und dann das Fenster. Er erzählte davon: es gab zwar viele Türen, wenn er auch nicht wußte, wohin sie führten, schwierig jedoch war es, ein günstiges Fenster zu finden, aber schließlich fand er doch eines, und er nahm das Paket und das 136
Baby und kletterte als erster hinaus – »Du hättest ein Laken zerreißen und dich daran hinablassen sollen«, sagte der dicke Sträfling. Aber er brauchte kein Laken; schon spürte er in der dichten Finsternis Kieselsteine unter den Füßen. Auch die Stadt war hier irgendwo, aber er hatte sie noch nicht gesehen und würde sie auch nicht sehen – tief liegendes, unablässiges Flimmern; hier war Bienville gewesen – Stadt der Hirngespinste eines Schwächlings, der sich schlicht Napoleon nannte –, und Andrew Jackson hatte gefunden, von der Pennsylvania Avenue bis hierher sei nur ein Schritt. Der Sträfling jedoch fand es beträchtlich weiter als einen Schritt bis zur Hafeneinfahrt und zu seinem Boot, und das Coca-Cola-Plakat lag jetzt im Dunkel, und die Zugbrücke wölbte sich spinnenhaft vor dem narzißgelben, morgendämmernden Himmel: er erzählte auch nicht – genau so wenig wie über den achtzehn Meter hohen Deich –, auf welche Art er das Boot zurückgebracht und zu Wasser gelassen hatte. Bald lag der See hinter ihm; es gab für ihn nur eine Richtung, in der er fahren konnte. Als er den Strom wiedersah, erkannte er ihn sofort. Das war auch kaum anders möglich; der Strom war zum unverrückbaren Teil seiner Vergangenheit geworden, seines Lebens; er würde ein Teil dessen sein, was er (der Sträfling) einmal vererbte, falls dies ihm vergönnt war. Vier Wochen später jedoch würde er ganz anders aussehen als jetzt, und das tat er auch: er (der Alte Mann) hatte sich von seiner Ausschweifung erholt, war wieder in sein Bett zurückgetreten, war wieder Old Man, der sich gemächlich zum Meer hinrollte, deren Flanken 137
auf der Innenseite gerunzelt waren wie in erstarrtem und erstorbenem Erstaunen und gekrönt vom saftigen Grün der sommerlichen Weiden; dahinter, achtzehn Meter tiefer, preßten die seidigen Maulesel ihre vierschrötigen Hinterbacken gegen die breiten Zugstangen der Zweischarpflüge – auf dieser fetten Erde, die es gar nicht nötig hatte, daß man sie bepflanzte, der man den Baumwollsamen nur zu zeigen brauchte, worauf sie bereits zu sprossen begann; im Juli würden es die symmetrischen Reihen starker Stengel sein, im August die purpurnen Blüten, im September weißschwellende schwarze Felder, und dann die Pflücker, die ihre langen Säcke leicht nachschleifen, während die langen, schwarzen, weichen Hände zupfen und die heiße Luft geschwängert ist vom Wimmern der Entkernungsmaschinen, aber dann wäre es schon September, und jetzt war erst Juni, voll vom Duft der Robinien und (in den Städten) vom Geruch frischer Farbe und von dem säuerlichen Geruch des Tapetenkleisters – Städte, Dörfer, kleine, einsame gestelzte Anlegestege an der Außenberme des Deiches, die unteren Stockwerke leuchtend und protzend mit frischer Farbe und neuen Tapeten, und selbst die Spuren von den wütenden Wassern des Mai an Pfosten und Pfählen und Bäumen verblaßten mehr und mehr mit jedem glitzernden, silbrigen Guß sommerlich lärmenden und nicht anhaltenden Regens; am Fuße des Innendeiches ein Laden, im schläfrigen Staub ein paar gesattelte und mit Seilen aufgezäumte Maulesel und einige Hunde, und auf der Treppe unter den Plakaten für Kautabak und Malariamittel etliche Neger und 138
drei Weiße, von denen einer ein Sheriff war, der soeben seinen Wahlbezirk bearbeitete, um Stimmen zu gewinnen, weil er bei den örtlichen Wahlen im August seinen Vorgesetzten (der ihm diese Stelle verschafft hatte) schlagen wollte, und sie alle sahen dem Boot entgegen, das plötzlich im Glitzerglanz des nachmittäglichen Wassers sichtbar wurde und sich näherte und anlegte und aus dem erst eine Frau mit einem Kind auf dem Arm ausstieg, dann ein Mann, ein großer Mann, der auf sie zukam, gekleidet in einen verschossenen, doch offensichtlich frisch gewaschenen, sauberen Sträflingsanzug; er blieb im Staub bei den Mauleseln stehen und blickte mit hellen, kalten, humorlosen Augen zu ihnen herüber, während der Sheriff mit jener Geste unter die Achsel griff, von der man erwartet, sie müsse in Sekundenschnelle eine Pistole hervorbringen – aber nichts geschah. Der Ankömmling jedoch hatte genug gesehen. »Sie sind’n Polizist?« sagte er. »Da haben Sie verdammt recht«, sagte der Sheriff. »Lassen Sie mich nur erst dieses verdammte Schießeisen – « »Gut«, sagte der andere. »Da unten liegt Ihr Boot, un’ hier is’ die Frau. Aber den Kerl auf dem Baumwollschuppen konnt ich nich finden.«
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Fünftes Kapitel
Einer von den jungen Leuten des Gouverneurs traf am nächsten Morgen in der Strafanstalt ein. Das heißt, er war ziemlich jung (er würde nie wieder Dreißig sein, aber das wollte er ohne Zweifel auch gar nicht, denn man durfte hinter ihm einen Charakter vermuten, der sich nie etwas gewünscht hatte und sich auch nie etwas wünschen würde, das er nicht besaß oder besitzen sollte), ein Phi Beta Kappa von einer Universität im Osten, ein im Stabe des Gouverneurs stehender Colonel, der sich diesen Titel nicht im Gefecht erworben hatte, sondern dadurch, daß er in seinen östlich geschnittenen saloppen Anzügen, mit der geschwungenen Nase und den trägen, verächtlichen Augen, auf den Galerien vieler kleiner einsamer Hinterwäldlerläden seine Geschichten erzählt und das Gähnen der in Overalls steckenden und ausspuckenden Zuhörer dafür geerntet hatte, mit dem gleichen Blick Kinder liebkost hatte, die in Erinnerung an die letzte Regierung oder zu Ehren (oder in Hoffnung) der nächsten benannt worden waren, und in zufälliger Trägheit (so heißt es von ihm, was aber sicherlich nicht stimmte) ebenso die Hinterteile von einigen, die keine Kinder mehr waren, wenn auch noch nicht alt genug, um zu wählen. Er stand mit einer Aktentasche im Büro des Direktors, und beinahe gleichzeitig war auch schon 141
der stellvertretende Direktor da, der zum Deich beordert gewesen war. Man hätte sowieso nach ihm geschickt, wenn auch nicht sofort, aber er war bereits von sich aus gekommen, ohne anzuklopfen, ohne den Hut abzunehmen, und er rief den jungen Mann des Gouverneurs beim Spitznamen und klatschte ihm mit der flachen Hand auf den Rücken und hob die eine Hinterbacke auf den Schreibtisch des Direktors und saß nun mehr oder weniger zwischen dem Direktor und dem Besucher, dem Abgesandten. Oder besser: dem Großwesir mit der Verfügung, mit der geknüpften Kordel, wie sich bald herausstellen sollte. »Tja«, sagte der junge Mann des Gouverneurs, »da haben Sie sich schön was eingebrockt.« Der Direktor rauchte eine Zigarre. Er hatte auch dem Besucher eine angeboten. Sie war abgelehnt worden, aber gleich darauf beugte sich der stellvertretende Direktor zurück – der Direktor betrachtete dabei in harter, zorngeladener Starre dessen Nacken – und griff nach hinten und zog die Schublade auf und angelte sich eine heraus. »Mir leuchtet die Sache durchaus ein«, sagte der Direktor. »Er wurde gegen seinen Willen abgetrieben. Sobald er konnte, ist er ja zurückgekommen und hat sich gestellt.« »Hat sogar das verdammte Boot wiedergebracht«, sagte der stellvertretende Direktor. »Wenn er das Boot irgendwo hätte liegen lass’n, wär er zu Fuß in drei Tagen hier gewesen. Aber nein. Er bringt sein Boot zurück. ›Hier is’ Ihr Boot, un’ hier is’ die Frau, aber den Kerl auf dem Baumwollschuppen konnt ich 142
nich finden.‹« Er klatschte sich gähnend auf die Schenkel. »Diese Sträflinge. Ein Maulesel hat doppelt soviel Verstand wie sie.« »Ein Maulesel hat doppelt soviel Verstand wie jeder, aber viermal soviel wie ein Schwein«, sagte der Abgesandte verbindlich. »Doch darum geht es nicht.« »Worum dann?« sagte der Direktor. »Dieser Mann ist tot.« »So sehn Sie aus, der is’ nich tot«, sagte der stellvertretende Direktor. »Der is’ in diesem Augenblick in seiner Baracke un’ schläft sich eins weg. Sie können ja mal mitkommen un’ ihn sich ansehn.« Der Direktor blickte den stellvertretenden Direktor an. »Da fällt mir ein«, sagte er, »Bledsoe hat mir irgendwas von dem Bein des Kate-Mulis erzählt. Gehn Sie doch gleich mal in den Stall und – « »Hab ich schon erledigt«, sagte der stellvertretende Direktor. Er blickte den Direktor überhaupt nicht an. Er blickte nur den Abgesandten an, sprach nur mit ihm. »Nein, Sie. Der is’ nich – « »Aber er ist als Toter offiziell entlassen worden. Nicht begnadigt oder Urlaub auf Ehrenwort: entlassen. Er ist entweder tot oder frei. In jedem Fall gehört er nicht hierher.« Jetzt blickten beide, der Direktor und der stellvertretende Direktor, den Abgesandten an, und der Mund des stellvertretenden Direktors stand noch ein wenig offen, und die Zigarre schwebte in seiner Hand und wartete darauf, daß man ihr die Spitze abbiß. Der Abgesandte sprach höflich, sprach ausgesprochen gewählt: »Laut einer Todeserklärung, die vom Direktor der Strafanstalt an den Gouverneur 143
geschickt worden ist.« Der stellvertretende Direktor klappte den Mund zu, rührte sich aber nicht vom Fleck. »Laut amtlicher Beglaubigung des damals beauftragten Beamten, der den Gefangenen in die Strafanstalt zurückzuführen hatte.« Der stellvertretende Direktor steckte sich die Zigarre in den Mund und rutschte langsam vom Schreibtisch herunter und rollte die Zigarre zwischen den Lippen hin und her und sprach dabei: »So also ist das. Ich soll’s gewesen sein, was?« Er lachte zweimal kurz auf, lachte theatralisch. »Ich, der ich’s fertiggebracht habe, mich während drei verschiedenen Regierungen zu halt’n? Das muß doch genauso in den Büchern zu finden sein. Das wer’n die in Jackson schon irgendwo aufstöbern. Un’ wenn nicht, werd ich’s ihnen eben zeigen – « »Drei Regierungen?« sagte der Abgesandte. »Allerhand. Das ist ja ausgezeichnet.« »Das is’ verdammt nochmal ausgezeichnet«, sagte der stellvertretende Direktor. »Unsre Gegend is’ voll von Leuten, die sowas nich fertigbringen.« Wieder betrachtete der Direktor den Nacken des stellvertretenden Direktors. »Wissen Sie was«, sagte er. »Gehn Sie doch mal in mein Haus rüber und holen Sie die Whiskyflasche aus dem Büffet und bringen Sie sie her.« »Von mir aus«, sagte der stellvertretende Direktor. »Aber ich bin dafür, daß wir das erst hübsch klarstell’n. Ich will Ihnen sagen, wie wir das machen – « »Bei ein paar Gläschen stellen wir das viel schneller klar«, sagte der Direktor. »Gehen Sie erst mal zu 144
sich rüber und holen Sie Ihren Rock und dann die Flasche – « »Das dauert mir zu lange«, sagte der stellvertretende Direktor. »Ich brauch keinen Rock.« Er ging zur Tür, wo er stehenblieb und sich umdrehte. »Ich mach Ihnen ’nen Vorschlag. Rufen Sie einfach zwölf Leute rein un’ sagen Sie ihm, das hier sei ’n Geschwor’ngericht – er hat ja erst eins kennengelernt un’ weiß es nich besser –, un’ verurteilen Sie ihn wegen Bankraubs. Hamp kann ja den Richter spiel’n.« »Sie können keinen zweimal wegen desselben Verbrechens verurteilen«, sagte der Abgesandte. »Das zumindest wird er wissen, wenn er auch vielleicht kein Geschworenengericht mehr kennt, obwohl er schon eines gesehen hat.« »Hören Sie«, sagte der Direktor. »Na schon. Dann nennen Sie’s eben ’nen neu’n Bahnraub. Sagen Sie ihm, es sei gestern gewesen, sagen Sie ihm, er habe wieder ’nen Zug ausgeraubt, während er weg war, un’ habe’s nur vergessen. Dann kann er gar nichts machen. Außerdem wird’s ihm wurst sein. Der is’ hier genau so gern wie draußen. Wüßte ja doch nich, wo er hin sollte, wenn er draußen wäre. So sin’ sie alle. Lassen Sie einen frei, un’ Sie können sich verdammt drauf verlass’n, daß er bis Weihnachten wieder hier is’ wie zu ’ner Wiedersehensfeier, un’ zwar wegen derselben Sache, die ihn schon einmal hierhergebracht hat.« Abermals gähnte er. »Diese Sträflinge.« »Passen Sie mal auf«, sagte der Direktor. »Wenn Sie dort sind, dann machen Sie doch die Flasche auf und 145
probieren Sie, ob das Zeug überhaupt noch schmeckt. Trinken Sie ein paar Gläser. Lassen Sie sich dazu nur Zeit. Wenn er nicht mehr gut ist, hat es ja keinen Zweck, daß Sie ihn erst herbringen.« »Gemacht«, sagte der stellvertretende Direktor. Und diesmal ging er. »Kann man die Tür nicht abschließen?« sagte der Abgesandte. Der Direktor schob sich leicht nach vorn. Das heißt, er rückte sich im Sessel zurecht. »Er ist gar nicht so uneben«, sagte er. »Immerhin hat er nun schon dreimal die richtige Nase bewiesen. Und er ist im Distrikt Pittman mit sämtlichen Leuten verwandt – außer mit den Niggern.« »Naja, vielleicht können wir es kurz machen.« Der Abgesandte öffnete die Tasche und zog ein Bündel Akten heraus. »So ist das also.« »Wie ist das also?« »Er ist geflohen.« »Aber er ist pflichtschuldig zurückgekommen und hat sich gestellt.« »Aber er ist geflohen.« »Nun gut«, sagte der Direktor. »Er ist geflohen. Na und?« Jetzt sagte der Abgeordnete ›passen Sie auf‹. Das heißt, er sagte, »Hören Sie mal. Ich bin per diem. Bin es durch die Steuerzahler, Wähler. Und wenn auch nur die geringste Chance bestünde, daß jemand auf die Idee verfiele, eine Untersuchung einzuleiten, dann kämen zehn Senatoren und fünfundzwanzig Abgeordnete hierher – womöglich mit Sonderzug. Per diem! Und es wäre dann nicht ganz einfach, etliche davon abzuhalten, 146
über Memphis oder New Orleans nach Jackson zurückzufahren – per diem.« »Na schön«, sagte der Direktor. »Was hat er also vorgeschlagen?« »Folgendes: der Mann hat die Strafanstalt unter Aufsicht eines bestimmten Beamten verlassen. Er ist jedoch von einem anderen zurückgebracht worden.« »Aber er – « Diesmal unterbrach sich der Direktor selbst. Er blickte, ja starrte den Abgesandten an. »Schön. Weiter.« »Unter Aufsicht eines beauftragten und bevollmächtigten Beamten, der hierher zurückkehrte und meldete, daß der Sträfling nicht mehr bei ihm sei; das heißt also, daß er nicht wußte, wo sich der Sträfling befand. So war es doch, oder nicht?« Der Direktor sagte nichts. »So war es doch?« sagte der Abgeordnete freundlich, hartnäckig. »Aber das können Sie ihm doch nicht antun. Ich sag Ihnen ja, der ist verwandt mit dem halben – « »Dafür ist schon gesorgt. Der Chef hat für ihn einen Posten bei der Verkehrspolizei, bei der Überwachung der Fernverkehrsstraßen freigemacht.« »Lieber Himmel«, sagte der Direktor. »Der kann doch nicht Motorrad fahren. Ich lasse ihn ja nicht einmal an einen Lastwagen heran.« »Braucht er auch nicht. Ein von Dankbarkeit hingerissener Staat wird doch wohl noch einem Mann, der bei den allgemeinen Wahlen in Mississippi dreimal die richtige Nase bewiesen hat, einen Wagen stellen können, und wenn es sein muß, auch jemanden, der ihn fährt. Er braucht ja nicht einmal die ganze Zeit im 147
Auto zu sitzen. Es genügt, wenn er in der Nähe bleibt, so daß er herauskommen kann, sobald ein Inspektor aufkreuzt und den Wagen sieht und anhält und hupt.« »Mir ist trotzdem nicht wohl dabei«, sagte der Direktor. »Mir auch nicht. Ihr Mann hätte uns das alles ersparen können, wenn er weggeblieben wäre und sich ersäuft hätte, wie er es offenbar fertiggebracht hat, jedem weiszumachen. Aber er wollte ja nicht. Außerdem besteht der Chef darauf. Oder haben Sie vielleicht einen besseren Vorschlag?« Der Direktor seufzte. »Nein«, sagte er. »Also gut.« Der Abgesandte schlug die Akte auf und schraubte die Kappe vom Füllfederhalter und begann zu schreiben. »Fluchtversuch aus der Strafanstalt, zehn weitere Jahre«, sagte er. »Stellvertretender Direktor Buckworth zur Verkehrspolizei versetzt. Nennen Sie es von mir aus wegen besonderer Verdienste. Darauf kommt es ja nicht mehr an. Erledigt?« »Erledigt«, sagte der Direktor. »Dann lassen Sie ihn holen. Damit wir es hinter uns haben.« Der Direktor schickte nach dem großen Sträfling, und dieser erschien sofort, finster und feierlich in seinem neuen Drillichanzug, die Wangen blau und gespannt unter der Sonnenbräune, das Haar frisch geschnitten und säuberlich gescheitelt und zart duftend nach der Pomade des Anstaltsfrisörs (der Frisör hatte wegen Ermordung seiner Frau lebenslänglich, war aber immer noch Frisör). Der Direktor nannte den Namen des Sträflings. »Sie hatten Pech, was?« Der Sträfling gab keine Ant148
wort. »Man wird Ihnen zehn weitere Jahre aufbrummen.« »In Ordnung«, sagte der Sträfling. »Pech. Tut mir leid.« »In Ordnung«, sagte der Sträfling. »Wenn’s das Gesetz so will.« Und sie verurteilten ihn zu zehn weiteren Jahren, und der Direktor gab ihm die Zigarre, und nun saß er zurückgeklappt wie ein Messer zwischen den oberen und den unteren Bettkästen, in der Hand die nicht brennende Zigarre, während der dicke Sträfling und vier andere ihm zuhörten. Oder ihn vielmehr ausfragten, denn jetzt war ja alles vorbei und erledigt und er wieder in Sicherheit, und darum verlohnte es sich für ihn nicht mehr, darüber zu reden. »Also«, sagte der Dicke. »Und nun warst du erneut im Strom. Und dann?« »Nichts. Ich hab gerudert.« »War es denn nicht schwierig, gegen den Strom zu rudern?« »Das Wasser stand immer noch recht hoch. War nich so ganz einfach. In den ersten zwei Wochen konnt ich keine große Geschwindigkeit nich rausschlagen. Danach ging’s besser.« Dann plötzlich lockerte sich unversehens und unauffällig die Wortkargheit, das ungeborene, ererbte Zögern im Sprechen, und er merkte, daß er erzählte, hörte sich selber dabei zu, und die Worte glitten ihm zwar nicht schnell, aber doch leicht, wie er sie gerade brauchte, über die Zunge: Wie er weitergepaddelt war (er hatte mit der Zeit herausgefunden, daß man in Ufernähe größere Geschwindigkeiten erzielte – falls man hier überhaupt von Ge149
schwindigkeiten reden konnte –, und dies, nachdem er, ehe er es zu verhindern vermochte, auf einmal mit aller Gewalt in die Mitte des Stromes gerissen und das Boot über den Achtersteven gezogen worden war, dorthin, woher er soeben gekommen, und so mußte er fast den ganzen Vormittag damit verbringen, in die Nähe des Ufers und zu jener Hafeneinfahrt zu gelangen, aus der er am Morgen gekommen war), bis die Nacht einbrach und sie am Ufer anlegten und etwas von den Vorräten aßen, die er beim Verlassen der Turnhalle in New Orleans in seiner Bluse versteckt hatte, und wie immer schliefen die Frau und das Baby im Boot, und bei Tagesanbruch fuhren sie weiter und legten auch an diesem Abend wieder an, und am nächsten Tag gingen die Vorräte aus, und er steuerte einen Anlegesteg an, eine Stadt, deren Namen er nicht herausfand, und dort bekam er Arbeit. Auf einer Schilfrohrpflanzung – »Schilfrohr?« sagte einer der anderen Sträflinge. »Wozu wird denn Schilfrohr angepflanzt? Das schneidet man doch bloß. Bei uns zu Hause wird es regelrecht bekämpft. Man verbrennt’s, nur um’s los zu sein.« »Es war Sorghum«, sagte der große Sträfling. »Sorghum?« sagte ein anderer. »Eine ganze Pflanzung, nur um Sorghum anzubauen Sorghum? Was haben die bloß damit gemacht?« Der Große wußte es nicht. Er fragte auch nicht, er ging einfach den Deich hinauf, und dort stand ein Lastwagen voller Nigger, und ein Weißer sagte, »Sie da. Können Sie mit ’nem Pflug umgehn?« und der Sträfling sagte, »Ja«, und der 150
Mann sagte, »Steigen Sie ein«, und der Sträfling sagte, »Aber ich hab ’ne – « »Ja«, sagte der Dicke. »Das wollte ich schon fragen. Was hat – « Das Gesicht des Großen blieb unbewegt, und er sagte ruhig, wenn auch etwas kurz angebunden: »Sie hatten Wohnzelte für die Leute. Weiter hinten.« Der Dicke zwinkerte ihm zu. »Dachten die, sie sei deine Frau?« »Weiß nich. Schon möglich.« Der Dicke zwinkerte ihm zu. »War sie denn nicht deine Frau? Sagen wir mal, so von Zeit zu Zeit?« Der Große ging auf diese Frage überhaupt nicht ein. Gleich darauf hielt er die Zigarre hoch und tat, als untersuchte er ein sich ablösendes Deckblatt, und leckte die Zigarre danach sorgfältig am Ende an. »Na schön«, sagte der Dicke. »Was dann?« Er arbeitete dort vier Tage. Es gefiel ihm nicht. Vielleicht weil auch er kein rechtes Zutrauen zu dem gewann, was er für Sorghum hielt. Als sie ihm daher sagten, es sei Samstag, und ihn entlohnten und der Weiße ihm von jemandem erzählte, der am nächsten Tag mit einem Motorboot nach Baton Rouge fahre, suchte er den Mann auf und nahm die sechs verdienten Dollar und kaufte sich Proviant dafür und band sein Boot an das Motorboot und gelangte so nach Baton Rouge. Es dauerte nicht lange, und auch nachdem er das Motorboot in Baton Rouge verlassen hatte und wieder paddelte, schien es dem Sträfling, als wäre das Wasser gefallen und die Strömung nicht mehr so reißend, und dadurch kamen sie gut vor151
wärts, legten nachts am Ufer zwischen den Weiden an, und die Frau und das Baby schliefen wie eh und je im Boot. Dann hatten sie abermals nichts mehr zu essen. Diesmal war es eine Holzlände, wo aufgestapelte Bretter lagerten, und von einem Wagen mit einem Gespann davor wurde abgeladen. Der Fuhrmann erzählte ihm von dem Sägewerk und half ihm, das Boot auf den Deich zu ziehen, er sollte es eigentlich dort liegen lassen, aber das wollte er nicht, und so luden sie es mit auf den Wagen, und er und die Frau kletterten hinauf, und dann fuhren sie zum Sägewerk. Sie bekamen ein Zimmer in einem Haus, in dem sie wohnen durften. Und sie erhielten zwei Dollar pro Tag und die nötige Einrichtung. Es war harte Arbeit. Es gefiel ihm. Er blieb acht Tage dort. »Wenn es dir so gefallen hat, warum bist du dann abgehauen?« sagte der Dicke. Wieder untersuchte der Große die Zigarre und hielt sie ins Licht, das die feiste, schokoladefarbene Rolle beschien. »Hatte Scherereien«, sagte er. »Was für Scherereien?« »Weiber. Die Frau von ’nem Kumpel.« »Willst du damit sagen, daß du die eine Tag und Nacht, über einen Monat lang, landauf und landab geschleppt hast, um dann gleich das erste Mal, da du ein bißchen zur Ruhe gekommen bist und Luft holen konntest, Scherereien wegen einer andern zu kriegen?« Der Große hatte sich das auch schon gefragt. Er wußte es noch gut: es hatte anfangs Zeiten, Augenblicke gegeben, da er es vielleicht versucht hätte, wäre nicht das Baby gewesen. Aber das waren wirklich nur 152
Augenblicke, denn schon im nächsten Moment wehrte sich sein ganzes Sein gegen diesen Gedanken voller Abscheu und Entsetzen; und dann äugte er von ferne zu diesem Mühlstein hinüber, den ihm die Kraft und Gewalt blinden und lächerlichen Strömens an den Hals gehängt hatte, und er dachte, ja sagte es laut – obwohl es noch keine zwei Jahre her war, daß er eine Frau gehabt hatte; eine namenlose und nicht mehr junge Negerin, eine Zufallsbekanntschaft, eine Herumstreicherin, die er mehr oder weniger beiläufig an einem der alle Wochen fälligen Besuchssonntage aufgeschnappt hatte und deren Mann (Ehemann oder Geliebter), den sie hatte besuchen wollen, ein Wärter etwa eine Woche vorher erschossen hatte, was ihr nicht einmal bekannt gewesen war – : »Dafür war die noch nich mal mir gut genug.« »Aber die andere, die hast du doch gehabt, oder?« sagte der Dicke. »Allerdings«, sagte der Große. Der Dicke blinzelte ihm zu. »War sie gut?« »Gut sind sie alle«, sagte einer der andern. »Ja, und dann? Weiter. Wie viele hast du auf dem Rückweg noch gehabt? Wenn einer mal damit anfängt, kann er anscheinend nicht mehr aufhören, selbst wenn – « Aber dabei blieb es, erzählte ihnen der Sträfling. Sie verließen eilends das Sägewerk, und er fand nicht einmal Zeit, etwas zu essen zu kaufen, bevor sie die nächste Anlegestelle erreichten. Dort gab er die verdienten sechzehn Dollar bis auf den letzten Penny aus, und dann paddelten sie wieder. Das Wasser war wei153
terhin gefallen, ohne Zweifel, und Proviant für sechszehn Dollar war eine ganze Menge, und er glaubte, damit gut versorgt zu sein, damit hinzukommen. Aber vielleicht war die Strömung des Stromes doch stärker, als es schien. Doch diesmal war es immerhin Mississippi, war es Baumwolle: es tat gut, wieder die Griffe des Pfluges in den Händen zu fühlen und die gespannten und gedrungenen, glatten Hinterbacken vor der mittleren Schar vor sich zu haben, wenn man hier auch nur einen Dollar am Tag bekam. Aber das genügte. Er erzählte: abermals sagte man ihm, es sei Sonnabend, und entlohnte ihn, und er erzählte: Nacht, eine blakende Laterne in einem Rund verbrauchter und unfruchtbarer Erde, sanft wie Silber, ein Kreis hockender Gestalten, das aufdringliche Murmeln und die Ausrufe, die kleinen Haufen abgegriffener Scheine unter den gebogenen Knien, die klickenden, im Staub dahinrollenden punktierten Würfel; und damit reichte es. »Wieviel hast du gewonnen?« sagte der zweite Sträfling. »Genug«, sagte der Große. »Wieviel denn?« »Genug«, sagte der Große. Es war tatsächlich genug; er gab alles dem Mann, dem die zweite Barkasse gehörte (jetzt brauchten sie ja nichts mehr zu essen), und dann saßen er und die Frau wieder in der Barkasse, das Boot hinter ihnen im Schlepp, die Frau mit ihrem Baby, und er mit seinem papierumhüllten Bündel, das er mit friedvoller Hand auf dem Schoß festhielt; fast augenblicks erkannte er es – nicht Vicksburg, denn Vicksburg hatte er nie gesehen, sondern 154
das Gerüst, unter dem er auf der tosenden Woge von Bäumen und Häusern und toten Tieren vor einem Monat und drei Wochen hindurchgeschossen war, von Donner und Blitzen begleitet; er aber blickte unbewegt, ja fast gelangweilt hinüber, als die Barkasse weiterfuhr. Dann jedoch beobachtete er das Ufer, den Deich. Er wußte nicht, woran er es erkennen sollte, aber er wußte, daß er es erkennen würde, und dann wurde es Nachmittag, und der Augenblick kam, und er sagte zu dem Eigentümer der Barkasse: »Ich glaube, das genügt.« »Hier?« sagte der Mann. »Das sieht mir aber nicht nach irgendwas aus.« »Ich glaube, das ist es«, sagte der Sträfling. Die Barkasse drehte bei, der Motor verstummte, und sie trieb gegen den Deich und legte an, und der Mann löste die Schleppleine. »Ich hätte Sie lieber mitgenommen, bis wir irgendwohin gekommen wären«, sagte er. »So war’s doch ausgemacht.« »Ich glaube, das genügt«, sagte der Sträfling. Sie stiegen aus, und er hielt die Weinranke in der Hand, während die Barkasse wieder zu tuckern begann und abdrehte; aber er sah ihr nicht nach. Er legte das Bündel nieder und band die Bootsleine an einen Weidenzweig und hob das Bündel auf und wandte sich um. Ohne ein Wort kletterte er den Deich hinauf, schritt über den Grenzstreifen, die Flutlinie des verflossenen Zorns, jetzt ein getrocknetes Band, geädert von flachen, gähnenden Rissen gleich einem närrischen und mißbilligenden und senilen Grinsen, trat in 155
ein Weidengebüsch und zog Overall und Hemd aus, die man ihm in New Orleans gegeben hatte, und ließ sie fallen, ohne darauf zu achten, wohin sie fielen, öffnete das Bündel und holte den andern Anzug heraus, den vertrauten, ersehnten, ein wenig verschossenen, ein wenig verfleckten und zog ihn an und kehrte zum Boot zurück und nahm das Paddel auf. Die Frau war bereits eingestiegen. Der dicke Sträfling stand vor ihm und blinzelte. »Du bist also wiedergekommen«, sagte er. »Na schön.« Nun verfolgten sie alle, wie der große Sträfling säuberlich die Spitze der Zigarre abbiß, langsam und umständlich, sie ausspie und die Bißstelle glatt und feucht leckte, ein Streichholz aus der Tasche zog und es einen Augenblick untersuchte, als wollte er sicher gehen, daß es ein gutes Streichholz, daß es der Zigarre wert wäre, und wie er es dann ebenfalls umständlich an der Hüfte anstrich – die Bewegung schien fast zu langsam, um Feuer erzeugen zu können – und es hochhielt, bis die Flamme klar und frei von Schwefel brannte, und sie dann an die Zigarre brachte. Der Dicke beobachtete ihn und zwinkerte schnell und unablässig. »Und für’s Weglaufen hast du zehn weitere Jahre aufgebrummt bekommen. Das ist übel. Man kann sich immerhin an das gewöhnen, zu dem man das erste Mal verknackt wird, mit dem man anfängt, einerlei wieviel es ist, selbst an hundertneunundneunzig Jahre. Aber zehn Jahre mehr. Zehn weitere Jahre außerhalb der Gesellschaft, ohne Umgang mit Frauen – « Unablässig zwinkerte er dem großen Sträfling zu. 156
Aber er (der große Sträfling) hatte bereits darüber nachgedacht. Er hatte einmal ein Mädchen gehabt. Das heißt, er war mit ihr zu den Gesangsstunden in die Kirche und zu Picknicks gegangen – ein etwa um ein Jahr jüngeres Mädchen, kurzbeinig, mit reifen Brüsten und einem vollen Mund und schwermütigen Augen gleich Muskatellertrauben, die eine ganze Backpulverdose mit Ohrringen und Broschen und Ringen besaß, von ihr im Warenhaus gekauft (oder ihr auf Bitten hin verehrt). Er hatte ihr damals seinen Plan enthüllt, und später kam ihm immer wieder der Gedanke, daß er ihn vielleicht nie ausgeführt hätte, wäre sie nicht gewesen – aber das war nur so ein Gefühl, das er nie geäußert hatte, weil er es doch nicht hätte ausdrücken können; denn wer mochte wissen, in welcher glockenlosen Brautschaft eines Al Capone sie ihr Schicksal und ihre Bestimmung sah, in welchem rasenden Wagen, voll von echtem gefärbtem Glas und Maschinengewehren, und in welchen vorbeifliegenden Verkehrsampeln. Aber das lag alles weit zurück, als ihm jener Gedanke zum erstenmal gekommen war – und im dritten Monat seiner Haft besuchte sie ihn. Sie trug Ohrringe und ein Armband oder so etwas, die er nie zuvor gesehen hatte, und es wurde auch nie ganz klar, wie sie den weiten Weg von zu Hause hierhergekommen war, und sie weinte während der ersten drei Minuten sehr, obwohl er sie gleich darauf (und er erfuhr auch nie genau, wie sie eigentlich getrennt worden waren oder wie sie die Bekanntschaft geschlossen hatte) in angeregter Unterhaltung mit einem der Wärter beobachtete. Aber ehe sie am 157
Abend zurückfuhr, küßte sie ihn und sagte, sie komme bei der nächsten Gelegenheit wieder, klammerte sich an ihn und atmete schwer und schwitzte ein wenig und roch nach Parfüm und jungem weiblichen Fleisch. Sie kam jedoch nicht wieder, obwohl er ihr weiterhin schrieb, und sieben Monate später erhielt er eine Antwort. Es war eine Postkarte, ein Farbdruck von einem Hotel in Birmingham, und auf eines der Fenster war dick ein X gezeichnet, und schräg und unreif und kindlich war auch die ungelenke Handschrift auf der Rückseite: Hir ham wir unsre Flidderwochen. Deine Freundin (Mrs) Vemon Waldrip. Der dicke Sträfling stand vor dem Großen und blinzelte ihm schnell und unablässig zu. »So ist das«, sagte er. »Die zehn Jahre mehr sind es, die’s ausmachen. Zehn weitere Jahre ohne Weiber, keine Weiber, die ein so großer Kerl doch braucht – « Er blinzelte unablässig und schnell und beobachtete den Großen. Der andere rührte sich nicht, lag zurückgeklappt wie ein Messer zwischen den beiden Bettkästen, ernst und sauber, und die Zigarre brannte sanft und voll in seiner sauberen, sicheren Hand, und der Rauch kräuselte sich empor zu dem dunklen, humorlosen und gelassenen Gesicht »Zehn weitere Jahre.« »Weiber – – – !« sagte der große Sträfling.
Nachwort
Vor zwanzig Jahren, im Herbst 1958, bin ich durch die amerikanischen Südstaaten gereist. Das Unternehmen war eher eine sentimental journey als einer jener ausgeklügelten Peilversuche, wie wir sie heute im literarischen Leben kennen: ein Schriftsteller durchwandert das Land eines Dichters, überprüft die Authentizität von Schauplätzen, von poetischen Provinzen. Damals gab es noch keinen Amerika-Tourismus. Die Erlangung eines Visums war mit dem Ausfüllen (und persönlichen Beeiden) eines inzwischen legendär gewordenen hochnotpeinlichen Fragebogens verbunden, und mein Vorhaben glich etwa dem eines Mannes, der in die USA reist, um dort mit den aus seiner Kinderzeit vertrauten Indianern am Lagerfeuer zu sitzen. Ich hatte zusammen mit Helmut M. Braem Bücher von William Faulkner übersetzt, und für einige Jahre lebten wir in unserer Stuttgarter Wohnung wie im Spinnennetz des sagenhaften »Yoknapatawpha-Distrikts«. Nun wollte ich William Faulkner, wollte ich den Mississippi leibhaftig sehen. Wäre ich damals vorgegangen, wie man es heute von einem Schriftsteller gewohnt ist, würde ich mich nicht in solche Don Quichotterie verstrickt haben. 161
Wochen um Wochen reiste ich in Greyhounds in Dixieland herum. William Faulkner war unauffindbar. In seiner Heimatstadt Oxford/Mississippi blieben Telefon und Haustürklingel stumm. Die Bewohner meinten, je nach Abneigung oder Wohlwollen, Faulkner weile bei seiner Tochter in Virginia – oder er sei wie immer in New York, wo er seit langem seine Bücher zu schreiben pflege – oder seine Frau habe ihn eingeschlossen, weil er wieder einmal »an der alten Krankheit« leide (ein im damals letzten trockenen Staat, Mississippi, notwendiger Euphemismus für die bei den Einwohnern quartalsweise auftretende Neigung zu schwarzgebranntem Whisky). Der Drugstorebesitzer schließlich, der sich als Faulkners Freund fühlte, weil er dessen Negerdiener auf schriftliche Bitte hin manchmal Aspirin verabreichte, verriet augenzwinkernd, als Frau hätte ich sowieso wenig Chance, die strenge Zensur der Mrs. Faulkner zu passieren. Da gab ich auf. Geradenwegs fuhr ich nach Memphis/Tennessee, dem Schauplatz so vieler skandalöser Vorfälle in Faulkner-Romanen. Nach meiner Straßenkarte lag Memphis direkt am Mississippi, und der würde mir nicht ausweichen. Doch die Vorstellung, als Fußgänger an den Ufern des großen Stromes entlangwandern zu können, war naiv genug. Auch der zweite von mir gesuchte Old Man wollte sich mir nicht zeigen. Die Menschen in der quirligen großen Stadt verstanden meinen Wunsch nicht, schickten mich in die Irre. Stets erwies sich das Erreichte als ein schmutziger Seitenarm voll Brackwasser, als schmaler Kanal an einem stillgeleg162
ten Eisenbahngelände oder einem geschlossenen Sommer-Drive-In, als schwingende Brücke in der Ferne, unerreichbar. Zwar erlangte ich da und dort zwischen überfüllten Parkplätzen oder Schrotthalden einen vagen Blick auf das tönern rote, unbewegte Gewässer, aber wirklich gesehen habe ich den wankelmütigen Strom dann erst von der höchsten Erhebung des Schlachtfeldes von Vicksburg: ein Blick aus Flugzeugperspektive hinab in ein Tal, das in der flirrenden Hitze zu verschwimmen schien, dessen milchige Konturen in Pastelltönen ineinanderflossen, dort, wo sich zwischen sumpfigem dunklem Grün der Yazoo River mit dem Mississippi vereinigte – die Stelle, wo der große Sträfling mit seinem Boot und der schwangeren Frau endlich von seinem Heimatstaat »ausgespien« und aufgenommen wird von der wogenden Brust des Vaters der Ströme. Zwei unberechenbare, eigensinnige alte Männer hatten sich meinen dreisten Annäherungsversuchen entzogen. Die Odyssee des Sträflings wird in meiner Erinnerung nicht mehr zu trennen sein von meinen jugendlichen hartnäckigen Nachstellungen und ihrer Vergeblichkeit. »Und da kam ihm die Einsicht, daß das Phänomen dieses Jahrzehnts nicht der augenblickliche Zustand war, sondern daß das Phänomen vielmehr die langen Jahre gewesen waren, in denen der Strom den hinfälligen Machwerken plumper menschlicher Erfindungen gestattet hatte, auf seiner friedvollen und schläfrigen Brust dahinzuziehen – der augenblickliche Zustand dagegen war seine Natur; der Strom tat jetzt, was er 163
wollte, denn er hatte zehn Jahre geduldig gewartet, um es eines Tages zu tun, so wie ein Maulesel zehn Jahre für jemand arbeiten kann, um ihn ein einziges Mal treten zu dürfen.« Faulkners Sprache, sonst oft übersteigert, changierend bis zur Nichtfaßbarkeit (und Unübersetzbarkeit!), ist in der Geschichte vom Strom habhaft wie gutes, durchgebackenes Brot. »Es waren einmal zwei Sträflinge«, so beginnt sie, aber natürlich gibt es gleich eine Klammer dazwischen, denn er hat so viel zu erzählen, daß er es einfach nicht in kurzen Sätzen unterbringen kann. Also: »Es waren einmal (in Mississippi, im Mai des Überschwemmungsjahres 1927) zwei Sträflinge. Der eine war etwa fünfundzwanzig, war groß, mager …« Der Sträfling hat keinen Namen. Er bleibt bis zum Schluß der »große Sträfling«, und das reicht für die Fabel völlig aus. Als Figur glauben wir ihn bereits zu kennen. Unter den verschiedenen Prototypen, die Faulkner in seinen Romanen mit immer neuen Gesichtern auftreten läßt, ist dieser ihm stets am besten geraten. Meist gehört er der sozialen Schicht der armen Weißen an (im Süden weniger rücksichtsvoll »white trash« genannt). Es sind Leute, für die Sprache kein Mittel der Kommunikation ist, die völlig eingebunden sind in ihrer physischen Welt. Sie sind irgendwann in ihrer Entwicklung stehengeblieben, sind oft sogar Idioten. Zu ihnen gehören Ike Snopes, Jim Bond, Cash Bundren, Byron Bunch, Benjy Compson. Die Verschiebung der Sprache vom Konkreten zum Abstrakten korrespondiert mit der Haltung die164
ser Menschen gegenüber der Erfahrung. (»… denn er hätte es nicht ausdrücken können und wußte daher nicht einmal, daß er es je einmal gedacht hatte.«) Der Sträfling spricht fast nichts mit der schwangeren Frau, die ihrerseits nur die nötigsten Signale aussendet. Ganz und gar sprachlos wird die Szene bei den Cajuns, wo der Sträfling die ihm eingeborene Rolle am besten spielen kann: übermenschlich hart arbeiten, ohne sich ausdrücken zu können, zu müssen. Natürlich führen diese reduzierten Personen auch ein reduziertes Leben. Seit sieben Jahren arbeitet der Sträfling auf der Zuchthausfarm Parchman im Schatten des Deiches und hat doch den Strom kein einzigesmal gesehen. Als er während der Überschwemmung mit dem Fluß konfrontiert, ja buchstäblich in ihm ausgesetzt wird, wächst sich diese unerwartete Begegnung mit dem Leben »draußen« zum Drama aus. Die Wirklichkeit ist der Schlag auf den Kopf, den er vom Heck des Bootes erhält, ist der Sturz ins Wasser, ist die Desorientierung durch die flußaufwärts tragende Flutwelle, ist das Drohen eines Dammbruchs, ist die Gewalt eines »kosmischen Spaßmachers« und die Vergeblichkeit, gegen die fremden Mächte anzugehen. In dieser Phase der Erzählung trifft exakt zu, was Günter Blöcker 1957 über Faulkners Stil geschrieben hat: »… dieses Dickicht der Sätze, diese Wortgebirge, dieses uferlose Bett, durch das sich der Ur-Strom seines Erzählens wälzt.« Mit dem Rückgang der Flut aber gerät auch des Sträflings Leben mehr und mehr in ein ruhiges Fahrwasser. Das Tempo der Ereignisse rollt langsam aus, 165
bis er ins Zuchthaus zurückgekehrt ist – in ein Leben außerhalb der Zeit und (weil die zweite, völlig ungerechtfertigte Verurteilung fraglos akzeptiert wird) der eigentlichen Freiheit. In der einfach verlaufenden Geschichte vom Strom finden wir all jene Elemente wieder, die in den umfangreicheren Romanen Faulkners das Gerüst bilden: die Vorstellungen des Menschen von Respektabilität und Ehre (hier sichtbar in den Bemühungen des Sträflings, die Frau zu retten, das Boot abzuliefern und sich selber zu stellen), die Aufhebung der Zeit (die im Sog der Überschwemmung weggetragen wird), die Revolte des Menschen gegen die Elementarmächte der Natur, gegen das Dasein und seine Inkarnation, das Weib, das immer auch »Ehe« bedeutet. (Ein Weib hat den Sträfling ins Zuchthaus gebracht, die Schwangere entfernt ihn von dort wider seinen Willen, und am Ende gerät er abermals wegen einer Frau in »Schwierigkeiten«, so daß der letzte Satz der Geschichte zugleich Quintessenz ist: »Weiber – – – !« sagte der große Sträfling.) Wichtiges Element aber, das alle Werke durchzieht, ist das »endure«: harren, ausharren, dauern, überdauern. Spätestens seit Faulkners Nobelpreisrede war klar, daß dies für ihn nicht nur literarisches Thema war, sondern ein leidenschaftlich verfochtenes persönliches Bekenntnis, das seinem stoischen Weltbild entsprach. »Ich lehne es ab, an den Untergang des Menschen zu glauben. Ich glaube, er wird nicht nur überleben, er wird auch Sieger bleiben. Er ist unsterblich, nicht nur, weil er allein von allen Geschöpfen eine unerschöpfli166
che Stimme hat, sondern weil er eine Seele hat, einen Geist, der des Mitgefühls, des Opfers und des Duldens fähig ist.« In manchen Romanen nimmt das Wort »endure« fast heroischen Charakter an. So heißt es in der Genealogie der Compsons zu ›Schall und Wahn‹ über die alte Negerin Dilsey, Repräsentantin der ihren Herren demütig dienenden Neger: »They endured.« Das Ausharren des großen Sträflings gehört in die Kategorie der anfangs genannten reduzierten Typen. Es ist nichts eigentlich Heldenhaftes daran, sondern viel Eigensinn, Sturheit, Beschränktheit. Oft bringt es uns mit seinem Aberwitz, seiner scheinbaren Sinnlosigkeit zum Lachen, doch immer schwingt in diesem Lachen etwas mit von dem Ingrimm der Betroffenen, und am Ende bleibt es uns als Mit-Leid in der Kehle stecken. Doch der Sträfling braucht unser Mitleid nicht. Für ihn gilt »der Trick …, daß ein Mann alles ertragen kann, wenn er sich einfach gelassen weigert, es hinzunehmen, sich damit abzufinden, sich zu ergeben« (›Das Haus‹). An diesem Punkt kommt die Hoffnung ins Spiel, die in der Nobelpreisrede überhöht mitschwingt, sich in den Worten Ratliffs in der Snopes-Trilogie aber viel einfacher darstellt: »Ich hab immer gedacht, Hoffnung ist so ungefähr alles, was die Leute haben, nur fang ich jetzt an zu glauben, daß es ungefähr alles ist, was einer braucht – bloß Hoffnung.«
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Zwei Worte noch zu dieser Edition. Erstens: dies ist (aus technischen Gründen unverändert) eine Übersetzung, die im Jahr 1956 angefertigt worden ist – achtzehn Jahre später zwar als das von Faulkner geschriebene Original, aber doch noch zu seinen Lebzeiten. Rückfragen und Diskussionen haben damals zu dieser, wie uns schien, gültigen Form geführt. Das wurde auch bestätigt durch Faulkners Auslassungen über die vier verschiedenen, in den Südstaaten gesprochenen Regionaldialekte. Heute geht man beim Übersetzen vielfach anders vor, hat neue Möglichkeiten gefunden. Welche am Ende besser ist, mag die Zeit zeigen. Zweitens: In den einschlägigen Lexika wird ›Der Strom‹ unter dem Titel ›Wilde Palmen‹ geführt. Es ist nicht der einzige Fall, in dem Faulkner zwei Romane in einem Band vereinigte, der einzige aber, in dem er ihre jeweiligen Kapitel alternierend anordnete. Ursprünglich hat er, nach Gründen dafür befragt, geantwortet, eine Geschichte allein sei für einen Band zu kurz gewesen, darum habe er ihre Kapitel abwechselnd angeordnet, damit es »nicht so langweilig« sei. Später: »Es sind zwei Geschichten über zwei Arten von Liebe« (hier hätte er wohl besser »Hingabe« gesagt), aber war das ein Grund, die Kapitel abzuwechseln? Erst in seinen letzten Lebensjahren, als er vor Studenten der Universität Virginia Vorlesungen hielt und ihre nimmermüden Fragen beantwortete, äußerte er sich konkreter zu dieser sonderbaren Edition: »Wie ich schon sagte, sie sind beide mißlungen. Und 168
vielleicht war es ein Fehler, sie in jener Weise miteinander zu verbinden, doch mir schien es notwendig, einen Kontrapunkt für die Erzählung von Harry und Charlotte zu schaffen, ein Gegengewicht. Und dies tat ich mit jener Geschichte, die das absolute Gegenteil der andern darstellt: der Erzählung von einem Mann, der eine Frau besaß, die er nicht mochte, und der unendliche Mühen auf sich nahm, sie loszuwerden, und schließlich sogar deswegen ins Gefängnis ging.« (Februar 1957) Mai 1957: »Nein, es war eine beabsichtigte Parallele. Die Isolierung der beiden und ihre Einsamkeit in dem auf den rasenden Wassern treibenden Boot war das Gegenstück zu der Einsamkeit, nach der die beiden anderen, Harry und Charlotte, immer gesucht hatten … Hierzu hatten sie unendliche Mühen und Gefahren und Opfer auf sich genommen, wohingegen der Sträfling in dem Boot gegen seinen Willen in diese Situation mit der Frau gestoßen worden war. Er und die Frau, die er rettete, besaßen nun das, wofür Charlotte und Harry alles geopfert hatten … Dies meine ich mit der kontrapunktischen Behandlung des Themas.« Nach solchen widersprüchlichen Aussagen des Autors selbst nimmt es nicht wunder, daß auch die Interpretationen seiner Kritiker einen kunterbunten Querschnitt bieten. Wie tiefsinnig diese aber auch ausgefallen sein mögen, es darf nicht vergessen werden, daß Faulkner die getrennte Publikation eines der beiden Erzählstränge im ›Viking Portable Faulkner‹ (1946) gestattet hat, wie er überhaupt nicht zu jenen 169
Schriftstellern gehörte, die derlei mit tierischem Ernst behandeln. Die Frage eines seiner Studenten nach dem Sinn der Tatsache, daß die von dem Sträfling gerettete Frau schwanger ist, beantwortete er: »Ich dachte mir, es würde dadurch komischer. Für mich war das Ganze komisch.« Wenn man danach seine Interpreten liest, die jene Schwangerschaft als zwingende Parallele zu ›Wilde Palmen‹ ansehen, wo der Arzt Harry eine mißlingende Abtreibung an seiner Geliebten Charlotte vornimmt, an der sie stirbt, muß man wiederum dem oft recht sorglosen Faulkner rechtgeben, der seine Studenten auch lehrte, daß ein Schriftsteller beim Schreiben keinesfalls an all die Symbole denke, die von seinen Lesern später aufgedeckt würden. Faulkner hatte selber etwas von seinem zitierten »kosmischen Spaßmacher«, und er steht damit in der alten Tradition des amerikanischen Südens. In einem seiner Interviews verschreckte er die Leser mit dem Bekenntnis, er hätte am liebsten Herr eines Bordells werden wollen. Dort habe man morgens seine Ruhe zum Schreiben und abends all die »gesellschaftlichen Aktivitäten«, die man zur Entspannung brauche. Wo immer nun die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit liegen mag: Neben der überhitzten Romantik der ›Wilden Palmen‹ besitzt ›Der Strom‹ jene klassische Einfachheit, wie sie zum Beispiel Hemingway mit ›Der alte Mann und das Meer‹ gelungen ist. Das macht vor allem Faulkner-ungewohnten Lesern, die bislang vor einem als »schwierig« bekannten Autor zurückgeschreckt sein mögen, den Einstieg leichter, verlockt sie vielleicht dazu, mehr von ihm ken170
nenlernen zu wollen. Für Faulkner aber ist ›Der Strom‹ sein bestes »Kilroy«. Er hat als Motivation für sein Schreiben mehrmals auf jenen schottischen Weltreisenden verwiesen, der in alle Mauern die Botschaft »Kilroy was here« einkratzte, um Marken zu setzen. Faulkner wollte, so hat er selbst gesagt, »ein gutes Kilroy-was-here hinterlassen«. Dies ist ihm mit der Geschichte vom großen Strom Mississippi gelungen. Elisabeth Kaiser
Anmerkungen 1 Mann-Gesetz, 1910 erlassenes amerikanisches Gesetz gegen Mäd chenhandel. 2 Old Man, im Volksmund der Mississippi, bei den Negern der Südstaaten auch »Ole Man«. 3 Bayou, amerikanische Bezeichnung für den sumpfigen Ausfluß aus einem See; im Gebiet des unteren Mississippi auch jeder kleinere Fluß. 4 Cajun, entstanden aus dem Wort »Acadian«, Einwohner von Acadia (ursprünglicher Name der kanadischen Provinz Neu schottland); in Louisiana eine Person arkadisch-französischer Herkunft. 5 Bienville, Jean Baptiste le Moyne, Sieur de Bienville (1680–1768), französischer Kolonialgouverneur von Louisiana, Gründer der Stadt New Orleans.
›Der Strom‹ besitzt jene klassische Einfachheit, wie sie zum Beispiel Hemingway mit ›Der alte Mann und das Meer‹ gelungen ist. Elisabeth Kaiser
isbn 3-10-020403-4