HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6615
Titel der Originalausgabe MAGIC: THE GATHERING™ TIME STREAMS Übersetzung ...
87 downloads
1069 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6615
Titel der Originalausgabe MAGIC: THE GATHERING™ TIME STREAMS Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Birgit Oberg Das Umschlagbild malte Dave Dorman
Umwelthinweis:
Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Deutsche Erstausgabe: 2/2001 Redaktion: Uta Dahnke Copyright © 1999 by Wizard of the Coast, Inc. All Right Reserved (Weitere Hinweise siehe am Schluß des Bandes) Erstausgabe bei ROC, an imprint of Dutton Signet, a division of Penguin Books USA Inc. Copyright © 2000 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München http://www.heyne.de Printed in Germany 2001 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-17220-5
INHALT
Prolog Seite 9
TEIL 1
Die Schule der Zeit Seite 13 TEIL 2
Wie in alten Zeiten Seite 111 TEIL 3
Reisen Seite 219 TEIL 4
Zwischen Engeln und Teufeln Seite 345
Epilog Seite 429
Jeff Grubb gewidmet, ebenfalls Schriftsteller und ein guter Freund
DANKSAGUNG
Phantastische Welten sind das gemeinsame gedankliche Eigentum vieler Leute: Spieleerfinder, Künstler, Herausgeber, Autoren, Direktoren, Verkäufer, Buchhalter ... und natürlich Verbraucher. Ich möchte nicht so tun, als würde die Gruppe, der ich hier danke, alle einschließen, aber jenen, die nachfolgend erwähnt sind, bin ich zutiefst verpflichtet. Zuerst einmal möchte ich den beiden Menschen danken, die am intensivsten mit mir an diesem Buch arbeiteten, meinen Lektoren Peter Archer und Jess Lebow. Beide sind Gentlemen und Gelehrte, die nicht nur kreativ sind, sondern auch analysieren können. Danke, Jungs! Zweitens stehe ich in der Schuld der Autoren, die den Weg für die neuen Magic-Bände ebneten: Jeff Grubb und Lynn Abbey. Ich kenne keine Profis, die ich mehr bewundere. Danke, daß ihr die Führung übernommen habt und mich einludet, euch zu begleiten. Als nächstes möchte ich dem Team danken, mit dem ich arbeitete: Peter Adkison, Mary Kirchoff, Emily Arons, Joel Mick, Pete Venters, Chaz Elliott, Scott McGough, Paul Thompson, Loren Coleman und Lizz Baldwin. Die Synergiewoche war einfach großartig! Zum Schluß danke ich Richard Garfield, dem Mann, durch den alles begann, und Euch, den Leserinnen und Lesern, Spielerinnen und Spielern, die die ganze Welt erst mit Leben erfüllen.
7
Urza behauptet, er sei nicht verrückt. Vielleicht stimmt das. Es gibt keine Maßstäbe für die Verrücktheit von Weltenwanderern. Er lebt seit mehr als dreitausend Jahren. Er heilt durch bloße Willenskraft. Nur durch einen Gedanken reist er von einer Welt zur anderen. Sein Aussehen, seine Kleidung und sogar seine Gesichtszüge vermag er innerhalb von Sekunden nach Belieben zu verändern. Wie kann man da den Geisteszustand eines Weltenwanderers mit gewöhnlichen Maßstäben messen? Wahrscheinlich ist es unmöglich, aber sein Wahnsinn begann, ehe er zum Weltenwanderer wurde. Vor dreitausend Jahren kämpfte ein sterblicher Urza gegen seinen sterblichen Bruder. Ihr Bruderzwist verwandelte sich in einen Bruderkrieg. So fing alles an. In seinem Drang, Mishra zu töten, bediente sich Urza der Armeen aller Herren Länder, versenkte die Insel Argoth, legte den Kontinent Terisiare in Schutt und Asche und wischte ganze Nationen vom Angesicht der Welt. Er war schuld an der darauffolgenden Eiszeit. Zur Belohnung für seine Wahnsinnstaten wurde er zum Weltenwanderer. Urza behauptet, er bereue die Vernichtung. Wahre Reue wäre ein gutes Zeichen. Als er später seinen Feldzug gegen Phyrexia begann, geschah es jedenfalls nicht aus Reue. Er wollte seinen Bruder rächen. Irgendwie hatte sich Urza eingeredet, daß nicht er, sondern der Phyrexianer Gix Mishra tötete. Sicher, Gix verführte Mishra mit dem Versprechen unglaublicher Macht und verwandelte ihn schließlich 9
in ein Monstrum - halb Mensch, halb Maschine. Aber Urza war der Mörder Mishras. Wenngleich nicht in seinen Gedanken. In seinem Wahn gab er Gix die Schuld und schwor blutige Rache. Der Grund dafür war völlig verrückt, die Invasion noch viel verrückter. Urza griff Phyrexia an - ein einzelner Weltenwanderer gegen riesige Armeen dämonischer Monster. Natürlich unterlag er. Er konnte keine ganze Welt besiegen und wurde bei dem Versuch fast in Stücke gerissen. Schwer angeschlagen zog er sich in Serras Reich zurück, einer Welt voller Engel und schwebender Wolken. Dort erholte er sich geraume Zeit, wurde aber nie wieder der alte. Der Wahnsinn verfolgte ihn, genauso wie Phyrexia. Gix war ihm auf den Fersen. Kaum hatte Urza Serras Reich verlassen, traf Gix mit seinen Dämonen dort ein. Krieg brach aus. Die Himmelswelt wurde - wie jede Welt, in der Urza verweilt hatte beinahe vollständig vernichtet. Noch heute, Jahrhunderte später, siecht sie dahin. Wenn ich ihn auf diese Wahnsinnstaten anspreche, zuckt Urza nur mit den Schultern. Er behauptet, er sei anschließend wieder völlig normal geworden. Angeblich verdanke er das Xantcha und Ratepe: »Zwei lieben Freunden, die sich opferten, um den Dämon Gix zu vernichten, das Tor Phyrexias zu schließen und mir das Leben zu retten. Ich bin ihnen auf ewig dankbar.« Wahre Dankbarkeit wäre auch ein gutes Zeichen. Niemals in seinen dreitausend Lebensjahren hat Urza echte Dankbarkeit gespürt oder einen >lieben Freund< gehabt. Ich kenne ihn seit dreißig Jahren. Seit zwanzig Jahren arbeite ich Seite an Seite mit ihm an der Akademie, die wir hier auf Tolaria gründeten. Ich bin nicht sein lieber Freund. Das ist niemand. Die meisten Lehrer und Schüler hier kennen nicht einmal seinen richtigen Namen und nennen ihn Meister Malzra. Die einzige Person, die Urza nahe genug stand, um ein 10
lieber Freund zu sein, war sein Bruder, und wir alle wissen, was mit ihm geschah. Nein, Urza ist unfähig, Dankbarkeit oder Reue zu empfinden, obwohl es Leute wie Xantcha, Ratepe, Serra und mich gab und gibt, die ihn wirklich lieben und ihr Leben für ihn geben würden. Aber er scheint nicht in der Lage zu sein, unsere Zuneigung zu erwidern. Das reicht natürlich nicht aus, um ihn als verrückt zu bezeichnen. Wie gesagt, es ist schwierig, Weltenwanderer mit gewöhnlichen Maßstäben zu messen, doch Urzas kindischer Glaube, Xantcha und Ratepe, Serras Reich, Argoth und Mishra hätten sich für ihn geopfert... Offenbar heißt das, daß alles und jeder, der Urza etwas bedeutet, vernichtet wird. Und was folgt daraus für mich, seinen neuesten Freund? Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
11
Jhoira stand am Rand ihrer Welt. Hinter ihr lag die Insel Tolaria, deren Palmenhaine und Hörsäle von magiebegabten Wunderkindern und Maschinenwesen überquollen. Ein Königreich nie enden wollender Versuche, sinnloser Experimente, Sorgen und Arbeit, viel Arbeit. Vor ihr erstreckten sich das blaue Meer, der blaue Himmel und die grenzenlose Welt. Wolken häuften sich über den schimmernden Wogen zu riesigen Gebirgskämmen auf. Wellen mit weißen Schaumkronen zerschellten an den zerklüfteten Felsen zu ihren Füßen. Hinter dem schmalen Streifen des Horizontes wartete die ganze Welt auf sie. Sie träumte, dort draußen befände sich ihr Seelengefährte. Alles war dort zu finden: ihre Heimat, ihre Eltern, ihr Volk, ihre Zukunft. Jhoira seufzte und ließ sich auf einem sonnengewärmten Felsbrocken nieder. Der Seewind fuhr ihr durch die langen schwarze Haare, die ihr über die schmalen Schultern fielen, und ließ die weißen Gewänder, die alle Studenten der Akademie trugen, um ihre schlanke Gestalt flattern. Sie hatte schon unzählige Stunden an diesem sonnigen Ort verbracht, ihrem Refugium, das ihr in letzter Zeit ebensoviel Kummer wie Freude gemacht hatte. Seit acht Jahren weilte sie an der Akademie und lernte alles über Maschinen. Bei ihrer Ankunft war sie ein Wunderkind gewesen. Inzwischen hatte sie sich zu einer Meisterin ihres Fachs gemausert. Außerdem war sie zu einer Frau herangereift und mit ihren achtzehn Jahren beinahe erwachsen. Sie hatte genug von der 14
Schule, den Kindern, dem Schwefel und dem Maschinenöl. Täuschung und Illusion hingen ihr zum Halse heraus, sie sehnte sich nach etwas Wahrhaftigem nach jemand Wahrhaftigem. Jhoira schloß die Augen und atmete die salzige Luft ein. Ihr Seelengefährte würde groß und sonnengebräunt sein, wie die jungen Ghitukrieger daheim, mit klarem Blick und starken Armen. Er wäre klug, oh ja, aber nicht wie Teferi und die anderen Knaben, die Jhoiras Aufmerksamkeit durch kindisches Benehmen und plumpe Annäherungsversuche auf sich lenken wollten. Er wäre ein Mann, ein geheimnisvoller Mann. Das war das Allerwichtigste. Sie würde sich nicht in einen Mann verlieben, der nicht im tiefsten Inneren ein Geheimnis barg. Sie öffnete die Augen und beugte sich vor. Mit dem Fuß wirbelte sie eine Staubwolke auf. »Ich bin eine Närrin. So einen Mann gibt es auf der ganzen Welt nicht.« Und selbst wenn es ihn gab, würde sie ihn niemals kennenlernen, solange sie hier auf dieser verdammten Insel hockte. * * * Der Silbermann erwachte stehend. Er hatte sich schon früher bewegt, war gegangen und hatte gesprochen. Er hatte den riesigen Metalleib bereits bewohnt, aus den silbrigen Augen geschaut und Gegenstände mit den gewaltigen Pranken aufgehoben. Früher war es ihm wie ein Traum erschienen. Jetzt war er aufgewacht. Jetzt lebte er wirklich. Das Labor war hell und strahlend sauber. Meister Malzra mochte es sauber - sauber, aber vollgestopft. An der einen Wand hingen Hunderte von Skizzen, halbfertig oder vollendet. Sie waren mit Tinte, Bleistift oder Kreide ausgeführt worden. Die nächste Wand beherbergte ganz besondere Geräte: Metallstäbe, Stahl15
sägen, Gußformen, Pressen, Walzen, Blasebälge und Bohrer. Die dritte Wand bedeckten Regale mit Zapfen, Zahnrädern, Stützen und Werkzeugen. An der vierten Wand standen die verschiedensten kleinen Maschinen. Die fünfte - nur wenige Räume der Akademie waren viereckig - barg den Eingang. In der Mitte des Raumes erhob sich ein schwarzer Schmiedeherd von gewaltigen Ausmaßen. Rauch stieg empor und zog durch eine Öffnung in dem kuppelförmigen Dach ab. Auf halber Höhe befand sich eine Galerie, die rings um den großen Raum lief. Von dort oben schauten neugierige Augen auf das letzte Experiment Meister Malzras hinab. Sie alle starrten den Silbermann an. Der Silbermann starrte zurück. Er hatte Angst und fühlte sich fehl am Platze. Er fragte sich, was sie über ihn dachten, und ihre Meinung bedeutete ihm mehr, als er für möglich gehalten hätte. Alles war anders. Er hatte das Labor schon oft gesehen, hätte aber vorher keine Worte wie >sauber<, >hell< und >vollgestopft< benutzt, um es zu beschreiben. Jetzt fiel ihm viel mehr auf als die bloße Gegenwart bestimmter Dinge oder Personen. Er begriff, was die Anordnung und der Zweck bestimmter Gegenstände über den Besitzer aussagten. Das Labor war ein Spiegelbild von Meister Malzra - uralt, besessen, genial, unermüdlich, beschäftigt, kurzsichtig, grandios ... Inzwischen studierte ihn Meister Malzra eingehend. Sein Blick war durchdringend. Pergamentene Haut legte sich unter dem skeptisch zusammengekniffenen Auge in Falten. Die Nasenflügel bebten, obwohl er überhaupt nicht zu atmen schien. Eine rußgeschwärzte Hand hob sich mit kaum merklichem Zittern, um den aschblonden Bart zu kraulen. Er schluckte, blinzelte - eigentlich sollten diese Augen, so hart und kalt wie Diamanten, überhaupt nicht blinzeln müssen. »Irgendwelche auffälligen Veränderungen im Ener16
giestrom des Probanden, Barrin?« fragte Malzra über die Schulter hinweg. Eine seltsame Begrüßung. Der Silbermann war ein wenig verärgert. »Eine berechtigte Frage«, lautete die Antwort. Malzras Stellvertreter, Meister Barrin, kletterte von einem Podest neben der Esse hinab und wischte sich die schmutzigen Hände an einem weißen Tuch ab. »Warum fragt Ihr ihn nicht selbst?« Wieder blinzelte Malzra. »Wen?« »Ihn«, wiederholte Barrin und unterdrückte ein Lächeln. »Den Probanden.« Malzra schürzte die Lippen. Er nickte. »Proband, ich bin Meister Malzra, dein Schöpfer. Ich möchte wissen, ob du eine Veränderung in deinem Energiestrom bemerkst.« »Ich weiß, wer Ihr seid«, antwortete der Silbermann. Er sprach mit einer tiefen Stimme, die im Inneren des Metallkörpers widerhallte. »Ich habe eine große Veränderung des Energiestroms bemerkt. Ich bin erwacht.« Stimmengewirr drang von der Galerie herab. Beinahe hätte Malzra gelächelt. »Oh, du bist erwacht. Gut. Wie dir zweifellos aufgefallen ist, haben wir gewisse Veränderungen an dir vorgenommen, um deine Bewegungen, deinen Verstand und deine gesellschaftlichen Fähigkeiten zu verbessern.« Er knirschte mit den Zähnen und suchte nach Worten. Schließlich sah er hilfesuchend zu Barrin hinüber. Der Magier, ein hagerer Mann mittleren Alters, angetan mit einem weißen Gewand, trat näher. Er klopfte dem Silbermann auf die Schulter. »Hallo. Wir freuen uns, daß du erwacht bist. Wie fühlst du dich?« »Verwirrt«, hörte sich der Silbermann sagen. Mit verwunderter Stimme fuhr er fort: »Alles hat eine neue Dimension erhalten. Mein Kopf ist mit den widersprüchlichsten Informationen angefüllt.« »Widersprüchliche Informationen?« fragte Barrin. 17
»Ja. Zum Beispiel spüre ich, daß Meister Malzra, obwohl er Euch in Rang und Alter überlegen ist, sich ob seines gesellschaftlichen Unbehagens oft auf Euch verläßt.« »Gesellschaftliches Unbehagen?« wunderte sich Barrin. »Er zieht die Gesellschaft von Maschinen dem Zusammensein mit Menschen vor«, erklärte der Silbermann. Von der Galerie ertönte unterdrücktes Kichern. Mit finsterer Miene sah Malzra hinauf. Der Silbermann fuhr fort-. »Gerade jetzt spüre ich, daß meine Aussage, obwohl sie zutrifft, Meister Malzra ärgert, die Studenten belustigt und Euch in Verlegenheit bringt.« Barrin errötete leicht. »Stimmt genau.« Er wandte sich an Malzra. »Ich könnte noch ein paar magische Prüfungen vornehmen, aber auch so ist eindeutig, daß die geistigen und gefühlsmäßigen Regungen des Probanden fehlerlos funktionieren.« »Viel zu gut«, meinte Malzra zur Freude der Zuschauer auf der Galerie. »Mir wäre lieber, wenn diese Regungen in meiner Gegenwart nicht weiter erprobt würden.« »Mit anderen Worten?« »Schickt den Probanden hinaus. Er soll sich unter die Studenten mischen. Wir behalten seine Fortschritte im Auge.« Barrin sah den Silbermann eindringlich an. In seinen braunen Augen mischten sich Weisheit und Magie, »Du hast gehört, was Meister Malzra sagt. Geh hinaus. Sieh dich um. Lerne Menschen kennen. Finde Freunde. Wir rufen dich, wenn wir weitere Experimente durchführen wollen.« Der Silbermann nahm die Befehle zur Kenntnis und ging zur Tür. Als er an den Geräten und Maschinen vorüberschlurfte, wunderte er sich über die Abnei18
gung, die er für seinen Schöpfer empfand. Malzra behandelte ihn wie einen Gegenstand, Barrin dagegen wie eine Person. Als könne er Gedanken lesen, folgte ihm Barrin und klopfte ihm erneut auf die Schulter. »Du hast recht, was Meister Malzras >gesellschaftliches Unbehagen< angeht. Er zieht Maschinen den Menschen vor. Du hast aber nicht bemerkt, daß er nicht wußte, wie er mit dir umgehen soll.« Die Antwort des Silbermannes fiel trotzig aus. »Das habe ich nur zu deutlich gemerkt.« »Aha«, meinte Barrin. »Das heißt aber, daß er dich nicht für eine Maschine hält. Nicht mehr. Für ihn wirst du jetzt zu einer Person.« * * * Als der Silbermann und die Studenten das Labor verließen, zog Barrin Urza zur der mit Skizzen übersäten Wand. Mit Bleistift und Tinte war der Metallmensch bis in jede Einzelheit aufgezeichnet worden. »Ihr habt recht behalten«, sagte Barrin ruhig. »Xantchas Herz war der Schlüssel. Ihr Denkvermögen und die Empfindungsfähigkeit waren unversehrt, genau, wie Ihr vermutet habt. Wir können dankbar sein, daß ihre Erinnerungen oder ihre Persönlichkeit nicht überlebten - anscheinend. Dennoch frage ich mich, ob es ratsam war, etwas, das phyrexianischen Ursprungs ist, in den Kopf Eurer neuesten und mächtigsten Erfindung einzupflanzen. Mit einem Belebungszauber hätte ich das gleiche erreichen ...« Der Meister winkte ab. »Ich wollte sein Empfindungsvermögen durch rein mechanische Vorgänge erzeugen. Außerdem haftet dem Herzkristall nichts Phyrexianisches mehr an. Auch von Xantcha ist darin nichts mehr übrig - es reicht nur aus, um logisches Denken, Gefühle und gesellschaftliches Lernen zuzulassen.« 19
Die Wortwahl ließ Barrin leicht zusammenzucken. »Tja, das ist so eine Sache. Wir haben es nicht länger mit einer Maschine zu tun. Das wißt Ihr, und ich weiß es auch. Und auch der Proband weiß es. Ihr habt ihm Gefühle verliehen. Jetzt müßt Ihr sie ihm zugestehen. Ihr müßt sie respektieren.« Ein ausdrucksloser Blick traf ihn. »Versteht Ihr nicht? Wir haben es nicht länger mit einem Gegenstand zu tun. Er ist ein Mensch, nein, mehr als das, er ist ein Kind. Man muß ihn leiten, ihm helfen ...« Der Meister sah Barrin grimmig an. »Ich wünschte, Ihr hättet schon früher davon gesprochen. Wir hätten ein Merkblatt erstellen sollen, um diesen Punkt der Entwicklung zu behandeln.« »Aber das ist es doch!« widersprach Barrin. »Dafür kann man kein Merkblatt erstellen. Es läßt sich nicht vorherbestimmen. Ihr dürft nicht länger wie ein Wissenschaftler denken, sondern wie ein ... nun, wie ein Vater.« »Mit zwölf wurde ich Waise. Mishra und ich. Wir sind trotzdem gut zurechtgekommen.« Bei dieser Aussage schnaubte der Magier verächtlich. »Wenn Ihr es wünscht, werde ich mich an Eurer Stelle als Mentor betätigen, aber im Laufe der Zeit solltet Ihr Eure Beziehung zum Probanden festigen. Das bedeutet, daß Ihr ihm sagt, wer sein Schöpfer in Wirklichkeit ist: Urza, der Weltenwanderer.« * * * Meister Malzras Labor war für den Silbermann und seinen neu erwachten Verstand verwirrend gewesen. Die Gänge und Räume außerhalb des Labors - Hörsäle, Klassenzimmer, Operationssäle, Windtunnel, Versuchsräume und unzählige andere Labore - waren überwältigend. Während er das Gebäude erforschte, begriff er, was eine Akademie war: Ein Haus, in dem 20
Wissen gesammelt, vermittelt und angewandt wurde. Welch eine Offenbarung! Seine Schöpfer waren Lernende. Sie waren keine allwissenden Engel, von logischem Denken und himmlischen Vorahnungen getrieben. Sie waren dumme Tiere, über selbige erhoben nur durch unersättliche Neugier, die bei den einzelnen unterschiedlich ausgeprägt war. »Ich bin Teferi«, rief ein Junge, der sich dem Silbermann in den Weg stellte und stehenblieb, als fordere er das Wesen heraus, ihn über den Haufen zu rennen. »Ich bin ein Zauberlehrling.« Er unterstrich die Worte mit einem Fingerschnippen, worauf blaue Funken durch die Luft stoben. Der Silbermann blieb stehen und beugte sich ein wenig herab, um den jungen Burschen besser betrachten zu können. Teferi hatte ein schmales, dunkles Gesicht und erinnerte ein wenig an einen Kobold. Zerzauste dunkle Haare hingen vor den funkelnden Augen. Er trug die weißen Gewänder der Schüler Tolarias. In dem Ledergürtel um seine Hüften steckten Kristalle, Zauberstäbe und Glücksbringer. Entgegen den Vorschriften der Akademie trug er keine Sandalen, und die Zehennägel waren mit seltsamen Zeichen in leuchtenden Farben bemalt. Er streckte dem Silbermann die Hand entgegen. Der Metallmensch ergriff sie und schüttelte sie vorsichtig. »Ich bin Meister Malzras Geschöpf.« Kaum hatte er die Hand des Jungen berührt, lief ein eigenartiges Zittern durch seinen silbernen Arm. »Dein Händeschütteln fühlt sich scheußlich an.« Der Knabe zog die Hand zurück und zuckte die Achseln. Er wirkte enttäuscht. »Bloß ein Zauber, an dem ich gerade arbeite. Wirft die Leute um. Golems anscheinend nicht. Was ist das überhaupt für ein Name: Meister Malzras Geschöpf?« »Das ist der einzige Name, den ich habe«, antwortete der Silbermann wahrheitsgemäß. 21
Teferi verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Hört sich nicht gut an. Jetzt bist du eine Person. Du brauchst einen richtigen Namen.« Andere Studenten versammelten sich im Gang hinter Teferi und neigten sich erwartungsvoll vor. »Ich bin mit Namensgebungen nicht vertraut.« Teferi grinste selbstbewußt. »Ich schon. Wollen wir mal nachdenken. Du bist groß und glänzt. Was ist noch groß und glänzend? Der Nullmond. Warum nennen wir dich nicht den Nullmann?« Die Studenten lachten über den Vorschlag. Der Silbermann war ein wenig verärgert. »Das hört sich nicht gut an. Null bedeutet nichts. Dein Vorschlag würde aussagen, daß ich ein Nichts von einem Mann bin.« Teferi nickte ernsthaft, vermochte aber ein hämisches Grinsen nicht zu unterdrücken. »Das geht natürlich nicht. Allerdings bist du kein richtiger Mann. Du bist ein Artefakt. Arty wäre ein guter Name für dich. Arty, das Artefakt.« Der Silbermann wußte keinen Grund, warum er den Vorschlag hätte ablehnen sollen - abgesehen vom Kichern der anderen Studenten. »Ist Arty ein bei Menschen gebräuchlicher Name?« »Oh, ja!« antwortete Teferi voller Begeisterung. »Ein Vorname, aber die meisten Menschen haben auch einen Nachnahmen. Mal sehen - du bist aus Silber. Was sonst besteht aus Silber? Löffel. Da du sehr groß bist, sollten wir dich nach dem größten Löffel benennen. Da wäre die Schöpfkelle oder vielleicht eine Schaufel. Also sollte dein vollständiger Name Arty Schöpfkelle oder Arty Schaufelkopf lauten.« Die jungen Leute lachten scheinbar über alles und jedes. Daher ärgerte sich der Silbermann nicht länger über ihre Belustigung. »Welcher Name klingt für menschliche Ohren angenehmer?« »Oh, beide werden jedem, der sie hört, ein Lächeln 22
entlocken. Schöpfkelle hört sich vielleicht ein wenig zu großartig an, als seiest du eingebildet. Schaufelkopf ist viel einfacher. Ich stimme für Arty Schaufelkopf. Was meint ihr dazu?« Die versammelten Studenten stimmten jubelnd zu, und der Silbermann wurde von der allgemeinen Aufregung mitgerissen. Im Augenblick erschien ihm jeder Name besser als gar keiner. »Also heiße ich Arty Schaufelkopf«, erklärte er feierlich. »Dann komm mit, Schaufelkopf«, lud ihn Teferi mit großartiger Geste ein. Bunte Trugbilder entströmten seinen Fingerspitzen. »Ich habe dir viel zu zeigen.« Die Studenten umringten den Golem und ergriffen seine kalten Metallhände mit warmen Fingern. Er trottete hinter ihnen her und gab sich Mühe, ihnen nicht auf die Füße zu treten. Die jungen Leute führten ihn herum, als wäre er ein hochangesehener Besucher. Zuerst suchten sie einen großen Speisesaal auf, der hohe Wände aus Alabaster hatte. Elfenbeinerne Balken zierten die Decken. In diesem weißen Saal standen lange dunkle Tische, an denen zahlreiche Studenten saßen, die Köpfe über Schüsseln mit Suppe und Teller mit Zwieback und Käse gebeugt. »Das ist die große Halle«, erzählte Teferi. »Hier essen die Studenten. Die Speisen werden so angerichtet, daß sie uns nicht von unseren Studien ablenken. Siehst du, wie farblos und eintönig alles ist? Der Geschmack ist noch unscheinbarer. Niemand kommt in Versuchung, an einem Zwieback zu nagen und sich in Lobpreisungen über seine Beschaffenheit zu ergehen.« Der Golem merkte, daß der Junge die Wahrheit sprach. »Meister Malzra muß viel an eurem Studium liegen.« Teferi lachte, aber es war kein frohes Lachen. »Oh ja. Er hegt unseren Verstand wie ein Bauer sein Saatgut 23
hegt. Er häuft Dung auf unsere Köpfe, damit wir wachsen und gedeihen und reiche Frucht tragen. Dann kommt er mit der Sense und schneidet uns die Köpfe ab, um seinen eigenen Appetit zu stillen. Eine hervorragende Sache, je nachdem, auf welcher Seite man sich befindet.« Bei den letzten Worten führte er den Silbermann und seine Gefährten den Flur entlang zu einem anderen Raum, ähnlich dem ersten, nur war die Decke in dunklen Farben gehalten und die Studenten an den langen Tischen hatten die Köpfe über Papierstapel gebeugt; man hörte das Kratzen der Federkiele. »Hier siehst du einen Teil des Dungs, von dem ich vorhin sprach. Die Studenten kopieren Pläne und Schriften Meister Malzras, Meister Barrins und anderer Gelehrter. Durch das gewissenhafte Abschreiben der Ergüsse unserer Lehrmeister werden auch wir irgendwann einmal zu guten Gelehrten.« Der Silbermann nickte interessiert. »Was beschreiben diese Pläne und Schriftstücke?« »Maschinen, wie du eine bist. Apparate, Geräte. Er besitzt ein ganzes Mausoleum - äh, Museum natürlich - voll mit Artefakt-Kreaturen. Auch du wirst schon bald dort stehen. Meister Malzras Phantasie arbeitet unentwegt und wird dazu benutzt, komplizierte Geräte zu erfinden, mit denen er sich Arbeit erspart. Er hat zahlreiche Apparate geschaffen, die die Suppe und die Zwiebäcke schneller und einfacher zubereiten, die die Freiheit derer, die unter seinem Befehl stehen, wirkungsvoller einschränken und uns besser gegen den äußeren Feind verteidigen, damit uns außer ihm selbst niemand quälen kann.« Unbehagen beschüch den Silbermann bei diesen Worten. »Der äußere Feind? Hat Malzra Feinde?« »Oh ja, jeder ist gegen ihn. Wußtest du das nicht?« fragte Teferi lachend und ging weiter. Er zauberte ein Messer herbei, wirbelte es zwischen den Fingern herum und ließ es wieder verschwinden. »Jedenfalls 24
glaubt Malzra das. Er besitzt Aufziehfiguren und mechanische Krieger, die ununterbrochen um die Akademie patrouillieren. Tonmänner durchstreifen die Wälder am Meer, und automatische Vögel fliegen als Kundschafter über die Insel. Ich habe noch nie von einem wirklichen Feind gehört, aber Malzra verbringt so viel Zeit mit dem Bau und der Vervollkommnung dieser Kreaturen, daß mehr als nur schlichter Verfolgungswahn dahinterstecken muß. Was meinst du?« »Höchstwahrscheinlich«, antwortete der Golem. Sie kamen zum nächsten Raum, der voller Metallteile war. Mechanische Krieger lehnten an den Wänden, in Einzelteile zerlegte Maschinen standen herum, in den Ecken stapelte sich Schrott, und an der Wand gegenüber der Tür befand sich ein gewaltiger offener Hochofen. Rechts neben der Öffnung standen Arbeiter, die riesige Blasebälge betätigten und unentwegt Kohlen in die Flammen schaufelten. Auf der linken Seite leerten andere Arbeiter Körbe mit Metallstücken und größeren Ersatzteilen in den feurigen Schlund. Im Hintergrund des Raumes eilten Studenten zwischen den Maschinen umher und machten sich wie Aasgeier an den leblosen Gestalten zu schaffen. Den Silbermann überlief ein kalter Schauder. Teferi bemerkte es und grinste verbittert. »Siehst du, Arty, auch wenn Malzra keine anderen Feinde hat, so könnten sich doch seine eigenen Kreaturen mit Leichtigkeit gegen ihn wenden. Sie sollten es sogar. Sie haben allen Grund, ihn zu hassen. Malzra hat seine Spielzeuge schnell satt. Ich stelle mir vor, daß eine ganze Armee Metallmänner - so wie du - erfährt, daß er sie einschmelzen will. Sie könnten übers Meer fliehen. Ich stelle mir vor, wie sich ganze Nationen von Aufziehgeschöpfen zusammentun und die Hoffnung hegen, zurückzukehren, um ihren Schöpfer zu töten.« Der Silbermann war entsetzt. »Wie könnte ein Artefakt es jemals wagen, seinen Schöpfer zu vernichten?« 25
»Warte ein Jahr ab, Arty«, sagte Teferi lachend. Diesmal stimmte keiner seiner Freunde in das Gelächter ein. Der Junge tätschelte den Arm des Golems. »Ein Jahr gebe ich dir – höchstens zwei, ehe du dem glühenden Hochofen gegenüberstehst, So ist es nun mal. Wenn du in Einzelteilen in jenem Raum liegst, dann frage dich, wie du über Meister Malzra denkst.« * * * Wieder einmal saß Jhoira an ihrem felsigen Zufluchtsort. Sie verbrachte immer weniger Zeit in der Akademie und immer mehr hier draußen, wo sie von fernen Orten und einer wunderbaren Zukunft träumte ... Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Dort unten an der Küste, zwischen den beiden wie Finger aufragenden Felsbrocken, regte sich etwas Weißes. Es sah wie der Flügel einer Möwe aus, war aber viel größer. Ein Pelikan? Ein weißer Seelöwe? Jhoira blinzelte und rieb sich die Augen. Die See und der Himmel waren strahlend blau. Vielleicht handelte es sich bloß um Schaumkronen. Nein, das war kein Schaum. Es sah eher wie Stoff aus. Vielleicht ein Student? Jhoira rutschte von der Felskante herab und kletterte den Abhang hinunter. Eine Seite des Stoffes hing an einem Holzbalken. Ein Mast! Es war ein Segel. Jhoira beschleunigte ihre Schritte. Die Sohlen ihrer Sandalen rutschten über kleine Steine und Sand. Sie stolperte über den unebenen, mit Gras bewachsenen Boden und lief auf die beiden windzerklüfteten Felsen zu. Hinter den Felsen lag der weite Sandstrand, nur von dunklen Klippen unterbrochen. An einer solchen Klippe flatterte das zerfetzte Segel über einem stark beschädigten Boot. Der Aufprall hatte den Bug eingedrückt und die Planken mittschiffs zertrümmert. Jede Welle drückte den Schiffsrumpf weiter in die zerklüfteten Steine. 26
Vorsichtig ging Jhoira näher. Nur selten gelangten Schiffe nach Tolaria. Bei den meisten handelte es sich um die eigenen Vorratsschiffe der Akademie, auf denen nur Seeleute segelten, die Meister Malzra persönlich ausgesucht hatte. Die Insel war zu abgelegen und zu weit abseits der üblichen Handelsrouten, um andere Schiffe anzulocken. Dieses Boot war sicherlich lange Zeit ziellos umhergetrieben, ehe es an der Insel zerschellte. Vielleicht war es unbemannt. Vielleicht war die Besatzung über Bord gespült worden. Während sie näherging, hielt Jhoira nach Lebenszeichen im Wrack Ausschau. Die Abdrücke ihrer Sandalen füllten sich hinter ihr mit Salzwasser. Sie erreichte die Klippe und kletterte hinauf. Das Boot war nicht groß und hätte ebensogut mit einem wie mit fünf Matrosen bemannt gewesen sein können. An Deck herrschte heillose Unordnung. Überall lagen abgerissene Taue und leere Fässer herum, die bei jeder neuen Welle umherrollten. Die Luke stand offen, und in der dunklen Kajüte erspähte Jhoira Möwen, die sich um Schiffszwieback stritten, der aus einer umgestürzten Kiste quoll. Der Hauptmast des Bootes, an dem das zerfetzte Segel hing, war stark beschädigt, stand aber noch aufrecht. Es sah aus, als sei das Boot in voller Fahrt gewesen, als es gegen die Klippen prallte. Bestimmt war es am gestrigen Abend auf Grund gelaufen, als ein mitternächtlicher Sturm den Glimmermond mit Wolken verhüllte. Eine schmale Treppe führte zu einer Tür hinab. Bestimmt handelte es sich um die Kapitänskajüte. »Was tust du hier?« fragte sich Jhoira besorgt, als sie die Klippe hinabstieg, ein Bein über die Reling schwang und sich auf das schwankende Deck begab. »Das Schiff kann sich jeden Augenblick losreißen, umkippen und dich ins Meer hinausbefördern.« Trotzdem ging sie weiter und erreichte die Treppe, die zur Kapitänskajüte führte. Langsam kletterte sie 27
die Stufen hinab. Mit einem Ruck öffnete sie die rotgestrichene Tür und wich zurück, als ihr heiße, abgestandene Luft entgegenschlug. Der Raum war dunkel und überfüllt. Bei jeder neuen Welle rutschten die auf dem Boden verteilten Gegenstände hin und her. Sie entdeckte Landkarten, einen Kompaß, Federkiele, eine zerborstene Laterne, ein Lineal und etliche Gegenstände, die sie nicht genau erkennen konnte. An einer Wand der Kabine stand ein kleiner Tisch, an der anderen befanden sich zwei übereinanderliegende Kojen. In der unteren lag eine Gestalt. Tot, dachte Jhoira. Der Mann lag völlig reglos, obwohl das ganze Boot ständig schwankte. Unter den goldenen Locken erblickte sie ein gebräuntes Gesicht. Dichte Bartstoppeln bedeckten das Kinn. Die großen, kräftigen Hände lagen gefaltet auf seiner Brust. Er sah wie ein Toter aus. Jhoira wich zurück. Vielleicht handelte es sich um ein Pestschiff, und dieser Mann war als letzter gestorben. Wie dumm von ihr, an Bord zu klettern! Dann bewegte er sich. Er atmete, und sie wußte, daß sie ihn nicht im Stich lassen würde, auch wenn er die Pest hatte. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, durchquerte sie die vollgestopfte Kabine, beugte sich über die Koje und hob den Mann hoch. Sie war schon immer sehr kräftig gewesen. Die Ghitu aus Shiv mußten stark sein. Den Mann über die Schulter geworfen, wankte sie aus der Kabine und die Treppen hinauf. Es war schwierig, das schwankende Deck mit einer Last auf der Schulter zu überqueren, und Jhoira geriet zweimal ins Stolpern. Grimmig biß sie die Zähne zusammen und schaffte es, die Reling zu erreichen. Mit einem verzweifelten Satz sprang sie auf die Klippe und blieb dort keuchend liegen. Als sie sich vom Deck des Schiffs abstieß, drehte sich das Boot leicht zur Seite. Eine hohe Welle hob es in die Höhe und drohte es auf Jhoira und den Mann fallen zu 28
lassen. Sie beeilte sich, ein Stück höher zu klettern. Die Welle rollte wieder ins Meer hinab und riß das Wrack mit sich. Der Mast zerbarst wie ein dünner Zweig. Wie ein Leichentuch legte sich das Segel über das Deck, während das Boot von der nächsten Welle ergriffen und abgetrieben wurde. Zersplitterte Fässer und anderes Treibgut tanzten auf dem Wasser. Keuchend beobachtete Jhoira, wie das Wrack immer wieder in die Höhe geworfen und in die Tiefe gerissen wurde. Eine gewaltige Woge erhob sich, und das Boot verschwand. Eine Weile sah sie es noch wie ein weißes Seeungeheuer unter Wasser treiben. Jhoira wartete auf eine Pause zwischen zwei heftigen Wellen und verließ die Klippen. Sie schritt den Strand entlang und überlegte, ob sie den Mann hier ablegen sollte. Ein schneller Blick den Hang hinauf verriet ihr, daß keine anderen Studenten oder Gelehrten das Wrack und den Mann entdeckt hatten, aber gewiß würde bald jemand auftauchen. Dann war der Seemann so gut wie tot. Malzra duldete keine Fremden auf seiner Insel, und die Studenten waren verpflichtet, Schiffbrüchige sofort anzuzeigen. Natürlich wollte Jhoira irgendwann auch diesen melden, aber im Augenblick brauchte noch niemand von ihm zu wissen. Trotz ihrer Kraft erwies sich der Anstieg zu ihrem Versteck als ausgesprochen mühselig. Als er geschafft war, legte sie ihre Last auf das sonnendurchflutete Plateau, auf dem sie so viele Nachmittage verbracht hatte. Sie überprüfte Atmung und Puls des Mannes und legte ihm die Hand auf die Stirn, um herauszufinden, ob er Fieber hatte. Er fühlte sich warm an, aber das konnte auch an der Sonne liegen. Es gab eine bessere Möglichkeit. Mit wild klopfendem Herzen beugte sie sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. »Heiß. Ja, sehr heiß«, murmelte Jhoira atemlos. Sie zog den Umhang von den Schultern, suchte zwei 29
Äste und errichtete ein Sonnendach über dem Bewußtlosen. Dann zog sie eine kleine Flasche aus dem Gürtel, setzte sie dem Mann an die Lippen und goß ein wenig kühles Wasser in seinen Mund. Er war wunderschön: sonnengebräunt groß, kräftig und sehr geheimnisvoll. Das war das Wichtigste überhaupt! Die letzten Tropfen rannen aus der Flasche. »Du bleibst hier«, flüsterte sie und berührte seine Schulter. »Niemand darf dich sehen! Ich hole frisches Wasser und Decken - Vorräte. Ich kümmere mich um dich. Bleibe hier!« Ihr Herz klopfte wie ein gefangener Vogel in ihrer Brust, und Jhoira eilte davon, ihr Geheimversteck und den geheimnisvollen Fremden zurücklassend. Kaum waren ihre Schritte verklungen, als sich die blauen Augen des Mannes öffneten. Sie funkelten, und das Funkeln wirkte beinahe metallisch. Vielleicht spiegelten sich nur die silbrigen Wolken in seinen Augen, aber es konnte auch etwas anderes sein: etwas Unmenschliches, etwas Bedrohliches.
30
Monolog
Endlich hat Urza es geschafft und eine Maschine gebaut, die wahrhaftig lebt. Seit dreitausend Jahren arbeitet er daran. Jetzt, da es ihm gelungen ist, weiß er nicht, was er damit anfangen soll. Der Silbermann wurde geschaffen, um Urza einen Zugriff auf die Vergangenheit zu ermöglichen, und zwar noch weiter zurück als dreitausend Jahre, bis in die Zeit der Thran. Urza hofft, der Golem kann in das Zeitalter dieses uralten Volkes zurückreisen. Also sechstausend Jahre! Wenn Urza die Reise selbst unternehmen könnte, würde er die Thran daran hindern, sich in halb menschliche, halb aus Maschinen bestehende Abscheulichkeiten zu verwandeln, die alles Leben in Dominaria zerstören wollen. So könnte er auch den Fehler auslöschen, den er und sein Bruder Mishra begingen, indem sie die Tore zu Phyrexia öffneten. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Verhinderung des Entstehens der Phyrexianer dem Mord an uns allen gleichkommt, die wir seither in dieser Welt leben. Dennoch möchte Urza lieber alles auslöschen, als sich mit seiner Vergangenheit vernünftig auseinanderzusetzen - genau wie damals in Argoth. Am schlimmsten ist, daß er die gleichen Fehler wieder und wieder begeht. Hätte er seinen Bruder umarmt, statt ihn anzugreifen - er hätte sich nur für seine Überheblichkeit und Besessenheit entschuldigen müssen -, hätte der Bruderkrieg nie stattgefunden, die Bruderschaft des Gix hätte nie in unserer Welt Fuß fassen können und Argoth und Terisiare wären nicht zerstört 31
worden. Hätte er mit seinem Bruder zusammengearbeitet anstatt gegen ihn, hätten sie ihre Genialität und die beiden Hälften des Kristalls vereint, wäre der Weg nach Phyrexia an dem Tag abgeschnitten worden, an dem sie ihn versehentlich freilegten. Versöhnung ist dem Mann ebenso unmöglich wie Reue, Schuldbewußtsein oder Freundschaft. Jede Unterlassungssünde, die Urza an seinem Bruder Mishra beging, wiederholt er jetzt an seinen Studenten ... und dem neugeborenen Silbermann. Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
32
Die Studenten hatten das Laboratorium verlassen. Nur Meister Malzra, sein Vertrauter Barrin und der Silbermann blieben inmitten der Apparate und seltsamen Zeichnungen zurück. »An deinem ersten Tag hast du bereits viel gelernt«, sagte Barrin freundlich. »Wir haben dich aus der Ferne beobachtet. Du hast dich gut eingelebt.« »Ich habe einen Freund«, verkündete der Silbermann. Ein wehmütiges Lächeln huschte über Barrins Gesicht. »Ja, Teferi, meinen abtrünnigen Schützling. Wir wissen es.« »Er hat mir viel erzählt«, fuhr der Golem fort. Seine Stimme klang mißtrauisch. »Er hat mir die Akademie gezeigt und gab mir den Namen Arty Schaufelkopf.« Der Magier seufzte verärgert. »Teferi ist ein genialer junger Magier - mein vielversprechendster Schüler -, stiftet aber gerne Unfrieden. Er macht sich das Leben unnötig schwer und anderen noch viel schwerer ...« »Teferi ist für den Anfang ein guter Freund«, unterbrach ihn Malzra mir ungewöhnlicher Schärfe. Seine Blicke wanderten zwischen dem Mann aus Metall und dem Mann aus Fleisch hin und her. Dann schien er sich wieder zu beruhigen, und das Funkeln in seinen Augen erlosch. »Schließlich habt Ihr behauptet, der Proband habe Gefühle, Meister Barrin, und brauche Freunde.« »Das stimmt«, antwortete der Magier und wechselte geschickt das Thema. »Meister Malzra brennt darauf, mit den Experimenten zu beginnen, für die 33
wir dich schufen. Deshalb riefen wir dich heute abend hierher.« Barrin ging zur Wand hinüber, öffnete eine kleine Luke und zog einen Pfahl heraus, der dreimal so lang wie er selbst war. Am Ende des Pfahls saß ein kleiner Haken. Barrin steckte ihn durch eine kaum sichtbare Öse an der Decke und zog fest daran. Eine der großen Deckenplatten löste sich. An hydraulischen Stäben schwebte sie langsam zu Boden, und eine große Maschine aus Glaszylindern, Metallrahmen und zahllosen Kabeln kam zum Vorschein. Das Gerät verströmte ein helles Licht und war zehnmal so groß wie der Silbermann. »Das ist ein Zeitfeldverzerrer«, erklärte Meister Malzra. »Er wird durch vier verschiedene Energiequellen betrieben: Wärme, Mechanik, Geomagnetik und natürlich Thran. Die Wärmequelle beinhaltet eine Molekularzeituhr, die eine genaue Messung der Zeitvektoren ermöglicht und in atomaren Schwingungen pro Sekunde anzeigt. Die Mechanik dreht das Gerät um die eigene Achse, so daß darunter ein Strahlenfeld entsteht, das eine Konkretisierung der Zeitverzerrung ermöglicht. Die geomagnetische Komponente sorgt für eine genaue Anzeige von Längengraden, Breitengraden und Höhe von Start und Ziel. Die Thransteine sind selbstverständlich für den Hauptantrieb der Maschine verantwortlich.« Verwirrt fragte der Silbermann: »Was ist das für eine ... Maschine?« »Eine Zeitmaschine«, erklärte Barrin. »Sie ermöglicht Reisen durch Zeit und Raum. Heute abend wollen wir nur die Zeitkomponente ausprobieren.« »Ihr wollt, daß ich die Maschine bediene?« »Wir möchten, daß du mit ihr reist«, antwortete Meister Malzra. »Dieses Gerät bringt fleischlichen Kreaturen Verderben. Alle Wesen mit Herzschlag, Atmung, Verdauungsorganen und einem Nervensystem, 34
das von chemischen Reaktionen abhängt, sind völlig ungeeignet für Zeitfeldverzerrungen.« »Sie sterben«, erklärte Barrin. »Metall ist bedeutend unempfindlicher gegen zeitliche Verschiebungen. Und von allen Metallen zeigte Silber den geringsten Widerstand. Aus diesem Grund bestehst du aus Silber. Wir haben dich geschaffen, weil du durch das Portal reisen und uns berichten sollst, was du entdeckst.« Vorsichtig näherte sich der Silbermann der von der Decke hängenden Maschine. Genau unter dem Gerät entdeckte er einen Kreis auf dem Fußboden. »Teferi hat mir davon erzählt. Jede Maschine ist für einen bestimmten Zweck gedacht. Jede Maschine dient dazu, Euch und die Akademie gegen ... Feinde von außerhalb zu verteidigen.« Meister Malzra hob erstaunt die Augenbrauen. »Das alles weiß Teferi?« »Das weiß scheinbar jeder«, sagte der Silbermann. »Ja ... nun«, murmelte der Magier. »Die Maschine ist ein Teil der Verteidigung. Du darfst das, was wir dir erzählen, auf keinen Fall weiter ...« »Natürlich nicht.« »Im Laufe der Zeit wollen wir dich oder einen anderen Probanden - vielleicht auch irgendwann einen Menschen - bis in die Zeit der Thran zurückschicken, um sie von dem Weg abzubringen, der uns die... Feinde von außerhalb bescherte.« »Mich oder einen anderen Probanden«, wiederholte der Silbermann und dachte an den glühenden Hochofen, die Schrotthaufen und die Arbeiter mit ihren Schaufeln. »Das ist natürlich streng geheim!« betonte Malzra. »Natürlich«, nickte der Silbermann. »Der heutige Versuch ist aber nicht schwierig«, beschwichtigte ihn Barrin, der die Unsicherheit des Golems bemerkte. »Wenn alles gutgeht, wirst du nur bis zum heutigen Morgen zurückreisen.« 35
»Was soll ich tun?« »Du mußt dich hier in den Kreis stellen«, sagte Meister Malzra. »Das ist alles. Du wirst stillstehen und warten, während die Maschine arbeitet. Wenn der Rückwärtslauf der Zeit langsamer wird, mußt du den Kreis verlassen, um in der Vergangenheit anzukommen. Dort wirst du nicht sofort im Gleichklang mit der Zeit sein: Du wirst deine Umgebung sehen, aber niemand sieht dich. So bleibt der Zeitverlauf geschützt. Wenn die Partikel deiner selbst allmählich mit der Umgebung verschmelzen, läßt der Effekt nach, und du wirst sichtbar. Ob sichtbar oder unsichtbar: Du kannst deine Umgebung verändern, aber wir möchten dich bitten, keine bedeutsamen Änderungen vorzunehmen. Dabei geht es wieder um den Schutz des Zeitverlaufes. Deine Rückreise steuern wir von hier aus. Wenn du in die Gegenwart zurückkehrst, berichtest du uns von deinen Erlebnissen. Hast du mich verstanden?« »Ich habe verstanden«, antwortete der Silbermann mit ausdrucksloser Stimme. »Es ist mein Zweck. Dafür wurde ich geschaffen.« Barrin sah den Golem bedrückt an und schüttelte den Kopf. Er wandte sich an Malzra und sagte mit leiser Stimme: »Das gefällt mir nicht. Er ist von Teferi traumatisiert worden.« Malzra lachte verhalten. »Ihr seid von Teferi traumatisiert!« »Sein Gefühlsleben ist noch zu neu.« »Er zeigt die richtige Gefühlsaufwallung gegenüber Teferi.« »Und ich sage Euch: Es gefällt mir nicht!« »Er begreift, daß er für dieses Unternehmen gebaut wurde.« »Was ist, wenn er an den Zeitströmen herumspielt?« »Dann holen wir ihn zurück und wissen, daß er die Aufgabe nicht erfüllen kann.« Der Silbermann stand reglos da, während sich die 36
Männer unterhielten. Sein scharfes Gehör nahm jedes Wort auf. »Ich weiß, wie ungeduldig Ihr seid, Malzra, aber wir haben Zeit. Wenn unser Versuch glückt, haben wir alle Zeit der Welt. Der Versuch mit einem Lebewesen ist anders als der mit einer Maschine. Man kann ein Lebewesen nicht einfach auseinandernehmen, neue Teile hinzufügen und wieder zusammenbauen ...« »Im Gegenteil, das haben wir doch heute morgen getan!« widersprach Malzra und wandte Barrin den Rücken zu. Mit einer schnellen Geste sagte er zu dem Silbermann: »In den Kreis mit dir! Die Antriebsphase dauert ein paar Minuten.« Wortlos trat der Proband in den Kreis. Er spürte das gewaltige Gewicht der über ihm hängenden Maschine. Von seinem Standpunkt aus beobachtete er Barrin und Malzra. Mit Hilfe des Hakens öffnete Barrin eine Geheimluke im Boden. Ein Teil der Steinplatten rutschte beiseite, und zwei Pulte mit zahllosen Schaltern und Hebeln wuchsen aus dem Boden. Kupferdrähte und zuckende Röhren ragten darunter hervor. Barrin überprüfte alles ganz genau, während Malzra sich an Hebeln und Schaltern zu schaffen machte. Flüssigkeiten strömten durch die Röhren. Die Glaszylinder begannen dumpf zu summen. Messingverbindungen klirrten. Die immer lauter werdenden Geräusche ließen sogar die Kuppel des Daches erbeben. Ein durchdringendes Heulen schallte durch das Laboratorium, und ein schmaler Lichtstrahl leuchtete am Fuß der Maschine auf. Er durchfuhr die vibrierende Luft, schoß dicht an der Schulter des Silbermannes vorbei und landete genau im Mittelpunkt des Kreises. Sekundenlang erzitterte der Lichtstrahl, ehe er einen Bogen beschrieb und den Golem wieder und wieder umrundete. Wenige Augenblicke später hatte sich das 37
Licht so ausgedehnt, daß der Silbermann von einem purpurnen Kegel umgeben war. Er stand still, in grelles Licht gebadet, und beobachtete seine Schöpfer. Die beiden arbeiteten an ihren Pulten, schalten eine Energiequelle höher, eine niedriger, steuerten den rasenden Lichtstrahl und vereinten die Koordinaten von Zeit und Raum ... Das Licht wurde heller. Die Bemühungen der Meister ließen nach. Das Heulen erreichte seinen Höhepunkt. Bald regten sich Malzra und Barrin nicht mehr. Sie waren erstarrt in Raum ... oder Zeit. Der Silbermann begriff. Die sich drehende Maschine und der Lichtkegel hatten den Faden der Zeit zuerst auf ein hauchfeines Fädchen reduziert und schließlich aufgelöst. Mit immer wilderer Kraft riß die Maschine nun am Strang der Vergangenheit, bis er sich allmählich auflöste. Barrin und Malzra bewegten sich wieder, diesmal aber rückwärts. Ihre Arme zuckten wie Skorpionschwänze auf und ab. Auch der Silbermann bewegte sich, besser gesagt: Sein Ich der Vergangenheit bewegte sich. Es trottete rückwärts aus dem Kreis, wie er vor wenigen Minuten vorwärts hineingetrabt war. Innerhalb des Lichtkegels starrte der Golem erstaunt vor sich hin. Sein Doppelgänger unterhielt sich mit Malzra und Barrin. Die Worte waren durch das Dröhnen der Maschine nicht zu verstehen, aber ihr Sinn war deutlich - es handelte sich um umgekehrte Silben, die weder informierten noch erhellten, sondern verwirrten. Während sie redeten, begriff der Geistergolem immer weniger, und die Geisterzeitmaschine verschwand wieder in der Decke. Als das kurze Gespräch endete, schritt der Geistergolem rückwärts zur Tür, ohne etwas von der verborgenen Maschine und dem Gespräch zu ahnen. Die Zeit lief schneller zurück. Malzra und Barrin rannten rückwärts durch den Raum, bauten Geräte 38
auseinander, vergaßen Gespräche, reduzierten Schlußfolgerungen auf Hypothesen und eilten in die Vergangenheit. Schon bald bewegten sie sich so schnell, daß man nur noch verschwommene Umrisse sah, die schließlich völlig verschwanden. Das Laboratorium lag geraume Zeit im Dunkeln, nur hin und wieder huschte eine Maus über den Fußboden. Endlich kehrten die beiden Gelehrten zurück, von einer Gruppe Lehrer und Schüler gefolgt. Auf den Galerien drängten sich neugierige Zuschauer. Der Geistergolem erschien. Sein Auftauchen wurde von den Zuschauern eifrig beklatscht. Zwischen den Meistern tat sich eine Lücke auf, die er betrat. An einem bestimmten Punkt blieb er stehen und versank in Reglosigkeit. Von der Galerie hagelte es Fragen. Mit einer fast schon brutalen Geste packte Malzra den Hals des Silbermannes, bog ihn ein wenig nach hinten und hielt Sekunden später den Kopf in der Hand. Im Inneren der Zeitmaschine erstarrte der Golem, als er sah, wie einfach man ihn auseinandernehmen konnte. Nur der Körper stand noch aufrecht da, während der Kopf auf einem kleinen Tisch landete, als brauche man ihn nicht mehr. Das Innenleben des Wesens wurde freigelegt. Zahnräder und Drähte glänzten auf, von silbernen Streben umgeben. Licht durchflutete das Gewirr der Innereien. Malzra zerrte an den Streben, und die Bewegungen seiner Finger lösten Zuckungen des sezierten Körpers aus. Nach zweimaligem heftigem Zerren zog Malzra ein silbernes Kästchen zwischen den Streben hervor. Er öffnete es. Darin ruhte ein dunkler Stein von der Größe einer Kinderfaust. Er nahm ihn heraus, und sofort erloschen sämtliche Lebenszeichen der Kreatur. Voller Grauen beobachtete der Silbermann, wie Malzra den Stein in die Höhe hielt. Ersticktes, umgekehrtes Gelächter erklang auf der Galerie. Malzra rief 39
etwas, und das Gelächter verstummte. Dann schritt er zu einem Tisch hinüber und verstaute den Stein in einem Metallkasten. Die Studenten auf der Galerie setzten sich in Bewegung. Malzra und Barrin verstauten Werkzeuge in Kisten und rieben sich mit Tüchern Ölflecke auf die Hände. Während sich der Raum langsam leerte, stand der kopflose Golem reglos und leblos in der Mitte des Saales. Der Rücklauf der Zeit verlangsamte sich. Der Leib des echten Silbermannes rauchte - Hitze, durch die Zeitverschiebung hervorgerufen. Er verließ den Lichtkegel. Um ihn herum lief die Zeit wieder voran. Die Studenten kehrten auf die Galerie zurück. Die Gelehrten packten die Werkzeuge aus und wischten sich das Öl von den Händen. Unbemerkt näherte sich der Silbermann seinem kopflosen Doppelgänger. Er starrte in das silberne Kästchen und das Drahtgewirr im Hals. Er griff an seinen eigenen Hals und fragte sich, wo der Hebel saß, der die Entfernung des Kopfes zuließ. Sein Gehirn, seine Gefühle und sein ganzes Ich konnten auf Wunsch hervorgeholt und zur Schau gestellt werden. Er war nichts als ein Kinderspielzeug. Sie nannten ihn ihren Freund, aber in Wahrheit war er nur ein Schaufelkopf. Ohne den dunklen Stein war er nicht einmal das. Der Silbermann blickte dem unwiderlegbaren Spiegelbild seines Todes ins Auge. Die Zeitreise war beendet. Der Golem wurde urplötzlich aus dem Zeitstrom gerissen und badete erneut in grellem Licht. Meister Malzra hatte ihn in die Gegenwart zurückgerufen. Er war angekommen. Der Lichtstrahl erbebte und zog sich ins Innere der Maschine zurück, die langsam in die Höhe schwebte. Graue Rauchfahnen zeugten von der gewaltigen Hitze, die sich während der Reise entwickelt hatte. Blinzelnd standen Malzra und Barrin an den Pulten. 40
Zögernd ließen sie die Hebel los und näherten sich dem Probanden. Barrin fand als erster die Sprache wieder. »Geht es dir gut?« »Kannst du Bericht erstatten?« warf Malzra ein. »Mein Leib ist ziemlich heiß«, antwortete der Silbermann, »aber es geht.« »Wie weit bist du gereist?« wollte Malzra wissen. »Bis zum Morgen, bis zum Zeitpunkt meines Erwachens.« »Ausgezeichnet«, erklärte Malzra, und Barrin schrieb die Antwort auf ein Blatt Papier. »Hast du irgend etwas berührt oder bewegt?« »Ich berührte nur den Boden mit meinen Füßen und bewegte nur meinen Körper.« »Hat man dich angesprochen oder gab es einen Hinweis darauf, daß man dich bemerkte?« »Nein.« »Was hast du gesehen?« Die Antwort folgte nicht so prompt wie die übrigen. »Ich sah, wie ich auseinandergebaut wurde. Ich sah, wie man mein Innerstes entfernte. Ich sah das kleine dunkle Ding, das mein Gehirn, mein Herz und meine Seele ist.«
41
Monolog
Der erste Lebenstag ist immer der schwierigste. Man wird aus dem weichen, warmen Bauch gezerrt, in dem man empfangen wurde, und in die kalte Welt geschleudert. Man muß sich umgewöhnen: Luft anstatt Flüssigkeit zu atmen, nackt zu sein, berührt und gewaschen zu werden. Am schlimmsten ist der Augenblick, in dem die Nabelschnur durchtrennt wird und man sich plötzlich und unwiderruflich allein wiederfindet. Zum Trost für solche entsetzlichen Erlebnisse gibt es die Arme einer Mutter. Du hast keine Mutter. Du hast auch keinen Vater. Du hast zwei Schöpfer, aber das ist etwas anderes. Keiner von uns weiß, wie man dich trösten und beschützen kann. Wenn du zuviel Zuwendung benötigst, halten wir dich vielleicht sogar für ungeeignet. Vielleicht liegt es daran, daß du als Werkzeug und Waffe gedacht warst, nicht als Person. Vielleicht liegt es daran, daß wir nicht erwarteten, dich schützen zu müssen. Wir hatten gehofft, du würdest uns beschützen. Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
42
Vor fast einem Monat hatte Jhoira im Laboratorium zugesehen, wie der Silbermann erwachte. Sie erinnerte sich an jede Einzelheit von Meister Malzras Experiment. In der Zwischenzeit hatte sie Kraftsteine studiert, ähnlich jenem, der in dem Golem steckte, und sich mit den Bauplänen des Wesens beschäftigt. Das alles gehörte zu den Vorbereitungen, die für ihren Vortrag notwendig waren. - Der Preis für die Erlaubnis, als Elitestudent beim Erwachen des Silbermannes zuschauen zu dürfen, war ein Vortrag zum Thema. - Sie mußte nur noch eines tun, ehe sie sich an die endgültige Fassung ihres Berichts machte: Sie mußte die Maschine befragen. Jhoira seufzte angewidert; ihre Finger trommelten auf die Pläne. Sie hatte gehofft, aus den Plänen und ihrem Wissen über Thransteine auf die geistigen und emotionalen Kapazitäten des Golems schließen zu können. Doch leider fand sie keine Erklärung für die logische Denkfähigkeit und die geradezu menschlichen Gefühle des Wesens. Also mußte sie mit ihm reden. Ergeben sah sie zur Decke ihres Zimmers empor. Ein Gespräch mit der Maschine bedeutete, sich zuerst mit ihrem selbsternannten Gefährten herumzuschlagen, mit Teferi. Der Knabe - und mit vierzehn war er nur ein Knabe - war gleichzeitig ein Genie, ein Lausbub und ein Perverser. Leider waren alle drei Teile seines Ichs unsterblich in Jhoira verliebt. Sie hatte alles getan, um seine Annäherungsversuche abzuwimmeln, aber er bemerkte versteckte Andeutungen überhaupt nicht 43
und hielt unverhüllte Abweisungen für einen groben Scherz. Wenn sie sagte, sie sei nicht an ihm interessiert, erklärte er gleich, er werde ihr Interesse unter allen Umständen wecken. Wenn sie sagte, sie hasse ihn, antwortete er, Liebe und Haß seien nur um Haaresbreite voneinander entfernt - und wenn sie schon von Haaren redeten, würde sie ihm eines der ihren schenken? Jhoira vermutete, daß er bereits etliche Liebestränke gebraut hatte, um ihre Zuneigung mit magischer Hilfe zu erringen. Allein der Gedanke an den jungen Mann - den Knaben, das Kind - verärgerte Jhoira. Sie erhob sich und schritt in dem kleinen Zimmer auf und ab. Wenn Teferi wüßte, wie ein richtiger Mann aussieht, dachte sie. Wenn er den Fremden sehen könnte, den sie am Strand entdeckt hatte, versorgte und in ihrem Geheimversteck verbarg ... Nein. Niemand außer ihr durfte von Kerrick erfahren. So war es, und so sollte es bleiben. Jhoira setzte sich auf ihr Bett und starrte aus dem Fenster. Hinter den hohen Baumwipfeln und den Felsenklippen lag der Strand und wartete ihre große Liebe. Sie schüttelte den Kopf, um sich wieder alltäglichen Dingen widmen zu können. Je eher sie den Silbermann befragte, um so schneller konnte sie den Bericht schreiben und wieder zu Kerrick laufen. Jhoira nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift, verließ den Raum und machte sich auf die Suche nach dem Silbermann. Sie fand ihn im Speisesaal, wo er auf einem abgesägten Baumstumpf hockte, den man eigens für ihn herbeigeschafft hatte, nachdem er für drei Bänke der Akademie zu schwer gewesen war. Er sah einsam und verlassen aus, wie er da am Ende eines Tisches saß. Neben ihm hielt Teferi Hof, und ein paar lachende Anhänger drängten sich um die beiden. Heute standen Mohrrüben auf dem Speisezettel, und Teferi hatte ent44
deckt, daß sie wie komische Ohren und eine lange, gebogene Nase aussahen, wenn er sie in verschiedene Löcher im Kopf des Golems steckte. Er hatte noch andere Veränderungen vorgenommen: Ein öliges Salatblatt diente als Haarschopf, und harte Zwiebäcke, die man in die Augenhöhlen der Maschine gerammt hatte, bildeten große, hervorstehende Augen. Jhoira schüttelte den Kopf und trat näher. Wenn die Berichte stimmten, war diese Maschine hellwach. Sie wußte, was mit ihr geschah, und hatte Gefühle. »Weiß Meister Malzra, was du hier tust, Teferi?« Der Junge schaute auf. Sein Koboldgesicht erhellte sich bei ihrem Anblick. »Hallo, Jhoira! Kennst du Arty Schaufelkopf schon?« »Weiß Meister Malzra, was du hier tust?« wiederholte sie wütend. Der Vierzehnjährige sah hochmütig und zufrieden aus. Er nickte der mit Spiegeln verkleideten Galerie zu, wo Barrin und Malzra oft zu Mittag speisten. »Meister Malzra interessiert sich für alle meine Abenteuer. Ich bin Barrins Musterschüler! Natürlich wissen die beiden, was ich tue.« »Dieses Artefakt-Wesen ist klug, Teferi. Es denkt. Es hat Gefühle. Du kannst nicht so mit ihm spielen.« »Ich kann und ich werde!« erwiderte Teferi. Er nahm ein Paar Radieschen und hängte sie wie Ohrringe an die Mohrrüben im Kopf des Silbermannes. »Es macht keinen Spaß, mit jemandem zu spielen, der weder Gedanken noch Gefühle kennt.« Angewidert streckte Jhoira die Hände aus. »Wie dem auch sei, ich muß mit ihm reden.« Teferi lächelte. »Nur zu. Ich bin sein Übersetzer stimmt's, Schaufelkopf?« Hinter seiner Maske aus Zwieback und Mohrrüben blieb der Silbermann stumm. Mit spitzen Fingern entfernte Jhoira das tropfende Salatblatt. Ölspuren zogen sich über die Stirn des Sil45
bermannes. »Hast du schon einmal daran gedacht, daß du ihn beschädigen könntest, Teferi? Es handelt sich um eine empfindliche Maschine.« »Meister Malzra möchte, daß er ausprobiert wird«, antwortete er schnell. Dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich genüßlich zurück. »Ich probiere ihn gründlich aus. Wenn du eifersüchtig bist, könnte ich dich auch gründlich ausprobieren, und zwar in meinem Zimmer.« Seine Freunde stießen ein begeistertes Oooh! aus. Jhoira errötete. »Ich mache mir nichts aus kleinen Jungen!« erwiderte sie wütend und riß die Zwiebäcke aus dem Gesicht des Silbermannes. Der Golem warf ihr einen unglücklichen Blick zu. »Ich interessiere mich überhaupt nicht für winzige, ekelhafte, kleine Jungen, die Spatzen die Augen ausstechen, Rosen zertrampeln und ihre Blase auf alles entleeren, was schön und gut ist. Genau so bist du, Teferi! Du bist nicht einmal ein widerlicher kleiner Junge, sondern ein Säugling, der seinen eigenen Körper nicht beherrscht, niemanden ernst nimmt und nichts kann außer heulen und kreischen und sich und andere besudeln. Du mußt noch sehr viel lernen, ehe du halbwegs erwachsen bist!« Sie unterstrich ihre Worte, indem sie die Mohrrüben aus dem Kopf der Maschine riß. Teferi schwieg. Er war leichenblaß geworden, als sauge die Röte in Jhoiras Gesicht seine eigene Hautfarbe auf. Als sie geendet hatte, zitterte seine Unterlippe heftig. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die Zwiebäcke zu seinen Füßen. Jhoira beugte sich vor und ergriff den Silbermann sanft beim Arm. »Gehen wir, ich habe dir viele Fragen zu stellen.« Der Golem erhob sich, als könne sein schwerer Körper von ihrer schmalen Hand hochgezogen werden. Nach einem letzten Blick zurück folgte er ihr mit hängenden Schultern und schleppenden Schritten. 46
Barrin war wütend. Er ließ das Geländer los, das die Galerie begrenzte, und ging aufgebracht hin und her. Durch einen magischen Spiegel, der von ihrer Seite aus wie ein Fenster wirkte, hatten sie die Szene mit den Möhren und Zwiebäcken mitangesehen - und hundert andere Streiche, die Teferi dem hilflosen Golem spielte. Jedesmal wirkte Urza leicht belustigt. Barrin dagegen schäumte vor Wut. »Ich begreife nicht, warum Ihr das zulaßt!« brüllte er. »Da sitzt das erste wirklich lebendige Artefakt, und Ihr überlaßt es den Schmähungen dieses ... Aasgeiers!« »Lebendige Wesen müssen leben, Barrin«, sagte Urza gelassen. »Wenn Teferi den Probanden beschädigt, wissen wir, daß wir ihn neu entwerfen müssen.« »Beschädigt? Neu entwerfen?« tobte Barrin. »So geht man nicht mit Lebewesen um! Sie müssen leben, wie Ihr bereits sagtet. Dieser Golem ist erst einen Monat alt. Gebt ihm Zeit...« »Zeit ist alles, was ich ihm gebe. Am Ende des Monat machen wir den nächsten Versuch«, sagte Urza und ging zur Tür. »In der Zwischenzeit bitte ich Jhoira, sich um ihn zu kümmern und ihn von Teferi fernzuhalten«, erklärte Barrin. »Ich begreife nicht, warum Ihr mir nicht gestattet, den Unruhestifter hinauszuwerfen.« Urza wandte sich in der Tür um. »Ich behalte ihn hier, weil er ein magisches Genie ist. Ihm ist Großes bestimmt. Vielleicht ist er nicht gesellschaftsfähig, aber so war ich früher auch.« »Daran hat sich nichts geändert«, fauchte Barrin zornig. »Teferi ist viel schlimmer. Jhoira hat es genau getroffen. Er ist selbstsüchtig. Er ist gefährlich. Er verletzt Menschen, ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden oder sich zu entschuldigen. Er übernimmt keinerlei Verantwortung für seine Taten. Seine Begabung ist mir egal. Bis er erwachsen ist, hinterläßt er eine breite Spur der Zerstörung.« 47
»Das hat man auch von mir behauptet«, erklärte Urza versonnen. »Ja, ich behalte Teferi hier, weil er mich an mich selbst erinnert.« * * * Jhoira führte den Silbermann in ihr Zimmer. Er mußte sich seitwärts drehen, um durch die Tür zu passen. Dann stand er steif und ängstlich wie ein kleines Kind vor ihr. »Ist schon gut. Ich beiße nicht«, versicherte ihm Jhoira. Sie winkte ihm, näherzutreten, damit sie die Tür schließen konnte. Das Klicken des Schlosses ließ den Raum noch winziger erscheinen. Trotz der hängenden Schultern und der ängstlichen Schweigsamkeit wirkte der Golem überwältigend. Jhoira wanderte umher und räumte ein wenig auf. »Es ist nicht groß, aber mehr brauche ich nicht, und hier bin ich ungestört.« Sie riß ein herumliegendes Mieder an sich und stopfte es eilig in den Wäschekorb, der in der Ecke stand. »Hier ist mein Bett«, fuhr sie fort, glättete mit unsicheren Fingern die Decke und schüttelte das Kissen auf, als rechne sie damit, daß sich der Silbermann hinlegen würde. »Hier bewahre ich meine Kleidung auf: Die Studentengewänder hängen dort drüben in dem mit Schnitzereien verzierten Schrank, und die Kleinigkeiten liegen in dieser Schublade. Das ist einer der Nachteile, wenn man aus Fleisch und Blut besteht. Man muß sich immerzu bedecken.« Es hörte sich gezwungen an. Jhoira erinnerte sich daran, daß sie ein Wesen aus Metall vor sich hatte, daß sich sicher ebensowenig für Unterwäsche interessierte wie ein Türknauf. »Hier. Das wird dir gefallen.« Von einem Regal über ihrem Zeichenbrett nahm sie einen kleinen Anhänger aus Metall. Er war wie ein Echsenmensch in wallenden 48
Gewändern geformt. »Es stammt aus meiner Heimat, aus Shiv. Es ist aus Metall - nicht aus irgendeinem Metall, sondern aus Viashinometall. Es gehört zu den härtesten Materialien der Welt.« Ohne nachzudenken, warf sie ihm den Anhänger zu. Eine gewaltige Hand schnellte vor und fing das Schmuckstück auf. Es war die erste Bewegung des Golems, seitdem er das Zimmer betreten hatte. Er betrachtete den Anhänger eingehend. »Sehr hart«, bestätigte er mit einer Stimme, die wie das ferne Rauschen eines Wasserfalls klang. »Es hat mich gekratzt.« Jhoira runzelte die Stirn. Eilig trat sie neben ihn. Zwei kleine Kratzer zogen sich über die Hand des Silbermannes. »Oh, nein! Es tut mir leid. Ich werde schnell...« Sie brach ab, lachte herzlich und sank auf das Bett. Der Golem beugte sich vor. »Was ist? Habe ich etwas Dummes gesagt?« »Nein, nein«, versicherte sie ihm. »Ich war es. Hätte sich einer meiner anderen Freunde verletzt, hätte ich ein Tuch aufgelegt, um die Blutung zu stoppen, aber du kannst gar nicht bluten. Trotzdem wollte ich ein Tuch holen.« »Einer deiner anderen Freunde?« wiederholte der Golem. »Oh, ich bin einfach nur nervös. Ich weiß nicht, warum.« Sie richtet sich auf. »Ich habe kaum Freunde. Für gewöhnlich lasse ich niemanden in mein Zimmer. Ich weiß, daß du bloß eine Maschine bist, aber du kommst mir so wirklich vor wie eine Person.« »Wie eine Person ...« Sie schüttelte den Kopf und zog ein Tuch zwischen den Zeichenutensilien hervor. »Das kannst du trotzdem gebrauchen. Ich rede und rede, und du stehst da, während dir der Essig über die Hand läuft.« Sie schüttelte das Tuch aus und ging zu dem Golem hinüber. Vorsichtig wischte sie die Flüssigkeit ab. »In meiner 49
Heimat Shiv ist es Sitte, jemandem Öl über den Kopf zu gießen, wenn man ihn ehren möchte. Es heißt >Salbung<. Bei den Ghitu geschieht es, wenn ein Kind geboren wird, wenn man eine heilige Aufgabe zu erfüllen hat, wenn man krank ist und wenn man gerade dem Tode entronnen ist.« Geduldig wischte sie auch den letzten Rest der Flüssigkeit fort und polierte die Hand des Riesen. »Vielleicht ist es das«, meinte der Golem. »Vielleicht wurde ich gerade gesalbt.« »Du hast Glück, daß es sich bloß um Öl und Essig handelte. Wie ich Teferi kenne, hätte es bedeutend schlimmer kommen können.« »Teferi hat mich nicht gesalbt«, grollte der Silbermann. »Teferi hat nicht gemerkt, daß ich der Heilung bedarf.« Jhoira lächelte traurig und rieb noch einmal über die glänzende Oberfläche. Sie deutete auf den Anhänger. »Du kannst ihn behalten. Angeblich bringt er Glück. Es ist gut, wenn du ihn auf deiner Reise bei dir hast.« Sie wischte sich die Hände an einem sauberen Tuch ab und warf beide Tücher in den Wäschekorb. »Also, ich schreibe einen Bericht über dich und habe ein paar Fragen - wenn es dir nichts ausmacht.« Mit ernsthafter Stimme antwortete er: »Du bist der erste Mensch, der sich erkundigt, ob mir etwas recht ist.« Jhoira nickte abwesend. Sie zog eine Mappe mit zahlreichen Zeichnungen unter dem Tisch hervor und nahm ein paar Blätter heraus. Sorgfältig breitete sie die Papiere auf der Tischplatte aus. »Das sind Zeichnungen von mir«, bemerkte der Golem. »Ja. Es sind die endgültigen Pläne vor der Einsetzung des Kraftsteins. Vorderseite, Rückseite, links, rechts, von oben und von unten gesehen. Diese Zeichnung zeigt den Oberkörper. Du hast viel Platz in dei50
nem Inneren. Dort ist der Kopf«, erklärte sie und zeigte auf die jeweiligen Blätter. »Hier steht immer nur >Proband Eins<«, meinte der Golem. »Ja. Meister Malzra ist nicht besonders einfallsreich, wenn es um Namen geht. Trotzdem ist es ein besserer Name als Arty Schaufelkopf.« Einer der dicken Finger tippte auf eine Klammer, die um den gesamten Körper gezeichnet war. Daneben stand in großen Lettern das Wort >KARN<. »Der Name gefällt mir besser. Was bedeutet er?« Jhoira sah auf. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie den Golem. »Das ist aus der alten Thransprache. Ich weiß nicht viel darüber - nicht einmal Meister Malzra weiß viel darüber -, aber das Wort ist mir bekannt. Es bedeutet >mächtig<.« »Karn«, wiederholte der Golem gedankenversunken. Jhoira lächelte. »Ja. Ein guter Name. So heißt du. Karn.« Sie wandte sich wieder den Zeichnungen zu. »Hier sieht man den Kraftstein und die Art seiner Befestigung im Körper. In meinem Bericht geht es um die Erklärung, wie aus einer Maschine eine denkende, fühlende Kreatur wird, wenn man solch einen Kristall hinzufügt. Durch das Studium der Pläne ist es mir nicht begreiflich geworden, und auch meine Beobachtungen während des Einsetzens haben mir nicht geholfen. Ich vermag mir nicht vorzustellen, wie ein Kraftstein - besonders, wenn er so tot aussieht wie der, den man dir einsetzte - ein Wesen mit einer Seele erfüllen kann.« »Vielleicht ist es gar kein Kraftstein«, gab Karn zu bedenken. »Kein Kraftstein?« fragte Jhoira verwundert. »Was denn sonst?« »Ich weiß es nicht, aber ohne ihn bin ich nichts. Ich habe mich ohne ihn gesehen und war nur ein Haufen Metall.« 51
»Du hast dich gesehen?« Jhoira drehte sich um und ergriff die Hand des Silbermannes. »Karn, was stellen sie mit dir an? Ich weiß, daß Meister Malzra geheime Experimente mit dir durchführt. Er hat eine riesige Maschine gebaut - ich habe teilweise mitgearbeitet -, aber niemand weiß, wozu sie dient. Seit deiner Ankunft hat sich die Akademie verändert - etwas Sonderbares liegt in der Luft. Es kommt mir vor, als würde sich die Zeit verschieben oder so ähnlich. Haben die Experimente etwas damit zu tun?« Ein lautes Klopfen ertönte an der Tür. Jhoira sah grimmig drein. »Das ist Teferi, die kleine Ratte.« Sie rief zur Tür hin: »Einen Augenblick, bitte.« Es klopfte erneut. »Hier ist Meister Barrin. Ich möchte den Probanden abholen. Außerdem habe ich eine Bitte an dich, Jhoira.« Jhoira lief zur Tür, öffnete sie und verneigte sich. »Wir befinden uns mitten in einem Gespräch, aber wir können es später fortsetzen. Würde es dir etwas ausmachen, Karn?« »Natürlich nicht«, antwortete der Silbermann. »Ich freue mich darauf.« Er drehte sich seitwärts, so daß er die schmale Türöffnung passieren konnte. Barrin wich zurück, um ihm Platz zu machen. »Karn?« »Ja«, antwortete Jhoira. »So heißt er. Welche Bitte habt Ihr an mich?« * * * Es wurde Nacht in Tolaria. Die untergehende Sonne lag auf den blauen Dächern und verlieh ihnen einen Bronzeschimmer. Der Glimmermond spähte bleich über die Baumwipfel. In den heißen, dschungelähnlichen Wäldern erklangen die letzten Gesänge der Tagvögel, während die Nachtvögel die ersten Triller ausstießen. Auf dem burgunderroten Meer türmten sich golden glänzende Schaumkronen. Den ganzen Nach52
mittag hatte drückende Hitze über der Insel gelegen, aber nun kam ein frischer Abendwind auf, vertrieb die schwüle Luft, und Pflanzen und Menschen atmeten erleichtert auf. Jhoira befand sich unter ihnen. Sie hockte im Schatten der Ostmauer der Akademie und holte tief Luft. Die Nische, in der sie kauerte, hatte ursprünglich als Ankleideraum dienen sollen, aber das dazugehörige Gebäude wurde plötzlich zum Laboratorium und nicht, wie geplant, zum Schlafsaal ausgebaut. Vergitterte Fenster trennten die Nische vom Flur, und ein Fallgitter sicherte den Gang gegen Eindringlinge. Dieser unbenutzte Teil des Gebäudes war Jhoira auf einem Plan der Akademie aufgefallen, da sie einen guten Blick für Einzelheiten besaß. Der Gedanke, einen eigenen Ein- und Ausgang zu besitzen, war verführerisch. So konnte sie die strengen Ausgangsregelungen umgehen. Sie entfernte die Schlösser und Riegel erst, als sie ausreichenden Ersatz besaß, der nur ihr allein Zutritt zum Gang gewährte. Glücklicherweise war sie nicht so selbstsüchtig, die Sicherheit der Hochschule für ihr privates Vergnügen aufs Spiel zu setzen. Ihr Vergnügen. Sie lächelte. Die Bezeichnung hätte Kerrick gefallen. Ihre Beziehung währte schon zwei Monate - sie war keineswegs nur ein flüchtiges Vergnügen. Ehe sie ihn in die Arme schließen konnte, mußte Jhoira an den menschlichen und mechanischen Wächtern vorbeischleichen. In der kühlen Abendluft würden sie wachsamer sein als während des schwülen Nachmittags. Sie wagte nicht, das Tor zu öffnen, ehe sie nicht ihren kleinen Freund vernahm ... »Da ist er wieder!« rief einer der Männer auf dem Wehrgang. »Paßt auf!« »Verdammter Vogel!« fluchte ein anderer. »Vogel! Lächerlich!« schrie ein Dritter. »Sie bauen die Dinger! Es sind Aufziehspielzeuge!« 53
Sie hörte das Kreischen des Vogels, der die Wachen auf der Mauer in Bewegung brachte. Es handelte sich um eine einfache Konstruktion, die nicht mehr wog als zwei Blatt Papier, die aber schnell und schrill war. Die uralten Pläne stammten von niemand anderem als Tawnos, dem legendären Assistenten des noch legendäreren Urza. Es war unwichtig, wer die fliegenden Federgewichte entworfen hatte. Wichtig war nur, daß sie einfach zu bauen waren und ... »Ah! Er hängt in meinen Haaren!« »Schlag ihn tot!« »Nein! Verdammt, er hängt in meinem Haar!« »Halte still!« »Sie haben die Dinger verboten. Ein Rundschreiben wurde herausgegeben. Jedenfalls haben sie das gesagt! Sollen sie sich doch hier oben hinstellen und sich mit den verfluchten ...« Die kleinen Vögel machten ebensoviel Unsinn wie Teferi. Während die Männer auf dem Wehrgang weiterredeten, öffnete Jhoira das Tor, schlüpfte hindurch und verschloß es wieder. Dann robbte sie ins Unterholz. Außer Atem blieb sie dort hocken. Laute Schläge erklangen von oben, und sie vernahm das Klatschen gebrochener Flügel. Jemand stampfte mit dem Fuß auf, und einen Moment herrschte Ruhe. »Seht ihr, es ist gar kein richtiger Vogel. Seht nur, hier hat man Federn in den Papierleib gesteckt. Und hier, dieser harte Teil! Der wittert unseren Schweiß und steuert die Dinger auf uns zu! Die Gören sind zu jung, zu naseweis und zu frech!« »Wenn ich den Burschen, der sie macht, jemals in die Finger bekomme, werde ich ...« »Wetten, er beobachtet uns gerade?« »Da! Da! So gehe ich mit deiner Erfindung um, du kleiner Mistkerl!« Jhoira bemühte sich, ein Kichern zu unterdrücken, während sie durch den dichten Wald schlich. Sie 54
kannte den Pfad wie ihre Westentasche. Er war schmal und schattig und entbehrte erst hinter den Hügeln unterhalb des Westufers jeglicher Deckung. Sie bewegte sich, ohne Zweige zu zerbrechen oder Blätter aufzuwühlen. Sie waren ihre Verbündeten bei diesem Versteckspiel. Solange niemand den Waldweg entdeckte, fand auch niemand die Felsenhöhle hoch über den Wellen des Meeres. Und solange niemand die Höhle aufspürte, erfuhr auch niemand von Kerrick. Nach einer Stunde kletterte sie den Abhang aus trockener, rissiger Erde hinab, der zur Höhle führte. Die Sonne war längst untergegangen. Eine dichte Wolkendecke zog sich über den Himmel. Die mit einem Tuch verhangene Laterne, die sie vor geraumer Zeit in die Höhle gebracht hatte, leuchtete schwach durch einen Spalt zwischen den Steinen. Sie spähte hindurch und erblickte das Bücherregal, das Kerrick aus Steinen und Treibholz gebaut hatte. Die Bretter bogen sich unter der Last der Bücher, die aus der Akademie stammten: Kerrick war ein fleißiger Leser. Tagsüber hatte er wenig anderes zu tun und sagte, er hoffe, sich soviel Wissen anzueignen, daß er sich als Student bewerben könne. Er war ein schneller Leser, ein hervorragender Fallensteller und ein vortrefflicher Koch. Der köstliche Geruch von gebratenem Sumpfhasen stieg ihr in die Nase. Kerrick hatte das Fleisch mit wilder Pfefferminze und Schalotten gewürzt. Jhoira lief das Wasser im Munde zusammen. Verglichen mit dieser Kost, verdiente das Essen in der Akademie seinen Namen nicht. Auf Zehenspitzen schlich sie um die Ecke, von dem köstlichen Duft magisch angezogen. Neben dem auf einem Spieß brutzelnden Hasen erblickte sie ein Paar schmaler, gebräunter Füße. Als sie näherkam, sah sie die langen muskulösen Beine, zerschlissene Männerhosen, ein zerfetztes Hemd und kräftige Hände, die ein Buch hielten. Dann fiel ihr Blick auf ein wunder55
schönes Gesicht und goldene Locken. Jhoira bekam weiche Knie. Verglichen mit diesem Mann, verdienten die Bewohner der Akademie die Bezeichnung >Männer< nicht. Er blickte auf, sah Jhoira und lächelte. Sie sprang auf seinen Schoß, herzte und küßte ihn. »Den ganzen Tag habe ich mich auf dich gefreut.« Seine Augen funkelten vor Vergnügen. »Ein schlechter Tag?« »Du kannst es dir nicht vorstellen«, sagte sie zwischen zahllosen Küssen. »Es gibt ein elendes kleines Schwein, das nichts im Sinne hat, als anderen das Leben schwer zu machen.« »Ja, Teferi«, antwortete Kerrick. »Habe ich ihn schon erwähnt?« »Oft. Du sagtest, er sei in dich verliebt, aber du bist es, die dauernd von ihm spricht.« »Er ist noch ein Kind!« erwiderte sie entrüstet. »Ich rede über ihn, wie ich über eine Goblinplage reden würde.« Kerrick zuckte die Achseln. Er wandte sich dem Feuer zu, um den Spieß umzudrehen, und Jhoira nahm seinen Geruch wahr. Er roch nicht nach Angstschweiß, sondern besaß den animalischen Geruch eines Mannes, der unter freiem Himmel arbeitet. Über die Schulter sagte er zu ihr: »Teferi scheint einer deiner wenigen Freunde zu sein.« »Ach, ja?« sagte sie hochmütig. »Ich verbringe zuviel Zeit hier draußen, um viele Freunde zu haben. Und du hast dich bisher nicht darüber beschwert.« »Das stimmt.« »Außerdem habe ich einen neuen Freund. Er ist stärker als du, größer, jünger, höflicher ... bedeutend höflicher.« Ein wunderbar eifersüchtiges Funkeln trat in Kerricks Augen. »Und warum bist du dann hier?« »Er ist eine Maschine!« Jhoira umarmte ihn heftig. 56
»Er ist eine denkende, fühlende Maschine, und ich glaube, er ist in mich verliebt!« »Tatsächlich? Beruht das auf Gegenseitigkeit?« »Natürlich!« erwiderte sie fröhlich. »Ein wenig Eifersucht tut dir gut. Du bist recht bequem geworden, hier in meinem Versteck.« »Stärker als ich, jünger als ich, größer als ich? Wenn du mich wirklich eifersüchtig machen willst, bringe mir die Entwürfe, damit ich mich darüber hermachen kann!« »Du bekommst sie morgen abend - wenn du mir die überfälligen Bücher zurückgibst«, sagte Jhoira. »Jetzt komm zu mir. Das Fleisch braucht noch eine Weile, und ich brauche dich.« Sie zerrte ihn auf das Deckenlager und sog den Geruch des Mannes und der Mahlzeit ein. Ach, sie konnte hundert Teferis ertragen, solange sie ihren Fluchtweg, ihre Papiervögel und ihre wilde, heimliche Liebe hatte.
57
Monolog
Was sieht Urza in Teferi? Das kleine Monster ist keineswegs wie Urza einst war. Teferi hat Humor. Das ist wahrscheinlich seine einzige gute Eigenschaft - außer seiner unbestreitbaren Genialität. Leider benutzt er sie nur, um Dinge zu zerstören, nicht, um sie aufzubauen. Urza hingegen war immer ein Erfinder, und zwar ein ernsthafter. Allerdings wurden Urzas Erfindungen - die mechanischen Soldaten, die Pulverbomben und die Kraftrüstungen - immer zur Vernichtung benutzt. Das Ergebnis aller Erfindungen Urzas ist Zerstörung. Eine Ironie, nicht wahr? Darf ich etwa hoffen, daß Teferis fortwährende Zerstörungswut irgendwann eine neue Erfindung hervorbringt? Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
58
Karn stand in dem wirbelnden roten Lichtstrahl. Über seinem Kopf drehte Malzras Maschine den Lauf der Zeit zurück. Es war Karns dritte Reise in ebenso vielen Monaten. Bei jedem Experiment wurde er ein paar Stunden weiter in die Vergangenheit geschickt. Jedesmal litt sein Körper mehr unter der Zeitverschiebung. Die heutige Reise führte ihn achtzehn Stunden zurück. Jede Stunde darüber hinaus hätte ihn zum Schmelzen gebracht. Karn sagte sich, daß er mittlerweile an das schwindelerregende Gefühl gewöhnt sein müsse, wenn das Räderwerk des Universums anhielt und sich anschließend langsam rückwärts drehte. Ein Kreischen und Knarren der Räder war der einzige Widerspruch, ehe sich die Zeit ergab. Dann erfolgte eine plötzliche Beschleunigung: Barrin und Malzra lösten sich aus ihrer Erstarrung. Alle Abläufe spielten sich rückwärts ab. Ergebnisse wurden zu Anlässen, Erinnerungen zu Prophezeiungen, und Silbermänner wurden unter verhaltenem Lachen auseinandergenommen. Diesmal verschoben sich jedoch Zeit und Raum. Innerhalb des Lichtkegels rutschte Karn langsam nach rechts. Er glitt durch Stahlmaschinen und durch die Wand des Hochofens; sein Körper bewegte sich außerhalb der tatsächlich vorhandenen Räumlichkeiten. Sekunden später schwebte er durch die Laborwand und fand sich auf dem Flur wieder. Er sah sich neben Jhoira rückwärts den Korridor entlanggehen. Sie hatte ihn zum Laboratorium zurückgebracht und ihm von ihrer Heimat und ihrer Sehnsucht nach ihrem Stamm erzählt. 59
In den letzten Monaten waren Karn und Jhoira gute Freunde geworden. Sie war ein geistiger Riese und er einer aus Metall. Wann immer Karn sich nicht im Labor aufhielt und Jhoira nicht lernte oder schlief, waren sie zusammen. Sie hatte ihm beigebracht, Steine über die Wasseroberfläche hüpfen zu lassen, und er war geschickt genug, es sogar mit Steinen von der Größe eines Brotlaibes zu schaffen. Wenn sie die Hügel im Osten erklommen, nahm er sie auf den Rücken. Von den höchsten Gipfel aus hatten sie Schiffe in so großer Ferne erspäht, daß nur noch die Spitzen der Segel am Horizont auftauchten. Jhoira hatte ihm ihre zahlreichen Aufziehtiere gezeigt: Spielzeugvögel, Frösche und Grashüpfer. Als während eines Experiments eines seiner Fingergelenke ausbrannte, reparierte sie es umgehend. Eines Abends, als sie mitten im Gespräch einnickte, nahm er ihre Zeichenutensilien und fertigte ein elegantes, wenngleich grob skizziertes Portrait von ihr. Aber am wichtigsten für beide war die Tatsache, daß sie einander Schutz vor den Schrecken ihrer Arbeit boten - und vor dem Ärger, den ihnen ein vierzehnjähriger Unhold bereitete. Karn und sein Lichtkegel glitten durch die gegenüberliegende Wand des Ganges. Er durchquerte eine Reihe von Unterrichtszimmern. Einige lagen still und dunkel da. In anderen drängten sich Lehrmeister, Studenten und Artefakte. Bei vielen Artefakten handelte es sich um einfache Formen, mit deren Hilfe die Studenten die Grundlagen der Konstruktionsprinzipien erlernen sollten. Kompliziertere Artefakte waren in der Lage, Betten zu machen, Schuhbänder zuzubinden oder wie Kakerlaken umherzukriechen. Die schnellsten dieser Kreaturen wurden von den älteren Studenten benutzt, um in ausgeklügelten Rennen gegeneinander anzutreten. Besonders wendige Wesen mußten in die Zimmer der Studenten anderen Geschlechtes huschen, um für ihre Schöpfer zu spionieren. Für jede 60
dieser kleinen Maschinen gab es wiederum drei, die den Eindringling entlarven, abschrecken oder gar vernichten konnten. Die Erfindungen höchster Perfektion dagegen - wie Jhoira sie entwarf und baute - dienten Meister Malzra als Bauelemente für seine Zeitmaschine. Dutzende der ältesten und besten Studenten arbeiteten daran, obwohl keiner von ihnen ahnte, wozu genau ihre Werke im Endeffekt dienten. Der Zeitreisende durchquerte Hörsäle, das Zimmer eines kranken Studenten, der schlafend in seinem Bett lag, schwebte an den pyrotechnischen Schaubildern zur Beschaffenheit von Kohlenstaub vorbei und schließlich auch durch Malzras Studierzimmer. Bücher und Modelle standen auf den Regalen entlang der Wände, und überall hingen Zeichnungen und Diagramme. An einem Tisch in der Mitte des Raumes standen Malzra und Barrin und beugten sich über einen Stapel uralter Manuskripte. Sie diskutierten heftig. Karn schwebte weiter. In der Morgendämmerung erschien er in den Gärten der Akademie und glitt durch die zwölf Fuß dicke Mauer und die Wälder dahinter. Blätter wirbelten rückwärts, von eigenartigen Winden getrieben. Die Sonne zog sich hinter den Horizont zurück. Durch die endlose Dunkelheit schwebte Karn zur fernen Westküste hinüber. Jhoira und er hatte diese Richtung auf keinem ihrer Streifzüge eingeschlagen, sie hielten sich immer in den Bergen im Osten auf. Karn glitt durch Baumstämme und Felsen am Rande der Insel. Dann fiel ein Steilhang zur Küste ab. Grob gehauene Stufen führten zum Strand hinunter. Bald erblickte er ungefähr fünfzig Fuß unter sich die Schaumkronen der Wellen. Das Wasser schien zu kochen und zog sich zusehends von den zerklüfteten Felsen zurück. Er flog immer weiter. Ihm war heiß. Er näherte sich der äußersten Grenze: achtzehn Stunden Zeit und fünf Meilen Raum. Laut Plan sollten Barrin und Malzra jede Sekunde der Reise zählen, um ihn 61
rechtzeitig zurückzurufen, ehe sein Körper aufgrund der Zeitverschiebung zu schmelzen begann. Nichts geschah. Schon rieben sich die Brustplatten aus Silber aneinander und glühten auf. Er flog weiter und weiter ... Plötzlich erlosch der rote Lichtkegel. Karn schlug wie wild mit den Armen, um nicht ins Stolpern zu geraten. Sein Körper war glühendheiß geworden. Der Himmel über seinem Kopf war von Sternen übersät, obwohl sich der Mond noch nicht gezeigt hatte. Der unter ihm liegende Ozean war schwarz wie die Nacht und sehr tief. Die Wellen warfen sich ihm brüllend entgegen. Wasser spritzte an seine Beine. Dampfwolken stiegen von den heißen Silberplatten auf, und er wurde unter Wasser gerissen. Endlos scheinende Augenblicke umgab ihn eine Wolke aus Dampf, Blasen und Schaum, ehe er weiter in die Tiefe sank, durch Kälte und Finsternis. Schließlich spürte er Sand unter den Füßen und kam zum Stehen. Sekundenlang verharrte er reglos und fühlte, wie das Salzwasser seinen Silberleib umspülte und in ihn eindrang. Bestimmt riefen sie ihn jetzt zurück. Er mußte nur abwarten. Mit jedem weiteren Augenblick fühlte er, wie sich seine Zeitglocke mehr und mehr auflöste. Bald würde er sich im Einklang mit der Vergangenheit befinden, sichtbar für jeden, der ihm begegnete. Das durfte er nicht riskieren. Es war besser abzuwarten. Er wollte hierbleiben, bis man ihn rief. Eine Stunde verging. Die letzte Luft aus seinem Leib war zur Wasseroberfläche aufgestiegen, die sich etwa fünfzig Fuß über seinem Kopf befand. Dreimal hatte ihn eine neugierige Seeschlange angestupst, und er hatte die Hoffnung aufgegeben, von Meister Malzra zurückgerufen zu werden. Vielleicht war er außer Reichweite geraten. Er mußte sich auf die Suche nach dem Heimweg machen. Zum Glück gehörten eine Uhr, ein Kompaß und ein 62
Sextant zu seinen inneren Organen. Er konnte sich auf dem Meeresboden nicht nach den Sternen richten, verfügte aber über einen ausgezeichneten Orientierungssinn. Entschlossen machte Karn kehrt und stapfte auf die Insel zu. Es dauerte länger, als er erwartet hatte. Immer wieder mußte er über Sandbänke klettern und Schluchten durchqueren. Irgendwann stieß er auf ein Korallenriff, das zu zerbrechlich war, um darüber hinweg zu klettern und zu ausladend, um es zu umgehen. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als sich einen Weg hindurchzuschlagen. Die scharfen Kanten verschrammten seine silbernen Hände. Gegen Mitternacht tauchte sein Kopf an der Wasseroberfläche auf. Der Himmel über der schlafenden Insel war mit Sternbildern übersät. In der Ferne leuchte die Akademie wie ein weißes Juwel in der Finsternis. Hinter jenen Mauern verbrachte sein zweites Ich die Nacht in freiwilliger Erstarrung. Hinter jenen Mauern schliefen Jhoira und Teferi, und Malzra und Barrin dachten bestimmt über die Zeitreise des kommenden Tages nach. Die schützenden Mauern der Akademie bargen alles, was Karn teuer war, und der Rest der Insel lag im Dunkeln ... Bis auf ein Licht oben in den Klippen. Es war so klein, daß er es zuerst für einen winzigen Stern gehalten hatte. Er merkte sich die Richtung und schritt den Strand hinauf. Das Wasser floß in Strömen aus dem Silberleib. Er blieb stehen und wartete, bis die Flut versiegte. Was war das für ein Licht? Nach Einbruch der Dunkelheit durfte sich niemand außerhalb der Schule bewegen. Wer hielt sich in den Klippen auf? Karn kletterte weiter. Nach der langwierigen Wanderung unter Wasser kam ihm das Erklimmen der Felsen wie ein Kinderspiel vor. Bald erreichte er die höchste Stelle der Klippen. Vor sich sah er eine Felsspalte, 63
durch die der schwache Lichtschimmer drang. Langsam ging Karn darauf zu. Das Licht erlosch. Er blieb stehen, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Etwas bewegte sich auf ihn zu. Etwas Warmes. Karn erspähte ein mißtrauisches Gesicht. Das Licht der Sterne spiegelte sich in einer kleinen Stahlklinge. Eine Gestalt wich in den Schutz der Felsen zurück. Karn ging vorwärts. Seine riesigen Füße schritten leise knirschend über den steinigen Boden. Die Gestalt tauchte wieder auf und hob einen gebogenen Stock in die Höhe. Ein Surren ertönte. Ein grob geschnitzter Pfeil streifte Karns Schulter. Metall klirrte; ein Stein zerbrach. Der zersplitterte Pfeilschaft fiel zu Boden. Eine feindliche Geste! Ein Höhlenmensch lebte an der Küste Tolarias. Ein Eindringling. Karn knirschte mit den Zähnen und marschierte auf den schwach sichtbaren Höhleneingang zu. Zwei weitere Pfeile trafen ihn und prallten an seinem Silberkörper ab. Wütend ging er weiter. Der Mann schleuderte den Bogen beiseite und griff nach einer schweren Keule. Er wog sie in der Hand, knurrte warnend und spähte in die Dunkelheit. Karn schritt auf ihn zu und wollte ihn packen, aber der Mann war schneller. Er schlug zu. Die Keule zersplitterte, und der Fremde hatte Mühe, sie nicht fallenzulassen. Karn sprang vor. Er traf den Mann mit dem Handrücken am Kopf und schleuderte ihn zu Boden. Der Körper prallte gegen einen Felsblock und blieb reglos liegen. Licht ergoß sich über den Silbermann. Er fuhr herum. Flammen hüllten ihn ein, und die letzten Reste des Wassers in seinen Gelenken verdunsteten zischend. Er warf sich auf den zweiten Angreifer. Mit dampfenden Armen stürmte er in die Höhle. 64
»Karn!« erklang ein überraschter und gleichzeitig erleichterter Schrei. »Was tust du hier?« »Jhoira?« fragte Karn ungläubig. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Jhoira stand zitternd im Nachthemd vor ihm, einen qualmenden Fackelstumpf in der Hand. Sie hatte ihn benutzt, um Kohlenstaub in Brand zu setzen, wie man es die Studenten an der Akademie lehrte. »Was tust du hier?« stieß Karn hervor. Jhoiras Miene verfinsterte sich. »Du bist mir gefolgt. Unglaublich, aber du bist mir gefolgt!« »Ich bin dir nicht gefolgt«, widersprach Karn. »Warum hast du die Akademie dann bei Nacht verlassen? Was ist mit dem Ausgangsverbot?« hielt sie ihm entgegen. »Das könnte ich dich auch fragen!« »Wo ist Kerrick? Was hast du getan?« rief sie plötzlich und stolperte an Karn vorbei zum Ausgang der Höhle. Sie tastete blindlings umher, bis sie das Bein des Mannes berührte. Sie schüttelte ihn. »Ist alles in Ordnung? Hörst du mich?« Er rührte sich nicht. Karn trat näher. »Ich trage ihn hinein.« »Nein!« entgegnete sie und lief in die Höhle zurück. »Vielleicht ist etwas gebrochen. Eine Bewegung könnte ihn umbringen.« Sie zündete eine Laterne an, nahm Tücher und Salben von einem Regal und eilte wieder ins Freie. Als sie neben dem Reglosen niederkniete, stöhnte sie vor Sorge auf. Eine Hand strich über die goldenen Locken des Fremden. »Kein Blut, und er atmet noch.« Als ihre Finger eine große Beule auf seiner Stirn ertasteten, biß sie die Zähne zusammen. »Du hast ihn fein zugerichtet!« »Wer ist er?« fragte Karn mißtrauisch. »Was tut er hier?« »Er heißt Kerrick«, antwortete sie seufzend und untersuchte den Hals nach Verletzungen oder Schwellungen. »Er wollte mich beschützen.« 65
»Er ist kein Student«, bemerkte Karn. »Nein. Er ist ein Schiffbrüchiger, und er ist mein Freund.« Sie schob die Arme unter den Mann, hob ihn auf und trug ihn in die Höhle. »Bitte bringe die Laterne mit, Karn!« Der Golem gehorchte und schlich wie ein geprügelter Hund hinter ihr her. »Du hast mir nie von ihm erzählt.« Jhoira legte den Mann auf ein Lager aus Decken. »Niemand weiß von ihm. Meister Malzra würde ihn töten lassen.« »Aber wir sind Freunde. Wir haben keine Geheimnisse voreinander.« Karn stellte die Laterne auf eine Kiste, die als Tisch diente. »Wir haben Geheimnisse. Du erzählst mir nicht, in welche Experimente du verwickelt bist.« »Meister Malzra hat es verboten.« Jhoira lächelte grimmig, tauchte ein Tuch in einen Wassereimer und legte es auf Kerricks Beule. »Meister Malzra hat mir - und auch allen anderen - streng verboten, Schiffbrüchige aufzunehmen. Also liegt es an Malzra. Ich habe seinetwegen Geheimnisse vor dir, und du hast seinetwegen Geheimnisse vor mir. So möchte er es haben. Er will nicht, daß wir Freunde haben und ein eigenes Leben führen.« Schreckliche Angst überfiel Karn. Er dachte daran, wie sein Leben ausgesehen hatte, als er Jhoira noch nicht kannte und er zwischen Malzras stummer und Teferis lärmender Abneigung gefangen war. Diese Stunde konnte seine Beziehung zu Jhoira zerstören. Diese Stunde konnte ihm die einzige Freundin rauben und ihn wieder zu Arty Schaufelkopf machen. »Zeitreisen!« stieß er mit erstickter Stimme hervor. »Darum geht es bei den Experimenten. Deshalb bin ich hier. Er probiert eine Maschine aus, die mich um Jahrhunderte oder Jahrtausende zurückversetzt und mich irgendwohin bringt.« 66
Jhoira hielt in ihren Bemühungen inne und starrte den Silbermann entgeistert an. »Deshalb nennt er dich einen Probanden.« »Nur aus diesem Grund wurde ich erschaffen«, erklärte Karn ernüchtert. »Er wies mich an, niemandem davon zu erzählen, sonst würde er mich auseinanderreißen.« »Wenn er es schaffte, könnte er den Lauf der Geschichte verändern ...« »Er will nicht, daß ich etwas verändere.« Plötzlich wurde Karn bewußt, daß er vielleicht gerade dabei war, die Geschichte zu verändern. »Meister Malzra kann viel mehr, als ich je gedacht hätte«, murmelte Jhoira verblüfft. »Das ist das einzige Geheimnis, das ich vor dir hatte«, sagte Karn und kniete im schummrigen Licht der Laterne vor Jhoira nieder. »Du weißt alles über mich. Du kennst meine Entwürfe bis in jede Einzelheit. Du hast zugesehen, wie Malzra mich zusammensetzte. Du gabst mir meinen Namen, mein Leben. Kannst du mir verzeihen? Können wir trotzdem Freunde bleiben?« Ein Lächeln, das gleichzeitig Freude und Mitleid ausdrückte, erhellte ihr Gesicht. »Natürlich, Karn. Du kennst jetzt auch mein Geheimnis. Ich habe dir immer vertraut, und daran hat sich nichts geändert. Karn, du bist mein einziger wahrer Freund.« »Und was ist er?« Karn deutete auf den Bewußtlosen. »Er ist mein Geliebter.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, als sich der rote Lichtkegel über Karn ausbreitete. Er zitterte, geriet ins Wanken, wurde unsichtbar und spürte, wie ihn das rote Licht mitriß. Kurz bevor er vor den entgeisterten Blicken Jhoiras durch die Felswand verschwand, warf er noch einen Blick auf Kerrick, der einen Finger krümmte und die Augen öffnete. 67
»Es ist die Mühe wert«, erklärte Urza, der in seinem Studierzimmer saß. »Aus den Thran wurden die Phyrexianer. Wenn wir das verhindern und sie auf dem Weg der Wissenschaft und der Magie statt dem der Mutation halten können, retten wir die ganze Welt.« Barrin streckte seine Hand aus und schnupperte. »Was war das? Habt Ihr es auch gemerkt?« »Eine geringe Zeitabweichung«, meinte Urza. »Seit wir den Probanden zum ersten Mal durch das Zeitportal schickten, passiert es hin und wieder. Diese war stärker als die vorherigen.« »Eine Zeitabweichung«, wiederholte Barrin erstaunt. »Darüber rede ich doch gerade! Das geschieht, wenn wir jemanden nur achtzehn Stunden zurückschicken. Was wird später geschehen?« »Wir müssen verhindern, daß die Thran zu Phyrexianern werden.« »Aber Jahrtausende? Wenn wir so weit zurückgehen, könntet Ihr ein paar Umwege machen und alle Eure Fehler ausmerzen - daß Ihr die Phyrexianer in das Reich Serras führtet, den Angriff auf Phyrexia, die Zerstörung Argoths, die Ermordung Eures Bruders ... Ihr könntet sogar beschließen, die Entdeckung des Kraftsteins in Koilos zu vergessen, damit die Phyrexianer gar nicht erst nach Dominaria gelangen.« Urza sah ihn ernüchtert an. »Das haltet Ihr für mein Lebenswerk? Ein Versagen nach dem anderen?« »Natürlich nicht«, versicherte Barrin. »Ihr habt viel Gutes getan, und ich verurteile Eure Fehler nicht. Auch Magier lernen durch Ausprobieren. Was ich Euch übelnehme, ist die Tatsache, daß Ihr niemals Verantwortung für Eure Fehler übernehmt. Ihr lernt auch nicht aus ihnen. Ihr räumt nie hinter Euch auf.« »Genau das will ich jetzt ändern. Ich brachte die Phyrexianer in unsere Welt. Jetzt versuche ich alles, um sie für alle Zeiten von hier zu vertreiben. Ich habe 68
gelernt, aber ich muß noch viel mehr lernen, ehe ich diesen größten Fehler wiedergutmachen kann.« »Stimmt«, meinte Barrin. »Ihr habt noch viel zu lernen.« Urza fiel die Bedeutung des Satzes nicht auf und er fuhr fort: »Ich habe ein Teil des Mosaiks gefunden, weiß aber noch nicht, wohin es gehört. Ist Euch der Anhänger aufgefallen, den Karn trägt?« Barrin winkte ab. »Eine kleine Echse an einer Halskette.« »Habt Ihr bemerkt, wie hart das Metall ist? Ich habe die Härte geprüft. Es ist härter als Stahl und Diamanten. Außerdem wird es während der Zeitverschiebung nicht erhitzt.« Barrin blinzelte verwirrt. »Was wollt Ihr damit sagen? Sollen wir aus diesem Material einen zweiten Probanden formen?« »Vielleicht.« Urzas Augen funkelten unternehmungslustig. »Ich muß Karn fragen, woher er den Anhänger hat. Wenn wir daraus einen Probanden bauen ...« »Sollen wir mit den Herstellern des Metalls einen Vertrag abschließen, oder überfallen wir ihre Heimat und vertreiben sie?« fragte Barrin voller Ironie. »Wir versuchen es mit einem Vertrag. Später bleibt genug Zeit für eine Eroberung.« Barrin warf ihm einen grimmigen Blick zu. Leise murmelte er: »Ja, Ihr habt noch viel zu lernen.« * * * Schon nach wenigen Monaten waren die Leistungen der Zeitmaschine, was die räumlichen Verschiebungen betraf, erheblich verbessert. Während einer Reise erreichte Karn die Adarkareinöde, die mehrere tausend Meilen von Tolaria entfernt lag. Der Ort bestand eigentlich nur aus einem hellblauen Stück Himmel über 69
einem strahlendweißen Stück Land. Der größte Teil der Bodens wurde von Schnee und Eis bedeckt. An einigen Stellen sah man Sand, der zu großen dünnen Glasscheiben zusammengeschmolzen war - Überreste eines längst vergessenen Krieges oder Großfeuers. Als Karn eintraf – diesmal fiel er nicht unversehens vom Himmel –, landete er auf einer riesigen Glasfläche, die an vielen Stellen geborsten und zersplittert war. Auf Malzras Bitte hin sammelte er Scherben ein und brachte sie zur Akademie. Malzra untersuchte die Scherben. Er stellte fest, daß sie wirklich aus der Adarkareinöde stammten. Das Ergebnis freute ihn sehr, und er suchte für die nächste Reise ein noch weiter entfernt liegendes Ziel aus. Inzwischen nahmen auf Tolaria die Störungen, die durch Zeitverschiebungen hervorgerufen wurden, mehr und mehr zu. Anfangs waren sie kaum zu bemerken: leichte Zeitlöcher, die wie sanfte Wellen durch die Luft glitten. Doch die Häufigkeit der Störungen nahm zu. Zuerst bemerkte man sie nur einmal in der Woche, dann täglich. Aus Wellen, die kaum den Bruchteil einer Sekunde währten, wurden allmählich Strömungen mit einer Dauer von vier bis fünf Herzschlägen. Worte blieben auf Lippen hängen. Musik geriet aus dem Takt. Glockenspiele verhedderten sich hoffnungslos. Becher wurden bis zum Überlaufen gefüllt oder fallengelassen. Blätter machten sich in den Händen der Lehrer selbständig und flatterten haltlos zu Boden. Flammen verbrannten große Fleischstücke auf dem Grill, während danebenliegende Würstchen roh blieben. Es waren nur Kleinigkeiten, besonders für Kreaturen wie Karn, die keinen Herzschlag und keinen Atem besaßen. Einige der alten Lehrmeister aber vermochten diese Zeitstürme kaum durchzustehen und sanken keuchend und stöhnend in die Knie. Je heftiger die 70
Strömungen wurden, um so mehr füllte sich die Krankenstation der Akademie. Das belastete Karn. Als man ihn zwei Monate später zum nächsten Experiment rief, faßte er seine Bedenken in Worte. »Ich bin nicht wie Ihr«, begann er. »Deshalb habt Ihr mich gebaut, denn Wesen wie Ihr können nicht durch Zeitverschiebungen reisen. Immer, wenn ich eine Reise antrete, nehmen die Zeitstörungen zu und verschlimmern sich.« Meister Malzra musterte den Golem eingehend. Der Gründer der Akademie wirkte immer sehr konzentriert, und er hatte einen stechenden Blick, als sähe er durch die Menschen und die vergangenen Jahrhunderte hindurch. »Verletzen dich diese ... Zeitstörungen?« Barrin sah von seinem Pult auf. Er nickte Karn aufmunternd zu fortzufahren. »Mich nicht«, antwortete der Silbermann, »aber alle anderen. Sie sind gefährlich. Hier leben viel Alte und viele Kinder. Ihr seid verantwortlich ...« »Gab es ernsthafte Verletzungen?« unterbrach ihn Malzra mit böse funkelnden Augen. »Noch nicht, aber wenn wir die Experimente fortsetzen, wird es Verletzte geben, vielleicht auch Tote.« Der Magier nickte zustimmend. Malzra dagegen blinzelte verwundert. »Wenn wir die Experimente nicht fortsetzen, wird es auf der ganzen Welt Tote und Verletzte geben. Du verstehst das nicht, Karn. Du lebst erst seit kurzer Zeit. Du hast erst wenige hundert Meilen Land gesehen. Ich lebe seit Jahrtausenden und habe unzählige Länder und Welten gesehen. Es gibt so viel Böses, genau vor unserer Tür. Schlimmeres, als du dir vorstellen kannst. Ich allein weiß, daß sie vor der Tür stehen und anklopfen. Ich allein suche einen Weg, sie für alle Zeit zu verjagen oder gar zu vernichten, wenn sie einzudringen versuchen. 71
Ich allein stehe zwischen der Welt und der völligen Vernichtung, und du spielst das Kindermädchen für diese alten Narren und Kinder und verlangst, ich solle sie mit Ziegenmilch aufpäppeln und Zeit für ein Mittagsschläfchen anberaumen?« Barrin senkte den Kopf und seufzte mißbilligend. Karn dachte nach und schwieg. Jetzt glaubte er, was Teferi über Malzras Verfolgungswahn gesagt hatte. Es drängte ihn, den Mann mit seinem Wahnsinn zu konfrontieren, aber die letzten Monate hatten ihn viel über den Umgang mit diesen seltsamen Wesen aus Fleisch und Blut gelehrt. »Ja. Ihr kämpft einen einsamen, gefährlichen Kampf.« Beeindruckt sah Barrin auf. »Einer, der uns alle eines Tages umbringen könnte«, sagte er vorwurfsvoll. Malzra nahm ihre Bemerkungen als Zustimmung hin. »Gut. Wie schön, daß ihr beide einverstanden seid. Karn, ehe du die Maschine betrittst, möchte ich, daß du mir den Anhänger gibst. Er könnte die Reise stören.« Mißtrauisch nahm Karn die Kette ab und reichte sie Malzra. Der Mann musterte sie eingehend. »Woher hast du sie?« Sein Blick funkelte gierig. Karn öffnete den Mund, hielt aber inne. Malzras wahnsinniges Gerede fiel ihm wieder ein. Wenn der Meister in Jhoiras Zimmer herumschnüffelte, stieß er vielleicht auf ihr Geheimnis. Er würde sie hinauswerfen - oder noch Schlimmeres tun ... »Ich habe sie gefunden. Sie hing an einem Stück Treibholz, das ich am Strand fand.« »Treibholz«, murmelte Malzra ungläubig. »Treibholz!« bekräftigte Karn. Malzra schüttelte den Kopf und befahl: »In die Maschine mit dir, Karn!« Diesmal brachte ihn die Maschine an den Ort einer 72
gewaltigen Vernichtung. Es war schlimmer als alles, was Karn je gesehen hatte. Männer - oder das, was noch von ihnen übrig war - lagen verstreut auf dem Boden. Manche waren fast vollständig vorhanden und nur von verräterischen Blutspuren in der Herz- oder Magengegend verunstaltet. Andren fehlten Gliedmaße, die bestimmt von wilden Tieren, die zwischen den Leichen herumliefen, abgerissen und fortgeschleppt worden waren. Wieder andere Krieger schienen durch außergewöhnlich scharfe Klingen in zwei Hälften gespalten zu sein. Und Feuerbälle hatten einige bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Rauchende Kriegsmaschinen bevölkerten den Horizont. Der Gestank von Verwesung, Unrat, Kot und Rauch erfüllte die Luft. Bestimmt wurde dieses Grauen von dem Bösen verursacht, von dem Malzra sprach, dachte Karn. Ihm war nie übel gewesen, aber jetzt zitterte er am ganzen Körper und fühlte sich schwach und elend. Man hatte ihm aufgetragen, ein Mitbringsel einzusammeln, doch er brachte es nicht über sich, ein Schwert der Hand eines Toten zu entreißen oder einen Helm aufzuheben, der kein Leben gerettet hatte. Statt dessen entdeckte er einen Schild, der abseits lag und keine Blutspuren aufwies. Er hob ihn auf und preßte ihn an sich, während er traurig auf den Ruf des Meisters wartete. Bei seiner Rückkehr reichte er Malzra mit bedrückter Miene den Schild. Malzra stellte fest, daß er aus Neu-Argivia stammte. Als der Silbermann das Schlachtfeld beschrieb, nickte er grimmig. Genau vor zwei Tagen hatte dort ein Kampf stattgefunden. Karn war nur eineinhalb Tage zurückgereist. Der Meister war wütend und enttäuscht. Er gab Karn die Halskette zurück. »Wenn so das Böse aussieht, von dem Ihr spracht, begreife ich, warum Ihr so erbittert dagegen an73
kämpft«, erklärte Karn mit ernster Miene, während er sich die Kette umhängte. Malzra lächelte finster - ein ungewöhnlicher Anblick. »Diese Kämpfe sind unwichtig, da sie nur das Ergebnis menschlichen Hasses sind. Ich bekämpfe den Haß der Dämonen.«
74
Monolog
Manchmal vergesse ich, was Urza schon alles gesehen und getan hat. Der Silbermann kehrte aus Neu-Argivia zurück. Wir hörten ihn an und verließen das Labor. In jener Nacht, während unserer Lesestunde in Urzas Studierzimmer, ließ er das Buch, das er gerade las, in seinen Schoß sinken. Geraume Zeit starrte er schweigend vor sich hin. Auch ich senkte mein Buch und wartete ab. Urzas Blick schien in weite Ferne zu schweifen, und ich vermochte den Machtstein und den Schwachstein für kurze Zeit zu sehen. Hinter den Fenstern jagte der Wind durch die hohen Palmen. »Ich kämpfte gegen eine ganze Welt, nicht nur gegen Gix. Gegen eine ganze Welt«, murmelte er. Vorsichtig fragte ich: »Gegen eine ganze Welt?« »In Phyrexia. Ich wollte Gix bekämpfen, aber dort erwartete mich eine ganze Welt voller Dämonen, Drachenmaschinen, Hexenmaschinen, lebender Toter und toter Lebewesen. Und im Herzen der Welt saß ein Gott. Ein finsterer, wahnsinniger Gott.« Ich stellte mir vor, daß ein Fremder, der nach Tolaria kommt, das gleiche erzählen würde. »Ich kämpfte, um eine ganze Welt zu vernichten, aber Xantcha - sie kämpfte nur, um ihr Herz wiederzugewinnen.« Ich atmete tief durch. »Ja. Der Stein bedeutete ihr so viel wie eine ganze Welt. Auch für Karn bedeutet er die ganze Welt.« In Urzas uralten Augen glimmte ein Begreifen auf. »Deshalb benehmen sie sich so!« 75
»Wer?« »Die Studenten, die Lehrmeister - sogar Ihr und Karn. Jeder von Euch verteidigt sein Herz, seine eigene Welt.« Er ist nicht verrückt, jedenfalls nicht völlig. Er ist uralt und unmenschlich, von den Jahrtausenden geformt, aber er ist nicht völlig verrückt. »Stimmt«, sagte ich. »Wißt Ihr nicht mehr, wie das ist? Es ist ein einsamer, gefährlicher Kampf, der uns alle eines Tages umbringt.« Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
76
Hoch über dem ruhelosen Meer hockte Teferi auf einem windumtosten Felsen und starrte in die Dunkelheit. Es war sehr anstrengend gewesen, bis hierher zu gelangen. Jhoira war geschickt und sportlich. Nach dem Löschen der Laternen war sie leise und unauffällig aus ihrem Zimmer geschlichen. Trotz Teferis Unsichtbarkeitszauber spürte sie, daß sie verfolgt wurde. Während sie durch die leeren Flure schlich, schaute sie zweimal zurück. Beim ersten Mal drückte sich Teferi in den Eingang der Schmiede. Leider klapperte der Türgriff, und Jhoira blieb stehen. Lange Zeit starrte sie in die Dunkelheit hinein. Teferi hielt den Atem an. Als er sich wieder hervorwagte, war sie verschwunden. In der Halle der Artefakte - einem Museum, in dem Malzra wichtige, aber überholte Erfindungen ausstellte - holte er sie ein. Schon bei Tage war der Raum unheimlich. Überall standen Figuren aus Metall und Draht mit ausgestreckten Armen herum, als flehten sie den Betrachter an, sie unbedingt wieder in Betrieb zu nehmen. Bei Nacht war das Museum entsetzlich beängstigend. Drahtige yotianische Krieger mit Hundeköpfen kauerten drohend am Boden. Wesen mit nach hinten gebogenen Knien wirkten wie Unholde aus einer fremden Welt. Am anderen Ende des Raumes war nur noch ein wehendes Stück Stoff von Jhoira zu sehen. Die Tür, durch sie enteilte, führte zum Westlabor - einer selten benutzten Einrichtung, die im Sommer unerträglich heiß und im Winter unangenehm feucht war. Um ein Haar hätte er sie wieder aus 77
den Augen verloren. Im Labor war keine Spur von ihr zu entdecken. Er wirkte einen Zauber, der ihre Fußabdrücke sichtbar machte. Sie verschwanden, als er ihnen folgte. Plötzlich trat Teferi auf ein schrägstehendes Gitter im Boden. Das mußte es sein! Daß Jhoira das Gitter im Dunklen bewegt hatte, war offensichtlich jedenfalls für einen Magier. Ihre Spezialschlösser hielten ihn nur minutenlang auf. Danach war es ein Kinderspiel, die Mauer zu erreichen. Er sah, wie sie entkam, während die Wachen auf dem Wehrgang fluchend hinter einem mechanischen Vogel herjagten. Teferi zauberte einen echten Vogel herbei, um sie abzulenken. Der Himmelsstürmer erschreckte die Wächter fast zu Tode. Mit seiner Hilfe und dem Unsichtbarkeitszauber gelang es dem Jungen, Jhoira auf den Fersen zu bleiben. Von nun an ließ Jhoiras Vorsicht nach. Vielleicht nahm sie an, außerhalb der Schule unbeobachtet zu sein. Vielleicht hatte sie es auch nur so eilig, in ihr Versteck zu kommen. Selbst im schwachen Licht des Glimmermondes kam Teferi gut voran. Durch die Wälder gelangte er zu den Klippen hoch über dem Meer und bis zu einer Höhle, die ein flackernder Lichtschein erhellte. Er warf den Unsichtbarkeitszauber ab, holte tief Luft und betrat die Höhle mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen. Er blieb gerade noch rechtzeitig stehen. Teferi sah, wer sich in dieser Höhle aufhielt - besser gesagt: wer in der Höhle lag. Angewidert zog er sich zurück, denn er konnte nicht ertragen, noch mehr zu sehen. Er hatte gehofft, eine Handhabe gegen Jhoira zu bekommen, um vielleicht einen Kuß von ihr zu verlangen. Niemals jedoch hatte er einen anderen Mann erwartet. Und wenn er ihr nun andeutete, ihr Geheimnis zu kennen, würde sie ihn nur noch mehr hassen. Er hockte auf dem Felsen und sah in die tosenden Wellen hinunter. Der Wind trieb 78
dunkle Wolken über den Himmel. Schließlich erhob er sich und kehrte zur Akademie zurück, den Kopf voll wirrer Fragen. Während er sich einen Weg durch das dichte Unterholz bahnte, kam ihm ein neuer Gedanke: Es war möglich, daß gewisse Dinge im Leben weder durch Tricks noch durch Überredungskünste erreicht werden konnten. Nichts, was er bisher getan hatte, hatte Jhoira für ihn eingenommen. Keine Zauber, keine Lügen, keine Prahlerei, keine Demütigung, keine Scherze und kein Gerede hatten sie davon überzeugt, wie großartig er war. Teferi war ehrlich verwirrt. Nie zuvor war ihm jemand begegnet, der gegen sein Genie immun war. Sie sah keine seiner überragenden Qualitäten und konzentrierte sich nur auf den Altersunterschied. »Werde erwachsen!« war alles, was sie je zu ihm sagte. Er wurde langsam erwachsen. Wie konnte er das beschleunigen? Leider besaß er keine Zeitmaschine ... In diesem Augenblick fühlte er eine Hand auf der Schulter und wurde mit dem Gesicht zu Boden gedrückt. * * * »Teferi weiß von Kerrick«, sagte Karn zu Jhoira. Im hellen Licht des Morgens stand der Silbermann vor ihrer Tür im Gang. Verschlafen blinzelnd sah sie ihn an. Sie war erst vor einer Stunde zurückgekehrt, bei Sonnenaufgang, während des Wachwechsels. »Wovon sprichst du?« »Sie haben ihn heute morgen außerhalb der Akademie aufgegriffen. Er kam gerade von der Westküste.« Mit einem flauen Gefühl im Magen winkte Jhoira dem Silbermann, ihr Zimmer zu betreten, und schloß die Tür hinter ihm. Sie fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. 79
»Also, was ist los?« »Teferi hat dich beobachtet«, erklärte Karn mit ernster Stimme. »Wahrscheinlich ist er dir gefolgt. Sie fingen ihn auf dem Rückweg ab. Er muß euch ...« »Wer hat ihn geschnappt?« unterbrach ihn Jhoira. »Die Wachen an der Westmauer. Eine Wächterin hörte ein Rascheln im Dschungel, als Teferi aufbrach. Sie folgte ihm, verlor ihn aber aus den Augen. Deshalb wartete sie auf seine Rückkehr. Man hat ihn stundenlang verhört. Sie haben sich über deine mechanischen Vögel geärgert und denken, Teferi hätte sie gebaut. Natürlich haben sie nichts aus ihm herausbekommen nicht einmal den Weg, den du benutzt, um dich herauszuschleichen. Vor einer halben Stunde übergaben sie ihn Meister Malzra persönlich.« Verwirrt schüttelte Jhoira den Kopf, riß die Türen ihres Schranks auf und wühlte in ihren Kleidungsstücken herum. Schließlich wählte sie das schönste weiße Gewand aus, das eine Goldborte zierte, und zog es über den Kopf. Sie entledigte sich unter dem Gewand ihres Nachthemds, zog einen goldenen Gürtel aus dem Schrank und schnallte ihn mit zornigen Bewegungen um ihre Hüften. »Was hast du vor?« wunderte sich Karn. »Ich werde mich verteidigen.« »Teferi hat noch nichts verraten.« »Teferi?« fragte sie wütend. »Teferi wartet auf die beste Gelegenheit. Er verrät mich, sobald er Meister Malzra um den Finger gewickelt hat.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich will ihm zuvorkommen. Ich gestehe, was ich getan habe, denn so kann ich mich wenigstens der Ehrlichkeit rühmen.« Mit einem verzweifelten Schnauben machte sie kehrt, beugte sich über das Bett und zog die Decken über einen unförmigen Gegenstand, der Karn vorher nicht aufgefallen war. »Gehen wir.« Während sie die Tür öffnete, warf Karn noch einen 80
Blick zum Bett hinüber und sah die goldenen Locken Kerricks unter der Decke hervorlugen. * * * Meister Malzra war außer sich. Sein Gesicht, das immer von einem inneren Leuchten erhellt wurde, strahlte wie eine Kerze. Die Augen verströmten ein wahres Höllenfeuer aus roten Blitzen. Er schritt auf und ab; die blauen Gewänder wehten um seine schlanke Gestalt. Im schwachen Licht des Studierzimmers wirkte er riesengroß und mächtig, als trage er eine der Kraftrüstungen, die im Artefakt-Museum ausgestellt waren. Neben ihm sah der vierzehnjährige Teferi wie ein winziger Spatz aus. »Wer bist du in Wirklichkeit? Was bist du? Ein Spion? Für einen phyrexianischen Schläfer bist du zu jung. Du riechst auch nicht nach Öl. Aber du bist klug und unbelehrbar, genau der Typ, den die Phyrexianer auswählen. Was hast du außerhalb der Mauern getan? Wen hast du getroffen? Phyrexianische Boten?« Teferi hielt den Blick auf die Tischplatte gerichtet. »Ich weiß nicht einmal, was Ihr mit Fürechsen ... Vierechsen ...« »Spotte nicht!« brüllte Malzra und hieb mit der Faust auf den Tisch. Teferi nahm allen Mut zusammen und hob die Augen, um dem glühenden Blick des Meisters standzuhalten. Die Augen Malzras sahen wie die facettenreichen Augen eines Insekts aus. Teferi holte tief Luft und brüllte zurück: »Ihr seid verrückt, Meister! Das weiß doch jeder. Natürlich seid Ihr auch ein Genie. Sonst würde keiner von uns hier studieren. Ihr wißt mehr über Magie und Wissenschaft als jeder andere, aber Ihr seid verrückt! Feuerschlucker und Fanatiker, Dämonen und Menschen mit Hundeköpfen, Eindring81
linge, Verschwörer und Spione - die einzigen fremden Wesen, die je an dieser Küste landen, sind Fische, die dumm genug sind, sich von der Flut an Land spülen zu lassen, oder Möwen, die sich verflogen haben! Niemand will hierher, Meister Malzra, aber ich kenne ungefähr zweihundert Studenten und vierzig Lehrmeister, die fort möchten, und genau deshalb befand ich mich außerhalb der Mauer, ob Ihr es nun glaubt oder nicht!« In der nun folgenden, gespannten Stille klopfte es an der Tür. Meister Barrin löste sich aus dem Schatten der Wand und öffnete. Während im Flur im Flüsterton gesprochen wurde, starrten sich Teferi und Meister Malzra in die Augen. Sie erkannten Gemeinsamkeiten. Trotz des gewaltigen Altersunterschiedes wußten beide, daß sie sich ähnlich waren: genial, besessen, selbstsüchtig, nicht aufzuhalten, besitzergreifend und mit ebenso vielen Fehlern wie Begabungen behaftet. Aber da war noch etwas, eine unwiderlegbare Größe, nicht zu verkennen für jene, die damit gesegnet - oder verflucht - waren. Meister Malzras Blick wurde noch durchdringender und Teferi spürte, wie plötzlich eine Schlange durch seinen Kopf glitt, um seine Gedanken auszuspionieren. An den Eindrücken der Nacht vorbei schlängelte sie sich zielstrebig in Richtung seines Geheimnisses. Fast hatte sie es erreicht. Nun wurde auch Teferis Blick durchdringender. Eine Katze schlich sich in seine Gedanken - selbstgerechte Empörung und Stolz - und sprang auf die Schlange aus Malzras Verstand. Mit Krallen und Giftzähnen, fauchend und zischend, Fell gegen Schuppen, so kämpften sie in Teferis Kopf. Die Schlacht tobte mit äußerster Erbitterung, obwohl es außer den funkelnden Augen keine äußeren Anzeichen dafür gab. Barrin räusperte sich leise, um die Spannung zu durchbrechen. »Jhoira und Karn sind da.« 82
»Jetzt nicht!« antwortete Malzra. »Sie sagt, sie wolle ein Geständnis ablegen«, fuhr Barrin fort und ließ den Silbermann und die junge Frau eintreten. Malzra beendete das Duell der Blicke. Mit funkelnden Augen sah er die Ghitufrau an. Sie trug das Festgewand, das man ihr verliehen hatte, als sie in die Reihen der älteren Studenten aufrückte. »Was für ein Geständnis?« »Ich bin an allem schuld«, sagte Jhoira ruhig. »Ich bin der Grund, weshalb sich Teferi außerhalb der Mauern aufhielt.« Der Knabe starrte sie entgeistert an und sprang auf. »Sie hat mich herausgefordert!« Alle Augen richteten sich fragend auf ihn. »Dauernd versuche ich, sie zu beeindrucken, aber sie findet, ich bin zu jung für sie. Schließlich meinte sie, sie würde nicht eher mit mir reden, als bis ich etwas Mutiges und Erwachsenes tue.« »Das ist nicht...«, begann Jhoira. »Du glaubtest, es wäre erwachsen, sich aus der Akademie zu schleichen?« fragte Malzra. »Ich dachte, ich könnte vielleicht eine Nachtigall fangen. Sie singen wunderschön, und sie singen den Glimmermond an. Deshalb baute ich auch die mechanischen Vögel - um sie zu beeindrucken. Sie sagte, sie interessiere sich nicht für meine Magie, und ich wollte ihr beweisen, daß ich auch über handwerkliches Geschick verfüge. Aber sie meinte bloß: >Sie sind genauso falsch wie du.< Also dachte ich, wenn ich einen richtigen Vogel finge, einen seltenen Nachtvogel, und zwar ohne Magie und ganz allein ...« »Eine Nachtigall?« fragte Barrin erstaunt. »Ich hatte eine winzige Kette mit einem kleinen Ring bei mir. Den wollte ich dem Vogel um den Fuß legen und ihm ein Tuch um den Kopf binden, aber beides ging verloren, als mich die Wächterin überfiel« 83
»Eine Nachtigall?« wiederholte Barrin ungläubig. Er sah Malzra an. »Ich glaube ihm kein Wort. Ich denke, Malzra, wir sollten den Erlaß der Schule gegen Gedankenerforschung in diesem Fall aufheben. Ich könnte ihn mit einem Wahrheitszauber belegen ...« »Nein!« Malzras Blick hatte sich verändert. Er war nicht weicher, sondern härter und berechnend geworden. »Nein, das Vergehen ist nicht schlimm genug, um solche Maßnahmen zu rechtfertigen.« Ein schuldbewußter Blick wechselte zwischen ihm und Teferi. »Er wollte eine Nachtigall fangen, aber das war weder mutig noch erwachsen. Es war dumm und närrisch.« Teferi senkte den Kopf und schluckte. »Jawohl, Meister.« Verwirrt bemerkte Jhoira, daß sich ihre Lippen bewegten, aber keine Laute hervordrangen. »Was hast du zu sagen, Jhoira?« fragte Malzra. »Beeindrucken dich solche Taten?« Sie holte tief Luft und antwortete: »Nun ... auf eine Art schon.« * * * Nachdem die Studenten und der Silbermann fort waren, drückte sich Barrin an den Regalen in Urzas Zimmer herum. Der Weltenwanderer saß schweigend und nachdenklich an seinem Schreibtisch. Wie sollte er es sagen, dachte Barrin, wie sollte er bloß anfangen? »Es steckt mehr dahinter, Urza. Das wißt Ihr.« »Ich weiß«, lautete die ruhige Antwort. »Ihr solltet nicht zulassen, daß die Wahrheit in seinen Worten, was Genie, Verrücktheit und Verfolgungswahn betrifft, Euch von der Tatsache ablenkt, daß er nicht allein wegen einer Nachtigall unterwegs war.« »Ja«, stimmte Urza erschöpft zu. Er atmete langsam aus - nicht, weil Atmen für ihn lebensnotwendig war, da er aus reiner Energie bestand. Einfache Dinge wie 84
das Atmen ermöglichten ihm, eine wertvolle Verbindung zur Welt der Sterblichen zu knüpfen. »Es befindet sich ein Phyrexianer in der Akademie. Ich rieche ihn. Er ist auf der Hut, gut getarnt und geschützt. Der Geruch ist schwach und kaum lokalisierbar, aber er ist da. Ein Phyrexianer in Tolaria.« * * * Das rote Licht des Zeitportals umgab Karn. Er sah es nicht. Die Augen seines Verstandes richteten sich nach innen, auf den Streit zwischen Malzra, Teferi, Jhoira und Barrin. Der Ausgang jener Episode vor knapp einer Woche verwirrte ihn noch immer. Kerrick hätte enttarnt, Jhoira und Teferi verwarnt und der Akademie verwiesen werden sollen, und die Feindseligkeit hätte wie eine hohe Mauer zwischen ihnen stehen müssen. Statt dessen waren Jhoira und Teferi in Malzras Ansehen gestiegen, und der Knabe wurde von der Frau, die er immer hatte beeindrucken wollen, respektiert. Warum alles so gekommen war, begriff Karn nicht. Er vermutete, daß sich vieles, was bei dem seltsamen Treffen vorgegangen war, in nicht ausgesprochenen Worten und nicht sichtbaren Taten vollzogen hatte. Der Lauf der Zeit verlangsamte sich und kam zum Stillstand. Malzra und Barrin standen erstarrt an ihren Pulten. Das Heulen der Maschine erreichte den Höhepunkt. Dahinter lauerte Totenstille. Dann drehten sich die Turbinen der Zeit rückwärts. Ein schrecklicher Moment, in dem sich Karn immer völlig verloren und allein fühlte. Bedächtig setzten sich Barrin und Malzra in Bewegung. Ihre Hände glitten von den Pulten, schalteten die Maschine ab und kehrten um, was sie in der vergangenen Stunde getan hatten. Das Licht rings um Karn wurde stärker. Diesmal bewegte es sich nicht. Malzra hatte große Fortschritte in der Steuerung räum85
licher Verschiebungen gemacht - er schien auf diesem Gebiet besondere Fähigkeiten zu besitzen. Jetzt konzentrierte er sich auf die zeitlichen Möglichkeiten. Bei dem heutigen Versuch lenkte er die ganze Kraft der Maschine auf diesen Faktor. Es begann. Karn hatte sich daran gewöhnt, sich selbst aus dem Lichtkegel entweichen zu sehen, und beobachtete, wie er rückwärts auf die beiden Männer zuging, ihnen aufmerksam zuhörte und schließlich durch die Tür verschwand. Davor waren Malzra und Barrin meistens damit beschäftigt, die Maschine teilweise auseinanderzunehmen, glänzende Metallteile herauszunehmen und sie durch ausgebrannten Schrott und Glas zu ersetzen. Eines Tages würden diese Änderungen die Maschine so weit bringen, daß sie Karn Jahrhunderte oder gar Jahrtausende zurückversetzte. Seine Gedanken schweiften ab. Auf dieser Reise würde er seine eigene Erschaffung und den Metallhaufen sehen, aus dem er entstanden war. Er würde die Zeiten erleben, als Barrin noch ein Kind war, ein Säugling, im Bauch seiner Mutter lebte, gar nicht vorhanden war. Die Weiterreise in Malzras Jugend würde bedeutend länger dauern. Um wie vieles länger, vermochte Karn nicht einmal zu schätzen. Er würde erleben, wie Malzra Stück für Stück auseinandergenommen wurde, wie es mit der Zeitmaschine geschehen war. Er würde erleben, wie einzelne Bestandteile entfernt wurden - der Wahnsinn, die Besessenheit, der Verfolgungswahn, das Genie, die fortwährende Reue und Verzweiflung. Vielleicht gehörte einiges davon zu seinen ursprünglichen Eigenschaften. Das meiste jedoch, dachte er, das Schlimmste, mußte durch Qualen, Jahrhunderte voller Qualen entstanden sein. Es wurde dunkel im Labor. Barrin schritt rückwärts von einer Lichtquelle zur anderen und entzog ihnen den Zauber, der sie zum Leuchten brachte. Er verließ 86
den Raum, schloß die Tür und verriegelte sie. Jetzt folgte eine Weile nichts als Dunkelheit. Karn glaubte, die Sonne abtauchen zu fühlen, wie eine Seeschlange, die unter der Oberfläche des Meeres rückwärts schwamm. Jetzt waren vierundzwanzig Stunden vergangen. Mitten in der Nacht betrat jemand das Labor. Es war weder Barrin noch Malzra. Wer auch immer es war, er sprach keinen Lichtzauber aus und entzündete auch keine der Fackeln, die an den Wänden hingen. Arbeiter hatten die Aufgabe, auch die Laborräume sauber zu halten, aber wer würde mitten in der Nacht ein Labor reinigen? Der Eindringling schritt an den Wänden entlang und studierte die dort aufgehängten Pläne und Zeichnungen, als könne er auch ohne Licht sehen. Er wühlte kurz in den Ersatzteilen herum und zog glitzernde Steine aus der Tasche, die er zwischen die restlichen Kristalle legte. Ein Dieb. Beinahe wäre Karn aus dem Lichtkreis herausgetreten, erinnerte sich aber noch rechtzeitig an Malzras Anweisungen, in der Zeit zurückzureisen, bis sein Körper kurz vor dem Schmelzpunkt stand. Sekunden später war die Gestalt verschwunden. Karn glaubte, im grauen Licht der Gangbeleuchtung goldene Locken zu erkennen. Der Abend brach in Gestalt eines unnatürlichen Sonnenaufgangs< herein. Die Zeit lief noch immer rückwärts. Karn wartete, während Studenten und Lehrmeister wie geschäftige Ameisen umhereilten. Es wurde Morgen. Die Schatten wurden länger und verwandelten sich in schwarze Seen. Es war wieder Nacht. Karns Körper war so heiß, daß er bereits dampfte. Der Dieb kehrte zurück. Sechsundvierzig Stunden waren vergangen. Lange genug. Karn verließ den roten Lichtkegel. Als die Sil87
berplatten mit der kühlen Nachtluft in Berührung kamen, zischten sie leise. Der Mann, der gerade die Tür geöffnet hatte, schloß sie wieder. Mit schnellen Schritten eilte der Silbergolem zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Er spähte in den Gang und sah Kerrick, der um eine Ecke huschte. Kerrick. Jhoira gestattete ihm, die Schule zu betreten, und er bestahl Meister Malzra. In seinen Taschen befanden sich sicher zahlreiche Kraftsteine, Pläne oder Ersatzteile. Was fing ein Schiffbrüchiger mit Artefakten an? Bestimmt reichte er sie an jemanden weiter. An wen? Es gibt so viel Böses, genau vor unserer Tür. Schlimmeres, als du dir vorstellen kannst.
Karn nahm die Verfolgung auf. Er würde nur noch kurze Zeit unsichtbar sein, und auch seine metallischen Schritte würden ihn dann verraten. Wenn er den Dieb nicht bald faßte, war es zu spät. Kerrick floh durch zahlreiche gewundene Gänge. Am Ende des Fluchtwegs lag die Artefakt-Halle. Vielleicht plante er, eine der Kreaturen zu stehlen oder sie nachzubauen. Er schob den Riegel zurück und schlüpfte hinein. Karn beeilte sich, die Tür zu erreichen, ehe sie sich schloß. Vorsichtig betrat er den Raum. Seine Beute lief zwischen den yotianischen Kriegern mit den Hundeköpfen hindurch. Der Silbermann folgte ihr. Seine Gestalt wurde allmählich sichtbar. Im Schütze der Metallmenagerie schlich er weiter. Neben einem Lastochsen kauerte er nieder. Die ausladende Wirbelsäule war wie ein Förderband gebaut, um schwere Lasten aus Bergwerken ans Tageslicht zu fördern. Dahinter stand ein Wetterhahn, dessen Kamm aus einer verwirrenden Vielzahl von Instrumenten bestand: einem Windmesser, einem Thermometer, einem Barometer und einem Zyklonometer. Die Kreatur daneben war drahtig und sah wie ein Jagdhund aus, mit 88
langen Beinen, einem schmalen Kopf und einem peitschenähnlichen Schwanz. Seitlich davon lauerten Krieger. Es war unheimlich, zwischen diesen Gestalten herumzuschleichen, die ohne Energiequelle wie Statuen in einem Mausoleum wirkten. Karn fragte sich, ob auch er eines Tages hier stehen würde, wenn sich Malzras Besessenheit einem anderen Ziel zuwandte oder er einen besseren Probanden für die Zeitreisen erschuf. Er hatte erst die Hälfte des riesigen Raumes durchquert, als Kerrick durch die gegenüberliegende Tür schlüpfte, auf Jhoiras Geheimgang zu. Durch die engen Gitter hätte Karn ihm nicht folgen können, hoffte aber, den Dieb außerhalb der Mauern aufzuhalten. Karn eilte auf eine andere Tür zu, die zum Hof führte. Er schob den Riegel zurück, öffnete sie leise und blickte hinaus. Draußen empfing ihn eine heiße, windige Nacht. Der Glimmermond sah hinter den Wolken wie ein feuriges Auge aus. Karn war noch heißer, und sein Körper schien förmlich zu glühen. Leise schlich er über den Hof. Malzra konnte ihn jeden Augenblick zurückrufen. Karn erreichte die Westmauer und kletterte an einem steinernen Stützpfeiler empor. Schließlich erreichte er den Wehrgang. Neben den Türmen standen die Wächter in Gruppen herum und plauderten angeregt. Auf den Turmspitzen hockten mechanische Wachen, deren Sichtgeräte langsam die Außenmauern abtasteten. Der Fuß der Mauer war in tiefe Dunkelheit gehüllt. Das Gitter am Ende von Jhoiras Geheimgang lag auf halbem Wege zwischen zwei mechanischen Wachen, von hohen Gräsern verdeckt. Ein leises metallisches Knirschen erklang. Golden glänzende Locken leuchteten in der Dunkelheit. Auf dem Wehrgang unterhielten sich die Männer noch immer. 89
Kerrick kletterte aus dem Gang heraus, die mit Unkraut bewachsene Böschung empor und lief in den Wald. Keiner der Männer hatte ihn erspäht. Mit vor Hitze zischendem Leib erhob sich Karn und sprang von den Zinnen. Mit einem Krachen, das die Wachen herumfahren ließ, landete er auf dem harten Boden. Er verhielt sich still und reglos, bis sich die Männer abwandten und ihr Gespräch fortsetzten. Im Schutze eines heftigen Windes eilte er in den Wald hinein, um Kerrick nicht zu verlieren. Jetzt ließen sich Geräusche nicht mehr vermeiden. Blätter raschelten, Äste zerbrachen unter seinen Füßen, Tau verdampfte zischend auf rotglühendem Silber. Karn fürchtete, Kerrick zu warnen, aber es kam auf Schnelligkeit an. Der Dieb war lautlos über Jhoiras Pfad gerannt, die Kraftsteine und Pläne Meister Malzras in der Tasche. Karn eilte ihm nach. Seine Kraftreserven wurden durch die schnellen Bewegungen arg strapaziert. Die Hitze ließ seine Gelenke unwillig knirschen, aber der Zorn verlieh ihm Flügel. Gerade erreichte er die Kuppe eines Hügels, als der Glimmermond durch die Wolken brach. Ein Stück von Karn entfernt standen Kerrick und zwei Fremde. Karn blieb stehen und stellte seine Hörfähigkeit auf die im Flüsterton geführte Unterhaltung ein. Der junge Mann mit den goldenen Locken hielt ihnen ein großes Stück Papier entgegen und sagte: »Hier ist der Eingang. Bringt die ganze Kompanie Negatoren mit. Ich werde den Eingang öffnen und die Wachen auf der Mauer umbringen.« Mehr sah und hörte Karn nicht. Malzras Maschine packte ihn - seinen glühendheißen Körper - und zerrte ihn fort. Der grelle rote Lichtstrahl formte einen festen Kegel um ihn herum. Der Hügel mitsamt Kerrick und seinen Freunden verschwand. Karn sah nur noch rotes Licht. Er brüllte vor 90
Verzweiflung und wartete ungeduldig auf das Ende der Reise. Endlich nahm die Gegenwart wieder Gestalt an. Der Lichtkegel drehte sich noch einmal, blitzte auf und erlosch. Dampfend und rotglühend stand Karn in der Mitte des Labors. Der Meister sah von seinem Schaltpult auf. Er und Barrin starrten den Golem respektvoll an, und ihre Augen verfolgten die Rauchfahnen, die von den Silberplatten aufstiegen und ihre Fangarme um die Zeitmaschine schlangen, deren massiger Rahmen mit grauem Ruß bedeckt wurde und zischend und knakkend wieder abkühlte. Karn verließ den Kreis. Damit verletzte er das Protokoll: Er sollte warten, bis Meister Malzra ihn rief. Außerdem verärgerte er den Wissenschaftler, indem er sprach, ehe er gefragt wurde. »Eine Invasion steht uns bevor!« Barrin ging auf ihn zu und hob beschwichtigend die Hände. »Es besteht die Gefahr einer Seuche, wenn du den Ring verläßt, bevor ...« »Was für eine Invasion?« fragte Malzra grimmig. »Das weiß ich nicht. Ich habe nicht gesehen, mit wem er sprach, aber er redete von Negatoren ...« »Phyrexianer!« bestätige Malzra noch grimmiger. Der Magier fragte: »Wer sprach von Negatoren?« »Kerrick«, antwortete Karn. In dem Augenblick begriff er, daß er Jhoiras Geheimnis verraten mußte, weil es um die Sicherheit der ganzen Akademie ging und auch um Jhoiras Sicherheit. Dennoch machte die Notwendigkeit das Geständnis nicht einfacher. »Er ist ein Schiffbrüchiger, der vor beinahe einem Jahr an der Westküste strandete. Jhoira fand ihn und rettete sein Leben. Er entdeckte einen Weg in die Akademie und plant nun, die Schule an jene auszuliefern, die eine Kompanie Negatoren anführen - was auch immer das ist.« Malzra schritt wütend hin und her. »Sie müssen auf 91
einer nahe gelegenen Insel ein Portal besitzen, vielleicht auch bloß ein Boot. Sie wußten, daß ich auf Tolaria Verteidigungsmaßnahmen gegen Portale errichtet habe. Irgendwo sammeln sie sich für den Angriff.« »Woher weißt du das alles?« wollte Barrin von Karn wissen. »Ich folgte ihm aus der Akademie, aus diesem Zimmer hier. Er hat die Pläne von hier mitgenommen«, berichtete der Golem. »Außerhalb der Mauer traf er zwei Leute. Sie sprachen von Negatoren.« Malzra schwankte. Sein Gesicht war rot vor Zorn. »Verdammt! Dann wissen sie von meinen Zeitexperimenten. Sie hätten sich keinen schlechteren Moment für den Angriff aussuchen können.« »Wann hat dieser Kerrick die Pläne übergeben? Wie weit bist du zurückgegangen?« »Sechsundvierzig Stunden.« »Sie könnten jeden Moment hier sein!« rief Barrin. »Ich werde die Wachen alarmieren.« Er lief zur Tür hinaus. »Zu spät.« Malzra atmete zum ersten Mal seit vielen Stunden. Er sog den Geruch ein, der aus dem Flur drang. »Sie sind bereits hier.« Dampfend und zischend sprang Karn zur Tür und lief den Gang hinunter. Alles war still und verlassen, aber der Geruch von Öl, Metall und Tod lag in der Luft. Er hatte nur einen Gedanken: Jhoira - und stürmte weiter. Malzra rief ihm etwas nach, doch Karn achtete nicht darauf. Er lief eine Treppe hinunter, folgte der weiten Biegung des Ganges, stieg eine Treppe hinauf und stand endlich vor der kleinen, halbrunden Tür von Jhoiras Zimmer. Er drückte den Griff hinunter, aber die Tür war verschlossen. Er schlug dagegen. Die Tür erbebte. Er brüllte ihren Namen, erhielt jedoch keine Antwort. Karn hob den riesigen Fuß, trat die hölzerne Tür ein und wand sich seitwärts durch die Trümmer. 92
Das Zimmer war blutbesudelt. Jhoira hatte sich gewehrt; das war nicht zu übersehen. Ihre Gegenwehr war für immer vorbei. Sie lag in einer Ecke des Raumes auf dem Boden, das Gesicht nach unten. Eine rote Blutlache umgab sie. Ihr blutgetränktes Gewand bedeckte einen Körper, der nur noch halb so groß war wie früher. Karn sah frische Fußabdrücke in dem Blut. Abdrücke eines Eisenschuhs mit spitzen Zehen. Sie führten zum Schrank, in dem Jhoiras Kleidung hing. Die Schranktür stand einen spaltbreit offen, und aus der Dunkelheit starrte ein fiebrig glänzendes Auge hinaus.
93
Monolog
Er ist nicht verrückt. Ich hätte niemals an ihm zweifeln dürfen. Die Verrücktheit liegt in dem, was er erwartet hat und was nun da ist. Es umgibt mich. Es schlägt seine Fänge in mich. Seine Klauen zerren an meinen Gedärmen. In dem Augenblick vor meinem Tode spüre ich, wie sie sich warm über meine Füße ergießen. Barrin, Magiemeister der Akademie von Tolaria
94
Das Wesen im Schrank warf sich gegen die Türen, riß sie aus den Angeln und sprang hervor. Es war riesig und von menschenartiger Gestalt, ähnelte aber mit der an den Körper geschweißten Rüstung, den hervorstehenden knöchernen Stacheln und den mit Klingen besetzten Beinen auch einem Insekt. Der stählerne, weit hervorstehende Unterkiefer war mit Metallstoßzähnen bestückt, von denen Jhoiras Blut tropfte. An Stelle einer Nase besaß es eine Stahlspitze und atmete durch Löcher im Brustkorb. Die scheinbar glühenden Augen lagen tief in verspiegelten Höhlen, die gehörnte Schädeldecke war ebenfalls mit Blut besudelt. Messerscharfe Knochenenden ragten aus den Schulterblättern, Ellenbogen, Fingerspitzen, Knien und Zehen. Die Kreatur krächzte: »Entwaffne und ergib dich, dann bleibst du unversehrt. Sonst wirst du zerstört.« Als Antwort warf sich Karn auf den Widersacher. Mit der Schnelligkeit und Geschicklichkeit einer Schlange schlüpfte das Wesen unter ihm hinweg. Er bekam eine Schulter zu fassen, aber auch sie entglitt ihm. Urplötzlich hing der Feind auf seinem Rücken. Die scherenartigen Finger stießen nach seiner Kehle. Ihm fiel ein, wie Malzra seinen Kopf einst mit Leichtigkeit abgenommen hatte, um den Kraftstein zu entnehmen ... Karn vollführte eine Drehung und ließ sich fallen, um den Gegner durch den Aufprall des schweren Silberkörpers auf dem harten Boden zu zermalmen. Wie95
der glitt das Wesen blitzschnell zur Seite und sprang auf seinen Brustkorb. Als Karn auf dem Boden aufschlug, landete er in einer Blutlache. Zischend verdampften die Tropfen auf seinem heißen Leib. Er schlug mit beiden Fäusten auf den Feind ein. Mit einem wütenden Knurren löste das Wesen den Verschluß an Karns Kehle und klappte den Kopf nach hinten. Karn sah nichts mehr und vermochte sich kaum zu bewegen. Seine Arme und Beine baumelten hilflos herab, aber er spürte die spitzen Finger, die sich in seinen Körper wühlten und nach dem Kraftstein suchten. Ein Ruck, und sein ganzes Innenleben läge bloß. Karns Leben würde vergehen, sobald sich der zerbrechliche Kristall in der Hand des phyrexianischen Mörders befand. Der Angreifer hielt inne und betastete den kleinen Anhänger, der an der Halskette des Golems hing - die Viashinoechse. Er nahm sie in die Hand, drehte sie hin und her und murmelte: »Thran.« Gleichzeitig sagte Karn: »Jhoira.« Mit letzter Kraft nahm er sich zusammen, packte das Schmuckstück, zerriß die Silberkette und rammte es in den Schädel des Feindes. Ein Strom heißen Öls ergoß sich über ihn. Schreiend fiel die Kreatur hintenüber. Es gelang Karn, den Kopf nach vorne zu kippen und den Verschluß zu befestigen. Sofort kehrte seine fast schon verlorene Willenskraft zurück. Sekunden später stand er über dem zusammengekauerten Phyrexianer, in dessen Schläfe das Schmuckstück steckte. Er schleuderte den Mörder zu Boden und zermalmte seinen Schädel unter seinem riesigen Fuß zu einer Öligen Masse aus Haut, Metall und Gehirn. Der Körper erbebte noch einen Moment, aber Karn schob ihn achtlos beiseite und kniete neben Jhoira nieder. Tot. Jhoira war tot. Die Wut, die Karn beim Anblick 96
ihres geschunden Leibes empfunden hatte, verwandelte sich jetzt in Kummer und Trauer. Der Silbermann sackte in sich zusammen. Der Schmerz, den er erlitt, war schlimmer als ein rotglühender Leib oder eine abgetrennte Schädeldecke. »Sie sind überall«, erklang eine eisige Stimme von der Tür her. »Sie bringen alle um. Barrin ist bereits tot. Teferi auch.« Karn sah auf und entdeckte Meister Malzra, der in seiner glänzenden Rüstung fast wie ein Phyrexianer aussah. »Wir können sie noch aufhalten! Es ist sinnlos, die Zweige des Bösen abzutrennen. Wir müssen die Wurzeln ausreißen! Ich schicke dich zurück. Der ganze Angriff kann verhindert werden. Du reist achtundvierzig Stunden zurück. Halte Kerrick auf und töte ihn, ehe er die Pläne weitergibt. Ich bewache die Maschine und bekämpfe jeden Eindringling. Ich muß Meister Barrin zurückhaben. Von mir aus soll sich das Portal selbst zerstören. Von mir aus soll auch dein Körper schmelzen, aber du mußt Kerrick und seine Kumpane aufhalten!« * * * Wenn ich ihn umbringe, dachte Karn, als der rote Lichtstrahl des Portals um ihn herumwirbelte, ja, selbst wenn ich ihn nur aufhalte, wird Jhoira leben. Meister Malzra arbeitete in fieberhafter Eile an beiden Pulten, während sein Freund irgendwo tot herumlag. Wenn ich Kerrick umbringe, dachte Karn, wird alles so sein wie früher. In diesem Augenblick stürmte eine Gruppe Negatoren durch die Tür. Sie waren riesengroß und steckten in Stahlrüstungen, ähnlich wie der Phyrexianer, den Karn besiegt hatte. Alle unterschieden sich voneinander. Einer besaß einen Hundekopf und Pfoten, wäh97
rend Schultern und Körper menschenähnlich wirkten oder gewirkt hatten, ehe sie an hundert Stellen mit Drähten und Kabeln durchbohrt wurden. Ein Zweiter sah wie ein gebückt laufender Affe aus, mit tiefliegenden, bösen Augen und übermäßig langen Armen. Ein Dritter war zierlich, feingliedrig und erinnerte an eine Spinne. Sie stapften durch die zersplitterten Überreste der Tür und rannten auf Malzra zu. Karn schwankte und versuchte, den Kreis zu verlassen, um sich den Feinden entgegenzuwerfen. Ohne den Blick von seinem Pult zu heben, hob Malzra die Hand und sandte den Wesen einen unbeschreiblich heftigen Blitzstrahl entgegen. Drei grell leuchtende Pfeile trennten sich vom Hauptblitz und bohrten sich in die Brustkörbe der Monster. Tiefe Löcher entstanden an den Stellen, an denen bei einem Menschen das Herz saß. Glühende Funken liefen über die größtenteils aus Metall bestehenden Körper. Augen leuchteten in hellem, von innen kommendem Licht. Zähne sprühten Funken. Muskeln leuchteten auf unheimliche Weise auf. Dennoch liefen die Phyrexianer weiter. Für den nächsten Zauber hob Malzra nicht einmal die Hand. Die Magie entströmte seinem Verstand, während die Finger weiterhin über die Tasten des Pultes tanzten. Die drei Kreaturen blieben urplötzlich stehen, erstarrten und fielen zu Boden, wo sie wie schwarze Eisschollen zersprangen. Karn sah nichts mehr. Im nächsten Augenblick erstarrte die ganze Welt. Eine Sekunde lang stand sie still, als stehe sie kurz vor dem Zerplatzen. Dann drehte sich die Zeit rückwärts. Die zerbrochenen Phyrexianer fügten sich wieder zusammen, erhoben sich und wichen zur Tür zurück. Fleisch entstand aus Rauchwolken und glitt in die Löcher im Leib der Feinde. Sie entschwanden seinen Blicken, und die Tür fügte sich wieder zusammen. 98
Schneller und schneller lief die Zeit zurück. Der tanzende Lichtstrahl schrillte vor Schnelligkeit. Die Welt erbebte in ihren Grundfesten. Meister Malzra hatte die Maschine auf volle Kraft gestellt. Alle vier Energiequellen und die Seeturbine arbeiteten fieberhaft. Wahrscheinlich würde Karn die Reise nicht überleben, und wenn doch, war die Maschine vielleicht nicht mehr in der Lage, ihn in die Gegenwart zurückzubringen. Aber Jhoira würde überleben, und das war genug. Jhoira, Teferi, Barrin und die Akademie. Wenn ihre Rettung seinen Tod bedeutete, so machte es Karn nichts aus. Besser, so zu enden, als im Artefakt-Museum nutzlos herumzustehen. Auf den Morgen folgte die Nacht; Kerrick betrat das Labor und verschwand wieder. Nach dem Abend begann der Tag. Karn wartete ungeduldig auf den vorangehenden Morgen. Ihm war bereits sehr heiß; sein Körper dampfte, die Metallplatten dehnten sich aus und rieben sich aneinander. Dann war Nacht. Die Zeit lief langsamer zurück. Das Licht erlosch. Karn ballte die Fäuste und verspürte das seltsame, menschliche Bedürfnis zu beten - zu welchem Gott auch immer, vielleicht sogar zur Zeitmaschine. Begleitet von einem Licht, das schöner war als ein Sonnenaufgang, sprang die Tür des Labors auf, und er erhaschte einen Blick auf den grauen Flur. Karn verließ den Kreis mit unsicheren Schritten. Sein Körper leuchtete in mattem Rot, ähnlich der Farbe des nun erloschenen Lichtstrahls. Er nahm sich zusammen und rannte zu der sich langsam schließenden Tür, packte den Griff und riß sie weit auf. Dicht hinter dem goldhaarigen Phyrexianer sprang er in den Flur. Als er das Krachen der Tür vernahm, wirbelte Kerrick herum. Obwohl Karn noch unsichtbar war, verriet ihn der Dampf, der von den Silberplatten aufstieg und seine Umrisse erahnen ließ. Kerrick machte kehrt und floh. Karn folgte ihm. Er 99
war nicht auf Schnelligkeit hin konzipiert worden, und das Laufen zehrte an seinen Kräften. Kerrick gewann an Vorsprung. Vielleicht noch eine lohnende Verbesserung, dachte Karn verzweifelt. Vielleicht sollte man mich noch ein wenig umbauen - aber wer weiß, ob die Maschine diese Reise übersteht. Karn war nicht so schnell wie der Phyrexianer, doch er kannte die Akademie und wußte, wohin sich Kerrick wenden würde. Er eilte einen Seitengang entlang und erreichte das Museum. Leise trat er ein und verriegelte die Tür hinter sich. Karn schlich an stillgelegten Kreaturen vorbei, die zwei- oder dreimal so groß waren wie er: an mechanischen Mammuts, Spinnenwesen mit Händen am Ende der langen Gliedmaßen und anderen unheimlichen Artefakten. Auch der Verräter weilte bereits im Museum. Kerrick hatte die Halle durch eine gegenüberliegende Tür betreten und schlich lautlos durch den Raum. Er war auf dem Weg zum westlichen Labor und mußte an Karn vorbeigehen. Der Silbermann erklomm eine Plattform und kauerte sich neben dem Metallskelett eines Kriegers zusammen. Dort wartete er im Schatten des Artefaktes. Kerrick kam. Leise und geschmeidig schlich er voran. Ein höhnisches Grinsen verzerrte sein Gesicht, als er die Hand auf den Türgriff legte und daran zog, denn er war sicher, den Verfolger abgeschüttelt zu haben. Karn fiel über ihn her. Das Geräusch, das entsteht, wenn Knochen brechen egal, ob menschliche oder phyrexianische - ist unverwechselbar. Kerricks rechtes Beins knickte unterhalb des Knies zusammen. Schreiend vor Schmerzen fiel er zu Boden. Es klang mitleiderregend, und Karns geballte Fäuste, die gerade zuschlagen wollten, hielten inne. Viel100
leicht reichte der Beinbruch aus, um Kerrick aufzuhalten, damit das Treffen mit seinen Kumpanen nicht stattfand. Die Wächter würden ihn hier entdecken und als Spion entlarven. Malzra und Barrin würden ihn streng bestrafen und erfahren, wo sich die Phyrexianer versammelten. Wenn er diesen Mann tötete, kamen sie irgendwann wieder. Ließ er ihn aber am Leben, damit er verhört werden konnte ... Karn, der jetzt erst schwach zu sehen war, warf sich den wütenden Feind über die Schulter und marschierte an den Artefakten vorbei. Kerrick bäumte sich bei der Berührung mit der glühenden Silberhaut auf und stieß Schmerzensschreie aus. Die beiden erreichten die Tür, die Kerrick benutzt hatte, und begaben sich in den Gang. »Ich habe einen Spion! Einen phyrexianischen Spion!« rief Karn. »Wache! Meister Malzra! Meister Barrin!« Ehe er eine Antwort erhielt, wurde er von Malzras Hand aus der Zukunft gepackt. Die Maschine rief ihn zurück. Der Ruf war anders als sonst - viel eindringlicher. Der Zugriff brachte den Silbermann ins Wanken, und er wäre um ein Haar gestürzt. Hastig umklammerte er den Gefangenen noch heftiger. Sein Körper wurde glühendheiß. Kerrick schlug und trat wild um sich. Der dunkle Flur drehte sich vor ihren Augen. Mit einem wilden Schrei stieß der Phyrexianer die Finger unter Karns Kinn und suchte nach dem Verschluß. Instinktiv griff Karn nach der Hand und stieß sie fort. Der Stoß befreite Kerrick. Mit abgeknicktem Bein landete er auf dem Steinboden des Ganges. Karn wandte sich ihm taumelnd zu. Das rote Licht flackerte. Der Flur löste sich vor Karns Augen auf. Er griff nach dem Phyrexianer, aber seine Finger schlossen sich um Luft. Bruchstücke der Wirklichkeit glitten in Sekunden an ihm vorbei. Karn stürzte in eine sich wild drehende Zeit. 101
Mit der Maschine stimmte etwas nicht, ganz und gar nicht. Die pulsierenden Zeitströmungen bildeten einen Strudel um ihn herum, zogen ihn in die Tiefe, voran in die finstere Gegenwart einer allmählich auseinanderbrechenden Maschine. Das Labor nahm undeutlich Gestalt an. Es erschien und verschwand wieder. Ein heftig flackerndes rotes Licht hüllte Karn ein. Zum zweiten Mal an diesem Tag verspürte er das Bedürfnis zu beten. Das Labor erschien erneut. Die Geräte an Malzras Pult leuchteten grell durch den Rauch. Malzra und Barrin arbeiteten ohne Unterlaß. Die Zeitmaschine über Karns Kopf schwankte bedrohlich, und aus den Seiten drang dichter Qualm. Sie löste sich auf! Der Lichtstrahl zersplitterte und sandte zahlreiche Blitze nach allen Seiten. Wo die roten Blitze trafen, zerfielen Wände zu Staub, Maschinen zu Schrott. Jeder Blitz zerriß, was er berührte, und fraß sich durch das Labor, in die Flure, durch die Schlafsäle und die Mauern. Durch ganz Tolaria. Karn stand im Kreis, durch den zuckenden Lichtkegel geschützt. Dann erfolgte die Explosion. Rot verschwand. Rot und sämtliche Farben und jegliche Dunkelheit. Es gab nur noch Licht. Licht, das so hell wie die Sonne strahlte. Ein leises Klirren kündigte das Licht an - ein Klirren, als sei ein Kristall zerbrochen. Ein Läuten folgte, und die Helligkeit war wie ein gigantischer Blitz, groß genug, um die ganze Welt zu verschlingen. Sekundenlang war die Luft fest, wie eine Mauer aus Gas und Energie, die sogleich wieder zerplatzte. Es gab keine Wände mehr. Eine Druckwelle breitete sich rasend schnell in alle Richtungen aus. Sie pulverisierte Glas, Stein und Stahl. Ihre äußeren Kreise wurden zu 102
Strömen reiner, vernichtender Energie. Die Explosion machte ganze Teile der Akademie dem Erdboden gleich und riß die Erde mit sich, bis nur noch nackter Fels übrig blieb. Nur wenige Teile der Schule blieben unberührt. Ganze Gebäude wurden in der Mitte gespalten. Die Schockwelle breitete sich immer weiter aus. Sie brachte einen Sturm aus Steinbrocken und Metall mit sich, der sich wie eine Million Zahne in alles bohrte, was ihm im Weg stand. Tausendjährige Bäume wurden entwurzelt. Berggipfel zerbröckelten. Grüne Blätter gingen in Flammen auf. Wolken aus Staub und Asche erhoben sich aus den zitternden Wäldern. Das Chaos breitete sich bis zum Meer aus. Mehrere Meilen lange Blitze brachten das Wasser bis in fünf Faden Tiefe zum Kochen. Auch die Wolken am Himmel blieben nicht verschont. Sie wurden beiseite geschleudert oder sandten Feuer an Stelle von Regen auf die Erde. Der Ozean erwachte, und gewaltige Wellen verschlangen Dörfer, die jenseits des Meeres in zweihundert Meilen Entfernung von Tolaria lagen. Eine derartige Zerstörung hatte es seit der Vernichtung Argoths nicht mehr gegeben. Und auch diese Katastrophe war durch die Torheit desselben Mannes entstanden. * * * Urza stand über allem. Er hatte unmittelbar neben dem Zeitportal gestanden, als es explodierte. Es hatte jeder Unze seiner metaphysischen Macht bedurft, um die Partikel seines Seins gegen die gewaltigen Wellen der Vernichtung zu schützen. Als Stück für Stück die Welt um ihn herum in Trümmer ging, wurde er allmählich zu einem Geschöpf aus reiner Energie. Beim ersten Herzschlag des Sturms löste er sich wieder und wieder auf. 103
Beim zweiten Herzschlag setzte er alles auf Spiel und griff in den Sturm hinein. Er sammelte sie ein, einen nach dem anderen. Vielleicht waren es nicht die Klügsten und Besten, aber es waren jene, die sich in der Nähe aufhielten und gerettet werden konnten. Der erste war Magiemeister Barrin (ja, Karn hatte getan, was er ihm auftrug und die phyrexianische Invasion verhindert, obwohl die Einzelheiten jener Zeitreise schwer nachvollziehbar und so kompliziert zusammenzusuchen waren wie die Einzelteile von Urzas Körper), es folgten fünf andere Lehrmeister und acht Studenten. Er nahm sie eilig auf eine instinktive Weltenwanderung mit. Sie würden die Reise nicht in menschlicher Gestalt überleben, und so verwandelte er sie schnell in Steine. Später würde er den Zauber rückgängig machen. Später, wenn er wieder zu Kräften kam... Wild zuckende Blitze strömten an Urza und den Steinstatuen vorüber. Die Todeszuckungen seiner letzten Erfindung schleuderten Splitter aller erdenklicher Art umher. Metall, Stein, Knochen, Fleisch und sogar das eine oder andere Gehirn sausten durch die Luft. Urza stemmte sich gegen den Sturm. Er erhob sich und nahm die anderen mit. Jetzt befanden sie sich ... wo? Das Hügelland war grün und sonnig. Ein sanfter Windhauch brachte den Duft von Heidekraut mit sich und strich um die vierzehn Statuen herum. Urza hatte sich und vierzehn andere gerettet - das bedeutete, daß mehr als zweihundert Menschen den Tod gefunden hatten. Vielleicht hätten die Negatoren weniger Schaden angerichtet, aber sie hätten Barrin umgebracht, sämtliche Artefakte und sogar die Zeitmaschine erobert. Also war es ein vernünftiger Tausch gewesen. Urza hatte einige seiner Leute gerettet, und seine Erfindungen waren nicht in die Klauen der Phyrexianer geraten. Ja, es war ein sehr guter Tausch gewesen. 104
Die Überlebenden von Tolaria standen starr und stumm im Wind. Auf der Spitze des grasbewachsenen Hügels wuchs ein Baum mit ausladender Krone, und er allein regte sich und atmete die angenehme Luft ein. Urza sprach den letzten Zauber aus, über den er verfügte. Es würde die letzte Rettungsaktion an diesem Nachmittag sein, denn er war völlig erschöpft. Es war ihm unmöglich, seine Körperlichkeit noch viel länger aufrechtzuerhalten. Die Tat, Barrin wieder ins Leben zu rufen, war ein Triumph seiner Willenskraft. Stein wurde zu Muskel, Knochen und Blut. Barrin erwachte. Die dunklen Brauen über den braunen Augen zusammengezogen, stolperte der Magiemeister durch das hohe Gras auf Urza zu. »Wo sind wir?« Bedauernd schüttelte Urza den Kopf. »Das weiß ich nicht.« Barrin nickte und atmete tief durch. Er blickte über die grünen Hügel und zum wolkenlosen Himmel auf. »Warum sind wir hier?« Ein Schatten huschte über Urzas Gesicht. »Tolaria ist vernichtet. Die Zeitmaschine explodierte. Wir sind die Überlebenden.« Der Unterkiefer des jüngeren Mannes fiel herab, und er warf einen entgeisterten Blick auf die dreizehn Statuen, die wie Grabsteine auf einem vergessenen Friedhof herumstanden. »Nur wir? Nur vierzehn Personen?« »Fünfzehn«, verbesserte Urza ihn ernsthaft. »Ihr und ich, fünf Lehrmeister und acht Studenten.« Barrin sackte in sich zusammen und umklammerte seine Knie. »Und der Rest?« Urza blinzelte. Er hätte nicht blinzeln müssen, aber es war eine alte Angewohnheit, die sich bei unangenehmen Gedanken bemerkbar machte. »Die meisten sind tot. Manche könnten überlebt haben, zwischen 105
Trümmern Deckung suchend, aber das ist recht unwahrscheinlich .« Sein Gehilfe blieb in der Hocke. Er keuchte und hechelte wie ein verängstigter Hund. »Wir müssen zurück. Wir müssen sie suchen.« »Teleportiert Euch, wenn Ihr den Zauber beherrscht. Ich kann geraume Zeit nichts mehr unternehmen«, antwortete Urza grimmig. »Ich habe mich verausgabt. Außerdem kann ich mich nicht mehr lange in dieser Gestalt halten.« »Ich beherrsche keine Teleportationszauber. Ich hätte nie gedacht, sie einmal zu benötigen!« fauchte Barrin. »Dann zaubert eben ein Schiff oder etwas in der Art! Wir müssen alle retten, die überlebten.« Urzas Körper verblaßte, zerfiel. Die Juwelen, die er anstatt Augen besaß, flackerten. Das Feuer darin erstarb. »Wir werden sie irgendwann finden; alle, die der Insel heute entfliehen. Alle, die morgen früh noch leben.« * * * Karn zerrte an der schräg liegenden Steinplatte. Sie knackte und knirschte. Das andere Ende steckte in einem Schutthaufen. Menschen schrien vor Schreck und voller Hoffnung, als sie das Licht erblickten. Kein Tageslicht, sondern Flammen, die durch die Explosion hervorgerufen worden waren. Karn hob das Ende der Steinplatte ungefähr einen Fuß in die Höhe, und zwei junge Studenten krabbelten darunter hervor. Er stemmte die Platte noch höher. Ein alter Lehrer mit blutüberströmtem Kopf kroch langsam ins Freie. »Mehr sind da nicht«, erklärte er keuchend. »Flieht in den Dschungel«, befahl Karn und ließ die Platte sinken. »Geht durch die Ruinen, nicht entlang der Wege. Wandert durch den dichtesten Dschungel zum Meer. Die freien Wege sind Zeitströme, und sie werden euch umbringen, wenn ihr sie betretet.« 106
Der Alte kniete noch immer und hielt sich den gebrochenen Arm. Die beiden Studenten standen zitternd neben ihm. Sie sahen sich um. Hier und dort ragten die Überreste einiger Gebäude zwischen den Trümmerhaufen empor. Zwischen den Ruinen war jeglicher Erdboden verschwunden und nur blanker Fels zurückgeblieben. Überall lagen Leichen herum, nur auf den freien Wegen war kein Hindernis zu entdecken. Der Alte kratzte sich vorsichtig am Kopf, genau unterhalb einer großen Schnittwunde. Er blinzelte, und Bluttropfen fielen auf seine Wangen. »Was ist, wenn wir das Meer erreichen?« fragte er mit unsicherer Stimme. »Dann sucht ihr andere Überlebende«, sagte Karn und ging in die Richtung, aus der weitere Schreie kamen. »Findet etwas, das auf dem Wasser schwimmt. An der Ostküste lagen Malzras Boote.« Mehr gab es nicht zu sagen. Bis jetzt hatte er siebzehn Personen gerettet, von denen die meisten ihren Verletzungen erliegen oder in die Zeitströme stolpern würden, die ihre Körper zerrissen. Karn war bereits in einige dieser Strömungen geraten, und sogar sein Silberkörper, der an gewaltige Zerreißproben gewöhnt war, wäre beinahe vernichtet worden. Ein Wesen aus Fleisch und Blut mußte nur den Kopf in einen solchen Zeitstrom stecken, um zu sterben. Karn hatte es heute schon mehrmals erlebt - viel zu oft. Die Schreie kamen von oben. Karn entdeckte einen Wächter, der unter einem Steinbrocken eingeklemmt lag. Der Oberkörper des Mannes war stellenweise verbrannt und sah wie eine verschrumpelte Dattel aus. Der Unterkörper lag unter dem riesigen Steinbrocken. »Nimm ihn fort! Ich fühle meine Beine nicht mehr! Nimm ihn fort!« Mit grimmiger Miene stemmte sich Karn gegen den Stein und schob. In dem Augenblick, als der Brocken sich von den zerschmetterten Gliedmaßen des Wäch107
ters hob, ergoß sich ein Blutstrom aus seinem Unterleib, und er sank tot in sich zusammen. Karn ließ den Stein fallen und stand auf. Er vermochte sich kein schlimmeres Schicksal für diese Menschen vorzustellen. Die Hälfte bestand aus Kindern, die andere Hälfte aus alten Leuten. Er bezweifelte, daß eine Invasion der Phyrexianer schlimmer gewesen wäre. Die Vernichtung kam einem zweiten Argoth gleich, und Malzra war ein zweiter Urza, der lieber die ganze Welt zerstörte, als sie von einem anderen Wesen beherrschen zu lassen. Wenn nur Jhoira noch am Leben war ... das würde alles erleichtern. Wenn ... Ihr zerstörtes Zimmer lag unter mehreren Tonnen Gestein begraben, und kein Laut drang aus der Tiefe hervor. Vielleicht war sie entkommen. Vielleicht irrte sie in der brennenden Akademie umher. Ein Schrei erklang in einiger Entfernung, wo ein Turm über einer Ecke des nördlichen Schlafsaals zusammengestürzt war. Karn bemerkte den wirbelnden Zeitstrom zwischen sich und der Turmruine und machte sich daran, ihn zu umgehen. Vielleicht ist sie irgendwo da draußen. * * * Es war beinahe Mitternacht, als das Schiff vom Kai ablegte und auf das wogende schwarze Meer hinausfuhr. Masten und Segel waren vor langer Zeit verbrannt. Ungefähr drei Fuß über den Wellen prangte ein Loch im Bug, das ein rotglühender Eisenpfahl hineingebohrt hatte. Nach und nach füllte sich der Rumpf mit Wasser, aber Karn und ein paar der Überlebenden waren kräftig genug, um die Pumpen zu betätigen. Die anderen - insgesamt waren es nur dreiunddreißig Personen - kauerten mutlos auf dem verkohlten Deck und beobachteten, wie die brennende Insel hin108
ter ihnen zurückblieb. Überall an Land flackerten Feuer, und seltsame Lichter tanzten in dem Rauchschleier, der bis zu den dichten Wolken reichte. Wellen brandeten gegen die felsige Küste, und der heulende Wind verlieh dem Ort das Aussehen eines von Höllenwesen bewohnten Planeten. Der Glimmermond, der tief über den hohen Wogen hing, betrachtete die Szene voller Mißbilligung. Dreiunddreißig Überlebende, dachte Karn grimmig und pumpte weiter. Das Licht der brennenden Insel wurde schwächer. Vor ihnen lag nichts als kalte Finsternis, und selbst der Himmel und das Meer wirkten bedrohlich. Dreiunddreißig Überlebende, und von Jhoira keine Spur. Wie hätte eine phyrexianische Invasion schlimmer sein können? »Ein schreckliches Tauschgeschäft«, murmelte Karrt vor sich hin. »Schrecklich und unverzeihlich.«
109
Monolog
Urza behauptet, er hätte es getan, um mich zu retten. Er sagt, er ließ die Zeitmaschine explodieren, um mich und eine Handvoll anderer zu retten. Und um zu verhindern, daß seine kostbaren Pläne in die Hand der Phyrexianer fielen. In einer anderen Zeit - so behauptet er - wurde ich von den Phyrexianern getötet, die Akademie erobert. Urza änderte den Zeitverlauf, damit wir hier landeten - behauptet er. Er ist nicht wirklich verrückt, das weiß ich jetzt. Vielleicht lügt er - eine entsetzliche Möglichkeit, denn welcher finstere Grund würde Urza dazu bringen, mich anzulügen? Vielleicht sagt er die Wahrheit - noch entsetzlicher! Aber er ist nicht wirklich verrückt. Tolaria ist vernichtet, genau wie Argoth. Und wozu? Um mich zu retten? Natürlich nicht. Ich wurde aus Tolaria gerettet, wie Tawnos aus Argoth gerettet wurde als bloßer Nebengedanke. Tolaria ist vernichtet, denn wenn Urza es nicht besitzen konnte, sollte niemand es besitzen. Urza ist immer noch Urza. Ich bezweifele, daß er jemals auf die Insel, die er vernichtete, zurückkehrt, um sie wiederaufzubauen und sich zum Vater der Gelehrten zu erklären, die er zu Waisen machte. Ich bezweifele es. Verrückt oder nicht, er lernt nicht aus seinen Fehlern. Barrin, Magiemeister von Tolaria 110
Als Karn nach Tolaria zurückkehrte, stand er am Bug eines völlig anderen Schiffes. Es war riesengroß, von goldener Farbe und hatte sämtliche Segel gesetzt. Die Insel lag wie ein dunkler Schatten über den tosenden Wellen. Der blaue Himmel und die im Sonnenlicht glitzernde Wasseroberfläche strahlten vor Lebenskraft und Licht, aber das Land am Horizont wirkte tot und stumpf wie ein eingetrockneter Blutfleck. Karn schauderte. Er dachte an die schreckliche Nacht, das sich ausbreitende Feuer, die einstürzenden Mauern und die Zeitströme. Die Kratzer, die er sich in jener Nacht zugezogen hatte, waren beseitigt worden. In den zehn Jahren seit der Zerstörung Tolarias hatte man viele Verbesserungen an ihm vorgenommen. Meister Malzra hatte den Fingermechanismus, den Jhoira einst reparierte, vollständig verändert. Außerdem hatte er den Verschluß und die Vorrichtung zum Zurückklappen von Karns Kopf umgearbeitet, damit zukünftige Feinde sich nicht so einfach daran zu schaffen machen konnten wie Kerrick oder der Negator. Im Laufe der Zeit hatte Malzra sämtliche Kabel im Inneren des Golems erneuert und seine Reflexe verbessert. Äußerlich sah Karn wie ein neues Wesen aus. Innerlich fühlte er sich uralt. Sein Gefühlskortex und der Verstand waren unverändert geblieben, und so bewahrte er die traurigen Erinnerungen an seine ersten Freunde. Oft dachte er an Teferi, den genialen jungen Magier. An Jhoira, seine einzige wahre Freundin und Malzras beste und klügste Studentin, dachte er noch 112
häufiger. Tagtäglich dachte er an sie und betrauerte ihren Verlust. »Woran denkst du?« erklang eine freundliche Stimme hinter ihm. Es war Barrin. Blinzelnd sah er über das glänzende Meer hinweg. Silberne Strähnen durchzogen sein Haar. Er starrte zu dem dunklen Strich am Horizont hinüber. »Den ganzen Morgen stehst du schon hier.« Karn wandte sich wieder der Insel zu. »Ich denke an verlorene Freunde.« Barrin sagte mit sanfter Stimme: »Die Rückkehr ist schwierig für uns alle. Aber längst überfällig.« »Eine Geisterinsel«, murmelte Karn. Er fühlte Barrins durchdringenden Blick auf sich ruhen, sah den Magier aber nicht an. »Du erstaunst mich immer wieder, Karn«, erklärte der Magiemeister. »Eine Maschine, die überall Gespenster sieht.« »Erinnert Ihr Euch nicht an die toten Studenten, die toten Freunde?« fragte Karn. Barrin holte tief Luft. »Natürlich erinnere ich mich an sie, und es macht mich traurig, an den Ort ihres Todes zurückzukehren. Aber ich habe lange genug getrauert. Zehn Jahre sind vergangen. Zwischen deinen Geistern sprießen neue Blumen hervor.« »Ich sehne mich noch immer nach meinen Freunden«, erwiderte Karn. »Der Schmerz ist so schlimm wie am ersten Tag.« »Vielleicht hat es etwas damit zu tun, ob man aus Fleisch und Blut besteht oder nicht. Trauern bedeutet auch Heilung. Du heilst nicht. Du kannst auch nicht richtig trauern. Du leidest für alle Zeiten«, dachte Barrin laut. Er hörte sich verärgert an. »Wir müssen etwas erfinden, damit du nicht ewig leidest.« Endlich wandte sich Karn dem Mann zu. Über Barrins Schulter sah er das goldene Schiff, auf dem sich zahlreiche neue Studenten und Lehrmeister 113
drängten. Die goldene Reling glänzte im Sonnenlicht, und weiße Segel streckten sich der dunklen Insel entgegen. Am Steuer stand Malzra, gleichzeitig alt und jung. Der Name des Schiffs erzählte eine Geschichte Neu-Tolaria -, und in den letzten acht Jahren hatte es ihnen als Labor, Hörsaal und Schlafraum gedient. Ein Schiff, das alle Ziele Malzras verfolgte. Es lag im Wesen der Menschen, Altes abzuschütteln und Neues zu empfangen, aber Fleisch war geschmeidig, Silber nicht. »Wie kann ich den Schmerz vergessen und dennoch ich bleiben?« * * * Jhoira stand am Rande ihrer Welt. Hinter ihr lag Tolaria, durch die Explosion der Zeitmaschine zerstört. Vor ihr lag die unendliche See. Sie war zwischen beiden gefangen. Ihr Geheimversteck war zu ihrer Heimat geworden. Die Höhle war nur klein, aber trocken und sauber, mit Möbeln, Büchern und anderen Gegenständen ausgestattet, die sie in den Trümmern der Akademie gefunden hatte. Der größte Teil der Schule war zerstört. Die Wände, die noch standen, waren einsturzgefährdet. Die bereits eingestürzten Mauern bildeten Grabkammern für die Toten. Viele wurden lebendigen Leibes darunter begraben. Jhoira hatte drei Tage gebraucht, um sich aus dem Geheimgang zu befreien, in dem sie sich beim Ausbruch des Infernos aufhielt. Die nächsten drei Tage hatte sie damit verbracht, andere auszugraben. Sie und acht Studenten - alle jung, widerstandsfähig, geschickt und ausdauernd - zogen sich von dem Ort des Grauens in Jhoiras Höhle zurück. Natürlich wanderten sie wieder zu den Ruinen hinüber, um die Toten zu bestatten und nach Ausrüstung und Nahrung zu suchen. Aber diese Ausflüge waren gefährlich. Während der 114
ersten Exkursion verloren sie vier Studenten, die in Zeitströme gerieten und zerrissen wurden. Jhoira und die restlichen vier lernten, diese unheilvollen Stellen zu meiden. Manche Zonen waren dunkel und trocken; alle Pflanzen waren verdorrt. Hier handelte es sich um Schnellzeitgebiete, in denen eine Woche nur einen Tag dauerte. Derartige Orte erhielten nur wenig Regen und Sonne innerhalb einer Woche und wurden zu kalten Wüsten. Je dunkler und trockener eine Zone war, um so schneller verging die Zeit darin, und um so extremer war der Unterschied zum Zeitverlauf auf dem Rest der Insel. Andere Zonen waren hell und feucht dampfende Sümpfe. Das waren Trägzeitgebiete, in denen ein Tag eine ganze Woche dauerte. Dort schien die Sonne hell und warm, bewegte sich langsam über den Himmel, und es regnete häufig und heftig. Die meisten dieser Gebiete hatten keine Zeit gehabt, sich an das neue Klima zu gewöhnen, und standen bis zum Rand unter Wasser; umgestürzte Bäume trieben haltlos umher. Es gab auch Stellen, an denen die Zeit so langsam verging, daß die Feuersbrunst der Explosion noch immer in grellen Flammen züngelte. Außergewöhnliche Zeitwechsel erwiesen sich für Jhoira und ihre Gefährten als unpassierbar. Wenn man sie durchquerte, begann das Blut in den Adern zu kochen und die Haut schälte sich ab. Gliedmaßen starben ab, eiterten oder zerplatzten. Dieses Schicksal ereilte die ersten vier Studenten der Gruppe. Die Überlebenden beeilten sich, die gefährlichen Zeitströme aufzuzeichnen und zu meiden. Furchtsam wagten sie sich in weniger heftige Zeitwechsel und fanden heraus, daß sie nur schwer zu betreten und zu verlassen waren. In einem Trägzeitgebiet fühlte sich jeder Schritt an, als müsse man durch sich erhärtenden Zement stapfen. Geriet man von einer langsamen in eine schnelle Zeitzone, so litt man unter 115
starkem Schwindelgefühl, schlimmstenfalls sogar unter Bewußtlosigkeit. Dennoch kam der letzte Überlebende der Schule aus einer extremen Schnellzeitzone, die unerklärlicherweise in eine Trägzeitzone mündete. Es handelte sich um einen alten Mann namens Darrob. Zum Zeitpunkt der Explosion war er ein zwölfjähriges Kind gewesen, aber fünf Jahre später tauchte er als grauhaariger Verrückter wieder auf. Das einzig Gute, das Jhoira und ihre Gefährten in diesen Zeitströmen entdeckten, war Träges Wasser. Wasser widerstand zeitlichen Veränderungen und behielt die Geschwindigkeit seines früheren Milieus geraume Zeit bei, ehe es sich dem neuen Tempo langsam anpaßte. Wasser aus einer extrem langsamen Zone besaß bewahrende Qualitäten und verlangsamte den Alterungsprozeß der Menschen oder hielt ihn vollständig auf. Jhoira hatte keine Ahnung, wie, aber es funktionierte - jedenfalls für einige Zeit. Durch das Trinken von Trägem Wasser war sie jung geblieben und sah immer noch wie Zweiundzwanzig aus. Trotz des Jungbrunnens fiel der Tod über die Überlebenden von Tolaria her. Im sechsten Jahr war ihre Zahl auf fünf geschrumpft. Während der Schlangenjagd fiel ein fünfzehnjähriger Knabe eine Klippe hinab, brach sich den Hals und wurde aufs Meer hinausgetragen, obwohl die anderen ihm nachschwammen. Zwei Jahre später brachten sich zwei achtzehnjährige Liebende gemeinsam um, und nur Jhoira, der alte Darrob und eine zweite junge Frau blieben zurück. Letztere starb kurz darauf an einer geheimnisvollen inneren Krankheit. Ihre Asche nährte die Rosensträucher, die sie geduldig gepflanzt und gehegt hatte. In den zwei Jahren nach ihrem Tod waren die Rosen wild gewachsen und breiteten sich wie eine üppige, duftende Decke über die umliegenden Felsen. Inzwischen war auch der alte Darrob gestorben. Vor 116
drei Monaten erlag er einem Lungenleiden. Jhoira hatte ihn neben dem riesigen Felsbrocken beerdigt, neben dem er so gerne gelegen hatte - eine große Silberechse, die das Sonnenlicht aufsaugte. Er war Jhoiras 'letzter Gefährte gewesen und - trotz seiner Verrücktheit - ihre letzte Verbindung zur Wirklichkeit. Seit seinem Tod spürte sie, wie ihre Seele so wild wucherte wie die Rosensträucher. Jetzt war sie allein, doch eigentlich war sie immer allein gewesen. Die neun Personen, mit denen sie zusammengelebt hatte, waren ihre Gefährten gewesen, aber keine Freunde oder Vertraute. Der einzige wahre Freund war Karn gewesen, und er war nicht einmal ein Mensch, Jhoira fragte sich, was mit ihr nicht stimmte. Vielleicht hatte man sie ihrem Volk zu früh entrissen. Bei den Ghitu war ein Mädchen erst eine Frau, wenn sie eine besondere Vision gehabt hatte. Jhoira war das nie passiert. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, sah aus wie zweiundzwanzig und hatte die närrische und furchtsame Seele eines Kindes. Sie hatte einen verzweifelten Schritt in Richtung Erwachsensein unternommen und ihr Herz einem Mann in dem Glauben geöffnet, daß wahre Liebe nicht trügen könne. Doch sie konnte trügen. So würde es immer sein. Der Mann hatte sich als Monstrum entpuppt. Jetzt würde Jhoira für alle Zeiten allein sein. Ein furchtbares Leben - aber sie lebte wenigstens noch. Die Insel gehörte ihr. Irgendwann während der vierzig vergangenen Jahreszeiten hatte sich der innige Wunsch, dem verfluchten Land zu entkommen, in das Bedürfnis gewandelt, es vor Invasionen zu schützen. Anfangs nannte sie es >Malzras Krankheit< - die Furcht vor Eindringlingen und Feinden. Jetzt stand sie über so leichtsinnigen Wortspielen. Sie war die Herrin der Insel, ihr Schutzgeist. Sie war die Geisterfrau der Westküste, die für alle Zeiten nach Schiffen Ausschau hielt, für alle Zeiten Pfeile anfertigte, wie Kerrick es sie 117
gelehrt hatte, und für alle Zeiten Pläne und Mechanismen anfertigte, um das Land zu verteidigen. Und heute näherte sich ein weißes Schiff mit unmißverständlicher Absicht der Insel und hielt auf die Bucht im Osten zu. Jhoira hatte ihren Traum, einst einen Seelenverwandten auf einem Schiff zu entdekken, nicht vergessen. Das waren Phantasien eines Kindes gewesen. Liebe würde, konnte und mußte zur Torheit werden. Jhoira beobachtete das Schiff noch eine Weile, ehe sie sich in ihre Höhle begab, um einen Bogen und den Köcher mit Pfeilen zu holen. Sie ging der Bucht und dem Kai entgegen. Da die ganze Länge der Insel zwischen ihr und dem Kai lag und sich ungefähr hundert Zeitströme ihren Weg über das Land bahnten, würde sie die Küste nicht vor den Fremden erreichen. Das war nicht schlimm. Die natürliche Verteidigung der Insel war mächtig genug. * * * Barrin atmete den salzigen Geruch der Ostbucht ein und dachte an Dünengras und Palmen. Kein Hauch von Tod und Verwesung lag in der Luft. Vielleicht heilte die Zeit alle Wunden. Vielleicht hatte Tolaria seinen Vernichter vergessen oder ihm sogar vergeben. Barrin sah zu Urza hinüber, der am Steuer der NeuTolaria stand. Sie war zu seinem schwimmenden Arbeitszimmer geworden, außerhalb der Reichweite sämtlicher Regierungen und Staaten. Von der Stunde an, in der das überholte und neu ausgerüstete Schiff aus dem Trockendock glitt, war Urza sein unbestrittener Herrscher geworden. Kapitän Malzra nannten ihn die Studenten, und er erwies sich als guter Steuermann. Irgendwann während seiner dreieinhalbtausend Jahre hatte der Mann das Segeln erlernt. Außerdem besaß er ebensoviel Geschick, die Studenten im 118
Seemannshandwerk zu unterrichten wie in Wissenschaft und Magie. Hauptsächlich unterrichtete er, indem er demonstrierte und inspirierte. Die jungen Leute mußten nur zusehen, wie der Meister die Hauptsegel raffte oder die Webeleinen einholte, und schon wollten sie es unbedingt selbst genauso schnell und gut wie er tun. Natürlich leistet auch der älteste Weltenwanderer Großes an Kraft, Geschicklichkeit und Schnelligkeit, wenn er einen unsterblichen Körper aus purer Energie besitzt. Als die Neu-Tolaria die Klippen am Eingang zur Ostbucht umrundete, stand Urza am Ruder, und seine junge Mannschaft ging ihrer Pflicht mit solcher Ruhe und Anmut nach, daß ihnen genügend Zeit blieb, die Insel zu betrachten. Auch Barrin musterte seine ehemalige Heimat ausgiebig. Der Ostkai war größtenteils unversehrt geblieben, auch wenn die Pfähle halb verfault waren und Dornenranken zwischen den Planken wuchsen. Zwei Schiffe der früheren Flotte Tolarias lagen am Kai. Die Decks und Masten wiesen Brandspuren auf, und beide Rümpfe waren so mit Muscheln bedeckt, daß sie wie aus Stein gemeißelt aussahen. Sie wiegten sich in ihren selbst geschaffenen Betten und erbebten unter jeder Welle. Am anderen Ende der Bucht bestand ein Teil der Meeresoberfläche aus dunklem, brodelndem Wasser. Ein Zeitstrom, dachte Barrin. Nachdem Urza von einer seiner Weltenwanderungen zurückgekehrt war, hatte er von diesen Phänomenen berichtet. Lange hatte er über die physikalischen Zusammenhänge gesprochen, vermochte aber keine der wichtigen Fragen zu beantworten. Was geschah mit sterblichen Wesen aus Fleisch und Blut, wenn sie hineingerieten? Urzas einzige Antwort darauf lautete: »Das werden wir sehen, wenn sterbliches Fleisch hineingerät.« Barrin hatte 119
dafür gesorgt, daß die Studenten Zeitströme erkannten, und warnte sie vor möglichen Gefahren. Er hatte sogar Modelle gebaut und magische Simulationen ermöglicht, um die Abenteurer gut vorzubereiten, aber mehr konnte er nicht tun. Die Experimente mit sterblichem Fleisch standen ihnen noch bevor. Urza hielt sich von dem Zeitstrom fern und steuerte die Neu-Tolaria zur Anlegestelle. Er rief Befehle, und ein Segel nach dem anderen wurde eingeholt. Das Schiff drehte bei und schob schäumende Wellen vor sich her. Endlich kam es zur Ruhe. Urza beugte sich gespannt vor, und die Studenten drängten sich an der Steuerbordreling, da jeder der erste sein wollte, der an Land sprang und die Taue befestigte. Zwei junge Frauen besaßen den meisten Mut und die größte Kraft, einen waghalsigen Sprung zu unternehmen. Kurz darauf folgten ihnen drei junge Burschen. Lachend warfen ihnen ihre Gefährten die dicken Taue zu, die sie geschickt an den Pfählen befestigten. Noch einmal glitt das mächtige Schiff ein Stück voran, ehe es endgültig still lag. Immer mehr Studenten sprangen auf den Kai und nahmen den Landungssteg entgegen, den man von Bord herabließ. Fünf Fähnriche, die jeweils eine Gruppe Kundschafter anführten, gingen in ordentlicher Formation an Land. Die Fähnriche waren die ältesten Studenten - Mitte zwanzig -, die einst an der alten Akademie von Tolaria gelebt hatten, und die Kundschafter waren junge Leute zwischen siebzehn und neunzehn Jahren, die sich freiwillig für die gefährliche Expedition gemeldet hatten. Sie schritten selbstsicher wie Eroberer von dannen. Die weißen Gewänder der alten Akademie waren durch grobe Umhänge und Hemdblusen ersetzt worden. Dazu gehörten Hosen aus Leder, Wickelgamaschen und eisenbeschlagene Schuhe. Schnell verließen die jungen Leute den Kai und versammelten sich um ihre Anführer, um 120
Anweisungen entgegenzunehmen. Dann gingen sie in verschiedene Richtungen davon, um die Insel zu erkunden. Barrin beobachtete sie mit besorgter Miene. Wenn es Urzas Insel war und er sich dort so sicher fühlte, warum schickte er dann Kinder aus, um sie zu erkunden? Der Druck von Urzas Hand, die sich auf seinen Rücken legte, verstärkte seine Besorgnis noch. »Wir sind wieder daheim«, sagte Urza zufrieden. »Wir stehen vor der Tür und klopfen an«, widersprach Barrin. »Noch sind wir nicht drinnen.« Urza musterte seinen langjährigen Freund und Gehilfen. »Ihr habt mich so oft aufgefordert, meine Fehler einzugestehen und sie wiedergutzumachen, wie könnt Ihr mich da heute kritisieren?« »Es sind noch Kinder, Urza ...«, begann Barrin. »Sie sind erwachsen. Sie wurden bestens vorbereitet. Sie wissen, was sie zu erwarten haben. Sie wissen, was sie riskieren.« »Es sind Kinder. Keine Erwachsenen, keine Probanden, keine Maschinen«, erklärte Barrin mit fester Stimme. »Sollte etwas passieren, so stehe ich mit ihnen in Verbindung und kann sie in wenigen Sekunden erreichen.« Urza hielt inne und schien einer Stimme zu lauschen, die aus dem blauen Himmel zu ihm sprach. »Tatsächlich, die erste Gruppe ruft nach uns! Sie sind auf einen Zeitstrom gestoßen.« Er ergriff Barrins Hand und sagte schlicht: »Wir gehen.« Barrin fühlte, wie sich die Welt von ihm und Urza zurückzog. Sie wanderten durch die Zwischenwelten. Da die Verwandlung der Sterblichen in Steine ungeahnte Schwierigkeiten nach sich gezogen hatte (vier von ihnen hatten auf der Reise Risse erlitten und bluteten heftig, als er sie wieder in Fleisch verwandelte), hatte er geeignetere Zauber entwickelt, um Menschen während einer Weltenwanderung am Leben zu erhal121
ten. Der Zauber verwandelte Barrin von einem dreidimensionalen Wesen in ein zweidimensionales. In dieser Form war er vor den Gefahren des Vakuums, vulkanischer Hitze und Eiseskälte geschützt. Seine Lunge konnte nicht explodieren, da sie nur noch ein dünnes Blatt Pergament war. Urza blieb an seiner Seite und zog ihn dorthin, wo sich die Welt erneut öffnete. Urplötzlich standen die beiden Gelehrten auf einem Stück Sandboden. Dahinter fiel das Land ab und wurde zu einer weiten Grasebene. Dort standen drei Studenten und starrten entgeistert in eine tiefe Schlucht. Die Luft in dieser Schlucht sah staubig und abgestanden aus. Winzige Staubkörner tanzten der Sonne entgegen. Jenseits des Abgrundes stand ein Wald mit uralten, hohen Bäumen, unter denen kümmerliche Pflanzen mit violetten Blüten wuchsen. Kleine weiße Felsen bedeckten den Boden der Schlucht. Am Rande des Abgrundes hockte die Gruppenführerin, eine kräftig gebaute Frau mit lockigen blonden Haaren. Neben ihr kauerte ein junger Mann mit langem schwarzem Haar. Sie unterhielten sich im Flüsterton und deuteten in die Tiefe, aus der ein Laut drang, der sich wie das Atmen eines Riesen anhörte. »Laßt uns sehen, was sie entdeckt haben«, sagte Urza. Er ließ Barrins Hand los und ging den Hügel hinab. Bei jedem Schritt stieg eine Staubwolke auf und erweckte den Anschein, als schwebe er über dem Boden. Das würde ihm besser gefallen, dachte Barrin und folgte Urza. Die beiden gingen an den drei Studenten vorbei, die erschreckt zusammenzuckten, sogleich verstummten und ihre Lehrmeister stumm beobachteten. Urza und Barrin gingen bis zum Rande der Schlucht, wo die übrigen Mitglieder der Gruppe hockten. »Du hast mich gerufen?« sagte Urza. Die Frau erhob sich und stand stramm. »Jawohl, Kapitän!« 122
»Was hast du entdeckt, Fähnrich Dreva?« »Einen Zeitstrom, Kapitän, wie Ihr und Meister Barrin vorhergesehen habt.« Drevas Augen waren ungewöhnlich weit aufgerissen, und sie starrte ins Leere. »Einen Schnellzeitstrom, würde ich auf Grund der Dunkelheit und des Fehlens von Wasser sagen. Wir haben ein paar Experimente durchgeführt. Soll ich sie wiederholen? Rehad!« Sie sah den jungen Mann an und gab ihm einen Wink. Er reichte ihr einen langen Ast voll grüner Blätter, der aus dem Wald stammen mußte. Trotz des förmlichen Benehmens war die Zuneigung zwischen Fähnrich und Student deutlich, denn bei der Übergabe des Astes trafen sich ihre Hände und verweilten sekundenlang in zärtlicher Berührung. Fähnrich Dreva wandte sich wieder dem Kapitän zu. »Behaltet die Blätter im Auge.« Sie hob den Ast und schwang ihn langsam über der Schlucht. Etwas Unsichtbares schien sich des herabhängenden Endes zu bemächtigen und brachte die junge Frau ins Schwanken, so daß sie ihre Füße in den Boden stemmen mußte, damit ihr der Ast nicht aus der Hand gerissen wurde. Die Blätter verfärbten sich braun, trockneten aus und rollten sich zusammen. Sekunden später fielen sie ab, landeten auf dem Boden der Schlucht und zerfielen zu Staub. In der Zwischenzeit verbogen sich die kahlen Zweige, die Rinde schälte sich ab und das Holz wurde trocken und rissig, bis der ganze Ast wie die dürre Klaue einer Waldhexe aussah. Dreva zog den Arm zurück und warf den Ast auf den Boden, wo bereits zwei ähnlich zugerichtete Zweige lagen. Urzas ungewohntes Lächeln bewies seine Freude über die Entdeckung. »Erstklassige Arbeit! Ein ausgesprochen intelligenter Gedanke, einen lebenden Ast zur Erprobung des Zeitstroms anzuwenden.« Dreva errötete. »Vielen Dank, Kapitän Malzra.« 123
»Es gab Zweifel, ob ihr euch für diese Aufgabe eignen würdet...« - Urza warf Barrin ein verschwörerisches Lächeln zu - »... aber ich hegte keinerlei Zweifel.« »Nochmals vielen Dank, Kapitän«, antwortete Dreva. »Ich schlage vor, wir erkunden die Grenzen des Zeitstroms und stellen Warnzeichen auf. Höchstwahrscheinlich rief das Erdbeben, das die Schlucht hervorbrachte, auch den Zeitstrom hervor. Es ist nicht anzunehmen, daß sich die Grenze dieses Stromes mit der eines anderen überschneidet.« »Gut erkannt, Fähnrich. Weitermachen. Berichte mir, wenn ihr etwas Besonderes entdeckt.« Er machte kehrt und bedeutete Barrin, sich mit ihm auf die Kuppe eines Hügels zurückzuziehen, während der Fähnrich Rehad und die übrigen Studenten in den Wald schickte, um noch mehr Äste zu suchen. »Offenbar schlagen sie sich recht tapfer, diese Kinder, von denen Ihr spracht.« Barrin starrte auf das Gras zu seinen Füßen. »Die Gefahren, die hier lauern, sind mein und Euer Werk, nicht ihres.« »Wenn sie hier mit uns leben, studieren und bauen wollen, müssen sie auch mit den Übeln der Vergangenheit zurechtkommen«, antwortete Urza. »Es obliegt jeder neuen Generation, zu begreifen, was früher geschah, auch wenn es nur dazu dient, sie überlegen zu lassen, was sie behalten und was sie fortwerfen wollen.« Das philosophische Gespräch wurde durch einen Warnruf unterbrochen. Barrin und Urza drehten sich um. Fähnrich Dreva stand am Rand des Waldes, hielt etwas gepackt und winkte ihren Gefährten, zu ihr zu eilen. Die Studenten ließen die Äste fallen, die sie gefunden hatten und rannten zu ihr. Auch Urza und Barrin liefen los. Dreva zerrte mit aller Kraft an einem Ast. Zwei 124
junge Männer und ein Mädchen hatten sie erreicht und halfen ihr. Befehle schallten durch die Luft, und stöhnend vor Anstrengung zogen die jungen Leute, so fest sie konnten. Barrin rannte weiter und fragte sich, warum es so wichtig war, einen Ast abzureißen. Dann sah er es. Sie zogen nicht an einem Ast, sondern an Rehad, der am Waldrand stand. Eine Hand ruhte auf einem dikken Baumstamm, genau neben dem Ast, den er hatte abtrennen wollen. Er saß in einem Trägzeitstrom gefangen, den zweiten Arm nach außen gestreckt, und seine Gefährten bemühten sich, ihn zu befreien. »Wartet!« brüllte Barrin. Er bemühte sich um einen Zauberspruch, aber es war zu spät. Rehads Arm, blutleer durch den Unterschied zwischen der Zeit und seinem Herzschlag, vermochte der Kraft der ziehenden Freunde nicht standzuhalten. Er löste sich vom Körper. Die Muskeln gaben nach und zerrissen. Blut tropfte aus der verletzten Schulter. Fähnrich Dreva und die Studenten fielen hintenüber, den abgerissenen Arm umklammernd. Barrin und Urza blieben genau vor dem Zeitstrom stehen. Langsam verzog sich Rehads Gesicht, als der erste Schock quälendem Schmerz Platz machte. Urza hob die Hand und preßte sie gegen die Wand aus Trägzeit. Seine Finger zitterten, als sie in der heißen, trockenen Luft versanken. Wäre er aus Fleisch und Blut gewesen, wäre es ihm ebenso ergangen wie Rehad, aber der Meister besaß einen Körper aus reiner Energie. Dennoch machte ihm der Zeitunterschied zu schaffen und sandte knisternde Funken über seinen Arm. Mit großer Mühe gelang es ihm, die Hand weiter auszustrekken und nach der blutenden Schulter des Mannes zu greifen. Schreiend und mit weit aufgerissenen Augen wich Rehad instinktiv vor Urzas Hand zurück, aber der 125
Meister hatte damit gerechnet. Er packte die blutende Schulter und drückte sie mit aller Macht zusammen, um den Blutstrom aufzuhalten. Dann zog er den jungen Mann langsam und zielstrebig auf sich zu. Dreva und ihre Gefährten waren aufgestanden. Der abgerissene Arm lag zwischen ihnen auf dem Boden. Rehads Blut hatte sich über ihre Hosen und Umhänge ergossen. Zwei der jungen Leute weinten, der Dritte starrte entsetzt auf seine Freunde. Dreva selbst biß die Zähne zusammen. Ihr Gesicht war kreidebleich. Immer wieder schüttelte sie bedauernd den Kopf. Barrin wollte sie trösten. Sie wich aus, ergriff den Arm und eilte zu Urza. »Macht ihn wieder gesund, Meister. Gebt ihm den Arm zurück!« flehte sie und hielt ihm die blutleere Hülle entgegen. Mit knirschenden Zähnen schob Urza sie beiseite. Er drehte Rehad vorsichtig um die eigene Achse, damit sich Gehirn und Herzschlag im Gleichklang befanden und er der Falle so sanft wie möglich entkam. Dreva taumelte rückwärts. Sie starrte auf den leblosen Arm hinab und küßte den Handrücken. Sie flüsterte: »Oh, Rehad, verzeih mir.« Dann legte sie ihn auf den Boden und rannte wie ein aufgescheuchtes Reh davon. »Fähnrich Dreva!« brüllte Barrin, der sah, wohin sie lief. »Komm zurück!« Sie hörte nicht zu und stürmte über den Rand der Schlucht. Mit lautem Platschen fiel sie in den Zeitstrom. Energiewellen ließen die Luft erbeben. Zeitwellen hoben sich zum Himmel und sanken wieder in die Tiefe hinab. In ihrer Mitte verging Drevas Körper. Das Fleisch wurde faltig und trocknete aus. Sehnen hingen herab, Knochen kamen zum Vorschein. Dann rissen die Zeitwellen sie in die Tiefe, und sie entschwand den Blicken der entsetzten Zuschauer. Barrin lief den grasbewachsenen Abhang hinunter, 126
bis zum Rand der Schlucht, Dort blieb er keuchend und schwankend stehen. Sie war längst tot. Ihre trockene Haut wimmelte von Ungeziefer. Barrin wurde übel, und er wandte sich ab. Als er seinen Magen wieder im Griff hatte, war nichts mehr von Fähnrich Dreva übrig außer ein paar Tuchfetzen, Lederstücken und einem ausgebleichten Skelett. * * * Abends saßen sie an Bord der Neu-Tolaria. Urza hatte ein Festmahl geplant, um die Rückkehr zur Insel zu feiern. Platten mit gepökeltem Schweinefleisch standen neben riesigen Brotlaiben und Schüsseln mit frischen Orangen. Die Stimmung war alles andere als festlich. Der ganze Tag hatte sich als Katastrophe erwiesen. Rehad lag unter Deck. Man hatte ihn verbunden und mit Schlafmitteln versorgt. Das Einpflanzen des abgerissenen Armes überstieg die Künste der besten Heiler des Schiffs und sogar die Macht von Urza, dem Weltenwanderer. Jetzt lag der Arm in einer Holzkiste in einer Trägzeitzone, begleitet von der vagen Hoffnung, irgendwann in der Zukunft wieder an Rehads Körper angefügt werden zu können. Rehads Geliebte dagegen ruhte in einer Schnellzeitzone, und ihr Skelett war sicherlich schon zu Staub zerfallen. Die beiden waren jedoch nicht die einzigen Opfer. Jede Gruppe hatte mindestens ein Mitglied verloren; eine Gruppe war vollständig vernichtet worden. Urza hatte zwei weitere Studenten gerettet, und Karn half auch mit, eine junge Frau aus einem Zeitstrom zu befreien. Die einzigen nicht organischen Besatzungsmitglieder - Urza und Karn - hatten sich als widerstandsfähig erwiesen, obwohl auch ihnen der Zeitunterschied zu schaffen machte. 127
Sie verzehrten das Mahl nicht in der alten Akademie, wie Urza es sich vorgestellt hatte, sondern an Deck des Schiffs. Es verlief beinahe schweigend. Die Wellen schlugen gegen den Bug, und außerhalb des Lichtscheins der Laternen lag die Insel drohend in der Finsternis. Aus der Dunkelheit kam eine Frau. Sie war sonnengebräunt und hatte einen durchdringenden, geheimnisvollen Blick. Ein schlichtes Band hielt ihre dunklen Haare am Hinterkopf zusammen. Sie trug königliche, aber abgetragene Gewänder und sah aus, als habe die Insel Gestalt angenommen: fremdartig, feindlich und abweisend. Sie schritt das Fallreep empor an Deck, an den verblüfften Wachen vorbei. Urza stand auf. Barrin erhob sich, mit vor Staunen geöffnetem Mund. Es war Karn, der Silbermann, der als erster ihren Namen sagte, mit einer Stimme, die wie ein rauschender Wasserfall klang: »Jhoira!« »Meister Barrin, Meister Malzra«, sagte die Frau zur Begrüßung, und es klang gleichzeitig bewundernd und feindselig. »Ich hätte nie geglaubt, daß Ihr zurückkehrt. Ich wünschte, es wäre nicht geschehen. Und nach dem heutigen Tag wünscht Ihr das sicher auch.«
128
Monolog
Ich war überglücklich, Jhoira zu sehen. Ihr Tod hatte mich über alle Maßen belastet. Mich und Karn. Sie war natürlich stark verändert, hatte kräftige Muskeln und einen eisigen Blick. Sie kann sich nicht mehr freuen oder vergeben. Sie ist nicht länger eine Studentin der Akademie, sondern eine Eingeborene der Insel. Als Beschützerin der Insel sprach Jhoira heftig zu deren Verteidigung. Vor Urzas neuen Studenten breitete sie alle seine Sünden aus, die sich wie Disteln auf der ganzen Insel breitmachten und jetzt zu mörderischen Urwäldern geworden sind. Öffentlich rügte sie ihn für seine Zeitmaschine. Das Experiment, das zur Explosion führte, hat den Zeitverlauf auf der Insel zerstört und in ein heilloses Chaos gestürzt. Sie sprach von anderen Überlebenden, die einer nach dem anderen starben und sie allein zurückließen. Noch eindringlicher berichtete sie von ihrem täglichen Leben. Schnellzeitwälder waren gestorben und verrottet, hatten neuen Pflanzen und Tieren Raum gemacht. Eine Steppe mit Raubtieren und ihren Beutetieren war entstanden. Trägzeitwälder waren zu feuchten Sümpfen geworden, heiß und dampfend - sie boten tausenden Kreaturen Unterschlupf, die früher hier nicht hätten leben können. Die ganze Zeit über spürte ich, wie sehr sie sich verändert hat. »Meister Malzra«, erklärte sie am Ende ihres Vortrags, »wir alle sind Kinder Eures Zorns; Waisen, die in Eurer Abwesenheit erwachsen wurden und Euch nicht länger verpflichtet sind oder gehören. Die meisten von uns hassen Euch, Meister Malzra.« 129
Er hörte ihr aufmerksam zu. Das muß ich ihm zugestehen. In die unglückselige Stille, die danach entstand, sprach er. Und was er sagte, erfüllte mich mit Bewunderung. »Ich verstehe. Aber ich wollte zurückkehren und möchte nicht gegen euch, meine Kinder des Zorns, kämpfen. Ich wünsche eine Versöhnung. Es wird ein dorniger Weg sein, von den Disteln bewachsen, die ich selbst pflanzte. Aber ich werde hierbleiben.« »Ihr braucht einen Ratgeber«, warf ich ein. »Eine Führerin. Jhoira, mir fällt niemand ein, der besser dazu geeignet wäre als du. Hilf Meister Malzra, die Fehler der Vergangenheit zu begreifen und sie in Zukunft zu vermeiden.« Einen schrecklichen Augenblick herrschte Stille, aber dann zerbrach etwas in ihr. Der Schild der Verteidigung bekam Risse, und darunter sah ich die einsame Frau, die sich vor anderen fürchtete und sie gleichzeitig herbeisehnte. »Ich mache es nur, weil jeder einzelne von euch sterben würde, wenn ich mich weigere.« Ich versuchte, demütig und beschämt dreinzusehen, aber ich war überglücklich. Auch Urza freute sich. Die verängstigten Studenten und Lehrmeister waren verblüfft und erleichtert. Irgend jemand, und wenn es diese furchterregende wilde Frau war, mußte sie durch die Schrecken Alt-Tolarias geleiten. Barrin, Magiemeister von Tolaria
130
Als die Mannschaft am nächsten Morgen erwachte, befand sich Jhoira bereits an Deck. Sie und Karn tauschten Geschichten aus. Obwohl sie sich in Gesellschaft anderer Menschen grimmig und abweisend verhielt, lachte und scherzte sie mit dem Golem. Die beiden waren ein beeindruckendes Paar - die wilde Frau und der Silbermann. Ihre Haut war glatt und braun wie die Steine rings um die Bucht, und seine glänzte so spiegelnd hell wie das Meer, das sie überquert hatten. Karn erzählte ihr von allen Studenten und Gelehrten, die er gerettet hatte, wie er Tag und Nacht nach ihr suchte und dem Flüchtlingsschiff erst in See zu stechen erlaubte, als der Glimmermond im Meer versank. Jhoira erzählte ihm ihre Geschichten von Rettungen und Verlusten. Das alles geschah ohne die langen und bedrückenden Minuten des Schweigens des Vorabends, als hätten sich die beiden Freunde nie getrennt. Sie wanderten am Strand entlang, schwelgten in Erinnerungen und ließen Steine über die Wellen hüpfen, bis die Mannschaft an Deck versammelt war und sie der Geruch von frisch aufgegossenem Tee zurückzog. Jhoira trank in gierigen Zügen und verbrannte sich die Oberlippe an der kochendheißen Flüssigkeit. Sie lächelte Karn an und sagte: Es hat auch Nachteile, als >wilde Frau< zu leben, und dazu gehört auch, keinen richtigen Tee aus einer Porzellantasse trinken zu können.« Die Mannschaft tischte ein zweites Festmahl auf, denn alle, die an Land gingen, mußten solange ohne 131
Essen auskommen, bis sie ihr Lager in der Mitte der Insel aufgeschlagen hatten. Da es sich um fünfzig Personen handelte, sagte Jhoira voraus, daß sie den ganzen Tag brauchen würden, um die schlimmsten Zeitströme zu umgehen und die harmlosesten zu durchqueren. Jhoiras Stimme klang traurig, als sie ihren Zuhörern die Zeitverzerrungen der Insel beschrieb. An der Stelle, an der die Zeitmaschine gestanden hatte, war der gesamte natürliche Zeitverlauf vernichtet worden, und es war ein riesiger Krater entstanden. Am Rande dieses Trägzeitbereiches lagen konzentrierte Zeitrillen, eng zusammengedrückte Schnellzeitzonen. Die Mitte des Kraters war unerreichbar bis auf ein paar Wege, die sich wie Speichen eines Rades zum Rand zogen. Manche dieser Wege waren Trägzeitzonen, andere dagegen erlaubten einen vorsichtigen Abstieg ins Kraterinnere. Wieder andere überschnitten sich mit den Schnellzeitrillen, so daß sich Brücken mit normalem Zeitverlauf ergaben. Jenseits der Schnellzeitrillen lagen unterschiedlich große Gebiete extremer Veränderungen, viele Quadratmeilen unerreichbaren Landes, ganze Zeitplateaus und tiefe Schluchten. In diesen Zonen hatten sich neue Lebensformen und Kulturen entwickelt. Jhoira, die außer einem langen Wanderstab und der Kleidung, die sie am Leibe trug, nichts bei sich hatte, führte die lange Reihe der Gelehrten und Studenten, die alle schwerbepackt waren, die steilen, gewundenen Waldwege zwischen Zeitschluchten und Plateaus hinauf. Urza ging dicht hinter ihr. Er trug eine große, mit kunstvollen Messingbeschlägen und Elfenbeinintarsien verzierte Holzkiste. Sie sah überaus schwer aus, aber er schritt mit Leichtigkeit dahin und stellte seine Fragen voller Gelassenheit, während die anderen nur keuchend vorankamen. Vielleicht hatte er einen Zau132
ber gewirkt, der seine Füße über den Boden schweben ließ. Vielleicht ließ er sich auch von fast unsichtbaren winzigen Maschinen tragen. Als nächster kam Barrin, der das zusammengefaltete Zelt trug, in dem er und Urza schlafen würden. Außerdem schleppte er ein paar klappernde Kochtöpfe und verschiedene schwankende Pakete mit sich herum. Ihm folgte Karn, der die Last von zehn Männern auf dem Buckel hatte. Inmitten der Studenten stapften einige Roboter einher, die ebenfalls schwer bepackt waren. Der Rest der Gruppe bestand aus älteren Gelehrten und sehr jungen Schülern, die der Zukunft gleichzeitig furchtsam und neugierig entgegensahen. »Karn, komm her! Ich möchte, daß du dir etwas ansiehst!« rief Jhoira. Sie deutete auf einen ausgedehnten, finster und verlassen wirkenden Sumpf, in dem geisterhaft graue Baumstümpfe trieben. Das Wasser war schwarz und scheinbar unergründlich tief. Insekten hingen in dichten Trauben beinahe reglos über der dunklen Oberfläche. Manche waren dem Tode nahe, denn die hervorstehenden Augen und aufgerissenen Mäuler einiger Fische tauchten aus den Wellen auf. »Ich nenne es Schieferwasser. An dieser Stelle erlosch das Feuer der Explosion erst vor sieben Jahren, nach furchtbaren Regenfällen. Vorher stand hier eine riesige Rauchsäule. Nach meinen Berechnungen sind durch einen Zeitstrom im Schieferwasser erst zehn Tage seit der Explosion vergangen. Wenn du hineintrittst, brauchst du eine Zeitmaschine, um wieder herauszugelangen.« Karn starrte in den Sumpf hinein. Das dunkle Wasser spiegelte sich auf seinem Körper. »Meine Zeitreisen gehören der Vergangenheit an. Meister Malzra beschäftigt sich jetzt mit anderen Dingen. Im Augenblick werde ich nicht gebraucht.« Er hörte sich sowohl erleichtert als auch enttäuscht an. 133
Jhoira musterte den alten Freund. Schwere Lasten ruhten auf seinen breiten Schultern. »Keine Bange, alter Freund. Ich brauche dich!« Sie tätschelte seinen Arm und drehte sich um. »Jetzt schau dir die andere Seite des Weges an. Dort liegt ein Zeitplateau. Ich nenne es Bienenkorb, weil die Bewohner in gewölbten Lehmhütten hausen.« Sie zeigte auf ein Gebiet, das auf ewig im Zwielicht lag, denn das ganze Land ruhte unter einer Dunstglocke. Vereinzelte Wälder aus kleinen, schmächtigen Bäumen zogen sich die Hügel hinauf. Eine graugrüne, gespenstische Waldlandschaft mit windzerzausten Blättern und schnell wachsenden Ästen. Hier und dort, auf den freien Flächen zwischen den unheimlichen Waldgebieten, nahmen gewölbte Hütten Gestalt an und wurden in Windeseile zu ganzen Dörfern, die durch schmale Fußwege miteinander verbunden waren. Die Bewohner bewegten sich unsichtbar vor Geschwindigkeit. So schnell eine Siedlung entstand, so schnell verschwand sie auch wieder, kurzlebig wie eine Luftblase auf kochendem Wasser. »Fünf Generationen werden geboren und sterben innerhalb eines Jahres unserer Zeitrechnung«, erklärte Jhoira Urza, der ebenfalls stehengeblieben war und zuhörte. Barrin, der sich jetzt keuchend zu ihnen gesellte, fragte: »Fünf Generation von was? Es gab keine Eingeborenen auf der Insel.« Jhoiras Augen wichen nicht von Urzas Gesicht. »Ich gehe davon aus, daß es sich um Studenten der Akademie handelt, die in einem Schnellzeitstrom gefangen wurden und ihm ebensowenig entfliehen konnten, wie wir unfähig sind, ihn zu betreten. Sie haben sich fünfzig Generationen von Eurer Akademie entfernt. Seit damals haben sie tausend Jahre eigener Geschichte hinter sich gebracht.« Barrin mußte die Mitteilung geraume Zeit verdauen. 134
Schließlich sagte er: »Sie sehen uns, nicht wahr? Die Stunde, die wir brauchen, um an ihrem Gebiet vorbeizumarschieren, dauert in ihrer Zeit vier Tage. Wir müssen wie Statuen auf sie wirken.« »Ja. Unerreichbare, unerklärliche, fast reglose Statuen«, bestätigte Jhoira. »Sie hören uns auch, aber unsere Laute sind tief, langgezogen und bedeutungslos, wie das Singen der Wale. Gespenstisch und fremdartig. Sie sind wie eine andere Rasse. Bald werden sie eine andere Lebensform sein.« Sie wanderte weiter, und ihre Gefährten folgten ihr. »Auf einem anderen Plateau zeige ich euch etwas noch Schlimmeres, aber zuerst führe ich euch zum Paradies.« Die Studenten und Gelehrten wechselten verwunderte Blicke und beeilten sich, trotz ihres schweren Gepäcks mit Jhoira Schritt zu halten, die sie einen steilen Hügel hinaufführte. Zu ihrer Linken lagen hohe Zypressenwälder, von dichten Ranken umschlungen, zu ihrer Rechten erblickten sie graues, durch einen Erdrutsch verunstaltetes Land. Geraume Zeit sahen sie nichts als Schlamm, der sich in der Ferne zwischen schemenhaften Bäumen verlor. Endlich erreichten sie das Hochland mit seinen grünen Hügeln und dichten Wäldern. Die einheimische Flora Tolarias erstreckte sich über sonnenbeschienene Anhöhen. Auf dicken Baumstämmen thronten ausladende, üppige Kronen. Armdicke Ranken wanden sich um jeden Stamm. Das dichte Grün der Blätter bildete ein hohes, gewölbtes Dach über ihren Köpfen. »Hier seht ihr eine milde Trägzeitzone, in der Sonnenschein und Regenwasser ein wenig verstärkt wirken, in der es Pflanzen und Lebewesen im Überfluß gibt und in der die Hitze der Sonne durch die Kühle des Waldes gemildert wird. Die Hügel sorgen dafür, daß es nicht zu Überschwemmungen kommt, und die Seen, in denen sich das Wasser sammelt, sind klar und kühl. Ein Paradies. Ich nenne es Engelswald - nach 135
den Glühwürmchen, die hier bei Nacht ihr Licht entzünden. Wann immer ich es auf meiner einsamen Klippe nicht mehr aushalte, komme ich hierher, um zu schwimmen, zu klettern und frei zu atmen. Das Beste ist wahrscheinlich das freie Atmen.« Die Anwesenden musterten den Ort mit gierigen Blicken. Ihre schweißbedeckten Gesichter entspannten sich merklich. Zwischen den Baumriesen flogen große bunte Vögel verträumt durch Vorhänge aus Licht und Schatten. Wasser plätscherte über eine steinige Böschung und mündete in einen seichten Bach. Nachdem es sich seinen Weg zwischen den Wurzeln der Bäume hindurch gebahnt hatte, floß es in einen tiefen Teich, um an dessen anderem Ende erneut als kleiner Wasserfall in den nächsten Strom zu münden. Immer wieder sah man die silbrigen Leiber zahlreicher Fische aufblitzen. »Warum hast du dich nicht hier niedergelassen?« erkundigte sich ein Student und schob sich das braune Haar aus der Stirn. »Hier gibt es viel Wild, die Nächte sind warm, das Wasser klar, und du würdest länger leben als überall sonst.« Jhoira sah grimmig drein. »Man kann nicht im Paradies leben.« Sie ging weiter. Die anderen verweilten noch ein wenig; einige tranken aus mitgebrachten Flaschen, aber die meisten standen einfach nur da und starrten. Ein Student zeichnete eine grobe Landkarte, da er hierher zurückkehren wollte, sobald es seine Zeit erlaubte. Jhoira führte sie auf ein weites Plateau, dessen Granitboden wie abgeschliffen aussah. Abgesehen von den Bergen im Osten war dies der höchste Punkt der Insel. Überall lagen umgestürzte Baumriesen umher, die durch die Explosion entwurzelt worden waren. An einigen Stellen reckten junge Bäumchen zaghaft die Äste empor - ein neuer Wald entstand inmitten der Zerstörung. Vom Rand des Plateaus sah man die Berg136
gipfel im Osten und sogar die Klippen im Westen, die Jhoiras Höhle beherbergten. Dort oben rasteten die fünfzig Menschen, schöpften frischen Atem und schüttelten die verkrampften Beine aus. Der heimelige Anblick des Engelswaldes machte dem überwältigenden Panorama Platz. Im Osten wogte das silbrig glänzende Meer unter der weißleuchtenden Sonne. Die Neu-Tolaria lag wie ein winziges Spielzeugschiff, dessen Besatzung die Mußestunden an Deck genoß, auf den Wellen. Die Küste sah wie ein hellbraunes, gewundenes Seidenband aus. Das Landesinnere mit Wiesen, Sümpfen und Wäldern bildete ein buntes Muster aus Grün und Grau, Licht und Schatten. Fruchtbares Land. Ganz anders die Westseite der Insel. Die ferne Küste bestand aus zahlreichen hellroten Felsen, die Jhoiras Höhle bargen. Die Ruinen der alten Akademie lagen nicht so weit vom Riesenplateau entfernt. Sie wirkten grau und leer. Die einstmals logische Anordnung von Mauern und Gängen war noch aus den Grundfesten ersichtlich, die meisten Gebäude lagen in Trümmern. Hier und dort war ein Teil eines Hauses erhalten geblieben, und auch ein paar unvollständige Türme mit fehlenden Rückwänden standen noch. Obwohl es keinen richtigen Krater bildete, war das Trägzeitfeld der alten Akademie durch den hellen Schein, der über den Ruinen und dem Wasser lag, das sich in Kellern und Höfen angesammelt hatte, deutlich zu erkennen. Unweit des Gebiets befand sich ein völlig anderes Stück Land, eine tiefe und dunkle Schlucht. Sie lag im Schatten des Riesenplateaus, aber der finstere Eindruck wurde vor allem durch die steilen Wände und die schnellen Zeitströme in ihrem Inneren verstärkt. Der Boden der Schlucht war nicht zu erkennen, und die Studenten flüsterten einander zu, das sei der Eingang zur Unterwelt. 137
»Es sieht wie ein Ort aus, an dem sich Geister wohlfühlen«, murmelte ein Knabe. »Wäre ich tot, würde ich mir das als Wohnstätte aussuchen«, antwortete ein anderer. »Es sieht wie eine häßliche Narbe aus«, erklärte ein Dritter ehrfürchtig. »Wie eine ausgesprochen häßliche Narbe, die nicht heilen will und immer tiefer und schmerzhafter wird.« »Ihr seid der Wahrheit näher, als ihr glaubt«, sagte Jhoira. »Die Schlucht ist unglaublich tief, und in ihr herrscht extreme Schnellzeit. Aber es gibt einen Boden, und dort leben Kreaturen.« »Wie die Leute im Bienenkorb?« »Nein. Seht hin. Vielleicht erkennt ihr es nicht, weil der Schatten des Plateaus darüber liegt - manchmal kann man es nicht einmal mittags sehen -, aber sie haben eine Festung gebaut.« Urza runzelte besorgt die Stirn. »Eine Festung?« »Vielleicht auch bloß ein Wohngebäude, aber ich finde, es sieht abweisend und wie eine Festung aus.« »Beschreibe sie uns bitte«, warf Barrin ein. »Hohe Zinnen, Wehrgänge, Zugbrücken zwischen hohen Wachtürmen, Strebepfeiler, wie aus Drachenknochen gearbeitet, Fenster, schwarz und glatt wie Onyx, und schwere Dachziegel aus Ton. Ich habe das Gefühl, sie würden lieber alles aus Stahl herstellen, wenn sie es könnten, aber leider haben sie nur Eisen, und davon auch nicht viel. Es hat viele Stunden eindringlicher Beobachtung erfordert, um das herauszufinden. Ich rate von näheren Untersuchungen ab: Ich sah Harpunen aus der Festung fliegen, die sich in Rehe und Hirsche bohrten und sie in das Gebäude zogen.« Barrin blinzelte verwirrt. »Diese barbarische Kultur soll sich aus Studenten der Akademie entwickelt haben? Unseren Studenten?« »Nein, nein!« widersprach Jhoira. »Erinnert Ihr Euch 138
an den Mann namens Kerrick, den Ihr mit gebrochenem Bein fandet und als phyrexianischen Schläfer enttarntet, den Mann, den ich in die Akademie brachte? Erinnert Ihr Euch, daß er eine Stunde vor der Explosion entkam? Er muß in jenem Schnellzeitstrom gefangen worden sein - er und die phyrexianischen Negatoren, die er nach Tolaria holte.« * * * Durch ein hohes Fenster aus poliertem Obsidian beobachtete K'rrik die Neuankömmlinge. Sie standen auf dem Felsplateau, einem der höchsten Punkte der Insel, das im unmittelbaren Blickfeld von K'rrik und seinen Anhängern lag, die in der Tiefe der Schlucht lebten. Jhoira stand unter ihnen. Anscheinend führte sie die Gruppe an. Während des Jahrhunderts seiner Gefangenschaft hatte sie sich als schlüpfrige Beute erwiesen. Niemals kam sie in Reichweite der Harpunen - wie schade! Er hatte ihr viel heimzuzahlen. Das Schlimmste war der Verrat an Urza, den Weltenwanderer gewesen. Hätte er eine Harpune in ihren Leib bohren und sie über den felsigen Boden der Schlucht zerren können - es wäre eine wundervolle Bezahlung ihrer Schulden gewesen. Wahrscheinlich nannte sie ihn immer noch Kerrick. Sie sah ihn als Jungen mit goldenem Haar vor sich, aber hundert Jahre hatten aus Kerrick K'rrik gemacht, aus dem hübschen phyrexianischen Schläfer einen grauen Krieger. Gäbe es eine Möglichkeit, Jhoira lebendig in die Festung zu bringen und nicht tot wie das Wild und die gemästeten Ziegen, die eine nette Abwechslung des Speisezettels bildeten, hätte K'rrik endlich ihre >Liebe< auf körperliche Weise vollziehen können. Das war eine weitere schreckliche Verfehlung Jhoiras. Trotz seiner Bemühungen hatte sie sich immer geweigert, sich ihm 139
ganz hinzugeben. Es war unerhört, daß gewöhnliche Keuschheit der Macht Phyrexias widerstand. Natürlich, gäbe es die Möglichkeit, sie lebend in die Schlucht zu bringen, hätte er einen Fluchtweg gehabt. Die Hälfte seiner Negatoren - zwölf von vierundzwanzig - waren umgekommen, ehe K'rrik seine vergeblichen Versuche, der Schlucht zu entfliehen, aufgab. Dennoch schickte er von jeder neuen Generation einen von Zehn aus, um weiter zu suchen - ein Tribut an seine nie erlöschende Hoffnung, nach Tolaria und Dominaria zurückzukehren. Die zehn Prozent bedeuteten keinen großen Verlust. Er kommandierte ein mächtiges Volk von zweihundert Phyrexianern. Sie füllten jeden Winkel der Schlucht aus. Ganze Generationen arbeiteten in dem dunklen Wasser, das den Boden des Abgrunds bedeckte. Sie züchteten, pflegten und fingen die verschiedenen Arten der blinden Raubfische, die ihr Hauptnahrungsmittel darstellten. Andere Phyrexianer bohrten sich unentwegt immer tiefer in die Felswände der Schlucht, auf der Suche nach Obsidian und den Basaltsteinen, aus denen die Festung gebaut war. Begrenzte Rohstoffvorkommen waren das einzige, was K'rriks Ideen Einhalt gebot. Hätte er Stahl oder Kraftsteine besessen, hätten seine Artefakt-Kreaturen die Insel schon vor achtzig Jahren überrannt. Das wenige Eisen, das die Arbeiter fanden, war kostbarer als Gold. Es wurde sofort mit phyrexianischem Blut geölt, um das Ansetzen von Rost zu verhindern. Ein Eisenschwert war gleichbedeutend mit der Königswürde. Es machte K'rrik unbesiegbar und garantierte ihm die Macht. Aus diesem Grund waren die Arbeiter, die manchmal auf Eisen stießen, unentbehrlich für seine Regierung. Indem K'rrik die entdeckten Eisensplitter an ausgesuchte Fußsoldaten verteilte, beherrschte er eine Armee, die nur ihm treu ergeben war. Mit drakonischen Maßnahmen sicherten sich die Soldaten die Unterordnung 140
aller anderen. K'rrik herrschte über die Armee und sein Volk, weil er beide geschaffen hatte und von allen Bewohnern der Schlucht der klügste, stärkste und grausamste war. Diese Eigenschaften waren angeboren. Aber der phyrexianische Schläfer hatte zahlreiche körperliche Veränderungen mit Hilfe von Stahl, Knochen und sogar tierischen Implantaten an sich vorgenommen. Er war unbesiegbar. Die einst glatten Schultern zierten jetzt ausgehöhlte Stoßzähne, in denen sich Skorpionfischgift befand, mit dem er jeden Angreifer vergiftete. Aus Ellenbogen und Knien ragten ähnliche Waffen, die eine gezackte Oberfläche besaßen, um beim Herausziehen dem Gegner das Fleisch aus dem Leib zu reißen. Sein Körper steckte in einem schwarzen Stahlpanzer, der verhinderte, daß man ihm das Rückgrat brach, wohingegen er jeden Feind damit niederwälzen konnte. Das Hackbeil, mit dem er sich die beiden äußeren Finger an jeder Hand abschlug, hatte er selbst geschmiedet. An Stelle der Finger steckten gefährlich scharfe, auch mit Gift gefüllte Stahlspitzen. Das Jahrhundert der Gefangenschaft in der Schlucht hatte dazu gedient, seinen Körper zu vervollkommnen. Jetzt, da er durch die dicken Fenster seines oberen Thronsaales blickte, sah K'rrik die Macht, mit deren Hilfe er seinem Gefängnis entkommen würde - die Macht seines alten Feindes, Urza Weltenwanderer. * * * Jhoira merkte, daß Meister Malzra eine bittere Pille schlucken mußte. Der Mann stand reglos neben ihr und starrte in den dunklen Abgrund. Seine Augen sahen mehr als die Augen gewöhnlicher Menschen ihr seltsamer Glanz verriet sein überdurchschnittliches Urteilsvermögen. Bestimmt durchdrangen sie den 141
schützenden Dunstschleier und die phyrexianische Kolonie, die sich dahinter verbarg. Ganz sicher sah Malzra in den schwarzen Koloß aus Basalt und Obsidian hinein und erkannte die elende Kreatur im Herzen der Festung - bösartig und brütend, beständig mächtiger werdend. Es war Kerrick. Auch ohne übernatürliche Kräfte wußte Jhoira es. Natürlich war er kein Mensch, sondern ein Monstrum in der Haut eines Menschen. Er war das Bindeglied zwischen zwei Welten, und er würde inzwischen sehr mächtig sein - vielleicht so mächtig wie Meister Malzra, vielleicht noch mächtiger. Auch Karns Augen sahen mehr als andere. Er zog Malzra, Barrin und Jhoira beiseite. »Es ist kein Geheimnis, weshalb man mich baute: für Reisen in die Vergangenheit. Vielleicht habe ich hier meinen neuen Lebenszweck gefunden, der das Betreten und Vernichten dieses Ortes beinhaltet.« Der Vorschlag erfolgte in ruhigem, sachlichem Tonfall, aber mit einer Stimme, die wie das tausendfache Wispern von Bäumen kurz vor einem Sommersturm klang. Malzra und Barrin wechselten einen wissenden Blick. Der Magiemeister sagte mit grimmigem Lächeln: »Über eine solche Reise las ich während meiner Studienzeit. Einstmals gab es einen Weltenwanderer, der nach Phyrexia zog, um es zu vernichten. Er war so gut gerüstet wie du, Karn, wurde aber beinahe getötet.« Malzra nickte. »Ein guter Vergleich. Vor uns liegt ein Miniatur-Phyrexia. Mitten in Tolaria.« Plötzlich runzelte er wütend die Stirn. »Jhoira, gestern abend hast du von den Kindern des Zorns gesprochen, die ich zurückließ. Von den Verwaisten, die in meiner Abwesenheit erwachsen wurden, mich verabscheuen, mich hassen und die mich töten werden, wenn sie die Gelegenheit erhalten. Jetzt sehe ich, daß du recht hattest.« Er blinzelte und atmete tief durch - zwei Dinge, die 142
verrieten, wie bewegt er war. »Es ist besser, sich solche Feinde gar nicht erst zu schaffen, als sie für alle Zeiten bekämpfen zu müssen.« Barrin sah ihn bewundernd an. Die Sonne spiegelte sich in Malzras Augen, und er folgte ihrem Weg mit seinen Blicken. »Die Sonne geht allmählich unter. Komm, bringe uns an einen Ort, an dem wir unser Lager aufschlagen können. Irgendwo außerhalb des Trägzeitgebietes, in dem die Explosion ihren Ursprung hatte. Vorzugsweise auf einem hochgelegenen Fleckchen Erde, wo die Zeit den normalen Rhythmus beibehalten hat.« Ein Schatten glitt über Jhoiras Gesicht. »Ich kenne genau den richtigen Ort.« Sie machte kehrt und wandte sich einem Pfad zu, der vom Riesenplateau zu den Ruinen der alten Akademie führte. Entgeistert und erschöpft schauten ihr die Studenten und Gelehrten nach. Die meisten hatten das lange Starren in die undurchdringliche Dunkelheit der Schlucht und die Ängste, die der Anblick in ihnen hervorrief, der letzten Kräfte beraubt. Sie hatten die mitgebrachten Schiffszwiebäcke und Trockenfleischvorräte ausgepackt. Als Jhoira immer weiterging, sahen sie Malzra und Barrin fragend an. Die beiden Männer sahen sich noch einmal auf dem Plateau um und folgten der jungen Frau. Auch Karn verließ seinen Platz und begab sich auf den Pfad. Mit verärgertem Seufzen und Stöhnen verstauten die Studenten ihre Speisen wieder in den Bündeln, warfen sie sich über die Schultern und stolperten müde hinter den anderen her. Jhoira folgte einem Pfad, den ihre eigenen Füße im Laufe der Jahre geprägt hatten. Er führte an einigen schmalen Zeitströmen vorbei, die teilweise nur so breit wie eine Elle waren, dafür aber eine ganze Meile lang. Jhoira nannte sie >Schleier der Ewigkeit< denn jeder, der sie betrat, wurde augenblicklich in Stücke gerissen. 143
Es war unnötig, ihre Begleiter zu ermahnen, den Pfad keinesfalls zu verlassen. In Hintergrund erhob sich das Labyrinth zerstörter Gebäude, die einst die Akademie bildeten. Die Gruppe verstummte, je näher sie den Ruinen kamen. Die älteren Mitglieder der Expedition hatten einst hier gelebt und Freunde gehabt, die hier gestorben waren und irgendwo unter den Trümmern begraben lagen. Zu der natürlichen Furcht, die sie beim Abstieg in die Welt der Toten befiel, kam noch der Druck, den das Betreten der Trägzeitzone auf Herz und Lungen ausübte. Das Betreten der mit Schutt übersäten Wege war wie das Einsinken in einen Alptraum aus Stein, Knochen und Asche. Die Sonne beleuchtete den Ort mit unbarmherzigem, hartem Licht. Alle, die einen flüchtigen Blick zum Himmel warfen, sahen sie als Feuerball, der dem Horizont zustrebte. Während der Führung durch die Ruinen brachte Jhoira ihre Gefährten an einen besonders gräßlichen Platz. Dort stand die Statue eines rennenden jungen Mannes. Beide Füßen schwebten ein Stück weit über dem Boden. Der Mund war zu einem verzweifelten Schrei aufgerissen. Die Augen hielt er fest zusammengepreßt. Die Hände griffen haltlos in die Luft. Die weißen Gewänder wurden von einem unheimlichen roten Schimmer umgeben, der ihn einhüllte und sich wie ein Zwiebelturm über seinen Kopf erhob. Der junge Mann steckte in einer Säule aus feurigem Licht. Direkt vor ihm schwebte ein schwerer Umhang in der Luft, der genau in dem Augenblick erstarrt war, ehe er sich um den Knaben legte. Jhoira beobachtete die Gesichter Malzras, Barrins, Karns und der älteren Studenten und Gelehrten. Sie starrten die Säule verständnislos an und versuchten, das Geheimnis zu enträtseln. Endlich stieß Karn den Namen hervor: »Teferi!« »Ja. Er stand in Flammen, als die Explosion erfolgte. 144
Für ihn ist in den zehn Jahren erst ein Augenblick verstrichen. In einigen Jahren - der Bruchteil einer Sekunde in seiner Zeit - wird sich der Umhang um ihn wickeln und seine brennenden Gewänder löschen. Vielleicht fällt Teferi danach zu Boden. Vielleicht sieht er auch die Neu-Tolaria und wird versuchen, sie zu erreichen. Dabei wird er den Tod finden.« Ihre Miene verhärtete sich. Sie nagte an der Unterlippe. »Der verdammte Umhang ist alles, was ich für ihn tun kann. Ich studierte die Zeitströmung, führte Experimente durch und versuchte alles mögliche, aber er ist gefangen und nicht zu retten.« Entsetztes Schweigen folgte der Erklärung. Fünfzig Augenpaare musterten die im Feuer erstarrte Statue, unerreichbar und doch nur eine Armeslänge entfernt. Schließlich sprach Malzra, und seine Worte beruhigten die Anwesenden: »Das erste Ziel unserer zukünftigen Studien wird die Rettung dieses jungen Mannes sein.« Mit grimmiger Miene wandte sich Jhoira ab. Mit schnellen Schritten ging sie weiter. Manche der Studenten, Kinder von zwölf oder dreizehn Jahren, folgten ihr dicht auf den Fersen. Die älteren blieben vor Teferis Schrein, wie sie ihn insgeheim nannten, noch einen Moment stehen. Den Schluß der Prozession bildeten Meister Barrin und Karn. Je höher sie den Pfad hinaufkletterten, der am Südrand der Ruinen zum Hochland hinaufführte, um so wohler und hoffnungsvoller fühlten sich die Menschen. Vor ihnen breitete sich eine Hochebene aus, die mit hohem, trockenem Gras bewachsen war. Das Rascheln der ausgedörrten Halme klang vertraut und beruhigend. Trotz des schnellen Tempos, das Jhoira anschlug, legte sich schon die Dunkelheit über die Hochebene, als Malzra, Barrin und Karn sie betraten. Der Meister sah sich mit durchdringenden Blicken um. Er spürte 145
die Nähe der alten Akademie, der Schleier der Ewigkeit und der darunterliegenden Schlucht der Phyrexianer. »Du hattest recht, Jhoira«, sagte er nach einer Weile. »Es ist genau der richtige Ort.« Er ging auf einen der erschöpften Studenten zu, zog eine Zeltstange aus dem Gepäck und stieß sie mit der übernatürlichen Kraft seiner Hand in den trockenen Boden. »Genau an dieser Stelle bauen wir die neue Akademie!«
146
Monolog
Ich war an jenem ersten Abend, als wir im Licht unserer Laternen die Zelte aufbauten, körperlich und geistig völlig erschöpft. Wir sammelten Feuerholz, legten Steine als Einfriedung für Feuerstellen zurecht, füllten die Wasserflaschen auf und nahmen eine aus Zwieback, heißer Brühe und Trockenfleisch bestehende Mahlzeit zu uns. Ich hatte Urza immer wieder ermahnt, nach Tolaria zurückzukehren und die Kinder des Zorns in die Arme zu schließen. Aber beim ersten Anblick dieser Kinder - ob es sich nun um die Stämme des Bienenkorbs, die unsichtbaren Phyrexianer der Schlucht oder die Geister der Toten, die vielleicht in den Ruinen der alten Akademie herumspuken, handelte - überfiel mich die Angst, es falsch gemacht zu haben. Die Vergangenheit vergessend, die Toten fliehend, die Wunden abschüttelnd - so leben Sterbliche. Das Gestern ist tot. Das ist ein Geschenk der Zeit. Jede neue Generation wird unbelastet von den Schrecken der Vergangenheit geboren. Wie sonst könnten wir leben? Vielleicht hatte ich aber doch recht. Urza ist kein Sterblicher. Er kann es sich nicht leisten zu vergessen, wie sich auch die Zeit ein Vergessen nicht leisten kann. Die Welt ist nicht groß genug, um ihn von Fehler zu Fehler wandern zu lassen, während er nichts als Vernichtung hinterläßt. Er muß endlich lernen, hinter sich Ordnung zu schaffen. Seine Manie, in die Vergangenheit zu reisen, war eigentlich das Verlangen, sich zu erinnern, sich der Vergangenheit zu stellen. Wahr147
scheinlich wäre er auch ohne mich darauf gekommen. Jetzt, da sich Urza entschieden hat, sollten wir ihm natürlich auf jede erdenkliche Weise helfen, da er es sich so schnell sicher nicht wieder anders überlegen wird. Ich hoffe nur, daß es mir nach all diesem Experimentieren mit der Zeit vergönnt sein wird, nach der normalen menschlichen Zeitspanne zu sterben - nicht früher und ganz bestimmt nicht später. Barrin, Magiemeister von Tolaria
148
Die schwere Holzkiste, die Malzra auf seinem Rücken getragen hatte, entpuppte sich als kostbarer Schreibtisch. Zur Freude und großen Überraschung der Studenten baute er ihn am nächsten Morgen auf. Die Tischplatte bestand aus feinsten Ebenholztafeln. Jede der schwarzen Tafeln glitt auf versteckten Schienen aus dem Mittelteil heraus und paßte sich nahtlos an die übrigen Stücke an. Das Ergebnis war eine große, glatte Tischplatte, so breit wie Malzras ausgestreckter Arm und doppelt so lang. Die Platte ruhte auf einem Unterteil mit zahlreichen Schubladen und Fächern. Durch einen genialen Trick war es möglich, den Schreibtisch mitsamt allen Einzelteilen wieder in eine Holzkiste zu verwandeln. Es kam aber noch besser: Sobald er den Tisch aufgebaut hatte, öffnete Malzra Schublade um Schublade und präsentierte den staunenden Zuschauern ihren Inhalt: Stifte, Lineale, Kompasse, Winkelmesser, Gradbogen und eine Rolle Pergament nach der anderen. Letztere rollte er aus und versuchte, sie zu glätten, bis sich Barrin erbarmte und Steine auf die Ecken legte. Dann traten Barrin und Malzra zurück und gestatteten den Umstehenden einen Blick auf die großartigen Pläne. Den Mittelpunkt bildete eine riesige Halle, in der vierhundert Studenten und Gelehrte Platz fanden, mit Galerien, die einen Überblick über die Halle gewährten, und einer Fensterfront, die den Blick auf die grünen Wälder freigab. Man sah prächtige Türme, rund und schlank wie exotische Kürbisse. Manche dienten als Wachstationen, andere zur Feuerbekämp149
fung und wieder andere als Observatorien, vollgestopft mit optischen Geräten. Die Außenmauer war ein gewaltiges Bollwerk aus Erde und Steinen, das weder Abflußgräben noch Gittertore aufwies. Lange, gewundene Gange, hohe Fenster, eine Vogelflughalle, Innenhöfe, eine Turnhalle, ein großer, von Steinen gesäumter Teich, Gärten und Haine. Die Schlafräume bestanden aus hellen, geräumigen Zimmern - nicht länger aus winzigen, kargen Zellen, wie in der Vergangenheit. Überall sorgten phantasievolle Verzierungen für eine freundliche Atmosphäre: Meerestiere, Pflanzen, Drachenköpfe, Windmotive, Bilder der Neu-Tolaria, Möwen, Eisvögel, Wolken, Korallen, Fische und Muscheln. Das war nicht das nüchterne Erscheinungsbild der alten Akademie. Es war kein Gefängnis. Askese war Verspieltheit gewichen, strenge Wissenschaft machte der Kunst Platz. »Natürlich müssen wir das Osttor von hier nach dort verlegen«, sagte Malzra, trat an den Tisch und tippte auf die entsprechenden Punkte. »So haben wir sofortigen Zugang zu dem sicheren Pfad und dem Engelswald.« Barrin nickte erfreut. »Wie schön, daß Ihr die Schule nicht in eine Festung verwandelt habt, nachdem Ihr die Schlucht der Phyrexianer entdecktet.« Malzra lächelte gezwungen und zog einen anderen Plan hervor. »Sie sind es, die gefangen bleiben sollen, nicht wir. Seht her! Dies ist das erste Gebäude. Anfangs wird es alles sein, was wir haben: Halle, Schlafsaal und Hörsaal. Später richte ich hier mein persönliches Labor ein.« Er wies auf ein großes Haus mit Mauern aus Stein und einem spitzen Dach, das von gefällten Baumstämmen gestützt wurde. Laut Plan bestand das Dach zuerst aus Reet, sollte aber später mit Schieferplatten gedeckt werden. »Es soll hier stehen, auf dem Felsvorsprung am Rande unseres jetzigen Lagerplatzes. Noch heute beginnen wir mit dem Bau.« 150
Das Frühstück wurde inmitten der Visionen einer hoffnungsvollen Zukunft vergessen. Das ganze Lager hatte sich versammelt, um Malzras Anweisungen entgegenzunehmen. Ein Fähnrich und seine Gruppe wurden mit dem Wachdienst betraut und mußten Posten aufstellen, Palisaden errichten, ein Waffenlager einräumen und eine Tag- und Nachtschicht einteilen. Zu ihren Pflichten gehörten auch die Erkundung und Markierung der gefährlichen Zeitströme und die Erforschung von Maßnahmen, um Teferi aus seiner schrecklichen Lage zu befreien. Ein weiblicher Fähnrich führte eine Gruppe an, die eine gründliche Durchsuchung der Ruinen vornehmen sollte. Sie mußte notieren, ob und was noch zu verwerten war - Steine, Holz, Stahl, Möbel und Artefakte. Außerdem wurde die Frau damit betraut, einen geeigneten Platz für ein Denkmal zu finden, zur Erinnerung an die Menschen, die durch die Explosion ums Leben gekommen waren. Barrin meldete sich freiwillig zu dieser Gruppe, da ihm viel daran lag, verwertbare Funde richtig behandelt zu wissen. Die dritte Gruppe - Proviantkommission genannt wurde Jhoira anvertraut. Sie suchte nach Wäldern, in denen man Kaninchenfallen aufstellen konnte, nach Teichen zum Auslegen von Fischnetzen und nach fruchtbarem Land, um etwas anzupflanzen. Malzra drängte Jhoira, die milden Trägzeitzonen zu nutzen, in denen Kaninchen, Fische und Ernten innerhalb Wochen anstatt Monaten heranwuchsen. Die nächste Gruppe bewaffnete sich mit Schaufeln, Hacken, Stäben und Seilen. Sie räumte den Platz frei, an dem die neue Akademie entstehen sollte, und hob gemäß Malzras Plänen die Grube aus. Karn schloß sich den jungen Leuten an, da er seine Kraft hier am sinnvollsten einsetzen konnte. Die letzte Gruppe wurde von Malzra persönlich be151
gleitet. Sie kehrte zum Riesenplateau zurück, um die Phyrexianer zu beobachten und Strategien für die Bekämpfung der Erzfeinde zu entwerfen. Malzra erzählte den Studenten von einem alten Gegenmittel. Es handelte sich um einen winzigen Kristall, der nach dem Glimmermond ausgerichtet wurde und wie ein Magnetit in einem Wassertropfen hing. Wenn der Mond aufging, richtete sich der Kristall langsam auf und stieß einen schrillen Ton aus, der phyrexianisches Blut zum Kochen brachte und das Öl in seine einzelnen Bestandteile auflöste. Durch eine Massenproduktion dieser >Spinnen< - wie Malzra sie nannte - und deren Aussetzen in einem Fluß, der durch das Gebiet der Feinde floß, bestand die Hoffnung, alle gleichzeitig zu vernichten, ehe die Gegner auch nur ahnten, was vor sich ging. Leise und entschlossen wie eine Armee von Riesenameisen marschierte Malzras Gruppe durch die fremdartigen und feindseligen Hügel Tolarias. Die Planen der Zelte, die ihnen während der Nacht Schutz geboten hatten, flatterten im heißen Sommerwind. Die Rauchsäulen der Feuer, die das Dunkel der Nacht vertrieben hatten, stiegen grau und dünn zum Himmel empor. Hoffnung lag in der Luft. Inmitten der gebeugten Rücken, der geschwungenen Äxte und in die Erde gestoßenen Schaufeln entstand die Vision einer neuen Akademie. * * * Als die letzten gespitzten Pfähle rings um das Zeltlager im Boden steckten und die Fundamente des ersten Gebäudes gelegt waren, fuhr ein kühler Wind durch die umliegenden Wälder. Die Arbeiten des Sommers waren erledigt. Die Arbeitenden legten eine Pause ein. Sie atmeten tief durch, richteten die schmerzenden Rücken auf und hoben die schmutzigen, 152
schweißbedeckten Gesichter zur Sonne empor. An Bord der Neu-Tolaria waren sie auch nicht müßig gewesen, aber wenigstens mußten sie sich dort nicht mit der Knochenarbeit abmühen, die ihnen hier zufiel: Erde umgraben, fortschaffen, aufhäufen, festklopfen. Auf See gab es keinen Staub, nur Salz, und das ließ sich gut abwaschen und bot ausreichenden Schutz vor Insekten. Hier gab es gute schwarze Erde. Sie legte sich wie ein Schleier über alles und jedes, ließ sich nie völlig abwaschen und verschmutzte die Schriftrollen und Bücher, die Studenten und Gelehrte in ihrer Freizeit lasen. Nach langen, arbeitsreichen Monaten sahen die Neuankömmlinge wie Jhoira aus: sonnengebräunt, muskulös und zäh - wie Eingeborene der Insel. Der kühle Wind fuhr durch die Zelte und Sonnensegel, unter denen die jungen Leute ausruhten. Er ließ die Flammen des Kochfeuers höher schlagen, über dem eine Mahlzeit aus frischem Fisch vor sich hin köchelte. Er wirbelte den Staub von zweirädrigen Karren auf, auf denen bearbeitete Baumstämme ruhten, die für das halbwegs fertiggestellte Dach der großen Halle bestimmt waren. Er zerrte an dem Ballen von Tierhäuten, die für den Bau des großen Luftschiffes bereitlagen, mit dessen Hilfe Malzras phyrexianische Kriegsmaschine durch die Luft fliegen sollte. Der Wind schien darauf erpicht zu sein, die unvollständige Maschine schon jetzt mitzunehmen. Er belebte und erfrischte die erschöpften und der Hitze müden Arbeiter und versprach ihnen kühle Tage und Regen. Gierig atmete Barrin die frische Luft ein, als er den Hügel hinauf zu den Palisaden ging. Der Herbst stand für hohes, trockenes Gras, bereit zum Schneiden, Zusammenbinden und Abdecken des Dachs der großen Halle. Dort würde es wärmer und trockener sein als in den Zelten, und man war besser vor Moskitos und Schlangen geschützt. Auch die Aussicht auf richtige Betten und Matratzen war verlockend. 153
Dennoch verdankte Barrin seine gute Laune nicht den Aussichten auf zukünftigen Luxus, sondern der Beendigung harter Arbeit. Die Ruinen waren vollständig durchsucht worden. Sie hatten jeden noch brauchbaren Stein zum Bauplatz der neuen Akademie geschleppt, und viele der gröbsten Stücke steckten bereits in den Fundamenten des ersten Hauses. Barrins Gruppe hatte auch das Artefakt-Museum entdeckt, freigelegt und viele, nur leicht beschädigte Maschinenteile geborgen. Urza hatte sie benutzt, um fünf Träger zu bauen, die dazu dienten, die schwersten Bauarbeiten zu unterstützen. Das wichtigste Ereignis dieser Bergungsarbeiten war jedoch heute eingetreten, und Barrin ging ins Lager hinüber, um Urza, Karn, Jhoira und alle, die gerade nichts zu tun hatten, zu holen. »Wir sind fertig«, sagte er gelassen und wischte sich die staubigen Hände an der Hemdbluse ab, als er vor Urza stand. Der Weltenwanderer blickte abwesend von den Plänen der Kriegsmaschine auf, nickte und winkte zwei Studenten, die Metallverkleidung, die sie gerade am Rahmen der Maschine befestigt hatten, wieder abzunehmen. Einer der beiden warf ihm einen verärgerten Blick zu, und Urza erklärte mit strenger Stimme: »Wir müssen den Mittelteil der Verkleidung vertiefen, sonst gleiten die Brandsätze nicht glatt aus den Ladekammern. Sie könnten sich verhaken und in der Maschine explodieren. Los jetzt!« Die Studenten machten sich an die Arbeit, und Barrin wiederholte: »Wir sind fertig. Ich möchte, daß Ihr es Euch anseht.« Urza wandte sich wieder seinen Plänen zu, die ein aus unzähligen dünnen Rohren bestehendes Gerat zeigten, das wie eine Hufeisenkrabbe aussah und unter einem mit heißem Gas gefüllten Ballon hing. »Ich bin sehr beschäftigt. Hat es nicht Zeit? Ihr 154
könnt eine offizielle Feier anberaumen. Ich werde teilnehmen.« Barrins Blick verhärtete sich. »Damals starben zweihundert Studenten und Lehrmeister, Urza. Zwanzig weitere haben schwer und unermüdlich inmitten ihrer Geister gearbeitet, um einen Weg zu finden, die Toten zu ehren und sich ihrer zu erinnern. Wenn Ihr nicht meinetwegen kommt, so kommt ihretwegen!« »Während Ihr in der Vergangenheit herumwühlt«, fauchte Urza und wies auf die komplizierte, halbfertige Maschine, »arbeite ich an einem Gerät, um die Zukunft zu retten! Erst heute morgen haben wir herausgefunden, warum die Spinnen nicht funktionierten: In der Schlucht gibt es zu wenig Mondlicht, um sie zu aktivieren. Die Maschine ist unsere einzige Hoffnung. Ich muß sie fertigstellen, oder dein Denkmal steht auch für uns. Ich denke an unsere Zukunft!« Barrin hielt Urza am Arm fest; eine ausgesprochen seltene Geste. Er spürte den heißen Strom reiner Energie unter der Haut des Meisters. »Kommt und seht Euch das Denkmal an. Es ist der Grund, warum wir für die Zukunft arbeiten.« Urza warf dem Gerät noch einen verzweifelten Blick zu, wo die Studenten leise fluchend an der Verkleidung herumschraubten. Er winkte sie zu sich. »Kommt mit, ihr zwei! Legt das Werkzeug fort und begleitet uns. Wir werfen einen Blick in die Vergangenheit.« Zuerst sahen sie ihn nur unsicher an, bis seine finster gerunzelte Stirn sie überzeugte, die Werkzeuge beiseite zu legen und ihm zu folgen. Allen Studenten und Gelehrten, die ihnen unterwegs begegneten, befahl Urza das gleiche. Unzählige Arbeiten wurden im Stich gelassen, und das Volk von Tolaria folgte den beiden Meistern. Während des Sommers hatten sich die Menschen ganz ihren Pflichten gewidmet und waren so weit gegangen, 155
sich von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich zu kleiden. So erkannte man auf den ersten Blick, ob jemand zu den Wachen, den Gärtnern, den Jägern, den Wissenschaftlern oder anderen gehörte. Bei der Prozession, die den Hügel zu den Ruinen hinabschritt, waren alle Studenten und Lehrmeister wieder eins genau wie an dem Tag, als sie die Insel zum ersten Mal betraten. Scherze und Gelächter schwirrten durch die Luft. Barrin wunderte sich über die frohe Stimmung. Er und seine Gefährten hatten sich immer um ernste Mienen und Gespräche bemüht, wenn sie in den Ruinen herumwühlten. Trotz der kurzen Tage in der Trägzeitzone - sie hatten nur zehn Stunden Tageslicht an Stelle der sonst üblichen sechzehn Stunden waren sie sehr fleißig gewesen. Die Fundamente der meisten Gebäude standen noch, und ihre Steine ragten aus dem harten Erdboden. Regenwasser hatte sich in etlichen freigelegten Kellern gesammelt. An anderen Stellen wuchs ein spärlicher Grasteppich zwischen den Gebäuderesten. Wenige niedrige Mauern waren heil geblieben, aber die meisten hatten die jungen Leuten sorgfältig abgetragen, um die Steine für den Bau der neuen Hochschule zu verwerten. Sogar große Feldsteine lagen zu einem großen Haufen gestapelt auf dem Bauplatz. Im Ergebnis wirkte der Ort der Vernichtung jetzt fast wie eine Parklandschaft, mit grünen Wiesen, gewundenen Wegen und stillen Teichen. Die Ruinen waren keine Ruinen mehr. Auch Barrins Stimmung hob sich, als er die Zeitgrenze überwand und die Prozession sich dem Herzen AltTolarias näherte. Ein mit zu einem Mosaik gelegten Steinen gepflasterter Platz wurde von zwei erstaunlichen Statuen eingerahmt. Auf der einen Seite stand Teferi, mit weit aufgerissenem Mund und geschlossenen Augen, von den ewigen Flammen eingehüllt, den nassen Umhang 156
dicht vor sich. Die Ecke eines Hauses half, ihn vor den heißen Sonnenstrahlen zu schützen. Als Urza und Barrin neben dem lebenden Schrei stehenblieben, löste sich Jhoira aus der Menge. Sie trat vor und starrte den gefangenen Freund an. »Er sitzt in der Falle, genau wie ich. Allein. Verlassen. Weder tot noch lebendig.« »Wir retten ihn, Jhoira«, versicherte ihr Barrin. »Wir finden einen Weg.« »Er kann uns nicht erreichen. Wir können ihn nicht erreichen.« Ihre Stimme klang wütend und verzweifelt. »Wenn er versucht zu entkommen, wird er sterben.« »Ja. Deshalb müssen wir ihn vorher retten.« »Jede Nacht denke ich darüber nach. Ich kann nicht schlafen, muß immer an ihn denken. Es muß eine Möglichkeit geben«, beharrte sie und strich sich mit zitternder Hand über das Kinn. Barrin ergriff ihre Hand und führte sie weiter. »Komm mit. Ich möchte euch noch etwas anderes zeigen.« Auf der anderen Seite des Platzes stand das Denkmal für die Verstorbenen. Den Fuß bildete der Grundstein der alten Akademie. Urza hatte gefordert, ihn in der neuen Akademie zu verwenden, aber Barrin war hart geblieben. Er sagte, der Stein markiere Anfang und Ende des alten Tolaria. Eine Seite des riesigen Blockes trug die ursprüngliche Inschrift: Akademie Tolaria, gegründet 3285 AR. Darunter hatte man hinzugefügt: Zerstört 3307 AR. Auf der Vorderseite standen die Namen der Toten, und auf der dritten Seite stand in alter yotianischer Schrift: Die Seelen eines verstorbenen Menschen, der dem Schicksal die Stirn bot, sind wie die Seelen aller Menschen, die uns vorausgingen, damit wir bleiben konnten. 157
Das ausgehöhlte Innere des Steins barg sämtliche Knochen, die Barrin und seine Gruppe in den Ruinen entdeckt hatten. Jetzt waren sie auch im Tode vereint. Den Stein krönte eine Statue, die nach einer Skizze des alten Darrob gebaut worden war, Jhoiras letztem Gefährten, ehe Urza mit seinem Schiff eintraf. Obwohl sein Verstand zu verwirrt gewesen war, um sich mit Worten zu verständigen, war Darrob ein Künstler gewesen. Das häufigste Motiv in seinen Zeichnungen war eine suchend umherirrende Gestalt, hager und windzerzaust, die eine Laterne in der Hand hielt und mit Augen in die Zukunft spähte, die wie tiefe Krater in dem knochigen Schädel ruhten. Barrin hatte die Metallreste zerschmetterter Artefakte zusammengesucht und sie zu der Verkörperung jener unheimlichen, traurigen Gestalt geschmiedet, die sich für alle Zeiten einem unermüdlichen Sturmwind entgegenstemmte. Traurig stand Jhoira vor dem Denkmal. Barrin hielt sie noch immer bei der Hand. Urza erfaßte die ganze Szene mit einem Blick. Hinter ihnen bildeten die anderen einen weiten Halbkreis. Sie alle verstummten und betrachteten das Denkmal. Nur der Wind war noch zu hören. Barrin stand reglos neben Jhoira und merkte, wie ihn seine Gefühle zu übermannen drohten. Gefühle, die gleichzeitig von Glück und Verzweiflung kündeten, die seinen Blick verschleierten und ihn die Lippen zusammenpressen ließen. »Im Namen aller, die nach der Explosion zurückblieben, möchte ich Euch dafür danken, Meister Malzra«, sagte Jhoira nach geraumer Zeit. »Es ist gut und richtig, daß dies das erste ist, was fertiggestellt wurde.« »Ja«, antwortete Urza und nickte entschieden. »Ja, das ist richtig.« * * * 158
Das erste Gebäude wurde kurz vor Wintereinbruch fertiggestellt, und das Feuer im Kamin erlosch nicht eher, bis der Frühling die ersten warmen Tage mit sich brachte. Obwohl die Unterbringung besser als in den Zelten war, so herrschte doch gewaltige Enge. Das fertige Gerüst von Urzas Kriegsmaschine nahm eine Ecke der Halle ein, wo es über dem Ballon aus Tierhäuten stand, der es irgendwann in die Lüfte befördern sollte. Der Fußboden davor war mit Schlafmatten bedeckt. Daneben standen Tische, an denen Speisen zubereitet und verzehrt wurden. Bücher und Schriftrollen stapelten sich in allen Ecken, Seite an Seite mit Artefakten. Es war so eng, daß Jhoira und ihre Gruppe es vorzogen, an Bord der Neu-Tolaria zu essen und zu schlafen, wo Hängematten und hastige Mahlzeiten ihnen wie ein unerhörter Luxus vorkamen. Außerdem hatte Jhoira an Bord des Schiffs mehr Platz, um nachts herumzulaufen, während sie Pläne für Teferis Rettung schmiedete und verwarf. Der Winter war lang und naß, und nur die Entschiedenheit Urzas und Barrins, alles einmal Begonnene auch zu beenden, half ihnen, ihn zu überstehen. Beim Wehen der ersten Frühlingswinde wurde mit dem Bau des zweiten Gebäudes begonnen, einem runden Wohnhaus, bei dem jedes Fenster den Blick entweder auf die herrlichen Wälder Tolarias oder den wunderschönen Innenhof freigab. Obwohl es noch keine Fensterläden und Türen gab, zogen viele Studenten es vor, in das halbfertige Gebäude umzusiedeln und den noch kühlen Frühlingstagen zu trotzen. Wochen später wurde der Artefaktbau in den Innenhof verlegt, und so entstand ausreichend Platz für alle, die noch in der ersten Halle weilten. »Zehn Jahre sind in der Schlucht vergangen, seitdem unsere Feinde unsere Rückkehr erlebten«, sagte Urza und atmete den Wind ein, der vom Meer herüberwehte. »Bestimmt waren sie in der Zeit nicht untätig. 159
Sie sind zehnmal so stark wie am ersten Tag und haben sich zahlenmäßig vielleicht verdoppelt. Jeder Tag des Wartens schenkt ihnen eine ganze Woche. Die Zeit ist reif!« Er sagte es zu Barrin, aber alle, die an diesem Morgen in der großen Halle frühstückten, hörten ihn und wußten, was gemeint war. »Heute greifen wir an!« verkündete Urza. Die meisten Studenten beendeten ihre Mahlzeit nicht. Sie eilten an ihre Arbeitsplätze, aufgeregt und ängstlich bei dem Gedanken an das, was der Tag bringen mochte. Minuten nach Urzas Ankündigung wurden der Ballon aus Tierhäuten und das Metallgerüst aus der Ecke gezerrt und zum Rand des Riesenplateaus getragen. Eine Gruppe junger Leute transportierte riesige Blasebälge, die an eigens geschmiedeten Essen hingen, um für heiße Luft zu sorgen. Taue der Neu-Tolaria und Kisten mit dunklen Kugeln wurden herbeigetragen. »Ich weiß, es ist alles sehr simpel«, sagte Urza bedauernd und ließ sich Barrin gegenüber nieder, der sich mit der Gabel hastig viel zu heiße Spiegeleier in den Mund stopfte. »Bis wir ordentlich eingerichtete Labore haben, werde ich keinen Ornithopter zusammenstoppeln. Außerdem kann dieses schwebende Ungetüm hundertmal so viele Pulverbomben transportieren wie ein Ornithopter.« »Selbst viertausend Bomben reichen vielleicht nicht aus, um sie zu vernichten. Und wenn Phyrexianer in der Schlucht überleben, schweben wir in größter Gefahr«, entgegnete Barrin, während er kleine Schlucke kochendheißen Tees zu sich nahm. »Sie arbeiten an einer Möglichkeit, der Schlucht zu entfliehen«, erwiderte Urza. »Hundertundzehn Jahre ihrer Zeitrechnung haben sie damit verbracht, an Flucht zu denken. Sie besitzen nur wenige Kraftsteine für einfache Metallwesen, sonst hätten sie uns ihre 160
Kreaturen längst auf den Hals gehetzt. Also werden sie an einer neuen Mutation arbeiten, einer besonderen Art Phyrexianer, die dem Zeitstrom entkommen kann. Wenn eine der viertausend Bomben bis in ihre Labore vordringt und Jahre der Forschung zunichte macht, haben wir uns ein paar Jahre mehr erkauft.« »Stimmt«, meinte Barrin. Er wischte sich Mund und Hände ab und erhob sich. »Ja, heute ist ein guter Tag für den Angriff. Ich werde die Flugbesatzung vorbereiten.« Urza hielt ihn am Ärmel fest und schüttelte den Kopf. »Nein, das mache ich. Ich werde mit ihnen an Bord gehen.« * * * Am späten Vormittag war der Ballon über der Kriegsmaschine vollständig gefüllt. Die Hülle aus Tierhäuten glänzte goldbraun im Sonnenlicht, von tausenden von Säumen überzogen. Das mit winzigen Tautropfen bedeckte Metallgerüst funkelte hell. Starke Meerwinde zerrten an den schweren Ankertauen. Die Bodentruppe arbeitete fieberhaft an den Tauen und den drei langen Ketten, mit denen die Maschine über der Schlucht gehalten werden sollte. Barrin beaufsichtigte die Überprüfung der in das Felsplateau eingelassenen Poller. Auch Karn hielt sich bereit, um seine gewaltige Körperkraft beim Halten der Taue einzusetzen. Inzwischen erhielt die fünfköpfige Flugbesatzung die letzten Anweisungen Meister Malzras. Jedes Besatzungsmitglied hatte eine bestimmte Aufgabe: Ein Student kümmerte sich um die Flughöhe, der zweite um den Radius, der dritte um die Tangente. Mittels einer Zeichensprache würden sie die Bodentruppe benachrichtigen, wenn Kursänderungen notwendig waren. Als Malzras fähigste Studentin wurde Jhoira zum Flughöhenoffizier ernannt und mußte sich um die komplizierten Blasebälge und Essen kümmern, 161
die für den Antrieb der Maschine sorgten. Die übrigen beiden Besatzungsmitglieder, eine Gelehrte und ihr Lieblingsschüler, waren die besten Kartographen der Akademie. Sie sollten auf dem Bauch liegend durch Gucklöcher beiderseits der Rumpfmitte schauen und aufzeichnen, was sie erspähten. Ihre Arbeit würde sich als unbezahlbar erweisen, wenn es darum ging, die besten Stellen zum Abwerfen der Bomben zu bestimmen, die Bodenschätze oder sonstigen Reserven der Phyrexianer zu erahnen und festzulegen, welche Strategie für den nächsten Angriff am sinnvollsten war. Malzra selbst war der Kapitän des Ballons. Die Kartographen teilten ihm ihre Erkenntnisse mit, und er gab entsprechende Anweisungen an seine Flugoffiziere weiter, wohin die Maschine zu steuern war und wann die Bomben abgeworfen werden sollten. »Der sechste Laderaum ist voll, Meister Malzra!« rief eine dunkelhaarige junge Frau in seine Anweisungen hinein. »Fünfhundert Pulverbomben. Wenn die letzten beiden Ladeflächen gefüllt sind, habt Ihr viertausend Bomben an Bord.« »Gut«, antwortete Malzra. Seine Augen sahen im hellen Sonnenschein besonders dunkel aus. Mit einem Nicken entließ er die Frau und wandte sich wieder den aufmerksam zuhörenden Mitgliedern seiner Gruppe zu. »Jhoira, denke daran: Wir müssen immer wenigstens tausend Fuß über der Schlucht schweben auf gleicher Höhe mit dem Riesenplateau. Sogar dort könnten uns phyrexianische Geschosse erreichen. Fünfzehnhundert Fuß wäre noch sicherer. Die Bombenund Kartographenkammern sind geschützt, aber es besteht die Möglichkeit, daß ein Geschoß die Schilde durchschlägt und eine Reihe von Explosionen verursacht, die die Maschine zerstören könnten.« Diese Tatsachen waren der Besatzung schon vorher bekannt gewesen, aber ihre Wiederholung im Schatten 162
der Maschine ließen die Menschen schlucken und die Augen aufreißen. »Wenn ein Geschoß den Ballon zerreißt, werfen wir sämtliche Bomben und allen Ballast ab und geben das Zeichen, daß man uns zurückzieht. Eine Flucht ist unmöglich, ehe wir das Plateau erreichen. Die Ebene unterhalb des Riesenplateaus ist zu zerklüftet für eine Landung und mit umgestürzten Bäumen übersät«, erklärte Malzra. Er betrachtete die ernsten jungen Gesichter um sich herum. »Ich hoffe, ihr habt euch verabschiedet - für den Fall, daß wir nicht zurückkehren. Ansonsten habe ich einen Boten mitgebracht.« Er deutete auf ein zierliches junges Mädchen, das erklärend auf ihren mit Papier und Stiften gefüllten Beutel klopfte. »Bereitet euch vor. Sobald die Bomben an Bord sind, brechen wir auf.« Vier der fünf Besatzungsmitglieder wandten sich eilig dem Mädchen zu, nahmen Papier und Federhalter entgegen und schrieben nieder, was vielleicht ihre letzten Worte waren. Nur Jhoira blieb stehen. »Karn ist hier, und wir haben uns schon verabschiedet«, erklärte sie Malzra. »Der einzige, dem ich einen Brief schreiben würde, wäre Teferi. Natürlich würde das Schreiben verbrennen, ehe es ihn erreichte.« Malzra kniff die Augen zusammen und sah die junge Frau prüfend an. »Du mußt dich auf die vor dir liegende Arbeit konzentrieren, Jhoira.« »Ich denke unentwegt an Teferi«, antwortete sie. »Wenn ich mit ihm tauschen könnte, würde ich es tun. Wir beide müßten nicht für alle Ewigkeit allein sein. Er hat mich auch einmal gerettet, wißt Ihr.« »Das wußte ich nicht. Aber wenn du zu abgelenkt bist, muß ich einen anderen Flughöhenoffizier finden ...« Sie senkte den Blick. »Bei dem Gedanken an ihn kämpfe ich nur noch erbitterter.« 163
»Also gut. Dann wollen wir unsere Plätze einnehmen.« Sanft legte er ihr die Hand auf die Schulter und zog sie auf die startbereite Maschine zu. Die Berührung schien ihr fast die Haut zu versengen. Jhoira hielt sich dicht neben ihm. Hoch und glänzend erhob sich das Luftschiff vor ihnen. Hin und wieder bockte es leicht, vom heftigen Wind geschüttelt. Malzra zog den Strick beiseite, der vor dem Eingang hing. Er nickte Jhoira zu und verneigte sich. Sie bestieg das Gefährt als erste. In dem engen Gang mußte sie sich bücken, und ihre Füße verursachten ein leises Klingen auf den Metallplatten. Zu beiden Seiten des Ganges lagen die Laderäume. Der Kriechgang des Tangentenoffziers zog sich quer über den Mittelgang. Der Radiusoffizier blieb auf seinem seitlich angebrachten Sitz und beaufsichtigte die Taue, die sie mit dem Plateau verbanden. Jhoiras Platz befand sich genau im Mittelpunkt der Maschine, wo sich Gerüst und Ballon trafen. Sie hatte Gucklöcher in alle Richtungen und prägte sich die Höhe der verschiedenen Felsen und der höchsten Baume ein. Zusätzlich gab es einen offenen Schacht, der ihr einen freien Blick in die Tiefe gewährte. Ein Geschirr aus Hanf sorgte dafür, daß sie nicht aus dem luftigen Ausguck stürzte. Damit vermochte sie sich frei in alle Richtungen zu bewegen und sich auch um die eigene Achse zu drehen, blieb aber immer fest mit der Maschine verbunden. Rechts von ihr befanden sich die Essen, die sie versorgen mußte, um die Maschine in der Luft zu halten. Auf der anderen Seite hingen ihre Instrumente: Windmesser, Barometer, Kompasse, Ferngläser... Jhoira kletterte auf ihren Sitz und schnallte sich an. Malzra, der einen ähnlichen Platz im Bauch der Maschine innehatte, meldete sich durch das Sprachrohr: »Schüre das Feuer zum Abheben!« 164
»Wird gemacht!« antwortete Jhoira und fühlte, wie die Maschine leicht erbebte, als die übrigen Mitglieder der Besatzung an Bord kletterten. Schwach vernahm sie Befehle, die mittels des Sprachrohrs an ihre Gefährten erteilt wurden. Auf dem Plateau wurde eine Ankerleine nach der anderen gelöst, und die Bodentruppe hängte sich an die Taue, die um die Poller gewickelt waren. »Abheben!« ertönte der Befehl an die gesamte Besatzung. Die Maschine hob sich in die Lüfte, und das Klappern von Metall auf Stein verstummte. Jhoira schürte das Feuer und betätigte die Blasebälge. Zischend stieg heiße Luft auf. Die Maschine stieg höher. Der Hügel blieb hinter straffen Seilen und gespannten Häuten zurück. Die Menschen, die sich um die Poller drängten, wurden kleiner und kleiner. Schon bald waren ihre Gesichter nicht mehr zu erkennen. Schließlich sah man nur noch gebeugte Rücken und muskulöse Arme, die wie Verlängerungen der Taue aussahen. Die Felsen glitten vorbei, und sie gewannen an Höhe. Eine riesige Fläche Land breitete sich unter ihnen aus. Das Plateau war nur noch eine Erhebung am Rande dieser Fläche. Hügel, die vorher sehr hoch waren, wurden zu kleinen Maulwurfshaufen. »Bringe uns auf hundert bis dreizehnhundert Fuß!« befahl Malzra. »Wir wollen uns von oben nähern. Dann haben wir Zeit, die Schlucht zu betrachten und Ziele auszuwählen.« »Wird gemacht!« Jhoira schob die Klappe der Kohlenkiste zurück und warf neue Stücke ins Feuer. Ein Hebel verteilte sie gleichmäßig in den Flammen. Immer wieder betätigte sie die Blasebälge. Heiße Luft stieg empor, während der Ballon verbrauchte Luft ausspie. Rasch stieg die Maschine höher und zerrte an den Tauen, die sie mit dem Plateau verbanden. 165
Malzra gab Kursänderungen durch, die der Bodentruppe durch die für Tangente und Radius zuständigen Offiziere durchgegeben wurden. Die Taue erschlafften, und die Maschine beschrieb einen Bogen über dem düsteren, phyrexianischen Krater. »Wir haben klare Sicht«, berichtete die Kartographin. »Eine große Festung liegt im Mittelpunkt der Schlucht, ungefähr dreihundert Fuß lang und breit, mit vielen Türmen und Erkern, Wehrgängen, Zinnen und Dutzenden schwerer Geschütze, die alle auf den Rand des Abgrunds zielen.« »Ich habe dreiunddreißig Geschütze gezählt«, unterbrach sie der Student. Jhoira spähte in die Tiefe. Sie erkannte die schwarze Masse der Festung und die gefährlichen Speerwurfmaschinen auf Dächern und Türmen. Vor ihren Augen drehten sich die Geräte nach oben. »Sie zielen genau auf uns!« rief sie besorgt. »Höhe beibehalten!« befahl Malzra. »Denkt daran: Sie haben zehn Sekunden, wenn wir eine haben. Sie können blitzschnell feuern, laden und erneut schießen.« »Das Hauptgebäude scheint auf einem hohen Felsen inmitten eines tiefen Gewässers zu stehen. Ich kann den Boden nicht erkennen«, berichtete die Kartographin weiter. »Das Wasser überrascht mich. In Schnellzeitzonen gibt es wenig Wasser. Es sieht aus, als mündeten zahlreiche Flüsse in die Schlucht.« »Irgendein Anzeichen von Gebäuden, die wie Laboratorien aussehen?« erkundigte sich Urza. »Ich rede insbesondere von Aufzuchträumen.« »An den verschiedensten Stellen am Ufer sehe ich Fischbrutstätten. Ich erkenne Gestalten, die zwischen Reusen und Netzen herumlaufen. Laboratorien sind nicht auszumachen.« Ihr Gehilfe fügte hinzu: »Ich sehe mehrere Höhlen in der Schluchtwand ...« 166
Er stockte, als die nach oben gerichteten Geschütze plötzlich vorschnellten. Ehe ein Besatzungsmitglied zu blinzeln vermochte, flogen dreiunddreißig schwere Speere aus zwölfhundert Metern Tiefe auf sie zu. Mit übernatürlicher Geschwindigkeit näherten sie sich dem Ballon und verwandelten sich von gefährlich aussehenden Spitzen in gewaltige Blitze. Sie kamen bis auf hundert Fuß an die Maschine heran, ehe sie langsamer wurden und sich in weitem Bogen wieder der Schlucht zuneigten. Sekundenlang trug sie der Wind; dann stürzten sie in die Tiefe. Die schweren Spitzen zogen sie hinab in den Zeitstrom, in dem die Phyrexianer gefangen waren. Als sie die Grenze überschritten, nahmen sie rasende Geschwindigkeit an. Das Krachen der Speere, die sich durch die Dächer der Festung bohrten, klang wie Donnerhall. Die Bodentruppe brach in laute Jubelrufe aus. »Wunderbar!« sagte Malzra zufrieden. »Tangente, Radius und Höhe beibehalten. Wir bleiben genau über ihnen. Sie werden sich überlegen, ob sie uns noch eine Salve entgegenschicken. Ich werfe die Bomben aus Kammer fünf ab.« Mit lautem Quietschen klappten die Luken des Laderaums nach unten, und die Pulverbomben fielen heraus. Ebensolche Bomben waren vor dreitausend Jahren mit durchschlagendem Erfolg auf Korlis gefallen. Damals trafen Dutzende eine marschierende Armee, heute regnete es Tausende auf eine Festung. Die schwarzen Kugeln lösten sich aus der Maschine, wurden schneller und stießen an die Grenze des Zeitstroms. Sekunden später hatten sie den Schutzschild durchbrochen und sausten mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Tiefe. Ein Lichtschein stieg aus der Schlucht empor. Orangefarbene Flammen erhellten die Finsternis. Dächer 167
und Zinnen wurden deutlich sichtbar. Die Kartographen zeichneten unaufhörlich. Dann legte sich ein Rauchschleier über den Abgrund, und es wurde wieder dunkel. Der Lärm des Angriffs blieb einen Moment hinter dem Lichtschein zurück, aber als er ertönte, wurde er durch die Basaltfestung, das kristallene Wasser und die steilen Felsen noch verstärkt. Es hörte sich an, als sei ein gewaltiges Monstrum wütend aus dem Schlaf erwacht. Dann folgte Stille. Rauch - grau, weiß und schwarz marmoriert - quoll an die Erdoberfläche. »Das hat sie geweckt!« jubelte Jhoira. »Kartographen!« erklang Malzras Stimme. »Zielkoordinaten?« »Zuviel Rauch«, antwortete die Frau. »Warten wir, bis er sich ein wenig verzieht.« »Sie brauchen Stunden, um sich wieder zu sammeln«, antwortete Malzra. »Höhe, Radius, Tangente sind wir noch auf Position?« »Wir haben an Höhe gewonnen«, erwiderte Jhoira, »als die Bomben fielen. Wir befinden uns auf etwa siebzehnhundert Fuß.« »Bringe uns auf zwölfhundert zurück und macht euch bereit für den nächsten Abwurf.« »Radius unverändert.« »Tangente unverändert.« »Höhe: zwölfhundert Fuß.« »Ladung aus Kammer sechs abwerfen!« * * * Die erste Angriffswelle tötete mehr als hundertundfünfzig von K'rriks Untergebenen, zerstörte drei Türme, riß das Dach des oberen Thronsaals weg und was am schlimmsten war - traf mitten in das Zuchtlabor. Behälter mit Gehirn und Plazenta zersprangen 168
und liefen aus, Gußformen zersprangen in tausend Stücke, Fässer mit Öl wurden zu gewaltigen Fackeln, Mutantenreserven verbrannten zu Asche, und die fast fertigen Mörder, die K'rrik gezüchtet hatte, um die Zeitstromgrenze zu überwinden, wurden bei lebendigem Leibe geröstet. Die Vernichtung war vollkommen. Fast. Aus dem Chaos entstand Ordnung. Die Feuer des ersten Angriffs wurden gelöscht, die Toten und Sterbenden den Fischen vorgeworfen und die Geschütze auf größere Entfernung eingestellt. K'rrik befahl allen unversehrten Kreaturen, noch vorhandene Pläne, Geräte und Wesen aus dem Labor zu retten und in die unterirdischen Höhlen zu bringen. Urzas Bomben hatten Dächer und Türme zerstört, würden aber den Basaltfelsen, auf dem die Festung thronte, nicht durchdringen. Damit war ein Jahrhundert der Forschung nicht vollständig umsonst gewesen. Alle Hoffnungen auf Flucht und Sieg ruhten auf den halbvollen, leicht beschädigten Behältern mit winzigen Lebewesen darin. Manche würden überleben, und K'rriks mit Klauen und Tentakeln ausgerüstete Monster trugen sie so behutsam wie Menschenmütter ihre Kinder in die Höhlen unter der Burg. Das alles geschah in der ersten Stunde nach dem Angriff. Sobald sich der Rauch so weit verzog, daß man den Umriß des Luftschiffs erkennen konnte, erspähten die Wachen die Bomben, die über ihnen in der Luft schwebten. Es war leicht, ihr Ziel zu bestimmen und die Gegend zu räumen. Wütend und verzweifelt stand K'rrik inmitten seines Volkes. Etliche Bomben trafen das Dach eines Wachturms und die angrenzende Burgmauer. Die Flammen breiteten sich rasch aus, und die Explosion ließ die gesamte Festung erzittern. Steine flogen durch die Luft, und die Phyrexianer duckten sich, um nicht getroffen zu werden. Der Turm stürzte ein. Auch die 169
Mauer hielt dem Druck nicht stand und begrub eine Waffenkammer unter sich. Überall, wo Holz, Stoff oder Haut zu finden war, entzündeten sich Feuer. Die Waffenkammer ging in Flammen auf. Eine riesige Stichflamme und eine nicht minder umfangreiche Rauchwolke stiegen gen Himmel. K'rrik sah zu. Die spitz gefeilten Zähne seines Unterkiefers gruben sich in den Gaumen und hinterließen blutende Wunden. »Was willst du tun?« blaffte ein Wesen neben ihm. Es sah wie ein großer Floh aus. Der Kopf war dreimal so groß wie K'rriks, und der bleiche nackte Körper zuckte und zitterte haltlos. »Du kannst das nicht einfach dulden!« »Stimmt«, antwortete K'rrik grimmig. Eiterfarbenes Blut quoll aus dem Rücken des Wesens, als er sein Schwert herauszog. Das Monstrum stürzte über die Zinnen der Mauer, auf der sie standen. Der Körper schlug zweimal auf, ehe er auf dem Basaltboden der Festung zerplatzte. »Stimmt. Ich lasse nicht zu, daß du meine Autorität in Frage stellst.« K'rrik wandte sich einem anderen Phyrexianer zu, der mehr wie ein Mensch aussah, aber den Kopf einer teuflisch wirkenden Ziege hatte. »Sage den Schützen, sie sollen jede halbe Stunde drei Salven abfeuern, die ihr Ziel verfehlen müssen. Sorge dafür, daß genügend Leute im Wasser sind, die die Speere herausfischen. Den Rest der Geschütze bedeckt ihr mit Leichen. Urza soll glauben, er hätte die meisten Waffen zerstört und die übrigen beschädigt. Ich will, daß er, tiefer fliegt. Haltet nach weiteren Bomben Ausschau. Sobald sie in Schußweite sind, schmeißt ihr die Toten von den Geschützen und feuert gleichzeitig. Zielt auf die Bombenluken der Maschine.« Der Ziegenköpfige nickte und eilte davon. »Was euch angeht«, fauchte K'rrik die Umstehenden an, »so löscht ihr die Brände. Haltet nach Bomben 170
Ausschau! Jeder Verletzte wird getötet. Jeder Tote wird verfüttert. Es ist eure Pflicht, zu kämpfen und zu leben.« * * * Der dritte, vierte und fünfte Angriff verliefen ebenso erfolgreich wie der erste. Es regnete Bomben. Feuer und Rauch stiegen auf. Das Dröhnen einstürzender Türme und kreischender Kreaturen drang zu ihnen hinauf. Beim zweiten Angriff begriff Jhoira, wie sie im Augenblick des Abwurfs Luft aus dem Ballon lassen mußte, um ein Aufsteigen der Maschine zu verhindern. So erfolgten die Attacken schneller hintereinander, waren zielsicherer und weniger umständlich. Bis zum sechsten Angriff. Die unter ihnen liegende Schlucht sah wie eine graue Narbe aus. Vor lauter Rauch war die Festung nicht zu erkennen. Die Kartographen hatten aber genügend Merkmale der umliegenden Felsen notiert und waren in der Lage, aus dem Gedächtnis lohnende Ziele zu empfehlen. Gerade schwebten sie über einem solchen Ziel - ein Thronsaal oder eine große Halle - und Malzra sprach die vertraute Warnung aus: »Ich öffne Luke zwei.« Jhoira hielt den Atem an und ließ Luft aus dem Ballon. Sofort fühlte sie, daß etwas nicht stimmte. Das Quietschen blieb aus. Kein Poltern fallender Bomben war zu hören. Der Ballon verlor an Höhe. »Der Mechanismus klemmt!« ertönte ein Ruf aus dem Sprachrohr. Jhoira biß die Zähne zusammen und bemühte sich, die Öffnung im Ballon zu verschließen und die Blasebälge zu bedienen. Die Maschine sank tiefer. Jhoira arbeitete mit aller Kraft an den Blasebälgen, bis heiße Luft zischend in den Ballon strömte, der sich wieder aufblähte. Metall schepperte unter ihr, als Speere gegen das 171
Gerüst der Maschine prallten. Das Sprachrohr hallte von Schreien wieder. Sekunden später trafen die nächsten Speere. Sie durchdrangen den Schutzschild der Maschine. Pulverbomben entzündeten sich mit dumpfem Dröhnen. Bombenlager Nummer zwei explodierte. Die Maschine tanzte auf einem Feuerball. Das Metallgerüst löste sich auf. Die Überreste bohrten sich in den Ballon. Plötzlich befand sich Jhoira im Inneren des Ballons. Die heiße Luft brannte auf ihrer Haut und in ihrer Lunge. Gähnende Leere umgab sie. Die Hälfte des Gerüsts war verschwunden. Die andere Hälfte steckte im Ballon. Die übrigen Besatzungsmitglieder waren tot - die Offiziere, die Kartographen und sogar Meister Malzra. Auch sie würde gleich sterben. »Es tut mir leid, Teferi«, war alles, was sie noch sagen konnte. Die Gerüststangen lösten sich aus dem Ballon und fielen in die Tiefe. Dabei zogen sie die leere Hülle hinter sich her, genau auf die phyrexianische Schlucht zu. Kohlen aus der zerstörten Esse flogen Jhoira um die Ohren. Fluchend befreite sie sich aus dem Geschirr und kroch in das Gewirr aus Tauen, das wie ein Spinnennetz aussah. Eines der Taue wirkte bedeutend dicker und straffer als die anderen. Sie hielt sich daran fest und spürte, daß am anderen Ende gezerrt wurde. »Karn ist dort oben«, keuchte sie. Karn und der Rest der Bodentruppe. Sie befreite sich aus den flatternden Häuten und dem Netz aus Stricken und kletterte das Tau empor, das Leben verhieß. Stück für Stück zog sie sich hinauf, auf das Plateau zu und fort von der phyrexianischen Festung. Das Seil war zu lang, es gab zu wenig Luft und zu viele Felsen. Die Welt lastete schwer auf ihren Schultern. Sie kletterte weiter. Die zerstörte Maschine hing ungefähr hundert Fuß unter ihr und traf auf die Zeitstrom172
grenze. Wellen der Zeitverzerrung schlugen empor. Mit übernatürlicher Geschwindigkeit fiel die Kriegsmaschine in den Abgrund. Das Tau straffte sich. Jhoira wurde durch die Luft geschleudert, und der Poller riß aus seiner Verankerung und segelte in die Tiefe. Eine weißglühende Flamme erfüllte die Schlucht. Himmel und Erde wurden eins. »Es tut mir leid, Teferi.« Jhoira schlug auf dem Boden auf und versank in Finsternis.
173
Monolog
Mir wird bewußt, daß wir keine Maschinen bauen. Wir sorgen nur für Feuer und Tod. Die Explosion überraschte uns alle - sogar Urza. Er überlebte durch reine Willenskraft, die seine Gestalt zusammenhielt, aber im Gegensatz zu den Explosionen, die Tolaria und Argoth vernichteten, hatte Urza diese nicht erwartet. Er bemühte sich, seinen Körper zu erhalten, während seine Gefährten nur noch rotglühende Partikel im Wind waren. Es gibt keine Zeitmaschine, um sie zurückzuholen. Die Explosion überraschte uns alle. Ich zauberte eine Mauer aus Luft herbei, um die abstürzende Maschine aufzufangen, aber sie verlangsamte den Fall nur. Inmitten der Hoffnungslosigkeit erblickte ich Jhoira, die wie eine Spinne am Hauptseil hinaufkletterte. Das war die größte Überraschung, obwohl ich es hätte ahnen müssen. Jhoiras Willenskraft ist ebensostark wie die Urzas. Barr in, Magiemeister von Tolaria
174
In der provisorischen Krankenstation saßen sie an Jhoiras Bett. Keine Matte, kein Deckenlager - sie hatte ein richtiges Bett. Es gehörte Barrin, der es zur Verfügung stellte. In Kürze sollte hier, am Ende der großen Halle, eine Küche entstehen, aber jetzt lag Jhoira zwischen frisch gemauerten Kaminen, eisernen Öfen, Rosten und Töpfen im tiefen Koma. Sie war die einzige Verletzte des Unglücks. Alle anderen waren tot. Bis auf Urza. Er und Barrin hockten auf Schemeln neben dem Bett und unterhielten sich leise. »Sie ist zu einem zweiten Teferi geworden«, sagte Barrin traurig. »Drei Monate und keine Reaktion. Sie liegt eine Armeslänge von uns entfernt, ist aber unerreichbar.« Urza betrachtete die Reglose mit funkelnden Augen. »Körperlich geht es ihr gut. Ihr habt gesehen, wie ich ihr die Hände auflegte. Ihr habt gesehen, wie sich die Wunden schlossen und die Atmung wieder einsetzte. In dem Augenblick, als ich sie berührte, war sie geheilt. Ich begreife nicht, warum sie nicht erwacht.« »Vielleicht sind ihre Wunden tiefer, als Ihr glaubt, mein Freund.« Sanft strich er ihr das Haar aus der Stirn. Nach der langen Zeit unter einem geschlossenen Dach und dikken Decken war ihre Sonnenbräune verschwunden. Die Haare färbten sich von der Wurzel aus dunkel. Es schien, als fielen die Jahre eines nach dem anderen von ihr ab und sie würde wieder zum Kind. »Sie überlebte Alt-Tolaria, zehn Jahre Einsamkeit, 175
Isolation und Sehnsucht. Dann kehrten wir zurück und glaubten, sie würde sich uns anschließen. Aber das tat sie nicht. Karn war ihr einziger Freund. Sie hat sich zurückgezogen und gegrübelt. Jedesmal, wenn sie Teferi ansah - von ihm sprach, an ihn dachte -, wallte das Grauen jener Jahre wieder in ihr auf. Sie fühlte sich ebenso gefangen wie er. Nur eine Armeslänge entfernt, aber immer allein.« «Vielleicht bleibt sie ewig in diesem Koma«, sagte Urza. »Nein. Sie kämpft. Entweder sie gewinnt, oder sie verliert. Es wird lange dauern, aber nicht ewig. Beim letzten Mal dauerte es eine Dekade.« Urza hob den Blick und schien geradewegs durch die Wand zu schauen oder gar durch die Hülle der Welt bis hin zu einem wundervollen Ort. »Vor langer Zeit wurde ich in Serras Reich geheilt. Wäre es noch dort, würde ich sie hinbringen, aber es schrumpfte zusammen, und ich führte die Phyrexianer dorthin ...« Seine Miene verdüsterte und verhärtete sich. »Wir müssen weiterkämpfen. Wohin ich auch ging, die Monster folgten mir. Jeder, mit dem ich mich anfreundete, wurde von ihnen verletzt oder getötet. Ich würde mich selbst vernichten, wenn ich sie dadurch aufhalten könnte, aber sie werden niemals aufgeben. Ich muß sie bekämpfen, solange ich lebe.« »Und was geschieht, wenn Ihr sterbt, ehe sie besiegt sind?« fragte Barrin nüchtern. »Wer wird dann gegen sie kämpfen?« Urzas Gesicht wurde zu einer schwarzen Maske. Ja, wer?« * * * Karn rückte den gewaltigen Schlußstein auf seinen Platz über dem Torbogen, wo er knirschend gegen seine Nachbarn rollte. Sand rieselte herab. Silberne 176
Hände verweilten unsicher auf dem großen Steinbrocken. »Steht er gerade?« Hinter ihm sah Barrin von Malzras Klapptisch auf und blinzelte. Der Stein glänzte in der Morgensonne wie ein Juwel. In den geschliffenen Seiten spiegelten sich der Manaturm und der Magieturm. »Ja, Karn. Es sieht gerade aus.« Der Silbermann nickte und fragte: »Wird er auch liegenbleiben?« Diesmal war Barrin zu sehr mit seinen Skizzen beschäftigt, um aufzusehen. »Natürlich bleibt er liegen.« Er seufzte. Der Stapel Pläne, der vor ihm lag, zeigte Urzas neueste Entwürfe für die Akademie. Nach fünf Jahren eifrigen Bauens war die Hochschule so groß wie das alte Anwesen: Es gab Wohnhäuser, Hörsäle, Laboratorien, Versammlungshallen, Wachtürme, hohe Mauern, Tore, Gärten und jetzt auch eine neue Krankenstation. Nicht, daß viele der einhundertundneunzig Studenten krank oder verletzt waren. Die meisten waren für ernstliche Gesundheitsprobleme zu jung und litten höchstens an Heimweh. Wenn Krankheiten oder Verletzungen auftraten, wurden sie mit Beruhigungspillen, Verbandszeug und Urzas heilender Berührung kuriert. Nein, die neue, zwei Stockwerke umfassende Krankenstation war weniger eine Notwendigkeit als ein Monument für die Dauerpatientin der Akademie. Jhoira war nicht erwacht. Sie war in der Tat zu einem zweiten Teferi geworden. Der junge Mann war inzwischen in seinen Umhang gewickelt und sank zu Boden. Es würde noch ein paar Jahre dauern, bis er schließlich auf dem Boden ruhte. Jhoira war blaß geworden; ihr Haar war wieder dunkelbraun. Sie schlief. Barrin fand heraus, daß Wasser aus Trägzeitflüssen ihrer Gesundheit zuträg177
lieh war, und Urza berührte sie täglich mit heilender Hand. Nichts änderte sich dadurch. Urza erfand eine Maschine, die jegliche Nahrung in Flüssigkeit verwandelte und ihr in den Magen pumpte. Karn gewöhnte sich an, im Engelswald Wildblumen zu pflükken und neben ihr Bett zu stellen. Oft stand er reglos an ihrer Seite, da er es vorzog, die Nächte bei ihr zu verbringen, anstatt sich stillegen zu lassen. Jhoiras Schicksal lastete schwer auf Barrin und Karn, die an dem neuen Gebäude arbeiteten. Sie bewegten sich langsam und traurig, als bauten sie eine Leichenhalle und keine Krankenstation. Ihre Unfähigkeit, sie zu retten, erfüllte die beiden mit Zorn und Verzweiflung. Karn stapfte zum Tisch hinüber und stand funkelnd im hellen Sonnenlicht. Barrin hob schützend die Hand vor die Augen und sagte unwirsch: »Kannst du dich nicht ein bißchen streichen lassen?« »Meister Malzra hat es verboten«, antwortete Karn wahrheitsgemäß. Mit einem Hauch von Sarkasmus, den er in den letzten fünfzehn Jahren entwickelt hatte, fügte er hinzu: »Es würde Euch nicht so viel ausmachen, wenn Ihr einen Sack über dem Kopf trüget.« Barrin warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Ich glaube, es ist an der Zeit, einen neuen Gehilfen zu entwerfen - einen mit dickerem Fell, wenn möglich.« »Wenn Ihr etwas zu Euch Passendes wollt, solltet Ihr ihm einen dickeren Schädel bauen.« »Dicker als der von Arty Schaufelkopf?« »Teferi war ein besserer Gefährte als Ihr.« »Und ein alter Schuh ist ein besserer Gefährte als du!« Ein Surren erfüllte die Luft. Die beiden sprangen instinktiv zurück und starrten ins Leere. Mit der 178
Geschwindigkeit eines Falken flog irgend etwas über die Baumwipfel. Es beschrieb einen Bogen und kam metallisch glänzend - im Sturzflug auf sie zu. Barrin fluchte, lief zum Tisch und riß ein Schwert an sich. Als das fliegende Etwas dicht über ihm war, schwang er die Waffe. Sie prallte krachend gegen einen silbrigen Metallvogel, der sich sogleich wieder in die Lüfte erhob und dabei zahlreiche Blätter und Zweige von den Bäumen riß. Das Surren wurde leiser und kurz darauf wieder lauter, als das Wesen erneut zum Sturzflug ansetzte. Knurrend hob Barrin das Schwert und wartete ab. Karn trat dem Angreifer in den Weg. Er lehnte sich zurück, hob die geballte Faust und schlug zu. Krachend zersprang der Vogel in ein Gewirr aus Silberplatten und Sprungfedern, ehe er zu Boden fiel. Die Metallflügel, die mit zahlreichen Spitzen besetzt waren, zuckten noch einmal. Runde, scharfe Klingen traten hervor, die sich wild um die eigene Achse drehten. Erstaunt starrten Karn und Barrin auf das Artefakt. Sie waren so fasziniert, daß sie Meister Malzra nicht bemerkten, der sich von hinten näherte. Amüsiert beobachtete der Wissenschaftler die Szene. Erst als der Silbervogel zur Ruhe kam, meldete er sich zu Wort: »Das war bloß ein Modell. Die endgültigen Falken stürzen sich mit hundert Meilen Stundengeschwindigkeit in die Schlucht und erreichen ihr Ziel noch vor dem Geräusch, das sie verursachen. Sie wittern das ölige phyrexianische Blut, halten darauf zu und greifen an.« Heftig keuchend wandte sich Barrin um. »Wie viele wollt Ihr bauen?« »So viele wie möglich. Es hängt von unseren Kraftsteinvorräten ab. Könnte ich meine eigenen Steine erschaffen, würde ich den Himmel mit Falken bedecken und sicherlich die ganze Welt beschützen. Mit 179
den vorhandenen Steinen - und jenen, die ich an den drei Thranstätten, die ich vor einiger Zeit entdeckte, zu finden hoffe - kann ich ungefähr tausend Stück anfertigen.« »Drei Thranstätten?« Barrin hob erstaunt die Brauen. »Ihr plant, die Studenten auf Ausgrabungen zu schicken?« »Ja. Sie gehen an Bord der Neu-Tolaria, und das Schiff kehrt mit neuen Studenten zurück, die ich aus den klügsten und geschicktesten Menschen erwählte, die es auf der Welt gibt. Den Anführer der Expedition habe ich vor mir. Da ich leider hierbleiben muß, um meine Forschungen ...« »Ja, ja!« unterbrach ihn Barrin verärgert. »Wie viele Jahre werde ich diesmal fortbleiben?« * * * »Teferi wird jetzt von deinem Umhang eingehüllt«, sagte Karn leise. Er saß neben Jhoiras Bett in der fertiggestellten Krankenstation. »Er brennt nicht mehr. Du hast ihn gerettet.« Er fügte nicht hinzu, daß sich der Junge jetzt irgendwann erheben und auf den Weg zur Außenwelt machen würde, wo er beim Durchschreiten des Zeitvorhangs den Tod erleiden mußte. Jhoira war zu empfindlich für derartige Neuigkeiten. Sie lag bleich und klein im Bett. Arme und Beine waren durch die jahrelange Reglosigkeit geschwächt, die Augen lagen auf ewig hinter geschlossenen Lidern, und der Schlauch aus Malzras Nahrungsmaschine hing auf den roten Lippen. »Die neuen Studenten treffen heute ein«, wechselte Karn das Thema. »Barrin hat sie in den letzten drei Jahren zusammengesucht.« Er sah zu den Deckenbalken empor. Endlich war der Bau der Akademie beendet, und Malzra entwarf 180
keine neuen Pläne mehr. Jetzt richtete er seine gesamte Energie auf die Einrichtung eines Waffenarsenals, um die Phyrexianer auszulöschen. Er nannte die bevorstehende Schlacht >Generalprobe für globale Großbrände<. Das war seine neueste Manie. Der Verstand aller Lehrmeister und Schüler war auf diese Aufgabe gerichtet. Eine Gruppe hatte eine ganze Batterie von Fernkampfgeschützen gebaut, die rings um die Schlucht standen und Tag und Nacht in die Tiefe feuerten. Eine andere Gruppe baute Katapulte, die Pulverbomben so schnell abfeuerten, wie sie geladen wurden. Sie hatten Flüsse gestaut und umgeleitet, um die phyrexianische Fischzucht zu vernichten. Inzwischen verbrachte jeder Student täglich ein paar Stunden damit, die mechanischen Falken zusammenzusetzen, die Malzras Werk waren. Er würde alles tun, um Phyrexia zu vernichten. Und was hatte er andererseits in den letzten zehn Jahren unternommen, um Teferi oder Jhoira zu retten? Vorsichtig ergriff Karn den Schlauch, der in Jhoiras Magen führte. Sehr behutsam zog er daran. Mit einem schmatzenden Geräusch und einem schwachen Ruck glitt er heraus. Karn legte den Schlauch beiseite und sagte: »Komm mit.« Er hob den reglosen Körper auf und trug ihn mit bedächtigen Schritten aus dem Zimmer. Der Weg zwischen den hochaufragenden Gebäuden hindurch bis zum Westtor war lang. Niemand hielt ihn auf, aber alle starrten ihn an. Karn war unter den Schülern als starker Beschützer und fleißiger Arbeiter bekannt. Auch Jhoira war keine Unbekannte. Sie war der fast unsichtbare Geist der alten Akademie. Jeder wußte, daß sie gute Freunde waren, und die Hälfte derer, denen sie begegneten, ging davon aus, daß die Kranke gestorben war und Karn sie begraben wollte. Die andere Hälfte nahm an, daß der 181
Silbermann die Befehle des unfehlbaren Meisters ausführte. Karn aber trug Jhoira fort, weil er es für richtig hielt. Er umging die tödlichen Zeitströme und die Berggipfel, durchquerte dichte Wälder und kletterte zu der Höhle empor, die an der Westküste der Insel lag. Die Sachen, die sie während ihrer Isolation dort gesammelt hatte, lagen noch immer da, als hätte sie die Insel vor zehn Jahren verlassen. »Es ist an der Zeit, daß du hierher zurückkehrst«, sagte er traurig. Karn trug sie zu dem sonnenbeschienenen Felsen, auf dem sie so gerne gesessen und aufs Meer hinausgeschaut hatte. Dort setzte er sich nieder. Jhoira lag klein und starr auf seinem Schoß. Warme, salzige Luft umgab sie, die sanft mit Jhoiras Haaren spielte. Die Wellen schlugen tief unter ihnen an den Strand und zermalmten Steine zu Kieseln und Kiesel zu Sand. Endlos blauer Himmel erstreckte sich über ihren Köpfen. Turmhohe Wolkenberge glitten von Zeit zu Zeit vorbei. Am Horizont leuchtete ein winziges weißes Segel - die Neu-Tolaria kehrte heim. »Du hast immer gesagt, du würdest hier oben sitzen, wenn du die Ankunft deines Seelenverwandten abwartest.« Er blickte auf sie herab, und Trauer und Verzweiflung übermannten ihn. »Wach auf, Jhoira! Du schläfst schon viel zu lange.« Nur ihre Haare bewegten sich im Wind. »Du mußt zurückkommen, Jhoira. Obwohl er die besten Absichten hegt, hat Meister Malzra die Schule in eine Festung verwandelt und die Studenten in eine Armee. Jetzt kommen noch mehr Studenten, und er wird mit ihnen ebenso verfahren.« Er starrte zu den Wellen hinab. »Du hättest es nicht zugelassen. Du warst die Seele der Schule. Erinnerst du dich an mich, wie ich war, ehe Malzra mir den dunklen Kristall einsetzte, der mir Gedanken und Gefühle verlieh? Weißt 182
du noch, wie ich war, ehe ich meine Seele bekam? So ist diese Insel, wenn du nicht da bist.« Außer ihrem schwachen Atem gab sie kein Lebenszeichen von sich. »Schau auf das Meer hinaus! Du wirst das winzige Segel sehen. Tolarias Hoffnung kehrt zurück. Ich weiß, daß du in weiter Ferne weilst. Deine Seele fühlt sich winzig an, wird von hohen Wellen und schlimmen Stürmen gebeutelt. Kehre zurück; du bist unsere Hoffnung.« Ihre Augenlider flatterten. Karn rührte sich nicht und wagte seinen Augen nicht zu trauen. Jhoira atmete heftiger und schien sich gegen ihn zu lehnen. Ihre Augen blieben geschlossen. »Wenn du jetzt nicht aufwachst, verpaßt du vielleicht deinen Seelenverwandten.« »Ich... ich... habe geträumt.« Die Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Ich ... hatte ... eine Vision. Ich weiß, wie man ... es schaffen kann.« »Was?« Karn blinzelte verwirrt. Er sah sie durchdringend an, aber sie war wieder bewußtlos und lag so schlaff in seinem Schoß wie zuvor. Er stand auf, Jhoira in den Armen haltend. Es kam ihm vor, als habe er ein Herz in der Brust, das schmerzend schlug. Erwachte sie allmählich oder handelte es sich bloß um die Phantasien eines Silbermannes? Mit dem Gefühl, als habe sich ihr Gewicht verdoppelt, stolperte er zur Akademie zurück. Welcher Heiler konnte sie erwecken? Was, wenn sie nie wieder erwachte? Wie hatte er die letzten zehn Jahre ohne sie leben können? *
*
*
K'rrik stand in der Mitte seines Mutantenlabors, das tief im Felsen unter der Festung lag. Seit zwanzig Jahren war die Stelle ohne Deckung, nicht länger unter 183
Wasser, da Urza Weltenwanderer die Flüsse umgeleitet hatte, um sie der Fische zu berauben. K'rrik hatte an einem Ende der Schlucht einen Damm bauen lassen, und so war ein flacher, stiller See entstanden, in dem man wenigstens Raubfische züchten konnte, die sich vom Abfall ernährten, der ins Wasser geworfen wurde. Seit vierzig Jahren regnete es Pulverbomben und Geschützbolzen auf sie herab. Bestimmt rodete Urza sämtliche Wälder der Insel, wie er es früher auf Argoth getan hatte. Aber weder Bomben noch Bolzen, weder Sturmflut noch Hungersnot hatten diese Höhle und ihren kostbaren Inhalt erreicht. In großen Gußformen aus Obsidian, die eigens für diesen Zweck gegossen worden waren, wuchs K'rriks neueste Generation Negatoren heran. Sie hatten unförmige Köpfe, grauenvoll aussehende Körper, Arme, scharf und spitz wie Schwerter, Beine, die sich so schnell wie die eines Schakals bewegten, und klauenbewehrte Füße, die den Schädel eines Mannes zerquetschen konnten, als handele es sich um eine reife Melone. In zwei Jahren würde diese sechste Gruppe immer wieder verbesserter Negatoren bereit sein, die Formen zu verlassen, die Wände der Schlucht zu erklimmen und den Vorhang der Zeit zu durchbrechen, der sie umgab. Vielleicht würden sie sterben, so wie die fünf Gruppen vor ihnen. Vielleicht würden sie es schaffen, dann aber zu schwach sein, um den Mann zu hetzen, der die Ursache für K'rriks Qualen war. Den Mann? Den Gott! Was auch immer geschah: K'rrik hatte bereits Proben ihres Fleisches entnommen, geprüft und verbessert. Die siebente Gruppe würde noch stärker sein und in einer Dekade bereit zum Verlassen der Schlucht. In weniger als zwanzig Jahren von Urzas Zeitrechnung würde seine schöne Akademie von Phyrexianern bewohnt, die ihrem Herrn, dem mäch184
tigen K'rrik, treu ergeben waren. Für sie war er mehr als ein uralter Schläfer, mehr als ein unsterblicher und unbesiegbarer Feldherr. Für sie war er ein Gott... Er war der fleischgewordene Yawgmoth. * * * Sechs Monate waren seit dem ersten Erwachen Jhoiras in den Silberarmen ihres Freundes vergangen. Die Heilkundigen und auch Malzra selbst waren nicht in der Lage gewesen, sie zu erwecken, obwohl sie es fortwährend und manchmal recht unsanft versuchten. Karns Berührung hatte wie Magie gewirkt und sie eine Woche nach dem ersten Mal erneut geweckt. Sie war nur kurz bei Bewußtsein gewesen und wirkte fiebrig, hatte aber erzählt, eine Vision gehabt zu haben und zu wissen, wie >der Durchbruch< zu erreichen sei. Dieser rätselhaften Bemerkung fügte sie noch hinzu, sie wisse, wie die Rettung für sie und Teferi aussehen müsse. Dann verlor sie das Bewußtsein. Seit damals hatte sich Karn geweigert, beim Bau der Waffen und Kriegsartefakte mitzuhelfen. Er verbrachte seine Zeit damit, neben ihrem Bett zu sitzen, leise mit ihr zu sprechen und ihr Geschichten aus Shiv vorzulesen, die er in der Bibliothek aufstöberte. Es war wie in alten Tagen, als die beiden einander alles bedeuteten und sich von der Außenwelt zurückzogen, die sie weder willkommen hieß noch zu schätzen wußte. Jhoira reagierte. Schon bald erwachte sie fast stündlich für mehrere Minuten. Karn zwang sie, Suppe und Brot zu sich zu nehmen, und ließ nicht zu, daß man ihr noch einmal den Schlauch in den Hals steckte. Einen Monat später saß sie im Bett, und ihre Arme und Beine wurden deutlich kräftiger. Kurz darauf rief sie nach Papier und Stiften. Dann zeichnete sie Pläne für eine Maschine, die sich nicht 185
einmal Malzra genau vorstellen konnte. Sie bestand aus langen Schläuchen, Röhren, Pumpenräumen, riesigen Zahnrädern, großen Segeln aus weißem Tuch, einer gewaltigen, von Arbeitern angetriebenen Turbine und anderen Dingen. Als Barrin und die übrigen Gelehrten Bedenken ob des zeitaufwendigen, sehr kostspieligen Baus anbrachten, redete niemand von Delirium, aber der Gedanke lag in der Luft. Karn sammelte eine Gruppe junger, kluger Studenten um sich, die erst vor kurzem auf der Insel eingetroffen waren. Er brachte sie in die Krankenstation und rüstete sie mit Werkzeugen und allen Geräten aus, die Jhoira wünschte. Sie arbeiteten unermüdlich, diese Kinder, von Jhoira und ihrer Vision geleitet. Drei Monate später wurde die Maschine in die Mitte der Trägzeitzone gerollt, in der die Teferistatue stand. Auch die Kranke wurde in einem Stuhl, den sie mit Rädern hatte versehen lassen, herbeigeschafft. Die gesamte Akademie versammelte sich, während die jungen Schüler lange biegsame Rohre aus der Trägzeitzone rollten und über die Hügel bis zum nächsten extremen Schnellzeitstrom. Ihr Tun wurde von zweifelnden, mißtrauischen Bemerkungen begleitet. Jhoira rollte sich neben die große Maschine, die sie in ihrem Koma gesehen hatte. Sie klopfte an eine der Metallplatten. Das Dröhnen brachte ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuschauer ein. Als alle schwiegen, ergriff sie das Wort: »Das Prinzip ist ganz einfach. Wasser widersteht Zeitveränderungen. Das haben wir selbst erlebt. Wir, die Überlebenden der alten Akademie, nutzen die Fähigkeit des Trägzeitwassers, um unser Altern aufzuhalten. Auch Schnellzeitwasser zögert, den ihm eigenen Pulsschlag aufzugeben. Die Maschine saugt Schnellzeitwasser aus einer nahegelegenen Felsspalte, die eine unterirdische Quelle verbirgt. Die Pumpen füllen 186
die Tanks mit Wasser. Dann treiben die Kurbeln die Windturbine an und blähen die Segel auf. Wassermühlenschaufeln tauchen in die Tanks ein und überschütten die Segel mit Wasser. Wind von der Turbine blast durch den Stoff und ruft einen dichten Nebel aus Schnellzeitwasser hervor. Diese Schnellzeitwolke läßt einen sicheren Korridor entstehen, mit dem man in Teferis Zeitstrom hinein- und wieder herausgelangen kann.« Die zweifelnden Mienen verwandelten sich in anerkennende Blicke. »Ist es Lebewesen je gelungen, in eine Schnellzeitwolke zu gelangen und auch wieder herauszukommen?« fragte Barrin. Jhoiras Gesicht verdüsterte sich. »Diese Maschine ist nicht allein das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit, sondern auch das Ergebnis einer Vision - einer Ghituvision. Bis jetzt haben wir sie nicht an Lebewesen erprobt.« »Ich wage es!« erklärte Karn mit leiser Stimme, die sich wie ferner Donner anhörte. »Ich wurde gebaut, um Zeitverzerrungen zu widerstehen, die jedes Lebewesen getötet hätten, und ich glaube an Ghituvisionen.« Barrin wirkte bedrückt und fuhr fort: »Ja, Karn, aber nur, weil du ohne Probleme in den Strom hineingehen kannst, heißt das nicht, daß Teferi unverletzt herauskommt.« Jetzt war es an Karn, bedrückt zu Boden zu sehen. »Ich begleite ihn«, erklang eine tiefe Stimme, und alle Augen richteten sich auf den bärtigen Mann mit den funkelnden Augen. »Meister Malzra?« Barrin war außer sich. »Unmöglich! Wir müssen Tests durchführen, Tierversuche, ehe einer von uns die Nebelwolke betritt!« »Ich glaube an diese Maschine«, erklärte Malzra schlicht. »Ein wunderbares Gerät. Der erste Versuch, 187
extreme Zeitströme zu betreten. Ich glaube an die Maschine.« Er blinzelte Barrin spöttisch zu. »Da ich der Grund dafür bin, daß Teferi dort gefangensitzt, schulde ich es dem Jungen mitzugehen.« Er winkte Jhoiras Schülern, die zusammengedrängt neben den Pumpen standen. »Füllt die Tanks!« Freudig nickte Jhoira den jungen Leuten zu, die sich gleich an die Arbeit machten. Anfangs hörte man nur ein Gurgeln und Zischen, bis die ersten braunen Wassertropfen in die Tanks fielen. Kurz darauf war das Wasser verdunstet, und nichts als Staub blieb zurück. Der Anblick ernüchterte Jhoira, aber Malzra trat neben sie und klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. »Es beweist, daß im Wasser Schnellzeitanteile enthalten sind. Habe Geduld! Die Pumpen werden es schon schaffen. Die Maschine arbeitet ganz ausgezeichnet.« Wasser floß durch die Schläuche und strömte in die Auffangbecken. Es schimmerte und strömte mit übernatürlicher Geschwindigkeit dahin; rechteckige Wellen glitten über die Oberfläche. Die Studenten setzten ihr Werk an den Kurbeln fort. Der Wasserpegel stieg. Die Oberfläche bewegte sich so heftig, als schwämmen ganze Fischschwärme im Wasser. Die Becken waren bereits halbvoll, und die Zuschauer beobachteten den Vorgang mit wachsender Spannung. Malzra stand neben Karn, als die Wassermühlenräder sich zu drehen begannen. Nach der ersten vollständigen Umdrehung betätigten die Schüler die Turbinenkurbeln. Ein heißer, unnatürlicher Wind kam am anderen Ende der Maschine auf, durchdrang den nassen Stoff der Segel und sandte einen feinen Sprühregen nach außen. Tropfen fielen auf die Steinplatten zwischen der Maschine und der Stelle, an der Teferi unter dem Umhang kauerte. Der Sprühregen drang in die Trägzeitzone vor und benetzte den Jungen nach und nach... Alle, die in der Nähe standen, reck188
ten die Hälse, um keine Bewegung des Kauernden zu verpassen. Während die Studenten kraftvoll und rhythmisch kurbelten, verdichte sich der Regen zu Nebel, der bald darauf wie eine weiße Wand über dem Boden schwebte. Jhoira nickte Malzra zu. Er musterte die Nebelwand eingehend. Sie hing wie ein wogender Schleier vor ihm, und alle Wassertropfen waren deutlich zu erkennen. »Nun, Karn, es sieht so aus, als sollten Geschöpf und Schöpfer die Zeitmaschine gemeinsam betreten.« Der Silbermann starrte in den weißen Nebel. »Ich kann vorausgehen und Bericht erstatten.« Malzra tat den Vorschlag mit einem Kopfschütteln ab. »Wir gehen Seite an Seite.« Damit schritten die beiden auf die feuchte Wand zu und traten hinein. Der Neben umgab Karn mit unerwarteter Kraft. Es fühlte sich an wie damals, als er ins Meer gestürzt war und das Wasser ihn einhüllte. Er spürte die nassen Steine unter seinen Füßen, und der Nebel verwandelte sich in einen heftigen Sturm. Er stemmte sich dagegen und streckte die Hand aus, um sich zu vergewissern, daß Malzra neben ihm ging. Es war unmöglich, ihn durch die dichte weiße Luft zu sehen. Der Sturm umtoste etwas Greifbares. Karns Finger berührten eine Hand, die sich ihm suchend entgegenstreckte. Malzra hielt die Finger des Golems fest umklammert. Der Wind ließ nach. Der schreckliche Sturm, der heftig an Karns Rüstung gezerrt hatte, wurde zu einem sanften Säuseln und schließlich zu einem kaum spürbaren Hauch. Malzras Stimme klang gepreßt, als stecke er zwischen zwei Felsbrocken. »Die Zeitverzerrung ... läßt... allmählich ... nach.« »Ihr habt Schwierigkeiten beim Atmen.« »Ich ... muß nicht... atmen«, lautete die Antwort. 189
Der Wind war so gut wie erstorben. »Wir sollten gehen. Wir haben uns ... der Zeit beinahe angepaßt. Draußen vergehen für jede Minute, die wir hier verbringen, mehrere Stunden.« Schulter an Schulter gingen sie weiter, im Gleichklang mit dem wogenden Nebel. Nach nur fünf Schritten färbte sich der weiße Nebel grau, und sie ahnten die Umrisse der Säule, in der sich Teferi aufhielt. Der Knabe lag kaum sichtbar zusammengekrümmt auf dem Boden. Karn war froh, daß er nicht auf ihn getreten war. Vielleicht wäre es auch egal gewesen. Unter dem Umhang war keine Bewegung zu erkennen. Aber der Junge atmete keuchend ... »Teferi!« sagte Malzra mit gewohnter Stimme. »Wir sind gekommen, um dich zu holen.« Ein Zittern durchlief den Körper unter dem Umhang, und eine atemlose Stimme erklang: »Wer seid Ihr? Engel?« Malzra lachte, aber Karn antwortete: »Ich bin's, Teferi. Arty Schaufelkopf. Meister Malzra und ich holen dich.« Der Knabe zog sich den Umhang vom Kopf und starrte in die Dunkelheit. In dem dichten Nebel vermochte er nur zwei hohe Gestalten zu erkennen, die vor ihm standen. »Was ist geschehen? Ein greller Blitz zuckte aus heiterem Himmel herab. Es donnerte unerträglich laut, und dann stand alles in Flammen - selbst ich. Sobald ich konnte, rannte ich los. Um mich herum war es blendend hell und glühendheiß. Plötzlich wurde es dunkel, und nun seid ihr hier.« »Wir wollen dich mitnehmen«, erklärte Malzra. Plötzlich wurde die graue Nebelwand dunkler und dunkler, bis sie fast schwarz war. Draußen war es Nacht geworden. Nur der Glimmermond sandte ein wenig Licht in die Säule hinein. 190
Ein Gefühl der Dringlichkeit überfiel Karn. Er bückte sich, zog den Umhang beiseite und reichte Teferi die Hand. »Komm jetzt! Beeilung! Jhoira wartet.« »Jhoira?« fragte der Knabe und stand taumelnd auf. »Ich freue mich, sie zu sehen.« »Komm jetzt!«
191
Monolog
Nach der ersten Stunde fleißigen Kurbelns mischte ich mich unter die Zuschauer und teilte die Studenten in Gruppen ein, die abwechselnd an Pumpen, Wasserrädern und Turbine arbeiteten. Hätte der Schnellzeitnebel auch nur eine Sekunde nachgelassen, wären Malzra, Teferi und Karn in tausend Stücke gerissen worden. Die Gruppen arbeiteten die ganze Nacht lang. Ich kräftigte sie mit ein paar weißen Manazaubern. Die ganze Zeit über saßen Jhoira und ich neben der Maschine, um nach Schwächen oder Fehlern Ausschau zu halten. Nichts derartiges geschah - Urza hatte recht, es war eine ausgezeichnete Maschine. Schlimm war nur die Hoffnung. Nach einer Stunde überlegte ich, ob Urza und Karn vielleicht schon längst gestorben waren, Sekunden, nachdem sie die Nebelwand betraten. Vielleicht lagen sie tot am Boden, wegen des Nebels für uns nicht zu sehen. Wie lange sollten wir arbeiten? Tage? Wochen? Monate? Ich merkte, daß auch Jhoira von düsteren Gedanken befallen wurde, obwohl wir beide sie nicht aussprachen. Erst im Laufe des nächsten Vormittags hörte ich, wie auch die Schüler an den Kurbeln ähnliche Befürchtungen aussprachen. Wir alle hatten eine lange und schlaflose Nacht hinter uns und die Erschöpfung durch die Arbeit wurde von wachsender Hoffnungslosigkeit verschlimmert. »Wie lange wollen wir weitermachen?« fragte ich Jhoira am Nachmittag. »Wir machen weiter, bis die Maschine auseinanderbricht oder Karn und Malzra erscheinen.« 192
Ihre Worte gaben mir Zuversicht. Hier saß eine Frau neben mir, die sich aus einem zehnjährigen Koma gekämpft hatte, um eine Maschine zu bauen, die eines Urza würdig war. Ein Spaziergang den Hügel empor verriet mir, daß unsere Arbeit bald enden würde. Das Wasser würde nicht für die ganze Nacht reichen. Als ich den Hügel hinunterging, um Jhoira die schlechte Nachricht zu überbringen, bot sich mir ein unglaublicher Anblick. Die Wasserräder hielten knarrend an, die Turbine verstummte, und die dichte Nebelwand verflüchtigte sich. Ich rannte los, aber schon erblickte ich Urza, Karn und Teferi, die lebend aus der Zeitzone entkommen waren. Die Studenten brachen in Jubelgeschrei aus und umringten die Geretteten. Ich lief weiter, bis ich die kleine Gruppe junger Leute erblickte, die sich um Jhoiras Rollstuhl drängte. Sekunden später war ich bei ihr. Sie hatte die Augen geschlossen, und die Hände lagen reglos in ihrem Schoß, aber sie atmete gleichmäßig. »Sie war wach, bis sie erschienen«, berichtete ein Student mit ehrerbietiger Stimme. »Sekunden später ...« »Ruhe dich aus, mein Kind«, sagte ich zärtlich und strich ihr die verschwitzten Haare aus der Stirn. »Schlaf noch eine Weile. Wir wecken dich wieder auf. Wir werden dich immer wieder wecken.« Barrin, Magiemeister von Tolaria
193
In den Monaten nach seiner Rettung hatte Teferi Schwierigkeiten, sich in der neuen Welt einzuleben. Zwar waren die Explosion und das darauf folgende Feuer entsetzlich gewesen, aber am schlimmsten traf ihn die Erkenntnis, daß die ganze Welt und seine ehemaligen Freunde fast fünfundzwanzig Jahre älter geworden waren. Zahlreiche Heiler hatten ihn vorsichtig über seine schrecklichen Erlebnisse befragt und sich ganz besonders für die Isolation im Trägzeitstrom interessiert. »Welche Isolation?« fragte er. »Ich war bloß drei Sekunden lang allein! Wenn man in Flammen steht, ist es völlig egal, ob man allein ist oder nicht. Die vierzehn Jahre vor der Explosion waren viel schlimmer! Ihr redet von Isolation! Ich hatte keine Gleichaltrigen um mich. Die anderen Schüler waren mindestens fünf Jahre älter! Jetzt sind sie ungefähr dreimal so alt wie ich! Jhoira ist vierzig. Malzra ist wahrscheinlich fünfhundertundvierzig. Und was ist mit Teferi? Oh, er ist noch immer vierzehn!« Wieder eine Wunde, die Urza nicht zu heilen vermochte. Auch Teferi war hilflos. Nach einigen Wochen befahl er den Heilern fortzugehen. Als sie sich weigerten, ihn zu verlassen, belegte er sie mit einem Juckreizzauber. Sie bemühten sich um Selbstbeherrschung, kratzten sich aber schon nach kurzer Zeit ohne Unterlaß. Dann flohen sie. Teferi verließ die Krankenstation und marschierte durch die neue Akademie. 194
»Die Wand gab es früher nicht!« knurrte er und wirkte einen Zauber. Grüne Energieströme flossen von seinen Fingern in das Gras am Fuße der Mauer. Efeu rankte sich blitzschnell empor und wuchs bis zum Wehrgang hinauf. Minuten später war die Wand unter einem grünen Teppich begraben. »Seht euch die hübschen Türme an!« Er streckte die Hand aus. Moos sproß auf den Dächern und hing in graugrünen Streifen herab. Teferis Wutanfall erregte die Aufmerksamkeit einiger Schüler. Köpfe tauchten an den Fenstern auf. Gesichter erschienen in Türeingängen. Immer mehr Studenten scharten sich um den zornigen Knaben. Sie alle kannten ihn und warteten aufgeregt auf weitere Wutausbrüche. Teferi wirbelte herum. »Verschwindet! Ich will nicht mehr angestarrt werden! Das habt ihr fünfzehn Jahre lang getan. Verschwindet!« Sie wichen zurück, folgten ihm aber, sobald er sich wieder in Bewegung setzte. Teferi holte tief Luft und brüllte: »Dann seht nur her!« Die Studentengewänder Alt-Tolarias öffneten sich hinten, wo sich ein langer Schlitz befand, der für notwendige Körperfunktionen vorgesehen war, und entblößten sein Hinterteil. Eine neue Studentengeneration machte mit >Teferis Bruch der Etikette< Bekanntschaft. Viele wandten sich angewidert ab. Andere lachten und sahen nach, ob ihre Arbeitskleidung eine ähnliche Zurschaustellung zuließ. Die Reaktionen mißfielen dem Jungen offenbar und reizten ihn noch mehr. Er wob einen Zauber, der eine Wolke von Gestank durch die Akademie schickte. Die Zuschauer preßten die Lippen zusammen und eilten davon. Türen und Fensterläden wurden zugeschlagen. Die Menschen, die Teferi seit mehr als einer Dekade angestarrt hatten, schauten endlich weg. 195
Und er verschwand. Irgendwann verflüchtigte sich die Wolke, und Schüler und Lehrmeister wagten sich wieder ins Freie. Barrin und Malzra waren außer sich vor Zorn, da ein wochenlanges Experiment mißlungen war. Ihre Wut steigerte sich, als der Übeltäter nicht aufzufinden war. »Sucht überall!« befahl Barrin den jungen Leuten. Er zischte Malzra zu: »Wir haben ihn nicht gerettet, um ihn ob seiner Dummheit wieder zu verlieren.« Die ganze Schule geriet in Aufruhr. Es war, als stünde eine Invasion bevor. Schade, daß Teferi nicht da war, denn er hätte den Anblick genossen. Jhoira kam aus ihrem Zimmer. Überall liefen Menschen umher, rissen sämtliche Türen auf, schauten unter jedes Bett und hinter alle Vorhänge und Wandbehänge. Beunruhigt runzelte sie die Brauen. »Teferi, wo versteckst du dich?« Plötzlich lächelte sie. Anscheinend erriet sie seine Gedanken. * * * »Ich wußte, daß ich dich hier fände«, sagte Jhoira gelassen, als sie die Höhle an der Westküste der Insel erreichte. Teferi schaute nicht auf. Er saß auf dem sonnenbeschienenen Felsen und starrte auf die wogende See hinaus. Vor vielen Jahren war er hierhergekommen und hatte Kerrick und Jhoira beim Liebesspiel entdeckt. Damals war ihm das Herz gebrochen, aber er hatte sie nicht einmal verraten, als Malzra ihn verhörte. Jhoira erinnerte sich genau. Für sie lag die Zeit weit zurück, aber für Teferi waren erst wenige Monate vergangen. Jahre. Monate. Was bedeutete die Zeit in Tolaria? Jhoira sah nur wenig älter aus als damals. Trägzeitwasser hatte sie äußerlich zweiundzwanzig bleiben 196
lassen, und nach dem Koma wirkte sie noch jünger. Die Vision hatte sie und Teferi gerettet. Sie hatte ihr den Weg durch die Zeitgrenze gezeigt, die ihn isoliert hielt. Vielleicht waren sie keine Seelenverwandten, sie und Teferi, aber sie waren wie metaphysische Zwillinge. Jhoira kletterte auf den Felsen und ließ sich neben dem Jungen nieder. Es schien, als wiederhole sich der Augenblick vor vielen Jahren, obwohl Kerrick nicht mehr da war. Es fühlte sich gut an, statt dessen neben Teferi zu sitzen. »Ich bin froh, daß du hier bist. Es ist ein guter Ort, wenn man sich zwischen Tolaria und dem Rest der Welt eingeklemmt fühlt.« Die Muskeln an Teferis Unterkiefer spannten sich. Er sah aufs Meer hinaus. »Wenn man allein sein möchte, ist der beste Platz dafür hier.« »Du verstehst mich nicht!« fauchte er. »Doch, das tue ich«, antwortete sie sehr ruhig. »Doch, ich verstehe dich.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er reagierte nicht. »Wir entfernen uns immer weiter voneinander. Als du achtzehn warst, hast du mir immer gesagt, ich solle erwachsen werden. Jetzt bist du vierzig, und ich habe deinen Rat noch immer nicht befolgt.« »Wir leben auf Tolaria«, meinte Jhoira philosophisch. »Zeit spielt keine Rolle. Du wirst schon sehen. In ein paar Jahren sind wir gleichaltrig.« Er schnaubte unwillig. »Ein paar Jahre - eine Ewigkeit, eine schreckliche Ewigkeit.« »Nicht schrecklich, wenn man Freunde hat.« Nun ergriff er endlich ihre Hand. »Danke, Jhoira. Nochmals vielen Dank.« * * * 197
Seit Teferis Rettung waren sieben Jahre vergangen. Jetzt war er ein Mann. Zwar ein recht junger Mann, aber mit seinen einundzwanzig Jahren wirkten er und Jhoira gleichaltrig. Seit zwei Dekaden nahm sie Trägzeitwasser zu sich. Den meisten Bewohnern der Akademie, die älter als Dreißig waren, wurde gestattet, ebenfalls einmal im Jahr Trägzeitwasser zu trinken, um das Altern aufzuhalten. Häufigerer Genuß verursachte rätselhafte Krankheiten. Da niemand etwas über die Langzeiteffekte des Wassers wußte, war das Trinken streng geregelt. Jüngere Schüler durften sich niemals daran laben. Teferi wurde von Barrin verwarnt, als man ihn ertappte, wie er Schnellzeitwasser trank, um schneller erwachsen zu werden. In den letzten sieben Jahren hatte sich Teferi gut entwickelt und wirkte deutlich reifer. Seine Streiche ließen nach und verschwanden endlich ganz. Dennoch neigte er zu spitzen Bemerkungen und Ironie. Zu Teferis besten Einfällen gehörte die Gruppe der >Zeitforscher<. Das waren Schüler, die die Auswirkungen studierten, die Bewegungen in und aus steilerem Zeitgefälle verursachten. Sie veränderten Jhoiras Maschine, um längerwährende Zeitbrücken in extreme Zeitströme zu schaffen. Teferi ging so weit, bereits vorhandene Flüsse zu benutzen, um Zeitgrenzen zu überschreiten. Wenn er vollständig unter Wasser tauchte und einen mit Luft gefüllten Glasbehälter über den Kopf hielt, trug die Strömung den Forscher davon und - durch das Wasser geschützt - in eine andere Zeit. Mit Hilfe solcher Entdeckungen war die Akademie in der Lage, Laboratorien in gemäßigten Schnellzeitzonen zu bauen, in denen ein einen Monat währendes Experiment nur eine Woche dauerte. Die deutlichsten Ergebnisse dieser Experimente zeigten sich bei Malzras Falken. Die komplizierten Mechanismen wurden schneller gebaut, als es möglich war, Kraftsteine aufzutreiben. Die Kristalle trafen nur 198
sporadisch ein, wenn die Neu-Tolaria auf ihrem Weg von einem Thranfundort zum nächsten an der Insel anlegte. Inzwischen hatte Malzra eine neue Art mechanischer Wächter erfunden. Er entnahm den Wachen, die er für die Wehrgänge der alten Akademie entworfen hatte, die Sensoren und schloß sie mit Bewegungsgeräten zusammen - Maschinen, die wie langbeinige Emus aussahen oder wie elegante Panther. Er schuf auch Kraken, die sogar an steilen Felswänden emporkletterten. Jede Maschine war mit Kneifzangen und Klingen ausgerüstet und besaß einen Kern aus hochexplosivem Material, das aktiviert wurde, sobald sämtliche anderen Systeme erloschen. Diese Geräte erhielten den Namen >Wächterklasse< und stellten eine furchterregende kleine Armee dar. Die zweibeinige Version wurde auch >tolarischer Läufer< genannt. Sie bewegte sich mit gewaltigen Sprüngen vorwärts. An Stelle von Emuflügeln war sie mit Sensenklingen ausgerüstet, die hervorschnellten und zusammenschnappten. Die Artefakte waren für den Kampf auf freiem Feld bestimmt. Die Vierbeiner hießen >Pumas<. Es waren geschmeidige Wesen, die lautlos durch die Baumwipfel streiften und sich auf Eindringlinge fallen ließen. Die dolchartigen Krallen ermöglichten ihnen ein müheloses Erklimmen selbst höchster Bäume und enthaupteten einen Menschen ohne Schwierigkeiten, wobei der Kopf in drei gleichmäßig dicke Scheiben geschnitten wurde. Wenn die Maschine die Krallen einzog, wurden sie automatisch geschärft. Die letzte Art - die achtbeinigen Wesen - nannte man >Skorpione<, und sie war so flink wie jede Spinne und besaß wehrhafte Kneifzangen am Kopf. Bisher gab es erst ein Dutzend von jeder Art, aber die glänzenden Körper und die dunklen, aus Juwelen bestehenden Augen versetzten allein durch ihren Anblick 199
selbst ältere Studenten in Schrecken. Sollte die Notwendigkeit bestehen, konnte man mit Hilfe von Teferis Schnellzeitlaboratorien ganze Armeen innerhalb eines Jahres herstellen. Durch die Patrouillen der Läufer, Pumas und Skorpione auf dem Boden und den Falken in der Luft, war Malzra sicher, für guten Schutz gesorgt zu haben. Außerdem ließ er seine Schüler fünf Ornithopter bauen. Aus der Schule war eine schwerbewaffnete Festung geworden, obwohl sich Barrin und Jhoira dagegen sträubten. Sie sorgten dafür, daß trotzdem eine menschliche Atmosphäre erhalten blieb. Dank ihres Einsatzes gab es neben der Waffenproduktion auch Zeit für andere Studien und Experimente sowie Feste und Feiern, um das eintönige Leben zu erleichtern. Dennoch schwebte die Bedrohung der finsteren phyrexianischen Schlucht fortwährend über ihnen, und alles, was innerhalb der Schule zum Leben erwachte, wuchs im Schatten der Feinde heran. Dann fanden sie ihn - den toten Phyrexianer, der am oberen Rande der Schlucht lag. Bis dorthin war der Feind durch einen Wasserfall geklettert, denn das Wasser minderte die Einwirkung der Zeitverzerrung. Dennoch war das Wesen vom knochigen Kopf bis zum letzten Wirbel des geißeiförmigen Schwanzes zerfetzt worden. Die rosige Haut war zerrissen und enthüllte dicke graue Muskelstränge über einem groben Skelett. Die einstmals langen Klauen waren durch die furchtbare Kletterpartie zu blutigen Stümpfen geworden. Irgendwie war das Monstrum durch die Zeitverschiebung gelangt und hatte überlebt, bis es das Plateau erreichte. Nach zweihundert Jahren der Experimente und Mutationen war es den Phyrexianern gelungen, ein Wesen zu erschaffen, daß widerstandsfähig genug war, die Zeitgrenze zu überschreiten und fünfhundert Fuß hoch zu klettern. In zwei Generatio20Ü
nen würden die Kreaturen stark genug sein, um der Schlucht zu entkommen und zu kämpfen. In vier Generationen würde es Hunderte von ihnen geben. Durch die Schnellzeitvorteile vermochten die Phyrexianer vier Generationen Hybriden zu züchten, während außerhalb der Schlucht nur acht Jahre ins Land gingen. Aus diesem Grund plante Malzra den Tag der Falken. Noch während der Vorbereitungen auf einen großen Krieg schmiedete er seinen Plan für einen Luftangriff, der nur zwei Ziele hatte. Auf jeden Fall sollten Phyrexianer umkommen, vielleicht sogar neue Generationen. Malzra erkaufte sich damit Zeit, um sein Waffenarsenal zu vergrößern. Im günstigsten Fall sollten sämtliche Wesen in der Schlucht getötet werden, dann war die Bedrohung für alle Zeiten vorüber. Barrin gefiel der Plan, der keine Risiken für Schüler und Lehrmeister beinhaltete und die siebenhundertfünfzig fertigen Falken beschäftigte. Endlich nahte der Tag der Falken. * * * Karn und Barrin standen auf dem Riesenplateau und sahen zu, wie Malzra in einen der neuen Ornithopter kletterte. Das bemannte Fluggerät enthielt unzählige Sensoren, die mit den im Kreis um die Schlucht hokkenden Pumas, Läufern und Skorpionen verbunden waren. Außerdem befanden sich fünfzig Pulverbomben an Bord, sechzehn Schießscharten waren vorhanden und Flügel, die sich eng an den Rumpf falteten, wenn der Ornithopter zum Sturzflug ansetzte. Von seinem Kommandositz aus wollte Malzra den Angriff steuern und leiten. Barrin sah blinzelnd in die Sonne. Er hielt die Hand schützend vor die Augen und schaute vom Plateau aus zu den Küsten der Insel hinüber. Dünne rote 201
Rauchfahnen erschienen am Westrand Tolarias und wurden vom Wind über das Meer getragen. »Jhoira und ihre Leute haben die Küste erreicht und Posten bezogen. Sie sind die letzten drei von achtunddreißig Schwadronen. Die Falken sind zum Angriff bereit!« Urza schnallte sich an. Seine üblichen blauen Gewänder waren aschgrauen Kleidern mit vielen Taschen gewichen. Um die Hüften hing ein Werkzeuggürtel; eine Rüstung bedeckte die Schultern. Außerdem trug er kniehohe Schnürstiefel, und die Kristallaugen schützte ein dunkler Schirm aus Obsidian. »Wenn wir heute Erfolg haben, können wir später vielleicht Millionen dieser Artefakte nach Phyrexia schicken, und kein Bewohner Dominarias muß kämpfen.« »Was ist mit Euch?« fragte Barrin. »Ihr seid ein Dominarier.« »Hört Ihr niemals auf, Euch Sorgen zu machen? Ich fliege über die Schlucht, werfe meine Bomben ab und steige auf, ehe sie auf mich schießen. Es ist so einfach, als flöge ich über die Wüste der Fallaji. Ich sorge nur für Ablenkung, für die Wand aus Rauch, die den Angriff verbirgt.« »Die Falken greifen zwangsläufig unvorhergesehen an. Deshalb machen wir uns doch die Mühe, sie von verschiedenen Stellen der Insel aufsteigen zu lassen. Sie sind immer schneller als ihr Schall. Die Phyrexianer sehen und hören sie nicht, bis sie von ihnen in Stücke gerissen werden. Eure Bombardierung setzt nur Euer Leben und den Ornithopter aufs Spiel.« »Wir wissen beide, daß ich den Sturz durch die Zeitgrenze unter Umständen überleben würde ...« »Würdet Ihr auch die Sekunden danach überleben, von Hunderten oder gar Tausenden dieser Wesen umgeben? Weltenwandern wird Euch nicht retten, wenn eine Zeitverzerrung herrscht.« 202
Mit einem verächtlichen Schnauben startete Malzra die mächtige Thranmaschine. Bebend erwachte sie zum Leben. Die Flügel breiteten sich aus und begannen zu schlagen. Langsam und bedächtig hob sich der Riesenvogel in die Lüfte. »Diesen Kampf muß ich anführen und gewinnen!« Malzra entfernte sich vom Plateau. Ehe das Surren der Flügel alles andere übertönte, brüllte Barrin: »Es gibt aber noch einen Kampf, einen viel schwierigeren und bedeutenderen, den Ihr anführen und gewinnen müßt!« Karn beobachtete, wie die Maschine immer höher stieg, weit außer Hörweite. Dann sagte er: »Die Studenten haben Euren Ornithopter bereitgestellt, Meister, wie Ihr befohlen habt. Er trägt fünfzig Bomben an Bord.« Nach einem langen, schweren Seufzer antwortete Barrin: »Ich hoffe, ich brauche sie nicht. Meister Malzra mag einen Sturz in die Schnellzeit überleben, aber ich bin nur ...« Er brach ab, als habe er sich gerade noch rechtzeitig besonnen. »Ihr seid nur ein Mensch«, stimmte Karn zu, der dem Ornithopter noch immer nachblickte. »Ich kenne Malzra lange genug, um zu wissen, daß er keiner ist.« Der Nicht-Mensch in seinem Nicht-Vogel beschrieb weite Kreise über der Schlucht, um die Aufmerksamkeit jeder Kreatur aus der Tiefe auf sich zu lenken und den Falken das Signal zum Angriff zu geben. * * * »Das Zeichen!« murmelte Jhoira vor sich hin. Sie starrte zur aufgehenden Sonne empor, vor der Malzra seine Kreise beschrieb. »Jeden Augenblick wirft er die Bomben ab.« Sie drehte sich um und rief den drei Schwadronsführern zu: »Falken bereit?« 203
»Schwadron fünfzehn bereit!« antwortete Teferi, der neben zwanzig Falken stand. Jeder Vogel hockte auf einer kleinen Plattform, die durch einen einen Fuß langen Pfahl im feuchten Boden verankert war. Die Vögel glänzten im Sonnenlicht. Die Flügel lagen dicht am Körper; die Augen funkelten vor Mordlust. »Schwadron sechzehn bereit!« rief ein junger Mann. »Schwadron siebzehn bereit!« Jhoira wartete noch und musterte die schimmernden Kreaturen, die in fünfzehn Reihen zu je vier Falken vor ihr hockten. Sie und ihre sechshundertneunzig Gefährten konnten die Insel retten. »Falken losmachen!« Sechzig Flügelpaare entfalteten sich. Sechzig Artefakte kauerten sich zusammen und setzten zum Sprung an. Das metallische Klirren der Flügel erfüllte die Luft. Wie eine große silbrige Wolke flogen sie davon; die schimmernden Wellen boten ihnen gute Deckung. Der Anblick des gefährlichen Schwarmes, der Flügel, Klauen und Schnäbel, war beeindruckend. Jhoira sah einen zweiten und dritten Schwarm aus anderen Richtungen aufsteigen. Kurz darauf hatten sich die drei Gruppen zu einer zusammengeschlossen und verschwanden durch die Wolkendecke. Kein einziger der Raubvögel war noch zu sehen. »Mögen die Götter euch Schnelligkeit schenken«, murmelte Jhoira. »Mögen die Götter mit euch sein.« * * * Urza war zum höchsten Punkt der Spirale gekommen, die er über der Schlucht beschrieb. Er ließ die Flügel des Ornithopters zusammenklappen und setzte zum Sturzflug auf die finstere Schlucht an. Die Nase des Vogels senkte sich und stieß senkrecht in die Tiefe. Gelassen schaute Urza durch den Obsidianschirm, der 204
seine Kristallaugen schützte. Wind fuhr kreischend über die dreieckigen Flügel. Die Insel kam ihm entgegen. Er entfaltete die Flügel wieder, der Fall hatte ein Ende, und der Ornithopter schwebte im Tiefflug über der Erdspalte. Schwarze Geschoßbolzen wuchsen wie ein Wald aus dem Leib des Vogels. Urza öffnete die Luken und warf die Bomben auf die stark mitgenommene Festung unter sich. Jede Bombe fiel durch die Zeitgrenze und eilte dem Ziel entgegen. Schrapnellsplitter und Rauchfahnen wirbelten empor. Urza stieg ein wenig höher und starrte voller Begeisterung auf die brodelnde Welle der Vernichtung. Sie würden das Verderben nicht sehen, das entlang der Küste aufstieg, um die Mauern ihres Gefängnisses zu durchbohren und sie zu töten. Leider sah auch er den Bolzen nicht, der sich mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit erhob, sich durch den rechten Flügel bohrte und ihn in die phyrexianische Schlucht zog. * * * Inmitten des Infernos aus Rauch und Feuer erklangen Jubelschreie. Jede Kehle, jeder Luftbeutel und jeder Rüssel in der Schlucht brüllte vor Freude, als der riesige Bolzen Urzas Gefährt durchbohrte und an dem Flügel zerrte. Der Ornithopter widerstand. Hatte der Mann Zeit und Verstand genug, um sich durch Weltenwandern aus dem Wrack zu retten? Der Rauch wurde dichter und es war nichts mehr zu erkennen. K'rrik rannte zum Geländer seines Aussichtsturms und umklammerte die Metallstäbe. Noch während sich seine Finger schlossen, sah er, wie der rechte Flügel des Vogels die Zeitgrenze berührte und Störkreise verursachte. Der plötzliche Aufprall zog den Rest des Ornithopters mitsamt seinem Passagier in die 205
Schlucht. Mehr sah er nicht, denn der Rauch legte sich wie ein Mantel um die Festung. K'rrik drehte sich um und brüllte in das Inferno hinein: »Zur Südmauer! Nehmt den Weltenwanderer gefangen!« * * * Entsetzt schauten Karn und Barrin zu, wie ein schwarzer Bolzen aus der Tiefe schoß, den Flügel des Ornithopters traf und ihn in den Abgrund zog. Die Flugmaschine bäumte sich noch einmal auf, lag auf der Oberfläche des Zeitstroms und - noch ehe Barrin einen rettenden Zauber zu wirken vermochte - glitt in die Dunkelheit hinab. Rauch und Qualm verwehrten ihm jede weitere Sicht. Barrin drehte sich um und rannte den Abhang hinunter. Karn rief ihm nach: »Wohin geht Ihr?« »Du hast doch gesagt, mein Ornithopter stehe bereit!« lautete Barrins Antwort. »Was soll ich tun?« fragte Karn. »Tu, was du willst, aber beeile dich. Minuten sind Stunden!« Der Silbermann wünschte sich, die Kontrollknöpfe vor sich zu haben, um die Läufer, Pumas und Skorpione bedienen zu können. Der nutzlose Gedanke wurde von einem entsetzlichen Kreischen verdrängt, das aus allen Richtungen kam - von überall und nirgends. Kaum hatte Karn den Kopf gehoben, als auch schon eine Flutwelle von glänzenden Vogelleibern vom Himmel fiel. Die Luft erbebte und brachte die Silberplatten seines Körpers zum Klappern. Der riesige Schwarm setzte zum Sturzflug an, und das Zusammenfalten der Flügel klang wie Donnergetöse. Sie stießen durch die Zeitgrenze und nahmen rasende Geschwindigkeit an. 206
Mach, was du willst. Die Worte hallten ihm in den Ohren. Karn setzte sich in Bewegung. Er hob das Viashinoamulett an die Lippen, küßte es ungeschickt und rannte den steilen Abhang voller umgestürzter Bäume zwischen dem Plateau und der Schlucht hinunter. Minuten später stand er vor dem schwarzen Abgrund. Ohne zu zögern oder nachzudenken, sprang er hinein. * * * Es geschah viel zu schnell. Der Bolzen durchbohrte den Flügel und blieb stecken. Dann folgten die widerstrebende Drehung und der Sog der Schnellzeit, der die Maschine in die Tiefe zog. Ehe Urza noch an eine Flucht durch Weltenwandern denken konnte, umgab ihn die unheimliche Finsternis. Plötzlich war sein ganzes Denken, Wollen und Tun darauf ausgerichtet, sich gegen das nun einsetzende Ziehen und Reißen zu behaupten. Seine Hände wurden zu protoplasmischem Brei. Seine Füße lösten sich auf. Die Welle der Vernichtung erreichte Gliedmaße, Knie, Ellenbogen, Hüften und Schultern, bis auch Kopf und Herz dahinschmolzen. Die Zeitverzerrung riß ihn nicht Stück für Stück entzwei, sondern Schicht für Schicht. Der Kern seines Seins löste sich auf. Urza konzentrierte sich auf Körper, Verstand und Seele, setzte sie im Geiste wieder zusammen und starrte diesen Plan an, als er aus Chaos Ordnung zu schaffen versuchte. Wieder und wieder löste er sich auf. Rote Wolken pulverisierten Fleisches umschwebten die Gestalt, die an den Sitz des Ornithopters geschnallt war. Die zerstörte Maschine und der zerstörte Mann wanden sich in einem Gewoge aus Licht und Dunkelheit. Plötzlich war er frei und fiel in die Tiefe. Die letzten Fleischfetzen setzten sich wieder zusammen, und er 207
fiel und fiel. Es war dunkel, feucht und roch nach Moder. Dann umgab ihn der durchdringende Geruch von Ol. Schwefelrauch stieg von den Pulverbomben auf, die er abgeworfen hatte, und unterhalb der Rauchwolken wimmelte es von einer ganzen Monsterarmee. Einer grauhäutigen Masse aus Schleim, Hörn und Knochen. Die Wesen krabbelten wie Kakerlaken über ihre Gefährten, wenn sie ihnen im Weg standen. Urza fiel. Er besaß nicht mehr genug Kraft zum Weltenwandern. Selbst wenn sie vorhanden gewesen wäre, hätte er die Zeitgrenze kein zweites Mal überwinden können. Aber wenigstens gab es Zaubersprüche. Erschöpft belegte sich Urza mit einem Flugzauber, und sein Fall war zu Ende. Zerrissen und nur noch ein kläglicher Überrest seiner selbst hing er keuchend in der Luft. Mit aller Kraft riß er sich zusammen und schwebte dem Tageslicht entgegen. Es war schwierig und fühlte sich an, als steige er durch fest zusammengepreßte Lagen schwüler Luft empor. Der erste Bolzen kam überraschend. Er bohrte sich durch die Leber und riß den rechten Lungenflügel entzwei, ehe er die Rippen zertrümmerte. Schmerz war ein Gefühl wie jedes andere auch und nützlich, um die äußere Form des Körpers auszumachen. Dieser Schmerz jedoch, dieser entsetzliche, hoffnungslose Schmerz, ließ seine Konzentration sekundenlang ins Wanken geraten. Er schüttelte die Qualen ab, formte den Körper durch einen Gedanken neu und ließ das Fleisch schmelzen, bis der Bolzen herausglitt. Schnell schuf er aus den Überresten eine neue Leber und einen neuen Lungenflügel. Das war harte Arbeit und lenkte ihn kurze Zeit ab. Er fiel wieder in die Tiefe. Die Luft, die ihn umgab, war ein Gemisch aus Rauch, Ölgestank und schwarzen Bolzen. Zwei weitere trafen ihn. Als er sich von ihnen befreit und die zerschmetterten Organe ersetzt hatte, 208
landete Urza Weltenwanderer in einer fünf Fuß tiefen Lache aus fauligem Wasser. Aus einem Felsspalt stürmte eine Horde schleimiger Monster mit sternförmigen Augen, drahtigen Haaren, gebogenen Krallen und Zähnen. Die Wesen unterschieden sich nicht voneinander und warfen sich kreischend in das Wasser. Das Aufklatschen der mißgebildeten Körper klang wie das Schlagen der Schwänze blutrünstiger Haie. Sekunden später hatten die Phyrexianer Urza umzingelt, griffen ihn an und rissen ganze Stücke aus seinem Körper. Er schlug zurück. Blitze sprühten unter Wasser aus seinen Fingern. Die Feinde starben Dutzendweise, aber es kamen immer mehr. Sobald er sie abgeschüttelt hatte und wieder hinaufflog, durchbohrten ihn Pfeile und Bolzen, und er versank erneut in der brodelnden Masse. Sie würden ihn nicht töten, obwohl sie es gekonnt hätten. Sie würden ihn nur angreifen, bis er keine Kraft mehr besaß, bis auch der letzte Zauber aufgebraucht war. Dann würden sie ihn wie einen Fisch im Netz fangen und an Land ziehen, um ihn dem Mann zu übergeben, der auf der von Rauchschwaden umgebenen Brücke stand. K'rrik. * * * K'rriks Volk versammelte sich in dem Stadion, das im Mittelpunkt der Schlucht lag. Es handelte sich um einen schwarzen Ring aus Basalt, der abfallende Sitzreihen und Balkone umschloß, in deren Mitte sich eine Arena befand. Obwohl sie meistens für Gladiatorenkämpfe genutzt wurde - oft nahm auch K'rrik daran teil -, war die Arena nicht durch Seile, Geländer oder Wände begrenzt, um die Kämpfenden einzuengen. Es wurde von den Teilnehmern erwartet, möglichst viel Platz, alle erreichbaren Waffen und Zuschauer in den Wettstreit ein209
zubeziehen. Die Wand des Stadions war mit Waffen behängt, die aus Knochen, Stein oder Horn bestanden, aber niemals aus Eisen. Um eine Metallwaffe zu erhalten, mußte ein Gladiator sie den Klauen eines Zuschauers entreißen. Oft verloren völlig Unbeteiligte Arme oder Schwänze, die man ihnen als provisorische Keulen oder Peitschen entriß. Manchmal benutzten Gladiatoren auch kleinere Wesen als Streitkolben. Heute stand jedoch kein Gladiatorenkampf an. Die Menge hatte sich versammelt, um einer Hinrichtung beizuwohnen. Dennoch brachten die Zuschauer ihre Waffen mit, in der Hoffnung, sich an dem Spaß beteiligen zu dürfen. In der Mitte der Arena hing Urza Weltenwanderer an einer stark zerkratzten Säule aus Obsidian. An ihr wurden Verräter durch schleimige Monster in Stücke gerissen. In Urzas Fall dienten die Monster dazu, ihn geschwächt und hilflos zu halten, während K'rrik ihn als sein neuestes Opfer präsentierte. Der kleinste der drei Henker war kaum höher als eine geballte Faust. Zwei winzige Augen funkelten unter einem Paar spitzer Scheren hervor. Immer wieder sprang das Wesen vor, biß zu und riß Urzas dampfende Eingeweide auf den polierten Basaltboden. Die beiden anderen Monster waren schakalköpfige Spinnen, die nur darauf warteten einzuspringen, sollte Urza den ersten Mörder besiegen. Kreischend vor Lachen schritt K'rrik vor seinem Volk auf und ab. Obwohl die Menge bei jedem Angriff auf Urza freudig jubelte, schwieg sie ansonsten und bemühte sich, kein Wort ihres Herrschers und Gottes zu verpassen. Er redete nicht mit der schmeichelnden Stimme, die Jhoira vor vielen Jahren gehört hatte. Er sprach auch nicht in menschlicher Sprache, sondern mit den Zisch- und Knurrlauten Phyrexias. Urza, der Sprachen wie Wasser aufsog, verstand jedes Wort. 210
»Kinder Phyrexias, Abkommen des mächtigen Gottes Yawgmoth und seines Sohnes K'rrik, Neulinge, Negatoren und Schößlinge der Zeit, seht euch den Mann an, der uns das Tor zum neuen Paradies öffnete, das Tor Dominarias ...« Der Satz wurde von einem besonders grausamen Angriff des Henkers begleitet. Zerrissenes Gedärm fiel auf den Boden. Die Menge stieß ein kehliges Heulen aus. Das Monstrum wich zurück und K'rrik redete weiter, während die Innereien durch schiere Willenskraft wieder in den Leib des Opfers glitten. »Er hat eine wichtige und ehrenhafte Rolle gespielt, da er uns bei der Erlangung der Weltherrschaft half. In den Höhlen von Koilos zerbrachen er und sein Bruder Mishra den Kraftstein, der uns aussperrte und öffneten uns erneut das Tor zu Dominaria. Während Urzas späteren Krieges gegen Mishra wurde unser Patriarch Gix in beiden Armeen willkommen geheißen, und Gix machte aus Mishra sogar einen Phyrexianer. Als Urza davon erfuhr, war er so begeistert, daß er eine Katastrophe heraufbeschwor, die Dominarias größte Armeen und mächtigste Nationen vernichtete und uns den Weg für eine Invasion bereitete. Er ver-. riet seine Welt, seinen Vertrauten Tawnos und sogar Harbin, seinen Sohn. Sie alle haben wir übernommen!« »Harbin!« brüllte Urza verzweifelt, ehe sein Leib wieder aufgerissen wurde und er um sein Leben kämpfte. »Er tat sich mit unserer Kameradin zusammen - mit dem Neuling Xantcha - und reiste nach Phyrexia, angeblich, um gegen uns zu kämpfen. In Wahrheit wurde er von uns angezogen wie ein Insekt von einer Laterne. Er wollte sich uns anschließen, einer von uns sein. Um seine gute Absicht zu beweisen, führte er unsere Armee in Serras Reich, wo wir einen Eroberungskrieg begannen, der die Welt der Engel noch heute in 211
die Knie zwingt. Er verriet die Frau, die ihn heilte, und gab uns ihre Welt als Trophäe.« Das begeisterte Zischen und Heulen übertönten das Plätschern des vergossenen Blutes. »Jetzt ist unser ewiger Held, unser Spion in Dominaria und allen anderen Welten, zu uns gekommen. Er will Yawgmoth und K'rrik, dem Sohn Yawgmoths, seine Ehrerbietung erweisen. Er kam, um uns die Welt zu überreichen! Er gab uns seinen Bruder, seinen Vertrauten, seinen Sohn, seinen besten Freund, und jetzt, jetzt gibt er sich selbst! Ist er erst tot, kann kein Dominarier sich unser erwehren.« Der tosende Jubel wurde von einem schrillen Pfiff unterbrochen. Er war unbeschreiblich durchdringend und ohrenbetäubend. Die Phyrexianer, die Ohren besaßen, preßten die Fäuste dagegen. Jene mit Knien knieten nieder. Selbst diese Mordmonster wichen zuckend und schwankend zurück. Nur zwei Kreaturen blieben aufrecht stehen: K'rrik und sein Gefangener. Gemeinsam beobachteten sie einen riesigen Silberkranz, der durch die Zeitgrenze glitt und kreischend auf das Stadion zuflog. Sekundenlang zeichneten sich die Maschinen deutlich gegen den Himmel ab - ein Ring aus scharfen Krallen, Schnäbeln und blitzenden Flügeln. Sie schössen spiralförmig in die Tiefe und hielten auf die in der Arena versammelten Kreaturen zu. Der zolldicke Schädel eines Monsters zersprang in tausend Stücke, als ein Falke dagegen prallte. Ein zweites wurde vom Hals bis zum Bauchnabel aufgeschlitzt, und blutige Innereien ergossen sich über den haarigen Schoß. Der lange Kranichhals eines Wesens wurde von einem Falken durchgebissen. Die Augen des Feindes erloschen, der Kopf fiel vornüber und landete mit dumpfem Klatschen auf dem Boden. Sobald ein Falke einen Phyrexianer getötet hatte, 212
griff er den nächsten an. Wann immer sich einer der Vögel in einem besonders festen Muskel oder einem Brustkorb verfing, breiteten sich seine Flügel aus, und rotierende Sägeblätter glitten aus seinem Leib heraus, um jegliches Fleisch zu zerstückeln. Die angegriffenen Phyrexianer wanden sich schon Sekunden später in Todesqualen zuckend auf dem Boden. Nach kaum einer Minute waren die dreihundert Wesen in den unteren Sitzreihen beseitigt. Eine gewaltige Todeswelle durchlief das Stadion und stieg allmählich höher. Wie Blitze flogen die Falken von einem zum anderen und hinterließen eine blutige Spur. Immer mehr Metallvögel tauchten auf und griffen an. In der zweiten Minute hatten sich die restlichen siebenhundert Phyrexianer so weit besonnen, daß sie an ihre Verteidigung dachten. Sie schwangen Schwerter und Keulen, um die Angreifer zu zermalmen. Das Gemetzel verlief weniger schnell, nahm aber kein Ende. In das Kreischen der Silberflügel mischte sich der vielstimmige Todesschrei der Feinde. Inmitten des Chaos hatte sich der gefesselte Urza endlich von den Attacken des winzigen Monsters erholt. Sein Leib ordnete sich wieder. Das Fleisch heilte ohne Narben. Er hob den Kopf. Die schakalköpfigen Spinnen wichen immer weiter vor den Gegnern zurück. Mit letzter Willenskraft griff Urza nach den Bergen Tolarias und entzog ihnen die Kraft für vier Zaubersprüche. Ein rotes Glühen umgab ihn und verbrannte die Seile, die ihn an die Obsidiansäule fesselten, ehe es sich auf das winzige Monstrum ausbreitete. Urza verstärkte das Glühen mit dem Feuer seines Zorns. Das Wesen zerplatzte vor seinen Augen, und das dunkle Blut löschte die Flammen. Die Spinnen schwankten vor Entsetzen. Urza vernichtete sie mit zwei weiteren Sprüchen und schleuderte ihnen Feuerbälle entgegen. Sein Körper rauchte vor Wut, als er an den qualmenden Über213
resten vorüberschritt und nach dem Phyrexianer suchte, der die Schlucht beherrschte. K'rrik war bereits verschwunden. * * * Karn fiel. Er fiel durch die Zeitgrenze, die vergebens an ihm riß und zerrte. Gluthitze überlief ihn. Seine Orientierungsgeräte spielten verrückt. Er wußte nicht mehr, wo oben und unten war oder worin der Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart bestand. Mit einem gewaltigen Schub war es vorbei, und er stürzte in die Schlucht. Jetzt kam das Schlimmste: Etwas in Karns Innerem fühlte sich von dem Dunkel angezogen, etwas in seinem tiefsten Inneren. Obwohl er den Gestank von Ölblut und Verwesung wahrnahm, den Umriß der grauen Festung sah und wußte, daß Urza irgendwo dort unten gefangensaß oder gar schon tot war, zog ihn die Schlucht magisch an. Er konnte sich der finsteren, gefährlichen Schönheit nicht entziehen und fragte sich nach dem Grund. Plötzlich kam ihm die Erleuchtung. Es lag an seiner Seele. Der Kraftstein, der ihm Herz, Verstand und Seele war, stammte aus dem Land dieser monströsen Kreaturen. Karn war ein Phyrexianer. Er landete in einem schlammigen Tümpel. Schmutzwasser strömte durch jede Naht und in jede Aushöhlung seines Körpers. Seine Füße berührten den Boden, auf dem Knochen, Steine und Schlamm ruhten. Er richtete sich auf und entdeckte, daß sich sein Kopf über Wasser befand. Die Felsenwand der Schlucht ragte hoch vor ihm auf. Er drehte sich um und erblickte die Dämonenstadt, die Kerrick erbaut hatte, zum ersten Mal aus der Nähe. Ein Unzahl von Türmen, Mauern, Zinnen und 214
Wehrgängen erhob sich mitten in der Schlucht auf einem Vorsprung aus Vulkangestein. Schwarze Felsen, bedrohlich und unheimlich, wohin man auch blickte. Das Wasser, in dem Karn stand, wimmelte nur so von hungrigen Kreaturen, die immer wieder nach seinem Metallkörper schnappten. Über der Festung schwebten Wolken von Süberfalken wie ein gewaltiger Sturm. Inmitten dieses Sturms mußte sich Urza befinden. Karn beachtete die zuschnappenden Kiefer und schlagenden Schwänze nicht weiter und machte sich auf den Weg. * * * Das Blatt hatte sich gewendet. Die meisten Falken waren zerstört. Viele Negatoren lebten noch. Urzas Zaubersprüche waren verbraucht. Die von ihm geschaffenen Artefakte wurden zwischen Klauen und Zähnen der Gegner zerrissen. K'rriks Getreue schritten über die Leiber der Gefallenen, um Urza den Garaus zu machen. Vielleicht besaß er noch ausreichend Kraft zum Weltenwandern, auch wenn ihn die Reise höchstens bis in eine entlegene Ecke des Zeitstroms führen würde. Wenn K'rrik ihn fand, mußte er sterben. Es war besser, jetzt sofort zu kämpfen und noch ein paar Feinde zu töten. Plötzlich betrat eine Silbergestalt die blutbesudelte Arena - Karn. Er näherte sich mit zielstrebigen, bedächtigen Schritten, während er beiläufig Gliedmaße und Schwänze ausriß, die er zu fassen bekam. Die Feinde umringten ihn, aber er ließ sich nicht beirren. Sie warfen sich auf ihn, aber er schleuderte sie beiseite. Er wurde von einem Höllenkonzert begleitet. Pulverbomben schlugen ein und trafen die angreifenden Horden. Schrapnelle beschrieben einen tödlichen Kreis. 215
Immer mehr stinkendes Öl vermischte sich mit Pulver und Blut und fing Feuer. Durch den Schwefel- und Rauchschleier blickte Urza auf. In der Zeit außerhalb der Schlucht schwebte die erstarrte Form eines Ornithopters, der dicht über der Zeitgrenze hing. Urza glaubte, die schattenhafte Gestalt eines Piloten zu erkennen. Jetzt fiel ein silberner, zur Spirale gedrehter Draht herab, stieß gegen die Zeitgrenze und entrollte sich. Wenige Schritte vor Urza baumelte er in der Luft. Plötzlich stand der Silbermann neben ihm. Er packte den Draht mit einer kräftigen Hand und hielt den Meister mit der anderen fest. Wie langsam sie sich über die kreischenden Horden hoben! Geschleuderte Sensen und Pfeile prallten an Karns Leib ab oder vergruben sich in Urzas Haut, bis er sie mittels Willenskraft herauszog. Endlich befanden sie sich außerhalb der Reichweite dieser Kreaturen und schließlich auch außerhalb der Schußweite der verbliebenen Geschütze. Sie warfen einen letzten Blick auf die Schlucht der Monster und Dämonen, die von den Überresten der Falken übersät war. »Jetzt habe ich ihnen ... viel Metall und Kraftsteine geschenkt... zum Kampf gegen uns!« knurrte Urza wütend. Dann hüllte sie die Zeitgrenze ein.
216
Monolog
Noch während ich sie aus der schrecklichen Schlucht herausbrachte, wußte ich, daß uns jetzt ein totaler Krieg bevorstand. Wir würden zehn oder zwanzig Jahre haben, um unser Arsenal zu vervollständigen. K'rrik hatte ein oder zwei Jahrhunderte. Aber der Krieg war unausweichlich. Und diesmal hieß das Schlachtfeld Tolaria. Barrin, Magiemeister von Tolaria
217
Eine Dekade nach diesen Ereignissen rief Malzra sie in der Halle der Artefakte zusammen. Die Halle war weder ein Mausoleum noch ein Museum. Sie war ein Arbeitslabor, eine Roboterstation, eine Werkstatt, eine militärische Bühne und ein Hörsaal, in dem Menschen und Maschinen gleichermaßen lernten. Karns Einfluß war überall zu spüren. Hier wurden keine Maschinen eingesperrt. Hier gab es nur lebende, aktive Roboter, die sich freiwillig auseinanderbauen ließen, um vorübergehend als Anschauungsobjekte zu dienen. Die Entwürfe sämtlicher Erfindungen wurden in einem Archiv am Ende der Halle aufbewahrt und waren für Studenten, Lehrer und Artefakte zugänglich. Die Halle barg auch Malzras Verteidigungszentrale der ganzen Insel. Aus diesem Grund herrschte auch während der Nacht rege Betriebsamkeit. Ein paar Läufer und Skorpione hielten sich dauernd in der Halle auf, und ein Puma erschien jeden Nachmittag, um Bericht zu erstatten, aber der größte Teil der Verteidiger war an verschiedenen Punkten der Insel stationiert. Hundert Wächter lebten in den Schnellzeitzonen rings um die Akademie. Sie konnten ihre Deckung schneller verlassen, als jeder Angreifer erwartete. Auf Grund der starken Abnutzung wurden sie abwechselnd ausgeschaltet oder eingesetzt. Weitere hundert Wächter dienten in Trägzeitströmen - als Langzeitverteidiger. Sie wechselten sich zweimal pro Jahr ab. »Mit ihnen und unserer Magiertruppe, angeführt von Meister Barrin, ist die Verteidigung der Insel per220
fekt«, erklärte Malzra, während er vor einer mit Plänen behangenen Wand auf und ab schritt. Mechanische und menschliche Soldaten hatten in diesem Winkel des Raumes auf Papier Gestalt angenommen. »Fünfhundert große Artefakte, siebenhundertfünfzig neue Falken, dreißig Ornithopter und sogar ein neues Luftschiff.« Barrin, Jhoira, Teferi, Karn und eine Handvoll älterer Studenten saßen vor ihm und studierten die Pläne, obwohl ihnen die Verteidigungsanlagen der Insel bestens bekannt waren. Malzras Vortrag entwickelte sich zu einer langweiligen Wiederholung. »In den letzten fünf Jahren wehrten wir fünf phyrexianische Angriffe ab und töteten über tausend Negatoren.« »Das wissen wir«, unterbrach ihn Jhoira ungeduldig. »Wir waren es, die diese Schlachten schlugen.« Malzra blieb stehen und blinzelte verwirrt. »Es wird noch mehr geben. Die Feinde werden immer gefährlicher und zahlreicher. Mit Geschick, Klugheit und Voraussicht sind die von uns entwickelten Systeme in der Lage, die Attacken abzuwehren. Im Augenblick ist die Insel sicher ...« »Meister Malzra!« rief Jhoira. »Wir wissen das alles.« »Das hoffe ich, denn ich reise ab«, antwortete er ruhig. Schlagartig starrten ihn alle außer Barrin entgeistert an. Der Magiemeister lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete seine Gefährten aufmerksam. Mit besorgter Miene erhob sich Jhoira. »Ihr verlaßt uns? Schon wieder? Was ist mit der Schlucht? Was geschieht mit der Akademie?« Auch Barrin stand auf. »Er reist ab, um der Akademie zu helfen. Was die Schlucht betrifft: Malzra hat die letzte halbe Stunde damit verbracht, unsere Verteidigung aufzuführen und die Pflichten darzulegen, die wir ob ihrer Aufrechterhaltung einhalten müssen.« 221
»Davon rede ich nicht!« entgegnete Jhoira mit zornig verschränkten Armen. »Er läßt gewisse Dinge unvollendet...« »Unsere älteste Studentin erinnert mich an die >Kinder des Zorns<«, sagte Malzra und winkte Jhoiras Einwände und Barrins Entschuldigungen beiseite. »Sie erinnert mich an mein Versprechen, das Chaos meiner Vergangenheit zu ordnen, dessen schrecklichste Aspekte der Zustand dieser zerrissenen Insel und die Anwesenheit der Monster sind.« »Und die Anwesenheit der Kinder, die Ihr hierherbrachtet!« »Und die der Maschinen!« fügte Karn hastig hinzu. »Vielen Dank.« Malzra klang nicht ungnädig. »Typisch für euch junge Leute! Ihr habt meine Fähigkeit zu bösartiger Vernichtung unterschätzt. Nein, die Übel, die ich hier vollbrachte, sind gar nichts verglichen mit dem, was ich dem Rest der Welt antat.« Er schritt zu den Entwürfen und hob seine Hände, die in dem dämmrigen Licht dieser Ecke der Halle zu leuchten schienen, und zog eine Tafel herab, auf der sich Pläne der Schlucht befanden. Schwarze Striche zogen sich über die Erdspalte, die wie eine finstere offene Wunde aussah. »Das ist die neueste Karte der Schlucht.« Mit einem schwertähnlichen Stab deutete er auf die Zeichnung. »Hier liegt das Stadion, hier K'rriks Palast, und hier befinden sich die Aufzuchträume. In jenen Löchern neben und unterhalb des Wassers hausen seine Untertanen. Es sind schon fast tausend Kreaturen, und täglich kommen zehn dazu. Werden sie nicht ausgelöscht, bilden sie eine Bedrohung, die eines Tages die ganze Insel überrollt.« Mit einer heftigen Bewegung riß Malzra die Karte ab, und darunter kam ein bedeutend größerer Plan zum Vorschein. »Das ist Phyrexia. Neun übereinanderliegende Wel222
ten, eine in die andere übergehend. Die oberste ist die einzige, in der ein Mensch überleben kann, aber bloß wenige Stunden. Sie wird von Drachenmaschinen bewohnt, die teilweise bis zu fünfhundert Fuß lang sind, und von Wesen, die als nutzlos abgeschoben wurden, neben denen unsere Läufer, Pumas und Skorpione jedoch wie Flöhe aussehen würden. Die dichten Wälder dieser Welt bestehen aus Halbmetallpflanzen - giftig, mit messerscharfen Blättern -, die im Licht der ewigen Blitze gedeihen, die den rußverhangenen Himmel erhellen. Jede folgende Welt ist schrecklicher als die vorherige. Dort leben verstümmelte Priester, Dämonenhorden, Hexenmaschinen, Riesenwürmer. Es gibt nur Rauch, Gift und Feuer. Im Kern des Ganzen lebt eine Kreatur, die größer, böser und entsetzlicher ist als alles, was Dominaria je sah.« Barrin flüsterte einen Namen vor sich hin. Niemand hörte ihn, aber seine entsetzte Miene ließ die anderen zusammenzucken. »Ich habe dieses Wesen geweckt. Ich brachte es hierher. So schrecklich und schwerwiegend sind die Fehler meiner Vergangenheit. Ich bin für den Zustand Tolarias verantwortlich, aber auch für den allmählichen Untergang eines Reiches der Engel, für die lange Eiszeit, die unsere Welt befiel, die Zerstörung Argoths und das Hereinbrechen des Bösen über Dominaria. Das alles muß ich wiedergutmachen. K'rrik ist ein Alptraum, jawohl, aber der Alptraum eines Mannes. K'rriks Herr ist der Alptraum einer ganzen Welt - ein überwältigendes Grauen des Universums. Wie sich K'rrik rüstet, diese Insel zu erobern, so rüstet sich das Wesen, dessen Namen ich nicht aussprechen will, die ganze Welt zu erobern!« Niemand unterbrach ihn; alle sahen ihn mit höchster Aufmerksamkeit an. »Um eine solche Kreatur und Millionen von Untertanen zu bekämpfen, brauche ich ... brauchen wir 223
ganz andere Waffen. Ich muß jetzt mit der Arbeit beginnen«, sagte Malzra. Endlich fand Jhoira die Sprache wieder. »Wie könnt Ihr dafür verantwortlich sein? Wie kann irgend jemand dafür verantwortlich sein? Selbst wenn es so wäre, wie könntet Ihr - oder sonst ein Sterblicher dieses Böse unschädlich machen? Ihr müßtet schon Urza Weltenwanderer persönlich sein, um auch nur die geringste Hoffnung z u . . . « Sie brach mitten im Satz ab, und die schreckliche Erkenntnis der Wahrheit lähmte sie vollständig. »Wie dem auch sei, ich muß abreisen«, fuhr Malzra fort. »Ich werde allein gehen, da ich einen sehr gefährlichen Ort aufsuche. Wenn ich Erfolg habe, werde ich euch holen, damit ihr mir helft.« Zitternd sank Jhoira auf ihren Stuhl. »Ihr geht doch nicht etwa ... nach Phyrexia?« »Nein«, antwortete Malzra freundlich lächelnd. Er trat neben Karn und griff nach dessen Hals. Eine Sekunde lang fürchtete der Silbermann, Malzra würde den Hebel lösen, der seinen Kopf gerade hielt und wich zurück. Statt dessen nahm er die Kette mit dem Anhänger an sich, die um den Hals des Golems hing, und hielt sie in die Höhe. Der wie eine Echse geformte Anhänger glänzte im schwachen Licht. »Nicht nach Phyrexia. Ich reise in deine Heimat, Jhoira. Ich gehe nach Shiv.« * * * Urza stieg herab. Es war schön, nicht gehen zu müssen. Es war angenehm, sich dem Luxus des Weltenwanderns hinzugeben und die unbequemen Dinge wie Atmen und Blinzeln zu vergessen. Er mußte auch nicht mehr an langweiligen Mahlzeiten teilnehmen. Für ihn war Essen eine nutzlose Beschäftigung. Trotz seiner fast grenzenlosen Macht, nur mittels eines Ge224
dankens von Welt zu Welt zu reisen, sich sämtlicher Farben der Magie auf höchster Stufe zu bedienen, nicht länger den Zwängen der Zeit ausgesetzt zu sein, allen Dingen auf den Grund schauen zu können und phyrexianisches Blutöl schon auf hundert Schritt Entfernung zu riechen, mußte er sich abmühen, um einfachste menschliche Regungen nachzuahmen, die ihm lästig und öde erschienen. Meistens war es aber notwendig. Heute nicht. Urza schwebte an breiten Schwefelwolken und dichten Dampfbänken vorbei. Seine Gewänder schrumpften zusammen und verwandelten sich in einen Anzug aus Drachenschuppen, um die vulkanische Hitze der Gegend abzuhalten. Aus den Sandalen wurden feste Lederstiefel, die bis zum Knie reichten. Seine Haare flochten sich eng um den Kopf, um nicht Opfer züngelnder Flammen zu werden. Es war nicht nötig, eine Gegend aus solcher Höhe im freien Fall zu erreichen, aber er wollte sich die Landschaft von oben ansehen, ehe er sie betrat. Außerdem fand er Gefallen an dieser Art des Reisens. Urza war schon einmal in die Tiefe geschwebt. Damals kehrte er an den uralten, in Trümmern liegenden Ort zurück, an dem er und Mishra das Thranheiligtum Koilos entdeckten. Jene Landschaft, von einer Katastrophe zerstört, die Kontinente versinken ließ und eine tausendjährige Eiszeit heraufbeschwor, hätte nicht schlimmer aussehen können als diese hier. Hohe Berge bildeten am rußgeschwärzten Horizont einen teuflisch anmutenden Kreis. Auf ihren Gipfeln dampfen heiße Seen, und ihr Leuchten hüllte die Felsen in unheimliches Licht. Seltsam geformte Steinbrocken lagen auf den steilen Hängen, und ganze Flüsse aus feuriger Lava wälzten sich in die Tiefe. Dazwischen lagen schwarze Erdspalten, die wie ein Netz aus kühlen Adern aussahen. Schwarze und rot225
glühende Bahnen mündeten gleichermaßen in einen dampfenden Ozean aus brodelnder Lava, eingerahmt von Steinsäulen, die wie uralte Statuen wirkten. Turmhohe Gasfontänen und glühende Wogen hoben sich dem Himmel entgegen. Urza schwebte immer tiefer. Er landete auf einem Felsbrocken, der über dem Meer aus Lava hing. Der Stein unter seinen Füßen fühlte sich warm an und schien zu pulsieren. Die Luft war heiß, schwer und mit Gestank durchsetzt. Urza atmete einmal ein und dachte daran, wie gut es war, unsterblich zu sein. Er hob den Kopf. Dort, über ihm, strahlend hell inmitten des von Ruß und Feuer getrübten Himmels, lag das, was ihn hergeführt hatte: eine Managewinnungsanlage. Sie befand sich auf einem Basaltplateau, hockte wie ein lauerndes Raubtier auf Klauen aus Stein und Ton. Die Klauen endeten in scharfen Krallen, die durch den Felsen hindurch bis hinein in die brodelnde Glut reichten. Die Bank erinnerte von Ferne an ein gewaltiges Herz und hatte auch einst genauso funktioniert. In uralter Zeit saugten Röhren im Inneren Lava aus dem Ozean und pumpten sie in riesige Kammern. Das ganze Plateau war sehenswert. An beiden Enden hielt ein Paar Hitzeschilde, das wie eine Schüssel geformt war, eine riesige Stadt in die Höhe. Die eine, die ein wenig vom Lavaozean entfernt lag, war ursprünglich eine alte Klosteranlage gewesen. Kegelförmige Türme und gewaltige Tempel erhoben sich zum Himmel. Die andere, die über die brodelnde Lava hinausragte, sah wie eine gigantische Schmiede der Thranzeit aus. Das unglaublich harte Thranmetall stammte von diesem Ort. Hier in Shiv wollte Urza mehr über das Metall herausfinden. Zwischen den beiden Städten lagen lange, hohe Lagerhallen mit den Mauern und Säulengängen einer Kathedrale. Hier wollte Urza mit dem Bau der Waffe beginnen, die den 226
Phyrexianern für alle Zeiten den Garaus machen sollte. Die Unterseite beider Hitzeschilde war mit unzähligen Schriftzeichen bedeckt. Bestimmt gab es in den Städten Bücher und vielleicht auch ganze Bibliotheken. Die Räume, Hallen, Mechanismen und Mauern sie alle legten in Metall und Stein Zeugnis vom Wissen ihrer Schöpfer ab. Er würde lernen, dieses Metall zu schmieden, und er würde noch weiter gehen und die Geheimnisse der besten Magier, die diese Welt je gesehen hatte, ergründen - Geheimnisse, die sie zu den Feinden machten, denen er jetzt gegenüberstand. Urza verließ den heißen Felsen und schritt entlang der Ströme abgekühlter Lava. Seine Juwelenaugen musterten die zerklüfteten Ränder des Vulkans. Er mußte einen Bogen in Richtung Nordosten beschreiben, an einer Erdspalte, aus der heißer Dampf aufstieg, und einem Paar Zwillingsklippen vorbei, die am Rande des Plateaus aufragten. Ein Weg von fünf Meilen war notwendig, um eine nur eine Meile entfernte Stelle zu erreichen. Noch dazu ein sehr unbequemer Weg. Gegen die Auswirkungen von Feuer und Gift war Urza immun, aber die Schmerzen, die sie verursachten, verschonten auch ihn nicht. Er dachte sich einen Umhang aus Gold und Silber aus, der die entsetzliche Hitze abhalten sollte. Der Umhang nahm Gestalt an, und er spürte förmlich das erleichterte Aufatmen der übrigen Kleidungsstücke. Ein Schleier aus feinmaschigem Metall legte sich über sein Gesicht. Derart geschützt machte er sich auf den Weg. Selbstverständlich hätte er sich einfach an die gewünschte Stelle zaubern können, aber man lernte ein Land am besten kennen, wenn man es durchwanderte. Die Gegebenheiten zwangen ihn, die gleichen Pfade zu benutzen, die Generationen vor ihm gegangen waren, vielleicht sogar die Thran selbst. Er würde sich der Managewinnungsanlage so nähern, wie sie es 227
getan hatten, und sie so sehen, wie damals das uralte Volk. Allmählich gelang es ihm, die Zeichen der Landschaft zu entziffern und zu deuten. Urza erblickte zahlreiche Wege - breite, ebene, bequeme Wege. Der Fels, über den sie führten, war mit Klauenmalen versehen. Die einzelnen Pfade führten zu bestimmten Punkten - Aussichtspunkten. Falls sie im Augenblick bemannt waren, so vermochte er die Wächter nicht zu sehen. Wer auch immer diese Pfade beschritt, ging gemächlichen Schrittes und bewegte sich ungezwungen. Die Wesen schienen mannshoch zu sein. Sie beherrschten und verteidigten diesen Ort. Urza zog den Anhänger aus dem Gewand und betrachtete die kostbar gekleidete Echse. In den Bergen lebten aber auch andere Kreaturen. Unter überhängenden Felsnasen und in erkalteten Lavaröhren hatten sie zahlreiche Höhlen und Nester gebaut. Die Eingänge lagen gut versteckt, aber Urza nahm ihren Geruch von Angst und Tod und die hastigen Bewegungen deutlich wahr. Spione. Manche Höhlen waren ausgebrannt, und die Knochen der ehemaligen Bewohner lagen als Warnung für Eindringlinge vor dem Eingang. Andere Stellen - für die Augen gewöhnlicher Sterblicher unsichtbar, aber für Urzas Kristalle erkennbar - waren noch bewohnt. Winzige Augen funkelten hinter dunklen Steinen, blinzelten mißtrauisch. Goblins. Urza lächelte. Arme kleine Monster. Ungeziefer, noch verhaßter als Ratten. Hatte er dieses Land erst einmal in Besitz genommen, würde er ein paar Dutzend Skorpione herbringen, um sie zu beseitigen. Bis dahin hatte er noch einiges vor sich. Wenn sich ihm kein Goblin in den Weg stellte, würde er seine Armee vorläufig nicht brauchen. Das Herabsteigen aus den Wolken hatte die kleinen Biester sicher davon überzeugt, daß es sicherer war, ihn nur zu beobachten. 228
Er betrat einen Hohlweg und wanderte gemessenen Schrittes dahin. Goblins kauerten in finsteren Höhleneingängen. Sie flüsterten miteinander und warfen ihm böse Blicke zu, kamen aber nicht zum Vorschein. Instinktiv merkte sich Urza ihre Positionen, während sich sein Verstand gleichzeitig mit der Landschaft beschäftigte. Ein dritter Teil seines Denkens rief sich eine Vision ins Gedächtnis, die er vor langer Zeit gehabt hatte. Zwei große Armeen standen sich in tödlichem Kampf gegenüber. Damals hatte Urza geglaubt, es handele sich um eine Schlacht der Thran gegen die Phyrexianer, um die Feinde aus dieser Welt zu vertreiben. Es dauerte Jahrtausende, bis er begriff, daß die Thran freiwillig zu Phyrexianern wurden und daß auch Mishra diesen Schritt aus freiem Willen unternahm. Erst diese bittere Erkenntnis hatte Urza dem Wahnsinn entrissen und ihn dazu gebracht, den Feind in sich selbst zu sehen. Am Ende des Hohlwegs trat eine Gestalt aus dem Schatten der Felsen hervor. Viele Gestalten. Die rostroten Roben verschmolzen perfekt mit dem Hintergrund, so daß Urza sie erst erblickte, als sie aus jeder Felsspalte und jeder Nische traten. Sie bewegten sich anmutig und lautlos. Manche rutschten auf allen vieren herum und hielten sich mit den vier Krallen an Händen und Füßen am Gestein fest. Andere schritten auf den Hinterbeinen einher und hielten gefährlich aussehende Keulen und Lanzen in den Händen. Sie versperrten Urza den Weg und stützten sich dabei auf die muskulösen Schwänze. Die Gestalten in der ersten Reihe schoben die Kapuzen zurück. Es waren Reptilien, Echsenmenschen mit kurzen, mit spitzen Zähnen ausgestatteten Schnauzen, hellen, kleinen Augen und kantigen Schädeln. Die schuppige Haut glänzte im Licht des Vulkans graugrün und rot. Jhoira hatte sie Viashinos genannt. 229
Der größte Viashino dieser aus zweiunddreißig Wesen bestehenden Truppe trat auf Urza zu. Die spitze Lanze hielt er ausgestreckt vor sich und sah dem Weltenwanderer in die Augen. Silberne Pupillen. Kein Blinzeln. Der seltsame Blick enthielt Klugheit, aber auch Furcht und Widerwillen. Der Viashino zischte wütend. Urzas Verstand durchlief sämtliche Sprachen, die er in dreitausend Jahren erlernt hatte. Viele von ihnen kannte er nur aus Schriften und hatte sie nie ausgesprochen gehört. Dank seiner Fähigkeiten eignete er sie sich blitzschnell an und vergaß sie niemals mehr. »Ghitu haben so hoch oben keinen Zutritt!« fauchte das Wesen. Eine fremde Sprache zu verstehen, war eine Sache, die Antwort eine andere. Urza fragte sich, ob er Jhoira als Vermittlerin hätte mitnehmen sollen. Er konnte sie durch Weltenwandern schnellsten herbeischaffen, aber das Klappern schwerer Keulen auf Vulkangestein überzeugte ihn, daß es besser war, sie nicht in Gefahr zu bringen. Er beschloß, möglichst unkompliziert vorzugehen. »Sehe ich wie ein Ghitu aus?« »Wer bist du?« »Ich bin Malzra aus Tolaria. Ich will die Managewinnungsanlage sehen.« »Das ist verboten.« »Ich muß sie sehen. Du kannst mich nicht aufhalten.« »Vielleicht kann ich es nicht«, antworte der Viashino mit silbern glänzenden Augen, »aber unser Meisterkrieger kann es.« Aus den hinteren Reihen traten acht Echsenmenschen hervor - nein, nicht acht, sondern einer, der so groß war wie acht von ihnen. Auf den zweiten Blick erkannte Urza, daß es kein Viashino war, sondern ein junger shivanischer Drache. Das gewaltige Tier sprang 230
auf Händen und Füßen vorwärts; wütend schlug es mit dem schuppigen Schwanz aus. Ein böses Grinsen entblößte dolchartige Zähne. Der Drache hatte winzige Augen, die unter hornigen Brauen hervorlugten. Das Tier trug keine Gewänder, sondern ein Ledergeschirr, als würde es häufig vor schwere Lasten gespannt. Der Drache entpuppte sich als kluges Wesen, denn er erhob sich schnaubend auf die Hinterbeine und sagte: »Ich bin Rhammidarigaaz, Meisterkämpfer der Viashino. Bist du noch immer so überheblich?« Urza nickte gelassen. Wäre er ein Sterblicher, hätte ihn der bevorstehende Kampf mit Todesangst erfüllt, aber er konnte jedem Schlag des Wesens mit Leichtigkeit ausweichen, es so angreifen, daß es tot zu Boden fiel, es lähmen und kampfunfähig machen oder ganze Armeen von Artefakten herbeirufen, die alle Anwesenden im Handumdrehen besiegten. Vorsicht im Umgang mit Lebewesen war eine Lektion, die er in den letzten tausend Jahren gelernt hatte. Nicht Furcht bestimmte seine nächsten Worte, sondern Besorgnis, zu früh zu viel von seiner Macht zu enthüllen. »Überheblich? Nein. Selbstbewußt? Ja.« Urza winkte den Drachen zu sich. Rhammidarigaaz griff an. Es war, als setze sich ein Berg in Bewegung. Urza wich nicht zurück. Ohne sich zu bewegen, verhärteten sich seine Gewänder zu einer Rüstung, die sich nur auf seinen Wunsch hin biegen würde. Der Drache packte ihn mit einer Riesenpranke und durchbohrte ihn mit den Krallen. Urza wehrte sich nicht. Rhammidarigaaz hob ihn hoch in die Luft und schnaubte ihm heißen Atem ins Gesicht. Dann betrachtete er den Reglosen. »Soll ich dich in den Kerker tragen oder sofort töten?« »Du wirst mich in Ruhe lassen und zu deinem König bringen«, erklärte Urza ruhig. »Der Bey unterhält sich nicht mit Vagabunden«, höhnte Rhammidarigaaz. »Ich werde dich nicht in 231
Ruhe lassen, denn du hast unsere Heimat gesehen. Du bleibst unser Gefangener oder wirst getötet.« »Ich stelle mir meine Zukunft anders vor.« Das Monstrum ballte die Faust, und Urzas Gewänder wurden zerdrückt, aber er stöhnte nicht einmal. Die Viashinos sahen erstaunt zu und erwarteten, jeden Augenblick Blut fließen zu sehen. Gelassen wiederholte Urza seine Forderung: »Laß mich los und bringe mich zu eurem Bey.« Wütendes Gebrüll drang aus dem aufgerissenen Maul des Drachen, und er hob Urza noch höher. Heißer Speichel tropfte Urza auf den Kopf. Der Drache schob ihn sich ins Maul. Gemächlich streckte Urza die Hand aus und hielt einen großen, schleimigen Zahn des Oberkiefers fest. Die andere umklammerte einen Zahn aus dem Unterkiefer. Er spannte die Muskeln an. Die Kiefer des Wesens bogen sich auseinander. Rhammidarigaaz schüttelte den Kopf und würgte wie ein Hund, der einen Stock im Hals stecken hat. Heißer, saurer Atem entfuhr ihm. Die Echsenmenschen sprangen zurück, aber der Mann im Maul gab nicht auf. Rhammidarigaaz versuchte, die Kiefer wieder zu schließen. Ein Knacken war zu vernehmen. Er heulte vor Schmerzen auf. Mit einem Ruck schleuderte er Urza zu Boden und hielt sich mit zuckenden Klauen den Kiefer. Urza rollte durch den vulkanischen Staub und erhob sich. In der Hand hielt er einen tropfenden Drachenzahn. »Jetzt bringt ihr mich zu eurem Herrscher.« Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu. Rhammidarigaaz senkte die Pranken. Die Schuppen auf seinen Schultern sträubten sich. Glühender Tod drang aus seinen Nüstern und hüllte Urza ein. Sekunden später war aus dem Mann, der vor den Viashinos stand, eine Feuersäule geworden. 232
Wieder wichen die Echsen entsetzt zurück. Rhammidarigaaz tobte und wütete, bis er keine Luft mehr bekam und eine wunde Kehle hatte. Von dem Fremden war nichts mehr zu sehen, nur eine dichte Rauchwolke stieg zum Himmel empor. Vorsichtig wagten sich die Echsenmenschen aus den Verstecken heraus, in denen sie Schutz gesucht hatten. Ein seltsames Knurren, das offenbar Gelächter darstellte, drang aus ihren Kehlen. Urplötzlich tauchte Urza aus dem Nichts aus, den Zahn immer noch in der Hand haltend. »Genug der Heldentaten. Jetzt bringt mich zum Bey!« Die Augen des Drachen glühten vor Wut. Er krallte sich im Boden fest. Die Beinmuskeln spannten sich zum Sprung. Mit weit aufgerissenem Rachen flog er durch die Luft, um Urza zu verschlingen. Der Weltenwanderer verzog das Gesicht. Mit einer beiläufigen Geste warf er einen Zauber über den Gegner. Der Drache wurde zu Stein. Rhammidarigaaz, Meisterkrieger der Viashino, wurde zu einer Statue, in der Bewegung erstarrt. So sah er noch furchteinflößender und größer aus. Das Maul war weit geöffnet. Die Augen starrten blind vor sich hin. Er war in einem Sprung gefangen, den er nie beenden würde. Urza zuckte die Achseln. Er wedelte mit dem schleimigen Zahn. »So, jetzt habt ihr keinen Meister mehr, sondern einen Wasserspeier.« Seine Stimme wurde eisig. »Bringt mich zum Bey!« Wenngleich keiner der Viashino nähertrat, rief der Anführer hinter einem Felsbrocken hervor: »Nein! Wenn du so mit unserem besten Kämpfer umgehst, was wirst du dann unserem Bey antun?« Ein vernünftiger Einwand. Also hatte er es offenbar mit intelligenten Echsen zu tun. Urza trat vor die Statue. Er nahm mit den Augen 233
Maß. Dann stellte er sich seitlich neben das Ungetüm und setzte den Zahn wieder an die ursprüngliche Stelle im Maul. Urza trat einen Schritt zurück. Im nächsten Augenblick fiel die Versteinerung von Rhammidarigaaz ab. Er führte den Angriff fort, flog an Urza vorbei und landete krachend neben einem Magmahaufen. Der Aufprall brachte Steine ins Rollen und ließ den Boden erbeben. Die Viashino duckten sich noch tiefer als zuvor. Der mächtige Schwanz peitschte über die Felsen hinweg. Rhammidarigaaz überschlug sich noch zweimal und blieb schließlich liegen, ein unglücklicher Haufen aus Flügeln, Klauen und Schuppen. Urza musterte ihn belustigt. Er wandte sich an die Echsenmenschen. »Ich kann auch ohne euch zum Bey gehen, aber dann wird es weitere Zwischenfälle geben.« Der Drache erhob sich vorsichtig und betastete seine Kiefer. Verwundert rief er: »Mein Zahn ist wieder da!« »Ich kann heilen oder töten«, erklärte Urza. »Ihr entscheidet.« Die Viashino und der Drache sahen einander an. Der Anführer der Echsen nickte Rhammidarigaaz bedeutungsvoll zu. »Ich b-bereue m-mein Verhalten«, stammelte der Drache widerwillig. »Gewalt ist keine Lösung.« »Es sei dir verziehen. Ich brauchte Jahre, um diese Lektion zu lernen«, antwortete Urza. Er wies auf den Pfad, der zur Manabank führte. »Gehen wir jetzt?« Mit einer Verneigung - nicht sehr ehrerbietig, aber auch nicht höhnisch - führte ihn der Drache den Weg entlang. Die Viashinos schlossen sich ihnen an. * * * Jhoira bewachte den Pfad, der durch den Ostteil der Insel von der Akademie zum Hafen führte. Der Turm 234
war nur klein und recht abgelegen und für drei Wachen gedacht. Es gab ein Bett, damit jeweils eine Person schlafen konnte, während die anderen wachten. Heute abend standen nur zwei Posten bereit, denn Karn brauchte keinen Schlaf. Er hielt sich nicht auf dem Wehrgang auf, sondern neben dem verschlossenen Eisentor und starrte durch eine Schießscharte in der gebogenen Mauer. Niemand kam an ihm vorbei. Nichts entging ihm. Ein Ende der Mauer grenzte an eine tiefe Schnellzeitschlucht, in der achtzig Läufer und Skorpione stationiert waren. Jedes Lebewesen wurde durch die Zeitverzerrung umgebracht, und über alle Nicht-Lebewesen würden die Artefakte herfallen. Der Glimmermond spiegelte sich in ihren wachsamen Augen und dem Metall ihrer Körper. Am anderen Ende der Mauer lag eine steile Klippe, die an den Engelswald grenzte. Die Pumas würden jedes Monster töten, daß durch die Wälder schlich, und die Falken alles, was durch die Luft flog. Vor zehn Jahren hatte Jhoira einen Tag in einem der warmen Seen des Waldes verbracht. Sie war seither nicht gealtert, fühlte sich aber wie eine Greisin. Das Trägzeitwasser, das sie, die Gelehrten und die älteren Studenten nutzten, hielt ihren Körper jung, aber ihr Verstand war gereift. Sie hatte ihre Vision gehabt. Sie hatte es geschafft zurückzukommen. Nicht nur Teferi, sondern auch sich selbst hatte sie gerettet. Obwohl sie keinen Seelenverwandten fand, hatte sie einen geistigen Zwilling und ihre Bestimmung gefunden. Es war kein Leben voller Abenteuer, weiter Ozeane und ferner Küsten, sondern ein Leben voller Phyrexianer, die fortwährend aus K'rriks finsterem Reich drangen. Heute würde keine Ausnahme sein. »Alles in Ordnung da unten, Karn?« rief sie vom Wehrgang herab. 235
»Alles in Ordnung, Jhoira!« lautete die Antwort einer Stimme wie ferner Donnerhall. »Ist die Läufertruppe vollständig?« »Jawohl«, sagte er ruhig. Jhoira seufzte. Während der Wache war Karn nicht besonders redselig. Seit ihre Ausbildung abgeschlossen, die Akademie vollendet und ihre Stellung im Lehrkörper sicher war, hatte Jhoira dauernd mit Vorlesungen, Experimenten und Plänen zu tun. Ein wenig Konversation hätte ihr gefallen. »Was glaubst du, wieviel Negatoren es heute sind?« »Normalerweise taucht hier tagsüber einer pro Wache pro Schicht auf. Des Nachts sind es aber gleich drei pro Schicht.« »Vielleicht ändert sich das, jetzt, wo Malzra fort ist – in Shiv«, sagte sie traurig. »Wahrscheinlich würde ich den Ort nicht einmal mehr erkennen. Bei meiner Abreise war ich elf Jahre alt. Das war vor mehr als vierzig Jahren.« Sie schüttelte den Kopf, hob einen kleinen Stein auf und schleuderte ihn in den Wald. Er prallte gegen einen Baumstamm und sandte ein tiefes, dumpfes Echo durch die Luft. »Ich sehe meine Heimat sicher niemals wieder.« »Malzra hat gesagt, er würde dich holen, sobald er Vorbereitungen getroffen hätte«, meinte Karn. »Bis er das geschafft hat, werde ich den Ort bestimmt nicht wiedererkennen«, murrte sie verbittert. »Die Viashinos und Goblins werden massakriert, die Drachen versklavt und die Berge zu Ebenen gemacht.« Im Laufe der Jahre hatte Karn einen Sinn für Humor entwickelt, der stark an Ironie grenzte: »Du hast grenzenloses Vertrauen in Meister Malzra!« »Meister Malzra? Weißt du, wer Meister Malzra wirklich ist? Er ist Urza Weltenwanderer! Jede Katastrophe der letzten dreitausend Jahre wurde von ihm verschuldet!« 236
»Ich weiß. Ich hörte Urza und Barrin sehr oft zu, wenn sie glaubten, ich sei abgestellt.« Jhoira knurrte, rang die Hände und warf dem Silbermann wütende Blicke zu. »Das hättest du mir sagen sollen!« »Urza schien es geheimhalten zu wollen.« »Hat es dich nicht entsetzt? Fandest du es nicht unglaublich, daß der Mann eine dreitausend Jahre alte Legende ist?« Karn schüttelte den Kopf. »Ich bin ein aus Silber gebauter Mann. Meine beste Freundin ist ein Ghitugenie von fünfzig Jahren, sieht aber aus wie zwanzig. Ich lebe auf einer Insel, auf der ein Tag Minuten oder Jahre dauert. Nein, sein wahres Ich hat mich nicht überrascht.« »Bist du nicht empört? Da ist ein Mann, der ganz allein für alles Schlechte verantwortlich ist, das unserer Welt zustieß. Er bringt alles durcheinander und verschwindet...« »Er hat Barrin ein Leuchtfeuer gegeben«, unterbrach sie der Golem. Jhoira geriet ins Stocken. »Was hat er?« »Barrin besitzt ein Leuchtfeuer, einen juwelenbesetzten Dolch, der durch Magie mit einem Anhänger in Verbindung steht, den Urza um den Hals trägt. Sollte sich das Blatt wenden, ruft Barrin den Meister zurück. Er wird so schnell erscheinen wie die hiesigen Verteidiger.« Jhoira schüttelte den Kopf. »Du verteidigst ihn. Merkst du das nicht? Urza hätte hierbleiben sollen, bis die Phyrexianer keine Bedrohung mehr darstellen. Er ist der Grund, warum sie überhaupt hier sind!« »Wir sind der Grund!« verbesserte Karn sie. »Du und ich sind der Grund für K'rriks Anwesenheit. Vielleicht war Urza der Grund für sein Kommen, aber wir ließen ihn ein. Also sind wir alle dafür verantwortlich, die Feinde zu bekämpfen.« 237
Noch während sie seine Worte bedachte, erspähte Jhoira in der Ferne die Bewegung einer schnellen, mehrfüßigen Kreatur, die sie an einen riesigen Floh erinnerte. Karn schlug Alarm. Fünf Läufer sprangen aus dem Schnellzeitstrom neben dem Turm. Sie stürmten den Weg entlang. Das Monstrum machte kehrt und wollte fliehen. Sekunden später hatten die Läufer es umzingelt. Ihre Silberkörper glänzten im Mondlicht. Metallisches Klirren drang bis zu Jhoira und Karn herüber. Der Phyrexianer kreischte und blieb stehen. Er war nicht groß, aber sehr kämpferisch. Dumpfe Schläge hallten durch den nächtlichen Wald. Die Antriebe der Läufer erloschen einer nach dem anderen. Fleischklumpen, Blut und Metallteile flogen durch die Luft. Kurz darauf war nur noch Rauch und ein Gewirr aus Monster und Maschinen zu sehen. »Wir haben K'rrik Einlaß gewährt, Jhoira«, wiederholte Karn und durchbrach die Stille. »Ja«, stimmte sie zu. »Jetzt müssen wir sehen, daß wir ihn wieder loswerden.« * * *
»Ja, Majestät«, sagte Urza würdevoll, als er sich vor dem Echsenkönig verneigte. »Ich bin ein Weltenwanderer. Ganz Dominaria und meine Wenigkeit brauchen deine Schmiede.« Mit weitausholender Geste schloß er die große Halle mit ihren Balkonen und Gewölben ein. Auf dem Weg hierher hatte er bereits einen Teil der uralten Werkstätten gesehen: die Kohlenkammern, Hochöfen, Gußräume, Walzen, Zahnräder und Kettenantriebe. Der Anblick reichte aus, ihn zu überzeugen, daß die Schmiede durchaus in der Lage war, mehr als hübsche Schmuckstücke herzustellen - wenn sie in fähige Hände geriet, 238
Der Bey war ein alter Viashino. Ein grauer Kehllappen hing um seinen Hals. Auf dem Kopf trug er eine rote Krone. In purpurne Gewänder gehüllt stand Bey Feuerauge an einem kunstvoll geschmiedeten Geländer - dem Gegenstück zu einem Thron für eine Rasse, die weder körperlich in der Lage war zu sitzen noch das Bedürfnis danach verspürte. Das Geländer zog sich an der Wand einer Kolbenkammer entlang. Der Ort war eine Kanzel geworden, an drei Seiten gegen Angriffe geschützt. Die Aussage war unmißverständlich: Wer auch immer in der aus uralter Zeit stammenden Kolbenkammer stand, verkörperte die Kraft aller arkanen Maschinen des Gewölbes. Bey Feuerauge strahlte diese Macht aus. Seine kalten kleinen Augen glitten über die Versammlung, die sich in seinem Audienzraum eingefunden hatte. Den jungen Drachen, den er ausgeschickt hatte, um Urza zu besiegen, bedachte er mit besonders eisigen Blicken. Endlich sprach der König. »Was willst du in der Schmiede herstellen?« Sekundenlang blinzelte Urza verwirrt. »Maschinen. Lebende Maschinen - wie diese hier.« Er griff in die Luft, und als er die Hand zurückzog, hielt er ein großes Blatt Papier umklammert, das er vor dem Bey auf dem Boden ausbreitete. Es war der Plan zum Bau des Silbermannes. »Männer wie diesen. Ich stelle sie aus eurem Metall her. Sie sollen unsere Welt verteidigen.« Der Bey starrte geraume Zeit auf die Pläne, ehe er eine Antwort zischte: »Die Maschine funktioniert?« »Das werde ich euch zeigen«, sagte Urza ernst. »Ich bringe ein Metallmuster mit. Ein altes Modell - viel zu weich. Ihr werdet schon sehen. Es funktioniert gut.« Wieder herrschte Stille. Urza war nicht gewohnt, die Entscheidungen anderer abzuwarten, aber er brauchte die Mitarbeit dieser Wesen. Sie wußten mehr über die Managewinnungsanlage und die Schmiedekunst als 239
alle anderen Kreaturen des Planeten. Sie kannten das Geheimnis des Thranmetalls. Schließlich sagte der Bey: »Du darfst deine Metallmänner in unserer Schmiede herstellen - unter zwei Bedingungen.« »Ja?« »Erstens: Wir haben einen Erzfeind ...« »Die Goblins?« riet Urza. »Nein. Goblins sind eine Plage, aber unsere Krieger werden bestens mit ihnen fertig. Der Erzfeind, den ich meine, ist der Feuerdrache Gherridarigaaz, die Mutter unseres Meisterkämpfers. Sie sucht uns heim, seitdem sich ihr Sohn uns anschloß. Du mußt ihre Attacken beenden.« »Das werde ich«, antwortete Urza zuversichtlich. »Und die zweite Bedingung?« »Zweitens: Das Muster, der Modellmann, den du erwähntest, geht in unseren Besitz über.« Lange Zeit starrte Urza den Echsenkönig an, der an dem Geländer lehnte. Dann hob er die Juwelenaugen und blickte suchend zu den dunklen Balkonen empor, als suche er die Antwort dort. »Du verlangst ein großes Opfer von mir.« Der Bey nickte zustimmend. »Bei unserem Volk gilt ein für den Stamm gebrachtes Opfer als höchste Ehre.« Weise Worte. Urza dachte an alle Opfer, die der Krieg bisher gefordert hatte. Wie immer, so stand auch jetzt die phyrexianische Bedrohung an erster Stelle. »Gut«, sagte der Weltenwanderer schließlich, »ihr sollt ihn haben.«
240
Monolog
Nach Urzas Abreise wurde es still in der Akademie. An den Grenzen traten die üblichen phyrexianischen Störungen auf. Natürlich sind das bloß Proben, und mit jedem Monster, das wir töten, helfen wir K'rrik, seine Invasionstruppen besser auf den Tag vorzubereiten, wenn sie alle heranstürmen. Im Augenblick befinden wir uns jedoch in Sicherheit und bauen weitere Maschinen. Ich frage mich, was Urza auf der anderen Seite der Welt zu suchen hat. Ich hoffe bloß, daß ihn die Lektionen, die er in Tolaria lernte, ein wenig menschlicher gemacht haben. Mensch oder Unmensch: Ich bete, daß er Erfolg hat. Sonst sind wir alle verloren. Barrin, Magiemeister von Tolaria
241
Eine Reihe tolarischer Läufer rannte durch den Wald; ihre Beine funkelten wie Schwerter in der Sonne. Helle Strahlen drangen durch das lichte Blättergewirr zu beiden Seiten des Weges. Der Anführer der Truppe benutzte einen Wildpfad, der sanft anstieg. Auf der Kuppe des Hügels blieb die Maschine stehen. Ihre Gefährten gesellten sich zu ihr. Zahnräder schnurrten und Gelenke knarrten, als sie sich umdrehten und die unter ihnen liegende Steppe beobachteten. In der Ferne erhob sich der Engelswald, in dem es von Gestalten nur so wimmelte - Phyrexianer. Fänge, Klauen und spitze Schwänze blitzten zwischen den Stämmen und im Unterholz auf. Kränklich bleiche und ledrige Haut, knochige Schultern, drahtige Haare und tiefschwarze Schlitzaugen... Mutationen - Monster! Allmählich fanden einzelne Teile erlegter Falken, Läufer und Pumas ihren Weg in die Körper der Feinde. Sie dienten nicht nur als Rüstung oder Waffen, sondern demonstrierten die mörderische Kraft Phyrexias und waren begehrte Trophäen. In der Ebene sammelten sich Metalltruppen, um sich den Monstern entgegenzustellen. Hunderte von Läufern eilten herbei. Pumas verließen ihre Baumwipfel und schlichen durch die hohen Gräser, die rings um den Wald wuchsen. Eine große Gruppe Skorpione bildete den Mittelpunkt der Armee. Die Läufer auf dem Hügel wichen knarrend zurück, um einem Neuankömmling Platz zu machen. Ein sehr großer Läufer, mit einem Sattel und einem Schaltpult ausgerüstet, sprang auf den freien Platz. Die Reiterin 242
erhob sich in den Steigbügeln, hob die sonnengebräunte Hand an die Augen und spähte über das Schlachtfeld. »Karn, komm herauf!« rief sie über ihre Schulter hinweg. Eine funkelnde Gestalt kletterte den Pfad hinauf und gesellte sich zu ihr. »Ich bin nicht für Schnelligkeit gebaut«, sagte der Golem. Ohne darauf einzugehen, erklärte Jhoira: »Die Haupttruppe marschiert mitten durch den Wald, wie es die Falken berichteten. Sie müssen sich durch die Felsen am Südrand des Waldes gebohrt haben. Nun gut. Der Engelswald ist ein milder Trägzeitstrom. Während die meisten unserer Truppen den Vormarsch aufhalten, können wir seitlich am Waldrand entlangziehen und uns an dem Höhleneingang aufstellen, aus dem sie kommen. Dann schlagen wir von hinten auf sie ein.« »Wie sollen sechs Läufer, eine junge Frau und ein Silbermann eine Armee Phyrexianer zerschlagen?« fragte Karn mit zweifelnder Stimme. Sie warf ihm ein strahlendes Lächeln zu und lenkte den Läufer den Abhang hinunter. »Du wirst schon sehen!« Die übrigen Läufer folgten ihnen. Sie waren schnellfüßig und schritten wie Strauße einher. Halb glitten, halb rannten die Füße mit den drei Klauen über die Felsen zum Waldrand hinunter. Sie wanden sich zwischen riesigen Stämmen hindurch und preschten durch dichtes Unterholz. Auf der einen Seite gähnte der drohende Abgrund der phyrexianischen Schlucht. Auf der anderen erhob sich der Engelswald, in dem Hunderte von Monstern mit ungelenken, langsamen Bewegungen umher stolperten. Vor ihnen lag eine moosbewachsene Felsenklippe. Sie war vulkanischen Ursprungs und von unzähligen Höhlen durchzogen. 243
Durch diese Katakomben waren die dämonischen Kreaturen in den Wald gekommen. Jhoira lenkte ihren Läufer in einen Bach, um in die Trägzeitzone zu gelangen. Dann jagte sie ihn die Klippen empor, obwohl sie wußte, daß wenige Fuß unter ihr ganze Horden der Feinde durch die Höhlen streiften. Die anderen fünf Läufer eilten ihr nach. Karn beeilte sich, war aber erst bis zum Waldrand gekommen. Jhoiras Läufer kletterte noch höher und verschwand auf der anderen Seite der Klippe, wo er vor einer steilen Abbruchkante anhielt, die genau über dem Eingang der Haupthöhle endete. Seine Gefährten stellten sich mit vor Anstrengung quietschenden Antrieben neben ihm auf. Ein steter Strom Phyrexianer quoll aus der Höhle und verschwand im dichten Unterholz des Waldes. Die Monster verstärkten die Armee, die sich in der Ebene versammelt hatte. Der Nachschub konnte nur an dieser Stelle aufgehalten werden. Jhoira wünschte, Karn wäre schneller. Sie trieb den Läufer gegen einen großen Felsbrocken. Servomechanismen richteten sich aus, und der Hauptantrieb des umgebauten Artefaktes heulte auf. Der gewaltige Stein bewegte sich ein wenig. Er kippte ein Stück zur Seite. Sand rieselte über die Klippe zum Höhleneingang hinab. Mit einem kräftigen Stoß rollte der Läufer den Felsen über den Klippenrand. Hastig zerrte Jhoira ihn zurück. In letzter Sekunde erlangte das Artefakt, das dem Stein beinahe gefolgt wäre, sein Gleichgewicht wieder. Den Bruchteil einer Sekunde schwebte der Felsbrocken in der Luft. Dann landete er krachend auf einem Trio Phyrexianer. Der Stein zerplatzte wie eine reife Frucht. Goldenes Ölblut, zersplitterte Knochen und Muskelstränge vermischten sich mit Sand und Steinsplittern. Instinktiv wichen die nachfolgenden Monster wieder in die Höhle zurück und versperrten ihren Kameraden den Weg. 244
Jetzt oder nie! Jhoira trieb den Läufer über den Rand der Klippe. Er landete auf dem öligen Steinhaufen. Die anderen Artefakte folgten ihm und kamen mit knirschenden Gelenken zum Stehen. Jeder Läufer verschoß sechzehn Armbrustbolzen in die feindliche Horde im Höhleneingang. Sechsundneunzigmal trafen sie auf Fleisch und Knochen. Die ersten Reihen der Phyrexianer sanken in sich zusammen; der Rest wich zurück. Das reichte Jhoira. Sie führte ihre kleine Truppe zum Angriff. Sie kletterten über Leichen und Steine. Jhoira zog das Kurzschwert aus der Scheide und schlitzte einem Negator den Leib auf. Trotzdem hob er die Arme, um sie herabzuziehen. Sie ließ die Waffe in seinem Körper stekken und sprang aus dem Sattel. Der Läufer raste weiter und schwang die Sensenklingen. Seine Gefährten taten es ihm gleich. Zehn Klingen schlugen zu und töteten fünf Phyrexianer. Unterdessen lief Jhoira zum Höhleneingang zurück. Jeden Augenblick würden die Selbstzerstörungsmechanismen ausgelöst werden. Die erste und größte Explosion stammte von ihrem eigenen Läufer. Sie zerriß auch die Kreatur, in der ihre Waffe steckte, und das Schwert flog bis an die Decke. Fleischfetzen segelten durch die Luft. Die Druckwelle beförderte Jhoira ins Freie. Unsanft landete sie zwischen taubedeckten Sträuchern. Feuer und Rauch, Knochen und Steine, dichte Schwefelwolken ... Mit Donnergetöse stürzte die Höhlendecke ein. Langsam und majestätisch senkte sie sich über unzählige Feinde und begrub sie unter sich. Schutt versperrte die Gänge, die in Olblut schwammen. Die zerstörte Klippe sank in sich zusammen und verursachte einen gewaltigen Erdrutsch. Wie eine Traumgestalt tauchte der Silbermann auf und rutschte zu Jhoira hinunter. 245
Er rappelte sich auf und lief zu ihr. Besorgt zog er sie in die Höhe:»Bist du verletzt?« Sie lächelte gezwungen. Blutige Schrammen zogen sich über ihr Gesicht. »Nun, wir haben den Nachschub erledigt.« Karn hob den Kopf und starrte mißtrauisch zum Wald hinüber. Etliche Monster, die vor der Explosion aus der Höhle gekommen waren, hatten sich bei dem Lärm umgewandt. Sie bewegten sich in bedrohlichem Halbkreis auf die beiden Eindringlinge zu. »Ja, den Nachschub gibt es nicht mehr. Jetzt können wir sie von hinten angreifen, wie du eben bemerktest.« Jhoira stand taumelnd neben Karn und sah den Feinden entgegen. Sie seufzte ergeben. »Ich glaube nicht, daß du mich hochheben und ihnen davonlaufen könntest...« »Ich wurde nicht für Schnelligkeit gebaut«, antwortete Karn vernünftig. Sie nickte ebenso ernsthaft. »K'rrik haben wir leider nicht beseitigt.« Karn schien nachzudenken. »Wir haben gekämpft. Mehr kann keiner erwarten.« Jhoira sah den Golem traurig an. Beinahe hundert Feinde spiegelten sich in seiner Silberhaut. Der Kreis schloß sich Stück für Stück. Ein paar Monster krochen auf allen vieren heran, mit Gliedmaßen so stark wie Mangrovenwurzeln. Wolfsköpfe und spitze Zähne, Stachel und knochige Kiefer, nackte Beine und hornige Hufe, pulsierende Giftbeutel und pulsierende Gehirnsäcke ... »Es war mir ein Vergnügen, dein Freund zu sein, Jhoira vom Volk der Ghitu«, sagte Karn feierlich. Sie lächelte tapfer. »Wenn ich sterben muß - und das müssen wir alle irgendwann -, dann ist es gut, an deiner Seite zu sterben.« Mit einem vielstimmigen Schrei stürmten die Feinde 246
heran. Ein ganzer Wald aus Zähnen, Klauen und Stacheln kam auf sie zu. Schützend schlang Karn die Arme um Jhoira. Dann gab es nur noch Gekreisch, Blut, ausgestreckte Arme, gespreizte Krallen und funkelnde Zähne. Doch das alles verschwand in einem Meer aus blauen, magischen Flammen. Manche wurden zu glühenden Dolchen, die sich wie ein Bienenschwarm auf die Gegner stürzten. Andere verbrannten Augen oder schmolzen Zähne und Knochen zu Kalk. Heulen und Würgen. Blut und Feuer. Tod und Verstümmelung. Augenblicke später war es vorbei. Es wurde wieder still im Wald. Karn sah sich entgeistert um. Jhoira lugte unter seinen Armen hervor. Plötzlich stand jemand neben ihnen. Ein Mann mit graubraunen Haaren und blauen Gewändern. Er rieb sich die Hände, als hätte er gerade eine besonders staubige Tür berührt, und zog sie dann wieder in Ärmel zurück, die speziell für Magiekämpfe geschaffen waren. »Ach, da seid ihr ja«, sagte Barrin beiläufig. »Die Schlacht verläuft zufriedenstellend. Als ich die Explosion hörte, dachte ich mir gleich, daß sie euer Werk ist.« Atemlos betrachtete Jhoira das Schlachtfeld. Der Wald stank wie ein Schlachthof. »Die Feinde! Ihr habt sie getötet. Ihr habt gezaubert!« »Ein paar Sprüche«, erklärte Barrin. »Meine besten Kampfzauber. Sie waren nicht verschwendet, und ich kann sie wiedererlangen. Dafür hat man schließlich Bibliotheken. Euch beide hätte ich nicht wiederbekommen.« »Wiederbekommen ...«, murmelte Jhoira geistesabwesend. »Urza braucht dich in Shiv«, fuhr Barrin fort. Der Meister war seit ein paar Monaten abwesend, und durch den immer heftiger werdenden Kampf mit 247
den Phyrexianern hatten Jhoira und Karn nicht viel Zeit gehabt, um über den Erfolg oder Mißerfolg seiner Mission nachzudenken. »Ich rief ihn, damit er uns beisteht - einer der Gründe, weshalb die Schlacht so gut verläuft. Er sagte, er hätte einen Handel mit den Viashino abgeschlossen. Du sollst als Vermittlerin arbeiten. Du, Teferi und ein paar Studenten und Gelehrte sollen ihm behilflich sein. Ich bleibe mit den anderen hier. Wir setzten den Kampf bis zu eurer Rückkehr fort.« »Und ich?« fragte Karn. »Braucht er mich auch?« »Ja.« Barrins Miene verdüsterte sich. »Ja, Karn. Dich braucht er wahrscheinlich am nötigsten.« * * * »Nein, den grauen Hebel, nicht den roten!« rief Jhoira lauthals in den mit Dampf gefüllten Raum hinein. Plötzlich erinnerte sie sich daran, wo sie sich befand, und wiederholte die Anweisung auf Viashino. Natürlich sprach sie mit Ghitudialekt und war deshalb nicht so leicht zu verstehen. Trotzdem war Jhoira auch nach einem halben Jahr der Zusammenarbeit mit Viashinos der einzige Mensch, der ihre Sprache beherrschte. Urza konnte man kaum als Menschen bezeichnen. Die Wesen, mit denen sie sprach, starrten fragend durch den Dampf zu ihr herüber. »Grau - versteht ihr? Die Farbe eures Blutes. Rot ist mein Blut.« Jhoira war beinahe verzweifelt genug, sich in die Hand zu beißen, um es ihnen zu zeigen. Einer der jüngeren Viashinos, Diago Deerv, deutete mit übertriebener Geste auf den grauen Hebel. Der schuppige Dummkopf zu seiner Linken griff dennoch nach dem roten Hebel. Diago versetzte ihm einen Schlag - eine Erziehungsmethode, die von den meisten Echsen angewandt wurde -, beugte sich vor und zog an dem richtigen Hebel. 248
Eine Dampfwolke drang aus den Rohren hinter Jhoira, die bis zur Decke des Gewölbes reichten. Der durchdringende Geruch von Schwefel und heißem Gestein lag in der Luft. Schweißtropfen liefen Jhoira über den Rücken. Sie zog den Umhang aus Drachenfedern enger um die Schultern, der zur vorgeschriebenen Arbeitskleidung der in den Lavagruben Beschäftigten gehörte. Die Federn schützten selbst vor der größten Hitze und saugten den Schweiß auf. Sie trug nur ein schlichtes weites Leinengewand darunter und eine dünne Hose. Die Füße steckten in Drachenfederschuhen und die Hände in ebensolchen Handschuhen, falls sie die rotglühenden Hebel bedienen mußte. Die gläsernen Rohre glühten auf, als Lava hindurchfloß. Die Hitze im Raum nahm zu. In wenigen Minuten würde es wie in einem Hochofen sein. »Laßt uns nach oben gehen«, sagte Jhoira. Die Schuppen im Gesicht, auf den Armen und Schwänzen der Echsen hoben sich, um Hitze abzulassen. Mit weit aufgerissenen Augen und keuchendem Atem nickten die Viashinos erleichtert. Diese Geste hatten sie den Menschen schnell abgeschaut. »Gut. Folgt mir.« Jhoira kletterte über ein Gewirr alter, teilweise zersplitterter Rohre, die seit Jahrhunderten nicht benutzt worden waren. Sie führte ihre Kameraden zu einer Holzleiter. Das Eisengeländer war zu heiß für eine Berührung geworden, und auch das Holz konnte man nur mit Handschuhen anfassen. Jhoira kletterte hinauf. Diago Deerv blieb dicht hinter ihr, gefolgt von seinen Freunden. Jhoira erreichte die Luke, entriegelte sie mittels eines dicken Metallrades und klappte sie hoch. Heiße Luft strömte durch die Öffnung, als sie sich hindurchschwang. Die Anwesenden in diesem Raum - einem hellen, luftigen Zimmer mit dickwandigen Hochöfen und riesigen Schlackeeimern - wandten sich um und beob249
achteten die rußgeschwärzten, schweißbedeckten Wesen aus der Unterwelt. Teferi befand sich unter den Arbeitern im Hochofenraum. Der junge Mann hatte die tollen Streiche gegen eine auffallende Zielstrebigkeit und einen unermüdlichen Wissensdurst eingetauscht. Er sah gut aus und war schlank und hochgewachsen. Die dunkle Haut zeigte keine Falten, und der Blick der klaren braunen Augen war durchdringend. Obwohl er nur ein Drittel von Jhoiras Jahren zählte, sahen die beiden fast wie Zwillinge aus. »Jhoira!« rief er und ging auf sie zu. Der Magier und die Wissenschaftlerin waren gleichberechtigte Partner bei diesem Unternehmen und trugen die Verantwortung für die Ausbeutung der Manamine. »Wie viele Leitungsrohre arbeiten gerade?« »Fünfundzwanzig, wenn das letzte hält«, antwortete Jhoira. »Das sollte reichen, um alle Hochöfen in Gang zu halten«, sagte Teferi zufrieden. Er warf ihr ein strahlendes Lächeln zu. »Es handelt sich bloß um ein Zehntel der vorhandenen Hauptleitungen«, erwiderte Jhoira. »Ich muß dauernd daran denken, daß wir hier viel mehr schaffen könnten, als nur Metall herzustellen. Die Kraft, die wir aus dem Vulkan beziehen, reicht aus, um fünfzig Hochöfen zu befeuern. Aber es gibt keine fünfzig. Damals muß die Energie noch für andere Zwecke genutzt worden sein.« Teferi trat dicht neben sie, und in seinen Augen blitzte ein Hauch des alten Mutwillens auf. Er war eingebildet genug, um dieses Funkeln noch durch Magie zu verstärken. »Ich sage dir, die Antwort ruht in den Tabuhallen. Seit Monaten bitte ich dich, sie mit mir zu erforschen ...« »Und damit das Bündnis zu gefährden?« zischte Jhoira. 250
»Solange der Drache Gherridarigaaz lebt, wird das Bündnis bestehen bleiben. Komm schon. Sag, daß du mich begleitest.« Jhoira seufzte ergeben. »Wenn die Metallherstellung in Schwung ist. Bis dahin haben wir keine Zeit für Spielereien.« »Das kann Jahre dauern«, widersprach Teferi. »Nun, sorge dafür, daß aus Jahren Monate werden, damit du nicht solange warten mußt.« * * * Um so näher man dem Gebiet Gherridarigaaz' kam, um so unwirtlicher und häßlicher wurde die Landschaft. Alles Land im Umkreis von zehn Meilen wurde von Goblins bewohnt, und die gräßlichen Wesen waren so zahlreich vertreten wie Maden in einem Kadaver. Im Umkreis von zwei Meilen umgab ein Meer aus brodelnder Lava das Nest. Der Horst selbst lag auf dem zerklüfteten Gipfel eines Felsens, der wie ein krummer Finger aus einem Krater ragte. Aus der glühenden See ragten noch andere Felsbrocken auf, die aber so weit voneinander entfernt lagen, daß keine sterbliche Kreatur, die bei klarem Verstand war, den Versuch wagen würde, von einem Stein zum nächsten zu springen. Weder Urza noch Karn waren dafür bekannt, bei klarem Verstand zu sein. Keiner der beiden war ein gewöhnlicher Sterblicher. Schweigend standen sie nebeneinander am Rande des Lavameeres. Seit über einem Jahr weilten sie in Shiv und hatten immer noch das Gefühl, in einer unwirklichen Umgebung zu leben. Das verstohlene Rascheln und Trippeln der Goblinfüße, das aus dem hinter ihnen liegenden Ödland drang, verstärkte dieses Gefühl noch. Lange Zeit starrte Urza zum fernen Drachenhorst 251
hinüber, einer gewaltigen Festung aus Baumstämmen, die durch Pech und gebrannten Ton miteinander verbunden waren. Er bückte sich, hob einen großen Stein auf und schleuderte ihn über die Lava hinweg. Der Stein schlug zwölfmal auf, ehe er sich in Luft auflöste. »Wir sind beide in der Lage, von Stein zu Stein zu springen, um hinüber zugelangen«, bemerkte Urza beiläufig. »Ja.« Urza nickte. Seine Nasenlöcher blähten sich auf. Jedes andere Lebewesen wäre durch die giftigen Gase, die sie umgaben, längst umgekommen. »Ich könnte einen Zauber wirken, der uns das Wandern über Lava gestattet oder das Fliegen.« »Ja.« Wieder bückte sich Urza nach einem Stein, überlegte es sich jedoch anders und blieb eine Weile in der Hocke. Er beobachtete die geisterhaften Dampfschwaden, die über den rotglühenden Ozean hinwegzogen. »Ich könnte eigene Feuerdrachen herbeizaubern und sie ausschicken, um das Monstrum zu töten.« »Ja«, meinte Karn lakonisch. »Ihr seid Urza Weltenwanderer. Ihr könnt einfach alles. Ihr könnt uns auch ins Nest wünschen und Gherridarigaaz wegzaubern. Ihr könnt alles, was Ihr wollt. Ihr seid Urza Weltenwanderer.« Jetzt antwortete Urza lakonisch: »Ja.« Karn sah zu dem Hockenden hinab. »Ihr könnt alles. Warum also habt Ihr mich gegen Thranmetallartefakte eingetauscht?« Der Blick des Weltenwanderers verhärtete sich. »Beantworte deine Frage selbst. Warum sollte ich einen Silbergolem nicht gegen eine Armee Thranmetallmänner eintauschen? Uns steht ein großer Krieg bevor. Wir alle müssen Opfer bringen.« »Aber Ihr opfert mich!« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als die 252
Klippe sich mit einer schnellen Drehung in Luft auflöste. Auch der glühende Ozean und der rußgeschwärzte Himmel verschwanden. Karn stand still. Urza wanderte mit ihm zwischen den Welten. Ein Mensch überlebte die Reise nur, wenn er in einer Schutzhülle transportiert, zu Stein gemacht oder in eine völlig flache Kreatur verwandelt wurde. Karn blieb, wie er war. Urza hatte ihn schon auf unangenehmere Reisen geschickt. Sie waren da. Der rußige Himmel befand sich wieder über ihren Köpfen. Der Rest der Welt hatte sich in eine riesige Schüssel aus Holz und Ton verwandelt der Drachenhorst. An einer Seite lag ein Haufen bleicher, abgenagter Knochen. Daneben ruhte der angefressene Körper eines jungen Wals. Anscheinend hatte ihn das Monstrum aus dem Wasser gezogen, wie ein Eisvogel einen Hering fängt. Fliegenschwärme umtanzten den Kadaver. Der Verwesungsgestank vermischte sich mit dem Geruch von Schwefel und einem anderen, salzigen, barbarischen Geruch, der ein wenig an ein Holzfeuer erinnerte ... Gherridarigaaz. Der große Drache lag ihnen gegenüber, an die Wand des Horstes gelehnt. Im Augenblick sah er wie ein gewaltiger Haufen aus rötlicher Haut, Schuppen, Federn und Fell aus. Aus den großen Nasenlöchern drangen zwei Dampfwolken. Ruß hatte sich in den stachligen Brauen verfangen. Das Gesicht ruhte zwischen schweren Pranken. Ledrige Flügel lagen zusammengefaltet über dem Körper. Der schuppige Schwanz war zusammengerollt. Urza machte einen Schritt auf den Drachen zu und sagte: »Ich bin Urza Weltenwanderer. Ich kann dich mittels eines Gedankens töten. Ich werde dich töten, wenn du auch nur versuchst, uns etwas anzutun, und ich werde dich auch töten, wenn du die Angriffe auf die Viashinos nicht einstellst.« Langsam hob der Drache den Kopf. Schwere Lider 253
hoben sich und enthüllten Augen mit geschlitzten Pupillen, die von schwarzen und goldenen Streifen durchzogen waren. Das riesige Maul öffnete sich; die Stimme klang sanft, fast schnurrend: »Keine Zeit für Höflichkeiten, wie?« »Meine Botschaft ist unmißverständlich«, erklärte Urza entschlossen. »Verstanden? Ja«, antwortete der Drache. »Gehorchen? Nein.« »Du hast keine Wahl!« »Ich habe sehr wohl eine Wahl«, verbesserte ihn Gherridarigaaz. »Tod ist die Alternative.« »Welche Kreatur würde den Tod dem Leben vorziehen?« »Eine Mutter!« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Du bist ganz offensichtlich kein Vater.« Urza warf dem Silbermann einen Seitenblick zu. »Ich war ein Vater.« »O ja«, schnurrte der Drache genüßlich. »Urza Weltenwanderer. Ich kenne die Mythologie der Menschen. Stimmt, du hattest einen Sohn. Harbin war sein Name. Als du Argoth zerstörtest, hast du ihn geblendet. Man sagt, du hättest auch sein Schiff versenkt und ihn getötet.« »Ich versuchte, ihn aus dem Krieg herauszuhalten«, antwortete Urza unwillkürlich. »Alles, was ich tat, geschah, um Dominaria zu retten.« »Du opfertest deinen Sohn, um die Welt zu retten«, schnurrte Gherridarigaaz. »Das ist der Unterschied zwischen uns. Ich opfere die Welt, um meinen Sohn zu retten. Ich werde nicht aufhören, um ihn zu kämpfen.« »Rhammidarigaaz hat dich freiwillig verlassen. Er beschloß, sich den Viashinos anzuschließen«, entgegnete Urza. »Dein Sohn beschloß, am Krieg teilzunehmen.« Urza sah zornig aus. »Ich könnte dich auf der Stelle umbringen.« 254
»Ja, das könntest du, Weltenwanderer. Die Geschichte beweist, daß du es tun wirst. Aber warum lebe ich dann noch?« Urza warf dem Drachen einen letzten, wütenden Blick zu. »Ich habe dich gewarnt.« Mit einem Gedanken brachte er sich und den Silbermann an einen anderen Ort. * * * Barrin rannte. Farnwedel schlugen gegen seine Beine. Er stürmte durch dichtes Unterholz. Das Wesen hinter ihm war groß und gefährlich. Es verfolgte ihn: ein Riesenpython - flink, geschmeidig und kaltblütig. Allein der gehörnte Kopf war so groß wie der Magiemeister. Wenn die Schlange das Maul aufriß, konnte sie ihn mit einem Biß verschlingen. Zwei mannsgroße Wölbungen zierten den langen Körper bereits. »Es muß einen Zauber geben, um das Biest zu besiegen. Ich kenne Hunderte. Wenn ich mich nur konzentrieren könnte! Hatte es nicht irgend etwas mit Sumpfwandern zu tun?« Der Magiemeister rannte weiter. Er hatte sich gerade mitten in der Schlacht befunden, als das Wesen durch die Reihen der Kämpfenden brach. Sein Auftauchen störte Barrin mitten in einem schwierigen, Zauberspruch, und er war zurückgewichen. Verwirrt zermarterte er sich das Gehirn nach einer Verteidigung, aber ihm fiel nichts ein. Also floh er. Dieses Biest kam nicht aus Phyrexia. Es war gerufen worden, und zwar von einem Phyrexianer, der Zaubersprüche beherrschte. Das war neu. Anscheinend hatte K'rrik inzwischen genug Erfahrung mit der Erschaffung immer neuer Mutanten, um einen Zauberer aus ihren Reihen aufzuziehen. Einen Zauberer oder zwei - oder eine ganze Armee davon? Die Riesenschlange hinter ihm war nicht nur ein ent255
setzlicher Menschenfresser, sondern auch der Vorbote noch größeren Unheils. Das Atmen schmerzte allmählich. Ranken umklammerten Barrins Arme. Der kalte Atem der Schlange streifte seinen Rücken. Sie hatte ihn fast eingeholt. Er rannte noch schneller. Denk nach! Denk nach! Unsicherer Boden nahm ihm den Halt. Fluchend geriet er ins Stolpern, verfing sich in Gestrüpp und prallte krachend gegen einen Baumstamm. Die Schlange erhob sich und zeigte ihren glänzenden, mit weißen Schuppen bedeckten Bauch. Zähne blitzten unheilverkündend auf. Sie gähnte und verrenkte ihren Unterkiefer. Barrin verbarg sich hinter dem Baumstamm. Er zischte und sah der Schlange unentwegt in die Augen. »Wie funktioniert dieser Zauber, an dem Teferi arbeitet? Eine Kreatur, die Zeitströme durchquert... Nicht die Goblins, sondern das andere ... Teferis Ente? Nein, auch nicht.« Das Monstrum wand sich langsam in immer enger werdenden Kreisen um den Stamm herum. Wieder richtete es sich zum Angriff auf. »Teferis Drache!« Ein gelbhäutiger Drache erschien neben Barrin. Er breitete die Flügel aus, so gut es im Wald möglich war, und der Kopf pendelte zornig hin und her. Obwohl die Schlange riesig war, wirkte sie im Schatten des Drachen wie ein Wurm neben einem Huhn. Der Drachenkopf stieß nach unten. Das schnabelförmige Maul packte den Python. Die Schlange wand sich im Maul des Gegners. Auch eine der mannsgroßen Wölbungen in ihrem Leib zuckte und wand sich. Ob es sich um Gegenwehr oder nur um Verdauung handelte, konnte Barrin nicht sagen. Der gelbe Drache warf den Kopf zurück und verschluckte die Riesenschlange im Bruchteil einer Sekunde. Nach Atem ringend, ließ sich Barrin neben dem 256
Baumstamm zu Boden sinken. Hätte der Python ihn getötet, hätte niemand Urza herbeirufen oder die Studenten anführen können. Es würde weitere Riesenschlangen geben, immer mehr Abgesandte des Bösen. Immer neue phyrexianische Magier ... Wie viele Zauberer besaß K'rrik schon? Plötzlich unterbrach er seine Überlegungen, denn ihm wurde bewußt, daß ihn der Drache anstarrte. Seine Augen blickten gleichzeitig leer und vorwurfsvoll, wie die Augen Karns. Dann, so plötzlich wie er gekommen war, verschwand der Drache wieder. Hier lag der Nachteil von Teferis Zauber. Die Wesen, die er rief, überquerten Zeitströme, blieben aber nur wenige Minuten anwesend. Das hatte Barrin gewußt, aber er war verzweifelt gewesen. Der Drache war nur für den Kampf geschaffen worden und austauschbar. Ähnlich wie Karn ... * * * Karn saß auf einer Felsnase nahe der Managewinnungsanlage. Die keramischen Arterien unterhalb der Anlage glühten von pulsierender Lava, die aus dem Vulkankrater stieg. Innerhalb der Schmiede arbeiteten riesige Blasebälge und Hochöfen. Dampf schoß in hohen Säulen aus dem Felsboden. Die Managewinnungsanlage grollte und dröhnte wie ein übelgelauntes Lebewesen. Sie sah wie ein übergroßes Raubtier aus, das sich im Licht eines schwarzroten Sonnenuntergangs zusammenkauerte, zum Himmel zischte und aus dem Lavakrater trank. Sie hatten die Anlage zum Leben erweckt. Nach eineinhalb Jahren Arbeit hatten Jhoira, Teferi und Urza sie zum Leben erweckt. Jhoira hatte sich angesichts des schwierigen Verhältnisses zwischen Urza und den Viashinos als unersetzlich erwiesen. Teferi entpuppte sich als einfühlsamer Anführer und hervorragender 257
Magier. Gemeinsam hatten sie eine Zusammenarbeit zwischen Studenten und Viashinos aufgebaut. Inzwischen hatte Urza dafür gesorgt, daß Gherridarigaaz die Schmiede nicht mehr angriff. Schon seine Gegenwart reichte aus, um die fortwährenden Kämpfe entlang der Goblingrenze auf vereinzelte Zwischenfälle zu reduzieren. Der Berg wurde von einer Eisenfaust regiert, die in einem Samthandschuh steckte. Alles war plangemäß verlaufen, und die ersten neuen Thranmodelle standen kurz vor der Vollendung. Sie hatten Leben erweckt, aber Karn fühlte sich wie tot. Vielleicht lag es daran, daß Teferi seinen Platz als Jhoiras engster Gefährte eingenommen hatte. Ihre Arbeit hatte die beiden einander nähergebracht. Daß beide Menschen waren, begünstigte die Freundschaft. Karn war nicht eifersüchtig auf die wachsende Vertrautheit und freute sich, daß Jhoira einen Freund aus Fleisch und Blut hatte. Aber neben ihrer Arbeit und Teferi hatte Jhoira nun keine Zeit mehr für Spaziergänge oder Unterhaltungen mit dem Silbermann. Er sehnte sich nach den langweiligen Tagen im Wachturm Tolarias zurück. Doch eigentlich machte ihm etwas anderes weitaus mehr zu schaffen. Das Gefühl der Angst und der Leere rührte von dem ihm bevorstehenden Schicksal her. Wenn alles gesagt und getan war, würde er den Echsenmenschen gehören. Urza hatte ihm angeboten, seine Seele in eines der neuen Thranmetallmodelle zu verpflanzen, konnte ihm aber nicht versprechen, daß sein Gehirn unverändert bleiben würde. Mit urplötzlichem Gebrüll geriet die Anlage in Bewegung. Obwohl die verbotenen Zonen dunkel blieben, leuchteten sämtliche anderen Fenster auf. Der ganze Berg bebte und glühte. Das gleichmäßige Stampfen und Dröhnen der Pumpen wurde schneller und schneller. Gewaltige Dampfsäulen entwichen und 258
wurden zu einer riesigen Wolke aus Rauch und Ruß. Sie verhüllte die Sonne, den Himmel und hüllte schließlich auch die Anlage und den Silbermann in erstickenden Nebel ein. Er blieb noch eine Weile sitzen, in düstere Gedanken versunken. Die Schmiede arbeitete, die Hochöfen glühten, und die Gußformen füllten sich. Eine neue Armee Metallmänner wurde im Inneren des Berges geboren. Draußen starb der alte Silbermann. Um ihn herum lugten kleine rote Augen aus zahlreichen Felsspalten und winzigen Höhlen. Ohne daß es der traurige Golem bemerkte, krochen Goblins bis zum Rand der Anlage, stellten sich auf die Schultern ihrer Gefährten und spähten in die erleuchteten Fenster. Hunderte von Krallen gruben sich in jeden noch so kleinen Riß oder Spalt. An einer Stelle fanden sie Einlaß - Unzählige von ihnen.
259
Monolog
Ich vermisse Urza, Jhoira, Karn und - ja, ich gebe es zu - sogar Teferi. Die Arbeiten, die sie vor ihrer Abreise beendeten, ermöglichten uns eine gute Verteidigung der Insel. Ich hoffe, daß alles, was sie in Shiv erreichen, ebenso nützlich für die Verteidigung der Welt sein wird. K'rriks Maschinen entwickeln sich fortwährend weiter. Noch sind unsere Artefakte in der Lage, die jetzige Generation Negatoren in Schach zu halten, aber das heißt nicht, daß sie auch die nächsten besiegen. Ganz zu schweigen von jedem weiteren Magier. Wir fanden denjenigen, der den Python schuf, und töteten ihn, doch es wird Nachfolger geben. Die Studenten, Kollegen und ich arbeiten hart daran, unsere Modelle zu verbessern und neue Zaubersprüche zu entwickeln, aber selbst unsere schnellsten Schnellzeitlabore laufen nur halb so schnell wie die des Feindes. Es wird zum Endkampf kommen - sowohl auf Tolaria als auch im Rest Dominarias. Um unseren kleinen Krieg hier zu gewinnen, brauchen wir Urza, Jhoira und die anderen. Um den großen Krieg zu gewinnen, brauchen wir eine neue Maschine, von Urza persönlich entworfen, die sich allen Umständen anpaßt und mehr Feuerkraft besitzt als alle Waffen dieser Insel. Vor seiner Abreise begann Urza mit einem Entwurf. Vielleicht hat er ihn inzwischen fertiggestellt. Barrin, Magiemeister von Tolaria 260
»Dies ist unsere Rettung«, sagte Urza. Er schritt vor sorgfältig aufgehängten Plänen auf und ab. Sie bedeckten die halbkreisförmige Wand seines Studierzimmers in der Managewinnungsanlage. Der Raum sah ungefähr so aus wie sein tolarisches Arbeitszimmer, obwohl die Bücher, die auf den Regalen standen, größtenteils in der Thransprache abgefaßt waren. Außer Urza war niemand fähig, sie zu lesen. Heute abend dienten die Regale dazu, eine Unmenge von Plänen aufzuhängen - die letzten wilden Phantasien des Genies. Mit einem Zeigestock wies Urza auf die Umrisse der Maschine. »Es ist eine Flugmaschine, die ganz aus Thranmetall besteht. Sie wird durch eine Matrix aus Kraftsteinen angetrieben, die den größten Teil des Rumpfes einnimmt. Mit diesen Steinen kann sie schneller als der Schall fliegen. Energie kann von den verschiedenen Antriebssystemen in unterschiedliche Geschützbatterien geleitet werden ...« »Wozu dient die Maschine?« unterbrach ihn jhoira. Die Ghitufrau war die einzige unter den Zuhörern, zu denen eine Handvoll Gelehrter, Teferi und Karn gehörten, die eine Frage stellte. Urza hielt inne und sah sie blinzelnd an. »Nun, natürlich für den Krieg, den Krieg gegen Phyrexia.« Jhoira runzelte die Stirn. Teferis Hand legte sich warnend auf ihren Arm, aber sie fuhr trotzdem fort: »Das Metall und die Kraftsteine, die wir dafür brauchen, könnten besser für eine ganze Armee Krieger 261
verwandt werden, die geeigneter für den Einsatz gegen feindliche Armeen wären.« »Armeen sind langsam«, entgegnete Urza. Das Lampenlicht spiegelte sich in seinen eigenartigen Augen. »Diese Maschine kann sich blitzschnell bewegen und Überraschungsangriffe auf bestimmte Ziele durchführen - Ziele wie Drachenmaschinen und Landungsboote.« »Was denkt Ihr, wie viele dieser Maschinen die Phyrexianer besitzen?« »Vielleicht Hunderte«, meinte Urza. »Vielleicht auch Tausende.« »Sollten wir dann nicht lieber Hunderte oder Tausende dieser Flugmaschinen bauen?« fragte Jhoira ernsthaft. Urza sah verärgert aus. »In ganz Dominaria gibt es nicht genug Kraftsteine, um auch nur zwei davon auszurüsten.« Jhoira seufzte und verschränkte die Arme. »So phantastisch und ansprechend diese Idee auch sein mag - sie hört sich völlig unpraktisch an. Wenn wir keine unterirdische Schatztruhe voller Kraftsteine finden, müssen wir die wenigen, die wir haben, gut nutzen.« Ein feuriges Licht glomm in Urzas Augen auf, und er sah aus, als wollte er abfällig schnauben. Dann stemmte er die Spitze seines Zeigestabs, die mit Thranmetall versehen war, auf die Tischplatte und drückte zu. Der Stab erbebte vom Zorn des Meisters. Anstatt zu zerbrechen, verursachte die Spitze nur ein paar Kratzer auf der Obsidianplatte. Knurrend riß Urza die Pläne von der Wand, zerknüllte sie und warf sie wutschnaubend in die Ecke. »Keine weiteren Verzögerungen mehr! Ich will, daß der erste Thranman noch in diesem Monat fertig ist!« * * * 262
Teferi zog den letzten Riegel zurück, schob das rostige alte Gitter beiseite und winkte Jhoira, ihm in den dahinterliegenden finsteren Gang zu folgen. »Die Pläne zeigen, daß dieser Kriechgang ins Herz der verbotenen Zone führt.« Seine Augen funkelten vor Abenteuerlust. »Die Geheimnisse der Managewinnungsanlage erwarten uns.« Jhoira spähte umher und hielt nach etwaigen Viashinopatrouillen Ausschau. »Ich glaube, wir begehen einen Fehler. Wenn die Echsen es bemerken ...« »Stammesgesetze verbieten den Viashinos den Zutritt. Von Menschen war nie die Rede«, erwiderte Teferi und grinste schelmisch. »Außerdem hast du es versprochen! Die Schmiede läuft seit einem Jahr mit voller Kraft. Ich war sehr geduldig.« Jhoira lachte resigniert. Kopfschüttelnd sah sie den gutaussehenden jungen Mann an. »Ja, Teferi, du warst sehr geduldig.« Sie stockte. Eine Wolke aus der Vergangenheit segelte über sie hinweg. »Einst bist du mir in einen ähnlichen Gang gefolgt.« Teferi lächelte nur. »Manches ändert sich nicht.« Mit diesen Worten zog sie einen schwach leuchtenden Kraftstein aus der Tasche und hielt ihn vor sich in den finsteren Gang. Mit einem tiefen Atemzug kroch sie hinein. Teferi blieb dicht hinter ihr. Es war eng, und der Gang reichte nicht höher als Jhoiras Oberschenkel und war schmaler als Teferis Schultern. Das Ganze wirkte erdrückend. Anstatt sich kriechend fortzubewegen, mußten die beiden Entdecker sich wie Würmer Zoll für Zoll über den Boden winden. Es schien sich jedoch nicht um einen Luftschacht zu handeln. Der Fußboden war zu stabil, die Wände hatten kunstvolle Verzierungen, und an einigen Stellen ragten stumpfe Eisenhaken in den Schacht, die das Vorankommen merklich erschwerten. 263
Als Jhoira zum dritten Mal an einem Haken hängenblieb, hielt sie inne. Keuchend hob sie den Kraftstein und leuchtete in den vor ihr liegenden Gang. Er erhellte nur ein kleines Stück des Weges, der sich in grauschwarzer Dunkelheit verlor, aus der ein sanfter, kühler Lufthauch zu ihr herüberdrang. »Es muß einen Grund für das Verbot geben«, flüsterte Jhoira. Die Wände warfen ihre Worte als leises Echo zurück. »Ja, denn was hier versteckt liegt, ist kostbar, wertvoll ...« »Vielleicht sogar tödlich«, unterbrach ihn Jhoira. »Mir fällt ein, daß du eigentlich vorankriechen müßtest, da es deine Idee war hierherzukommen.« Teferi antwortete nicht sofort. Die Stille beunruhigte Jhoira. Sie drehte den Kopf, um einen Blick auf ihn zu werfen. Sein Kraftstein flackerte, und das schwankende Licht umtanzte ihn. »Jhoira« sagte er plötzlich mit ehrfürchtiger Stimme, »diese Haken in der Wand! Weißt du, was das ist?« »Fallen oder tödliche Bolzen«, schlug sie trocken vor. »Oder etwa vergiftete Pfeile?« »Lampen!« antwortete Teferi. »Es sind Wandleuchten. Sieh nur!« Er hob den Kristall neben den kleinen gebogenen Metallhaken, der dicht unter Decke hing. Je höher er den Stein hob, um so heller leuchtete er. In der Rundung des Hakens hing eine kleine Halterung, in die er den Kristall steckte, der urplötzlich strahlend helles Licht verströmte. Die beiden zuckten zurück und hielten sich schützend die Hände vor die Gesichter. Gleißende Helligkeit umgab sie. Bald gewöhnten sich ihre Augen daran, und sie sahen den Gang klar und deutlich vor sich liegen. Denn das war es: Ein Gang, für bedeutend kleinere Wesen als Menschen gemacht. Der Boden bestand aus 264
geädertem Marmor, die Wände aus vernieteten Metallplatten. Überall hingen Lampenhalter in gleichmäßigen Abständen. »Für wen wurde das gebaut?« wunderte sich Jhoira. »Für Viashinos? Sie hätten ebensolche Schwierigkeiten wie wir, hier entlangzukriechen.« »Vielleicht waren die Thran winzige Burschen«, schlug Teferi vor. Jhoira schüttelte den Kopf. »Erinnerst du dich nicht an die Geschichte von Urza und Mishra, als sie den ersten Ornithopter fanden? Sitz und Kontrollen waren für Wesen von menschlicher Größe gedacht. Nein, das hier ist für andere Wesen geschaffen worden.« »Glaubst du, daß es nicht die Thran waren, die die Schmiede bauten?« »Nein«, antwortete sie bestimmt. »Ich meine: Die Thran bauten die Schmiede, aber andere Wesen mußten die Arbeit verrichten.« »Eine Sklavenrasse?« »Vielleicht.« Jhoira verrenkte sich den Hals. »Ich sehe etwas. Dort, auf der anderen Seite. Sieht aus wie eine Tür.« »Weiter! Sei vorsichtig. Vielleicht lauern hier noch ein paar Thransklaven.« Teferi zog den Kristall aus der Halterung, und sofort lag der Gang wieder im Dunkeln. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen erneut an die Umstellung gewöhnten. Mit einem tiefen Atemzug robbte Jhoira vorwärts, bis sie die Tür erreichte, die sich als niedrig und schmal entpuppte. Aus dem dahinterliegenden Raum oder Gang drang heiße, trockene Luft. Vorsichtig hielt sie ihren Stein in die Richtung. Ihr Blick fiel auf ein Gewirr von Glasrohren, die wie die Eingeweide eines Meerungeheuers aussahen. Als sich ihre Augen besser an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte sie tief in dem Durcheinander ein paar schwach leuchtende, von Lava durchströmte Rohre. 265
Teferi gesellte sich zu ihr und bestätigte ihre Vermutung. »Hier enden die anderen Kanäle. Sie sollen Maschinen in der verbotenen Zone antreiben.« »Wir haben erst dreißig Prozent der Rohre verfolgen können. Wenn die übrigen siebzig Prozent für diese Räume zuständig sind ...« »Wozu braucht man so viel Energie? Was ist, wenn es sich um Mutantenforschung handelt, wie K'rrik sie betreibt?« fragte Teferi. Jhoira sah ihn zweifelnd an. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß man dafür thermische Energie benötigt. Mutanten entstehen, wenn man mit Genen herumspielt. Erinnerst du dich an die Geschichten über Ashnod? Zucht und Chemie und Muskelfusionen ...« Teferi wunderte sich: »Hörst du etwa immer zu, wenn Urza etwas erzählt?« Jhoira kroch weiter und sagte: »Die kühle Luft kommt von vorne. Es muß sich um einen größeren Raum handeln.« Kriechend erreichten sie eine scharfe Kurve im Gang - einen Knick, wie Teferi sich ausdrückte. Dahinter verbreiterte sich der Gang und endete vor einer weit geöffneten, doppelflügeligen Tür. Der kalte Luftzug war deutlich stärker geworden. Das Rascheln ihrer Kleider verhallte in der Finsternis und wurde erst Sekunden später zurückgeworfen. Jhoira streckte den Arm aus, den Kristall auf der Handfläche. Das Licht war zu schwach, um Näheres zu erkennen. Selbst gemeinsam mit Teferis Licht sahen sie nichts außer der unmittelbaren Umgebung. »Nun, entweder kriechen wir blindlings voran«, schlug Jhoira vor, »und ...« »... fallen in eine Grube, oder ...« »... wir versuchen, eine weitere Wandlampe zu finden.« »Hier ist eine!« verkündete Teferi und steckte den Kristall in die Halterung. Als das Licht aufstrahlte, 266
befestigte Jhoira ihren Stein in einer Lampe an der gegenüberliegenden Wand. Die Helligkeit erleuchtete einen sehr großen Raum und vertrieb die Finsternis. Metallbalken und Streben säumten die Wände und die Decke, von einem Gewirr aus Rohren unterstützt. Die zahllosen Leitungen teilweise mit Ventilen, Absperrhähnen, Pumpen und Auslaßventilen versehen - gelangten durch Wände und Fußboden in den Raum, wanden sich in dichten Knäueln hindurch und endeten in einem Gerüst, das mehrere Stockwerke hoch war. Die Leitungen waren so zahlreich, daß Jhoira ihre Zahl nicht abzuschätzen vermochte. Sie bildeten ein regelrechtes Dickicht, hinter dem eine Maschine stand, die kaum zu erkennen war. »Was ist das?« fragte Teferi und richtete sich schwankend vor der Maschine auf. Auch Jhoira erhob sich. »Vielleicht hattest du mit deiner Vermutung über Mutantenexperimente recht.« »Sehen wir sie uns mal an.« Teferi bürstete sich den Schmutz von den Kleidern und ging weiter. Er mußte über zahlreiche Leitungen klettern und bemerkte dabei viele kleine Leitern und schmale Flanken, die die einzelnen Rohre miteinander verbanden. Jhoira folgte ihm. Bei jedem Schritt wirbelten sie Staub auf. »Sieht so aus, als stünde die verbotene Zone seit langer Zeit leer.« »Vielleicht wurde sie nicht benutzt, aber leer ist sie nicht.« Er wies auf einen kleinen Fußabdruck mit drei Zehen, den er jenseits des Röhrengewirrs entdeckt hatte. »Scheint so, als hätte uns jemand gehört und wäre in Eile verschwunden.« Jhoira sah sich mit mißtrauischen Blicken um. »Wir haben genug gesehen, um Urza ausführlich Bericht zu erstatten.« Teferi beachtete den Einwand nicht. »Hier! Hinter 267
der Maschine befindet sich eine Art Bullauge. Es sind nur zehn Schritte bis dorthin.« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er weiter. Seine Schritte verwischten weitere Spuren. Jhoira folgte ihm widerwillig. Es wurde dunkler, da die massige Maschine zwischen den Abenteurern und den Lichtquellen stand. Teferi und Jhoira erreichten das Bullauge, und der junge Mann wischte jahrhundertealten Staub von der Glasscheibe. Ein einzelner Lichtstrahl fiel hindurch und glitt über einen Gegenstand. Die beiden Menschen kauerten vor dem Fenster und starrten hindurch. »Bei den Steinen von Koilos!« keuchte Jhoira. Der riesige Kristall - jener Kraftstein, den Mishra und Urza zerbrochen hatten, der Auslöser des entsetzlichen Bruderkrieges gewesen war und das Tor nach Phyrexia öffnete - hätte nicht größer und vollkommener sein können als der Stein, der im Mittelpunkt der finsteren Kammer lag. Daneben glitzerte es hundertfach. Kristalle, dick wie eine Faust oder noch größer, lagen wild durcheinander auf einem Haufen. Jeder von ihnen reichte aus, um eine Drachenmaschine anzutreiben. »Deshalb ist dieser Ort verboten!« sagte Teferi atemlos vor Bewunderung. »Es ist ein Hort der Kraftsteine!« »Kein Hort«, verbesserte ihn Jhoira. »Man stellt sie mit der Maschine her.« Im Augenblick der Erkenntnis machte sie eine zweite Entdeckung. Sie zischte: »Teferi, wir sind nicht allein.« Sie wirbelten herum und sahen sich einer bedrohlichen Wand aus Speeren gegenüber. Hinter den funkelnden Spitzen blinzelten ihnen rote Augen aus bösartigen kleinen Gesichtern entgegen. Im Licht der Wandlampen erkannten sie gerunzelte Brauen, spitze Ohren, drahtige Körper und struppige Haarbüschel, die aus den Ohren, Schultern und Warzen sprossen. 268
»Goblins!« stieß Jhoira hervor. Teferi hob die Hände, um einen Zauber zu wirken, aber ein schmutziges Netz fiel über die beiden und unterbrach ihn. Das Netz zog sich zusammen. Die Lampen erloschen. Die Speere stießen zu. * * * Sie kamen aus allen Richtungen. Sie kamen aus den Höhlen, in denen sie sich vor Viashinopatrouillen versteckt hatten. Sie kamen aus Erdspalten, die bis in ihre unterirdischen Nester reichten. Sie kamen sogar aus der verbotenen Zone der Managewinnungsanlage. Goblins. Sie kamen von überall, und sie kamen zu Tausenden. Viele der kleinen Eindringlinge gehörten dem rotschuppigen Stamm der Destrou an, der die umliegenden Hügel bewohnte. Sie trugen Kampfstäbe bei sich, die von Tierhörnern gekrönt wurden. Die langen spitzen Ohren hatten sie flach an den Kopf gebunden zum Zeichen, daß sie sich auf dem Kriegspfad befanden. Die platten Nasen bebten vom fortwährenden Kriegsgeschrei. Andere gehörten zu den grauhäutigen Grabbitgoblins, die kleiner als die Destrou waren, aber unangenehmere Gegner im Kampf, da sie gerne mit spitzen, sehr scharfen und immer schmutzigen Zähnen zubissen. Sie trugen Rüstungen, mit Metallspitzen versehene Hosen aus Leder und Wickelgamaschen. Heulend warfen sie sich ins Kampfgetümmel, umringten die Feinde und griffen sie mit Zähnen, Krallen und Spitzen aus Metall, Knochen und Stein an, die an ihre Kleidung genäht waren. Sie waren grausame, unerbittliche und furchtbare Gegner - aber normalerweise keinesfalls Verbündete der Destrou. Das galt auch für die dritte Gruppe, für die silber269
schuppigen Tristou. Sie waren groß und dünn und bewohnten die fernen Ausläufer des Vulkans. Für gewöhnlich waren sie nicht sehr kriegerisch, sondern für die Fähigkeit bekannt, Orakelsprüche aus Knochen zu lesen. Sie galten als Goblinpropheten, die nach wochenlanger Trance unverständliche Schreckensbotschaften von sich gaben. Seit Urzas Ankunft hatten sie einen Krieg vorausgesehen, der die Goblinstämme vereinen würde. Es würde der größte Kampf gegen die Viashinos werden. Der Tag des Krieges war angebrochen. Die Viashinos und ihre menschlichen Verbündeten hatten die heilige Nekropolis entweiht. Destrouspäher nahmen zwei Menschen gefangen, die in die Juwelenkammer starrten. Seit Jahrhunderten hatte kein Goblin in diese heilige Kammer gesehen aus Angst, von den Geistern der Vorfahren, die in den Steinen hausten, getötet zu werden. Die beiden Menschen sahen nicht nur hinein, sondern zündeten sogar Lichter an, ohne die Höflichkeit zu besitzen, tot umzufallen. Die vereinten Stämme beschlossen, die Frevler zu töten - die Frevler und ihre Viashinoverbündeten. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer von den Patrouillen der Nekropolis bis in die Grabbitnester der vulkanischen Hügel, durch die Dampftunnel zu den Wachen, die an den Schwefelventilen hockten, und von dort aus zu den fernen Orakelgoblins. Die Welle des Zorns prallte gegen diese fernen Küsten und kehrte zurück. Ihr Gefolge bestand aus einer vereinten Armee Tausender Goblins. Sie trugen Fackeln, Geißeln, Kriegsäxte, Beile, Blasrohre, Säureblasen, Netze und Dolche bei sich. Sie würden den Feind mit Waffen, Zähnen und Krallen angreifen und brannten vor Blutdurst. Sie würden bis zum Tod kämpfen, und die beiden menschlichen Geiseln waren das Unterpfand für einen Sieg. 270
Urza arbeitete gerade an dem Modell des Thranmetallmannes, als der Alarm ausgelöst wurde. Er sah auf; seine Kristallaugen funkelten vor Enttäuschung. Wann immer Jhoira und Teferi keinen Dienst hatten, gellte der Alarm. Er schloß die Augen und rieb sich die Schläfen. Zwar handelte es sich bei ihnen auch nur um geistige Gebilde, aber dennoch waren sie empfindlich für Muskelkrämpfe und nervöse Zuckungen. Schnell öffnete er die Augen wieder. Der halbfertige Metallmann sah ihn mit leerem Blick an. Er funktionierte nicht. Thranmetall wuchs. Das hatte er vorher nicht gewußt. Er war davon ausgegangen, daß Jhoira Anhänger in verschiedenen Größen besaß. Jetzt wußte er, daß aus kleinen Schmuckstücken große wurden. Auch die Einzelteile des Thranmannes wuchsen. Die Brustplatten stießen gegeneinander und verzerrten die Schultergelenke. Schlimmer war die Tatsache, daß sich auch die Zahnräder aneinanderrieben, verkeilten, Schrauben abbrachen und Kabel zerrissen. Noch während Urza nachdachte, verkündete ein unheilvolles Klirren das katastrophale Versagen eines Gelenks im Unterleib des Artefaktes, und eine Metallplatte rutschte ein Stück seitwärts. Urza sank in seinem Stuhl zusammen und fragte sich, wie lange der Alarm dauern würde. Die Managewinnungsanlage war wie ein riesiger Eimer und verstärkte das Heulen, bis es unerträglich wurde. Trotz des Lärms regte sich ein Gedanke ... Es ging um das Zusammenfügen wachsender Teile gemäß der Geometrie des Lebens, damit sich die Stücke harmonisch ausbreiteten, statt das Gegenteil anzustreben ... Eine Kugelform oder ein dreidimensionales Oval mit inneren Mechanismen, in einzelnen Nestern geborgen, die dem Wachstum Platz ließen. Trotz des andauernden Heulens fiel ihm die Ironie des Plans auf, eine Maschine zu entwerfen, die an Phyrexias ineinander übergehende 271
Welten erinnerte. Sein Blick fiel auf die beiseite geworfenen Pläne des Thranmetallschiffs. Es war eiförmig. Vielleicht konnte er den ursprünglichen Plan verwenden ... das Thranmetall... eine Verbindung ... Wachstum zulassen ... »Genug!« brüllte Urza und rollte die Augen. Der Alarm wurde immer lauter, denn urplötzlich riß jemand die Tür auf. Urza drehte sich wütend um und erblickte Karn, der sich in dem viel zu niedrigen Durchgang duckte. »Was ist los?« »Goblins. Überall Goblins! Drei Stämme. Die Viashino verlieren den Kampf!« stieß Karn hervor. »Also los!« knurrte Urza, stand auf und zauberte eine Rüstung herbei. Der Stift in seiner Hand wurde zu einem leuchtenden Stab, und er schritt vor dem Silbergolem her, betrat den Gang und eilte dem Schlachtfeld entgegen. * * * In der Schmiede regierte das Chaos. Seite an Seite kämpften Viashinoarbeiter in Lederschutzkleidung und erschöpfte Studenten. Schraubenschlüssel und Feilen schlugen gegen Äxte, Dolche und Kriegsbeile. Die Echsenmenschen standen dicht beieinander, die Rücken den glühenden Hochöfen zugewandt. Mit verzweifelten Vorstößen und Hieben hielten sie die grölenden Goblinhorden in Schach. Sie waren überall. Graue Grabbits bildeten die ersten Reihen. Sie hackten und bissen in Knie. Rotschuppige Destrou standen hinter den kleineren Gefährten und schwangen mit Hörnern besetzte Stäbe über ihren Köpfen. Hier und dort verfingen sie sich in den Ärmeln der Echsen und zerrten die Opfer den Feinden entgegen. Hinter ihnen warteten silbrige Tristou, die Feuer und Blitze auf die Verteidiger schleuderten. 272
Viashinos fielen. Siebzehn Arbeiter und vier Krieger lagen zwischen den vorrückenden Goblins in ihrem Blut. Grabbits rissen Stücke aus den Leichen und verschlangen sie. Zwei weitere Kriegerleichname hingen rauchend an den Hochöfen. Man hatte sie mit dem Rücken gegen das glühende Metall gepreßt, bis sie dort festklebten. Minuten später waren sie zu schwarzen Kohlestücken verbrannt. Auch zwei Studenten waren umgekommen. Der erste wurde von einem kurzen Speer aufgespießt, der zweite von Goblins zerfleischt. Die verbliebenen Verteidiger befanden sich in der Minderheit, waren schlecht bewaffnet und glühten vor Hitze, da sie zwischen den Öfen und den Angreifern standen. Diago Deerv hieb einem Grabbit einen Schraubenschlüssel über den Schädel, so daß selbiger wie eine reife Frucht zerplatzte. Er versetzte dem Kadaver einen Tritt, der ihn zwischen die Beine seiner Gefährten beförderte, die ihn sofort verschlungen. »Wo ist Jhoira?« brüllte er. »Sie hätte bestimmt eine Idee!« »Eine Idee?« schrie einer der Arbeiter. Eine Goblinfackel traf ihn an der Brust. Der Echsenmann stützte sich auf den Schwanz und schleuderte den Angreifer zwischen die Reihen seiner Kameraden. Die brennende Fackel setzte zwei andere Goblins in Brand. »Wir brauchen eine Armee, keine Idee!« Diago sah zu den brennenden Grabbits hinüber. »Manchmal ist eine Idee so viel wert wie eine ganze Armee.« Er wirbelte herum, zog einen Feuerhaken aus einer Wandhalterung und steckte das gekrümmte Ende in eine große Öse an der Seite des Hochofens. »Was machst du da? Wir kämpfen nicht gegen Öfen, sondern gegen Goblins.« »Tretet zurück!« rief Diago. Seine Freunde wichen zurück, und er riß die Klappe auf. Heraus strömte eine Flut geschmolzenen Metalls 273
und ergoß sich über die Goblinhorde. Selbst die dummen und blindwütigen Grabbits traten den Rückzug an. Viele waren nicht schnell genug und gerieten unter die glühende Masse. Als sich jeder Tropfen Flüssigkeit in ihren Körpern in Gas verwandelte, zersprangen sie regelrecht. Die kleinen Explosionen ließen rotglühende Funken auf die übrigen Kreaturen niedergehen. Keuchend rief Diago: »Das schenkt uns Zeit zum Atemholen!« Der Krieger neben ihm war erschöpft und sämtliche Schuppen seines Körpers standen in die Höhe. »Ich würde lieber durch den Speer als durch Feuer sterben.« Diago blickte auf und sah zu der Treppe hinüber, die in den Gußraum führte. »Vielleicht müssen wir überhaupt nicht sterben.« Eine Flutwelle strömte die Treppe hinab - eine Flutwelle von Viashinokriegern, schwerbewaffnet und gut gerüstet. Mit funkelnden Speeren warfen sie sich ins Kampfgetümmel. Hinter den Kriegern tauchte eine überirdische Gestalt auf, die von einem feurigen Licht umgeben war und über dem Boden schwebte. Urza Weltenwanderer stand wie eine zweite Sonne über seiner Armee. Aus seinen Fingerspitzen sprühten Blitze. Wo auch immer sie ein Ziel trafen, wurden Goblins hoch in die Luft geschleudert. Wie verbrannte Spielzeuge fielen sie anschließend zu Boden. Die erschöpften Verteidiger jubelten. Urza blieb in der Mitte des Raumes. Er hob die Hände über den Kopf und verschränkte sie. Ein weißes Licht erwachte zwischen seinen Fingern. Es leuchte über Metallstreben und Träger, die seit tausend Jahren kein Licht erreicht hatte, und breitete sich in erstaunlich anzusehenden Wellen aus. Lichtkreise bewegten sich über die entgeisterten Goblins hinweg und ließen sie erstarren. Erhobene Äxte senkten sich nicht und verharrten in der Luft. Dolche erschlafften in 274
den Händen ihrer Besitzer. Die magischen Stäbe der Tristou glühten auf und wurden zu Feuerlanzen, ehe sie zu Asche zerfielen. Das letzte, was Diago tat, ehe auch er in den Lichtkreis geriet, war das hastige Schließen der Ofentür, um den Fluß des Metalls zu beenden. Sekunden später erstarben auch die Kriegsrufe. Alle Augen richteten sich auf die schwebende Gestalt. Urzas Stimme übertönte jedes Geräusch. Sie klang kehlig und bildete Töne, die sich wie Geknurr und heiseres Gebell anhörten. Die Worte - für menschliche Ohren unverständliches Kauderwelsch - wurden von den Goblins und ihren Erzfeinden, den Echsen, sehr gut verstanden. »Ergebt euch, ihr Goblins! Werft eure Waffen fort oder seht dem Tod ins Auge!« Er machte eine Geste, und schon erhoben sich drei Goblins - größer und besser gekleidet als ihre Gefährten - in die Luft. Die drei Häuptlinge zappelten und versuchten, sich der unsichtbaren Klauen zu erwehren, die sie umklammerten. Sie schwebten auf die Lichtgestalt zu. Hinter ihnen öffneten sich gefühllose Klauen, und Äxte und Beile fielen zu Boden. Grabbits zogen sich mit blutbeschmierten Mäulern von den Leichen zurück. Destrou fielen zum Zeichen der Kapitulation auf die Knie. Tristou standen still, alle Zaubersprüche waren vergessen. Sanfte, friedliche Wellen magischen Lichts hüllten sie ein. »Ich werde mich mit euren Häuptlingen über die Bedingungen der Kapitulation unterhalten«, verkündete Urza. Mit einer Geste ließ er die drei schwebenden Kreaturen vor sich anhalten. Sie hingen hilflos in der Luft, die Gewänder in blutbesudelten Fetzen. Urza musterte sie eindringlich. Seine seltsamen Augen wanderten langsam von einem zum anderen. Der Tristouhäuptling war uralt. Hinter der dunklen, 275
verschrumpelten Nase, die wie eine Dattel aussah, schauten dunkle, ernste Augen hervor. Die Gewänder bestanden aus feinem, mitternachtsblauem Stoff mit Silberborte. An der Stelle, an der sich sein Stab befunden hatte, zierten dicke Brandlöcher die Hemdbluse. Auch eine Klaue war verbrannt. Der neben ihm schwebende Destrouanführer entpuppte sich als Kriegerin, die eine graue Rüstung trug, aus der sehnige Arme und Beine herausragten. Sie sah Urza wütend und trotzig an und dachte nicht daran, dem Blick des Siegers auszuweichen. Der dritte Häuptling war ein verrückter Winzling, dessen kleiner Körper in einer blutverschmierten Rüstung steckte, die mit Metallspitzen und Splittern besetzt war. Wütend versuchte er, sich zu befreien. »Ich bin der Herr der Manamine«, sagte Urza in deutlichem Goblinisch. »Ihr werdet euch mit euren Stämmen zurückziehen. Keiner von euch wird sich je wieder näher als fünf Meilen heranwagen.« »Hier liegt die Heimat unserer Vorfahren!« widersprach der silbrige Tristou. »Man gestattete euch, solange hierzubleiben, bis ihr uns attackiertet«, erklärte Urza. »Ihr habt die Verbannung selbst verschuldet.« »Unser Angriff wurde provoziert!« rief die Kriegerin. »Zwei deiner Offiziere entweihten unsere heilige Nekropolis.« »Das ist egal«, winkte Urza ab. »Ihr seid besiegt. Zieht euch sofort von unserem Land zurück, oder ich töte jeden, den ich finde.« »Wir halten die Offiziere gefangen«, entgegnete die Kriegerin. »Sie befinden sich in einer Todeszelle. Diese Zelle steht mit mir in Verbindung. In Sekundenschnelle kann ich die Zelle zusammenstürzen lassen, und sie werden unter den Trümmern begraben.« Urza musterte sie eindringlich. »Du lügst.« »Sie heißen Jhoira und Teferi«, antwortete die Goblinfrau gelassen. 276
Urza wollte etwas erwidern, aber er verhaspelte sich und schwieg. Zum ersten Mal seit dem Betreten der Schmiede atmete er. »Bringt mich zu ihnen. Ich will wissen, ob sie noch leben.« »Nein!« sagte die Destroukriegerin. Ein böses Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus. Das Blatt hatte sich gewendet, und sie genoß diese Tatsache. »Du darfst aber mit ihnen reden.« Sie nickte dem Tristou zu, der mit seiner verkohlten Klaue einen schwarzen Kreis beschrieb. Geräusche drangen aus dem Kreis: das Plappern von Goblins, das Knacken eines Feuers und das Heulen des mitternächtlichen Windes. »Teferi Jhoira!« rief Urza. »Hört ihr mich?« Es raschelte, und Metall klirrte. »Wer ist da?« ertönte eine Frauenstimme. »Urza! Wo seid ihr?« »Das wissen wir nicht. In einer finsteren Höhle. Wir hocken in einem seltsamen Käfig.« »Ist Teferi bei dir?« Der junge Mann antwortete: »Ja.« Urzas Miene verfinsterte sich. »Warum erzählen die Goblins, ihr hättet ihre heilige Nekropolis entweiht?« Teferi seufzte. »Wir betraten die verbotene Zone. Wahrscheinlich meinen sie das.« Urza wandte sich an das silbrige Orakel. »Eure heilige Nekropolis liegt innerhalb der Managewinnungsanlage?« »Sie war unseren Ahnen heilig. Sie lebten dort lange, ehe sich die ersten Echsen ansiedelten«, antwortete der Tristou mit zuckender Nase. »Sie lebten bei den alten Meistern.« Ehe Urza weiterreden konnte, mischte sich Teferi ein: »Es sieht aus, als sei das Ganze für sie gebaut worden. Alles hat Goblingröße: Gänge, Leitern und Hebel. 277
Kein Viashino hätte die Maschinen bedienen können, die wir sahen.« Das Orakel sah blinzelnd zu Urza hinüber. »Wollt ihr damit sagen, daß ihr den Thran dientet?« fragte Urza mit ehrfürchtiger Stimme. »Da ist noch etwas!« warf Jhoira ein. »Der größte Teil der verbotenen Zone dient dazu, Kraftsteine herzustellen.« Der Weltenwanderer erbleichte. In die nun folgende Stille hinein sagte das Orakel: »Nun, wer ergibt sich jetzt wem?«
278
Monolog
Heute kehrte Urza mit seltsamen, aber wundervollen Neuigkeiten zurück. Er hat ein Friedensabkommen zwischen fünf Rassen getroffen. Ja, Urza Weltenwanderer, Zerstörer von Argoth, Vernichter von Terisiare, Fluch von Serras Reich, Mörder von Tolaria - er, dessen Name nur für mörderische und sinnlose Kriege steht - hat Frieden geschlossen. Viashinos, Destrou, Tristou, Grabbits und Menschen arbeiten Hand in Klaue in der Managewinnungsanlage. Noch unglaublicher ist die Tatsache, daß die beiden Menschen, die gefangengenommen wurden, als sie die Nekropolis der Goblins entweihten, jetzt die Aufgabe haben, die kleinen Monster in ihrer ursprünglichen Heimat wieder anzusiedeln und sie in der Handhabung der Maschinen zu unterweisen. Am unglaublichsten jedoch ist, daß Teferi, Jhoira und die Goblinhorden Kraftsteine herstellen werden - große und vollkommene Kristalle! Als er mir davon erzählte, wirkte Urza wieder völlig verrückt. Er war so glücklich, als hätte er den Entwurf für eine gewaltige, unbesiegbare Maschine beendet. Und eigentlich ist genau das geschehen. Es war traurig, weniger gute Ergebnisse meiner Bemühungen berichten zu müssen. K'rriks Negatoren werden wöchentlich stärker. Unsere Labore können kaum mithalten. Die neuesten Modelle unserer Läufer sind noch Monate vom ersten Einsatz entfernt. Unsere Zaubersprüche haben alle von phyrexianischen Magiern geschaffenen Kreaturen und Artefakte aufgehalten, aber auch auf diesem Gebiet werden wir ihnen 279
nicht mehr lange ebenbürtig sein. Ich fühle, daß der Endkampf naht. Auch wenn uns K'rriks Armee noch nicht so bald überrennt, gehen unsere Vorräte und unsere Arbeitskraft zur Neige. Ob im nächsten Augenblick oder in einer Million Jahren - sie werden siegen. Mit diesen Worten flehte ich Urza an, zurückzukehren und auch Teferi und Jhoira mitzubringen. Er winkte ab und sagte, er habe vollstes Vertrauen zu mir. Dann erinnerte er mich an das Leuchtfeuer, mit dem ich ihn in Sekundenschnelle rufen könne. Das war alles. Er konnte es kaum erwarten, zu seiner Manamine und den wundervollen Maschinen zurückzukehren. Ich fühle mich im Stich gelassen. Urza hat in der Tat viel gelernt - er vergißt seine alten Verpflichtungen nicht mehr, er tut so, als wären sie nicht vorhanden. Barrin, Magiemeister von Tolaria
280
»Dies ist unsere Rettung«, sagte Urza. Er wandte sich an die Gruppe, zu der auch Karn, Teferi und Jhoira gehörten, der er den Entwurf schon einmal gezeigt hatte. Die Pläne hingen an der Wand hinter ihm und waren vollständig überarbeitet worden. Thranmetall wurde nur noch an den wichtigsten Stellen benutzt. Der Rest des Rumpfes bestand aus Holz. »Es fliegt schneller als der Schall, eignet sich zum Weltenwandern, wird mit erstklassigen Waffen ausgestattet und kann die Mannschaft in die feindseligsten phyrexianischen Gebiete bringen, um ihre Angriffszentrale zu vernichten.« Urza hielt inne, als erwarte er Jhoiras Widerspruch. Sie hüstelte, sagte aber kein Wort. »Eine der Hauptänderungen an diesem Entwurf ist der Holzrumpf - wie euch sicher aufgefallen ist. Als ich die Eigenschaften des Thranmetalls bedachte - besonders das Wachstum - beschloß ich, daß es sich am besten in Verbindung mit lebenden Stoffen verarbeiten läßt - mit einer ganz bestimmten Holzart.« Er legte den Zeigestock beiseite. »Da ich sehe, welche hervorragenden Fortschritte unser neues Bündnis macht, halte ich den Zeitpunkt für gekommen, kurze Zeit fortzugehen, um das passende Holz zu besorgen.« Sofort sprangen die bisher schweigsamen Zuhörer auf und protestierten lautstark. »Was redet Ihr da?« »... bringt uns in dieses Inferno und wollt dann gehen!« 281
»Wie sollen wir sie davon abhalten, einander umzubringen?« Jhoira übertönte die anderen: »Der einzige Grund für die gute Arbeit liegt in Eurer Anwesenheit, der Anwesenheit des allmächtigen und unberechenbaren Gegners.« »Laßt sie in dem Glauben, ich wäre noch da«, entgegnete Urza. »Wenn ihr wollt, kann ich auch ein paar Illusionen vorbereiten, damit sie mich während meiner Abwesenheit sehen. Ich bleibe nur wenige Tage fort.« Das beruhigte die meisten Zuhörer sichtlich. Nur Jhoira zweifelte: »Was ist, wenn es länger dauert?« Urza dachte nach, und seine Augen funkelten vergnügt. Mit einem Achselzucken sagte er: »Ihr schafft es. Ihr habt es bisher immer geschafft. In der Zwischenzeit habe ich ein paar neue Gußformentwürfe für euch. Es handelt sich um die Ausstattung des Schiffs. Ich wünsche, daß ihr sofort damit beginnt. Außerdem stelle ich besondere Ansprüche, was die Größe und die Form des Kraftsteins betrifft, den ich für den Maschinenraum benötige. Jhoira, ich will, daß du und Teferi sich persönlich darum kümmern.« * * * Urza schwebte in das Herz eines dichten Dschungels herab, in das Herz eines uralten Traumes. Er hieß Yavimaya. Seine uralten Bäume ragten dreitausend Fuß in den Himmel, dreitausend Fuß in die Erde und dreitausend Fuß in die Vergangenheit. Dicht unter Urzas Füßen - an denen er goldene Sandalen trug, passend zu seiner Rolle als Botschafter Dominarias - breitete sich eine Landschaft aus Baumwipfeln aus. Gewaltige Kronen nickten gelassen im sanften Wind. Zwischen den wogenden Blättern reckten sich Äste empor, die so dick und ausladend waren wie anderswo ganze Bergrücken. 282
In Ausbuchtungen der gewaltigen Stämme schimmerte das klare Wasser weiter Seen - dreißig Fuß tief eingebettet in glatte Rinde. Tägliche Regenfälle füllten diese Gewässer. An den Rändern hingen lange Moosteppiche, und Elfendörfer klammerten sich dort fest. Aus den Seen ergossen sich Wasserfälle die Stämme hinunter oder in die Luft hinein, um in den finsteren Wäldern zu verschwinden. Urza hielt nicht bei den Elfen an. Er wollte nicht mit einzelnen Dschungelbewohnern sprechen, sondern mit allen gemeinsam. Er suchte den Geist des Waldes Yavimaya. An manchen Stellen war ein Baum den Termitenkolonien und Würmern zu Opfer gefallen, die den stadtgroßen Stamm bewohnten, oder einer um sich greifenden Wurzelfäule oder aber dem Lauf der Zeit. Die toten Baumriesen lehnten sich gegen ihre Nachbarn und bildeten langsam verfaulende Rampen in die Tiefe. Auf solchen Hängen wuchsen neue Pflanzen, und Grasfresser und scharfäugige Raubtiere siedelten sich an. Andere Bäume, deren Gewicht nicht zu halten war, stürzten zu Boden und rissen mächtige Krater in den Waldboden und die dichten Wipfel. Sie gewährten Urza Einblick in mehrere tausend Fuß Tiefe, bis hinab zu dem Wurzelgewirr des Dschungels. Er schwebte einen dieser Krater hinunter. Bewundernd sah er zu, wie ihn die umstehenden Bäume umringten und bald den Himmel fast gänzlich vor seinen Augen verbargen. Nur noch ein großes, zerklüftetes Loch blieb übrig. Rings umher standen Bäume, von denen ein jeder so groß wie ein ganzer Wald war. Das helle Grün hob sich gegen den blauen Himmel und die weißen Wolken ab. Schließlich machten Äste und Blätter Kletterpflanzen und Ranken Platz. Diese wiederum wurden später durch ein kalte, dunkle Landschaft ersetzt, in die nur Wasserfälle und schwaches Licht vor283
drangen. Die Luft wurde zusehends kälter, feuchter und unangenehmer. Urza wünschte sich einen dicken Wollumhang über seine seidenen Festgewänder. Das Kleidungsstück flatterte im Wind und ließ ihn wie eine große schwarze Spinne aussehen, die sich an einem unsichtbaren Faden herabließ. Mit der Zeit gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht. Er sah völlig neue Welten um sich herum. Der Wald lebte. Riesige, ameisenähnliche Kreaturen krabbelten über den Ast eines alten Baumes. An einer Stelle diente eine Wölbung als Torbogen, der in eine gewaltige Kammer führte. Während Urza weiterschwebte, spähte er an Ameisenkriegerinnen vorbei, die am Eingang Wache hielten, und blickte auf das schwarze Gewimmel im Inneren der Kammer. Karawanen trugen Früchte, Blätter und Kadaver von Baumziegen herein, um sie im Vorratslager zu horten, Durchscheinende weiße Larven lagen sorgfältig von Arbeiterinnen umhegt in Nestern. Eine Königin, so groß wie eine ganze Elefantenherde, schleppte sich mühselig dahin und hinterließ eine Spur aus feuchten Kugeln. Dicht unterhalb dieser Kolonie grasten Viehherden auf terrassenförmig gewachsenen Zweigen. Das Vieh wurde von den Ameisen versorgt und gehütet. Unter den Weiden ging es steil bergab. Ein paar hundert Fuß tiefer sah Urza riesige Spinnweben. Darin hingen weiße, eingesponnene Gebilde. Einige hatten die Form von Tieren, andere die von Ameisen und wieder andere die von Menschen oder Elfen. Urza hütete sich, mit den klebrigen Netzen in Berührung zu geraten. Wo auch immer sich Leben halten konnte, hielt es sich. Elfendörfer standen auf gewölbten Ästen. Waldgeister lebten zwischen taubenetzten Blättern. Dryaden sahen ihn mißtrauisch aus Rindengesichtern an, 284
und Najaden starrten durch die silbrigen Wasserfälle. Baumziegen sprangen glatte Stämme hinauf. Schwarzgoldene Raubkatzen schlichen über Moosfelder. In der Tiefe tauchten von Zeit zu Zeit Druiden zwischen den Wurzeln auf. Sie warfen Urza wütende Blicke zu, ehe sie eiligst verschwanden. Er musterte das Wurzelgewirr, das ebenso ausladend wie die Wipfel war. Ein Durcheinander gewaltiger Stränge bedeckte den Dschungelboden. Auch hier entdeckte er tiefe Seen oder winzige junge Wälder. Wo die Wurzeln nicht ineinander übergingen, lagen stockfinstere, dreieckige Zwischenräume. Während der Jahrtausende des Wachstums hatten die Bäume jegliche Erde verbraucht und verzehrt. Das Ergebnis war eine endlose Leere unterhalb der Wurzeln, die nur von vereinzelten Wasserfällen unterbrochen wurde. Auf dem fernen Grund wälzten sich Gewässer in ewiger Finsternis dahin. Hier befand sich das Reich der Walddruiden, das von tausend und abertausend Gängen, Brücken, Treppen und Höhlen durchzogen war. Sie würden jedem Vorschlag, den Urza vorbrachte, heftigen Widerstand entgegensetzen. Sie wußten von Argoth. Als Urza die goldenen Sandalen auf die letzte Wurzel eines Baumes setzte, stieg urplötzlich Furcht in ihm auf. Dieser Ort ähnelte Argoth geradezu erschreckend. Die Elfen stammten von jenen ab, die dem Wald entkommen waren, den er und Mishra vernichtet hatten. Hier lebten Geister, Geister aus Urzas Vergangenheit. Er aber war nicht gekommen, um mit Geistern zu reden. Er war hier, um die Zukunft zu sichern. Urza hob die Hände zum Zeichen des Friedens. »Ich bin Urza Weltenwanderer. Ich wünsche eine Audienz bei Yavimaya. Wir müssen den bevorstehenden Krieg besprechen. Ich möchte ein Bündnis mit euch schließen. Wir müssen das Schicksal der Welt besprechen.« 285
Multani erkannte den Eindringling, noch ehe er seinen Namen nannte. Der Wald erkannte das Monstrum, wie ein Körper eine Krankheit erkennt, die ihn schon einmal heimgesucht hat. Entweiher von Argoth, Vernichter der Elfen, Zwilling des Grauens, Mörder der Weltbevölkerung: Urza Weltenwanderer. Während der Mann durch die Blätter des oberen Waldbereiches herabschwebte, stieg Multani im Stamm eines großen alten Magnolienbaumes empor. Er sammelte sich in den zahllosen Knospen und dem noch grünen Holz der Zweige. Von den Wurzeln des Kolosses bis hinauf zur dreitausend Fuß entfernten Krone erwachte die Magnolie zum Leben. Ihre Seele belebte jedes Ästchen, jedes Blatt und jede Ranke. Multani hätte die massigen Wurzeln mühelos biegen und mit dem Baum durch den Dschungel marschieren können. Mit jedem einzelnen der gewaltigen Äste hätte er nach Urza schlagen und ihn zerquetschen können. Zehntausendmal hätte er ihn zerquetschen können, bis nur noch eine Staubwolke von ihm übrig war, aber er tat es nicht - noch nicht. Der Mann war kein gewöhnlicher Mensch. Seit Argoth war er sehr mächtig geworden. Er hatte die Kraft des Landes in sich aufgenommen und war unter Umständen ein ebenbürtiger Gegner für Multani und Yavimaya. Er war zum Weltenwanderer geworden, und seine Wünsche erfüllten sich im Handumdrehen. Es bedurfte einer besonders kniffligen Falle, um ihn zu fangen. Es bedurfte der ganzen Macht des Waldes, um ihm jeden Gedanken an Flucht auszutreiben. Nur dann konnte man ihn gefangenhalten. Nur dann gab es Rache für Argoth. Bis dahin wollte Multani den Weltenwanderer in Sicherheit wiegen. Geduldig beobachtete er Urza und folgte ihm einen dicken Baumstamm hinab. Er würde die Macht Yavimayas sammeln und Urza ins Verder286
ben ziehen, wie Urza Argoth ins Verderben gezogen hatte. Ein stechender Schmerz durchfuhr Multani. Der Mann rief die Kräfte des Landes zu sich. Er nährte sich von seiner Macht, wie er es in Argoth getan hatte. Er wagte es, den Wald auszusaugen, den er angeblich um Hilfe bitten wollte. Multani ließ sich hastig in die Tiefe gleiten, um an die Stelle zu gelangen, an der Urza stand. Egal, wie viele Kreaturen Urza rief - dies war Multanis Wald, er würde sie der Fuchtel des Mörders entreißen. Um mit Yavimaya zu verhandeln, mußt du erst mit mir verhandeln, dachte er grimmig. * * * Urza schwieg, doch der Wald antwortete nicht. Er stand geraume Zeit da und genoß die milde Luft und die Stille. Natürlich konnte er warten. Der Wald wußte, daß er hier war, und spürte seine Macht, so wie er die Macht des Waldes spürte. Urza wartete ungern. Er fühlte sich besser, wenn er etwas unternahm. Also bediente er sich der Magie und rief einen Schwarm Waldgeister herbei. Eine Wolke aus Gold und Silber löste sich aus den Baumwipfeln und ließ sich vom Wind zu ihm herabtragen. Obwohl sich die Wolke noch tausend Fuß über seinem Kopf befand, erkannten die Juwelenaugen die winzigen Gestalten. Immer näher kamen die feingliedrigen, geflügelten Geister, ein leises Lied singend. Die Melodie zog sich geradezu einschläfernd über viele Oktaven und klang verführerisch. Schon bald verstand Urza die Worte. Kehre zu uns zurück, Kind der Zeit, Und sei zur Versöhnung bereit. Verbrenne das Buch der Untaten. 287
Höre auf uns und laß dir raten. Singe! Vergiß! Singe! Von guten und angenehmen Dingen Um die Vergebung des Waldes zu erringen. Laß die Toten Tote begraben und Erhebe dich zum Gesang in dieser Stund. Die Worte drängten sich in Urzas Gedanken. Er erinnerte sich an die Stimmen, die fein und wie Glockengeläut gegen das Rauschen der Blätter ankämpften. Er erinnerte sich an Waldgeister, die gemeinsam mit Druiden und Elfen kämpften und zornige Schreie ausstießen. Jetzt sangen sie von Versöhnung und nicht von Rache. Sie sangen, als wären sie viele winzige Doppelgänger Barrins. Beglückt wollte Urza einen zweiten Zauber auslösen. Sein Spruch wurde nie vollendet. Der Wald antwortete. Neue Botschafter näherten sich. Zum Gesang der Geister gesellte sich ein dumpfes, träges Schluckgeräusch. Es drang unter den Wurzeln der Bäume hervor. Winzige Zwerge eilten herbei. Sie sangen mit tiefen Baßstimmen. O ihr Länder, seht den neuen Morgen. Die Hoffnung naht, es weichen die Sorgen. Sprecht, ihr Stummen! Tanzt, ihr Lahmen! Zu Ende ist die dunkle Nacht Und der Morgen erwacht. Urza stand inmitten der beiden Chöre und gab sich der Hoffnung hin, daß dieser uralte Wald dem Fluch entkommen war, den Argoths Tod beschworen hatte. Vielleicht erinnerten sich die kurzlebigen Zwerge und Waldgeister gar nicht an jene Zeit. Das Volk, das niemals vergessen konnte und wollte, war das Volk der Elfen. Urza mußte wissen, was sie dachten. Als hätte er sie gerufen, kamen sie auf ihn zu - die Elfen des Waldes. 288
Sie kamen hinter jedem Baum hervor, hinter jeder Wurzel. Im grauen Dämmerlicht glänzten ihre Augen grün und klar. Auch sie sangen, und ihre Stimmen vervollständigten das Lied der beiden Chöre, die jetzt in den Hintergrund traten. Hallo, Urza, wir hörten von dir. Von alter Zeit, in der durch deine Gier fast das ganze Volk der Elfen umkam. Wir wurden zerrissen vor Kummer und Gram. Der Krieg brachte Tod und Blut, nun leben wir in Frieden, und es geht uns gut. Wir wollen dir geben, was du begehrst, damit du uns nie mehr das Glück verwehrst, voller Hoffnung die Zukunft zu schauen. Die drei Chöre umkreisten Urza. Waldgeister tanzten wie leuchtende Blumenketten um ihn herum. Zwerge krabbelten aus ihren Höhlen und ließen sich auf Moosteppichen nieder. Die Elfen sprangen leichten Schrittes zwischen den Wurzeln umher. Urza lauschte ihren Gesängen. Sein Verstand vernahm jedes Lied einzeln und doch alle zusammen. Mit dem Fuß klopfte er den Rhythmus auf dem Boden mit. Dann vernahm er eine andere Stimme. Sie klang noch tiefer, dröhnender und trauriger als die des Silbermannes. Sie schien von überall her zu kommen, als rede die Luft selbst. Der feuchte Atem aber kam von hinten. Urza drehte sich um, sah allerdings nur ein großes Loch in einem Baumstamm. Der Riß war dreimal so hoch wie Urza. Rinde bemühte sich, die Wunde zu bedecken. Dicke, wulstige Holzlippen mühten sich ab, zueinander zu kommen. Im nächsten Augenblick zogen sie sich auseinander, während sich darüber zwei kleine Astlöcher öffneten. Der Riß sprach: »Willkommen, Urza Weltenwanderer. Wir sind Multani, Geist von Yavimaya.« Das Gesicht im Baum sah 289
unendlich traurig aus; eine tragische Maske mit schattenhaften Augen. »Wir erinnern uns an dich.« Der Weltenwanderer neigte den Kopf und beugte das Knie vor dem Baumriesen, »Vergib mir. Was ich vor dreitausend Jahren tat, tat ich, um Dominaria vor entsetzlichen Eindringlingen zu schützen.« »Für Argoth waren du und dein Bruder die schrecklichen Eindringlinge.« Die Stimme klang wie ein geisterhafter Chor der Toten. »Ich mußte entweder Argoth oder die ganze Welt opfern«, erklärte Urza beinahe flehend. »Ich glaube, Titania von Argoth hätte ebenso gehandelt, hätte sie die Kraft besessen.« »Titania besaß die Kraft, ehe sie entweiht wurde.« »Wie ich schon sagte: Vergib mir ...« »Wir sind nicht Titania. Wir sind nicht Argoth. Wir sind Multani von Yavimaya. Wir haben dich willkommen geheißen«, sagte die Stimme, und schon setzte der Chor der Elfen, Zwerge und Waldgeister wieder ein. Die Melodie durchdrang Urza - freundlich und doch drängend, wie der schwüle Wind, der durch seine Gewänder strich. Die Töne verfügten über eine seltsame Geometrie und verschmolzen miteinander. Die Noten regneten auf Urza herab. Wellen aus Musik lagen neben Wellen aus Energie und verwoben sich zu einem Muster. Sekundenlang schloß er die Augen und bemühte sich, eine Antwort für Multani zu finden. Wann immer er ein paar Worte fand, zog das Lied sie mit sanfter Gewalt auseinander, »Wir möchten uns in Ruhe mit dir über diese Invasion unterhalten.« Urza nickte und öffnete die Augen. Erstaunt bemerkte er, daß er stand. Wann hatte er sich erhoben? Die Frage wurde von dem Lied davongetragen. Es war auch nicht wichtig. Hier waren seine Verbündeten. Hier gab es Musik. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft 290
verspürte Urza ein reines Glücksgefühl. Der scharfkantige Kasten seines Verstandes wurde zu einem warmen, abgerundeten Bienenkorb. »Wir möchten dich zuerst zu einem Festmahl einladen, um unser neues Bündnis zu feiern.« Ja, dachte Urza, ich bin hungrig. Irgend etwas stimmte nicht an dem Gedanken, etwas, das Urza nicht identifizieren konnte. Er erinnerte sich nicht mehr an seine letzte Mahlzeit. Natürlich war er hungrig. Wenn das Essen im Wald so gut wie die Musik war, würde er sich bis zum Platzen vollstopfen. Bestimmt gab es Wein und andere Köstlichkeiten. Urza würde sie alle genießen. Auch an diesem Gedanken stimmte etwas nicht. Nagende Zweifel stiegen empor und ertranken sogleich wieder in einer Flut aus Musik. Kehre zu uns zurück, Kind der Zeit, Und sei zur Versöhnung bereit. Verbrenne das Buch der Untaten Höre auf uns und laß dir raten. Singe! Vergiß! Singe! Von guten und angenehmen Dingen Um die Vergebung des Waldes zu erringen. Laß die Toten Tote begraben und Erhebe dich zum Gesang in dieser Stund. Wann hatte er zu singen begonnen? Hatte er jemals nicht gesungen? Urzas tiefe, volltönende Stimme harmonierte mit den drei Chören der Waldgeister, Zwerge und Elfen. Der Mund des Baumes öffnete sich weit. Die Gesellschaft der Waldbewohner führte ihn davon. Glücklich und zufrieden ging er in den gähnenden Schlund hinein und verschwand in der Kehle des hölzernen Riesen. In den Tiefen des Baumes würde ein Festmahl stattfinden. Dort erwarteten ihn Musik, Licht und Feierlichkeit. 291
Nur plötzlich lag das alles hinter ihm. Dunkelheit, Holz und die unwiderstehliche Kraft Yavimayas erwarteten ihn ihm Herzen des Baumriesen. Sie umgaben ihn auf allen Seiten. Der riesige Mund öffnete sich zum letzten Mal. »Wir möchten uns auch über die letzte Invasion ausführlich mit dir unterhalten.« Damit schloß sich der Mund. Die Kehle ebenfalls. Urza, der in Holz und Finsternis gefangen saß, fragte sich unwillkürlich, wer er war und wo er sich befand. Er hätte nachdenken können, wäre der alles beherrschende Wald nicht gewesen, dessen Geist ihn durchdrang, ihn veränderte und festhielt. Urza spürte, wie sich sein Körper auflöste. Zuerst verschwanden die Finger. Einer nach dem anderen verbrannte unter schrecklichen Qualen. Jeder Nerv seines Leibes brodelte dicht unter der Haut. Die Knochen wurden zu Kalk und verloren sich unter dem Druck des Holzes. Finger und Zehen wurden nach und nach aufgesogen und verwandelten sich in Mineralstoffe. »Als Harbin, Sohn des Urza Weltenwanderer, auf Argoth landete, suchte er einen Ast, um einen Sparren an seiner Flugmaschine zu ersetzen. In seiner Gnade wies ihm der Wald einen herabgefallenen Ast, der wie geschaffen für dieses Vorhaben war. Zum Dank dafür kehrte der Mann ins Herz Argivias zurück und holte Armeen nach Argoth, die den Wald abholzten. Menschen und Maschinen fällten uralte Bäume, ermordeten Druiden, rotteten Tierarten aus, verbrannten, vergewaltigten und töteten zum Ruhme Urzas und seines Bruders Mishra. Sie vernichteten Argoth und damit Titania, den Geist des Waldes.« Die Worte wären überflüssig gewesen. Urza war zu Titania geworden. Sein Körper war ein gewaltiger Wald. An jeder Faser seines Leibes spürte er die vernichtende, zerstörende Arbeit seiner eigenen Armeen, 292
Winzige Kreaturen drangen in ihn ein und verwandelten ihn Stück für Stück in Nutzholz, in Baumaterial. Urza hätte geschrien, aber er war nicht länger Urza. Er hätte sich gern durch eine Weltenwanderung entzogen, doch dann hätte er seinen Körper, den Wald, zurücklassen müssen. Er konnte nichts tun und mußte ausharren und aushalten.
293
Monolog
Während ich diese Worte schreibe, trifft Urza in Yavimaya ein. Ich weiß, wo der Wald liegt. Er ist ebenso unerreichbar und abweisend wie Shiv. Urza hofft, in zwei Tagen zurück zu sein. Da ich Urzas Zeitgefühl kenne und ahne, welchen Empfang Yavimaya für ihn bereithält, gebe ich ihm eine Woche, ehe ich mir Sorgen mache. Der Besuch könnte sich als Wendepunkt in Urzas Leben erweisen. Urza hat gezeigt, daß er Menschen vereinen und - was noch besser ist - sogar feindliche Rassen zu Verbündeten machen kann. Vielleicht kann er etwas von dem wiedergutmachen, was er Argoth antat, wenn er ein Bündnis mit Yavimaya schließt. Vielleicht gibt es aber auch keine noch so harte Strafe, die eine ausreichende Wiedergutmachung wäre. In Tolaria gibt es viele Probleme. Gerade heute führte ich eine Gruppe Skorpione gegen phyrexianische Verschanzungen an der Grenze zu einem Trägzeitstrom. In Anbetracht der Gestalt meiner mechanischen Truppe bot sich die Benutzung der Stacheln an. Wir nahmen rechts und links der Feinde Aufstellung, und sie saßen zwischen uns und der Zeitgrenze in der Falle. Ich sandte Scharen von Skorpionen in ihr Lager. Dann zauberte ich eine Windwand herbei, die mitten hindurchführte. Die Biester wurden aus der Deckung geblasen, genau in den Zeitstrom hinein. Der Grenzübertritt hätte jeden Menschen getötet. Den Feinden geschah nichts; es versetzte sie nur noch mehr in Wut. Dennoch hielt die extreme Tragzeit sie wie in einer Mauer gefangen. Ich befahl den Skorpio294
nen zu feuern. Metallene Pfeile regneten als tödlicher Hagelschauer auf die Phyrexianer herab. Die erste Reihe wurde beinahe in Stücke gerissen. Sie lag in einer riesigen Lache aus glänzendem Öl am Boden, ehe eine Truppe Menschen zu unserer Verstärkung eintraf. Eine junge Frau riß sich ein Stück Stoff aus der Hemdbluse, die sie unter der Rüstung trug, spießte es auf einen Pfeil und tauchte es in Öl, das aus einem gefallenen Skorpion tropfte. Dann zündete sie es an und schleuderte es in den Zeitstrom hinein. Es fiel in die Öllache, die sich sofort entzündete. Lodernde Flammen erfaßten die Feinde. Wir schossen nicht mehr. Mit einer Mischung aus Entsetzen und Freude sahen wir zu. Züngelnde Flammen wanden sich um Arme und Beine. Die Gegner brannten wie Fackeln. Der Jubelschrei, den wir ausstießen, als das Feuer ausbrach, wurde schnell zu einem Aufstöhnen. Augäpfel zerbarsten. Gliedmaße flogen durch die Luft. Das tiefe, qualvolle Gebrüll der Monster drang zu uns herüber. »Zurück!« schrie ich. Trotzdem stand ich wie versteinert, während das Feuer immer naher kam. Es blendete uns; die Hitze wurde unerträglich. Schließlich trieb uns unser Instinkt zurück. Wir hielten uns die Augen zu und stolperten über Skorpione und Tote, um den Flammen zu entkommen. Als das Feuer die Zeitzone verließ, hatten sich die meisten von uns bereits mehr als eine halbe Meile in den Wald zurückgezogen. Dennoch überrollte es uns fast, und uns blieb - wie damals den Kriegern in Argoth - nichts anderes übrig, als zu beten, daß der grelle Schein ein Ende nehmen möge. Dieser Krieg wird ein zweites Argoth heraufbeschwören. Die Phyrexianer bedrängen uns bei Tag und Nacht. Sie werden mit jedem Angriff zahlreicher. Ihre Magie wird meiner bald nicht mehr unterlegen sein. 295
Die Studenten sind des Kämpfens müde, und obwohl ich meine aufsehenerregendsten Zaubersprüche benutze, bin ich kein besonders charismatischer Anführer. Teferi und Jhoira waren geeigneter. Und Urza trotz seiner Unmenschlichkeit - war der beste von allen. Barrin, Magiemeister von Tolaria
296
Jhoira befand sich auf der hohen Plattform im Herzen der Managewinnungsanlage. Rechts und links von ihr standen Karn und Teferi. Teferi beaufsichtigte seine Arbeiter: die Goblinhorden, die sich um die Kristallfabrik kümmerten. Seit dem Ende des Goblin-Viashinokrieges waren zwei Jahre vergangen, und die verbotene Zone war inzwischen voll funktionsfähig. Jeder der drei Goblinstämme - die silbrigen Tristou, die roten Destrou und sogar die aufsässigen grauen Grabbits - hatten beim Säubern und Instandsetzen der Anlagen mitgeholfen. Dabei bewährten sie sich gemäß ihrer stammestypischen Eigenschaften aufs vorzüglichste. Häuptling Glanzzunge Spaltspitze vom Volk der Tristou war zum Sprecher der drei Stämme ernannt worden, doch ein verrückter Grabbitmaschinist hatte die Massen mit seinen Streichen, seinen unsinnigen, aber klangvollen Ansprachen und seiner überschwenglichen Natur für sich gewonnen. Obwohl alle Entscheidungen von Häuptling Spaltspitze getroffen wurden, mußte der Maschinist Terd sie gutheißen. Die graue Kreatur erklomm gerade die Plattform. Terd stieg eine Leiter empor, die für Goblins entworfen worden war, die bedeutend größer waren als er. Sein stark verschmutzter Anzug klimperte bei jeder Bewegung, denn er war über und über mit kleinen Metallwerkzeugen behängt, die niemand je in Gebrauch gesehen hatte. Er trug sie wie Medaillen oder Orden. Trotz seiner Unfähigkeit, tatsächlich Arbeit zu verrichten, war er ständig in Bewegung. Von den Augen297
brauen - große Haarbüschel, die noch weiter vorstanden als die riesige Nase - liefen wahre Schweißbäche über das knochige Kinn. Als er das Geländer der Plattform erreichte und sich hinaufzog, warf er Teferi ein strahlendes, zähnefletschendes Lächeln zu. Das war sein besonders Kennzeichen. Ein Goblin, der noch alle Zähne besaß, war eine Seltenheit. Einer, dessen Zähne weiß waren, glich einem Götterboten. Terd verbeugte sich ungelenk und tippte dabei an einen Filzfetzen, den er als Hut betrachtete. »Felsendinger fertig!« Terds Berichte waren ebenso eigenartig wie seine Ansprachen. Die Auslegung fand meistens in einem langwierigen Scharadespiel statt. Teferi seufzte gequält. »Die Erzförderbänder?« Terd schüttelte so heftig den Kopf, daß ein wahrer Schweißregen über die Umstehenden sprühte. »Die Kristallpressen?« riet Teferi. Nachdenklich stülpte Terd die rissigen Lippen vor und warf den Kopf von einer Seite zur anderen, als wolle er den Vorschlag mit den Zähnen zerreißen. »Die Thranmetallformen?« Außer sich vor Freude rieb sich der Goblin die Nase. »Ja! Ja. Wir heute machen Felsen? Ja?« Teferi schüttelte den Kopf. »Nicht, ehe nicht auch die Erzförderbänder und die Kristallpressen fertig sind.« »Du für Terd schön großen Stein machen.« »Jawohl«, versicherte Teferi. Eine der Zusicherungen an die Goblinarbeiter hatte darin bestanden, daß jeder von ihnen - sobald die ganze Managewinnungsanlage in Betrieb war - einmal im Monat einen kleinen Kristall erhielt: Abfallstücke, die beim Schneiden und Schleifen eines Kraftsteins übrigblieben. Selbst wenn ein Goblin einen größeren Stein in die Finger bekam, enthielt dieser keine Energie, ehe er nicht mit Mana aufgeladen wurde. Auch der winzigste Kristall entzog einem großen Stück Land auf Dauer die Kraft. Um einen Stein von der Größe, 298
die Urza für den Antrieb des Luftschiffs benötigte, mit Energie zu versorgen, war das Mana einer ganzen Welt nötig. »Terd braucht Stein, um großer Zauberer zu sein. Terd dann großer Goblinkönig.« »Ja«, meinte Teferi gutmütig. »Das wird ein wundervoller Tag für uns alle sein.« »Terd sagt Goblinsklaven: >Schneller arbeiten! Schneller arbeiten!< Dann er schneller König.« »Tu das.« Noch während der kleine Kerl die Leiter hinabhuschte und seinen Gefährten Befehle zubrüllte, kletterte ein völlig anders gearteter Verbindungsoffizier die Leiter am gegenüberliegenden Ende der Plattform empor. Diago Deerv hatte sich als fähiger und vernünftiger Echsenvorarbeiter in der Thranschmiede erwiesen. Jetzt, da die Erzfeinde der Viashinos die Hälfte der Manamine bewohnten, waren es Wesen wie Diago und Bey Feuerauge, die einen Aufstand verhinderten. Diago, der Bey und Jhoiras fortwährende Ermahnungen, daß Urza jeden Augenblick zurückkehren würde. Jhoira war nicht die offizielle Leiterin der Schmiede. Diese Aufgabe fiel Karn zu - dem Wesen, das den Echsenmenschen als Bezahlung für ihre Arbeit versprochen worden war. Diago erhob sich zu voller Größe - in den letzten vier Jahren war er sehr gewachsen - und sah Karn ins Gesicht. »Die Gußformen, die Meister Malzra wünschte, sind fertig. Wir bitten dich, sie dir anzusehen und deine Zustimmung zu geben.« Karn nickte. »Ich warte noch auf den Bericht aus den Lavakammern. Dann begleite ich dich.« Diago holte tief Luft und sprach mit gepreßter Stimme weiter: »Mit der Vollendung dieser Formen haben wir die Bedingungen unseres Vertrages erfüllt. Wir möchten die uns versprochene Bezahlung einfordern.« 299
Ehe Karn antworten konnte, mischte sich Jhoira ein: »Wir haben noch keinen Thranmetallmann hergestellt.« Mißtrauisch ließ sie ihre Blicke zwischen dem Viashino und Karn hin- und hergleiten. »Das aber gehört zum Vertrag.« »Ihr habt die Herstellung abgebrochen«, widersprach Diago. »Nicht wirklich!« sagte Jhoira hastig. »Wir haben einen neuen Entwurf, der das Wachstum des Metalls berücksichtigt.« »Darf ich die Entwürfe sehen?« »Morgen«, vertröstete sie ihn. »Morgen zeige ich sie dir. Dann können wir mit den Gußformen beginnen.« Auch Diago sah mißtrauisch drein. »Und wenn die neuen Maschinen gegossen sind ...?« »...erfolgt eure Bezahlung. Ihr bekommt den Silbermann.« Diago verneigte sich tief und kletterte die Leiter hinab. Jhoira, Teferi und Karn wechselten vielsagende Blicke. »Du hast keine neuen Entwürfe, nicht wahr?« fragte Teferi. Jhoira zuckte die Achseln. »Ich habe alte Pläne - für tolarische Läufer. Ich ändere sie ein wenig ab und halte mich dabei an Urzas neues Konstruktionsprinzip. Das wird sie eine Weile beschäftigen. Vielleicht beschert es uns sogar einen nützlichen Kämpfer gegen Phyrexia.« Die Erwähnung der Feinde richtete ihre Gedanken auf Barrin und das umkämpfte Tolaria. Jhoira sprach aus, was alle dachten: »Ich hoffe, Urza kehrt bald zurück.« * * * Jeder Axthieb, der die Bäume von Argoth traf, biß sich tief in die Gliedmaßen des Mannes. Jedes Feuer, das die Magnolienbäume angriff, brannte in seinen Adern. 300
Jede Explosion und jeder Erdrutsch bereiteten ihm schreckliche Qualen. Urza befand sich auf der Insel. Urza und Mishra. Ihre Namen standen für Krankheit und Hungersnot, für Feuer und Sturmflut. Sie bekämpften einander von gegenüberliegenden Seiten der Insel aus. Sie gingen aufeinander zu, und alles, was zwischen ihnen lag, fiel ihrem rasenden Zorn zum Opfer. Der Mann im Wald sah, wie uralte Bäume sich neigten und krachend zu Boden stürzten. Sie lagen keine Sekunde dort, ehe sie nicht schon von gewaltigen Maschinen zerhackt und zersägt wurden und als Planken, Masten und Gerüste endeten. Der größte Teil der Baumriesen aber wurde zu Abfall. Rinde, dünne Äste, Blätter, grüne Zweige und Knospen lagen in großen Haufen herum, die irgendwann von den todbringenden Maschinen plattgewalzt wurden. Schwarze Rauchwolken stiegen zum Himmel empor, wo sie sich anderen hohen, finsteren Wolken anschlossen. Der Himmel über Argoth trug Trauer. Was trieb die mörderischen Brüder an? Welche Leidenschaften gärten in ihnen? Die Fragen waren nicht richtig. Das wurde dem Mann im Wald bald klar. Er wußte, was die Männer antrieb: Ehrgeiz, Neugier, Konkurrenzdenken, Übermut und maßloses Mißtrauen. Was schwebte ihnen vor? Die höchsten Ziele und Hoffnungen. Was leitete sie? Das niedrigste Gefühl: Angst. Ja, sie waren Monster, aber nur, weil sie mächtig waren. Hätten sie keine Armeen und Maschinen gehabt, wären sie nichts als kleine Jungen gewesen. Der Gedanke erzürnte den Mann. Er kochte vor Wut. Sofort durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, und er wand sich vor Reue. Urza und Mishra waren schreckliche Monster. Sie töteten, was sie berührten. Sie strebten nur nach Vernichtung. Sie empfanden nichts als blanken Haß. 301
Der Mann im Wald widerstand der aufsteigenden Flut von Beschuldigungen und hielt den Atem an. Er stellte sich den Gedanken entgegen. Trotzdem überrollten sie ihn, drangen in jede Pore ein und ergossen sich in seine Lunge - denn jeder Mensch muß atmen. Auch an diesem Gedanken war etwas falsch, aber eine frische Schmerzwelle trug ihn davon. Ihm blieb keine Gelegenheit mehr für Entschuldigungen und für Vergebung. Ein unüberwindliches Schuldgefühl hielt ihn gepackt, und er schrie vor Schmerzen. Plötzlich suchte ihn eine neue Vision heim: Sein eigener Schrei wurde von anderen Schreien übertönt. Jetzt brannten keine Bäume, sondern Menschen. Studenten in weißen Gewändern. Er sah keine Axtmaschinen und Walzen mehr, sondern hüpfende Artefakte, die wie kopflose Emus oder geschmeidige Pumas oder Riesenskorpione aussahen. Er sah keine Armee aus Fallajis oder Argivianern, sondern eine Armee aus Negatoren und todbringenden Monstern. Sie überflutete eine andere Insel in weiter Ferne. Es war nicht Argoth, sondern ... sondern ... Der Name fiel ihm nicht ein. Im Angesicht dieses neuen, schrecklichen Angriffs, kamen ihm die Armeen Urzas und Mishras beinahe harmlos vor. Gefällte Bäume waren nichts im Vergleich zu brennenden Kindern. Ein Gedanke lauerte im Hintergrund seines Verstandes. Es ging um einen besseren Krieg, einen Krieg, der die Apokalypse verhindern sollte. Auch dieser Gedanke wurde dem Mann durch die wütende Faust aus Holz ausgetrieben, die ihn gepackt hielt. Wenn er doch bloß denken könnte. Wenn er einen Gedanken festhalten könnte ... einen eigenen Gedanken ... Doch er spürte nur noch Schmerzen. * * * 302
Vom Aussichtsturm beobachtete Barrin die Szene. Der Turm war der höchste Punkt der Akademie. Weit außerhalb der Schußweite jeder phyrexianischen Waffe gelegen, bog er sich über die Mauer und gab den Blick auf die schwarze Schlucht frei. Hier oben hielt sich Tag und Nacht eine Wache auf. In letzter Zeit hatte Barrin diese Pflicht übernommen. Von hier aus vermochte er die Bewegungen der feindlichen Truppen zu beobachten, die über die vier aus dem Zeitstrom führenden Brücken marschierten. Von hier aus gebot Barrin der schrecklichen Flut mit Zaubersprüchen und magischen Waffen Einhalt. Von hier aus steuerte er alle Maschinen und Menschen, um den Angreifern Widerstand zu leisten. Und hier - die wahrscheinlich wichtigste Tatsache - ruhte auch der Auslöser für den Leuchtfeueranhänger, den Urza an einer Halskette trug. Barrin hatte das Leuchtfeuer gerade ausgelöst. Fast drei Jahre waren vergangen, seit Urza nach Yavimaya gereist war, und niemand hatte mehr von ihm gehört. Vielleicht war er tot. Barrin wußte, daß Weltenwanderer außergewöhnlich langlebig waren, aber sie konnten sterben - besonders, wenn ihre Lebenskraft aus der Bahn geworfen oder unterbrochen wurde. Nichtsdestotrotz war es sehr schwierig, einen Weltenwanderer zu töten. Leichter war es, ihn in eine Falle zu locken. Falls Urza nicht merkte, daß er in einer Falle saß, und nicht an Flucht dachte, würde er nicht kommen. Wenn er vergaß, daß er weltenwandern konnte, saß er vielleicht für alle Ewigkeit in der Falle. Vielleicht würde das Dröhnen des Leuchtfeuers trotzdem ausreichen, um ihn aus welchem Zustand auch immer zu reißen. Aber es gab auch noch eine andere Möglichkeit. Vielleicht war Urza weitergezogen. Vielleicht hatte er von Tolaria, Shiv und Yavimaya bekommen, was er wollte, und war an einen vierten Ort gereist, um alle Teile zusammenzufügen. 303
Was auch immer der Grund für sein Fortbleiben war - das Leuchtfeuer rief ihn zurück. Er mußte spätestens im nächsten Jahr nach Tolaria kommen, sonst gab es kein Tolaria mehr. Die Phyrexianer hatten eine neue Brücke entdeckt, die aus der Schlucht führte: eine Quelle, die die Brunnen der Akademie speiste. In einer mondlosen Nacht waren sie durch jeden Brunnen und jede Zisterne der Schule gekommen. Die Bewohner der Akademie drängten die schrecklichen Kreaturen zurück und kämpften um den Erhalt ihres Heims. Die Monster wurden scharenweise getötet, man befestigte schwere Gitter über jedem Wasserzugang und stellte neue Wachtposten auf. Die Phyrexianer erlitten ihre bisher schwerste Niederlage. Ihre Leichen vergifteten das Wasser. Jeder, der in den darauffolgenden Tagen aus einem der Brunnen trank, siechte an einer fleischfressenden Krankheit dahin, die Muskeln in blutiges Mus verwandelte und Knochen in brüchige Kalkstücke. Dreiundzwanzig Studenten und Gelehrte starben, ehe der Grund der Vergiftung gefunden wurde. Sämtliches Trink- und Waschwasser mußte aus abgelegenen Brunnen und Bächen herbeigeholt werden. Jetzt konnten sich die Phyrexianer unter der Akademie breitmachen. Die tolarische Festung unter Barrin bot keine Sicherheit mehr. Der Kampf hatte sich plötzlich in einen Dschungelkrieg verwandelt - finster, verzweifelt, chaotisch und letztendlich hoffnungslos. Barrins Hand drückte den juwelenbesetzten Dolch, der als Auslöser für Urzas Leuchtfeuer diente. Die verzauberte Waffe würde Urza übermitteln, was Barrin sah, was er dachte - Bilder von fleischfressenden Feinden und brennenden Studenten. Barrin schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß Urza noch lebte und ihn hörte. * * * 304
Beunruhigt schritt Jhoira vor den Thranmetallverteidigern auf und ab. Diago Deerv folgte ihr auf dem Fuße. Seine Schuppen stellten sich vor Sorge auf, als sie die Gestalten mißtrauisch musterte. Sie waren perfekt. Die ursprünglichen Pläne der tolarischen Läufer waren mehrfach verändert worden. Die Körper waren eiförmiger und die Beine gebogener. Außerdem besaßen sie mehr Stauraum für Waffen. Jhoira hatte die Schwierigkeiten, die durch das wachsende Metall hervorgerufen wurden, bewältigt, und die zwölf Artefakte würden unübertreffliche Dienste im Kampf leisten - falls sie Tolaria jemals erreichten. Jhoira hatte die Echsenmenschen zwei Jahre länger hingehalten und auf Urzas Rückkehr gehofft, damit er Karns Freigabe erzwang. Er war nicht zurückgekehrt. Jhoira ging davon aus, daß er tot war. Sobald die Viashinos und die Goblins auf den gleichen Gedanken kamen, war der zerbrechliche Frieden der Managewinnungsanlage beendet. Schlimmer noch war die Tatsache, daß Urzas lange Abwesenheit der shivanischen Drachendame Gherridarigaaz zu Ohren gekommen war. Sie hatte die Angriffe auf Viashinopatrouillen wieder aufgenommen, Handelsstraßen zu den entlang der Küste lebenden Ghitu blockiert und zahlreiche Felsbrocken in die Luftschächte der Stadt geworfen. Ihr Sohn, der freiwillig für die Viashinos kämpfte, beschloß, zu ihr zurückzukehren. Anscheinend war er ein typisches Ausreißerkind, dem mehr daran lag, Aufmerksamkeit zu erlangen als wahre Unabhängigkeit zu gewinnen. Die Viashinos zwangen ihn, sein Versprechen einzuhalten. Der junge Drache wurde vom Helden zum in Ketten liegenden Gefangenen. Was würde nun aus Urzas Bündnis mit den Viashinos werden? fragte sich Jhoira. Da Gherridarigaaz erneut angriff, war der eine Teil des Vertrags bereits 305
nicht mehr erfüllt. Und jetzt mußte sie entscheiden, was mit dem anderen Teil geschehen sollte. Ist es nicht ohnehin einerlei? dachte Jhoira. Wenn Urza tot ist und Tolaria zerstört, wird es kein Luftschiff geben und keine Hoffnung auf eine Rettung Dominarias. Wenn Urza tot ist, wird Shiv wahrscheinlich der angenehmste Ort für Karn und uns alle sein - falls wir überleben. Laut sagte sie jedoch etwas völlig anderes: »Hervorragende Arbeit, Diago - genau wie immer. Du und deine Leute, ihr seid vorzügliche Handwerker.« »Deinem Tonfall entnehme ich, daß es keinen Grund gibt, die Aushändigung unseres Preises noch länger zu verzögern«, sagte Diago, als sie das Ende der Reihe erreichten, wo Karn sie erwartete. Jhoira biß die Zähne zusammen. Die Adern auf ihrer Stirn traten hervor. »Nein, Diago. Ich zögere es nicht länger hinaus, aber ich möchte dir einen Handel anbieten. Statt dieses Silbergolems, der bereits ein halbes Jahrhundert alt ist, verbeult und von allen möglichen Gefühlswirren befallen, biete ich dir diese zwölf Thrankrieger an.« Diagos Blick wurde eisig. »Unser Abkommen betraf den Silbermann.« »Stimmt.« Jhoira nickte. »Aber jetzt biete ich dir ein anderes Abkommen an.« Der Echsenmensch zischte drohend. »Nein! Wir wissen, wie man die Krieger herstellt. Sie sind nicht klug. Wir wollen den Silbermann, damit wir lernen, ein intelligentes Wesen zu bauen.« »Aber er ist nicht bloß ein Mann aus Metall, Diago«, erwiderte Jhoira. »Er ist Karn. Er arbeitete jahrelang an deiner Seite. Ist dir egal, was er möchte? Macht es dir nichts aus, ihn zu deinem Besitz zu machen, zu deinem Sklaven?« »Wir alle sind Sklaven des Stammes. Das selbstlose Dienen bedeutet uns die höchste Ehre«, erklärte Diago. 306
»Ja, er ist Karn, ein Kamerad. Wenn er uns gehört, wird er zum Stammesmitglied. Er soll unser bester Verteidiger sein. Er wird uns lehren, ganze Armeen intelligenter Maschinenmänner zu bauen.« »Karn kann euch das nicht beibringen«, sagte Jhoira. »Ich weiß mehr über seine Konstruktion als er. Meister Malzra ist der einzige, der seine Gefühle und Geistesfähigkeiten wirklich kennt. Würdet ihr mich gefangennehmen? Oder Meister Malzra?« »Wir nehmen keine Lebewesen gefangen!« »Was ist mit Rhammidarigaaz?« »Er hat sich uns freiwillig angeschlossen. Und Malzra war einverstanden, uns Karn zu überlassen. Karn wird uns lehren, intelligente Maschinen zu bauen. Das Geheimnis ruht in seinem Inneren. Wir werden es erlangen ...« »Genug!« unterbrach Karn die beiden. »Ich bleibe bei den Viashinos. Ich bringe ihnen bei, was ich weiß. Es ist eine hohe Ehre zu dienen.« Mit offenem Mund sah Jhoira zu, wie sich der Silbermann und der Echsenmensch umdrehten und in der Tiefe der Manamine verschwanden.
307
Monolog
Sie sind überall. Wir können nicht standhalten. Wir werden diesen Tag nicht überleben. Noch immer umklammere ich das Leuchtfeuer, aber Urza erscheint nicht. Wir müssen alle sterben. Barrin, Magiemeister von Tolaria
308
Mit schneeweißen Knöcheln und weitaufgerissenen Augen stand Barrin auf dem Aussichtsturm. Er hielt den Dolch umklammert und stöhnte, da sich die Welt rings um ihn herum auflöste. Eine tosende Woge von Phyrexianern strömte auf die Mauern zu. Als ganze Armee waren sie der personifizierte Terror. Als einzelne Kreaturen waren sie noch schlimmer. Die meisten der Biester waren riesig, weiß und fleischig. Sie sahen wie die blinden Maden aus, die im See auf dem Grund der finsteren Schlucht lebten. Auf schnellen Beinen eilten sie dahin; winzige Augen starrten unter schuppigen Brauen hervor. Spitze Antennen sogen zitternd Luft ein. Der warme Geruch menschlichen Blutes zog sie an. Andere hatten wolfsähnliche Körper, die seltsam verdreht und riesengroß waren. Ein strähniges Fell hing über ledriger, schwarz gefleckter Haut. Ihre Köpfe waren winzig und sahen wie die geschrumpften Köpfe gelbsüchtiger Säuglinge aus. Viele Phyrexianer waren menschlicher oder halbmenschlicher Abstammung, wenngleich ihre Körper umgearbeitet und verändert worden waren: grinsende Totenmasken, hautlose Muskelpartien, spinnenartige Arme mit verbogenen Knochen, damit Speiche und Elle die Form einer Kneifzange annahmen, mit Stacheln besetzte Rippen, Mägen mit eingepflanzten Giftblasen, um die Feinde mit Säure zu bespritzen, Hüften, die nur noch aus hohlen Knochen und ausgefransten Sehnen bestanden, und Beine, die in scharfen Knochenspitzen endeten. Die meisten Kreaturen trugen 309
Waffen bei sich, die sie gefallenen Läufern oder Falken entrissen hatten. An einigen Stellen trotteten von K'rrik entworfene Maschinen schwerfällig des Weges. »Wir haben ihnen die Waffen geliefert«, flüsterte Barrin. Dieser entsetzlichen Armee standen die Verteidiger Tolarias gegenüber. Barrin legte einen Hebel des Schaltpults um, das mit Mechanismen überall auf der Insel in Verbindung stand. Die verbliebenen Falken setzten zum Angriff an. Ihre weißen Kondensstreifen malten einen riesigen Fächer an den Himmel. Der Sturzflug auf die feindliche Front glich einem Vorhang aus zuckenden Blitzen. Lautes Donnergrollen begleitete sie. Phyrexianer wurden zurückgeschleudert, genau in die tödlichen Waffen ihrer Kameraden hinein. Kurz darauf ertönte das Krachen und Quietschen zerstörter Antriebe. Blutöl und eine Flüssigkeit, deren Farbe an Lavendel erinnerte - sie wäre beinahe hübsch gewesen, wenn sie nicht gebrodelt und gezischt hätte stiegen in Fontänen aus Fleisch und Metall zum Himmel empor. Barrins Freude über den gelungenen Angriff währte nur kurz. Die nachfolgenden Horden trampelten ungerührt über die Leichen ihrer Kameraden hinweg. Er umklammerte den Dolchgriff noch fester und löste die zweite Verteidigungswelle aus. Hunderte von tolarischen Läufern sprangen aus den Gräben am Fuße der Mauer. Mit ausgebreiteten, zum Zuschlagen bereiten Sensenflügeln rannten sie furchtlos auf die Gegner zu. Barrin hörte das Surren und Knarren der Antriebe. Die Geschosse, die im Leib der Läufer in Antiöl ruhten, einem biologischen Gift, das phyrexianisches Blut zersetzte, flogen heraus und bohrten sich in die Körper der Feinde. Die Phyrexianer stießen einen Schrei aus, der Felsen erbeben und Bäume umstürzen ließ. Wieder fiel eine ganze Reihe tot zu Boden - eine sich zersetzende 310
Masse aus Muskeln und Knochen. Wieder stürmten die restlichen Krieger über die Leichen der Kameraden hinweg. Tolarische Läufer stellten sich ihnen entgegen und schlugen mit ihren Klingen zu. Manche der Monster wurden in der Mitte zertrennt. Andere liefen mit aufgeschlitztem Magen noch ein paar Schritte weiter, ehe sich die Augen trübten und sie zu Boden sanken. Einige waren nicht aufzuhalten. Obwohl an den in ihren Leibern vergrabenen Klingen noch die dazugehörigen Läufer hingen, stürmten die Monster weiter. Gemeinsam mit unverletzten Kameraden warfen sie sich auf die wartende Skorpionarmee. Urzas Skorpione waren nicht für schnelle Manöver gebaut. Mit sechs Beinen, schweren Stacheln und zuckenden Schwänzen waren sie besser geeignet, stillzustehen und zu kämpfen. Sie wichen nicht zurück, als die Angreifer über sie herfielen. Die erste Reihe der Feinde stürzte mit abgetrennten Beinen zu Boden. Die blutenden Leiber fielen den Skorpionen auf den Rücken, die sie achtlos abschüttelten und sich den nächsten Gegnern zuwandten. Weitere Phyrexianer verloren ihre Beine. Als die dritte Reihe Phyrexianer auf die Rücken der Skorpione kletterte, machten ihnen die zustechenden Stachel den Garaus. Allmählich türmten sich wahre Leichenberge auf. Nach und nach wurden die Stacheln unter Tonnen von zerfetztem Fleisch begraben. Unterdessen kämpften sich die Phyrexianer durch den Pfeilhagel, den die menschlichen Verteidiger von den Wehrgängen herabschossen. Dann gelang dem ersten Phyrexianer der Durchbruch. Es war eine gewaltige Kreatur mit birnenförmigem, narbenübersätem Körper. Sie rollte an heftig zuckenden Schwänzen vorüber, über Leichenberge hinweg und prallte krachend gegen die Mauer. Die ledrige Haut war mit Pfeilen gespickt, die sich lösten, 311
da sich das Wesen mit aller Kraft gegen die steinerne Wand warf. Ein langer Riß zog sich vom Wehrgang bis zum Boden hinab. Immer mehr Monster kletterten über die Skorpione hinweg und erreichten die Mauer. Sie folgten dem Beispiel ihres Gefährten oder nutzten kleine Unebenheiten, um zu den Wehrgängen hinaufzuklettern. Zahlreiche Tentakel versuchten, sich einen Halt an den Zinnen zu verschaffen, um die zugehörigen Körper hinüberziehen zu können. Barrin erkannte, daß sie es in wenigen Sekunden schaffen würden. Sie hatten es bereits geschafft! Monster quollen aus Brunnen und Zisternen ins Innere der Akademie. Die Front war an tausend Stellen auseinandergebrochen, und jeder Student und jeder Gelehrte stand ganz allein einer grauenvollen Feindesschar gegenüber. Nicht ganz allein. Barrins Finger tanzten über das glitzernde Schaltpult. Er rief alle noch lebenden Pumas aus den Wäldern zur Schule. Er weckte jede Maschine in der Halle der Artefakte, von yotianischen Kriegern bis hin zu Tawnos' Tonmännern, Holzfällern und Trägern. Alle und jeder würden heute kämpfen - am letzten Tag Tolarias. Anschließend wandte sich Barrin um und stieg die dunkle Wendeltreppe hinab, die in einen Innenhof führte. Auch er wollte kämpfen, mit seinen Zaubersprüchen, dem Stab und dem Dolch, der keine Hilfe gebracht hatte - ja, sogar mit Zähnen und Fingernägeln, wenn es sein mußte. Urza war tot, und heute würde auch Tolaria sterben. * * * Inmitten des Geheuls der im Feuer gefangenen Tiere und Elfen vernahm der Mann im Holz einen noch schrecklicheren Lärm: phyrexianische Schreie, kreischende Maschinen, abgeschossene Pfeile, stöhnende 312
Männer, sterbende Kinder. Sie alle stießen immer wieder einen einzigen Namen aus. Urza! Urza! Urza! Er kannte den Namen des Zerstörers. Er kannte den Fluch von Argoth, aber der hier gemeinte Urza war ein anderer - ein gnädiger Herrscher mit großer Macht, ein Mentor, ein Advokat, ein Beschützer. Die Stimmen schrien nicht voller Haß und Zorn, sondern voller Hoffnung und hilfesuchend. Sie riefen einen anderen Urza. Sie riefen ihn. Im ohrenbetäubenden Lärm der Stimmen erinnerte sich Urza, wer er war. Der Wald versuchte, ihm seine eigenen Gedanken aufzudrängen, um Urzas zu unterdrücken. Doch nach fünf Jahren der Folter und Sühne war Yavimayas Wut verraucht. Der Wald hatte den Mann, den er so haßte, kennengelernt. Er hatte ihn in sein Leben aufgenommen. Ja, Yavimayas Wut war verraucht, und jetzt blieb ihm nichts mehr, was der Macht des Kampfes, die Urza rief, Widerstand leisten konnte. Urza verdrängte die Gedanken des Waldes und setzte sein Ich aus den Einzelteilen zusammen, die innerhalb des Stammes umherschwebten. Er schaffte es, seine eigenen Gedanken zu ordnen. Multani, die Seele Yavimayas, zwängte sich in den Leib des erwachenden Weltenwanderers. Er verschmolz mit der kämpfenden Gestalt und versuchte, Wurzeln zu schlagen, aber es war zu spät. Urza verschwand aus dem Herzen des Waldes. Nur einen Moment verbrachte er zwischen den Welten, aber während dieses Augenblicks fühlte er die Gegenwart eines anderen in sich: Multani. Im Bruchteil einer Sekunde war der Häscher zum Gefangenen geworden. Urza hatte keine Zeit, über Multani nachzudenken. Er verließ das Rad der Ewigkeit und betrat einen bestimmten Ort in einem bestimmten Augenblick. Um 313
ihn herum nahmen Wände aus grauem, uraltem Metall Gestalt an, riesige Fenster aus dunklem Glas, Hebel, Zahnräder und Feuer, das aus gewaltigen Hochöfen schlug. Klar und deutlich war die Umgebung zu erkennen. Aber das war unwichtig. Wichtig war nur die Frau mit den strahlenden Augen, die Ghitufrau. Sie stand über einige Pläne gebeugt und diskutierte bei Urzas Ankunft mit einem wild herumfuchtelnden Goblin. Jhoira wirbelte herum und riß vor Staunen den Mund auf. »Sammele deine besten Kämpfer um dich. Tolaria wird gestürmt. Ich komme wieder und nehme euch mit.« Noch während des letzten Wortes verblaßte seine Gestalt und verschwand. Jhoiras entgeisterter Blick verfolgte Urza in den Raum zwischen den Welten. Er spürte, daß auch Multani verblüfft war. Das Staunen verdoppelte sich, als Urza im nächsten Augenblick in das Chaos von Tolaria trat. Die Mauern waren gestürmt worden. Die Wachen waren tot. Wie Kakerlaken krochen Phyrexianer aus allen Ritzen und Fugen. Sie strömten durch zerbrochene Tore und kletterten durch die zerborstenen Gitter über Brunnen und Zisternen. Sie stürmten Gänge entlang und bekämpften alle, die Widerstand leisteten, und zerrissen alle, die sich nicht länger zu wehren vermochten. Wohin Urza auch sah, überall wurden Studenten und Lehrmeister niedergemetzelt. Urza erhob sich vom Boden, den er sekundenlang mit den Füßen berührt hatte. Er flog geradewegs in die Luft und ließ rote Blitze aus den Fingerspitzen in den großen Innenhof sprühen, in dem die meisten Brunnen standen. Die roten Strahlen sausten an den schattenhaften Gestalten vorüber, die aus der Tiefe kamen. Sobald sie die Wasseroberfläche erreichten, brach ein Inferno aus. 314
Rotes Wasser und verbrannte Körper schlugen gegen die Wände. Der Boden rings um jeden Brunnen wölbte sich nach außen. Im nächsten Augenblick regnete es glühende Steine, Felsen und Mörtel. Die Brunnen waren verschüttet. Die Phyrexianer ertranken. Urza drehte sich um und wob einen neuen Zauber. Rote Blitze flogen zu jedem Riß in den Wänden. Steine weichten auf und brachen über den hinaufkletternden Kreaturen zusammen. Die Risse schlossen sich wieder, und die Mauer stand erneut unversehrt da. Urza schwebte höher hinauf. Ganze Feuerkreise sprühten aus seinen Fingerspitzen. Dichte Rauchwolken hüllten die Angreifer ein und rissen sie von den Beinen. Die feindliche Armee verwandelte sich in einen Haufen verkohlter Gestalten, die zu Asche zerfielen. Ein riesiger Feuerball erhob sich über der finsteren Schlucht und schwebte zum Waldrand hinüber. Immer noch ein Mörder, wie? sagte eine Stimme aus Urzas Inneren. Du würdest jedes Lebewesen umbringen, um die Kreaturen, die sich dir widersetzen, zu vernichten. Der Feuerball drehte sich einmal um die eigene Achse, ehe er verschwand, ohne auch nur ein einziges Blatt versengt zu haben. Die vorwurfsvolle Stimme verstummte. Urza gestattete sich ein winziges Lächeln bis die nächste Welle Angreifer aus dem Wald stürmte und über die verkohlten Leichen und Aschehaufen trampelte. »Das ist das Grauen, das ich in Argoth vor all den Jahren aufhalten wollte«, erklärte Urza seinem Gefangenen. »Das ist das Grauen, das ich noch immer bekämpfe, aber es wird kein zweites Argoth geben.« Wieder herrschte Stille. Urzas Kristallaugen funkelten. Er streckte die Hand aus und schrieb ein Zeichen in die Luft. Ein Flügel der feindlichen Armee wandte sich dem anderen zu. Phyrexianer griffen Phyrexianer an, zerfleischten und zerfetzten einander. Mit einer zweiten Handbewegung 315
fegte Urza tote Monster von den Rücken seiner Skorpione. Erleichtert schüttelten sich die Artefakte und krochen den nächsten Feinden entgegen. »Das sollte sie eine Weile aufhalten«, murmelte Urza und schwebte zwischen den Mauern herab. Unter ihm kämpften Schüler und Lehrmeister gegen die überlebenden Phyrexianer. Ein grauhaariger Mann zeichnete sich durch besonders erbitterten Widerstand aus. Er hielt bloß einen Dolch in der Hand, benutzte ihn aber wie ein Schwert. Rings um ihn herum lagen ganze Stapel von Monstern. Der Dolch rief nach dem Anhänger, den Urza um den Hals trug. Doch auch die Gedanken des Mannes hatten ihn geweckt. Der Grauhaarige versetzte einem Angreifer einen tödlichen Stoß mit der Waffe. Urza erschien an der Stelle, an der Sekunden zuvor ein Feind gestanden hatte, und erntete einen Stich in den Bauch. Er lächelte gezwungen. »Barrin, schön Euch zu sehen.« Erbleichend zog Barrin den Dolch aus Urzas Leib. Die Klinge glitt heraus, und die Wunde schloß sich augenblicklich, ohne daß ein Tropfen Blut vergossen wurde. »Urza! Ich d-dachte, Ihr w-wärt tot!« stammelte der Magier verdattert. »Nicht ganz. Ich habe die Mauer repariert und den Sturmangriff abgewehrt«, erklärte Urza hastig. »Aber heute muß es ein Ende haben. Ich muß K'rrik töten.« »Wir schaffen es nicht!« stieß Barrin hervor. »Wir sind zu wenige, zu schwach ... außer Atem.« »Ich hole Verstärkung.« Urplötzlich verschwand Urza. Wie ein Mann, der von einem Korridor in den nächsten tritt, durchquerte er den Gang zwischen den Welten und betrat die Schmiede von Shiv. Eine ansehnliche Versammlung erwartete ihn. Jhoira stand im Vordergrund, dicht hinter ihr warteten zwölf tolarische Läufer aus Thranmetall. Die Gruppe der 316
Menschen bestand aus fünfunddreißig Personen; es waren Teferi und alle Studenten und Gelehrten, die vor beinahe einer Dekade hierhergekommen waren. Auch die jüngsten Schüler waren inzwischen erwachsen, ernst und so hart wie das Metall, das sie so vollendet herstellten. Neben ihnen stand eine aus vierzig Echsenmenschen bestehende Gruppe, zu der auch Diago Deerv und die handverlesenen Krieger der Leibwache des Beys gehörten. Rhammidarigaaz, der junge Feuerdrache, begleitete sie, gemeinsam mit Karn, dem Silbermann. Neben den gutgekleideten und in geordneter Aufstellung wartenden Truppen hüpften und sprangen zahlreiche, in zerfetzte Arbeitsanzüge gehüllte Goblins umher. Die meisten hielten die groben Waffen in den Händen, die sie vor fünf Jahren beim Kampf gegen die Viashinos benutzt hatten. Die übrigen hatten sich der schwersten, schärfsten oder am gefährlichsten aussehendsten Werkzeuge bemächtigt, die sie aufstöbern konnten. Mit militärisch anmutenden Schritten traten Jhoira, Diago Deerv und ein schmutziger kleiner Goblin vor, dessen Augenbrauen bis auf seine Nase fielen. Der Kleine bedachte Urza mit einem ungelenken Gruß, den er offensichtlich für soldatisch hielt. Jhoira ergriff das Wort: »Eure Krieger stehen bereit. Eure Verbündeten haben mehr als nur symbolische Truppen aufgeboten.« »Das sehe ich.« Urzas Augen glitten über den Drachen und Karn hinweg. Er wandte sich an Diago und deutet auf die beiden. »Du weißt, daß die beiden in der bevorstehenden Schlacht umkommen können.« »Opfer für den Stamm zu bringen ist die höchste Ehre«, erklärte Diago ernst. Noch einmal musterte Urza die Versammlung. Trotz ihrer Zahl und Entschlossenheit würden sie nicht ausreichen. Er atmete tief durch und sagte: »Kommt mit.« Die Weltenwanderungswelle, die er auswarf, riß die 317
Anwesenden innerhalb eines Sekundenbruchteils mit. Dahinter verbarg sich Urzas neuester Zauberspruch, der große Gruppen im Raum zwischen den Welten in zweidimensionale Wesen verwandelte. Thranmetallwände verschwanden und machten einem wirbelnden Chaos Platz. Erzfeinde - Viashinos, Goblins, der Feuerdrache, Menschen und Maschinen - flogen flach zusammengepreßt durch die Leere, um urplötzlich im brodelnden Inferno Tolarias zu landen. Es blieb keine Zeit für Befehle. Hier marschierten keine geordneten Reihen in die Schlacht. Es blieb nur noch ein Atemzug, ehe man auf dem Absatz kehrtmachen und sich dem gräßlichen Monstrum stellen mußte, das hinter einem stand. Das Klirren des Thranmetalls vermischte sich mit dem Krachen der Goblinäxte. Der Silbermann kämpfte mit bloßen Händen und unglaublicher Kraft. Der Feuerdrache, das einzige Wesen, das es an Größe mit den schrecklichen Feinden aufnehmen konnte, griff mit Klauen und Zähnen und Schwanz an. Tolarias Verteidiger stießen schwache Jubelrufe aus, als die Monster zurückwichen. Dennoch waren sie nicht besiegt. Urza wanderte zwischen den Welten. Er verließ Tolaria und begab sich zum luftigen Sitz des Feuerdrachen Gherridarigaaz. Er tauchte ebenso überraschend auf wie beim ersten Mal. »Ich bin es, Urza Weltenwanderer«, sagte er einfach. Gegen den Nestrand aus Baumstämmen und Teer nahm sich der Drache sehr rot und groß aus. Gherridarigaaz hob den Kopf ein wenig und betrachtete Urza verärgert. »Ich dachte, du wärst tot.« »Ich kann dir deinen Sohn wiedergeben, große Gherridarigaaz.« Jetzt schnellte der Kopf empor. »Sprich!« »Du mußt für mich kämpfen. Für mich, die Viashi318
nos und die Goblins. Auch dein Sohn kämpft für uns. Ich bringe dich zu ihm, und du mußt an seiner Seite kämpfen und die Schlacht zu unseren Gunsten entscheiden. Dann darfst du ihn mitnehmen.« Mißtrauisch sah sie ihn an. »Gegen wen kämpfen?« Urzas Blick hielt stand. »Gegen unsere gemeinsamen Feinde. Gegen die Kreaturen, die uns alle umbringen wollen, gegen den Erzfeind aller Lebewesen.« »Ach so«, sagte Gherridarigaaz und grinste verschlagen. »Urza und seine Phyrexianer.« »Ich habe keine Zeit für Spielchen«, sagte Urza streng. »Komm jetzt mit und kämpfe, um deinen Sohn zurückzugewinnen, oder bleibe hier.« Die Drachendame richtete sich zu ihrer vollen, sehr beeindruckenden Höhe auf. Sie zog die Flügel eng um die schuppigen Schultern und senkte den Kopf. »Ich komme mit.« Urza ergriff die zottige Mähne und kletterte auf den kräftigen Nacken. »Breite die Flügel aus!« befahl er. »Bereite einen Flammenstrahl vor.« Sie gehorchte. Die ledrigen Flügel breiteten sich weit aus. »Wir reisen«, verkündete Urza. Der Gedanke genügte. Urza und der Drache verschwanden und eilten durch die Korridore der Zeit. Sekunden später erblickten sie unter sich vorbeirasende Baumwipfel und über sich einen hellen, mit vereinzelten Wolken bedeckten Himmel. Vor ihnen lag die Akademie Tolarias wie geduckt auf ihrem Hügel. Dunkle Rauchsäulen stiegen von dort auf. Gherridarigaaz schlug einmal mit den gewaltigen Schwingen. Der Wald blieb hinter ihnen zurück, und sie schwebten über dem Schlachtfeld. Unter ihnen stürmten Hunderte von brüllenden Monstern gegen eine mit nur wenigen Verteidigern besetzte Mauer an. Gherridarigaaz holte tief Luft und bedachte die Phy319
rexianer mit Feuer. Sie verbrannten auf der Stelle. Ölige Flecken blieben auf dem Gras zurück. Freudenschreie erklangen jenseits der Mauer. Die Gewaltige Drachendame beschrieb einen Bogen und flog über die finstere Schlucht hinweg. Schwere Bolzen stiegen aus der Tiefe auf und verfehlten sie nur um Haaresbreite. Schnell stieg sie höher, außer Reichweite. »Jawohl!« rief Urza voller Freude. »Kämpfe mit uns, und dein Sohn gehört dir.« Dann war er verschwunden. Im nächsten Augenblick tauchte er in einem friedlichen Winkel Tolarias wieder auf. Seine Füße berührten einen Wall aus Schutt und Mörtel, der das Wasser vor der Schlucht der Phyrexianer staute. Auf der einen Seite des Dammes lauerte tief unten die düstere Festung im Schnellzeitgebiet. Auf der anderen lag ein großer, ruhiger See - das Wasser, das von der Schlucht ferngehalten worden war. Die Wasseroberfläche lag so reglos wie ein Spiegel vor Urza, weit von dem Wahnsinn der Schlacht entfernt. Fische tummelten sich auf dem Grund des Sees. Die Bäume am Ufer wiegten sich in grüner Fracht. »Vergib mir«, murmelte Urza. Energie entfuhr seinen Fingerspitzen. Sie zerstörte den Damm und schleuderte Urza durch die Luft. Felsen zersprangen. Wasser strömte voran. Dann verwandelte sich die Flut in eine brodelnde, weiße Masse, die Steine und Bäume mit sich riß. Sie schoß über den Rand der Schlucht und ergoß sich in den tiefen, dunklen Abgrund. Der Schlamm vom Boden des Sees folgte dem Wasser nach. Urza ließ sich in die Fluten fallen. Sie trugen ihn davon. Sie würden ihn verbergen. Sie würden ihn schützen. Die Zeitgrenze würde ihn nicht zerreißen. Kein Geschoß würde ihn durchbohren. 320
In den tosenden Wellen würde er nicht zu sehen sein. Sobald er sich im Zeitstrom befand, würde er sämtliche Zuchtlabore vernichten, in denen die phyrexianischen Monster heranwuchsen. Er würde K'rrik finden und ihn töten. Er würde Tolaria für alle Zeit von der phyrexianischen Bedrohung befreien. * * * Krachend fiel Jhoiras Thranschwert auf den Schädel eines Riesen nieder. Es spaltete den Kopf in zwei Hälften, und der Gegner fiel gegen die Wand der Krankenstation, wo er am Sims eines Fensters im zweiten Stock hängenblieb. Drinnen machten sich weitere Monster daran, die bettlägerigen Patienten anzugreifen. Mit wütendem Gebrüll kletterte Jhoira den Toten hinauf, als handele es sich um eine Leiter. Ihr Schwert zersplitterte die Glasscheibe. Schreie und Rufe erschollen. Hastig kletterte sie über die Brüstung. Viele der Kranken waren schon tot. Die übrigen versuchten, sich so gut wie möglich mit Krücken und Stöcken zu wehren. Ein Student, der sich mit Alchimie auskannte, hatte die vorhandenen Betäubungsmittel im Kampf eingesetzt. Außerdem hatte er Explosionspulver in Glasphiolen gefunden und hielt drei Feinde in Schach, indem er ihnen die winzigen Behälter vor die Füße schleuderte. Jhoira schlich sich von hinten an und schlug mit dem Schwert auf den Nacken eines reptilähnlichen Wesens ein. Die Thranklinge schnitt durch Fleisch und Knochen, als wären sie Wasser. Der Kopf fiel zu Boden und rollte ihr mit weit aufgerissenen Augen und schnappendem Kiefer vor die Füße. Schnell packte sie eines der Ohren, um den Schädel zur Seite zu werfen. Der zweite Phyrexianer wandte sich um und griff an. 321
Das riesige Maul öffnete sich zu einem Biß, der sie in zwei Teile zerschneiden würde. Instinktiv rammte sie den abgeschlagenen Kopf des ersten Feindes hinein. In letzter Sekunde, ehe sich die spitzen Zähne um die Beute schlossen, schaffte sie es, die Hand herauszuziehen. Knochen und Schuppen krachten und drangen in die Kehle des Angreifers ein. Nach Atem ringend und würgend beugte sich der Feind vor. Jhoira beendete seine Qualen mit einem schnellen Hieb, der die Nase spaltete und bis zum Ohr fuhr. Mit einem entsetzlichen Schrei fiel des Wesen vornüber. Dabei riß es Jhoira die Waffe aus der Hand und begrub sie unter sich. Ein stechender Schmerz durchfuhr die Frau. Sie wurde durch die Luft geschleudert und landete unsanft an der gegenüberliegenden Wand. Etwas kam auf sie zu. Etwas mit grauen Schuppen, kleinen Insektenaugen und abstehenden, mit Stacheln besetzten Ohren. Es schleuderte die Betten mit lässigen Handbewegungen beiseite. Jhoira wich zurück, verfing sich aber in einem Gewirr aus zerbrochenen Möbeln und Tüchern. Das Monster sprang mit ausgestreckten Krallen auf sie zu. Urplötzlich stand eine schmale, weißgekleidete Gestalt zwischen Jhoira und dem Angreifer. In einer hocherhobenen Hand hielt die Gestalt ein Metallkästchen voller Glasphiolen, die mit grauem Pulver gefüllt waren. Im nächsten Augenblick hatte sie das Kästchen samt Inhalt zwischen die Zähne des Monsters gerammt. Mit einem lauten Knall explodierte der häßliche Kopf, und die Stücke flogen quer durch den ganzen Raum. Der Rumpf fiel über Jhoira zusammen. »Bist du unverletzt?« schrie sie in die plötzlich eingetretene Stille hinein. Im gleichen Augenblick rief auch ihr Retter: »Bist du unverletzt?« Er rollte den Toten beiseite, bückte sich und zog das Schwert aus dem Leib des ersten Feindes. »Es geht mir gut!« versicherten sie einander im Chor. 322
Froh nahm Jhoira die Waffe entgegen. Sie dankte dem schmächtigen jungen Mann. »Glaubst du, du kannst dich hier behaupten? Glaubst du, du kannst die Tür verteidigen und die Biester draußen halten?« »Ja«, meinte er tapfer. »Ja, wenn keiner durch das Fenster hereinkommt, so wie du.« Jhoira richtete sich auf und taumelte zum Fenster. Der Hof zwischen Krankenstation und Außenmauer lag fast verlassen unter ihr. Außer Hunderten von toten Phyrexianern, Menschen, Viashinos und Goblins war niemand zu sehen. Sogar Rhammidarigaaz hatte den Hof verlassen und sich seiner Mutter angeschlossen. Gemeinsam flogen sie über die Schlucht hinweg und spuckten Feuer und Schwefel hinab. »Eigentlich dürften keine weiteren Angriffe erfolgen - außer, sie stürmen die Mauer noch einmal«, erklärte Jhoira. Sie ging zur Tür. »Die Schlacht tobt jetzt im Inneren der Akademie. Es wird um jeden einzelnen Raum gekämpft. Meinst du, du schaffst es?« »Ja«, wiederholte der junge Mann. »Gut.« Jhoira betrat den Gang. Aus der Halle der Artefakte drang ein gewaltiger Krawall. Seufzend eilte sie in die Richtung. Ein erbitterter Kampf stand ihnen bevor, und ihre Freunde befanden sich in verschiedenen Räumen: Karn im Observatorium, Teferi in der großen Halle, Diago in Urza Arbeitszimmer, Terd im Keller, Barrin im Tempel und sie selbst in der Halle der Artefakte. Ein winziges Lächeln stahl sich über ihre Lippen. Welche Armee vermochte solchen Gegnern zu widerstehen? Sie würde Urza daran erinnern müssen, sein Luftschiff mit der bestmöglichen Mannschaft zu besetzen. Ihre Miene verdüsterte sich. Sie würde Urza daran erinnern, wenn sie diesen Tag überlebten. * * * 323
Urza erhob sich aus dem ekligen Schlamm, der den Boden der Schlucht bedeckte. Mit reiner Willenskraft schüttelte er die toten Fische und die glitschigen Algen aus den Gewändern. Das flache Gewässer schäumte, da das Wasser aus dem Staudamm hineinströmte. Oben, in der Stadt der Phyrexianer, blieb alles ruhig. Barrin hatte recht gehabt. K'rrik hatte sämtliche Kreaturen in die Schlacht geschickt, um die Akademie endgültig auszulöschen. Die einzigen verbliebenen Feinde waren die Krieger an den Geschützen, Wachen und alle, die nicht in der Lage waren, die Zeitgrenze zu überwinden. Angeführt wurden sie natürlich von K'rrik. Ganz sicher lungerte auch die jüngste Generation von Negatoren hier herum. Urza würde nicht fortgehen, ehe alle tot waren. Aus den vielen Dekaden seiner Beobachtungen wußte er, wo die Zuchtlabore lagen tief im Inneren des Basaltfelsen, auf dem die Festung stand. Durch einen Gedanken begab er sich in die finstere Höhle. Vor und hinter ihm breitete sich ein Gang voller Bottiche aus. Steinerne Pfeiler hielten Scheiben aus dunklem Obsidian. Hinter den Scheiben lagen Becken, gefüllt mit glänzendem Öl - phyrexianisches Blut und Plazentaflüssigkeit. Gewiß hatte K'rrik diese Becken gefüllt, indem er Bewohner seiner Stadt ausblutete. Die Leichen waren anschließend zu Futter für die in den Bottichen heranwachsenden Negatoren verarbeitet worden. Phyrexianer waren von natürlicher Fortpflanzung zu künstlicher übergegangen, als die Föten begannen, ihre Mütter von innen her aufzufressen. Die grotesken Gestalten in diesen Bottichen sahen wirklich wie Muttermörder aus. Obwohl noch nicht ausgereift, hatten sie die Größe eines erwachsenen Menschen. Blinzelnde Lider hingen über hervorstehenden Augen. Urza sah knochige Schultern, weiche Krallen, ölatmende Lungen und unzählige Beine, die 324
teilweise zu richtigen Gliedmaßen heranwuchsen und teilweise abfielen, so daß nur noch Hüftknochen übrig blieben. In einigen Bottichen ragten Beinknochen aus den Mäulern der Monster heraus - ein kleiner Imbiß zwischen den Fütterungen. Urza fühlte sich elend. Er schwebte zur Decke empor, bis er außer Sichtweite der Bottiche war. Von oben erblickte er weitere Reihen mit Bottiche. Hundert, fünfhundert, zweitausendfünfhundert... Ein Netzwerk aus knöchernen Schwebebrücken hing über jeder Reihe. Maschinen eilten hin und her, tauchten Probanden in das Öl, schöpften Unrat aus den Bottichen oder warfen Fleischstücke hinein. An manchen Maschinen entdeckte Urza Teile seiner Falken. Kein Wunder, daß K'rrik die ganze Stadt in die Schlacht geschickt hat, dachte er. In einigen Monaten seiner Zeit - wenigen Wochen der Zeit außerhalb der Schlucht - reifte hier unten eine neue Armee heran, ein ganzes Volk. Doch damit war es vorbei: Urza hob die Hände und senkte sie langsam und mit gespreizten Fingern. Grelle blaue Blitze schossen in die Bottiche hinein. Wo auch immer sie mit Öl in Berührung kamen, stiegen lodernde Flammen auf. Die in Öl schwimmenden Gestalten zuckten und wanden sich. Blauweiße Funken erhellten die Dunkelheit und gaben den Blick auf gebogene Krallen und Giftsäcke frei. Finger, Knie und Zehen verbrannten. Sekunden später hüllten Flammen die kahlen Köpfe ein. Knochen zerbarsten. Dicke Hautschichten platzten auf, schälten sich ab und sahen wie schwarze Rinde aus. Muskelstränge glühten. Einer nach dem anderen verbrannten K'rriks Nachwuchskrieger an Ort und Stelle. Zum Schluß, als die brennenden Ölfontänen in die Höhe schossen, ließ die unerträgliche Hitze die Obsidianwände zerspringen. Glassplitter und Fleischfetzen regneten in die Gänge hinein. 325
Immer mehr Blitze zuckten auf, immer mehr Bottiche explodierten. Keuchend merkte Urza, wie seine Kräfte nachließen. Natürlich würde er sich schnell wieder erholen, und er brauchte auch nur einen einzigen Zauber, um K'rrik zu töten. Aber bis nicht der letzte Feind tot war, war Tolaria nicht in Sicherheit. Blaue Energie strömte aus seinen Fingerspitzen. Gelbrote Feuersäulen erhellten die Dunkelheit. Schwarze Rußwolken und dichter Rauch quollen zur Decke empor. Schwindelig vor Anstrengung ließ er die letzten Bottiche explodieren und sah zu, wie die Kreaturen verbrannten. Das würde K'rrik herbeirufen. Urza hörte auf zu atmen. Die Luft in der Höhle war nur noch reines Gift. Erschöpft blickte er zur Decke hinauf. Der Qualm verlor sich in der Finsternis. Dort oben bewegte sich etwas - etwas Silbriges, Schnelles und ... Der Schrei des angreifenden Falken gellte durch Rauch, Feuer und Öl. Urza hob den Blick gerade noch rechtzeitig, um die zornigen Augen über dem messerscharfen Schnabel zu sehen. Getroffen! Urza fiel. Er stürzte wie ein toter Spatz vom Himmel. Krachend landete er zwischen öltriefenden Glasscherben. Das war ihm egal. Seinen Magen füllte ein Haufen scharfen Stahls, zerschnittene Leber und Knochensplitter. Der Falke hatte sich in ihn hineingebohrt und dann die Flügel ausgebreitet. Das Schnarren des Mechanismus war unverkennbar. Das Biest fraß sich durch Muskeln und Eingeweide. Es zerbrach Knochen und Wirbel. Mit äußerster Willenskraft stillte Urza den Blutstrom, setzte Organe und Sehnen zusammen und erneuerte sich, aber die Maschine arbeitete einfach zu schnell. Sie zerstörte alles, was sich neu bildete. Urza wurde von seiner eigenen Erfindung zer326
fleischt, die nicht länger darauf programmiert war, nach Blutöl zu suchen, sondern nur noch auf Urzas eigenes Blut reagierte. Jetzt war er es, der sich wand und zuckte. Er taumelte über die Glasscherben. Sein Verstand drohte auszusetzen. Schon war nicht mehr genug von seinem Körper übrig, um dem Gedanken Nahrung zu geben, der ihm das Weltenwandern und damit die Flucht ermöglichte. Vielleicht hätte er genügend Kraft besessen, wenn er nicht soviel Energie auf die Zerstörung der Zuchtlabore verwandt hätte. Jetzt war er beinahe hilflos. Blutspritzer bedeckten die Juwelenaugen. Er versuchte noch einmal, sich zu erneuern und jeden Blutstropfen wieder in die Adern und Venen zu leiten, in die er gehörte. Es war unmöglich. Er konnte nicht fliehen und konnte auch nicht einfach sterben. Er würde die reißenden Zähne bis in alle Ewigkeit spüren. Wenigstens hatte er die Armee besiegt. Leider lebte K'rrik noch. Als habe ihn der Gedanke gerufen, erschien der Mann aus dem Nichts. Das Wort >Mann< paßte längst nicht mehr zu ihm. K'rrik war kaum mehr als ein sich bewegendes Skelett. Das sterbliche Fleisch hatte er im Laufe der Jahrhunderte immer wieder durch Fleischbrocken ersetzt, die von Mitgliedern der neuen Generationen stammten. Er erneuerte seine äußere Hülle ständig, in der Hoffnung, einst der Schlucht entkommen zu können. Er wirkte ausgesprochen sehnig, als sei er kein einzelner Mann, sondern ein Bündel Aale, die so zusammengebunden waren, daß sie wie eine menschenähnliche Gestalt aussahen. An seinen Fingern, Zehen, Knien, Ellenbogen und Schläfen steckten Stacheln mit zumeist hohlen Spitzen, aus denen eine giftige Flüssigkeit tropfte. Nur das Gesicht erinnerte noch entfernt an einen Mann und die Augen ... sie waren blau und unverkennbar menschlich. »Nach deinem letzten Besuch kannte ich deine 327
Schwächen, Urza. Wenn man dich fortlaufend mit dem Tode ringen läßt, vermagst du nicht zu entkommen. Geschosse und Schwerter sind allerdings zu ungeschickt, denn sie gewähren dir Augenblicke der Ruhe. Und mehr als Augenblicke brauchst du nicht«, erklärte K'rrik mit freundlicher Stimme, während er nähertrat. Seine Klauen und eisernen Fersen klapperten auf dem Steinboden und zertraten die Glasscherben. »Diese Lösung ist viel einfacher - und mutet fast ironisch an. Vielen Dank für die Falkenmaschinen. Ich habe noch vierzig, die rings um die Schlucht stationiert sind, falls du es mit Weltenwandern versuchst.« Urza, der nicht einmal zu einer Antwort in der Lage war, starrte den Gegner entgeistert an. Während er seine Gedanken nach innen auf eine Heilung richtete, fragte er sich, wieso das Monstrum die Sprache der Menschen so gut beherrschte. »Es war ein großer Fehler, Urza, damals hierherzukommen. Es lehrte uns alles, was wir wissen mußten. Es war schon immer dein größter Fehler, in unser Reich zu stolpern, dich blicken zu lassen und wieder zu verschwinden, während wir deinen Tod vorbereiteten. Das hast du schon in Koilos getan, und wir folgten dir hinaus. Dann tatest du es in Phyrexia, und wir folgten dir hinaus. Du weißt, daß du uns in Serras Welt brachtest. Wir griffen sie an und eroberten sie. Die Engel glauben, sie hätten uns besiegt, aber wir sind noch da. Wir sind nie fortgegangen. Wenn du uns an einen Ort bringst, verlassen wir ihn nie wieder. Wir stecken hinter der Umgestaltung von Serras Reich. Die Engel glauben, sie regieren ihre Welt, aber sie gehört uns. Sie ist eine der Bühnen, von denen aus wir die Invasion deiner Welt inszenieren. Auch diesen Ort haben wir nie verlassen, und heute haben wir dir die Insel entrissen.« Urza wünschte, er hätte seine Wut in Worte fassen können. Er wünschte, er hätte K'rrik daran erinnern 328
können, daß seine gesamte Armee tot war - sowohl in der Schlucht als auch außerhalb. K'rrik blieb nur noch eine Handvoll Wächter. Ganz egal, wie viele Veränderungen er auch an sich vornahm: K'rrik würde niemals in der Lage sein, seinen Verstand aus dem Zeitstrom zu zwängen, in dem er gefangensaß. Urza hätte ihm das alles gern entgegengeschrien, aber er konnte nichts tun, als sich mühsam bei Bewußtsein zu halten, während er zitternd auf dem mit Scherben bedeckten Boden lag. Er mußte gar nichts sagen. K'rrik schien es zu ahnen. »Übrigens: Du hast nicht alle Bottiche zerstört. Das hier ist nur die kleinste Kammer. Ich habe noch drei andere. Dort wachsen achttausend Krieger heran. Zweitausend sind bereit, die Bottiche zu verlassen.« Das war das Ende. K'rrik würde Urza noch eine Weile verhöhnen, ehe er das Schwert zog und ihn enthauptete. Selbst wenn Urza die Kraft zum Weitenwandern aufbrächte - was ihm im Augenblick unmöglich war -, stand eine Flucht aus der Schlucht oder auch nur aus dieser Kammer außer Frage. Drei weitere Falken kreisten dicht unter der Decke. Das war das Ende. Urza würde sterben, K'rrik würde leben. In Kürze würden zweitausend Phyrexianer aus der Schlucht steigen, um den letzten Widerstand zu beseitigen. Sechstausend weitere würden aus Tolaria eine phyrexianische Festung machen. Die Invasion war nicht mehr aufzuhalten. Alles war verloren. »Ich sehe deinen... bemerkenswerten Augen an, daß du deine Niederlage endlich begriffen hast, Urza Weltenwanderer. Der Grundstein dazu wurde schon damals in Koilos gelegt. Von Anfang an hattest du keine Chance.« K'rrik kam näher und zog ein Krummschwert aus der Scheide. »Eigentlich wollte ich mich noch ein wenig länger an deinen Qualen ergötzen, aber es machte nur Spaß, als du dich noch wehrtest.« Urza erbebte unter dem Rumoren der mörderischen 329
Kreatur in seinem Leib. Beinahe hätte er sich in diesem Augenblick aufgegeben; doch sei es auch nur, um K'rrik den endgültigen Sieg zu rauben - ein Impuls gebot ihm, noch zu warten. K'rrik stand dicht vor ihm und hob das Krummschwert hoch über den Kopf. »Gute Nacht, Weltenwanderer.« Die Klinge fuhr herab. In der Sekunde, ehe sie ihn traf, durchzuckte Urza eine Woge der Kraft. Sie kam aus seinem Inneren, gehörte ihm aber nicht. Sie gehörte Multani und reichte für eine einzige Weltenwanderung aus. Mit der Kraft erreichte ihn auch das geflüsterte Wort - der Name des einzigen Ortes, an den Urza fliehen konnte, der ihn vor den Falken verbergen und ihm den Endsieg bescheren würde. K'rrik. Mit diesem Gedanken trat Urza ins All. Er verschwand vom Boden der düsteren Kammer, aus der Reichweite des Feindes. Einen Atemzug lang schwebte er im Nichts, blieb aber nicht dort, falls der Phyrexianer begriff, was vorging. Mit einem zweiten Gedanken trat Urza in die Wirklichkeit zurück. Er tauchte genau im Herzen des Phyrexianers auf. Urzas aus sprühender Energie bestehende Gestalt wurde groß und größer und zersprengte den Leib des Feindes in einem Schauer aus Fleisch und Öl. K'rrik explodierte, und an seiner Stelle stand ein mit Öl beschmierter Weltenwanderer. Überall an den Wänden hingen winzige Stücke Aalhaut. Urza stand still und wagte nicht einmal zu atmen oder zu blinzeln. Der Falke, der ihn vor wenigen Sekunden zerfleischt hatte, landete auf dem Boden. Er faltete die Flügel zusammen und drehte den Kopf suchend hin und her. Er schien verunsichert zu sein. Vorsichtig trippelte er ein paar Schritte vor und pickte an den umherliegenden Glasscherben herum. Dann breitete er die Flügel aus 330
und gesellte sich zu seinen Kameraden, die immer noch unter der Decke kreisten. Bewege dich vorsichtig, flüsterte Multanis Stimme. Wir müssen noch drei Kammern ausräuchern. Urza gehorchte. Leise schwebte er ein Stück in die Luft, suchte nach einer Tür und flog darauf zu. Während des Fluges sandte er einen Gedanken zu dem Waldgeist, der in ihm wohnte. Also sind wir Verbündete? Multanis Antwort kam ohne Zögern. Du kennst die Qualen von Argoth. Wir kennen die Qualen Phyrexias. Wenn das die Wesen sind, die du bekämpfst, sind wir Verbündete. Urza seufzte erleichtert. Noch einmal vergewisserte er sich, daß die Falken ihn nicht witterten. Dann sprach er weiter. Ich freue mich sehr. Ich brauche deine Kraft, um die Säuberung der Schlucht zu vollenden. Wenn wir hier heraus sind und uns wieder auf dem bewaldeten Teil der Insel befinden, führe ich die Schlacht für dich zu Ende, antwortete Multani. * * * Jhoira hatte sich mit ihren alten Freunden zusammengeschlossen, um die Akademie zu befreien. Sie jagten die Monster aus jedem Raum und jeder Kammer, bis sie schließlich zwölf Kreaturen in einer Ecke des Innenhofes zusammengetrieben hatten. Hier wandte sich das Blatt. Die Verteidiger kämpften plötzlich um ihr Leben. Auch an allen anderen Stellen sah es ähnlich aus. Die Feinde waren von Drachen, Läufern, Skorpionen und Menschen vom Schlachtfeld vertrieben worden, aber sobald sie den Wald erreichten, hielten sie stand und vernichteten alle Pumas, die sich aus den Bäumen auf sie stürzten. Auch wenn viele tausend Phyrexianer 331
gestorben waren - hundert Überlebende reichten aus, um in Kürze eine neue Armee aus dem Zeitstrom klettern zu lassen. Die Verteidiger verzweifelten. Da erhob sich der Wald höchstpersönlich. Äste schlugen zu und zerschmetterten feindliche Schädel. Ranken wanden sich um Arme und Beine und rissen sie aus den Gelenken. Moskitos, Fliegen und Käfer umringten die Monster und fraßen sie bei lebendigem Leibe auf. Blätter, die in Sekunden steinhart wurden, schnitten wie Klingen in alles, was sich bewegte. Im Innenhof erwachte das Gras unter den Füßen der zwölf Phyrexianer zum Leben, schlitzte ihnen die Fußsohlen auf, trennte Zehen ab und zerrte die Feinde unter die Erde. Die Rufe, die wenig später ertönten, klangen schwach und erschöpft, aber es waren eindeutig Siegesrufe.
332
Monolog
Es ist geschafft. Die Rückeroberung Tolarias ist beendet. Nie im Leben habe ich mich so erschöpft gefühlt, unfähig, auch nur den kleinsten Zauber zu wirken, unfähig, den Dolch loszulassen, den ich noch immer umklammere. Aber nicht ich habe die Insel gerettet. Urza und sein Sechs-Rassen-Bund retteten sie. Wenn er die Bevölkerung Dominarias ebenso zusammenschmieden kann, wird er die Welt vielleicht doch retten. Barrin, Magiemeister von Tolaria
333
»Sie halten sich in Serras Welt auf, Barrin«, erklärte Urza nervös. Barrin zupfte an den weißgoldenen Festgewändern des Meisters herum, was Urza haßte. »Sie arbeiten am Untergang des ganzen Reiches, das sie als Ausgangspunkt für eine Invasion Dominarias benutzen. Ihr hört mir überhaupt nicht zu!« Barrin seufzte, und sein heißer Atem schien den Aufenthalt in dem kleinen stickigen Zelt noch unerträglicher zu machen. »Später ist noch Zeit genug für einen Kriegsrat. Heute ist der Tag der Bündnisse.« Er unterstrich den Satz mit einem energischen Ruck an Urzas Stola. Der Meister schnaubte empört. Schweiß lief ihm über die Stirn. Er war so in seine Gedanken über die unter den Engeln weilenden Teufel vertieft, daß er nicht daran dachte, seine Körpertemperatur zum Ausgleich der Hitze zu senken. »Wohin ich auch ging - sie sind mir gefolgt. Als Xantcha und ich durch die Welten reisten, um Phyrexianer zu vernichten, verstreuten wir sie wie Samenkörner. Ich sage dir, der Krieg, den wir gerade gewonnen haben, war nur ein sanftes Vorspiel zu den Kriegen, die noch folgen.« »Ja«, stimmte Barrin geduldig zu und strich eine nach vorne gerutschte Haarsträhne des Meisters zurück. »Wir haben den ersten Krieg gewonnen. Jetzt ist es an der Zeit, den Sieg mit unseren Verbündeten zu feiern.« Er trat zurück, musterte Urza von Kopf bis Fuß und nickte zufrieden. »Ihr seht genauso aus, wie man sich einen siegreichen Eroberer vorstellt.« 334
»Ich fühle mich wie ein Verlierer. Wir haben keine Zeit für ...« Plötzlich wurde Barrin ärgerlich. »Um die Schlacht um Tolaria zu gewinnen, brauchtet Ihr die Studenten und Gelehrten, die Viashinos und Goblins, die Feuerdrachen und sogar den Geist eines fernen Waldes. Um die Schlacht um Dominaria zu gewinnen, braucht Ihr die Hilfe der ganzen Welt. Die Rede, die Ihr in den nächsten Augenblicken haltet, wird das derzeitige Bündnis festigen und den Grundstein für die Weltverteidigung legen. Diesmal dürft Ihr nicht einfach zu Euren Maschinen davonlaufen, Urza! Diesmal müßt Ihr Euch als Staatsmann erweisen und zu den versammelten Delegationen sprechen. Belohnt sie für die gewonnene Schlacht und bereitet sie auf den bevorstehenden Krieg vor. Später können wir uns um Serras Reich kümmern.« Ein Ausdruck zwischen Ärger und Reue huschte über Urzas Gesicht. In dem Augenblick fiel Barrin ein, warum dieser mächtige Mann, der Beinahe-Gott, sich so gern zu seinen Maschinen zurückzog: Unter anderen Menschen war er ausgesprochen schüchtern und unsicher. »Wie sehe ich aus, Barrin?« erkundigte sich Urza endlich. Barrin nickte. »Hervorragend.« Mit einem tiefen und bewußten Atemzug ging Urza auf den Ausgang zu, die Fäuste in den weiten Ärmeln des Festgewandes geballt. Er trat aus dem stickigen Zelt auf eine helle, luftige Ebene. Die versammelten Delegierten brachen in laute Jubelrufe aus. Urza lächelte. Er konnte nicht anders. Dort, im strahlenden Sonnenschein der großen Waldlichtung, standen die Abgesandten des Bündnisses: Jhoira, Teferi, eine Gruppe shivanischer Studenten, Karn, Bey Feuerauge, Diago Deerv, die Leibwache des Beys, 335
Glanzzunge Spaltspitze, der Maschinist Terd, der Destrouhäuptling, Gherridarigaaz und Rhammidarigaaz, Multani und eine Delegation der tolarischen Holzfeen und natürlich Barrin mit zwei tolarischen Lehrmeistern und den Elitestudenten. Alle Anwesenden hatten geschworen, die Lage der Lichtung und alles, was hier geschah, geheimzuhalten. Sie waren als Abgesandte ihrer Völker hier, um den Daheimgebliebenen über die von Urza geplante Rettung Dominarias zu berichten. Sie repräsentierten die Armee der Überlebenden. Aber sie waren mehr als Überlebende: Sie waren Sieger. Erst vor einer Woche hatten Phyrexianer und Brände auf der Insel gewütet und Tote und Sterbende zurückgelassen. Doch Tolarias Verteidiger gewannen die Schlacht. Mit dem gleichen Eifer, den sie beim Kampf zeigten, sammelten sie Steine auf und errichteten neue Mauern und Wände. Die ehrenhaft Gefallenen ruhten jetzt in kunstvollen Schreinen rings um den Ort, an dem die Teferisäule gestanden hatte. Die Phyrexianer waren zu einem Scheiterhaufen aufgeschichtet worden, der drei Tage lang neben der Schlucht gebrannt hatte, die ihre Heimat gewesen war. Nicht einmal die Knochen hatten das gewaltige, von Öl genährte Feuer überstanden. Tausende von künstlichen Spinnen, die Urza und seine Gefährten in Schnellzeitströmen gebaut hatten, waren über die gesamte Insel gekrochen, um sicherzugehen, daß die Phyrexianer mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurden und nie mehr das Angesicht des Glimmermondes schauen durften. Alles, was von K'rrik und seinen Negatoren übrigblieb, waren die leere Schlucht und der Gestank, der sich jedoch verflüchtigte, nachdem die letzte Glut des Scheiterhaufens erlosch. Auf dieser Lichtung roch es nicht nach Tod und Verderben. Helle Morgenluft umgab die Versammlung. Der Wald war grün und unversehrt. Uralte Bäume 336
schwenkten ihre üppigen Blätter wie Flaggen über den Festplatz. Die Natur hatte sich herausgeputzt. Auch die Delegierten waren schön anzusehen. Trauerkleidung und Arbeitsanzüge waren verbannt und durch festliche Gewänder ersetzt worden. Die Roben der Studenten und Gelehrten aus Leinen und Seide leuchteten in allen Farben. Als sie bei Urzas Anblick in Jubelrufe ausbrachen, flatterten die kostbaren Stoffe im Wind. Die Menschen aus Shiv trugen rote Anzüge und wirkten gleichzeitig glücklich und ernst. Bey Feuerauges Krieger hatten bunt gefärbte Lederhemden angezogen und trugen die Totems der einzelnen Familien bei sich. Sogar Terd hatte ein Bad genommen und eine Sitzung bei tolarischen Schneidern über sich ergehen lassen. Im Hintergrund der Versammlung hockten die Feuerdrachen, mit bestickten Schärpen angetan. Sie sahen wie Fabelwesen aus. Dünne Rauchfahnen quollen aus ihren Nüstern. Als der Jubel langsam erstarb, lächelte Urza noch einmal. Ihm fiel auf, daß er nicht mehr schwitzte, und er atmete tief durch. »Kinder Dominarias, heißt den jungen Morgen willkommen! Geraume Zeit umgab uns Finsternis, aber jetzt ist es wieder hell geworden. Der einzige Grund, der Finsternis dankbar zu sein, ist die Tatsache, daß sie uns zu Verbündeten machte. Ich habe diese Insel vor dem Rest der Welt verborgen. Nach wie vor verstecke ich sie, damit die Feinde, die wir besiegten, sie nicht noch einmal entdecken. Aber euch, meinen Freunden, steht sie offen. Das Wissen dieses Landes um Maschinen und Magie steht euch zur Verfügung; euch, den Ghitu, den Viashinos, den Destrou, Grabbits und Tristou und auch Gherridarigaaz und Rhammidarigaaz. Die von uns gebauten Maschinen werden auch euch verteidigen. Das von uns gesammelte Wissen soll allen Lebewesen zugänglich sein.« 337
Applaus brandete bei diesen Worten auf, von Terds fröhlichem Grölen begleitet. »Durch unser Bündnis - die Beendigung unserer Streitigkeiten und das Begraben der Vergangenheit wappnen wir uns für die Zukunft. Gherridarigaaz bekam ihren Sohn zurück, weil sie die Viashinos nicht tötete, sondern mit ihnen zusammenarbeitete.« Der uralte Feuerdrache senkte zustimmend den Kopf, und etwas, das einem Grinsen ähnelte, glitt über das furchterregende Gesicht. »Karn, der Silbergolem, der einst mein Eigentum war und danach den Viashinos gehörte, hat seine Freiheit errungen und bewies immer wieder, wie tüchtig er im Kampf und im täglichen Leben ist.« Dankend nickte Karn dem Viashinobey zu. Urza breitete in großartiger Geste die Arme aus. »Die Viashinos, die seit einer Dekade unsere Verbündeten sind, haben unter der Anleitung von Teferi und Jhoira dieses kostbare Geschenk für die Verteidigung unserer Welt hergestellt.« Sekundenlang verschwand er. Bestürztes Raunen lief durch die Reihen der Viashinos und Goblins, aber Teferi und Jhoira lächelten wissend. Da erschien Urza wieder, die Hände noch immer hoch erhoben. Vor ihm schwebte ein überirdisch schönes Schiff in der Luft. Glühende Punkte blauer Magie zeichneten die Umrisse der Dollborde, des tiefen Kiels, der seitlich gebogenen Masten, der Segel und der starken Taue. Stellenweise war das Schiff jedoch massiv gebaut. Die Metallteile schimmerten wie Graphit, sahen aber härter als Stahl aus. Ein langer schmaler Rammbock war an der Spitze des Vorderdecks befestigt. Dahinter schwebten Bullaugen, Träger, Mastaufhängungen, Sparrenhalter, Abdeckplatten, Scharniere, Schlagbolzen, Türknäufe und Nieten in der Luft. Ein riesiger Anker samt Kette lag hinter dem Rammbock auf dem Vorderdeck. Ein Paar Seitensegel ragten 338
Steuerbord und Backbord aus dem Rumpf. Im Herzen des Schiffs erhob sich ein massiver Metallkern, der ein Motor sein mußte. Es erklang kein Applaus, sondern es ertönten bewundernde Seufzer und Rufe. »Die Metallteile des Schiffs sind hervorragend gearbeitet! Sie werden in alle Ewigkeit halten. Außerdem werden sie immer weiterwachsen und sich von diesem vorzüglichen Anfangsstadium zur Perfektion steigern. Sie werden sich immer wieder neu formen und das Schiff zur besten Verteidigung unserer Welt machen. Aber natürlich ist das wunderbare Schiff noch nicht vollständig. Die Welt wird nicht allein durch Technik gerettet, sondern auch durch Leben, durch grünes Mana. Unser neuester Verbündeter, Multani, Geist des großen, weit entfernten Waldes Yavimaya, hat ein Geschenk für Dominaria mitgebracht.« Urza hob ein Stück Holz in die Höhe, einen großen Samen. »Das ist der Wettersamen aus der Krone des ältesten Magnolienbaumes in Yavimaya. Jener Baum erinnert sich an die Welt, wie sie vor dem Bruderkrieg war, vor den Phyrexianern. Er trägt die Seele des uralten Waldes in sich. Er ist das Herz des Waldes.« Ein eigenartiges Licht glomm in Karns Augen auf. Er starrte den Wettersamen an, als handele es sich um seine eigenen Seele. Im Grunde ähnelten sich Xantchas Herz und das Herz des Waldes sehr. Sie erfüllten Urzas Maschinen mit Leben. Der Meister hielt den Samen hoch in die Luft und schritt zu einer freien, ovalen Fläche im Gras. »Aus diesem Samen wird mit Multanis Hilfe der Rumpf des Schiffs wachsen.« Mit diesen Worten senkte Urza das Holz tief in den weichen Boden hinein. Sein Arm verschwand bis zum Ellenbogen. Als er ihn wieder herauszog, klebte schwarze, feuchte Erde daran. Er sah auf die Wunde im Gras hinab und sah gleichzeitig, wie sich der Wald339
geist bewegte, um sie zu schließen. Urza trat zurück, als eine helle Wolke schimmernder Wesen erschien. Feen! Sie kamen aus dem Wald und erfüllten die Luft mit einem leisen Summen. In den Händen hielten sie winzige, aus Blättern gefaltete Tassen, in denen Tautropfen glänzten. Vorsichtig gossen sie den Tau in das Loch im Boden. Dann verschwanden die ersten wieder im Wald, während eine lange Reihe anderer Feen den Vorgang wiederholte. Sobald die letzte Fee mit ihrer Tasse zwischen den Bäumen entschwunden war, schritten neue Feen herbei. Sie trugen Rüstungen und Schwerter und sahen kriegerisch und sehr ernst aus. Sie stellten sich im Kreis um die Stelle auf, an der Urza den Wettersamen eingepflanzt hatte, die Gesichter nach außen gewandt, die Schwerter gezückt. Entgeistert starrte Terd sie an. Ein entrücktes Lächeln lag auf seinem häßlichen Gesicht. Die haarigen Klauen zuckten, als wolle er nach den Feen greifen, aber er hielt sich standhaft zurück. Die Viashinos ließen die Stelle, an der sich das Loch befunden hatte, nicht aus den Augen. Sekunden später drängte ein schmaler Stamm ans Tageslicht. Mit spiralförmigen Bewegungen schoß er in die Höhe und streckte die gelben Blätter der Sonne entgegen. Kurz darauf färbten sich die Blätter grün und vermehrten sich stetig. Zweige wurden zu Ästen. Das winzige Bäumchen wiegte sich zitternd im Lufthauch und wuchs. Urza vollführte eine Handbewegung. Langsam und anmutig neigte sich das Schiff. Der Bug hob sich, und das Heck senkte sich über den kleinen Baum. Schon bald stand das Schiff auf dem Kopf. Die ersten Zweige reckten sich empor und legten sich über die Metallträger, die Platten und Masten. Sie würden in Kürze ein Flechtwerk bilden und mit dem unvollendeten Luftschiff verschmelzen. 340
Es herrschte andächtige Stille im Wald. Urzas Schritte klangen ungewöhnlich laut, als er zum Zelt zurückging. Niemand beachtete ihn, da alle mit Augen und Ohren bei dem Wunder waren, das sich vor ihnen abspielte - die Vereinigung von Maschine und Baum, von Technik und Natur, von Geschichte und Bestimmung. »Selbst jetzt arbeiten die Goblinstämme, die einst Krieg gegen Viashinos, Ghitus und Drachen führten ...« »Und gegeneinander!« rief Terd. Alle lachten herzlich. »Und gegeneinander. Sie arbeiten an der Matrix eines Kraftsteins, der diese gewaltige Maschine antreiben soll.« Terd brüllte vor Begeisterung. Die Goblinhäuptlinge stimmten ein, und schon bald jubelten alle Anwesenden. Einen Moment lang waren sie nicht mehr Viashinos und Goblins, Menschen und Maschine. Einen Moment lang waren sie die Stimme Dominarias. Der Jubel hallte durch den Wald und scheuchte die Vögel auf, die friedlich in den Bäumen saßen. Als wieder Ruhe eintrat, sprach Urza weiter: »Um dieses großartige Schiff zu vollenden, brauche ich euch, meine Freunde und Verbündeten. Tolaria ist von den Phyrexianern für immer befreit, aber sie haben unsere Welt noch nicht verlassen. In diesem Augenblick sind sie dabei, eine Welt, die sich nur einen Schritt von uns entfernt befindet, zu erobern. Ich brauche eure Hilfe, um dieses Schiff zu bauen, aber ich brauche euch auch, um diese andere Welt zu retten, denn wenn sie untergeht, so gehen auch wir unter.«
341
Monolog
Nun, ich denke, ich hätte damit rechnen müssen. Ich war es, der die Kugel ins Rollen brachte. Ich bestand darauf, daß Urza seine Vergangenheit bewältigen muß. Er betrat die Straße, die fort vom Wahnsinn führte, als Xantcha ihm den Doppelgänger seines Bruders präsentierte - Ratepe. Als dieser zweite Mishra bei dem Versuch starb, die Welt von Phyrexianern zu befreien, akzeptierte Urza den Tod seines Bruders. Er war dem Wahnsinn entronnen. Dann explodierte die Zeitmaschine. Die Explosion bedeutete für Tolaria, was der Bruderkrieg für Terisiare bedeutete. In den finsteren Stunden danach glaubte ich, Urza sei für alle Zeit verloren, aber der Tod Tolarias arbeitete für ihn, wie es der Tod Ratepes tat. Endlich hielt er im gegenwärtigen Mikrokosmos die Wiederholung seines makrokosmischen Fehlers der Vergangenheit in Händen. Mit der Vernichtung der ersten Akademie von Tolaria begriff Urza die Zerstörung Argoths, die er durch den Silex hervorgerufen hatte und durch den jahrzehntelangen Krieg, der den Einsatz des Silex notwendig machte. Urza kehrte zurück, um Tolaria wiederaufzubauen und sich den Kindern des Zorns zu stellen. Er entfernte sich immer weiter vom Wahnsinn. Der Wiederaufbau Tolarias erlaubte Urza, sich mit der menschlichen Welt wieder zu versöhnen. Doch es gab noch mehr wiedergutzumachen. Die Versöhnung mit der Natur stand ihm noch bevor. Dann ging er nach Yavimaya. Er war auf der Suche 342
nach dem Geist des Waldes, um etwas zu erbitten, das den Bau des Schiffsrumpfes ermöglichte. Dabei handelte er sich eine fünfjährige Strafe für die Argoth zugefügten Qualen ein. Yavimaya erinnerte sich an Urza. Multani erinnerte sich an Titania. Er erkannte Urza und ließ ihn für seine Sünden bezahlen. Durch die Buße der Schuld verschwand der Wahnsinn endgültig. Und mit seinem wiedergewonnenen klaren Verstand gelang es Urza, die Phyrexianer aus unserer Mitte zu verjagen. Ich habe ihm mehrmals gesagt, daß jetzt alles in Ordnung ist. Ich habe ihm wieder und wieder gesagt, daß er nicht mehr über die Vergangenheit nachgrübeln muß und sich auf die Zukunft besinnen soll. Er schüttelt nur den Kopf und redet davon, daß er die Phyrexianer in Serras Reich geführt hat. Dorthin führt Urzas nächste Reise - vielleicht seine letzte. Wenn man K'rrik glauben darf, leben die Phyrexianer inmitten der Engel. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Urza dort überleben wird, gefangen zwischen Engeln und Teufeln. Barrin, Magiemeister von Tolaria
343
Wieder einmal schwebte Urza herab. Dies war seine bevorzugte Annäherungsweise an unbekannte oder feindliche Gebiete, und Serras Reich hatte sich in den letzten Jahrhunderten so entwickelt, daß es in der Tat zu einer unbekannten und feindseligen Region geworden war. Noch immer war es eine grandiose Himmelslandschaft mit hohen Wolkenbergen. Doch leider hatte der einst strahlendblaue Himmel eine gelblich-graue Färbung angenommen. Der Gestank von phyrexianischem Schwefel und Öl lag in der Luft, und die Illusion der Grenzenlosigkeit war wie ein verschlissenes Gewand von dem Reich abgefallen. Der Himmel wirkte beengt, und der gebogene Rand war zu sehen. Einst hatte die Welt der Engel aus hochaufragenden Wolkeninseln bestanden, zwischen denen breite Parklandschaften schwebten. Jetzt waren die Grünflächen zusammengeschrumpft, einige waren kaum größer als winzige Vorgärten, und die ausladenden Wolkeninseln wirkten wie schmutzige kleine Hügel, Sie waren nicht länger weiß, sondern schlammfarben, als verlören sie ihren Charakter und würden sich in Schmutz verwandeln. Sämtliche Grenzen waren verwischt. Alle Besonderheiten lösten sich allmählich auf. Jegliche Ideale wurden zunichte gemacht. Phyrexianer waren hier. Sie verstanden sich auf derartige Umwandlungen. Während Urza hinabstieg, drehte er sich langsam um die eigene Achse. Die Juwelenaugen suchten nach bewohnten Orten. Einstmals hatte diese Welt keiner 346
Häuser und Städte bedurft, denn es gab weder Regen noch Kälte, weder Nacht noch Raubtiere, und die Luft ernährte jeden, der sie einatmete. Damals wurden die wenigen Gebäude nur der Schönheit halber errichtet von Säulengängen durchzogene Gärten, mit Efeu bewachsene Amphitheater, Haine voller Manasteine, breite Galerien unter freiem Himmel. Jetzt lagen die meisten dieser Bauwerke in Trümmer. Nicht fest verwurzelte Gebäude waren ins Nichts gestürzt. Zwischen den verbliebenen Ruinen erhoben sich neue Bauten, die wie Lehmhütten und nicht wie Engelsbehausungen aussahen. Von außen waren sie hart und stabil, es waren Verschanzungen gegen schlechtes Wetter, nächtliche Dunkelheit und Raubtiere. Phyrexianer waren hier. Der Rauch, der von einigen Hütten aufstieg, kündete von Feuern, die die kalten Räume heizten und trocken hielten. Der Geruch von gegrilltem Fleisch kündete von gejagten und geschlachteten Tieren. Von Luft allein konnte niemand leben. Jetzt mußte das Leben anderen gestohlen werden. Die Engel ernährten sich von sterblichem Fleisch. Die Himmelswelt, die früher in sich ein Lebewesen war, existierte so nicht mehr. Die Harmonie war zerstört, ein allgemeiner Überlebenskampf hatte eingesetzt. Phyrexianer waren hier. Sie hatten die Himmelswelt getötet und die Sterbenden gelehrt, Tote zu essen. Nur ein einziges einst prunkvolles Gebäude stand noch. Serras Palast. Urza erblickte ihn in der Ferne, wo er dunkel in einem grauen Himmelsozean schwamm. Er sah wie ein auf dem Kopf stehendes Fragezeichen aus - eine Tatsache, die passend erschien, als Serra noch in der ganz aus Kristall bestehenden Spitze lebte. Sie widmete ihr Leben und das ihrer Welt dem Streben nach der perfekten Gesellschaft, perfekten Tugenden und perfekter Schönheit. Debatten und Diskussionen bildeten einen wesentli347
chen Teil der Kultur ihres Reiches. Zwar war das umgekehrte Fragezeichen noch immer das Symbol der schwebenden Welt, aber aus fortwährenden Fragen waren fortwährende Zweifel geworden. Es stand nicht länger für Debatten, sondern für Verwirrung. Auf dieses Symbol der Verwirrung schwebte Urza zu. Je näher er kam, um so deutlicher erkannte er, daß es nicht wie Silber, sondern wie rostender Stahl aussah. Die breiten Ränder aus goldenem Glas lagen hinter einem orangefarbenen Gitter, das mit gefährlichen Spitzen besetzt war. Die Elfenbeinsäulen waren gelb geworden und an vielen Stellen abgesplittert. Die Fenster der kunstvollen Türme hatte man herausgeschlagen, um Platz für Kanonen zu schaffen. Eine Truppe Kriegerengel verließ den Palast und flog dem Eindringling entgegen. Sie wurde von drei Erzengeln angeführt. Gigantische Adlerschwingen trugen diese Wesen voran, die Magnaschwerter in den Händen hielten. Mit ihren einschneidigen Klingen und gebogenen Spitzen waren die Schwerter eine Mischung aus Krummschwertern und Äxten. Die Erzengel trugen silberne Brustpanzer und Kettenröcke aus Stahlmaschen. Ihre Gesichter lagen hinter Silbermasken verborgen. Diesen bedrohlich wirkenden Gestalten folgten über dreißig Kriegerengel. Sie waren etwas kleiner und weniger gut gerüstet, doch ihre spitzen Lanzen, ihre silbernen Arm- und Beinschienen und ihre fanatischen Mienen waren furchterregend. Urza beobachtete sie aufmerksam. Er machte sich bereit, auf die übernatürlichen Fähigkeiten eines Weltenwanderers zurückzugreifen. Er würde nicht mit den Engeln kämpfen, aber vielleicht wollten sie mit ihm kämpfen. Selbst wenn er einen solchen Konflikt überlebte, gab es noch genügend Truppen im Palast Erzengel, Engel, die Schwesternschaft Serras, menschliche Krieger und die anderen Bewohner des Reiches. 348
Er müßte sie alle besiegen, dufte allerdings keine Feuerbälle benutzen oder sie ermorden, um an die Kreatur zu gelangen, die im Herzen dieser untergehenden Welt saß. Er war nicht gekommen, um zu erobern, sondern um zu verhandeln. Sie kreisten ihn ein. Flügel rauschten durch die trübe Luft. Er schwebte in der Mitte eines Dreiecks, das die Erzengel bildeten, während ihre Gefährten die Zwischenräume ausfüllten. Das Rauschen der Flügel übertönte fast die eintönige Stimme des ersten Erzengels. »Komm nicht näher!« sagte der Engel hinter der silbernen Maske. Die kalte, gefühllose und beinahe metallisch klingende Stimme war weder männlich noch weiblich. »Du bist hier nicht erwünscht.« »Ich bin Urza Weltenwanderer«, antwortete der Mann, und seine weiße Festgewänder wehten im Wind. »Das wissen wir. Wir erinnern uns an deinen Geruch.« Er sprach sachlich, ohne Humor oder Bosheit. Urza preßte die Lippen zusammen. Dann sagte er: »Ja, aber ich erkenne den Geruch dieser Welt nicht mehr.« »Seit damals hat sich vieles verändert. Vieles änderte sich, weil du hierherkamst.« Auch ohne besondere Betonung war die Aussage unmißverständlich. »Deshalb kehre ich zurück«, antwortete Urza. »Ich komme, um dabei zu helfen, eurer Welt den alten Glanz zurückzugeben.« »Das geht dich nichts an, Weltenwanderer. Es ist nicht dein Krieg.« »Doch, wenn ich euer Verbündeter werde.« »Königin Radiant braucht keine Verbündeten.« »Radiant? Ich erinnere mich an sie. Also herrscht sie jetzt?« »Ja.« »Und sie will keine Verbündeten?« 349
»Nein.« Urza warf einen ironischen Blick in die Runde. »Meiner Meinung nach sieht es so aus, als könne sie jede Hilfe brauchen, die ihr angeboten wird.« »Das hast nicht du zu beurteilen.« »Du auch nicht. Bring mich zu ihr!« befahl Urza unwirsch. »Du bist nicht erwünscht.« »Ich könnte einfach zu ihr gehen.« Drohend hob er die Hände, und die Engel wichen kaum merklich zurück. »Ich bin Urza Weltenwanderer.« Das zornige Rauschen der Flügel nahm zu. Die Krieger packten die Lanzen fester. Der erste Erzengel flog auf Urza zu. Hinter der Maske drang heißer Atem hervor. »Komm mit!« Er wich zurück, ließ den Mann aber nicht aus den Augen. Urza folgte ihm. Die Engel umgaben ihn wie eine äußerst bedrohliche Leibwache. Ihre blassen, verschwommenen Schatten streiften ihn während des Fluges durch die trübe Luft. Das immer näher rückende Fragezeichen wurde größer und größer. Mit jeder Sekunde wurden die Veränderungen deutlicher. Die Landeplattformen waren durch schwere Fallgitter gesichert. Filigrane Fensterrahmen waren durch unförmige Schutzgitter ersetzt worden. An Stelle der Manakollektoren aus Kristall erhoben sich rauchende Schornsteine. Rußspuren zogen sich über die Mauern, und Einschußlöcher zeugten von Angriffen auf den Palast. »Aus dem Palast ist eine Festung geworden«, bemerkte Urza und dachte an eine ähnliche Veränderung seiner Akademie. »Nur eine vorübergehende Maßnahme«, antwortete der Erzengel, der immer noch rückwärts vor ihm herflog. »Wie du siehst, ist sie aber unumgänglich.« Urza sah es. Er stellte sich die Phyrexianer vor, wie 350
sie den Palast mit Luftschiffen oder mit stählernen Flügeln ausgerüstet angriffen. Er stellte sich vor, wie ganze Geschoßsalven gegen die Festung prallten. Er stellte sich vor, wie bewaffnete Engel an die Fenster eilten. So sah der Krieg im Himmel aus, und er war die Ursache dafür. »Ja, unumgänglich. Deshalb möchte ich mit Königin Radiant reden. Ihre Feinde sind auch meine Feinde. Ich weiß, welche Monster hier lauern, und ich besitze ganze Armeen, um bei ihrer Vernichtung mitzuhelfen.« Der Engel schwieg. Er flog weiterhin rückwärts scheinbar mühelos - und hielt auf eine große Landeplattform am Fuß des umgekehrten Fragezeichens zu. Die Plattform stand wie ein zorniger Unterkiefer aus einem dunklen Torbogen vor. Der Rand war mit gebogenen Dornen besetzt, den Zähnen eines riesigen Fleischfressers. Ein paar Flugmaschinen waren an ihnen vor Anker gegangen. In der Mitte der Plattform standen zahlreiche Gestalten. Drei davon waren Erzengel. Dahinter wartete eine Gruppe Kriegerengel. Die meisten anderen, die sich hier drängten, waren jedoch Menschen und einfache Engel. Wie ängstliche Schafe blieben sie dicht beieinander. Wächter umkreisten sie und stießen mit Lanzenschäften nach ihnen. Ein paar Menschen, die mit Bündeln bepackt waren, marschierten über einen schwankenden Laufsteg in eines der Luftschiffe hinein. Engel verließen die Gruppe und flogen mit traurigen Gesichtern davon. »Was ist mit ihnen?« erkundigte sich Urza, als sie endlich landeten. Der Erzengel blieb elegant auf der überfüllten Fläche stehen. Auch seine Gefährten taten es ihm gleich. »Größtenteils Flüchtlinge, die vor den Rebellen im Hinterland flohen. Sie kamen in die Hauptstadt, um Schutz zu suchen, aber wir haben keinen Platz für sie. Die anderen sind Dissidenten auf dem Weg ins Exil.« 351
Urza nickte und setzte die Füße auf den mit Schmutz bedeckten Marmorboden. An einigen Stellen fehlten ganze Stücke. Vermutlich waren sie den Angriffen zum Opfer gefallen. »In welche Welt schickt man sie?« »Sie bleiben hier. Niemand verläßt das Reich, nicht einmal Dissidenten.« »Was ist mit weltenwandernden Besuchern?« forschte Urza. »Radiant erwartet dich oben«, entgegnete der Erzengel. Der rückwärts schreitende Engel führte Urza in den einst so prachtvollen Palast. Er bewegte sich so anmutig, als würden seine Füße den Boden nicht berühren. Sie schritten unter einem offenen Gewölbegang hindurch, wo sich Flüchtlinge und Verbannte zusammenkauerten, von Schwefelgeruch umgeben. Die Hallen des Palastes waren riesig und ließen selbst solche Gestalten wie die Erzengel klein erscheinen. Hohe, schlanke Säulen stützen die Marmordecke. Als Urza zuletzt durch diese Hallen geschritten war, hallten sie von der Musik der Leiern und erhitzten Debatten wieder. Jetzt hörte man nur das Brüllen der Krieger. Entlang der Wände standen viele Reihen von Steingolems, bereit, jede Armee zu töten, die eine Landung auf der Plattform wagte. Die Fenster in ihrem Rücken waren mit schwarzen Eisenplatten verdeckt und verliehen dem Raum die Düsternis einer Hohle. Im Mittelpunkt des Innenhofes stand ein großer Springbrunnen, fünf Stockwerke hoch und mit kunstvoll geschnitzten Engelsfiguren verziert. Wenn Urza sich richtig erinnerte, stellten die Figuren die Tugenden in Serras Reich dar: Kunst, Diskurs, Freiheit und Frieden. Jetzt sprudelten keine Fontänen mehr, und die Statuen wurden von einer dicken Staubschicht bedeckt. Greifen und geflügelte Pferde - die Reittiere 352
der Krieger - tranken von der schmutzigen Brühe, die sich im Becken angesammelt hatte. Hinter dem Brunnen befand sich ein großes Freilufttheater. Urza erinnerte sich an die wunderschöne Wand aus goldenem Glas, die den Abschluß gebildet hatte. Jetzt schloß eine Mauer aus Schutt und Mörtel die Bühnenseite des Theaters ab, um seine Benutzer vor Luftangriffen zu schützen. Menschenkrieger hatten sich hier versammelt. Vor ihnen schritt ein Erzengel auf und ab. Die geschlechtslose Stimme belehrte sie über die besten Methoden, phyrexianische Katakomben auszuräuchern und zu säubern. »... müßt darauf achten, daß niemand überlebt. Geht nie davon aus, eine Höhle wäre durch ein paar Zauber zu reinigen. Tretet ein, aber nur in Gruppen und sehr vorsichtig. Ihr werdet verbrannte Körper finden. Überzeugt euch, daß sie wirklich tot sind. Köpft sie! Laßt keinen einzigen Hals unversehrt. Schwarze Manazauber können sie wiederbeleben. Sie heilen mit übernatürlicher Leichtigkeit. Glaubt nicht, eine Höhle wäre rein, weil alle sichtbaren Feinde tot sind. Sucht in allen Ritzen. Sie verstecken sich wie Ratten. Haltet nach Geheimkammern Ausschau. Sucht besonders sorgfältig nach Nachwuchs. Er wird am besten versteckt gehalten. Tötet die Jungen! Köpft sie! Laßt keinen leben, denn er wird sich verzwanzigfachen und euch ermorden. Benutzt eure Seelenfackeln, um ganz sicherzugehen, daß die Arbeit wirklich geschafft ist...« Grimmig dachte Urza über diese Ratschläge nach. Genauso hätte er gesprochen, wenn ihn jemand in K'rriks Festung begleitet hätte. Der Erzengel schaute nach oben. Sie hatten eine dicke Säule erreicht, die sich Hunderte von Stockwerken emporrankte, an unzähligen Balkonen und Galerien vorbei. Selbst im Zustand der Vernachlässigung wirkte sie durch ihre überragende Größe beeindrukkend. 353
»Sie wartet dort oben.« Wie ein Schwarm erschreckter Tauben flatterte die ganze Gruppe Engel in die Höhe. Urza schloß sich ihnen an. Während sie emporschwebten, sah er auf die umliegende Stadt hinab. Die Straßen lagen verlassen, die öffentlichen Plätze wimmelten vor Soldaten. Fenster waren mit Eisenplatten oder schweren Gittern verbarrikadiert. Von Zeit zu Zeit drang ein Stöhnen durch die Straßen. Rauch stieg aus Schmiedeöfen empor. Schwere Schritte schallten aus Waffenkammern. Serras Palast war kein Schmuckstück mehr, sondern eine gewaltige Waffe in einer belagerten Stadt. Urza dachte an das ferne Tolaria. Einst war es so verloren gewesen wie dieser Ort. Jetzt bildete es den Mittelpunkt eines Bündnisses, das sich über ganz Dominaria ausbreitete. Der Kampf zur Rettung der Insel hatte lange gedauert. Es würde noch länger dauern, Serras Reich zu retten, aber er war gerne bereit, auch diesen Kampf auf sich zu nehmen. Sie waren angekommen. Urza glitt von der Säule in einen gigantischen runden Raum - einen Marmorsaal von dreitausend Fuß Durchmesser. Ein großes Loch in der Mitte gab den Blick auf einen tiefen, üppigen Wald frei, einen hängenden Garten, in dem exotische Vögel umherflogen und sangen. Rings um den Marmorsaal erhoben sich mehrere Meilen hohe Fenster aus buntem Glas. Entlang der Außenwände dieses unter dem Namen >Vogelhalle< bekannten Raumes zogen sich Balkone und Galerien, auf denen sich Radiants Hofstaat zu Gesprächen und Sitzungen versammelte. Flaggen hingen an straff gespannten Drähten. Einige zeigten das Sonne-und-Flügel-Symbol Serras, andere Radiants Wappen Licht-in-der-Finsternis. Am überwältigendsten jedoch war die Tatsache, daß der Ölgestank, der sonst überall in der Luft hing, 354
nicht vorhanden war. Urza spürte die Gegenwart reinigender Magie sehr deutlich. Bewundernd atmete er auf. Die Vogelhalle war der einzige makellose Platz im ganzen Reich - recht außergewöhnlich, wenn man bedachte, wie groß die Armee sein mußte, die den Palast schützen sollte. Ein Engel stieß ihn mit einem Stab an und deutete zur Spitze der Vogelhalle. Der erste Erzengel erhob sich wieder in die Lüfte. »Nach oben!« Als die Gruppe hinaufschwebte, rückten die Wände des Turmes näher. Es wurde immer heißer. Bald machten breite Wandelgänge schmalen Balkonen Platz. Die goldenen Fenster wurden kleiner. Sie veränderten sich, und einfache Scheiben wurden zu starken Objektiven. Lichtzauber waren darüber geworfen worden. Manche gestatteten Einblicke in andere Bereiche des Palastes. Andere zeigten zerstörte Gärten am Rande der Welt. Jede schwebende Insel, jede noch so kleine Himmelsscholle hatte ein eigenes Fenster. Verschwommene Gestalten von Menschen und Engeln bewegten sich im Hintergrund. Die Krieger, die Urza umgaben, wandten die Blicke von dem Bildermosaik ab, das auf sie absurd und verwirrend wirkte. Urzas Kristallaugen begriffen, was es mit den Fenstern auf sich hatte. Von hier aus sah er jeden Winkel des Reiches. Falls er lange genug hierblieb, konnte er in jedes Herz und jeden Verstand im Himmel schauen. Dieser allessehende Raum war schon immer das bedeutendste Herrschaftsinstrument im Reiche Serras gewesen. Hier waren sie oder jeder andere Weltenwanderer allmächtig. Inmitten der funkelnden Fenster hing der Thron. Der Sitz sah wie ein Pendel aus, das genau in der Mitte der Vogelhalle schwebte. Die Rückenlehne bestand aus kunstvoll in Gold eingelassene Perlen. Kostbarer roter Samt bedeckte den Sitz, der sich um die 355
eigene Achse drehen ließ und so den Blick auf jedes gewünschte Fenster ermöglichte. Auch politisch gesehen hatte der Thron eine hervorragende Position inne, da jeder Bittsteller in der Luft schweben und sich den Hals nach demjenigen verrenken mußte, der dort oben saß. Inzwischen gehörte der Thron nicht mehr der Weltenwanderin Serra, sondern einem einfachen Engel: Radiant. Sie saß auf dem Thron, als sei es eine furchtbare Strafe. Die unzähligen Bilder der Außenwelt spiegelten sich im Marmor und tauchten sie in ein kränklich anmutendes Licht. Sie duldete die endlose Bilderfolge, aber ihre Augen schienen keinen Anteil zu nehmen. Für Radiant war der Thron kein allmächtiger Sitz, sondern ein Folterstuhl, der Teil eines verrückten Karussells war. Ihre Augen waren starr und ausdruckslos, ihre Finger krallten sich wie Klauen in die Armlehnen. Sie saß dort, als leide sie an furchtbarer Höhenangst, und senkte nicht einmal den Kopf, um die Gruppe Neuankömmlinge zu mustern. Goldenes Haar und schneeweiße Flügel verliehen ihr ein majestätisches Äußeres, aber der Gesichtsausdruck paßte nicht dazu, denn er zeigte eine Mischung aus Verzweiflung und Verbissenheit. Nicht einmal auf dem Höhepunkt ihrer Macht war sie eine geeignete Herrscherin gewesen. Seit damals war sie tief gesunken. Das Reich zerfiel; der Krieg nahm kein Ende. Sie wirkte wild entschlossen, ihn bis zum bitteren Schluß durchzustehen. Obwohl sie ihn nicht ansah, erkannte Radiant den Gefangenen. »Aha, Urza Weltenwanderer! Du kehrst an die Stätte deiner Verbrechen zurück?« »Ich grüße dich, Königin Radiant«, sagte Urza förmlich. Er verneigte sich. »Ja, das tue ich. Ich bin gekommen, um ein Bündnis mit dir zu schließen. Ich bin gekommen, dich vor deinen Feinden zu beschützen.« 356
»Die Feinde hast du hierhergebracht«, erwiderte sie. »Feinde, wie zum Beispiel deine Begleiterin Xantcha.« »Xantcha war eine Freundin, keine Begleiterin«, berichtigte Urza gelassen. »Außerdem brachte nicht sie die Phyrexianer hierher, sondern ich. Sie folgten mir.« »Sie folgten dir und zerstörten unser Leben. Wir haben sie einmal vertrieben, aber sie bedrängen uns noch immer.« Urza nickte verständnisvoll. »Ja. Der Gestank Phyrexias liegt in der Luft. Ich spürte es, sobald ich hier eintraf. Er ist schwach, aber allgegenwärtig. Er liegt in der Luft, im Wind, im Rauschen der Engelsflügel und sogar im unteren Bereich des Palastes. Nur hier oben in der Vogelhalle ist er nicht vorhanden.« Radiants Stimme klang gepreßt. »Es bedarf mächtiger Magie, um die Luft rein zu halten.« »Aber du kannst nicht das ganze Reich davon befreien. Auch kannst du ihm nie wieder den Glanz alter Zeiten geben. Mit oder ohne Phyrexianer: Alle künstlichen Welten zerfallen irgendwann. Diese hier bildet keine Ausnahme. Aber ich biete dir die Rettung an! Ich bringe dich und dein Volk nach Dominaria, wo ihr eine neue Heimat finden werdet. Sie wird so prachtvoll und schön wie diese sein. Und sie gehört euch. Als Gegenleistung müßt ihr mir nur Bündnistreue im Kampf gegen Phyrexia versprechen. Trauere nicht um das Reich und um Serras Visionen. Wenn die Welt erst verlassen daliegt, kann sie zu einer unserer mächtigsten Waffen werden. Sie kann den Kraftstein mit Energie versorgen, der das Luftschiff antreibt, das unsere Welt verteidigen wird.« »Unsere Welt?« fragte Radiant. Ihre Augen funkelten böse. »Nein. Dominaria ist nicht unsere Welt. Es ist deine Welt. Dies ist unsere Welt. Sie zerfällt, weil du die Feinde herbrachtest. Ich führe Krieg gegen sie. Wie kannst du es wagen, uns vorzuschlagen, un357
sere Welt im Stich zu lassen? Würdest du deine verlassen? Deine alte Überheblichkeit ist leider unverändert.« »Vergib mir, Königin«, sagte Urza und verneigte sich. »Es ist noch etwas von meiner alten Überheblichkeit vorhanden. Ich wußte nicht, wie sehr du dich dem Krieg verschrieben hast. Es tut mir leid. Gerade habe ich meinen persönlichen Kampf gegen die Phyrexianer beendet. Sie wissen sich gut zu verbergen. Sie nehmen menschliche Gestalt an, vielleicht sogar die von Engeln. Es gibt keinen schlimmeren Feind. Ich entschuldige mich für meine Vermessenheit. Ich möchte die technischen Errungenschaften und die Zaubersprüche, die meine Magiemeister entdeckten, mit dir teilen, um die Feinde zu vernichten. Wenn du nicht meine Verbündete in Dominaria sein willst, dann laß mich zu deinem Verbündeten hier in deiner Welt werden. Ich biete dir meine Hilfe an, die meiner Maschinen und die meiner Zauber, um dich in deinem persönlichen Kampf zu unterstützen.« »Genau das ist es«, sagte eine fremde Stimme. Eine Männerstimme, die von einer Galerie hinter Urza ertönte. Er drehte sich um und sah sich einem hochgewachsenen, dünnen Mann mit schwarzem Spitzbart gegenüber. Gelbe Schlitzaugen musterten ihn. »Es ist ein privater Krieg.« »Gestatte, daß ich dir meinen Kriegsminister Gorig vorstelle«, sagte Radiant majestätisch. Der Spitzbart verneigte sich, ließ den Weltenwanderer aber keine Sekunde aus den Augen. Er tippte sich mit dem Finger auf die Brust. »Wie du siehst, bin ich ein Magier. Außerdem ein guter General. Unser Krieg ist bestens unter Kontrolle, und er ist völlig privat.« Urza lächelte versonnen. »Ich habe gelernt, daß kein Krieg wirklich bestens unter Kontrolle ist.« 358
Obwohl sie nicht sprach, zog Radiant plötzlich alle Aufmerksamkeit auf sich. Ein seltsames Leuchten lag auf ihrem Gesicht. »Als wir von deiner Rückkehr hörten, nahmen wir an, du wolltest uns angreifen, Urza. Du mußt entschuldigen, wenn deine Friedensangebote uns überraschen.« »Ein neuer Mann steht - nein, schwebt - vor dir«, erklärte Urza. »Stimmt. Ehe du dich und deine Armee in den Kampf stürzt, möchtest du uns vielleicht auf dem nächsten Feldzug begleiten. Wir möchten auch gern deine Strategien kennenlernen. In einigen Wochen beginnt die nächste Offensive. Bleibe hier und feiere bis dahin mit uns. Sobald wir erst einmal Schild an Schild kämpften, wissen wir, ob das Bündnis uns beiden nützlich ist.« Urza nickte. »Das klingt sehr vernünftig.« Er verneigte sich tief. »Dankbar nehme ich deine Einladung an.« Auf eine Geste der Königin hin verschwanden die Engel und Erzengel und ließen die Herrscherin, den Weltenwanderer und Minister Gorig allein. * * * In einer lärmerfüllten Ecke der shivanischen Managewinnungsanlage spähten Jhoira und Karn durch ein Glasfenster der Matrixkammer. Unterhalb des Bodens preßten die Magmamaschinen ihre Energieströme zu einem grellroten Lichtstrahl zusammen. Er floß durch etliche Röhren und spiegelte sich in Scheiben aus Silberglas, die sich genau gegenüberstanden. Von dort aus gelangte er in die Matrixkammer, wo er von einem großen Objektiv zweimal gespalten wurde. Die vier resultierenden Lichtstrahlen zeichneten die genauen Umrisse des Kristalls auf, der das Luftschiff antreiben sollte. 359
»Ein traumhafter Stein für ein traumhaftes Schiff«, bemerkte Jhoira bissig. Karn sah erstaunt zu ihr hinüber und wunderte sich über ihre schlechte Laune. »So schnell, wie Multani den Rumpf wachsen läßt, wird es bald kein Traum mehr sein. Es wächst seit einem Monat.« »Ich weiß!« fauchte Jhoira. Sie erhob sich, wischte sich die staubigen Hände am Gewand ab und gab den Goblins, die an den Magmapumpen arbeiteten, ein Zeichen, den Vorgang zu beschleunigen. »Fast schon zwei Monate! Urzas Reise dauert wieder einmal endlos lange.« Der Silbermann sah sie fragend an. »Er hat Tolaria gerettet. Er hat ein Bündnis mit Yavimaya geschlossen. Er erfand ein großartiges Luftschiff, um die Welt zu retten. Jetzt will er die Phyrexianer aus einer anderen Welt vertreiben. Das kannst du ihm nicht ankreiden.« »Tue ich auch nicht!« knurrte Jhoira ungeduldig. Sie bückte sich zu zwei streitenden Goblins hinab, beteiligte sich in der Goblinsprache an dem Gespräch und deutete auf eine an der Wand hängende Zeichnung. Dann versetzte sie ihnen zwei Kopfnüsse und schickte sie fort. »Es ist nur ... weil... Teferi fort ist.« »Was ist er?« fragte Karn erstaunt. »Er sagte, er wollte in seine Heimat Zhalfir reisen. Dort herrscht Krieg, und sein Volk könne einen guten Magier wie ihn gebrauchen. Er wollte sich schon vor drei Wochen verabschieden, aber ich vertröstete ihn und sagte, er sollte warten, bis wir aus Shiv heimkehren. Ich glaubte, wir würden uns nur zwei Wochen hier aufhalten.« »Vielleicht ist er noch auf Tolaria« meinte Karn. »Vielleicht wartet er auf uns. Welchen Unterschied machen schon ein paar Wochen?« »Einen sehr großen Unterschied, wenn es sich um einen Krieg handelt«, antwortete Jhoira. Wütend riß 360
sie an einem großen Hebel, um Lava über breite Rutschbahnen in die Matrixkammer zu befördern. Die Lava würde sich rings um den Kern des Kristalls schließen, sich verfestigen und eine ausgezeichnete Gußform ergeben. »Nein, er ist fort. Er wartet nicht auf mich. Er wartet auch nicht auf Urza. Als Urza beim letzten Mal für eine Woche verreiste, blieb er fünf Jahre fort.« »Er hat sich verändert, Jhoira«, sagte Karn gelassen. »Vor der Reise tauschte er mich gegen Thranmänner ein. Hinterher tat er alles, um mich zurückzubekommen.« Endlich blieb Jhoira stehen und ließ die Schultern sinken. »Es geht nicht um Urza. Es geht um Teferi.« Karn trat neben sie und blieb unsicher stehen. Vor langer Zeit hatte er gelernt, Jhoira nicht zu umarmen, da er sie sonst zerquetschen würde. »Wir waren früher die besten Freunde - vor Teferi. Wir können wieder die besten Freunde sein.« Sie sah ihn an und versuchte zu lächeln. Ihre Lippen zitterten, und Tränen standen ihr in den Augen. »Du hast recht, Karn. Wir waren die besten Freunde. Wie dumm von mir zu denken, ich brauchte mehr.« Ihre Stimme klang unsicher. Zögernd ergriff er ihre Hand. »Zuerst hat mich Urza zurückgenommen, und nun du.« »Ja.« Traurig lehnte sie sich an ihn. Karn stand still und fühlte sich einsamer als zuvor. Von Urzas Artefakten war er die einzige denkende und fühlende Maschine, und deshalb hatte Urza keine Ahnung, was er mit ihm anfangen sollte. Karn war kein Gefährte, aber auch keine gewöhnliche Erfindung. Er war für die Reise in einer Zeitmaschine gebaut worden, die längst nicht mehr existierte. Man hielt ihn mit vielen Arbeiten beschäftigt, aber er hatte kein richtiges Ziel. Wäre er eine gewöhnliche Maschine, 361
hätte Urza ihn längst eingeschmolzen und etwas Neues aus ihm gemacht. Obwohl ihn Jhoira gerade ihren >besten Freund< genannt hatte, klang sie resigniert und enttäuscht. Karn überlegte, ob es nicht vielleicht eine Gnade bedeutete, auf dem Schrotthaufen zu enden.
362
Monolog
Teferi ist heute morgen abgereist. Er nahm die reparierte Neu-Tolaria und eine kleine Armee Pumas, Läufer und Skorpione mit. Ich behielt die andere Hälfte ungefähr fünfhundert Verteidiger -, obwohl ich sie wahrscheinlich nicht brauche. Die Insel ist von Phyrexianern befreit. Kristallspinnen kriechen überall umher. Zhalfir braucht die Maschinen nötiger als wir, aber mehr paßten nicht auf das Schiff. Ich mußte sowieso lange auf den stolzen jungen Magier einreden, damit er meine Hilfe annahm. Das verstehe ich. Obwohl ich mich durch meine Zusammenarbeit mit Urza auch mit Wissenschaft und Technik beschäftigt habe, ziehe ich die Magie vor. Aber wenn man einen Krieg gewinnen will, sollte man beides nutzen. Überall stoße ich in diesen Tagen auf notwendige Veränderungen. Täglich nimmt der Rumpf des Luftschiffes zu. Holz verbindet sich mit Metall, und beides wächst zusammen. Ich habe viele Abende mit Multani verbracht. Wenn die Nacht hereinbricht, erzählt er mir, was er von unseren Wäldern in Trägzeit- und Schnellzeitströmen lernte. Er spricht von jungen und alten Welten und von dem Kreislauf von Wachsen und Vergehen. Er berichtet, wie die Explosion, die Tolaria erschütterte, zuerst Tod bescherte, dann aber neues Leben. Er sagt, es hätte Yavimaya nie gegeben, wenn Argoth nicht zerstört worden und Terisiare nicht untergegangen wäre. Leben und Tod sind Gegensätze, aber nur durch den Gegensatz vermögen beide zu bestehen. Ohne Leben gibt es keinen Tod und ohne Tod kein Leben. 363
Magie und Maschine, Metall und Holz, Leben und Tod, shivanische Feuerdrachen und tolarische Seeungeheuer - irgendwie hat Urza es geschafft, sie alle zu vereinen. Um Multanis Worte zu wiederholen: Urza verkörpert sie alle. Nie zuvor hegte ich so viel Hoffnung für unsere Welt wie jetzt. Urza weilt schon viel zu lange in Serras Reich. Er schien zu glauben, den Unterschied zwischen Engeln und Teufeln im Handumdrehen feststellen zu können. Ich wundere mich allmählich. Wenn Feuer und Wasser zu Verbündeten werden, können es vielleicht auch die Guten und die Bösen. Barrin,
Magiemeister von Tolaria
364
Urza flog inmitten der Offiziere von Radiants Armee. Er trug eine Rüstung, die ähnlich aussah wie jene, die er für seinen Angriff auf Phyrexia getragen hatte. Sie bot ihm besonders guten Schutz vor Feuer - er erinnerte sich gut an den Brand in der Schlucht - und vor Gift und Geschossen. In der Hand hielt er eine lange Kriegslanze mit messerscharfer Spitze. Eine Axt steckte in seinem Gürtel. Er war von Kopf bis Fuß in schwarzes Metall gehüllt. Amüsiert dachte er, daß ihn jeder, der ihn beim Angriff auf einen phyrexianischen Schläfer sah, ihn für das Monster halten mußte. Genau vor Urza flog der Anführer der Offiziere, ein ebenso gesichtsloser und geschlechtsloser Erzengel wie alle anderen. Urza kannte seinen Namen nicht, aber keiner seiner Befehle wurde in Frage gestellt. Der Engel hielt ein Magnaschwert in der Hand, das mit einem Schlag den Kopf eines Bullen abtrennen konnte. In pfeilförmiger Aufstellung schwebten fünfzig Kriegerengel hinter ihnen, die zum Teil mit Netzen und Peitschen oder verzauberten Fackeln ausgerüstet waren. Es hieß, die blauweißen Flammen würden die Haut eines phyrexianischen Neulings gelb färben. Die übrigen Engel waren mit einfachen Schwertern für Massenenthauptungen und Beuteln bewaffnet, in denen sie die abgeschlagenen Köpfe sammelten, damit eine Zählung der Toten und eine Verbrennung der Schädel möglich war, um jede Art von Wiederbelebung zu verhindern. Den Schluß bildete ein Luftschiff, das bis zum Überquellen mit weißgekleideten Kriegern des Heiligen Ordens gefüllt war. Diese Menschen 365
standen so reglos wie Statuen, während das Schiff dahinsegelte. Goldene, tote Augen sahen ins Leere. Rechtschaffenheit hatte zum Ehrenkodex der Krieger gehört, als sie vor langer Zeit die Welt Serras betraten. Skrupellosigkeit hatten sie inzwischen dazugelernt. Vor ihnen lag das Ziel der Engel und der Soldaten: ein Gewirr aus Sandhaufen und Steinen. Was einstmals ein Archipel aus schwebenden Inseln gewesen war, sah jetzt wie ein mit Felsbrocken durchsetzter Erdklumpen aus. Die noch schwebenden Überreste der Inseln drehten sich träge im Wind. Von manchen stiegen Rauchwolken aus den seitlich hineingegrabenen Höhlen zum Himmel empor. »Dort liegt die größte Siedlung der Phyrexianer«, hatte Radiant vor einigen Tagen erklärt, als sie gemeinsam Tee tranken. Bei jedem Schritt, der vom Exerzierplatz herauf drang, klirrten die feinen Porzellantassen. »Sie verkleiden sich als Engel oder Menschen und leider gibt es tatsächlich noch echte Bewohner des Reiches, die nichtsahnend unter ihnen leben. Wie Wölfe in der Hundemeute hausen die Feinde dort. Ihr werdet sie am gelbgrünen Schimmer erkennen, wenn das Licht der Seelenfackeln auf sie fällt.« Urza hob eine dieser Fackeln in die Höhe. Die übrigen folgten seinem Beispiel. Noch waren sie zu weit entfernt, um zwischen den Felsen und Erdhaufen Lebewesen zu erkennen, aber sie näherten sich der Siedlung mit atemberaubender Geschwindigkeit. Der Erzengelanführer gab eine Reihe Handzeichen. Die beiden äußeren Flügel der Gruppe beschrieben einen weiten Bogen. Urza blieb hinter dem Anführer und der Kerntruppe von zwanzig Kriegern, denen das Luftschiff folgte. Die übrigen Einheiten aus jeweils fünfzehn Engeln flogen voraus, um die Feinde in die Zange zu nehmen. Die Kerntruppe stieg höher empor, dem Anführer nach. Das Feld aus Steinen und Erde lag tief unter ihnen, 366
und endlich sahen sie die bis dahin verborgenen Inseln, die dahinter schwebten. Die Kerntruppe sollte auf der größten Insel landen, sie säubern und Wachen dort zurücklassen, wenn sie zur nächsten Insel eilte. Sie erblickten aus Lehm und Ästen gebaute Flüchtlingshütten, die sich in eine Bodensenke schmiegten. Daneben ragte ein toter Wald aus grauen Baumstämmen auf. Sicher hatten die Flüchtlinge sich dort Baumaterial und Feuerholz besorgt. Der Erzengel wies auf eine mit Felsen übersäte Ebene unterhalb der Siedlung. Dort würden sie landen. Wie Falken im Sturzflug fielen die Engel vom Himmel. Die Zauberfackeln glühten im Luftzug auf. Von unten boten sie gewiß einen furchterregenden Anblick: zwanzig sonnenhelle Lichter, die wie Kometen auf die Insel niedergingen und eine Schiffsladung Heiliger Krieger und eine Truppe wütender Engel mit sich brachten. Die Apokalypse nahte. Kaum berührten sie den Boden, stürmten die Engel den Hügel hinauf, auf die Hütten zu. Gelbgrüne Gesichter mit weit aufgerissenen Augen tauchten in den Eingängen auf und wichen sofort in die Schatten zurück. Die Schritte der Engel wurden länger. Sie erhoben die Waffen. Kein Kriegsschrei ertönte, wie es bei Sterblichen der Fall gewesen wäre. Nur die zischenden Fackeln und schweren Tritte kündigten sie an. Blauweißes Licht erhellte die Gegend und erleuchtete die finsteren Eingänge der Hütten. Plötzlich ertönte hinter ihnen ein lautes Knirschen, von einem Aufprall gefolgt. Das Schiff war gelandet. Krachend fiel die Laufplanke herab, und der kriegerische Schrei der menschlichen Soldaten erfüllte die Luft. Inzwischen hatten Urza und der Erzengel die erste Türöffnung erreicht. Sie stürmten hinein und standen in einem Gang, der eine Biegung vollführte. Als sie um 367
die Ecke bogen, fielen zwei Schwertklingen auf sie herab. Die erste traf den Erzengel am Schulterblatt. Die zweite glitt an Urzas gepanzerter Seite ab, ehe die Waffe klirrend zu Boden fiel. Die Angreifer - zwei wie junge Männer aussehende Wesen - wichen ängstlich zurück und hoben die Hände, um die Augen vor dem grellen Licht zu schützen. Beide umgab ein häßlicher grüner Schein. Ein Zauber glitt aus den Fingerspitzen des Engels, und Blitze durchbohrten Arme und Beine der Gegner. Eine Sekunde später regnete es verbrannte Fleischfetzen. Weiße Energieströme sprangen von den verkohlten Leichen auf und wurden von den Fackeln aufgesaugt. Ohne zu zögern sprang der Engel über die Körper hinweg und betrat den nächsten Gang, der sich wie eine Spirale in die Tiefe bohrte, genau ins Herz der schwebenden Insel hinein. Urza folgte ihm. Die übrigen Kämpfer taten es ihm nach. Zwei Wächter postierten sich rechts und links der Eingangstür. »Sie hausen da unten in Kälte und Finsternis und haben Angst vor dem Licht, vor der Wahrheit«, hatte Radiant gesagt, während sie gelangweilt an einer Scheibe Röstbrot knabberte. Ihren Worten folgte ein bedauerndes Seufzen. »Es scheint, als wäre die Luft, die uns einst ernährte, für sie reines Gift.« Der Erzengel führte Urza und seine Gefährten den Gang hinab, der in einen großen Raum mündete. Der Rauch von fünf kleinen Feuern stieg zu Löchern in der Decke empor. Der Raum war bis auf ein paar Decken und Schlafmatten leer. In einer Ecke lagen Abfälle und abgenagte Knochen herum. Auf allen Seiten zweigten schmale Gänge ab, die in die Finsternis führten. Der Erzengel stellte sich in die Mitte des Raumes und bedeutete seinen Truppen, die Gänge zu erforschen. Paarweise verschwanden die Krieger in der Dunkelheit. Fackeln leuchteten auf. Entsetzte Schreie erklangen. Blitze zuckten. Krieger kehrten zurück. 368
Zuverlässig, schnell und skrupellos. Aber hier stimmte etwas nicht. Je tiefer sie in die Höhle eingedrungen waren, um so schwächer wurde der phyrexianische Gestank, bis er schließlich völlig verschwand. Hastig flog Urza den Rächern voraus in einen der Gänge hinein. Die Juwelenaugen durchdrangen die Finsternis. Er sah eine durch und durch menschliche Familie, die sich in eine winzige Nische drückte - Mutter, Vater und Kind. Phyrexianer erschufen keine Schläfer, die wie Kinder aussahen. Die Menschen klammerten sich aneinander und preßten sich gegen den unnachgiebigen Fels. Entsetzt starrten sie Urza an und murmelten verzweifelte Gebete. Dann trafen die Rächer ein. Sie drängten Urza beiseite. Die Fackeln tauchten die Wände in blauweißes Licht, und Urza sah seinen Schatten, der riesengroß und bedrohlich über die kleine Familie fiel. Im Licht der Seelenfackeln schimmerte die Haut der Menschen grünlich. Ein Axthieb spaltete den Kopf des Vaters, und ein Speer durchbohrte Mutter und Kind gleichzeitig. Rotes Blut quoll aus den Wunden, ehe die Blitze die Toten zerrissen. Rauch stieg auf, und die Geister verließen die Überreste der Menschen und wurden von den Zauberfackeln aufgesogen. Einer der Engel sprach einen Zauberspruch. Glühende Sandkörner glitten über die Felswände und suchten nach Geheimtüren. Da keine entdeckt wurden, stießen die Rächer den Pfiff aus, der das erfolgreiche Ende ihrer Arbeit anzeigte, schulterten die Waffen und marschierten mit ihren Gefährten an den Wachen vorbei zur Tür hinaus. Urza folgte ihnen. Er eilte auf den Erzengel zu, der im Mittelpunkt der Höhle schwebte, und blieb vor ihm stehen. »Die Fackeln funktionieren nicht! Sie lassen auch menschliche Haut grün aussehen.« 369
Der Engel antwortete unbeeindruckt: »Wir haben keine bessere Vorgehensweise.« »Ihr tötet euer eigenes Volk! Ihr tötet Menschen und Engel, aber keine Phyrexianer!« »Es ist unser persönlicher Krieg«, erinnerte ihn der Erzengel. »Ich rieche die Feinde sofort.« »Wir können dich nicht wie einen Bluthund in jeden Bau schicken ...« »Ihr könnt aber auch nicht fortwährend Unschuldige umbringen ...« »Das hast du früher auch getan ...« »Ich tat es im Kampf gegen Phyrexia!« »Phyrexia ist hier. Das hast du selbst gesagt!« »Der Gestank ist nicht hier. Er ist im Palast.« Plötzlich wußte er, daß er zuviel gesagt hatte. Als die Blitze aus den Fingerspitzen des Engels sprühten, betrat Urza den Raum zwischen den Welten und wanderte in die Hallen des Chaos. * * * Er landete in der Vogelhalle. Im Augenblick war er allein. Radiants Thron war leer. Die anwesenden Engel und Wachen standen auf Balkonen, die mehrere hundert Fuß unter ihm lagen. Er war allein, bis auf zahllose Zaubersprüche, die lautlos in der Luft schwebten. Ihre magischen Fühler glitten über ihn hinweg und verschwanden in den runden Marmorwänden. Er wartete auf Radiant, ihre Leibwache und auf alle, die der Alarm aufschreckte. In den allessehenden Fenstern sah er Bilder von Mord und Totschlag. Die Armee arbeitete ohne Unterlaß. Ein Feuerball tauchte vor ihm auf. Die Flammen loderten grell. Eine Gruppe Engel flog auf ihn zu, umringte ihn und richtete die Speerspitzen auf Urza. Sie kam. Egal, welche Zauber sonst noch auf dem 370
Palast lagen - ein Alarm, der die Königin herbeirief, war auch darunter. Sie erschien, auf einem kleinen Thronsessel sitzend. Das lange Haar und die Flügel hingen traurig herab. Als sie die Staatsgewänder über den großen Thron breitete, tauchte eine dunkle Gestalt hinter Urza auf. Kriegsminister Gorig setzte seine hohe Gestalt aus Luft zusammen und schritt zum Rande der Plattform. Seine zitronengelben Augen sahen den Weltenwanderer wütend an. »Wem verdanken wir dein Eindringen?« fragte Radiant verärgert. »Verzeihe mir meine Unverschämtheit«, sagte Urza und verneigte sich übertrieben tief, »aber es handelt sich um einen Notfall.« »Du solltest unsere Armee auf dem Säuberungsfeldzug begleiten«, sagte die Königin. »Ich habe dich bestens informieren und ausrüsten lassen. Die Krieger kämpfen noch. Warum bist du hier?« »Deine Säuberungstruppen töten Engel, Menschen und Phyrexianer«, erklärte Urza mit eindringlicher Stimme. Er zeigte auf die Bilder in den Fenstern. »Sieh nur! Schau es dir an!« Unwillkürlich sah Radiant hinüber und wich entsetzt zurück; die brutalen Szenen spiegelten sich in ihren hellen Augen. Gorig blinzelte ungehalten. »Bei Feldzügen muß man immer damit rechnen, daß Unbeteiligte Schaden nehmen. Auch in Kornfeldern gibt es Unkraut. Wenn man das Unkraut ausreißt, rupft man hin und wieder auch ein paar Ähren mit ab. Läßt man das Unkraut aber stehen, ist bald das ganze Kornfeld verloren.« »In der großen Höhle witterte ich keinen einzigen Phyrexianer, und doch wurde jedes Lebewesen umgebracht. Menschen. Engel. Keine Phyrexianer, und trotzdem mußten sie sterben.« Gorigs Antwort hörte sich wie ein Knurren an. »Es waren Dissidenten. Verräter. Verbündete der Feinde, bis 371
auf den Körper Phyrexianern gleichzusetzen. Du weißt nichts von den Verbrechen gegen das Reich, die sie begingen, und so hast du kein Recht, über ihr Schicksal zu urteilen. Hier geht es um einen privaten Krieg.« »Wenn ihr die Flüchtlinge loswerden wollt...« »Die Dissidenten!« verbesserte ihn Radiant scharf. »... die Dissidenten. Ich werden ihnen in Dominaria Platz zum Leben anbieten.« Radiants hübsches Gesicht verzog sich vor Abscheu. »Du würdest sie in deine Welt bringen, obwohl du weißt, daß sich feindliche Schläfer in ihrer Mitte befinden?« »Ja«, sagte Urza ohne zu zögern. Die Antwort überraschte auch ihn. »Ich würde mein bestes tun, um jeden Phyrexianer zu vernichten, aber mir ist lieber, die unschuldigen Menschen überleben, auch wenn sich ein Feind unter ihnen verborgen hält.« Radiant warf ihrem Kriegsminister einen fragenden Blick zu. Mit haßerfüllter Miene sagte Gorig: »Wie kannst du es wagen, so etwas auszusprechen? Wenn auch nur ein Feind überlebt, könnte das den Untergang einer ganzen Welt bedeuten!« »Das weiß ich sehr gut«, erwiderte Urza mit grimmigem Gesichtsausdruck. »Trotzdem gilt das Angebot. Königin Radiant, erlaubst du mir, dir das Flüchtlingsproblem abzunehmen?« Die Herrscherin trug wieder das übliche ausdruckslose Gesicht zur Schau. »Ich denke, es würde uns Schwierigkeiten ersparen und die Armee schonen, wenn die Dissidenten einfach verschifft...« »Nein!« unterbrach Gorig sie. »Niemand geht! Die Türen des Reiches bleiben allen verschlossen. Niemand reist aus.« Urza wollte widersprechen, aber er schwieg, denn er hatte plötzlich begriffen, was vor sich ging. »Niemand außer mir.« 372
Noch während er über die Schwelle in den Raum zwischen den Welten trat, hörte er Gorigs Wutgebrüll: »Kehre zurück, und du wirst getötet! Du bist ein Staatsfeind, Weltenwanderer! Du bist ein Phyrexianer!« * * * »Phyrexianische Schläfer leben in Serras Reich«, erklärte Urza, während er in seinem Arbeitszimmer auf und ab schritt. »Sie verändern das Reich, um von dort aus die Invasion Dominarias vorzubereiten, aber nicht so, wie wir dachten.« Magiemeister Barrin saß am Tisch. Die Schatten des Raumes legten sich um seine Schultern. Durch das Fenster sah man in der Ferne den beinahe vollendeten Rumpf des Luftschiffs. »Die Schläfer haben zur Rebellion aufgerufen und einen Bürgerkrieg begonnen. Im Palast herrscht große Furcht. Ihr Anführer ist Kriegsminister Gorig, der alle Debatten und Gespräche verboten hat, die einst zum Palastleben gehörten. Er ersetzte sie durch Strafen und Terror. Täglich erklärt er immer mehr Bewohner zu Verrätern und verweist sie des Palastes. Allerdings können sie die Himmelswelt nicht verlassen, sondern fliehen zu halbzerstörten Inseln am Rande des Reiches. Dort werden sie wie wilde Tiere gejagt und getötet. Unterdessen wird die Himmelswelt kleiner und kleiner.« Barrin war verblüfft. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Und wie soll das einer Invasion hilfreich sein?« »Weißes Mana!« rief Urza. »Phyrexia hat einen Weg gefunden, es aufzusaugen und in schwarzes Mana zu verwandeln. Beim Töten der Flüchtlinge ernten sie weißes Mana und saugen es mit Zauberfackeln auf, die es speichern, bis es nach Phyrexia gebracht wird. Zwischen den einzelnen Feldzügen leert Gorig den In373
halt der Fackeln in einen Seelenbehälter. Serras Welt wird immer kleiner, und Phyrexias Macht wächst. Gorig erlaubt niemandem die Ausreise, da er alle Seelen einsammeln will.« Ungläubig schüttelte Barrin den Kopf. »Sie ernten Seelen ...« Er sah Urza an. »Um wie vieles ist das Reich geschrumpft?« Nachdenklich rieb sich Urza das Kinn. »Es ist bereits unter den kritischen Punkt gesunken. Ein Zusammenbruch ist unausweichlich.« »Wenn das gesamte weiße Mana von Gorig gesammelt wird und Phyrexia erreicht...« »... sind wir verloren«, beendete Urza den Satz. Barrin hielt es nicht länger auf dem Stuhl. Er sprang auf und warf dabei den Stuhl um. Aufgeregt lief er hin und her. »Wenn wir Gorigs Manavorräte finden und in den Kraftstein Eures Schiffes umleiten ...« Ein erstaunter Blick huschte über Urzas Gesicht. »Ich kann kaum glauben, was Ihr da vorschlagt! Das ist wie in Argoth - die Seelen anderer zu benutzen, um meinen Privatkrieg zu betreiben.« »Nein.« Barrin winkte ab. »Es ist ganz anders. Hier geht es nicht länger um einen Privatkrieg, Urza. Ihr erntet keine Seelen. Ihr würdet sie wiederbeleben. Sie sind bereits verloren. Ihr würdet sie zurückholen, vor Phyrexia retten und sie im Herzen des Schiffs zu neuem Leben erwecken. So hätten sie die Chance, ihren eigenen Tod zu rächen.« »Vielleicht«, murmelte Urza. Seine Augen funkelten, als er an vergangene Untaten dachte. »Vielleicht.« »Das ist kein zweites Argoth«, versicherte Barrin. »Es ist zu spät, um Serras Welt zu retten. Die Feinde haben sie bereits zerstört, aber Ihr könntet das Volk retten.« Urzas Stimme klang nachdenklich, als er den Gedanken aufgriff: »Ich finde heraus, wo Gorig die See374
len aufbewahrt. Sie befinden sich noch im Reich, vielleicht sogar im Palast. Aber er weiß, daß ich zurückkehre. Er weiß, wonach ich suche. Also wird er die Verteidigung verstärken. Ich habe nur wenig Zeit. Vielleicht kann ich bei jedem Versuch ein paar Flüchtlinge mitbringen. Wenn sie sich an einem Ort versammeln, kann ich jeweils Hundert mitnehmen - aber es sind Tausende.« Er sah auf. Die Kristallaugen funkelten vor Unternehmungslust. »Wir brauchen das Schiff, Barrin. Sobald ich den Seelenbehälter finde, brauche ich das Schiff, um die restlichen Flüchtlinge zu transportieren. Wie lange wird es dauern?« »Der Rumpf ist fast fertig. Motor und Maschinen sind bereits eingebaut. Inzwischen werden Jhoira und Karn den Kraftstein vervollständigt haben. Wir müssen nur noch eine Besatzung ausbilden. Findet den Seelenbehälter. Ich würde sagen, wir sind in einem Monat abflugbereit. In drei Wochen, wenn wir Tag und Nacht arbeiten.« «Ich finde die Seelen, rette alle Überlebenden, die ich sehe, und behalte die anderen im Auge.« Barrin grinste zufrieden und rieb sich die Hände. »Ich dachte, Euer Sieg über die Monster in der Schlucht wäre der krönende Höhepunkt Eurer Laufbahn gewesen, doch Ihr habt schon viele Kriege geführt, und töten kann jeder. Aber um zu retten, bedarf es wahrer Größe, Urza, wahrer Größe.« * * * Kräne standen um das hochkant stehende Luftschiff herum. Flaschenzüge liefen durch gewaltige Metallklammern. Terd trat gegen den Fuß eines Krans, kratzte sich verdutzt am Kopf und brüllte seinen grauhäutigen Kameraden Befehle zu. Sie umringten ihn und starrten verwirrt auf den Fuß des Metallriesen, der nur zu Dreivierteln und nicht ganz auf dem 375
Stein stand, der als Untergrund diente. Während seine Arbeiter hinabschauten, breitete Terd ruckartig die Arme aus. Beinahe wäre die ganze Goblingruppe hintenüber gefallen. Nach ein paar zornigen Rufen wandten sie sich den Tauen zu, die den großen Kran festhielten. Diago Deerv und Barrin beugten sich über Pläne, die sie auf einem Klapptisch ausgebreitet hatten. Sie diskutierten über Drehmoment und Höhentauglichkeit. Diago versicherte dem Magier, daß die Metallstäbe durchaus in der Lage waren, zwei Luftschiffe zu halten. Wenn an einer Stelle ein Schwachpunkt zu erwarten war, dann bei dem Gewirr aus Tauen. Mit vorgestülpter Unterlippe entgegnete Barrin, daß tolarischer Hanf außergewöhnlich stark und reißfest sei. Ein zweiter, aus Stein gefertigter Tisch stand ganz in der Nähe. Vier Läufer umringten ihn, wahrend ein wachsamer Skorpion unter ihm hockte. In der Luft kreisten nicht minder wachsame Falken. Man hatte ein schwarzes Tuch über den Tisch gebreitet, unter dem eine mannshohe Gestalt lag. Karn stand am Kopfende des Tisches. Obwohl er sich nicht bewegte, glitten seine Augen nervös über die versammelten Studenten, Echsenmenschen und Goblins, die an den Tauen hingen. Jhoira spürte seine Anspannung und sagte: »Ganz ruhig, Karn. Heute weilen keine Phyrexianer unter uns.« »Der Stein ist von unschätzbarem Wert. Nicht bloß ein Phyrexianer würde ihn gern in die Hände bekommen.« »Man würde ein Mammut brauchen, um ihn zu transportieren«, beruhigte ihn Jhoira. »Ich fühle mich erst besser, wenn er im Motor steckt«, murmelte Karn. Verwundert schüttelte sie den Kopf und neckte ihn: 376
»Dauernd beschwerst du dich, daß du keine wichtige Arbeit erledigen darfst. Hast du aber eine wichtige Aufgabe, machst du dir nichts als Sorgen.« »Das ist sicher ein Fehler in meiner Gefühlsmatrix«, antwortete er ernsthaft. Ein Ruf scholl von den Goblins herüber. Schlaffe Seile spannten sich. Der Rumpf des großen Schiffes knarrte, als die Taue es in entgegengesetzte Richtungen zogen. Der lange, schmale Leib zitterte in dem Gerüst, das das Trockendock bildete. Der Bug schwankte dreihundert Fuß hoch im Himmel, dann senkte er sich dem Horizont entgegen. Die Goblins stießen aufgeregte Schreie aus, und die Taue bebten unter der schweren Last. Die gebogenen Metallklammern gaben ein wenig nach. Magiemeister Barrin sandte blaue Energiestrahlen aus, die sich um besonders gefährdete Stellen wickelten, aufgesogen wurden und zusätzlichen Halt verliehen. Das Heck des Schiffs, das bis jetzt auf dem Boden geruht hatte, hob sich, und eine Reihe Bullaugen und ein Symbol, das wie ein übergroßer Samen aussah, kamen in Sicht. »Der Wettersamen«, sagte Jhoira und deutete hinauf. »Ja«, stimmte Karn zu. »Multani sagt, das Schiff ist fertig, aber unvollständig«, fuhr Jhoira fort. »Es lebt und wächst noch immer. Es ist sowohl eine Maschine als auch ein Lebewesen.« Karn schwieg. Jhoira sah ihn durchdringend an. »Du bist nicht länger allein, Karn. Urza hat seine zweite lebendige Maschine gebaut.« »Nein, Jhoira, da irrst du dich. Ich bin ein denkendes, fühlendes Geschöpf, aber ich bin nicht lebendig. Das Schiff ist Urzas einzige lebendige Maschine. Es wächst immer weiter und verschmilzt mit immer 377
neuen Teilen. Ich wachse nicht. Ich löse mich allmählich auf. Jhoira seufzte schwer. »Auflösen - das geschieht mit uns allen.« Masten und Sparren, die seit Monaten seitlich aus dem hochkant stehenden Schiff geragt waren, zeigten jetzt himmelwärts. Mit einem endgültigen Schauder und einem dumpfen Krachen landete der Rumpf auf den am Boden liegenden Bohlen. Die straff gespannten Seile erschlafften, und die Arbeiter, die bisher mit aller Kraft an ihnen gezogen hatten, ließen sie erschöpft fallen. Wissenschaftler, Magier, Arbeiter und das Schiff selbst stießen einen Seufzer der Erleichterung aus. Das zum ersten Mal auf dem Kiel liegende Schiff sah vor den hohen grünen Bäumen groß und stark aus. Langsam schritten die Zuschauer näher und sahen ehrfürchtig zu den glänzenden Bullaugen und den eleganten Umrissen empor. Dann schallten die ersten Befehle durch die Luft. Arbeiter lehnten Leitern gegen die Seiten des Rumpfes und kletterten an Bord. Laderampen wurden befestigt. Waffenmeister eilten zu den im Bug und im Dollbord eingelassenen Geschützen hinüber. Meister Barrin erhob sich in die Luft und schwebte entlang der Reling, um das Schiff von allen Seiten zu betrachten. »Nun, Karn, dann laß uns den Stein einbauen«, sagte Jhoira. Sie zog das schwarze Tuch zurück und enthüllte einen massiven und wunderschön gestalteten Kristall, der - genau wie der Wettersamen - die Form einer länglichen Raute hatte. Er fing das Sonnenlicht ein und warf es in blendend hellen Strahlen zurück. Karn bückte sich, hob den schweren Stein auf und hielt ihn gegen den Oberkörper gepreßt. Die Kombination aus Kristall und Silber war überwältigend. Karn sah völlig verändert aus - ein aus Blitzstrahlen bestehender Mann. Ehrfürchtig schritt er auf die Rampe zu, die auf 378
das Schiff führte, von einer Leibwache aus vier Läufern umgeben. Jhoira blieb zurück, durch den Anblick überwältigt. Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß Karn und das Luftschiff zusammengehörten. Sie waren nicht zwei Generationen von Erfindungen, sondern ein Kontinuum. Vielleicht war es Karn nicht bewußt - vielleicht hatte auch Urza es nicht bedacht -, aber der Silbermann und das Schiff würden gemeinsam durch die Zeit reisen, beide als Teile eines Vermächtnisses. * * * Urza kauerte in einer dunklen Kammer in Serras Palast. Gorigs Truppen hatten ihn aufgespürt und kamen immer näher. Ihre schweren Schritte dröhnten auf dem Marmorboden. Er hatte den Seelenbehälter noch nicht gefunden. Er hatte nicht einmal entdeckt, wo Gorig die aufgeladenen Seelenfackeln aufbewahrte. Die Zeit wurde knapp. Plötzlich traten die Soldatenstiefel gegen die schwere Holztür. Urza wich zurück. Er betrat den Weltenkorridor und tauchte im abgelegensten Winkel von Serras Reich wieder auf. Der Palast war nur noch ein dunkler Fleck in der Ferne. Vor ihm bildeten die geschrumpften Inseln ein Chaos aus Erde und Felsen. Eine goldene Regatta aus Luftschiffen und Engelsflügeln flog auf ein Flüchtlingslager zu. Die leuchtenden Seelenfackeln hinterließen dünne Rauchfahnen in der Luft. Dort, dicht unter einer grasbewachsenen Böschung, wo sich Gestrüpp an die Ruinen eines Tempels klammerte, lag der Eingang der Höhle. Mit einem Gedanken verschwand Urza und tauchte vor dem finsteren Loch wieder auf. Mit schnellen Schritten trat er ein. Eine Handvoll junger Leute schrak bei seinem An379
blick zusammen und fuhr herum. Einer von ihnen stolperte über seine zerfetzten Gewänder und fiel hin. Die vier anderen warfen dem Eindringling ihre Speere entgegen. Der Weltenwanderer beschrieb mit der Hand einen weiten Bogen, und die Waffen prallten gegen eine unsichtbare Mauer. Klappernd landeten sie auf dem Boden der Höhle. »Spart sie euch für die Säuberungsarmee auf«, riet ihnen Urza. »Ob ihr wollt oder nicht: Ich bin euer Verbündeter. Ich werde jeden mitnehmen, der an einen sicheren Ort fliehen will.« Eilig lief er den schmalen Gang entlang, während ihm die jungen Leute verdutzt nachsahen. Schließlich raffte sich eine von ihnen - eine Engelkriegerin - auf und flog ihm nach. Urza lief unbeirrt weiter. Sie rief ihm nach: »Wer bist du?« »Ich bin Urza, der Weltenwanderer!« Die Schallwellen griffen den Ruf auf und trugen ihn den Flüchtlingen entgegen, die im Inneren der Höhle um ein Feuer kauerten. Ohne Pause fuhr er fort: »Radiants Armee ist da. Die Krieger töten jeden, den sie finden. Wer entkommen möchte, soll sich hinter mich stellen.« Leere Blicke waren die einzige Antwort. »Wir haben keine Zeit. Wenn ihr leben wollt, kommt her.« Obwohl die meisten Leute - schmutzige Menschen und mutlose Engel - am Feuer blieben, erhoben sich ein paar Jüngere zögernd und kamen auf Urza zu. Hinter ihm vernahm man das Klirren von Waffen und die schweren Schritte der Krieger. Schnell liefen weitere Höhlenbewohner zu Urza hinüber. Die Gruppe war auf zwanzig Flüchtlinge angewachsen, als die ersten Schreie vom Eingang herabdrangen. Jetzt saß niemand mehr am Feuer. Sie flohen zu Urza oder verschwanden im Hintergrund des großen Raumes. »Alle, die nicht mitkommen«, schrie Urza, während 380
er sich auf die bevorstehende Welten Wanderung konzentrierte, »sollten sich zu der Kolonie begeben, die am weitesten vom Palast entfernt liegt - falls sie überleben! Begebt euch zur Arizonkolonie auf der Luftinsel Jobboc. In zwei Wochen komme ich, um euch und alle, die ihr mitbringt, zu retten.« Er bedeutete den ängstlichen Leuten hinter ihm, sich dicht aneinanderzudrängen, und sammelte seine Gedanken. Als die ersten Blitze durch die Höhle zuckten, faltete er seine Begleiter zweidimensional zusammen und verließ mit ihnen die Himmelswelt. * * * Radiant saß auf ihrem Thron in der Vogelhalle. In den letzten Wochen fand sie diesen Platz immer beruhigender. Als Urza sich den Rebellen anschloß, hatte Gorig Radiant endlich davon überzeugen können, die Vogelhalle zu einer Festung umzubauen. Sie ließ ihn den Glasturm mit einem Gitterwerk aus Stahl umgeben. Das reichte ihm nicht. Er wies darauf hin, daß jede flugfähige, mit einer Armbrust bewaffnete Kreatur sie auf dem Thron ermorden konnte, wenn sie einen Bolzen durch das Glas schoß. Radiant sah es ein. Sie gestattete Gorig, dicke Stahlplatten über dem Gitter anzubringen. Natürlich wurde es finster in der Vogelhalle. Die Pflanzen starben. Die Vögel fielen in einen unnatürlichen Schlaf, aus dem sie nicht mehr erwachten. Es wurde kalt und dunkel im Palast, aber nun war sie sicher. Nur die verfluchten Fenster mit ihren brutalen Bildern störten noch. Zum Schluß überredete Gorig die Königin, die Weitsichtzauber aufzuheben und die Scheiben durch Spiegel zu ersetzen. Jetzt saß Radiant im Dunkeln, in Sicherheit. Das einzige Licht stammte von dem Leuchten, das ihre Person umgab. Die Spiegel zeigten ihr nur den eigenen An381
blick. Zum ersten Mal in Jahrhunderten fühlte sie sich auf dem Thron Serras zu Hause. Hier saß sie und blickte in die unzähligen Augen der Königin Radiant. »Herrin«, erklang eine Stimme aus der Tiefe. Das war Gorig. Er stand auf der Audienzplattform. Ein Rasseln bewies, daß er seine Kampfrüstung trug. Aber Radiant vernahm noch einen anderen Laut: das leise Geräusch einer großen, schweren Tasche, die über den Marmorboden geschleift wurde. »Ich habe dir etwas mitgebracht. Etwas, das dich sehr freuen wird.« »Nicht jetzt, Gorig«, sagte sie geistesabwesend. »Ich sehe in die Zukunft. Ich sehe mir in die Augen.« Er klang ungeduldig und dennoch einschmeichelnd: »Schau für einen Augenblick nach unten, und du wirst die Zukunft sehen.« »Nein. Die Zukunft ist hier. Sie ist in meinen Augen. Durch sie wird Urza Weltenwanderer sein Schicksal ereilen. Der Krieg hängt von ihm und mir ab. Ich werde ihn höchstpersönlich bekämpfen. Er wird mir in die Augen schauen, ihre Schönheit erkennen und sich daran erinnern, wie es hier war, ehe er uns den Tod brachte.« »Wir haben heute reich geerntet...« »Ich werde in seine Augen sehen und begreifen, welcher Wahnsinn einen Mann dazu bringt, Teufel in den Himmel zu schleppen und sich auch noch mit ihnen zu verbünden« Plötzlich klang Gorigs Stimme ausweichend. »Ich möchte dir raten, ihm nicht direkt in die Augen zu sehen, Herrin. Sie sind unnatürlich - wie die Augen eines Insekts. Sie werden dich hypnotisieren.« »Nein, Gorig«, erwiderte Radiant mit traurigem Lächeln. »Ich werde ihm in die Augen sehen und er mir. Dann wissen wir, wer von uns recht hat und wer verrückt ist.« »Werte Königin«, bat Gorig, »vergiß Urza für eine Weile. Sieh nur, was ich dir mitgebracht habe!« Seiner 382
Bitte folgte ein lautes Klappern, als enthielte die Tasche, die er hinter sich herzog, hölzerne Bälle. Neugierig blickte Radiant endlich nach unten. Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung auf: »Oh, Köpfe! Das sind mindestens zweihundert Köpfe! Wie schön, Gorig! Wie wunderschön!«
383
Monolog
In den letzten drei Wochen hat Urza vierhundertdreiundzwanzig Flüchtlinge aus Serras Reich geholt. Er schätzt, daß die gleiche Anzahl von Radiants Truppen ermordet wurde. Außerdem geht er davon aus, daß sich Radiants Völkermord nach jedem Eindringen beschleunigt und verstärkt. Alle großen Flüchtlingslager wurden bereits heimgesucht, bis auf die Arizonkolonie auf Jobboc. Dort leben Tausende. Für sie gibt es nur eine Hoffnung: das Luftschiff. Sobald es funktioniert, könnte es die meisten der >Rebellen< aufnehmen. Leider wird es erst richtig funktionieren, wenn wir den Seelenbehälter haben. Urza hat ihn noch nicht gefunden. Er hat Gorigs Privatgemächer durchsucht. Er durchsuchte die tiefsten Gewölbe des Palastes. Er kämpfte sich bis in die am schärfsten bewachten Bezirke des Reiches vor und wieder hinaus. Er fand nichts. Auf einer seiner Reisen war Urza gezwungen, mit einer Engeltruppe zu kämpfen. Als sich der Rauch verzog und die Leichen zu Staub zerfielen, entdeckte er zwölf Manafackeln. Eine Woche lang untersuchten und studierten wir sie bei Tag und Nacht, bis wir den Trick herausfanden. Sie enthielten genug weißes Mana, um den Kraftstein des Schiffs provisorisch in Gang zu setzen. Wir gehen davon aus, daß unser Schiff fliegen, in eine andere Welt überwechseln und ein paar Bolzen verschießen kann, ehe es sich zum Flüchtlingslager begibt. Wir haben die zwölf leeren Fackeln entlang der Reling befestigt. Sie sind durch Kabel mit dem Kristall verbunden. 384
Urza hofft, sie werden der Luft in Serras Reich genug weißes Mana entziehen, um den Stein für einen zweiten Übergang in eine andere Welt aufzuladen mit den Flüchtlingen an Bord. Natürlich wird die Energie nicht dauerhaft erhalten bleiben. Wir brauchen den Seelenbehälter, um unseren Kristall für alle Zeiten aufzuladen. Aber Urza macht sich nicht so viele Gedanken um die Vervollständigung seines Schiffs wie um die Rettung der Flüchtlinge. Er benimmt sich, als wären diese Leute die heutigen Botschafter all der Lebewesen, die während seiner Kriege ums Leben kamen. Vielleicht sind sie es. Vielleicht rettet er sich, indem er sie rettet. Barrin, Magiemeister von Tolaria
385
Der Tag des Stapellaufs war gekommen. Eine riesige Menge hatte sich im tolarischen Wald versammelt, die aus Studenten und Gelehrten, Elfen und Artefakten, Viashinos und Goblins, Engeln und Menschen bestand. Die Hälfte der Anwesenden waren Flüchtlinge aus Serras Reich. Sie setzten alle Hoffnungen auf die Rettungsmannschaft, die im Mittelpunkt der Lichtung stand. Die andere Hälfte hatte jahrelang für diesen Tag gearbeitet. Jetzt war alles bereit. Es blieb nichts zu tun, außer dazustehen und zuzuschauen. Langsam rückte die Menge näher und blieb gerade außerhalb der Reichweite der beiden Drachen stehen. An Bord begab sich Maschinenmeister Karn auf die letzte Inspektionsrunde vor dem Stapellauf. Er schaute durch eine Luke in den Rumpf des Schiffs. Artefakt-Kreaturen standen Schulter an Schulter im Frachtraum: zweihundert Läufer, zwölf Pumas, zweihundert Skorpione und hundert umgebaute yotianische Krieger. Sie sollten die Flüchtlinge verteidigen, wenn sie an Bord gingen. Es war so eng dort unten, daß manche Artefakte nicht einmal richtig stehen konnten. Auf der Rückfahrt würde kein Platz für sie sein. Sie mußten auf Jobboc bleiben, wo man sie gefangennehmen, vernichten oder einschmelzen würde. Urzas Bereitwilligkeit, die Maschinen zu opfern, schien Barrin zu beeindrucken, und er sprach von Urzas neuer Menschlichkeit. Karn empfand keine Freude, sondern Trauer. Er fühlte sich verloren. 386
Schnell schloß er die Luke und wandte sich ab. Mit langen Schritten überquerte er das schmale Deck und schritt zu den Stangen hinüber, auf denen dreihundert Falken hockten und auf Befehle warteten. Sie sollten den Flüchtlingen aus der Luft Deckung geben. Außerdem würden sie nach phyrexianischem Blut suchen, sich auf jeden Verräter stürzen und ihn in tausend Stücke zerreißen. Genauso sollten sie mit jedem Feind verfahren, der die Flüchtenden angriff. Falls die Falken bei der Verteidigung Hilfe brauchten, hatte Urza Bomben mit umgebauten Spinnen an Bord genommen, die ihm die Gegenwart von weißem Mana ankündigen sollten. Er redete davon, Serras Welt zu säubern und alle Flüchtlinge zu retten. Natürlich würden auch die Falken und die Spinnen nicht zurückkehren, dachte Karn düster. Er schritt entlang der Reling, bis er neben den Nebellampen am Bug stand. Sie waren mit Spezialscheiben und Hohlspiegeln ausgerüstet, die das Licht zu starken Strahlen bündelten. Während der ersten Versuche hatte sich gezeigt, daß diese Strahlenwaffen Kleidung und trockenes Holz in zweitausend Fuß Entfernung entflammen und Zeichen in Steine einbrennen konnten. Die Laternenmannschaft bestand aus Goblins, die auf Grund ihrer Vertrautheit mit den Thranstrahlen, mit denen sie in der Kristallwerkstatt arbeiteten, ausgewählt worden waren. Terd und ein Paar graue, kurzbeinige Grabbits hockten neben der Lampe, die Karn eingehend musterte. »Alles in Ordnung hier, Meister!« verkündete Terd und salutierte so heftig, daß seine Finger zwei rote Streifen auf seiner Stirn hinterließen. Karn nickte nur und fuhr mit der Überprüfung fort. »Die Sichtscheibe ist schmutzig.« Terds Augen wurden so groß wie Untertassen. Zornig brabbelte er auf seine Gefährten ein. Dann trat er 387
dem ersten auf den Fuß und zog den zweiten am Ohr. Anschließend sah er Karn mit strahlendem Lächeln an. »Sie ist so sauber, du kannst dein Gesicht drin spiegeln...« Bei dem Wort >spiegeln< verdüsterte sich seine Miene. Er blinzelte bedrückt, »...oder auch nicht. Wir leuchten keinen Strahl auf dein Gesicht. Du glänzt genug und er prallt ab! Tötet dann alle anderen. Wir leuchten dich nicht an. Malzra sagt, Engel haben auch glänzende Gesichter. Wir zielen auf Weißes im Auge. Wenn kein Weißes ...« Karn ließ ihn stehen und ging weiter. Die Splitterwaffen waren Jhoiras Erfindung. Der Gedanke war ihr gekommen, da sie den tödlichen Hagel aus Metallsplittern beobachtete, als ein wenig Wasser in einen Hochofen spritzte. Die Waffen bewarfen den Feind mit Kugeln, die von einer Glashülle bedeckte Energie enthielten. Wenn eine Kugel zersprang, flogen die Splitter heraus. Sie hatte lange getüftelt und gearbeitet, bevor sie Urza ein Modell präsentierte und ihnen die todbringenden Folgen bewußt wurden. Ehe Jhoira erlaubte, daß die neue Waffe in größeren Mengen hergestellt wurde, nahm sie Urza das Versprechen ab, sie nur gegen die ärgsten und furchtbarsten Feinde einzusetzen. Er gewährte ihr diesen Wunsch und übergab ihr gleichzeitig das Kommando über das Luftschiff. Im Augenblick hockte Jhoira neben der letzten Waffe, einem Säuresprüher. Die Maschine bediente sich eines schwankenden Energiefeldes, um die Gegner mit einem Sprühregen aus Säure einzudecken. Karn trat näher. »Funktioniert der Sauresprüher, Käpt'n?« Jhoira zuckte zusammen. Sie starrte den Silbermann an und blinzelte verwirrt, ehe sie sich besann. »Entschuldige, ich habe mich im Geiste auf die bevorstehende Schlacht vorbereitet. Was hast du gesagt?« »Der Säuresprüher, Kapitän«, wiederholte Karn. »Funktioniert er?« 388
Jhoira nickte und verschränkte die Arme. »Ja, aber bitte nenne mich nicht Kapitän. Ich heiße Jhoira. Bloß weil ich das Kommando über das Schiff und die Mannschaft übernommen habe, bin ich längst noch kein Kapitän. Was den Sprüher angeht: Der Regen, der aus diesem Ding fällt, ist genauso tödlich wie ein Feueratem unserer Drachen.« Unwillkürlich sahen beide zu Gherridarigaaz und Rhammidarigaaz hinüber, die auf beiden Seiten des Decks saßen. Auch sie würden für eine Verteidigung der Flüchtlinge aus der Luft sorgen. Urza wollte sie persönlich in das Reich Serras befördern. Der Meister war gerade dabei, den Sattelgurt der Drachenmutter anzuziehen. Barrin packte Zauberstäbe und Bücher in die Satteltaschen ihres Sohnes. Obwohl Jhoira für das Schiff verantwortlich war, leiteten Urza und Barrin das gesamte Unternehmen. Vom Rücken der Drachen aus würden sie mit weißem Mana zaubern. Urza stellte sich in den Steigbügeln auf und brachte die Menge mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Sie werden uns Invasoren nennen«, erklärte er, und der Magiemeister verstärkte seine Stimme mittels eines Zaubers. »Sie werden uns Invasoren nennen, wie sie ihr eigenes Volk Verräter nannten. Sie haben uns sogar als Phyrexianer bezeichnet - so mächtig ist das Netz der Verschleierung, das sie umgibt. Wir hören nicht auf sie. Wir hören auf das, was die Geschichte sagt. Wir retten sie, obwohl sie es nicht verdienen.« Milder Beifall antwortete ihm. »Wir sind keine Invasoren. Wir sind Verteidiger. Wir sind das Bündnis Dominarias. Wir sind Menschen und Unsterbliche, Viashinos und Goblins. Wir sind Erfinder und Magier. Wir sind die Macht des Waldes und der See, der Berge und des Lebens selbst. Wir haben unsere Insel von Phyrexianern befreit, und wir werden auch Serras Reich befreien. Aber was am wichtigsten 389
ist: Wir kehren zurück und nehmen die letzten Flüchtlinge mit - eine neue Armee Verbündeter. Freudenschreie hallten durch die Luft. Menschen, Engel, Echsen, Goblins, Elfen und Artefakte - sie alle jubelten ihm zu, bis der ganze Wald und selbst der Ozean unter den Schreien erbebten. Schließlich wandte sich Jhoira an Karn: »Werft die Maschinen an, Meister.« »Aye, aye, Kapitän!« Karn überquerte das schmale Deck und ging zum Schott. Dort führte eine Treppe in den Rumpf hinunter. Kurz darauf stand er im Maschinenraum. Diago Deerv und drei andere rotschuppige Viashinos nahmen bei seinem Erscheinen ungelenk Haltung an. »Fertigmachen zum Abheben!« befahl der Silbermann. Die Viashinos eilten auf ihre Plätze. Hebel wurden betätigt, Schalter gedrückt und Kurbeln gedreht. Eifriges Geschnatter erfüllte den Raum, als sich die Viashinos gegenseitig Befehle und Hinweise gaben. Inzwischen begab sich Karn an das Schaltpult, über dem ein Sprechrohr hing, das direkt zur Brücke führte. Vor ihm lagen zwei Öffnungen, die bis ins Innere der Maschine reichten. Karn steckte die Hände hinein und tastete nach den Griffen am unteren Ende. Als er sie fand, umklammerte er sie mit aller Kraft. Sie dienten als Anlasser des mächtigen Motors. »Öffnet die Überschußventile!« befahl er. Er drehte beide Griffe nach innen und fühlte, wie sie einrasteten. Es wurde sehr warm. Sekunden später übertönte ein lautes Summen den Beifall der Menge. Metallklammern schlossen sich über Karns Handgelenken. Kleine Drähte glitten lautlos in die Fingergelenke hinein. Energieströme verursachten ein leises Kribbeln in seinen Händen und stiegen durch die Arme und Schultern bis in seinen Brustkorb hinauf, ehe sie Verbindung mit dem Kraftstein in seinem Kopf aufnahmen. 390
Plötzlich spürte Karn, wie sich die grüne Energie ihren Weg durch den gewaltigen Motorblock vor ihm bahnte. Er fühlte die Wärme des glänzenden Kraftsteins im Herzen der Maschine. Er sah die Nebelleuchten, die rings um das Schiff an der Reling hingen. Er spürte das Gewicht und die Form des Rumpfes, der Segel, der Taue und des weiblichen Kapitäns, der am Steuerruder stand. Das Luftschiff war zu seinem zweiten Körper geworden. Die Maschinen, Schaltkreise und Waffen verschmolzen mit dem Silbermann. Unter donnerndem Applaus brachte Karn das Schiff in die Luft. Begleitet vom Flattern der Drachenschwingen erhob es sich. Es flog über Tolaria und drehte am hellen Himmel Dominarias eine Ehrenrunde. * * * Klein und von Ehrfurcht ergriffen, stand Jhoira auf der Brücke des Luftschiffs. Bis jetzt mußte sie noch nicht steuern. Sie stiegen höher und höher. Erst wenn sie eine bestimmte Richtung einschlugen, kam es auf geblähte Segel und Tragflächen an. Das Umklammern des Steuerruders war aus einem anderen Grund wichtig: Es hielt sie aufrecht. Unter ihren Füßen arbeiteten riesige, glühendheiße Maschinen. Sie zogen fünfhundert Artefakte und dreißig Mann Besatzung empor. Sie wollte nicht daran denken, daß das vollbeladene Schiff viertausend Tonnen wog. Sie versuchte zu vergessen, daß es sich um den ersten Flug des Schiffs handelte - die Jungfernreise. Sie versuchte zu vergessen, daß sie das Schiff in einen Krieg gegen Engel steuerte. Ein großes rotes Etwas tauchte über der Reling auf und verschwand wieder. Dann kehrte es zurück: Ein ledriges Gebirge. Die Knochen des Drachen waren deutlich unter der durchsichtigen Flügelhaut zu sehen. Die mächtigen Schwingen bewegten sich auf und ab, 391
und nach dem nächsten Schlag ragte der schwere Kopf von Gherridarigaaz über die Reling hinweg. Eine graue Rauchwolke drang aus ihren Nüstern, als sie schnaubend höher stieg. Urza, der in den Steigbügeln stand, kam in Sicht. Er hielt etwas in der Hand, das wie eine Keule aussah, aber wie ein Zauberstab funkelte. Er wirkte angespannt und konzentriert und trieb den Drachen zum Bug des Schiffs. Irgend etwas ist nicht Ordnung, dachte Jhoira und hielt sich am Steuerrad fest. Es hat sich etwas losgerissen, oder etwas, das sich lösen sollte, klemmt fest. Gherridarigaaz flog zum Bug. Urza beugte sich so weit im Sattel vor, daß er beinahe heruntergefallen wäre. Er schlug mit der Keule nach dem Bug. Zuerst erklang ein dumpfes Dröhnen, dann das Splittern von Glas. »Ich taufe dich auf den Namen Wetterlicht!« rief er und hielt einen zersplitterten Flaschenhals in die Höhe. Der Drache beschrieb einen Bogen und flog davon. Jhoira lachte. Nichts war kaputt, kein Feind nahte. Der Weltenwanderer hatte das Schiff nur getauft und gesegnet. Sie fühlte, wie sich ihre Sorgen und ihre Furcht in Luft auflösten und davonflogen. Sie lachte laut. »Volle Kraft voraus! Folgt dem Drachen!« befahl der Kapitän der Wetterlicht. Gherridarigaaz brauste über die Wälder Tolarias hinweg. Rhammidarigaaz folgte ihr in geringem Abstand. Den Schluß bildete die Wetterlicht. Milder Wind hüllte Jhoira ein. Sie sog die frische Luft in die Lunge und erinnerte sich an den Ort, an dem sie so gerne gestanden hatte - am Rande ihrer Welt. Sie dachte an die Zeit, als sie noch jung und mutig war und von einem Seelenverwandten träumte. Der Mann war nie gekommen, aber auch ohne ihn hatte sie ein erfülltes Leben gehabt, und auch in diesem Augenblick fühlte sie sich jung und mutig. 392
Gherridarigaaz war nur noch ein purpurner Blitz am Horizont. Rhammidarigaaz flog dicht dahinter. Die Wetterlicht holte die beiden schnell ein. Unter Jhoiras Händen erwachte das Ruder zum Leben und zerrte wie ein junges Pferd an den Zügeln. Sie erwiderte den Druck und steuerte das Schiff gegen den Wind. »Segel trimmen!« befahl Jhoira den menschlichen Besatzungsmitgliedern. Hastig zerrten sie an den entsprechenden Tauen. »Bug- und Heckfächer umlegen!« Weitere Gestalten kletterten in die Takelage, um ihren Anordnungen nachzukommen. Mit jedem Ruck an schlaffen Seilen und jedem Umlegen der Segel nahm die Geschwindigkeit des Schiffs zu. Es flog schneller über ein Meer aus Baumwipfeln hinweg als jedes normale Schiff den Ozean überquert hätte. Der Wind, der immer heftiger wurde, drohte die leichteren Besatzungsmitglieder über Bord zu wehen. Terd und seine Freunde drückten sich eng an die Reling. Seile vibrierten im Luftzug. Der Rumpf ächzte leise. Jhoira lächelte. Sie hatten Urza und Barrin fast eingeholt. Als sie die Küste Tolarias erreichten, paßten die Reiter die Geschwindigkeit ihrer Drachen dem Schiff an. Gherridarigaaz und Rhammidarigaaz flogen Flügel an Flügel und ließen regelrechte Luftstrudel hinter sich zurück. Jhoira steuerte die Wetterlicht genau hinein. Der Wind fuhr mit unerwarteter Brutalität über das Deck. »Haltet euch fest!« rief Jhoira ihren Leuten zu. »Wir fliegen langsamer, sobald wir Serras Welt erreichen.« Bis jetzt waren sie nah beieinander geblieben. Urzas Weltenwanderung reichte gerade aus, um beide Drachen mitzunehmen, und die Wetterlicht vermochte ihm nur zu folgen, wenn alle Zeitschwingungen übereinstimmten. Unter ihnen lagen die weißen Schaumkronen des Ozeans, über ihnen glitten graue Wolken dahin. Die Luft schien fest zu werden und an Segeln, 393
Rumpf und Metall zu zerren. Auch am Kapitän und am Steuerrad, aber Jhoira glühte vor Begeisterung. Eine magische Luftblase quoll aus Urzas Mund. Sekunden später hatte sie beide Drachen umhüllt. Sie leuchteten auf und verblaßten allmählich. »Weltenwechsel!« schrie Jhoira. Eine zweite Blase stieg aus dem Herzen des Schiffs empor. Der magische Vorhang hüllte sie ein, und das Meer und der Himmel verschwammen vor ihren Augen. Dominaria verschwand mit Donnergetöse. Schwarzes Chaos ersetzte die Helligkeit. Hinter der Schiffsreling lag eine Welt der Leere. Außer den Drachenschwingen war nichts zu erkennen. Plötzlich änderte sich die Szenerie: ein endloser, düsterer Himmel, über den dünne Schwefelwolken zogen, und trostlose Erdklumpen, die unter ihnen schwebten. »Serras Reich«, sagte Jhoira in den brüllenden Wind hinein. Der Rand von Serras Reich. Sie griff in eine Vertiefung im Deck und zog eine in Glas eingebettete Karte der Inseln heraus. Die Zeichnung stammte eindeutig von Urza. Sie war bis ins Detail ausgearbeitet und übersichtlich. Drei ungewöhnliche Inseln stachen hervor. Die eine hatte die Form einer Birne und drehte sich um die eigene Achse. Die zweite war lang und flach wie ein großes Messer aus Stein. Die dritte, die ganz am äußersten Ende der Welt lag, war die Insel namens Jobboc. Dort warteten tausend Flüchtlinge in der Arizonkolonie auf ihre Rettung. »Beschreibt eine schnelle Drehung nach Steuerbord auf fünfundneunzig, drei achtundzwanzig, acht. Wir fliegen nach Jobboc.« Die Besatzung trimmte die Fächersegel, und unter Deck lenkte Karn die restliche Energie in den Landevorgang. »Auf mein Zeichen hin alle dreißig Sekunden Spinnenbomben abwerfen.« Die Mannschaft beeilte sich, die ersten Salven bereitzuhalten. 394
Terd kletterte die Leiter zur Brücke empor und zupfte aufgeregt an Jhoiras Ärmel. »Sie sind da! Fliegende Blitze!« Jhoira schaute in die Richtung, in die er mit zitterndem Finger wies. Backbord bot sich ihr ein schöner und gleichzeitig schrecklicher Anblick. Wie Goldstaub schimmernd, flog Radiants Säuberungsarmee auf sie zu. »Zielen!« * * * , »Sie haben die ersten Spinnenbomben abgeworfen!« rief Barrin. Er lenkte Rhammidarigaaz in weitem Bogen neben Gherridarigaaz. »Gut!« antwortete Urza. »Bald werden wir wissen, gegen wen wir kämpfen.« Er schaute nach links, zu Radiants Truppen hinüber. Ihre Flügel verursachten ein dumpfes Dröhnen. »Was denkt Ihr, wie viele es sind?« »Hunderte!« rief Urza. »Vielleicht Tausende! Wir müssen jeden Vorteil nutzen!« Er breitete die Hände aus und rief das weiße Mana aller Orte, die er in dieser Welt betreten hatte, zu sich. Weiße Blitze schossen aus seinen Fingerspitzen und breiteten sich in unzähligen dünnen Linien über die beiden Drachen aus. Energie durchströmte sie. Der Zauber ließ Schuppen wie Daunenfedern aussehen und rote Haut so bunt wie einen Regenbogen. Aus häßlichen Kreaturen wurden Fabelwesen von fast göttlicher Anmut, beängstigend ob ihrer Kraft und Schönheit. Mit einem zweiten Stoß weißen Manas umgab Urza sich und Barrin mit etwas, was wie ein wirbelnder Kreis aus Schneeflocken aussah. »Das wird uns vor weißen Manasprüchen und Kreaturen schützen«, erklärte er. Barrin, der nicht mit Serras Reich vertraut war, bediente sich nicht weißen, sondern blauen Manas. Er rief ein Paar tolarischer Drachen herbei. Die riesigen 395
Verwandten der Feuerdrachen hatte glatte Haut, so durchsichtig wie der Ozean. Die Flügel hoben sich mit ihrem leuchtenden Blau deutlich gegen die gelben Wolken ab. Der Wind fegte durch ihre Mähnen, die steil emporstanden. Barrin griff tief in seine Erinnerungen zurück und dachte an die tolarischen Wälder. Er dachte an Jhoiras Engelswald und an die Schnellzeitdschungel der Westküste. Dann warf er einen Zauber auf die beiden Kreaturen. Grüne Schuppen breiteten sich über ihre Leiber aus, die ihnen zusätzlichen Schutz gegen magische und andere Attacken boten. »Eindrucksvoll!« brüllte Urza. »Ich habe noch ein Meerungeheuer in Reserve, wenn wir nicht mehr weiter wissen. Das würde allerdings meine Manavorräte erschöpfen.« Es blieb keine Zeit für weitere Gespräche. Das Dröhnen der immer näher rückenden Armee hatte sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm entwickelt. Aus goldenen Punkten waren flammende Pfeile geworden. Radiants Engelarmee war da. Sie nahten mit der Geschwindigkeit jagender Falken. Vierzig Erzengel führten die Krieger an. Jeder von ihnen hielt ein Magnaschwert in der Hand, so breit wie eine Axt und so lang wie eine Lanze. Die Erzengel beschrieben einen aufrechtstehenden Kreis und hielten die Schwerter auf dessen Mitte gerichtet, wie spitze Zähne in einem Mund. Hinter ihnen schwebten Hunderte mit Lanzen bewaffnete Kriegerengel. Radiants Armee erinnerte an ein Seeungeheuer, das sein riesiges Maul öffnete, um die Eindringlinge zu verschlingen. »Wir treffen uns auf der anderen Seite wieder!« schrie Urza und warf sich in den Hagelsturm aus weißen Zähnen, silbernen Masken und blitzendem Stahl. Auf der anderen Seite wovon? fragte sich Barrin verwundert. Die Engel kreisten ihn ein. Magnaschwerter trafen das blasse Maul des Dra396
chen und den schuppigen Nacken. Die Zauber bewährten sich, und die Schläge prallten wirkungslos ab. Dennoch arbeiteten sich die Angreifer immer näher an den Reiter heran. Barrin riß heftig am Zügel. Rhammidarigaaz warf sich herum und wandte den Engeln die Breitseite zu. Seine eine Körperhälfte bog sich von den Angreifern fort, während die andere Körperhälfte eine undurchdringliche Wand bildete, an der die Angreifer wie reife Früchte zerplatzten. Barrin trieb Rhammidarigaaz voran. Der Drache schlug mit den Flügeln und schleuderte ein paar Engel beiseite, die sich genähert hatten. Dann flog er auf den Rest der Armee zu. Er atmete aus und schickte den Engeln einen Feuerball entgegen. Sie fielen wie brennende Tauben vom Himmel. Rhammidarigaaz rückte in die entstandene Lücke vor. Seine Flanke war mit Blut besudelt, das größtenteils von den Engeln stammte, obwohl er ein paar tiefe Schnittwunden erlitten hatte. Schnell wirkte Barrin einen Heilzauber, und weiße Manafäden nähten die Wundränder zusammen. Der Drache spie erneut Feuer. Wieder gingen Engel in Flammen auf. Silberne Masken brannten sich in zerfetzte Gesichter. Magnaschwerter verschmolzen mit Skeletten. In der Ferne richteten die Flammen, die Gherridarigaaz ausstieß, nicht weniger Schaden an. Die blauen Drachen waren nicht so erfolgreich. Ihr Dampfatem tötete viele Gegner, aber die unzähligen Schwerthiebe setzten ihnen arg zu. Urza sandte ihnen einen weißen, heilenden Manastrahl, doch der Zauber eines Erzengels fing ihn noch in der Luft ab. Gerade begann Barrin mit einem eigenen Heilzauber, als sich eine Horde kreischender Engel mit gezückten Schwertern auf ihn stürzte. Schnell murmelte er einen anderen, ihm vertrauten Spruch. Eine Flamme 397
schoß aus seinen Fingerspitzen und traf einen Erzengel im Gesicht. Barrin wiederholte den Spruch und verstärkte ihn. Der dritte Zauber bohrte sich in die Seite eines Engels, durchschlug die Rüstung und schoß auf der andern Seite wieder hinaus. Drei Gestalten fielen vom Himmel, aber zwanzig andere klammerten sich an den Rücken seines Drachen und griffen mit unverminderter Heftigkeit an. Schwere Klingen prasselten auf Barrin nieder. Sie trafen ihn im Nacken, am Kopf und am Rücken. Durch die magische Rüstung prallten sie jedoch erfolglos ab, als hätten sie auf einen Felsen geschlagen. Barrin sandte Rhammidarigaaz in einen plötzlichen Sturzflug, der die Engel ins Leere schlagen ließ und den Feueratem auf andere Feinde lenkte. Begeisterung ergriff den Magiemeister - bis er wieder die blutenden Flanken der tolarischen Drachen sah. Sie flogen unter und hinter ihm. Die Zauber waren verpufft, und die blauen Körper von unzähligen Wunden bedeckt. Noch immer umringten mordlustige Engel die beiden Kreaturen, bis deren Flügel schließlich nachgaben und sie in die Tiefe stürzten. Hastig wichen die Angreifer zurück. Bedrückt ließ Barrin Rhammidarigaaz angreifen, und der feurige Atem und die stahlharten Flügel vernichteten Hunderte. Der Magier wob Zauber um Zauber und säte Tod auf allen Seiten. Er wollte so viele Feinde wie möglich so schnell wie möglich umbringen, damit sie sich nicht auf die Flüchtlinge stürzten. Urplötzlich tauchte eine schwarze, groteske Gestalt zwischen den Engeln auf, die sich ungeachtet aller Manazauber auf Barrin stürzte. Mit ausgebreiteten Flügeln und gefletschten Zähnen fiel ein Phyrexianer vom Himmel auf Rhammidarigaaz' Nacken. Er richtete sich auf, und Barrin erkannte die gelben Schlitzaugen, von denen Urza ihm erzählt hatte. 398
Ansonsten war der Mann völlig verändert. Er hatte einen muskelbepackten Körper, der mit zahllosen Implantaten und Waffen bestückt war: Hellebarden an den Armen, Dolche an den Fußspitzen und Sensenklingen an den Ellenbogen. Die gefährlichste Waffe steckte im Oberkörper - ein schwarzes Ansaugrohr, das an zwölf Stellen in dem weißblauen Feuer der Seelenfackeln erglühte. Er sog weißes Mana auf, hortete es und benutzte es teilweise, um Veränderungen an sich vorzunehmen. Mit jeder Kreatur, die er tötete, nahm seine Macht zu. Gorig war selbst der Manabehälter. Barrin blieb keine Zeit mehr. Gorig sprang auf ihn zu. * * * Karn spürte die nachlassende Kraft der Wetterlicht in jeder Faser seines Körpers. Die Seelenfackeln entzogen der Luft nicht genügend weißes Mana, um den Stein wieder aufzuladen. Er ruhte schwach leuchtend in seiner Fassung. Das Schiff hatte genug Energie zum Fliegen, die vielleicht auch für ein paar Schüsse ausreichte, aber keinesfalls für eine zweite Weltenwanderung. »Wir brauchen mehr Fackeln, Jhoira!« rief er in das Sprechrohr über seinem Kopf. Der traurige und matte Klang seiner Stimme wurde durch das Metallrohr noch verstärkt. »Um die Flüchtlinge zu retten, brauchen wir mehr Energie.« »Verstanden. Auf die Landung vorbereiten!« lautete die knappe Antwort. Unterhalb des Schiffs - Karn sah die Welt immer noch durch die Strahlenwaffen am Bug und am Heck trieb die Luftinsel namens Jobboc als düsterer Schatten vor dem helleren Hintergrund aus Schwefel und Dunst. Sie wirkte nicht besonders einladend. Das ewige Licht von Serras Reich drang nicht bis hierher 399
vor. Die lebenspendende Luft war dünn und verbraucht. Der äußere Rand der Welt lag nur eine Meile hinter der schwarzen Insel. »Geschwindigkeit mindern!« befahl Jhoira. Langsam verringerte Karn den Druck seiner Hände auf die Hebel. »Höhe mindern!« Die Segel erschlafften, das Heck hob sich ein wenig, und der mächtige Kiel senkte sich. Die große Insel geriet in Karns Blickfeld. Im Zwielicht erblickte er eine Landschaft voller Hügel und Felsen. Tote Wälder aus vertrockneten Bäumen bedeckten die Hänge. Es sah wie ein Land der Schatten aus, wie eine Insel der Toten. »Laternen ahoi! Schiff neben den Lichtern landen lassen!« Mit den Augen der Wetterlicht sah Karn das flackernde Licht der Öllampen. Im schwachen Schein erblickte er einen hohen Torbogen - den Eingang zur Arizonkolonie. Das Licht wurde von irgend etwas, das sich innerhalb des Torbogens befand, zurückgeworfen. Es sah fast so aus wie ein Haufen Wespeneier, die in einem Nest aus Schlamm steckten, aber Sekunden später erkannte Karn mit einer Mischung aus Entsetzen und Staunen, daß es sich um ... Gesichter handelte, um Tausende von Gesichtern, die auf eine Rettung hofften. Karn bediente sich der Energie seines eigenen Kraftsteins, um das Schiff über die Hügel zu bringen und neben dem Torbogen zu landen. Eine finstere Schlucht führte an einem Geröllfeld und abgestorbenen Bäumen vorbei. Die Wetterlicht schwebte darüber hinweg und landete mit einem sanften Ruck. Das Beben des Rumpfes durchlief auch Karns Körper. »Laderaumluken öffnen! Falken freilassen! Läufer, Skorpione und Pumas an Land schicken! Waffen bereit zum Feuern!« Jhoiras Stimme klang plötzlich sehr eindringlich. 400
Als Karn durch die Buglaternen spähte, sah er den Grund dafür. Ein goldener Wirbelsturm aus Kriegerengeln senkte sich auf sie herab. * * * Urza stand in den Steigbügeln. Die tolarischen Drachen waren ausgefallen und sanken in die graublaue Tiefe hinab. In einigen Meilen Entfernung verglühten sie endgültig. Nur eine Meile tiefer ... Schon vor ihrer Ankunft war die Welt sichtlich geschrumpft, jetzt nahm sie noch schneller ab. Urza zog hart an den Zügeln und trieb Gherridarigaaz zum Angriff. Engel wurden von seinem Feueratem auseinandergetrieben und stürzten in die Tiefe. Mit jedem toten Engel schrumpfte die Welt ein wenig. Je erbitterter die Drachen kämpften, um so weniger Zeit blieb ihnen. Schon bald erreichte der Manamangel die kritische Grenze, und der Zusammenbruch stand unmittelbar bevor. Jedes Lebewesen würde vernichtet werden. »Feuer einstellen!« brüllte Urza. Er lenkte den Drachen in einem Bogen von der Armee fort. »Zu Rhammidarigaaz und Barrin!« Gherridarigaaz senkte den Kopf und flog zu ihrem Sohn hinab. Dabei mußte sie sich durch ganze Wolken von Engeln zwängen, aber sie hielt den tödlichen Atem zurück. Magnaschwerter trafen den gepanzerten Rücken. Manche fügten ihr trotz des Schutzzaubers Wunden zu. Urza heilte sie, noch ehe sie sich richtig gebildet hatten. Dennoch wurde Gherridarigaaz von Schmerzen gequält. Sie brüllte auf, und Rauch quoll aus ihren Nüstern. Kaum vermochte sie das Feuer zurückzuhalten, das hinter ihren Nüstern tobte. Also richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren Sohn und den Kampf, der 401
ihn umgab. Drei Flügelschläge brachten sie an seine Seite. Urza rief Barrin zu: »Aufhören! Zur Wetterlicht!« Blitzschnell drehten sie ab. Die Drachen bahnten sich ihren Weg durch Luft und Engel gleichermaßen. Zischend glitt die Luft an ihnen vorüber. Der dichteste Schwärm Krieger stob davon. Gherridarigaaz schoß voran und glitt in die graue Leere. Vor ihr lag die Insel, auf der sie die Lichter der Wetterlicht sah. Im Vergleich zu dem goldenen und weißen Glanz der Seelenfackeln und Kriegerengel wirkten sie gedämpft. Noch eine Armee. Urza trieb seinen Drachen zu größerer Geschwindigkeit an. Noch während sie sich der Insel näherten, erblickte er den immer dichter werdenden Vorhang aus Finsternis am Rande der Welt. Ihnen blieb weniger Zeit, als er geglaubt hatte. * * * Jhoira half einem schwankenden alten Mann an Bord der Wetterlicht. Er war in Lumpen gekleidet, hatte das Gesicht vor Anstrengung verzerrt und verschloß die Augen vor dem schrecklichen Kampf, der nicht weit entfernt tobte. Jhoira fragte sich, wie jemand auf den Flüchtlingsinseln überleben konnte, noch dazu ein alter schwacher Mann. Wie alt war er gewesen, als man ihn auf die schwebenden Elendsinseln verbannte? Vielleicht lebte er seit Jahren hier, vielleicht schon seit seiner Geburt. »Schnell, Väterchen!« drängte sie. »Begib dich so weit wie möglich hinein.« »Gibt es dort, wo wir hinfliegen, Sonnenlicht?« fragte er und blieb sekundenlang auf der Treppe stehen. »Ja, Sonne, Wasser und Wälder - alles«, versicherte sie ihm, und er ging weiter. Jhoira starrte zu der langen Reihe Flüchtlinge hinüber. 402
Es waren zu viele. Sie waren zu langsam, zu schwach. Hinter der Höhlenkolonie kam die finstere, knackende Wand immer näher. Bald war es unwichtig, ob es zu viele waren. Schon bald würde der Rand der Welt alles, was jetzt noch vorhanden war, verschlingen. Am Heck sah es schlimm aus. Die Falken kämpften erbittert und warfen Engel aus der Luft auf die am Boden Kämpfenden. Die Reihen der Läufer hatten sich gelichtet. Sie hatten die Bolzen bereits verschossen und rückten den Feinden mit ihren Sichelklingen zu Leibe. Explosionen erfüllten die Luft. Engel und Maschinen zersprangen in tausend Stücke. Seelenfackeln fielen zischend auf den Boden und saugten die vielen hundert Seelen jener auf, die dort gestorben waren. Weißes, teuflisches Licht ging von ihnen aus. Die Zeichen standen schlecht. Selbst wenn jede Maschine einen Krieger vernichtete, würde Radiant sie besiegen, da ihre Armee schier unerschöpflich schien. »Karn, bekommst du genug Energie, um die Strahlenwaffen einzusetzen?« schrie Jhoira. Die Antwort klang dumpf und hohl. »Ich habe kaum mehr Energie zum Abflug.« Jhoira sah zum Schlachtfeld hinüber und dachte nach. Man hatte ihr gesagt, sie dürfe das Schiff als Kommandantin nicht verlassen, aber wenn sie es nicht tat, gab es wahrscheinlich bald kein Schiff mehr. Sie mußten den Stein wiederaufladen, und nur tausend Schritte entfernt lag die notwendige Energie zischend auf dem Boden. »Ich hole ein paar Fackeln«, teilte sie Karn mit. »Ich bringe so viele wie nur möglich zurück.« Karn antwortete langsam - zu langsam -, aber Jhoira wußte, was er sagen wollte. Er verbot ihr, das Schiff zu verlassen. Eigentlich war das Meuterei, dachte Jhoira und ließ sich zwischen die Skorpione fallen. 403
Eine kleine Gestalt sprang über die Reling an ihre Seite. »Ich glaube, du brauchst Beschützer«, sagte Terd und bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten. »Das stimmt«, antwortete sie gerührt. »Je mehr Fackeln, um so besser«, fügte eine zweite vertraute Stimme hinzu. Diago Deerv nickte ihnen zu. »Schließlich hat mein Volk das halbe Schiff gebaut.« Seite an Seite schritten die Frau, der Goblin und der Echsenmann durch einen Wald von Metall auf das Inferno zu. * * * Der Phyrexianer fiel krachend auf Barrin, brach ihm ein paar Rippen und riß ihn aus dem Sattel. Der Magiemeister von Tolaria rollte über die ausgebreiteten Flügel und landete schwerverletzt auf dem Ellenbogen des Drachen. Sein Kopf dröhnte, und er vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. Brüllend fegte der Wind über ihn hinweg. Er klammerte sich an den Flügel und schüttelte den Kopf, um die Schmerzen zu vertreiben. Mit gefletschten Zähnen hockte Gorig im Sattel. Lange, mit Stacheln besetzte Beine hielten den Insektenkörper aufrecht. Die zwölf Öffnungen des Seelenabsaugrohrs glühten hungrig und gierig. Die Flügel breiteten sich aus, und der Phyrexianer setzte zum Sprung an. Der nächste Windstoß brachte die Erinnerung an einen Zauberspruch. Barrin konzentrierte sich auf das ferne Tolaria und baute eine Mauer aus Sturm vor sich auf. Der Feind krachte mit voller Wucht dagegen. Gorig brüllte vor Wut. Hilflos taumelte er rückwärts, fort von dem Drachen und dem Magier. Rhammidarigaaz wurde von dem Sturm hin- und hergerollt. Mit letzter Kraft hielt sich Barrin am Flügel fest. Der Drache setzte zum Sturzflug an und schoß aus dem Schwarm Engel heraus. Der feurige Atem 404
bahnte ihm einen aus Ruß und brennendem Fleisch bestehenden Weg. Barrin war es egal. Er klammerte sich an die ledrige Haut und versuchte, sich Stück für Stück zurück in den Sattel zu ziehen. »Urza hat den Rückzug angeordnet«, stieß Rhammidarigaaz keuchend hervor. »Die Wetterlicht wird angegriffen.« Barrin nickte. Ihm war schwindlig. Endlich erreichte er den Sattel und rang verzweifelt nach Luft. Ein furchtbares Gebrüll erklang hinter ihm. Die Sturmwand war zersprungen. Aus dem Getümmel der Engel schoß der Phyrexianer hervor. Er flog schneller als die Erzengel, die ihm wie eine kreischende Wolke folgten. Egal, ob Engel oder Teufel - bis auf den letzten Flügel, den letzten Stab, das letzte Magnaschwert waren alle davon besessen, Barrin, den Magiemeister von Tolaria, zu vernichten. Es war ihm egal. Er hielt sich fest und starrte auf die Schlacht, die rings um die Wetterlicht tobte. Wenn er Urza erreichte, war das Schiff vielleicht noch zu retten.
405
Monolog
Der Tod ist gar nicht so schlimm, wenn man schwere Verletzungen erlitten hat, sich an den brennenden Rücken eines Feuerdrachen klammert und durch einen Himmel fliegt, der wie die Hölle aussieht. Der Tod ist gar nicht schlimm. Barrin, Magiemeister von Tolaria
406
Die ersten Reihen waren so dicht mit Engeln und Skorpionen bestückt, daß Jhoira gegen die eigenen Leute ankämpfen mußte, um sich einen Weg hindurchzubahnen. Schließlich packte sie den Stachel eines vor ihr stehenden Skorpions und zog sich daran auf seinen Metallrücken hinauf. Sobald sie sicheren Halt fand, ließ sie ihr Schwert auf die Epaulette eines Engels niedersausen. Der Gegner war flink. Seine Seelenfackel schnellte empor und schlug die Klinge beiseite. Dem Hieb folgte ein Dolchstoß. Jhoira wich zurück und trat gegen die Waffenhand. Der Engel wankte seitwärts, und sie stieß mit dem Schwert zu. Die Seelenfackel kam genau auf ihr Gesicht zu. Verzweifelt bemühte sie sich, sie mit dem Schwert abzufangen, aber sie war zu langsam. Zischend berührte die weißblaue Flamme ihr Gesicht. Instinktiv sackte Jhoira auf dem Rücken des Skorpions zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Sie erwartete, verbrannte Haut zu berühren. Sie war jedoch unverletzt! Die Fackel stieß gegen den Stachel des Skorpions. Dadurch rutschte sie aus der Hand des Engels und fiel mit der Spitze genau auf die offene Wunde des Engels. Mit einem weißblauen Blitz saugte sie seine Seele auf, und er sackte leblos zusammen. Die Fackel loderte hell auf. Jhoira kroch über den Rücken des Skorpions und riß sie an sich. Gerade noch rechtzeitig, um einen Schwerthieb abzufangen. Die breite Klinge glitt zur Seite und versetzte dem Skorpion einen tiefen Schnitt 407
in den Rückenpanzer. Jhoira richtete sich auf. Ein Erzengel stand vor ihr und bemühte sich, das Magnaschwert aus dem zusammenbrechenden Skorpion zu ziehen. Sie rammte ihm die glühende Fackel unter die Silbermaske, genau zwischen Kehle und Unterkiefer. Der Erzengel erbebte und wand sich im Todeskampf. Mit wild schlagenden Flügeln hauchte er sein Leben aus. Die Fackel zitterte, als sie die Seele des mächtigen Wesens einsog. Jhoira biß die Zähne zusammen, damit sie den viel zu heißen Griff nicht losließ. Der Engel bäumte sich noch einmal laut brüllend auf und ließ die eigene Fackel fallen. Jhoira warf ihren Dolch fort, um sie aufzufangen. Wie ein großer Baum im Sturm fiel der leblose Körper des Gegners hintenüber. Die Flügel schleiften über den Boden. Jhoira atmete auf und sah, wie Terd zu dem gefallenen Riesen hinüberlief und drei weitere Fackeln aufhob, die zwischen den Toten lagen. Sie quollen über vor Energie, da sie die Seelen Hunderter aufgesogen hatten. Terd benutzte den zerfetzten Zipfel seiner Hemdbluse, um die heißen Griffe festzuhalten. Als er sich umdrehte, lief ein Krieger mit erhobener Waffe auf ihn zu. Ein drohendes Fuchteln mit den Fackeln scheuchte den Angreifer in die Reihen seiner Gefährten zurück. Jhoira packte Terd am Kragen und zerrte ihn fort. Sie wiederum wurde von Diago am Kragen gepackt und weggerissen. Sekunden später schlug ein Feuerball an der Stelle ein, wo Jhoira und der Goblin gestanden hatten, und riß den zerstörten Skorpion in einen Krater aus verbrannter Erde hinab. »Ich habe zwei Fackeln«, keuchte der Echsenmann, dessen Schuppen vor lauter Hitze senkrecht standen. »Du hast zwei, der Goblin hat drei. Das sollte reichen. Wir müssen zum Schiff zurück.« »Ja!« stimmte Jhoira atemlos zu. »Zurück zum 408
Schiff! Das reicht für einen Flug, ein paar tödliche Schüsse ... vielleicht sogar zum Weltenwandern.« Sie sah zur Wetterlicht hinüber. Sie lag wie ein festlich erleuchteter Palast auf dem Hügel, vor den Höhlen von Arizon und der dunklen Masse der Flüchtlinge, die auf das Schiff drängten. Dahinter rückte der finstere Vorhang des Chaos immer näher an Jobboc heran. »Vielleicht sogar zum Weltenwandern ...« * * * »Gebt auf!« rief Urza mit dröhnender Stimme. Ein heller Schein umgab den Reiter, der auf Gherridarigaaz' Rücken saß. Drache und Reiter stiegen in einer leuchtenden Manasäule vor den kämpfenden Engeln und Falken nieder. »Stellt den Kampf ein oder ihr werdet getötet! Ich bin Urza Weltenwanderer!« »Zittert vor ihm!« erklang eine höhnische Stimme aus der Engelhorde heraus. Radiant flog auf ihn zu. Auch sie war von einem hellen Schein umgeben, der dem Urzas in nichts nachstand. Sie war von Erzengeln umgeben; vier schwebten vor ihr, vier hinter ihr und vier waren an ihrer Seite. Ihr Erscheinen ließ die Kämpfenden innehalten. Sie war wunderschön und gleichzeitig furchterregend. »Erzittert vor diesem aufsässigen Götterkind, dem Vernichter der Welten, dem Zerstörer der Völker! Urza ist gekommen, meine Kinder, und wenn Urza erscheint, folgt ihm der Tod auf dem Fuße.« »Ich bin gekommen, um euch dem Tod zu entreißen! Ich bin gekommen, um die Flüchtlinge mitzunehmen, die ihr verstoßen habt!« rief Urza. »Laßt uns in Frieden ziehen, dann töten wir niemanden mehr!« »Es ist zu spät für Verhandlungen. Dein Krieg läßt unsere Welt zusammenbrechen.« Radiant wies mit dem Stab auf die Wand aus Dunkelheit. »Zuerst 409
bringst du die Phyrexianer hierher, und dann bringst du uns das Ende.« Urza hob seinen Kampfstab. »Vergib mir, werte Dame. Es stimmt, ich brachte Phyrexia hierher, aber du hast dem Feind eine Heimat gegeben, als du Gorig zum Kriegsminister machtest. Die Zauber, die du wirktest, um den Gestank Phyrexias aus dem Palast zu vertreiben, sind die Zauber, die Phyrexia den Aufenthalt ermöglichten und dich gegen dein eigenes Volk aufbrachten. Deine Welt schrumpft nicht meinetwegen, sondern wegen deiner Seelenfackeln, die das Leben deines Volkes und deiner Welt für Phyrexia horten. Deshalb naht das Chaos. Deshalb stirbt deine Welt.« In der unheimlichen Stille war nur das gelegentliche Schlagen eines Flügelpaares zu hören. Und das dumpfe Dröhnen der finsteren Wand, die eine Insel nach der anderen verschlang. »Kommt mit uns - ihr alle! Kommt dorthin, wo alle Guten leben dürfen und die Phyrexianer unter dem Glimmermond sterben. Komm mit, Radiant. Beende den sinnlosen Krieg und begleite uns.« Sie schien zu überlegen, und ihr Gesicht sah unter der goldenen Haarpracht unvergleichlich schön aus. Dann antwortete sie, und ihre Worte kündeten von Tod: »Tötet sie! Tötet sie bis auf den letzten Mann!« Radiant setzte ihren Befehl sogleich in die Tat um. Aus den ausgestreckten Händen schoß eine Energiewelle genau auf Urza zu. Sie war zu schnell, um sie aufzuhalten, und zu groß, um ihr zu entfliehen. Sie würde ihn nicht töten, aber ihn lange genug lähmen, um den Engeln Gelegenheit zu geben, ihm den Garaus zu machen. Gherridarigaaz richtete sich auf. Der uralte Feuerdrache breitete die mächtigen Schwingen wie einen Schild vor Urza aus. Er mußte sich an den Sattel klammern, um nicht herunterzufallen. 410
Die Welle traf Gherridarigaaz in Bauch und Brustkorb. Schuppen, Haut und Muskeln zerplatzten. Sie loste sich auf, als bade sie in Säure. Sekundenlang hingen fleischlose Rippen in der Luft, ehe sie als weißer Schleim herabtropften. Gherridarigaaz stieß ein letztes Heulen aus, ehe sich Lunge, Kehle und Kopf auflösten. Auch die Flügel verschwanden. Als die Welle abgeklungen war, lagen nichts als eine Wirbelsäule, Schulterblätter und ein halbes Becken am Boden. Sie hatte sich geopfert. Die höchste Ehre unter den Echsenmenschen. Urza schaffte es, sich aus dem Sattel zu werfen, bevor sich der Drache gänzlich auflöste. Auch er brüllte aus voller Kehle. Er brüllte, als wäre sie seine Mutter gewesen. Die Zeit der Verhandlungen war vorbei. Die Zeit der Zurückhaltung und der Vernunft war vorbei. Die Zeit des Tötens war gekommen. Mit magischer Kraft stürzte sich Urza auf die Tyrannin des Himmels. Radiant erwartete ihn. Sie schwebte in der Luft und freute sich auf den Kampf. Ihre Augen glühten. Die schmalen Hände bewegten sich vor und zurück, als wolle sie sich verneigen. Unter ihren Fingerspitzen standen reihenweise Erzengel auf und wandten sich Urza zu. Furchtlos griff er an. Mit einem Gedanken verflüssigte er seinen Körper. Ein Schwarm von Magnaschwertern fiel auf ihn herab. Die breiten Klingen klirrten. Sein Kopf schüttelte sie ab wie eine Kanonenkugel. Die Erzengel, die ihre Waffen nicht verloren, gerieten ins Wanken. Die anderen ließen die Schwerter fallen. Einigen wurden die Arme abgerissen. Urza stürmte an ihnen vorbei und hielt auf Radiant zu. Ein schwächeres Wesen hätte der Angriff in Stücke gerissen, aber Radiant hatte ihn erwartet. In der Se411
kunde des Aufpralls wich sie zurück und packte den Weltenwanderer. Mit heftig schlagenden Flügeln riß sie ihn mit sich. Spitze Fingernägel kratzten über sein Gesicht und schienen ob des undurchdringlichen Schutzes überrascht. Dann strichen seidenweiche Hände über seine Rippen, und Blitze bohrten sich in seinen Körper. Sie suchten Nerven, Muskeln und Knochen und entfachten einen Sturm in seinem Inneren. Er zitterte haltlos. Elektrizität erfüllte ihn. Bis auf das Zittern war er unbeweglich. Mit einem grimmigen Lächeln trug ihn Radiant an der brodelnden Schlacht der Engel und Falken vorbei in die Höhe. »Du bist nicht willkommen, Urza, heute nicht und niemals sonst!« Die weichen Hände wurden stahlhart. Sie warf den Gelähmten in die Luft, in die sich immer tiefer senkende Decke aus Chaos. Während des Fluges zuckten die letzten Blitze über ihn hinweg. Ein weißer Wirbelsturm stieg von Radiants ausgestreckten Händen in die Höhe und trug Urza wie eine geballte Faust empor. Er landete krachend in der Finsternis. Das Chaos riß Muskeln von Knochen. Er war ebenso schnell verschwunden wie vorher der Drache. Der Sturm verging, und Urza Weltenwanderer war spurlos verschwunden. Radiant schüttelte den Kopf und rieb sich die Hände. Plötzlich fühlte sie etwas zwischen diesen Händen. Urza nahm Gestalt an. Eine Hand hielt ihren Unterkiefer fest. Ein Arm umschlang ihre Hüfte. Nicht länger flüssig, erwiesen sich die Glieder als unerbittlich und unentrinnbar. Er riß sie herum und zerrte sie wieder hinab in die Schlacht, auf die armseligen Flüchtlinge und das riesige Schiff zu. Er zwang sie, genau hinzusehen. »Schau hin, Radiant! Sieh dir an, wen du umbringst. Sieh dir an, was aus dir, geworden ist.« 412
»Ich weiß, was ich bin!« keuchte sie. »Und ich weiß, was du bist!« Schnell beschwor sie ein paar Zauber, die sie genau für einen solchen Notfall vorbereitet hatte. Sämtliche Schutzmaßnahmen fielen von Urzas Kopf ab. Ihre Finger wurden so spitz und lang wie gebogene Dolche. Sie stieß sie in seinen Schädel hinein, wo sie sich durch die Knochen bis in das Gehirn bohrten. Urza brüllte auf und setzte die zerstörten Partien wieder zusammen. Aber sie war noch nicht fertig. Die Finger wurden zu Krallen. Sie gruben sich durch die weiche graue Masse und zerstörten die Stirnhöhle und die Augenhöhlen. Dann schlossen sie sich um die Kristalle, die seine Augen waren. Mit einem brutalen Ruck zog sie sie heraus. Blind und taub, mit zerrissenem Schädel, kämpfte Urza gegen furchtbare Qualen an. Er klammerte sich an Radiant. Sie allein hielt ihn aufrecht. Er mußte sich heilen. Er mußte sich neu zusammensetzen. Es ging nicht. Ein Teil seiner selbst - der einzige Teil, der nicht durch seine Vorstellungskraft bestand - war ihm entrissen worden. Die Kristalle waren sein Ich. Sie waren der Grund für den Bruderkrieg gewesen: Machtstein und Schwachstein. Seit der Explosion von Argoth waren sie seine Augen. Seitdem er ein Weltenwanderer war, waren sie seine Augen. Sie waren der Kern seines Wahnsinns, seiner Macht. Im Todeskampf - ja, er starb, denn seine Macht war auch seine Schwäche - erkannte Urza, wie ähnlich er Karn war. Sie beide bestanden nur durch die Steine in ihren Köpfen. Sie lebten mit ihnen und starben ohne sie. Machtstein und Schwachstein - sie waren Urzas Herz und Verstand. Ohne sie war er nicht lebensfähig. Radiant wußte es. Triumphierend hielt sie die 413
schrecklichen Steine in die Höhe, außerhalb der Reichweite des Sterbenden, und sie lachte. »Gorig hat mir von den Steinen erzählt. Er sagte, du wärest wie Xantcha. Sie hatte ein phyrexianisches Herz, und du hast phyrexianische Augen. Gorig mußte nur in diese Augen sehen und wußte, daß du verrückt bist und ich recht hatte. Jawohl! Dies ist der Augenblick meines Triumphes. Ich habe den Phyrexianer in meinem Reich gefunden, Urza! Du bist es!« Sie lächelte boshaft, aber Urza sah es nicht. »Ich habe gewonnen, du Wahnsinniger!« sagte Radiant und schaute in die glänzenden Kristalle. Auf den blutbeschmierten Flächen spiegelte sich der allmählich nachlassende Kampf. »Meine Arbeit ist beendet. Gorig wird deine Truppen und unsere Rebellen vernichten. Er säubert mein Reich. Das ist seine Aufgabe. Er wird auch dein Schiff erobern - was für eine Erfindung! Und mit diesen Kraftsteinen, den Augen Urzas, werde ich den Himmel erhalten.« Sie sah auf den im Todeskampf zuckenden Körper hinab. »Es gefällt mir, dir das alles ins Ohr zu flüstern, während du stirbst. Vielleicht nehme ich dich mit. Ja, damit kann ich sicher sein, daß du auch wirklich tot bist.« Mit diesen Worten murmelte sie einen letzten Zauberspruch und flog davon. Sie nahm den Machtstein, den Schwachstein und den sterbenden Weltenwanderer mit. * * * Vor dem Bug der Wetterlicht tobte die völlige Vernichtung. Das Chaos riß Erde, Felsen und Bäume ins Nichts, ins absolute Nichts. Hinter dem Heck des Schiffs tobte ein anderer Kampf. Engel verwandelten sich in Dämonen und zerrissen die Artefakte, die hoffnungslos verloren waren. Beide Schlachten rückten näher und umkreisten das überfüllte Schiff. »Kein Platz mehr!« brüllte Terd, der an der Luke 414
stand. Sein kleiner Fuß trat auf die Schulter eines Flüchtlings, als könne er sie dadurch enger zusammenpferchen. »Dann sollen sie an Deck stehen!« antwortete Jhoira unwirsch. Sie hob die dritte Seelenfackel über das Kabelgewirr. Sie hatten Planken neben dem Ruder abgerissen, um den Punkt freizulegen, an dem die Kabel zum Kristall führten. Bei jeder Planke war ein Beben durch das Schiff gelaufen, als füge man ihm eine Wunde zu. Darunter verliefen zahlreiche Drähte und Kabel, die ins Herz der Maschine führten. Jhoira holte tief Luft und senkte die zischende Fackel, bis sie die Drähte berührte. Mit einem Blitzschlag entleerte sie sich, und die Spitze verfärbte sich schwarz. »Wie sieht's aus?« rief sie Karn durch das Sprechrohr zu. »Besser«, ertönte die metallische Stimme. »Fast genug zum Abheben. Wir sind überladen. Wir brauchen mehr Energie, um das Schiff aufrecht zu halten. Wie viele sind es noch?« »Noch zwei Fackeln.« Jhoira warf die leere Fackel beiseite und ergriff die nächste. »Nein, ich rede von den Flüchtlingen.« Als die Energie herausströmte, musterte Jhoira das zum größten Teil gefüllte Deck und die Menge, die noch immer über die Laufplanken strömte. »Zu viele. Viel zu viele.« »Sie kommen!« brüllte Terd. Er klammerte sich an die Reling und deutete zum Himmel empor. Engelhorden schwebten herab. »Feuer marsch? Feuer marsch?« Jhoira hob die letzte Fackel. »Feuer! Feuer!« Die Nebelleuchten erwachten unter Goblinfingern zum Leben. Rote Doppelstrahlen schossen heraus und bohrten sich in die Reihen der Feinde. Feuer brach aus. Der Angriff geriet ins Stocken. Kriegsschreie verwandelten sich in Schreie der Verzweiflung. 415
Jhoira warf einen Blick über die Schulter. Die letzten hundert Passagiere rannten die Stege herauf und warfen sich an Deck. Sekunden später war die Wetterlicht voll beladen. »Laufplanken wegwerfen! Stützen fortschieben! Anker lichten! Zum Abflug bereithalten!« Blauweiße Energie strömte durch die Kabel. Jhoira sprang zurück. Sie ergriff das Ruder und rief: »Hart backbord, Karn. Eins fünfundsechzig, einunddreißig, sechzehn! Nebelleuchten, räumt uns den Weg frei! Haltet euch fest!« Ein Schauder der Erwartung lief durch die Menge und durch den Rumpf. Der Schauder ging in ein Stöhnen über. Die Maschinen erwachten zum Leben. Knirschend löste sich der Kiel vom Boden. Beim ersten Ruck sackten viele Passagiere ungeschickt zusammen. Bedächtig und umständlich hob sich die Nase der Wetterlicht. Grelle Energieströme glitten ins Herz des Kristalls hinein. Das Heck drehte sich gefährlich nahe an dem Vorhang aus Dunkelheit. »Hart backbord!« brüllte Jhoira. Das Schiff drängte aus der Gefahrenzone. Die Flüchtlinge an Deck hielten sich an der Reling fest oder klammerten sich aneinander. Mit einem gewaltigen Satz entfernte sich das Schiff von dem planetaren Dunkel. Beifall erklang, der aber sogleich erstarb, als die neue Gefahr offenbar wurde. Horden von Engeln und Erzengeln näherten sich mit gezückten Magnaschwertern, um die Flüchtenden wie ein reifes Kornfeld niederzumähen. »Hinlegen! Alle hinlegen!« befahl Jhoira. »Feuert nach Belieben!« Tödliche Strahlen schossen aus den Nebelleuchten und zeichneten feurige Linien an den Himmel. Der Säuresprüher entleibte jedes Wesen, das nicht aus dem Weg sprang. Engel fielen vom Himmel, und ihre Seelen strömten den Fackeln zu, die entlang der Reling 416
befestigt waren. Mit jedem neuen Toten nahm die Geschwindigkeit der Wetterlicht zu. Leider vernichteten die Strahlen nicht alle Feinde, und Engel schwebten über die Reling an Deck. Magnaschwerter leuchteten auf. Flüchtlinge kreischten. Blut sprudelte. »Splitterfeuer! Strahlenfeuer! Kämpft! Kämpft alle!« Mit Schwertern, Kanonen und bloßen Fäusten griff die Besatzung an. Viashinos, Menschen und Goblins alle kämpften erbittert. Die Geschütze spuckten gewaltige Geschoßwolken aus, die jeweils Hunderte von Engeln töteten. Rote Lichtstrahlen brannten sich durch Federn und Muskeln bis auf die Knochen. Dennoch kamen immer neue Feinde zum Vorschein. Der Himmel schien einen unermeßlichen Vorrat an Mordengeln zu besitzen. Seele um Seele ergoß sich über die Fackeln in den Kraftstein der Wetterlicht, der neue rote Strahlen hervorbrachte, die unbarmherzig töteten. Jeder Tote nährte ihn. »Schneller, Karn!« rief Jhoira. »Durch sie hindurch. Weltenwanderung!« Aus dem Sprechrohr erklang keine Antwort, nur das Brüllen der Maschinen und der Geruch glühenden Metalls. * * * Radiant begab sich in ihren Thronsaal, ihr Refugium. Gorig hatte Spiegelzauber an die Wände geworfen, und seitdem betrachtete sie den Raum als Zufluchtsort. Hierher brachte sie den sterbenden Feind und die Juwelen, die sein Leben waren. Die Entscheidung, was mit Urza geschehen sollte, war einfach. Sie schleuderte die leblose Gestalt auf eine Plattform hinab. Urza interessierte sie nicht mehr. Er war nur die Hülle gewesen, die die Kristalle umgab. Jetzt lag er wie ein zerbrochenes Spielzeug auf dem Boden. 417
Aber die Steine ... Radiant hielt sie in der schmutzigen Hand. Bisher hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, die Klauen wieder in Finger zu verwandeln. Sie gefielen ihr recht gut, so furchterregend sie auch waren. So sahen sie sehr mächtig aus und reflektierten den Glanz der Steine, die noch mit dem Blut des Weltenwanderers bespritzt waren. Radiant sah auf. Die Spiegel zeigten ihr, wie eine Siegerin aussah. Überall aus der Dunkelheit schaute ihr die eigene Schönheit entgegen. Ein ganzer Wald aus Augen sah sie an - nicht länger nur ihre Augen, sondern auch die Augen Urzas. »Du warst wie Serra, nicht wahr?« sagte Radiant. Ihre leise Stimme zog ein schier endloses Echo hinter sich her, »Du konntest in diesem Raum sehen, auch als die Fenster noch da waren. Du hast die Visionen des Thronsaals begriffen. Du konntest es. Deine Augen besaßen eine Facette für jedes Fenster. Und nun gehören sie mir.« Urza bewegte sich nicht. Blut und Gehirnmasse tropften auf den Boden. »Gorig wird traurig sein, daß er nicht zur Stelle war, um deine Seele einzusammeln«, erklärte Radiant bedauernd. »Aber ich habe deine Augen. Wunderschöne Augen.« Die Kristalle rollten auf ihrer Handfläche hin und her. Erst jetzt bemerkte sie die unregelmäßige Bruchstelle an beiden Steinen. Natürlich hatte sie gewußt, daß der Machtstein und der Schwachstein zwei Hälften eines Ganzen waren, doch nun wurde sie neugierig, wie sie zusammengefügt aussehen mochten. Sie nahm jeden Kristall in eine Hand und betrachtete sie eingehend. »Es sieht aus, als paßten sie ... genau hier ... zusammen ...« * * * 418
Barrin war mit letzter Kraft und röchelndem Atem in den Sattel gekrochen und klammerte sich fest. Der junge Feuerdrache flog auf eine Truppe Engel zu und von der anderen Truppe fort. Vor ihm kämpfte sich ein Luftschiff, in helles Licht gehüllt, den Himmel entlang. Hinter ihm stürmte ein wahnsinniger Dämon als Anführer eine Höllenarmee dahin. Sie befanden sich an einem einigermaßen friedvollen Punkt zwischen zwei Todesarten, zwischen Qual und Verzweiflung. Barrin wußte, daß er verloren war. Er konnte nicht kämpfen. Er konnte nicht fliehen. Aber er besaß noch einen letzten Zauberspruch und die Kraft, ihn auszusprechen. Er wartete nur noch auf den günstigsten Zeitpunkt. Welche Verwendung war am sinnvollsten? Vielleicht sollte er Radiant dazu bringen, Gorig zu töten, oder umgekehrt, oder ein paar Erzengel zum Selbstmord verleiten, um den Rückzug des Schiffs zu decken. Gorig war mehr als nur ein phyrexianisches Monster. Er war der Seelenbehälter. Plötzlich wußte Barrin, was zu tun war. Er rollte sich auf den Rücken. Aus dem dunklen Himmel schoß Gorig auf ihn herab. Sein Oberkörper glühte in weißblauem Licht. Eigentlich war es ganz einfach, wie eine Rechnung: irgend etwas ähnlich der Geschwindigkeit von A minus der Geschwindigkeit von B, geteilt durch die Entfernung zwischen den beiden im Vergleich zu der Geschwindigkeit von B plus der Geschwindigkeit von C, geteilt durch die Entfernung ... etwas, was Urza durch einen einzigen Gedanken gewußt hätte. Barrin war ein besserer Magier als ein Mathematiker, und das Atmen bereitete ihm Schwierigkeiten, vom Rechnen ganz zu schweigen. Also wartete er, bis der Dämon über ihm schwebte, gerade noch außer Reichweite. Die Augen funkelten, und von den dolchspitzen Zähnen tropfte Speichel auf Barrins Beine hinab. Mit letzter Kraft murmelte der Magier seinen Zauberspruch. 419
Die Wut in den Augen des Monstrums richtete sich von Barrin auf die Wetterlicht, deren Kapitän mitten auf dem Hauptdeck stand. Mit noch größerer Geschwindigkeit setzte das phyrexianische Wesen zum Sturzflug an und hielt auf das umkämpfte Schiff zu. * * * Den Machtstein in der linken Hand, den Schwachstein in der rechten, brachte Radiant die beiden einander näher. Je näher sich die Bruchstellen kamen, um so heller wurde das Licht der Kristalle. Sie schienen in Radiants Händen zu glühen und warfen ihren Schatten groß und bedrohlich an die Wände der Vogelhalle. In einer Million Spiegel sah sie ihr - durch das Licht veränderte - Spiegelbild. Ein böses Lächeln umspielte ihre Lippen. »Solche Macht. Solche Macht.« Sie brachte die Steine noch näher zusammen. Die Helligkeit verdoppelte sich und brachte starke Hitze mit sich. Aus jeder Facette erhoben sich die Strahlen. Sie prallten gegen die Spiegel und schossen kreuz und quer durch den Raum. Die ganze Vogelhalle schien zum Inneren eines Juwels geworden zu sein, das Radiant funkelnd umhüllte. Licht erhellte jede noch so dunkle Ecke. Es fiel auf die zerstörten Gärten des Palastes. Es tanzte über die Leichen der Vögel hinweg. Es hüllte den leblosen Körper des Weltenwanderers ein. Strahlendes, behendes, höllisches, grelles Licht. »Wären es Gläser anstatt Spiegel«, dachte Radiant laut, »würde das ganze Licht nach draußen fallen und wäre verloren. Aber dank meiner Klugheit bleibt es hier. Es gehört mir.« Langsam drehte sie den Schwachstein hin und her, bis die Bruchstellen mit denen des Gegenstücks genau übereinstimmten. Voller Ekstase schob sie sie langsam zusammen ... 420
Die Steine berührten sich nie. Blitze sprühten zwischen ihnen auf. Ihr Leuchten blendete Radiant. Die Hitze wurde unerträglich. Die Kristalle, die als Einzelstücke angenehm hell leuchteten, waren gemeinsam eine Qual. Das Licht füllte jeden Spiegel aus. Es hatte keine Ausweichmöglichkeit mehr. Mit jeder Sekunde wurde es heller. Mit jeder Sekunde wurde es heißer. Radiant wollte die Hände auseinanderziehen, aber die Steine riefen einander. Sie brannten ihr die Augen aus. »Die Wahnsinnige bin ich!« stieß sie hervor. Im nächsten Augenblick war es vorbei. Engelhaut verschmorte, Engelknochen explodierten. Innereien gingen in schwarzen Rauch auf, der sich schließlich weiß verfärbte und dann verschwand. Radiant war fort. Die Laterne der Dunkelheit hatte sich von innen heraus verzehrt. Jemand anderes stand an ihrem Platz. Jemand schwebte dort - die Verkörperung der Steine, die Kreatur, die sie hervorgebracht hatten und am Leben erhielten. Der Konflikt zwischen diesen beiden Steinen war es - der weltzerstörende Konflikt unversöhnlicher Gegensätze, die trotz allem zwei Hälften eines Ganzen waren -, der Urza Leben schenkte. Er rief seinen Körper zurück und erneuerte ihn auf wundersame Weise. Er erneuerte ihn rings um das Zentrum seines Lebens. Das Zentrum, das aus diesen Steinen bestand. Im nächsten Augenblick ließen sich der unerträglich helle Lichtschein und die Hitze nicht länger eingrenzen. Jeder Spiegel in der Vogelhalle zersprang. Glasscherben prallten gegen die Metallplatten und Gitterstäbe, von denen Gorig behauptet hatte, sie würden Radiant schützen. Sie bogen sich nach außen und flogen davon, als wären sie leicht wie Papier. Das Licht folgte ihnen. Es erfüllte die Luft und breitete sich über den fahlen, gelben Himmel aus. Urza starrte in die blendende Helligkeit. Er sah, wie 421
die Explosion die Wände des Palastes zu Staub zerfallen ließ. Er sah, wie die Außenmauern zusammenstürzten. Tiefe Risse durchzogen die ganze Zitadelle. Langsam sank der Palast in sich zusammen. Energieströme brachen aus dem Netz der Zaubersprüche hervor. Das Gemäuer stieß ein furchtbares Stöhnen aus. Die wuchtige Hand der Schwerkraft packte zu und zerrte das Gebäude in die Tiefe. Es zog eine lange Rauchfahne hinter sich her. Schon bald war es so weit entfernt, daß es nur noch wie das Samenkorn eines Baumes aussah. Schließlich schlug es auf dem Boden der Himmelswelt auf und wurde vom Chaos verschluckt. Rings um Urza rückte die Finsternis immer näher. Ehe sie ihn mit sich reißen konnte, verließ er die sterbende Welt. * * * Sekunden nach der Explosion, die den Palast vernichtete, hörte Jhoira ein noch schrecklicheres Geräusch. Durch das Stöhnen der überhitzten Maschinen und das Geheul der wütenden Engel hindurch vernahm sie ein schrilles Wehklagen. Irgend etwas fiel vom Himmel. Es näherte sich so schnell, daß ein Ausweichen unmöglich war. Sie sah nach oben. Ein Meteor schoß zwischen den Engeln hindurch, riß Flügel mit sich und alles, was in seinem Weg schwebte. Er wurde immer größer, und plötzlich blitzten spitze Zähne auf. Funkelnde gelbe Augen starrten sie an. Mit einem entsetzlichen Knall prallte das Wesen auf die weißglühenden Kabel. Der Kopf wurde durch den Aufprall zermalmt. Die Flügel brachen ab, aber der schwere Metallkörper blieb erhalten. Die Seelenaufsaugöffnungen zu beiden Seiten leuchteten auf und entleerten sich über den Drähten und Kabeln. Die Wetterlicht machte einen Riesensatz. Die Strahlenwaffen leuchteten doppelt so hell wie vorher. 422
Ganze Engeleinheiten wurden ausgelöscht. Massen von Seelen glitten in die Fackeln entlang der Reling. Das Schiff wurde schneller und schneller. Entsetzte Engel flohen und schwebten sekundenlang voller Panik in der Luft, bis ihnen bewußt wurde, daß die Wand aus Finsternis sich unmittelbar hinter ihnen befand. Die Himmelswelt ging zugrunde. Der endgültige Zusammenbruch stand unmittelbar bevor. Nichts vermochte ihn aufzuhalten. Das weiße Mana, das vom immer tiefer sinkenden Himmel fiel, strömte in den Kraftstein der Wetterlicht. Jedes Lebewesen, das sich in dem Strom verfing, wurde mitgerissen und von den Maschinen aufgesogen. Jhoira konnte nichts tun; sie stand da und starrte fassungslos auf das sich ihr bietende Bild. Die Engelarmee fiel zurück und wurde vom Chaos verschluckt. Steuerbord erschien die mächtige Gestalt von Rhamrnidarigaaz, in dessen Sattel Barrin hing. Urza war nicht zu entdecken. Wenn der Drache im Augenblick der Weltenwanderung nicht genau über dem Schiff schwebte, mußten er und Barrin zurückbleiben. »Weltenwanderung vor dem Zusammenbruch!« rief Barrin. »Jeder Sterbliche, der hierbleibt, kommt um!« »Ich weiß! Ich weiß!« antwortete Jhoira. »Hast du das gehört, Karn? Volle Kraft voraus!« »Zu viele Passagiere!« brüllte Karn. Seine Stimme klang gepreßt, als treibe er das Schiff aus eigener Kraft voran. »Zu viel Gewicht!« Vor dem Bug hing eine weitere Engelarmee. Sie floh vor dem drohenden Chaos. Plötzlich war sie verschwunden. Nur die Wetterlicht und Rharnrnidarigaaz blieben in der immer kleiner werdenden Welt übrig. Dunkelheit raste von allen Seiten auf sie zu. »Jetzt oder nie, Karn!« rief Jhoira. 423
Sie erreichten die Finsternis. Der Bug des Schiffs versank darin und löste sich auf. Augenblicke später waren das Schiff und seine Insassen verschwunden. * * * Die Invasionsarmee war seit acht Stunden fort, und jetzt ging die Sonne am tolarischen Himmel unter. Die Menge, die sich zum Stapellauf der Wetterlicht versammelt hatte, harrte noch immer aus, aber die frohe Stimmung war verflogen. Der festliche Morgen war einem besorgten Nachmittag gewichen, der sich schließlich in einen furchtsamen Abend verwandelte. Nun lag die kalte Nachtluft über den Mauern der Akademie. Irgend jemand hatte Kerzen aus der großen Halle geholt, aber ein höhnischer Wind blies die kleinen Lichter der Hoffnung aus, sobald sie entzündet wurden. Man ersetzte sie durch ein paar Laternen, deren schwaches Licht die Dunkelheit kaum durchdrang. Aus leisen Gebeten wurde ein zweifelndes Flüstern. Ein ruheloser Wind fegte durch die Blätter. Wieder richtete sich die Aufmerksamkeit der Menge auf den Himmel. Zwischen den trägen Nachtwolken bewegte sich etwas. Etwas Großes. Der Schatten flog lautlos dahin und kam immer näher. Die Bewohner Tolarias, die den ganzen langen Tag mit Warten verbracht hatten, wichen ängstlich zurück. Alle, die in Torbögen standen, huschten ins Innere der Gebäude, denn alle, die im Freien warteten, drängten sich in die Torbögen hinein. Ein rötlicher Flammenstrahl erhellte eine teuflische Fratze mit funkelnden Augen. »Ein Dämon!« »Ja, aber er gehört zu uns!« Jetzt war der Drache deutlich zu erkennen, der über den Baumwipfeln schwebte. Sekunden später kreiste er über dem großen Innenhof. Rhammidarigaaz! Hin424
ter ihm, ein schwarzer Schatten am schwarzblauen Nachthimmel, nahte ein gewaltiges Schiff. Entlang der Reling waren nur lächelnde Gesichter und winkende Hände zu sehen. Die Wetterlicht. * * * Einige Monate später stand Jhoira wieder am Bug des Schiffs und spürte, wie der Seewind ihr Haar zerzauste. Sie atmete tief durch und dachte daran, wie sie vor langer Zeit vor ihrem Geheimversteck auf den Klippen von Tolaria gestanden und von fernen Ländern und einem Seelenverwandten geträumt hatte. Ihre Mädchenträume hatten sich nicht erfüllt und ihr im Laufe der Jahre viel Seelenpein bereitet. Dennoch war das Leben gut gewesen. Sie gehörte zu den besten Wissenschaftlern der Welt, war eine Vertraute von Urza Weltenwanderer und - zur Zeit - die Befehlshaberin der großartigen Wetterlicht. Sie hatte weltliche Paradiese erforscht, Schmieden in der Hölle betrieben, Kriege im Himmel gekämpft und war mit einem Silbermann und einem Luftschiff zwischen den Welten gewandert. »Wie sieht es da unten aus, Karn?« fragte sie durch das Sprechrohr. »Die Energie des Kristalls ist grenzenlos«, lautete die Antwort. Auch Karns Energie hatte sich in letzter Zeit gesteigert. Urzas Waisenkind hatte endlich eine Heimat im Herzen des Schiffs gefunden, von dem er anfangs befürchtete, es würde sein Ende bedeuten. Der Sieg hatte Urza geläutert aus Serras Reich zurückkehren lassen. Zum Erstaunen aller hatte er väterliche Gefühle für Karn entwickelt und behauptete, er hätte ihn nach seinem Bildnis geformt. Ob es Schicksal oder Zufall war: Urzas erstes denkendes, fühlendes Artefakt war zum Kern seines Vermächtnisses geworden. 425
Karn hatte sich sogar ein wenig Humor angeeignet. »Soll ich irgend etwas für dich abschießen?« »Nein, danke. Bleib ganz ruhig.« »Aye, aye.« Ja, das Leben war bis jetzt gar nicht übel verlaufen. Karn und sie waren keine Seelenverwandten, aber Freunde - oder waren sie doch Seelenverwandte? Die Spitze von Zhalfir tauchte vor ihnen auf, eine hohe Felsnase, hinter der sich ein weites und fruchtbares Land erstreckte. Der Bürgerkrieg war dank der Weisheit und Macht eines berühmten tolarischen Magiers beendet, und Zhalfir hatte einen Vertrag unterzeichnet, menschliche Flüchtlinge aus Serras Reich aufzunehmen. Das war der Grund für diese Reise. Jhoira, Karn und die Besatzung der Wetterlicht brachten dreihundertdreiundsechzig Flüchtlinge in ihre neue Heimat. Aber Jhoiras Gedanken drehten sich gerade nicht um diese dreihundertdreiundsechzig Menschen, sondern um die Gestalt, die - mit kostbaren roten Festgewändern angetan - auf jener Felsnase stand. Mit wild klopfendem Herzen gab Jhoira den Befehl, das Schiff längsseits der Felsnase zu drehen. Sie bemühte sich, trotz ihrer Aufregung strahlend zu lächeln, und rief: »Teferi! Entschuldigung, Magier aller Magier! Lord Teferi von Zhalfir! Schön, dich wiederzusehen!« »Ich freue mich auch!« kam die ehrliche Antwort. Mit einer flinken Handbewegung zauberte er sich an Deck des Schiffs. Er breitete mit majestätischer Geste die Arme aus, während ihn unsichtbare Hände vor Jhoira absetzten. Dann verneigte er sich tief, erwiderte ihr Lächeln und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich hörte, du bringst mir neue Bewohner für mein Land.« »Jawohl. Dreihundertdreiundsechzig.« »Schön, schön. Ich hoffe, du hilfst ihnen, sich hier einzuleben.« 426
Bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Ich muß sofort zurück. Urza braucht das Schiff für andere ... Missionen.« Teferi nickte, und seine Augen verdunkelten sich vor Enttäuschung. »Ein andermal, vielleicht.« »Warum kommst du nicht mit nach Tolaria?« schlug Jhoira vor. »Du hast dort viele Freunde. Arty Schaufelkopf ist an Bord. Er wird sich freuen, dich zu sehen.« »Nach allem, was ich ihm angetan habe, ist es ein Wunder, daß ich noch lebe.« Teferi grinste schelmisch. »Schwer zu glauben, daß ein hundert Pfund schwerer Knabe sich über einen zwölfhundert Pfund schweren Golem lustig macht. Ich gehe später zu ihm hinunter. Jeder kann Kriege führen. Aber die Bewahrung des Friedens ist wirklich eine Leistung.« Er musterte sie von oben bis unten. »Nun, Jhoira vom Volk der Ghitu, laß uns diese Menschen in die neue Heimat führen.« »Ja, mein Freund«, antwortete sie. »Ja.«
427
Monolog
Ich hatte gehofft, Jhoira und Teferi würden zueinander finden. Schließlich wären ein Meistermagier und eine meisterhafte Wissenschaftlerin ein perfektes Paar. Nun, vielleicht klappt es doch noch im Laufe der Zeit. Und Zeit ist etwas, wovon wir auf Tolaria immer genug haben werden. Barrin, Magiemeister von Tolaria
428
Endlich ist der Wahnsinn von Urza gewichen. Er erinnert sich daran, wie er vor dreitausend Jahren gegen seinen Bruder Mishra kämpfte, und bereut die von ihnen verursachten Katastrophen. Er erinnert sich an den Tod seines Ersatzbruders Ratepe und an Xantcha, seine beste Freundin, und ist dankbar, daß er viele Jahre mit ihnen zusammenlebte. Endlich ist er zu wahrer Reue und echter Freundschaft fähig. Urza erinnert sich nicht nur an seine Vergangenheit, sondern hat auch die Verantwortung für sie übernommen. Er hat das zerstörte Tolaria wiederauferstehen lassen, die Vernichtung Argoths gesühnt, einen winzigen Teil Phyrexias zerfetzt und sogar die Flüchtlinge aus Serras Reich gerettet. Während ich schreibe, sitze ich mit Urza in seinem Arbeitszimmer. Der heiße Abendwind bringt die Geräusche des prallen Lebens mit sich. Die Nachtvögel haben ihr eindringliches, wunderschönes Lied angestimmt. Seit fast einer Dekade liegt die Schlucht der Phyrexianer leer und verlassen da. Aus der großen Halle dringt Lärm. Heute abend findet eine Tanzveranstaltung statt, und eine völlig neue Generation Studenten genießt ihr Leben. Gedankenverloren tappt mein Fuß im Rhythmus der Trommeln und Flöten auf den Boden. Der Meister sieht von dem Buch auf, in dem er gerade liest. Es handelt sich um die Erzählung seiner einstigen Gemahlin über den Bruderkrieg. Im vergangenen Monat hat er das Buch sehr aufmerksam studiert, und von Zeit zu Zeit versinkt er in Erinnerungen. Das 429
Lächeln, das er mir gerade zuwirft, gilt aber nicht der Vergangenheit, sondern der Gegenwart. »Wie lange wird der Tanz dauern?« Ich zucke die Achseln. »Ich habe ihnen gesagt, sie dürfen bis zum Untergang des Glimmermondes feiern das ist nach Mitternacht. Wenn Euch der Lärm jedoch stört...« »Nein.« Urza winkt ab. »Ich habe gerade das Kapitel über meine Hochzeit gelesen und dachte an die Tänze, die wir vor unendlich langer Zeit aufführten. Wahrscheinlich ist es unmöglich, die gleichen Schritte zu dieser modernen Musik zu tanzen ...« Ich erhebe mich. »Nun, wenn es nicht geht, können wir die Musikanten ein paar alte Melodien lehren.« Ja, Urza ist wieder bei klarem Verstand. Jetzt werde ich mir ansehen, ob er auch tanzen kann. Barrin, Magiemeister von Tolaria
Alle Figuren in diesem Buch sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit wirklichen Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig. Dieses Buch ist geschützt durch die Copyright-Gesetze der Vereinigten Staaten von Amerika. Jede Vervielfältigung oder unerlaubte Verwendung des Materials oder der enthaltenen Illustrationen ist ohne die ausdrückliche schriftliche Genehmigung von Wizards of the Coast, Inc., verboten. Weltweiter Vertrieb durch Wizards of the Coast, Inc. und regionale Distributoren. MAGIC: THE GATHERING ist eine eingetragene Handelsmarke im Besitz von Wizards of the Coast, Inc. Alle Wizards of the Coast-Figuren, Figurennamen und solche, die deutliche Ähnlichkeiten mit ihnen aufweisen, sind Warenzeichen von Wizards of the Coast, Inc. U.S., CANADA, ASIA PACIFIC & LATIN AMERICA Wizards of the Coast, Inc. P.O.Box 707 Renton, WA 98057-0707 +1-800-324-6496 EUROPEAN HEADQUARTERS Wizards of the Coast, Belgium P.B. 2031 2600 Berchem Belgium +32-70-23-32-77 Besuchen Sie uns im Internet: www.wizards.com