R. L. Stine
Die Tramperin Niemand weiß, woher sie kommt
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dagmar Weischer
Loewe
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R. L. Stine
Die Tramperin Niemand weiß, woher sie kommt
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dagmar Weischer
Loewe
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Stine, Robert L.: Fear Street / R. L. Stine. – Bindlach : Loewe Die Tramperin : Niemand weiß, woher sie kommt / aus dem Amerikan. übers, von Dagmar Weischer. – 2. Aufl. – 1999
ISBN 3-7855-3236-9
ISBN 3-7855-3236-9 - 2. Auflage 1999 Titel der Originalausgabe: : Runaway Englische Originalausgabe Copyright © 1995 Parachute Press, Inc. Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechts zur vollständigen oder teilweise!! Wiedergabe in jedweder Form. Veröffentlicht mit Genehmigung des Originalverlags, Pocket Books, New York. Fear Street ist ein Warenzeichen von Parachute Press. © für die deutsche Ausgabe 1998 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dagmar Weischer Umschlagillustration: Arifé Aksoy Umschlaggestaltung: Pro Design, Klaus Kögler Satz: DTP im Verlag Gesamtherstellung: Wiener Verlag Printed in Austria
Kapitel 1 „Willkommen in Shadyside“ stand auf dem Schild am Ortseingang. Felicia Fletcher schleppte sich mühsam die Straße entlang. Es war Spätnachmittag, dunkle Wolken hingen tief und schwer am Himmel und drohten mit dem nächsten Regenguss. „Shadyside“, flüsterte sie. Nie gehört. Sie versuchte, sich die Hände an der Hose abzuwischen, aber es nützte nichts. Felicia war inzwischen nass bis auf die Haut. Ihre Jeans waren ganz schwer vom Regen, ihre Schuhe patschnass und schon ganz aufgeweicht. Von ihrem Pferdeschwanz liefen ihr eiskalte Tropfen in den Kragen ihrer Jacke. Felicia blickte an dem Willkommensschild vorbei auf eine Brücke, die über einen rasch dahinfließenden Fluss führte. Das Wasser riss verschrumpelte Blätter und krumme Äste mit sich. Sie rückte den schweren roten Rucksack auf ihren Schultern zurecht und zog sich die dunkelblaue Baseballkappe tiefer ins Gesicht. Shadyside. Der Name gefiel ihr. „Vielleicht kann ich mich hier sicher fühlen“, dachte sie… „Vielleicht kann ich in Shadyside neu anfangen.“ Felicia spürte bei dem Gedanken einen Kloß im Hals. Sie wollte doch gar nicht neu anfangen. Sie wollte nach Hause zurück. Dorthin, wo ihre Freunde waren und Menschen, die sich um sie kümmerten. Aber sie konnte nicht zurück. Niemals würde sie mehr nach Hause können. Nicht nach dem, was sie getan hatte. Jetzt fang bloß nicht wieder an zu heulen, Felicia“, ermahnte sie sich selbst. „Sieh lieber zu, dass du ins Trockene kommst.“ Sie wandte sich um und schaute in die entgegengesetzte Richtung. Sollte sie es in Shadyside versuchen – oder lieber weiter laufen? „Wenn ich doch bloß das, was passiert ist, vergessen könnte“, dachte Felicia. ,,Alles und alle vergessen. Neu anfangen.“ Aber die Erinnerung würde niemals erlöschen. Die Erinnerung an das Labor. An die vielen Drähte. An die Ärzte. 9
Besonders an Dr. Shanks. Nie würde sie den vergessen mit seinem fettigen grauen Bart und seiner lauten Stimme. Felicia erinnerte sich noch genau, wie sie ihn kennen lernte. Sie wurde ins Labor gebracht. Die grellen Neonlampen taten ihren Augen weh. Sie wurde auf einen Holzstuhl mit gerader Rückenlehne platziert, dem unbequemsten Stuhl, auf dem sie je gesessen hatte. Dann drängten sie sich um sie und hantierten an ihr herum. Ein magerer Mann mit Brille befestigte klebrige Elektroden an ihren Schläfen. Grüne, schwarze, rote, blaue und gelbe Drähte führten von den Elektroden zu einem großen Computer, an den sie angeschlossen waren. Die Assistenten riefen sich gegenseitig Befehle zu. „Probelauf auf Modul vier!“, rief eine grauhaarige Frau in weißem Kittel. „Auf Modul vier“, wiederholte der Magere mit der Brille. Er betätigte einen Schalter, woraufhin sofort einer der Apparate anfing, unangenehm laut und gleichmäßig zu piepen. „Der Puls ist neunundsiebzig, Blutdruck hundertzwanzig.“ „Ist das gut?“, fragte Felicia. Sie achteten nicht auf ihre Frage. Sie antworteten überhaupt nie, wenn sie etwas wissen wollte. Der Magere mit Brille stellte einen Tisch vor Felicia hin. Ein anderer Assistent schob sie mit dem Stuhl an den Tisch heran. „Sagen Sie Dr. Shanks, dass die Probandin bereit ist“, ordnete die grauhaarige Frau an. „Ich heiße Felicia“, erinnerte Felicia sie. „Wieso nennen Sie mich nie beim Namen?“ Die Grauhaarige warf ihr einen gleichgültigen Blick zu und sagte nichts. Sie holte ein Klemmbrett und fing an, sich Notizen zu machen. ,,Ich schreibe mich F-E-L-I-C-I-A“, murrte Felicia. Die Grauhaarige hörte auf zu schreiben und starrte sie an. „Habe ich zu schnell buchstabiert?“, fragte Felicia bissig. Die Frau legte Klemmbrett und Bleistift weg und verließ den Raum. Gleich darauf kam ein glatzköpfiger Mann mit einem dichten Bart 10
hereinmarschiert. Sein weißer Kittel rauschte mit jedem Schritt. Der Mann war bestimmt zwei Meter groß und trug einen Bierbauch vor sich her. Er hatte eine lange Hakennase und tief liegende Augen. „Das sind böse Augen“, dachte Felicia bei sich. „Ohne jede Gutmütigkeit. Groß und kalt ist dieser Mensch, sonst nichts.“ „Felicia“, sagte der Mann und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie geht es dir heute?“ „Gut.“ „Schön. Ich bin Dr. Shanks. Ich leite diese Phase des Experiments. Im Gegensatz zu Dr. Cooper dulde ich keine bissigen Bemerkungen. Das musst du verstehen, Felicia. Du bist nicht nur hier, um zu lernen, sondern auch, um uns Erkenntnisse zu liefern. Für uns ist es wichtig, die richtigen Informationen von dir zu bekommen. Du musst klar bei Verstand sein und dich konzentrieren. Wenn du dich dieser einfachen Regel widersetzt, dann hast du hier am Ridgely College nichts mehr verloren. Ist das klar?“ Felicia merkte, wie der Zorn in ihr aufstieg. Was bildete sich dieser Kerl denn ein? „Die brauchen mich doch viel nötiger als ich sie.“ Felicia starrte in Dr. Shanks tief liegende Augen. Er wandte den Blick nicht ab, sondern starrte unvermittelt zurück. „Du musst lernen, deine Begabung zu kontrollieren. Sonst wirst du andere, und dich selbst auch, in Gefahr bringen.“ Felicia zuckte zusammen. „Ich verstehe“, sagte sie schließlich. „Schön. Also, fangen wir an.“ Dr. Shanks holte einen Bleistift aus seiner Kitteltasche und legte ihn direkt vor Felicia auf den Tisch. „Nun lass den Bleistift über den Tisch gleiten, bitte.“ „Was?“ „Lass den Bleistift über den Tisch gleiten“, wiederholte Dr. Shanks. „Ich… ich weiß nicht, ob ich das kann“, stammelte Felicia. Sie hörte, wie das Piepen des Apparats schneller wurde, genau wie ihr Herzschlag. Ihre Hände fingen an zu schwitzen. „Das lasse ich nicht gelten“, erwiderte Dr. Shanks. „Also los, lass den Bleistift über den Tisch gleiten.“ „Ich kann aber nicht!“ Dr. Shanks schlug mit der Handfläche auf den Tisch. 11
„Was habe ich dir soeben erklärt? Das hier ist kein Spiel! Es geht auch nicht um einen Test allein. Sondern es geht um dein Leben, mein Fräulein!“ „Brüllen Sie mich nicht so an!“, rief sie. „Ich kann nichts dafür! Schließlich bin ich nicht einer Ihrer blöden Apparate! Sie können mich nicht einfach nach Belieben ein- und ausschalten! Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen!“ Dr. Shanks holte tief Luft. Dann beugte er sich über den Tisch und hielt sich mit den Händen an den Tischkanten fest. Er beugte sich so nah zu Felicia herüber, dass sein Atem ihr ins Gesicht schlug. Er roch nach einer Mixtur aus Zwiebeln und Pfefferminz, „Mein Fräulein, dir ist offenbar nicht ganz klar, dass du mit einer der bemerkenswertesten Begabungen gesegnet bist, die auf dieser Erde vorkommen. Ich gebe dir den guten Rat, mitzuarbeiten und dich zu konzentrieren. Es wird dir nichts nützen, wenn du dich weigerst. Es gibt noch mehr wichtige Leute, die daran interessiert sind, herauszufinden, wie deine Begabung funktioniert. Und eins kannst du mir glauben, deren Untersuchungsmethoden werden für dich um einiges schmerzhafter sein als diese hier. Hast du mich verstanden?“ Felicia hätte sich am liebsten diese juckenden Elektroden vom Kopf gerissen und das Weite gesucht. „Nein“, sagte sie sich. „Ich muss stark bleiben. Ich muss es versuchen.“ Denn sie wusste, dass Dr. Shanks nicht log. Ihr Vater hatte ihr schließlich dasselbe gesagt – eine ganze Reihe von Ärzten warteten nur darauf, ihre merkwürdige Begabung zu testen. Shanks war bestimmt nicht der Schlimmste von ihnen. Sie starrte den Bleistift an. „Konzentriere dich!“, befahl er. Sie fixierte den Stift. Den rosaroten Radiergummi. Die gelbe Farbe. Die scharfe schwarze Bleistiftspitze. Das Piepen im Hintergrund wurde schneller. Felicias Herz pochte in ihrer Brust. Vor Zorn. Und vor Angst. „Komm schon!“, befahl sie sich selbst. “Na, komm schon!“ „Du konzentrierst dich nicht richtig!“, flüsterte Dr. Shanks. Aber sie tat doch, was sie konnte! Sie richtete ihre ganze Willenskraft auf diesen Bleistift. Und jetzt tat sich etwas! Etwas fing an, in ihr zu wachsen. Sich langsam aufzublasen. Wie 12
ein Ballon. „Konzentrieren!“, befahl Dr. Shanks. Seine Stimme grub sich tief in ihr Gehirn. Ihre Macht wuchs. Sie zwang sich noch mehr. Das Piepen wurde schneller und schneller. Felicia spürte, wie das Blut durch ihre Venen rauschte. „Puls hundertzehn“, ertönte eine Stimme irgendwoher. „Blutdruck hundertachtzig.“ Felicia presste ihre Fingernägel in ihre Handflächen. Sie wurden feucht. Vom Schweiß oder von Blut? Sie hätte es nicht sagen können. „Konzentrieren!“, rief die Stimme. Die Stimme des Arztes. Die Stimme des Feindes. Töte den Feind. Es war, als ob die Macht in Felicias Kopf explodierte. Plötzlich wurde der Bleistift Teil ihres Willens. Und sie wusste ganz genau, was sie in diesem Augenblick mit ihm machen wollte. Der Bleistift fing an zu wackeln. Dann drehte er sich langsam der Länge nach um und zeigte mit der Spitze auf Dr. Shanks. Felicia stellte sich vor, wie sie den Bleistift packte und mit aller Gewalt drückte. Der Bleistift hatte nun aufgehört zu wackeln und hob sich ein paar Zentimeter vom Tisch ab. Dort schwebte er, als warte er auf ihren nächsten Befehl. „Jetzt!“, dachte sie. „Los jetzt!“ Sie setzte ihre Fantasie in die Tat um. Sie konzentrierte ihren ganzen Zorn, ihre Angst und ihren Frust in den Bleistift. Sie wusste, dass das nicht richtig war. Aber sie konnte nicht anders. Felicia richtete den Bleistift auf das einzige Ziel, das sie vor sich sah, und schleuderte ihn mit all ihrer Kraft in sich los. Sie stieß vor Anstrengung einen Schrei aus. Es war, als müsste sie einen riesigen Speer loswerfen. „Ich hab’s geschafft!“, dachte sie. „Jawohl, ich hab’s geschafft!“ Dann sah sie zu, wie der Bleistift wie eine Rakete durch den Raum schoss – mitten in Dr. Shanks linkes Auge hinein.
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Kapitel 2 Felicia würgte und schloss die Augen. Sie konnte nicht hinsehen. Die Vorstellung, dass der Bleistift jetzt in Dr. Shanks Auge steckte, reichte ihr schon. „Felicia!“, schrie Dr. Shanks. Sie schüttelte den Kopf, immer und immer wieder, und kniff die Augen zusammen. „Felicia!“, schrie er wieder. Zwei Hände packten sie an den Schultern und drückten sie mit aller Kraft auf den Stuhl nieder. „Nein!“, kreischte sie. „Ich wollte das nicht.! Es ist von selbst passiert!“ „Ich weiß!“, rief Dr. Shanks. „Ist das nicht faszinierend!“ „Was sagt er?“, wunderte sie sich. „Öffne die Augen, Felicia!“, rief er außer sich vor Begeisterung. Was war denn los? Das musste doch höllisch wehgetan haben! Felicia schlug vorsichtig die Augen auf. Dr. Shanks stand vor ihr – und grinste. Sein Auge war unversehrt. Da steckte kein Bleistift drin. Nicht ein Blutstropfen lief ihm übers Gesicht. „Sieh mal, was du gemacht hast!“, rief Dr. Shanks. Er zeigte auf den Bleistift, der im schwarzen Brett hinter ihm feststeckte. „Was…?“ Felicia brachte kaum einen Ton heraus. „Du hättest mich beinah getötet!“, rief Dr. Shanks. „Um Haaresbreite hat mich der Stift verfehlt! Ist das nicht verblüffend?“ Eine Welle der Erleichterung überkam Felicia. Sie hatte ihn nicht umgebracht! Gott sei Dank! „Dabei wollte ich es aber doch“, überlegte Felicia dann. „Ich wollte doch, dass der Bleistift ihn ins Auge trifft!“ Bei der Vorstellung wurde ihr fast schlecht. Nein! Das konnte einfach nicht wahr sein. Sie war doch keine Mörderin! Diese Macht musste dahinter stecken. Diese Macht hatte sie dazu gebracht, ihn verletzen und aus dem Weg schaffen zu wollen. Diese Macht war der Inbegriff des Bösen! „Hast du gesehen, dass du mich um ein Haar aufgespießt hättest?“, 14
fragte Dr. Shanks. Felicia fand seine Begeisterung ganz schön pervers. Sie hätte ihn fast umgebracht – und er war außer sich vor Freude! ,,Ich habe gewusst, dass du es kannst! Ich habe es gewusst! Überleg doch mal, was du alles vollbringen könntest, wenn du lernen würdest, deine Telekinese zu kontrollieren. Überleg doch mal!“ Telekinese. Felicia fuhr zusammen bei dem Wort. Es klang eher nach einer Krankheit als nach der Fähigkeit, Gegenstände mit dem Willen in Bewegung zu setzen. Das war nichts Bewundernswertes. Und ein Segen schon gar nicht. Ihr Vater war der beste Beweis dafür. Die Begabung brachte nichts als Elend… Felicia schüttelte den Kopf. „Denk nicht mehr darüber nach“, sagte sie sich. „Das Versuchslabor des Ridgely College liegt doch jetzt weit hinter dir.“ Und das war gut so. Keine Experimente mehr, keine Elektroden und kein Dr. Shanks. Jetzt gab es nur Shadyside und das, was die Zukunft brachte. Sie brauchte nur über diese Brücke zu gehen. Eine Hupe dröhnte hinter ihr. Felicia fuhr herum und riss vor Schreck die Augen auf. Sie sah Scheinwerfer, die so grell waren, dass sie aussahen, als explodierten sie. Und sie hörte ein Geräusch, wie wenn Kies von Reifen zermahlen wurde. Felicia schrie auf. Das Auto raste direkt auf sie zu! „Ich kann nicht mehr ausweichen!“, schoss es ihr durch den Kopf. Zu spät, zur Seite zu springen!
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Kapitel 3 Das Auto kam mit Getöse herangeschlittert. „Halt!“, schrie Felicia. Aber der Wagen kam unabwendbar näher. Ein Schwung Kieselsteine wurde aufgewirbelt und traf sie an Armen und Beinen. Wenige Zentimeter von ihr entfernt kam der Wagen quietschend zum Stehen. Felicia stand da wie angewurzelt und zitterte am ganzen Körper. Sie starrte das Auto an. Wie war es möglich, dass es sie nicht erfasst hatte! Die Karosserie glänzte im Dämmerlicht. Es war ein knallroter Sportwagen. Der Motor dröhnte laut und hörte sich fast wütend an. Jemand kurbelte das Beifahrerfenster herunter. Felicia näherte sich vorsichtig und spähte hinein. „Auch eine Art, sich umzubringen“, sagte eine tiefe Stimme im Innern des Fahrzeugs. Zuerst konnte Felicia den Fahrer nicht erkennen. Dann beugte er sich weiter zu ihr herüber. Er hatte rotes, schulterlanges Haar und einen dichten roten Spitzbart. Sein Mund war voller schiefer Zähne, wie Felicia feststellte, als er grinste und sagte: „Zwei, drei Zentimeter noch, und dich hätte es mal gegeben.“ „Es… es tut mir Leid“, stammelte Felicia. Ihr Herz pochte laut. „Ich habe Sie nicht kommen hören.“ Der Mann zog eine Augenbraue hoch und ließ den Motor aufheulen. Es klang ganz schön gefährlich. „Und so einen Motor willst du nicht gehört haben?“, fragte er ungläubig, Felicia zuckte mit den Schultern. „Ich hab wohl vor mich hin geträumt.“ Der Mann musterte das zitternde Mädchen von oben bis unten. „Du brauchst einen Chauffeur, bei deinem Zustand.“ Was er nicht sagte! Zu fragen brauchte er wohl nicht! Die Kälte kroch langsam an ihr hinauf. Sollte sie vielleicht doch mitfahren? Na ja, es war wohl das Beste, wenn sie nicht erfrieren wollte. Aber mit diesem Kerl in einem Auto? Wer weiß… 16
„Steig ein“, sagte er. „Ich weiß nicht…“ „Wenn du nicht einsteigst, dann werde ich mich auch nicht bei dir entschuldigen, dass ich dich fast über den Haufen gefahren hätte. Tschüss.“ Er setze den Wagen in Bewegung. „Warten Sie!“ Der Mann setzte den Wagen wieder zurück und schaute Felicia erwartungsvoll an. „Es… es ist ja wirklich eiskalt“, dachte Felicia. „Okay“, sagte sie schließlich. „Entschuldigung angenommen.“ „Cool“. sagte er. „Schwing dich rein, auf geht’s.“ Felicia stieg ein und verstaute ihren Rucksack auf dem Boden zwischen den Beinen. Der Fahrer trat aufs Gaspedal. Mit quietschenden Rädern brauste der Wagen auf die Brücke zu. Er legte noch einen Zahn zu, als sie die Teerstraße auf der anderen Seite erreichten. Felicia legte schnell den Sicherheitsgurt an. „Hast du auch einen Namen?“, fragte der Mann. „Felicia“, antwortete sie. Sie musterte ihn beim Fahren von der Seite. Seine Wangen waren voller Akne-Narben. Er hatte eng stehende Augen, Und dicke Armmuskeln. Seine Arme waren vom Handgelenk bis zum Ellbogen mit schwarzem Stacheldraht tätowiert und von den „Wunden“ tropfte „Blut“. „Wenn das mal kein Fehler war, hier einzusteigen“, dachte Felicia. Ihr war ganz schön mulmig zumute. „Ich heiße Lloyd“, nuschelte der Mann. „Meine Freunde nennen mich Killer.“ Er grinste. „Aber du brauchst mich nicht so zu nennen. Noch nicht.“ Felicia setzte ein Lächeln auf. „Lieber Himmel, wie kann ich bei jemandem einsteigen, der Killer heißt!“, dachte sie entsetzt. „Den fordere ich besser nicht heraus.“ „Cool“, sagte sie. „Wieso nennen die dich so?“ „Weil ich ein Mörder bin!“, prustete Lloyd los. Felicia fuhr ein Schauer über den Rücken. „Was?“, fragte sie vorsichtig. 17
„War nur ein Witz“, murmelte Lloyd. Felicia lächelte pflichtbewusst. „Wer weiß, ob das wirklich ein Witz war“, dachte sie nervös. „Äh, Lloyd?“, sagte Felicia und schluckte. „Du könntest mich eigentlich hier rauslassen.“ Erstaunlich, wie ruhig sie klang. Dabei starb sie beinah vor Angst. Lloyd machte ein finsteres Gesicht. „Warum?“, fragte er. „Ich… ich glaube, es hat aufgehört zu regnen. Ich möchte lieber laufen.“ „Jetzt mal langsam“, sagte Lloyd und zupfte seinen Spitzbart noch spitzer. „Um die Sache klar zu stellen. Erst flehst du mich um Hilfe an und liegst mir zu Füßen, damit ich dich mitnehme, und dann willst du plötzlich nichts mehr davon wissen? So von wegen, halt an, ich brauch dich nicht mehr, was!“ Lloyd grinste sie höhnisch an, Felicia drückte sich erschrocken gegen die Wagentür. „Es tut mir Leid, Lloyd. Ich wollte dich wirklich nicht beleidigen. Aber ich habe dich doch gar nicht gebeten, anzuhalten…“ „Du lügst! Es blieb mir doch gar nichts anderes übrig, als anzuhalten!“ Lloyd fuhr mit der Hand unter den Fahrersitz und brachte ein Springmesser zum Vorschein. Klick! sprang die blitzende lange Klinge heraus. „Lloyd!“, schrie Felicia auf. „Leg das Messer weg! Leg es weg, bitte!“ „Jetzt kapierst du wohl, was ich für einer bin, was?“, sagte Lloyd. Felicia starrte das Messer an. Sie tastete mit der Hand nach dem Türgriff, aber da gab er Gas. Das Auto fuhr zu schnell. Zu schnell, um herauszuspringen. Aber sie musste entkommen! Sie musste etwas tun. Irgendetwas. „Nie wieder fahre ich mit einem Fremden mit, nie, nie wieder!“ Felicias Herz pochte laut in ihrer Brust. Ihr Atem stockte. „Lloyd?“, fragte sie leise und mit zitternder Stimme. „Wozu hast du ein Messer?“ Wieder grinste er sie höhnisch an und trat noch fester aufs Gaspedal. Der Wagen raste drauflos. „Lloyd - halt an!“, schrie Felicia. „Was machst du denn?“ 18
„Ich habe dich mitgenommen“, erklärte er. „Und jetzt musst du dafür bezahlen.“
Kapitel 4 „Wovon sprichst du?“ Felicia verschlug es fast die Sprache. Lloyd grinste nur unverschämt. „Steig ruhig aus, Felicia“, knurrte er. „Aber deine Brieftasche, die darfst du hier lassen.“ Felicia starrte ihn verdattert an. „A… aber ich hab gar kein Geld bei mir“, stotterte sie. „Das ist doch wirklich jammerschade“, sagte Lloyd. „Ich denke, dann brauchst du auch nicht auszusteigen.“ Er holte aus und fuchtelte drohend mit dem Messer in der Luft herum. Da spürte Felicia wieder diese Erregung. Es wuchs… Das war sie wieder – die Macht. Die Macht blies sich auf wie ein Ballon. Fertig zum Explodieren. Ihre Fingernägel gruben sich in die Polsterung und sie sank tiefer und tiefer in ihren Sitz. Sie konnte der Macht doch nicht freien Lauf lassen! Nicht hier. Nicht jetzt. Wer weiß, was passieren würde? Die Macht wuchs. Viel länger konnte sie sie nicht mehr unter Kontrolle halten. „Nein!“, dachte sie verzweifelt. „Du musst sie zur Umkehr zwingen!“ Aber da tauchte auch schon das Bild vor ihren Augen auf. So klar und unumstößlich. Das Springmesser, wie es aus Lloyds Hand flog und sich in den Rücksitz bohrte. Lloyd, wie er die Hände aufs Lenkrad schlug, es festhielt und nach links riss. Und den Wagen auf die Gegenfahrbahn steuerte. „Nein! Das darfst du nicht geschehen lassen! Du wirst dabei sterben!“ Aber sie sah alles, was dann geschah, genau vor Augen, das fliegende Messer, den ausscherenden Wagen, den Zusammenstoß, zerdrücktes Blech, zersplittertes Glas und überall Blut. Es passierte sehr schnell. 19
Das Messer blitzte auf und schoss Lloyd aus der Hand. Felicia hörte, wie Lloyd erschrocken aufschrie. Er riss das Lenkrad nach links. Der Wagen flog über die gelbe Mittellinie hinweg. Felicia sah einen Baum vor sich auftauchen, er kam näher und näher! „Nein! Wir werden sterben! Wir werden beide sterben!“ Zu spät. Das Auto krachte in voller Fahrt gegen den Baum! Durch den Aufprall wurde Felicia nach vorn geschleudert, der Sicherheitsgurt schnürte sie in den Bauch. Blech krachte. Die Windschutzscheibe zersplitterte. Felicias Kopf schlug zurück gegen den Sitz. Sie schmeckte warmes, salziges Blut im Mund. „Meine Zunge“, dachte sie. „Ich habe mir in die Zunge gebissen.“ Felicia hörte den gleichmäßigen Rhythmus der Scheibenwischer. Sonst nichts. Kein Laut kam von dem Sitz neben ihr. Langsam öffnete sie die Augen. Sie starrte durch die zerborstene Windschutzscheibe auf die Motorhaube, die sich regelrecht um den Baum gewickelt hatte. Sie war vorn aufgerissen, Dampf zischte aus dem Kühler. Felicia drehte sich zu Lloyd um. Er lag zusammengesunken auf seinem Sitz, Blut strömte aus einer Wunde an seiner Stirn. Es floss über seine Nase, über sein Kinn und über das Lenkrad. Seine Arme hingen kraftlos zur Seite. Der tätowierte Stacheldraht sah jetzt fast echt aus mit den frischen Blutspritzern. Felicia schauderte. Ob er noch am Leben war? Vorsichtig streckte sie den Arm aus und versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt. Sie machte sich darauf gefasst, dass er mit einem Brüllen zu Bewusstsein kam und sie an der Kehle packte. Aber er bewegte sich nicht. Sie beugte sich weiter zu ihm hinüber. Da – seine Brust hob sich. „Er atmet“, dachte sie. Er lebt. Ich habe ihn nicht getötet.“ „Aber du wolltest ihn umbringen“, flüsterte eine innere Stimme. 20
Du hast schon einmal jemanden getötet - in Ridgely. Jetzt ist es nicht mehr schwer. Du weißt jetzt, wie leicht es ist, jemanden zu töten. Du wolltest, dass Lloyd durch die Windschutzscheibe fliegt und sich den Schädel an diesem Baumstamm einschlägt, und du hast es beinah geschehen lassen. Stimmt das oder nicht?“ „Ist ja auch egal“, sagte sich Felicia. „Auf jeden Fall hätte er zugestochen, wenn ich nichts unternommen hätte.“ Lloyd gab ein Stöhnen von sich. „Ich muss hier raus!“, dachte Felicia. „Und zwar sofort!“ Sie ließ den Sicherheitsgurt zurückschnellen und zerrte am Türgriff. Die Tür wollte nicht nachgeben. „O nein!“, flüsterte sie. „Komm schon, geh auf!“ Sie warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Nichts tat sich. Sie versuchte es noch einmal heftiger. Nichts. Da fiel ihr das Fenster ein. Es ließ sich ganz leicht herunterkurbeln. Felicia schnappte sich ihren Rucksack, zog sich die Baseballkappe tief ins Gesicht und kletterte nach draußen. Sie betrachtete das Autowrack und schauderte. Da hörte sie in der Ferne ein Auto. Sie wandte sich zur Straße um und sah etwa einen Kilometer weit entfernt einen Lichtstrahl, der sich schnell näherte. Die Scheinwerfer eines Autos! Sie rannte zum Straßenrand und warf verzweifelt die Arme in die Luft. „Halt! Anhalten, bitte!“ Hinter sich hörte Felicia ein Ächzen aus dem Auto. „Oooh, was hast du getan?“, rief Lloyd. „Was hast du bloß getan?“ „Hilfe!“, schrie Felicia. Sie winkte noch heftiger. „Hilfe, bitte, halt an!“ Die Scheinwerfer wurden deutlicher. Lloyds Stöhnen wurde lauter. Felicia hörte ein Poltern aus dem Auto. Lloyd versuchte herauszugelangen. Er wollte sie schnappen. Wenn das Auto da vorne jetzt nicht anhielt, dann… Sie lief auf die Straße dem Auto entgegen. „Hilfe! Halt an, bitte!“ „Du bist schuld, dass ich mein Auto zu Schrott gefahren habe!“, rief Lloyd. „Na warte, ich bring dich um!“ Felicia wurde von Panik ergriffen. Das Auto vor ihr drosselte die Geschwindigkeit. 21
„Danke!“, flüsterte Felicia. „Gott sei Dank, er hält an!“ „Ich krieg dich, Felicia!“, brüllte Lloyd jetzt hinter ihr. Felicia warf einen Blick auf das Wrack. Lloyd war dabei, sich mühsam durchs Fenster zu quetschen. Gleich hatte er es geschafft! Das andere Auto hatte inzwischen angehalten. Felicia sprang auf die Fahrerseite zu und zog am Türgriff. Die Tür war verriegelt. „Mach auf!“, schrie sie. „Moment mal!“, rief der Fahrer. Er war noch jung, etwa in Felicias Alter. „Was ist los? Brauchst du einen Krankenwagen?“ Sie starrte ihn fassungslos an. Jetzt war doch wirklich keine Zeit für ein Frage-und-Antwort-Spiel! Lloyd war jeden Moment draußen! „Bitte! Mach auf! Mach die Tür auf.“ Der Junge dachte gar nicht daran. „Der Typ da braucht Hilfe“, sagte er nur. „Hör zu!“, schrie Felicia ihn an. „Dieser Typ hat mich in seinem Auto mitgenommen und versucht, mich zu erstechen!“ „Du bist schuld, dass mein Auto Schrott ist! Ich bring dich um!“, kreischte Lloyd im Hintergrund. Felicia versuchte, Ruhe zu bewahren. Sie schaute dem Fahrer in die Augen. „Er wollte mich ausrauben. Da habe ich ihm ins Lenkrad gegriffen und es herumgerissen“, erklärte sie. „Ich wusste mir nicht anders zu helfen. Bitte, hilf mir! Der bringt mich sonst um!“ „Okay, okay“, sagte der Junge. „Steig ein. Wir fahren.“ Er hielt Felicia die Tür auf und sie kletterte hinein. Die Reifen quietschten auf der nassen Fahrbahn, als sie losbrausten. Felicia drehte sich um, um durch das Rückfenster nach Lloyd Ausschau zu halten. Sie sah, wie er mit zornverzerrtem Gesicht hinter ihr herfluchte. „Alles in Ordnung mit dir?“, fragte der Junge. „Ja“, antwortete Felicia. „Jetzt schon.“ Sie drehte sich wieder nach vorne und sah ihn erst jetzt richtig an. Er hatte gutmütige braune Augen und stark ausgeprägte Kieferknochen. Und er sah ziemlich unrasiert aus. „Was ist denn passiert?“, fragte er. „Das hab ich dir doch schon gesagt“, antwortete Felicia. Ihre Hände zitterten immer noch. Sie ballte sie zur Faust, damit sie aufhörten zu zittern. 22
„Du bist mit diesem Kerl mitgefahren?“ „Ja, es ist schließlich kalt draußen!“, fauchte sie ihn an. „Ich war nass bis auf die Haut. Da gab’s nicht allzu viele Möglichkeiten.“ „Aber mit dem Trampen muss man vorsichtig sein“, sagte der Junge. „Auch wenn man noch so friert.“ „Meinst du?“ „Du hast ja gesehen, was passiert ist“, belehrte er sie. „Vor Psychopathen ist man nirgends sicher.“ „Er nennt sich Killer“, sagte Felicia und schüttelte fassungslos den Kopf. „Sag bloß!“, erwiderte der Junge. „Killer, echt?“ Ja. Als er mir seinen Namen sagte, schwante mir gleich Übles.“ „Aber jetzt ist ja alles in Ordnung“, sagte er tröstend. „Ich heiße Nick.“ „Ist das dein Spitzname?“, fragte Felicia. „Nein, ich heiße wirklich so“, sagte er. Sie streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Felicia.“ „Freut mich, Felicia.“ Nick schüttelte ihr die Hand. Sein Handgriff war warm und fest. „Hast wohl einen schlechten Tag?“ „Eher ein schlechtes Jahr“, murmelte Felicia. Nick machte ein erstauntes Gesicht. „Ist es denn so schlimm?“ „Ich möchte nicht darüber reden, okay?“ Nick hob die Hand und sagte: „Schon gut, schon gut. Entschuldige.“ Felicia bekam ein schlechtes Gewissen. Sie wollte ihn doch gar nicht vor den Kopf stoßen. Aber sie fühlte sich in der Zwickmühle. Einerseits hätte sie Nick gern von sich erzählt, andererseits konnte sie es nicht. Das wäre einfach zu gefährlich für sie gewesen. Felicia konnte überhaupt niemandem von ihrer Begabung erzählen. Oder von diesem schrecklichen Erlebnis in Ridgely. „Willst du zur Polizei gehen?“, fragte Nick, als sie von der Uferstraße aus nach Shadyside hineinfuhren. „Nein!“, platzte sie heraus. Dabei wollte sie gar nicht so laut werden. „Nur ja keinen Verdacht auf mich lenken!“ „Aber der Kerl ist auf dich losgegangen“, gab Nick zu bedenken. 23
„Stimmt schon, aber mir ist nichts passiert. Der hat sein Fett abgekriegt.“ „Okay“, sagte Nick unwillig. „Du musst es wissen.“ „Danke.“ Felicia blickte verstohlen zu Nick hinüber. Warum konnte sie nicht ein ganz normales High-School-Mädchen sein? Dann könnte sie ganz normal mit einem Jungen wie Nick befreundet sein. Dann wären sie vielleicht gerade miteinander ausgegangen und jetzt würde er sie nach Hause fahren. „Auf was für komische Ideen ich manchmal komme“, dachte sie plötzlich. „Aber Nick ist einfach nett. Und er hat mich vor diesem verrückten Kerl gerettet.“ Aber sie konnte ihm nicht trauen. Sie konnte überhaupt niemandem trauen. Das durchdringende Heulen einer Sirene störte Felicia in ihren Gedanken. Sie fuhr herum. Rote, weiße und blaue Lichter blitzten rotierend hinter ihnen auf. Felicia klopfte das Herz bis zum Hals. Die Polizei! Sie waren hinter ihr her!
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Kapitel 5 „Donnerwetter! Die haben aber einen Zahn drauf!“, kommentierte Nick die immer lauter werdenden Sirenen. Felicia wurde starr vor Schreck. „So schnell können die mich doch gar nicht aufgespürt haben“, dachte sie. „Das kann nicht sein! Es sei denn…“ Es sei denn, Felicias Foto war bereits in sämtlichen Polizeicomputern gespeichert! Die rotierenden Lichter erschienen immer größer im Heckfenster, die Sirenen heulten immer lauter. „Aber ich bin doch gar nicht zu schnell gefahren!“, schimpfte Nick. „Was wollen die bloß?“ „Kannst du die nicht abhängen?“, fragte Felicia. „Spinnst du? Ich halte lieber an.“ Er fuhr langsam an den Straßenrand; der Polizeiwagen war jetzt knapp hinter ihnen. „Das war’s dann wohl“, dachte Felicia. „Jetzt stecken sie mich ins Gefängnis. Sie wissen Bescheid über die Todesfälle. Sie haben mich erwischt.“ Der Polizeiwagen dröhnte an ihnen vorbei. An der nächsten Kreuzung bog er nach rechts ab. Das Heulen der Sirenen wurde schwächer. „Ha!“, lachte Nick, als er dem Wagen nachschaute. „Ich hab doch gewusst, dass das nicht mir gilt. Ich war wirklich nicht zu schnell.“ Felicia seufzte erleichtert auf. Fehlalarm. Nick startete und setzte die Fahrt fort. Felicia versuchte, sich zu orientieren, und hielt Ausschau nach Meilensteinen, Straßenschildern und sonstigen Hinweisen, die später für sie von Nutzen sein konnten. Die ganze Zeit musste sie daran denken, wie es jetzt weitergehen sollte. Sie musste gewappnet sein, falls sie wieder einmal in eine vertrackte Situation geriet. Sie musste sich Lügen einfallen lassen. Obwohl sie es hasste zu lügen. Aber wie sonst wollte sie dem Gefängnis entgehen? „Wie ist denn diese Stadt so, Nick?“ Nick zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich wie jede andere 25
Stadt. Zu klein.“ Felicia nickte. „Äh, Felicia?“ „Ja, was?“ „Wahrscheinlich geht es mich ja nichts an, aber…“ Er zögerte. “Du kommst wohl nicht von hier? Oder hast du Verwandte, die hier wohnen?“ Felicia erstarrte. Sie musste an ihren Vater denken. An ihre Tante Margaret. An die schöne Zeit, die jetzt so weit hinter ihr lag. „Du hast Recht, Nick“, antwortete sie kühl, „es geht dich nichts an.“ „He, tut mir Leid“, murmelte er. Aber wenn du irgendwie in Schwierigkeiten stecken solltest…“ „Was für Schwierigkeiten?“ „Komm schon, Felicia. Du trampst bei strömendem Regen. Du willst nicht über deine Familie sprechen. Und du hättest fast einen Anfall gekriegt, als die Cops vorbeifuhren.“ Nick kniff scharfsinnig die Augen zusammen. „Du bist ausgerissen.“ „Ach, was weißt du schon!“, fuhr Felicia ihn an. „Dann sag es mir, wenn ich mich irre“, forderte Nick. „Hör auf damit!“ „Ich will dir doch nur helfen!“ „Wie lieb von ihm“, dachte Felicia. Aber er durfte nicht allzu viel über sie wissen. „Danke, du hast schon genug für mich getan“, sagte sie. „Wie schön“, sagte Nick. Sie fuhren eine Weile schweigend weiter. „Bestimmt ist er jetzt beleidigt“, dachte Felicia. Sie musste irgendetwas sagen. „Nick, ich meine das wirklich so. Du hast mir wirklich sehr geholfen“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gutmachen soll. Aber wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann vergiss mich einfach. Tu, als wärst du mir nie begegnet. Das ist das Beste.“ Auf der rechten Seite erspähte Felicia ein kleines Cafe. „Lass mich hier raus“, sagte sie. 26
„Felicia…“ „Nein. Wirklich. Lass mich raus, Nick.“ „Okay, okay.“ Er fuhr an den Straßenrand und hielt an. „Versteh doch. Du brauchst mir nicht zu erzählen, warum du ausgerissen bist. Nur, falls du etwas brauchst…“ „Nein, Nick“, unterbrach sie ihn. „Glaub mir, ich komm schon klar.“ Sie lächelte ihn an. „Schade, dass ich ihm nicht zu einer anderen Zeit begegnet bin. An einem anderen Ort. In einem anderen Leben…“ Unwillkürlich beugte sich Felicia zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf den Mund. „Danke.“ Er blinzelte überrascht und sagte verlegen: „Bitte.“ Felicia musste grinsen, aber dann machte sie wieder ein ernstes Gesicht. „Denk dran, das Beste, was du für uns beide tun kannst, ist: Vergiss mich einfach.“ Sie nahm ihren Rucksack und machte die Tür auf. „Wie soll ich dich vergessen, wenn du mich auch noch küsst?“, fragte Nick. „Du bist doch ein schlaues Kerlchen“, antwortete sie. „Dir wird schon was einfallen.“ Bevor er noch etwas erwidern konnte, schlug Felicia die Tür zu, drehte sich um und marschierte entschlossenen Schrittes auf das Cafe zu. Sie schaute sich nicht mehr um. Felicia steuerte als Erstes auf die Toilette zu. Dort zog sie sich trockene Sachen an und entwirrte ihr Haar. Was hätte sie jetzt um einen Föhn gegeben! Dann band sie sich einen Pferdeschwanz und setzte die Baseballkappe auf. Ein herrliches Gefühl, trockene Kleider anzuhaben! Sie ging zurück ins Cafe und bestellte sich ein getoastetes Baguettebrötchen und eine Tasse Kaffee. Sie setzte sich so weit wie möglich von der Tür weg. Und von den anderen Gästen. Die Kappe zog sie sich tief ins Gesicht. Niemand nahm Notiz von ihr. Wunderbar. Jetzt endlich hatte Felicia Zeit, sich zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollte. Sie hatte keine Unterkunft. Und die paar Dollar, die 27
sie in der Tasche hatte, würden auch nicht mehr lange reichen. Fazit: sie brauchte Arbeit! Wo aber sollte sie anfangen? Sie seufzte und biss in ihr Brötchen. Während sie aß, schnappte sie einen Teil der Unterhaltung zwischen zwei Jungen auf, die jenseits der Trennwand hinter ihr saßen. „Warum habe ich mich bloß darauf eingelassen! Damit hab ich uns jetzt die ganzen Ferien versaut!“, sagte der eine. „Ich hab einfach nicht mehr dran gedacht.“ „Wie kann man aber auch so blöd sein, Bobby!“, sagte der andere. „Mensch, seit wie lang haben wir die Reise schon geplant! Wie konntest du das einfach vergessen?“ „Ich brauchte das Geld. Dr. Jones hat mir hundert Dollar im Voraus gegeben. Wie konnte ich da nein sagen?“ „Ich vermute ja stark, du hast dich deswegen darauf eingelassen, sein Haus und seine olle Katze in der Fear Street zu betreuen, damit er dir eine bessere Note gibt“, sagte der zweite Junge. „Jetzt erhoffst du dir, dass er dir ein B-plus gibt statt ein B-minus.“ Bobby lachte. „Ja, kann sein.“ „Ich fasse es nicht“, fuhr der zweite Junge fort. „Kannst du denn niemand anders finden, der den Katzensitter spielt?“ Felicia grinste, als sie das hörte. „Es wurde aber auch Zeit, dass mal was zu meinen Gunsten läuft“, dachte sie. „Die zwei haben doch haargenau das für mich, was ich brauche.“ „Das könnte klappen – aber du musst schon überzeugend auftreten“, sagte sich Felicia. Sie holte tief Luft. Jetzt oder nie. Dann drehte sie sich um und beugte sich zu den beiden hinüber.
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Kapitel 6 „Entschuldigung“, mischte sich Felicia in das Gespräch ein. „Sprecht ihr von Dr. Jones, dem College-Professor?“ „Ja“, sagte der Junge namens Bobby. Er trug einen Dreitagebart, und eine Baseballkappe thronte verkehrt herum auf seinem Haupt. „Warum fragst du?“ „Ich kenne ihn“, sagte sie mit heiterer Stimme. „Mein Vater ist ein guter Freund von ihm. Wenn ihr wollt, kann ich auf sein Haus aufpassen.“ „Echt?“, ließ sich der zweite Typ vernehmen. Sein Haar bestand aus zottigen Stacheln, auf seinem T-Shirt prangten griechische Buchstaben. „Greif zu, Bobby, und dann machen wir uns auf die Socken!“ „Immer langsam“, sagte Bobby. „Ich kann ihr doch nicht einfach so Dr. Jones’ Hausschlüssel in die Hand drücken. Woher soll ich denn wissen, dass sie ihn wirklich kennt?“ „Weil es so ist“, sagte Felicia. Der zweite Typ grinste. „Die si t doch nett, Bobby. Los, gib ihr die Schlüssel.“ Bobby kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Und, weißt du, wo er wohnt?“, wollte er von Felicia wissen. „In der Fear Street, richtig?“ „Richtig. Nummer sechshundertsiebenundzwanzig.“ Jetzt komm schon, Bobby“, drängte der andere. „Warte noch!“, fuhr Bobby ihn an. Er starrte Felicia an und sagte: „Dr. Jones ist mindestens einen Monat weg. Auf Safari oder so was. Er hat mich gebeten, jeden Tag nachzusehen, ob alles in Ordnung ist. Inklusive Katze füttern und Blumen gießen. Meinst du, du kriegst das hin?“ „Ja doch“, sagte Felicia und rollte mit den Augen. „Ich glaub, ich krieg das hin.“ Bobby griff in seine Tasche und warf Felicia einen Schlüssel zu. „Dass du mir den ja nicht verlierst!“, drohte er. „Ich weiß, ich weiß“, gab Felicia zurück. „Dein B-plus hängt 29
davon ab.“ „Okay, Mann!“, rief der andere. „Jetzt aber nichts wie weg! Komm!“ Sie standen auf und beeilten sich, hinauszugelangen. Felicia räusperte sich geräuschvoll und rief noch: „Bobby?“ Er blieb stehen und drehte sich verärgert um. „Was ist denn noch?“ „Äh, hast du nicht gesagt, Dr. Jones hätte dir vor seiner Abreise hundert Dollar im Voraus gegeben?“ Er runzelte die Stirn. Ja, und?“ „Gib mir fünfzig und wir sind quitt. Und die Miezekatze wird auch nicht verhungern.“ „Fünfzig?“ „Wenn ein großer schlauer College-Junge hundert wert ist, wird doch wohl ein High-School-Mädchen fünfzig wert sein, meinst du nicht?“ „Dir geht’s wohl zu gut!“, protestierte Bobby. „Gib ihr schon das Geld, Mann“, sagte sein Freund ungeduldig. „Lass uns endlich abhauen.“ „Denk doch mal nach, Bobby. Dir bleiben immerhin noch fünfzig Dollar fürs Nichtstun“, versuchte Felicia ihm klarzumachen. Bobby schüttelte den Kopf. Doch dann langte er in seine Tasche und fischte ein paar zerknüllte Dollarnoten hervor. Er legte sie vor Felicia auf den Tisch. „In vier Wochen bin ich wieder zurück“, sagte er. „Lass den Schlüssel dann für mich im Briefkasten.“ Er wollte schon gehen, da fiel ihm noch etwas ein. „Da fällt mir ein, wie heißt du eigentlich?“ „Felicia“, sagte sie schnell, „Felicia Smith.“ „Soso“, sagte er, „Danke, Felicia Smith. Ich sollte dir noch was spendieren.“ „Lass nur. Du hast mir ja schon Geld gegeben.“ Bobby nickte. Dann gingen die beiden Jungen. Felicia rutschte wieder auf ihren Platz zurück. „Hab ich das nicht toll hingekriegt!“, dachte sie stolz. Felicia fand Dr. Jones’ Haus auf Anhieb. Die große viktorianische Villa stand abseits der Straße. Sie ging die Treppe zur Veranda hinauf und spähte durchs Fenster nach drinnen. Sie konnte nicht viel erkennen. 30
Felicia holte den Schlüssel heraus und schloss die Haustür auf. Die Tür ging knarrend auf. Vorsichtig trat Felicia ein. Eine große Tigerkatze begrüßte sie mit einem Miau. Felicia hob sie auf und schaute auf ihr Halsband. „Miss Quiz“ stand darauf. Komischer Name für eine Katze, fand Felicia. „Diese Katze muss mindestens fünfzehn Pfund wiegen“, dachte sie. „Die schleppt bestimmt immer tote Ratten an und legt sie als freudige Überraschung für ihr Herrchen auf die Veranda.“ Miss Quiz beschnüffelte Felicia und fing dann leise an zu schnurren. Felicia setzte die Katze wieder auf den Boden. Sie schloss die Haustür ab und überprüfte alle anderen Türen. Dann sah sie nach, ob alle Fenster geschlossen waren und ließ die Jalousien herunter. Nachdem sichergestellt war, dass alles seine Ordnung hatte, kehrte sie in den Wohnbereich zurück. Sie ließ sich in Dr. Jones’ Lesesessel fallen und warf Miss Quiz, die am anderen Ende des Zimmers saß, ein Lächeln zu. „Hier bei dir bin ich sicher, stimmt’s, Miezi?“ Miss Quiz starrte sie unvermittelt mit ihren gelben Augen an. Felicia lief ein Schauer über den Rücken. Wie konnte man sich in einer Straße sicher fühlen, die Fear Street hieß? Am nächsten Morgen tauchte Felicia in der Shadyside High-School auf. Siegesgewiss kam sie ins Sekretariat marschiert und tischte ihre bisher dickste Lüge auf. Die Sekretärin füllte ihre Anmeldung gutgläubig aus. Ihr kamen noch nicht einmal Zweifel, als Felicia ihr erklärte, die Zeugnisabschriften von ihrer vorherigen Schule seien, unterwegs’. Innerhalb von einer Stunde bekam Felicia einen Arm voll Bücher und einen vollständigen Stundenplan ausgehändigt. Es gelang ihr auf Anhieb, das Zahlenschloss an ihrem Schließfach zu öffnen. Sie ließ die Bücher, die sie erst am Nachmittag brauchte, darin verschwinden. Dann holte sie ein zerknittertes Foto von einem gut aussehenden älteren Mann aus ihrem Rucksack. Sie lächelte, als sie es anschaute. Papa. Sie klebte das Foto an die Innentür ihres Schließfachs, dann schlug sie die Tür zu. Auf ging’s zu ihrer ersten Unterrichtsstunde. Was für ein Gefühl, sich wieder in ein normales Leben einzufügen! Ein Teil der Menge zu werden. Ein ganz normales High-School31
Mädchen zu sein. Felicia genoss ihren ersten Tag in vollen Zügen. Nach ihrer letzten Unterrichtsstunde lud Felicia ihre Bücher im Schließfach ab und eilte zum Ausgang. Da fiel ihr auf, wie sie von einem Jungen am Ende des Flurs angestarrt wurde. Ihr Herz klopfte schneller. „O nein! Wieso starrt der mich so an? Weiß er, wer ich bin?“
Kapitel 7 Felicia warf noch einmal einen Blick zu dem Jungen hin. Dunkles Haar, braune Augen… Nick! Felicia schrie überrascht auf, als er auf sie zukam. „Was machst du denn hier?“, fragte er sie. „Eigentlich sieht er noch netter aus, als ich erst dachte“, fand Felicia. „Ich… äh, ich gehe jetzt hier zur Schule“, stammelte sie. „Wieso, ist daran was nicht in Ordnung?“ „Aber nein!“, sagte Nick. „Das ist die erfreulichste Nachricht, die mir heute zu Ohren gekommen ist. Dann ist wohl jetzt alles in Ordnung. Ich meine, nach dem Vorfall gestern und so.“ Felicia nickte. „Ich hab über ein paar Dinge nachgedacht. Ich bleibe vorübergehend in Shadyside.“ „Vorübergehend, soso“, sagte Nick. Eine Weile schwiegen sie. Felicia konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. „Hör auf, mich so anzustarren“, neckte sie ihn. „Weißt du nicht, dass das unhöflich ist?“ „He, du hast doch damit angefangen!“ „Quatsch. Ich wollte bloß wissen, wie viel Uhr es ist“, behauptete Felicia. „Da hinter dir hängt eine Uhr an der Wand.“ „Was du nicht sagst.“ Felicia zeigte mit dem Finger darauf. Nick drehte sich um – da war tatsächlich eine Uhr. „Na, so was“, murmelte er. Felicia musste lachen. „Ich glaube, ich gehe jetzt besser“, sagte Nick und machte ein 32
beleidigtes Gesicht. „Na komm, stell dich nicht so an“, sagte Felicia, als sie ihn nach draußen begleitete. „In welche Richtung gehst du?“, fragte er. „Richtung Fear Street“, antwortete Felicia. Nick machte ein verdattertes Gesicht. „Ist was?“, fragte Felicia. „Nein, nichts“, sagte er schnell und wandte den Blick ab. Das kaufte Felicia ihm nicht ab. „Irgendwas ist doch?“ „In der Straße ist schon so einiges vorgefallen. Schreckliche Dinge, um genau zu sein.“ „Ich wette, die könnte ich locker überbieten“, dachte Felicia. „Aber die sieht aus wie eine ganz normale Straße“, sagte sie. „Vielleicht hast du Recht“, murmelte er. „Hey, wie wär’s mit einem Hamburger?“ „Au ja!“, rief Felicia. „Aber lass diesen Nick nur ja nicht allzu nah an dich ran!“, sagte sie warnend zu sich selbst. „Du darfst auf keinen Fall den Mund zu voll nehmen, auch wenn er noch so Vertrauen erweckend aussieht!“ „Du kriegst ihn sogar eigenhändig von mir gebraten!“, versprach Nick. „Kannst du das denn?“ „Klar. Ich arbeite beim Burger Basket, in Teilzeit.“ „Cool.“ Unterwegs stellte Felicia Nick einige Fragen über die Schule. Sie wollte damit vermeiden, dass ihre Unterhaltung allzu persönlich wurde. Als sie bei dem Drive-in angekommen waren, nahm Nick Felicia mit nach hinten in die Küche. Ein blonder Junge, der damit beschäftigt war, Ketschup- und Senfflaschen aufzufüllen, grinste Nick zu. „Die Majonäse überlasse ich dir“, sagte er. „Ich hasse dieses Zeugs.“ Ein großer, magerer Mann mit einer biederen Frisur, weißem Hemd und schwarzer Krawatte kam mit zügigen Schritten aus einem Hinterzimmer herausmarschiert. „Hey, Nick!“, brüllte er. Jetzt aber zack, Mann! Du bist spät dran!“ „Tut mir Leid, Barry“, sagte Nick. „Ich bin aufgehalten worden.“ 33
„Das sehe ich“, erwiderte Barry. „Sieh mal zu, dass du zwei Dutzend Hamburger anleierst, heute Abend wird’s wieder voll. Mach schon.“ „Bin schon dabei“, sagte Nick und streifte seinen Rucksack ab. Dann deutete er auf Felicia. „Das ist Felicia.“ „Ah, Felicia.“ Barry nickte. „Die hilflose Tramperin.“ „Aha, Nick hat also den Retter in der Not raushängen lassen“, folgerte Felicia. „Ja, er hat mir beim Frühstück schon alles erzählt“, sagte Barry. „Er hat gesagt, er hätte es gleich mit vier Kerlen zu tun gehabt, um dich zu retten.“ „Was, vier?“, fragte Felicia ungläubig. „Das könnte ihm so passen.“ „Vier Kerle, Barry. Wenn ich dir’s doch sage!“, behauptete Nick mit einem Grinsen im Gesicht. „Nun hör schon auf mit dem Quatsch und mach dich an die Arbeit“, sagte Barry. „Und zieh bitte vorher deine Uniform an. Ich verlange, dass die Hamburger rechtzeitig fertig sind.“ Nick eilte hinaus in den Waschraum, um sich umzuziehen. „Okay“, dachte Felicia. „Das ist deine Chance.“ „Habt ihr nicht eine Stelle für mich frei?“, fragte sie Barry. Barry verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie, ohne zu antworten. „Ich brauche Geld“, erklärte Felicia. Barry strich sich mit der Hand über sein knochiges Kinn. „Hast du schon mal in einem Restaurant gearbeitet?“ „Ja, im Pizza Hut“, sagte Felicia. „Schon wieder so eine saftige Lüge“, dachte sie. „Aber so schlimm wird’s schon nicht werden. Ich seh einfach bei den anderen zu und mach es ihnen nach.“ „Ich mach dir einen Vorschlag“, sagte Barry, „du kannst gleich morgen dableiben. Ich werd sehen, dass ich dich für die Wochenendschicht einteile. Kannst du abends arbeiten?“ Sie musste möglichst viele Arbeitsstunden zusammenbekommen, damit sie sich ein Zimmer suchen konnte, sobald das mit der Hausbetreuung vorbei war. „Ich kann jederzeit“, sagte Felicia. „Und ich bin pünktlich, im Gegensatz zu Nick.“ 34
„He, ich hab genau gehört, was du da eben gesagt hast!“, beschwerte sich Nick, der gerade in seiner orangebraunen Uniform herauskam. „Ich kann hier anfangen“, sagte Felicia zu ihm. „Dann kannst du mich ja morgen herbegleiten, für den Fall, dass die vier Kerle wieder auftauchen!“ „Klingt gut“, murmelte Nick, während er sich eine orangefarbene Schirmmütze aufsetzte. „Stimmt“, sagte Barry und kicherte. “Zan wird begeistert sein.“ Nick starrte seinen Boss an. „Wer ist Zan?“, fragte Felicia. „Ich bin Zan“, ertönte eine strenge Stimme hinter Felicia. Felicia drehte sich um. Ein schmales Mädchen mit langem schwarzem Haar und hellblauen Augen stand in der Tür. In der einen Hand hielt sie einen Salatkopf, in der anderen ein riesiges Fleischermesser. „O je“, dachte Felicia. „Das ist sicher Nicks Freundin. Der Ring, den sie da an der Kette baumeln hat, ist bestimmt von ihm.“ „Zan“, sagte Nick schnell, „das ist Felicia. Ich hab dir schon von ihr erzählt.“ „Ach ja“, sagte Zan und nickte. „Die Tramperin. Ich heiße Zan. Eigentlich Alexandria.“ Sie lächelte Felicia an. „Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist. Wer weiß, was dir geblüht hätte, wenn Nick nicht vorbeigekommen wäre.“ „Stimmt“, sagte Felicia und fühlte sich ziemlich unbehaglich. „Felicia fängt jetzt auch hier an“, verkündete Barry. Dann zeigte er auf Nick: „Mach dich an die Arbeit. Und schick Kevin in die Pause. Er soll bis sechs zurück sein, da wird’s wieder voll hier.“ Nick begab sich zum Grill hinüber. Kurz darauf schlenderte der blonde Junge an ihnen vorbei. Er goss sich Sodawasser ein und ging dann durch die Hintertür nach draußen. „Hey, Barry!“, rief der Typ an der Kasse. „Die Schublade klemmt.“ Barry fischte einen Schlüssel aus seiner Tasche und eilte zur Theke. Zan und Felicia standen allein da. Felicia dachte angestrengt nach, was sie jetzt sagen sollte. „Äh, wie 35
lange arbeitest du hier schon?“, fragte sie. Zan gab keine Antwort, sondern musterte Felicia. Felicia merkte, wie es sie im Nacken kribbelte. Wieso starrte Zan sie denn so an! Ihre kalten blauen Augen jagten ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Da ging Zan auf Felicia zu. Sie hob das Fleischermesser. Und richtete es auf Felicias Brust. Felicia schrie vor Schreck auf. Sie stolperte rückwärts und starrte entsetzt auf die blitzende Klinge.
Kapitel 8 Zan kam näher. „Auch wenn du Nick dein Leben verdankst“, sagte sie mit eisiger Stimme, „Nick geht mit mir, verstanden?“ Da spürte Felicia wieder die Macht in sich anschwellen. „Nein!“, dachte sie. „Lass sie nicht heraus! Nicht hier!“ Sie trat noch einen Schritt zurück – und stieß gegen die Wand. Zan holte aus und wollte mit dem Messer zustoßen. „Halt!“, schrie Nick. Zan lachte nur und ließ das Messer sinken. „Hey, Felicia. Ich hab doch bloß Spaß gemacht“, sagte sie. „Ich brauche das Messer zum Salatschneiden.“ Dabei fuchtelte sie immer noch mit dem Messer in der Hand herum. Felicia war unfähig, etwas zu sagen. Sie benötigte ihre gesamte Konzentrationskraft, um diesen Drang in ihr unter Kontrolle zu bringen. Sie schaltete die Geräusche aus, die aus dem Restaurant herüberdrangen. Und sie hörte nicht mehr, was Nick und Zan sagten. Mit Hilfe ihres Willens versuchte sie, die Macht zur Rückkehr zu zwingen. Aber die Macht wollte nicht aufhören zu wachsen. „Sie bläst sich immer weiter auf“, dachte Felicia. Dann brach die Macht aus. Felicia zwang sie von sich weg. Weg von Zan, Nick und Barry. Weg von allen Leuten im Restaurant. In der Friteuse fing es an zu brodeln und zu zischen. 36
Heißes Fett spritzte auf den Fußboden. Ein Stapel nasser Tabletts fiel krachend von der Theke. Die Lampen flackerten. „Was ist hier los?“, brüllte Barry. Felicia nahm einen tiefen Atemzug, als sie merkte, dass es vorbei war. „Es ist okay“, sagte sie sich. „Jetzt ist es vorüber - und du hast niemanden dabei verletzt.“ „Das war ja richtig unheimlich!“, rief Nick. „Wahrscheinlich ist eine Sicherung durchgebrannt. Wir sollten zusehen, dass wir immer welche in Reserve haben“, sagte er zu Barry. „Ich besorge welche“, versprach Barry. „Jetzt aber zurück an die Arbeit.“ Zan wandte sich jetzt an Felicia. „Tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich hab wirklich nur rumgeblödelt.“ „Schon gut“, sagte Felicia. „Aber ich hab was gegen Messer.“ „Ach ja, daran hab ich gar nicht gedacht!“, entschuldigte sich Zan. „Dieser Typ im Auto ist ja auch mit einem Messer auf dich losgegangen, stimmt’s?“ „Richtig!“, fauchte Nick sie an. „Hey, das tut mir ehrlich Leid“, wiederholte Zan. „Echt.“ Felicia setzte ein Lächeln auf. „Ist schon okay.“ „Los, Leute!“, brüllte Barry. „Genug gefaulenzt! Felicia, ich erwarte dich morgen.“ „Danke, Barry“, sagte Felicia. Nick machte ihr für unterwegs noch einen Hamburger fertig. „Bis morgen dann!“, rief sie im Hinausgehen. „Das war mehr als knapp!“, dachte Felicia auf dem Heimweg. „Fast wäre die Macht außer Kontrolle geraten. Wer weiß, was dann Schreckliches passiert wäre!“ So was wie in Ridgely womöglich. „Hallo, Felicia! Komm, setz dich her!“ Felicia erkannte Zan, die ihr von einem der hinteren Tische im Aufenthaltsraum zuwinkte. Nick saß neben ihr. Felicia trug ihr Tablett zu dem Tisch hinüber und setzte sich den beiden gegenüber. „Hamburger schmecken besonders lecker, wenn man sie nicht 37
selbst gebraten hat, was?“, fragte Nick. „Mach dich nicht lustig“, sagte Felicia und quetschte sich eine große Portion Ketschup auf ihren Hamburger. „Gestern Abend um neun war ich fast soweit, aus den Latschen zu kippen.“ „Ich bin froh, dass du gerade jetzt aufkreuzt“, sagte Zan. „An Wochenenden haben wir immer Personalmangel.“ Felicia hatte Samstag und Sonntag Schichtarbeit gemacht. Es war heiß und chaotisch gewesen, aber es hatte ihr nichts ausgemacht. Barry und Nick hatten sie mit ihren Witzen bei Laune gehalten, und Zan hatte sich eigentlich als ganz nett entpuppt. „Geht es hier im Burger Basket anders zu als im Pizza Hut?“, wollte Nick wissen, während er mit der Gabel seine Hähnchenpastete zu einem braungrünen Mischmasch zerquetschte. „Och, eigentlich nicht“, antwortete Felicia. Sie rümpfte die Nase, als Nick noch immer nicht aufhörte mit der Manscherei. „Willst du das wirklich noch essen?“ „Klar, gleich“, sagte er. „Ich bin noch nicht fertig.“ „Nick gibt so lange keine Ruhe, bis er völlig sicher sein kann, dass das Hähnchen wirklich tot ist“, flüsterte Zan Felicia zu. Sie mussten lachen. „Das sieht aus wie schon mal gegessen, nicht wie etwas, was er noch vor sich hat!“, spottete Zan. Nick manschte und manschte. „Da hättest du ihn erst mal gestern Abend erleben sollen, als er sich über die Reste vom Salatbüffet hergemacht hat“, sagte Zan und schüttelte dabei angeekelt den Kopf. Bei der Arbeit fielen Nick alle möglichen üblen Scherze über das Essen ein. Felicia mochte seinen verdrehten Humor. „Ich finde es unglaublich, was Barry sich alles mit dir erlaubt“, sagte Zan. „Was soll ich sagen? Ich bin schließlich sein Star-BurgerBrutzler“, sagte Nick. „Und Felicia ist der Newcomer der Woche“, sagte Zan. „Jawohl!“, stimmte Nick zu und erhob seine Cola hoch in die Luft. „He, kipp die Cola nicht auf mein Essen!“, rief Zan. Felicia hielt die Hände über ihren Hamburger. 38
„Ein Toast auf Felicia, unsere jüngste Mitstreiterin im HamburgerTeam!“, rief Nick. Zan klatschte in die Hände, und alle nahmen einen Willkommensschluck Cola. „Danke, vielen Dank!“, rief Felicia und verneigte sich, als hätte sie soeben eine akademische Auszeichnung verliehen bekommen. Wie gut das tat, wieder Freunde zu haben, Leute, mit denen man sich die Zeit vertreiben konnte! Solange sie diese Freunde nicht zu nah an sich heran ließ. Und solange sie diese Freunde nicht in Gefahr brachte. Nach der Schule ging Felicia zu ihrem Schließfach und lud ihre Bücher ab. Sie machte ihre Schulaufgaben im Arbeitsraum, damit sie nichts mit nach Hause schleppen musste. „Cool“, dachte sie. „Für heute habe ich frei! Keine Schule mehr und kein Burger Basket. Ich werde mir irgendeinen alten Film im Fernsehen ansehen und mir eine große Schüssel Popcorn machen. Das wird ein toller Abend!“ „Ganz so toll vielleicht doch nicht“, musste sie zugeben. Nick würde ja nicht bei ihr sein. „Hör schon auf, dich zu quälen“, dachte sie. „Er kann schließlich machen, was er will. Er ist der Freund einer Freundin, und damit basta.“ Sie wollte schon das Schließfach zuschlagen, als ihr ein Umschlag auffiel, der an der Innenseite der Tür klebte. Gleich neben dem Foto ihres Vaters. Sie riss ihn ab. Es stand nichts darauf geschrieben. „Komisch“, dachte sie. Sie riss den Umschlag auf und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. An einer Ecke sah es aus wie angebrannt. Verkohlte Reste lagen noch in dem Umschlag. Felicia faltete das Blatt Papier auseinander – und erschrak. Jemand hatte mit einem orangefarbenen Stift daraufgekritzelt: ICH WEISS ALLES ÜBER DICH! Felicia merkte, wie ihr plötzlich übel wurde. Sie lehnte sich gegen das Schließfach. Das durfte einfach nicht wahr sein! Unter diesem Satz war eine deutlich lesbare Fotokopie ihres 39
Führerscheins abgedruckt. Mit ihrem richtigen Namen! Und ihrer Adresse in Ridgely. Sie hatte plötzlich einen sauren Geschmack in der Kehle, als ihr das Foto in ihrem Führerschein auffiel. Ihr Gesicht… Jemand hatte ihr Gesicht herausgebrannt.
Kapitel 9 Felicias Hände fingen an zu zittern. „Irgendjemand hier weiß, wer ich bin. Irgendjemand weiß, dass ich mit Nachnamen nicht Smith heiße, sondern Fletcher. Irgendjemand weiß, dass ich aus Ridgely komme.“ Aber wer? Wer bloß? Da spürte Felicia plötzlich einen Drang. Da war sie wieder, diese Macht in ihr! Sie spürte, wie sie wuchs. „Nein!“, sagte sie sich. „Du musst sie aufhalten. Du darfst sie nicht wieder herauslassen.“ Aber sie bekam sie nicht unter Kontrolle. Die Macht wuchs zu schnell. Die Schließfachreihe, vor der sie stand, begann zu beben. Die Metalltüren fingen an zu rumpeln und gegen die Schlösser zu klirren. Bumm! Bumm! Bumm! Die eingeschlossenen Bücher krachten von innen gegen die Türen. Die Tür zu Felicias Schließfach spielte jetzt völlig verrückt. Sie knallte auf und zu, auf und zu, auf und zu. Felicia warf sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen, damit sie zublieb. Sie spürte den Druck an ihrer Schulter. Sie stemmte die Füße in den Fußboden und versuchte, die Tür mit aller Kraft zuzuhalten. Peng! sprang sie auf. Felicia ließ sich auf die Knie fallen. Sie kauerte sich auf den Boden 40
und hielt sich die Ohren zu. Sie wollte dieses entsetzliche Geklirr und Gepolter nicht hören. Schließlich platzte ihr der Kragen. Sie rappelte sich auf und schrie: „Aufhören! Hör sofort auf! Ich bin es, die dir befiehlt, nicht umgekehrt!“ Wenige Sekunden später standen die Schließfächer still. Es wurde wieder ruhig im Flur. Felicia spähte um sich. Ob irgendjemand dieses Getöse mitbekommen hatte? Nein. Es war niemand zu sehen. „Gut, dass ich nach der letzten Schulstunde noch rumgetrödelt habe“, dachte Felicia. „In der Zeit sind die anderen längst nach Hause gegangen.“ Felicia machte ihre Schließfachtür zu. Sie ließ das Schloss zuschnappen und drehte den Knauf herum. Dann stopfte sie den schrecklichen Brief in ihren Rucksack und beeilte sich, ins Freie zu kommen. Als sie den Gehweg erreicht hatte, ging sie langsamer. „Ob mir jemand gefolgt ist?“, dachte sie. „Ob derjenige, der mir den Brief in mein Fach geklebt hat, weiß, dass ich zurzeit in der Fear Street wohne? Zumindest weiß er, welches Schließfach mir gehört.“ Sie zwang sich, so unbekümmert wie möglich zu wirken. Sie spazierte durch die Stadt und tat so, als mache sie einen Schaufensterbummel. An jeder Ecke schaute sie sich unauffällig um, ob ihr nicht jemand auf den Fersen war. Niemand. Als Felicia bei dem Cafe ankam, in dem sie Bobby und seinen Freund getroffen hatte, beschloss sie, hineinzugehen. Sie bestellte ein Sodawasser und setzte sich an einen Fensterplatz. „Niemand hier weiß, was mit mir los ist“, sagte sich Felicia, während sie aus dem Fenster schaute. Selbst wenn jemand ihren richtigen Namen herausfand, hieß das noch lange nicht, dass er auch über ihre Vergangenheit Bescheid wusste und den Grund dafür kannte, warum sie aus Ridgely fort musste. Aber was jetzt? Sollte sie wieder weglaufen? Sich wieder eine andere Stadt suchen? Oder sollte sie es riskieren, in Shadyside zu 41
bleiben, wo sie doch immerhin Arbeit und Unterkunft hatte. „Und Nick“, dachte sie. „Aber wenn ich ehrlich zu mir bin, habe ich ihn ja gar nicht.“ Was hätte Felicia darum gegeben, sich mit jemandem aussprechen zu können! Richtig aussprechen. Aber ihr fiel nur eine Person ein, der sie sich anvertrauen würde. „Ich könnte ihn ja anrufen“, dachte Felicia. „Ich könnte Nick doch einfach anrufen. Was ist denn schon dabei. Ich habe ja nicht vor, Zan ihren Freund auszuspannen.“ Felicia lief zum Münzfernsprecher hinüber und wählte die Nummer des Burger Basket. Barry nahm ab und holte Nick an den Apparat, ohne viel zu fragen. „Hey, was gibt’s?“, fragte Nick fröhlich. Felicia hörte, wie im Hintergrund jemand eine Bestellung durchrief. „Och, nichts… eigentlich.“ „Na toll, Felicia“, sagte sie zu sich selbst. „Das fängt ja gut an.“ Aber sie hatte es sich einfacher vorgestellt, mit Nick über sich zu sprechen. „Du klingst aber, als wenn doch was los ist“, sagte Nick und machte eine Pause. „Also, was ist es?“ „Ist Zan da?“, fragte sie. „Nein“, sagte Nick. „Sie hat heute frei.“ „Oh.“ „Vielleicht ist das ja eine dumme Idee von mir“, dachte Felicia. „Es ist vielleicht besser, wenn ich ihm nichts erzähle. Besser für mich… und für Nick.“ „Felicia, du kannst mir ruhig alles sagen, was dich bedrückt“, sagte Nick. Er klang richtig besorgt. Felicia seufzte. „Das ist es wohl, warum ich mit dir reden wollte.“ „Im Augenblick ist es ein bisschen ungünstig. Aber ich werde Barry bitten, dass er mich bald in die Pause lässt“, erwiderte Nick. „Wo bist du?“ Felicia zögerte einen Augenblick. „Ich bin im Cafe“, antwortete sie. „Nick, machst du Urlaub oder was?“, hörte sie Barry im Hintergrund schimpfen. „Barry kriegt gleich einen Anfall. Ich muss weitermachen, aber ich 42
komme so schnell wie möglich zu dir“, sagte Nick und legte auf. Felicia ging zu ihrem Tisch zurück. Ungefähr eine Viertelstunde später kam Nick.“ Er hat sich noch nicht mal die Zeit genommen, seine Uniform auszuziehen“, dachte Felicia. Nick ließ sich ihr gegenüber hinplumpsen. „Was ist passiert?“, fragte er gleich. „Eigentlich nichts, ich meine, na ja, um ehrlich zu sein, ich habe Angst.“ „Wovor denn?“ Felicia hätte sich am liebsten alles von der Seele geredet. Aber das konnte sie nicht riskieren. „Ich werde ihm bloß ein bisschen erzählen“, beschloss sie. „Nur ein kleines bisschen.“ Sie holte tief Luft und fing an: „Du und Zan, ihr seid die ersten Freunde für mich seit langer Zeit. Hier in Shadyside habe ich bisher wirklich Glück gehabt, aber ich habe…“ Sie zögerte. „Was hast du?“ Nick versuchte, ihr etwas Mut zu machen. „Ich habe Angst, dass ich das alles wieder verlieren werde“, antwortete sie 1eise. „Ich habe Angst davor, hier weg zu müssen.“ „Aber warum? Du hast dich doch eben erst hier niedergelassen“, wunderte sich Nick. „Ich kann nichts dafür, Nick!“ Felicia versuchte, Ruhe zu bewahren. Sie musste ihre Gefühle unter Kontrolle halten. „Ich bin eine Ausreißerin. Jetzt will ich schon wieder davonlaufen.“ Nick nahm ihre Hand und drückte sie. „Dann hör auf, davonzulaufen“, sagte er. „Ich weiß zwar nicht, wovor du wegläufst. Entweder du erzählst es mir oder du lässt es. Aber wie dem auch sei, ich bin trotzdem dein Freund. Und Zan auch. Wir möchten nicht, dass du weggehst.“ Felicia senkte den Blick. „Wenn Nick wüsste, was ich Schreckliches angerichtet habe, würde er das nicht sagen“, dachte sie. „Ich will ja auch gar nicht weggehen“, flüsterte sie. Sie schaute ihm in die Augen. „Mir gefällt es hier.“ „Na, dann bleib doch einfach hier“, sagte Nick. „Was immer du auch auf dem Herzen hast, ich bin für dich da. Versprochen.“ 43
Felicia lächelte ihn an. „Warum bist du bloß so nett zu mir, Nick? Du weißt doch überhaupt nichts über meine Person.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß selbst nicht, warum.“ „Tolle Antwort“, murmelte Felicia. Sie mussten lachen. Auch wenn Felicia ihm bis jetzt nicht viel erzählt hatte, fühlte sie sich schon besser. „Vielleicht kann ich ja doch bleiben“, dachte sie. „Aber ich muss unbedingt herausfinden, wer mir diesen Brief geschickt hat. Ich muss herausfinden, wie viel derjenige über mich weiß.“ „Es wird langsam spät“, sagte Nick. „Ich muss wieder zurück, sonst kriegt Barry wieder einen Anfall. Meinst du, du kommst klar?“ Felicia nickte. „Ja. Danke, dass du gekommen bist, Nick. Ich hab mich sehr gefreut.“ Nick stand auf. „Soll ich dich mitnehmen… irgendwohin?“, fragte er. „Die paar Minuten wird Barry schon noch warten können.“ „Nein, nein“, sagte Felicia schnell. „Ich werd noch ein Weilchen hier sitzen bleiben.“ „Okay“, sagte er. „Vielleicht kann ich dich ja irgendwann mal zu Hause besuchen.“ „Ja, vielleicht“, antwortete sie und fügte in Gedanken hinzu: „Aber wahrscheinlich nie.“ Felicia stand auf und umarmte Nick. Er zögerte erst, dann umarmte er sie auch. Dann trat er zurück, murmelte „tschüss“ und eilte hinaus. Felicia holte tief Luft. Sie musste über vieles nachdenken. Hauptsache, sie wusste jetzt, dass Nick für sie da war. Und Zan auch. Die beiden waren ihre Freunde. Ihre einzigen Freunde. „Ich werde dafür sorgen, dass ihnen nie etwas passiert“, schwor sie sich. „Und ich werde ihnen niemals Leid zufügen… so wie ich es mit Andy und Kristy getan habe. So werde ich meine Macht nie wieder einsetzen. Meine Macht zu töten.“
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Kapitel 10 Ridgely „Dr. Shanks verlangt immer mehr von mir“, beklagte sich Felicia bei ihrer Freundin Debbie Wilson. „Manchmal kriege ich richtig Angst vor ihm, weil er sich so ungeheuer reinsteigert.“ Felicia und Debbie spazierten barfuß am Strand in der Nähe des Ridgely College entlang. „Wie gut der Sand sich zwischen den Zehen anfühlt!“, dachte Felicia. Stunden hatte sie im Labor zugebracht, da brauchte sie jetzt einen langen Spaziergang, um wieder auf andere Gedanken zu kommen. „Mich beachtet Dr. Shanks fast gar nicht“, sagte Debbie. „Ich könnte das Experiment genauso gut abbrechen. Er hält mich ja doch nur für die reinste Zeitverschwendung.“ „Sei froh“, sagte Felicia. Debbie fuhr sich mit der Hand durch ihr kurzes blondes Haar, sodass es noch lockiger aussah als ohnehin schon. „Was, froh soll ich sein?“, rief sie aus. „Du hast diese ungewöhnliche Gabe und traust dich nicht, sie zu gebrauchen. Ich dagegen…“ Felicia hob eine flache Muschel auf und warf sie weit ins Meer. „Für dich ist das vielleicht was Tolles, aber ich hasse es! Ich hab einfach keine Lust, mich deshalb mein Leben lang von einem Haufen Ärzte in die Zange nehmen zu lassen.“ „Warum gehst du dann nicht woanders hin?“, fragte Debbie. „Du kannst deine Tante nicht ausstehen und du kannst Ridgely nicht ausstehen.“ „Das könnte ich Tante Margaret nicht antun. Sie sorgt für mich, seit mein Vater tot ist“, erklärte Felicia. Ich bin für sie wie eine Tochter.“ „Aber ihr vertragt euch doch nicht“, gab Debbie zu bedenken. „Doch, schon. Manchmal jedenfalls.“ „Das nennst du ,manchmal’, wo ihr doch ständig streitet?“, fragte Debbie. „Na komm schon, Debbie. Streiten tut jeder. Das gehört zum Leben.“ 45
„Ich würde mir das jedenfalls nicht gefallen lassen“, sagte Debbie. „Du bist schließlich nicht ich, oder?“, fauchte Felicia sie an. „Schon gut, schon gut. Andere Frage: Wie viele Bleistifte hast du heute auf Dr. Shanks abgeschossen?“, fragte Debbie. Felicia seufzte. „Keinen. Was meinst du, wie zornig er da geworden ist! Aber ich hab es heute einfach nicht geschafft.“ „Ich gäbe was drum, wenn ich das nur ein einziges Mal hinkriegen würde!“, sagte Debbie und seufzte. „So toll ist das nicht“, versuchte Felicia ihr klarzumachen. „Wen interessieren denn schon so doofe telekinetische Fähigkeiten? Du bist dafür intelligent. Das ist viel wichtiger.“ „Ja, ich bin sogar schlauer als die meisten Ärzte, die mich testen“, stimmte Debbie zu. „Aber intelligente Menschen gibt es genug.“ Sie wirbelte mit den Füßen Sand auf. „Aber was du kannst, kann sonst niemand. Du bist was Besonderes.“ Sie kamen an einem alten verlassenen Strandhaus vorbei. Die Fenster waren fast alle zerbrochen, das Dach hatte fast keine Schindeln mehr. „Ich hasse dieses Haus“, sagte Felicia. „Es ist so was von hässlich!“ „Dann reiß es doch ab“, schlug Debbie vor. „Ich kann doch das Haus nicht einfach abreißen! Spinnst du?“, rief Felicia aus. „Ich würde es tun“, sagte Debbie. „Wenn ich so eine Gabe hätte wie du, dann würde ich mir meinen Spaß damit gönnen, anstatt die Hände in den Schoß zu legen und ständig zu jammern.“ Felicia wurde wütend. Dass Debbie aber auch immer wieder damit anfing, sobald die Rede auf Felicias Begabung kam. Debbie war bloß eifersüchtig und sonst nichts! Dabei besitzt Debbie doch alles, was man sich nur wünschen kann als Mädchen, fand Felicia. Die Jungen stehen auf ihre blonden Locken, ihr hübsches Gesicht und ihren Schmollmund. Und sie ist die Klügste auf der ganzen Schule. Aber Debbie wollte auf Teufel komm raus diese Gabe besitzen, das Einzige, was sie eben nicht haben konnte. Felicia fragte sich, warum Debbie überhaupt an diesen 46
Experimenten teilnahm, die doch eine einzige Qual waren. Es gab doch bei ihr nicht das geringste Anzeichen dafür, dass sie auch diese übernatürliche Fähigkeit besaß. Ob sie etwa hoffte, sie würde sich von selbst entwickeln? Das konnte sie doch wohl vergessen. Felicias Vater jedenfalls hatte gesagt, Felicia hätte die Gabe von Geburt an. Genau wie er. „Ach, vergiss es“, sagte Debbie schließlich. „Wahrscheinlich könntest du das Haus noch nicht mal anknacksen. Es ist immerhin tausendmal größer als ein Bleistift.“ „Ich hasse sie, wenn sie so ist!“, dachte Felicia. „Ich hasse sie!“ Sie horchte in sich hinein und machte sich die Energie ihres Zorns zunutze. Da war sie, die Macht. Sie fühlte sie. Sie liebkoste sie. Dann grinste sie Debbie an. „Jetzt pass auf!“, sagte sie. Felicia drehte sich nach dem Haus um. Sie konzentrierte sich und spürte, wie ihr ganzer Zorn aufwallte. Mit jedem Herzschlag stieg der Zorn höher auf. Bald sah sie das Bild deutlich vor Augen. Wie das Dach einstürzte. Wie die Holzwände zersplitterten. Wie der Schornstein in einer roten Staubwolke zerfiel. Wie das ganze Haus schließlich zusammenkrachte. „Und der Hammer bin ich“, dachte Felicia. Sie schob die Macht aus sich heraus und zielte auf das Haus. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und liefen ihr übers Gesicht. „Weiter!“, dachte sie. „Weiter!“ Sie hörte, wie das Haus ächzte. Ein Adrenalinstoß durchfuhr ihren Körper. „Es klappt! Ich schaffe es tatsächlich!“ Eines der Fenster zerbrach. Ein anderes explodierte, Glas flog in alle Richtungen. Nägel flogen quietschend aus den Holzbrettern heraus. Felicia spannte sämtliche Muskeln an. Ihre ganze Kraft brach aus ihr heraus und donnerte gegen das Haus. Das Haus erzitterte heftig. Dann passierte alles gleichzeitig. Glas flog umher. Holz zersplitterte. Putz zerbröckelte zu Staub. Felicia fühlte sich erfrischt… und erschrak zugleich. 47
Das ist zu viel Kraft – viel zu viel Kraft! „Was ist das?“, rief Debbie. Felicia lauschte. Sie hörte Schreie. Schreie aus dem Innern des Hauses. Aus dem Innern der Trümmer. Die beiden Mädchen rannten die Dünen zum Haus hinauf, so schnell sie konnten. Dann erstarrte Felicia. „O nein!“ Felicia drehte sich der Magen um. „Nein, das darf nicht wahr sein!“ Sie zeigte auf die beiden Autos, die hinter dem Haus standen und zuvor nicht zu sehen gewesen waren. Debbie erblasste. „Das sind die Autos von Andy und Kristy!“ Andy Murray und Kristy List. Das Klassenpärchen. Sie gingen schon seit der Junior High-School zusammen. Die konnten doch unmöglich in dem Haus sein! „Bloß nicht!“, dachte Felicia verzweifelt. „Hoffentlich sind die nicht da drin!“
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Kapitel 11 „Komm!“, schrie Debbie. Sie packte Felicia an der Hand und zerrte sie mit sich zu den Trümmern. Felicia ergriff ein Brett und warf es beiseite. Dann das Nächste. Sie jagte sich Splitter in die Handflächen und schrammte sich an den Nägeln. Aber sie kümmerte sich nicht darum und wühlte weiter. Sie musste ihre Freunde finden! „Andy! Kristy!“, schrie Felicia immer wieder, bis sie schon ganz heiser war. Sie versuchte mit aller Kraft, sich immer weiter in den Trümmern vorzugraben. Putzstaub drang ihr in Nase und Lunge. Sie bekam keine Luft mehr und hustete, ihre Augen brannten. „Neiiin!“, schrie Debbie auf. Felicia rannte zu ihr hinüber. Debbie wandte sich ab. Sie fiel auf die Knie und musste sich übergeben. Felicia starrte zu Boden. Da sah sie einen Arm, einen schlanken Arm voller Sommersprossen; ein Freundschaftsring steckte an einem Finger. „Oh, Kristy!“, schrie Felicia. Sie kniete sich hin und legte Kristys Kopf in ihren Schoß. Andy lag direkt neben ihr. Felicia schossen die Tränen in die Augen. „Und ich bin schuld“, dachte sie. „Ich habe sie getötet.“ Shadyside Felicia schauderte. Niemals in ihrem Leben würde sie die toten starren Augen von Andy und Kristy vergessen können. Sie zwang sich, schneller zu gehen. Aber sie konnte das Gefühl, dass jemand sie beobachtete, nicht abschütteln. Jemand, der ihr in einiger Entfernung folgte. Wenn sie bloß schon zu Hause wäre bei Miss Quiz, wo sie sich sicher fühlen konnte. „Wie finster es hier überall ist“, dachte Felicia, als sie in die Fear Street einbog. Nur in wenigen Fenstern schien mattes gelbes Licht, die meisten waren dunkel. 49
Endlich tauchte Dr. Jones’ Haus auf. Felicia warf schnell noch einen Blick zurück. Die Straße war immer noch menschenleer. Gott sei Dank. Sie lief über den Rasen auf die Verandatreppe zu. Sie nahm gleich zwei Stufen auf einmal. „Ich muss ins Haus. So schnell wie möglich“, dachte sie. Felicia zerrte den Schlüssel aus der Tasche – und ließ ihn fallen. „Immer mit der Ruhe!“, sagte sie sich. „Niemand folgt dir. Du bist zu Hause. Du hast nichts zu befürchten.“ Sie bückte sich und hob den Schlüssel vom Boden auf. Dabei stach sie sich einen Holzspan in den Finger. „Au!“ Sie zog den Span mit den Zähnen wieder heraus. Miss Quiz schlief drinnen am Wohnzimmerfenster. Als sie Felicia bemerkte, stand sie auf und machte einen riesigen Katzenbuckel. Felicia klopfte ans Fenster. „Hallo, Miezi!“, rief sie. Kaum hatte sie den Schlüssel ins Schlüsselloch gesteckt, da ging auch schon die Haustür auf, ohne dass sie ihn umdrehen musste. „Die Tür war nicht abgeschlossen!“, dachte Felicia. „Aber ich habe sie heute Morgen abgeschlossen, da bin ich mir ganz sicher!“ Felicia stockte das Herz. Ob jemand im Haus war? Vielleicht ein Einbrecher? Oder derjenige, der den Brief geschickt hat. Der das Foto verbrannt hat! Sie spürte ein Kribbeln. Die Macht in ihr wollte sich wieder bemerkbar machen. „Nein“, dachte sie. Ich lasse sie nicht heraus. Das ist zu gefährlich!“ Felicia trat ins Haus und lauschte. Miss Quiz kam angelaufen und rieb sich laut schnurrend an ihren Beinen. „Miss Quiz ist gar nicht aufgeregt“, stellte Felicia fest. „Vielleicht ist dann doch niemand hereingekommen.“ „Aber Katzen sind nicht wie Hunde“, fiel Felicia ein. Miss Quiz würde sich wahrscheinlich gar nicht darum scheren, wenn ein Fremder ins Haus kam – solange er sie in Ruhe ließ. Felicia ging ins Treppenhaus. Sie spähte ins Wohnzimmer. Da war nichts. Sie holte tief Luft und lief ins Esszimmer. Auch nichts. 50
Felicia riss den Schürhaken vom Kaminständer. Er war schwer und gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Gegenüber war die Küche. „Ich muss nur immer gleich den Lichtschalter finden, damit ich sehe, was los ist“, sagte sie sich. Vorsichtig machte sie einen Schritt – und hielt inne. Was war das? Knack! Da! Wieder knackte es. Woher kam das? Von oben? Von unten? Von hinten? Sie hätte es nicht sagen können. Felicia fuhr herum. Hinter ihr war nichts. Sie überwand sich, weiterzugehen. Sie huschte zur Küche hinüber und fuhr mit den Händen die Wand entlang. Wo war bloß der Lichtschalter? Da endlich! Felicia schaltete das Licht ein. In der Küche war auch nichts. Jetzt hatte Felicia noch Dr. Jones’ Arbeitszimmer vor sich, wo sie am liebsten saß und las oder lernte. „Und dann noch zwei Stockwerke und der Keller“, dachte sie mit Grausen. „Wenn ich nicht vorher noch einen Herzanfall kriege.“ Felicia hielt den Schürhaken fest umklammert und schlich in den Flur. „Vielleicht habe ich heute Morgen die Haustür ja wirklich nicht richtig zugemacht“, überlegte sie. Dabei wusste sie ganz genau, dass sie so etwas nie vergaß. Felicia näherte sich jetzt dem Arbeitszimmer. Riesige Regale voller Bücher türmten sich auf beiden Seiten auf. Unglaublich, wie viele Bücher Dr. Jones besaß! „Wenn ich die alle durchblättern wollte, wäre ich mein Leben lang beschäftigt“, dachte Felicia. Sie ging bis zur Türschwelle und tastete nach dem Lichtschalter. Da schlug ihr eine gewaltige Hand auf die Schulter. „Hau ab!“, schrie Felicia. Sie fuhr herum und erhob den Schürhaken, um zuzuschlagen. „Miau!“, machte es. Miss Quiz sprang von Felicias Schulter auf das oberste Bücherregal. „Du dumme Miss Quiz, ich hätte dir fast den Kopf abgeschlagen!“, 51
rief Felicia. „Was soll denn das?“ „Miau“, sagte Miss Quiz. „Du könntest dich wenigstens entschuldigen!“, schimpfte Felicia. Sie drehte sich um und machte das Licht an. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, wurde ihr fast übel. „Jemand ist hier drin gewesen! Ohne Zweifel!“ Der Inhalt von Dr. Jones’ Rolltürschreibtisch lag wild verstreut auf dem Fußboden. Dazwischen lagen Felicias Schulbücher, aus denen Seiten herausgerissen waren. Und ihre Kleider, ihre Kassetten, alles, was sie besaß. „Wer hat das bloß getan? Wer kann so einen Hass auf mich haben?“ Felicia hob ihren Lieblingspullover auf. Er war zerrissen. Den konnte sie noch nicht mal mehr im Haus anziehen. „Hier kann ich nicht bleiben“, dachte sie. „Nicht in diesem Zimmer.“ Sie drehte sich um - und schrie erschrocken auf. An der Wand stand etwas geschrieben – in roter triefender Farbe. „Ist das Blut?“, dachte Felicia entsetzt. Sie versuchte, die verschmierten Buchstaben zu entziffern. Ihr Herz pochte laut, als sie begriff, was da geschrieben stand. VERSCHWINDE VON HIER! ICH WEISS ALLES!
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Kapitel 12 Alles! Der, der das geschrieben hatte, wusste also auch über den Tod von Andy und Kristy Bescheid. Er wusste, dass Felicia eine Mörderin war. Felicia ging auf die Wand zu. Sie streckte die Hand aus und befühlte die glänzend rote Flüssigkeit. Sie zerrieb sie zwischen den Fingern. „Das ist kein Blut“, dachte sie. „Das ist Farbe. Und sie ist noch nicht getrocknet. Das heißt, es ist noch gar nicht lange her, dass jemand das da hingeschrieben hat.“ Felicia lief durchs ganze Haus. Doch sie konnte niemanden finden. Sie hatte auch nicht damit gerechnet, jemanden aufzuspüren. Wieso sollte jemand etwas an die Wand schreiben und dann darauf warten, ob Felicia es auch wirklich las. Die Schrift war schließlich auffällig genug. Felicia lief in die Küche und füllte einen Eimer mit warmem Seifenwasser. Dann packte sie so viele Schwämme, wie sie finden konnte, und lief zu der verschmierten Wand zurück. Sie setzte den Eimer ab, tauchte einen Schwamm in das warme Wasser und machte sich über die Schmiererei her. Sie rieb so heftig, dass ihr die Schultern wehtaten und ihre Arme zitterten. „Du kriegst mich nicht unter!“, dachte sie. „Um mich zu schlagen, musst du dir schon was Besseres einfallen lassen.“ Felicia schleppte den Eimer zum Waschbecken zurück und leerte ihn aus. Sie schauderte, als sie zusah, wie das blutrote Wasser in das weiße Emailbecken spritzte. Sie wrang die Schwämme aus und füllte den Eimer von neuem. Dann gab sie etwas Katzenfutter in Miss Quizs Futternapf und stellte ihr frisches Wasser hin. Sie nahm den Eimer auf und ging noch einmal zu der Wand zurück. Felicia scheuerte so lange, bis von der roten Farbe keine Spur mehr zu sehen war. Dann sammelte sie Dr. Jones’ Utensilien auf und legte sie sorgfältig zurück in den Schreibtisch. 53
Felicia dehnte ihre Arme über dem Kopf und spannte die Muskeln an. Dann beugte sie sich vor und lockerte die Arme. Sie wiederholte das Ganze und versuchte, so gut es ging, sich zu entspannen. Aber sie musste ständig daran denken, was passiert war. Jemand war eingebrochen und hatte ihre Sachen durchwühlt. Felicia richtete sich auf und stieß einen Seufzer aus. „So, jetzt muss ich wohl meine Sachen wieder einsammeln“, dachte sie. Bis sie endlich das ganze Zimmer wieder in Ordnung gebracht hatte, war es fünf Uhr morgens. „Kaum noch Zeit zum Schlafen, ehe die Schule anfängt“, dachte sie. Am liebsten hätte sie einen Tag ausfallen lassen. Aber Schuleschwänzen war zu gefährlich. Ihre Lehrer oder der Schuldirektor würden sonst noch auf die Idee kommen, ihr dumme Fragen über ihre Eltern zu stellen. „Und, geht’s dir gut?“, fragte Nick am Abend. „Was?“, fragte Felicia geistesabwesend und gähnte. „Ich habe gefragt, ob… es… dir… gut… geht“, wiederholte Nick. Er saß ihr gegenüber und ließ sich einen Burger BasketSchlemmermeister’ schmecken – der Renner zurzeit. Sie hatten beschlossen, in der Mittagspause draußen hinter dem Restaurant zu sitzen. Dort gab es neben dem Müllcontainer einen kleinen Picknicktisch für die Angestellten. „Ja, es geht mir gut“, antwortete sie schließlich. „Aber du hast dein Essen noch gar nicht angerührt.“ Felicia stöhnte und schob ihren Teller beiseite. „Wenn ich noch mehr von diesem fettigen Zeugs esse, wird mir schlecht.“ „Was ist los?“, fragte er. „Du siehst erschöpft aus.“ Fast wäre es Felicia lieber gewesen, wenn Zan an diesem Abend da gewesen wäre. Ihr war jetzt überhaupt nicht danach, Nick ihr Herz auszuschütten. „Ich hab letzte Nacht kaum geschlafen“, antwortete sie. „Hattest du Albträume?“, fragte er. Sie kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Was weißt du darüber?“, fragte sie. „Nichts“, sagte er. „Aber das ist bei manchen Leuten der Grund, 54
warum sie nicht schlafen können. Stress kann es auch sein.“ „Ach, was weit du schon, Nick“, murmelte Felicia. „Vergiss es einfach.“ „Du hast Recht“, sagte er verärgert. „Ich weiß nichts. Ich bin total blöd.“ Felicia starrte ihn an. Er achtete nicht darauf. Stattdessen nahm er ihre Hand und drückte sie sanft. „Sag mir doch, was dich bedrückt“, bat er. „Ich bin von zu Hause ausgerissen“, sagte Felicia. Mehr nicht. Nick nickte. „Ich weiß. Das sagtest du bereits.“ „Ja, aber so einfach ist das nicht.“ „Macht nichts, dann ist es eben kompliziert. Lass hören.“ „Meine Eltern sind tot. Mein Vater starb vor ungefähr zehn Jahren.“ Es fiel ihr schwer, mit fester Stimme zu sprechen. „Was ist mit deiner Mutter?“ „Sie starb bei meiner Geburt“, sagte Felicia. Nick sagte nichts. „Bei meiner Tante Margaret gefiel es mir überhaupt nicht“, fuhr Felicia fort. „Obwohl sie es vermutlich gut gemeint hat mit mir. Und ich mag sie ja auch, denn sie ersetzt mir meine Familie. Sie ist die Schwester meines Vaters. Aber wir haben uns ständig gestritten.“ „Deshalb bist du wohl weggegangen“, sagte Nick vorsichtig. Sie nickte. „Das ist cool, Felicia. Ich…“ „Nein, Nick“, unterbrach sie ihn. “Nein.“ „Was?“ „Das… das ist noch nicht alles.“ „Was noch?“ „Noch eine ganze Menge.“ Felicia rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Es fiel ihr schwer, Nick ins Gesicht zu sehen. „Erzähl ruhig weiter“, sagte Nick. „Auf dem College war ich in etwas verwickelt, wovon niemand etwas wusste“, sagte sie. Nick beugte sich vor. „Und was?“ „Äh, na ja, es ging um ein Experiment in der psychologischen Abteilung. Die haben mich dort… getestet.“ „Getestet?“, fragte Nick verwundert. „Wofür?“ 55
Felicia machte eine Pause. Sie musste unwillkürlich grinsen. „Was ist denn jetzt so lustig?“ „Na, das eben“, antwortete sie und lachte. „Eigentlich ist es ein Witz, wenn ich dir das alles erzähle. Du wirst mir doch nicht glauben, weil es so unfassbar ist.“ Nick musste auch lachen. „Na komm schon, Felicia, spann mich nicht so auf die Folter!“ Felicia holte tief Luft. „Es ging um psychologische Experimente. Aber nicht um solche, von denen in Lehrbüchern die Rede ist.“ „Versteh ich nicht“, sagte Nick. „Ich kann es ihm nicht sagen“, dachte Felicia. „Ich würde gern, aber ich kann es nicht. Er wird denken, dass ich geisteskrank bin oder so was.“ „Die Ärzte glaubten, sie könnten etwas über meinen Verstand herausfinden“, sagte Felicia schnell. „Ich hab nicht richtig verstanden, was sie eigentlich wollten. Aber aus irgendeinem Grund hatten sie mich für ihre Tests ausgesucht.“ „Stell jetzt bloß keine Fragen!“, bat Felicia ihn insgeheim. „Das versteh ich nicht“, sagte Nick ärgerlich. „Die brauchen doch für so was eine Einwilligung!“ „Die haben sie ja auch gekriegt – von Tante Margaret. Sie dachte, das wäre gut für mich.“ Felicia seufzte. Gut, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hatte und ihr noch schnell etwas Glaubhaftes eingefallen war. „Jedenfalls musste ich dort weg. Die Ärzte wollten mich fast die ganze Zeit im Labor haben. Ich verlor alle meine Freundinnen. Und ich vermisste meinen Vater. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Da musste ich abhauen.“ „Und jetzt?“ „Und jetzt“, sagte sie und deutete um sich,, jetzt bin ich in Shadyside. Ich fange ein neues Leben an.“ Sie zog seine Hand näher an sich heran. „Und ich habe einen neuen Freund.“ „Aber klar“, sagte Nick und lächelte. Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. Felicia blinzelte verlegen. „Aber Nick!“ Nick zuckte mit den Schultern. „Diesmal war ich mit dem Küssen dran.“ 56
Ein Gefühl der Wärme stieg in ihr auf. Endlich konnte sie jemandem nah sein. Auch, wenn sie ihm nicht alles erzählen konnte. Nick beugte sich wieder zu ihr herüber und blickte auf ihren Mund. Felicia neigte den Kopf und wartete auf den Kuss. Peng! Da flog die Hintertür des Restaurants auf. Felicia zog sich mit einem Ruck zurück. Sie merkte, wie sie rot wurde. Es war Barry, der den Kopf herausstreckte. „An die Arbeit, ihr Faulenzer!“ „Gott sei Dank, dass es nicht Zan war!“, dachte Felicia. Sie warf ihren Abfall in den Müllcontainer und eilte nach drinnen, ohne auf Nick zu warten. Um zehn schloss Barry die Eingangstür ab. Kurz darauf klopfte jemand an die Hintertür. „Ich geh schon!“, rief Felicia. Sie setzte ihren Stapel schmutziger Tabletts neben dem großen Spülbecken ab und machte die Tür auf. Zan stand draußen, ganz in schwarz. Stiefel, Leggings, Pullover, alles in schwarz. Ihre Augen sahen noch blauer aus als sonst. „Du und Nick, ihr arbeitet wohl heute Abend alleine hier, was?“, fragte Zan. „Äh, nicht unbedingt. Barry ist auch da.“ „Hoffentlich werde ich jetzt nicht schon wieder rot!“, dachte Felicia. Sie trat einen Schritt zurück und Zan kam herein. „Hey, Nick! Ich bin’s, dein Chauffeur!“, rief sie und grinste Felicia an. Nick kam ins Hinterzimmer getrottet. Zan nahm ihn an der Hand und zog ihn mit sich zur Tür. „Komm, wir gehen. Ich hab hier nichts verloren, wenn ich frei habe.“ „Bis morgen!“, rief Nick Felicia im Hinausgehen zu und warf ihr noch einen langen Blick zu. Dann war er weg. Felicia ließ sich noch etwas Zeit, ehe sie ging. Sie wollte Nick und Zan nicht zusammen wegfahren sehen. „Soll ich dich mitnehmen?“, fragte Barry, als sie zum Hinterausgang ging. „Nein, danke. Ich laufe lieber, das tut mir gut.“ Barry nickte und hob die Hand zum Abschied. 78 Felicia öffnete die Tür und atmete die kühle Nachtluft tief ein. 57
Da hörte sie Stimmen. Es klang wie Streit. Nick und Zan. „Vielleicht kann ich mich ja davonmachen, ohne dass sie mich sehen“, dachte Felicia. „Ich will ihnen nicht gerade mitten im Streit über den Weg laufen.“ Sie schlich an der Wand entlang am Müllcontainer vorbei. Da hörte sie etwas, was ihr den Atem verschlug. „Pass bloß auf, Nick!“, rief Zan drohend. „Ich kenne die Wahrheit über Felicia, ich weiß alles!“
Kapitel 13 Zan. Zan wusste also Bescheid. Felicia zuckte zusammen bei dem Gedanken. „Ist es Zan, die mir an den Kragen will? Hat sie mir meinen Führerschein gestohlen und diese schrecklichen Worte an Dr. Jones’ Wand geschmiert?“ Felicia huschte um die Ecke des Burger Basket. Zan sollte sie nicht sehen. Sie brauchte nicht zu wissen, dass Felicia sie gehört hatte. „Lass die Finger von ihr, klar?“, hörte sie Zan mit schriller Stimme rufen. Felicia fing an zu rennen. Sie spürte, wie die Macht in ihr anschwoll. „Nein“, befahl sie sich. „Lass sie nicht heraus!“ Felicia konzentrierte sich auf das Geräusch, das ihre Turnschuhe auf dem Gehsteig machten. „Bleib ruhig. Bleib ruhig. Bleib ruhig.“ Mit jedem Schritt wiederholte sie diese Worte. Da spürte sie, wie die Macht schwächer wurde. „Vielleicht lerne ich ja doch noch, sie zu kontrollieren“, dachte Felicia. Sie ging langsamer und kehrte in Gedanken zu Zan zurück. „Selbst wenn es wirklich Zan war, die mir meinen Führerschein gestohlen hat“, überlegte Felicia, „dann wüsste sie trotzdem nichts weiter über mich als meinen richtigen Namen und meine Adresse. Das würde ihr nicht viel nützen.“ 58
Bis auf die Adresse von Ridgely vielleicht. „Womöglich will Zan einfach etwas Schlechtes über mich herausfinden, um zu vermeiden, dass Nick sich allzu sehr für mich interessiert“, überlegte Felicia. Konnte Zan denn ihre Schritte bis nach Ridgely zurückverfolgt haben? Konnte sie etwas über das Haus am Strand herausgefunden haben? Und über Andys und Kristys Tod? „Eigentlich nicht“, dachte Felicia. Selbst in Ridgely wusste kaum jemand etwas über ihre übernatürlichen Kräfte. Die Polizei wusste davon – sie hatte mit Dr. Shanks und den anderen wegen des eingestürzten Hauses darüber gesprochen. Aber es war wohl nicht anzunehmen, dass die Polizei etwas davon herumposaunte. So was fiel doch unter streng geheim’. Wie kalt und zornig Zan geklungen hatte, als sie Nick zuredete, er solle sich von Felicia fern halten! „Es lässt mir keine Ruhe, ich muss einfach rausfinden, wie viel Zan tatsächlich weiß“, dachte Felicia. „So schnell wie möglich muss ich das wissen!“ Am nächsten Morgen traf Felicia Nick in der Schule vor seinem Schließfach. „Wo ist Zan?“, fragte sie wie beiläufig. „Weiß ich nicht“, antwortete Nick. „Ich hab sie heute noch nicht gesehen.“ „Äh, Nick?“ „Wie soll ich ihm das jetzt bloß sagen?“, fragte sie sich. Die Probleme zwischen Nick und Zan gingen sie doch eigentlich nichts an. „Es sei denn, sie streiten sich wegen mir“, korrigierte sie sich. „Was?“, fragte Nick, während er die Schließfachtür zuschlug. „Gestern Abend habe ich gehört, wie du und Zan draußen vor dem Burger Basket gestritten habt.“ Nick rollte mit den Augen und stöhnte. „Es tut mir Leid“, sagte Felicia. Ich wollte nicht lauschen, aber ihr wart ganz schön laut.“ „Ja, ich weiß.“ Nick zuckte mit den Achseln. „Zan ist mal wieder eifersüchtig.“ „Wirklich?“ Wie gern hätte Felicia sich Nick anvertraut, aber sie konnte es nicht riskieren. 59
„Was hast du denn gehört?“, fragte Nick. „Nicht viel“, antwortete Felicia. „Ich bin dann weggegangen. Ich hab nur gehört, wie Zan gesagt hat ’ich weiß die Wahrheit über Felicia.’“ „Ja“, sagte Nick ungehalten. „Sie bildet sich ein, dass du und ich uns zu nahe kommen.“ „Und, stimmt das?“, fragte Felicia. „Nein, finde ich nicht“, sagte Nick. „Aber Zan wird immer gleich wütend und sagt dann Sachen, die sie nicht so meint. Eigentlich mag sie dich ja, Felicia. Wirklich. Aber sie ist eben von Natur aus eifersüchtig.“ „Was ist es denn, was sie glaubt über mich zu wissen?“, bohrte Felicia weiter, ohne allzu neugierig scheinen zu wollen. „Nichts“, sagte Nick. „Aber in ihrer Vorstellung weiß sie alles über unsere ’Beziehung’. Da kann ich ihr noch so oft versichern, dass wir nur Freunde sind…“ „Freunde, die nichts gegen einen Kuss einzuwenden haben“, fügte Felicia in Gedanken hinzu. Aber sie war erleichtert. Zan wusste also ebenso wenig über ihre Vergangenheit wie Nick. Jetzt hatte Felicia ein richtig schlechtes Gewissen, weil sie so schlecht über Zan gedacht hatte. Aber es hatte doch wirklich so geklungen, als wäre sie hinter ein schreckliches Geheimnis gekommen. „Felicia?“, sagte Nick. „Was?“ „Was unseren Streit angeht: Ich hab Zan wieder beruhigt. Sie ist nicht böse auf dich oder so was. Tust du mir einen Gefallen?“ „Klar.“ „Es tut mir Leid, wenn du verstimmt bist. Aber ich möchte nicht, dass du Zan das, was sie gesagt hat, übel nimmst.“ Er starrte sie beschwörend an. „Ich bin nicht verstimmt“, sagte Felicia schnell. „Dann ist es gut… Zan hat eine schwere Zeit durchgemacht. Das war ganz schön schlimm für sie. Es ist nicht ihre Absicht, gemein zu sein. Bitte, versuche, besonders nett zu ihr zu sein, okay? Mir zuliebe?“ „Darf ich fragen, was für eine schwere Zeit sie durchgemacht hat?“ 60
Nick schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht.“ „Hey, komm schon, Nick“, drängte Felicia. „Ich hab dir doch gestern auch einiges anvertraut. Dann kannst du mir doch jetzt auch dein Vertrauen zeigen, oder?“ „Ich vertraue dir ja“, sagte Nick. „Und du vertraust mir, ja?“ „Ja, das habe ich dir doch eben gesagt.“ „Siehst du, und mit Zan ist es genau so“, gab Nick zurück. „Wenn sie will, dass du etwas erfährst, dann wird sie dir das selbst sagen.“ „Tut mir Leid, Nick. Du hast Recht“, sagte Felicia. „Okay. Du bist eine gute Freundin“, sagte Nick. Felicia setzte ein steifes Lächeln auf. Sie wünschte, es könnte anders sein zwischen ihnen. Konnten sie und Nick denn nicht mehr sein als Freunde? Aber leider hatte er schon eine feste Freundin. Und eine eifersüchtige noch dazu. Und Felicia hatte zu viele Geheimnisse. „Endlich Freitag!“, dachte Felicia ein paar Tage später. Und ein freier Abend stand ihr bevor! Den konnte sie wirklich brauchen nach dieser anstrengenden Woche. Sie machte ihr Schließfach auf und holte die Bücher heraus, die sie noch vor der Mittagspause benötigte. Sie nahm sich vor, nach der Schule sofort nach Hause zu gehen und sich auszuruhen, vielleicht sogar ein Nickerchen zu machen. Sie hatte noch immer nicht den Schlaf wieder aufgeholt, der ihr durch ihre nächtliche Aufräumorgie verloren gegangen war. „Felicia?“ Felicia schloss ihr Schließfach und drehte sich um. Zan stand hinter ihr. „Hallo, wie geht’s?“, fragte Felicia. Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut, jetzt, wo sie wusste, dass Zan so eifersüchtig auf sie war. „Gut!“, sagte Zan. „Ich wollte schon die ganze Woche mit dir reden, aber es hat sich nie ergeben. Hast du eine Minute Zeit?“ „Klar“, antwortete Felicia. „Aber viel länger auch nicht. Für meine erste Unterrichtsstunde muss ich auf die andere Seite des Schulgebäudes.“ „Ich wollte dich fragen, ob du heute Abend schon was vorhast.“ Zan zog sich ein rotes Haarband aus dem glänzenden schwarzen Haar, strich ihren Pferdeschwanz glatt und band ihn wieder 61
zusammen. „Äh, nein, nichts Besonderes.“ „Hoffentlich will sie nicht die Schicht mit mir tauschen“, dachte Felicia. „Ich bin viel zu erledigt.“ „Hättest du Lust, zu mir zu kommen? Wir könnten uns ein paar Videos anschauen oder so.“ Felicia wollte schon nein sagen. Sie stellte es sich nicht gerade entspannend vor, den Abend mit Zan zu verbringen – auch wenn sie wirklich sehr freundlich wirkte. Doch dann fiel ihr ein, dass Nick sie gebeten hatte, nett zu Zan zu sein. „Hört sich gut an“, antwortete Felicia. „Wir kommen ja sonst eigentlich nie dazu, uns zu unterhalten – außer über Hamburger.“ Zan grinste. „Wir werden schon unseren Spaß haben“, sagte sie. „Komm einfach irgendwann nach dem Abendessen.“ Damit winkte sie und ging. „Na ja, vielleicht wird es ja wirklich spaßig“, dachte Felicia auf dem Weg in ihre Klasse. „Ich hab mich schon lange nicht mehr mit einem Mädchen getroffen.“ Seit Debbie überhaupt nicht mehr. Felicia spürte einen Kloß im Hals und schluckte. Sie vermisste Debbie. Es hatte so viel Spaß gemacht mit ihr, wenn sie bis spät in die Nacht tratschten und Knabbersachen in sich hineinstopften. „Aber dafür habe ich jetzt Zan“, sagte sich Felicia. „Jetzt habe ich neue Freunde.“ Es war Viertel nach acht, als Felicia bei Zan ankam. Zan wohnte in einem riesigen Haus, das noch größer war als das des Professors. Die dunkelgrüne Verzierung um die Fenster herum gefiel ihr. Die Balkone gingen auf einen schönen Garten hinaus mit immergrünen Sträuchern und großen, ausladenden Eichen. Das große schmiedeeiserne Tor ging ganz leicht auf, als Felicia es anstieß. Die Eisenstangen des Zauns hatten dicke scharfe Spitzen. „So leicht kommt da keiner rüber“, staunte Felicia. Sie eilte den Weg hinauf und läutete an der Haustür. „Ein wirklich tolles Haus“, sagte Felicia, als Zan ihr aufmachte. „Danke“, sagte Zan. „Meine Eltern sind ganz verrückt damit. Dauernd basteln sie daran herum.“ 62
Zan führte Felicia ins Haus. Zans Eltern lernte Felicia nur flüchtig kennen. Sie waren gerade dabei, auszugehen, und wollten erst spät zurückkommen. „Gut“, dachte Felicia. Da brauchte sie wenigstens keine Fragen über ihre Eltern und ihre Herkunft über sich ergehen zu lassen. „Komm, wir gehen rauf in mein Zimmer“, sagte Zan. Sie stieg eine lange Treppe hinauf, Felicia folgte ihr. Oben ging es gleich in die erste Tür links. „Toll!“, staunte Felicia. „Was für ein schönes Zimmer!“ An einer Wand stand ein riesiges massives Bett, auf der anderen Seite ein dazu passender Schreibtisch und ein Sideboard. Eine große Glastür führte auf einen der Balkone, die Felicia vorhin schon bewundert hatte. „Echt cool!“, sagte Felicia. „So ein Zimmer hab ich ja noch nie gesehen!“ „Danke.“ Zan legte eine CD ein und drehte die Lautstärke auf. „Hast du Geschwister “, fragte Felicia. „Nein“, sagte Zan. „Ich bin ein Einzelkind. Aber mir gefällt es so. Und du, hast du Geschwister?“ „Nein, ich auch nicht.“ Felicia holte einen Videofilm aus ihrem Rucksack und zeigte ihn Zan. Es war der Film Die Vögel. Sie hatte ihn bei Dr. Jones gefunden. „Ein Hitchcock“, sagte Felicia zu Zan. „Hast du ihn schon gesehen?“ „Nein, ist der gut?“ „Ja, super“, versprach Felicia. „Dabei wird’s dir ganz schön gruselig werden.“ „Cool. Dann kann’s ja gleich losgehen. Ich hab Popcorn gemacht und diese leckeren Rosinen in Schokolade besorgt. Zan schob das Band ein und machte die Musik aus. „Eigentlich ist mir das viel lieber als zu Hause zu sitzen und niemanden um mich zu haben als Miss Quiz“, dachte Felicia. „Noch ein Popcorn und ich platze“, sagte Felicia, als der Film zu Ende war. „Kein Wunder, wenn du dir gleich zwei Schüsseln voll reinschiebst“, sagte Zan. 63
„Das ist schon verrückt“, sagte Felicia. „Wenn ich vor einem Film sitze, entwickle ich mich zum Vielfraß. Ich kann auch nichts dafür.“ „Willst du noch Soda“, fragte Zan. „Ich hole welches.“ „Klar.“ „Ich bring auch noch Käse und Salsa-Soße mit“, sagte Zan. „Meine Mutter hat mir eingeschärft, ich soll dir was Richtiges zu essen vorsetzen!“ „Das wird mir den Rest geben!“ „Bin gleich wieder da!“ Felicia stand auf und ging zu Zans Bücherregal hinüber. Da standen ein paar Bestseller, einige Klassiker und Kinderbücher aus früherer Zeit. Ihr Blick fiel auf Zans Jahrbücher aus der Shadyside High-School. Sie nahm das Buch aus Zans zweitem High-School-Jahr heraus und ließ sich damit aufs Bett fallen. „Da bin ich ja mal gespannt“, dachte sie. „Bestimmt sahen die alle damals ganz doof aus.“ Sie blätterte das Buch durch und schaute sich die Fotos an. Sie entdeckte ein Foto von Nick und lachte sich halb tot über sein pausbackiges Babygesicht und seinen ulkigen Haarschnitt. „Schnell weitergeblättert, damit Zan mich nicht dabei ertappt, wie ich ein Foto von ihrem Freund anstarre. Das muss nicht sein, nachdem jetzt alles okay ist zwischen uns.“ Die nächste Seite fühlte sich dicker an als die anderen. „Da kleben zwei Seiten zusammen“, stellte Felicia fest. Vorsichtig trennte sie die beiden Blätter. Ein Bild von Zan starrte ihr entgegen. „Aber wer ist das da neben ihr?“, fragte sich Felicia. Die andere Hälfte des Fotos war mit einem braunen Marker übermalt. Sie konnte nur einen Teil der Unterschrift entziffern: EIN HERZ UND… Felicia lauschte einen Moment. Kam da Zan die Treppe herauf? Nein, zum Glück nicht. „Eigentlich gehört es sich nicht, so herumzuschnüffeln“, dachte sie. „Aber andererseits richte ich ja keinen Schaden an damit.“ Felicia befeuchtete ihren Zeigefinger und fuhr damit vorsichtig über die Tinte. Sie fühlte sich hart an. Sie rieb noch heftiger. Jetzt färbte die Tinte ab, aber sie konnte 64
darunter immer noch nichts erkennen. Felicia warf schnell einen Blick zur Tür. „Ich sollte das Buch besser wieder weglegen“, dachte sie. „Ich glaube, Zan will nicht, dass jemand das Foto zu Gesicht kriegt.“ Aber ihre Neugier siegte. Felicia spuckte auf die Seite und verteilte den Speichel darauf. Ein merkwürdiger Geruch fiel ihr auf. Ein metallischer Geruch, wie eine Hand voll Pfennige. Der Geruch kam Felicia bekannt vor. Den hatte sie schon einmal wahrgenommen. Sie hielt sich die Finger direkt vor die Augen. Sie waren von einer glänzenden Substanz bedeckt. Sie war nicht braun – sondern rot! Felicia stockte der Atem. „Dieses Zeug ist gar keine Tinte“, dachte sie. „Es ist… es ist… Blut!“
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Kapitel 14 Da hörte Felicia Schritte auf der Treppe. Zan! Sie schlug das Buch zu und schob es schnell ins Regal zurück, wo sie es gefunden hatte. „O je!“, dachte Felicia. Jetzt wird Zan gleich das Blut an meinen Fingern sehen.“ Sie lief zur Tür. Sie musste das Badezimmer finden und sich die Hände waschen. Felicia stieß die Tür auf. Zan stand davor und balancierte einen großen Teller voller Nachos und zwei Cola light mit den Händen. „Danke, dass du mir die Tür aufmachst“, sagte sie. „Das kommt davon, wenn man sich zu viel auf einmal vornimmt.“ Felicia versuchte zu lächeln. Sie ballte ihre blutbefleckte Hand unauffällig zur Faust. „Ich muss mal aufs Klo“, sagte sie. Zan setzte den Teller ab und öffnete zischend eine Dose. „Gleich nebenan“, sagte sie. „Bin sofort zurück“, sagte Felicia. Sie eilte ins Badezimmer und schloss die Tür ab. „Puh! Das ist noch mal gut gegangen!“, dachte Felicia. „Was Zan wohl gesagt hätte, wenn sie mich mit dem Foto erwischt hätte?“ Felicia ließ heißes Wasser laufen und spritzte sich etwas flüssige Seife auf die Hand. Dann scheuerte sie so lange daran herum, bis sich die Hand ganz rau anfühlte. „Wo Zan bloß das Blut her hat, womit sie die eine Hälfte des Fotos beschmiert hat? Ob sie sich in den Finger geschnitten und das Blut aufs Papier tropfen gelassen hat?“, fragte sich Felicia schaudernd. Bestimmt steckte da eine schlimme Trennung dahinter. Sie drehte den Heißwasserhahn zu und ließ kaltes Wasser laufen. Damit kühlte sie sich ein paar Mal das Gesicht und trocknete sich mit einem Gästehandtuch ab. Dann inspizierte sie vorsichtshalber nochmal das Waschbecken und das Handtuch, ob sie vielleicht Blutspuren hinterlassen hatte. Nichts. Gott sei Dank. Sie ging in Zans Zimmer zurück. „Beeil dich“, sagte Zan. „Das 66
Zeug wird schon kalt.“ Felicia nahm sich einen Chip und tauchte ihn in flüssigen Käse und Salsa-Soße. Fast drehte sich ihr der Magen um, weil sie immer noch an den metallischen Blutgeruch denken musste. „Aber Zan zuliebe muss ich schon ein paar von den Dingern essen“, dachte Felicia. Sie steckte sich den Chip in den Mund. Warmer Käse lief ihr über das Kinn. Igitt! „Sag mal, wie lange geht ihr schon zusammen, du und Nick?“, fragte Felicia wie beiläufig. „Seit der ersten High-School-Klasse“, antwortete Zan auf ihre Frage. „Was, so lange schon!“ Felicia tat überrascht. „Sie lügt!“, dachte sie. „Ich weiß, dass sie noch nicht so lange zusammen sind. Unter dem Foto im Jahrbuch stand doch ’Ein Herz und eine Seele’. Nick konnte dann kaum gemeint sein, es sei denn, Zan und er hätten sich zerstritten und anschließend wieder versöhnt. „Ja, ich weiß. Wir geraten uns immer wieder in die Haare, aber ich hänge einfach an ihm.“ „Toll“, sagte Felicia neidisch. „Hoffentlich lerne ich auch mal so einen netten Jungen kennen wie Nick.“ „Es gibt genug nette Typen in der Schule“, sagte Zan. „Du musst einfach nur öfter ausgehen, das ist alles.“ „Ja, wahrscheinlich“, stimmte Felicia zu. „Burger Basket ist bestimmt nicht der richtige Ort für nette Bekanntschaften.“ „Da bin ich mir nicht so sicher. Der Typ mit dem supertollen Sportwagen neulich abends hat doch den Vogel abgeschossen!“, sagte Zan bissig. „Ja, ich musste mich ganz schön beherrschen, um ihm nicht um den Hals zu fallen. Echt wahr!“, erwiderte Felicia und rollte mit den Augen. „Der war echt süß!“, sagte Zan. „Mit so einem würdest du doch bestimmt liebend gern ausgehen, was?“ „Mit so einem schwitzigen Fettsack? Vielen Dank“, antwortete Felicia. „Sag mal, was für Musik hörst du so?“ Zan deutete auf ihren CD-Ständer. „Da, such dir eine aus.“ Felicia ging zur Stereo-Anlage hinüber und überflog die Titel. Dabei ging ihr das Foto aus dem Jahrbuch nicht aus dem Kopf. Was 67
mochte Zan wohl dazu veranlasst haben, das Bild neben ihr mit Blut zu beschmieren? Da musste etwas Schlimmes vorgefallen sein. Nick hatte doch davon gesprochen, dass Zan eine harte Zeit durchgemacht hätte. Vielleicht hatte dieser Junge damit zu tun. „Was damals wohl passiert ist?“, grübelte Felicia. „Was Zan wohl für ein Geheimnis hat?“ Am Montagmorgen ging Felicia in die Schulbibliothek. „Eigentlich sollte ich lieber die Finger davon lassen und mich stattdessen nach Büchern umsehen, die ich für meine Geschichtsarbeit brauche“, dachte sie. Aber sie hatte etwas anderes im Sinn. Sie wollte das Jahrbuch heraussuchen, das sie bei Zan gefunden hatte. Sie wollte herausfinden, was es mit dem mysteriösen Foto auf sich hatte. Wenn sie den Jungen neben Zan erkennen konnte, vielleicht kam sie dann dahinter, warum Zan ihn mit Blut beschmiert hatte. Im Regal an der hintersten Wand stieß Felicia endlich auf die Jahrbuchsammlung. Sie überflog die Buchrücken. Da war es! Felicia zog das Buch heraus. Sie blätterte es durch, bis sie die gesuchte Seite gefunden hatte. Hier war nichts übermalt und es klebten auch nicht zwei Blätter aneinander. Nur der muffige Geruch alter Bücher stieg Felicia in die Nase. Das Foto zeigte Zan Arm in Arm mit einem hübschen blonden Jungen. Und da stand auch die komplette Unterschrift: ALEXANDRIA MC CONNELL UND DOUG GAY- NOR; EIN HERZ UND EINE SEELE „Doug Gaynor? Also hatte ich Recht!“, dachte Felicia. „Zan und Nick sind gar nicht von der ersten Klasse an zusammen!“ Doug Gaynor. Sie konnte sich nicht erinnern, sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Aber der Name kam ihr irgendwie bekannt vor. In einem ihrer Kurse war er sicher nicht. Aber wo hatte sie den Namen schon einmal gehört? Jetzt fiel es ihr ein. Sie zuckte zusammen, als ihr klar wurde, woher sie Dougs Namen kannte. Felicia schlug das Jahrbuch zu. Dann rannte sie aus der Bibliothek, ohne sich abzumelden. Sie lief bis zum zweiten Stock hinauf. Dort 68
stand im Flur eine Holzbank. Felicia lief darauf zu, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Da stand: Zur Erinnerung an Douglas Gaynor. Ihr Herz klopfte noch lauter. Sie hatte das Gefühl zu zerbersten. „Er ist tot“, dachte sie. Zans früherer Freund ist tot!
Kapitel 15 „Zan hat mir erzählt, dass ihr so einen netten Abend zusammen verbracht habt“, sagte Nick, während er mit Felicia zum Schulparkplatz ging. In einer Viertelstunde mussten beide im Burger Basket sein. Zans Schicht begann erst ein paar Stunden später. „Ja, das stimmt“, murmelte Felicia, während sie zu Nick ins Auto stieg. Bevor Nick losfuhr, schaute sich Felicia vorsichtig um. Auch, als sie schon auf der Straße waren, warf sie noch einmal einen Blick nach hinten. Sie hoffte, endlich jemanden ausfindig zu machen, der sie verfolgte. Dann wüsste sie wenigstens Bescheid. Nick blickte in den Rückspiegel. „Was ist los, wieso schaust du dich dauernd um?“, fragte er. „Ich hab ständig das ungute Gefühl, dass mich jemand beobachtet“, gab Felicia zu. „Warum?“, fragte Nick erstaunt. „Soll ich ihm jetzt ausführlich alles erzählen oder es bei einer knappen Antwort belassen?“, überlegte Felicia. Sie entschied sich zunächst mal für die knappe Antwort. „Ich hab mich zu einer richtigen Schwindlerin entwickelt, seit ich weggerannt bin“, sagte sie und merkte gleichzeitig, wie blöd das klang. Hoffentlich verstand Nick, was sie meinte. „Was meinst du damit?“ „Na ja… ich hab dir doch zum Beispiel von dem Haus in der Fear Street erzählt, in dem ich wohne?“ „Und?“ 69
„Ich hab es sozusagen geklaut.“ „Kapier ich nicht. Wie klaut man denn ein Haus?“, fragte Nick ungläubig. „Das Haus gehört einem Dr. Jones. Er unterrichtet am College. An meinem ersten Tag hier in der Stadt hörte ich zufällig, wie zwei Jungen sich unterhielten und der eine dem anderen erzählte, dass er den Auftrag hat, Dr. Jones’ Haus zu beaufsichtigen und seine Katze zu füttern, während er in Urlaub ist.“ „Aha“, sagte Nick. „Und dann hast du ihn überredet, dir diesen Job zu überlassen.“ Nick klang kein bisschen wütend oder sowas. Gut so! „Ich habe meinen ganzen Charme eingesetzt und dem Jungen weisgemacht, mein Vater wäre ein Freund von Dr. Jones“, sagte Felicia schmunzelnd. „Den Rest kann ich mir schon denken“, lachte Nick. „Du kümmerst dich nicht nur um die Katze, sondern auch um den Kühlschrank, den Fernseher und das Sofa.“ „Richtig.“ „Na und?“, sagte Nick. „Was hättest du auch anderes tun sollen. Du schadest ja niemandem damit. Ich weiß zwar nicht, wie das werden soll, wenn Dr. Jones zurückkommt, aber bis dahin, warum nicht?“ „Danke. Aber das ist nicht der wahre Grund, warum ich Angst habe, jemand könnte mich verfolgen“, gab Felicia zu. „Sondern?“, fragte Nick. „Ich glaube, dass mir jemand aus meiner Heimatstadt bis hierhin gefolgt ist.“ „Meinst du?“ „Ja, entweder das oder jemand aus Shadyside weiß etwas über meine Vergangenheit. Eins von beiden muss es sein und ich muss unbedingt dahinter kommen.“ „Aber wie kommst du darauf?“, fragte Nick. Sie waren jetzt vor dem Burger Basket angekommen und Nick stellte das Auto ab. „Ist denn was passiert?“ Felicia nickte. Jetzt oder nie“, dachte sie. „Also los!“ Sie erzählte Nick von dem Brief in ihrem Schließfach mit dem herausgebrannten Gesicht und von der blutroten Schrift an Dr. Jones’ 70
Wand. „Wenn du denkst, ich hätte irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen von dem verraten, was du mir erzählt hast, dann irrst du dich!“, versicherte er. „Das habe ich doch gar nicht behauptet“, sagte Felicia. „Aber irgendjemand weiß etwas. Und ich habe Angst.“ Nick nahm Felicias Hand und drückte sie. Felicia rutschte zu ihm hinüber. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. Er drückte sie fest an sich. Wie warm er sich anfühlte! „Wenn es doch immer so bleiben könnte “, dachte Felicia. So lange war es schon her, dass jemand sie im Arm gehalten hatte. So lange hatte sich schon niemand mehr um sie gekümmert. „Du brauchst keine Angst zu haben“, flüsterte er. Sie spürte seinen Atem in ihrem Haar. „Ich bin immer für dich da, egal, was passiert.“ Felicia hob den Kopf und schaute ihn fragend an. „Bestimmt?“ „Ganz bestimmt!“, versicherte er. Dann küssten sie sich. Es war doch auch nichts dabei. Aber Nick zog sich plötzlich zurück. „Nein“, murmelte er. „Das kann ich nicht zulassen.“ Felicia rutschte von ihm weg. Sie kurbelte das Fenster herunter und starrte hinaus. Sie spürte die kalte Abendluft in ihrem Gesicht. Dann drehte sie sich zu ihm um. „Was ist los?“ „Ich liebe Zan“, sagte Nick und wandte den Blick ab. „Das glaube ich dir nicht.“ Felicia wunderte sich selbst, dass sie das laut sagte. Aber es stimmte. Sie glaubte einfach nicht, dass er Zan liebte. „Ich glaube eher, du hast Angst davor, mit ihr Schluss zu machen.“ „Sie braucht mich“, murmelte er. „Sie könnte es nicht ertragen.“ „Sie ist stärker als du denkst“, sagte Felicia. „Du solltest nicht bei ihr bleiben, bloß weil du Angst um sie hast.“ „Was weißt du schon darüber!“, schnaubte er zurück. „Also lassen wir das Thema, okay?“ „Okay. Aber eine Frage musst du mir noch beantworten.“ „Hoffentlich nimmt er mir das nicht übel“, dachte Felicia. Sie holte tief Luft und fragte: „Hat es etwas mit Doug Gaynor zu tun?“ 71
Nick schluckte. „Was ist mit ihm?“, fragte er leise. „Sag du es mir.“ „Willst du das wirklich wissen?“, fragte er trotzig. „Meinst du, du kannst es verkraften?“ „Ja!“ „Zan hat ihn umgebracht.“
Kapitel 16 „Was?“, rief Felicia entsetzt aus. „Es war ein Unfall!“, beteuerte Nick. „Sieh mich nicht so an. Es war ein Unfall!“ „Wie soll ich das verstehen?“, fragte Felicia. „Entweder sie hat ihn umgebracht oder nicht.“ „Es war keine Absicht“, sagte Nick. „Ich weiß, dass sie das nicht wollte.“ „Wie konnte denn so etwas passieren?“, wollte Felicia von ihm wissen. „Das ist eine lange Geschichte.“ „Hör mal zu, Nick“, sagte Felicia verärgert. „Erst erzählst du mir, sie hätte ihn umgebracht. Und dann behauptest du, es war ein Unfall. Ich denke schon, dass du mir eine Erklärung schuldig bist.“ Nick seufzte. „Also gut. Es ist schon eine Zeit her, dass Doug starb. Zan kam danach eine ganze Zeit lang nicht zur Schule. Sie hatte Therapeuten und Privatlehrer, die zu ihr ins Haus kamen. Ihre Eltern sind nicht gerade arm, musst du wissen. Vor sechs Monaten lernten wir uns dann kennen.“ „Aber was ist denn nun wirklich mit Doug passiert?“ Felicia wollte nicht locker lassen. „Darauf komme ich gleich zu sprechen“, sagte Nick. Jedenfalls gingen Zan und Doug schon seit der siebten Grundschulklasse zusammen. Nicht zu fassen! Ich hatte meine erste Verabredung mit einem Mädchen erst in der zweiten High-SchoolKlasse. Alle dachten, Zan und Doug wären das ideale Paar. Aber 72
dann fing Doug an, sich zu langweilen, oder was weiß ich.“ „Heißt das, er ist heimlich mit einer anderen ausgegangen“, wollte Felicia wissen. „Genau weiß ich das auch nicht“, sagte Nick. „Niemand weiß es so richtig. Einmal traf er sich mit einem Mädchen namens Kathleen Clarke. Sie wohnt schon lange nicht mehr hier. Aber niemand weiß, ob Doug sich vorher von Zan getrennt hatte oder nicht.“ Felicia nickte. „Eigentlich tut das auch nichts zur Sache“, fuhr Nick fort. „Zan ist jedenfalls dahinter gekommen.“ „Und das ist ein Grund, dass sie durchgedreht ist“, vermutete Felicia. „Ja. Das kann man so sagen. Doug besuchte sie tags darauf. Wahrscheinlich hatte er ein schlechtes Gewissen und wollte sich bei Zan entschuldigen. Er war eigentlich ein netter Kerl. Nicht einer von den Typen, die sich hinter dem Rücken ihrer Freundin mit anderen Mädchen herumtreiben. Jedenfalls kam es zu einer Aussprache, und dabei standen sie draußen auf dem Balkon. Du weißt, welchen ich meine?“ „Ja, den vor Zans Zimmer“, antwortete Felicia. „Sie gerieten wohl wegen Kathleen in Streit. Zan verlor die Nerven und fing an, auf Doug einzuschlagen. Er stieß sie von sich, da schlug sie sich den Kopf an der Balkontür an. Das machte sie erst recht wütend und sie ging auf ihn los.“ Nick machte eine Pause. „Und dann verlor Doug das Gleichgewicht“, fügte er schließlich hinzu. „Und fiel vom Balkon“, folgerte Felicia. Sie spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. „Ja… und brach sich das Genick.“ Felicia fing an zu zittern. Was für ein schrecklicher Tod! Und Zan war Schuld daran! Zan hatte von oben mit ansehen müssen, wie er starb! Entsetzlich. Wie schlimm musste das für Zan sein. Felicia wusste nur allzu gut, wie es ist, wenn man sich die Schuld am Tod eines anderen gab. Da konnte man sich noch so oft einreden, dass es ein Unfall war, es nützte nichts. Man fühlte sich immer schuldig. 73
„Verstehst du jetzt, warum ich mit Zan nicht Schluss machen kann?“, fragte Nick leise. „Noch eine Trennung würde sie nicht verkraften. Noch nicht jedenfalls. Sie ist noch nicht stark genug. Sie geht erst seit einem knappen Jahr wieder zur Schule.“ Das Foto in dem Jahrbuch fiel Felicia ein. Von Doug war darauf nichts zu erkennen, er war vollständig mit Blut zugeschmiert. Sorgfältig. Peinlich genau. Kein Blutstropfen war daneben gegangen. „Sie hat Doug aus ihrem Leben ausgelöscht“, dachte Felicia. „Deshalb hat sie mich angelogen und behauptet, sie ginge schon so lange mit Nick.“ „Ist es möglich, dass sie so kalt und grausam ist?“, fragte sich Felicia. „Kann es sein, dass sie Doug mit Absicht getötet hat? Wenn ja, wenn Zan wirklich Doug umgebracht hat… was führt sie dann gegen mich im Schilde?“, überlegte sie weiter. Sie rieb sich die Arme. Plötzlich war ihr eiskalt. „Und ich habe die ganze Zeit geglaubt, es hätte jemand auf mich abgesehen, der etwas über meine Vergangenheit weiß,“ dachte Felicia. Jemand, der sich wegen Kristys und Andys Tod an mir rächen will.“ Felicia seufzte. „Ich habe mich geirrt“, sagte sie sich. „Zan muss es gewesen sein, die mir den Brief in mein Schließfach gehängt und die Wand in Dr. Jones’ Haus mit roter Farbe beschmiert hat. Zan geht es nicht um meine Vergangenheit. Es geht ihr einzig und allein um Nick. Sie wollte mich von Nick wegbringen. Aber ich bin nicht gegangen.“ Als ihr das klar wurde, fasste Felicia Nick am Arm. „Zan muss diejenige sein, die versucht hat, mich zu bedrohen. Sie ist von Anfang an eifersüchtig auf mich gewesen. Erinnerst du dich, wie sie das Fleischermesser auf mich gerichtet hat und mich davor warnte, mich mit dir zu treffen? Ich hielt das für einen üblen Scherz.“ Jetzt geriet Felicia richtig in Fahrt. „Aber Zan hat es ernst gemeint! Sie stellt mir nach, und dann bringt sie mich genauso um, wie sie Doug umgebracht hat!“ „Hör auf! Zan hat Doug nicht umgebracht! Ich hab dir doch gesagt, es war ein Unfall“, ereiferte sich Nick. „Erst bildest du dir ein, 74
irgendwelche Wissenschaftler hätten es auf dich abgesehen, und jetzt redest du dir ein, dass Zan dich umbringen will. Bleib mal auf dem Boden der Tatsachen, okay?“ Felicia ließ seinen Arm los. „Na schön“, sagte sie. „Aber wer hat mir dann den Brief ins Schließfach gehängt und wer hat mich mit der Drohung an der Wand einschüchtern wollen? Wenn Zan es nicht war, wer dann, bitte schön?“ „Ich hab weder das eine noch das andere gesehen“, murmelte Nick. Felicia traten die Tränen in die Augen. Sie blinzelte, um sie zu verdrängen. Nick glaubte ihr nicht, na gut. Sie war es schließlich gewohnt, allein zu sein. Sie brauchte ihn nicht. „Wir sollten reingehen, unsere Arbeitszeit fängt gleich an“, sagte sie. „Barry wird jeden Moment herausgestürzt kommen und uns die Hölle heiß machen.“ „Erst musst du mir etwas versprechen.“ „Und was?“, fragte Felicia, schon im Aussteigen begriffen. Sie war fertig mit ihm, was wollte er denn jetzt noch von ihr? „Du darfst Zan auf keinen Fall wissen lassen, dass ich dir das alles erzählt habe“, sagte er. „Versprochen“, antwortete Felicia in gleichgültigem Ton. Nick brauchte nicht zu merken, wie sehr er sie verletzt hatte. „Zan wird nichts erfahren.“ „Was soll ich nicht erfahren?“, ertönte Zans aufgebrachte Stimme.
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Kapitel 17 „Zan!“, rief Nick erschrocken aus. „Was machst du denn hier?“ Zan beugte sich herab und starrte die beiden herausfordernd durch das Beifahrerfenster an. „Barry hat mich gebeten, schon früher hier zu sein“, erwiderte sie in frostigem Ton. „Es sieht anscheinend so aus, als wäre ich gerade rechtzeitig gekommen.“ Felicia versuchte zu lächeln. „Hallo, wie geht’s?“, fragte sie in der Hoffnung, Zan hätte nicht allzu viel mitbekommen. Zan schüttelte den Kopf. „Ich habe dich zuerst etwas gefragt. Was soll ich nicht herausfinden?“ Felicia warf einen Blick zu Nick hinüber. Er machte ein ahnungsloses Gesicht. Jetzt muss ich mir schnell was Schlaues einfallen lassen“, dachte sie. „Nick hat mich um einen Rat gefragt“, sagte sie schnell und dachte: „Hoffentlich spielt er mit!“ „Einen Rat?“, fragte Zan spöttisch. „Was könntest du ihm schon für einen Rat geben?“ „Es sollte eine Überraschung werden“, sagte Nick zu Zan. „Ich hatte vor, mit dir mal richtig schön auszugehen, und ich dachte, Felicia hätte da vielleicht einen Geheimtipp.“ „Was?“, fragte Zan schnippisch. So etwas Blödes hatte sie wohl noch nie gehört. „Wir sind doch schon so lange nicht mehr aus gewesen. Wir treffen uns immer bloß in der Schule oder bei der Arbeit“, erklärte Nick. „Da wollte ich mir mal was Besonderes einfallen lassen.“ Zan sagte nichts. „Glaubt sie’s oder glaubt sie’s nicht?“, fragte sich Felicia. „Felicia war sogar damit einverstanden, dir eine Schicht abzunehmen, damit wir beide am selben Abend frei haben“, fügte Nick hinzu. „Da staunst du, was?“, fragte Felicia. Sie starrte Zan an. „Bist du das mit den Drohungen gewesen?“, fragte sie sich. „Bist du die Übeltäterin?“ 76
„Das soll das große Geheimnis sein, von dem ich nichts erfahren darf?“, fragte Zan schließlich. „Na klar, was hast du dir denn gedacht“, fragte Nick gereizt. „Dann entschuldigt bitte“, sagte Zan und biss sich verlegen auf die Lippe. „Ich weiß, ich sollte aufhören, so misstrauisch zu sein.“ „Aber echt“, sagte Felicia. „Wir sind doch Freunde, oder?“ Felicia kletterte aus dem Auto. Zan lief zu Nick hinüber und schlang die Arme um seine Taille. „Ich finde, wir sollten reingehen und die Gäste zur Feier des Tages ein bisschen ärgern“, sagte sie. „Ja, das wäre lustig“, antwortete Felicia. Nick und Zan gingen vor und Felicia folgte ihnen zum Hintereingang des Burger Basket. Als sie eintraten, warf Nick Felicia schnell einen Blick zu und formte den Mund zu einem „danke“. Felicia nickte. „Na, dann ist ja im Augenblick wieder alles scheinbar in Ordnung zwischen uns dreien“, dachte sie. „Bis ich die ganze Wahrheit über Zan herausgefunden habe.“ „Mein Hamburger hat aber wenig Ähnlichkeit mit dem auf der Reklame“, beklagte sich einer der Gäste. Felicia seufzte. „Ist heute Vollmond oder was?“, dachte sie. “Jeder, der heute reinkommt, hat irgendwas zu meckern.“ Sie brachte dem Gast einen neuen Hamburger. Dann goss sie sich eine große Cola light ein. „Ich mach Pause“, raunte Felicia Zan auf dem Weg zum Hinterzimmer zu. „Bist du so nett und sagst Barry Bescheid?“ „Ach, Felicia, halt mal!“, rief Zan ihr nach, während sie einen neuen Schub Pommes frites ins Sieb kippte. „Könntest du vorher noch schnell die Glühbirne im Vorratsraum auswechseln? Die ist durchgebrannt.“ „Kein Problem“, sagte Felicia, obwohl es ihr lästig war. „Danke“, sagte Zan. Felicia trottete zurück in den Vorratsraum. Sie kramte nach einer neuen Glühbirne. Als sie eine gefunden hatte, schnappte sie sich die Metallleiter und schleppte sie zur Raummitte. Da merkte sie, dass es irgendwie schwappte unter ihren Füßen. Dann drang Wasser in ihre Schuhe. Jemand hatte den Putzeimer umgestoßen und – mal wieder – nicht aufgewischt. „Toll“, murmelte 77
Felicia. „Wer das wohl wieder gewesen ist.“ „Ich trockne das jedenfalls nicht auf“‘, dachte sie. „Soll doch jeder seinen eigenen Dreck wegmachen.“ Sie klappte die Stehleiter auseinander, prüfte, ob sie auch nicht wackelte, und stieg hinauf, in einer Hand die neue Glühbirne. Felicia stand auf Zehenspitzen auf der Leiter und streckte den Arm aus, um nach der kaputten Glühbirne zu tasten. Sie konnte kaum etwas erkennen in der Dunkelheit. Jetzt stieß sie mit der Hand gegen die Birne. Das lange Kabel, an dem sie befestigt war, schwang hin und her. Felicia griff danach. Ein heller Funke schoss aus dem Kabel. Felicia zuckte zusammen und ließ die neue Glühbirne fallen. Sie schlug auf dem nassen Fußboden auf und zersprang. Der stechende Geruch von brennendem Plastik drang ihr in die Nase. Sie hörte ein Summen über sich. Ein leises Knistern. Felicia kletterte eine Stufe tiefer. Sie sah etwas schimmern, etwas Kupferfarbenes. „Das Kabel ist durchgescheuert“, schoss es ihr durch den Kopf. „Deswegen ist die Birne kaputt, weil jemand den Draht durchgeschnitten hat.“ Felicia wurde von Panik ergriffen. „Nichts wie weg hier!“, flüsterte sie. Sie sprang von der Leiter. Es patschte und knirschte unter ihren Schuhen vom Wasser und der zerbrochenen Glühbirne. Ihre Knie zitterten, als sie der Tür zustrebte. Wasser auf dem Boden… ein durchgescheuertes Kabel … eine Stehleiter aus Metall… „Ich hätte einen tödlichen Schlag kriegen können!“ Felicia kehrte um und lief zum Sicherungskasten neben der Hintertür. Sie musste den Strom ausschalten, ehe noch jemand zu Schaden kam. Sie öffnete die Tür des Sicherungskastens und studierte die Aufkleber. Da bewegte sich etwas. Sie fuhr herum und sah Barry, der sich durch die Tür des Vorratsraums schob. „Wieso ist es denn so dunkel hier drinnen?“, murmelte er. Er betrat die unterste Stufe der Leiter, um nach der Birne zu 78
schauen. „Barry – nicht!“, schrie Felicia.
Kapitel 18 Es gab einen Knall und ein greller Blitz zuckte auf. Dann hörte man ein Zischen. Barry schrie wie am Spieß. Infolge der Druckwelle stürzte er von der Leiter – dabei hielt er das Kabel umklammert. Er stürzte gegen die Metallregale. Das Kabel sprühte Funken, als es mit dem Metall in Berührung kam. Felicia verfolgte die Szene voller Entsetzen. Barrys am Boden liegender Körper sah auf einmal ganz schlaff aus, sein Haar und seine Kleidung rochen versengt. „Was ist passiert?“, hörte sie Nick rufen. Felicia streckte hastig die Hand nach dem Hauptschalter aus. Da sprühten Funken aus dem Sicherungskasten heraus. Sie riss die Hand zurück. „Raus hier – alle raus, sofort!“, schrie Felicia. „Das Stromkabel schmort durch. Gleich steht hier alles in Flammen!“ Sie rannte zur Theke, wo die Kunden Schlange standen. „Schnell, raus!“, rief sie der blonden Frau zu, die am Anfang der Schlange stand. Zu spät. Felicia erstarrte. Sie konnte nicht wegrennen. Sie konnte sich überhaupt nicht bewegen. Ihre Armhaare richteten sich auf. Strom schoss durch sämtliche Leitungen im Restaurant. Die Neonlampen zerbarsten. Rasiermesserscharfe Splitter flogen durch die Gegend. Flammen schossen aus den Steckdosen. Die Schubladen der Ladenkassen sprangen auf. Dollarnoten und Kleingeld wurden herausgeschleudert. Zan ließ sich zu Boden fallen und legte die Arme über den Kopf. Felicia stand da wie angewurzelt. Fassungslos verfolgte sie den Gang der Zerstörung quer durchs ganze Restaurant. Da fiel ihr Blick auf die Mikrowellengeräte. Nick stand direkt 79
davor! „Nick! Weg da!“, schrie Felicia. Nick ließ sich auf die Knie fallen. Schon hatte der Strom die Geräte erreicht. Sie explodierten. Essen, brennendes Plastik und Glas regneten auf Nick herab. „Die Heizlampen! Die sind als Nächstes dran!“, schoss es Felicia durch den Kopf. Doch bevor sie noch einen Warnruf ausstoßen konnte, platzten sie schon. Grelle heiße Funken überschütteten die Friteusen. Das Öl schoss in meterhohen Flammen hoch. „O nein!“, murmelte jemand entsetzt. Ein Teil der Decke krachte nieder, eine Feuerwand blockierte den Haupteingang. Felicia wurde von Panik ergriffen. „Raus hier!“, dachte sie, „Nichts wie raus!“ Da fiel ihr Barry ein. „Ich kann ihn nicht da hinten liegen lassen“, dachte sie. „Vielleicht ist er ja nur bewusstlos. Er wird verbrennen, wenn ihn niemand da wegholt.“ Sie rannte in den Vorratsraum zurück und kam auf dem nassen Boden ins Rutschen. Barry lag ausgestreckt auf dem Rücken und rührte sich nicht. Felicia kniete neben ihm nieder und schob ihren Arm unter seinen Rücken. Dann versuchte sie, ihn vom Boden hoch zu heben. „Er ist zu schwer!“, dachte sie. Felicia ließ ihn wieder zu Boden gleiten. Sie holte tief Luft. Der dichte Rauch brannte ihr in der Kehle und drang in ihre Lunge. Sie musste husten. Sie sah jemand durch den Rauch auf sie zukommen. Nick! „Hast du was abgekriegt?“, fragte er. „Nein, aber hilf mir, Barry hier rauszuschaffen!“, rief Felicia. „Er ist zu schwer für mich!“ „Dann zieh ihn!“, rief Nick. “Nimm ihn an den Füßen und zieh ihn durch die Hintertür ins Freie! Ich will sehen, ob ich vorne was machen kann. Ich muss den Leuten helfen, rauszukommen!“ Felicia hob Barrys Füße auf. „Er hat keine Schuhe an“, fiel ihr auf. Die Explosion war so heftig, dass er aus den Schuhen geschleudert 80
worden ist! Felicia zerrte mit aller Kraft. Jetzt ließ sich Barrys Körper über den Fliesenboden schleifen. „Nur noch ein paar Schritte bis zu Tür!“, dachte sie. „Zieh! Zieh! Zieh!“ Rauch drang ihr in die Augen. Mit jedem Atemzug schien sie mehr Rauch abzubekommen als Luft. Grelle Farben tanzten vor Felicias Augen. Ihr war schwindelig. Sie fing an zu schwanken. „Ich schaffe es nicht!“, dachte sie. „Unmöglich!“ Da spürte sie einen Metallriegel im Rücken. Sie musste die Hintertür erreicht haben. Sie warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür. Sie sprang auf. Felicia zerrte Barry ins Freie. Sie stolperte und fiel auf den Boden neben den Müllcontainer. Sie keuchte. Endlich bekam sie wieder Luft! Mit jedem Atemzug fühlte sie sich stärker. „Ich hab’s geschafft! Ich bin am Leben!“ Aber Nick war noch drin! Felicia starrte auf die Flammenwand, die jetzt schon die Hintertür blockierte. Durch den Sauerstoff, der durch die offene Tür nach innen drang, schlugen die Flammen noch höher. „Da kann ich unmöglich wieder zurück“, dachte Felicia. Da kam ihr eine Idee. „Ich muss weg, Barry“, sagte sie, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hörte. „Bitte, stirb nicht.“ Sie rappelte sich auf und rannte um die Ecke. Hinter jedem Fenster war Rauch. Flammen traten an mehreren Stellen aus der Decke. Felicia wusste, dass es in dieser Situation jetzt auf sie ankam. Von ihr hing es ab, ob die Gäste im Restaurant überlebten oder nicht. Felicia holte tief Luft und lief zur Seitentür, die direkt in den Gastraum führte. Sie spürte ein schmerzhaftes Kribbeln in den Fingern, als sie den Türgriff anfasste, aber sie achtete nicht weiter darauf, sondern stürzte hinein. Flammen quollen aus der Küche und verteilten sich quer über die Decke. Riesige, glühend heiße Rußflocken schwebten in der Luft. „Denk an das alte Strandhaus“, sagte sich Felicia. „Du schaffst es!“ Diesmal wollte sie die Macht herbeizwingen. Die ganze Macht, die 81
in ihr steckte! Felicia verhielt sich ganz still. Die Hitze war kaum auszuhalten. Ihre Augen brannten von dem Rauch, der mit jedem Atemzug in ihre Lunge strömte. Sie schloss die Augen und machte sich ein gedankliches Bild von dem Feuer. Nun setzte sie sich innerlich mit aller Kraft gegen das Feuer zur Wehr und spürte dabei, wie die Macht in ihr wütete. Dann sah sie im Geiste, wie die Flammen langsam zurückwichen. Der Rauch verzog sich. Die Luft kühlte ab. „Was ist los?“, hörte sie jemanden im Restaurant fragen. „Was macht die denn da?“ „Was soll sie schon machen?“, schrie ein anderer. „Lasst mich raus!“ Felicia öffnete die Augen. Sie trat einen Schritt vor – und befahl ihrer Macht, die Flammen zurückzudrängen. „Zan! Nick!“, schrie Felicia. „Nick! Wo bist du denn!“ Ein großer Mann schob sich an ihr vorbei. „Bist du verrückt?“, sagte er. „Sieh lieber zu, dass du rauskommst.“ Sie strengte sich an, so gut es ging. Da erzitterten die Flammen und wichen zurück. Felicia erreichte jetzt die Theke. Die Plastikoberfläche warf Blasen. Gelber Rauch stieg daraus hervor. Felicia würgte. „Nein!“, dachte sie wütend. „Lass mich jetzt bloß nicht im Stich!“ Sie schloss die Augen und zwang die Flammen zurück. Durch den Rauch konnte sie ein paar Leute erkennen, die auf sie zutaumelten. Sie konzentrierte sich noch stärker und zielte mit ihrer Macht auf sie. Sie trieb sie weiter dem Ausgang zu und drängte die Flammen zurück. Doch das Feuer wollte nicht aufhören zu wüten. Felicia war sich klar darüber, dass ihre Macht nicht viel länger reichen würde. „Lauft!“, schrie sie. „Lauft alle raus! Schnell!“ Nick und zwei andere Jungen schwankten auf sie zu. „Aber was ist mit dir?“, rief Nick. „Lauf doch!“, schrie sie. Ihre Kraft ließ immer mehr nach. „Ich gehe nicht ohne dich!“, krächzte Nick. Er schob die beiden 82
anderen zur Tür. „Nein, Nick“, bat Felicia. „Du verstehst das nicht. Du musst zuerst gehen!“ Sie hatte keine Zeit für lange Erklärungen. Die Flammen kamen immer näher. „Ich kann sie nicht zurückhalten“, dachte Felicia. „Sie sind zu stark. Und zu heiß.“ Die Flammen peitschten heran. Felicia und Nick warfen sich zu Boden. Felicia sah mit Entsetzen, wie das Feuer die Tür verschlang, durch die die anderen eben noch entkommen waren. „Wir kommen nicht mehr raus – der Ausgang ist versperrt!“, schrie Nick. Felicia packte der Zorn. Nein, so nicht! „Ich denke nicht daran, so zu sterben!“, schrie sie. Die Schmerzen zerrissen ihr fast die Lunge. Sie spürte die Macht in sich knistern. Sie richtete ihren Blick auf einen der Gästestühle - und schleuderte ihre verbliebene Macht mit aller Gewalt in seine Richtung. Der Stuhl flog in die Luft und durchbrach krachend eines der vorderen Fenster. „Lauf“, brüllte sie. Nick rappelte sich auf und torkelte zu dem Fenster. Er zerrte Felicia mit sich und hielt ihren Arm fest umklammert. Felicia spürte, wie die Macht sie verließ. Mit einem Schlag war nichts mehr davon übrig. Ihre Beine gaben nach. Sie sank zu Boden. Völlig erschöpft. Ihre Energie war dahin. Die Flammen umzingelten sie. „Das ist das Ende“, dachte sie hilflos. „So ist das also, wenn man sterben muss.“
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Kapitel 19 Felicia versuchte, die Augen zu öffnen – und sah in Nicks Gesicht. „Felicia?“, flüsterte er mit sanfter Stimme. „Alles in Ordnung?“ Sie lächelte. „Ich lebe! Wir leben beide!“ „Hallo“, krächzte sie. Nick half ihr aufsitzen. Sie blinzelte sich den Ruß aus den Augen und versuchte, sich zu orientieren. Da sah sie, wie Feuerwehrleute dabei waren, die restlichen Flammen in dem niedergebrannten Restaurant zu löschen. „Wie lange war ich denn bewusstlos?“, fragte sie. „Ungefähr fünfzehn Minuten. Du bist immer wieder kurz aufgewacht und dann wieder weggetreten“, antwortete Nick. „Innerhalb von fünfzehn Minuten ist das Restaurant abgebrannt?“ Nick zuckte mit den Schultern. „Nein, bis wir ins Freie gelangten, war das Schlimmste schon passiert.“ „Lieber Himmel!“ Nick schüttelte fassungslos den Kopf. „Hast du eine Ahnung, wie das Feuer ausgebrochen ist? Ich habe nur mitgekriegt, dass plötzlich alles anfing zu explodieren.“ „Es war ein Kurzschluss“, erinnerte sich Felicia. „O nein! Was ist mit Barry?“ „Er ist über den Berg“, antwortete Nick ruhig. „Er hat einen ordentlichen Schlag gekriegt. Aber den bringt so leicht nichts um. Der Notarzt hat ihn ins Krankenhaus gebracht.“ Nick lächelte Felicia an. „Du hast ihm das Leben gerettet, Felicia. Nicht nur ihm, sondern uns allen!“ Felicia wusste nicht, was sie sagen sollte. „Aber wie hast du das bloß gemacht?“, fragte er. Felicia schaute ihm in die Augen. „Bitte frag mich nicht“, flüsterte sie. Nick akzeptierte ihre Bitte und schwieg. Für den Augenblick zumindest. Er schaute Felicia in die Augen. Sie weigerte sich, an das zu denken, was ihr noch bevorstand. Wie sollte sie ihm das denn auch erklären? Was sollte sie sagen? 84
Ich zwang das Feuer mit meinem Willen, zurückzuweichen? Oder was? „Da ist sie!“, rief jemand aus der Menschenmenge herüber, die sich auf dem Parkplatz versammelt hatte. „Das ist sie! Sie hat allen das Leben gerettet!“ Mindestens ein Dutzend Reporter kamen mit Blitzlichtern und Kameras auf Felicia zugelaufen. „Nick, bitte bring mich hier weg!“, bat sie ihn erschrocken. „Warum“, fragte er. „Willst du nicht als Heldin des Tages gefeiert werden? Du kommst bestimmt ins Fernsehen!“ „Nein! Niemand darf wissen, wer ich bin! Die Polizei wird mich finden! Ich muss hier weg!“ Nick kramte in seiner Hosentasche herum und gab ihr seine Schlüssel. „Hier, nimm mein Auto. Beeil dich. Bleib zu Hause, bis sich alles beruhigt hat. Und ruf mich später an.“ Felicia ergriff die Schlüssel. Der Plastikschlüsselbund war völlig verbogen – und immer noch ganz heiß. „Was muss das für eine Hitze gewesen sein da drin!“, dachte sie mit Schaudern. „Sogar das Plastik in Nicks Tasche ist davon geschmolzen!“ „Lauf!“, drängte Nick. „Ich versuche, sie aufzuhalten!“ „Danke, Nick.“ „Nun lauf schon!“ Felicia fühlte sich immer noch ganz schwach und benommen. Aber sie schaffte es, sich an den Feuerwehrleuten vorbeizuschlängeln und in der Menge der Schaulustigen unterzutauchen. Die Reporter hatten jetzt Nick erreicht. „Sie will mit niemandem sprechen!“, hörte sie ihn rufen. „Wer ist sie?“, fragte jemand. „Kennst du sie? Wie heißt sie? Wo wohnt sie?“, fragte ein anderer. Felicia hörte, wie einer aus der Menge zu einem anderen sagte: „Ob du’s glaubst oder nicht! Die Flammen sind vor ihr zurückgewichen! Ich hab’s haargenau gesehen!“ „Schreck lass nach“, dachte Felicia. „Der Kerl plaudert alles aus! Wenn die Presse erst einmal Wind davon bekam, auf was für eine Weise sie die Leute gerettet hatte, dann wusste die Polizei von Ridgely doch sofort, wo sie war!“ 85
Felicia zwängte sich so gut es ging durch die Menge. Aber sie war immer noch benommen und erschöpft. Wie weit war es denn noch bis zu Nicks Auto? Endlich hatte sie es erreicht. „Wieso bist du nicht einfach tot umgefallen?“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Es war eine weibliche Stimme, sie klang fremd und zornig. Felicia wandte sich um. Zan! Ihr Gesicht war voller Ruß. Ihre Burger Basket-Uniform strotzte vor Dreck. Sie starrte Felicia mit ihren grellblauen Augen hasserfüllt an. „Was?“, stieß Felicia hervor. „Sterben solltest du!“, brüllte Zan sie an. „Du brauchtest doch bloß diese dumme Glühbirne auszuwechseln!“ Zan kam auf Felicia zugerannt und stieß sie zu Boden, ehe sie reagieren konnte. Felicia schlug schmerzhaft mit dem Kopf auf. Zan überwältigte sie und umklammerte ihre Kehle mit beiden Händen. „Sie will mich umbringen“, wurde es Felicia schlagartig bewusst. „Sie wollte mich durch einen Stromschlag töten!“ Felicia versuchte, ihre Macht einzusetzen und sie Zan entgegenzuschleudern. Aber sie fühlte sich leer. Nichts war davon übrig geblieben. Sie konnte kaum den Arm heben, um sich zu wehren. Zan beugte sich nah an Felicia heran, außer sich vor Zorn. „Du hast Nick das Leben gerettet“, flüsterte sie. „Aber bilde dir deswegen ja nicht ein, dass er dir gehört. Du nimmst ihn mir nicht weg!“ Zans Finger gruben sich tiefer in Felicias Kehle. „Nick gehört mir!“ Alles drehte sich vor Felicias Augen. Ihre Arme fielen kraftlos zur Seite. Sie versuchte krampfhaft, nach Luft zu schnappen. Aber Zan packte noch fester zu.
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Kapitel 20 „Dir werd ich’s zeigen!“, knirschte Zan. „Jetzt ist es aus mit dir!“ Felicia war kurz vor dem Ersticken. „Halt, Zan, hör auf!“, hörte sie jemanden brüllen. Die Stimme hörte sich weit weg an. „Hör auf! Du bringst sie ja um!“ Die Hände lösten sich von Felicias Kehle. Ihre Lunge füllte sich mit kühler Luft. Sie ließ sich auf die Seite rollen und versuchte, langsam und tief durchzuatmen. „Zan! Wo ist Zan?“, dachte sie plötzlich. Mühsam setzte sich Felicia auf. Alles tat ihr weh. Nicht weit entfernt sah sie Zan und Nick stehen. Sie hielten sich umarmt. „Ich hasse sie!“, kreischte Zan. „Ich bringe sie um!“ Nick packte Zan bei der Schulter und schüttelte sie kräftig. „Halt jetzt den Mund, Zan!“, rief er. „Halt bloß den Mund!“ Zan sagte einen Augenblick nichts und riss die Augen auf. „Wieso soll ich den Mund halten!“, brüllte sie. „Es stimmt doch, dass du sie lieber magst als mich!“ „Nein, das stimmt nicht“, fauchte er sie an. „Warum glaubst du mir nicht? Wieso kannst du sie nicht in Ruhe lassen? Sie bedeutet mir nichts! Überhaupt nichts!“ Felicia spürte einen Kloß in der Kehle. „So ist das also“, dachte sie. Jetzt bin ich wieder ganz allein.“ Zan brach in Tränen aus. „Lüg mich nicht an, Nick“, sagte sie schwach. „Ich lüge dich nicht an, Zan. Ich gehöre zu dir. Nicht zu Felicia. Zu dir.“ Ohne sich um Felicia zu kümmern, ging Nick mit Zan eng umschlungen davon. Er küsste sie auf die Wange und streichelte ihr Haar. Langsam stand Felicia auf. Alles tat ihr weh. Es war ein tiefer Schmerz, der ihr durch und durch ging. „Ich muss wieder fortlaufen“, dachte sie. „Ich habe keine andere Wahl. Zan wird mich so lange verfolgen, bis ich tot bin. Und wenn das mit dem Feuer und der wundersamen Rettung erst mal in den 87
Nachrichten kommt, dann wird es für die Polizei in Ridgeley ein Leichtes sein, mich aufzuspüren.“ „Aber was ist mit Nick?“, fragte eine leise innere Stimme. „Ja, was ist mit ihm?“, überlegte Felicia. „Nick wird Zan niemals verlassen. Er liebt sie. Ich würde ihm nie so viel bedeuten wie Zan. Es kümmert ihn ja noch nicht mal, dass sie mich töten wollte.“ Felicias Finger umklammerten Nicks Autoschlüssel. Die würde sie wohl jetzt sowieso nicht mehr brauchen. Sie ging zum Auto. Mit jedem Schritt durchzuckten sie Schmerzen. Sie schloss das Auto auf und verstaute die Schlüssel im Handschuhfach. Sie schlug die Tür zu, ohne sie zu verriegeln. Dann machte sie sich im Dunkeln auf den Weg zu Dr. Jones’ Haus. Unterwegs dachte sie nach. Bis sie an seinem Haus angekommen war, wusste sie ganz genau, was jetzt zu tun war: den Rucksack packen, eine ganze Tüte Katzenfutter für Miss Quiz bereitstellen, und dann nichts wie weg. Sie war schließlich schon einmal davongelaufen. Da konnte sie es auch ein zweites Mal tun. „Langsam kriege ich Übung darin“, dachte Felicia. „O nein! Papas Foto“, schoss es ihr durch den Kopf. Es war noch in der Schule! Dort konnte sie es unmöglich zurücklassen. Es war das einzige Foto, das sie von ihm besaß. Das einzige Foto, das sie aus ihrem früheren Leben aufgehoben hatte. Felicia stöhnte. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als gleich morgen früh in die Schule zu eilen und es zu holen. „Ich darf mich nur nicht von irgendjemandem aufhalten lassen“, sagte sie sich. „Schnell das Foto geholt und dann nichts wie weg!“ So weit weg von Shadyside wie möglich. Bevor noch etwas Schlimmes passiert.
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Kapitel 21 Ridgely „Kristy! Andy! Kommt raus aus dem Haus, schnell!“ Felicias Freunde standen mit dem Rücken zu ihr. „Ihr werdet da drin umkommen!“, schrie Felicia. Langsam wandten sich Andy und Kristy zu Felicia um. „Wir sind schon tot, Felicia“, stöhnte Andy zwischen seinen zerfetzten, blutigen Lippen hervor. Ein Zahn fiel ihm aus dem Mund. „Du hast uns getötet. Warum, Felicia? Warum? Wir dachten, wir wären Freunde“, klagte Kristy. Blutige Tränen liefen ihr übers Gesicht. Mit steifem Gang kamen sie auf Felicia zu. Verwesungsgeruch ging von ihnen aus. „Nein!“, kreischte Felicia entsetzt. „Nein! Das war doch keine Absicht! Ich wollte das nicht!“ Sie fuhr hoch – und fand sich im Bett wieder. „Ein Albtraum“, dachte sie. „Ein grauenhafter Albtraum!“ Felicia spürte ihr Herz bis in die Ohren hämmern. „Niemals werde ich vergessen, was heute passiert ist. Ich werde mein ganzes Leben daran denken müssen, dass ich Kristy und Andy getötet habe.“ An Schlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Sonst erschien ihr alles noch mal im Traum – wie sie das Haus zum Einsturz gebracht hatte und ihre beiden Freunde hatte umkommen lassen. „Wenn ich wenigstens mit jemandem reden könnte“, dachte Felicia. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast zwei Uhr morgens. Debbie konnte sie nicht anrufen. Und Tante Margaret schlief schon seit Stunden. Felicia glättete ihr zerknittertes Betttuch und streckte sich dann wieder auf dem Bett aus. Heiße Tränen rollten ihr über die Wangen. „Ich wollte ihnen doch nichts tun. Warum musste es bloß so kommen?“ Sie schloss die Augen. Aber es ließ ihr keine Ruhe. Immer und immer wieder sah sie das Haus einstürzen. Sie sah, wie die Nägel durch die Gegend flogen und die Bretter zu Boden 89
krachten. Klopf. Klopf. Klopf. Felicia riss die Augen auf. Was war das? Klopf. Klopf. Klopf. Klopfte da nicht jemand ans Fenster? Tatsächlich, da war jemand! Ein blasses Gesicht spähte herein. Debbie! Felicia sprang aus dem Bett und gab Debbie durch Handbewegungen zu verstehen, dass sie ums Haus herum zum Eingang gehen sollte. Sie zog sich ihren Morgenrock über und rannte hinunter in den Flur. „Du musst die Stadt verlassen - heute Nacht noch!“, raunte Debbie Felicia in dem Moment zu, als sie die Tür öffnete. „Schsch!“, machte Felicia. „Sei still, sonst weckst du Tante Margaret auf!“ Sie nahm Debbie mit auf ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. „Warum? Was ist denn los? Was ist passiert?“, fragte sie. „Ich hab die ganzen letzten vier Stunden im Polizeirevier gesessen“, antwortete Debbie. „Kaum war ich zu Hause, haben sie mich auch schon aufgespürt. Sie haben wohl irgendwie Lunte gerochen.“ Felicia stopfte die Hände in die Taschen. Ihr war plötzlich so kalt. „Aber wieso?“ „Ich weiß nicht. Aber sie müssen einen Verdacht haben, weil sie mich immer und immer wieder ausgefragt haben, was passiert ist. Sie glauben, dass du damit etwas zu tun hast!“, flüsterte Debbie. „Das verstehe ich nicht“, sagte Felicia. „Ich meine, wie sollten die denn auf die Idee kommen, ich könnte ein ganzes Haus zum Einsturz gebracht haben?“ Debbie packte Felicia am Arm und drückte ihn. „Sie haben mich über die Experimente im Labor ausgefragt. Sie sind einfach misstrauisch. Es hat alle möglichen Gerüchte über diese Tests gegeben. Deshalb haben sie mich aufgesucht.“ Debbie zögerte. „Sie haben mit Dr. Shanks telefoniert. Und er hat ihnen alles gesagt, Felicia. Sie wissen Bescheid über deine übernatürlichen Kräfte! Sie wissen, dass diese Macht stark genug ist, ein Haus einzureißen!“ 90
„O nein“, seufzte Felicia entsetzt. „Was soll ich denn jetzt tun, Debbie?“ „Pack deine Sachen und verschwinde. Dir bleibt keine andere Wahl!“ „Bist du verrückt?“, protestierte Felicia. „Wenn ich weglaufe, mache ich mich doch erst recht verdächtig!“ „Felicia, sie werden dich schnappen und ausquetschen“, redete Debbie ihr ins Gewissen. „Sie glauben, dass du Andy und Kristy mit Absicht getötet hast!“ „Nein. Ich muss mich stellen. Und ihnen alles erklären. Du kannst ihnen doch sagen, dass ich nicht wusste, dass jemand im Haus war. Du kannst ihnen sagen, dass es ein Unfall war.“ „Ich bin deine beste Freundin“, sagte Debbie. „Da würden die mir doch nicht glauben. Und außerdem wissen sie über deine Begabung Bescheid. Sie werden dich für geistesgestört halten; jedenfalls nicht für ein normales Mädchen. Sie werden denken, dass du mit deiner Begabung zur Gefahr für die Menschen werden kannst - zur tödlichen Gefahr.“ Debbie drehte sich um und ging hinüber zu Felicias Schrank. Sie holte einen Rucksack aus der oberen Schublade und warf ihn aufs Bett. Los, fang an zu packen. Ich werde nicht zulassen, dass du hier bleibst und für den Rest deines Lebens ins Gefängnis wanderst. Du wirst heute Nacht noch verschwinden. Ich gebe dir mein Auto. Damit hast du einen großen Vorsprung. Sie werden dich nie finden.“ „Du gibst mir dein Auto“, fragte Felicia erstaunt. „Ich leihe es dir“, sagte Debbie. „Fahr durch bis morgen Abend, dann lass es an irgendeinem Parkplatz stehen. Schick mir die Schlüssel und einen Hinweis, wo ich es finden kann. Mein Bruder und ich werden das Auto dann später holen. Du musst es tun, Felicia. Du musst von hier fort – ehe es zu spät ist.“ Felicia schaute Debbie in die Augen. „Sie hat Angst um mich, das merke ich“, dachte sie. „Sie hat richtig Angst.“ „Ach, Debbie, wie konnte das nur passieren? Ich wollte doch nicht, dass Andy und Kristy etwas zustößt.“ Debbie nickte. „Ich weiß. Aber du kannst nicht herumsitzen und darauf warten, dass sie dich verhaften, Felicia. Komm schon!“ 91
Felicia seufzte tief und wischte sich die Wangen trocken. „Jetzt oder nie“, dachte sie. „Okay, Deb. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig.“ Debbie stand da und machte ein zufriedenes Gesicht. „Ich helfe dir packen.“ In weniger als fünf Minuten hatte Felicia eine Art Notausrüstung zusammengepackt – ein paar Klamotten, ihre liebste Baseballkappe, ihren Kassettenrecorder mit ein paar Kassetten und das Foto von ihrem Vater. Sie warf sich den Rucksack über die Schulter und ließ noch einen letzten Blick über ihr Zimmer gleiten. Am liebsten hätte sie Tante Margaret noch Lebewohl gesagt, aber sie wusste, dass das nicht ging. Tante Margaret würde sie nicht gehen lassen. „Komm jetzt“, drängte Debbie. „Du bist hier nicht mehr sicher.“ Sie liefen hinaus zu Debbies Auto und beeilten sich, Ridgely zu verlassen. Unterwegs hielten sie noch schnell an einem Bankautomaten an. Felicia hob ihre gesamten Ersparnisse vom Konto ab. Es waren nur etwa dreihundert Dollar. Aber sie würde jeden Penny benötigen. „Hast du deiner Tante eine Nachricht hinterlassen?“, fragte Debbie, als sie weiterfuhren. „Nein“, antwortete Felicia. „Ich hab es nicht über mich gebracht. Was hätte ich ihr denn schreiben sollen?“ Am Ende der Stadt hielt Debbie am Straßenrand an. Die von Bäumen umsäumte Straße war dunkel und wie ausgestorben. Debbie stieg aus dem Auto. „Rutsch rüber“, sagte sie zu Felicia. „Der Wagen gehört dir. Zumindest für einen Tag.“ Felicia fühlte sich ziemlich unbehaglich, als sie auf den Fahrersitz kletterte. Ihre Hände zitterten, als sie das Lenkrad umfasste. Sie schaute Debbie an. „Mir scheint, du hast Angst“, flüsterte Debbie. „Ach was“, sagte Felicia scherzhaft, aber ihre Stimme klang unsicher. Debbie beugte sich durchs Fahrerfenster. „Du sollst ja auch Angst haben, Felicia. Dr. Shanks hat der Polizei erzählt, du hättest die Kontrolle über dich verloren und könntest deswegen gefährlich werden. Deswegen hat die Polizei es darauf abgesehen, dich so 92
schnell wie möglich hinter Schloss und Riegel zu bringen.“ Felicia starrte ihre Freundin entsetzt an. „Also ist es besser, wenn du Angst hast“, sagte Debbie weiter. „Mach dir die Angst zum Freund. Vielleicht hilft dir das, nicht erwischt zu werden.“ Eine Träne rollte Felicia über die Wange. „Ich weiß aber gar nicht, wo ich hin soll“, murmelte sie. „Ich bin doch kein gefährliches Monster. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Debbie streckte ihre Hand aus und legte sie Felicia auf die Schulter. „Mach dir darüber jetzt noch keine Sorgen. Du musst dich ja jetzt noch nicht entscheiden, wo du bleiben sollst. Fahr einfach heute Nacht so weit weg wie möglich. Der Rest wird sich ergeben.“ „Danke“, flüsterte Felicia. „Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich tun würde, Deb.“ „Zu Hause im Bett liegen und schlafen vermutlich“, sagte Debbie. Sie sah zu Boden und machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Eigentlich war ich es ja, die dich dazu überredet hat, das Haus zum Einsturz zu bringen.“ „Ja“, sagte Felicia. „Stimmt, du hast mich überredet, aber getan habe ich es.“ „Es tut mir Leid“, sagte Debbie leise. „Es tut mir entsetzlich Leid.“ „Ist schon okay“, sagte Felicia und schniefte. Debbie schüttelte traurig den Kopf. „Ich fürchte, wir beide müssen damit leben.“ „Ich fürchte auch“, sagte Felicia und versuchte, stark zu klingen. Dann schauten sie sich eine Weile schweigend in die Augen. Schließlich sagte Debbie: „Sieh zu, dass du mein Auto nicht allzu gut versteckst, damit ich es auch wieder finde.“ „Ich versprech’s.“ „Sei vorsichtig.“ Debbie trat vom Wagen zurück und ging langsam auf die andere Straßenseite. Sie drehte sich um und winkte Felicia noch einmal zu, ehe sie in der Dunkelheit verschwand. Felicia winkte zurück und kurbelte dann das Fenster hoch. Die Nachtluft war doch ziemlich frisch. Sie versuchte, das Lenkrad festzuhalten, aber ihre Hände zitterten so heftig, dass sie sie zur Faust ballen musste, damit sie aufhörten zu zittern. 93
Als sie losfuhr, wurde sie von Panik ergriffen. Was, wenn die Polizei sie aufspürte? Womöglich waren sie jetzt schon auf der Suche nach ihr. „Aber ich habe doch niemanden ermordet!“, dachte sie verzweifelt. „Ich bin doch keine Mörderin! Es war ein schrecklicher Unfall, sonst nichts! Und deswegen muss ich jetzt untertauchen“, dachte sie weiter. „Das ist doch irgendwie ungerecht. Ich kann doch auch nichts für meine übernatürlichen Kräfte.“ Felicia erschrak. Tief in ihrem Innern erwachte ein vertrautes Gefühl. Es war genau wie an dem Tag, als ihre Macht in ihr aufstieg und sich auf das alte Strandhaus richtete. Macht. Diese Macht machte sich immer dann in ihr bemerkbar, wenn sie wütend oder unglücklich war. „Nein“, dachte sie trotzig. „Nicht jetzt! Nicht jetzt!“ Der Wagen fing an zu schwanken und schaukelte von einer Seite zur anderen. Das Handschuhfach sprang auf. Papier, Stifte und Landkarten verteilten sich auf dem Beifahrersitz. Das Radio schaltete sich ein, der Tuner sauste vom einen Ende der Skala zum anderen. Die Lautstärke wurde unerträglich, die Musik dröhnte und knackte so laut, dass die Sprecher kaum zu hören waren. „Nein“, schrie Felicia. „Debbie! Hilf mir!“ Aber Debbie war weg. Felicia war ganz allein. Das Auto legte sich so in die Kurven, dass es immer nur auf zwei Rädern fuhr. Felicia wurde jedes Mal von der einen Tür zur anderen hinübergeschleudert. Sie merkte, dass sich der Wagen mit jeder Kurve noch mehr auf die Seite legte. Er konnte sich jeden Moment überschlagen! Das Auto raste wie verrückt. Das Gaspedal war ganz durchgedrückt. Die Räder drehten durch. Der Schalthebel fing an, sich von selbst in Bewegung zu setzen. Felicia nahm einen Geruch wahr. Benzin! „Steig aus!“, meldete sich ihr Verstand. „Steig sofort aus!“ Felicia packte ihren Rucksack und zerrte am Türgriff. Er wollte nicht nachgeben. „Was soll das? Ist es diese blöde Macht, die mir die Tür zuhält?“, schoss es Felicia durch den Kopf. 94
Der Benzingeruch wurde stärker. Felicia fing an zu husten. Ein einziger Funke genügte… Da fiel ihr plötzlich auf, dass die Tür verriegelt war. Das war es also!“, dachte Felicia erleichtert. „Deshalb ließ sich die Tür nicht öffnen!“ Hastig zog sie den Stift heraus. Sie stieß die schwere Tür auf und ließ sich aus dem Auto fallen. „Gerettet!“, dachte Felicia. „Ich bin gerettet!“ Da gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Felicia wurde von grellorangefarbenen Flammen geblendet. Schon wurde sie von einer gewaltigen heißen Druckwelle erfasst und in die Luft geschleudert. Debbies Wagen war explodiert.
Kapitel 22 Felicia schrie erschrocken auf. Sie wollte sich wehren und holte mit der Faust aus. Aber da hielt ihr jemand gewaltsam den Mund zu und drückte sie gegen den Schrank. „Beruhige dich, Felicia! Ich bin’s doch bloß!“ Nick! Er nahm die Hand von ihrem Mund, „Tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich wollte mit dir sprechen.“ „Machst du Witze?“, schrie sie ihn an. „Lass mich in Ruhe!“ Felicia versuchte, ihn beiseite zu schieben. Er packte ihren Arm noch fester. „Nein. Ich muss mit dir sprechen. Ich lasse dich jetzt nicht gehen!“ Nick schlang seine Arme um sie, zog sie ganz nah zu sich heran und küsste sie. Vor Schreck vergaß Felicia, sich zu wehren. Ihr ganzer Zorn schmolz dahin. Sie warf ihm die Arme um den Hals und küsste ihn auch. Schließlich ließ Nick sie los und schaute sie an. „Felicia, das mit gestern Abend tut mir so Leid“, sagte er. „Was ich 95
zu Zan gesagt habe, habe ich nicht so gemeint. Es stimmt nicht, dass du mir nichts bedeutest. Du bedeutest mir alles!“ „O Nick“, flüsterte sie. „Ich fühle dasselbe für dich.“ „Toll, das freut mich“, sagte Nick. „Nick, ich muss dir etwas…“ „Solltest du dir Gedanken machen wegen Zan, das brauchst du nicht“, unterbrach er sie. „Wir haben uns gestern Abend lange miteinander unterhalten. Sie hat mir versprochen, zum Psychiater zu gehen. Sie sieht wohl selbst ein, dass das nicht normal ist mit ihrer übertriebenen Eifersucht. Und sie hat versprochen, dich in Ruhe zu lassen. Du brauchst keine Angst vor ihr zu haben.“ „Hast du denn mit ihr Schluss gemacht?“, fragte Felicia. Nick wich ihrem Blick aus. „Nick…“ „Ich habe es nicht über mich gebracht, okay“, ereiferte er sich. „Es ist so viel passiert gestern Abend. Und sie hat mir alles Mögliche versprochen. Sie will sich wirklich ändern, Felicia. Ich konnte ihr nicht wehtun.“ Felicia machte ein missmutiges Gesicht. „Es ist nicht zu fassen“, dachte sie. „Nick bildet sich ein, er könnte zwei Freundinnen gleichzeitig haben!“ Als Nick sie vorhin geküsst hatte, da hatte sie für einen kurzen Augenblick das Gefühl gehabt, es gäbe in Shadyside doch noch eine Zukunft für sie. Aber jetzt nicht mehr. „Felicia“, flehte Nick sie an. „Ich möchte immer noch, dass wir zusammenbleiben.“ „Nein, Nick“, antwortete sie entschlossen. „Es ist zu spät. Ich kann nicht mir dir zusammen sein, solange Zan zwischen uns ist. Deshalb werde ich heute…“ Ein schriller Schrei schnitt Felicia das Wort ab. Sie fuhr herum und erstarrte. Zan kam auf Felicia zugestürmt, ein Messer in ihrer erhobenen Hand!
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Kapitel 23 Felicia hörte weitere Schreie. Panik kam auf, die Schüler rannten in alle Richtungen. Felicia war vor Schreck unfähig, etwas zu tun. Nick sprang Zan vor die Füße und hob abwehrend die Hände. „Zan!“, schrie er. „Was machst du…“ Er schrie auf vor Schmerz, als Zan ausholte und zustach. Felicia musste zusehen, wie die rasiermesserscharfe Klinge ihm in die linke Hand fuhr. Nick fiel nach hinten und hielt sich die verletzte Hand vor die Brust. Blut sickerte in Rinnsalen zwischen seinen Fingern hervor. „Nick!“, schrie Felicia. Sie hörte noch mehr Schreie, jemand rief nach dem Rektor. Zan ging jetzt auf Felicia los. Sie packte sie an den Haaren und riss ihr den Kopf in den Nacken. Felicias Kappe fiel zu Boden. Sie hielt sich die Hände an den Hals, aus Angst, Zan könnte ihr die Kehle durchschneiden. Schon stach Zan zu. Felicia schrie auf, als das Messer ihren rechten Arm traf. Dann setzte Zan ihr das Messer an die Kehle. „Du lässt Nick in Ruhe, hörst du? Er gehört mir!“, fauchte sie Felicia an. „Zan, lass sie los!“, schrie Nick und umklammerte seine verletzte Hand. „Du hast es versprochen!“ Zan lachte. „Machst du Witze, Nick? Ich hab gelogen – so wie du auch. So wie ihr beide. Wie lange hintergehst du mich denn schon, Nick? Seit sie hier aufgetaucht ist?“ „Das tut doch nichts zur Sache“, antwortete Nick. „Du mit deinen Rachegelüsten. Wenn du es nicht gerade auf Felicia abgesehen hast, dann auf jemand anders. Du bist krank, du brauchst Hilfe!“ „Zumindest lüge ich nie!“, knurrte Zan. „So, und wie war das mit Doug Gaynor?“, platzte Felicia jetzt heraus. „Du hast behauptet, du hättest ihn nicht umgebracht. War das etwa keine Lüge?“ „Wer hat dir das gesagt?“, brüllte Zan, außer sich vor Zorn. 97
Die Messerspitze ritzte Felicia am Hals. „Wer?“, schrie Zan. Ich bin selbst dahinter gekommen!“, schrie Felicia zurück. „Ich hab das Foto in deinem Jahrbuch entdeckt!“ „Natürlich habe ich ihn umgebracht!“, kreischte Zan. „Er hat mich verletzt. Also habe ich ihn auch verletzt. Er hat mir weismachen wollen, es täte ihm Leid. Das ist doch nicht zu glauben, oder? Ich meine, er war wohl ein bisschen spät dran mit seiner Entschuldigung, was?“ Nick ging einen Schritt auf sie zu. „Geh zurück!“, befahl Zan ihm. „Sonst schneide ich ihr die Kehle durch.“ „Tu ihr nichts“, bat Nick. „Und wenn doch?“, fragte Zan drohend. „Ich wüsste sehr gut, was ich ihr tun könnte!“ Felicia versuchte, nicht an das Messer an ihrer Kehle zu denken. Sie horchte in sich hinein, ob sich nicht die Macht bemerkbar machte, die sie am Abend zuvor gespürt hatte. Tatsächlich, sie spürte die Energie in sich aufsteigen und durch ihren Körper pulsieren. „Zan?“, fragte sie vorsichtig. „Was?“ „Hast du mir den Zettel in mein Schließfach gehängt?“ Zan lachte auf. „Ja. Und die netten Worte habe ich dir auch an die Wand geschmiert. Wärst du so clever gewesen und hättest die Stadt verlassen, dann wäre es jetzt gar nicht so weit gekommen. Ich habe es so satt, von Leuten enttäuscht zu werden, die ich liebe. Ich habe sogar dich gemocht, Felicia, aber höchstens für zwanzig Sekunden. Bis ich den Blick gesehen habe, mit dem du Nick angestarrt hast. Da wusste ich, du musst sterben. Also, bereite dich darauf vor!“, fauchte Zan und holte wieder mit dem Messer aus. Felicia ließ ihrer Macht freien Lauf und schleuderte sie Zan entgegen. Die Fensterscheiben zu beiden Seiten des Flurs explodierten, messerscharfe Glassplitter prasselten nieder. Die Schränke mit den Schließfächern rüttelten an den Angeln und drohten sich von der Wand zu reißen. 98
„Was machst du denn?“, fragte Zan erschrocken. „Was soll das?“ „Das ist mein wahres Ich!“, erklärte Felicia. Zan verzog das Gesicht. „So, dann lebe wohl, du Biest!“, zischte sie. Felicia spürte, wie die Messerspitze ihre Haut aufschlitzte. Jetzt oder nie!“, dachte sie. Die Macht wallte wiederum in ihr auf und zielte wie ein Laserstrahl - direkt auf das Messer. Die scharfe Spitze verbog sich und rollte sich zusammen. Felicia strengte sich dabei derart an, dass sie einen Schrei ausstieß, während sich die Messerklinge krümmte. Das Messer selbst gab ein kreischendes Geräusch von sich, als ob es protestieren wollte. Zan starrte entgeistert auf die zusammengerollte Waffe. Bevor Zan wieder zur Besinnung kam, startete Felicia den nächsten Angriff. Sie formte in Gedanken ein Bild und setzte es in die Tat um. Zan schrie, als Felicias Macht sie in die Luft hob. Felicia stand mühsam auf, torkelte zur Wand – und starrte Zan ins Gesicht. Zan hing ein paar Meter über dem Fußboden und wirbelte mit Armen und Beinen in der Luft herum. „Was machst du denn?“, kreischte Zan. „Du bist wohl wahnsinnig!“ Felicia antwortete, indem sie Zan ein Stück fallen ließ. Zan krachte gegen die Schließfächer und schwebte jetzt knapp einen Meter über dem Boden. „Ich bring dich um – du Wahnsinnige!“, wütete Zan weiter. „Lass mich runter!“ „Haltet sie fest“, befahl Felicia. Nick rannte zu Zan hin und versuchte, sie zu packen. Seine verletzte Hand hinterließ eine Blutspur auf dem Fußboden. Zwei Jungen kamen hinzugelaufen und halfen Nick, Zans Arme festzuhalten und sie gegen den Schrank zu drücken, bis jemand Hilfe geholt hatte. Felicia spürte, wie ihre Macht langsam nachließ. Sie hörte auf, sich zu konzentrieren, und die Macht verschwand. Zan glitt die Wand hinunter bis zum Boden herab. Die Jungen 99
hielten sie fest. Sie stieß alle möglichen Drohungen aus, aber Felicia hörte sie kaum. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie starrte das Messer an, das auf dem Boden lag. „Ich habe mir selbst mit meinem Willen das Leben gerettet“, dachte sie. Sie war wie betäubt. Sie konnte ihre Macht tatsächlich kontrollieren! Das Feuer im Hamburger-Restaurant war ein Versuch. Das Messer war der Beweis. Felicia befühlte die Wunde an ihrem Hals. Ihre Finger waren voll Blut, aber es war kein schlimmer Schnitt. Die Verletzung auf ihrem Unterarm war schlimmer – ihr Ärmel war blutgetränkt. Die lauten Stimmen am Ende des Flurs ließen Felicia aufhorchen. Bestimmt die Polizei. Aber wahrscheinlich kam sie, um Zan festzunehmen. „Zeit, zu verschwinden“, dachte Felicia. „Schnell noch das Foto von Papa geholt, und dann aber nichts wie weg!“ Felicia rannte auf ihr Schließfach zu und gab schnell die Zahlenkombination ein. Hastig riss sie das Foto ab und steckte es in ihre Jacke. Sie ließ noch einmal einen prüfenden Blick durch das Fach gleiten, ob auch ja nichts mehr darin war, was sie später vermissen würde. Als der Rektor mit mehreren Lehrern angelaufen kam, setzte sich Felicia schnell die Baseballkappe auf, zog sie tief ins Gesicht und eilte zum Ausgang. „Es ist vorbei“, dachte sie. „Ich verlasse Shadyside.“ Ein richtiges Glücksgefühl überkam Felicia, als sie die Fear Street vor sich liegen sah. Dr. Jones’ Haus sah so still und friedlich aus, vor allem jetzt nach dem entsetzlichen Erlebnis mit Zan. Sie sprang über den Rasen aufs Haus zu und warf dabei einen Blick auf das Taschentuch, das sie sich um ihren verletzten Arm gewickelt hatte. Es hatte fast schon aufgehört zu bluten. Vielleicht war es ja auch zwecklos, fortzulaufen. Aber versuchen musste sie es, bevor die Polizei dahinter kam, wo sie sich aufhielt. Felicia stieß die Tür auf und stürmte ins Haus. „So“, dachte sie. Jetzt folge genau deinem Plan, Felicia“, sagte sie sich. „Pack deinen Rucksack, lass für Miss Quiz genug Futter da und 100
hau ab.“ Felicia machte sich keine Sorgen um die Katze. Dr. Jones würde zwar erst in einer Woche wiederkommen, aber Bobby, der Junge, der eigentlich auf Miss Quiz aufpassen sollte, würde jeden Tag zurück sein. Trotzdem fiel es Felicia schwer, sich von der Katze zu trennen. Als sie die Haustür hinter sich zuzog, hörte sie Miss Quiz drinnen miauen. Felicia kramte in ihrer Hosentasche nach dem Haustürschlüssel. Sie wollte ihn, so wie es abgemacht war, für Bobby in den Briefkasten werfen. Da hörte sie ein Knacken auf der Veranda. Felicia erschrak. Was war das? Kam da etwa jemand? Da packte sie jemand am Arm. Felicia schrie auf. Zan! Das musste Zan sein! Sie war entwischt und ihr gefolgt! Felicia riss sich los und wollte sich zur Wehr setzen.
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Kapitel 24 „Debbie!“, schrie Felicia überrascht. „Was machst du denn hier?“ Felicia ließ den Rucksack fallen und fiel ihrer alten Freundin um den Hals. Debbie stieß sie von sich. Felicia stolperte rückwärts und starrte sie entgeistert an. Da erst fiel ihr Debbies ernste Miene auf. „Debbie… was ist denn los?“, flüsterte Felicia. „Wieso bist du hier? Ist Tante Margaret was passiert?“ „Rate mal, was ich gestern Abend in den Nachrichten gesehen habe!“, antwortete Debbie. „Irgend so ein Imbiss-Restaurant in Shadyside sei bis auf die Grundmauern abgebrannt, hieß es! Und ein tapferes Mädchen hätte sein Leben riskiert, um die Mitarbeiter und die Gäste zu retten!“ Felicia erstarrte. Jetzt hatte sie doch Schlagzeilen gemacht! „Das Unheimliche daran war“, fuhr Debbie fort, „dass das tapfere Mädchen gegen die Flammen angekämpft hat. Keiner konnte sich das richtig erklären. Und das Mädchen selbst konnte auch nicht befragt werden, weil es plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war. Ein Zeuge meinte, es wäre gewesen, als ob sie die Flammen beschworen hätte, zurückzuweichen.“ Debbies Augen funkelten boshaft. „Du konntest also doch nicht widerstehen, was?“, fragte sie. „Du musstest also doch die Heldin Amerikas spielen. Na, dann weiß jetzt wenigstens jeder, wer du bist, Felicia. Jeder weiß Bescheid über deine wundersamen Kräfte.“ „D-Debbie“, stammelte Felicia. „Was soll denn das? Warum sagst du so was?“ „Ich finde das zum Kotzen!“, regte Debbie sich auf. „Du willst angeblich unauffällig verschwinden, stattdessen sorgst du für das größte Aufsehen. Jetzt sind alle wie wild hinter dir her, Felicia. Aber zum Glück habe ich dich als Erste aufgestöbert.“ „Wieso?“, fragte Felicia. Debbie setzte ein höhnisches Grinsen auf. „Weil ich vorhabe, dich zu töten! Und diesmal wird mir das nicht misslingen!“ 102
Kapitel 25 „Was? Du willst mich töten?“, fragte Felicia und musste schlucken. „Aber warum?“ Sie trat zurück, bis sie gegen die Haustür stieß. Jetzt war alles aus! „Weil ich mich geirrt habe, als ich glaubte, du wärst schon tot“, erklärte Debbie zornig. „Aber es hat nicht geklappt. Ich dachte, du säßest im Auto, als es explodierte!“ Felicia wusste nicht, wie ihr geschah. „Aber das gibt’s doch nicht! Woher solltest du denn wissen, dass meine Macht außer Kontrolle geraten und das Auto explodieren lassen würde?“ „Deine Macht war nicht schuld daran!“, zischte Debbie. „Sie war höchstens schuld an deiner Rettung! Dir konnten doch weder die Flammen etwas anhaben noch herumfliegende Blechteile. Du hast dir durch die Wucht der Explosion, die dich wahrscheinlich weggeschleudert hat, noch nicht mal was gebrochen. Normalerweise wird man bei einer solchen Explosion in tausend Stücke zerfetzt.“ „Aber wie kam es denn dazu, dass das Auto explodiert ist?“, fragte Felicia schwach. Debbie kniff feindselig die Augen zusammen. „Ich war das. Ich habe es in die Luft fliegen lassen. Du warst immer so mit dir selbst beschäftigt, dass du überhaupt nicht auf die Idee gekommen bist, ich könnte auch übernatürliche Kräfte besitzen. Ich hatte die immer schon. Und meine sind noch viel stärker als die der großartigen Felicia.“ Felicia war wie gelähmt. Was sagte Debbie? Sie besäße übernatürliche Kräfte? „Deshalb also blieb sie so lange in dem Labor in Ridgely“, überlegte Felicia. „Mach nicht so ein dummes Gesicht“, schnaubte Debbie. „Ich war immer schon eine bessere Lügnerin als du. Ich hatte jedenfalls Verstand genug, meine Fähigkeiten nicht gleich in der ganzen Welt herumzuposaunen. Du dagegen mit deinem ewigen Gejammere, wie sehr du unter deinen übernatürlichen Kräften leidest!“ 103
Felicia versuchte, sich unauffällig an der Hauswand entlang wegzuschleichen. „Es ist mir egal, ob du übernatürliche Fähigkeiten hast oder nicht“, sagte sie. „Es war mir immer schon egal. Ich hatte bloß immer den Eindruck, dass du eifersüchtig auf mich bist.“ „Ich bin doch nicht eifersüchtig auf dich!“, rief Debbie und lachte hämisch auf. „Deine Macht ist doch geradezu lächerlich. Aber nach der Sache mit dem Strandhaus bist du mir zu gefährlich geworden. Ich konnte es nicht zulassen, dass jemand herausfindet, wie das Haus zum Einsturz kam. Deshalb habe ich dich angelogen. Ich habe an dem Abend gar nicht mit der Polizei geredet. Und Dr. Shanks auch nicht. Aber ich wollte vermeiden, dass du später auf die Idee kommst, vor den Bullen auszupacken – falls dich irgendwann das schlechte Gewissen packt.“ „Debbie, ich verstehe bloß Bahnhof“, sagte Felicia. „Wovon sprichst du denn, um Himmels willen?“ „Ich habe Andy Murray geliebt!“, platzte Debbie heraus. „Du warst doch so mit deinem Selbstmitleid beschäftigt, dass dir nie was aufgefallen ist. Zuerst dachte ich, er mag mich auch. Aber er wusste nicht, wie viel ich für ihn empfinde. Es gelang mir nicht, ihn Kristy auszuspannen. Er hat mich einfach stehen lassen. Aber mein Plan war perfekt. Keiner von beiden konnte entrinnen.“ „Plan? Was für ein Plan?“, fragte Felicia verständnislos. „Andy und Kristy trafen sich immer in dem alten Strandhaus. Sie dachten, sie wären dort unter sich, aber ich habe sie beobachtet. Und weil sie es dort so schön fanden, stellte ich mir vor, dass sie genau da zu sterben hätten. Du solltest mir dabei helfen, deshalb bin ich an jenem Tag mit dir dorthin gegangen. Ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde, das ganze Haus allein zum Einsturz zu bringen. An so was Großem hatte ich meine Kräfte noch nie ausprobiert.“ „Du hast mich für einen Mord missbraucht!“, rief Felicia fassungslos. „Du musst krank sein!“ „Ich bin nicht krank, ich bin ein Genie“, brüstete sich Debbie. „Aber eins habe ich von dir gelernt, Felicia.“ „Und das wäre?“ „Dass ich dich viel weniger brauche, als ich dachte. Deine lächerlichen Kräfte haben vielleicht gerade mal für eine 104
Delle gereicht. Aber den Einsturz, den habe ich vollbracht!“ Debbie verschränkte stolz die Arme vor der Brust. „Und jetzt ist es Zeit für die kleine Ausreißerin, mit dem Ausreißen aufzuhören. Ein für alle Mal!“ Felicia spürte, wie ihre Macht anfing zu pulsieren. Selbst nach ihrem Kampf mit Zan fühlte sich Felicia noch stark. Sie wusste jetzt, dass die Macht ihr gehorchen würde, wenn es darauf ankam. Aber würde sie ausreichen, Debbie zu schlagen? „Ich muss es versuchen“, sagte sie sich. Felicia zielte mit ihrer Macht auf Debbie – da hörte sie ein lautes Klatschen. Debbie fiel nach hinten und hielt sich die Wange. „Was war das?“, fragte sie entgeistert. „Das war die Ohrfeige, die du verdient hast“, schrie Felicia sie an. Debbie brüllte los vor Zorn. Sie warf ihre Hände in Felicias Richtung - und Felicia flog in die Luft. Sie fiel mit dem Rücken so hart auf das Dach der Veranda, dass das Holz splitterte. Sie schnappte nach Luft. Jetzt hing sie genauso da wie Zan an den Schließfächern! Erstaunlich, wie viel Kraft in Debbie steckte! Aber Felicia dachte nicht daran, sich geschlagen zu geben. Sie zielte mit ihrer Macht auf Debbie und blies sie mit einem gewaltigen, unsichtbaren Windstoß von der Veranda. Debbie landete auf dem Rücken im Vorgarten. Felicia spürte, wie die unsichtbare Hand von ihr abließ. Sie fiel auf den Boden der Veranda und schnappte nach Luft. Bevor sie jedoch das Gleichgewicht wieder fand, stürzte die Veranda zusammen. Inmitten eines Windstoßes aus Holzsplittern und rostigen Nägeln flog Felicia wie schwerelos durch die Luft. Sie schlug hart auf dem Rasen auf. Aber jetzt merkte sie zum ersten Mal, dass ihre Macht sie davor schützte, sich zu verletzen. „Steh auf!“, befahl ihr eine innere Stimme. „Kämpfe gegen sie!“ Aber Debbie kam ihr zuvor. Sie brachte ihre Macht dazu, einen gewaltigen Ast von einem der großen Ahornbäume abzubrechen und ihn wie einen Schläger in Felicias Richtung zu schleudern. Felicia blieb keine Zeit mehr, sich zu ducken. Instinktiv griff sie nach dem erstbesten Objekt – einer Laterne neben dem Gehweg – 105
und riss sie aus der Verankerung. Die löste sich ächzend aus der Erde und prallte gegen Debbies Ast. Durch die Wucht des Zusammenpralls fing Debbie an zu taumeln. Der Ast fiel krachend nieder. Felicia schlich sich in diesem Augenblick von hinten an Debbie heran. Sie schleuderte das verbogene Ende der Laterne wie einen Speer auf Debbie zu. Debbie ließ sich schnell zur Seite rollen. Die Laterne grub sich, ohne Schaden anzurichten, in die Erde und ragte wie ein Speer heraus. „Ein netter Versuch!“, spottete Debbie. Sie wandte ihren Blick für einen kurzen Augenblick von Felicia ab und verriet dadurch ihr nächstes Wurfgeschoss: Dr. Jones’ Mülltonne. „O nein!“, dachte Felicia. Die Mülltonne kippte um. Eine Lawine aus Blechdosen und Flaschen ergoss sich aus der Tonne, und gleich darauf schossen Dosen und Flaschen mit rasender Geschwindigkeit auf Felicia zu. „Nein!“, schrie Felicia und ließ jetzt, ohne nachzudenken, ihrer Macht freien Lauf. Eine dicke Colaflasche knallte gegen ihren Kopf und zerschellte. Felicia spürte einen rasenden Schmerz und fiel auf die Knie. Sie hielt die Arme hoch, um die anderen Wurfgeschosse abzuwehren. Blut lief ihr ins linke Auge. Felicia schrie auf, als rings um sie herum das Chaos seinen Lauf nahm. Glasflaschen zerbrachen, Dosen schepperten mit ohrenbetäubendem Getöse, Plastikflaschen quietschten und knirschten. Aber Felicia spürte nur den Schmerz der ersten Flasche. Endlich hörte das Getöse auf. Felicia ließ die Arme sinken und wischte sich das Blut aus dem Auge. Sie konnte es kaum fassen. Zerbrochene Flaschen und zerfetzte Blechdosen lagen überall auf dem Rasen verstreut. Aber nur eine einzige Flasche hatte sie getroffen! „Meine Macht“, dachte sie. „Sie hat mich wieder gerettet.“ Felicia rappelte sich mühsam auf. Plötzlich wurde ihr übel, und sie sank wieder zu Boden. Debbie baute sich mit triumphierender Miene 106
vor ihr auf. „Das ist anders als im Kino, was?“, rief sie. „Wie?“, fragte Felicia schwach. „Flaschen tun weh, wenn sie einem auf den Kopf knallen.“ Ein Blutstropfen rann Felicia in den Mund. Sie würgte, als der nächste Anfall von Übelkeit sie überkam, und griff sich an den Magen. Sie konnte nicht mehr kämpfen. Sie hatte keine Kraft mehr. „Du bist stärker, als ich dachte, Felicia“, gab Debbie zu. „Aber ich bin noch viel stärker. Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, wie ich dich umbringe. Da drüben liegt eine Schaufel – mit der könnte ich dich erschlagen. Oder vielleicht breche ich dir einfach das Genick. Was ist dir lieber?“ Felicia starrte Debbie mit verschwommenem Blick an und sagte nichts. „Okay“, sagte Debbie. „Dann nehme ich die Schaufel.“ Da hörten sie Reifen hinter sich quietschen. Felicia drehte sich um – und erkannte Nicks Wagen, der um die Ecke gebraust kam. „Wer ist das?“, fragte Debbie. Felicia klopfte das Herz bis zum Hals. Sie antwortete nicht. Nick sprang aus dem Auto und fiel aus allen Wolken, als er die Verwüstung sah – die zerstörte Veranda, den beschädigten Baum, den Müll überall. „Felicia!“, rief er und lief ihr entgegen. Debbie wandte sich schnell zu dem großen Briefkasten neben dem Gehweg um. Der Briefkasten löste sich quietschend von seinem Ständer. „Nein!“, schrie Felicia auf, als sie ihn auf Nicks Kopf zufliegen sah. Sie horchte in sich hinein. Wut, Angst und Enttäuschung, all das, was sich in ihr aufgestaut hatte, wollte heraus. Sie streckte ihre Arme in Debbies Richtung aus, so, als ob sie ihr einen Basketball zuwerfen wollte. Die Macht wallte auf. Aber diesmal war es anders als sonst. Felicia zielte mit ihrer verbliebenen Macht nicht auf einen Baum oder eine Flasche, sondern direkt auf Debbies Geist. Sie spürte, wie ihre Macht durch Arme und Hände pulsierte und durch die Fingerspitzen aus ihr herausströmte. 107
„Au!“, schrie Debbie erschrocken. Ihr Kopf zuckte zurück, als ob ihr jemand einen Kinnhaken versetzt hätte. Ihre Arme hingen kraftlos zur Seite. Der Unterkiefer fiel ihr herab. Debbie drehte die Augen nach oben, sodass nur noch das blutunterlaufene Weiße zu sehen war. Ein schmales Blutrinnsal tröpfelte aus ihren Ohren. Debbie schwankte ein paar Mal mit leerem Gesichtsausdruck und offenem Mund hin und her. Dann fiel sie lautlos um.
Kapitel 26 „Weißt du“, sagte Nick, während er am Autoradio herumfummelte, „auch wenn Debbie es ernsthaft darauf abgesehen hatte, dich umzubringen, bin ich doch froh, dass du sie nicht getötet hast.“ „Ja, ich auch“, sagte Felicia und schaute aus dem Fenster. Wie schnell die Landschaft vorüberjagte! In einer Stunde würden sie das Ridgely College erreicht haben. „Vielleicht war wieder einmal meine Macht Schuld daran, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Sie hat mich bloß so weit gebracht, Debbie in eine Art Schock zu versetzen, aber nicht so weit, sie zu töten.“ „Ist sie inzwischen aus dem Koma aufgewacht?“, fragte Nick. „Es ist kein Koma“, klärte Felicia ihn auf. „Die Ärzte sagen, sie sei eher in eine Art Trance gefallen. So etwas ist ihnen noch nie untergekommen. Sie glauben, dass das an ihrer eigenen Macht liegt.“ „Vielleicht hat ihre Macht sie wiederum vor deiner gerettet“, überlegte Nick. „Schon möglich. Das wird sich noch zeigen, denke ich.“ „Ja, das denke ich auch“, meinte Nick. „Ich hoffe bloß, sie werden sie in der Anstalt nicht mit Zan zusammenstecken.“ Felicia schüttelte den Kopf. „Nick, es ist einfach zu furchtbar. Hoffentlich sind sie dort auch in den richtigen Händen und bekommen die Behandlung, die für sie nötig ist.“ „Schade, dass du nach Ridgely zurück musst“, wich Nick vom 108
Thema ab. Felicia lächelte und betastete die Naht über ihrem Auge, wo die Flasche sie getroffen hatte. „Um ehrlich zu sein, freue ich mich schon auf Ridgely. Ich habe Tante Margaret angerufen, und wir haben ganz lange miteinander gesprochen. Jetzt erst habe ich gemerkt, wie sehr sie sich um mich kümmert. Wahrscheinlich habe ich das immer schon gewusst, ich habe es nur nicht richtig glauben wollen. Sie hat mir erklärt, sie hätte mich nur deshalb zu den Tests bei Dr. Shanks geschickt, weil sie dachte, ich könnte dann besser mit meinen übernatürlichen Kräften fertig werden. Sie sagte, mein Vater hätte sich den Tests noch mehr widersetzt als ich.“ „Wie der Vater, so die Tochter, wie?“, sagte Nick nachdenklich. „Ja, wahrscheinlich. Auf jeden Fall möchte ich so viel wie möglich über diese außergewöhnliche Begabung lernen und herausfinden, woher sie kommt. Ich sehe sie jetzt mit anderen Augen, weißt du? Ich habe nicht mehr so sehr das Gefühl, dass ich verrückt bin oder so was. Und ich denke, die Ärzte werden mich auch nicht mehr so schikanieren wie früher.“ Es ist einfach nicht zu fassen, dass sie nicht besser auf Debbie aufgepasst haben, so, wie die herumgewütet hat“, sagte Nick kopfschüttelnd. „Es ist nicht deren Schuld“, sagte Felicia. „Sie hat doch alle an der Nase herumgeführt.“ „Ich werde nie vergessen, wie mir der Briefkasten an den Kopf geflogen ist! Das war vielleicht unheimlich!“ „Sei froh, dass er dir nicht den Schädel eingeschlagen hat!“, sagte Felicia. Ja, das habe ich dir zu verdanken“, sagte Nick und lächelte Felicia zärtlich an. „Du hast mir das Leben gerettet.“ Felicia erwiderte sein Lächeln. „Ich war es dir schuldig.“ „Sind wir dann jetzt quitt?“, fragte er. „Ja, unter einer Bedingung. Du musst mich jedes Wochenende besuchen kommen.“ „So, und wenn nicht?“, fragte Nick herausfordernd. „Ich habe jetzt Übung im Abhauen. Glaub ja nicht, dass du mir entwischst!“, antwortete Felicia lachend. 109
„Nicht nötig. Du brauchst nie wieder fortzulaufen, Felicia, dafür werde ich sorgen.“ Felicia schmunzelte und legte ihm vertrauensvoll die Hand auf die Schulter. Bis Ridgely war es nicht mehr weit.
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