Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag am 15. September 2008
Herausgegeben von Henrik Schneider et al.
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Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag am 15. September 2008
Herausgegeben von Henrik Schneider et al.
De Gruyter Recht
Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag
Festschrift für
MANFRED SEEBODE zum 70.Geburtstag am 15.September 2008 herausgegeben von
Hendrik Schneider Diethelm Klesczewski
Michael Kahlo Heribert Schumann
De Gruyter Recht · Berlin
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-89949-438-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© Copyright 2008 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D - 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
Manfred Seebode zum 15. September 2008
NESTOR COURAKIS VOLKER ERB WALTER GROPP UWE HELLMANN ROLF HERRFAHRDT MINORU HONDA MICHAEL KAHLO ERHARD KAUSCH DIETHELM KLESCZEWSKI MATTHIAS KRAHL KRISTIAN KÜHL WILFRIED KÜPER KLAUS LAUBENTHAL KLAUS LÜDERSSEN KAMILA MATTHIES WOLFGANG MITSCH ANDREAS MOSBACHER HARRO OTTO
HANS-ULLRICH PAEFFGEN RAINER PAULUS HENNING RADTKE UWE SCHEFFLER HANS JOACHIM SCHNEIDER HENDRIK SCHNEIDER ANTJE SCHUMANN HERIBERT SCHUMANN HANS-DIETER SCHWIND GÜNTER SPENDEL DIONYSIOS SPINELLIS DETLEV STERNBERG-LIEBEN THOMAS VORMBAUM ULRICH WEBER WOLFGANG WOHLERS RAINER ZACZYK JAN ZOPFS
Inhalt
Vorwort.......................................................................................................XI
I. Grundlagen des Strafrechts NESTOR COURAKIS Strafrecht und Utopie....................................................................................3 MINORU HONDA Rechtslogik der Rückwirkung nachträglich verschärfter Strafgesetze........15 ERHARD KAUSCH Ungerechtigkeit, Unrecht und Unglück – Einige Anmerkungen zum Thema Gerechtigkeit aus Anlass studentischer Erfahrungen von Ungerechtigkeit....................................................................................37 KRISTIAN KÜHL Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz ..............................................61 HARRO OTTO Die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes für die Auslegung nicht strafrechtlicher Bezugsnormen ...................................................................81
II. Strafrecht und Strafverfahrensrecht VOLKER ERB Zur strafrechtlichen Behandlung von „Folter“ in der Notwehrlage ............99 WALTER GROPP Mord und Totschlag – Die BGH-Rechtsprechung vor einem Wandel?....125 UWE HELLMANN Das Steuerstrafrecht als Testfall des Nemo-tenetur-Prinzips....................143
VIII
Inhalt
MICHAEL KAHLO Bestimmt, wer „aufstiftet“, zur Tat des schwereren Delikts? – Zugleich ein Beitrag zum Unrecht der Anstiftung – ..............................159 DIETHELM KLESCZEWSKI Gewinnabschöpfung mit Säumniszuschlag – Versuch über die Rechtsnatur der Verbandsgeldbuße (§ 30 OWiG) ....................................179 WILFRIED KÜPER Über grausames Töten – Zur tatbestandlichen Koordination von »Tötung« und »Grausamkeit«...................................................................197 KLAUS LÜDERSSEN Desavouierung kartellrechtlicher Monopolverbote durch Strafvorschriften? Am Beispiel des neuen Hessischen Glücksspielgesetzes ...............................................................219 ANDREAS MOSBACHER Der Spielraum des Tatrichters bei Wertungs- und Wahrscheinlichkeitsurteilen......................................................................227 HANS-ULLRICH PAEFFGEN Fürsorgliche Erschießung – Über einige Pragmata hoheitlicher Grundrechts-Eingriffe – und das Glück, heute zu leben ...........................245 RAINER PAULUS Gerichtsüberzeugung als Prozesshandlungsvoraussetzung.......................277 HENNING RADTKE Der Begriff der „Tat“ im prozessualen Sinne in Europa...........................297 UWE SCHEFFLER / KAMILA MATTHIES Rechtsbeugung und Immunität .................................................................317 HENDRIK SCHNEIDER Unberechenbares Strafrecht – Vermeidbare Bestimmtheitsdefizite im Tatbestand der Vorteilsannahme und ihre Auswirkungen auf die Praxis des Gesundheitswesens..................................................................331
Inhalt
IX
HERIBERT SCHUMANN / ANTJE SCHUMANN Sicherheitsdenken, Strafrechtsdogmatik und Verfassungsrecht im Jugendmedienschutz – Anmerkungen zu § 184c StGB und § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2 JMStV .............................................................351 GÜNTER SPENDEL Zum Vergehen der unterlassenen Hilfeleistung........................................377 DIONYSIOS SPINELLIS Darf Folter als Nothilfe in extremen Fällen angewandt werden? .............387 DETLEV STERNBERG-LIEBEN Rechtliche Grenzen einer Patientenverfügung..........................................401 THOMAS VORMBAUM Probleme des § 353d Nr. 3 StGB (Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen)............................................................................421 ULRICH WEBER Untreue durch Verursachung straf- und bußgeldrechtlicher Sanktionen gegen den Vermögensinhaber? ..............................................437 JAN ZOPFS Begründet die Sachgefahr einen Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB?............................................................................................449
III. Strafvollzug und Kriminologie ROLF HERRFAHRDT Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz – Fortschritt oder Rückschritt –.............................................................................................469 MATTHIAS KRAHL Privatisierung von Strafsanktionen ...........................................................481 KLAUS LAUBENTHAL Alterskriminalität und Altenstrafvollzug ..................................................499 WOLFGANG MITSCH Rechtliche Aspekte teilweiser Privatisierung des Jugendstrafvollzugs ....513
X
Inhalt
HANS JOACHIM SCHNEIDER Die Renaissance der Freiheitsstrafe – Strafhaft in Europa, Nordamerika und Japan ............................................................................525 HANS-DIETER SCHWIND Tiere im Strafvollzug ................................................................................551 WOLFGANG WOHLERS Zur gerichtlichen Beiordnung eines Rechtsbeistands in Strafvollstreckungs- und Strafvollzugssachen ..........................................573 RAINER ZACZYK Die Bedeutung der Strafbegründung für den Strafvollzug........................589
IV. Verzeichnis der Schriften von Manfred Seebode
601
V. Autorenverzeichnis
611
Vorwort
Am 15. September 2008 beendet Manfred Seebode sein 70. Lebensjahr – ein Datum, das für uns, seine Leipziger Strafrechtskollegen, nicht nur willkommener Anlaß war, in Übereinstimmung mit guter akademischer Tradition in kollegialer Verbundenheit zu seinen Ehren die nunmehr vorliegende Festschrift zu organisieren, sondern auch Grund dafür, dankbar und mit herzlichen Glückwünschen für sein weiteres Leben und Wirken den Blick auf seine Biographie und sein schon jetzt beachtliches rechtswissenschaftliches Werk zu richten. Manfred Seebode wurde am 15. September 1938 als erstes von zwei Kindern des Textilkaufmanns Fritz Seebode und dessen Ehefrau Luise Seebode, geb. Schlösser, in Berlin geboren. Die Schrecken des 2. Weltkrieges, dessen Auswirkungen er als Kind noch miterleben und erleiden musste, erzwangen, dass er ohne seine um 1 Jahr jüngere Schwester und nicht bei seinen Eltern, sondern bei seinen Großeltern mütterlicherseits in Nordrhein-Westfalen aufwuchs. Nach dem Besuch der Volksschule und des Städtischen Gymnasiums in Ratingen, wo er 1959 sein Abitur ablegte, begann er im Wintersemester 1959/60 Jura zu studieren. Nach zwei Semestern an der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg wechselte er im Wintersemester 1960/61 an die rechtswissenschaftliche Fakultät der 1948 gegründeten Freien Universität Berlin, von wo er wegen einer damals geltenden Studienzeitbegrenzung für auswärtige Studierende aber schon ein Jahr später an die Julius-Maximiliana zurückkehrte, die fortan so etwas wie seine erste wissenschaftliche Heimat werden sollte, traf er doch hier auf seinen späteren Doktorvater und wissenschaftlichen Lehrer Günter Spendel, bei dem er Strafrecht hörte. Ganz gradlinig verlief sein Weg in dieses Rechtsgebiet indessen nicht. Nach dem Ersten Juristischen Staatsexamen, das er nach achtsemestrigem Studium als Jahrgangsbester in Würzburg ablegte, folgten vielmehr Zeiten der wissenschaftlichen Mitarbeit sowohl am Spendel-Lehrstuhl für Strafrecht und strafrechtliche Hilfswissenschaften als auch im Bürgerlichen Recht, wo er sogar ein gesellschaftsrechtliches Promotionsprojekt bei Franz Laufke, dem damaligen Inhaber des Lehrstuhls für Handels- und Gesellschaftsrecht, ins Auge faßte. Daß seine Wahl schließlich aufs Strafrecht fiel, war, wie so oft im Leben, das Resultat einer Mischung aus Zufall und eigener Entscheidung: Er nahm das ihm während
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Vorwort
seines Referendariats in München von Spendel unterbreitete Angebot an, bei diesem im Strafrecht zu promovieren. So kam es, dass Seebode 1968 nicht nur die Zweite Juristische Staatsprüfung in München ablegte, sondern noch im selben Jahr in Würzburg promoviert wurde. Die Doktorarbeit über „Das Verbrechen der Rechtsbeugung“, deren ungebrochene Aktualität ihren Niederschlag in einem Reprint 1995 fand, behandelte dabei ein Thema, das auch fortan einen Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Interesses bilden sollte, nicht zuletzt auf Grund des Zusammenbruchs des DDR-Regimes infolge der friedlichen Revolution der DDR-Bürgerinnen und -Bürger von 1989 und der dadurch sich neu stellenden Strafrechtsprobleme im Zusammenhang mit einem Regimewandel: dem Beitritt der DDR zur „alten“ Bundesrepublik Deutschland der westlichen Bundesländer. Nach Lehrstuhlvertretungen am Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität in Gießen 1972 und 1974 folgte Seebode 1976 dem Ruf der Fachhochschule Münster, Fachbereich Sozialwesen, auf eine unbefristete C 3-Professur für Strafrecht, Strafprozeßrecht, Kriminologie und Kriminalpolitik. Gerade weil er zuvor durch profilierte Veröffentlichungen, namentlich auf den Gebieten des Strafprozeß- und Haftvollzugsrechts sowie zu aktuellen kriminalpolitischen Fragestellungen, hervorgetreten war, schien es, als hätte er mit seiner ihm dort gestellten neuen Aufgabe, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen mit dem Berufsziel „Ausübung sozialer Dienste im Zusammenhang mit der Strafjustiz“ (also z. B. zukünftige Bewährungshelfer) auszubilden, seine Bestimmung gefunden, war die auch sozialstaatliche Prägung des Haftvollzuges doch eines der Postulate, dessen Ausarbeitung seine wissenschaftlichen Anstrengungen schon früh gewidmet waren. Indessen kam es anders. Da Seebode auch in seiner Münsteraner Zeit weiterhin den Kontakt zu seiner Herkunfts-Alma-Mater Würzburg und seinem akademischen Lehrer Spendel hielt, führte dies schließlich dazu, dass er 1984 mit seiner Arbeit zum Thema „Der Vollzug der Untersuchungshaft“ habilitiert wurde, die den vollzugsbezogenen Schwerpunkt in seinem Strafrechtsverständnis zum ersten Mal monographisch eindrucksvoll zum Ausdruck brachte. – Nicht zuletzt dieses besondere Verständnis, das die Bedeutung von Recht und Wirklichkeit der strafrechtlichen Sanktionen als Aufgabe einer gesamten Strafrechtswissenschaft reflektiert und sich mit deren – verglichen mit den Bemühungen um das System der Strafbarkeitsvoraussetzungen – strafrechtswissenschaftlich überwiegend eher stiefmütterlicher Behandlung nicht abfindet, ist denn gewiß auch einer der Gründe für seinen 1993, vier Jahre nach der Wende, erfolgten Ruf an die Leipziger Juristenfakultät auf einen Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht, Kriminologie und eben Strafvollzug gewesen. Daß er diesen Ruf seinerzeit, trotz damals teilweise schwieriger Lebensumstände und selbst in einer Stadt wie
Vorwort
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Leipzig beschwerlicher Lebensverhältnisse ohne langes Zögern angenommen hat, ist, wie man heute im Rückblick mit Gewissheit sagen kann, sachlich wie persönlich ein großes Glück für die Juristenfakultät gewesen, wo er seither und über seine Emeritierung 2003 hinaus den Wiederaufbau der traditionsreichen Fakultät und hier besonders die fachliche Profilierung der Fachgruppe Strafrecht in der ihm eigenen besonnenen Art maßgeblich mitgestaltet und konstruktiv gefördert hat, aufgeschlossen für sinnvolle Erneuerungen, aber skeptisch gegen alle bloß modischen Strömungen der Wissenschaftsentwicklung und gegenüber besinnungslosen „Modernisierungen“ der Strafrechtslehre und der Hochschullandschaft um ihrer selbst willen, vielmehr den akademischen Gepflogenheiten in neuzeitlichem, freiheitlichem Geist verpflichtet. Dieser Geist prägt auch sein ebenso umfangreiches wie eindringliches, praktisch sämtliche Genres (Monographien, Aufsätze in Fachzeitschriften, Beiträge zu Festschriften, Urteilsanmerkungen, Buchbesprechungen, sogar Artikel in Lexika) umfassendes wissenschaftliches Werk, das inhaltlich schwerpunktmäßig – außer den durch die Doktorarbeit und die Habilitationsschrift bereits ins Auge gefassten Problembereichen der Rechtsbeugung und des Haftrechts – Grundlagenproblemen des Allgemeinen Teils des StGB, insbesondere dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB), sowie dem intrikaten, gerade in jüngster Zeit zunehmend problematischen Verhältnis von Straf- und Polizeirecht, reaktivem Strafprozeß- und präventivem Gefahrenabwehrrecht gewidmet ist. Daß als rechtsstaatlich verfasste Freiheit begriffene Liberalität sich freilich nicht darin erschöpft, den Einzelnen als Person gleichsam „in Ruhe zu lassen“, sondern im wahrsten Sinne des Wortes not-wendige Hilfen des Staates und der Rechtsgemeinschaft – etwa, wie schon erwähnt, im Haftvollzug – erfordert, hat Seebode dabei stets nachdrücklich geltend gemacht. Dieser Gedanke verbindet sich in seinem Werk mit einer weiteren Grundüberzeugung seines Denkens, der Überzeugung, dass ein konkret freiheitliches Strafrecht sich nicht allein schon im System der Strafrechtsnormen (Gesetze) erweist und zu bewähren hat, sondern nicht weniger in den Formen von dessen Umsetzung und Verwirklichung. Es ist deswegen auch nur folgerichtig, wenn er in vielen seiner Arbeiten sich nicht auf die abstrakt-normative Perspektive beschränkt, sondern auch die empirische Dimension mit einbezogen und so die Rechtsordnung nicht weniger am Prüfstein der jeweils gelebten Wirklichkeit gemessen hat und mißt. In seiner schon erwähnten Doktorarbeit „Das Verbrechen der Rechtsbeugung“ (1968) steht diese Einstellung freilich noch nicht im Vordergrund, was sich jedoch daraus erklärt, dass diese Arbeit, wie sich nicht erst in ihrem Schlusskapitel („Überblick über die wesentlichen Ergebnisse und Ausblick auf die Reform“) erschließt, im Zusammenhang mit der damals vor
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Vorwort
allem durch den E 1962 beeinflußten strafrechtlichen Diskussion um eine Reform des Tatbestands der Rechtsbeugung (damals: § 336 StGB) gestanden hat und deshalb nicht zuletzt im Hinblick auf diese Diskussion verstanden werden muß. Den Leitfaden für diese Untersuchung bildet deswegen auch die Frage, worin Unrecht und Schuld des thematischen Verbrechens als einer Straftat gegen die Rechtspflege (im Unterschied etwa zum „Amtsmissbrauch“) bestehen und wie diese in Abgrenzung zu jedenfalls als Rechtsbeugung nicht strafwürdigen Verhaltensweisen tatbestandlich präzise abzugrenzen und systematisch in den Besonderen Teil des StGB einzuordnen sind. Im Mittelpunkt der Antwort steht dabei die Judikative und mit ihr der Richter, aus dessen Unabhängigkeit und besonderer Verantwortung für die freiheitsermöglichende und -verwirklichende Objektivität des Rechts Seebode gegen die damals in Rechtsprechung und Literatur ganz vorherrschende Auffassung wohlbegründet die Forderung nach einer Einbeziehung auch des bedingt vorsätzlichen Handelns in den Straftatbestand ableitet – ein Standpunkt, der sich im Verfahren der Gesetzgebung zu dem 1974 verkündeten EGStGB durchgesetzt hat und für den heutigen § 339 StGB nahezu unbestritten ist. Die in dieser Arbeit vorgezeichneten Grundlinien – Objektivität des Rechts; möglichst strikte Konzentration des Rechtsbeugungstatbestandes auf richterliches Justizunrecht; Begründung eines Rechts des Richters, als unsittlich beurteilte Gesetze außerhalb des Geltungsbereichs des GG nicht anzuwenden; Einbeziehung auch der bedingt vorsätzlich begangenen Rechtsbeugung in den Straftatbestand – hat Seebode in der Folgezeit in einer Reihe weiterer Publikationen näher ausgearbeitet, unter denen der Aufsatz „Rechtsbruch und Rechtsbeugung“ (JR 1994, S. 1 – 6) sowie der Beitrag „DDR-Justiz vor Gericht“ (Lenckner-FS, 1998, S. 585 – 617) besonders hervorzuheben sind. Die ebenfalls bereits erwähnte Würzburger Habilitationsschrift „Der Vollzug der Untersuchungshaft“ (1984) ist zwar einem ersichtlich anderen Thema als die Doktorarbeit gewidmet, behandelt aber ebenso wie diese ein Rechtsgebiet, das damals – und wie man hier ergänzen muß: bis heute – als dringend reformbedürftig angesehen wurde und anzusehen ist. Die Untersuchung beginnt mit dem ebenso lakonischen wie verstörenden Satz: „Untersuchungshaft lernen jährlich etwa ebenso viele Menschen kennen wie Freiheitsstrafe“ – ein Befund, zu dem es, wie Seebode sogleich im Anschluß feststellt, so gar nicht passt, dass diese trotz der Unschuldsvermutung „härteste Form strafrechtlicher Freiheitsentziehung“ nie das öffentliche, gesetzgeberische und wissenschaftliche Interesse gefunden hat, das dem anders zu gestaltenden Strafvollzug zuteil wurde. Den daraus resultierenden Defiziten in Recht und Wirklichkeit des Untersuchungshaftvollzuges, die auch durch Untersuchungen zur Empirie der Untersuchungshaft verdeutlicht werden,
Vorwort
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begegnet die Arbeit nun zum einen durch eine gründliche Erinnerung der schon de lege lata geltenden Grundsätze des Untersuchungshaftvollzuges (etwa der Differenzierung des Vollzuges nach dem jeweiligen Haftzweck), bei deren strikter Beachtung sich die mit dem Vollzug der Untersuchungshaft verbundenen Grundrechtseingriffe und so das dem Verdächtigen abverlangte Sonderopfer – in Übereinstimmung mit den an sich liberalen Intentionen des § 119 Abs. 3 (§ 116 Abs. 2 a. F.) StPO – jedenfalls wesentlich verringern ließen; zum anderen mit dem Hinweis auf das schon wegen des Gebots rechtsstaatlicher Bestimmtheit der strafprozessualen Zwangsmaßnahme bestehende Erfordernis eines differenzierten Gesetzes über den Vollzug der Untersuchungshaft – eine Forderung, die bis heute, inzwischen auch aufgrund der Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz für das Recht des Untersuchungshaftvollzuges auf die Bundesländer im Zuge der Föderalismusreform, nichts an Aktualität eingebüßt hat. – Daß er mit dem Vollzug der Untersuchungshaft eines der ihn zentral bewegenden rechtswissenschaftlichen Themen – wenn nicht „sein Thema“ überhaupt – gefunden hatte, das ihn in den seit seiner Habilitation vergangenen fast 25 Jahren nie losgelassen hat, dokumentiert das am Ende dieser Festschrift abgedruckte Verzeichnis der Schriften Manfred Seebodes, das für den Zeitraum von 1987 bis 2008 eine reiche Vortrags- und Publikationstätigkeit zu Recht und Praxis der Untersuchungshaft ausweist. Seine Behandlung dieses Themas erschließt sich richtig freilich erst im Zusammenhang mit seinen Arbeiten zum Strafvollzug, zu dessen Grundlagen Seebode 1997 ein sich gleichermaßen an Studierende wie an Vollzugspraktiker richtendes Lehrbuch mit dem Titel „Strafvollzug – Recht und Praxis I“ vorgelegt hat, in das sowohl die Erträge seiner beharrlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit haftrechtlichen Problemen als auch seine vielfältigen Erfahrungen mit den Vollzugsrealitäten eingeflossen sind, die er zunächst als mehrjähriger ehrenamtlicher Betreuungsgruppenleiter an der Jugendstrafanstalt Ebrach (1964 – 1967) während der Assistentenzeit in Würzburg und später durch seinen intensiven Gedankenaustausch mit Leitern und Mitarbeitern zahlreicher Justizvollzugsanstalten sowie seine Kontakte auch zu Straf- oder Untersuchungshäftlingen gesammelt hat. Die mit diesem Buch vorgestellten Grundlagen strafrechtlicher Freiheitsentziehung (einschließlich deren besonderer Formen wie Jugendstrafvollzug und Untersuchungshaft, vgl. S. 12 ff.) bieten daher vorzügliche Orientierungshilfen im Recht des Haftvollzuges, insbesondere durch die Begründung und konkretisierende Entfaltung der rechts- und sozialstaatlichen Gestaltungsmaximen des Strafvollzuges (S. 131 ff.). – Neben diesem Lehrbuch ist eine Reihe wichtiger Aufsätze und Urteilsanmerkungen zu dem Gebiet des Haftvollzuges zu verzeichnen, darunter der schon früh, nämlich in der MDR 1971, S. 98 – 104 veröffentlichte Beitrag zum „Schriftverkehr zwi-
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Vorwort
schen Gefangenem und Anwalt“ (ein Thema, das ihn schon deshalb interessierte, weil er gelegentlich sich als Verteidiger betätigt hat), der Aufsatz „Zur Bedeutung der Gesetzgebung für die Haftpraxis“ (StV 1989, S. 118 – 122) sowie der auf der Jahrestagung der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Strafvollzug 2006 gehaltene Vortrag „Wer Strafe androht, muß auch sagen, wie sie aussieht“, in dem Seebode die infolge der Föderalismusreform zu befürchtende materielle Zersplitterung des Strafvollzugsrechts wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) als verfassungswidrig kritisiert und sich dezidiert für eine bundeseinheitliche gesetzliche Regelung des Justizvollzuges ausgesprochen hat. Ähnlich nachdrücklich und beharrlich, wie er – aufgrund der damit verbundenen gravierenden Grundrechtseingriffe – bezüglich aller Formen staatlich veranlasster Freiheitsentziehung, namentlich zur Untersuchungshaft sowie zum Jugendstrafvollzug, immer wieder die von Verfassungs wegen gebotene Beachtung des Gesetzesvorbehalts angemahnt hat (und darin jedenfalls hinsichtlich des Jugendstrafvollzuges inzwischen auch durch die Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 2006, BVerfGE 116, 69 bestätigt worden ist), hat er für das Gebiet des materiellen Strafrechts auf der Einhaltung des Gesetzlichkeitsprinzips (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB) als dem neben dem Schuldgrundsatz wichtigsten Strafrechtsprinzip bestanden. Da er dieses Prinzip zutreffend nicht auf einen bloßen Politikvorbehalt reduziert, sondern als Freiheitsvorbehalt begreift, plädiert er (gerade) auch dort für dessen konsequente Anwendung, wo dies eine Rücknahme des Strafrechts zur Folge hätte, etwa im Zuge seiner Ablehnung der Ingerenzgarantenpflicht im Rahmen seines Beitrages „Zur gesetzlichen Bestimmtheit des unechte Unterlassungsdelikts“ (Spendel-FS, 1992, S. 317 – 346) oder seiner Kritik an der aktuellen Fassung und vorherrschenden Auslegung des Tatbestands der Unterlassenen Hilfeleistung, § 323 c StGB (Kohlmann-FS, 2003, S. 279 – 294). Einen weiteren Schwerpunkt seiner strafrechtswissenschaftlichen Arbeit bildet schließlich die oben schon einmal vermerkte intensive Befassung mit aktuellen Problemen im Verhältnis von (materiellem wie formellem) Strafund Polizeirecht – ein Befund, der kaum verwundern kann, tritt doch das sog. staatliche Gewaltmonopol als Ausdruck der elementaren Staatsaufgabe, Freiheit der Einzelnen als rechtsförmige Sicherheit zu garantieren, nicht zuletzt in Gestalt der polizeilichen Gefahrenabwehr in Erscheinung, so dass der Zustand des Polizeirechts in einem Staat insofern als eine Art von Seismograph für die Verfassung bürgerlicher Freiheit betrachtet werden kann, als jede Erweiterung der Eingriffs- und Kontrollbefugnisse der Polizei eine unter Freiheitsaspekten problematische Veränderung für den staatsbürgerlichen Grundrechtsstatus bedeutet. Gerade um die Erhaltung und Stabilisie-
Vorwort
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rung dieses Status’ ist es Manfred Seebode aber in seinem Werk und strafrechtswissenschaftlichen Denken zu tun. – So veranlaßten ihn schon früh die in dem Aufsatz „Strafverfolgung nach Polizeirecht?“ (MDR 1976, S. 537 – 540) vorgetragenen kritischen Überlegungen zum damals vorliegenden Musterentwurf einheitlicher Polizeigesetze zu einer Mitwirkung am „Alternativentwurf einheitlicher Polizeigesetze des Bundes und der Länder“ (zusammen mit Erhard Denninger, Ulrich Klug, Hans-Peter Schneider, u. a.). Darüber hinaus hat er die wissenschaftliche Diskussion um die „polizeiliche Notwehr“ durch mehrere Beiträge bereichert, in denen er insbesondere der Frage nachgegangen ist, ob polizeiliches Handeln zur akuten Gefahrenabwehr nach dem Gedanken der „Einheit der Rechtsordnung“ (so in der Klug-FS, 1983, S. 359 – 373) und trotz seines rechtlichen Charakters als hoheitlicher Gewalteingriff auf die originär als privater Notrechtsvorbehalt konzipierte strafgesetzliche Erlaubnisnorm des § 32 StGB gestützt werden darf („Gesetzliche Notwehr und staatliches Gewaltmonopol“, in: KrauseFS, 1990, S. 375 – 391). Daß diese rechtsprinzipielle Frage sich mit besonderem Gewicht für den zur Rettung von akut bedrohten Personen erfolgenden „finalen Todesschuß“ der Polizei stellt, dürfte Seebode dazu bewogen haben, in seine die diesbezüglichen schwierigen Rechtsprobleme skrupulös bedenkenden Überlegungen schließlich auch die Bedeutung der einschlägigen polizeigesetzlichen Regelungen einzubeziehen (StV 1991, S. 80 – 85). So war einer wie er geradezu dafür prädestiniert, auch der aus aktuellem Anlaß (nämlich dem Verhalten eines ehemaligen Polizei-Vizepräsidenten gegenüber einem in polizeilichem Gewahrsam sich befindenden, einer akut lebensgefährlich erscheinenden Kindesentführung verdächtigen Jurastudenten) geführten, die deutsche Öffentlichkeit nicht weniger als die Rechtswissenschaft und -praxis bewegenden Auseinandersetzung um die rechtliche Zulässigkeit der sog. Rettungsfolter nicht auszuweichen, sondern vielmehr differenziert, mit Blick sowohl auf die besondere Bedeutung des Folterverbotes als auch auf die fatale Lage des (potentiellen) Opfers, seinen – wie könnte es bei diesem Thema anders sein: streitbaren – Standpunkt zu formulieren, und zwar zunächst durch „Strafrechtliche Bemerkungen zum Folterverbot“ im Rahmen eines vom Leipziger „Institut für Grundlagen des Rechts“ veranstalteten rechtswissenschaftlichen Podiums zum Thema „Staatliche Folter – Heiligt der Zweck die Mittel?“ sowie sodann, im selben Jahr, in Form eines Beitrages zum Verhältnis von „Folterverbot und Beweisverbot“ (Otto-FS, 2007, S. 999 – 1012). Nicht ausgewichen ist Manfred Seebode auch den mehrfach seitens der Politik an ihn gerichteten Ersuchen, sich im Zusammenhang mit straf- und polizeirechtlichen Gesetzgebungsverfahren als Rechtsgutachter zur Verfügung zu stellen. Vielleicht ist es die gerade angesichts seines „Kampfes“ für das Gesetzlichkeitsprinzip nahe liegende Hochachtung der Gesetzesform
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Vorwort
und seine daraus resultierende Kritik an in neuerer Zeit oftmals, wohl auch zunehmend unüberlegt und unsorgfältig verfassten Gesetzen gewesen, die seine Bereitschaft gefördert hat, trotz der damit verbundenen Zusatzlast und Verantwortung seine besondere juristische Urteilskraft, seinen Sinn für eine präzise rechtliche Begrifflichkeit und deren Bedeutung für die Rechtsordnung als System sowie seine außergewöhnliche juristische Bildung, keineswegs nur auf den vorstehend in den Blick genommenen Feldern seiner Publikationstätigkeit, wiederholt in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen und so einen Beitrag zur Kultur der (Straf-)Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland zu leisten. Und dies trotz mancher, durch wachsende Irrationalität in der Organisation von Sachverständigenanhörungen im Rahmen parlamentarischer Gesetzgebungsverfahren bedingter Enttäuschungen. Derartigen unsachlichen Tendenzen setzte er stets seine wissenschaftlich fundierte Unabhängigkeit und wohlbegründete Vorstellungen vom freiheitlichen, durch die Maxime „in dubio pro libertate“ geprägten Geist guter Gesetze entgegen, wie man beispielhaft etwa an seiner kritischen rechtsgutachtlichen Stellungnahme zur 1998 vorgesehenen (und auch schon bald darauf realisierten) Einführung anlaß- und verdachtsunabhängiger Kontrollen von Personen und Durchsuchungen von Sachen durch den Bundesgrenzschutz ablesen kann. Seine universitären Lehre durfte unter seiner rechtsgutachterlichen Tätigkeit nicht nur nicht leiden, sondern sie hat diese bereichert, schon allein wegen der den Studierenden durch sie eröffneten Einblicke in die Praxis von Gesetzgebungsverfahren, einer juristischen Materie, die im Jurastudium üblicherweise kaum Beachtung findet. Seine Hörsäle waren dementsprechend gut besucht; für seine Seminare, die häufig mit dem Besuch einer Justizvollzugsanstalt verbunden waren und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern durch die regelmäßige Einbeziehung auch der kriminologischen Hintergründe der behandelten Seminarthemen zusätzliche, die rein juristische Perspektive fruchtbar ergänzende Dimensionen eröffnet haben, gab es durchweg mehr Interessenten als Plätze, so dass diese oftmals „überzulaufen“ drohten, wie einem ausführlichen Artikel des „Kleinen Advokaten“ (Februar-/März-Heft 1996), der Zeitschrift der Fachschaft Jura Leipzig, über den heutigen Jubilar zu entnehmen ist. Es ist dabei neben der Manfred Seebode anzumerkenden Freude an der Beschäftigung mit Rechtsfragen wohl auch die Verbindung von fachlichem Anspruch und persönlicher Freundlichkeit gewesen, die seine Lehrveranstaltungen für die Studierenden so attraktiv gemacht hat. Diese Eigenschaften prägten und prägen, teilweise über viele Jahre der Weggefährtenschaft hinweg, auch seinen kollegialen Umgang als stets aufgeschlossener wissenschaftlicher und, wo nötig, persönlicher Gesprächspartner, wofür ihm unser aufrichtiger Dank an dieser Stelle ausgesprochen
Vorwort
XIX
sei, verbunden mit unseren herzlichsten Glückwünschen zu seinem Ehrentag und für die Zukunft: Ad multos annos!
Leipzig, im September 2008
Die Herausgeber
I. Grundlagen des Strafrechts
Strafrecht und Utopie1 2 NESTOR COURAKIS
1. Es mag sein, dass der Titel des Themas einige Fragen aufwirft. In der Tat scheint auf den ersten Blick, dass das Strafrecht keine Rolle im Bereich der Utopie beanspruchen kann. Die absolute Utopie ist per Definition ein nicht existierendes Gebilde des Geistes, ein ideeller, perfekter Zustand menschlicher Koexistenz. Aber wenn die Menschen, die die Gesellschaft der Utopie bilden, auf perfekte Weise zusammenleben, dann werden sie natürlich weder ein unsoziales Verhalten aufweisen, noch Strafen unterworfen werden, noch werden sie das Strafrecht benötigen. Zu diesem selbstverständlichen Ergebnis gelangt man, denke ich, durch eine kritische Lektüre des wichtigsten utopischen Werkes, nämlich der platonischen „Politeia“ (Staat). Auf der einen Seite räumt Platon ein, dass seine Politeia ein Staat mit vollkommen gerechten Menschen ist, ein ideelles Vorbild, dessen Existenz nicht bewiesen werden kann (V, 471 e ff.). Auf der anderen Seite behauptet er, dass es in diesem Staat zunächst lediglich nötig sei, grundlegende Gesetze religiöser Art zu erlassen, und dass der „echte“ Gesetzgeber sich nicht mit der Überlebensweise der Bürger und ihren Beziehungen miteinander zu beschäftigen brauche, da eine gute Erziehung und Bildung geeignet sei, den Bürgern diejenigen nötigen Institutionen nahezubringen, von denen leicht das alltägliche angemessene Verhalten hergeleitet werden könne (IV, 425 a ff.). Insbesondere durch die Auferlegung der wesentlichen Institution der Gütergemeinschaft im familiären und wirtschaftlichen Leben der Soldaten, glaubt Platon, dass die zentrifugalen Kräfte, die die Eintracht der Stadt sprengen und die in Form von Auseinandersetzungen oder Verbrechen auftreten, verschwinden würden. Andererseits legt Platon dar, dass in Regimen, die Entartungen dieses ideellen Staates darstellen, wie die Tyrannei, die Menschen leicht die Gesetze brächen und nicht nur zu Kriminellen wür-
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Für die Übersetzung bedanke ich mich herzlich bei Frau Katerina Vagia, Juristin. Erste Ausgabe: „Niederschift“ des 6. Internationalen Humanitären Symposiums der Griechischen Humanitären Gesellschaft (1984), Thema: Utopie, Athen, 1986, S. 151-160. 2
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Nestor Courakis
den, sondern zudem dazu beitrügen, dass als Führer dieses abweichenden Staates der schlimmste unter ihnen ernannt werde (IX, 575 b ff.). 2. Aber Platon begnügt sich nicht mit diesen abstrakten Aussagen. Schon im „Staat“ weist er darauf hin, dass sein politisches Ideal, obgleich sich dieses wegen seiner Perfektion als unrealisierbar erweise, dennoch ein Vorbild sei, auf das die Menschen stets abzielen müssten, so dass die Staaten „nahe dem Gesetzten“ verwaltet würden (IV, 473 a). Es ist jedoch deutlich, dass die Annäherung an dieses Ideal nicht ohne jegliches evolutionäres Programm geschehen kann, das an die jeweiligen Mängel und Schwächen der menschlichen Gesellschaften angepasst ist. Deshalb schlägt Platon gegen Ende seines Lebens eine zweite Form der Utopie vor, diesmal nach den Gegebenheiten seiner Zeit gerichtet. Es handelt sich um eine „relative Utopie“3, die in der platonischen Schrift „Nomoi“ beschrieben wird. Die Gütergemeinschaft zum Beispiel wird hier als nicht realisierbar erklärt. An ihrer Stelle empfiehlt Platon das gleichmäßige Aufteilen des Landes als das nach der Gütergemeinschaft zweite in der Wertereihe erwünschte Ziel eines Staates (IV, 739 e). Es werden zudem auch viele Einzelheiten bestimmt, in Bezug auf die Einteilungen der Bürgerschaft, ihre Tätigkeiten, den Geldverkehr (der beschränkt sein soll), die Größe und Organisation des entstehenden Staates, und besonders die Notwendigkeit der Regierung durch Philosophenkönige. Das Gesetz, als Ausdruck der Herrschaft der Vernunft im Staat, wird schon aufgefordert, die Aufgabe der Erziehung, die in der Bildung des Ethos besteht, zu ergänzen (I, 643 d ff.; XII, 957 c ff.). Es wird nicht mehr angenommen, dass das Gesetz unbeschwerlich nur aus Schamgefühlen oder aus Einsicht von den Bürgern angewendet werden kann, wie dies in Athen zur Zeit der Medischen Kriege geschah (III, 698 b). Im Gegenteil wird die Unvollkommenheit besser verstanden, die die menschliche Natur in zwei Richtungen aufweist, und zwar einerseits bezüglich des Wissens dessen, was für die Menschen in ihren sozialen Beziehungen vorteilhaft ist, und andererseits bezüglich der Tatsache, dass die menschliche Natur stets fähig und bereit ist, dieses Wissen auf die bestmögliche Weise anzuwenden (IX, 875 a). Platon entwirft also im Werk „Nomoi“ ein vollständiges und für seine Zeit fortschrittliches System strafrechtlicher Vorschriften. Obwohl sich diese in die organisatorische Planung eines utopischen Staates einfügen (IX, 854 a ff.), beschäftigen sie sich trotzdem mit den Menschen und ihren Schwächen. Denn, wie er auch selbst charakteristischerweise sagt, seien wir „Menschen“ und „entwerfen für Menschenkinder 3 Vgl. K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn, 1930, S. 182 ff. Diese jüngere, realistischere Ansicht Platons über die Umbildung der sozialen Strukturen scheint nicht die angemessenen Erachtung unter denen, die Platon wegen „Utopismus“ und „Radikalismus“ durch strukturelle Änderungen der Gesellschaft in großem Maße, angeklagt haben, zu genießen.
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Gesetze“ (IX, 853 c). Aber genau dieser humanistische Blickwinkel, von dem er das Thema angeht, bestimmt auch den Hauptzweck der Strafsanktionen für die Verbrecher. Die Strafe stelle, laut Platon, nicht nur die natürliche Ordnung und das Gesetz wieder her, sondern bezwecke zudem, für den Untäter selbst und für die Gesellschaft, in der er lebe, nützlich zu werden, also ein Mittel der beispielhaften Abschreckung und der Verbesserung zu werden, ein Mittel zur Entwurzelung und zur Heilung der Krankheit der Seele namens Ungerechtigkeit, ein Medikament, damit die Person wieder an der Tugend des Menschen „teilnehmen“ könne (IX, 862 c ff.; vlg. Gorgias 81, 525 b und Protagoras 14, 325 b). Als geeignete Strafen für diesen Zweck hält er die Geldstrafe, den Freiheitsentzug, die Beschimpfung und – in unheilbaren Fällen – die Todesstrafe (IX, 855 b ff.). 3. Die zwei utopischen Werke Platons, „Politeia“ und „Nomoi“, wurden, wie bekannt, zu Zeiten sozialen und intellektuellen Niederganges geschrieben, als ein Versuch der Reaktion gegen die zwei hauptsächlichen sozialen Übel seiner Zeit, nämlich den Mangel an Geistigkeit und den Mangel sozialer Bindung. Platon selbst hatte übrigens versucht, auf eine friedliche Weise, durch Überzeugung, seine Ideen in Sizilien umzusetzen.4 Und obwohl er bei diesem Versuch keinen Erfolg hatte, haben seine utopischen Werke – vielleicht in einem geringeren Maße seine Ausführungen über die Verbrechensrepression – wesentlich seine Nachfolger beeinflusst, besonders zu Zeiten sozialer Konflikte, nationaler Notlage oder sittlicher und intellektueller Unordnung. So entwirft Georgios Gemistos Plethon um 1418, in seiner „Denkschrift an den Kaiser Manuel über die Angelegenheiten des Peloponnes“ (Migne, PG 160, 822-839) und den „Ratschlägen an den Despoten Theodor in Betreff des Peloponnes“ (PG 10, 841-866) ein vollständiges Programm zum Neuaufbau des Peloponnes’ nach dem platonischen Vorbild, damit die Rettung der Halbinsel von der ottomanischen Bedrohung gelänge.5 In diesem relativ utopischen Werk werden platonische Ideen, wie die Beschränkung des Geldverkehrs und eine lockere Form der Gütergemeinschaft, übernommen.6 Beeindruckend ist auch die Tatsache, dass eine Humanisierung und eine Rationalisierung im Bereich der Verbrechensrepression vorgeschlagen wird. Nämlich wird ausgeführt, dass viele, die 4 Vgl. die Einführung Desmond Lees in der englischen Fassung der „Politeia“, Penguin Verlag, 1974, S. 30. 5 Georgios Gemistos Plethon, Denkschriften über die Angelegenheiten des Peloponness (De rebus Peloponnesiacis), nach W. Canter's Edition (Antverp. 1575) und der florentinischen Handschrift herausgegeben und übersetzt, Leipzig, 1860. 6 Vgl. Theod. Nikolaou, Ai peri politeias kai dikaiou ideai tou G. Plethonos Gemistou (griech.), Thessaloniki: Kentro Byzantinon Ereunon (Zentrum Byzantinischer Forschung), 1974. Für eine umfassendere Bibliographie über das Werk Plethons s.: Sp. N. Troianos, Piges tou Byzantinou Dikaiou, Athen-Komotini: A. N. Sakkoulas, 1999, S. 293, Fn. 34.
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schlimme Verbrechen begehen, entweder der im damaligen Byzanz gewöhnlichen Strafe der Verstümmelung unterworfen, oder dass sie hingegen kaum bestraft werden. Diese Strafen werden jedoch als barbarisch bzw. ungeeignet abgelehnt. An ihrer Stelle wird die wegbereitende Lösung der Zwangsarbeit vorgeschlagen, nämlich „daß die Sträflinge in ihren Bauten arbeiten, zumal an öffentlichen Bauten, sei es, daß die Befestigungen der Ausbesserung bedürfen, oder sonst wo dergleichen Arbeiten noch thun“ (Denkschrift an den Kaiser Manuel, XX, PG 160, 835). 4. Ähnliche Ideen über Gütergemeinschaft und Genügsamkeit nach dem platonischen Vorbild bringen auch zwei berühmte Denker der Renaissance, Thomas Morus und Tomasso Campanella,7 hervor. Auf eine mittelbare und leicht ironische Weise seine Missbilligung gegenüber dem Parasitismus, dem Autoritarismus und der Gier, die die Kleriker und den Adel seiner Zeit charakterisieren, äußernd, präsentierte der englische Politiker und Philosoph Morus 1517 sein Buch „Utopie“ (Utopia). Der Staat Utopie befinde sich irgendwo in der neuen Welt und wird als der am besten organisierte Staat dargestellt.8 Alles unterliege der staatlichen Kontrolle und die Faulheit werde keinesfalls verziehen.9 Die Edelmetalle stießen auf Verachtung und werden zur Verspottung der schlimmsten Verbrecher benutzt.10 Die Verbrecher seien also auch hier unvermeidlich. Mit dem Unterschied, dass, weil die Utopier jede Möglichkeit zur Bildung und zur vorbildlichen Erziehung hätten,11 dem Abgleiten ins Verbrechen bei ihnen noch strenger entgegnet werden müsse. Die übliche Strafe für jedes schweres Verbrechen sei die Sklaverei in Form der Zwangsarbeit. Dagegen sei die Todesstrafe keine gewöhnliche Strafe. Denn es wird festgehalten, dass die lebenden Arbeiter von größerem Nutzen seien als die Toten und eine längerfristige nützliche Auswirkung hätten. Die Anzahl der Gesetze der Utopier sei gering, und sie könnten nicht vielfältig interpretiert werden.12 Im Allgemeinen behauptet Morus, dass der Hauptfaktor der meisten Verbrechen das Geld und die soziale Ungleichheit sei. Deshalb verlangt er in seinem utopischen Staat die gleiche und verhältnismäßige Verteilung der Güter. „Wenn ihr diesen Übeln nicht steuert“, sagt er rhetorisch zu den zeitgenössischen Führern, „prahlt ihr vergeblich mit eurer Gerechtigkeit bei der Ahndung der Diebstähle; sie 7 Über die utopischen Werke dieser Schriftsteller, insbesondere zum Thema der Staatsorganisation, s. Auch R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, München: C. F. Beck, 2003 (1971), S. 76-83. 8 T. Morus, Utopie, Übersetz. Kl. Heinisch, Rowohlt Verlag, 1960, S. 15, 48, 106. 9 T. Morus, w.o., S. 55. 10 T. Morus, w.o., S. 65-66. 11 T. Morus, w.o., S. 68-69. 12 T. Morus, w.o., S. 85.
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ist nämlich mehr in die Augen fallend als gerecht oder nützlich. Wenn ihr nämlich zulasst, dass die Menschen grundschlecht erzogen und ihre Sitten von Kind auf allmählich verdorben werden, dass sie erst dann bestraft werden sollen, wenn sie als Männer die Schandtaten begehen, auf die sie von ihrer Kindheit an ständig hoffen ließen, was anders, so frage ich, als Diebe züchtet ihr, um sie dann zu hängen?“13 Seine klare Ablehnung gegenüber der damals weit verbreiteten Todesstrafe betonend, vertritt er an einer anderen Stelle des Werkes, die Ansicht, dass es so einen großen Rückgriff auf diese Strafe nur in autoritären Regimen geben könne und dass dieser jedenfalls ein Beweis der Regierungsunfähigkeit sei.14 5. Der Italiener Campanella, seinerseits, der dem Orden der Domenikanischen Mönche angehörte, hat sich wegen seines Kampfes gegen die spanischen Eroberer seines Landes ausgezeichnet und wurde jahrelang gefangen genommen. Sein Werk „Sonnenstaat“ (Civitas Solis), das 1623 veröffentlicht wurde, stellt vielleicht eine konkrete Planung zum Aufbau Neapels als freier Staat nach der eventuellen Vertreibung der Eroberer dar. In dieser relativen Utopie werden die platonischen Grundsätze der Gütergemeinschaft und der Regierung von Philosophenkönigen mit einem eigenartigen System der erstchristlichen Jahre („Liebesmahl“) und mit der Entwicklungslinie der damals wiederauflebenden Naturwissenschaften kombiniert. Das hohe intellektuelle und ethische Niveau dieses Staates begünstige nicht das Begehen von Straftaten. Deshalb handelten die Anklagen unter den Bürgern üblicherweise von sittlichem Fehlverhalten, wie Undankbarkeit, Faulheit, Jähzorn, Zynismus usw.15 Die Strafen für diese Fehlverhalten seien hauptsächlich der Ausschluss von Ehren und Gaben (z. B. die Teilnahme an gemeinschaftlichen Mahlzeiten).16 Aber an anderen Stellen seines Werkes nennt Campanella auch andere, viel schärfere Strafen für entsprechend schlimmere Verbrechen. Diejenigen, die wegen Sodomie auf frischer Tat ertappt werden (Analgeschlechtsverkehr oder Zooerastie), erhielten eine Rüge und würden zwei Tage lang verhöhnt. Bei anderen Straftaten, wie bei einem vorsätzlichen Tötungsdelikt, Verwundung oder Verleumdung, gelte das Prinzip der Wiedervergeltung, wie dieses übrigens auch in den Rechtsordnungen der Zeit Campanellas angewandt wurde (z. B. Karolinische Gesetzgebung von 1532). Außerdem unterscheiden sich die Strafen, die für die Verbrecher vorgesehen waren, nicht von denen der damaligen Zeit – hauptsächlich das Exil, die Auspeitschung und die Tötung vom Volke durch 13
T. Morus, w.o., S. 28. T. Morus, w.o., S. 30. 15 S. T. Campanella, Der Sonnenstaat, Auswahl von P. Oestreich, Leipzig: Felix Meiner, 1919, Reihe: Dokumente der Menschlichkeit, Band 6, S. 10. 16 T. Campanella, w.o., S. 10. 14
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Steinigung. Interessant ist aber auch zu bemerken, dass die Solarier, laut Campanella, nicht mit der Vollziehung des Todesurteils fortfuhren, ehe sie den Täter davon überzeugt hätten, es sei nötig, dass er sterbe (außer wenn es sich um die Verbrechen des Verrates oder der Gottlästerung handele) und dass sie nach der Hinrichtung in Wehklagen ausbrächen und beteten, da sie es als Zeichen göttlichen Zorns ansähen, wenn sie, wie er selbst sagte, „in die Zwangslage versetzt werden, ein brandiges Glied vom Körper des Gemeinwesens abtrennen zu müssen“.17 Auch hier sind die Gesetze wenige an Zahl, und alle auf ehernen Tafeln verzeichnet, die an der Tür des Haupttempels angebracht sind.18 6. Die Liste der utopischen Werke, die sich auf das Strafrecht beziehen, könnte auch mit anderen Werken platonischer Einwirkung bereichert werden. So könnte man den Auszug aus dem Werk „Die seltsamen Begebenheiten des Telemach“ (1699) von Fénelon erwähnen, wo es um den Aufbau eines Staates in Salente geht (12. Buch), und das Werk von Étienne Cabet „Reise nach Ikarien“ (1840 und Neuauflage von A.M. Kelley (Clifton U.S.A.), 1973), in dem eine ideelle Form von Sozialismus, ohne soziale und finanzielle Unterschiede und ohne eine bemerkenswerte Kriminalität, lyrisch gepriesen wird (14. Kapitel). Wichtiger erscheinen mir jedoch zwei andere Werke, die das Thema der Utopie unter einem ganz anderen Blickwinkel behandeln, nämlich dem der sozialen Satire. Es handelt sich um die in ihrer Art klassischen Werke „Gullivers Reisen“, von Jonathan Swift (1726), und „Erewhon“ (also fast das Gegenteil des Wortes Nowhere, 1901), von Samuel Butler. Bei beiden Werken werden angeblich die Völker unbekannter, unerreichbarer Länder dargestellt, deren Sitten und Gesetze den Anlass zu beißender Kritik an den Gesellschaften ihrer Autoren bieten. Swift führt so insbesondere aus, dass in Lilliput die Gesetze nicht nur der Bestrafung der Bürger dienen, sondern auch der Belohnung der Ehrhaftigkeit und der Aufrichtigkeit durch die Gewährung verschiedener Vorteile. Die Undankbarkeit gilt sogar als Kapitalverbrechen, mit dem Gedanken, dass derjenige, der seinem Wohltäter schadet, vielmehr denen schaden wird, von denen er keine Wohltaten erlangt hat.19 Butler seinerseits führt den Sarkasmus an extreme Grenzen, indem er die Einwohner Erewhons so erscheinen lässt, als hielten sie sogar für Verbrecher diejenigen, die eine Krankheit haben oder durch ein Unglück getroffen worden sind. Diese Personen griffen, dieser Meinung nach, die Gesellschaft gleichermaßen wie die
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T. Campanella, w.o., S. 35 ff. T. Campanella, w.o., S. 38. 19 J. Swift, Gullivers Reisen, Teil 1, Kap. 6. 18
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gewöhnlichen Verbrecher an, insofern die Leute ungern über sie hörten.20 Sogar wenn ein Verbrecher behaupte, sein Verbrechen liege an seiner schlechten Erziehung, würden ihm die Richter antworten, dass es jedenfalls ihre Pflicht sei, den Staat zu schützen.21 Sollte man glauben, dass der Autor hier auf den italienischen Positivismus anspielt, der genau zu der Zeit geltend machte, dass die Verbrechensrepression unabhängig von der Verantwortlichkeit des Täters sei? 7. Es gibt auch zwei andere utopische Werke, die näher an der heutigen Zeit liegen oder sogar über diese hinausgehen, indem sie sich auf die Zukunft erstrecken. Hier sind die Utopien aber negativ, also betreffen nicht nur ideelle oder bezweckte Gesellschaftsformen, sondern, im Gegenteil, abstoßende Formen, die mit Unfreiheit und Totalitarismus verbunden sind. Ich beziehe mich natürlich auf die Werke „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley (1932) und „1984“ von George Orwell (1949). In ersterem wird das Vorbild einer Gesellschaft dargestellt, die stabile, gesunde, gehorsame, mit ihrem Schicksal zufriedene Menschen, ohne Leid oder Vergreisung haben will, Menschen, die in Röhren befruchtet werden, die durch Hypnopädie lernen, die sich nur so verhalten, wie es ihnen beigebracht wurde, die mit „Pillen geistiger Euphorie“ von der harten Wirklichkeit entfernt werden, ohne dass sie in der Philosophie oder den Gedanken Zuflucht ergreifen müssen.22 Folglich wird eine intensive Zensur auf die Bücher ausgeübt, und vor allem ist alles verboten, was dazu führt „den Sinn des Daseins nicht in der Erhaltung des Wohlbefindens zu sehen, sondern in der Vertiefung und Verfeinerung der Erkenntnis, der Vermehrung des Wissens“.23 Die Autoren solcher Bücher werden durch Exil auf einer Insel bestraft.24 Dieselbe Strafe wird allen denen auferlegt, „denen aus irgendeinem Grund das Bewuȕtsein ihrer Individualität so sehr zu Kopf gestiegen ist, daȕ sie sich nicht mehr ins Gemeinschaftsleben eingliedern lieȕen. Lauter mit der orthodoxen Lebensordnung Unzufriedene[n], die unabhängige, eigene Ideen haben“.25 Wesentlich härter sind dagegen die Strafen für diese Art der Zweifler im zweiten Werk, Orwell’s „1984“. Hier wird das Denken nicht auf eine biologisch vorprogrammierte Weise gezähmt, sondern durch konstante Propaganda, Überwachung und Schulung der Bürger. Der Begriff „Verbrechens20 S. Butler, Erewhon, Everyman’s Library, Nr. 881, London/New York, 1932, 10. Kap., S. 61. 21 S. Butler, w.o., S. 74. 22 A. Huxley, Schöne Neue Welt, Übersetz. H. E. Herlitschka, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag, 2000 (58. Aufl.), S. 55, 66, 217-218. 23 A. Huxley, w.o., S. 178-179. 24 A. Huxley, w.o., S. 178. 25 A. Huxley, w.o., S. 224.
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stop“26 (crimestop) bedeutet genau die Fähigkeit, die jemand erlangt, automatisch, „gleichsam instinktiv, an der Schwelle jedes gefährlichen Gedankens Halt zu machen“ und aufzuhören, logisch zu denken, wenn etwas der offiziellen Ideologie der Partei entgegentritt.27 Wer das „Verbrechen des Denkens“ begeht, wird grausamer Folter unterzogen, so dass er zur Parteienideologie konvertiert, und danach wird er getötet. Wie ein Vertreter des Regimes charakteristisch darlegt, „Wir vernichten den Ketzer nicht, weil er uns Widerstand leistet: solange er uns Widerstand leistet, vernichten wir ihn niemals. Wir bekehren ihn, bemächtigen uns seiner geheimsten Gedanken, formen ihn um. [...] Wir machen ihn zu einem der Unsrigen, ehe wir ihn töten“.28 8. Die Schilderungen der negativen Utopien der Zukunft beziehen sich allerdings auf totalitäre Regime. Wie wird aber die künftige Entwicklung des Strafrechts in den westlichen Staaten vorgezeichnet? Kann vielleicht von einer allmählichen Tendenz der Abschaffung des Strafrechts, von einer „Utopie des Strafrechts“ die Rede sein? Es hat tatsächlich Autoren gegeben, die stark diese Meinung vertreten haben. Der erste war der deutsche Philosoph Arno Plack in seinem Werk „Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts“ (München: List, 1974). Es handelt sich um ein faszinierendes, aggressives, in seiner Formulierung absolutes Werk, das aber viele ergiebige Einwände enthält und zur Revidierung beachtlicher überholter Ansichten beiträgt (z. B. in Bezug auf die Strafbarkeit einiger Sexualverbrechen, die von der herrschenden sozialen Sittlichkeit toleriert sind und ohne Gewalt begangen werden).29 Es wird angeführt, dass das Verbrechen von der Aggressivität herstamme, die verursacht werde von der unterdrückenden sozialen Sittlichkeit, der autoritären Erziehung sowie dem besonderen Schwerpunkt, der gesetzt werde auf bestimmte, schwer zu verwirklichende Ziele der heutigen Konsumgesellschaft, wie der Gewinn und der Erfolg.30 Die Strafe stelle heute dementsprechend die aggressive Antwort der organisierten Gesellschaft auf diese Aggressivität des Täters dar.31 Aber dies sei, dem Autor nach, eine Ansicht, die revidiert werden müsse. Die Strafe bezwecke nicht die Vergeltung oder die Stigmatisierung, sondern die erneute Eingliederung des Verbrechers in die Gesellschaft.32 Um dieses Ziel zu erreichen 26
G. Orwell, 1984, Übersetz. K. Wagenseil, Rastatt-Stuttgart: Diana Verlag, 1950, S. 247. G. Orwell, w.o., S. 247-248. 28 G. Orwell, w.o., S. 297-298. 29 Arno Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, München: List, 1974, S. 293 ff. 30 Arno Plack, w.o., S. 21; ähnliche Ansichten hatte früher auch Robert Merton in seiner Theorie über die Anomie ausgedrückt. 31 Arno Plack, w.o., S. 123 ff. 32 Arno Plack, w.o., S. 383 ff. 27
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wird demnach ein lockerer sozialtherapeutischer Umgang mit den Gewaltverbrechern vorgeschlagen33 und, bezüglich der anderen Verbrechergruppen, die Einführung eines umfassenderen Systems der Sicherheitsmaßnahmen, das am Schutz der Gesellschaft vor den gefährlichen Tätern orientiert, unabhängig von ihrer strafrechtlichen Schuld, ausgestaltet wird. Besonders wird auch die Notwendigkeit, den Schaden des Opfers zu ersetzen, hervorgehoben.34 Es wird aber betont, dass die Abschaffung des Strafrechts sogar für Gewaltverbrechen nicht durchgeführt werden könne, bevor grundsätzliche Reformen im System der elterlichen Erziehung, der Bildung und der sozialen Beziehungen durchgesetzt werden, so dass die Aggressivität bedeutend gemindert werde, die wegen Mangel an Auswegen zum Abreagieren und zum Verständnis zu diesen Verbrechen führe.35 So wie sie letztendlich dargestellt werden, sind die Ausführungen des Autors eine Zusammensetzung von Ansichten, die schon in der Vergangenheit von Psychoanalytikern, Soziologen und Denkern der Kriminalpolitik unterstützt worden sind. Diese Ansichten haben sogar oft berechtigte Einwände aufgeworfen, vor allem in Bezug auf die Möglichkeit des „Umganges“ mit den Verbrechern gegen ihren Willen und ohne die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, die das Legalitätsprinzip begründet.36 9. Im gleichen Geist der Entschärfung oder auch Abschaffung des Züchtigungscharakters, der heutzutage das Strafrecht kennzeichnet, sind auch bestimmte andere Werke verfasst worden, wie die „Prinzipien des Gesellschaftsschutzes“ (1961) von Filippo Gramatica, „Das Verbrechen der Strafe“ (1968) von Karl Menninger, die „Grenzen des Leids“ von Nils Christie, „Abschaffungspolitik (des Strafrechts)“ (The Politics of Abolition) (1974) und, noch kürzlicher, „Peines perdues. Le système pénal en question“ (Verlorene Strafen. Das Strafsystem in Frage gestellt, 1982) von Louk Hulsman und Jacqueline Bernat de Celis. Letzteres sollte, denke ich, etwas mehr beachtet werden, wegen des umfassenden Blickwinkels, von dem das gesamte Thema angegangen wird. Die Autoren glauben also, dass die konstante Personifizierung und Erweiterung der Institutionen, insbesondere des Staates, die Entwertung des menschlichen Faktors und die Aufspaltung der Formbarkeit der menschlichen Beziehungen entsprechend verursacht habe. Statt sich auf künstliche Unterscheidungen zwischen Gutem und Schlechtem zu stützen, oder sich ständig an die unpersönliche und ineffektive Staatsgewalt zu wenden, müsse man, den Autoren nach, eine menschlichere Antwort suchen, eine Antwort, die sich auf die Personen, die in einen Streit 33
Arno Plack, w.o., S. 354 ff. Arno Plack, w.o., S. 382. 35 Arno Plack, w.o., S. 396. 36 Vgl. Nestor Courakis, Verbrechensrepression, Athen, A. N. Sakkoulas, 1997, S. 287 ff. 34
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verwickelt seien, selbst stütze, also auf die Opfer, die Täter, oder auch organisierte Gesellschaftsgruppen – z. B. Verbrauchervereinigungen.37 Den Gewalttaten ordnungswidriger junger Leute in einem Bezirk könne, den Autoren nach, besser durch die Gründung von Jugendzentren als deren Inhaftierung entgegengetreten werden.38 Die Betroffenen könnten sich auch, anstelle des Strafverfahrens, an einen Zivil- oder Verwaltungsrichter wenden, der die Rolle des Streitschlichters übernehmen würde.39 Jedenfalls in Extremfällen von Wirtschaftskriminalität, politischen Verbrechen oder Gewaltverbrechen würde die Anwendung des Strafvollzugs, sogar in Form des Freiheitsentzugs, nicht ausgeschlossen sein, jedoch nicht auf einer vergeltenden Art beruhen.40 10. Es muss zugegeben werden, dass es in der Geschichte viele Beispiele von Gesellschaften gibt, deren Institutionen eine Abfindung der nach heutigen Kriterien strafbaren Handlungen außerhalb des Strafrechts vorsahen, entweder durch eine unmittelbare Abmachung der Betroffenen, oder mithilfe einer staatlichen Vermittlung. Auf Achilles’ Schild wird sogar von Homer41 (Ilias, 496 ff.) genau so ein Streitschlichtungsverfahren abgebildet. Folglich wäre es schwer, hier über Utopie zu reden. Aber auch allgemein haben die Strafbestimmungen in den meisten der erwähnten utopischen Werke einen vollziehbaren und durchführbaren Charakter, so dass von einer Utopie in dem reinen, absoluten Sinn des Wortes nicht die Rede sein kann. Das Strafrecht ist also nicht unvereinbar mit dem Begriff der Utopie, solange es sich natürlich um eine relative Utopie handelt, die also in menschlichen Gesellschaften durchführbar ist. Das Strafrecht scheint auch nicht unvereinbar mit den Aussichten, die sich für die Entwicklung des Rechts allgemein in der Zukunft andeuten, da sogar die, die für seine Abschaffung plädieren, letztendlich entweder nur die Strafe einfach durch andere Maßnahmen ersetzen, oder ihre Abschaffung nur auf bestimmte Verbrechen beschränken. Zumal es aber sicher ist, dass das Strafrecht nicht abgeschafft werden wird, ist es genauso sicher, dass das Recht besonders heutzutage genau dies benötigt, einen noch kreativeren, rationellen Aufbau. Und von diesem Aspekt her denke ich, dass die Anreize, auf die man in den verschiedenen utopischen Staaten trifft, zweifellos zu einer neuen Einstellung zum Strafrecht de lege ferenda beitragen könnten. 37
Louk Hulsman / Jacqueline Bernat de Celis, w.o., S. 46, 115 ff., 148. Louk Hulsman / Jacqueline Bernat de Celis, w.o., S. 119. 39 Louk Hulsman / Jacqueline Bernat de Celis, w.o., S. 159. 40 Louk Hulsman / Jacqueline Bernat de Celis, w.o., S. 53, 123, 171. 41 Für diese Szene s. Einzelheiten in Ar. Biscardi, Diritto Greco Antico, Milano: Dott. A. Giuffre ed. S.P.A., 1982, ǿ. D. ǽepos, To dikaion kata tous omerikous chronous (Das Recht zu Homers Zeiten), Archiv des Privatrechts (ǹȡȤİȓȠȞ ǿįȚȦIJȚțȠȪ ǻȚțĮȓȠȣ), X (1943), 231-275: 242. 38
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Hilfsliteratur MARTIN BUBER, Pfade in Utopia, Heidelberg: Lambert Schneider, 1950 (er bezieht sich hauptsächlich auf jüngere Utopisten, z. B. Proudhon). HANS FREYER, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Plato bis zu Gegenwart, Leipzig: Bibliographisches Institut, 1936. JOYCE ORAMEL HERTZLER, The History of Utopian Thought, New York: Macmillan, 1923. JEAN SERVIER, Histoire de l’utopie, Paris: Gallimard, 1967. ANDREAS VOIGT, Die sozialen Utopien, Fünf Vorträge, Leipzig, 1906.
Rechtslogik der Rückwirkung nachträglich verschärfter Strafgesetze MINORU HONDA
I. Vorwort Im Anschluss an den Brand des deutschen Reichstags am 27. Februar 1933 wurden insgesamt fünf Verdächtigte wegen Verdachts auf Brandstiftung verhaftet. Bald darauf hat das Reichsgericht den Angeklagten und vermeintlich unmittelbaren Täter der Reichstagsbrandstiftung Marinus van der Lubbe zum Tode verurteilt – was insofern bemerkenswert war und ist, als § 307 des damaligen deutschen StGB für Brandstiftung als Höchststrafe lediglich lebenslängliches Zuchthaus vorsah. Die Entscheidung für die Todesstrafe hat das Reichsgericht dabei mit zwei Gesetzen begründet:1 Die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (die so genannte Reichstagsbrandverordnung)2 einerseits und das Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29. März 1933 (die so genannte lex van der Lubbe)3 andererseits. Während die Reichstagsbrandverordnung die Höchststrafe für Brandstiftung von lebenslänglichem Zuchthaus in Todesstrafe umwandelte, verlieh die lex van der Lubbe dieser Gesetzesänderung Rückwirkungskraft. Erst durch das Zusammenspiel beider Vorschriften wurde es ermöglicht, den Angeklagten van der Lubbe zum Tode zu verurteilen. Hierin lag ein klarer Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege – insbesondere gegen das Rückwirkungsverbot – und damit gegen den wesentlichen Grundsatz modernen Strafrechts schlechthin. Hierin wurde und wird in der deutschen Strafrechtsgeschichte eine entscheidende Weiche für die Verwandlung des
1 Vgl. Friedrich Karl Kaul, Geschichte des Reichsgerichts, Bd.IV, 1933-1945, 1971, S.341ff. über das Urteil des Reichsgerichts im Reichstagsbrandprozess. 2 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat. Vom 28. Februar 1933, RGBl. I, 83. 3 Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe. Vom 29. März 1933, RGBl. I, 151.
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Rechtsstaats der Weimarer Republik hin zum Unrechtsstaat der NS-Diktatur gesehen.4 Die Frage jedoch, ob und inwiefern einem nachträglich verschärften Strafgesetz Rückwirkungskraft verliehen werden kann, stellte sich keineswegs zum ersten Mal im oben erwähnten Reichstagsbrandprozess. Wie Manfred Seebode, dem diese kleine Abhandlung gewidmet wird, schon zutreffend aufgezeigt hat, 5 wurde eine heftige Auseinandersetzung darüber in der Weimarer Republik geführt. In der Weimarer Nationalversammlung wurde ein Verfassungstext zum Grundsatz nulla poena sine lege vorgeschlagen, der von der alten Fassung des § 2 Abs.1 StGB wörtlich verschieden war. In der Beratung über den Verfassungsentwurf war es nicht der konkrete Streitpunkt, ob der Strafrichter die Strafe rückwirkend anwenden kann oder nicht, die der Gesetzgeber nachträglich verschärft hat. Daher kam der Auseinandersetzung in der Weimarer Republik keine praktische Bedeutung zu. Erst nach ihrem Ende, im Streit um die Bestrafung der Reichstagsbrandstiftung, hat man erkannt, wie notwendig und wichtig die Auseinandersetzung über den normativ-praktischen Sinn und den Anwendungsbereich des Art. 116 WRV war. Wie aber sah der normativ-praktische Sinn und der Anwendungsbereich von Art. 116 WRV in der Weimarer Republik aus? Ziel der folgenden Untersuchung ist es, durch Analyse der damals geführten Auseinandersetzungen zum besseren Verständnis der theoretischen Grundlagen des Grundsatzes nulla poena sine lege in der Weimarer Reichsverfassung beizutragen. Diese Analyse soll die Rechtslogik der rückwirkenden Anwendung des Todesstrafgesetzes im Reichstagsbrandprozess aufklären. Hierdurch soll ein Beitrag dazu geleistet werden, die geschichtliche Herkunft jenes unrechtlichen und illiberalen Strafrechtsgedankenguts zu klären, welches sich in der 4 Vgl. Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1.Aufl., 1947, S.402ff.; Volker Krey, Keine Strafe ohne Gesetz – Einführung in die Dogmengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, 1983, S.27ff.; Hinrich Rüping, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, 2. völlig überarbeitete Aufl., 1991, S.97ff.; Gerhard Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, 1993, S.157. Dazu kritisch Wolfgang Naucke, Die Missachtung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots 1933-1945 – Zum Problem der Bewertung strafrechtlicher Entwicklung als „unhaltbar“, in: Horn u.a. (Hrsg.), Festschrift für Helmuth Coing, Bd. I, 1982, S.239. 5 Manfred Seebode, Zur Rückwirkung der Strafgesetze – Das Rechtsgutachten zum Reichstagsbrandprozess, in: Norbert Brieskorn, Paul Mikat, Daniela Mueller und Dietmar Willoweit (Hrsg.), Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft, Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte, 1994, S.425ff., Volker Epping, Die lex van der Lubbe – Zugleich auch ein Beitrag zur Bedeutung des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“, in: Der Staat 2/1995, S.243ff., Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S.296, Hans-Heinrich Jescheck und Thomas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl., 1996, S.118.
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NS-Diktatur praktisch ausgewirkt und rechtsstaatliche und liberale Strafrechtsprinzipien gleichermaßen erstickt und zerbrochen hat.6
II. Diskontinuierlicher Anfang Ausgelöst vom Kieler Matrosenaufstand vom 4. November 1918 kam es in ganz Deutschland zu Volksunruhen, in deren Folge der deutsche Kaiser Wilhelm II. abdankte und in die Niederlande emigrierte. Zu diesem Zeitpunkt war die Bismarcksche Verfassung, welche die rechtliche Grundlage für das alte System in Deutschland war, schon ungültig. Am 9. November 1918 wurde von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands die Republik aus- und am nächsten Tag der Rat der Volksbeauftragten einberufen, um eine neue Verfassung zu erlassen. Dieser Rat der Volksbeauftragten hat wiederum jenen Unterausschuss gewählt, welcher mit dem Entwurf einer neuen Verfassung beauftragt wurde. Zentralfigur dieses Ausschusses war der nationaldemokratische Jurist Hugo Preuss.7 Am 3. Januar 1919 hat Preuss einen ersten Verfassungsentwurf eingereicht, welcher auf einem von ihm bereits 1917 abgefassten „Privatvorschlag“ basierte. Dieser Entwurf befasste sich mit Grundrechten jedoch nur in drei Klauseln; die begrifflichen Konturen der Grundrechte wurden darin nur angedeutet. Eine klare Aussage zum Grundsatz nulla poena sine lege, welcher immerhin bereits seit 1871 im § 2 Abs.1 StGB verankert war, wurde in diesem Entwurf für eine neue Verfassung nicht getroffen.8 Infolgedessen wurde in der Weimarer Republik der Grundsatz nulla poena sine lege als Rechtskern für menschliche Grundrechte im ersten Verfassungsentwurf nur ungenügend festgehalten. In diesem Umstand mag man eine Konsequenz sehen, welche die Abgeordneten aus den Erfahrungen mit der deutschen Märzrevolution 1848 zogen:9 Nach dieser Märzrevolution hatte die Frankfurter Nationalversammlung entschieden, einen Verfassungsentwurf mit der Formulierung von Grundrechtsklauseln zu beginnen. Weil die Nati6 Über die Kontinuität der Strafrechtsgeschichte vor und nach der nationalsozialistischen Zeit vgl. Wolfgang Naucke, NS-Strafrecht – Perversion oder Anwendungsfall moderner Kriminalpolitik?, in: Rechtshistorisches Journal 11, 1992, S.283. 7 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.5, Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914-1919, 1.Aufl., 1978, S.1178ff. 8 Walter Jellinek, Revolution und Reichsverfassung – Bericht über die Zeit vom 9. November 1918 bis 31. Dezember 1919, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechtes der Gegenwart, Bd. I, 1920, S.46; Günter Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses (§ 93 StGB und § 99 Abs.1 StGB a.F.) und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften (Art. 103 Abs.2 GG), 1969, S.200. 9 Huber, a.a.O., S.1179.
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onalversammlung sich für die diesem vorausgehende Beratung ein halbes Jahr Zeit ließ, wurde an ihr scharfe Kritik geübt: Die Abgeordneten hätten wichtige Zeit, welche besser für die Vereinigung und Erhaltung des neuen Staats und seiner Gesellschaft aufgewandt worden wäre, für langwieriges „Geschwätz“ verschwendet.10 Diesem Vorwurf wollten sich die Väter der Weimarer Reichsverfassung offensichtlich nicht aussetzen: Denn auch nach der Emigration des deutschen Kaisers in die Niederlande und der Ausrufung der Republik im Anschluss an die Novemberrevolution kam es nicht zu einem Ende der Volksunruhen. Angesichts dieser politisch schwankenden und unsicheren sozialen Verhältnisse, denen sich Preuss und sein Ausschuss in der nachrevolutionären Gesellschaft gegenüber sahen, meinten sie für langwierige Beratungen über einen Verfassungsentwurf nach dem Vorbild der Paulskirchenversammlung keine Zeit zur Verfügung zu haben. Daher entschied man sich dafür, nur jene schlichten Grundrechtsklauseln im ersten Entwurf vorzuschreiben. Diese Entscheidung jedoch hat – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – zu einer erheblichen Diskontinuität der Geschichte des Grundsatzes nulla poena sine lege geführt.
III. Der Grundsatz nulla poena sine lege in der Verfassungsgesetzgebung Am Tag nach der Wahl der Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 wurde der zweite Verfassungsentwurf aufgrund der Ergänzungen und Änderungen des ersten Entwurfs veröffentlicht. Der Grundrechtskatalog war gegenüber diesem stärker erweitert worden. In diesem Entwurf wurden neu aufgenommen die Garantie der Freiheit der Wissenschaft und Lehre, der Meinungs- einschließlich der Pressefreiheit, der Versammlungs- und Vereinsfreiheit einschließlich der Koalitionsfreiheit, der Petitionsfreiheit, der persönlichen Freiheit, der Unverletzlichkeit der Wohnung und des Eigentums sowie schließlich der Schutz des Postgeheimnisses.11 Nicht enthalten war aber noch immer ein dem Grundsatz nulla poena sine lege entsprechender Artikel.12 Die Nationalversammlung wählte später in ihrer Sitzung vom 5. April 1919 einen Unterausschuss, welcher sich speziell mit dem Grundrechtsteil des Verfassungsentwurfs befassen sollte. Am 29. April hat der Abgeordnete Beyerle diesem Unterausschuss die „Vorschläge zu einer Stoffgliederung und Textgestaltung des Verfassungsabschnittes über die 10
Huber, a.a.O., S.1179. Huber, a.a.O., S.1181. 12 Kohlmann, a.a.O., S.200. 11
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Grundrechte des Deutschen Volkes“ vorgeschlagen.13 Dies darf als der Beginn einer Beratung über den Grundsatz nulla poena sine lege gewertet werden. Punkt 10 in den Vorschlägen Beyerles lautete: „Strafgesetz als Voraussetzung jeder Strafe Der Verhängung von Strafen aller Art muss ihre Androhung vorausgehen. Strafen können nur durch ein Gesetz oder auf Grund gesetzlicher Ermächtigung angedroht werden.“ Im Punkt 10 wurde zwar explizit festgehalten, dass die Androhung der Strafe durch Gesetz oder auf Grund gesetzlicher Ermächtigung notwendige Voraussetzung zur Verhängung von Strafen aller Art ist, jedoch unterschied sich der Wortlaut der vorgeschlagenen Vorschrift in einem wesentlichen Punkt von dem des seit 1871 geltenden § 2 Abs.1 StGB. Dennoch ist im Beschlussprotokoll der ersten Sitzung des Unterausschusses vom 2. Mai vermerkt: „10. (Strafgesetz als Voraussetzung jeder Strafe): In der Fassung des § 2 Abs.1 des Strafgesetzbuchs: Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden kann, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“ Dieser Punkt 10 wurde in die Anträge des Unterausschusses als Art. 9 aufgenommen und auch vom Verfassungsausschuss in der 32. Sitzung vom 28. Mai in erster Lesung angenommen. Der Unterausschuss und der Verfassungsausschuss haben den Vorschlag des Abgeordneten Beyerle also mit dem § 2 Abs.1 StGB gleichgesetzt.14 Dennoch wurde im Unterausschuss vom 30. Mai plötzlich das Wort „diese Strafe“ des Art. 9 durch „die Strafbarkeit“ ersetzt. Eingebracht wurde dieser Änderungsvorschlag in den Unterausschuss vom Abgeordneten Katzenberger (SPD)15 und mit diesem Vorschlag wurde der Kerngedanke des Grundsatzes nulla poena sine lege nachhaltig erschüttert. Der Grundsatz nulla poena sine lege, welcher bereits 1871 im § 2 Abs.1 StGB verankert worden war, schreibt vor, dass die als Verbrechen zu bestrafende Handlung und die ihr entsprechende Strafe gesetzlich vorgeschrieben gewesen sein müssen, bevor die verbrecherische Handlung begangen wurde. Wie sich aus dem Wortlaut „diese Strafe“ in § 2 Abs.1 StGB ergibt, wird dabei nicht nur eine Normierung der Strafbarkeit der Handlung an sich, sondern auch die Festlegung der konkreten Art und des Rahmens der Strafe, mit der die strafbare Handlung belegt wird, verlangt. Wenn nun im Wortlaut der entsprechenden Vorschrift „diese Strafe“ durch „die Straf13
Zitiert aus Kohlmann, a.a.O., S.201. Kohlmann, a.a.O., S.201f. 15 Kohlmann, a.a.O., S.202. Nach Huber, a.a.O., S.1195 wurde das Verbot der rückwirkenden Strafgesetze anerkannt bis Katzenberger seinen Änderungsvorschlag gemacht hat. 14
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barkeit“ ersetzt wird, so ist klar, dass der Vorschlag Katzenbergers an der vorherigen gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit der jeweiligen Handlung festhält. Nicht ganz deutlich wird jedoch, ob dieser Vorschlag verlangt, dass die dieser Handlung entsprechende Strafe einzeln und konkret vorher gesetzlich bestimmt sein muss. Denn der Begriff „die Strafbarkeit“ lässt sich so auslegen, dass nicht die der strafbaren Handlung entsprechende „Strafe“, sondern nur „die Strafbarkeit“ der Handlung an sich vorher gesetzlich bestimmt sein muss. Wenn die vorherige Bestimmtheit der Strafbarkeit für den Grundsatz nulla pena sine lege als Verfassungsrechtsgrundsatz genug ist, fordert er nicht notwendig zugleich, dass auch die Strafart und der Strafrahmen zuvor gesetzlich bestimmt gewesen sein müssen. Zwar fordert das Strafgesetz in § 2 Abs.1 auch die vorher gesetzliche Bestimmtheit der Strafart und des Strafrahmens, dabei handelt es sich jedoch offensichtlich nur um eine Regelung einfachgesetzlichen Ranges. Der Vorschlag Katzenbergers bedeutete wahrscheinlich einerseits die Erhebung der vorherigen gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit der Handlung in den Rang eines Verfassungsgrundsatzes, andererseits die Befestigung der vorher gesetzlichen Bestimmtheit der Strafart und Strafrahmen auf dem Niveau eines bloßen Strafrechtsgrundsatzes. Dies ist insofern von großer Bedeutung, als es zur Modifizierung eines Verfassungsgrundsatzes einer Verfassungsänderung bedarf, während eine bloße Strafgesetzänderung auch einfachgesetzlich möglich ist. So wird die rechtsstaatliche „Zerbrechlichkeit“ des Grundsatzes nulla poena sine lege deutlich: Zwar kann verfassungsrechtlich nach diesem Grundsatz eine Handlung dann nicht mit Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit einer Handlung nicht gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde, auch wenn die Handlung nachträglich strafbar geworden ist und diese Strafe gesetzlich bestimmt wurde. Keinen verfassungsrechtlichen Schutz gibt es jedoch davor, dass eine Strafe auf eine Handlung nicht rückwirkend angewendet werden kann, deren Art und Rahmen nachträglich verschärft wurden, wenn auch die Handlung vorher gesetzlich als strafbar erklärt wurde. Hiergegen lässt sich „nur“ der Wortlaut der einfachgesetzlichen Vorschrift § 2 Abs.1 StGB vorbringen. Sobald also § 2 Abs.1 StGB dergestalt in eine „Krise“ geriete, also dahingehend geändert wird, dass nun eine Handlung rückwirkend schärfer bestraft als zum Tatzeitpunkt bestimmt, bestraft werden könne, so gibt es gegen diese „Krise“ kein verfassungsrechtliches Gegenmittel. Der Grundsatz nulla poena sine lege, wie er im Vorschlag Katzenbergers zum Ausdruck gebracht wird, garantiert nicht die Anwendung derjenigen Strafart und des jeweiligen Strafrahmens, der zum Tatzeitpunkt der strafbaren Handlung gesetzlich festgelegt war. Ob bzw. dass der Strafrichter die strafbare Handlung nur mit derjenigen Strafe belegen kann, die vor der Handlung gesetzlich normiert war, wird nicht bestimmt.
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Nach der Weimarer Revolution ist der Streit um den normativ-praktischen Sinn und den Anwendungsbereich des Art. 9 nicht entstanden, ob die vorherige gesetzliche Bestimmtheit der Strafart und Strafrahmen vom Grundsatz nulla poena sine lege befreit werden soll und die nachträglich verstärkte Strafe auf die strafbare Handlung rückwirkend anwendet werden kann. Aber es gab Anzeichen eines heftigen theoretischen Streits: Im oben bereits erwähnten Verfassungsunterausschuss haben die zwei Abgeordneten Dr. Düringer und Dr. Heinze den Vorschlag Katzenbergers kritisiert und vertreten, dass diese Fassung notwendigerweise auch einen anderen Gedanken enthalte und insofern eine materielle Abweichung von dem Grundgedanken des StGB ist. Trotzdem hat der Unterausschuss diese vorgeschlagene Änderung anerkannt. Dazu heißt es im Protokoll:16 „Vorsitzender Haussmann gibt nach Eröffnung der Sitzung bekannt, dass der Unterausschuss für die Grundrechte, der jetzt seine Arbeit abgeschlossen habe, nachträglich für Art. 9 noch eine Änderung vorschlage. Auf die Bedenken des Abgeordneten Dr. Düringer und des Abgeordneten Dr. Heinze, dass dadurch eine für jeden unverständliche Abweichung von der Fassung des Strafgesetzbuchs entstehe, und dass eine andere Fassung notwendigerweise auch einen anderen Gedanken enthalte, fügte der Vorsitzende hinzu, dass die Abänderung auch von den Vertretern des Preußischen und Bayerischen Justizministeriums ausdrücklich gewünscht worden sei. Der Unterausschuss sei einstimmig der Ansicht gewesen, dass damit eine materielle Abweichung von dem Grundgedanken des StGB nicht beabsichtigt sei. Darauf wurde die vorgeschlagene Änderung des Art. 9 angenommen.“ Nach dieser Beratung des Unterausschusses wurde der Artikel in der Fassung „wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war“ vom Verfassungsausschuss angenommen und wurde als Art. 116 in den Entwurf der Verfassung des Deutschen Reiches übernommen. Aufgrund dessen kann vermutet werden, dass der Verfassungsausschuss ebenso wie der Unterausschuss Art. 116 mit dem § 2 Abs. 1 StGB inhaltlich gleichgesetzt hat. Erklärt, warum dem formell unterschiedlichen Wortlaut die inhaltlich gleiche Bedeutung zukommen soll, wurde freilich nicht. Insofern hat der Unterausschuss seinen subjektiven Willen „eine materielle Abweichung von dem Grundgedanken des StGB sei nicht beabsichtigt“ nur als Ergebnis behauptet, ohne jedoch auf die Argumente der beiden Abgeordneten einzugehen. Der sub16 Zitiert auch Kohlmann, a.a.O., S.202. Der wahre Grund, warum Katzenberger diesen Änderungsvorschlag gemacht hat, ist unklar. Aber es ist zu vermuten, dass Katzenberger versucht hat, seinen Vorschlag vom Grundsatz nulla poena sine lege im § 2 Abs. 1 StGB inhaltlich zu unterscheiden, weil er ihn folgendermaßen begründet hat: „Das Wort Strafe soll im Sinne von 'Strafbarkeit' gelten.“ Allerdings wurde dieser Satz nach Kohlmann, a.a.O., S.202 (Fn. 3) wieder aus dem Unterausschussprotokoll gestrichen. Es scheint mir mysteriös, dass der Vorschlag einerseits angenommen, aber die Begründung andererseits gestrichen wurde.
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jektive Gesetzgeberwille ist zwar außergesetzlich deutlich erklärt, kann der wörtlichen Form jedoch nicht entnommen werden. Der Strafrechtsgrundsatz wird also nicht mehr im geschriebenen und unbewegbaren Wort tief und fest eingeprägt, sondern bleibt nur im Gedächtnis der Gesetzesausleger – manchmal deutlich und manchmal undeutlich. Dies ist insofern problematisch als der Mensch – und auch der Jurist – zur Vergesslichkeit neigt. Nicht selten wird der gleiche Wortlaut eines Gesetzes zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich interpretiert. In der Nationalversammlung vom 11. Juli 1919 hat sich der Abgeordnete Heinze noch einmal sehr ausführlich mit diesem Problem beschäftigt und vor den möglichen Folgen gewarnt.17 In seinen Ausführungen nahm er auf mehrere strafrechtlich sehr wichtige Fragestellungen Bezug: „Der Entwurf, wie ihn die Kommission ausgearbeitet hat, sieht einen Umfang der Rechte vor, wie ihn m. W. kein anderes Grundgesetz irgendeines großen Staates enthält. Und das ist bedenklich. Wenn Sie sich §§ 107 bis 162 durchsehen, welche die Grundrechte enthalten, so finden Sie da kein geschlossenes System. Sie finden keinen einheitlichen Zug, der durch diese Grundrechte durchgeht. Zwei ganz verschiedene Strömungen haben sich bei Schaffung dieser Grundrechte gekreuzt und schließlich zu Bestimmungen geführt, wie wir sie nicht wünschen können.“ „Ich will das hier nur an einzelnen Beispielen vorführen, und ich muss das hier vorbringen, um auf die Gefährlichkeit einer solchen Art, Gesetze zu machen, hinzuweisen. Art. 116 heißt: ‚Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.’ Das ist eine Veränderung von § 2 des Strafgesetzbuchs, denn dort heißt es nicht: ‚wenn die Strafbarkeit’, sondern: ‚die Strafe’ gesetzlich bestimmt war. Das ist etwas vollkommen anders. … Jeder Jurist weiß, was diese Änderung bedeutet.“ Heinze hat darauf hingewiesen, dass „jeder Jurist weiß“, was der Änderungsvorschlag des Wortes im Art. 116 des Verfassungsentwurfs bedeutet. Welchen Schluss er aus dieser Erkenntnis zieht, wird zwar nicht ganz deutlich. Bemerkenswert ist jedoch sein Hinweis darauf, dass sich bei Schaffung der Grundrechte zwei ganz verschiedene Strömungen gekreuzt haben. Welches sind also die beiden Strömungen, die sich nach Heinze bei der Diskussion um den Grundsatz nulla poena sine lege als strafrechtsbezogenes Kerngrundrecht schon vor der Begründung der Weimarer Republik gekreuzt haben? Heinze bezieht sich hier offensichtlich auf die verschiedenen Strafrechtsgedanken der klassischen und der modernen Schule. Diese zwei Schulen haben sich einerseits im so genannten Schulenstreit theoretisch gegen17 Zitiert aus Kohlmann, a.a.O., S.202f. Vgl. Hans-Ludwig Schreiber, Gesetz und Richter – Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976, S.182.
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übergestanden, andererseits in der Strafrechtsreform zu Beginn des 20. Jahrhunderts „gekreuzt“ und die praktischen Kompromisse geschlossen. Es scheint, dass einer der Kompromisse sich auch in der Entwicklung von Art. 116 des Verfassungsentwurfs wiederfindet.18 Die Arbeit zur Strafrechtsreform vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde von den Strafjuristen der klassischen und modernen Schulen geleistet. Bis zum Inkrafttreten der Weimarer Verfassung wurden insgesamt vier Entwürfe vorgebracht. Dabei handelt es sich im Einzelnen um den Vorentwurf von 1909, den Gegenentwurf zum Vorentwurf von 1911, den Kommissionsentwurf von 1913 und schließlich den Entwurf von 1919. Hervorzuheben ist hierbei insbesondere der Kommissionsentwurf von 1913, der sich im Hinblick auf sein Grundverständnis des Grundsatzes nulla poena sine lege von den früheren Entwürfen wesentlich unterscheidet. Die vorangegangenen Entwürfe fassten nämlich übereinstimmend noch zwei strafrechtliche Prinzipien unter einem Punkt zusammen: die gesetzliche Bestimmtheit einer Straftat und der Strafe einerseits sowie des Rückwirkungsverbots der Strafgesetze andererseits. Im Kommissionsentwurf von 1913 wurden diese beiden Aspekte erstmals formell und inhaltlich getrennt voneinander festgehalten. § 1 des Kommissionsentwurfs beinhaltete die Aussage, dass Verbrechen und Strafe gesetzlich vorgeschrieben sein müssen, ohne sich jedoch mit der zeitlichen Geltung von Strafgesetzen zu befassen. § 2 des Kommissionsentwurfs hingegen forderte, dass die Strafbarkeit der Handlung gesetzlich bestimmt sein muss, bevor die 18 Der japanische Strafrechtsprofessor Seiichiro Ono (1891-1986) hat die theoretischen Tendenzen der deutschen Strafrechtsreform des beginnenden 20.Jahrhunderts analysiert und ausdrücklich auf die Problematik des Grundsatzes nulla poene sine lege hingewiesen. Er kommt dabei zu folgenden Ergebnissen: Das Strafgesetzbuch von 1871, der Vorentwurf von 1909 und der Gegenentwurf von 1911 lassen sich insofern gleichsetzen, als sie die zeitliche Geltung des Strafgesetzes in Verbindung mit dem Grundsatz nulla poena sine lege geregelt haben. Das ist als Ausdruck jenes wesentlichen strafrechtlichen Grundprinzips des 19. Jahrhunderts, wonach die Frage nach der zeitlichen Geltung des Strafgesetzes mit Hilfe des Grundsatzes nulla poena zu lösen ist. Dagegen spaltet der Kommissionsentwurf 1913 den Grundsatz nulla poena sine lege auf: Die Frage nach der Gesetzlichkeit von Strafe und die zeitliche Geltung des Strafgesetzes werden hier getrennt behandelt. In dieser Spaltung kann man einen Vorboten jener Zeit sehen, in welcher der Grundsatz nulla poena sine lege seine Bedeutung als Schlüsselbegriff der Strafrechtswissenschaft eingebüßt haben wird. Seiichiro Ono zieht daraus den Schluss, dass die zeitliche Geltung des Strafgesetzes als Forschungsgegenstand unabhängig vom Grundsatz nulla poena sine lege betrachtet werden sollte. Vgl. Seiichiro Ono, Der Beitrag zur Strafrechtsreformarbeit in Deutschland, in: Hogaku-Shirin, Bd.25 Nr.11, 1923, S.23ff.; Franz v. Liszt hielt an dem Grundsatz als einem „Bollwerk des Staatsbürgers“ (Strfr. Aufsätze u. Vorträge, 1. Bd., 1905, S. 80) fest, obwohl er den Grundgedanken seiner sog. modernen Schule nicht entspricht, während Karl Binding meinte, der Staat bestimme sein Strafrecht „ungehindert von erworbenen Rechten seiner Untertanen“ (Die Normen u. ihre Übertretung, 1. Bd., 4. Aufl., 1922, S. 178).
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Handlung begangen wurde, wodurch die Frage der zeitlichen Geltung von § 1 formell wie inhaltlich getrennt wurde. Darin mussten Verbrechen und Strafe zwar gesetzlich bestimmt sein, aber nicht die Strafe musste vorher gesetzlich bestimmt werden, sondern nur die Strafbarkeit der Handlung. Im Entwurf von 1919 wurde sogar die gesetzliche Bestimmtheit von Verbrechen und Strafen im Sinne des Kommissionsentwurfs von 1913 nicht vorgeschrieben, sondern es wurden nur die vorherige Bestimmtheit der Strafbarkeit und deren Ausnahme vorgeschrieben. Was bedeutete diese Tendenz in der Strafrechtsreformarbeit? Worin lag ihr theoretischer Ursprung? Es scheint, dass die Strafrechtsreformarbeit versucht hat, den Grundsatz nulla poena sine lege im Sinne von § 2 Abs. 1 StGB zu schwächen, indem sie die Frage nach der Strafart und dem Strafrahmen vom Erfordernis der vorherigen Bestimmtheit zu befreien suchte. Die Strafrichter sollten zweckmäßig und kriminalpolitisch ermessen können, mit welcher Strafe die strafbare Handlung belegt werden soll. Wenn nun bereits Art. 116 WRV die verfassungsrechtliche Reflektion dieser Tendenz in der Strafrechtsreform wäre, so ließe sich hieraus der Schluss ziehen, dass „die praktische Bedeutung“ der Auseinandersetzung über den Sinn und den Anwendungsbereich des Art. 116 WRV schon damals – und nicht erst im Rahmen der Entscheidung um den Reichstagsbrand von 1933 – offenbar wurde.
IV. Der Grundsatz nulla poena sine lege in der Rechtsprechung Das Reichsgericht hat sich in den 1920er Jahren mehrfach mit dem normativ-praktischen Sinn sowie dem Anwendungsbereich von Art. 116 WRV beschäftigt. Unter dem Einfluss der Meinungsverschiedenheiten im Unterausschuss wurden auch hier verschiedene Standpunkte zum Verhältnis von § 2 Abs. 1 StGB und Art. 116 WRV vertreten. Der 3. Strafsenat des Reichsgerichts verneinte in seinem Urteil vom 4. Januar 192319 die rückwirkende Kraft der Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend des Verbots der Arbeitsniederlegung durch Beamte der Reichsbahn vom 1. Februar 1922.20 Die Rückwirkung eines Strafgesetzes sei gemäß Art. 116 WRV ausgeschlossen, der eine vor der Begehung der Tat bestimmte Strafbarkeit, also ein vorher verkündetes Strafgesetz verlange. Daher war es nach Auffassung des Reichsgerichts nicht anzunehmen, dass sich die strafrechtliche Wirkung der Verordnung vom 1. Februar 1922 auf 19
RGSt 57, 49f. Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend Verbot der Arbeitsniederlegung durch Beamte der Reichsbahn vom 1. Februar 1922, RGBl. I, 187. 20
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die vor dem Zeitpunkt der Verkündung verübten Zuwiderhandlungen erstreckte. Der 5. Strafsenat des Reichsgerichts hat in seinem Urteil vom 6. Februar 192321 zudem ausgeführt, dass die Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919 auf die Zuwiderhandlungen im Kriegssteuergesetz von 1916 nicht angewendet werden kann, weil Art. 116 WRV nicht so zu verstehen sei, dass ein fahrlässiges Handeln, das vor Geltung der Reichsabgabenordnung begangen wurde, aber nach dem früheren Steuergesetz nicht oder unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt strafbar war, mit dem Inkrafttreten der Reichsabgabenordnung nach dieser strafbar wurde. Der 3. Strafsenat ging hierbei ersichtlich davon aus, dass Art. 116 eine vor der Begehung der Tat bestimmte Strafbarkeit, also ein vorher verkündetes Strafgesetz verlangt, ohne auf den unterschiedlichen Wortlaut in § 2 Abs. 1 StGB und Art. 116 WRV einzugehen. Der Senat setzte dabei die Bestimmtheit der Strafbarkeit vor der Begehung der Tat mit der Verkündung des Strafgesetzes gleich, sodass die Vorschriften § 2 Abs. 1 StGB und Art. 116 WRV inhaltlich übereinstimmen. Demgegenüber führte der 5. Strafsenat aus, dass Art. 116 WRV an die Stelle des § 2 Abs. 1 StGB gesetzt wurde, und bestätigte somit die inhaltliche Identität beider Normen. Beide Strafsenate kamen somit zum gleichen dem subjektiven Gesetzgeberwillen entsprechenden Ergebnis. Sie sprachen sich damit gegen die Möglichkeit aus, dass Art. 116 WRV Strafart und Strafrahmen von der vorherigen Bestimmtheit befreit hat und den vom Gesetzgeber nachträglich verschärften Strafen die Rückwirkungskraft geben kann.22 Dagegen ist es bemerkenswert, dass der 5. Strafsenat des Reichsgerichts bereits in seinem Urteil vom 24. März 192223 über die Auslegung des Art. 116 WRV anders als die beiden Strafsenate entschieden hat. In dieser Entscheidung hat der Strafsenat ausgeführt, dass Art. 116 WRV inhaltlich nicht mit dem § 2 Abs.1 StGB gleichgesetzt werden kann, sondern Art. 116 WRV den § 2 Abs.1 StGB vielmehr änderte: „Der Umstand, dass für den Fall, wo sich der Wert zur Einfuhr bestimmter Ware ermitteln lässt, kein Höchstbetrag der Geldstrafe im § 2 Abs. 2 EinfuhrVO 1920 festgesetzt ist, macht diese Strafandrohung nicht ungültig. Dahingestellt bleiben kann, ob der § 2 Abs. 1 StGB den Gesetzgeber hinderte, in der EinfuhrVO – gleichwie im § 7 Abs. 2 AußenkontrollVO – von der Festsetzung eines Höchstmaßes der Geldstrafe im Regelfall abzusehen. Zum mindesten besteht ein solches Hindernis nicht mehr, seitdem die Vorschrift im § 2 Abs. 1 StGB. durch die des Art. 116 RVerf. 1919 ersetzt worden ist. Art. 116 lautet: ‚Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbar21
RGSt 57, 119. Kohlmann, a.a.O., S.205f. 23 RGSt 56, 318. 22
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keit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.’ Über die Gründe dieser Änderung des § 2 Abs. 1 StGB findet sich in der Entstehungsgeschichte der RVerf. 1919 nichts für die Auslegung Wesentliches. Dass § 2 Abs.1 auch den Ausschluss unbestimmter Strafen bedeutet, wurde aus seinen Worten ‚diese Strafe’ gefolgert. Den an ihre Stelle getretenen Worten ‚die Strafbarkeit’ kann nicht derselbe Sinn beigemessen werden. Mit ihnen wird die gesetzliche Festlegung der Möglichkeit einer Bestrafung erfordert, keineswegs aber zum Ausdruck gebracht, dass das zur Zeit der Begehung der Tat geltende, eine bestimmte Strafart androhende Gesetz einen bestimmten Strafrahmen haben müsste.“ Insofern der § 2 Abs. 1 StGB die vorherige gesetzliche Bestimmtheit des Verbrechens und der Strafe fordert, verstößt § 2 Abs. 2 Einfuhrverordnung 1920 klar gegen ihn, weil er nur die Strafart „Geldstrafe“ bestimmt ohne ihren Höchstbetrag festzulegen. Aber wenn § 2 Abs. 1 StGB durch Art. 116 WRV ersetzt wurde und der § 2 Abs. 1 StGB im Sinne des Art. 116 gilt, verstößt § 2 Abs. 2 Einfuhrverordnung nicht mehr gegen § 2 Abs. 1 StGB. Demnach ist es nur die Strafbarkeit der Handlung, die vorher gesetzlich bestimmt sein muss. Insofern es nur gesetzlich bestimmt ist, dass die strafbare Handlung mit der Strafart „Geldstrafe“ belegt werden kann, wenn auch ihr Höchstbetrag offen geblieben ist, kann man nicht mehr sagen, dass der § 2 Abs. 2 Einfuhrverordnung 1920 gegen das Grundsatz nulla poena sine lege im Sinne des Art. 116 WRV verstößt. Den Hintergrund dieses Urteils des 5. Strafsenats bildet die beispiellose Inflation im besiegten Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg.24 In Zeiten der Inflation ist der Geldwert stets unsicher, aber in der damaligen Wirklichkeit fiel er unvorstellbar schnell. Es steht zu vermuten, dass der Gesetz24 § 9 des Gesetzes zum Schutze der Republik vom 21. Juli 1922 lautet: Neben jeder Verurteilung wegen Hochverrats oder wegen eines Verbrechens gegen die §§ 1 bis 6 ist auf Geldstrafe zu erkennen; die Höhe der Geldstrafe ist nicht beschränkt (RGBl. I, 585). Die zivilrechtliche Erscheinungsform der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg ist das sogenannte Aufwertungsurteil und die strafrechtliche ist die Strafgesetzgebung, die die Höhe der Geldstrafe nicht bestimmt. Die richterliche freie Rechtsfindung und das richterliche Ermessen bei der Festsetzung der Geldstrafe können als die konkreten Erscheinungen der freien Rechtsbewegung verstanden werden. Die zwei Merkmale der Aufwertung und des Republikschutzes stellen die soziale Situation gleich nach der Begründung der Weimarer Republik konzentriert dar, dass die Inflation einerseits das wirtschaftliche System der Republik erschüttert hat und den Ruf nach der linksradikalen Veränderung und der Gegenrevolution verstärkt hat, andererseits die neue Regierung sich bemüht hat, die Republik gegen die Gegenkräfte zu schützen und die politische Sicherheit zu erhalten. Es ist klar, dass die politische und wirtschaftliche Unsicherheit die rechtliche Sicherheit gebrochen hat. In diesem Sinne weist Arthur Rosenberg auf die wesentliche Tendenz der damaligen Rechtslage in der folgenden Darstellung hin. „Im Wirbel der Geldentwertung hatten sich alle hergebrachten Begriffe von Ordnung, Eigentum und Gesetzlichkeit aufgelöst“. Vgl. Arthur Rosenberg, herausgegeben von Kurt Kersten, Geschichte der Weimarer Republik, 1961, S.135.
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geber davon ausging, die gesetzliche Bestimmung eines Höchstbetrages einer Geldstrafe sei in einer sich zunehmend verstärkenden Inflation sinnlos. Es genüge daher die Strafart „Geldstrafe“ in der Einfuhrverordnung von 1920 gesetzlich zu bestimmen und den Strafrahmen „Betrag“ dem richterlichen Ermessen gemäß dem jeweiligen Geldwert zu überlassen. Abgesehen davon, dass der Abgeordnete Katzenberger in der Sitzung des Unterausschusses vom 30. Mai 1919 erwartete, dass die beispiellose Inflation einen nicht ignorierbaren Einfluss auf das Geldstrafensystem ausüben kann, der den Grundsatz nulla poena sine lege beeinträchtigt, hat der 5. Strafsenat im Urteil von 1922 klargestellt, dass der § 2 Abs. 2 Einfuhrverordnung von 1920 verfassungsmäßig rückwirkend angewendet werden kann. Ließe sich aus diesem Urteil nicht ableiten, dass Art. 116 WRV die Anwendung der nachträglich bestimmten Strafrahmen auf die strafbare Handlung erlaubte?
V. Der Grundsatz nulla poena sine lege in der Strafrechtslehre Auch die Strafrechtswissenschaft hat über den normativ-praktischen Sinn und den Anwendungsbereich des Art. 116 WRV leidenschaftlich diskutiert. Wie schon Hans-Ludwig Schreiber vertreten hat,25 wurden einerseits die verschiedenen Meinungen darüber zum Ausdruck gebracht, andererseits wurde das im Art. 116 WRV sich versteckende theoretische Problem nicht offen gelegt bis zum Ende der Weimarer Republik, dem Reichstagbrandprozess. Die herrschende Lehre hat die Ansicht von der sog. inhaltlichen Identität wieder aufgegriffen, nach der Art. 116 WRV lediglich die verfassungsrechtliche Ausdrucksform des § 2 Abs. 1 StGB sei.26 Dies entspricht zwar dem Willen des Gesetzgebers, vermag aber die inhaltliche Änderung des Grundsatzes nulla poena sine lege durch Art. 116 WRV nicht zu erklären, der aus dem formellen Unterschied der beiden Wörter („diese Strafe“ und „die Strafbarkeit“) entsteht. Zum Beispiel hat Robert von Hippel vertreten, dass Art. 116 WRV zwei Bedeutungen hat: eine staatsrechtliche und eine strafrechtliche. Staatsrechtlich können Strafgesetze nur im Wege eines formellen Gesetzes, also unter Mitwirkung der Volksvertretung, erlassen werden. Strafrechtlich müssen Tatbestand und Strafe vor Begehung der Tat gesetzlich bestimmt sein. Der Art. 116 WRV unterscheide sich zwar von § 2 Abs. 1 StGB, aber sachlich ergebe sich daraus kein Unterschied, insbesondere nicht etwa die Zulässig-
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keit der Androhung gesetzlich nicht bestimmter Strafen.27 Die Ansicht Hippels stimmt mit dem subjektiven Gesetzgeberwillen in der Weimarer Nationalversammlung überein. Joseph Heimberger wies darauf hin, dass die absolut unbestimmten Strafgesetze bis tief ins 18. Jahrhundert häufig waren, die ein Verhalten nur im allgemeinen für strafbar erklären, die Festsetzung von Art und Maß der Strafe aber vollständig dem richterlichen Ermessen überließen. Allerdings kämen solche Strafgesetze nicht mehr vor, weil sich die Unzulässigkeit absolut unbestimmter Strafgesetze aus § 2 Abs. 1 StGB ergebe. Daran ändere auch Art. 116 WRV nach „richtiger Ansicht“ nichts, wenn er den Bedingungssatz in die Worte „wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war“ fasst und dadurch den Anschein erweckt, als ob nur überhaupt eine Strafe, wenn auch keine bestimmte, angedroht gewesen sein müsste. Die Weimarer Reichsverfassung habe nicht daran gedacht, den § 2 StGB zu ändern, sondern wollte nur den in ihm enthaltenen Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ in die Grundrechte aufnehmen.28 Wenn auch Art. 116 WRV den Anschein erwecke, dass auch eine absolut unbestimmte Strafe angedroht sein könne, sei dieser doch mit § 2 Abs. 1 StGB identisch und verbiete somit die absolut unbestimmte Strafe. Eberhart Schmidt vertritt in dem von ihm neubearbeiteten Strafrechtslehrbuch von v. Liszt die gleiche Ansicht einer inhaltlichen Identität. Nach seiner Auffassung treten die vom Rechtssatz an einen Tatbestand geknüpften Rechtsfolgen ein, sobald ein dem Tatbestand entsprechender Sachverhalt gegeben ist. Jeder Rechtssatz kann nur auf die während seiner Geltung entstandenen Tatbestände angewendet werden, soweit er nicht von sich aus vor oder nach seiner Geltung liegende Tatsachen aufgreift. Dies gilt auch für Strafrechtssätze. Auch sie haben weder nachwirkende noch rückwirkende Kraft, soweit der Gesetzgeber sie ihnen nicht ausdrücklich beilegt. Daraus folgt die Art. 116 WRV immanente Regel: Die Strafrechtssätze finden Anwendung auf die während, sie finden keine Anwendung auf die vor oder nach ihrer Geltung begangenen Handlungen.29 Es wird von Schmidt ange27 Robert von Hippel, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in den Entwürfen, ZStW Bd.42, 1922, S.404f. 28 Josef Heimberger, Strafrecht, 1931, S.20. 29 Franz von Liszt und Eberhard Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 27. völlig neu bearbeitete Aufl., 1932, S.113. Franz von Liszt hat vor der Weimarer Zeit geschrieben, „Daraus folgt die in § 2 Abs. 1 StGB indirekt anerkannte Regel: Die Strafrechtssätze finden Anwendung auf die während, sie finden keine Anwendung auf die vor oder nach ihrer Geltung begangenen Delikte“. Dass Schmidt bei der Neubearbeitung des v. Liszt’schen Lehrbuchs den Art. 116 WRV mit dem § 2 Abs. 1 StGB gleichgesetzt hat, bedeutet, dass Schmidt die Ansicht von der inhaltlichen Identität vertritt. Vgl. Franz v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, zweite durchaus umgearbeitete Auflage, 1884, S.79.
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deutet, dass es nicht dem Gesetzgeber, sondern nur dem Richter verboten wird, Strafrechtssätzen nachwirkende und rückwirkende Kraft beizulegen. Daher ist es nach ihm nicht klar, ob es nur dem Richter verboten ist, die gesetzliche Strafe auf eine strafbare Handlung rückwirkend anzuwenden, die der Gesetzgeber nachträglich verschärft hat. Hellmuth Mayer hat ausdrücklich vertreten, dass der Satz nulla poena sine lege in der geschichtlichen Entwicklung gerade deshalb geschaffen wurde, um politische Zweckgesetze der Art zu verhüten, dass nachträglich eine vorher unverbotene Tat unter Strafe gestellt wird, oder dass man nachträglich eine Strafbestimmung auf den vorliegenden Fall erst passend macht. Wenn Bestimmungen in ein Strafgesetz aufgenommen wurden, deren Umfang sich auch nicht annähernd im Voraus bestimmen und berechnen lässt, könnte der Satz nulla poena sine lege in fraudem legis umgangen werden. Dieser Gedanke hat auch hinreichend deutlichen Ausdruck im Gesetz gefunden. Denn § 2 StGB und Art. 116 WRV fordern, dass eine Handlung vorher mit Strafe bedroht ist. Es genügt also nicht, dass etwa eine Handlung unter einem Gesetzesbegriff gebracht werden kann, wie das ja bei jeder „Kautschukbestimmung“ möglich ist. Sondern sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn des Art. 116 WRV wird nur dann entsprochen, wenn die betreffende Handlung so beschrieben ist, dass man auch weiß, welche Handlungen nun verboten sind. Ein gegen diese Forderung einer einigermaßen bestimmten Beschreibung verstoßendes Gesetz ist verfassungswidrig.30 Mayer verkennt dabei den Wortlaut und dessen Sinn in Art. 116 WRV. Wie er vertritt, ist „jede Kautschukbestimmung“ zwar verfassungswidrig, weil man nicht wissen kann, welche Handlungen nun verboten sind. Aber es kommt nicht nur auf die gesetzliche Bestimmtheit der strafbaren Handlung an, sondern auch auf die der Strafart und des Strafrahmens. Aus der Erkenntnis von Mayer erklärt sich das Problem des Art. 116 WRV noch nicht, ob es erlaubt sein kann, der nachträglich verschärften Strafe die Rückwirkungskraft zu verleihen. Diese oben erwähnten Meinungen stehen auf dem Standpunkt, auf dem der Weimarer Gesetzgeber subjektiv stand, dass der Art. 116 WRV mit dem § 2 Abs. 1 StGB normativ identisch ist. Hiervon unterscheidet sich die Position Edmund Mezgers. Mezger bestimmt das Verhältnis zwischen § 2 Abs. 1 StGB und Art. 116 WRV wie folgt:31 30 Hellmuth Mayer, 4. Jahresversammlung der Deutschen Strafrechtlichen Gesellschaft in Bamberg am 16. und 17. Oktober 1931, Der Gerichtssaal Bd. 101, 1932, S.121f. 31 Edmund Mezger, Strafrecht – Ein Lehrbuch, 3. unveränderte Aufl., 1949, S.75ff. Vgl. Lothar Käckell, Der Einfluss der neuen Reichsverfassung auf Straf- und Prozessrecht, ZStW Bd.41, 1921, S.684; A. Mendelssohn Bartholdy, Das Strafgesetz, in: Aschrott und Kohlrausch (Hrsg.), Reform des Strafrechts, 1926, S.35.
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„Der Satz: Keine Strafe ohne Gesetz, gilt heute mit unverbrüchlicher Strenge. § 2 Abs. 1 StGB bestimmt in dieser Hinsicht: ‚Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.’ Ohne Gesetz soll es kein Verbrechen geben (nullum crimen sine lege) und die für das Verbrechen erkannte Strafe soll nur insoweit ausgesprochen werden dürfen, als sie gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde (nulla poena sine lege). Dieser Satz ist heute wenigstens teilweise verfassungsrechtlich sanktioniert. In dieser Hinsicht bestimmt Art. 116 der Reichsverfassung von 1919: ‚Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.’ § 2 Abs. 1 StGB und Art. 116 RVerf. besagen nicht dasselbe. Während sich Art. 116 RVerf. damit begnügt, dass ‚die Strafbarkeit’ der Handlung gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde (nullum crimen sine lege), fordert § 2 Abs.1 StGB, dass ‚diese Strafe’ (sc. die für die Handlung erkannt werden will) gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde (nulla poena sine lege). Art. 116 RVerf. hat also nicht etwa den § 2 Abs. 1 StGB aufgehoben, sondern – freilich nicht in seinem ganzen Umfange – verfassungsrechtlich bestätigt. Kraft Verfassungsrechts ist nunmehr festgelegt, dass keine Handlung, nachdem sie begangen worden ist, zur strafbaren Handlung, zum Verbrechen, gestempelt werden darf, während es verfassungsrechtlich zulässig wäre, die früher angedrohte Strafe nachträglich gesetzlich zu ändern oder von vornherein die Strafe richterlichem Ermessen zu überlassen. Das Reichsgericht lässt leider in der Frage eine klare Stellungnahme vermissen. ‚Besonders bedenklich ist E.V 56, 318: nach dieser soll § 2 Abs. 1 StGB durch den engeren Art. 116 RVerf. aufgehoben sein und diese sichtliche Rechtsverschlechterung dazu führen, dass heute Strafgesetze mit unbestimmter Höchststrafe als zulässig zu erachten sind.’“ Mezger begründet den normativen Sinn und die Reichweite des Art. 116 WRV nicht nach dem subjektiven Gesetzgeberwillen, sondern nach dem unterschiedlichen Wortlaut von Art. 116 WRV und § 2 Abs. 1 StGB. Das unterscheidet sich grundsätzlich von der Ansicht der inhaltlichen Identität. Nach Mezger besteht das Gesetzlichkeitsprinzip in der Fassung des § 2 Abs.1 StGB aus zwei Teilen: die Bestimmtheit des Verbrechens und die Bestimmtheit der Strafe. Er hat zudem gezeigt, dass Art. 116 WRV nur die Bestimmtheit des Verbrechens enthält. Daher fordert Art. 116 WRV als Grundsatz nulla poena sine lege nur die Bestimmtheit der Verbrechen und ihrer Strafbarkeit und verbietet es dem Gesetzgeber, die nicht strafbare und zulässige Handlung nachträglich als strafbar zu bestimmen. Aber es ist nicht klar, ob er es auch verbietet, dass der Gesetzgeber eine der strafbaren Hand-
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lung entsprechende Strafe nachträglich verschärft und der Strafrichter sie rückwirkend anwendet. Verfassungsrechtlich bestünde diese Möglichkeit. Die Meinung von Mezger ist sehr interessant, um das normativ-praktische Wesen des Art. 116 WRV objektiv zu analysieren.
VI. Der Grundsatz nulla poena sine lege nach dem Zweiten Weltkrieg Oben wurden die Entstehungsgeschichte des Art. 116 WRV, die Rechtsprechung des Reichsgerichts und die Ansichten der zeitgenössischen Strafrechtslehre zu dieser Vorschrift dargestellt und analysiert. Kann man nach dieser Analyse behaupten, die Auffassung, der Grundsatz nulla poena sine lege habe in § 2 Abs. 1 StGB 1871 gegolten, bis er mit der nationalsozialistischen Gesetzgebung vom 29. März 1933, der sog. lex van der Lubbe, ausgehebelt wurde, sei zumindest ungenau? Die „lex van der Lubbe“ schrieb zwar ausdrücklich in § 1 vor, § 5 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (Rgbl. I.83) gelte auch für Taten, die in der Zeit zwischen dem 31. Januar und dem 28. Februar 1933 begangen worden sind. Daher kann nicht geleugnet werden, dass dieses Gesetz die Weichen vom Rechtsstaat zum Unrechtsstaat stellte und damit ein (erstes) Symbol für die nationalsozialistische Strafgesetzgebung war. Aber damit auch die Frage der verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit dieses Gesetzes mit der WRV zu beantworten, wäre vorschnell. Vielmehr kann die „lex van der Lubbe“ als eines von mehreren konsequenten Ergebnissen einer kontinuierlichen Strafrechtsgeschichte angesehen werden, die ihr vorausging und sie überhaupt erst ermöglichte.32 Vertritt man die Theorie, der deutsche Rechtsstaat und die liberalrechtsstaatlichen Strafrechtsgrundsätze seien durch die faschistische Diktatur, ihre unrechtsstaatliche Strafgesetzgebung und die autoritären Strafjuristen im Dritten Reich aufgehoben und erst mit dem Reinigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut und regeneriert worden, verdeckt dies die geschichtliche Wahrheit. Ginge man davon aus, dass die theoretisch-praktischen Beziehungen zwischen dem nationalsozialistischen Strafrecht und dem Nachkriegsstrafrecht durchgehend unterbrochen waren, würde es sich verbieten, das vergangene und gegenwärtige Strafrecht in eine kontinuierliche Geschichte einzufügen und die Beziehungen der beiden noch genauer zu betrachten. Da es solche Verdeckungen und Verhinderungen geben kann, müssen die Strafrechtslehren und Strafgesetzgebungen vor und nach dem Dritten Reich noch kritisch analysiert werden. 32
Naucke (Fn.6), a.a.O., S.283.
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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde zwar die „lex van der Lubbe“ durch Art. 2 des Kontrollratsgesetzes Nr. 11 von 1946 aufgehoben. § 2 Abs. 1 StGB, der 1935 reformiert wurde und die analoge Anwendung der Strafgesetze ermöglicht hat, wurde durch Art. 1 des Kontrollratsgesetz Nr. 11 aufgehoben. Aber das Kontrollratsgesetz hat einerseits gesetzliches Unrecht im Dritten Reich beseitigt, andererseits die alten Fassung des § 2 Abs. 1 StGB vor der Reform von 1935 nicht wieder eingeführt.33 § 2 Abs. 1 StGB war damit lückenhaft. In der Bundesrepublik Deutschland wurde der Grundsatz nulla poene sine lege erst mit Art. 103 Abs. 2 GG wieder eingeführt. Es war dann das dritte Strafrechtsänderungsgesetz von 1953, das den Grundsatz nulla poena sine lege in den § 2 Abs. 1 StGB wieder einführte. Aber auch diese beiden Vorschriften waren mit dem Art. 116 WRV formell fast identisch. Daher könnte sich das Problem, auf das Heinze und Düringer bereits mit ihrem Verfassungsentwurf im Unterausschuss des Weimarer Verfassungsausschusses hingewiesen haben, auch im Grundgesetz und Strafgesetz nach dem Zweiten Weltkrieg verstecken. Das rechtsstaatliche Strafrecht wäre in der politischen Verwandlung zerbrechlich geblieben. Hans Welzel hat die theoretische Situation des Grundsatzes nulla poena sine lege in der Bundesrepublik Deutschland offen angesprochen.34 Während der Grundsatz nullum crimen sine lege die gesetzliche Bestimmung der Strafbarkeit fordert – also auch absolut unbestimmte Strafdrohungen zulässt – geht der Satz nulla poena sine lege darüber hinaus und verlangt auch gesetzliche Bestimmtheit der Verbrechensfolge, d.h. nach Art und Rahmen mindestens relativ bestimmte Strafdrohungen. Art. 103 I GG (wie schon Art. 116 WRV) umkleidet den ersten Grundsatz mit den erhöhten verfassungsrechtlichen Garantie: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ So nun auch die gegenwärtige Fassung des § 2 nach dem 3. StrÄG. Eine gesetzlich nicht einmal relativ – durch Art und Strafrahmen – bestimmte Strafe, wie sie § 27 Ziff. 1 in der Fassung vom 6.2.1924 in Gestalt der Geldstrafe von unbeschränkter Höhe vorsieht, war und ist darum verfas-
33 Art. 4 des Kontrollratsgesetz Nr.11 Aufhebung einzelner Bestimmungen des deutschen Strafrechts vom 30.Januar 1946 lautet: Die Aufhebung der … bezeichneten Vorschriften und Bestimmungen setzt frühere Gesetze, die durch die hierdurch aufgehobenen Vorschriften und Bestimmungen aufgehoben worden sind, nicht wieder in kraft. 34 Hans Welzel, Das Deutsche Strafrecht – Eine systematische Darstellung, 11. neu bearbeitete und erweiterte Aufl., 1969, S.19f. Mezger hat in seinem Lehrbuch nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, dass Art. 103 II GG das Verbot der rückwirkenden Bestrafung fordert und er mit der alten Fassung vom § 2 Abs.1 StGB inhaltlich identisch ist. Dazu Mezger, Strafrecht 1, Allgemeiner Teil – Ein Studienbuch, 1952, S.27f.
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sungsrechtlich zulässig: RGSt 56, 318. Relativ unbestimmte Strafdrohungen finden sich in § 19 JGG. Die Väter des GG beabsichtigten allerdings keine Änderung gegenüber der ursprünglichen Fassung des § 2, so dass in Art. 103 GG die Bestimmtheit der Strafbarkeit, die der Strafe mit umfassen sollte (BVerfG, Beschluss vom 26.2.1969; BVerfGE 25, 295). Dennoch nimmt die h.L. an, dass die Androhung einer Geldstrafe in unbestimmter Höhe mit Art. 103 Abs. 2 vereinbar sei! BGHSt 3, 262; Schwarz-Dreher, § 2, 1Bc; Maurach AT § 62 B2; nach BGHSt 13, 190 soll sogar die Androhung „jeder gesetzlich zulässigen Strafe“ (außer der Todesstrafe) hinreichend bestimmt sein – m.E. eine völlige Aushöhlung des Begriffes der gesetzlichen Bestimmtheit! Mehr Erläuterung bedarf es dazu nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar beschlossen, dass Art. 103 Abs. 2 GG die Voraussetzungen bestimmt, unter denen ein Verhalten für strafbar erklärt werden kann, und er sowohl die rückwirkende Strafbegründung wie die rückwirkende Strafverschärfung verbietet,35 es besteht aber das Problem in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin, dass über den normativ-praktischen Sinn und den Anwendungsbereich des Art. 116 WRV nicht ausreichend diskutiert wurde, insofern man den Art. 103 Abs. 2 GG auslegen kann wie Welzel. In der Bundesrepublik Deutschland ist es zu dem drastischen Zwischenfall wie der Reichstagsbrandstiftung nicht gekommen, der eine Verwandlung des politischen und sozialen Systems nach sich zog. Die relative Sicherheit des politischen und wirtschaftlichen Sozialsystems hat die Sicherheit der Strafgesetzesauslegung und ihrer Anwendung garantiert und die rückwirkende Anwendung einer nachträglich verschärften Strafe war nicht nötig. Die „praktische Bedeutung“ von Art. 103 Abs. 2 GG und von § 1 StGB (§ 2 Abs. 1 StGB 1953) musste nicht getestet werden.36 Aber die Frage muss erlaubt sein, ob hierin nicht ein Stückchen Glut glimmt, das sich unter politisch ungünstigeren Rahmenbedingungen zu einem großen Feuer ausweiten kann.
VII. Fazit Mit der obigen geschichtlichen Skizze des Grundsatzes nulla poena sine lege hätte diese Betrachtung enden können. Die Bedeutung des Grundsatzes 35 BverfGE 25, 269ff., 286, Beschluss vom 26.02.1696 – 2 BvL 15/68, 2 Bvl 23/68 BVerfGE 105, 135ff., 153, 155 – Beschluss vom 20.03.2002, 2 BvR 794/95. 36 Naucke (Fn.6), a.a.O.,S.290f. Heute ist es „ganz herrschende Meinung“ (Gerhard Dannecker, Leipziger Kommentar, 12. Aufl., Bd. 1, 2007, § 1, Rn. 400 mit Fn. 1503, und Rn. 89 mit Fn. 331), dass Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB jeweils mit „Strafbarkeit“ auch „Strafe“ meine. Die alte Wortlautdifferenz besteht weiter, weil Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK das Rückwirkungsverbot ausdrücklich auch auf die „angedrohte Strafe“ bezieht.
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nulla poena sine lege wurde vor dem Hintergrund diskutiert und verstanden, dass seit moderner Zeit autonome Bürger als Rechtssubjekte dem von ihnen gewählten Gesetzgeber die Befugnis verleihen, nur ein klares Gesetz über Verbrechen und Strafe zu geben, um ihre persönlichen Freiheiten und Rechte gegen Verbrecher und willkürliche Rechtsanwender zu schützen. Dabei wurde zunächst nicht der Gesetzgeber als die Person angesehen, der seine gesetzgebende Strafmacht dazu missbrauchen könnte, ein rückwirkend anwendbares Strafgesetz zu geben und bürgerliche Freiheiten und Rechte zu gefährden. Die Gefahr von Willkür und Missbräuchlichkeit wurde vielmehr beim Strafrichter gesehen. Daher musste der Grundsatz nulla poena sine lege rechtsnormativ immer auf ihn gerichtet werden. Aber es ist allgemein bekannt, dass nicht nur Strafrichter, sondern auch der Strafgesetzgeber seine Befugnisse im 20. Jahrhundert missbrauchte, indem er die rechtsstaatlichen Strafrechtsgrundsätze der jeweiligen politischen Macht unterordnete. Die Nationalsozialisten „ergriffen“ die politische Macht im Januar 1933 und konnten in der Folge auch die gesetzgebende Gewalt übernehmen. Schließlich bildeten der Führerwille und die nationalsozialistische Weltanschauung die einzige Rechtsidee und Rechtsquelle als entscheidendes Gesetzgebungs- und Rechtsanwendungskriterium. Um diesen selbst Gesetzeskraft zu verleihen, sie für die Auslegung der bestehenden Gesetze heranzuziehen und damit die Rechtsanwender zu binden, haben Rechtsphilosophen wie Schmitt und Larenz die Lehren vom konkreten Ordnungsdenken und die von den konkret-allgemeinen Begriffen vorgelegt. Sie bezogen sich dabei auf Schlagworte aus dem Parteiprogramm der NSDAP, wie Volk, Rasse, Wesen, Einheit usw., um sich selbst den Nationalsozialisten anzudienen. Als solche Strafrechtslehrer sind Dahm, Schaffstein und Henkel, aber auch Mezger, Welzel, Gallas und Sauer usw. zu nennen, deren Strafrechtslehren sehr nationalsozialistisch geprägt waren. Materiell rechtswidriges Handeln wurde als Handeln gegen die deutsche nationalsozialistische Weltanschauung verstanden. Das Strafrecht sollte dazu dienen, die rechtliche Gesinnung aller Volksglieder zu stärken. Das deutsche Strafgesetzbuch 1871 wurde nach dem Führerwillen und der nationalsozialistischen Weltanschauung ausgelegt und angewendet. Der Wille des ursprünglichen Gesetzgebers wurde bei den geltenden Strafgesetzen nicht mehr berücksichtigt. Ersetzt wurde dieser durch die „objektiven“ Werte des Führerwillens und der nationalsozialistischen Weltanschauung, mit denen die sinnentleerten Strafgesetze aufgeladen wurden.37
37 Bernd Rüthers, Die Ideologie des Nationalsozialismus in der Entwicklung des deutschen Rechts von 1933 bis 1945, S.17ff., Heinz Wagner, Das Strafrecht im Nationalsozialismus, S.141ff., Wolfgang Naucke, NS-Strafrecht als Teil einer längeren Entwicklungslinie im Straf-
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Nach der Reichstagsbrandstiftung war es der Führerwille gewesen, den Angeklagten Marinus van der Lubbe zum Tode zu verurteilen. Daran hinderte § 2 Abs. 1 StGB. Für den Führer mussten § 2 StGB und der an dessen Stelle gesetzte Art. 116 WRV überwunden werden. Um den Führerwillen in diesem Fall durchzusetzen, musste die nationalsozialistische Strafrechtsmethode nicht so fanatisch sein wie die Lehren vom konkreten Ordnungsdenken oder die von den konkret-allgemeinen Begriffen. Das war in diesem Fall nicht einmal erforderlich. Allein die gesetzgebungstechnische Hilfe des Staatssekretärs im Reichsjustizministerium Franz Schregelberger und die teleologischen Begriffsbildungstheorie reichten aus. Hitler scheint die Strafjuristen als unflexible Gesetzesformalisten oder Gesetzespositivisten angesehen und sie gehasst zu haben, aber sie waren in Wirklichkeit nicht so eigensinnig wie er dachte. Oetker, Nagler und von Weber, die die Gutachten zum Reichstagsbrandprozess unterzeichnet haben, waren den faschistischen Machthabern keineswegs unfreundlich gesinnt. Sie bereiteten vielmehr willfährig den Boden, um der neuen politischen Stimme in die Richterrobe zu helfen. Für diese drei prominenten Strafwissenschaftler war es nicht schwierig, die praktische Möglichkeit im Art. 116 WRV zu finden, das nachträglich verschärfte Strafgesetz rückwirkend anzuwenden.38 recht?, S.233ff., in: Franz Jürgen Säcker (Hrsg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, 1992. 38 Gutachten zum Reichstagsbrandprozess von Friedrich August Oetker, Johannes Nagler und Helmuth von Mayer, in: Norbert Brieskorn, Paul Mikat, Daniela Mueller und Dietmar Willoweit (Hrsg.), Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft, Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte, 1994, S.452ff. (Bundesarchiv Koblenz R 43 II/1514 verkleinerte Abbildung des Originals). Die drei Gutachter haben geschrieben: „Die Frage, ob eine rückwirkende Strafverschärfung nach der Reichsverfassung zulässig oder nur auf Grund eines verfassungsändernden Gesetzes möglich ist, ist streitig. Nach § 2 Abs. 1 StGB kann nur die Strafe erkannt werden, welche nach Grund und Maß gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde, während Art. 116 R.V. nach seinem Wortlaut nur voraussetzt, dass die Tat z.B. ihrer Verübung überhaupt strafbedroht war. Ob die abweichende Fassung des Art. 116 R.V. eine sachliche Änderung in sich schließen wollte, lässt sich nach den Protokollen der Nationalversammlung nicht eindeutig entscheiden. Das Reichsgericht hat sich öfter in diesem Sinn ausgesprochen. Insbesondere hat es in Bd. 56. Entsch.1. Strafsachen auf S.319 ausgeführt, dass Art. 116 R.V. nur die gesetzliche Festlegung der Möglichkeit einer Bestrafung erfordere, keineswegs aber zum Ausdruck bringe, dass das zur Zeit der Begehung der Tat geltende, eine bestimmte Strafart androhende Gesetz einen bestimmten Strafrahmen haben müsse. Freilich hat der Oberste Gerichtshof die Zulässigkeit einer rückwirkenden Strafverschärfung bisher noch nicht ausdrücklich bejaht. Er hat zu einer solchen Stellungnahme noch gar keine Gelegenheit gehabt. Es ist indessen anzunehmen, dass er in folgerichtiger Weiterentwicklung der bisher von ihm aufgestellten Prinzipien die rückwirkende Strafverschärfung auf Grund eines einfachen Gesetzes zulassen muss, gestützt auf die Änderung der Fassung die Art. 116 R.V. gegenüber § 2 Abs. 1 StGB bringt und die auch nach unserer Ansicht auf eine inhaltliche Verschiedenheit der beiden genannten Gesetze zu schlie-
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Wenn man sich diese geschichtliche Erfahrung vergegenwärtigt, wird umso deutlicher, dass der Satz nulla poena sine lege der Strafrechtsgrundsatz ist und sein muss, der stets nicht nur den Strafrichter, sondern auch den Strafgesetzgeber restriktiv binden muss, um ihre Strafmacht zu begrenzen. Er ist ein Kerngrundsatz des rechtsstaatlichen Strafrechts, den die Strafrechtsgeschichte auf manche harte Probe stellte und der erst nach ausdauernden Bemühungen um bürgerliche Freiheiten und Rechte errungen werden konnte. Er muss durch ständige Bemühung erhalten werden. Die Strafrechtsgeschichte soll erforscht werden, um nicht nur die strafrechtlichen Ergebnisse vergangener Zeiten zu erkennen, sondern die gegenwärtige Situation der bürgerlichen Freiheiten und Rechte im modernen Strafrecht ans Licht zu bringen und dann auf ihre zukünftige Entwicklung zu blicken. In diesem Sinne muss die Strafrechtsgeschichte, insbesondere die Geschichte des Grundsatzes nulla poena sine lege, noch kritischer erforscht werden.
ßen zwingt, dergestalt, dass Art. 116 R.V. sich nur mit dem ‚Ob’ der Bestrafung, § 2 Abs. 1 StGB dagegen sowohl mit dem ‚Ob’ wie mit dem ‚Wie’ der Bestrafung befasst. Im praktischen Ergebnis lauft die Differenzierung darauf hinaus, dass es zur nachträglichen Strafbarerklärung einer z.Zt. der Begehung straflosen Handlung eines verfassungändernden Gesetzes, hingegen zur nachträglichen Veränderung des zur Verfügung stehenden Strafrahmens lediglich eines einfachen Gesetzes bedarf.“ Es war in der Absicht der Weimarer Nationalversammlung klar, dass der Art. 116 WRV vom § 2 Abs. 1 StGB nicht abweicht und keine sachliche Änderung in sich schließt. Aber für konformistische Strafjuristen war es offensichtlich nicht schwierig, den Art. 116 WRV abweichend von der Gesetzgeberabsicht auszulegen.
Ungerechtigkeit, Unrecht und Unglück1 Einige Anmerkungen zum Thema Gerechtigkeit aus Anlass studentischer Erfahrungen von Ungerechtigkeit ERHARD KAUSCH
I.
Einleitung
V.
Ungerechtigkeitserfahrungen im Studium
II.
Ungerechtigkeit und Unglück
VI.
Gerechtigkeit als Tugend – Gerechtigkeit und Glück
Unrecht wohl – aber auch Ungerechtigkeit?
VII.
Ungerechtigkeiten, die kein Unrecht sind – unzutreffende Vorwürfe
Überblick über die Lebensbereiche der berichteten Ungerechtigkeiten
VIII.
Schlussbemerkung
III.
IV.
I. Einleitung Studierende der Sozialarbeit/Sozialpädagogik stehen zumindest zu Beginn ihres Studiums dem Recht und der Rechtswissenschaft oft skeptisch gegenüber; andererseits ist das Verlangen, für den Wert der Gerechtigkeit einzutreten, eines der wesentlichen Motive für ihre Studienwahl. Zu vermitteln, dass und auf welche Weise das Recht hierzu dienlich sein kann, gehört daher zu den vornehmsten Aufgaben eines Rechtslehrers an einem Fachbereich Sozialwesen, der sich der Jubilar während seiner Münsteraner Jahre
1 Überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung meiner Abschiedsvorlesung vom 25.4.2007 am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster, dem der Jubilar von 1976 bis 1993 ebenfalls angehörte. Die Vortragsform wurde nach Möglichkeit beibehalten.
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Erhard Kausch
mit großem Engagement, großer Glaubwürdigkeit und einem (allerdings nicht nur) daraus resultierenden großen Lehrerfolg angenommen hat. In einer Reihe von interdisziplinären Seminaren zu sozial- und rechtsphilosophischen Themen1 wurden die Studierenden zur „Einstimmung“ und, um etwas über ihr Verständnis von Gerechtigkeit zu erfahren, aufgefordert, sich zu den folgenden Fragen kurz schriftlich zu äußern: 1.
Wann und aus welchem Grund haben Sie sich das letzte Mal ungerecht behandelt gefühlt?
2.
Welches war die schlimmste Ungerechtigkeit, die Ihnen bisher widerfahren ist?
3.
Welches ist Ihrer Meinung nach die größte Ungerechtigkeit der letzten Jahre ganz allgemein gewesen?
Hätten wir gefragt, was die Studierenden unter Gerechtigkeit verstehen, oder sogar um eine Definition gebeten, so hätten sich vermutlich die meisten damit schwer getan und die Antworten wären sehr abstrakt ausgefallen.2 Fragt man dagegen, was Menschen als ungerecht ansehen, so öffnet man Schleusen. Denn wir haben alle ein hoch entwickeltes Empfinden für Ungerechtigkeiten, die uns widerfahren oder anderen, mit denen wir uns solidarisieren, und dies auch ohne einen expliziten Begriff von Gerechtigkeit. Es gibt wenig, worauf wir gefühlsmäßig so spontan und heftig reagieren wie auf tatsächliche oder vermeintliche uns angetane Ungerechtigkeiten. Der 1996 verstorbene Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg hat dies einmal pointiert so ausgedrückt:3 Eigentlich beschäftigen nur zwei Fragen die Menschen: „Warum gerade ich?“ und: „Warum ich nicht auch?“
1 SS 2004 – WS 2006/07, überwiegend Gemeinschaftsveranstaltungen mit N. Rath (Philosophie, Fachbereich Sozialwesen Fachhochschule Münster) und J.-M. Priester (Rechtswissenschaftliche Fakultät Universität Münster), so dass unter den Befragten auch Studierende der Rechtswissenschaft waren. Die Fachbereichszugehörigkeit wurde allerdings nicht abgefragt. 2 Schon Aristoteles nimmt zum Ausgangspunkt seiner Analyse der Gerechtigkeit die Bedeutungen des Ausdrucks „ungerecht“ (Nikomachische Ethik V, 2, 1129a, übersetzt und hrsg. von U. Wolf, 2006). Vgl. auch seine methodischen Vorbemerkungen in V, 1, 1129a, 16ff. Vgl. ferner J. St. Mill, Utilitarianism/Der Utilitarismus, hrsg. v. D. Birnbacher, 2006, S. 129: „…denn wie viele andere Moralbegriffe lässt sich die Gerechtigkeit am besten durch ihr Gegenteil definieren…“. 3 Wenn meine Erinnerung zutrifft, in der Vorlesung „Philosophische Eschatologie“ im SS 1981.
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Dass unsere Befragung nicht den Standards empirischer Sozialforschung entspricht, ist offenkundig. Unsere Absicht war auch nur, einen Einstieg zu bieten, durch den die Studierenden sich unmittelbar angesprochen fühlen konnten und der die Hemmschwelle für eigene Beiträge herabsetzte. In den Kategorien des Sozialwesens gesprochen: Wir haben uns methodisch auf Selbsterfahrung gestützt und dabei ein niederschwelliges Angebot gemacht. Im Folgenden geht es mir nicht um eine vollständige Auswertung der Befragungen, weder in Bezug auf die darin zum Ausdruck kommenden Gerechtigkeitsvorstellungen noch bezüglich der Lebensumstände der Studierenden, die sich in den Antworten spiegeln. Beides wird natürlich eine Rolle spielen, aber ich möchte, wie sich schon im Titel der Vorlesung andeutet, die Antworten in erster Linie zum Ausgangspunkt nehmen für einige Unterscheidungen und Erläuterungen, die Gerechtigkeitsfragen vielleicht etwas durchsichtiger machen können.
II. Ungerechtigkeit und Unglück Unter den Antworten, die die Studierenden auf die Frage nach der schlimmsten Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren sei, gegeben haben, finden sich auch die folgenden: Eine lebensbedrohliche Erkrankung Tod der Mutter Tod oder schwere Krankheit von Menschen, die ich liebe. Selbstmord meines Bruders vor zwei Jahren vor meinen Augen. Eines der schlimmsten und ungerechtesten Gefühle, die ich je verspürt habe (Machtlosigkeit). Allgemein die größte Ungerechtigkeit war, auch wenn niemand wirklichen Einfluss darauf hatte, oder wenn man es niemandem vorwerfen kann, als meine Freundin bei einem Autounfall ums Leben kam. Sie war der letzte Mensch, der es in irgendeiner Weise verdient hätte. Keine Polizistenausbildung wegen schlechter Augen Dass ich kein Abitur machen konnte, da ich Legasthenie habe und keine zweite Fremdsprache gelernt habe. Von der Struktur her gleichartig, wenn auch nicht auf Ereignisse bezogen, die den Studierenden selbst widerfahren sind, sind Aussagen wie die: Besonders ungerecht fand ich die Erkrankung eines behinderten Mannes an Leukämie. Dieser Mann hatte schon sehr stark mit seiner Behinderung zu kämpfen. Dass manchen Menschen so viel Leid und Ungerechtigkeit auf einmal im Leben passiert, die es nicht verdienen (subjektiver Standpunkt), anderen aber nicht.
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Dass die Medizin noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass die tödlichen Krankheiten geheilt werden können (Aids, Krebs). Man ist zunächst betroffen, dass junge Menschen bereits von so vielem schweren Leid berichten. Man versteht auch, warum die Studierenden solche Ereignisse anführen, und doch zögert man, hier von Ungerechtigkeit zu sprechen. Warum? Dazu möchte ich zunächst fragen: Welche Elemente sind den Fallkonstellationen gemeinsam, in denen wir uns einig sind, dass die Bewertung „gerecht“ oder „ungerecht“ zutreffend auf sie angewandt wird. Aristoteles, auf den die erste umfassende Analyse der Gerechtigkeit zurückgeht, hat eine Art Morphologie, eine Einteilung der Erscheinungsformen der Gerechtigkeit, vorgenommen, die noch immer aussagekräftig ist, auch wenn sich manches an ihren Voraussetzungen geändert hat, nämlich die Unterscheidung zwischen austeilender und ausgleichender Gerechtigkeit, lateinisch iustitia distributiva und iustitia commutativa.4 Zur besseren Übersicht soll das folgende Schema dienen, dass die aristotelische Einteilung in vereinfachter Form auf gegenwärtige Verhältnisse überträgt.5 Spezielle Gerechtigkeit
austeilende Gerechtigkeit
Austauschgerechtigkeit
(Zivilrechtlicher) Ausgleich durch Schadensersatz bei Vertragsverletzungen und unerlaubten Handlungen
ausgleichende Gerechtigkeit
Ausgleich durch Vergeltung bei Straftaten
[Ausgleich durch informelle Sanktionen (Missachtung usw.) bei informellen Normverstößen]
4 Nikomachische Ethik V, 4 – 9. Dies sind nach Aristoteles die Formen der „speziellen“ Gerechtigkeit. Zur „allgemeinen“ Gerechtigkeit vgl. u. II. 5 Zu den Einzelheiten der aristotelischen Unterteilung der speziellen Gerechtigkeit vgl. nur die Erläuterungen bei P. Trude, Der Begriff der Gerechtigkeit in der aristotelischen Rechtsund Staatsphilosophie, 1955, S. 89ff.; G. Bien, Gerechtigkeit bei Aristoteles, in: O. Höffe (Hrsg.), Aristoteles, Nikomachische Ethik (Klassiker Auslegen 2), 2. Aufl. 1995, S. 135ff., 145ff.; U. Wolf, Aristoteles´»Nikomachische Ethik«, 2002, S. 94, 100 ff. Kritisch zum Wert dieser Unterscheidungen K. F. Röhl, Die Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles aus der Sicht sozialpsychologischer Gerechtigkeitsforschung, 1992, S. 52f: „... letztlich nur verwirrend“.
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Bei der austeilenden Gerechtigkeit geht es um die Frage, nach welchem Maßstab Vorteile und Lasten in einer Gemeinschaft zu verteilen sind. Bei der ausgleichenden Gerechtigkeit geht es zum einen um die Austauschgerechtigkeit, das heißt die Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung bei Verträgen, die wir allerdings im Rahmen der Vertragsfreiheit weitgehend dem Markt überlassen. Oder es geht, wenn jemand sich durch Schädigung anderer einen Vorteil verschafft hat, um die Herstellung eines Ausgleichs, sei es durch Bestrafung des Schädigers, sei es durch die Festlegung von Schadensersatz für den Geschädigten. Der Ausgleich von Verstößen gegen informelle Normen durch informelle Sanktionen kommt bei Aristoteles noch nicht vor, was ich durch die gestrichelte Linie anzudeuten versucht habe. Er gehört aber der Sache nach hierher. Ich gehe davon aus, dass diese Differenzierung insofern vollständig ist, als jeder gerechtigkeitsrelevante Fall sich entweder dem Bereich der austeilenden oder der ausgleichenden Gerechtigkeit zuordnen lässt. Gegenstand von Urteilen über Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit können dabei sein: x Einzelne Normen oder eine ganze Normenordnung bzw. die Gesamtheit der Verhältnisse einer Gesellschaft, die sich auf die Verteilung von Vorteilen und Lasten bzw. den Ausgleich von Unrecht auswirken, x Einzelfallentscheidungen, durch die verteilt oder ein Unrechtsausgleich vorgenommen wird. Aber wir sagen auch von einem Menschen, er sei gerecht, wenn seine Entscheidungen und Handlungen regelmäßig dieses Prädikat verdienen. Wir sprechen ihm damit die Tugend der Gerechtigkeit zu.6 Ein letztes wichtiges Element von Gerechtigkeitskonstellationen ist noch anzuführen. Wir verwenden das Prädikat „gerecht“ oder „ungerecht“ nicht für alle Handlungen, die für andere vorteilhaft oder nachteilig sein können, sondern wir hegen die Erwartung der Gerechtigkeit nur gegenüber denjenigen, die sich in einer Position befinden, in der sie eine Entscheidung über die Verteilung von Vorteilen und Lasten oder über Unrechtsausgleich zu treffen haben. Das sind zum einen alle, die an der Normsetzung beteiligt sind. Es sind weiterhin diejenigen, die Normen im Einzelfall anzuwenden haben, und zwar auch, soweit es sich um informelle oder um selbstgesetzte Normen handelt, man denke etwa an Gleich- oder Ungleichbehandlung von Kindern durch Eltern. Ich möchte dies alles zusammenfassend als funktio6 Zu den möglichen Gegenständen des Gerechtigkeitsurteils vgl. R. Dreier, Recht und Gerechtigkeit, in: D. Grimm (Hrsg.), Einführung in das Recht, 2. Aufl. 1991, S. 101.
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nelle Richterposition bezeichnen, funktionell deshalb, weil dazu nicht erforderlich ist, dass es sich um einen Richter im Sinne der Rechtsordnung handelt; jedermann ist immer wieder in dieser Situation. Und auch die Aufgabe des Normgebers lässt sich beschreiben als die eines Richters über Interessenkonflikte auf einer allgemeinsten Ebene. Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, welchen inhaltlichen Anforderungen Normen oder Entscheidungen bzw. Handlungen entsprechen müssen, damit man ihnen das Prädikat gerecht zusprechen kann. Was ergibt sich aus alledem für unsere Fragestellung? Kennzeichnend für die wiedergegebenen Leiderfahrungen, in denen die betroffenen Studierenden die schlimmste ihnen widerfahrene Ungerechtigkeit gesehen haben, ist, dass sie – sieht man einmal von dem Verkehrsunfall ab – nicht das Ergebnis menschlichen Handelns oder Unterlassens sind. Wir finden keines der Elemente wieder, die wir als konstitutiv für Gerechtigkeitssituationen angesehen haben. Es geht weder um die Verteilung von Lasten in einer Gemeinschaft noch um die Auferlegung eines Ausgleichs für Schädigungen. Die Behauptung, etwas sei ungerecht, ist nicht einfach eine beschreibende Feststellung, sondern sie enthält immer zugleich eine Kritik an einer zuteilenden Instanz. Wo sich aber Leid und Benachteiligungen jeglichem menschlichen Einfluss entziehen, wo sich die Forderung nach Gerechtigkeit an niemanden richten kann, der ihr entsprechen könnte, dort macht es keinen Sinn, von Ungerechtigkeit zu sprechen. Schicksal, Schicksalsschlag, Unglück oder Zufall sind daher die Ausdrücke, in denen wir üblicherweise zum Ausdruck bringen, dass wir solchen Ereignissen ohnmächtig gegenüberstehen, hilflos ausgesetzt sind.7 Wer ein unverschuldetes Unglück, einen Schicksalsschlag außerhalb menschlicher Einflussmöglichkeiten als ungerecht empfindet – und zumindest insgeheim tut dies fast jeder –, der unterstellt implizit, es gebe eine Weltordnung als Ganzes, in der ein wie immer geartetes höheres Wesen eine Richterposition einnimmt und Glück und Unglück zuteilt, und dieses zuteilende Wesen habe in dem Fall, von dem man betroffen ist, den falschen Maßstab angewandt. Man würde es sich allerdings zu leicht machen, begnügte man sich damit, den studentischen Aussagen nur zu bescheinigen, ihnen liege eine unzureichende Vorstellung von Gerechtigkeit zugrunde, die zu einer Vermischung der Begriffe Ungerechtigkeit und Unglück führe. Die Vorstellung von der Ungerechtigkeit des Schicksals wurzelt nämlich in einem uralten Deu7 Zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Unglück bzw. Schicksal vgl. J. Shklar, Über Ungerechtigkeit, 1992; B. Rössler, Unglück und Unrecht – Grenzen von Gerechtigkeit im liberaldemokratischen Rechtsstaat, in: H. Münkler/M. Llanque (Hrsg.), Konzeptionen der Gerechtigkeit, 1999, S. 347ff.; S. Gosepath, Sind die Götter gerecht? Gerechtigkeit und Schicksal, in: Der Blaue Reiter: Was ist gerecht? (Journal für Philosophie Nr. 19), 2004, S. 16 ff.; W. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, 2000, S. 16 ff.
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tungsmuster, das offenbar einem elementaren anthropologischen Bedürfnis entspricht, nämlich der Sehnsucht, dass es in der Welt letztendlich gerecht zugehe, dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden, dass tugendhaftes Handeln sich auszahlt und das Böse eine Niederlage erleidet, und sei es erst am Ende aller Tage.8 Nun stößt sich allerdings die Sehnsucht nach einer gerechten Welt an einer Wirklichkeit, in der weder die Art, wie die Natur ihre Gaben und Heimsuchungen verteilt, noch die von Menschen gemachten Verhältnisse die Erfahrung vermitteln, dass zwischen moralischer Anstrengung und glücklichem Leben eine enge Korrespondenz besteht. Der Gedanke, dass mit den so offensichtlich ungerechten Zuständen auf dieser Welt das letzte Wort gesprochen sein könnte, war und ist jedoch offenbar so unerträglich, dass ein nicht geringer Teil der intellektuellen Anstrengungen, die Menschen auf die Deutung und Sinngebung von Dasein und Welt verwendet haben, darin besteht, zu zeigen, dass letztlich doch die Gerechtigkeit triumphiere. Es sind zunächst die Religionen, die uns versichern, dass höhere Mächte, ein Gott oder die Götter, für Ausgleich sorgen. Dazu müssen die religiösen Lehren allerdings zu allerlei Hilfskonstruktionen Zuflucht nehmen.9 Die schlichte Gleichung, wonach jedes positive Widerfahrnis als Belohnung und jedes negative als Bestrafung anzusehen ist, wird zwar durch die Erfahrung häufig genug widerlegt, hat aber ihren Ort in unserem Gefühlshaushalt noch immer, wie sich insbesondere in der noch zu erörternden sogenannten Gerechten Welt-Hypothese zeigt. Weniger angreifbar, weil durch den Augenschein nicht zu widerlegen, ist es, wenn Belohnung und Strafe ins Jenseits verlagert werden oder wenn in der Lehre von der Seelenwanderung das gegenwärtige Leben als Ergebnis der guten und schlechten Taten eines vorangegangenen gedeutet wird. Immer bleibt aber das Problem der so genannten Theodizee, der Frage also, wie sich die Vorstellung eines allmächtigen, allwissenden und zugleich guten und gerechten Gottes mit der Unvollkommenheit der von ihm geschaffenen Welt vereinbaren lässt.10
8 Zu den frühen Zeugnissen diese Sehnsucht vgl. etwa J. Assmann, Ma´at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, 2. Aufl. 2006; ders./B. Janowski/M. Welker, Richten und Retten. Zur Aktualität der altorientalischen und biblischen Gerechtigkeitskonzeption, in: dies. (Hrsg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, 1998, S. 9f. 9 Zur Entwicklung und den Erscheinungsformen religiöser Vorstellungen von Ausgleich und Strafe vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1980, S. 314ff. 10 Zum Umgang der Religionen mit dem Theodizee-Problem vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 10), S. 314ff.; zur philosophischen Auseinandersetzung damit S. Lorenz, Theodizee, Hist. Wörterbuch d. Philosophie, Bd. 10, 1998, Sp. 1066.
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Der früheste uns im Wortlaut überlieferte philosophische Text, zugleich der früheste uns bekannte griechische Prosatext, ein Fragment aus dem sechsten Jahrhundert v. Chr., erhebt den gerechten Ausgleich sogar zum allgemeinen Prinzip der Ordnung des Weltganzen. Es stammt von Anaximander von Milet, einem Schüler des Thales, und lautet:11 „Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit [nach der Notwendigkeit];12 denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Ordnung.“.13 Das klingt zunächst sehr dunkel und hat vielerlei mystifizierende Ausdeutung erfahren, meint aber wohl Folgendes:14 Jedes Werden führt dazu, dass anderes in seinen Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt oder sogar in seiner Existenz verdrängt, vernichtet wird oder erst gar nicht zur Entstehung kommt. Alles, was ist, vor allem was lebt, breitet sich auf Kosten von anderem Seiendem aus; darin liegt die Ungerechtigkeit, die es begeht. Für diese Ungerechtigkeit muss es Strafe zahlen, die in seinem Vergehen, seinem Untergang besteht. Der Ausgleich geschieht durch die Zeit, die die Dauer von Werden und Vergehen festsetzt. Anaximander geht es offenbar darum, verständlich zu machen, wie die Welt trotz eines fortwährenden Veränderungsprozesses als Ganzes stabil bleibt. Dies geschieht durch Übertragung ethisch-rechtlicher Ordnungsvorstellungen auf die Natur, das Ganze des Seienden, das denn auch wenig später den Namen Kosmos – Wohlgeordnetheit – erhalten und dann als normative Forderung auf die menschlichen Verhältnisse zurückprojiziert wird.15 Die Wirklichkeit bekommt bei Anaximander den Charakter einer Rechtsordnung,16 aber es sind nicht mehr die Götter, die für Gerechtigkeit 11 H. Diels/W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 17. Aufl. 1974 (unveränderter Nachdr. der 6. Aufl. 1951), S. 89, 12 B 1. 12 So die Übersetzung z.B. von W. Nestle, Die Vorsokratiker, o. J. (1956), S. 97, und H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluss, 1987, S. 133. Das griechische IJȩ ȤȡİܣȞ (to chreon) enthält beide Bedeutungen. Für „Schuldigkeit“ im Sinne von „verpflichtet sein“ spricht der Zusammenhang mit Strafe und Buße, für „Notwendigkeit“ der Bezug auf die Zeit als Unentrinnbarkeit des Vergehens. Ein griechisches Ohr wird immer beides gehört haben. 13 Das griechische IJȐȟȚȢ (taxis) ist die Ordnung, die durch Aufstellung (etwa einer Schlachtreihe) entsteht und daher auch die Anordnung, Festsetzung, Regelung (alle aufgeführten Varianten finden sich als Übersetzung der Textstelle), die zu dieser Ordnung führt. W. Jaeger, Paideia I, 2. Aufl. 1936, S. 217, übersetzt sogar mit „Richterspruch der Zeit“. 14 Die folgende Darstellung stützt sich auf die Interpretation von W. Jaeger, Paideia I (Fn. 14), S. 217ff., und W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 1978, S. 240ff. 15 Zum Verhältnis von Gerechtigkeit und kosmischer Ordnung in frühen Kulturen vgl. J. Assmann (Fn. 9), Ma´at, S. 24 ff. 16 W. Jaeger, Paideia I (Fn. 14), S. 219, spricht davon, dass der Kosmos in dieser Sicht „eine Rechtsgemeinschaft der Dinge“ sei.
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und Ausgleich sorgen, der Schritt zu einer rationaleren Welterklärung liegt darin, dass es ein Prinzip ist, ein Gesetz, das die Welt im Gleichgewicht hält. Wird dieses Gleichgewicht durch ein Unrecht gestört, so wird es mit Notwendigkeit durch Strafe wieder ins Lot gebracht. Man hat in der Vorstellung eines Automatismus von Verbrechen und Strafe in Religion und Philosophie17 den Ursprung des Kausalitätsdenkens gesehen. Hans Kelsen, einer der bedeutendsten Rechtsdenker des 20. Jahrhunderts, ist diesem Zusammenhang in einem großen, allerdings wenig beachteten Werk mit dem Titel „Vergeltung und Kausalität“18 nachgegangen. Zwar wird die spätere Philosophie den Automatismus eines Unrechtsausgleichs immer mehr in Zweifel ziehen, aber Spuren davon finden sich selbst noch bei Kant, dem großen Aufklärer. Dessen Straftheorie mit ihrem bedingungslosen Festhalten an der Vergeltung um ihrer selbst willen und an der Talion, dem Auge um Auge, Zahn um Zahn als Strafmaßprinzip, lässt sich, trotz der beachtlichen Einwände, die er gegen General- und Spezialprävention vorbringt, eigentlich nur damit erklären, dass auch für ihn noch jedes Verbrechen eine Störung der Weltordnung ist, deren Gleichgewicht nur durch Strafe wiederhergestellt werden kann:19 Man denke nur an sein berühmtes Inselbeispiel.20 Mittlerweile befasst sich auch die Sozialpsychologie mit dem Thema Gerechtigkeit.21 Ihre Ergebnisse werden allerdings von Rechtswissenschaft 17 J. Assmann hat dafür den Begriff der „konnektiven Gerechtigkeit“ eingeführt, Ma´at (Fn. 9), S. 283 ff. 18 Zuletzt 1982 als Neudruck der Ausgabe von 1941, bezeichnenderweise in einer Reihe „Vergessene Denker – vergessene Werke“ und derzeit nicht lieferbar. Zu Anaximander vgl. dort S. 241f. 19 In Korrespondenz zur Hinwendung der neuzeitlichen Philosophie auf das Subjekt als Ort der Letztbegründung entspricht der objektiven Notwendigkeit, mit der in der Vorstellung von der konnektiven Gerechtigkeit die Strafe auf die Untat folgt, bei Kant die als kategorischer Imperativ verstandene Pflicht zu strafen (vgl. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, § 49 E, in: W. Weischedel (Hrsg.), I. Kant, Werke in 6 Bd., Bd. IV, 1963, S. 453). In der „Metaphysik der Sitten“ nimmt Kant keine Deduktion dieses kategorischen Imperativs vor, er lässt sich aber, wie G. Jakobs rekonstruiert hat, aus Kants Überlegungen zum Verhältnis von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit in der „Kritik der reinen Vernunft“ ableiten, wonach Glücksunwürdigkeit das Fehlen von Glückseligkeit zur Folge haben muss. G.Jacobs zeigt allerdings auch, dass diese Ableitung nicht zwingend ist, vgl. G.Jacobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 12ff. 20 I. Kant, Metaphysik der Sitten (Fn. 20), S. 455. 21 Vgl. die Überblicke über die Forschungsansätze und den Forschungsstand bei H.-W. Bierhoff, Sozialpsychologie, 6. Aufl. 2006, S. 141ff.; G. F. Müller/M. Hassebrauck, Gerechtigkeitstheorien, in: D. Frey/M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie, 2. Nachdruck 2001 der 2. Aufl. 1993, S. 217ff.; E. H. Witte, Lehrbuch Sozialpsychologie, 2. Aufl. 1994, S. 285ff.; K. F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 146ff. Vgl. ferner J. Maes/M. Schmitt, Ge-
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und Rechtsphilosophie kaum zur Kenntnis genommen,22 sieht man einmal von den Arbeiten von Piaget und Kohlberg ab, die eine gewisse Resonanz gefunden haben. Für unsere Fragestellung einschlägig sind in erster Linie die Untersuchungen des kanadischen Psychologen Melvin L. Lerner zur so genannten Gerechten Welt-Hypothese,23 die in Deutschland vor allem von Leo Montada und seiner Arbeitsgruppe aufgegriffen und weitergeführt worden sind und werden. Sie besagen, sehr vereinfacht, etwa Folgendes: Menschen haben ein starkes Bedürfnis zu glauben, dass sie in einer gerechten Welt leben, in der – jedenfalls im Großen und Ganzen – jeder bekommt, was er verdient, und jeder verdient, was er bekommt. Dieser Glaube hat eine wichtige Funktion, denn erst er ermöglicht es, Vertrauen zu anderen Menschen und zu gesellschaftlichen Institutionen aufzubauen, sich längerfristige Ziele zu setzen, d. h. anzunehmen, dass unsere Handlungen voraussehbare Folgen haben, dass Investitionen sich lohnen, deren Erfolg nicht sofort eintritt. Müsste man ständig damit rechnen, dass unkalkulierbare ungerechte Ereignisse die eigenen Anstrengungen zunichte machen, wären viele Aktivitäten sinnlos und Investitionen in die Zukunft unterblieben.24 Da der Glaube an eine gerechte Welt für das innere Gleichgewicht eine so große Rolle spielt, werden Ungerechtigkeitserfahrungen so zu verarbeiten versucht, dass sie diesen Glauben nicht gefährden. Das führt zu einander entgegengesetzten Konsequenzen. Erleben wir, wie jemand Opfer einer Ungerechtigkeit wird, versuchen wir zunächst, ihm zu helfen und dadurch die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Gelingt das nicht oder ist es von vornherein aussichtslos, versuchen wir, die Situation so umzudefinieren, dass sie nicht mehr als eine der Ungerechtigkeit erscheint, oder wir verändern unser Urteil über die Opfer einer Ungerechtigkeit so, dass sie die Not-
rechtigkeit und Gerechtigkeitspsychologie, in: G. Sommer/A. Fuchs (Hrsg.) Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie, 2004, S. 182ff.; L. Montada/E. Kals, Mediation, 2. Aufl. 2007, S. 105ff. mit vielen direkten Bezugnahmen zu aktuellen Rechts- und rechtspolitischen Fragen. 22 Zu den Ausnahmen zählt K. F. Röhl. Vgl. insbesondere ders., Rechtssoziologie (Fn. 22), und ders., Die Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles (Fn. 6). 23 Grundlegend M .L. Lerner, The Belief in a Just World. A Fundamental Delusion, 1980. Einen Überblick über die Ausdifferenzierungen der „Gerechten Welthypothese“ und den Forschungsstand geben C. Dalbert, Über den Umgang mit Ungerechtigkeit, 1996, S. 11ff. und J. Maes, Eight Stages in the Development of Research on the Construct of Belief in a Just World, in L. Montada/M. J. Lerner, Responses to Victimizations and Belief in a Just World, 1998, S. 163ff. 24 Vgl. M. L. Lerner, The Belief in a Just World (Fn. 24), S. 11ff.; H.-W. Bierhoff, Sozialpsychologie (Fn. 22), S. 148; J.Maes/M. Schmitt, Gerechtigkeitspsychologie (Fn. 22), S. 186; C. Dalbert, Umgang mit Ungerechtigkeit (Fn. 24), S. 11f.
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situation selbst verschuldet oder sogar als Strafe verdient haben.25 Das macht vor der eigenen Person nicht halt. Manche Opfer einer unheilbaren Krankheit oder eines schweren Unfalls finden sich offenbar mit ihrem Schicksal leichter ab, wenn sie es als gerechte Strafe oder als selbstverschuldet interpretieren, da sie dann dem Geschehen wenigstens noch einen Sinn geben können.26 Der Glaube an eine gerechte Welt findet sich natürlich nicht überall in gleichem Maße. Offenbar ist er bei Menschen mit religiösen Bindungen oder einem konservativen Weltbild besonders stark ausgeprägt.27 Der Umgang mit Erfahrungen, die dem Glauben an eine gerechte Welt widersprechen, ist ein schönes Beispiel für die psychologische Theorie der kognitiven Dissonanz von Festinger, wonach Menschen Informationen, die nicht im Einklang miteinander stehen, die dissonant sind, zu harmonisieren versuchen, indem sie eine der beiden Informationen abwerten.28 Die sozialpsychologischen Erkenntnisse über die Gerechte Welt-Hypothese sollten auch Eingang finden in die methodische Selbstreflexion der Sozialarbeit. So sollten sich jede Sozialarbeiterin und jeder Sozialarbeiter fragen, inwieweit sich in ihrer Einstellung gegenüber einem Klienten Elemente der Gerechte Welt-Hypothese wiederfinden. Denn es ist naheliegend, dass die Motivation für einen Sozialarbeiter unterschiedlich ist, je nachdem, ob er das Unglück, die Notsituation des Klienten als verschuldet oder unverschuldet ansieht. Das Engagement wird dann geringer sein, wenn diese Situation als verschuldet angesehen wird, aber auch dann, wenn die Hilfsangebote nach einiger Zeit nicht wirken. In der Sozialarbeit muss man also darauf achten, dass man sich nicht zu früh resignativ mit der Feststellung begnügt: „Der Klient hat es nicht besser verdient.“ Das harsche Urteil des Philosophen Wolfgang Kersting, unsere Schicksalsrhetorik entlarve uns als Moralromantiker und Gerechtigkeitsmetaphy25 Vgl. M. L. Lerner, The Belief in a Just World (Fn. 24), S. 39ff.; H.-W. Bierhoff, Sozialpsychologie (Fn. 22), S. 149ff.; J.Maes/M. Schmitt, Gerechtigkeitspsychologie (Fn. 22), S. 186ff.; C. Dalbert, Umgang mit Ungerechtigkeit (Fn. 24), S. 14ff.; L. Montada, Voreingenommenheiten im Urteilen über Schuld und Verantwortlichkeit, in: L. Montada/K. Reusser/G. Steiner (Hrsg.), Kognition und Handeln, 1983, S. 156ff., 161. 26 Vgl. C. Dalbert, Umgang mit Ungerechtigkeit (Fn. 24), S. 71ff.; H.-W. Bierhoff, Sozialpsychologie (Fn. 22), S. 155; E. H. Witte, Sozialpsychologie (Fn. 22), S. 296; R. J. Bulman/C. B. Wortman, Attributions of Blame and Coping in the „Real World”: Severe Accident Victims React to Their Lot, Journal of Personality and Social Psychology 1977, Vol. 35, 351ff. 27 Vgl. Z. Rubin/L.A. Peplau, Who beleaves in a just world, Journal of Social Issues Vol. 31, 1975, S.65ff, zitiert nach C. Andre/M. Velasquez, The Just World Theory, Issues in Ethics, V.3 N.2 Spring 1990. Zu kulturspezifischen Ausprägungsunterschieden der Gerechten-WeltHypothese vgl. C. Dalbert, Umgang mit Ungerechtigkeit (Fn. 24), S. 53ff.; H.-W. Bierhoff, Sozialpsychologie (Fn. 22), S. 154. 28 L. Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz, 1978.
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siker, entbehrt zwar nicht einer gewissen Berechtigung,29 unterschlägt aber das – wie wir gesehen haben durchaus funktionale – anthropologische Bedürfnis, das sich darin widerspiegelt. Was hat dieser Exkurs für die Ausgangsfrage erbracht? Wenn ein schlimmes Ereignis nicht neutral als Unglück, sondern als Ungerechtigkeit bewertet wird, dann kann man das zu dem gerade Dargestellten auf zweierlei Weise in Bezug setzen: 1.
Es wird damit implizit die Frage der Theodizee gestellt, denn es wird ja unterstellt, dass das Ereignis nicht blinder Zufall, sondern Zuteilung durch ein wie immer geartetes höheres Wesen ist, und es wird angeklagt, dass diese Zuteilung ungerecht ist.
2.
Es wird der Glaube an die gerechte Welt infrage gestellt, indem die Interpretation verweigert wird, das Opfer habe sein Schicksal verdient oder es sei gar kein so schlimmes Schicksal.
Einen letzten Aspekt möchte ich noch kurz anschneiden: Wir haben gesehen, dass man Schicksalsschläge, aber auch naturgegebene Benachteiligungen, wie etwa eine schon von Geburt an bestehende Behinderung, korrekterweise nicht als ungerecht bezeichnen kann, aber es stellt sich immer die Frage, ob es nicht eine Forderung der Gerechtigkeit ist, einen Ausgleich dafür zu gewähren, falls und soweit dies überhaupt möglich ist. Ich darf an das Beispiel des Legasthenikers erinnern, wo es sicherlich möglich ist, Lernbedingungen zu schaffen, die auch Legasthenikern die Erlangung des Abiturs ermöglichen, und dies ist zweifellos eine Forderung der Chancengleichheit. Man denke weiterhin etwa an staatliche Hilfen nach Naturkatastrophen. Allerdings sollte man dabei immer auch unterscheiden: Was lässt sich wirklich aus Prinzipien der Gerechtigkeit ableiten und was gehört in den Bereich der sozialstaatlichen Solidarität oder der privaten Mitmenschlichkeit?
III. Unrecht wohl – aber auch Ungerechtigkeit? Sehen wir uns die folgenden Aussagen über Ungerechtigkeitserfahrungen an: Fall 1: Als ich vor einigen Jahren von einigen Rechtsradikalen tätlich angegriffen wurde, empfand ich dies als höchst diskriminierend und ungerecht.
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W. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit (Fn. 8), S.17.
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Fall 2: Mein Fahrrad wurde ohne ersichtlichen Grund in meiner Abwesenheit kaputt gemacht. War ja vielleicht nicht gegen meine Person gerichtet, aber ich fand das gemein. Fall 3: Wir haben in unserer ehemaligen WG einen Menschen zu uns geholt, dem wir nach seiner Scheidung geholfen haben, ein neues Leben anzufangen. Zum Dank gab er unser Telefon-, Miet- und Stromgehalt für eigene Gelüste aus, welches ihm die Wohngemeinschaft anvertraut hatte. Fall 4: Unterlassene Hilfeleistung meines damaligen Arztes, nach einer nicht ordnungsgemäß durchgeführten OP an mir, was mich fast das Leben gekostet hätte. Fall 5: Bei mir wurde aufgrund einer falschen, zu schnell erstellten und höchst oberflächlichen Diagnose eine Knieoperation durchgeführt, die nicht erforderlich war. In Wahrheit war die Ursache der Beschwerden ein Bandscheibenvorfall im Lendenwirbelbereich, wie ein zweiter Arzt feststellte. (Bis hierhin habe ich die sehr detaillierte Darstellung der betroffenen Studentin etwas zusammengefasst, das Folgende ist wieder eine wörtliche Übernahme): Das Ungerechte an meinem Erlebnis war besonders die für mich unmenschliche Behandlung des ersten Arztes. Da ich Vertrauen zu ihm hatte, habe ich der falschen Diagnose Glauben geschenkt. Nach dem Eingriff hatte er mir weiter zu verstehen gegeben, dass der Eingriff nötig gewesen wäre. Ich empfinde es weiter als ungerecht, dass ich mich nicht gegen ihn wehren konnte. In den drei ersten Fällen handelt es sich um Straftaten, offenbar um Körperverletzung und Beleidigung im ersten, und, falls es sich um eine vorsätzliche Tat handelt, um Sachbeschädigung im zweiten. Die Verwendung des anvertrauten Geldes für eigene Zwecke war eine Unterschlagung oder eine Untreue, das lässt sich anhand des ungenauen Sachverhalts nicht entscheiden. Falls die Ärzte in den Fällen 4 und 5 fahrlässig Kunstfehler begangen haben, dann haben sie sich einer fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht, außerdem einer Vertragsverletzung und einer so genannten unerlaubten Handlung im Sinne des § 823 BGB, was jeweils Schadensersatzansprüchen zur Folge hat. Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung ergeben sich auch in den drei ersten Fällen. Es handelt sich also in allen diesen Fällen sowohl um strafrechtlich als auch zivilrechtlich relevantes Unrecht, aber ist damit auch eine Ungerechtigkeit gegeben? Allgemeiner gefragt: Ist jedes Unrecht auch eine Ungerechtigkeit?
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Befragen wir zunächst den Sprachgebrauch. Wer einen Menschen umbringt oder ein Kind missbraucht, dem werfen wir zwar vor, er habe ein schlimmes Unrecht getan, aber wir sagen nicht, er sei gegenüber seinem Opfer ungerecht gewesen.30 Noch deutlicher wird dies bei Fahrlässigkeitstaten. Niemand hält einem, der durch einen fahrlässigen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung einen Schaden verursacht hat, vor, er habe, ungerecht gehandelt, wohl aber, dass sein Verhalten rechtswidrig war, dass er also Unrecht verwirklicht hat. Warum ist das so? Wenn die aristotelische Morphologie der Gerechtigkeit zutrifft und vollständig ist, dann bezieht sich gerechtes und damit auch ungerechtes Handeln entweder auf die Verteilung von Vorteilen und Lasten oder auf die Herstellung eines Ausgleichs bei Schädigungen. Ungerecht handelt also, wer eine ungerechte Verteilung vornimmt oder wer, als wie auch immer dazu Berufener, eine ungerechte Strafe verhängt, den Schadensersatz ungerecht bestimmt usw. Wer aber einem anderen durch eine Straftat oder sonstwie einen Schaden zufügt, der verteilt nichts, und er legt auch keinen Ausgleich fest für Schädigungen, die andere erlitten haben. Er befindet sich also nicht funktionell in der Situation eines Richters, was wir bereits als Voraussetzung dafür kennen gelernt haben, dass man ein Verhalten sinnvoll als gerecht oder ungerecht bezeichnen kann. Vielmehr schafft derjenige, der andere schädigt, erst die Situation, in der das Eingreifen der ausgleichenden Gerechtigkeit notwendig wird. Umgekehrt ist nicht schon derjenige, der sich an die Gesetze hält, der also kein Unrecht begeht, allein deshalb ein Gerechter. Diese Differenzierung kommt sehr schön in der Trias der bürgerlichen Rechtschaffenheit, wie ich das einmal nennen möchte, zum Ausdruck, die der römische Jurist Ulpian aufgestellt hat, nämlich31 „honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“, also ehrenhaft leben, den anderen nicht verletzten und jedem das Seine zuteilen. Andere nicht zu schädigen, genügt eben nicht, sondern die Gerechtigkeit wird erst dort gefordert, wo es um das Zuteilen geht. Aus dem „bloßen Unrecht“ wird aber auf einer nächsten Stufe dann eine Ungerechtigkeit, wenn die Rechtsordnung, sei es wegen ihrer generellen Verfasstheit, sei es durch rechtswidrige Untätigkeit oder durch falsche Entscheidungen der Justizorgane nicht für einen Ausgleich, für Wiedergutmachung, Schadensersatz, Strafe usw. sorgt. Das spiegelt sich etwa in der Redewendung: „Es ist ungerecht, wenn er damit durchkommt.“
30 Vgl. P. Koller, Zur Semantik der Gerechtigkeit, in: ders. (Hrsg.), Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart, 2001, S. 23. 31 Dig I,10.
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Es ist auffällig, dass von den Studierenden, die rechtlich relevantes Unrecht erfahren haben (also Straftaten, unerlaubte Handlung, Vertragsverletzungen usw.), nur eine angibt, dass sie versucht hat, ihr Recht auf dem Rechtsweg durchzusetzen, also Gerechtigkeit auf dem Rechtsweg zu suchen, und dann auch noch davon berichtet, vor Gericht gescheitert zu sein. Hätten die Studierenden die hier getroffene Unterscheidung zwischen bloßem Unrecht und Ungerechtigkeit ebenfalls gemacht, so wäre allerdings ein großer Teil der von ihnen berichteten Fälle weggefallen. Das wäre schon wegen der darin enthaltenen Informationen über ihrer Lebenswelt und ihre subjektiven Einschätzungen sehr bedauerlich gewesen. Dennoch bleibt die Frage, wenn die gerade getroffene Unterscheidung berechtigt und sinnvoll ist, warum sie offenbar im Bewusstsein der meisten Menschen nicht verbreitet ist. Zunächst: Bei jeder Schädigung, die sich als Unrecht, aber nicht als Ungerechtigkeit darstellt, lässt sich natürlich die Frage stellen: „Warum trifft es gerade mich?“ und es ist die mit dieser Frage unterstellte zuteilende höhere Macht, die als ungerecht empfunden wird. Wichtiger ist: Die Empörung über eine widerfahrene Ungerechtigkeit und ein widerfahrenes Unrecht ist gleichartig. Unsere gefühlsmäßige Reaktion unterscheidet also nicht zwischen Ungerechtigkeit und Unrecht. Darüber hinaus befinden sich die Studierenden mit ihrer Gleichsetzung von Unrecht und Ungerechtigkeit in guter Gesellschaft. So unterscheidet Aristoteles zwischen allgemeiner und spezieller Gerechtigkeit. Nach dem Begriff der allgemeinen Gerechtigkeit handelt man gerecht, wenn man sich an die Gesetze hält, und ungerecht, wenn man einem Gesetz zuwiderhandelt.32 Geschichtlich wirksam geworden ist allerdings nur der Begriff der speziellen Gerechtigkeit mit seiner Unterteilung in austeilende und ausgleichenden Gerechtigkeit, auf die wir bereits mehrfach eingegangen sind. Und John Stewart Mill, der Begründer des ethischen Utilitarismus, zählt bei seiner Analyse dessen, was „ungerecht“ genannt wird, auch auf: willkürliche Eingriffe in die gesetzlich verbürgten Rechte anderer Personen,33 also etwa Straftaten, sowie die Nichteinhaltung von Versprechen und daraus entstandenen Verpflichtungen,34 also etwa Vertragsverletzungen.
32 Nikomachische Ethik (Fn. 3), V, 1129 b 11ff. Dass gerechtes Handeln mit Gesetzesgehorsam gleichzusetzen sei, war im Griechenland des vierten und fünften Jahrhunderts allgemeine Auffassung, vgl. W. Jaeger, Paideia I (Fn. 14), S. 149 Fn. 1 mit Nchw.; J. Triantaphyllopoulos, Das Rechtsdenken der Griechen, 1985, S.11f. Dazu, dass Aristoteles sich durchaus bewusst ist, dass Gesetze nicht immer gerecht sind, G. Bien, Gerechtigkeit bei Aristoteles (Fn. 6), S. 140 ff.; U. Wolf, »Nikomachische Ethik« (Fn. 6), S. 98 f. 33 J. St. Mill, Utilitarianism (Fn. 3), S. 129 f. 34 a.a.O., S. 135 f.
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IV. Ungerechtigkeiten, die kein Unrecht sind – unzutreffende Vorwürfe Auch das Umgekehrte gilt: Es gibt Ungerechtigkeiten, die kein Unrecht sind. Fall 1: a) Als mich jemand aus der Familie für Dinge verantwortlich machte, für die ich nicht verantwortlich war. b) Als mir Dinge von meiner besten Freundin unterstellt worden sind, die ich nicht zu verantworten hatte. c) Für einen Fehler beschuldigt zu werden, den man nicht begangen hatte! z.B. im Beruf. Fall 2: Als ich einen Streit schlichten wollte und mir später anhören musste, dass ich alles noch schlimmer gemacht hätte. Fall 3: Als Mutti, als sie das letzte Mal zu Besuch war, am 2. Tag meine Fenster geputzt hat. Fall 4: Die Unterstellung eines Arztes, ich hätte Drogen genommen, weil es in das Krankheitsbild einer Bauchspeicheldrüsenentzündung passte. Fall 5: Als mich mein Chef ohne sachlichen Grund als pädagogische Null bezeichnete. Fall 6: Als mir unterstellt wurde, dass ich nicht kompetent genug wäre als Informationsfachkraft im Baumarkt, da ich ja nur eine Aushilfe wäre, obwohl ich seit 4 Jahren dort tätig bin und mehr weiß als manch eine Vollzeitkraft. Fall 7: Während meines einjährigen Praktikums im Krankenhaus habe ich unentgeltlich gearbeitet. Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben, alles korrekt zu erledigen. Doch die Stationsschwester hat alles kritisiert, mich vor anderen bloßgestellt und meine niedrige Position als Praktikantin schamlos ausgenutzt. Wenn die Darstellung der Studierenden zutrifft, die Vorwürfe also unberechtigt sind, dann handelt es sich zwar um Ungerechtigkeiten, aber, soweit nicht die Grenze zur Beleidigung überschritten wird, nicht um Unrecht, weil keine Rechtsnorm damit verletzt wird. Wer einen Vorwurf erhebt, begibt sich damit in eine Richterposition, indem er einen Verstoß gegen eine – in unseren Fällen zumeist informelle – Norm behauptet, etwa: Der Sauberkeitszustand der Fenster entspricht nicht den Anforderungen, die an eine gute Hausfrau zu stellen sind. Zugleich enthalten die meisten Vorwürfe
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auch eine negative Sanktion in Form einer sozialen Abwertung der Person des anderen. Es trifft schon hart genug, wenn praktische oder intellektuelle Fähigkeiten abgesprochen werden. Der Vorwurf kann aber auch auf die Ehre und auf den Achtungsanspruch des Betroffenen, auf seinen innersten Persönlichkeitskern zielen, kann er doch die Aussage enthalten, der andere sei kein guter Freund, kein gutes Familienmitglied, kein gutes Gruppenmitglied, kein guter Bürger usw. Das erklärt, warum die Abwehr eines als ungerecht empfundenen Vorwurfs heftiger, die Empörung darüber größer sein kann als die über solche Ungerechtigkeiten, aufgrund derer uns materielle Güter vorenthalten werden. Trifft es zu, dass man die wiedergegebenen Vorwürfe als Sanktionen gegen Normverletzungen ansehen kann, dann befinden wir uns damit im Bereich der ausgleichenden Gerechtigkeit, was zunächst etwas befremdlich erscheinen mag. Ist der Vorwurf unbegründet, dann haben wir eine Sanktion, der keine Tat entspricht; es gibt für die in Anspruch genommene ausgleichende Gerechtigkeit nichts, was ausgeglichen werden müsste. Die beiden letzten Fallgruppen haben uns gezeigt, dass es sowohl Unrecht gibt, dass keine Ungerechtigkeit ist, als auch Ungerechtigkeiten, die nicht zugleich Unrecht sind, Unrecht dabei immer verstanden als Verstoß gegen Normen der Rechtsordnung. Unrecht und Ungerechtigkeit stehen, bildlich gesprochen, im Verhältnis zweier sich überschneidender, aber sich nicht deckender Kreise.
V. Un|gerechtigkeitsfahrungen im Studium Hier zunächst ein charakteristisches Beispiel: [Sc. Besonders ungerecht fand ich], dass ich mir mein Studium selbst finanzieren muss und mir seitens der Prüfungsordnung Steine in den Weg gelegt worden sind, so dass sich mein Studium evtl. um ein Semester verlängert. Obwohl ich das Praxissemester erst im 5. Semester absolviert habe, hätte ich im 4. Semester gerne Prüfungen gemacht, da ich schon nach dem 3. Semester fertig mit dem Grundstudium war. Nun ist es aber erlaubt (demnach ist also alles möglich, wenn man nur dafür kämpft). Hierin spiegelt sich ein Stück Alltag des Prüfungsausschusses: ein Antrag auf eine Ausnahmeregelung. Der Sachverhalt ist zwar nicht ganz klar, aber es geht wohl um Folgendes: Studien- und Prüfungsordnung unterstellen, dass das Hauptstudium nur sinnvoll absolviert werden kann, wenn man über die Erfahrungen des Praxissemesters verfügt. Dessen Ableistung ist daher generell Voraussetzung für die Zulassung zu den Prüfungen des Hauptstudiums. Das kann im Einzelfall zu Härten für die Studierenden führen. Hier ist – gerechtigkeitstheoretisch gesprochen – das Feld der Billigkeit. Darun-
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ter ist zu verstehen, dass eine an sich gerechte allgemeine Regelung den Besonderheiten des Einzelfalles nicht immer entspricht und die Gerechtigkeit daher eine Anpassung an die besonderen Umstände des Einzelfalles, eben eine Ausnahme, verlangt. Max Ernst Meyer hat das damit verbundene Problem überspitzt auf die Formel gebracht: „Wer aber Normen sät, kann keine Gerechtigkeit ernten.“35 Für Aristoteles, der auch hier wieder die Sache als erster auf den Begriff gebracht hat, war klar, dass die Billigkeit grundsätzlich Vorrang haben sollte.36 Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Dem Ansinnen nach Berücksichtigung besonderer Umstände des Einzelfalles können andere Interessen entgegenstehen, die möglicherweise schwerer wiegen. Da ist zunächst einmal die Rechtssicherheit. Je größer der Freiraum zur Abweichung von der allgemeinen Regel für den Rechtsanwender ist, desto unkalkulierbarer werden die Entscheidungen und desto größer ist die Gefahr von Willkür. Hinzu kommt auch die Angst vor dem berühmten Präzedenzfall. Wenn alle ihre Ausnahme verlangen, kann dies, gerade beim Prüfungsbetrieb, zu einer völligen Überforderung der Organisation führen und diese irgendwann völlig lahm legen. Das ist der ernstzunehmende Kern, der hinter dem ja oft durchaus berechtigten Vorwurf steckt, die Verwaltung arbeite nach den arroganten Prinzipien: „Da könnte ja jeder kommen“ und „Wo kämen wir denn da hin“. Moderne Rechtsordnungen versuchen allerdings, durch unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln sowie dadurch, dass sie dem Richter die Befugnis zur partiellen Ergänzung des Rechts geben, die Normen so flexibel zu halten, dass ein angemessenes Ergebnis, das den Erfordernissen der Billigkeit entspricht, bereits durch Auslegung der Normen zu erreichen ist. Die Auswirkungen auf die Rechtssicherheit sind allerdings häufig durchaus problematisch. Bemerkenswert ist, dass die Studierenden überwiegend die Bedeutung von „billig“ und „Billigkeit“ im Zusammenhang mit Gerechtigkeit nicht kennen. „Das ist nur recht und billig“ scheint nicht mehr zu ihrem Sprachschatz zu gehören, auch wenn sie durchaus in der Lage sind, dass damit Gemeinte zu fordern. Häufig moniert werden: Nichtanerkennung von Studien- bzw. Prüfungsleistungen, die an anderen Hochschulen bzw. Fachbereichen erbracht worden sind. das Verfahren der Zulassung zu Seminaren mit beschränkter Teilnehmerzahl die BAföG-Regelungen und das Zuteilungsverfahren der ZVS Studiengebühren werden grundsätzlich als ungerecht eingeschätzt. 35 Rechtsphilosophie, 1922, S. 79 ff., zitiert nach R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2007, S. 129. 36 Nikomachische Ethik (Fn. 3), V, 14 1137 a, 31 ff.
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Gerügt wird häufig auch, dass falsche Auskünfte der Hochschulverwaltung zu Fristversäumnis und anderen Nachteilen geführt hätten. Anhand der Angaben lässt sich allerdings nicht überprüfen, ob die Studierenden sich wirklich an der richtigen Stelle informiert hatten und davon ausgehen konnten, eine zuverlässige Information erhalten zu haben. Insbesondere gehört der Blick in die Studien- bzw. Prüfungsordnung überwiegend nicht zu den Methoden studentischer Informationsgewinnung. Dieses Kapitel beschließen möchte ich mit der beherzigenswerten Beschwerde eines Studierenden: Sein Referat habe nicht die volle Wirkung entfalten können und sei daher nicht angemessen bewertet worden, weil ihn der Professor ständig unterbrochen und die Diskussion auf andere Bereiche gelenkt habe, auf die er nicht vorbereitet gewesen sei.
VI. Gerechtigkeit als Tugend – Gerechtigkeit und Glück „Ich habe einen Job bekommen, obwohl ich unqualifizierter als meine Konkurrenz war.“ Eine solche Antwort, dass sich nämlich von den Befragten jemand als ungerecht behandelt bezeichnet, nicht weil ihm etwas vorenthalten wurde, sondern weil ihm etwas zugute kam, das ist nur einmal vorgekommen. Wer bereit ist, auch in einem ihm gewährten Vorteil eine Ungerechtigkeit zu sehen, der legt damit etwas von dem an den Tag, was die Tugend der Gerechtigkeit ausmacht. Ich möchte das zum Anlass nehmen, auf Gerechtigkeit als Tugend und die unterschiedliche Rolle, die diese Tugend in antiken und modernen Gerechtigkeitsvorstellungen spielt, kurz einzugehen und ebenso auf das damit eng zusammenhängende Verhältnis von Gerechtigkeit und Glück. Für die antike Philosophie bestand ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Glück. Denn Glück im Sinne eines erfüllten, gelingenden Lebens wird verstanden als ein Zustand innerer Harmonie, der allein durch beständiges Ausüben der Tugenden, an erster Stelle der Gerechtigkeit, die als vollkommenste, weil alle anderen enthaltende Tugend37 gilt, zu erreichen ist.38 In der Moderne, insbesondere in der Epoche des Sozialstaats, besteht das der Gerechtigkeit inhärente Glücksversprechen darin, dass man einen ge-
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Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 3), V 1129b 29f. Vgl. dazu K. Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein, 2004, S. 178ff.; ders., Antike und moderne Ethik, Ztschr. f. phil. Forschung 59 (2005), S.114ff.; E. Tugendhat, Probleme der Ethik, 1984, S. 43 ff. 38
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rechten Anteil an den Gütern der Welt hat, dass eine gerechte Ordnung Daseinsvorsorge leistet und die Risiken des Lebens abfedert. Überspitzt und vereinfacht kann man das so zusammenfassen: Nach den Vorstellungen der Antike verhilft die Gerechtigkeit zum Glück, indem man sie übt, in der Moderne, indem man sie einfordert.39 Wiederum überspitzt kann man sagen: In der Moderne wird die Tugend der Gerechtigkeit durch Institutionen abgelöst.40 Die antike Ethik richtete sich insbesondere an die Eliten. Dem Missbrauch von Macht sollte durch die verinnerlichte und als Haltung verfestigte Tugend der Gerechtigkeit vorgebeugt werden. Diesen Weg schlagen noch die Fürstenspiegel des Mittelalters und der frühen Neuzeit ein. Dass das häufig nicht erfolgreich war, ist bekannt. Im modernen demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat sollen dagegen Institutionen dafür sorgen, dass die Mächtigen nicht zu mächtig werden und dass sie nicht dauerhaft mächtig bleiben. Am ehesten ist die Tugend der Gerechtigkeit noch bei den Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften gefragt. Darauf allein verlässt sich der moderne Verfassungsstaat jedoch nicht: Die Gerechtigkeit gesetzgeberischer Entscheidungen soll durch den öffentlichen Diskussionsprozess, der ihnen vorangeht oder der sie begleitet, und durch die öffentliche Auseinandersetzung im parlamentarischen Verfahren gesichert werden. Ausreißer sollen durch die verfassungsrechtlichen Grenzen der Gesetzgebung verhindert bzw. durch die Verfassungsgerichtsbarkeit korrigiert werden. Die gerechte Einzelfallentscheidung soll sich im gewaltenteilenden Rechtsstaat der Konzeption nach aus der Gesetzesbindung des Rechtsanwenders, aus der korrekten Anwendung der Gesetze, und das heißt vor allem aus einem intellektuellen Erkenntnisakt und nicht durch Übung einer Tugend ergeben. Dies ist der Sinn der Rede vom Richter als dem Mund des Gesetzes.41 Situationen, in denen es der Fähigkeiten eines salomonischen Richters bedarf, soll es im alles vorweg regelnden Gesetzesstaat möglichst nicht mehr geben. Das ist allerdings ein Idealbild oder aus anderer Sicht auch ein Schreckensbild.42 Auf die damit verbundenen rechtsmethodischen
39 Zum unterschiedlichen Verständnis von Gerechtigkeit in Antike und Neuzeit vgl. H. Niehues-Pröbsting, Das Seinige tun, in: H. Drerup/W. Fölling. (Hrsg.), Gleichheit und Gerechtigkeit. Pädagogische Revisionen, 2006, S. 13. 40 Zur vergleichbaren Entwicklung in Bezug auf die Tugend der Solidarität vgl. K .Bayertz, Staat und Solidarität, in: ders. (Hrsg.), Politik und Ethik, 1996, S. 305 ff., 318 ff. 41 Ch. de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, eingel., ausgew. u. übers. v. K. Weigand, 1965/1994, Buch XI, Kap. 6, S. 225. 42 Ein Schreckensbild ist es z. B. für G. Radbruch, der Montesquieus Richterbild als einseitig auf den Intellekt ausgerichtet, als „Subsumtionsapparat“ kritisiert und ihm die Richterideale
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Probleme kann ich hier nicht eingehen. Im Übrigen ist die Qualität moderner Gesetze leider oft nicht so, dass es genügt, sie nur zu exekutieren, um zu gerechten Entscheidungen zu gelangen. Und schließlich gilt auch hier die Feststellung von Ernst-Wolfgang Böckenförde, dass der Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.43 Zu diesen Voraussetzungen gehört auch die Tugend der Gerechtigkeit. Darüber hinaus bleibt der Tugend der Gerechtigkeit für den gesamten nicht rechtlich geregelten zwischenmenschlichen Bereich ein weites Anwendungsfeld: Die Beschwerden der Studierenden etwa über ungerechte Behandlung durch Eltern, über ungerechte Vorwürfe und Ähnliches bieten hierfür reichliches Anschauungsmaterial.
VII. Überblick über die Lebensbereiche der berichteten Ungerechtigkeiten Aus Raummangel konnte ich nur auf einen Bruchteil der Antworten der Studierenden eingehen. Ich möchte aber wenigstens noch kurz andeuten, auf welche Lebensbereiche sie sich hauptsächlich beziehen. Außerdem möchte ich dem Leser einige besonders amüsante Antworten nicht vorenthalten. Wie früh das Gefühl für Ungerechtigkeit entwickelt ist und wie lange die damit verbundenen Kränkungen nachwirken, zeigt sich daran, dass nicht wenige von Ereignissen im Kindergarten berichten. Ungerechte Behandlungen durch die Eltern werden freimütig geschildert: etwa Geschwister, die vorgezogen werden; Leistungen, die nicht anerkannt werden, oder die Verweigerung von Unterhaltszahlungen. Ohne schädliche Folgen dürfte dagegen geblieben sein, wenn berichtet wird: Ich durfte mit 8 Jahren nicht Moby Dick schauen, oder Dass ich mit 12 Jahren nicht den Film Robin Hood besuchen durfte. Meinen Eltern war dieser Film zu gewaltverherrlichend. In der Schule haben viele Ungerechtigkeitserfahrungen gemacht, was angesichts der ständigen Bewertungen, denen man dort ausgesetzt ist, nicht verwundern dürfte. Erstaunlich ist, was alles vom Sport berichtet wird. Auch im Amateursport scheinen Manipulationen von Spielergebnissen
der Voraufklärungszeit gegenüberstellt, die vom Richter den Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit gefordert hätten (Einführung in die Rechtswissenschaft, 12. Aufl. 1969, S. 166 ff.). 43 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders,. Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60, dort allerdings auf den „freiheitliche(n), säkularisierte(n) Staat“ als Ganzes bezogen.
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vorzukommen. Der Verbleib auf der Reservebank trotz großen Trainingsfleißes scheint besonders zu schmerzen. Auch die Fußballweltmeisterschaft hat ihre Spuren hinterlassen: Verpassen der Fußball-WM in Deutschland aufgrund eines Aufenthaltes in Island. Verpassen der tollen Stimmung und des heißen Sommers während der Fußball-WM. Dass Deutschland nicht Weltmeister geworden ist. Wir waren die Besten. Besonders häufig wird von Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz berichtet, von Mobbing, ungleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit und anderen Ungleichbehandlungen, Nichtanerkennung besonderer Leistungen und ungerechtfertigter Kritik. Studierende des Sozialwesens sind offensichtlich besonders häufig darauf angewiesen, neben dem Studium noch zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise zu finanzieren. Dies dürfte wegen der Studiengebühren und der geringeren Flexibilität des Studiums aufgrund des Bachelorsystems in Zukunft erheblich schwieriger werden. Dass Ungerechtigkeiten gelegentlich auch gute Folgen haben, zeigt folgendes Beispiel: Trotz Anstrengungen und unentgeltlicher Überstunden und Sonderaufträgen wurde jemand anderes für einen höheren Posten ausgewählt, obwohl diese Person nicht mehr Arbeit geleistet hatte. Das fand ich sehr ungerecht. Das war ausschlaggebend, noch mal zu studieren. Das doppelte Leiden durch die ungleiche Verteilung natürlicher Gaben und die diese noch verstärkende gesellschaftliche Diskriminierung dokumentieren folgende Aussagen: Dass manche dünnen Menschen keinen Respekt gegenüber fülligeren Menschen haben. Dass ich aufgrund meines Aussehens bei Bewerbungsgesprächen trotz eines sehr guten Zeugnisses aussortiert wurde. Weitere Bereiche sind: Beziehungsprobleme, Beschwerden von Alleinerziehenden über ungleiche Lastenverteilung und Unterhaltsprobleme, ungerechte Behandlung bei Verkehrsverstößen und im Zusammenhang mit dem Semesterticket. Beschließen möchte ich diese Übersicht mit den beiden folgenden Antworten: Mich permanent dafür rechtfertigen zu müssen, berufstätige Mutter zu sein und wegen evtl. kranker Kinder nicht jederzeit einsatzbereit zu sein – einem Mann wird eine solche Frage nicht gestellt!
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Darin liegt ein wichtiger Hinweis für Familiepolitiker: Krippenplätze allein tun es nicht. Zum Grübeln kann einen schließlich bringen, wenn die größte Ungerechtigkeit darin gesehen wird, dass Menschen ein Bewusstsein haben.
VIII. Schlussbemerkung Für die Praxis der Sozialarbeit ist es meines Erachtens unerlässlich, auf die Gerechtigkeitsvorstellungen der jeweiligen Klientel einzugehen, weil sich oft erst von dort die Motive für Handeln oder auch für Verweigerungshaltungen erschließen. Leo Montada und Elisabeth Kals merken in ihrem bemerkenswerten Lehrbuch der Mediation kritisch an:44 „Mediationsmodelle, die Konflikte nur als Interessenkonflikte konzipieren und erlebte Ungerechtigkeiten ausblenden, übersehen ein ganz wesentliches Moment der Konfliktdynamik“. Ganz allgemein lässt sich sagen: Will man etwas mehr darüber erfahren, was die Menschen in einer Gesellschaft bewegt, so erscheint mir der Ausbau der empirischen Gerechtigkeitsforschung unerlässlich. Dazu müssten sich Philosophen, Rechtswissenschaftler, Psychologen, Soziologen und Ökonomen zusammentun und gemeinsam dieses Forschungsfeld beackern,45 das zumindest den Philosophen und Juristen bisher eher fremd ist, wobei ich natürlich nicht verkennen will, dass die beiden letztgenannten keine empirischen Wissenschaften betreiben. Das Wissen über die in einer Gesellschaft bzw. in deren unterschiedlichen Schichten tatsächlich lebendigen Gerechtigkeitsvorstellungen könnte Anregungen geben für Politik und Gesetzgebung. Man würde aber auch genauer erfahren, wo es notwendig ist, durch Aufklärung gegenzusteuern. Wenn eine der Antworten auf die Frage nach der allgemein größten Ungerechtigkeit lautet: dass Menschen, die anderen Menschen Leid antun, aus „mangelnden“ Beweisen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, so versteht man zwar die Empörung darüber, dass so vieles Unrecht ungesühnt bleibt. Aber es gilt, für den Wert der Unschuldsvermutung zu streiten und für den Wert des rechtsstaatlichen Prinzips, dass nicht der Angeklagte seine Unschuld, sondern der Staat die Schuld des Angeklagten nachweisen muss. 44
L. Montada/E. Kals, Mediation, 1. Aufl. 2001, S. 99, vgl. auch 2. Aufl. 2007, S. 105. Vgl. dazu St. Liebig/H. Lengfeld, Interdisziplinäre Gerechtigkeitsforschung, 2002; L. Montada, Empirische Gerechtigkeitsforschung, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Berichte und Abhandlungen, Bd. 1, 1995, S. 67 ff. 45
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Man versteht auch nur allzu gut, was die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley meinte, wenn sie in Bezug auf die Wiedervereinigung beklagte: „Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen.“46 Aber man sollte nie vergessen, dass es gar nicht so wenig ist, was man mit dem Rechtsstaat bekommt, und dass ohne Rechtsstaat die Chancen für Gerechtigkeit schlecht stehen.
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Zitiert nach K. F. Röhl, Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles (Fn. 6), S. 54.
Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz KRISTIAN KÜHL
I. Zur Begründung der Themenwahl und -formulierung Während der Bestimmtheitsgrundsatz als Thema eines strafrechtlichen Festschriftbeitrags keiner Begründung bedarf – dass die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt sein muss, verlangt nicht nur das Strafgesetzbuch an herausgehobener Stelle in § 1, sondern auch die Verfassung in Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes –, erscheint die Einschränkung auf „Anmerkungen“ zu ihm begründungsbedürftig. Sie ist dem Grundsatz der Themenklarheit zu verdanken, dem sich der Verfasser verpflichtet fühlt, obwohl dieser noch keinesfalls zum allgemeinen Gewohnheitsrecht gehört. Klargestellt soll damit werden, dass es sich nicht um einen Festschriftbeitrag alten Stils handelt. Ein solch klassischer Festschriftbeitrag enthielt – zumindest im angestrebten Idealfall – eine seit Jahren erarbeitete, neue Sicht eines (strafrechtlichen) Problems, das nun zu passender Zeit und am richtigen Ort einer Festschrift zur Verfügung gestellt wurde. Über solche ausgereiften und zu Ende gedachten Beiträge verfügt der Verfasser dieses Festschriftbeitrages nicht oder genauer: nicht mehr. Da aber das Hervorheben und Überarbeiten alter ausgereifter Beiträge die Belastbarkeit der Leser überstrapaziert – dennoch wird es nicht selten praktiziert und es werden Reprisen in neuem Kostüm in Festschriften präsentiert, wodurch die Geduld des Kommentators, der sich vom neuen Kleid nicht blenden lässt, auf die Probe gestellt wird –, soll hier die Alternative eines unausgereiften Beitrags gewählt werden, der sich auf „Anmerkungen“ beschränkt. Dabei muss man den Begriff „Anmerkung“ nicht allzu negativ sehen. Als Kommentator ist man es gewohnt, Anmerkungen zu verfassen, die heute freilich meist von Randnoten oder Randzahlen überlagert sind. Die Kennzeichnung einer Äußerung als Anmerkung steht auch dem wissenschaftlichen Charakter der Äußerung nicht zwingend entgegen und selbst Originelles kann sich mal in eine Anmerkung „verirren“. Sind es – wie hier – mehrere Anmerkungen, so kann sich möglicherweise sogar eine neue Sicht auf das von den Anmerkungen ins Auge gefasste Problem ergeben; – was der Verfasser der hier vorgelegten Anmerkungen nicht vorab für diese in Anspruch nehmen möchte.
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Die Anmerkungen sind, was ihre Objektivität nicht einschränken muss, subjektiv veranlasst. Zum einem durch den Adressaten dieser Festschrift, der sich mit dem Bestimmtheitsgrundsatz mehrfach wissenschaftlich auseinandergesetzt hat; – zuletzt mit Blick auf die karge gesetzliche Regelung der Voraussetzungen einer Gleichstellung des Unterlassens mit einem aktiven Tun in § 13 StGB, der in eine Kritik am Bundesverfassungsgericht mündet.1 Um die Erwartungen des Festschriftadressaten an den folgenden Beitrag nicht zu hoch werden zu lassen, sei gleich eingangs gesagt, dass die Unterlassungsproblematik nicht eigens thematisiert wird, auch weil sich der Verfasser – wenn auch kurz und deshalb ausbaufähig – erst vor kurzem in einem Festschriftbeitrag zu „verfassungsrechtlichen Problemen der Unterlassungsdelikte“ geäußert hat.2 Subjektiv sind die folgenden „Anmerkungen“ aber vor allem hinsichtlich der Auswahl, die der Verfasser dieses Beitrags getroffen hat. Die „Anmerkungen“ gehen alle aus mehr oder minder zufälligen Begegnungen mit dem Bestimmtheitsgrundsatz hervor. In einer solchen Situation bietet der Festschriftbeitrag die Gelegenheit, die bei diesen zufälligen Begegnungen gemachten Erfahrungen und gewonnenen Einzelerkenntnisse in Ruhe noch einmal Revue passieren zu lassen; – natürlich in der Hoffnung auf zusätzliche Erkenntnisse, die sich bei einer Gesamtschau einstellen könnten. Die erste überraschende Begegnung in letzter Zeit war die sich turnusmäßig wiederholende Überarbeitung des „Lackner/Kühl“. In diesem StGBKommentar ist auch § 1 StGB und dabei auch der darin verankerte Bestimmtheitsgrundsatz zu erläutern. Während sich bei dieser Erläuterung lange nicht viel tat bzw. es wenig zu tun gab, was die letztlich maßgeblichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts betrifft, so war dieses Mal – bei der Vorbereitung der 26. Auflage 2007 – ein beträchtlicher Zuwachs an Entscheidungen dieses Gerichts zu vermerken,3 die es angebracht erscheinen lassen, danach zu fragen, ob sich in diesen Entscheidungen Veränderungen finden oder ob sich gar eine neue Linie erkennen lässt (dazu unter II.). Eine zweite bemerkenswerte und zugleich herausfordernde Begegnung mit dem Bestimmtheitsgrundsatz hat der Verfasser auf dem Gebiet der Kriminalpolitik gemacht, die in dem konkreten Fall zu einer neuen Strafvorschrift – § 238 StGB (Nachstellung) – geführt, die Bestimmtheitsproblematik aber nicht entschärft hat. Dennoch ist es eine interessante Erfahrung, wenn man sich in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren als Sachverständiger die Gedanken eines Gesetzgebers machen muss. Konkret 1
Seebode JZ 2004, 305 ff.; zuvor schon ders. in: Spendel-FS, 1992, S. 317 ff. Kühl Herzberg-FS, 2008, S. 177, 189 ff. 3 Vgl. Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 1 Rn. 2. 2
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war dabei zu überlegen, wie das vielgestaltige Phänomen „Stalking“ so in einer Strafvorschrift erfasst werden kann, dass diese den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 II GG bzw. des § 1 StGB entspricht. Die dabei auftretenden Schwierigkeiten machen einen „gnädiger“ in der Bewertung der dann erfolgten Entscheidung des Gesetzgebers. Das entbindet einen aber nicht von der Verpflichtung, diese Entscheidung in Gesetzesform daraufhin zu prüfen, ob sie dem Bestimmtheitsgrundsatz gerecht geworden ist (dazu unter III.). Eine dritte überraschende und emotional aufwühlende Begegnung machte der Strafrechtsdogmatiker bei dem Modethema „Rettungsfolter“ und Notwehr/Notstand. Was die Notwehr anbetrifft, verstand sich der Verfasser als kompetent, auch was die Gebotenheitsklausel des § 32 I StGB anbetrifft. Ihr sind zwar keine inhaltlichen Aussagen über die sog. „sozialethischen Einschränkungen“ der Notwehr zu entnehmen, so dass sich der Einwand fehlender gesetzlicher Bestimmtheit geradezu aufdrängt. Dennoch war der Verfasser dieses Festschriftbeitrags mit der herrschenden Meinung bisher der Auffassung, dass Art. 103 II GG diesen Einschränkungen nicht entgegensteht, wenn sie als immanente Schranken des Notwehrrechts erklärbar sind.4 Mit dem „Fall Daschner“, dessen Namensgeber vom Landgericht Frankfurt einer Nötigung für schuldig befunden wurde, weil er den Entführer eines Jungen durch Androhung von Schmerzzufügung zu einer Aussage über das Versteck gebracht hatte,5 ist aber eine neue „sozialethische Einschränkung“ zu den bekannten Fallgruppen hinzugekommen, die sich aus dem Folterverbot und der Menschenwürde speist. Ihre Berechtigung scheint zumindest nicht offensichtlich; trotzdem hat die Problematik schon die Übungsfall-Literatur ergriffen.6 Die Frage, die sich hinsichtlich dieser neuen „sozialethischen Einschränkung“ stellt, ist im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz die, welche Kriterien eine Notwehreinschränkung und die damit verbundene Erweiterung des Bereichs des Strafbaren erfüllen muss, um noch unter den unbestimmten Begriff der Gebotenheit gebracht werden zu können (dazu unter IV.). Eine letzte, grundsätzliche Fragen auslösende Begegnung soll am Ende nur noch kurz angesprochen werden, weil sich der Verfasser mit diesen Fragen schon in mehreren Festschriftbeiträgen beschäftigt hat7 und den Vorwurf des Remakes nicht noch provozieren will. Es geht um die Delegation der Entscheidung über die Strafbarkeit einer Körperverletzung auf die 4
Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 32 Rn. 16. LG Frankfurt NJW 2005, 656 ff.; dazu vgl. Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 32 Rn. 17 a. 6 Vgl. Jeßberger Jura 2003, 711; Kasiske JA 2007, 509; zu § 34 Ambos/Rackow Jura 2006, 943, 948. 7 Kühl Schroeder-FS, 2006, S. 519 ff., in: Otto-FS, 2007, S. 63, 68 ff. und in: Jakobs-FS, 2007, S. 293 ff. 5
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„guten Sitten“ bzw. den Verstoß gegen sie in § 228 StGB. Wird eine solche Delegation noch dem Erfordernis der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit nach Art. 103 II GG bzw. § 1 StGB gerecht? Diese Frage wird umso dringlicher, als sich der Bundesgerichtshof in Strafsachen in den letzten zu entscheidenden Fällen außerstande sah, ein Sittenwidrigkeitsurteil über sadomasochistische Praktiken und die (nach dem Betäubungsmittelgesetz strafbare) Überlassung von Heroin zu fällen. Sollte das bedeuten, dass in einer pluralen Gesellschaft eindeutige Sittenwidrigkeitsurteile gar nicht mehr möglich sind, so müsste diese „Unbestimmtheit“ möglicherweise auf den Bestimmtheitsgrundsatz als dessen Verletzung durchschlagen (dazu unter V.).
II. Die neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bestimmtheitsgrundsatz Die neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich hier auf vier Entscheidungen aus dem Jahre 2006, von denen drei schon in die 26. Auflage des Lackner/Kühl eingearbeitet werden „mussten“.8 Bevor auf diese neuen Entscheidungen näher eingegangen werden kann, müssen noch kurz die wichtigsten Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zum Bestimmtheitsgrundsatz in Erinnerung gerufen werden, weil nur auf dieser Basis beurteilt werden kann, ob sich Veränderungen bis hin zu einer neuen Linie erkennen lassen. Außerdem soll noch einmal die geläufige Einschätzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgenommen werden, wonach sich der Gesetzgeber keine große Sorgen um die Einhaltung des Bestimmtheitsgrundsatzes machen muss, weil das Bundesverfassungsgericht viel, ja fast alles durchgehen lässt; – erinnert sei nur an die angebliche Bestimmtheit des „groben Unfugs“ in § 360 I Nr. 11 StGB a.F.9 Diese Einschätzung ist hier bewusst salopp formuliert,10 weil sich der Verfasser nicht die Mühe gemacht hat, die dennoch vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Verletzungen des Art. 103 II GG aufzuspüren,11 was ihm vertretbar erschien, weil eine solche statistische Aussage nichts über die Richtigkeit oder Vertretbarkeit der einzelnen Entscheidungen aussagt; – es 8
Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 1 Rn. 2, wo nur BVerfG NJW 2007, 1193, fehlt. BVerfGE 26, 41, 43; zu Recht abl. Krey Strafrecht AT 1, 2. Aufl. 2004, Rn. 113 und Eser in: Schönke/Schröder StGB, 27. Aufl. 2006, § 1 Rn. 18. 10 Sachlich formuliert etwa Dannecker LK, 12. Aufl. 2007, § 1 Rn. 185: „Relativierung der Bestimmtheitsanforderungen“ durch das Bundesverfassungsgericht; kritischer Köhler Strafrecht AT, 1997, S. 88 f. 11 Umfangreiche Kasuistik bei Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 191, 192; Krey (o. Fn. 9), Rn. 113, nennt nur 3 Beispiele für ein unbestimmtes Strafgesetz. 9
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mag ja richtig gewesen sein, wenn das Bundesverfassungsgericht nur selten Anlass sah, eine Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes auszusprechen. So etwa in dem allerdings umstrittenen, von Seebode (s. oben unter I. mit Fußnote 1) scharf kritisierten Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21.11.2002, wonach die „Vorschrift des § 13 StGB (Begehen einer Straftat durch Unterlassen) … dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG“ genügt.12 Doch soll diese spezielle Thematik – wie schon oben (unter I.) angekündigt – hier nicht erneut aufgegriffen werden.13 Diese Entscheidung soll hier aber insofern „ausgeschlachtet“ werden, als sie die Leitsätze des Bundesverfassungsgerichts zum „Bestimmtheitsgebot“ des Art. 103 II GG in kürzest möglicher Form präsentiert. Ausgangspunkt ist dabei zu Recht der auch in allen StGB-Kommentaren14 zu findende und ständiger Rechtsprechung15 des Gerichts entnommene Satz: „Das Bestimmtheitsgebot verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen“ (BVerfG NJW 2003, 1030). Danach wird zum einen betont, dass „jeder“ vorhersehen können muss, welches Verhalten bei Strafe verboten ist;16 zum anderen wird dem „Gesetzgeber“ – „abstrakt-generell“ – die alleinige Entscheidungsgewalt über die Strafbarkeit zuerkannt, d.h.: „diese Entscheidung“ darf „nicht der Strafjustiz überlassen“ werden. Einschränkend wird hinzugefügt, dass „die Verwendung von Begriffen, die im besonderen Maße der Deutung durch den Richter bedürfen, nicht generell“ ausgeschlossen ist; „unbedenklich“ sei das „allerdings nur …, wenn die Norm eine zuverlässige Grundlage für ihre Auslegung und Anwendung bietet oder wenn sie eine gefestigte Rechtsprechung übernimmt und damit aus dieser 12
BVerfG NJW 2003, 1030, in Bestätigung von BVerfE 96, 68, 97. Im Ergebnis dem Bundesverfassungsgericht zustimmend Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 13 Rn. 21; Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 33; Weigend LK, 12. Aufl. 2007, § 13 Rn. 19; kritsch Jähnke BGH-FS, 2000, S. 393, 402; „… der Sache nach ist das Bestimmtheitsgebot preisgegeben“; noch eindeutiger für die Verfassungswidrigkeit des § 13 StGB Köhler (o. Fn. 10), S. 213: die Vorschrift sei „in ihrer Zirkularität nicht hinreichend bestimmt“, und Schmitz MK, 2003, § 1 Rn. 47: das Bestimmtheitsgebot werde „völlig verfehlt“. 14 Vgl. Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 1 Rn. 2; Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 179; Kindhäuser StGB Lehr- und Praxiskommentar, 3. Aufl. 2006, § 1 Rn. 5; Schmitz (o. Fn. 13), § 1 Rn. 39; Tröndle/Fischer StGB, 54. Aufl. 2007, § 1 Rn. 5. 15 BVerfGE 71, 108, 114; 73, 206, 234; 75, 329, 340; 78, 374, 382; 105, 135, 157. – Kritische Analyse der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts zum Bestimmtheitsgebot bei Paeffgen StraFo 2007, 442 ff. 16 Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 179, spricht von der zu schaffenden „Orientierungsgewissheit für den Bürger“. 13
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Rechtsprechung hinreichende Bestimmtheit gewinnt“ (BVerfG a.a.O.).17 Gerade dieser letzte Halbsatz hat zu heftiger Kritik in der Strafrechtswissenschaft geführt; – nicht erst bei seiner Anwendung auf den schon mehrfach angesprochenen § 13 StGB,18 sondern etwa auch schon bei seiner Anwendung auf die Beleidigung gemäß § 185 StGB.19 Das liegt sicher daran, dass hier die sonst auch vom Bundesverfassungsgericht betonte Entscheidungsgewalt des Gesetzgebers über die Strafbarkeit auf die Rechtsprechung verlagert zu werden scheint. Ob das wirklich so ist, muss hier offen bleiben, da nach dem oben vorgestellten Programm für diesen Festschriftbeitrag die Analyse neuester Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum „Bestimmtheitsgebot“ (so BVerfG NJW 2006, 3050) bzw. zum „Bestimmtheitsgrundsatz“ (so BVerfG NJW 2007, 1193) vorgesehen ist. Gleich vorab sei die selbst geschürte Erwartung, es gäbe da Veränderungen oder gar eine neue Linie, gedämpft. Denn es wäre schon ein glücklicher Zufall, wenn sich diese Erwartung bei der willkürlichen Auswahl von vier Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die nur durch das Jahr der Entscheidung – 2006 – zusammengehalten werden, erfüllen würde. Die Variationsbreite der Vorschriften, die vom Bundesverfassungsgericht unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgrundsatzes geprüft wurden, ist zwar auf das Strafrecht beschränkt, aber dennoch groß. Zum Kernstrafrecht ist die Entscheidung vom 1.6.2006 ergangen, die sich die „Ähnlichkeitsklausel“ des § 86 a II 1 StGB – Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen – vornimmt (BVerfG NJW 2006, 3050). Dem Kernstrafrecht des StGB zuzurechnen ist auch die Entscheidung vom 8.11.2006, die sich dem strafrechtlichen Sanktionenrecht, genauer: der Aussetzungsregelung des § 57 a StGB, zuwendet (BGH NJW 2007, 1933). Die beiden weiteren Entscheidungen prüfen Strafvorschriften des Nebenstrafrechts: die Entscheidung vom 16.3.2006 betrifft die Strafvorschrift des § 96 Nr. 4 Arzneimittelgesetz, genauer: den über § 2 I Nr. 5 AMG von der Strafvorschrift in Bezug genommenen Begriff „Arzneimittel“ (BVerfG NJW 2006, 2684); die Entscheidung vom 18.9.2006 befasst sich mit dem Begriff „Handeltreiben“, der in der Strafvorschrift des § 29 I 1 Nr. 1 Betäubungsmittelgesetz verwendet wird. Trotz dieser Variationsbreite zeigt schon ein erster Blick in die vier Entscheidungen, dass Kontinuität angesagt wird. Diese Kontinuität zeigt sich 17 Auch für diesen letzten Halbsatz kann sich das Gericht auf eine ständige Rechtsprechung berufen: BVerfGE 45, 363, 371; 48, 48, 56; 86, 288, 311. 18 BVerfG NJW 2003, 1030 mit krit. Bespr. Seebode, JZ 2004, 305 ff.; krit. auch Weigend (o. Fn. 13), § 13 Rn. 19: „keine befriedigende Antwort“. 19 BVerfG E 93, 266, 292; Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 188; Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 185 Rn. 1, Tröndle/Fischer (o. Fn. 14), § 1 Rn. 5 c, jeweils mit Hinweisen auf kritische Stimmen.
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schon hinsichtlich der oben vorsichtig übernommenen Einschätzung, nach der das Bundesverfassungsgericht den Bestimmtheitsgrundsatz eher großzügig handhabe. Obwohl damit – wie auch bereits oben gesagt – noch nichts über die Richtigkeit der Entscheidung gesagt ist, sei doch auch hier festgestellt, dass drei der vier Entscheidungen keine Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes feststellen konnten. Die Kontinuität zeigt sich auch hinsichtlich des oben als „Ausgangspunkt“ zitierten Satzes von der „so genauen Umschreibung“ der Strafbarkeitsvoraussetzungen, der in allen drei Entscheidungen, die Strafbarkeitsvoraussetzungen betreffen – also nicht in der Entscheidung zur Strafaussetzung –, wörtlich übernommen wird. Kontinuität herrscht auch hinsichtlich der Entscheidungsbefugnis des Gesetzgebers, was die abstrakt-generelle Festlegung der Strafbarkeit betrifft (so etwa in BVerfG NJW 2007, 1193). Auch wird weiterhin die Voraussehbarkeit der Strafbarkeit für den Normadressaten verlangt (so etwa in BVerfG NJW 2006, 2684). Auch nicht völlig neu, aber seltener gebraucht, sind die Wendungen, dass selbst missglückte Strafbestimmungen verfassungsgemäß seien, wenn sie die Voraussetzungen strafbaren Tuns oder Unterlassens deutlich umschreiben (BVerfG NJW 2007, 1193), und dass es beim Herausfallen besonders gelagerter Einzelfälle aus dem Strafbarkeitsbereich Sache des Gesetzgebers sei, die Lücke zu schließen oder beizubehalten (BVerfG NJW 2006, 3050). Auf die einzelnen Entscheidungen kann hier nur kurz eingegangen werden. Im „Arzneimittel-Fall“ (BVerfG NJW 2006, 2684) wird die Weite des Begriffs „Arzneimittel“ gesehen, aber nicht für schädlich gehalten: „Die tatbestandliche Weite ist – da das Gesetz in seinen Voraussetzungen klar formuliert ist – … kein Problem der Normbestimmtheit …“. Dahinter steht ein Vertrauen auf das Auslegungsvermögen der Strafgerichte, insb. des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, das aber arg strapaziert wird und mit dem Gebot der gesetzlichen Bestimmtheit in Konflikt gerät, wenn es heißt, dass „dem Gesetzeswortlaut kein Hinweis auf die vom BGH verwandten einschränkenden Kriterien des Arzneimittelbegriffs“ entnommen werden könnten; – dann hat doch wohl der Gesetzgeber den Rechtsanwender im Stich gelassen. Im „Fantasieparolen-Fall“ (BVerfG NJW 2006, 3050) vermisst man zunächst eine Auseinandersetzung mit der „Ähnlichkeitsklausel“ des § 86 a II 2 StGB: „Den in Satz 1 genannten Kennzeichen stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind.“ Das soll hier nicht nachgeholt werden, zumal die Problematik bei der Behandlung des Stalking § 238 StGB (unter III.) behandelt werden wird. Dafür stürzt sich das Gericht sofort auf den Wortlaut, den es insofern für eindeutig hält, als die Nachahmung ein tatsächlich existentes Vorbild haben müsse. Folgt man dem – das Amtsge-
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richt hatte es nicht getan –, so ist die gesetzliche Bestimmtheit insoweit nicht zu bezweifeln. Im „Drogenherstellungs-Fall“ (BVerfG NJW 2007, 1193) ist der Wortsinn des Begriffs „Handeltreiben“ für das Bundesverfassungsgericht nicht so eindeutig, weshalb es ihm darauf ankommt zu klären, ob die Auslegung dieses Begriffes durch den Bundesgerichtshof noch vom möglichen Wortsinn gedeckt ist. Das ist aber eine Frage des Analogieverbots und nicht der Bestimmtheit des strafbaren Verhaltens durch das Gesetz. Das Analogieverbot ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht dadurch verletzt, dass schon die Drogenherstellung und damit eine eigennützige, auf Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit als Handeltreiben erfasst wird. Das interessiert hier aber weniger als die mögliche Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes durch § 29 I 1 Nr. 1 BtMG. Diese wird aber lapidar verneint: „Die Vorschrift des § 29 I 1 Nr. 1 BtMG entspricht dem Bestimmtheitsgrundsatz, denn sie regelt in einer Vielzahl von Tatbestandsalternativen den Kern des Betäubungsmittelstrafrechts.“ Mehr als eine Behauptung ist diese „Begründung“ nicht. So nebenbei wird auch noch erwähnt, dass das „Gebot der Gesetzesbestimmtheit auch für die Strafandrohung …“ gilt. „Die Strafe als missbilligende hoheitliche Reaktion auf schuldhaftes kriminelles Unrecht muss deshalb in Art und Maß durch den parlamentarischen Gesetzgeber normativ bestimmt sein“ (BVerfG NJW 2007, 1193, unter Berufung auf BVerfGE 32, 346, 362 f.).20 Damit leitet das Bundesverfassungsgericht – ungewollt, aber für den hier vorgelegten Beitrag passend – zur letzten Entscheidung über, die hier noch besprochen werden soll. Betrifft das „Gebot der Gesetzesbestimmtheit“ des Art. 103 II GG, der von der „Strafbarkeit“ spricht, neben der Straftatbestandsmäßigkeit nur die Androhung von Strafen,21 so sind nichtmissbilligende Sanktionen wie etwa die Maßregeln der Besserung und Sicherung oder gar zivilrechtliche Sanktionen22 nicht von ihm erfasst. Diese Einschränkung des Geltungsbereichs von Art. 103 II GG wird in der Entscheidung zur „Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe“ (BVerfG NJW 2007, 1933) durch eine weitere Einschränkung ergänzt, denn – so wiederholt das Gericht die zuvor besprochene Entscheidung – „sein Anwendungsbereich beschränkt sich auf staatliche Maßnahmen, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf schuldhaftes Verhalten darstellen“ (BVerfG NJW 2007, 1933, 1941, unter Berufung auf BVerfGE 26, 186, 20 Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich des Missbilligungscharakters der Strafe vgl. Kühl Eser-FS, 2005, S. 149 ff. 21 Zur Geltung des Bestimmtheitsgebots für die „Strafdrohung“ vgl. Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 223-236; zu seiner Geltung für den „gesetzlichen Strafrahmen“ Krey (o. Fn. 9), Rn. 109. 22 Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 1 Rn. 2.
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204; 42, 261, 262; 105, 135, 153; 109, 133, 167). „Aussetzungsregelungen“ wie die nach § 57 a I 1 Nr. 3 und Satz 2 i.V.m. § 57 I 1 Nr. 2 und Satz 2 StGB „enthalten“ aber – so der zutreffende Schluss des Gerichts – „eine Bedingung für die Aussetzung einer bereits verhängten Freiheitsstrafe“. Freilich gilt auch für solche Regelungen der Vollstreckung von Freiheitsstrafen ein „Bestimmtheitsgebot“, das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG23 und – wegen des Freiheitsentzugs – aus Art. 104 I 1 GG ergeben soll. Die Anforderungen, die dieses Bestimmtheitsgebot stellt, entsprechen weitgehend denen des Art. 103 II GG. Auch unter seinem Regime dürfen „unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe“ vom Gesetzgeber nur dann verwendet werden, „wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder auf Grund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt“. Ob die genannten Aussetzungsvorschriften diesen Anforderungen, wie das Bundesverfassungsgericht meint, entsprechen, soll hier nicht „überprüft“ werden. Interessanter ist im vorliegenden Zusammenhang, dass das Gericht – vielleicht nur ungeschickt formuliert – zu den Auslegungsmethoden auch eine „gefestigte Rechtsprechung“ zählt, die auch unter dem Regime des Art. 103 II GG die gesetzliche Bestimmtheit herstellen können sollte (dazu oben bei Fußnoten 18, 19). Bemerkenswert ist schließlich, dass sich das Gericht mit bestimmteren Regelungsmöglichkeiten „auseinandersetzt“, freilich wieder lapidar: „Das Bestimmtheitsgebot erfordert keine gesetzliche Regelung, die eine absolute Höchstfrist für den Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe vorsieht.“ Ein solcher Ausschluss von Alternativen könnte auch bei der Prüfung von Strafvorschriften auf ihre gesetzliche Bestimmtheit hin die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts stärken.
III. Die „Öffnungsklausel“ bei der Nachstellung (§ 238 I Nr. 5 StGB) Vor welchen Schwierigkeiten der Gesetzgeber steht, wenn er ein von ihm für strafwürdig und strafbedürftig gehaltenes Verhalten dem Bestimmtheitsgebot entsprechend in einen Straftatbestand „pressen“ muss, hat zuletzt die Schaffung des § 238 StGB – Nachstellung – gezeigt, mit dem das welt-
23 So auch schon vor dieser Entscheidung Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 237, mit BVerfGE 86, 310 f.
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weite Phänomen „Stalking“ seit dem 1.4.2007 strafrechtlich geregelt ist.24 Der Verfasser dieses Festschriftbeitrags hat sich in diesem Fall in die Lage des Gesetzgebers versetzen müssen, weil er im Gesetzgebungsverfahren als Sachverständiger vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages Stellung nehmen „musste“. Dabei musste er keinen Gesetzesentwurf vorlegen, sondern sich – wie üblich bei Sachverständigenanhörungen – „nur“ zu bereits von der Bundesregierung oder den Fraktionen des Bundestags, von Bundesländern oder dem Bundesrat vorgelegten Gesetzesentwürfen äußern. Das macht die Aufgabe des Sachverständigen zwar leichter, verlangt aber doch Überlegungen, wie man es besser machen könnte. Diese Überlegungen haben beim Verfasser dieses Festschriftbeitrags hinsichtlich der sog. „Öffnungsklausel“ des § 238 I Nr. 5 StGB zu dem Ergebnis geführt, dass sie verzichtbar sei.25 Dieser Verzicht erscheint vor allem deshalb möglich,26 weil das Phänomen „Stalking“ schon bisher in seinen „harten“ Formen durch bereits bestehende Strafvorschriften wie Hausfriedensbruch (§ 123 StGB), Körperverletzung (§ 223 StGB) oder Nötigung (§ 240 StGB)27 und seit 2007 in vier „weichen“ Formen (§ 238 I Nr. 1-4 StGB) erfasst ist; hinzukommt die zivilrechtsakzessorische Strafvorschrift des § 4 Gewaltschutzgesetz.28 Dass trotz dieser „geballten“ Strafbarkeitszone noch Lücken im strafrechtlichen Schutz des individuellen Lebensbereichs – dem Rechtsgut des § 238 StGB29 – bestehen, ist in einem fragmentarisch angelegten Strafrecht kein Makel.30 Der Gesetzgeber hat dies anders gesehen und sich für einen sog. „Auffangtatbestand“ entschieden, nach dem nicht nur derjenige wegen Nachstellung nach § 238 I StGB bestraft wird, der eine der Tathandlungen (nebst Erfolg) der Nr. 1-4 des § 238 I StGB ausführt, sondern auch derjenige, der „eine andere vergleichbare Handlung vornimmt“. Für eine solche kriminalpolitische Entscheidung hat der Gesetzgeber die Kompetenz. Verfassungsrechtlich aber ist er bei Entscheidungen über die „Strafbarkeit“ an Art. 103 II GG gebunden, womit wir wieder beim Thema dieses Beitrags sind. Deshalb muss hier gefragt werden, ob der Gesetzgeber mit diesem „Auffangtatbestand“ bzw. dieser „Öffnungsklausel“ noch die Anforderung der gesetzlichen Bestimmtheit erfüllt hat. Ist es ihm gelungen – wie es das Bun24 Dazu schon knapp Kühl Böttcher-FS, 2007, S. 597, 615 f. sowie Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 238 Rn. 5. 25 Kühl in: Protokoll der 30. Sitzung des BT-Rechtsausschusses vom 18.10.2006, S. 16. 26 Ebenso Mitsch NJW 2007, 1237, 1239. 27 Meyer ZStW 115 (2003), 249, 259; Kinzig ZRP 2006, 255, 256. 28 Dazu Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 238 Rn. 3. 29 So der Regierungsentwurf BT-Dr 16/575, S. 6; zu alternativen Rechtsgutsbestimmungen vgl. Mitsch NJW 2007, 1237 f. 30 Ebenso Krüger, in: ders. (Hrsg.), Stalking als Straftatbestand, 2007, S. 142.
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desverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung verlangt (s. oben unter II. mit Fn. 15) –, „die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen“? Auf den ersten Blick liest sich die Nr. 5 des § 238 I StGB wie eine unverhohlene Aufforderung an den Richter, verbotene Analogie zu betreiben. Allerdings gibt es solche Aufforderungen auch bisher schon im Strafgesetzbuch – etwa in §§ 315 I Nr. 4, 315 b I Nr. 3 StGB –, ohne dass dagegen durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken vorgebracht wurden.31 Es soll sich dabei um eine verfassungsrechtlich noch hinnehmbare sog. „innertatbestandliche Analogie“32 handeln. Diese Bezeichnung allein rettet diese Form von Analogie nicht vor dem Vorwurf eines Verstoßes gegen das aus Art. 103 II GG abgeleitete „Verbot der Analogie zur Begründung der Strafbarkeit“.33 In den Bereich der zulässigen Auslegung könnten solche „Öffnungsklauseln“ wie in den §§ 315, 315 b StGB oder jetzt § 238 StGB nur zurückgeholt werden, wenn der sonstige Tatbestand ausreichende Anhaltspunkte dafür enthielte, auf welche Kriterien es bei der „Ähnlichkeit“ (so in §§ 315, 315 b StGB) oder bei der „Vergleichbarkeit“ (so jetzt in § 238 StGB) ankommen soll. Nur wenn im sonstigen Tatbestand Hinweise auf solche Kriterien enthalten sind, kann man begründet behaupten, dass der Gesetzgeber über die Strafbarkeit „ähnlicher“ bzw. „vergleichbarer“ Handlungen selbst entschieden und damit die Entscheidung nicht allein dem Richter überlassen habe.34 Eine solche Behauptung gelingt bei §§ 315, 315 b StGB deshalb, weil sich dort dem übrigen Tatbestand feste Vorgaben für den „ähnlichen“ Fall entnehmen lassen: Eingriff von außen, unmittelbare Einwirkung auf den Verkehrsvorgang. Solche klaren Kriterien lassen sich dem übrigen Tatbestand des § 238 StGB für die „vergleichbare“ Handlung nicht entnehmen, denn – so meine bisherige Einschätzung – die Nr. 1-4 des § 238 I StGB umschreiben so unterschiedliche Verhaltensweisen, dass darauf kaum ein Analogieschluss aufgebaut werden kann.35 Immerhin lässt sich dem übrigen Tatbestand entnehmen, dass es sich auch bei der „vergleichbaren Handlung“ i.S. der Nr. 5 des § 238 I StGB um eine „Nachstellung“ handeln muss. Auch 31
Siehe etwa Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 315 Rn. 6: „verfassungsrechtlich noch vertretbar“. Krey Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, S. 223; Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 256. 33 Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 1 Rn. 5. 34 Deshalb wird zu Recht als verfassungsrechtlicher Maßstab solcher „Analogien“ der Bestimmtheitsgrundsatz herangezogen; vgl. Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 256. 35 So in: Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 238 Rn. 5; ähnlich Kinzig/Zander JA 2007, 481, 486, die kein „gemeinsames Substrat“ der Nr. 1-4 des § 238 I StGB entdecken können. 32
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muss es sich um eine „andere“ Handlung als die in den Nr. 1-4 des § 238 I StGB umschriebenen Handlungen handeln. Ob damit aber hinreichende Anhaltspunkte für die „vergleichbare Handlung“ im Gesetz enthalten sind, ist zu bezweifeln. Trotz dieser Zweifel müssen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft versuchen, „Auslegungsmaßstäbe zu entwickeln, die sich strikt an der Semantik des Gesamttatbestandes orientieren …“.36 Einen solchen Versuch haben Neubacher/Seher unternommen und sind ihrer eigenen Einschätzung nach zwar nicht bei den geschlossenen Nr. 1 und 2, wohl aber bei den Nr. 3 und 4 des § 238 I StGB „erfolgreich“ gewesen; hier seien „bestimmte Belästigungen eher beispielhaft“ formuliert, so dass sich weitere Beispiele „ähnlicher“ Art denken ließen.37 „Denkbare Fallgruppen für § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB“ versucht auch Krüger herauszuarbeiten,38 eine allgemein verbindliche Definition der „ähnlichen Handlung“ hält er aber nicht für Erfolg versprechend.39 Wie die Strafrechtsprechung mit dem „Auffangtatbestand“ umgehen wird, bleibt abzuwarten. Letztlich wird sie die Bestimmtheit des § 238 I Nr. 5 StGB herstellen müssen.
IV. Die „Rettungsfolter“ als nicht gebotene Verteidigungshandlung (§ 32 I StGB) Mit der Gebotenheitsklausel des § 32 I StGB enthält die ansonsten klare Notwehrregelung des § 32 II StGB eine unter dem Gesichtspunkt der gesetzlichen Bestimmtheit umstrittene Regelung. Bevor aber auf diese Klausel eingegangen werden kann, muss eine Besonderheit der bei ihr gegebenen Problematik wenigstens kurz erwähnt werden. Es handelt sich bei der Notwehr zum einen um eine Regelung des Allgemeinen Teils und zum anderen um einen Rechtfertigungsgrund. Für beide – Regelungen des AT und speziell Rechtfertigungsgründe – werden Besonderheiten hinsichtlich der Anforderungen, die der Bestimmtheitsgrundsatz an sie stellt, reklamiert.40 Hinsichtlich der AT-Regelungen wird eine gewisse Lockerung der Bestimmtheitsanforderungen erwogen. Dahinter steht die Einsicht, dass es noch schwerer ist, allgemeine Regeln präzise festzulegen als die Tatbestän36
Neubacher/Seher JZ 2007, 1029, 1033. Neubacher/Seher JZ 2007, 1029, 1033. 38 Krüger (o. Fn. 30), S. 143 ff.; knapp auch Valerius JuS 2007, 319, 322. 39 Krüger (o. Fn. 30), S. 159. 40 Vgl. nur Roxin Strafrecht AT, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 41 und Rn. 42. – Zur Geltung des Art. 103 II GG für „Regelungen des Allgemeinen Teils“ vgl. Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 82-88; zur Geltung für Rechtfertigungsgründe vgl. Rönnau LK, 12. Aufl. 2006, vor § 32 Rn. 62-70. 37
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de einzelner Delikte zu umschreiben. Das soll hier beispielhaft nur an dem schon mehrfach angesprochenen § 13 StGB, der die Gleichstellung eines Unterlassens mit einem Tun unter bestimmten Voraussetzungen regelt, aufgezeigt werden.41 Diese Regelung hat vor allem die Kritik des Festschriftadressaten (s. o. unter I. mit Fn. 1) hervorgerufen, ist aber vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden (BVerfG NJW 2003, 1030). Dabei hat das Gericht keine Abstriche von den auch für BT-Vorschriften gebräuchlichen Bestimmtheitsanforderungen vorgenommen. Auch der BGH macht von den Art. 103 II GG-Anforderungen keine Abstriche, wenn es um die Auslegung von Bestimmungen des AT des StGB geht.42 „Diese Aussage“ – so der ehemalige Vorsitzende des 1. Strafsenats Jähnke – „widerspricht so, wie sie formuliert ist, der eigenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie der wohl überwiegenden Meinung im Schrifttum“.43 Diese „wohl überwiegende Meinung im Schrifttum“ hat Herzberg schon 1972 für den im Entstehen begriffenen „Unterlassungs“-§ 13 StGB mitgeformt: „Strafbarkeitsvoraussetzungen, die für viele Tatbestände gelten und die daher innerhalb des Allgemeinen Teils zu behandeln sind, unterliegen nicht oder nur sehr beschränkt den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG. Der Gesetzgeber hat in dem Bereich, den man als die eigentliche Domäne der systematischen Strafrechtswissenschaft betrachten darf, einen praktisch kaum begrenzten Entscheidungsspielraum, ob er ins einzelne gehende Regelungen schaffen, sich mit normativen Richtlinien bescheiden oder auf begriffliche Bestimmungen ganz verzichten will, um die Rechtsentwicklung nicht festzulegen und die Klärung von Zweifelsfragen der Rechtslehre und der Rechtsprechung zu überlassen“.44 Unter Ausklammerung der Rechtslehre sieht das auch das Bundesverfassungsgericht so, wenn es für Art. 103 II GG ausreichen lässt, dass „die Norm … eine gefestigte Rechtsprechung übernimmt und damit aus dieser Rechtsprechung hinreichende Bestimmtheit gewinnt“ (BVerfG NJW 2003, 1030). Lässt man das für die gesetzliche Bestimmtheit genügen, dann müssen die Bestimmtheitsanforderungen an AT-Vorschriften natürlich nicht gelockert werden, denn diese Anforderungen sind ja schon locker genug. Aus dieser Sicht der Dinge muss man bei der Prüfung der Frage, ob eine AT-Vorschrift wie § 13 StGB oder der hier interessierende § 32 I StGB hinreichend bestimmt ist, nichts Besonderes beachten. 41 Eingehend zur verfassungsrechtlichen Problematik des § 13 StGB jetzt Böhm Garantenpflichten aus familiären Beziehungen, 2006, S. 170 ff. 42 Vgl. BGHSt 42, 158, 161; 42, 235, 241; weitere Rspr. bei Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 83. 43 Jähnke (o. Fn. 13), S. 393; ähnlich Dannecker (o. Fn. 10), § 1 Rn. 83. 44 Herzberg Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 362.
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Vorsicht hingegen erscheint angebracht, wenn es um spezielle ATRegeln, nämlich Rechtfertigungsgründe geht. So hat sich etwa Günther darum bemüht zu begründen, „warum Art. 103 Abs. 2 GG für Erlaubnissätze nicht gelten kann“.45 Diese Begründung hat wohl Roxin so überzeugt, dass er in seinem AT-Lehrbuch von der Nichtgeltung des Art. 103 II GG für Rechtfertigungsgründe ausgeht: „Diese nämlich sind keine spezielle Materie des Strafrechts, sondern entstammen allen Rechtsbereichen …; sie werden demzufolge auch im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung weiterentwickelt und oft unabhängig von der Reichweite ihres äußeren Wortlautes nach Maßgabe der ihnen zugrunde liegenden gesetzlichen Ordnungsprinzipien eingeschränkt.“46 Aber selbst wenn man diese Besonderheit von Rechtfertigungsgründen berücksichtigt, wird man vom Gesetzgeber erwarten müssen, dass er sich auch bei diesen um eine möglichst präzise Umschreibung bemüht.47 Das hat der Gesetzgeber in der Notwehr-Definition des § 32 II StGB auch getan, § 32 I StGB ist aber relativ unbestimmt geblieben.48 Das ist schon deshalb kritisch zu beobachten, weil die Ablehnung der Gebotenheit dazu führt, dass die normalerweise bei Vorliegen der § 32 II StGB-Voraussetzungen eingreifende Rechtfertigung zu verneinen ist, womit der Weg zur Strafbarkeit nicht schon an dieser Stelle gestoppt wird.49 Auch wer wie Günther die Gebotenheitsklausel als Element eines Erlaubnissatzes nicht den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 II GG, sondern nur dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 20 III GG unterwirft, bemüht sich darum, u.a. „aus dem Geltungsgrund der Notwehr … im Wege teleologischer … Auslegung hinreichend bestimmte Grenzen“ für die Gebotenheit zu „ziehen“.50 Auch für Roxin wäre „der Begriff der ‚Gebotenheit’ zu unbestimmt, wenn sich dem Gesetz keine Maßstäbe dafür entnehmen ließen, unter welchen Voraussetzungen eine zur Abwehr an sich erforderliche Handlung ausnahmsweise nicht gestattet werden soll. Doch ergeben sich diese Maßstäbe … aus den immanenten Schranken, die dem Notwehrrecht selbst durch das Rechtsbewährungsprinzip gezogen sind.“51 Also stellen auch diejenigen, die Rechtfertigungsgründe nicht am (angeblich) strengen Maßstab des Art. 103 II GG 45
Günther Grünwald-FS, 1999, S. 213 ff. Roxin (o. Fn. 40), § 5 Rn. 42. 47 So auch Rönnau (o. Fn. 40), vor § 32 Rn. 69. 48 Nach Erb ZStW 108 (1996), 294 ff.: zu große Unbestimmtheit; ebenso Erb MK, 2003, § 32 Rn. 186: „Höchstmaß an Unbestimmtheit“, also „im Grunde genommen“ ein Verstoß „gegen Art. 103 Abs. 2 GG“ (Rn. 175); Vgl. Lenckner/Perron in: Schönke/Schröder (o. Fn. 9), § 32 Rn. 44: „Leerformel“. 49 Kühl Strafrecht AT, 5. Aufl. 2005, § 7 Rn. 162; ebenso Fahl Jura 2007, 744, 745. 50 Günther SK, 7. Aufl. (September 1999), § 32 Rn. 104. 51 Roxin (o. Fn. 40), § 15 Rn. 57. 46
Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz
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auf ihre Bestimmtheit messen, gewisse Bestimmtheitsanforderungen. Konkret auf die Gebotenheitsklausel des § 32 I StGB bezogen scheint diese Bestimmtheit davon abzuhängen, dass sie durch Notwehr-immanente Schranken konkretisiert wird; – das war auch der hier schon oben (unter I. mit Fn. 4) eingenommene Ausgangspunkt. Legt man diesen Ausgangspunkt bei der Prüfung der Gebotenheit der sog. „Rettungsfolter“ zugrunde, so spricht zunächst nichts für deren Verneinung. Das individuelle Freiheitsschutzprinzip verlangt, dass der drohende Tod des entführten Opfers mit allen erforderlichen Mitteln abgewendet wird; auch das überindividuelle Rechtsbewährungsprinzip zeigt zumindest auf den ersten Blick nicht in eine andere Richtung, weil das Recht auf Leben gestärkt wird. So macht denn auch Roxin nicht von dem von ihm eigentlich zu erwartenden Argument des Zurücktretens dieser Prinzipien oder auch nur eines von ihnen Gebrauch, sondern setzt anders an. Die „Folterandrohung“ sei nicht geboten, weil „die Folter und ihre Androhung … gegen die Menschenwürde (Art. I, 1 GG)“ verstoßen.52 Danach begründet er zwar, warum seiner Meinung nach ein Verstoß gegen die Menschenwürde vorliegt, aber nicht, warum ein solcher Verstoß die Gebotenheit der Notwehr ausschließen soll. Deshalb hängt sein Schluss etwas in der Luft: „Der Verstoß gegen die Menschenwürde ist also eine besondere Fallgruppe der sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts.“ Die fehlende Begründung dieser neuen Fallgruppe wird – wie Roxin selbst wohl sieht – nicht dadurch geleistet, dass er zur Konkretisierung des Menschenwürdeverstoßes auf „zahlreiche ausdrückliche Folterverbote“ verweist; – dadurch soll der „Ausschluss der gebotenen Nothilfehandlung … gestützt“ werden.53 „Stützung“ hilft aber nur, wenn zuvor eine Begründung gegeben wurde. Nun kann die Problematik der sog. „Rettungsfolter“ hier im Rahmen von „Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz“ nicht angemessen ausgelotet werden. Der Verfasser dieses Festschriftbeitrags hat seine Position – Rechtfertigung durch Nothilfe nach § 32 StGB – zudem schon mehrfach vertreten,54 so dass eine Wiederholung nicht erforderlich erscheint. Hier sollte nur gezeigt werden, dass die Gebotenheitsklausel des § 32 I StGB nur dann den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 II GG oder des Rechtsstaatsprinzips des Art. 20 GG genügt, wenn sie auf die der Notwehr immanenten Schranken rekurriert. Werden neue Fallgruppen kreiert, bevor man begründet hat, warum auch andere Argumente wie etwa die Verletzung der Menschenwürde oder der Verstoß gegen absolute Folterverbote zur Verneinung 52
Roxin (o. Fn. 40), § 15 Rn. 106. Roxin (o. Fn. 40), § 15 Rn. 107. 54 Kühl (o. Fn. 49), § 7 Rn. 156 a; Lackner/Kühl (o. Fn. 3), § 32 Rn. 17 a und zur Gebotenheit Rn. 14 a.E. 53
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der Gebotenheit führen können, so macht das den Eindruck der Beliebigkeit, und das ist das Gegenteil von Bestimmtheit. Damit soll die Möglichkeit einer solchen Begründung nicht kategorisch ausgeschlossen werden, aber wer überraschend Neues schafft, hat eine Begründungs-Bringschuld. Diese wird noch nicht durch Behauptungen wie die von Perron, dass „eine Bewährung der Rechtsordnung um den Preis der Folter … ausgeschlossen“ sei,55 erfüllt. Erst recht ersetzt eine affirmative Stellungnahme das Begründungsdefizit nicht; so wenn etwa Rönnau/Hohn meinen, dass es auf die Ablehnung der Gebotenheit zur Versagung der Notwehr wegen des absoluten verfassungsrechtlichen Folterverbots nicht ankäme: „sie [die Ablehnung] wäre jedoch zu bejahen“;56 – immerhin wird damit zum Ausdruck gebracht, dass die Gebotenheit und die Verfassungswidrigkeit unterschiedliche Kriterien sind, deren Verbindung noch hergestellt werden müsste. Das gilt auch für die Behandlung der „Rettungsfolter“ durch Erb, der den Verstoß gegen die Menschenwürde durch Hoheitsträger bei der Problematik „Notwehr durch Hoheitsträger“ behandelt,57 bevor er sich davon getrennt der Gebotenheit bzw. den „sozialethischen Einschränkungen“ der Notwehr zuwendet.58 Demgegenüber lässt die Behauptung Fischers, die Diskussion über die „Einschränkung des Folterverbots“ sei „eine – auf der Ebene der Gebotenheit zu führende – Diskussion“,59 jegliche Begründung vermissen; – davon abgesehen hält er die Meinung, dass darüber überhaupt ergebnisoffen diskutiert werden könne, für „abwegig“.60 Dazu fällt einem außer Kopfschütteln nichts ein; – zur eigenen Beruhigung kann man sich dann aber sagen, dass sich so die Diskussion nicht abwürgen lassen wird. Dass die Diskussion weitergeht, zeigt ein nach Abschluss, aber vor Abgabe des Manuskripts erschienener Beitrag von Fahl, der letztlich meint, dass es eine rechtspolitische, von Art. 1 GG und Art. 104 I 2 GG nicht vorgegebene Entscheidung sei, „ob man dem Amtsträger die Jedermannsrechte im Wege der Gebotenheit sozialethisch einschränken darf“; und über diese Entscheidung „scheint“ „die Debatte noch nicht abgeschlossen“ zu sein.61 55 So Lenckner/Perron (o. Fn. 48), § 32 Rn. 62 a; dass der „Rettungsfolter” „zwingendes Verfassungs- und Völkerrecht“ entgegenstehe, leistet diese Begründung nicht und ist auch nur eine umstrittene Behauptung. 56 Rönnau/Hohn LK, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 224. 57 Erb MK (o. Fn. 48), § 32 Rn. 166-175, zur „Misshandlung eines Geiselnehmers als Nothilfe“ Rn. 173-175. 58 Erb MK (o. Fn. 48), § 32 Rn. 176 ff. 59 Tröndle/Fischer (o. Fn. 14), § 32 Rn. 7d; ohne Begründung behaupten auch Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 37. Aufl. 2007, Rn. 289 a, dass eine Rechtfertigung der Folter bei § 32 an der Gebotenheit scheitere. 60 Tröndle/Fischer (o. Fn. 14), § 32 Rn. 7e gegen Norouzi JA 2005, 306. 61 Fahl Jura 2007, 743, 749.
Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz
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Der Beitrag enthält eine ganze Reihe von Argumenten zur möglichen Begründung einer neuen sozialethischen Einschränkung, für die auch schon der Name „evident rechtsstaatswidriges Verhalten“ vorgeschlagen wurde;62 er bringt aber auch Zweifel an ihrer Berechtigung zur Sprache. Stark verkürzt: wer das verfassungsrechtliche Folterverbot verletzt, bewährt nicht das Recht,63 wer aber die Nothilfe bei Strafe verbietet, bewirkt, dass „das Recht dem Unrecht“ dann letztlich doch weichen muss.64 Schon das bietet genug Stoff für die Fortsetzung der Debatte bzw. Diskussion über die Gebotenheit der „Rettungsfolter“. Sie kann hier aber nicht weitergeführt werden, wenn nicht der Rahmen einer „Anmerkung zum Bestimmtheitsgrundsatz“ gesprengt werden soll.
V. Die wegen Sittenwidrigkeit strafbare Körperverletzung (§ 228 StGB) Als letztes Sonderproblem der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit soll – wie bereits unter I. angekündigt und begründet – nur noch kurz die Vorschrift des § 228 StGB angesprochen werden. Sie macht die Strafbarkeit einer Körperverletzung, in die der Verletzte – tatbestandsausschließend65 oder rechtfertigend66 – eingewilligt hat, von einem Verstoß gegen die guten Sitten abhängig. Mit diesem Verweis auf die guten Sitten oder genauer: auf den Verstoß gegen die guten Sitten, steht die Vorschrift nicht alleine da. Auch im Zivilrecht arbeitet der Gesetzgeber mit dem Verstoß gegen die guten Sitten – kurz: der Sittenwidrigkeit –, wenn er in § 138 BGB ein Rechtsgeschäft, das „gegen die guten Sitten verstößt“, für „nichtig“ erklärt, oder wenn er in § 826 BGB denjenigen zum Schadensersatz verpflichtet, der „in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt“. Unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgrundsatzes ist aber die Regelung des § 228 StGB schon deshalb kritischer zu betrachten, weil sie „die Strafbarkeit“ i.S. des Art. 103 II GG bzw. des § 1 StGB betrifft. Zwar liegt in Fällen des § 228 StGB ein an sich strafbares Verhalten in Form einer „Körperverletzung“ vor, gegen deren Bestimmtheit als Gesetzesbegriff keine Bedenken bestehen. Doch wird diese „Strafbarkeit“ im Falle des § 228 StGB durch die „Einwilligung der verletzten Person“ „aufgehoben“, es sei denn „die Tat“ (= die Körperverletzung) verstößt 62
Norouzi, JA 2005, 306, 310 Fn. 67. Fahl Jura 2007, 743, 747. 64 Fahl Jura 2007, 743, 748. 65 So etwa Kühl (o. Fn. 49), § 9 Rn. 22. 66 So etwa Roxin (o. Fn. 40), § 13 Rn. 12-18. 63
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„gegen die guten Sitten“. Damit aber entscheidet die Sittenwidrigkeit der Körperverletzung über ihre „Strafbarkeit“ i.S. des Art. 103 II GG bzw. des § 1 StGB. Die Frage, ob § 228 StGB mit seiner Sittenwidrigkeitsklausel hinreichend „gesetzlich bestimmt“ i.S. der genannten Vorschriften ist, muss deshalb schon aus verfassungsrechtlichen Gründen gestellt werden. Sie ist auch schon häufig gestellt und in den gründlichsten Untersuchungen mit negativem Ergebnis beantwortet worden.67 Den Gründen für dieses negative Ergebnis soll hier nicht nachgegangen werden. Vielmehr soll die bisher vom Verfasser verfolgte Linie (Nachweise oben in Fn. 7) etwas weiter verfolgt werden. Ausgehend vom Bestimmtheitsgrundsatz stellt sich die spezielle Frage, wann noch eine „gesetzliche“ Bestimmtheit einer Strafvorschrift vorliegt. Der Verweis auf eine außerrechtliche Instanz durch den Gesetzgeber verstößt an sich noch nicht gegen das Bestimmtheitsgebot, wenn nur diese Instanz „Bestimmtes“ hervorbringt. Eher kann die Einhaltung des Bestimmtheitsgebots dann bezweifelt werden, wenn der Verweis im Gesetz – z.B. in § 228 StGB – auf eine außerrechtliche Instanz gerade eine Instanz betrifft, die im Gegensatz zum Recht steht. Doch ist auch dieser Zweifel behebbar. Zwar werden Recht und Moral einschließlich der guten Sitten oft in Gegensatz zueinander gebracht und diese sog. „Trennungsthese“ hat auch ihre Berechtigung; – so etwa, wenn sie es verbietet, reine Moralwidrigkeit ohne Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung unter Strafe zu stellen. Aber die Berechtigung der „Trennungsthese“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen Recht und Moral/gute Sitten auch viel Verbindendes68 gibt; – so ist etwa der Totschlag als Freiheitsverletzung sowohl rechtlich als auch moralisch verboten und es kommt nur zu unterschiedlichen Sanktionen. Zum Problem wird der Verweis einer (Straf-)Rechtsnorm auf die Moral/gute Sitten jedoch dann, wenn das Verweisungsobjekt keine klaren Entscheidungen in Rechtsfragen hervorbringt. Dass es inzwischen so weit sein könnte, legen die bereits oben (unter I.) angesprochenen neueren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen69 nahe. Obwohl das Gesetz (§ 228 StGB) nicht – positiv – der Ermittlung guter Sitten, sondern nur – negativ – die Feststellung einer Sittenwidrigkeit verlangt, scheint damit in einer pluralistischen Gesellschaft zu viel verlangt zu sein. Weder für sadomasochistische Praktiken noch für die (strafbare) Überlassung von Heroin 67 Sternberg-Lieben Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 136, 162; Rönnau Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 165. 68 Kühl Meurer-GS, 2002, S. 545 ff. und in: Schreiber-FS, 2003, S. 959 ff. 69 BGHSt 49, 34 ff. und 166 ff.
Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz
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sieht sich der BGH in der Lage, ein eindeutiges Sittenwidrigkeitsurteil abzugeben. Dennoch nimmt er in beiden Fällen eine nach § 228 StGB strafbare Körperverletzung an, wenn die Handlungen des jeweiligen Täters – verkürzt gesagt – zu einer Lebensgefahr für das jeweilige Opfer geführt haben. Das muss aber nicht unter dem Deckmantel der Sittenwidrigkeit geschehen, sondern kann vom (Straf-)Recht autark (= ohne Inbezugnahme der Sittenwidrigkeit) geleistet werden. Es bedürfte nur einer Gesetzesänderung, nach der eine strafbare Körperverletzung trotz Einwilligung der verletzen Person dann vorliegt, wenn sie diese in Lebensgefahr bringt. Damit hätte sich das (Straf-)Recht ein weiteres Mal von der Moral in Form der guten Sitten emanzipiert. Ob man sich darüber freuen soll, in einer Gesellschaft zu leben, die keine eindeutigen Sittenwidrigkeitsurteile mehr fällen kann, sollte jeder für sich beantworten. An gesetzlicher Bestimmtheit wäre ein so geänderter § 228 StGB dem bisherigen § 228 StGB jedenfalls überlegen. Hinzukommt, dass der (Straf-)Gesetzgeber dann die Regelung von „Wesentlichem“, nämlich der Strafbarkeit von Körperverletzungen, selbst vornehmen und nicht den guten Sitten überlassen würde; – „wesentlich“ ist diese Regelung vor allem deshalb, weil sie das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über seine körperliche Unversehrtheit beschneidet. Doch führt das über das hier zu behandelnde Thema der Gesetzesbestimmtheit hinaus, so dass es angebracht erscheint, hier aufzuhören.
Die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes für die Auslegung nicht strafrechtlicher Bezugsnormen HARRO OTTO
I. Bestimmtheitsgrundsatz und allgemeine Grundsätze des Strafrechts Auf die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes für die praktische Rechtsanwendung hat Manfred Seebode mehrfach hingewiesen, zugleich aber auch dessen geringe Achtung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung beklagt.1 Er stellte dabei heraus, dass das BVerfG zwar häufig das Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit betone, letztlich aber in seiner Rechtsprechung zu Art. 103 Abs. 2 GG das Verfassungsgebot „wirkungslos gemacht“ habe.2 Dennoch hielt er angesichts dieses Sachverhalts Resignation nicht für angemessen, sondern das Bemühen, die Entwicklung umzukehren.3 12 Jahre später konstatiert Manfred Seebode, dass dieses Bemühen die Situation nicht geändert habe. Die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 103 Abs. 2 GG sei für jede Überraschung gut, nur eine beliebige Verwendbarkeit und regelmäßige Bedeutungslosigkeit des Bestimmtheitsgebots seien gewiss.4 Dabei hat der Bestimmtheitsgrundsatz in den letzten Jahren eine erhebliche und grundsätzliche Ausdehnung durch die höchstrichterliche Forderung erfahren, dass auch die Auslegung von Strafgesetzen hinreichend bestimmt sein müsse und an den Kriterien des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen sei.5 Mit diesem Gebot bestimmter Gesetzesauslegung hat „der Bestimmtheitsgrundsatz im Wege der Rechtsfortbildung eine neue und eigenständige Ausformung“ erhalten,6 die sachlich aber durchaus angemessen und berechtigt ist. Wenn nämlich der Gesetzgeber mit dem Wortlaut einer Vorschrift einen 1
Vgl. Seebode Spendel-FS, 1992, S. 317 ff; ders. JZ 2004, 305 ff. Dazu Seebode Spendel-FS, S. 326; ders. JZ 2004, 306 f. 3 Seebode Spendel-FS, S. 328 f. 4 Seebode JZ 2004, 307. 5 Vgl. dazu BVerfGE 87, 209, 229; BGHSt 35, 270, 283; 50, 150 ff; dazu Kuhlen Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 94 ff; ders. Otto-FS, 2007, S. 102 ff. 6 Kuhlen Otto-FS, S. 103. 2
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Regelungsrahmen schafft, den der Richter konkretisierend ausfüllt,7 so ist es in der Tat „nur folgerichtig, auch von der richterlichen Auslegung des Gesetzes einen Beitrag zur Bestimmung des Strafrechts zu fordern“.8 Gleichwohl erscheint es problematisch, ob die Erstreckung des Art. 103 Abs. 2 GG auf die richterliche Auslegung nicht den Regelungsgehalt des Art. 103 Abs. 2 GG sprengt, weil es sich bei der Forderung, dass der Richter seiner Rechtsanwendung nicht eine verfassungswidrige Auslegung des Gesetzes zu Grunde legt, um ein Postulat handelt, das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, ergibt, nicht aber unmittelbar aus Art. 103 Abs. 2 GG. – Das kann aber hier dahinstehen, denn ins allgemeine Problembewusstsein ist diese Erweiterung des Grundsatzes der Gesetzesbestimmtheit noch nicht gedrungen, wie sich bei der Auslegung blankettausfüllender Normen zeigt, bei der es darum gehen muss, die das Strafrecht tragenden Grundsätze hinreichend zu beachten, da diese Grundsätze Inhalt und mögliche Grenzen strafrechtlicher Begriffe maßgeblich bestimmen. Das erweist sich eklatant im Rahmen der strafrechtlichen Haftung als Täter, wenn die das Blankett ausfüllende öffentlich-rechtliche Norm nach den Verantwortlichkeitsregeln des allgemeinen Rechts der Gefahrenabwehr auf den Störer als den Verantwortlichen verweist, während das Strafrecht erheblich höhere Anforderungen an den „Täter“ stellt. – Relevant wird diese Problematik z. B. beim Verbot des Inverkehrbringens von Stoffen als kosmetische Mittel bzw. als Bedarfsgegenstände, die „bei bestimmungsgemäßem oder vorauszusehendem Gebrauch“ geeignet sind, die Gesundheit zu schädigen, § 58 Abs. 1 Nr. 12, Abs. 6 in Verb. mit § 26 S. 1 Nr. 2 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs vom 1. 9. 2005 (LFGB) und beim Verbot des Inverkehrbringens bedenklicher Arzneimittel, § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 des Arzneimittelgesetzes (AMG). Der Problematik, die hier an den Regelungen des AMG exemplifiziert werden soll, kommt erhebliche praktische Bedeutung zu. Die Beschäftigung mit ihr auf der Grundlage der positiven Äußerungen des BVerfG zum Bestimmtheitsgrundsatz als Auslegungsprinzip ist daher als Fortsetzung der Bemühungen des verehrten Jubilars, dem Bestimmtheitsgrundsatz in der praktischen Rechtsanwendung den ihm zukommenden Rang einzuräumen, zu verstehen.
7 Dazu Krey Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, S. 137 ff; Roxin Strafrecht, A.T. I, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn 28. 8 Kuhlen Otto-FS, S. 103.
Die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes
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II. Die Rechtsnatur des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG ist ein sog. Blankettgesetz, dessen inhaltliche Bestimmung erst durch eine weitere Vorschrift, die sog. blankettausfüllende Norm, auf die § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG Bezug nimmt, konkretisiert wird. Blankettausfüllende Norm ist im vorliegenden Fall § 5 AMG. Indem § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 AMG im Hinblick auf das Verbot, Arzneimittel, bei denen der Verdacht auf schädliche Wirkungen besteht, in den Verkehr zu bringen, auf § 5 AMG verweist, verleiht er dem § 5 AMG im Umfang der Bezugnahme den Charakter einer Strafnorm, da sich der vollständige Gesetzeswortlaut erst aus der Verbindung der Blankettnorm mit der das Blankett ausfüllenden Norm ergibt. Beide Normen sind als Einheit zu lesen.
III. Verfassungsrechtliche Anforderungen an Blankettstraftatbestände 1. Grundsätzliche Voraussetzungen Die Verbindung der Blankettnorm (Sanktionsnorm) mit der das Blankett ausfüllenden Norm zum relevanten Straftatbestand begründet eine besondere Problematik der blankettausfüllenden Norm, die in ihrem öffentlichrechtlichen Umfeld und Anwendungsbereich grundsätzlich nicht den Anforderungen genügen muss, die an strafrechtliche Normen zu stellen sind. Als Teil einer Strafrechtsnorm muss die Norm den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügen.9
2. Die Verfassungsgemäßheit des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG Nach Auffassung des BVerfG genügt § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG,10 und auch der BGH hat die Ansicht vertreten, dass § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG sowohl im Hinblick auf die Verwendung des Arzneimittelbegriffs11 als auch im Hinblick auf das Merkmal „bedenklich“12 den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes entspricht. – Die Literatur akzeptiert
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Dazu im Einzelnen BVerfG 41, 314, 319. Vgl. BVerfG wistra 2000, 379. 11 Vgl. BGHSt 43, 336, 342 f. 12 BGH NStZ 1999, 625. 10
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diese Auffassung weithin.13 – Dem soll nicht weiter nachgegangen werden, da es die hier als relevant herausgestellte Auslegungsproblematik nicht betrifft.
IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Auslegung von Blankettstraftatbeständen 1. Das Problem der Normspaltung Bei der Auslegung von Blankettstraftatbeständen, die auf eine zivil- oder öffentlich-rechtliche Norm als blankettausfüllende Norm verweisen, stellt sich die Problematik, ob diese zivil- oder öffentlich-rechtlichen Verhaltensnorm nach den Grundsätzen des Art. 103 Abs. 2 GG ausgelegt werden muss, oder ob diese Norm in ihrer zivil- oder öffentlich-rechtlichen Auslegung der konkrete Bezugspunkt der strafrechtlichen Blankettnorm ist. Geltend gemacht wird, dass dann, wenn die außerstrafrechtliche Norm nicht in ihrem „außerstrafrechtlichen Verständnis“ zum Bezugsobjekt der Sanktionsnorm gemacht wird, sondern in einem restriktiven „strafrechtlichen Verständnis“, die Gefahr der Normspaltung begründet ist.14 Der Übernahme der strafrechtlichen Auslegung in das Zivil- bzw. öffentliche Recht15 steht hingegen die u. U. anders ausgerichtete Zielsetzung dieses Rechtsgebiets in der Auslegung der konkreten Norm entgegen. Das BVerfG hat in dieser Auseinandersetzung eindeutig Stellung bezogen. Nach seiner Auffassung steht Art. 103 Abs. 2 GG dem Versuch entgegen, die außerstrafrechtliche Norm in ihrem außerstrafrechtlichen Verständnis zum Bezugsobjekt der Sanktionsnorm zu machen. Die außerstrafrechtliche Norm ist demgemäß „unter strafrechtlichen Gesichtspunkten und nach den Maßstäben zu würdigen ..., die für die Auslegung von Strafgesetzen gelten.16 „Es ist daher eine enge Auslegung geboten,17 die im Hinblick auf
13 Vgl. insoweit Körner Betäubungsmittelgesetz, Arzneimittelgesetz, 5. Aufl. 2001, AMG § 95 Rn 1. 14 Vgl. Raisch/Maasch Benisch-FS, 1989, S. 216. 15 Vgl. dazu Dannecker Rivista Trimestrale 1990, 451; Möhring GRUR 1968, 543 f; Raisch ZHR 1966, 165 ff; Schüppen Systematik und Auslegung des Bilanzrechts, 1993, S. 197 f. 16 BVerfGE 48, 48, 60 f; dazu auch BGHSt 24, 54, 61 f; Herschel JuS 1965, 261 f; Kohlmann Steuerstrafrecht, Bd. I, 5. Aufl. Teil B, Rn 14; Lüderssen Schroeder-FS, 2006, S. 574 ff; ders. NStZ 2007, 20; Otto Grundkurs Strafrecht, A.T., 7. Aufl. 2004, § 2 Rn 7; ders. Jura 2005, 539; Schulze/Osterloh in: Kohlmann (Hrsg.), Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, 1983, S. 50; Steindorff Larenz-FS, 1973, S. 242 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht, A.T., 2. Aufl. 2007, § 4 Rn 105; Ulmer WuW 1971, 885. 17 BVerfGE 48, 48, 61 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht, § 4 Rn 105.
Die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes
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die blankettausfüllende Norm streng an den maßgebenden Grundsätzen des Strafrechts und am Bestimmtheitsgrundsatz zu messen ist. In ständiger Rechtsprechung geht das BVerfG daher davon aus, dass nicht nur die gesetzliche Formulierung einer Strafnorm dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen muss, sondern auch die Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale seien so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich des Straftatbestandes zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen.18 Unter diesem Aspekt ist für die Bestimmtheit einer Strafvorschrift in erster Linie der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestands maßgebend.
2. Konsequenzen für die Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG Die strenge Bindung an den Gesetzeswortlaut und seine Grenzen sowie die Beachtung strafrechtlicher Grundsätze bei der Auslegung sind demgemäß bei der Interpretation des Begriffs des „bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Arzneimittels“ im Sinne des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG die verbindlichen Leitlinien der Auslegung.
V. Die Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG 1. Die Auslegung des Begriffs des bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Arzneimittels im Rahmen des Arzneimittelrechts a) Die subjektive Theorie Einhellig anerkannt ist in der Literatur zum Arzneimittelrecht, dass zunächst die Verwendung eines Arzneimittels bestimmungsgemäß ist, die den vom pharmazeutischen Unternehmen abgegebenen Gebrauchsangaben entspricht. Die bei Fertigarzneimitteln im Sinn des § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AMG vorgeschriebenen Angaben durch das pharmazeutische Unternehmen auf der Packung, § 10 AMG, in der Packungsbeilage, § 11 AMG, und in der für Ärzte und Apotheker bestimmten Fachinformation, § 11 a AMG, haben für den bestimmungsgemäßen Gebrauch konstitutive Bedeutung. Das pharmazeutische Unternehmen legt den bestimmungsgemäßen Gebrauch durch
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Vgl. BVerfGE 75, 329, 341; 55, 144, 152; 47, 109, 120; 41, 314, 319; 26, 41, 42; 25, 269,
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Festlegung der Anwendungsbereiche, der Art und Weise sowie der Dauer der Anwendung und der Kontraindikationen fest. Unabhängig von diesem Grundkonsens wird sodann aber in der Literatur differenziert. Während die einen als bestimmungsgemäßen Gebrauch nur den vom pharmazeutischen Unternehmen19 vorgesehenen Gebrauch anerkennen,20 ergänzen andere den damit abgesteckten Bereich durch weitere objektive Kriterien, die aber nicht allgemein definiert werden. Der bestimmungsgemäße Gebrauch wird vielmehr nach objektiven Kriterien auf bestimmte Fallgruppen ausgedehnt.
b) Der wissenschaftlich anerkannte Gebrauch Eine besondere Bedeutung bei der Erfassung des „bestimmungsgemäßen Gebrauchs“ kommt dem wissenschaftlich anerkannten Gebrauch zu. Bestimmungsgemäß soll nämlich auch der von der Bestimmung des pharmazeutischen Unternehmens abweichende, aber wissenschaftlich anerkannte Gebrauch sein,21 doch liegt dessen Problematik keineswegs in einer Erweiterung des durch das Unternehmen festgelegten Gebrauchs, da es hier um das Inverkehrbringen bedenklicher Arzneimittel geht. Das aber sind gemäß § 5 Abs. 2 AMG Arzneimittel, bei denen nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der begründete Verdacht besteht, dass sie bei bestimmungsgemäßem Gebrauch bestimmte schädliche Wirkungen haben. Solange der wissenschaftlich anerkannte Gebrauch daher unbedenklich ist, eröffnen sich – auch beim Abweichen von der Bestimmung des pharmazeutischen Unternehmens – keine Haftungsprobleme. Diese können allein relevant werden, wenn der wissenschaftlich anerkannte Gebrauch
19 Die Problematik anderer Normadressaten des § 5 AMG – Ärzte, Apotheker –, die durch Gebrauchsbestimmungen, die von denen des pharmazeutischen Unternehmens abweichen, durchaus Arzneimittel in Verkehr bringen können im Sinne des § 5 AMG – dazu BGH NStZ 1999, 625 – ist hier irrelevant und wird daher ausgeklammert. 20 Vgl. Deutsch in: Deutsch/Lippert, AMG § 5 Rn 3; Hasskarl BB 1973, 121; Hauke/Kremer PharmaR 1992, 164; Papier Der bestimmungsgemäße Gebrauch der Arzneimittel – die Verantwortung des pharmazeutischen Unternehmers –, 1980, S. 11 f; Rehmann Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2003, AMG § 5 Rn 3; Samson/Wolz MedR 1988, 72; Vogler MedR 1984, 19; Wagner Arzneimittel-Delinquenz, 1984, S. 76; Wolz Bedenkliche Arzneimittel als Rechtsbegriff, 1988, S. 68 f. – Auch Pelchen in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 136. Lieferung März 2000, AMG § 5 Rn 5, ist hier einzuordnen, da sein Hinweis auf das Verständnis der Verbraucherkreise nur für den Fall gilt, dass das pharmazeutische Unternehmen keine Bestimmung getroffen hat. 21 Vgl. Bertelsmann in: Schnieders/Mecklenburg (Hrsg.), Zulassung und Nachzulassung von Arzneimitteln, 1987, S. 133; Kloesel/Cyran Arzneimittelrecht, Kommentar, Stand: 1. Juli 2003, AMG § 5 Anm. 17; Plagemann WRP 1978, 782; Räpple Verbot, S. 74.
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bedenklich ist, dieser Sachverhalt von der Wissenschaft aber noch nicht erkannt ist. Vertraut das pharmazeutische Unternehmen auf die wissenschaftliche Anerkennung des Gebrauchs, so kommt bereits aus subjektiven Gründen seine Haftung nicht in Betracht. Weiß das pharmazeutische Unternehmen hingegen im Gegensatz zu den allgemeinen Erkenntnissen der Wissenschaft, dass der wissenschaftlich anerkannte Gebrauch bedenklich oder schädlich ist, oder hätte es dieses erkennen können, so trifft die Verantwortlichen des Unternehmens eine Informations-, Aufklärungs- und u. U. Beseitigungspflicht als Garanten unter dem Aspekt der Verkehrssicherungspflicht bzw. des vorangegangenen gefährlichen Tuns. – Die gleiche Informations-, Aufklärungs- und u. U. Beseitigungspflicht trifft die Verantwortlichen des Unternehmens, wenn die Gebrauchsinformation nicht mehr dem wissenschaftlich anerkannten Gebrauch entspricht, weil die neuere wissenschaftliche Forschung zur Entdeckung von Schadenseignungen des Arzneimittels geführt hat, die bei der Formulierung der Gebrauchsinformation noch nicht bekannt waren.22 Mit der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs des bestimmungsgemäßen Gebrauchs hat diese Problematik jedoch nichts zu tun. Ist die Unbedenklichkeit eines bestimmten Gebrauchs hingegen wissenschaftlich strittig, so liegt in dieser Art des Gebrauchs kein wissenschaftlich anerkannter Gebrauch. Dieser Begriff setzt einen übergreifenden Konsens der medizinischen Wissenschaft voraus. Einzelmeinungen begründen keinen wissenschaftlich anerkannten Gebrauch, wenn sie umstritten sind.
c) Erweiternde objektive Theorien Die Vertreter erweiternder objektiver Theorien in der Literatur gehen davon aus, dass die subjektive Gebrauchsbestimmung des pharmazeutischen Unternehmens durch das objektive Kriterium der allgemeinen Verkehrsauffassung zu erweitern und zu ergänzen ist,23 und der bestimmungsgemäße Gebrauch daher nicht nur durch die Angaben des pharmazeutischen Herstellers festgelegt wird, sondern auch den davon abweichenden nahe liegenden oder in großem Umfang praktizierten Fehlgebrauch erfasse.
22 Dazu auch Mayer Strafrechtliche Produktverantwortung bei Arzneimittelschäden, 2008, S. 590 f.; Wolter Schroeder-FS, 2006, S. 439. 23 Vgl. Körner AMG, Vorbem. Rn 59; Räpple Das Verbot bedenklicher Arzneimittel, 1991, S. 74.
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aa) Der in großem Umfang praktizierte Fehlgebrauch Die Erweiterung des durch das pharmazeutische Unternehmen vorgesehenen bestimmungsgemäßen Gebrauchs durch den in großem Umfang praktizierten Fehlgebrauch24 bleibt in ihren Grenzen verschwommen. Entscheidend soll hier sein, dass die Anwendung der medizinischen lex artis und den vom pharmazeutischen Unternehmen gemachten Angaben widerspricht, gleichwohl aber in großem Umfang praktiziert wird. Der bewusst in großem Umfang praktizierte Fehlgebrauch wird allerdings z.T. ausdrücklich als nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch qualifiziert.25 Darüber hinaus aber werden die Ursachen eines möglicherweise in großem Umfang praktizierten Fehlgebrauch und die Gründe der Zurechnung nicht näher definiert.
bb) Der nahe liegende – voraussehbare – Fehlgebrauch Als nahe liegender – voraussehbarer – Fehlgebrauch, der den vom pharmazeutischen Unternehmen angegebenen bestimmungsgemäßen Gebrauch ergänzen soll,26 wird ein vom empfohlenen Gebrauch abweichender Gebrauch definiert, der bei objektiver Betrachtung voraussehbar war. Soweit dieser Fehlgebrauch allerdings auf einer bewussten Entscheidung der Ärzte gegen den vom pharmazeutischen Unternehmen festgesetzten bestimmungsgemäßen Gebrauch beruht, wird das Verhalten auch hier z.T. ausdrücklich als „nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch“ erkannt.27 Im übrigen werden die Gründe des Fehlgebrauchs und die der Zurechnung aber nicht näher erörtert.
cc) Der nahe liegende, vom Hersteller stillschweigend gebilligte Fehlgebrauch Von einem nahe liegenden, vom Hersteller stillschweigend gebilligten Fehlgebrauch kann nur dann ausgegangen werden, wenn man im konkreten Fall das Stillschweigen des Herstellers als Billigung interpretieren kann. Das aber setzt voraus, dass der Hersteller sowohl den Fehlgebrauch als auch 24 So Bertelsmann in: Schnieders/Mecklenburg, S. 133; Granitza in: Schering (Hrsg.), Pharma-Forschung, Vorlesungsreihe, Heft 14, 1986, S. 21 f; Kloesel/Cyran AMG § 5 Rn 17; Mayer Produktverantwortung, S. 517, 525; Plagemann WRP 1978, 783; Räpple Verbot, S. 74. 25 Vgl. Flatten MedR 1993, 464; Räpple Verbot, S. 74 m.N. 26 Vgl. Bertelsmann in: Schnieders/Mecklenburg, S. 133; Flatten MedR 1993, 464; Granitza Pharma-Forschung, S. 21 f; Kloesel/Cyran AMG § 5 Rn 17; Plagemann WRP 1978, 784; Räpple Verbot, S. 74. 27 Vgl. Flatten MedR 1993, 464; Mayer Produktverantwortung, S. 516; Räpple Verbot, S. 74 m.N.
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dessen nicht mehr vertretbare Risiken positiv kennt und gleichwohl nicht auf diese Risiken in geeigneter Weise hinweist.
d) Die Rechtsprechung aa) Das BVerfG hat sich mit der hier relevanten Problematik des bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Arzneimittels und seiner Grenzen nur in einem Teilbereich befasst, indem es – im Anschluss an den BGH – davon ausging, dass auch Ärzte und Apotheker einen bestimmungsgemäßen Gebrauch festlegen können, wenn sie ein Arzneimittel massenweise undifferenziert verschreiben, ohne zureichende Untersuchung und Überwachung und unter Vernachlässigung von Kontraindikationen.28 bb) Der BGH in Strafsachen hat die Problematik, ob der bestimmungsgemäße Gebrauch subjektiv durch das pharmazeutische Unternehmen zu bestimmen ist oder ob diese Bestimmung durch das objektive Kriterium der allgemeinen Verkehrsauffassung zu ergänzen ist, zwar angesprochen, die Frage aber offen gelassen, weil es auf diesen Meinungsstreit im konkreten Fall nicht ankam.29 cc) Der BGH in Zivilsachen hat in der sog. Estil-Entscheidung die Herstellerfirma eines Arzneimittels zum Schadenersatz verurteilt, obwohl die Produktinformation einen Warnhinweis in Bezug auf bestimmte Anwendungsarten des Arzneimittels enthielt, und die Anwendung des Arzneimittels im konkreten Fall entgegen dem Hinweis des Herstellers erfolgte. Die Verurteilung erfolgt aber nicht unter Bezug auf einen praktizierten Fehlgebrauch großen Umfangs oder allgemein auf einen nahe liegenden – vorhersehbaren – Fehlgebrauch. Die Verurteilung wurde vielmehr vom BGH damit begründet, dass der Hersteller es unterlassen habe, ausreichend vor der Gefahr eines nahe liegenden Fehlgebrauchs bei der konkreten Anwendung des Arzneimittels zu warnen: BGH NJW 1972, 2217, 2220: „Daß eine wirksame Warnung vor spezifischen Gefahren, die von einem in Verkehr gebrachten Erzeugnis ausgehen, zu den Pflichten des Herstellers gehört, deren Verletzung zur Haftung für daraus Dritten erwachsende Schäden führen kann, ist in der Rechtsprechung seit langem anerkannt ... ... Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht angesichts dessen meint, daß der Arzt auf den vollen Umfang des mit der Wahl die-
28 29
Vgl. BVerfG wistra 2000, 379; BGH NStZ 1999, 625. Vgl. BGHR, AMG § 95 Abs. 1 Nr. 1; Arzneimittel 2.
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ses Mittels eingegangenen Risikos habe hingewiesen werden müssen, weil er nur so zu der in besonderem Maße gebotenen größtmöglichen Sorgfalt angehalten und dazu veranlaßt worden wäre, in Zweifelsfällen auf dieses Mittel überhaupt zu verzichten.“ S. 2221: „Die Revision bemerkt schließlich ohne Erfolg, der Arzneimittelhersteller könne nur für die bestimmungsgemäße Anwendung seines Erzeugnisses verantwortlich sein; die Einbringung eines für intravenöse Applikation vorgesehenen Mittels in die Arterie stelle eine nicht bestimmungsgemäße Anwendung dar, deren Folgen dem Hersteller nicht zugerechnet werden könnten. Dies kann nur insoweit gelten, als eine bewußte Fehlanwendung (etwa oral statt, wie vorgesehen, äußerlich) in Frage steht. Dann mag durch das Dazwischentreten fremden Handelns die Zurechnung unterbrochen sein. Aber selbst insoweit ist der Hersteller gegebenenfalls nicht von der Pflicht befreit, vor nahe liegendem Mißbrauch – etwa durch die deutliche Aufschrift „äußerlich“! (vgl. jetzt § 10 Abs. 6 Nr. 3 AMG) – angemessen zu warnen. Eben um eine solche Hinweispflicht geht es aber hier. Sie hat umso größeres Gewicht, wo es gilt, nicht einer bewußten, sondern einer versehentlichen Fehlanwendung (einem „Danebengehen“) vorzubeugen, wenn diese – wie hier festgestellt – nicht ganz fern liegt und Folgen von überraschender Schwere haben muß. Ob auch der Arzt schuldhaft gehandelt hat, ist so lange unerheblich, als das Verschulden des Herstellers gerade darin liegt, daß er solchen nicht ganz fern liegenden ärztlichen Fehlleistungen nicht entgegengewirkt hat.“
Haftungsgrund ist danach nicht ein in großem Umfang praktizierter oder ein nahe liegender – vorhersehbarer – Fehlgebrauch, sondern das Fehlen von Warnhinweisen, die einen nahe liegenden Fehlgebrauch verhindert hätten.30 Aus der Sicht des BGH beruhte die gefährliche Praxis nicht auf einem Fehlgebrauch des Arzneimittels durch die Ärzte, sondern auf der mangelhaften, weil lückenhaften Produktinformation des Herstellers, der nicht hinreichend über die Gefahren bei der Verwendung des Arzneimittels aufgeklärt und vor bestimmten Verwendungsarten nachdrücklich gewarnt hatte. Damit aber wird eine ganz spezifische Situation des nahe liegenden – vorhersehbaren – Fehlgebrauchs erfasst und gerade auch vom bewussten Fehlgebrauch unterschieden.
30 Das OVG Berlin hat nach der Beurteilung eines Warnhinweises in der Produktivformation als hinreichend die Handhabung des Arzneimittels entgegen diesem Warnhinweis als bestimmungswidrigen Gebrauch angesehen; vgl. OVG Berlin PharmaR 1988, 57.
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2. Die Auslegung des Begriffs des bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Arzneimittels als Merkmal eines Straftatbestandes Eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Interpretationen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Arzneimittels im Sinn des Arzneimittelrechts führt die Untersuchung solange nicht weiter, als nicht geklärt ist, welche Grenzen die strafrechtlich bedingten verfassungsrechtlichen Vorgaben den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten setzen.
a) Die verfassungsrechtlichen Vorgaben Wie unter III. dargelegt sind die Merkmale des § 5 AMG als Bestandteil der Blankettstrafnorm § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG unter strafrechtlichen Gesichtspunkten und nach den Maßstäben auszulegen, die für die Auslegung von Strafgesetzen gelten.
aa) Auslegung der Tatbestandsmerkmale Die Auffassung von Anhängern „objektiver Theorien“ auch bei eindeutigen, vollständigen und verständigen Fach- und Gebrauchsinformationen gemäß §§ 11, 11 a AMG die strafrechtliche Haftung der Verantwortlichen der Herstellerfirma zu bejahen, wenn Dritte (Ärzte, Patienten) durch ihr Verhalten einen der subjektiven Herstellerbestimmung zuwider laufenden, jedoch voraussehbaren Fehlgebrauch vornehmen, hat Wolter als verfassungswidrig abgelehnt. Er hat mit Recht geltend gemacht, dass der Versuch, den aus dem Lebensmittelrecht stammenden Begriff des bestimmungswidrigen, vorhersehbaren Fehlverhaltens neben den „bestimmungsgemäßen Gebrauch“ in §§ 5, 95 AMG hineinzuinterpretieren, gegen den Grundsatz „nulla poena sine lege“ und das Analogieverbot verstößt.31 – Doch verletzt sind nicht nur die Wortlautgrenzen.
bb) Die Beachtung strafrechtlicher Grundsätze Der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG kann nicht isoliert gesehen werden. Er wird vielmehr konkretisiert durch das Verantwortungsprinzip, das das Strafrecht wesentlich bestimmt, denn der Vorwurf, tatbestandsmäßig und rechtswidrig einen Straftatbestand verwirklicht zu haben, setzt die Feststellung voraus, dass das tatbestandsmäßige Verhalten als Werk des Täters und nicht als Werk irgendeiner anderen Person anzusehen ist. Damit wird der Gegenstand der Auslegung, der sodann auch unter dem 31
Wolter, Schroeder-FS, S. 438.
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Bestimmtheitsgrundsatz zu würdigen ist, durch das Verantwortungsprinzip als strafrechtlichem Maßstab, an dem das relevante Verhalten zu messen ist, begrenzt. Die im Strafrecht vorausgesetzte Möglichkeit, einer Person ein bestimmtes Verhalten oder einen bestimmten Erfolg als ihr Werk zuzurechnen, setzt die Geltung des Verantwortungsprinzips voraus. Dieses Prinzip konstatiert nämlich, dass jede Person grundsätzlich für ihr eigenes Verhalten verantwortlich ist und nicht für das Verhalten frei verantwortlich handelnder Dritter.32 Daraus folgt, dass dann, wenn sich in einem Erfolg nicht die ursprünglich begründete Gefahr (Ausgangsgefahr) realisiert, sondern eine neue, erst durch einen Dritten begründete Gefahr, die Verantwortung für den Erfolg nicht mehr den Erstverursacher trifft. Gleichwohl ist es nicht möglich, ein absolutes Regressverbot zu begründen, wie dieses z.T. in der Literatur gefordert wird, und die Verantwortung für einen Erfolg gleichsam automatisch dem Letztverursacher zuzuweisen. Denn dem Erstverursacher sind trotz des Dazwischentretens Dritter auch solche Erfolge zuzurechnen, die sich noch als Realisierung der Ausgangsgefahr darstellen.33 Danach trägt der Erstverursacher auch die Verantwortung für Rechtsgutsbeeinträchtigungen, die sich erst durch ein anknüpfendes pflichtwidriges oder pflichtgemäßes Verhalten Dritter realisieren, die aber bereits in der Erstgefährdung angelegt waren und durch deren Verbot auch vermieden werden sollten.34
b) Konsequenzen für die Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG aa) Vor dem Hintergrund des Verantwortungsprinzips ist unter dem bestimmungsgemäßen Gebrauch eines Arzneimittels im Sinn des § 5 Abs. 2 AMG der Gebrauch des Arzneimittels zu verstehen, der den von dem pharmazeutischen Unternehmen gegebenen Gebrauchsangaben auf der Packung, 32 Im Einzelnen dazu Cramer/Sternberg-Lieben, in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn 148 ff; Kühl Strafrecht, A.T., 5. Aufl. 2005, § 4 Rn 84; Lenckner Engisch-FS, 1969, S. 506 f; Otto Tröndle-FS, 1989, S. 157; ders. E.A. Wolff-FS, 1998, S. 400 f; ders. Grundkurs Strafrecht, A.T., § 6 Rn 48 ff; Renzikowski Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 68 ff, 74 ff; Reyes ZStW 105 (1993), 109 f; Schumann Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 19 ff; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, A.T. I, 5. Aufl. 2004, § 15 Rn 65 ff. 33 Eingehender dazu Kühl, A.T., § 4 Rn 85; Namias Die Zurechnung von Folgeschäden im Strafrecht, 1993, S. 136 ff; Otto E.A. Wolff-FS, S. 407 ff; ders. Grundkurs Strafrecht, A.T., § 6 Rn 50; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele Vorbem. §§ 13 ff Rn 102. 34 Otto Grundkurs Strafrecht, A.T., § 6 Rn 50.
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in der Packungsbeilage und in der für Ärzte und Apotheker bestimmten Fachinformation entspricht. Diesen Gebrauch haben die für das Unternehmen Verantwortlichen initiiert und daher sind sie für diesen Gebrauch verantwortlich. – Insoweit findet die subjektive Theorie auch im Strafrecht eine sichere Grundlage. Unter dem Aspekt der Bestimmtheit der Auslegung, Art. 103 Abs. 2 GG, sind keine Einwände ersichtlich. bb) Da es sich aber bei Produktinformationen des pharmazeutischen Unternehmens um eine Erklärung im sozialen Raum handelt, unterliegt diese Erklärung den Regeln der Auslegung, die in diesem Bereich gelten. Das heißt: erklärt ist, was sich bei objektiver Auslegung aus dem Empfängerhorizont ergibt. An diese Erklärung muss sich der Äußernde halten lassen, das erfordert die im sozialen Bereich notwendige Rechtssicherheit. Das bedeutet im Hinblick auf das Inverkehrbringen eines Arzneimittels, das beim bestimmungsgemäßen Gebrauch zu schädlichen Wirkungen führen kann, dass das pharmazeutische Unternehmen nicht nur verantwortlich ist für den Gebrauch, der den vom pharmazeutischen Unternehmen gegebenen Gebrauchsangaben entspricht. Es muss sich auch den Gebrauch als bestimmungsgemäßen zurechnen lassen, den ein vernünftiger Adressat (Arzt, Apotheker) den Angaben des pharmazeutischen Unternehmens als bestimmungsgemäßen Gebrauch entnehmen konnte und durfte. Soweit daher – aus der Sicht eines vernünftigen Adressaten der Angaben – ein bestimmter Gebrauch des Arzneimittels seinen Grund in unrichtigen, unvollständigen, lückenhaften oder missverständlichen Produktinformationen hat, ist dieser Gebrauch dem pharmazeutischen Unternehmen als bestimmungsgemäßer Gebrauch zuzurechnen. Ein Gebrauch der darauf beruht, dass Ärzte oder Apotheker die Produktinformationen nicht, nur oberflächlich oder unvollständig zur Kenntnis nehmen oder sich bewusst über diese Information hinwegsetzen, ist hingegen kein bestimmungsgemäßer Gebrauch im Sinne des § 5 Abs. 2 AMG.35
c) Konsequenzen für den Theorienstreit zur Auslegung des Merkmals des bestimmungsgemäßen Gebrauchs in § 5 Abs. 2 AMG. aa) Die subjektive Theorie Als in vollem Umfang mit den strafrechtlichen Grundsätzen bei der Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG vereinbar hat sich die subjektive Theorie erwiesen. – Sie ist auch sachgerecht, denn sie entspricht dem das Strafrecht beherrschenden Verantwortungsprinzip.
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Dazu Mayer Produktverantwortung, S. 516; Wolter Schroeder-FS, S. 441 ff.
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bb) Der in großem Maße praktizierte und der nahe liegende – vorhersehbare – Fehlgebrauch Unter strafrechtlich-verfassungsrechtlichen Aspekten kann ein in großem Umfang praktizierter oder ein nahe liegender – vorhersehbarer – Fehlgebrauch als solcher dem pharmazeutischen Unternehmen nicht als bestimmungsgemäßer Gebrauch zugerechnet werden. Maßgeblicher strafrechtlicher Anknüpfungspunkt ist vielmehr der Grund des in großem Umfang praktizierten Fehlgebrauchs. Hat dieser Fehlgebrauch seinen Grund in unrichtigen, unvollständigen, lückenhaften oder missverständlichen Produktinformationen des pharmazeutischen Unternehmens, so ist dieser Fehlgebrauch dem pharmazeutischen Unternehmen als bestimmungsgemäßer Gebrauch zuzurechnen. Beruht der Fehlgebrauch hingegen darauf, dass die Adressaten der mangelfreien Produktinformation sich bewusst über diese hinwegsetzen oder sie nicht, nur oberflächlich oder unvollständig zur Kenntnis nehmen, so ist der Fehlgebrauch nicht mehr als bestimmungsgemäßer Gebrauch zu akzeptieren. Dass der Fehlgebrauch u. U. in großem Maße praktiziert wird, nahe liegt oder vorhersehbar war, ändert daran nichts. Verantwortlich für diesen Fehlgebrauch sind nicht die Verantwortlichen des pharmazeutischen Unternehmens, sondern diejenigen, die den Fehlgebrauch praktizieren. Das gilt z. B. auch, wenn ein Arzneimittel in großem Umfang als Droge missbraucht wird. – Unabhängig davon, ob das Arzneimittel nach Grundsätzen des allgemeinen Polizeirechts u. U. vom Markt genommen werden kann, ist der Fehlgebrauch dem Unternehmen und seinen Verantwortlichen jedenfalls nicht als „bestimmungsgemäßer Gebrauch“ zuzurechnen. Soweit das Polizeirecht hier u. U. andere Wege geht, sind diese dem Strafrecht verschlossen. Grundsätzlich lässt sich daher feststellen, dass die verantwortlichen Personen eines pharmazeutischen Unternehmens, die eine fehlerfreie und vollständige Produktinformation herausgegeben haben, nicht für einen Fehlgebrauch haften, der darin begründet ist, dass die Adressaten der Produktformation sich bewusst über diese hinwegsetzen oder sie nicht, nur oberflächlich oder unvollständig zu Kenntnis nehmen. In einer ordnungsgemäßen und vollständigen Produktinformation ist nicht die Gefahr eines Fehlgebrauchs des Produkts angelegt!
cc) Der nahe liegende, vom Hersteller gebilligte Fehlgebrauch Soweit ein von den Festlegungen des pharmazeutischen Unternehmens abweichender Gebrauch unbedenklich ist, ergeben sich für das Unternehmen keine Verpflichtungen dagegen einzuschreiten. Führt der Fehlgebrauch jedoch zur Bedenklichkeit des Gebrauchs oder begründet er sogar konkrete
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Risiken, so können für das Unternehmen – auch wenn der Fehlgebrauch nicht auf Fehler des Unternehmens im Sinne der unter bb) erörterten Gründe zurückgeht – besondere Aufklärungs- und Informationspflichten begründet sein. Erst wenn das Unternehmen im konkreten Fall trotz Kenntnis des Fehlgebrauchs und trotz Kenntnis der Risiken nichts unternimmt, sondern diesen Fehlgebrauch sogar billigt, muss es sich diesen Fehlgebrauch als bestimmungsgemäßen Gebrauch zurechnen lassen. Allein aus dem Stillschweigen kann aber nicht auf eine Billigung geschlossen werden. Erforderlich ist hier ein Verhalten, das als positive Unterstützung des Fehlgebrauchs interpretiert werden kann, darf und muss.
VI. Ergebnis 1.
2.
3.
Der bestimmungsgemäße Gebrauch eines Arzneimittels im Sinne des § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 in Verb. mit § 5 AMG wird grundsätzlich durch die vom pharmazeutischen Unternehmen erstellte Fachinformation und Packungsbeilage sowie die Packungsbeschriftung festgelegt. Abweichungen von einem Gebrauch gemäß Fachinformationen, Packungsbeilage und Packungsbeschriftung sind dem pharmazeutischen Unternehmen nur dann zuzurechnen, wenn dieser abweichende Gebrauch auf unrichtigen, unvollständigen, lückenhaften oder missverständlichen Produktinformationen durch das pharmazeutische Unternehmen beruht. Auch ein in großem Umfang praktizierter oder ein nahe liegender – vorhersehbarer – Fehlgebrauch, der seinen Grund nicht in unrichtigen, unvollständigen, lückenhaften oder missverständlichen Produktinformationen des pharmazeutischen Unternehmens hat, ist dem Unternehmen nicht als „bestimmungsgemäßer Gebrauch“ zuzurechnen. Der verfassungsrechtlich verbindliche Verantwortungsgrundsatz steht einer derartigen strafrechtlichen Zurechnung entgegen.
II. Strafrecht und Strafverfahrensrecht
Zur strafrechtlichen Behandlung von „Folter“ in der Notwehrlage VOLKER ERB
I. Einführung Keine andere Streitfrage dürfte das strafrechtliche Schrifttum in den vergangenen Jahren so sehr gespalten haben wie diejenige nach der Rechtfertigung körperlicher Gewalt, mit der ein Entführer oder ein Attentäter gezwungen werden soll, die zur Rettung seines Opfers benötigten Informationen preiszugeben. Dabei gehört auch der verehrte Jubilar zum Kreis derer, die zumindest für die strafrechtliche Behandlung desjenigen, der im Rahmen des Erforderlichen zu entsprechenden Mitteln greift, eine Rechtfertigung in Betracht ziehen, und zwar auch dann, wenn es sich dabei um einen Amtsträger in Ausübung seines Dienstes handelt.1 Die Anhänger der Gegenansicht kann man im Wesentlichen in drei Gruppen unterteilen: Den wohl zahlenmäßig größten Anteil bilden diejenigen, die dem hier vertretenen Standpunkt in weitgehend pauschaler Form die Argumente entgegenhalten, die schon früher für eine unbedingte Strafbarkeit ins Feld geführt 1 Seebode, Strafrechtliche Bemerkungen zum Folterverbot, in: Goerlich (Hrsg.) Staatliche Folter (2007), S. 51 (62 ff.). Weiterhin wären (mit unterschiedlichen Begründungen) etwa zu nennen: Bertram, RuP 2005, 245 ff.; ders., RuP 2006, 224 ff.; Erb, in: MünchKomm-StGB Bd. 1 (2003), § 32 Rn. 173 ff.; ders., Jura 2005, 24 ff.; ders., NStZ 2005, 593 (598 ff.); ders., Folterverbot und Notwehrrecht, in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? (2005), S. 149 ff.; weiterer Abdruck des Beitrags in: W. Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt? (2006), S. 19 ff.; Fahl, JR 2004, 182 (186 ff.); Gössel, FS Otto (2007), S. 41 ff.; H. Götz, NJW 2005, 953 ff.; Gromes, Präventionsfplter – ein rechtsgebietsübergreifendes Problem; Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 613 (619 f.); Jerouschek, JuS 2005, 296 (302); Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. (2005), § 7 Rn. 156a; ders., in: Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. (2007), § 32 Rn. 17a; ders., FS Otto (2007), S. 63 (76 f.); Meyer-Goßner, StPO, 50. Auf. (2007), Art. 3 MRK Rn. 1; Otto, Grundkurs AT, 7. Aufl. (2004), § 8 Rn. 59; ders., JZ 2005, 473 (480 f.); monographisch Wagenländer, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter (2006), passim m. Bespr. Erb, GA 2007, 361 ff.; tendenziell auch Kudlich, JuS 2005, 377 (379); Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (400 f.); Miehe, NJW 2003, 1219 (1220); für eine Anwendung von § 32 StGB als Strafausschließungsgrund Schulz, Das Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Ist Folter erlaubt? Juristische und philosophische Aspekte, Hrsg. W. Lenzen (2006), S. 77 (87 ff.); differenzierend Herzberg, JZ 2005, 321 ff.
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wurden, nämlich die angebliche „Absolutheit“ des Folterverbots, die aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG sowie aus internationalen Übereinkommen folge, und die vermeintlich drohenden Weiterungen einer in Einzelfällen gewährten Rechtfertigung.2 Eine nähere Auseinandersetzung mit den hiergegen vorgebrachten Bedenken findet dabei regelmäßig nicht statt.3 Die zweite Gruppe bilden Autoren, die zusätzlich den Versuch unternehmen, die Notwehrlösung als absurd, primitiv oder als Ausfluss rechtsstaatsfeindlicher Tendenzen erscheinen zu lassen. Dies geschieht etwa durch die Aufstellung willkürlicher Behauptungen darüber, welche Konsequenzen die Annahme einer Rechtfertigung nach § 32 StGB angeblich impliziere, um eine solche mit vordergründiger Plausibilität pauschal als „abwegig“ bezeichnen zu können,4 durch ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat, das den Anschein erweckt, die hier vertretene Ansicht stütze sich in erster Linie auf das „Volksempfinden“,5 oder durch die Unterstellung von Querverbindungen zum Konzept eines „Feindstrafrechts“6 und zum „Krieg gegen den Terrorismus“.7 Den erfreulichen Gegenpol zu dieser Polemik bilden als dritte Gruppe schließlich diejenigen, die in eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Argumenten eingetreten sind, die für eine strafrechtliche Rechtfertigung sprechen – sei es im Detail,8 sei es wenigs-
2 Vgl. aus dem neueren Schrifttum etwa Ambos/Rackow, Jura 2006, 943 (948); Beutler, Strafbarkeit der Folter zu Vernehmungszwecken (2006), S. 106 ff., 209; Braum, KritV 2005, 283 (294 ff.); Ellbogen, Jura 2005, 339 (341 f.); Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (2006), § 16 Rn. 2; Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Auf. (2006), § 32 Rn. 62a; Momsen, in: BeckOK StGB (Stand 1.6.2007); Norouzi, JA 2005, 306 (309 f.); Paeffgen, in: NK-StGB, 2. Aufl., Bd. 1 (2005), Vor §§ 32 bis 35 Rn. 151; Rönnau/Hohn, in: LK, StGB, 12. Aufl., Bd. 2 (2006), § 32 Rn. 224; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Aufl. (2006), § 8 Rn. 289a; Zieschang, Strafrecht Allgemeiner Teil (2005), S. 60; ausführliche Nachweise des bis 2005 erschienenen Schrifttums bei Erb, NStZ 2005, 593 (599 Fn. 56 ff., 63 ff.). 3 So auch die Feststellung von Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (385, 390, 395). Der jüngst erschienene Beitrag von Greco, GA 2007, 628 ff., beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die Unvereinbarkeit der Notwehrlösung mit seiner eigenen ideologischen Basis aufzuzeigen, der nach dem zutr. Kommentar von Schünemann, GA 2007, 644 (646), „ein nur religiös begründbares Verständnis vom Absoluten“ zugrunde liegt. 4 Fischer, in: Tröndle/Fischer, StGB, 54. Aufl. (2007), § 32 Rn. 7e; Formulierung nunmehr allerdings deutlich abgeschwächt in Fischer, StGB, 55. Aufl. (2008), § 32 Rn. 15. 5 Herzog, in: NK-StGB, 2. Aufl., Bd. 1 (2005), § 32 Rn. 59. 6 Vgl. P. A. Albrecht, ZStW 117 (2005) 852 (858 Fn. 12); Kühne, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auf., Bd. 1 (2006), Einl. B Rn. 43 Fn. 49. 7 So wiederum Fischer (Fn. 4), § 32 Rn. 14a. 8 Stübinger, Zur Diskussion um die Folter, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a. M. (Hrsg.), Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 277 ff.
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tens punktuell.9 Ihre Überlegungen bilden den Anlass, die Diskussion im vorliegenden Beitrag noch einmal aufzugreifen.
II. Der Ausgangspunkt in der einfachrechtlichen Gesetzeslage 1. Die Möglichkeit einer Rechtfertigung der Anwendung körperlicher Gewalt in den einschlägigen Fällen folgt aus einer unbefangenen Anwendung von Vorschriften des geltenden geschriebenen Rechts, nämlich von § 32 StGB, bei Amtsträgern i.V.m. den polizeirechtlichen Notrechtsvorbehalten.10 Unter diese Normen lassen sich zwei (extrem seltene, dann aber um so dramatischere) Fallgruppen, die man als „Notwehrfolter“ bezeichnen kann,11 zwanglos subsumieren,12 nämlich zum einen der (typischerweise bei der Lösegeldübergabe gefasste) Entführer, der sich weigert, den Aufenthaltsort seines Opfers zu nennen, und zum anderen der Attentäter, der im Stadium des beendeten Versuchs eines Anschlags überwältigt wird und nicht bereit ist, freiwillig die Informationen zu geben, die man zur Verhinderung des Erfolgseintritts benötigt. Mit der gleichen Eindeutigkeit nicht erfasst werden umgekehrt alle anderen denkbaren Konstellationen, in denen der Einsatz von Folter sicherheitspolitisch attraktiv erscheinen könnte (insbesondere bei der Zerschlagung verbrecherischer Strukturen zur Verhinderung von Straftaten, die irgendwann in der Zukunft zu befürchten sind),
9 So etwa Joerden, FS Hruschka (2005), S. 495 (516 ff.); Roxin, FS Nehm (2006), S. 205, 209 ff; vgl. neuerdings auch Prittwitz, FS Herzberg (2008), S. 515 (522 f.); Jäger, FS Herzberg (2008), S. 539 (543 ff.). 10 Eingehend Seebode (Fn. 1), S. 68 ff.; Erb, Jura 2005, 24 ff.; ders., NStZ 2005, 593 (598); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 152, 154 ff.; Wagenländer (Fn. 1), S. 116 ff.; jew. m.w.N. Dabei haben die Notrechtsvorbehalte in den Landesgesetzen freilich nur deklaratorische Wirkung, weil den Landesgesetzgebern ohnehin die Kompetenz fehlt, einen bundesgesetzlich geregelten strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund partiell außer Kraft zu setzen, zutr. Seebode (Fn. 1), S. 65. 11 Begriff in Anlehnung an Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (382 f., 389). Die ohne Rücksicht auf den jeweiligen Kontext erfolgende Verwendung des in höchstem Maße negativ besetzten Begriffs der „Folter“ für jede (staatlich zu verantwortende) Schmerzzufügung zur Erlangung von Informationen (so, als ob man jede vorsätzliche Tötung „Mord“ nennen würde) ist im vorliegenden Zusammenhang freilich nicht ganz unproblematisch: Sie begünstigt inadäquate begriffsjuristische Ableitungen (nach dem Motto: Alles, was man „Folter“ nennen kann, ist schon deshalb verboten) und ermöglicht die verbreitete suggestive Instrumentalisierung des Folterbegriffs, mit dessen Hilfe die Brücke zu rechtlich absolut unvergleichbaren Sachverhalten geschlagen wird, um düstere Assoziationen zu erzeugen. 12 Was insoweit im Grundsatz nur vereinzelt bestritten wird, zu den Einzelheiten sei verwiesen auf Seebode (Fn. 1), S. 70; Erb, NStZ 2005, 593 (598 f.); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 154 ff., jew. m.w.N.
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weil hier evidenterweise kein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des Informationsträgers vorliegt. 2. Damit ist die Notwehrlösung schon nach einfachem Recht von vornherein nicht geeignet, eine Legitimation für den Einsatz von Folter als Instrument im „Krieg gegen den Terrorismus“ oder als Mittel der Sachverhaltsaufklärung in einem „Feindstrafrecht“ abzugeben.13 Hierzu bedürfte es vielmehr entweder einer Rechtsbeugung oder einer umfassenden Änderung des geltenden Rechts, die mit fundamentalen Grundsätzen der Verfassung und des Völkerrechts in der Tat nicht zu vereinbaren wäre.14 Die Behauptung, es könne in dieser Richtung gleichwohl „kein Halten“ mehr geben,15 unterstellt somit ins Blaue hinein,16 dass sich Sicherheitsbeamte, über deren Verhalten urteilende Richter sowie Parlamentarier deshalb zu offensichtlichen Rechts- und Verfassungsbrüchen hinreißen ließen, weil in einer strukturell völlig anders gelagerten Konstellation, deren abweichende Voraussetzungen mit Grundkenntnissen im Allgemeinen Teil des Strafrechts zu erfassen sind,17 § 32 StGB einschlägig ist. Sie hat insofern keine dogmatische Valenz, sondern ist ein (in gewisser Weise populistischer) Appell an diffuse Ängste – vergleichbar etwa mit einer Forderung nach ausnahmsloser 13 Selbstredend auch nicht für das von Fischer (Fn. 4), § 32 Rn. 15 an die Wand gemalte Schreckgespenst von Folter zur Sicherung „der ‚Versorgung der Bevölkerung’ bis zum ‚öffentlichen Frieden’, der ‚Volksgesundheit’ bis zum Schutz vor illegalen Einwanderern“. 14 Vor diesem Hintergrund bedarf es wohl schon der der Logik einer Verschwörungstheorie, die hier vertretene Ansicht als Ausfluss derartiger Tendenzen zu begreifen (s.o. I. bei Fn. 6 und 7). Das gilt vor allem für die Unterstellung einer Nähe zum Konzept eines „Feindstrafrechts“, weil es vorliegend doch gerade nicht um Strafverfolgung geht, sondern um den Verzicht auf eine solche, und das in eng begrenzten Ausnahmekonstellationen, in denen ihrerseits nicht zum Zwecke der Strafverfolgung, sondern zur Verteidigung von akut bedrohten Menschenleben gehandelt wird. 15 Eingehend etwa Joerden, FS Hruschka (2005), 495 (517 ff.); Bielefeldt, Das Folterverbot im Rechtsstaat, in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? (2005), S. 95 (101). 16 Die verbreiteten Hinweise auf Erfahrungen über die expansiven Tendenzen von „Folter“ liegen neben der Sache, weil es mit Sicherheit noch keinen „Folterstaat“ gegeben hat, dessen Praktiken sich vom Ausgangspunkt der Rechtfertigung von Gewalt in einer individuell zugespitzten Notwehrlage her entwickelt hätten. Treffend die Bemerkung von Merkel, FS Jakobs (2007), 375 (380 Fn. 15), dass „im Maße der Scheußlichkeit des Szenarios, das sie [die Vertreter des Dammbruch-Arguments] an die Wand projizieren, die Neigung ... abnimmt, wenigstens den Versuch zu unternehmen, solche Befürchtungen empirisch plausibel zu machen. Wer den drohenden ‚Folterstaat’ beschwört, verweist auf etwas, das jedermann entsetzlich fände; eines Nachweises, dass so etwas tatsächlich droht, scheint es dann nicht mehr zu bedürfen“; ähnlich Trapp, Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung? (2006), S. 216 ff. 17 Dass es in Einzelfällen zu Abgrenzungsproblemen kommen mag, liegt in der Natur der Sache jeglicher Rechtsanwendung und begründet schon in den problematischen Fällen selbst keinen Freibrief für den einzelnen Beamten – und erst recht nicht in der großen Mehrzahl der Konstellationen, in denen eindeutig nur eine Notstandslage besteht.
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Strafbarkeit tödlicher Notwehrhandlungen, damit die „Enttabuisierung“ des Tötungsverbots keine Begehrlichkeiten weckt, „Terrorverdächtige“ künftig standrechtlich zu erschießen. Wenn man leicht plausibel machen kann, warum letzteres selbst vor dem Hintergrund der künftigen Gefahr eines unzählige Menschen bedrohenden Terrorangriffs inakzeptabel wäre, obwohl Geiselnehmer schon zur Rettung einer einzigen akut bedrohten Geisel erschossen werden dürfen, dann sollte es entgegen Roxin18 auch keine Probleme bereiten, diese Differenzierung bei der Anwendung von vis compulsiva zur Erlangung rettender Informationen rechtspolitisch zu vermitteln.19 3. Wenn die strafrechtliche Rechtfertigung in den dafür in Betracht kommenden Fällen ohne weiteres aus der einfachrechtlichen Gesetzeslage folgt, geht der Einwand, der hier vertretene Standpunkt laufe darauf hinaus, eine positivrechtlich vorgegebene Strafbarkeit unter Berufung auf das Naturrecht, Moral und Menschlichkeit und damit letztlich aufgrund rechtspolitischer Zielvorstellung auszuhebeln,20 ins Leere. Vielmehr ist es die Gegenansicht, die zuerst die Ebene „handfester“ strafrechtlicher Normen (und der diese ausdrücklich für „unberührt“ erklärenden Bestimmungen in den Notrechtsvorbehalten, etwa § 60 Abs. 2 bay. PAG, § 54 Abs. 2 HSOG, § 57 Abs. 4 rh.-pf. POG) verlässt, indem sie übergeordnete Grundsätze des Verfassungs- und Völkerrechts bemüht, um die Rechtfertigung nach § 32 StGB über die Konstruktion einer (mit den herkömmlichen Fallgruppen dieser Figur nicht einmal ansatzweise vergleichbaren)21 neuen „sozialethischen Einschränkung“ des Notwehrrechts22 oder mit Hilfe von Erwägungen, wa18
FS Nehm (2006), S. 205 (216). Letzteres setzt allerdings voraus, dass die Experten des Faches hier wie da bereit sind, der Öffentlichkeit die grundlegenden Unterschiede zwischen Notwehr und Notstand zu erläutern, und nicht durch eine undifferenzierte Anti-Folter-Rhetorik suggerieren, die Zufügung willensbeugender Schmerzen sei losgelöst vom Kontext rechtlich immer das gleiche. Im Übrigen soll selbstverständlich nicht geleugnet werden, dass es politische Rahmenbedingungen geben kann, unter denen Tötungs- und Folterverbot gleichermaßen durch Notstandserwägungen in Frage gestellt werden. Die Annahme, man könne dies dadurch verhindern, dass man die Notwehrfälle in den gleichen Topf wirft und zu Lasten der Opfer gegenwärtiger rechtswidriger Angriffe und ihrer Nothelfer Exempel statuiert, mutet doch aber reichlich naiv an (vgl. auch Trapp [Fn. 16], S. 199 f.). Hinzu kommt (was zumeist übersehen wird), dass in einer derart motivierten Instrumentalisierung der Betroffenen gerade jener schrankenlose Utilitarismus zum Tragen kommt, den die „absoluten Foltergegner“ regelmäßig zu geißeln pflegen; zutr. Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (380), der in diesem Zusammenhang die Frage aufwirft, warum denn das „Entführungsopfer mit seinem Leben dafür bezahlen ... [soll], dass sich die Gesellschaft (nach seinem Tod, also ohne Nutzen für es selbst) nicht die scheußlichen Usancen eines Folterstaats antut“. 20 So etwa Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (210); Stübinger (Fn. 9), S. 309 f. 21 Näher dazu Erb Jura 2005, 24 (26); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 159. 22 Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (211); grundlegende Kritik bei Seebode (Fn. 1), S. 71 f. 19
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rum die Notrechtsvorbehalte als solche nicht ernst zu nehmen seien,23 aus den Angeln zu heben. Dabei vernachlässigt sie den Umstand, dass Verfassungs- und Völkerrecht zwar die öffentlichrechtliche Beurteilung eines Sachverhalts vorgeben, aber nun einmal keine unmittelbare strafbarkeitsbegründende Wirkung haben und im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG auch nicht haben können.24 Selbst wenn man das betreffende Handeln eines Amtsträgers als grob rechtswidrigen Hoheitsakt betrachtet, der die Grundfesten des Rechtsstaats erschüttert, und in seiner gleichzeitigen Behandlung als strafrechtlich gerechtfertigtes Verhalten einen noch so absurden Widerspruch erblicken wollte, berechtigt dies nicht dazu, sich über eine aus den Strafgesetzen folgende Straflosigkeit hinwegzusetzen. Auch die immer wieder bemühte Erkenntnis, wonach sich ein Hoheitsträger im Dienst nicht von seinen öffentlichrechtlichen Verpflichtungen befreien kann,25 geht in diesem Zusammenhang ins Leere. Mit ihr ist nämlich rein gar nichts über die persönlichen Konsequenzen gesagt, die ein Verstoß gegen diese Pflichten für den betreffenden Amtsträger haben kann – für eine evtl. strafrechtliche Ahndung besteht nun einmal ein eigenständiges Regelwerk, und wenn dieses keine derartigen Konsequenzen vorsieht, können sie eben nicht verhängt werden. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz aus der Annahme eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG ebenfalls nicht ohne weiteres auf die Notwendigkeit einer strafrechtlichen Ahndung geschlossen, sondern die Frage nach der strafrechtlichen Beurteilung ausdrücklich offen gelassen hat.26
23 Vgl. etwa Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes (2004), S. 325 ff.; Rönnau/Hohn, in: LK (Fn. 2), § 32 Rn. 220. Dann wäre freilich auch ein Polizist strafbar, der sich oder einen Dritten in höchster Bedrängnis mit einer Bierflasche als Schlagwerkzeug verteidigt, weil diese kein polizeirechtlich zulässiges Mittel des unmittelbaren Zwangs darstellt! 24 Eingehend Seebode (Fn. 1), S. 63 ff. 25 Braum, KritV 2005, 283 (288 ff.); Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (210); Stübinger (Fn. 9), S. 311; Beutler (Fn. 2), S. 209. 26 BVerfGE 115, 118 (157). Dabei muss man hinzufügen, dass in der vom Luftsicherheitsgesetz geregelten Situation eine strafrechtliche Rechtfertigung unter Notstandsgesichtspunkten im Hinblick auf die Unabwägbarkeit der betroffenen Rechtsgüter ein echtes strafrechtsdogmatisches Problem darstellt (näher dazu Erb, in: MünchKomm-StGB (Fn. 1), § 34 Rn. 117 ff.; dabei war und bin ich bei der Lösung im Gegensatz zu den hier interessierenden Fällen stets unsicher), was bei der Anwendung von § 32 StGB auf beliebige Verhaltensweisen, die zur Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf elementare Rechtsgüter erforderlich sind, letzten Endes nicht der Fall ist.
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III. Die menschenrechtliche Kehrseite eines notwehrfesten Folterverbots 1. Nachdem dieses – insoweit bereits im Münchener Kommentar ohne aktuellen Anlass entwickelte27 – Ergebnis in der öffentlichen Debatte um den „Fall Daschner“ immer wieder als rechtsstaatlich schlechthin untragbar apostrophiert wurde, lag es freilich nahe (schon im Hinblick auf mögliche Forderungen de lege ferenda), den angeblich durch höherrangiges Recht begründeten Zwang zur Einschränkung der Notwehrbefugnisse einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Diese spitzt sich zwangsläufig auf die Frage zu, ob den für ein notwehrfestes Folterverbot ins Feld geführten, grundsätzlich unbeschränkbaren Schutzpositionen ein mindestens gleichwertiger normativer Zwang entgegengehalten werden kann, die Anwendung von Gewalt gegen den Urheber eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs zur Erlangung lebensrettender Informationen gleichwohl zuzulassen. Da die Normen, die in dieser Situation angeblich den „absoluten“ Schutz des Angreifers verlangen, in Gestalt von Art. 1 Abs. 1 GG bis zur obersten Spitze der Normenpyramide reichen, haben gegenläufige Erwägungen nur dann maßgebliches Gewicht, wenn sie sich ihrerseits auf Art. 1 Abs. 1 GG zurückführen lassen. Erblickt man – was entgegen einzelnen Verirrungen in der vorliegenden Diskussion wohl nicht ernsthaft zu bestreiten ist – in der willkürlichen Ermordung von Menschen (und zwar unabhängig von der konkreten Art der Begehungsweise) zugleich einen Angriff auf deren Würde,28 springt dabei zunächst der Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ins Auge, wonach dem Staat Achtung und Schutz der Menschenwürde obliegen. Insofern bietet es sich an, im Konfliktfall dem Verfassungsauftrag zum Schutz der Würde des Opfers von der Pflicht zur Achtung der Würde des Angreifers Vorrang zu gewähren.29 Einem solchen Ansatz, nach dem die 27 Erb, in: MünchKomm-StGB (Fn. 1), § 32 Rn. 104, 169 ff., 173 ff.; die Probleme der Terrorismusabwehr nach dem 11. September 2001 sind von den Kategorien der Notwehr im strafrechtlich-technischen Sinn so weit entfernt, dass es mir völlig abwegig erschienen wäre, diese Ereignisse bei einer Kommentierung des § 32 StGB in irgendeiner Form in den Blick zu nehmen. 28 Vgl. bereits H. Götz, NJW 2005, 953 (954); Gössel, FS Otto (2007), S. 41 (54 ff.); Erb, NStZ 2005, 593 (600 Fn. 68). Die Annahme, bei einem Mord werde im Gegensatz zur gewaltsamen Erzwingung einer Äußerung „nur“ das Lebensrecht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt, das nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG (auch insoweit?) durch Gesetz einschränkbar sei, ist zynisch, vernachlässigt die Entstehungsgeschichte von Art. 1 Abs. 1 GG als Antwort auf die Greuel der NS-Zeit, unter denen die millionenfache Missachtung des Lebensrechts wohl noch viel stärker ins Auge springt als der Einsatz von Folter (zutr. Götz a.a.O.), und steht auch in diametralem Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 39, 1 [42]; 72, 105 [115]; 109, 279 [311]; 115, 118 [152]). 29 So etwa Brugger, JZ 2000, 165 (169); ders., Das andere Auge, in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? (2005), S. 107 (112, 115 f.); Wittreck, DÖV 2003, 873
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Anwendung von vis compulsiva in den einschlägigen Konstellationen konsequenterweise allerdings – auch und gerade aus öffentlichrechtlicher Perspektive – nicht nur als tolerabel, sondern als positiv geboten erschiene,30 hält die h.M. nun den unbedingten Vorrang des Eingriffsverbots gegenüber der (ohnehin nicht lückenlos zu gewährleistenden) Schutzpflicht entgegen.31 2. Damit sind wir beim Kern der Lehre von der „Absolutheit“ des Folterverbots angelangt, denn die Annahme, im Anwendungsbereich von Art. 1 Abs. 1 GG trete die Schutzpflicht hinter dem Achtungsanspruch völlig zurück, ermöglicht es dem Staat, seine Hände trotz der grauenhaften Folgen für das Opfer in rechtsstaatlicher Unschuld zu waschen. Damit diese Rechnung aufgeht, bedarf es freilich zweier Voraussetzungen: Zum einen muss der (dem Verfassungstext nicht explizit zu entnehmende) Vorrang des Achtungsanspruchs vor der Schutzpflicht auch dort gelten, wo Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit auf Opferseite nicht nur beliebig groß sind, sondern gerade daraus resultieren, dass der Inhaber des Achtungsanspruchs diesen quasi als Schutzschild verwendet, um ungestört ein Verbrechen vollenden zu können32 – denn nichts anderes tut derjenige, der sich unter Berufung auf seine Menschenwürde dem Zwang entzieht, die zur Verhinderung des Taterfolgs erforderlichen Informationen preiszugeben.33 Ob Art. 1 Abs. 1 GG sinnvollerweise dazu bestimmt sein kann, den Achtungsanspruch auch in einer solchen Situation des offenkundigen Missbrauchs bedingungslos zu gewährleisten, darüber lässt sich zumindest streiten. Im Zentrum der früheren Überlegungen des Verfassers34 stand aber nicht dieses Problem, sondern der zweite Punkt, der bislang35 soweit ersichtlich nur von einem einzigen Kritiker in der Sache aufgegriffen wurde,36 und der im Folgenden noch einmal vertieft werden soll. Er betrifft die Frage, ob bzw. unter (880 ff.); ders., Menschenwürde als Foltererlaubnis? in: Gehl (Hrsg.), Folter – Zulässiges Instrument im Strafrecht? (2005), S. 37 (49 ff.); H. Götz, NJW 2005, 953 (955 f.); Wagenländer (Fn. 1), S. 155 ff. 30 So denn auch Brugger, Wittreck und Götz a.a.O. (Fn. 29). 31 Vgl. etwa Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (208); Lübbe, Konsequentialismus und Folter, in: Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt? (2006), S. 67 (69). 32 Übersehen von Stübinger (Fn. 8), S. 299 ff., 303, dessen (als solche durchaus berechtigten) Bedenken gegen eine Quantifizierung von Würdeverletzungen nach dem Gewicht der Beeinträchtigung diese entscheidende Besonderheit der Notwehrsituation nicht erfassen. 33 Wobei er – im Gegensatz zu seinem Opfer – jederzeit die Möglichkeit hat, Beeinträchtigungen seines Würdeanspruchs durch freiwillige Preisgabe der rettenden Informationen zu verhindern, zutr. H. Götz, NJW 2005, 953 (956). 34 Erb, Jura 2005, 24, 27 f.; ders., NStZ 2005, 593 (594, 599); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 160; zust. Wagenländer (Fn. 1), S. 157 f.; Merkel, FS Jakobs (2007), S. 275, 393 ff. 35 Der vorliegende Beitrag wurde im Oktober 2007 abgeschlossen, die Anmerkungen letztmals im März 2008 aktualisiert. 36 Stübinger (Fn. 8), S. 304 ff.
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welchen Voraussetzungen die Folgen für das Opfer dem Staat denn wirklich nur als Folge reiner Untätigkeit zuzurechnen sind. 3. Das hierfür erforderliche in jeder Hinsicht neutrale und passive Verhalten des Staates liegt vor, solange er sich (entsprechend der de lege lata bestehenden Situation) darauf beschränkt, im öffentlichen Recht keine Ermächtigungsgrundlage bereitzustellen und seine Amtsträger insofern nicht positiv dazu anzuhalten, zur Abwendung eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben den Angreifer erforderlichenfalls mit Gewalt zum Reden zu bringen. Die Situation ändert sich jedoch in dem Moment, in dem er umgekehrt Maßnahmen ergreift, die darauf abzielen, jemanden daran zu hindern, kraft eigenen Entschlusses die erforderliche Nothilfehandlung vorzunehmen. Solche Maßnahmen können sowohl in der abstrakten Androhung37 als auch in der konkreten Verhängung38 persönlicher Sanktionen bestehen, im Hinblick auf deren einschneidenden Charakter vor allem (wenngleich nicht ausschließlich)39 von solchen strafrechtlicher Art. Auf diese Weise wirkt der Staat nämlich aktiv darauf hin, dass der Angreifer seine menschenverachtende Tat ungestört vollenden kann – und erlangt damit nach allgemeinen Zurechnungsgrundsätzen eine durch positives Tun begründete Mitverantwortung für die Folgen einschließlich der Verletzung der Würde des Angriffsopfers.40 Ganz offensichtlich ist das bei der Unterbindung privater Notwehr, bei der sich der Staat quasi als außenstehender Dritter dergestalt in den existentiellen Konflikt zwischen dem Angreifer und dem Angegriffenen sowie dessen Nothelfer einmischt, dass er ihn durch ein Verbot der erforderlichen Verteidigung zugunsten von ersterem entscheidet. 37 Wobei die Bereitstellung von Tatbeständen für sich genommen irrelevant ist, solange ein geeigneter Rechtfertigungsgrund bereitsteht, was in Gestalt von § 32 StGB i.V.m. den Notrechtsvorbehalten der Fall ist (s.o. II.1.); unbegründet ist insofern die Befürchtung von Stübinger (Fn. 8), S. 306, wonach die „fortwährende Unterlassung einer ‚staatlichen Folterordnung’ ... ein möglicher Anknüpfungspunkt für jenen Vorwurf [wäre], der Staat greife ‚aktiv’ in das Schutzgut eines angegriffenen Menschen ein“. Tatsächlich läge ein entsprechender legislativer Eingriff dann vor, wenn der Gesetzgeber § 32 StGB für die hier interessierenden Fälle mit einer Ausschlussklausel versehen oder die persönliche Rechtfertigung eines Amtsträgers davon abhängig machen würde, dass sein Verhalten von einer öffentlichrechtlichen Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist. 38 So geschehen im „Fall Daschner“ durch LG Frankfurt NJW 2005, 692. Die nachträgliche Sanktionierung berührt zwar nicht mehr die Situation des Opfers im zugrundeliegenden Fall, aber (was Stübinger [Fn. 8], S. 307 übersieht) diejenige in künftigen Fällen, in denen sie auf potentielle Nothelfer eine abschreckende Wirkung entfaltet (zutr. krit. Weihmann, Kriminalistik 2005, 342 ff.), was ja gerade ihrer Intention entspricht. 39 Weshalb m.E. im Ergebnis auch disziplinarrechtliche Konsequenzen ausgeschlossen sein müssen; im letztgenannten Punkt a.A. Seebode (Fn. 1), S. 66; wie hier mit eingehender Begründung Gromes (Fn. 1), S. 181 f. 40 Eingehend in diesem Sinne nunmehr auch Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (393 ff.).
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Aber auch dort, wo Staatsdiener durch Sanktionsdrohungen davon abgehalten werden, die erforderlichen Maßnahmen zur Abwendung des Angriffs zu ergreifen, zu denen sie andernfalls ohne Rücksicht auf die Vorgaben des Polizeirechts entschlossen wären, unterbindet der Staat den Eintritt eines rettenden Kausalverlaufs. 4. Der Einwand, ein Amtsträger könne bei der Wahrnehmung dienstlicher Aufgaben seine hoheitliche Funktion nicht abstreifen und handle deshalb immer als Teil des Staates,41 greift auch (wie schon bei der Frage der Strafbarkeit) an dieser Stelle nicht: Eine wie auch immer geartete rechtliche Bindung ändert selbstverständlich nichts an der tatsächlichen Möglichkeit, Handlungsoptionen wahrzunehmen, die den normativen Erwartungen nicht entsprechen, und bei der Konfrontation mit einem Entführer, der (um die Situation maximal zuzuspitzen) mit einem kalten Lächeln glaubhaft erklärt, da man ihm bei der Lösegeldübergabe eine Falle gestellt hat, solle das Kind eben verhungern,42 erscheint es durchaus nahe liegend, dies zu tun. Die entsprechende Bereitschaft ist in einem solchen Fall auch ein maßgeblicher Faktor (bzw. sogar der Faktor schlechthin), der verhindern kann, dass ein Mensch willkürlich ermordet wird, und wenn der Staat diesen Faktor durch entsprechende Sanktionsdrohungen ausräumt, setzt er eine positive Bedingung dafür, dass der Mord tatsächlich vollendet wird. Wer dies mit der Begründung in Abrede stellt, die erforderlichen Gegenmaßnahmen hätten ohnehin nicht ergriffen werden dürfen, vermengt ganz offensichtlich Sollen und Sein:43 Es ist methodisch unhaltbar, die Betrachtung schon auf tatsäch41
Vgl. Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (210); Stübinger (Fn. 8), S. 305 f. Der Annahme, wenn das Opfer noch lebt, werde der Täter die Vorteile wahrnehmen wollen, die ihm aus dessen Rettung erwachsen, wenn man ihn nur intensiv genug belehrt (so zuletzt Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 [214] m.w.N. gegen meine Überlegungen in: Folterverbot [Fn. 1], S. 150), ist entgegenzuhalten, dass auch nach Ergreifung des Täters keine Garantie dafür besteht, ihn durch gutes Zureden zu einem rationalen Verhalten bewegen zu können. Außerdem sind Konstellationen denkbar, in denen der Täter keinen subjektiven Vorteil erwarten kann – so z.B., wenn er noch eine Reihe weiterer Morde begangen hat, für die ihm ohnehin eine lebenslange Freiheitsstrafe mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld droht, und deren Aufklärung er vielleicht sogar gerade deshalb fürchtet, weil die Polizei im Versteck des aktuellen Opfers zugleich Beweise für die weiteren Taten finden würde (so möglicherweise im Fall des belgischen Kindermörders Dutroux, der nach seiner Festnahme verschwieg, dass zwei seiner Opfer noch in einem Kellerverließ eingesperrt waren, wo sie schließlich elendiglich verhungert sind). Bei einem Terroristen, der ohne Rücksicht auf die Folgen für die eigene Person an möglichst spektakulären Auswirkungen seiner Tat interessiert ist, wäre mit dem Hinweis auf die Sanktionserwartungen von vornherein kaum etwas auszurichten. Grundlegende Kritik des Einwands der angeblichen Realitätsferne einschlägiger Fälle bei Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (379). 43 Besonders deutlich zu erkennen in einem Diskussionsbeitrag von Neumann zur Strafrechtslehrertagung 2005, ZStW 117 (2005), 885 (886) mit der Forderung, die postulierte „rechtliche Unmöglichkeit“ einer Rettung des betroffenen Menschen „wie eine naturgesetzlich 42
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licher Ebene unter Berufung auf ein vordefiniertes Sollen so zu verkürzen, dass man mit gewissen unangenehmen Tatsachen und ihrer sonst üblichen Bewertung von vornherein nicht mehr konfrontiert wird. Will man jenem Sollen ein solches Gewicht beilegen, dass es die normative Bewertung der Geschehens letzten Endes insgesamt prägt, muss man vielmehr behaupten und begründen, warum die Herbeiführung von Konsequenzen, die normalerweise ihrerseits einer höchst negativen Bewertung unterliegen, hier ausnahmsweise legitim erscheint, d.h. man muss sich wohl oder übel in eine Diskussion darüber einlassen, was hier aus welchen Gründen zu rechtfertigen ist. Infolgedessen führt kein Weg daran vorbei, auch über die tatsächlichen Wirkungen eines sanktionsbewehrten Normbefehls zu sprechen, der in entsprechenden Situationen die Begehung eines Mordes fördert, die Rechtsordnung damit in die Rolle eines Mordgehilfen bringt44 und auf diese Weise aktiv den Anspruch des Mordopfers auf Achtung seiner Menschenwürde beeinträchtigt.45 Dass die Zuordnung des Amtsträgers zur staatlichen begründete Unmöglichkeit“ zu behandeln. Hier sollen offenbar die Kosten des „absoluten Folterverbots“ in der Bilanz des Rechtsstaats durch die Fiktion verschleiert werden, das Opfer sei quasi schon tot, damit die tatsächliche Vereitelung seiner Rettung den Staat scheinbar nicht mehr belastet. 44 Erb, NStZ 2005, 593 (594); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 160; Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (394) bezeichnet diesen Schluss als „unabweisbar“. Dabei handelt es sich (selbstverständlich) nicht um Beihilfe im strafrechtlich-technischen Sinn, da die Akteure, die mit der Aufstellung von Sanktionsdrohungen oder deren Umsetzung in bereits geschehenen Fällen befasst sind, keinen hinreichend bestimmten Vorsatz bzgl. späterer Taten haben, deren Vollendung sie letzten Endes ermöglichen, während der Normbefehl in dem Moment, in dem er seine Wirkung entfaltet, nunmehr zwar einer hinreichend konkretisierten Tat den Weg ebnet, dabei aber von den Urhebern der Sanktionsdrohung nicht mehr beherrscht wird (dazu und zu denkbaren Ausnahmen Merkel a.a.O.). Dass die auf die Einzeltat bezogene Gehilfenrolle somit der Rechtsordnung als Institution zufällt, die als solche kein tauglicher Adressat des Strafrechts ist, macht den Befund indessen nicht weniger „beklemmend“ (so die Bezeichnung von Merkel a.a.O.). 45 Um mögliche Einwände vorwegzunehmen, sei an dieser Stelle bemerkt, dass dieses Problem beim sanktionsbewehrten Verbot von Notstandshandlungen und von polizeirechtlich Maßnahmen der Gefahrenabwehr, die sich nicht gegen den Urheber eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs richten, nicht besteht. Obwohl sich der entsprechende Normbefehl hier ebenfalls als Hinderung eines rettenden Kausalverlaufs erweisen kann, stellt er dabei nämlich keine Missachtung der Menschenwürde dar: Soweit eine als zu weitgehend bewertete Inanspruchnahme von „Nichtstörern“ zur Abwendung beliebiger Gefahren unterbunden wird, geht es nur darum, eine Neuverteilung des Schicksals zu verhindern, das als solches zwar Rechtsgüter, aber keine Rechte und schon gar keinen Achtungsanspruch verletzen kann. Damit scheidet der Vorwurf eines Eingreifens der Rechtsordnung zugunsten einer akuten Menschenwürdeverletzung von vornherein aus, und die Beeinträchtigung des Rechtsguts, dessen Rettung im Ergebnis vereitelt wird, bedeutet keinen Eingriff in „absolut“ geschützte Rechte, sondern ist mit der überragenden Bedeutung des Schutzes Dritter vor einer beliebigen utilitaristischen Inanspruchnahme ihrer Rechtsgüter ohne weiteres zu legitimieren (vgl. Erb, NStZ 2005, 593 [595]; deshalb geht das Argument von Roxin, FS Nehm [2006], S. 205 [209], „dass unsere
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Machtsphäre an diesem Befund nichts ändern kann, zeigt ein Blick auf folgendes Beispiel, bei dem zwar staatlicherseits ein anderes Handlungsmotiv vorliegt (Diskriminierung bestimmter Personen statt Verabsolutierung des Folterverbots), die Zurechnungsstrukturen aber identisch sind: Man nehme den Fall, dass die die Rechtsordnung ihren Polizisten bei Strafe verbietet, den Angehörigen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe bei tätlichen Angriffen durch (private) Schlägertrupps beizustehen, damit dieser der Aufenthalt im Land verleidet wird. Käme hier jemand ernsthaft auf die Idee, dem Staat lediglich eine Vernachlässigung seiner Schutzpflichten vorzuwerfen, nicht aber eine aktive Verletzung der Rechte jener Minderheit, weil die am Eingreifen zu ihren Gunsten gehinderten Polizisten Bestandteil des staatlichen Machtapparats sind und sich der unterbundene rettende Kausalverlauf deshalb seinerseits innerhalb der Sphäre hoheitlichen Handelns bewegt hätte?46 5. Stübinger hält nun zumindest eine wie auch immer geartete Verantwortung der Rechtsordnung für die Hinderung des rettenden Kausalverlaufs in der vorliegenden Konstellation a priori für ausgeschlossen. Die grundsätzliche Zurechenbarkeit eines auf entsprechende Weise ausgelösten Erfolgseintritts beruhe nämlich auf „dem Umstand, dass der Eingreifende durch die Verhinderungsmaßnahme die für das Rechtsgut bestehende Gefahrenlage nunmehr für sich wirken läßt.“ Das sei „nur dann der Fall, wenn er dadurch gleichsam die Herrschaft über das vorhandene Risiko übernimmt und dieses nunmehr für seine Zwecke einsetzen kann.“ Demgegenüber begebe sich der Staat durch das Nothilfeverbot „nicht in die Rolle eines Akteurs, der sich die Rechtsgefährdung zu eigen macht; es kommt nicht zur Übernahme oder zumindest einer Assistenz des von diesem zu verantwortenden Angriffs auf Leben und Gesundheit des Entführungsopfers“, die „schon bestehende Geschehensherrschaft“ bleibe unberührt.47 Diese Ausführungen implizieren letzten Endes die Annahme, die Zurechenbarkeit der zwangsläufigen Folgen eines Eingriffs in das Kausalgeschehen hänge von den zugrunde liegenden Motiven ab. Diese Differenzierung spielt indessen wiederum erst bei der Frage eine Rolle, ob die Beeinträchtigung der Opferinteressen durch die Rechtsordnung aus sehr viel geringerem Anlass, als es das Folterverbot darstellt, auf die Rettung von Menschen verzichtet“, ins Leere – bei den angeführten Beispielen handelt es sich eben um Notstandskonstellationen). Was die Durchsetzung eines zurückhaltenden Vorgehens gegenüber möglichen künftigen Störern (insbesondere den Mitgliedern einer Terrororganisation, von der Anschläge zu befürchten sind) betrifft, so ist der hinreichende Bezug zu einem konkreten Tatopfer, dessen individuelle Würde der Staat insofern missachten könnte, noch nicht gegeben, wenn der Normbefehl seine Wirkung entfaltet. 46 Ambos/Rackow, Jura 2006, 943 (948) würden hier wohl jedenfalls nicht mehr pauschal von einer „abenteuerlichen Zurechnungskonstruktion“ sprechen. 47 Stübinger (Fn. 8), S. 307.
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Verfolgung eines höherrangigen Ziels gerechtfertigt ist. Bei der Prüfung, ob die Folgen zurechenbar sind und insofern immerhin ein rechtfertigungsbedürftiger (nach dem Dogma der absoluten Unantastbarkeit der Menschenwürde freilich prinzipiell nicht rechtfertigungsfähiger!) Eingriff vorliegt, ist sie hingegen im Ansatz verfehlt. Dies zeigt der Vergleich mit einem klassischen Fall des Abbruchs rettender Kausalverläufe: Hindert A den B daran, Geiselnehmer G niederzuschießen, der gerade beginnt, seinem Opfer die Kehle durchzuschneiden, so ist ihm der Tod des O als wenigstens teilweise von ihm bewirkter Erfolg zurechenbar, und zwar völlig unabhängig davon, ob er die „Gefahrenlage für sich wirken läßt“, um den verhassten O zu beseitigen, oder ob ihm der Tod des O im Gegenteil höchst unerwünscht ist und er lediglich den ihm näher stehenden G retten möchte. Eine überhaupt nur theoretisch bestehende Differenzierungsmöglichkeit kommt erst bei der Prüfung einer evtl. Rechtfertigung oder Entschuldigung zum Tragen (die hier freilich ebenfalls in beiden Varianten negativ ausfällt) und schließlich im Rahmen einer evtl. Qualifikation durch ein Gesinnungsmerkmal des § 211 StGB sowie auf der Ebene der Strafzumessung. Die grundsätzliche Verantwortung für die wissentlich herbeigeführten Folgen des eigenen Handelns hängt eben nicht davon ab, ob diese zugleich auch beabsichtigt sind, und eine Rechtfertigungsprüfung darf die sicheren Folgen der Handlung nicht ausblenden! 6. Kann man der Einstufung sanktionsbewehrter Notwehrverbote bei drohender Ermordung eines Menschen als aktiven Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG schließlich entgegenhalten, eine solche Betrachtung könne bei Nothilfehandlungen von Amtsträgern einfach nicht richtig sein, weil der Verzicht auf eine effiziente Durchsetzung der öffentlichrechtlichen Vorgaben hier umgekehrt darauf hinausläuft, dass durch ein notwendigerweise hoheitliches Handeln48 der betreffenden Personen (und insofern wiederum durch aktive Staatstätigkeit) die Menschenwürde des Angreifers missachtet wird, was gerade strikt verboten sei?49 Wohl kaum, denn wenn der Schutz der Menschenwürde gegen aktive staatliche Beeinträchtigungen „absolut“ sein soll, muss dies konsequenterweise auf beiden Seiten gelten: Will man keiner Palmström-Logik verfallen, kann man der Beeinträchtigung der Menschenwürde an der einen Stelle nicht deshalb den Charakter einer solchen absprechen, weil rein tatsächlich keine Alternative besteht, einen entsprechenden Verstoß an anderer Stelle zu vermeiden. Wir haben es unter diesen Umstän48 Dass die Handlung des Amtsträgers neben der (ebenso unbestreitbaren) Eigenschaft, eine auf dem Willensentschluss eines Individuums beruhende menschliche Handlung zu sein, zwangsläufig auch als solches in Erscheinung tritt, habe ich niemals bestritten, weshalb die an diesem Punkt ansetzende Kritik ins Leere geht. 49 Vgl. Ambos/Rackow, Jura 2006, 943 (948).
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den vielmehr mit einer echten Kollisionslage innerhalb von Art. 1 Abs. 1 GG zu tun, die es faktisch unmöglich macht, das Eingriffsverbot in Art. 1 Abs. 1 GG durch das Dogma seines absoluten Vorrangs vor der Schutzpflicht uneingeschränkt durchzuhalten50 – die gegenteilige Annahme erweist sich spätestens in dem Moment, in dem die erforderlichen Maßnahmen zur Abwendung eines entwürdigenden Angriffs von der Rechtsordnung nicht nur nicht vorgeschrieben, sondern durch Sanktionsdrohungen gezielt unterbunden werden, als verfassungsrechtliches Wunschdenken.51 Will man die Kollisionslage auflösen, so kommt man nicht umhin, die kollidierenden Belange gegeneinander abzuwägen, wie es auch diejenigen tun, die einen generellen Vorrang des Achtungsanspruchs vor der Schutzpflicht nicht anerkennen – was es wie gesagt (s.o. 1.) nahe legt, den Konflikt insgesamt (d.h. auch für die öffentlichrechtliche Bewertung) im Sinne einer Zulässigkeit von „Notwehrfolter“ zu entscheiden. Wem das zu weit geht, dem bleibt nichts anderes übrig, als die Kollisionslage unaufgelöst stehenzulassen. Dann ist die Durchsetzung eines notwehrfesten Folterverbots mit Hilfe des Strafrechts aber ebenso ausgeschlossen wie eine positive öffentlichrechtliche Legitimation der Notwehrfolter. Man mag darin einen Bruch innerhalb der Rechtsordnung erblicken, aber dieser ist nun einmal in Art. 1 Abs. 1 GG angelegt, wenn man an der kontextunabhängigen Einstufung der gewaltsamen Erzwingung von Wissensäußerungen als Beeinträchtigung der Menschenwürde und am Dogma der Unabwägbarkeit von letzterer auch im unüberbrückbaren Kollisionsfall bedingungslos festhalten will. Deshalb ist es – Einheit der Rechtsordnung hin oder her – auch verfehlt, diesen Widerspruch aus dem einfachen Recht, wo er in der (in den Notrechtsvorbehalten explizit anerkannten) Möglichkeit eines Auseinanderklaffens der Voraussetzungen öffentlichrechtlicher Eingriffsermächtigung und strafrechtlicher Rechtfertigung wiederkehrt, um jeden Preis herausinterpretieren zu wollen. Wer dies tut, um mit der Konstruktion eines strafbewehrten Nothilfeverbots der „Absolutheit des Folterverbots“ eine maximale Effektivität zu verschaf50 Die einzige Möglichkeit, das Dogma zu retten, bestünde darin, den Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG enger zu fassen, indem man die gewaltsame Erzwingung von Wissensäußerungen wie andere potentiell entwürdigende Tätigkeiten nicht per se, sondern nur dann überhaupt als Missachtung der Menschenwürde einstuft, wenn sie nicht zur Abwehr eines würdeverletzenden Angriffs erforderlich sind (so etwa Herzberg, JZ 2005, 321 (322 ff.); im öffentlichen Recht zumindest im Grundansatz Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Stand Februar 2003, Art. 1 Abs. 1 Rn. 45; vgl. auch Merkel, FS Jakobs [2007], S. 375 [398 ff.]). Ein solcher Ansatz, nach dem die Kollisionslage erst gar nicht entstehen würde und „Notwehrfolter“ unproblematisch zulässig wäre, soll hier nicht weiterverfolgt werden; dagegen u.a. Wagenländer (Fn. 1), S. 141 m.w.N. 51 Zutr. Merkel, FS Jakobs (2007), 375 (396 f.); auch Lüderssen, FS Rudolphi (2004), S. 691 (702) spricht in diesem Zusammenhang von der „große[n] Lebenslüge des Verfassungsrechts“; aus öffentlichrechtlicher Perspektive Elsner/Schobert, DVBl 2007, 278 ff.
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fen, legt an anderer Stelle Axt an die gleichen rechtsstaatlichen Wurzeln, die auch das Folterverbot tragen. Die vom verehrten Jubilar zutreffend dargestellte strafrechtliche Rechtslage52 erweist sich hiernach auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht nur als akzeptabel, sondern in der Toleranz gegenüber dem Nothelfer (selbst wenn es sich um einen Amtsträger handelt) sogar als unabdingbar.
IV. Das Folterverbot als absoluter Höchstwert? 1. Weil in den vorangegangenen Überlegungen die staatliche Menschenwürdegarantie in einer anderen Facette einfach nur genauso ernst genommen wird, wie dies landläufig bei der Begründung des Folterverbots geschieht, liegt in diesen Überlegungen keine unzulässige „normative Überbietung“ derselben, und es handelt sich auch nicht um „eine im Namen einer vermeintlich überlegenen ‚Moral’ oder der ‚Menschlichkeit’ vorgetragene Kritik am geltenden Recht“.53 Wer einen solchen Vorwurf erhebt, tut dies offenbar in der Vorstellung, die Freiheit von einer gewaltsamen Willensbeugung sei nicht Bestandteil der Menschenwürdegarantie, sondern mit dieser identisch, und das Verbot aller anderen denkbaren Entwürdigungen sei quasi nur nachgeordnetes Beiwerk.54 Das ist indessen eine willkürlich gesetzte Prämisse, die nach Entstehungsgeschichte und Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 GG wenig Plausibilität aufweist: Können die Väter des Grundgesetzes (unter dem damals ganz aktuellen Eindruck der NS-Verbrechen) ernsthaft gemeint haben, ein aktives Hinwirken der Rechtsordnung auf das Gelingen von Morden während ihrer Begehung sei für die „Legitimität staatlichen Handelns“ weniger problematisch als punktuelle Abstriche von der „unbeugsame[n] und ungezwungene[n] Willensbildung der Bürger“?55 Wenn ja, hätte es dann nicht nahe gelegen, die überragende Bedeutung eines bedingungslosen Verbots der Erzwingung von Willensäußerungen ausdrücklich in Art. 1 GG hineinzuschreiben? Auch die Verortung einer solchen Wertung in Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG, der Art. 1 Abs. 1 GG danach nicht nur konkretisieren, sondern diesem erst seinen zentralen Sinngehalt verleihen würde, versteht sich jedenfalls nicht von selbst.56 Was 52
S.o. Fn. 1. So Stübinger (Fn. 8), S. 312. 54 Deutlich etwa Bielefeldt, Menschenwürde und Folterverbot (2006, Internet-Publikation, abrufbar unter www.institut-fuer-menschenrechte.de), S. 9 ff.; im Ergebnis auch Lübbe (Fn. 31), S. 72 ff. 55 Stübinger (Fn. 8), S. 313. 56 Richtigerweise meint Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG offensichtlich nur solche Personen, die sich effektiv ergeben haben (sonst dürfte man ja auch gegen randalierende Gefangene nicht 53
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schließlich völkerrechtliche Garantien eines „absoluten“ Folterverbots betrifft, so besteht über die Frage, wie man diese in den hier zu erörternden Sonderfällen mit den Gewährleistungen von Art. 1 Abs. 1 GG in Einklang bringen kann, ebenfalls zumindest Diskussionsbedarf.57 Von daher ist es schlicht eine petitio principii, die Erhebung eines notwehrfesten Folterverbots zu einem absoluten Höchstwert als unumstößliche verfassungsrechtliche Wahrheit zu deklarieren, gegen die Überlegungen zu negativen menschenrechtlichen Implikationen eines solchen Schrittes a priori nichts ausrichten können.58 2. Die Vertreter einer solchen Höchstwertthese können in der notwendigen Diskussion auch nicht deshalb eine bessere Ausgangsposition beanspruchen, weil sie meinen, „die normative Wirklichkeit eines Rechtsstaats“ zu vertreten, während auf der anderen Seite lediglich „eine im Namen einer vermeintlich überlegenen ‚Moral’ und der ‚Menschlichkeit’ vorgetragene Kritik am geltenden Recht“ stehe.59 Wenn sie bei der (gerade erst zu klärenden) Frage nach den Grundbedingungen eines Rechtsstaats die Absolutheit der Menschenwürdegarantie im Konfliktfall ausschließlich für das Folterverbot reservieren wollen, schöpfen sie nämlich selbst aus überpositiven Quellen: Wer in diesem Zusammenhang etwa ein Modell anführt, nach dem die „unbeugsame und ungezwungene Willensbildung der Bürger“ zum zentralen Gründungsschwur des Rechtsstaats avanciert, dessen noch so punktuelle Nichteinhaltung in Gestalt einer Maßnahme, „durch die jemand gleichsam gegen sich selbst gewendet wird und zur kooperativen Aussage gegen sich selbst gezwungen werden soll“, quasi den totalen Legitimationsgewaltsam vorgehen, vgl. bereits Herzberg, JZ 2005, 321 [326]; Erb, Folterverbot [Fn. 1], S. 163 Fn. 11). Das ist bei jemandem, der nicht freiwillig bereit ist, seinen eigenen, in diesem Moment noch wirksamen Angriff auf das Leben eines Menschen durch Preisgabe rettender Informationen zu beenden, aber nicht der Fall. Er übt vielmehr weiterhin rechtswidrige Gewalt über das Schicksal eines Menschen aus, die es ebenso zu brechen gilt wie bei einem Geiselnehmer, der sich mit seinem Opfer verschanzt hat (ähnlich Brugger, JZ 2000, 165 [169]; H. Götz, NJW 2005, 953 [956]). Ob sich der Angreifer dabei räumlich gesehen bereits in staatlichem Gewahrsam befindet, ist zum einen ein relatives (auch bei dem mit seiner Geisel umstellten Täter ist das in gewisser Weise der Fall, erst recht bei einer Geiselnahme innerhalb der JVA) und zum anderen ein oberflächliches phänotypisches Kriterium, das den sozialen Bedeutungsgehalt der Situation nicht erfasst. 57 Dazu noch unten V. 58 Zutr. in ähnlicher Form bereits Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (396 f.); vgl. auch Otto, JZ 2005, 473 (481); Gössel, FS Otto (2007), S. 41 (57). Vor diesem Hintergrund zu behaupten, die petitio principii liege umgekehrt darin, jene Wahrheit in Zweifel zu ziehen, indem im Zuge ihrer kritischen Überprüfung die Möglichkeit einer punktuellen Relativierung des Folterverbots in die Diskussion eingeführt wird (so Ambos/Rackow, Jura 2006, 943 [948]), stellt die Dinge auf den Kopf. 59 So Stübinger (Fn. 8), S. 312; ähnlich Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (210).
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verlust des Staates bedeutet,60 rekurriert auf ein staatsphilosophisches Modell zur Legitimation eines „guten“ Staates, das nicht aus Art. 1 Abs. 1 GG erwächst, sondern diesem von einer vorgefassten ideologischen Position aus übergestülpt wird. Deshalb müssen sich die Anhänger dieses Modells sehr wohl kritischen Überlegungen stellen, ob die staatliche Förderung schwersten Unrechts durch den Schutz des Mörders bei Vollendung seiner Tat den Grundfunktionen eines Rechtsstaats nicht mindestens ebenso sehr zuwiderläuft wie die gewaltsame Erzwingung einer Wissensäußerung. 3. Diese Auseinandersetzung spitzt sich letzten Endes auf die Frage zu, ob der Staat in beliebigem Umfang über den Menschen verfügen darf. Dabei werden wir im vorliegenden Zusammenhang wiederum mit einer Paradoxie konfrontiert: Ein absolutes und unabänderliches Eingriffsverbot, wie es durch Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG statuiert wird, schützt den Menschen grundsätzlich vor einer totalen Inanspruchnahme für die Verfolgung vermeintlich höherrangiger Ziele des Staates. Hierdurch unterscheidet sich der moderne Rechtsstaat in der Tat von totalitären Ideologien, nach denen noch so elementare Belange von Individuen umgekehrt keine Abstriche von der Verfolgung der gesellschaftlichen Ziele erlauben, die im Mittelpunkt der jeweiligen Ideologie stehen (sei es die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft, die strikte Einhaltung der Vorgaben einer bestimmten Religion oder was auch immer). Geht man bei der Verabsolutierung einer bestimmten Komponente dieses Verbots aber so weit, dieses auch dort bedingungslos durchzusetzen, wo jemand seinen Schutz de facto nur dazu benötigt, um ungestört die elementarsten Belange von Mitmenschen verletzen zu können, so dringt der Staat durch die hiermit untrennbar verbundene Förderung eines entsprechenden Angriffs nunmehr an anderer Stelle, nämlich zum Nachteil des Opfers, in den Bereich des „Unverfügbaren“ vor. Damit wird der berechtigte Ansatz, der einer absolut notstandsfesten Ausgestaltung der Menschenwürdegarantie zugrunde liegt, durch die absolut notwehrfeste Ausgestaltung eines Teils derselben letzten Endes ad absurdum geführt.61 4. Quasi auf der Flucht vor dieser Erkenntnis wird nun versucht, die Diskussion von den Belangen der betroffenen Individuen zu lösen, indem man die 60 In diesem Sinne Stübinger (Fn. 8), S. 313, ähnlich Bielefeldt (Fn. 54), S. 9 ff.; Reemtsma, Folter im Rechtsstaat (2005), S. 125 ff. 61 Diese Erkenntnis basiert nicht auf dem Postulat eines naturrechtlichen Kerns des Notwehrrechts, der „aus der üblichen Schale des positiven Rechts herausgedrückt“ wird (so der Vorwurf von Stübinger [Fn. 8], S. 308). Vielmehr liefern die vorangegangenen Überlegungen umgekehrt eine schlüssige Begründung dafür, dass das Notwehrrecht in seinem Kernbereich nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht, weil sich ein Staat, der das Notwehrrecht nicht wenigstens insoweit anerkennt, offenkundig desavouiert.
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„Absolutheit“ des Folterverbots zum Inbegriff einer Menschenwürdegarantie hochstilisiert, die als institutionelle Einrichtung keine Rücksicht darauf nehmen könne und müsse, was dem einzelnen Menschen widerfährt.62 Durch ein solches staatsphilosophisches Konstrukt tritt indessen besonders deutlich hervor, wie die in Art. 1 Abs. 1 GG angelegte Selbstbeschränkung des Rechtstaats in eine Höchstwertorientierung umschlägt, nach der der Staat plötzlich wieder berechtigt bzw. sogar verpflichtet sein soll, zur Förderung eines alles andere überragenden Ziels (in diesem Fall eben zur Wahrung einer angeblichen Legitimationsgrundlage, die einseitig im bedingungslosen Ausschluss einer bestimmten Handlungsmodalität verortet wird) die elementarsten Rechte von Menschen zu negieren – bis hin zur wissentlichen Förderung ihrer willkürlichen Vernichtung. Damit gibt der Rechtsstaat genau das preis, was ihn prinzipiell von totalitären Willkürstaaten unterscheidet63 – nämlich dass er, wie es im Chiemsee-Entwurf des Grundgesetzes deutlich formuliert war, „um des Menschen willen ..., nicht der Mensch um des Staates willen“ da ist.64 Darüber hinaus konterkariert er die Grundfunktion des Zusammenschlusses von Menschen in einem Gemeinwesen überhaupt, die nun einmal darin besteht, den Einzelnen vor existenzbedrohenden Übergriffen zu schützen, weshalb der Staat schwerlich legitimiert sein kann, dort, wo er zur Gewährung dieses Schutzes nicht in der Lage ist, solchen Übergriffen nunmehr umgekehrt durch ein Verbot der erforderlichen Gegenwehr (wer auch immer sie de facto zu leisten bereit ist) in der Phase ihrer Ausführung freie Bahn zu verschaffen. Wer ein (gutes und wichtiges) rechtsstaatliches Prinzip wie das Folterverbot durch das Postulat seiner Notwehrfestigkeit solchermaßen übersteigert, schafft einen Fetisch, den der Rechtsstaat ebenso wenig nötig hat, wie er ihn sich leisten könnte.65 Er dürfte damit auch der allgemeinen Akzeptanz dieses Prinzips in seinem
62 Entsprechend etwa Reemtsma (Fn. 60), S. 123 ff.; Stübinger (Fn. 8), S. 312 f.; Bielefeldt (Fn. 54), S. 9 ff.; ähnlich durch den Rekurs auf eine angebliche „Würde des Staates“ auch Jäger, FS Herzberg (2008), S. 539 (546 ff.). 63 Vgl. bereits Erb, Jura 2005, 24 (30); ders., NStZ 2005, 593 (600); ders., Folterverbot (Fn. 1), S. 165 f. 64 An diese Formulierung anknüpfend bemerken Elsner/Schobert, DVBl 2007, 278 (284 Fn. 69) zutr.: „Die Menschenwürde wird nicht um ihrer selbst willen geschützt; nicht das Rechtsgut wird geschützt, sondern sein Träger, der einzelne Mensch.“. 65 Dies gilt um so mehr, wenn (wie in der Diskussion um den „Fall Daschner“ regelmäßig geschehen) bereits Drohungen, die im Vergleich zu jeder nicht ganz geringfügigen Körperverletzung eine Bagatelle darstellen, mit der Konsequenz als „Folter“ eingestuft werden, dass nicht einmal eine solche Maßnahme erlaubt sein soll, um die Macht eines Mörders über das Schicksal seines Opfers zu brechen (eingehende und unter allen einschlägigen Aspekten überzeugende Kritik dagegen bei Herzberg, JZ 2005, 321 [325 f.]; Merkel, FS Jakobs [2007], S. 375 [401 f.]).
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legitimen Anwendungsbereich (d.h. als Barriere gegen jede Form einer Notstandsabwägung) am Ende mehr schaden als nützen.66
V. Internationale Verbote der Folter 1. Was nun das Verbot der Folter durch völkerrechtliche Vorgaben betrifft, so ist zunächst noch einmal klarzustellen, dass internationale Abkommen selbst dann, wenn die Bundesrepublik damit eine völkerrechtlich bindende Verpflichtung eingegangen ist, im Rang unter Art. 1 Abs. 1 GG stehen. Sie können deshalb die Gewährung von Schutz für jemanden, der hierdurch in die Lage versetzt wird, quasi unter staatlicher Aufsicht einen Mord zu vollenden, innerstaatlich nicht legitimieren,67 und eine unmittelbar strafbegründende Wirkung gegenüber dem Nothelfer, der die Vollendung des Mordes mit den erforderlichen Mitteln verhindert, kommt ihnen schon gar nicht zu. Wenn man das Verbot der Folter schließlich grundsätzlich als Bestandteil des zwingenden Völkergewohnheitsrechts (ius cogens) betrachtet,68 so muss (und kann) das noch lange nicht bedeuten, daß damit völlig kontextunabhängig und ohne Rücksicht auf beliebige weitere Implikationen alles erfasst wäre, was sich rein begrifflich unter „Folter“ subsumieren lässt (und erst recht keine Verpflichtung zur lückenlosen Pönalisierung): Immerhin haben die vorstehenden Überlegungen gezeigt, dass jedenfalls die strafrechtliche Durchsetzung eines bedingungslosen Verbots, zur Abwendung eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben als Amtsträger gegen den Angreifer mit vis compulsiva vorzugehen, ihrerseits geeignet ist, die Grundannahme, auf der das Folterverbot im übrigen basiert (nämlich die Annahme unübersteigbarer Grenzen dessen, was ein Staat einem Menschen antun darf), ad absurdum zu führen. Sie beschwört ferner Konflikte mit anderen durch das ius cogens garantierten Positionen herauf, zu denen u.a. auch der Schutz vor willkürlicher Ermordung gehört.69 Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig plausibel, speziell für diese Konstellation die universelle Akzeptanz einer entsprechend verstandenen „Absolutheit“ des Folterverbots zu unterstellen. Dazu müsste die vorliegende Fallgruppe vielmehr erst einmal im Lichte dieser Aspekte in das Bewusstsein des weltweiten völkerrechtlichen Diskurses gelangt und dort eingehend erörtert worden sein. Das ist bisher nicht einmal im Ansatz geschehen, weil die Debatte seit 66
Zutr. Gössel, FS Otto (2007), 41 (62). Näher Gössel, FS Otto (2007), 41 (44). Vgl. zum Vorrang des Grundgesetzes vor internationalem Recht, wenn dessen Beachtung zu einem „Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung“ führen würde, etwa BVerfGE 111, 307 (319). 68 Wohl h.M., vgl. Jahn, KritV 2004, 24 (33 f.); Wagenländer (Fn. 1), S. 172, jew. m.w.N. 69 Dazu Wagenländer (Fn. 1), S. 195 f. 67
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eh und je um das – berechtigte – Anliegen kreist, das Folterverbot keiner Notstandsabwägung zu öffnen, ohne dass man dabei die besondere Struktur der Notwehrlage, die gegenüber den schlimmsten denkbaren Notstandszenarien keine Steigerung, sondern ein aliud darstellt, in der Sache überhaupt zur Kenntnis genommen hätte (was daran liegen mag, dass solche Fälle im Gegensatz zu der Versuchung, Folter zur Aufklärung staatsgefährdender Organisationsstrukturen einzusetzen, extrem selten sind). 2. Dieses Defizit an Gedanken darüber, was es denn bedeutet, wenn der Staat nicht nur vor dem Hintergrund beliebig gearteter (und durchaus auch beliebig gravierender) Bedrohungslagen bereit ist, auf eine bestimmte Handlungsmodalität unbedingt zu verzichten, sondern durch deren Verbot in der Notwehrlage der gegenwärtigen willkürlichen Ermordung von Menschen den Weg ebnet, kennzeichnet auch die völkervertraglichen Regelungen, in denen in pathetischen Formulierungen jede Rechtfertigung von „Folter“ kategorisch ausgeschlossen wird.70 Hätte man die vorliegend interessierende Konstellation hinreichend reflektiert, wäre es aufgrund ihrer strukturellen Besonderheiten nämlich mehr als nahe liegend gewesen, sie zur Vermeidung von Missverständnissen in den betreffenden Konventionen zumindest in irgendeiner Form gesondert zu erwähnen – wenn nicht im Sinne einer Ausnahme, dann im Sinne einer zusätzlichen Bekräftigung, dass die „Absolutheit“ des Folterverbots diesen Fall trotz der genannten Bedenken mit einschließen soll. Den Verfassern der jeweiligen Artikel und den Vertragsparteien der betreffenden Konventionen war das Problem also offenbar jedenfalls in seiner Tragweite nicht bewusst. Vor diesem Hintergrund wird man über eine einschränkende Auslegung der betreffenden Passagen reden müssen,71 um zu verhindern, dass Notwehrverbote im Zusammenhang mit der willkürlichen Ermordung von Menschen die einschlägigen Vertragswerke in den gleichen unüberbrückbaren Konflikt mit ihren eigenen Grundlagen bringen,72 wie das bei Art. 1 Abs. 1 GG der Fall wäre. Hält man dies methodisch nicht für möglich oder fehlt bei den zuständigen internationalen Gremien die Bereitschaft, sich auf entsprechende Überlegungen einzulassen,73 muss man sich in der Tat auf den Standpunkt 70
Insbesondere Art. 3 i.V.m. Art. 15 MRK und Art. 2 Abs. 2 UN-Folterkonvention. Entsprechender Vorschlag in Bezug auf die UN-Folterkonvention bei Erb, Jura 2005, 24 (28); weitergehend Gössel, FS Otto (2007), S. 41 (44 ff.); kritisch Herzberg, JZ 2005, 321 (324 Fn. 13). 72 Das Folterverbot ist ja auch nach deren Intention kein Selbstzweck, sondern Ausdruck des Bestrebens um einen bestmöglichen Schutz der Menschenwürde, zutr. Wagenländer (Fn. 1), S. 193 f. 73 Der EGMR hätte im Zuge der Beschwerde, die Gäfgen aufgrund der gegen ihn gerichteten Drohungen erhoben hat, dazu immerhin eine Gelegenheit; die Entscheidung lag bei Abschluss des vorliegenden Beitrags noch vor. 71
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zurückziehen, dass die einschlägigen Bestimmungen wegen des insoweit bestehenden Widerspruchs zu Art. 1 Abs. 1 GG punktuell keine innerstaatliche Geltung beanspruchen können; Vertragsverletzungsverfahren sind dann notfalls in Kauf zu nehmen. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen nicht akzeptabel wäre jedenfalls ein blinder Gehorsam gegenüber dem Wortlaut der Konventionen oder gegenüber daran haftenden Entscheidungen. Dabei sollte es auf der Hand liegen, dass die Sorge um eine „schlechte Presse“ bei Medienvertretern und Organisationen, die mit einem rhetorisch instrumentalisierten Folterbegriff Emotionen schüren, und um damit evtl. verbundene negative Auswirkungen auf das „internationale Ansehen“ der Bundesrepublik keine legitimen Gründe darstellen, wider besseres Wissen eine verfehlte Strafverfolgung zu betreiben. Wer letzterer aus solchen Erwägungen das Wort redet, dem wäre entgegenzuhalten, was Di Fabio vor einiger Zeit in anderem Zusammenhang74 bemerkt hat: „Wir beginnen heute überstaatliche Herrschaftsformen in einer Art zu bejubeln, die bereits im Zeitalter der Nationalstaaten an der Tagesordnung war, als die Nation besungen wurde. Die heute sichtbar werdende politische und kulturelle Direktive, alles Internationale und Überstaatliche unkritisch zu übernehmen, ... gefährdet nicht nur die Freiheit, sondern auf längere Sicht auch das Ansehen der internationalen Kooperationen.“75
VI. Ergebnisbezogene Bedenken? Im Folgenden sei noch einmal kurz auf einige ergebnisbezogene Bedenken eingegangen, wenngleich diese vor dem Hintergrund der rechtsstaatlichen Unhaltbarkeit eines Notwehrverbots keine durchschlagende Kraft mehr entfalten können.76 Sie kreisen letzten Endes alle um die Befürchtung, auch bei einem nur punktuellen Verzicht auf negative Sanktionierung einer mit „Folter“ identifizierbaren Handlungsweise werde es „kein Halten“ mehr geben.
74 Es ging um die Einleitung eines Strafverfahrens mit Anordnung von Untersuchungshaft gegen einen Kurden, der zur Unterstützung von Kurden im Nordirak, die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr von Saddam Hussein beherrscht wurden und zu ihm in Opposition standen, Geld gesammelt und damit formal gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats verstoßen hatte, die zum Boykott des Hussein-Regimes Bankgeschäfte auf dem Staatsgebiet des Irak untersagte. Um den Anschein zu vermeiden, Di Fabio solle allgemein für den im vorliegenden Beitrag vertretenen Standpunkt des Verfassers vereinnahmt werden, sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er diesen nicht teilt. 75 Di Fabio, Die Kultur der Freiheit (2005), S. 47. 76 Vgl. Merkel, FS Jakobs (2007), S. 375 (380, 402 f.).
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1. Soweit damit die Gefahr eines allgemeinen „Dammbruchs“ gemeint ist, wurden die wesentlichen Dinge bereits gesagt (s.o. II.2.). Zum Teil bezieht sich dieser Vorwurf allerdings auch auf den Umstand, dass keine detaillierten Regeln bestehen, wie weit man bei der Schmerzzufügung im Einzelfall einer Notwehrlage denn ggf. gehen darf; hierbei wird dann regelmäßig die Möglichkeit von Verstümmelungen ins Spiel gebracht und ggf. anschaulich ausgemalt.77 Hierauf ist zu erwidern, dass das Notwehrrecht generell keinen numerus clausus der zulässigen Verteidigungsmittel kennt, und dass man auch sonst beliebig abscheuerregende Fälle bilden kann, in denen der Verteidiger berechtigt ist, den Angreifer in grauenhafter Weise zu verstümmeln oder ihm Wunden zuzufügen, die einen langsamen schmerzhaften Tod zur Folge haben: Man denke etwa an jemanden, der zufällig in eine Terrorwerkstatt geraten ist (oder dem dort als Polizist bei einer Razzia in einem Gerangel die Dienstwaffe entwendet wurde), und dem nur ein soeben gefundener Flammenwerfer zur Verfügung steht, um sich oder einen Dritten effektiv verteidigen zu können. Dies bedeutet hier wie dort indessen keinen Freibrief, nach Gutdünken ein entsprechend brutales Vorgehen an den Tag zu legen: Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, auch ohne solche nachhaltigen Beeinträchtigungen extreme Zwangswirkungen zu erzielen, dürfte das Kriterium der Erforderlichkeit gerade in den hier interessierenden Fällen in aller Regel viel engere Grenzen setzen, und jeder Notwehrtäter muss sich einer nachträglichen kritischen Prüfung stellen, ob er diese Grenzen eingehalten hat. Auch das Szenario, dass eine irrtümlich für den Angreifer gehaltene Person straflos immer weiter gefoltert werden darf, weil sie nichts Sachdienliches sagt (was sie ja nicht kann), erscheint wenig realistisch: Sollte es tatsächlich einmal so weit kommen, dass sich jemand unter Einhaltung der strengen Voraussetzungen, die an die Evidenz der Angreifereigenschaft zu stellen sind, am Falschen vergreift,78 der immer wieder beteuert, Opfer einer Verwechslung zu sein, und hierfür um plausible Hinweise bemüht ist, so muss sich der andere recht schnell die Frage stellen, ob das nicht wirklich so sein könnte, und handelt dann jedenfalls nicht mehr in einem unvermeidbaren Irrtum, der ihn vor Strafe bewahren würde.79 Bei einem fanatisierten Täter, der ganz offen einräumt, einen Menschen in sei77 Vgl. etwa Reemtsma (Fn. 60), S. 120 f.; 101, K. Günther, Darf der Staat foltern, um Menschenleben zu retten? in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter (2006), S. 101, 106 f.; Schild, Folter(androhung) als Straftat, in: Gehl (Hrsg.), Folter – Zulässiges Instrument im Strafrecht? (2005), S. 59 (75); Bielefeldt (Fn. 54), S. 14 ff. 78 Zu diesem Problem sogleich unter 2. 79 Strafbarkeitslücken treten nicht auf, wenn man – was hier nicht weiter vertieft werden kann – bei der Behandlung der Putativnotwehr der „strengen Schuldtheorie“ folgt, deren dogmatische Richtigkeit in jüngerer Zeit insbesondere Paeffgen (Fn. 2), Vor §§ 32 bis 35, Rn. 108 ff. eingehend und überzeugend begründet hat.
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ner Gewalt zu haben, und sich zugleich damit brüstet, jedem Zwang zu widerstehen und das Opfer jämmerlich zugrunde gehen zu lassen, könnte es (wenn er diese Linie denn durchhält) freilich zum Äußersten kommen – dort aber ebenso zu Recht wie im Flammenwerfer-Beispiel. Prinzipiell ausgeschlossen ist schließlich ein nachhaltiges, über Wochen oder Monate praktiziertes systematisches Zerbrechen der Persönlichkeit, wie es Folter im üblichen Sinn häufig kennzeichnet, weil ein so langfristiges Fortbestehen einer Notwehrlage schlechthin undenkbar erscheint.80 2. Zur Frage eines möglichen Irrtums ist im Übrigen zu bemerken, dass dieser im vorliegenden Zusammenhang selbstverständlich auch dann furchtbar wäre, wenn es zwar nicht zu nachhaltigen Schädigungen, aber doch zu erheblicher Schmerzzufügung kommt. Das Risiko wird allerdings nicht nur durch die strengen Anforderungen minimiert, die bei einem Eingriff solcher Schwere an die Zubilligung eines unvermeidbaren Irrtums zu richten wären (über die ohnehin zu verlangende Evidenz der Notwehrlage hinaus), sondern auch durch den Umstand, dass der Betroffene grundsätzlich die Möglichkeit hat, durch eine plausible Schilderung, wie er in die betreffende Situation kam, eine zunächst gegebene Evidenz zu erschüttern und damit die Voraussetzungen einer Entschuldigung des Vorgehens gegen ihn zu beseitigen. Wer versehentlich für einen Angreifer gehalten und deshalb erschossen wird, hat diese Chance definitiv nicht! Das in letzter Konsequenz niemals auszuschließende „Restrisiko“ eines verhängnisvollen Irrtums ist schließlich keine Besonderheit der vorliegenden Konstellation, sondern überall da gegeben, wo Menschen Entscheidungen von großer Tragweite treffen müssen. Die theoretische Möglichkeit, dass es sich irgendwann einmal realisiert, kann die Berechtigung, einer in concreto definitiv richtig erkannten Notwendigkeit zu folgen, prinzipiell nicht in Frage stellen – andernfalls müssten sämtliche Aktivitäten von Polizei und Justiz generell eingestellt werden.81 Im Vergleich mit einem potentiellen Irrtumsopfer in der vorliegenden Konstellation wird man auch schwerlich sagen können, dass sich jemand, der irrtümlich erschossen, mit der Folge schwerster Dauerschäden angeschossen oder unschuldig zu einer langjährigen, im Ergebnis sein gesamtes Leben zerstörenden Freiheitsstrafe verurteilt wird,82 in einer privilegierten Situation befindet.
80 Weshalb das Argument der „totalen Persönlichkeitszerstörung“ eines Gefolterten im vorliegenden Zusammenhang offenkundig ins Leere geht, zutr. Trapp (Fn. 16), S. 133 ff. 81 Zutr. Nitschke, Die Debatte über Folter und die Würde des Menschen, in: Nitschke (Hrsg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? (2005), S. 7 (34). 82 Zu einem solchen Fall, in dem die Verurteilung offenbar auf grober Pflichtvergessenheit der zuständigen Richter beruhte, eindrucksvoll Rückert, Unrecht im Namen des Volkes (2007),
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3. Schlicht unzutreffend ist schließlich die (zumeist in Verbindung mit dem Dammbruch-Argument vorgetragene) Behauptung, eine Rechtfertigung von „Notwehrfolter“ erfordere genaue Regelungen, welche Methoden unter welchen Umständen im Einzelnen anzuwenden seien, und einschlägig ausgebildetes Personal:83 Wenn (auch bei einem Amtsträger) richtigerweise schon de lege lata eine persönliche Rechtfertigung nach § 32 StGB Platz greift, besteht kein Hinderungsgrund, es auch in Zukunft einfach dabei zu belassen.84 Ebenso wie sonst bei der Notwehr einschließlich der Nothilfe liegt es in der Hand des Einzelnen, der sich in einer entsprechenden Situation wieder findet, das in concreto erforderliche Mittel zu finden und sein Vorgehen hinterher gegenüber der Justiz zu verantworten. Ob ein Amtsträger aufgrund seiner Garantenstellung für das Opfer ggf. verpflichtet wäre, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen,85 obwohl diese nicht im Polizeirecht geregelt sind und er insofern wie ein privater Verteidiger quasi nach bestem Wissen und Gewissen improvisieren muss, ist eine Frage, über die man diskutieren kann.86 Sie wird durch das Recht zur Ausübung von Notwehr einschließlich Nothilfe jedoch in keiner Weise präjudiziert, da es – abgesehen von Zumutbarkeitserwägungen – zumindest fraglich erscheint, ob die Garantenpflicht des Polizeibeamten über die Vornahme solcher Maßnahmen hinausgehen kann, die in den Vorschriften, die seine Garantenstellung begründen (d.h. im Polizeirecht), im Einzelnen geregelt sind.87 Hier muss man wohl darauf bauen, dass diejenigen, die mit einem einschlägigen Sachverhalt konfrontiert werden, im Ernstfall die Zivilcourage besitzen, das Richtige zu tun. Da die Lebenswirklichkeit kein Heldenepos ist,88 wird das freilich nur dann der Fall sein, wenn die Rechtsordnung jene Tugend nicht
passim; Kritik an den insoweit bestehenden Strafbarkeitsdefiziten bei Erb, FS Küper (2007), 29 ff. 83 So etwa Braum, KritV 2005, 283 (296 f.); Joerden, FS Hruschka (2005), S. 495 (518); Roxin, FS Nehm (2006), S. 205 (216). 84 Ideal wäre freilich eine gesetzliche Klarstellung, dass § 32 StGB auch die gewaltsame Erzwingung von Informationen des Angreifers rechtfertigen kann, die zur Abwendung des Angriffs erforderlich sind, und eine im Vergleich zu den gegenwärtigen Notrechtsvorbehalten noch eindeutigere Klarstellung, dass § 32 StGB in vollem Umfang auch Amtsträgern zugute kommt, die in Ausübung ihres Dienstes ohne einschlägige Ermächtigungsgrundlage handeln. 85 Krit. gegenüber dieser Konsequenz etwa Weßlau, Der staatliche Schutz von Verbrechensopfern und das Verbot der Folter, in: Paech/Rinken/Schefold/Weßlau (Hrsg.), Völkerrecht statt Machtpolitik, 2004, S. 390 (401 ff.). 86 Bejahend Kühl AT (Fn. 1), § 7 Rn. 156a; ders., in: Lackner/Kühl (Fn. 1), § 32 Rn. 17a. 87 Verneinend Gössel, FS Otto (2007), S. 41 (61). 88 Deshalb verfehlt der Ruf von Poscher, Menschenwürde als Tabu, in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter (2006), S. 75 (83 ff.), nach einem Helden, „der bereit ist, für die Rettung der Welt ins Gefängnis zu gehen“.
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durch einen Fehlgebrauch ihrer Sanktionsmechanismen untergräbt, wie dies im Strafverfahren gegen Wolfgang Daschner geschehen ist.
Mord und Totschlag – Die BGH-Rechtsprechung vor einem Wandel?1 WALTER GROPP
I. „Diese Übersicht enthält einen Fehler…“ Wenn in der Vorlesung zum Besonderen Teil des Strafgesetzbuches das Verhältnis von Mord und Totschlag angesprochen wird, rückt bald § 28 in das Zentrum der Betrachtung. Die Information, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Mord als ein selbständiger Tatbestand im Verhältnis zum Totschlag aufgefasst und die Teilnahme daran über § 28 Abs. 1 abgewickelt wird, während die überwiegende Lehre den Mord als Qualifikation des Totschlags begreift und § 28 Abs. 2 auf die Beteiligung anwendet, führt nicht selten zu einer ungläubigen Reaktion der Studienanfänger: Wie es denn komme, dass ein solcher Streit nach Ablauf von mehr als 55 Jahren noch immer nicht entschieden sei. Zu dieser Verwunderung trägt auch bei, dass sich bis heute der Frontverlauf zwischen den „verfeindeten Lagern“ Rechtsprechung2 und Schrifttum3 anschaulich darlegen lässt. Die Verwunderung der Studierenden schlägt in Irritation um, sobald sie erkennen, dass jene Auseinandersetzung zwischen Lehre und Rechtsprechung nicht nur praxis-, sondern auch äußerst prüfungsrelevant ist, indem sie unmittelbare Auswirkungen auf die Anwendung des § 28 hat. Als Hochschullehrer ist man an dieser Stelle versucht, den Studierenden die Sache etwas zu erleichtern und die Auswirkung der unterschiedlichen Auffassungen auf die Anwendung des § 28 graphisch darzustellen. Während unserer gemeinsamen Zeit an der Leipziger Juristenfakultät fiel mir eine solche Übersicht von Manfred Seebode in die Hände. Sie enthielt eine erste Fußnote, von der ich bis heute nicht weiß, ob sie als Hinweis auf die Fehlbarkeit allen menschlichen Handelns gedacht war oder eher zu einer besonders
1 Der Dienstagsrunde, insbesondere aber den Wiss. Mitarbeitern Volker Bützler und Nejdet Arslan, danke ich für wertvolle Anregungen und Unterstützung. 2 Vgl. die Übersicht in BGH JZ 2006, 629/632, beginnend mit BGHSt 1, 368 bis BGH NStZ 2005, 381. 3 Puppe, Anm. zu BGH 2 StR 229/04 v. 12.1.2005, JZ 2005, 900, 902 ff./902.
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intensiven Befassung mit der Thematik motivieren sollte. Sie lautete: „Diese Übersicht enthält einen Fehler …“ Man darf aus jener Bemerkung schließen, dass Manfred Seebode die Problematik von Mord und Totschlag und § 28 jedenfalls am Herzen lag und vielleicht auch heute noch liegt und ihm ein paar Überlegungen hierzu eine kleine Freude bereiten könnten, zumal Bewegung in die Sache zu kommen scheint.
II. Die Entscheidung des 5. Strafsenats des BGH vom 10. Januar 2006 Die sog. „Blutrache“-Entscheidung des 5. Strafsenats vom 10. Januar 20064 hat gerade im Hinblick auf § 28 Aufsehen erregt. Sie bildet die Endstation der juristischen Aufarbeitung einer Tragödie zwischen zwei verfeindeten Familien mit Migrationshintergrund. In ihrem Fokus stehen zwar Mordmerkmale (Blutrache als niedriger Beweggrund, Heimtücke), sie enthält aber am Ende ein kurzes obiter dictum, das Bewegung in die eingangs genannte Problematik bringt.5 Nach der Feststellung, dass die Angeklagte mangels Kenntnis der bei einem der Täter vorliegenden Mordmerkmale ohnehin nur der Beihilfe zum Totschlag schuldig sei und es deshalb für die Zurechnung der Mordmerkmale nicht auf die Anwendung von § 28 ankomme, nimmt der 5. Strafsenat dennoch zum Verhältnis zwischen Mord und Totschlag und § 28 Stellung:6 Nach der bisherigen Rechtsprechung aller Strafsenate des BGH bildeten Mord und Totschlag zwei selbständige Tatbestände. Es folgt ein Hinweis auf die Gegenauffassung in der Literatur und die Wiedergabe der wichtigsten Argumente, die der bisherigen Rechtsprechung des BGH zum Verhältnis von Mord und Totschlag entgegen gehalten werden. Die „Probleme der bisherigen Rechtsprechung“ würden am vorliegenden Fall besonders anschaulich. Die gemeinschaftliche Tötung, die sich seitens des einen Täters als Mord, seitens des anderen lediglich als Totschlag darstellt, könne „schwierig als Verwirklichung zweierlei verschiedenen Unrechts und seiner selbständigen Tatbestände verstanden werden, sondern stellt sich als ein7 Tötungsunrecht im Sinne von § 212 StGB dar, zu dem lediglich bei einem der Täter mit dem Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe besonders erschwerende persönliche Umstände (vgl. § 28 Abs. 2 StGB) hinzukommen; ein solches Verhältnis entspricht nach der 4
BGH 5 StR 341/05 v. 10.1.2006, JZ 2006, 629. JZ 2006, 632. 6 Näher JZ 2006, 632 links zur Rechtsprechung, rechts zum Schrifttum. 7 Hervorhebung vom Verf. 5
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üblichen Systematik demjenigen zwischen Grunddelikt und Qualifikation.“8 Deshalb lasse sich auch der Beitrag der angeklagten Gehilfin nicht künstlich in eine Beihilfe zum Mord und eine tateinheitlich hiermit verbundene Beihilfe zum Totschlag aufspalten.
III. Lehre und Rechtsprechung: Mord als qualifizierter Totschlag oder als delictum sui generis? Bedenkt man die Verbitterung, mit der die Rechtsprechung des BGH zuweilen kommentiert wurde – „darüber, warum der BGH sich ein halbes Jahrhundert lang der Frage nicht gestellt hat, ob diese seine Ausgangsthese richtig ist, kann man nur spekulieren. Der Grund dafür, dass er es weiterhin nicht tut, ist eben, dass er es schon 50 Jahre lang nicht getan hat“9 – dann wird verständlich, dass – neben der Erörterung der Mordmerkmale Heimtücke und niedrige Beweggründe – das obiter dictum des BGH im Schrifttum sowohl mit Erleichterung als auch mit Erwartungen im Hinblick auf eine bevorstehende Wende in der BGH-Rechtsprechung zum Verhältnis von Mord und Totschlag zur Kenntnis genommen worden ist.10
1. Was ist ein delictum sui generis? Die kritisierte Unbeweglichkeit des Bundesgerichtshofs könnte indessen auch daher rühren, dass es sich gar nicht so eindeutig und zwingend an Hand von Voraussetzungen beschreiben lässt, wann es sich bei einem Straftatbestand um ein delictum sui generis handelt und wann nur eine Qualifikation vorliegt. Denn dies würde bedingen, dass man überhaupt hinreichende Voraussetzungen nennen kann. Nun gibt es freilich auch Phänomene, die sich eher aus ihren Folgen denn aus ihren Voraussetzungen definieren: Objektive Bedingungen der Strafbarkeit kann man daran erkennen, dass sich der Vorsatz des Täters nicht auf sie zu erstrecken braucht. Wann dies der Fall ist, folgt nicht aus der Natur der Sache, sondern steht im Ermessen des Gesetzgebers. Man wird daher bezüglich des delictum sui generis Küper11 darin zustimmen können, dass es sich hier im Grunde nur um ein rein terminologisches Problem handelt. Denn ob die „spezielle Rechtsnorm vom 8
JZ 2006, 632 rechts. Puppe JZ 2005, 904 rechts. 10 Küper, „Blutrache“, „Heimtücke“ und Beteiligung am Mord, JZ 2006, 608/612 f.; Küper, Im Dickicht der Beteiligung an Mord und Totschlag, JZ 2006, 1157/1167; vgl. zu den Mordmerkmalen auch Geppert, Zum Begriff der „heimtückischen“ Tötung in § 211 StGB, vornehmlich an Hand neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung, Jura 2007, 270 ff. 11 Küper JZ 2006, 1157. 9
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Ausgangstatbestand gelöst und zu einem neuen Delikt mit eigenständigem Unwert (delictum sui generis) ausgestaltet worden ist“,12 lässt sich ebenso als Voraussetzung wie als Folge formulieren: Weil ein delictum sui generis gegeben ist, ist § 28 Abs. 1 anwendbar. Ein delictum sui generis kann man daran erkennen, dass § 28 Abs. 1 anwendbar ist. Freilich kann diese Frage dahinstehen, wenn man prüft, ob die für das delictum sui generis spezifischen Folgen aus den §§ 28 und 29 für die Anwendung auf die §§ 211 und 212 zweckmäßig sind.13 Dann entscheidet über die Einordnung des Mordes als delictum sui generis die Sachgerechtigkeit der Lösung selbst.14 Führte diese Konstruktion zu ungerechten Ergebnissen, dann bedarf sie der Überprüfung. Als Maßstab für jene „Sach“„Gerechtigkeit“ dient dabei insbesondere die Frage der Gleichheit. Eine Ungleichbehandlung, für die sich kein sachlicher Grund anführen lässt, spräche gegen die delictum-sui-generis-These. Um diese Unterschiede darzustellen, muss man jedoch zunächst unbefangen ergründen, wie die beiden Ansätze funktionieren. Wie die Strafrechtsvergleichung zunächst feststellt, dass ein gesellschaftliches Problem von strafrechtlicher Relevanz in unterschiedlichen Rechtsordnungen trotz unterschiedlicher Systeme im Ergebnis dennoch „befriedigend“ gelöst wird, und auf dieser Basis die zu vergleichenden Systeme zu verstehen versucht,15 so gilt es auch hier im Vergleich von Lehre und Rechtsprechung zunächst das Funktionieren der unterschiedlichen „Systeme“ zu erkennen. Nicht zu Unrecht spricht Küper in seinem Besprechungsaufsatz zur Entscheidung des 5. Strafsenats von zwei unterschiedlichen „Systemen“ bei der Behandlung der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale. Man sei bei deren dogmatischer Beobachtung in „ungewöhnlichem Maße gezwungen“, gleichsam parallel in zwei verschiedenen Systemen zu denken.16
2. Die beiden „Systeme“ und die Behandlung der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale a) Das System des Schrifttums „funktioniert“ bekanntermaßen nach dem Schema des § 28 Abs. 2. Für besondere persönliche täterbezogene Mordmerkmale, die der Beteiligte selbst aufweist und deren Vorhandensein bei sich er auch kennt, ist er verantwortlich. Auf besondere persönliche Mordmerkmale Dritter kommt es für die Verantwortlichkeit des Beteiligten über12 So Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 36. Aufl. 2006, RN 111; weitere Nachweise bei Küper JZ 2006, 1157, FN 7. 13 Vgl. Küper JZ 2006, 1158. 14 Vgl. Küper JZ 2006, 1166. 15 Vgl. Jung, Grundfragen der Strafrechtsvergleichung, JuS 1998, 2 f. 16 Küper JZ 2006, 1158.
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haupt nicht an. Denn seine Strafbarkeit ist bezüglich der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale nach § 28 Abs. 2 nicht akzessorisch.17 Nicht zu Unrecht bezeichnet Küper das System des Schrifttums als ein „gut durchschaubares Entscheidungsmuster“.18 Die Akzessorietätsregeln werden durch das Prinzip der direkten und individuellen Zurechnung ersetzt. Die Strafbarkeit der Beteiligten richtet sich nach den durch sie verwirklichten besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmalen. Dies erscheint sachgerecht, weil sich die Verwirklichung dieser Merkmale unbestrittenermaßen jedenfalls auf die Schuld des jeweils Beteiligten als Voraussetzung der Strafbarkeit auswirkt,19 ohne dass es darauf ankommt, ob jene Merkmale auch unwert– bzw. unrechtsbegründend sind. Unter diesem Aspekt kann man zu dem Ergebnis kommen, dass das „System“ der Literatur soweit ersichtlich nicht zu ungerechten Ergebnissen führt. Es lassen sich keine Fälle konstruieren, in denen Beteiligte trotz vergleichbarer Gegebenheiten ungleich oder trotz ungleicher Gegebenheiten ohne sachlichen Grund gleich behandelt würden. b) Das System der Rechtsprechung wird hingegen durch zwei Elemente geprägt: Akzessorietät (aa) und Strafzumessung (bb). aa) Das „System“ der Rechtsprechung zur Verantwortlichkeit für besondere persönliche täterbezogene Merkmale wird über § 28 Abs. 1 vom Gedanken der Akzessorietät beherrscht. Verantwortlich ist der Teilnehmer für Mordmerkmale, von deren Verwirklichung durch den Täter er Kenntnis hat. Dabei kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob der Teilnehmer diese Merkmale selbst aufweist. Dahinter steht die auch ansonsten in der Lehre von Täterschaft und Teilnahme herrschende Auffassung, dass Strafgrund der Teilnahme eine eingeschränkte akzessorietäts-orientierte Verursachung fremden Unrechts ist,20 wobei das durch den Teilnehmer hervorgerufene Unrecht beim Haupttäter auch Unrecht des Teilnehmers ist und als solches dem Unrecht des Haupttäters zumindest entsprechen muss.21 Nun schreibt der erst am 1. Oktober 1968 durch Art. 1 Nr. 6 EGOWiG vom 24.5.196822 eingeführte § 28 Abs. 1 zwingend vor, dass die Strafe des Teilnehmers nach Versuchsgrundsätzen gemildert werden muss, wenn er selbst jene unwert-, unrechts- und damit auch schuldbegründenden besonderen persönlichen 17
Vgl. Küper JZ 2006, 1161 f. Küper JZ 2006, 1162. 19 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder 27. Aufl. 2006, § 211 RN 6; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder RN 122 vor § 13; Gropp, in: Kröber u.a. (Hrsg), Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. 1 2007, S. 62. 20 Vgl. Gropp Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2005, § 10 RN 103. 21 Gropp aaO RN 106. 22 BGBl I 503. 18
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täterbezogenen Merkmale nicht aufweist. Dies ist insofern sachgerecht, als das Unrecht der Teilnahme dem der Täterschaft entsprechen muss. Wenn die Mordmerkmale § 211 prägen, dann muss sich das Fehlen dieser Merkmale beim Teilnehmer auswirken. Wer die besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmale als Schuldmerkmale auffasst23 und damit auf Grund der Limitierung in §§ 26 und 27 aus der Akzessorietät entlässt, käme über § 29 zu einer Entlastung in Form der Teilnahme am Totschlag. Die obligatorische Strafmilderung nach § 28 Abs. 1 geht somit – wie man auch die Sache dreht und wendet – jedenfalls in die richtige Richtung und erscheint damit sachgerecht. Dies gilt auch bezüglich der Verneinung von § 28 Abs. 1 und der Ablehnung einer Strafmilderung, wenn auch der Teilnehmer das besondere persönliche täterbezogene Merkmal des Täters aufweist. Wer zu einem aus niedrigen Beweggründen begangenen Mord Hilfe leistet und sich der niedrigen Beweggründe bewusst ist, ist wegen Beihilfe zum Mord aus niedrigen Beweggründen strafbar mit einer Strafmilderung nach § 28 Abs. 1, wenn er selbst nicht aus niedrigen Beweggründen handelt. Liegen bei ihm ebenfalls niedrige Beweggründe vor, ist eine Strafmilderung ausgeschlossen.24 Weil die Akzessorietät aber nur die Teilnahme an einer Straftat betrifft, spielen entsprechend dem eindeutigen Wortlaut des § 28 Abs. 1 auch nach der Rechtsprechung Akzessorietätsgesichtspunkte keine Rolle mehr, wenn eine (Mit)Täterschaft des Beteiligten in Frage steht. Erfüllt bei einem arbeitsteiligen Vorgehen einer der Mittäter zusätzliche Elemente, welche über die gemeinsam und arbeitsteilig verwirklichten Elemente hinaus einen weiteren Straftatbestand ergeben, so geht der BGH seit der Entscheidung BGHSt 36, 231 vom 25.07.1989 davon aus, dass es sich bei der Verletzung unterschiedlicher Strafnormen durch die Täter dennoch um die gleiche Straftat i.S.v. § 25 Abs. 2 handeln kann, wenn von jenen die eine vollständig in der anderen enthalten ist, „die Täter insoweit also (auch) gemeinsam einen identischen Straftatbestand verletzen.“25 Auch bei angenommener rechtlicher Selbständigkeit von Mord und Totschlag ist daher die Begehung eines Mordes in Mittäterschaft möglich, wenn der andere Mittäter nur einen Totschlag begeht. Dies gelte auch für Körperverletzung und Tötung, Kindstötung und Totschlag, aber auch Diebstahl und Raub, und zwar unabhängig davon, ob die schwerere Straftat nun eine Qualifikation oder ein delictum sui generis im Verhältnis zum leichteren Delikt darstellt.26 23 Vgl. Köhler, Zur Strafbarkeit des Mordes bei „außergewöhnlichen Umständen“ – BGHSt 30, 105, JuS 1984, 763 links. 24 BGH 2 StR 571/95 v. 7.2.1996 NStZ 1996, 384/385. 25 „Tante-Fall“ BGH 1 StR 479/88 v. 25.7.1989 BGHSt 36, 231/234. 26 Vgl. BGHSt 36, 233 ff.
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Das obiter dictum vom 10.01.2006, nach dem die gemeinschaftlich begangene Tötung schwerlich als Verwirklichung zweierlei verschiedenen Unrechts und zweier selbständiger Tatbestände verstanden werden könne und vielmehr als ein Tötungsunrecht im Sinne von § 212 zu verstehen sei, bei dem lediglich bei einem der Täter ein Mordmerkmal hinzukommt,27 bildet somit inhaltlich einen Rückgriff auf 1989. Neu ist nur, dass dieses Verhältnis im obiter dictum nun als Qualifikation und Grundtatbestand beschrieben wird, ohne dass dies jedoch auf die Strafbarkeit der Beteiligten eine signifikante Auswirkung hätte. Die Rechtsprechung hält sich somit hinsichtlich der besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmale streng an die Regeln der Akzessorietät, wenn Teilnahme gegeben ist. Außerhalb der Akzessorietät entfaltet § 28 Abs. 1 keine Wirkung und gibt den Weg zu einer direkten persönlichen Zurechnung der Merkmale frei. Im Bereich der Täterschaft bzw. Mittäterschaft kommt es somit wie bei der Lehre nur darauf an, welche besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmale der Beteiligte in seiner Person wissentlich aufweist. Diese Übereinstimmung mit der Lehre lässt nicht zuletzt den Schluss zu, dass die Rechtsprechung auch insoweit zu sachgerechten Ergebnissen kommt. bb) Hinsichtlich der Strafzumessung für die Teilnahme am Mord bleibt der Rechtsprechung nur ein enger Spielraum. So führt die Beihilfe zu einem Mord mit einem besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmal nach § 27 Abs. 2 und § 28 Abs. 1 obligatorisch zu einer doppelten Strafmilderung beim Teilnehmer, wenn der Teilnehmer selbst jenes besondere persönliche täterbezogene Merkmale nicht erfüllt.28 Es ist sogar eine dreifache Milderung möglich, wenn eine weitere Strafmilderungsvorschrift hinzutritt.29 Jedoch lehnt der BGH eine durch Beihilfe verursachte mehrfache Milderung ab, wenn die Verneinung einer Täterschaft gerade auf dem Fehlen eines besonderen persönlichen Merkmals beim Teilnehmer beruht.30 Auch dies erscheint sachgerecht, weil andernfalls das Fehlen des persönlichen Merkmals ohne einen weiteren sachlichen Grund doppelt verwertet werden würde. Gegen die Anwendung der Strafmilderung nach § 28 Abs. 1 wendet sich der BGH seit der Entscheidung BGHSt 23, 39, 40 auch dann, wenn der Teilnehmer zwar nicht dasselbe besondere persönliche täterbezogene Merkmal erfüllt wie der Haupttäter, wohl aber ein besonderes persönliches 27
JZ 2006, 632 rechts. Vgl. BGH 4 StR 482/01 v. 17.1.2002, NStZ-RR 2002, 139. 29 So z.B. § 35 Abs. 2 in BGH 5 StR 517/83 v. 8.11.1983 StV 1984, 69; zur doppelten Strafmilderung insbesondere BGH 4 StR 386/70 v. 4.3.1971 BGHSt 24, 106/110. 30 Vgl. BGH 5 StR 77/81 v. 28.4.1981 NStZ 1981, 299, unter Verweis auf BGHSt 26, 53 ff.; für das Treueverhältnis bei § 266 BGH 2 StR 567/74 v. 8.1.1975 BGHSt 26, 53/54. 28
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täterbezogenes Merkmal „gleicher Art“ wie etwa die Verdeckungsabsicht als eine Form niedriger Beweggründe. Auch dies erscheint sachgerecht, weil das vom Teilnehmer verwirklichte Unrecht bzgl. des besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmals dem des Täters entspricht. Kopfzerbrechen bereiten bzgl. der Sachgerechtigkeit allerdings jene Fälle, in denen der Teilnehmer ein besonderes persönliches täterbezogenes Merkmal verwirklicht, der wirkliche oder (bei der versuchten Anstiftung) vorgestellte Haupttäter hingegen ein besonderes persönliches täterbezogenes Merkmal nicht gleicher Art. Hier lässt das Gesetz keine Möglichkeit, von der doppelten Milderung über §§ 28 Abs. 1 und 27 Abs. 2 S. 2 bzw. 30 Abs. 1 S. 2 abzusehen. Und im Fall der Teilnahme am Totschlag verbietet es die Akzessorietät, den Gehilfen wegen Mordes zu bestrafen. Die Rechtsprechung versucht insoweit einen Ausgleich dadurch herbeizuführen, dass das besondere persönliche täterbezogene Mordmerkmal beim Teilnehmer zumindest als Strafzumessungstatsache straferschwerend berücksichtigt wird.31 Allerdings gereicht jene streng akzessorietätsorientierte Rechtsprechung immerhin zum Vorteil des Teilnehmers. Damit geht die Rechtsprechung aber in eine Richtung, die im Ergebnis durchaus im Sinne der Lehre liegt, ist es doch in weiten Bereichen ein Anliegen der Lehre, die Anwendung von Mordmerkmalen gerade zu verhindern, um so der im Bereich der Täterschaft obligatorischen Rechtsfolge der lebenslangen Freiheitsstrafe zu entgehen.32 Vorwürfe an die Rechtsprechung, hier zu „milde“ zu sein, dürfen daher nur sehr zögernd erhoben werden. So gesehen kommt die Rechtsprechung in diesem Bereich der Lehre immerhin ein Stück entgegen, indem sie zu einer restriktiven Anwendung des Mordtatbestandes bzw. seiner Rechtsfolgen führt.
IV. Das Beteiligungssystem der Rechtsprechung in der Kritik Der Vergleich der Behandlung der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale in den „Systemen“ von Lehre und Rechtsprechung hat ergeben, dass auch die Rechtsprechung in weiten Bereichen Ergebnisse erzielt, die der Lehre entsprechen und sachgerecht erscheinen. Zweifel bleiben jedoch bzgl. der Fallgruppe, bei der dem Teilnehmer nicht ein besonderes persönliches täterbezogenes Mordmerkmal des Täters zugerechnet werden kann und er dadurch selbst im Falle eines eigenen besonderen
31 32
BGH 1 StR 733/81 v. 15.12.1981 NJW 1982, 2738. Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder § 211 RN 10 mwN.
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persönlichen täterbezogenen Merkmals in den Genuss einer u.U. sogar doppelten Strafmilderung über § 28 Abs. 1 und § 27 Abs. 2 kommt.
1. Die Kritik Es erstaunt nicht, dass gerade diese Punkte der heftigsten Kritik in der Lehre ausgesetzt sind. Die Entlastung durch § 28 Abs. 1 bei Fehlen des Merkmals in eigener Person beim Teilnehmer im Vergleich mit der Teilnahme am Totschlag33 führe „zu einer ganz unausgewogenen Verteilung von Belastung und Entlastung durch vorhandene oder fehlende ‚persönliche’ Mordmerkmale“.34 „Dem Teilnehmer kommt also strafmildernd zugute, dass der Täter ein Mordmerkmal erfüllt hat“,35 wenn man die Situation etwa mit der Beihilfe zum Totschlag vergleicht. Auf diese Argumente lässt sich kaum eine überzeugende Erwiderung finden. Es handelt sich hier um die systematische Achillessehne des Rechtsprechungssystems. Die Rechtsprechung sucht dies über die „gekreuzten Mordmerkmale“36 zu „reparieren“, was angesichts des Wortlautes in § 28 Abs.1 jedenfalls dann diskussionsbedürftig ist, wenn es sich nicht um dasselbe Mordmerkmal, sondern nur um ein Mordmerkmal der „gleichen Art“ handelt.37 Der zweite Schwachpunkt des Rechtsprechungssystems betrifft Fälle, in denen der Teilnehmer ein täterbezogenes Merkmal erfüllt, mangels eines Mordmerkmales beim Haupttäter aber nur wegen Teilnahme am Totschlag bestraft wird.38 Auch hier lässt sich kein schlagkräftiges Gegenargument finden. Selbst wenn sich empirisch nachweisen ließe, dass die Rechtsprechung über die Strafzumessung in den konkret entschiedenen Fällen eine ausgleichende Korrektur vornimmt, so wäre dies ebenfalls nur eine Reparatur im konkreten Fall, um ungerechte Ergebnisse im Vergleich mit der schlichten Teilnahme am Totschlag zu vermeiden. Zu nennen wäre hier auch die erwähnte Annahme jener sog. „Sperrwirkung“ der Mindeststrafe für die versuchte Anstiftung zum Totschlag im Falle einer versuchten An-
33
Siehe hierzu unten V bei Anm. 53. Küper, JZ 2006, 1166; vgl. auch Vietze, Gekreuzte Mordmerkmale in der Strafrechtsklausur, Jura 2003, 394/396 rechts. 35 Vietze Jura 2003, 396 links. 36 S.u. IV 2 d und V. 37 Vgl. auch Puppe JZ 2005, 903. 38 Vgl. Puppe JZ 2005, 903; für eine entsprechende Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 28 Abs. 2 (!) aus einer streng akzessorischen Sicht auch Hake, Manfred, Beteiligtenstrafbarkeit und „besondere persönliche Merkmale“, 1994, S. 175 ff. 34
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stiftung zum Mord, bei der der Anstiftende kein täterbezogenes Merkmal aufweist.39 Indem der BGH dergestalt gegensteuert, wird ihm gleichzeitig vorgeworfen, dass er kein Mittel unversucht lasse, „sich den Konsequenzen seiner Ausgangsthese zu entziehen“.40 An dieser Stelle fragt man sich unwillkürlich, wie der BGH so in die Defensive geraten konnte.
2. Die Entscheidung der BGH-Rechtsprechung für einen strafbegründenden Charakter der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale a) Der Ursprung der Rechtsprechung zum strafbegründenden Charakter der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale liegt in einer Entscheidung des 2. Strafsenats vom 9. November 1951.41 Der Angeklagte hatte Angehörige der amerikanischen Besatzungstruppen durch falsche Angaben dazu gebracht, einen unschuldigen Gendarmeriemeister zu erschießen. Der BGH nahm bei dem Angeklagten niedrige Beweggründe an, zu Recht jedoch nicht bei den Tätern. Das Schwurgericht hatte auf eine Anstiftung des Angeklagten zum Mord aus einem niedrigen Beweggrund erkannt. Dies lehnte der Bundesgerichtshof unter Hinweis auf die Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29. Mai 1943 ab. Ziel der Strafrechtsangleichungsverordnung sei es gewesen, „jeden Beteiligten nach seiner Schuld ohne Rücksicht auf die Schuld des Täters strafen zu können, ein Grundsatz, der in § 50 Abs. 1 StGB [a.F. = § 29 StGB n.F.] noch besonders zum Ausdruck kam.“42 Jedoch sei es nicht Zweck der Strafrechtsangleichungsverordnung gewesen, die Abhängigkeit der Strafbarkeit des Teilnehmers von der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Haupttat zu beseitigen. Auf der Grundlage der so beschriebenen und heute in den §§ 26 und 27 niedergelegten limitierten Akzessorietät kommt der BGH zu dem Ergebnis, „dass der Anstifter aufgrund des § 48 StGB [a.F. = § 26 StGB n.F.] nur nach dem Strafgesetz bestraft werden darf, dessen Tatbestand der Haupttäter rechtswidrig, wenn auch schuldlos erfüllt.“ Aus dem Erfordernis der Akzessorietät schließt der BGH, dass der Angeklagte nur der Anstiftung zum Totschlag, §§ 212, 48 StGB (a.F. = § 26 StGB n.F.) schuldig sei.
39 Vgl. BGH NStZ 2006, 288/290 sowie die weiteren Hinweise bei Küper, JZ 2006, 1161 links. 40 Puppe JZ 2005, 904. 41 2 StR 296/51 v. 9.11.1951 BGHSt 1, 368. 42 BGHSt 1, 370.
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Interessant ist, dass in der Entscheidung BGHSt 1, 368 der heutige § 28 Abs. 1 überhaupt keine Rolle spielt, ja spielen kann. Denn § 28 Abs. 1 ist erst durch Artikel 1 Nr. 6 EGOWiG vom 24.05.1968 ab 01.10.1968 in das StGB eingeführt worden. § 28 Abs. 2 n.F. firmierte seinerzeit als „§ 50 Abs. 2“ und wurde vom 2. Strafsenat überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Weil es nicht der Zweck der Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 gewesen sei, die Akzessorietät der Teilnahme im Bereich der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Haupttat aufzuheben, kam auch für den Angeklagten nur eine Teilnahme am Totschlag in Frage. Denn Mord und Totschlag seien Tatbestände mit „verschiedenem Unrechtsgehalt“.43 Dies bedeutet aber, dass der 2. Strafsenat 1951 den heutigen § 28 Abs. 2 als eine Norm verstand, welche die Akzessorietät im Bereich von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit nicht durchbrechen wollte und konnte. Die Auffassung von Richard Lange, den Mord als Typisierung von Schulderhöhungsgründen aufzufassen (und so die Akzessorietät zu durchbrechen), lehnte der BGH ab.44 Auf Ablehnung stieß auch die Erwägung von Eberhard Schmidt, die Mordmerkmale als „persönliche Eigenschaft oder Verhältnisse“ im Sinne von § 50 Abs. 2 des StGB 1951 (= § 28 Abs. 2 StGB n.F.) aufzufassen und das Fehlen der strafbegründenden Merkmale des § 211 beim Haupttäter als einen die Strafe mildernden Umstand im Sinne von § 50 Abs. 2 StGB 1951 zu verstehen. Denn der mildernde Umstand müsse in § 50 Abs. 2 StGB 1951 gerade vorhanden sein, er dürfe aber nicht fehlen.45 Außerdem verkenne auch die Auffassung von Eberhard Schmidt, dass Mord und Totschlag Tatbestände mit einem verschiedenen Unrechtsgehalt seien. Weil sich der BGH somit 1951 nicht in der Lage sah, den Anstifter wegen der bei ihm gegebenen niedrigen Beweggründe wegen einer Anstiftung zum Mord zu bestrafen, nahm er eine Strafbarkeit wegen Anstiftung zum Totschlag an und führte aus, dass die niedrigen Beweggründe des Teilnehmers bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien. Die Projektion der limitierten Akzessorietät auf § 50 Abs. 2 a.F. (= § 28 Abs. 2 n.F.) und die Unterschiede zwischen Totschlag und Mord im Unrechtsgehalt der Tat versperrten dem BGH den Weg, § 50 Abs. 2 a.F. für das Verhältnis von §§ 211 und 212 im Sinne der heute herrschenden Lehre fruchtbar zu machen. Festgehalten sei aber, dass auch die Entscheidung BGHSt 1, 368 letztendlich eine Entscheidung zu Gunsten des Angeklagten war.
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BGHSt 1, 370. BGHSt 1, 370. 45 BGHSt 1, 372. 44
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b) Die Entscheidung des 1. Strafsenats BGHSt 2, 251 vom 22.01.1952 nimmt auf die Entscheidung des 2. Senats unmittelbar Bezug. Hier hatte der Täter heimtückisch gehandelt, der Gehilfe hingegen nicht. Der 1. Strafsenat bestätigte die Entscheidung des 2. Strafsenats hinsichtlich der Beschränkung der Akzessorietätslockerung in § 50 Abs. 1 a.F. (= § 29 n.F.) auf die Schuldhaftigkeit. Die Abhängigkeit der Teilnahme von der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Haupttat blieben hingegen bestehen. Weil die Mordmerkmale echte Tatbestandsmerkmale seien, könne, wer aus niedrigem Beweggrund zum Totschlag angestiftet habe, nur wegen Anstiftung zum Totschlag bestraft werden.46 Im Übrigen verneinte der 1. Strafsenat, dass das Mordmerkmal „Heimtücke“ besondere persönliche Eigenschaften oder Verhältnisse beim Täter im Sinne von § 50 Abs. 2 a.F. (= § 28 Abs. 2 n. F.) darstelle; eine Auffassung, die heute in Rechtsprechung und Literatur unumstritten ist. Die Verneinung des Vorliegens von § 28 Abs. 2 n.F. im Fall BGHSt 2, 251 hatte auch den gedanklichen Hintergrund, dass der BGH eine Strafbarkeit nur wegen Anstiftung zum Totschlag vermeiden wollte. c) Das Urteil des 5. Strafsenats vom 20.05.196947 beruht auf der Neufassung des § 50 StGB a.F. durch Artikel 1 Nr. 6 EGOWiG vom 24.05.1968. Seit dem 1. Oktober 1968 entsprach § 50 Abs. 1 dem heutigen § 29, der neu eingefügte Abs. 2 dem heutigen § 28 Abs. 1 sowie der zum Abs. 3 gewordene frühere Abs. 2 dem heutigen § 28 Abs. 2. Den Hintergrund der Entscheidung bildet die Frage der Verjährung einer Beihilfe zum Mord aus niedrigen Beweggründen (Rassenhass), wobei der Gehilfe selbst nicht aus niedrigen Beweggründen gehandelt hatte. Der Senat wendet den neu eingeführten § 50 Abs. 2 (= § 28 Abs. 1 n.F.) an und nennt als „Umstände, die Strafe begründen“, z.B. die Beamteneigenschaft bei den echten Amtsverbrechen.48 Auf Mordmerkmale wendet der 5. Strafsenat § 50 Abs. 2 deshalb an, weil es sich bei ihnen um „echte Tatbestandsmerkmale“ handele. Wenn sie zugleich „besondere persönliche Merkmale“ seien, seien sie daher Merkmale, die die Strafbarkeit des Täters begründen im Sinne von § 50 Abs. 2. Zwar erkennt der 5. Strafsenat, dass durch die obligatorische Milderung über § 50 Abs. 2 eine Bevorzugung der Teilnahme am Mord aus niedrigen Beweggründen gegenüber einer Teilnahme am heimtückisch ausgeführten Mord eintritt. Der BGH sieht sich im konkreten Fall jedoch zu einer Korrektur außerstande, weil das Problem bei den Vorarbeiten zum EGOWiG offensichtlich übersehen worden sei und die Korrektur nicht zum Nachteil des Angeklagten vorgenommen werden durfte. Die obligatorische 46
BGH 1 StR 485/51 v. 22.1.1952 BGHSt 2, 251/255. BGH 5 StR 658/68 v. 20.5.1969 BGHSt 22, 375. 48 Zur Teilnahme am echten Sonderdelikt als Fall von § 28 Abs. 1 auch Küper, JZ 2006, 613 links; ders., JZ 2006, 1167 links. 47
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Strafmilderung nach § 50 Abs. 2 führte zur Verjährung und hatte die Einstellung des Verfahrens zur Folge. Der BGH erkannte somit im vorliegenden Fall zwar, dass der Angeklagte bevorzugt wurde, gab jedoch der Garantiefunktion des Strafgesetzes zu Recht den Vorzug vor einer Lückenfüllung zum Nachteil des Angeklagten. Eine Beurteilung nach § 50 Abs. 3 (= § 28 Abs. 2 n.F.) zog der BGH gar nicht in Erwägung. Der Grund hierfür ist freilich weniger darin zu sehen, dass es sich beim Mord um ein delictum sui generis handeln könnte, als vielmehr in der Rechtsprechung des BGH zu § 50 Abs. 2 in der Fassung vor 1968 (= § 28 Abs. 2 n.F.), wonach diese Norm die Akzessorietät der Teilnahme nicht durchbricht. d) Die Frage der Verjährung stand auch im Mittelpunkt der Entscheidung des 5. Strafsenats vom 15.07.1969, BGHSt 23, 39. Während die Tat in Verdeckungsabsicht begangen worden war, lag bei dem angeklagten Gehilfen ein niedriger Beweggrund vor. Der BGH nahm diese Fallkonstellation zum Anlass, die Lehre von den sog. „gekreuzten Mordmerkmalen“ zu entwickeln. Weil die Verdeckungsabsicht ein Sonderfall niedriger Beweggründe sei, fehle dem Teilnehmer nicht ein besonderes persönliches Merkmal, welches die Strafbarkeit des Täters begründet. Deshalb sei ein Fall des § 50 Abs. 2 StGB (a.F. = § 28 Abs. 1 StGB n.F.) nicht gegeben und eine Strafmilderung folglich nicht anzunehmen. e) Die hier in aller Kürze dargelegten Fälle lassen erkennen, dass der BGH durch das Festhalten an einer limitierten Akzessorietät auch bei § 28 Abs. 2 n.F. und durch den Hinweis auf die Unrechtsbezogenheit der Mordmerkmale in Situationen gerät, die Teilnehmer bevorzugen, sei es, dass sie selbst ein besonderes persönliches Mordmerkmalerfüllen, der Täter aber nicht, sei es, dass der Täter ein besonderes persönliches Mordmerkmal aufweist, der Teilnehmer hingegen nicht. Mit Rücksicht auf die Garantiefunktion des Strafgesetzes nimmt der BGH die Besserstellung jener Teilnehmer in Kauf. Man kann diese Ergebnisse freilich auch mit einem lachenden Auge sehen. Denn während die Lehre49 und Rechtsprechung50 ansonsten mehr oder weniger überzeugend versuchen, die Verhängung der obligatorisch lebenslangen Freiheitsstrafe zu vermeiden, gelingt dies über § 28 Abs. 1 jedenfalls in der Fallgruppe der Anstiftung zum Totschlag, bei der der Anstifter selbst besondere persönliche täterbezogene Mordmerkmale erfüllt, problemlos. 49
S.o. Anm. 32. Vgl. die Nachweise bei Eser, in: Schönke/Schröder § 211 RN 10a, sowie zu älteren Vermeidungsstrategien Eser, Empfiehlt es sich, die Straftatbestände des Mordes, des Totschlags und der Kindstötung (§§ 211 bis 213, 217 StGB) neu abzugrenzen? Gutachten D für den 53. Deutschen Juristentag Berlin 1980, 1980, S. 53 ff. 50
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Nur dort, wo sich die ungleiche Bevorzugung des Teilnehmers am Mord mit rechtsstaatlich noch vertretbaren Argumenten vermeiden lässt, greift der BGH ein. Dies betrifft die Ablehnung einer Strafmilderung im Falle der sog. gekreuzten Mordmerkmale. Gerade jene – freilich ebenfalls nicht ganz unproblematische51 – Konstruktion macht deutlich, dass der BGH primär bestrebt bzw. gezwungen ist, eine vertretbare Lösung im konkreten Einzelfall zu finden, mag dabei auch die Folgerichtigkeit etwas in den Hintergrund treten.
V. Einzelfallgerechtigkeit vor Folgerichtigkeit Die teilnehmerfreundlichen Folgen seiner frühen Rechtsprechung – die obligatorische Strafmilderung in § 28 Abs. 1 und die weitere Milderung bei Beihilfe (§ 27 Abs. 2 S. 2) und bei der versuchten Anstiftung (§ 30 Abs. 1 S. 2) versucht der BGH mittels unterschiedlicher Techniken auszugleichen: Zunächst wäre die Fallgruppe der versuchten Anstiftung zum Mord unter Verwirklichung eines besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmals beim Täter, ohne dass ein solches Merkmal beim Anstifter vorliegt (§ 28 Abs. 1, § 30 Abs. 1 S. 2), zu nennen. Hier erscheint die vom 1. Strafsenat in BGH NStZ 2006, 34/3552 mittels eines obiter dictum angekündigte und in BGH NStZ 2006, 288/29053 vom 4. Strafsenat entscheidungsrelevant übernommene Annahme jener Sperrwirkung in Form der Mindeststrafe für versuchte Anstiftung zum Totschlag (2 Jahre gem. § 212 Abs. 1 i. V. m. §§ 30 Abs. 1 S. 2, 49 Abs. 1 Nr. 3 1. Var.) als Grenze für die doppelte Strafmilderung bei der versuchten Anstiftung zum Mord (6 Monate gem. § 211 Abs. 1 i. V. m. §§ 28 Abs. 1, 30 Abs. 1 S. 2, 49 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 3 2. Var.) gerecht. Es wäre denkbar, dass der BGH bei sich bietender Gelegenheit jene Rechtsprechung auch auf die Fälle der Beihilfe zum Mord, bei denen der Gehilfe selbst keine besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmale erfüllt, entsprechend anwendet und eine Sperrwirkung in Form der Mindeststrafe für die Beihilfe zum Totschlag (ebenfalls 2 Jahre) annimmt.54 Als weitere Strategie zur Vermeidung einer ungerechtfertigt milden Strafe wären die bereits erwähnten gekreuzten Mordmerkmale zu nennen. Dass derjenige, der selbst ein besonderes persönliches täterbezogenes Mordmerkmal aus derselben Fallgruppe wie der Täter erfüllt, ohne dass es sich jedoch im Sinne von § 28 Abs. 1 um dasselbe Merkmal handelt, welches 51
Vgl. Puppe JZ 2005, 903. 1 StR 227/05 v. 30.06.2005. 53 4 StR 243/05 v.24.11.2005. 54 Vgl. zu den Altfällen auch Küper JZ 2006, 1160. 52
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beim Täter vorliegt, deshalb besser behandelt wird als jener mit demselben Merkmal, ist nicht einzusehen. Daher erscheint die Ablehnung der Strafmilderung nach § 28 Abs. 1 im Falle der gekreuzten Mordmerkmale ebenfalls sachgerecht.55 Dies gilt auch für die Übertragung der „gekreuzten Mordmerkmale“ auf die Fallgruppe der versuchten Anstiftung.56 Von der Ablehnung einer Strafmilderung bei gekreuzten Mordmerkmalen lässt sich eine gedankliche Linie ziehen zur Berücksichtigung eines alleine beim Teilnehmer vorliegenden besonderen persönlichen täterbezogenen Merkmals im Rahmen der Strafzumessung. Am deutlichsten tritt jedoch die Strategie zur Vermeidung einer unvertretbar milden Strafe in Erscheinung, wenn der BGH die ansonsten „drohende“ Akzessorietät der Teilnahme durch die Annahme von Täterschaft umgeht. Zwar hatte der BGH als obiter dictum zunächst in BGHSt 6, 329/33057 eine Mittäterschaft bei Mord und Totschlag abgelehnt, es sei denn, dass alle Beteiligten alle Voraussetzungen für eine Täterschaft erfüllen.58 Diese Rechtsprechung hat der BGH im sog. „Tante“-Fall BGHSt 36, 231/233 f. allerdings korrigiert,59 was Küper60 zu der folgerichtigen Überlegung veranlasst hat, dass der BGH zwischen Mord und Totschlag nicht ein Exklusivitäts-, sondern ein Implikationsverhältnis wie bei Qualifikation und Grundtatbestand annehme. Inzwischen hat der BGH jene Rechtsprechung auch in der Entscheidung JZ 2006, 629/632 weitergeführt. Freilich muss man sehen, dass jene Annahme von (Mit)Täterschaft auch dort eine Rolle spielt, wo es im konkreten Fall nicht möglich ist, dem Teilnehmer akzessorisch fremde Mordmerkmale zuzurechnen, weil ihm eine entsprechende Kenntnis nicht nachweisbar ist. Dies traf insbesondere im sog. „Katzenkönig“-Fall61 zu. Dort hatten die Beteiligten als Anstifter zwar aus niedrigen Beweggründen gehandelt, der Haupttäter jedoch erfüllte nur das tatbezogene Mordmerkmal der Heimtücke, ohne dass den Teilnehmern insoweit ein Vorsatz nachgewiesen werden konnte. Der BGH entschloss sich daraufhin, trotz der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums beim Haupttäter eine mittelbare Täterschaft der Hintermänner anzunehmen, was ihm die Berücksichtigung der bei den Hintermännern vorliegenden niedrigen Beweggründe als Mordmerkmal ermöglichte. Während diese Rechtsprechung 55 Puppe, JZ 2005, 903 f. ist zuzugeben, dass dies vor dem Hintergrund einer strengen Akzessorietät nicht konsequent ist. Ungerecht ist diese Rechtsprechung deshalb aber nicht, weil sie versucht, vergleichbare Sachverhalte gleich zu bewerten. 56 Vgl. BGH 2 StR 229/04 v. 12.1.2005 BGHSt 50, 1 sowie Küper, JZ 2006, 1161 links. 57 4 StR 362/54 v.14.10.1954. 58 Vgl. Küper JZ 2006, 611, 612. 59 Näher oben Anm. 25. 60 Vgl. Küper JZ 2006, 611, 612; vgl. auch Vietze Jura 2003, 397. 61 Vgl. BGH 4 StR 352/88 v.15.9.1988 BGHSt 35, 347.
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überwiegend als Anerkennung einer mittelbaren Täterschaft bei Handeln des Vordermanns im vermeidbaren Verbotsirrtum gewürdigt wurde,62 blieb ihr Charakter als Strategie zur Zurechnung eines täterbezogenen Mordmerkmals auf Personen, die man andernfalls nur als Anstifter zum versuchten Totschlag hätte bestrafen können, eher im Hintergrund. Der Vermeidung einer unvertretbar milden Bestrafung von Beteiligten nur als Anstifter oder Gehilfen zum Totschlag lässt sich auch die Rechtsprechung des BGH in den Mauerschützen-Fällen zuordnen. Auch dort ging es darum, die niedrigen Beweggründe der Hintermänner zu berücksichtigen, obwohl die Grenzsoldaten selbst kaum aus entsprechenden Motiven handelten. Der BGH fand einen Ausweg, indem er die von Roxin entwickelte sog. Organisationsherrschaft als Grundlage für die Konstruktion einer mittelbaren Täterschaft der im Hintergrund wirkenden Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates heranzog.63 Auch dürfte es wohl weniger die Begeisterung des BGH für die Organisationsherrschaft gewesen sein als vielmehr im konkreten Fall die Vermeidung einer allzu milden Strafe der Hinterleute, was zur Korrektur der Rechtsprechung bewog. Insgesamt bestätigt sich somit der Eindruck, dass der BGH jeweils im Interesse einer gerechten Einzelfallentscheidung bereit ist, neue Wege zu gehen.
VI. Das obiter dictum des 5. Strafsenats – ein Versuchsballon? Es fragt sich nun, ob der 5. Strafsenat im Blutrache-Fall mittels des obiter dictum einen eindeutigen Hinweis auf eine Änderung seiner Rechtsprechung gibt. Im Blutrache-Fall lag als Haupttat Mord aus niedrigen Beweggründen vor. Die angeklagte Gehilfin wies jenes Mordmerkmal selbst allerdings nicht auf, und es war ihr auch nicht nachzuweisen, dass sie die niedrigen Beweggründe des Täters kannte. „Deshalb“ könne es dahinstehen, so der 5. Strafsenat, ob es sich bei den täterbezogenen Mordmerkmalen um strafschärfende nach § 28 Abs.2 oder strafbegründende nach § 28 Abs. 1 handele.64 D.h. der Senat hätte jene Frage nicht dahingestellt sein lassen, wenn sich die Gehilfin der niedrigen Beweggründe eines der Täter bewusst gewesen wäre. Denn dann hätte man sie – eine im Grunde verzweifelte und in Not geratene türkische Mutter, deren Ehemann man erschossen hatte und 62 Vgl. dazu Heine, in: Schönke/Schröder RN 92 vor § 25 mit zahlreichen Besprechungsnachweisen. 63 Vgl. BGH 5 StR 98/94 v. 26.7.1994 BGHSt 40, 218, dazu Gropp, JuS 1996, 13 ff. sowie Heine, in: Schönke/Schröder § 25 RN 25. 64 BGH JZ 2006, 632 links.
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die dadurch mit ihrer Familie in Not geraten war, ohne dass die Tat von staatlicher Seite bisher gesühnt worden wäre – wegen Beihilfe zum Mord aus niedrigen Beweggründen schuldig sprechen müssen. Offenbar suchte der 5. Strafsenat dieses Ergebnis zu vermeiden, sei es aus Gründen der Etikettierung, sei es im Hinblick auf die Frage einer doppelten Strafmilderung. Eine „Rettung“ hätte es aber nur über § 28 Abs. 2 gegeben, ein Weg, der seit BGHSt 1, 368 indessen verbaut ist. Die Richtung, in welche das obiter dictum deutet, ist damit recht klar: ein Abrücken von BGHSt 1, 368 und damit die Aufgabe der Rechtsprechung von der akzessorischen Natur auch der täterbezogenen Merkmale in § 211. Ob sich die übrigen Strafsenate des BGH der Ansicht des 5. Strafsenats anschließen werden, oder ob das obiter dictum nur der Auftakt zu einer Auseinandersetzung „hinter dem Rücken des Großen Senats“65 ist, in deren Rahmen die Divergenzen in die nichttragenden Urteilsgründe verbannt werden, wird sich zeigen. Leisten die anderen Senate dem 5. Strafsenat Gefolgschaft, könnte in der „Blutrache-Entscheidung“ die Einleitung eines Wandels in der BGH-Rechtsprechung zur Zurechnung der besonderen persönlichen täterbezogenen Mordmerkmale gesehen werden.66 Wann sich Gelegenheit zur Änderung der Rechtsprechung bieten wird, lässt sich bereits jetzt prognostizieren: sobald dem BGH ein Fall vorgelegt wird, in dem beim Teilnehmer, insbesondere beim Gehilfen, besondere persönliche täterbezogene Mordmerkmale des Täters fehlen, der Teilnehmer jedoch die Merkmale beim Haupttäter kennt. Wir dürfen gespannt sein!
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Lilie, Hans, Obiter dictum und Divergenzausgleich in Strafsachen, 1993, S. 39. Zum gescheiterten Versuch einer Rechtsprechungsänderung durch den 2. Strafsenat im Hinblick auf die Verdeckungsabsicht Lilie aaO, S. 185 f. 66
Das Steuerstrafrecht als Testfall des Nemotenetur-Prinzips UWE HELLMANN
Der Jubilar hat sich vor fast 30 Jahren in einem noch immer lesenswerten Aufsatz mit der „Freiheit, die eigene Strafverfolgung zu unterstützen“, auseinandergesetzt und dabei auch dem Steuerrecht ein Beispiel für eine bedenkliche Durchbrechung des Nemo-tenetur-Prinzips entnommen.1 Es besteht also durchaus Anlass, im Rahmen dieser Festschrift den derzeitigen Zustand der Selbstbelastungsfreiheit im Steuerstrafrecht zu beschreiben.
I. Gründe für eine erzwungene Selbstbelastung im Steuer(straf)recht Der Nemo-tenetur-Grundsatz findet seine Bewährungsprobe in diesem abgelegenen Gebiet des Strafrechts aus mehreren Gründen, die in vergleichbarer Häufigkeit und Kombination in anderen Bereichen nicht auftreten. Selbstbelastungsgefahren wegen einer Steuerstraftat resultieren daraus, dass nach Einleitung eines Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung in der Regel auch das Besteuerungsverfahren hinsichtlich der betroffenen Steuer betrieben bzw. wieder aufgegriffen wird, weil der Staat die verkürzte Steuer bzw. den zu Unrecht gewährten Steuervorteil (zurück-)erlangen will. Da im Besteuerungsverfahren mit Verwaltungszwang (§§ 328 ff. AO) durchsetzbare Mitwirkungspflichten bestehen und der steuerlich relevante Sachverhalt den Kern der steuerstrafrechtlichen Ermittlungen darstellt, muss der Betroffene davor geschützt werden, dass seine strafprozessualen Beschuldigtenrechte, insbesondere das Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht, durch eine erzwungene oder jedenfalls erzwingbare Mitwirkung im Besteuerungsverfahren ausgehöhlt werden. Daneben steht der Finanz1
Seebode JA 1980, 493, 497.
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verwaltung mit der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen (§ 162 AO) ein faktisches Druckmittel zur Verfügung, indem dem Betroffenen, der sich zur Wahrung seiner Beschuldigtenrechte auf sein Mitwirkungsverweigerungsrecht beruft, eine nachteilige Schätzung im Besteuerungsverfahren angekündigt wird. Zudem kann von dem Steuerhinterziehungstatbestand selbst ein Zwang zur Selbstbelastung ausgehen, nämlich dann, wenn der Steuerpflichtige in der Vergangenheit unrichtige Angaben gemacht hatte und er deshalb durch zutreffende Angaben in seiner neuen Steuererklärung zur Vermeidung der Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung Anhaltspunkte für frühere Steuerhinterziehungen geben würde. Unter Umständen besteht für den Steuerpflichtigen darüber hinaus das Risiko, den Finanzbehörden durch die Erfüllung seiner steuerlichen Erklärungspflichten Informationen über von ihm begangene Nichtsteuerstraftaten zu liefern. Nach § 40 AO ist es für die Besteuerung unerheblich, ob ein Verhalten, das den Tatbestand eines Steuergesetzes erfüllt, gegen ein gesetzliches Verbot verstößt. Hat z.B. ein Beamter Bestechungsgelder kassiert, so sind diese einkommensteuerpflichtig2 mit der Folge, dass der Betroffene sie in seiner Einkommensteuererklärung angeben muss.
II. Die gesetzlichen Schutzregelungen Dass der – durch Art. 14 Abs. 3 lit. g IPBPR und Art. 6 Abs. 1 EMRK3 auch völkerrechtlich gesicherte – Nemo-tenetur-Grundsatz in unserem Zusammenhang einschlägig ist, steht seit dem „Gemeinschuldnerbeschluss“ des BVerfG4 fest. Der Schutz gegen Selbstbezichtigungen beschränkt sich nicht auf strafrechtliche und vergleichbare Verfahren, sondern er erstreckt sich auf erzwungene strafrechtliche Selbstbelastungen in anderen Verfahren. Zwar ist es nicht generell von Verfassungs wegen untersagt, in einem nichtstrafrechtlichen Verfahren Auskünfte, durch die der Betroffene strafrechtlich relevante Umstände offenbaren muss, unter Androhung oder Anwendung von Zwang von ihm zu verlangen. Ein öffentliches, staatliches oder privates Informationsbedürfnis kann nämlich die erzwungene Selbstbezichtigung rechtfertigen, wenn dies verhältnismäßig ist. Die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht erfordern dann aber, dass der Betroffene davor geschützt wird, durch seine Mitwirkung die Voraussetzungen für eine 2
BFH, BStBl. II 2000, 396; BStBl. II 2001, 482. Das Recht des Beschuldigten zu schweigen und nicht zu seiner eigenen Beschuldigung beizutragen, ist „Kernstück des von Art. 6 I EMRK garantierten fairen Verfahrens“, EGMR, NJW 2002, 499, 501. 4 BVerfGE 56, 37 ff. 3
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strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen. Die Mehrheit der Richter des BVerfG hielt ein strafrechtliches Verwertungsverbot für ausreichend, der Richter Heußner befürwortete sogar ein Verbot der Offenbarung selbstbelastender Informationen an die Strafverfolgungsbehörden.5 Der EGMR prüft im Übrigen ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung unter dem Gesichtspunkt des Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn das Verfahren zugleich der Festsetzung einer Nachsteuer dient.6 Die Selbstbelastungsgefahren im Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren sowie das Schutzbedürfnis des Steuerpflichtigen hatte der Gesetzgeber allerdings schon vor dem Gemeinschuldnerbeschluss erkannt und Vorschriften zur Wahrung des Nemo-tenetur-Grundsatzes geschaffen. § 428 RAO in der 1967 durch das 1. AOStrafÄndG geschaffenen Fassung enthielt bereits im Wesentlichen die heute in § 393 AO 1977 eingestellten Regelungen zum Schutz des Steuerpflichtigen.7 § 393 Abs. 1 S. 2 AO verbietet die Androhung und Anwendung von – an sich zulässigem – Verwaltungszwang (§§ 328 ff. AO), wenn der Steuerpflichtige dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer Steuerstraftat (oder -ordnungswidrigkeit) zu belasten; das Zwangsmittelverbot gilt nach § 393 Abs. 1 S. 3 AO generell nach Einleitung eines Steuerstraf- oder Steuerbußgeldverfahrens. Der Gefahr erzwungener, nämlich unter dem Eindruck der Strafdrohung des Steuerhinterziehungstatbestandes vorgenommener Selbstbelastungen wegen einer Nichtsteuerstraftat begegnet § 393 Abs. 2 S. 1 AO durch ein strafverfahrensrechtliches Verwendungsverbot für Tatsachen und Beweismittel aus den Steuerakten, die der Steuerpflichtige der Finanzbehörde vor Einleitung oder in Unkenntnis der Einleitung des Strafverfahrens in Erfüllung steuerlicher Pflichten offenbart hat. Ergänzt wird § 393 Abs. 2 S. 1 AO durch die aus dem Steuergeheimnis des § 30 Abs. 2 AO resultierenden steuerrechtlichen Offenbarungs- und Verwertungsverbote solcher Informationen.
III. Regelungslücken § 393 AO gewährleistet jedoch keinen lückenlosen Schutz vor erzwungenen Selbstbelastungen im Besteuerungsverfahren. § 393 Abs. 1 S. 2 AO verbietet seinem Wortlaut nach bei einer steuerstrafrechtlichen Selbstbelastungsgefahr nur die Androhung und Anwendung 5
BVerfGE 56, 37, 54. EGMR, NJW 2002, 499, 500. 7 Zur Entwicklung der Schutzregelungen Hellmann in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO und FGO, Stand 2007, § 393 AO Rn. 1 ff. 6
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von Zwangsmitteln gegen den Steuerpflichtigen, obwohl § 90 AO – strafbewehrte – steuerliche Erklärungspflichten nicht dem materiell Steuerpflichtigen, sondern dem Beteiligten im Sinne des § 78 AO auferlegt. Wäre § 393 Abs. 1 S. 2 AO wörtlich zu verstehen, so dürfte ein Beteiligter, der nicht zugleich Steuerpflichtiger ist, eine Person, die für einen Beteiligten mitwirkungspflichtig ist sowie ein Angehöriger eines Beteiligten auch bei einer steuerstrafrechtlichen Selbstbelastungsgefahr zur Mitwirkung an dem Besteuerungsverfahren gezwungen werden. § 393 Abs. 1 S. 2 AO untersagt zudem nur den Einsatz von Zwangsmitteln im Sinne der §§ 328 ff. AO. Keinen Schutz bietet die Vorschrift deshalb zum einen, wenn die Finanzverwaltung wegen der Verletzung der steuerlichen Mitwirkungspflichten eine nachteilige Schätzung ankündigt und der Betroffene durch die Richtigstellung der Besteuerungstatsachen zur Vermeidung einer überhöhten Steuerfestsetzung Anhaltspunkte für eine Steuerstraftat liefern würde. § 393 Abs. 1 S. 2 AO ist zum anderen nicht einschlägig, wenn der Täter durch eine wahrheitsgemäße Steuererklärung für einen neuen Besteuerungszeitraum eine in der Vergangenheit begangene Steuerstraftat aufdecken würde. Eine Lücke im Schutz vor Selbstbelastungen wegen einer Nichtsteuerstraftat eröffnet § 393 Abs. 2 S. 2 AO. Das Verwertungsverbot gilt nach dieser Regelung nämlich nicht für Nichtsteuerstraftaten, an deren Verfolgung ein zwingendes öffentliches Interesse besteht. § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO lässt dann auch eine Durchbrechung des Steuergeheimnisses zu. Erheblich erweitert wird diese Schutzlücke durch mehrere in den letzten Jahren eingefügte Vorschriften, die nicht nur die Verwertung strafrechtlich relevanter Informationen des Erklärungspflichtigen aus den Steuerakten zulassen, sondern die Finanzbehörden sogar verpflichten, diese belastenden Tatsachen den Strafverfolgungsbehörden mitzuteilen. Das ist nach § 31a AO zur Durchführung eines Straf- oder Bußgeldverfahrens „mit dem Ziel der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung oder Schwarzarbeit“, nach § 31b AO zur Durchführung eines Strafverfahrens wegen Geldwäsche (§ 261 StGB) und nach § 4 Abs. 5 Nr. 10 S. 3 EStG bei dem Verdacht einer straf- oder bußbaren Zuwendung von Vorteilen, also bei Anhaltspunkten für ein Bestechungsdelikt, der Fall.
IV. Anwendung des § 393 Abs. 1 AO auf alle Beschuldigten eines Steuerstrafverfahren Die Beschränkung des Zwangsmittelverbotes auf den Steuerpflichtigen beruht auf einem Versehen des Gesetzgebers. Den Materialien lässt sich entnehmen, dass alle Auskunftspflichtigen, seien sie Beteiligte oder Nicht-
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beteiligte des Besteuerungsverfahrens, erfasst werden sollten.8 Nach zutreffender herrschender Meinung ist das Zwangsmittelverbot deshalb auf alle mitwirkungspflichtigen Personen, die sich durch ihre Mitwirkung der Gefahr einer Selbstbelastung wegen einer Steuerstraftat aussetzen würden, zu erweitern.9 Zwingend ist diese Lösung zwar nicht, weil der Nemo-teneturGrundsatz nach Auffassung des BVerfG lediglich die Verwertung der der unter Zwang gewonnenen selbstbelastenden Informationen verbietet, sachgerecht ist jedoch allein die Ausdehnung des Zwangsmittelverbots auf alle Beschuldigten eines Steuerstrafverfahrens.
V. Zwangsausübung durch bewusst überhöhte Schätzung Da jede Schätzung nach § 162 AO innerhalb eines „Unsicherheitsrahmens“ stattfindet, kann sie zur Annahme von Besteuerungstatsachen führen, die für den Steuerpflichtigen ungünstiger sind als die tatsächlich gegebenen. Zum Teil wird aus der – formell – fortbestehenden steuerlichen Mitwirkungspflicht trotz Selbstbelastungsgefahr und der Schätzungsmöglichkeit die Verfassungswidrigkeit10 der Regelung bzw. ihre Unvereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK11 gefolgert. Macht die Finanzbehörde in zulässiger Weise von der Schätzungsmöglichkeit Gebrauch, und das ist – nur – der Fall, wenn die Schätzung darauf gerichtet ist, dem wahren Ergebnis möglichst nahe zu kommen,12 so ist der Nemo-tenetur-Grundsatz jedoch nicht einmal tangiert.13 Er gilt nämlich nicht, wenn der Betroffene zur Vermeidung einer strafrechtlichen Selbstbe8 BT-Drucks. VI/1982, 198, zu § 377 des Regierungsentwurfs, der später zu § 393 wurde; siehe auch BT-Drucks. 7/46, wo es heißt, § 393 Abs. 1 trage dem Grundsatz Rechnung, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten. 9 Joecks in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 6. Aufl. 2005, § 393 Rn. 31; Kohlmann Steuerstrafrecht, Stand 2007, § 393 Rn. 38; Reiß Besteuerungsverfahren und Steuerstrafverfahren, 1987, S. 262; Teske wistra 1988, 207, 215. A.A. offensichtlich Rolletschke in: Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, Stand 2007, § 393 Rn. 33, der eine Lösung „im Rahmen der Ermessensausübung“ befürwortet. 10 Rogall ZRP 1975, 278 ff.; Streck/Spatschek wistra 1998, 334, 340. 11 Frommel/Füger StuW 1995, 58, 69 f.; Mössner StuW 1991, 224, 227 f. 12 Z.B. BFH, BStBl. III 1967, 686 ff.; BStBl. II 1979, 149; BFH/NV 1989, 416, 417. Das gilt auch, wenn sich der Betroffene auf sein Mitwirkungsverweigerungsrecht wegen einer steuerstrafrechtlichen Selbstbelastungsgefahr beruft, Hellmann (Fn. 7), Rn. 42; Streck BB 1984, 199, 202. 13 Für die grundsätzliche Zulässigkeit einer Schätzung deshalb zu Recht: Joecks (Fn. 9), Rn. 30 f.; Seer in: Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Stand 2007, § 162 Rn. 17; Wisser in: Klein, Abgabenordnung, 9. Aufl. 2006, § 393 Rn. 14. A.A. Spriegel in: Wannemacher, Steuerstrafrecht, 5. Aufl. 2004, Rn. 4522.
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lastung schweigt und deshalb in dem Nichtsteuerstrafverfahren Nachteile erleidet.14 Anders liegt es dagegen, wenn die Finanzbehörde die Ankündigung einer „Strafschätzung“ als „Ersatzzwangsmittel“ benutzt, um das Zwangsmittelverbot des § 393 Abs. 1 S. 2 AO zu unterlaufen und den Steuerpflichtigen zu einer selbstbelastenden Mitwirkung zu veranlassen. Eine „Übermaßschätzung“ ist schon steuerrechtlich unzulässig.15 Da sie den Nemo-teneturGrundsatz verletzt, unterliegen Angaben des Betroffenen zur Vermeidung der angekündigten finanziellen Nachteile einem Verwertungsverbot im Strafverfahren.16
VI. Selbstbelastung durch neue Steuererklärung Weniger leicht als die Behandlung der beiden zuvor erörterten Konstellationen fällt die Lösung, wenn der Betroffene durch die Erfüllung seiner steuerlichen Mitwirkungspflichten Tatsachen, die ihn wegen einer bereits begangenen Steuerstraftat belasten, offenbaren würde.
1. Zwangswirkung der steuerlichen Erklärungspflicht Strittig ist schon, ob der Täter in einer solchen Situation überhaupt des Schutzes bedarf. Die für den Fall der Abgabe einer unrichtigen oder unvollständigen Steuererklärung bzw. der pflichtwidrigen Nichtabgabe durch § 370 Abs. 1 Nr. 1, 2 AO angedrohte Strafe ist kein Zwangsmittel im Sinne des § 393 Abs. 1 S. 2 AO, sodass die Vorschrift jedenfalls ihrem Wortlaut nach nicht anwendbar ist. Ob der Nemo-tenetur-Grundsatz gilt, ist ebenfalls nicht ausgemacht, weil die Zwangswirkung nicht von der Maßnahme eines staatlichen Organs ausgeht, sondern von der gesetzlichen Strafdrohung. Immerhin befindet sich der Betroffene, der wegen der Strafdrohung des Steuerhinterziehungstatbestandes zu einer wahrheitsgemäßen selbstbelastenden Erklärung verpflichtet ist, aber in einer vergleichbaren Zwangslage. 14 Z.B. BVerfG, NStZ 1995, 599 f., Verlust des Haftpflichtversicherungsschutzes für den Versicherungsnehmer im Falle der Verweigerung von Angaben gegenüber dem KfzHaftpflichtversicherer. 15 BFH, NJW 2002, 847, 848; der Senat lässt die Folgen im Besteuerungsverfahren allerdings offen. Zum Teil wird im Falle einer Strafschätzung die Nichtigkeit des im Schätzungsweg ergangenen Steuerbescheids erwogen, Rolletschke (Fn. 9), Rn. 28. 16 Hellmann Das Neben-Strafverfahrensrecht der Abgabenordnung, 1995, S. 112; Joecks (Fn. 9), Rn. 30a; Reiß (Fn. 9), S. 267 mit Fn. 126. A.A. wohl Besson Das Steuergeheimnis und das Nemo-tenetur-Prinzip im (steuer-)strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, 1997, S. 113 ff., allerdings ohne bewusst überhöhte Schätzungen zu erörtern.
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Unterlässt er die Abgabe der Steuererklärung oder macht er falscher Angaben, so würde er wegen der dadurch verwirklichten Steuerhinterziehung bestraft. Erfüllt er seine – strafbewehrten – steuerrechtlichen Pflichten, so kann dies zur Bestrafung wegen der früher begangenen Tat führen. Dennoch wird vereinzelt17 behauptet, der Betroffene sei in dieser Situation nicht schutzbedürftig, weil der Täter die – vermeintliche – Unzumutbarkeit wahrheitsgemäßer Steuererklärungen für die Folgejahre selbst durch die frühere unrichtige Steuererklärung herbeigeführt habe und die Strafbarkeit deshalb auf die Grundsätze der „omissio libera in causa“ gestützt werden könne. Zu überzeugen vermag diese Lösung jedoch nicht. Zutreffend ist allerdings, dass die Abgabe wahrheitsgemäßer Angaben in einer neuen Steuererklärung keineswegs generell unzumutbar ist, wenn der Täter dadurch Anhaltspunkte für eine begangene Steuerhinterziehung liefern würde. Er kann nämlich in der Regel Straffreiheit durch eine Selbstanzeige nach § 371 AO erlangen, indem er die unrichtigen oder unvollständigen Angaben seiner früheren Erklärung berichtigt und die verkürzte Steuer nachentrichtet. Würde die Selbstanzeige zur Straffreiheit führen, so befindet sich der Täter deshalb nicht in einer Zwangslage, aus der er zu befreien wäre.18 Anders liegt es dagegen, wenn die Nacherklärung keine Straffreiheit bewirkt, weil die Tat bereits entdeckt worden ist und deshalb der Ausschlussgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO eingreift, oder der Täter nicht der Lage ist, die verkürzte Steuer gemäß § 371 Abs. 3 AO nach zu entrichten. Die Rechtsfigur der „omissio libera in causa“ würde, da es sich bei der Steuerhinterziehung um ein Vorsatzdelikt handelt, nur zur Strafbarkeit führen, wenn der Täter bei der Abgabe der früheren unrichtigen Erklärung zumindest damit gerechnet hatte, dass es ihm in der Zukunft unmöglich sein wird, korrekte Erklärungen abgeben zu können.19 In aller Regel wird der Täter daran nicht denken. Rechtsprechung20 und Literatur21 erkennen deshalb ganz überwiegend zu Recht den Grundsatz an, dass der Betroffene, der sich in der beschriebenen Zwangslage befindet, aus dieser befreit werden muss. Die vorgeschlagenen Wege differieren aber zum Teil, und zwar abhängig von den konkreten Umständen.
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Böse wistra 2003, 47, 49 ff. BVerfG, wistra 1988, 302 f.; Joecks (Fn. 9), Rn. 39a. 19 Joecks (Fn. 9), Rn. 37c; Kohlmann (Fn. 9), Rn. 54. 20 BGHSt 47, 8, 12 f.; BGH, JZ 2002, 615; 616, 617, m. Anm. Hellmann; OLG Frankfurt, wistra 2006, 198, 199. 21 Z.B. Hellmann (Fn. 7), Rn. 28 ff.; Joecks (Fn. 9), Rn. 33; Kohlmann (Fn. 9), Rn. 53 ff.; Sahan Keine Steuererklärungspflicht bei Gefahr strafrechtlicher Selbstbelastung, 2006, S. 68 ff. 18
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2. Umsatzsteuerjahreserklärung nach unrichtiger Voranmeldung Strittig ist, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn der Steuer- bzw. Erklärungspflichtige eine Steuerhinterziehung durch eine unrichtige Umsatzsteuervoranmeldung begangen hat und keine Straffreiheit durch Abgabe einer zutreffenden Umsatzsteuerjahreserklärung erlangen kann, weil die Steuerhinterziehung durch unrichtige Voranmeldung bereits entdeckt bzw. wegen dieser Tat ein steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war. Gibt der Unternehmer in dieser Situation eine wahrheitsgemäße Umsatzsteuerjahreserklärung nach § 18 Abs. 3 S. 1 UStG ab, so würde er die Unrichtigkeit der Voranmeldung eingestehen. Weitgehende Einigkeit besteht allerdings inzwischen darüber, dass die Selbstbelastungsgefahr den Beschuldigten nicht dazu berechtigt, eine unrichtige Jahreserklärung abzugeben, in der er die falschen Angaben aus der Voranmeldung wiederholt,22 weil der Nemo-tenetur-Grundsatz nicht das Recht gibt, neues Unrecht zu begehen.23 Dennoch wird die Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO überwiegend abgelehnt. Die strafbewehrte Steuererklärungspflicht entfalle zwar grundsätzlich nicht, wenn die Abgabe der Steuererklärung mittelbare Auswirkungen auf das laufende Steuerstrafverfahren hat, weil die pflichtwidrige Nichtabgabe der Erklärung neues Unrecht schaffen würde. Das soll nach Auffassung des BGH aber wegen der Gleichheit der betroffenen Steuerart und der Teilidentität des von der jeweiligen Erklärungspflicht erfassten Steueranmeldungszeitraums sowie des betroffenen Steueraufkommens nicht für das Verhältnis von Umsatzsteuervoranmeldung und -jahreserklärung gelten. Die strafbewehrte Pflicht zur Abgabe der Jahresumsatzstreuererklärung sei dann bis zum rechtskräftigen Abschluss des Steuerstrafverfahrens wegen der unrichtigen Voranmeldung suspendiert.24 Eine Begründung für diese Behauptung gibt der Senat allerdings nicht und die These widerspricht25 zudem der in derselben Entscheidung getroffenen Feststellung, bei „der Pflicht zur Abgabe einer Jahreserklärung handelt es sich um eine gegenüber der Pflicht zur Abgabe von Voranmeldungen eigenständige Erklärungspflicht, deren Nichterfüllung einen selbständigen Unrechtsgehalt be22 Anders allerdings das LG Frankfurt/Main, wistra 2004, 78, 79 f., m. Anm. Rolletschke wistra 2004, 246 ff. Das LG lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Begründung ab, aus der mangelnden Strafbewehrtheit der Pflicht zur Abgabe der Jahreserklärung folge auch die Straflosigkeit einer unrichtigen Jahreserklärung. Das OLG Frankfurt, wistra 2006, 198 ff., eröffnete dagegen im Klageerzwingungsverfahren das Hauptverfahren. 23 BGHSt 47, 8, 15; OLG Frankfurt, wistra 2006, 198, 200. 24 BGHSt 47, 8, 15; ebenso BGH, NStZ 2005, 517, 518. 25 Zutreffend Sahan (Fn. 21), S. 85, der BGH sei der Sache nach erstmals von seinem Dogma abgerückt, der Nemo-tenetur-Grundsatz rechtfertige nicht die Verwirklichung neuen Unrechts.
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sitzt“.26 Diesen Widerspruch vermeidet die Gegenauffassung, indem sie den Beschuldigten durch die Annahme eines Verwertungsverbotes hinsichtlich der in einer zutreffenden Umsatzsteuerjahreserklärung enthaltenen Informationen, durch die er die Steuerverkürzung in der Voranmeldung faktisch eingestehen würde, schützt.27 Diese Lösung berücksichtigt die Interessen des Staates, sie ist aber auch für den Beschuldigten vorteilhaft. Die fiskalischen Interessen werden gewahrt, indem der Staat früher, nämlich vor dem rechtskräftigen Abschluss des Steuerstrafverfahrens, der u.U. erst nach einigen Jahren erfolgt, die geschuldete Steuer erlangt, und zudem das Risiko des endgültigen Steuerausfalls durch einen zwischenzeitlichen Vermögensverfall des beschuldigten Steuerpflichtigen verringert wird. Der Beschuldigte kann durch die Bewirkung einer zutreffenden Steuerfestsetzung aufgrund seiner nun richtigen und vollständigen Angaben das Strafmaß positiv beeinflussen, da die von ihm offenbarten Besteuerungstatsachen zwar nicht zu seinem Nachteil im Schuldspruch verwertet werden dürfen, die korrekte Steuerfestsetzung, also die Verringerung des Steuerschadens, aber im Rahmen der Strafzumessung zu seinen Gunsten zu berücksichtigen ist. Der Verwertungsverbotslösung kann im Übrigen nicht überzeugend entgegengehalten werden, sie überschreite die Grenzen einer zulässigen Auslegung des § 393 AO, weil der Gesetzgeber das strafrechtliche Verwertungsverbot in § 393 Abs. 2 S. 1 AO auf Nichtsteuerstraftaten beschränkt habe.28 Die Annahme eines Verwertungsverbotes beruht in unserer Konstellation nicht auf einer Auslegung des § 393 AO, sondern es handelt sich um die Ausfüllung einer vom Gesetzgeber nicht bedachten Regelungslücke unter Berufung auf das Nemo-tenetur-Prinzip, das nach Auffassung des BVerfG gerade nicht die Erzwingung der Erfüllung außerstrafrechtlicher Mitwirkungspflichten bei einer Selbstbelastungsgefahr verbietet. Den Vorwurf der Nichtbeachtung des Willens des Gesetzgebers dürfte sogar eher die h.M. treffen, die eine Suspendierung der steuerlichen Mitwirkungspflichten propagiert, denn die – jedenfalls formale – Aufrechterhaltung dieser Pflichtenstellung in § 393 Abs. 1 AO wurde im Gesetzgebungsverfahren damit begründet, der Steuerpflichtige, der zugleich Beschuldigter eines Steuerstrafverfahrens ist, dürfe gegenüber den „ehrlichen“ Steuerbürgern nicht besser gestellt werden.29
26
BGHSt 47, 8, 13 f. Hellmann JZ 2002, 617, 619 f.; Kohlmann (Fn. 9), Rn. 36. 28 So aber Aselmann NStZ 2003, 71, 74; Sahan (Fn. 21), S. 107. 29 Stellungnahme des Finanzausschusses, BT-Drucks. 7/4292, 46. 27
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3. Nichtabgabe der Steuererklärung für einen inkriminierten Veranlagungszeitraum Der BGH nimmt zudem eine Suspendierung der strafbewehrten Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung für einen bestimmten Besteuerungszeitraum an, wenn wegen des Verdachts der Hinterziehung der betroffenen Steuer für diesen Zeitraum das Steuerstrafverfahren eingeleitet wurde.30 Die Entscheidung betraf einen etwas unübersichtlichen Sachverhalt. Der Steuerpflichtige hatte für mehrere Jahre keine Einkommen- und Gewerbesteuererklärungen abgegeben, zumindest für zwei Besteuerungszeiträume hatte das zuständige Finanzamt die Veranlagungen im Zeitpunkt der Einleitung des Steuerstrafverfahrens aber noch nicht abgeschlossen, sodass der Steuerverkürzungserfolg noch nicht eingetreten war. Die Steuerhinterziehung durch Unterlassen setzt die „hypothetische Kausalität“ der unterlassenen Steuererklärung für den Verkürzungserfolg voraus, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lässt sich bei Veranlagungssteuern jedoch die nicht rechtzeitige Steuerfestsetzung erst annehmen, wenn die Veranlagungsarbeiten des zuständigen Finanzamts hinsichtlich der betroffenen Steuerart im Wesentlichen abgeschlossen sind, da dann auch das Besteuerungsverfahren des Täters auf jeden Fall durch eine Steuerfestsetzung abgeschlossen worden wäre. In das Versuchsstadium soll die Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach Auffassung des BGH31 jedoch bereits mit Verstreichenlassen der Frist zur Abgabe der Steuererklärung (31.05. des Folgejahres nach § 149 Abs. 2 S. 1 AO bzw. 30.09. bei Einschaltung eines Steuerberaters) gelangen. Zwischen beiden Zeitpunkten liegt in der Praxis regelmäßig ein erheblicher Abstand, sodass der – vermeintliche – Steuerhinterziehungsversuch aufdeckt werden kann, bevor der Taterfolg durch Abschluss der Veranlagungsarbeiten eingetreten ist. In dieser Situation könnte der Beschuldigte die Vollendungsstrafbarkeit nur durch Abgabe einer zutreffenden Steuererklärung verhindern. Dadurch würde er aber den Steuerhinterziehungsversuch eingestehen und zu seiner Verurteilung beitragen, weil die Nacherklärung weder ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24 StGB – mangels Freiwilligkeit – noch eine strafbefreiende Selbstanzeige nach § 371 AO – wegen der Einleitung des Steuerstrafverfahrens – sei. Der Beschuldigte könne aus diesem Dilemma nur durch die Suspendierung der Steuererklärungspflicht befreit werden,32 weil er dann strafrechtlich nicht für den Eintritt des Verkürzungserfolgs verantwortlich wäre. Dieser Lösung sind mehrere Gesichtspunkte entgegenzuhalten. Der BGH schafft die Zwangslage des Beschuldigten selbst durch die Annahme des 30
BGH, JZ 2002, 616 f. BGH, JZ 2002, 616, 617. 32 BGH, JZ 2002, 616, 617. 31
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frühen Versuchsbeginns. Nach zutreffender Auffassung wird die Grenze zum Versuch der Steuerhinterziehung durch Unterlassen jedoch erst überschritten, wenn das Rechtsgut, der staatliche Steueranspruch, ernstlich in Gefahr gerät. Das ist der Fall, wenn der Abschluss der Veranlagungsarbeiten nahe gerückt ist.33 Die Nichtabgabe der Steuererklärung vor diesem Zeitpunkt stellt somit keine versuchte Steuerhinterziehung dar, sodass der Steuerpflichtige – bei zutreffender Sicht – ohne strafrechtliches Risiko die Nacherklärung vornehmen kann. Folgt man dagegen dem BGH in der Annahme eines frühen Versuchsbeginns, so ist auch hier – im Interesse des Fiskus und des Beschuldigten – die Verwertungsverbotslösung vorzugswürdig.34
4. Nachfolgende Besteuerungszeiträume Bisweilen besteht eine „mittelbare“ Selbstbelastungsgefahr, wenn der Steuerpflichtige in der Vergangenheit steuerlich erhebliche Tatsachen – z.B. Einkünfte aus Kapitalerträgen – verschwiegen hat und die korrekte Erklärung für einen neuen Veranlagungszeitraum die frühere(n) Steuerhinterziehung(en) offenbaren würde. In einer Zwangslage befindet sich der Betroffene – wie dargelegt – nur, wenn er nicht durch eine Selbstanzeige Straffreiheit erlangen kann, insbesondere weil wegen der Steuerhinterziehung(en) bereits ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Hat die Finanzbehörde den Verdacht, dass der Betroffene solche Einkünfte schon in der Vergangenheit erzielte, würde er durch die neue wahrheitsgemäße Deklarierung ein Indiz für seine frühere Steuerhinterziehung liefern. In dieser Konstellation nimmt auch der BGH die zutreffende These, dass der Nemotenetur-Grundsatz nicht die Begehung neuen Unrechts zur Vermeidung einer Selbstbelastung gestatte, Ernst. Die mittelbare Selbstbelastungsgefahr berechtigt den Beschuldigten weder zur Abgabe einer weiteren unrichtigen Erklärung noch zum Unterlassen der Steuererklärung, sondern er ist durch das Verbot der Verwertung der offenbarten selbstbelastenden Umstände in dem Steuerstrafverfahren zu schützen.35 Dieser Auffassung ist zuzustimmen.
33 Hellmann (Fn. 7), § 370 Rn. 340; Joecks (Fn. 9), § 370 Rn. 263 ff., der den Versuchsbeginn aber generell auf den 28.02. des übernächsten Jahres festlegt, weil dann die Gefahr bestehe, dass die Veranlagungsarbeiten „im Großen und Ganzen“ abgeschlossen werden, bevor die Steuererklärung eingereicht worden ist. 34 Näher dazu Hellmann JZ 2002, 617, 619 f. 35 BGH, NJW 2005, 763, 764 f., mit Anm. Lesch JR 2005, 300 ff., und Rogall NStZ 2006, 41 ff.
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VII. Aufdeckung von Nichtsteuerstraftaten durch Erfüllung steuerlicher Pflichten Das Verwendungsverbot des § 393 Abs. 2 S. 1 AO scheint den Steuerpflichtigen, der sich durch die Erfüllung seiner – strafbewehrten – steuerlichen Pflichten wegen einer Nichtsteuerstraftat belasten würde, in einer den verfassungs- und völkerrechtlichen Anforderungen entsprechenden Weise zu schützen. Fraglich und derzeit ungeklärt ist jedoch, ob und in welcher Weise die oben beschriebenen, durch §§ 393 Abs. 2 S. 2, 31a, 31b AO, § 4 Abs. 5 Nr. 10 S. 3 EStG eröffneten Lücken bei der Gefahr einer Selbstbelastung wegen der dort genannten Nichtsteuerstraftaten zu schließen sind. Strittig ist zudem, wie im Falle der Offenbarung einer Nichtsteuerstraftat durch eine Selbstanzeige zu verfahren ist.
1. Gesetzliche Durchbrechungen des Verwendungsverbots Die h.L.36 betrachtet die Vorschriften, nach denen die Finanzbehörden befugt oder sogar verpflichtet sind, die Strafverfolgungsbehörden über Tatsachen zu informieren, die der Steuerpflichtige in Erfüllung steuerlicher Pflichten vor Einleitung oder in Unkenntnis der Einleitung des Strafverfahrens wegen einer Nichtsteuerstraftat offenbart hat, als verfassungswidrig. Der Dienstgerichtssenat des BGH (§ 61 DRiG) hatte dagegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, die steuerlichen Angaben – über Einkünfte aus Spekulationsgeschäften – eines Bundesrichters in einem Disziplinarverfahren zu verwerten,37 obwohl der Nemo-tenetur-Grundsatz auch in einem solchen Verfahren gilt.38 Der 5. Strafsenat des BGH scheint § 393 Abs. 2 S. 2 AO ebenfalls für verfassungsgemäß zu halten. In einem Fall, in dem ein steuerpflichtiger Amtsträger Bestechungsgelder erhalten und nicht in seiner Einkommensteuererklärung angegeben – also seinen steuerlichen Erklärungspflichten nicht genügt – hatte, nahm der Senat die Strafbarkeit wegen Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung an. Der Verletzung der steuerlichen Erklärungspflicht stehe nicht entgegen, dass die Angaben in der Steuererklärung zur Verfolgung des Bestechungsdelikts hätten verwendet werden dürfen. Zum Ausgleich im „Spannungsfeld“ zwischen dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse einerseits und dem Schutz vor erzwungener Selbstbelastung und dem Steuergeheimnis andererseits erwägt der Senat 36 Heerspink wistra 2001, 441, AO-StB 2006, 51, 53 f.; Hellmann (Fn. 7), Rn. 180 ff.; Joecks (Fn. 9), Rn. 76; Kohlmann (Fn. 9), Rn. 79.7; Rogall in: Kohlmann-FS (2003), S. 465, 495 ff. Unentschieden Rolletschke (Fn. 9), Rn. 97. Keine Bedenken gegen § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 10 EStG äußern Eich AO-StB 2005, 120 ff., und Schneider wistra 2004, 1 ff. 37 BGH, NJW 2002, 834; siehe dazu Wulf wistra 2006, 89, 92. 38 BVerfGE 56, 37, 44.
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immerhin, „an die Konkretisierung der gebotenen steuerlichen Erklärungen möglicherweise niedrigere Anforderungen zu stellen als sonst nach § 90 AO geboten“.39 Die Aufrechterhaltung der steuerlichen Erklärungspflicht im Hinblick auf vereinnahmte Schmiergelder sei verfassungs- und konventionsrechtlich im Übrigen „nur dann hinnehmbar, wenn bei der Rechtsfolgenentscheidung der enge zeitliche und sachliche Zusammenhang zwischen der Bestechlichkeit und der Steuerhinterziehung berücksichtigt wird und dem durch eine straffe Zusammenziehung der zu verhängenden Einzelstrafen Rechnung getragen wird“.40 Diese Entscheidung lässt allerdings offen, wie zu entscheiden wäre, wenn der Steuerpflichtige die auf strafbare Weise erzielten Einkünfte pflichtgemäß in seiner Steuererklärung angegeben und dadurch trotz der propagierten geringeren Anforderungen an die Konkretisierung seiner Angaben Anhaltspunkte für die Nichtsteuerstraftat geliefert hat.41 Die nebulösen Erwägungen zur Strafzumessung helfen dann nicht weiter, weil „nur“ die Strafbarkeit wegen des Bestechungsdelikts in Rede steht. Letztlich wird diese Rechtsprechung vermutlich dazu führen, dass die Betroffenen Einkünfte aus schweren Straftaten nicht erklären werden, zumal der BGH für den Fall, dass die Nichtsteuerstraftat dennoch aufgedeckt wird, nur einen geringen „Strafaufschlag“ für die zusätzlich begangene Steuerhinterziehung in Aussicht stellt. Im fiskalischen Interesse ist diese Lösung sicher nicht. Das gilt auch für den Vorschlag, die Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO wegen Unzumutbarkeit der Pflichterfüllung zu verneinen.42 Die Annahme der h.L., die §§ 393 Abs. 2 S. 2, 31a, 31b AO, § 4 Abs. 5 Nr. 10 S. 3 EStG seien verfassungswidrig, trifft deshalb zu. Es bleibt abzuwarten, ob das BVerfG, das die alleinige Kompetenz zur Verwerfung dieser nachkonstitutionellen Gesetze besitzt, diese Auffassung teilt. Eine große Bewährungsprobe hat das Nemo-tenetur-Prinzip also noch vor sich.
2. Exkurs: Aufdeckung einer Nichtsteuerstraftat durch eine Selbstanzeige Streng genommen keine Frage des Nemo-tenetur-Grundsatzes, sondern der Auslegung des einfachen Rechts ist es, ob die Offenbarung einer früheren – im Zusammenhang mit einer Steuerstraftat – begangenen Nichtsteuerstraftat durch eine Selbstanzeige dem Verwertungsverbot des § 393 Abs. 2 39
BGH, StV 2004, 578. BGH, StV 2004, 578. 41 Zweifel an der „Praxistauglichkeit“ des Konzepts des BGH äußert zu Recht Wulf wistra 2006, 89, 93 ff. 42 So aber Wulf wistra 2006, 89, 95 f. 40
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S. 1 AO unterfällt. Die Rechtsprechung steuert unter weitgehender Nichtbeachtung des Gesetzestextes einen „Zickzackkurs“. Das BayObLG vertrat den – offensichtlich – unzutreffenden Standpunkt, der Steuerpflichtige handele in Erfüllung steuerrechtlicher Pflichten, wenn er unechte Urkunden zu dem Zweck vorlegt, die Aufdeckung zuvor durch Abgabe unrichtiger Steuererklärungen begangener Steuerhinterziehungen zu verhindern.43 Das Steuerrecht verpflichtet den Steuerpflichtigen natürlich nicht zur Vorlage unechter Urkunden zum Beleg für unrichtige Angaben. Der BGH lehnt das Verwendungsverbot des § 393 Abs. 2 S. 1 AO dagegen ab, wenn der Steuerpflichtige eine frühere, unter Benutzung ge- oder verfälschter Belege begangene, unrichtige Steuererklärung im Wege der Selbstanzeige berichtigt und dadurch auch die Urkundenfälschung durch Gebrauchmachen offenbart. Die Richtigstellung erfolge zwar in Erfüllung der steuerrechtlichen Erklärungs- und Mitwirkungspflichten, diese seien aber nicht erzwingbar, sodass § 393 Abs. 2 S. 1 AO unter Berücksichtigung seines Zwecks einschränkend auszulegen sei.44 Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, weil die Auslegung des BGH weder gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz verstößt noch eine verbotene Analogie im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG, der Vorschriften über die Beweisverwertung nicht erfasst, darstellt.45 Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit der Auslegung des BGH ändert jedoch nichts daran, dass die Entscheidung des Senats mit dem Wortlaut des § 393 Abs. 2 S. 1 AO unvereinbar ist,46 denn er enthält nicht die Einschränkung der Erfüllung erzwingbarer Mitwirkungspflichten. Die Interessen des Fiskus, denen § 371 AO dient, ignoriert der BGH jedenfalls, denn der Steuerpflichtige, der befürchten muss, dass die Selbstanzeige ihm zwar Straffreiheit wegen der Steuerhinterziehung, nicht dagegen wegen der mitverwirklichten Nichtsteuerstraftat verschafft, wird sich im Zweifel nicht offenbaren und die bisher verschlossene Steuerquelle wird deshalb weiterhin verborgen bleiben.
VIII. Fazit Der Nemo-tenetur-Grundsatz hat im Steuerstrafrecht zwar einige, aber noch nicht alle Bewährungsproben bestanden. Es bleibt insbesondere abzuwarten, ob das BVerfG den Bestrebungen, die zahlreichen Informationen, 43
BayObLG, NJW 1997, 600, 601; wistra 1998, 117, 118. BGHSt 49, 136, 146 f. 45 BVerfG, NJW 2005, 352 f. 46 Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem Wortlaut äußert auch Eidam wistra 2004, 412, 414. 44
Das Steuerstrafrecht als Testfall des Nemo-tenetur-Prinzips
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die den Finanzbehörden von den Steuerbürgern in Erfüllung ihrer steuerrechtlichen Pflichten geliefert werden, für Strafverfolgungszwecke nutzbar zu machen, Einhalt gebieten wird.
Bestimmt, wer „aufstiftet“, zur Tat des schwereren Delikts? – Zugleich ein Beitrag zum Unrecht der Anstiftung – MICHAEL KAHLO
I. Manfred Seebode, dem dieser Beitrag in herzlicher kollegialer Verbundenheit und mit den besten Wünschen gewidmet ist, gehört zu denjenigen Kollegen, die sich – keineswegs nur in Lehre und Forschung1 – in ebenso engagiert-entschiedener wie nachdenklich-wohlbegründeter Weise stets für eine dezidiert freiheitliche Verfassung des Verhältnisses von Bürger und Staat gerade auch auf dem Rechtsgebiet des Strafrechts bemüht haben und bemühen. Zu einer solchen Verfassung zählt für ihn nicht zuletzt auch die Berechenbarkeit des (Straf-)Rechts2: Jede Staatsbürgerin und jeder Staats1 Zahlreiche Rechtsgutachten, die er im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren – namentlich zum Strafprozeßrecht, zum Datenschutzrecht sowie zum Polizeirecht – erstattet hat, belegen diese Feststellung ebenso wie seine langjährige (1990 – 2002) Wahrnehmung der Aufgaben des „Präsidenten der Bundesvereinigung Liberaler Juristen (VLJ) e. V.“; vgl. zu den Rechtsgutachten das am Ende dieser Festschrift abgedruckte Schriftenverzeichnis des Jubilars. – Außerdem ist er, dem das Verständnis der Universität als „Elfenbeinturm“ ohnedies fremd war und ist, für Zwecke dieses Engagements nicht selten auch aus universitären Zusammenhängen herausgetreten, um sich etwa als Strafverteidiger zu betätigen oder um sich ein möglichst realitätsgerechtes eigenes Bild vom Zustand unserer Haftanstalten zu machen, und zwar sowohl durch zahlreiche Besuche von Justizvollzugsanstalten als auch durch den immer wieder gesuchten Gedanken- und Erfahrungsaustausch mit Anstaltsleitern oder auch durch Kontakte mit Inhaftierten. 2 So schon im Titel seines Beitrages zur Festschrift für Günter Kohlmann (2003, S. 279) ausdrücklich Seebode „Zur Berechenbarkeit der strafrechtlichen Hilfspflicht (§ 323 c StGB)“; mit Blick auf das unechte Unterlassungsdelikt inhaltsgleich zuvor bereits in seinen Überlegungen „Zur gesetzlichen Bestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts“ in der von ihm edierten Festschrift für seinen akademischen Lehrer Günter Spendel, 1992, S. 317, S. 321: „Rechtssicherheit durch Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Strafens“ (Hervorhebung nicht im Original) unter Hinweis auf die insoweit maßgeblichen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen BVerfGE 41, 319; 64, 393 f.; 75, 341; und 78, 382. – Daß die Rechtsprechung die durch das Gesetzlichkeitsprinzip mit bezweckte Sicherung der Gewaltenteilung (so zutreffend Seebode, aaO.) zuweilen nicht zureichend beachtet, belegen beispiels-
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bürger soll sich, ohne Ansehung ihrer Bildung oder ihres gesellschaftlichen Status’, aufgrund von inhaltlich zureichend bestimmten (Straf-)Gesetzen jederzeit darüber Klarheit verschaffen können, wo die Grenzen zwischen erlaubtem und bei Kriminalstrafe verbotenem Handeln verlaufen – nicht, weil der Einzelne als Rechtsperson nicht auch für sich schon ein je eigenes Verständnis vom rechtlich Richtigen hätte und erst durch staatliche (Straf-)Rechtsgesetze gewissermaßen „erleuchtet“, d. h. zur rechtlich praktischen Vernunft gebracht werden müßte, sondern weil es gerade im Strafrecht um die mit Kriminal-, und das heißt insbesondere: Freiheitsstrafe zwangsweise Durchsetzung einer gemeinschaftlich als richtig festgelegten Praxis im gegenseitig-äußeren Verhältnis geht, die angesichts der Möglichkeit konkreter Fehlbeurteilungen der Individuen als Willkürsubjekte zu deren zuverlässiger Orientierung einer inhaltlich eindeutig bestimmten, schriftlich fixierten und publizierten, mithin objektiven Basis bedarf.3 Korrespondierend dazu müssen die Strafgesetze, einschließlich ihrer strafrechtlichen Sanktionsregelungen, deshalb so abgefasst sein, dass sie auch jeder Strafrichterin und jedem Strafrichter eine klare Orientierung darüber ermöglichen, ob wegen eines als Straftat angeklagten personalen weise die Entscheidungen des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit der Gewaltnötigung und zur angenommenen Bestimmtheit des Tatbestands der Beleidigung, insofern die gesetzliche Bestimmtheit des § 240 Abs. 1 1. Alt. StGB bzw. des § 185 StGB dort unter anderem durch den Hinweis auf eine „weithin anerkannte“ bzw. „ständige“ und „gefestigte“ Rechtsprechung der Strafgerichte begründet wird (so für die „erweiternde Auslegung“ des strafrechtlichen Gewaltbegriffs BVerfGE 73, 206 (243); 76, 211 (216), für den Beleidigungstatbestand BVerfGE 93, 266 (291/292): „… über hundertjährige im wesentlichen einhellige Rechtsprechung“); zu Recht kritisch dagegen etwa Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1, 31. Auflage 2007, Rn. 380 ff., besonders Rn. 381 und 392, 392a (zu § 240 Abs. 1 1. Alt. StGB) sowie im Hinblick auf § 185 StGB Rn. 507 mit der zusätzlichen Feststellung, der Begriff der Beleidigung lasse sich „auch nicht mit Hilfe der anderen Regelungen des 14. Abschnitts bestimmen“; vgl. dazu ausführlicher auch Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S. 29, 158; grundlegend zu „Ehre und Beleidigung“ E. A. Wolff ZStW 81 (1969), 886, der den Begriff der Ehre auf der Grundlage seiner Lehre vom gegenseitigen Anerkennungsverhältnis bestimmt, sowie – unter Berücksichtigung auch der neueren Literatur und Rechtsprechung – NK-Zaczyk, StGB, 2. Auflage 2005, Vor § 185 Rn. 1 ff.; vgl. zu dem Problem der „Flexibilität“ des Beleidigungstatbestandes die Nachweise in Rn. 2 zu § 185. – Allgemein kritisch zur Rechtsprechung bezüglich des Bestimmtheitsgebots die sorgfältige, die Praxis in ganzer Breite untersuchende Arbeit von Krahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG), 1986. 3 Grundlegend dazu, in konkretisierender Interpretation der kantischen Rechtslehre, E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: W. Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik. Bedingungen der Strafrechtsreform, 1987, S. 137 ff., insbes. S. 162 ff.; auch ich selbst habe mich sowohl in meiner Dissertation (Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1990, bes. S. 269 ff.) als auch in meiner Habilitationsschrift (Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt, 2001, S. 209 ff.) um diese Basis strafrechtlicher Gesetzlichkeit bemüht.
Bestimmt, wer „aufstiftet“, zur Tat des schwereren Delikts?
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Handelns das Hauptverfahren zu eröffnen und ob der Angeklagte wegen der Verdachtstat zu verurteilen, gegebenenfalls: wie diese Tat zu sanktionieren ist.4 Freilich kommt nicht nur in der Form des öffentlichen Strafgesetzes als eines (rechtlichen) Sollens, dessen handlungsvermittelte Missachtung den Staat berechtigt und verpflichtet, auf die fragliche Handlung mit Kriminalstrafe zu reagieren,5 die freiheitsverbürgende Bedeutung des Gesetzlich4 Vgl. zur Bedeutung des damit angesprochenen Bestimmtheitsgebotes (Postulats der lex certa) für die richterliche Tätigkeit nochmals Seebode, aaO. Fn. 2, einerseits, im Hinblick auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 319 (der Grundsatz untersage „dem Richter den verführerischen Schluß von einem als strafwürdig empfundenen Verhalten auf das als strafbar bestimmte“, kursiv im Original), andererseits, mit Bezug auf die Strafe, S. 325, wo die Feststellung der Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips auch für die Strafe mit deutlicher und berechtigter Kritik daran verbunden wird, dass die im Ansatz gewiß zutreffende h. M. einer bloß relativen Strafbestimmtheit zu einer Tolerierung von Strafrahmen durch Lehre und Rechtsprechung geführt habe, „die dem Bestimmtheitsgebot für die Rechtsfolgen nahezu jede Bedeutung genommen haben“. – Im übrigen berührt, wie hier abrundend ergänzt werden soll, das Bestimmtheitserfordernis als das zentrale Gebot im Gesetzlichkeitsgrundsatz darüber hinaus auch schon die Aufgabe und Tätigkeit der Staatsanwaltschaft: Auch diese ist für rechtsstaatlich geprägte Ermittlungen auf Strafgesetze angewiesen, die dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB) entsprechen. – Und nicht zuletzt setzt eine verantwortliche und zugleich effektive Strafverteidigung inhaltlich zureichend bestimmte öffentliche Strafgesetze voraus, und dies nicht nur im Hinblick auf die Möglichkeit und Gefahr für den Verteidiger, sich ohne diese „Grundlage des Kulturstrafrechts“ (Robert von Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, 1930, S. 34) durch seine Beteiligung an der Strafrechtspflege selbst strafbar zu machen. 5 Gemeint ist damit zunächst allein die sich aus dem strafprozeßrechtlichen Legalitätsprinzip (§§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 1 StPO) ergebende Verpflichtung des Staates, im Fall des Vorliegens eines Anfangsverdachts einer Strafgesetzesverletzung staatsanwaltschaftliche Ermittlungen aufzunehmen, bei Bestätigung dieses Verdachts Anklage zu erheben und den zunächst Verdächtigen bzw. Beschuldigten, sodann Angeschuldigten und schließlich Angeklagten (vgl. § 157 StPO) entweder freizusprechen oder zu verurteilen; vgl. zur strafrechtsphilosophischen Begründung dieses Prinzips eindrucksvoll Kant, MdS, 1797, Rechtslehre, Allgemeine Anmerkung E. zum Staatsrecht, mit seiner berühmten Formulierung vom Strafgesetz als „kategorischer Imperativ“ (AA VI, S. 331). Nicht nur im Licht dieser Begründung erscheinen die weitgehenden Regelungen der aktuellen StPO (§§ 153 a ff.) zur öffentlich nicht zu begründenden Einstellung von Ermittlungsverfahren aus Gründen der Opportunität, also prozeßökonomischer Zweckmäßigkeit, und noch mehr die sich immer mehr ausweitende Praxis der Absprachen in der Hauptverhandlung – also nach Feststellung eines hinreichenden Tatverdachts und unter letztverantwortlicher Mitwirkung des Strafgerichts – als ein gravierender Verlust an Strafrechtskultur, der auch durch strafprozeßgesetzliche Positivierung schwerlich zu „heilen“ ist. Der Hinweis auf eine vorgeblich Änderung der Bedürfnisse des Rechtsverkehrs, die eine „richterrechtliche Anpassung des Rechts an diese Bedürfnisse“ in Form von Absprachen im Strafprozeß erforderlich mache (so BGHSt (GS) 50, 40 (52 f.)), verdeckt demgegenüber nur den Mangel des rechtlichen Grundes für eine derartige Praxis und vermag diesen Befund folglich auch nicht juristisch zu entkräften; wie evident diese Praxis die verfassungsrechtlichen, durch den Gewaltenteilungsgrundsatz gezogenen Grenzen überschreitet, dokumentiert denn auch die Aussage des Großen Senats, er sähe sich an seiner „zur Sicherstellung der Funktions-
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keitsprinzips zum Ausdruck.6 Als ein als Abwehrrecht verstandenes Grundrecht verwirklicht es seine Freiheitsfunktion vielmehr nicht zuletzt auch dadurch, dass es den „fragmentarischen Charakter“ des Strafrechts wahrt:7 Die Strafbarkeit eines Verhaltens geht nur so weit wie das gesetzliche Verbot; Handlungen, die sich im Wege methodisch gesicherter Auslegung unter ein Strafgesetz nicht subsumieren lassen,8 sind ungeachtet etwa empfundener, vermeintlicher oder wirklicher Strafbedürfnisse nicht zu bestrafen. Nur der Gesetzgeber darf hier Abhilfe schaffen. Und dies auch nicht etwa nach primär utilitaristischen Zweckmäßigkeitserwägungen9, sondern unter striktüchtigkeit der Strafrechtspflege gebotenen Rechtsfortbildung (sic!) durch Zulassung der Urteilsabsprache“ gehindert, „wenn eine einschlägige Regelung des Gesetzgebers zu erwarten wäre“. 6 Die historische Entwicklung dieser Bedeutung lässt sich anhand der Wandlungen im Verständnis des Gesetzesbegriffs von der Antike bis in die Rechts- und Staatsphilosophie der Neuzeit rekonstruieren. Sie reicht, was hier aus Platzgründen nur angedeutet werden kann, von der aristotelischen Begründung der Überlegenheit der Gesetzesherrschaft gegenüber jeglicher Form einer Personenherrschaft (vgl. dazu Aristoteles, Politik, III. 15.; auch I. 7., wo der Staat als „Ursprung der Gerechtigkeit durch Herrschaft des Gesetzes“ beschrieben wird) über die Hobbes’sche Vorstellung von den staatlichen Gesetzen als einer für die Herstellung einer öffentlichen Friedensordnung notwendigen Institution (vgl. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Vereins, 1651, 21. Kap.: bürgerliche Gesetze als „künstliche Ketten“) bis zu der diese Vorstellung freiheitsbegrifflich öffnenden, neuzeitlichen Einsicht in den Zusammenhang von Gesetzlichkeit und Freiheit; vgl. dazu – neben der bereits von Seebode an anderer Stelle (aaO. Fn. 2, S. 318, bei und in Fn. 10) vermerkten These Voltaires: „Frei sein, heißt, nur von Gesetzen abhängig sein“ – insbesondere Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, 1762, 1. Buch, 8. Kap.: Freiheit als „Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber vorgeschrieben hat“ und Kants Theorie der praktischen Selbstgesetzgebung (Autonomie) in den Formen moralisch und rechtlich praktischer Vernunft (GMS, 1785, AA IV, S. 412/413; MdS, Einleitung in die Rechtslehre, § B., S. 230 i. V. m. der „Einteilung der Rechtslehre“, S. 237: Unabhängigkeit der Einzelnen als Handlungssubjekte von nötigender Willkür Anderer „nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit“). 7 So zutreffend Seebode, aaO. Fn. 2, S. 320/321 m. w. N. – Dagegen hat Binding, auf den die Rede vom „fragmentarischen Charakter“ zurückgeführt wird, die Fragmentarizität des Strafrechts wegen des von ihm darin gesehenen Zufallsmoments als „einen großen Mangel des StGB“ beurteilt; vgl. dens., Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, BT 1. Band, 2. Auflage 1902, S. 20. 8 Daß in der (Straf-)Rechtswissenschaft freilich darüber, was unter „methodisch gesicherter Auslegung“ zu verstehen ist, angesichts der verschiedenen Auslegungsmethoden und dem u. a. aus deren Verschiedenheit resultierenden Problem, welche dieser Methoden bei unterschiedlichen Interpretationsergebnissen ausschlaggebend sein soll, noch keine allgemeine und endgültige Klarheit besteht, soll dabei nicht verschwiegen werden; vgl. zu dieser Problematik, die mit der Verwirklichung des Gesetzlichkeitsprinzips aufs engste verwoben ist, grundlegend schon Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1. Auflage 1956, S. 63 ff., 85 ff. 9 So, nämlich im Sinne zweckorientierter, allein durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzter Ausübung gesetzgeberischen Ermessens, wird der Grundsatz der „fragmentarischen Natur“ des Strafrechts freilich heute häufig (miß-)verstanden; vgl. dazu etwa die Darstellung
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ter Anwendung des Schuldprinzips – eine Einsicht, auf die auch Manfred Seebode bereits zutreffend hingewiesen hat10 und die vor allem deshalb ausdrücklich festzuhalten ist, weil das Gesetzlichkeitsprinzip seit Feuerbach mit dem Gedanken der Generalprävention verbunden ist,11 die strafrechtsgeschichtlich nicht selten strafbarkeitserweiternd wirksam geworden ist und wirkt, das an sich freiheitlich-strafrechtsbeschränkende Prinzip also zumindest teilweise konterkariert (hat).12 Versteht man das Gesetzlichkeitsprinzip dagegen konsequent als freiheitssicherndes Abwehr(grund)recht,13 dessen Basis in der Personenwürde und dem auf dieser aufbauenden Schuldprinzip besteht,14 ordnen sich die Verhältnisse ersichtlich anders; insbesondere gewinnt der Grundsatz der
von Prittwitz, Das deutsche Strafrecht: Fragmentarisch? Subsidiär? Ultima ratio?, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt am Main (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 387 ff., bes. S. 388 f. und S. 392/393 und aus der Rechtsprechung etwa die erst jüngst ergangene Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2008 zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 StGB (Beischlaf zwischen Verwandten) in der Alternative des Beischlafs zwischen Geschwistern, NJW 2008, 1137; auch das in vieler Hinsicht begründete Sondervotum von Hassemer (aaO. S. 1142) bewegt sich gedanklich weitgehend in den mit diesem Verständnis verbundenen Bahnen; kritisch zu diesem Verständnis Naucke, Strafrecht. Eine Einführung, 10. Auflage 2002, § 2 Rn. 13, der darauf hinweist, dass die Unklarheit über diesen Grundsatz und seine damit einhergehende Unabschätzbarkeit dazu führt, „dass immer neue Fragmente unter Strafe gestellt werden und vom fragmentarischen Charakter des Strafrechts nur die theoretische Einsicht bleibt, dass dieser Charakter eigentlich aus dem Satz nullum crimen sine lege folgt“ – eine Tendenz, die der ursprünglichen Intention des Grundsatzes, zur Zurückhaltung bei der Strafgesetzgebung zu zwingen (siehe dazu auch § 6 Rn. 59), zuwiderlaufe. 10 Vgl. aaO Fn. 2, S. 321: Es dürfe der fundamentale Bezug des Gesetzlichkeitsprinzips zum Schuldgrundsatz nicht übersehen werden. 11 So zutreffend Seebode, aaO.; vgl. zur Problematik dieser „Verbindung“ unlängst eindringlich Zabel, Die ordnungspolitische Funktion des Strafrechts, ZStW 120 (2008), 68 (92 ff.). 12 Vgl. dazu auch die treffende Kritik von Naucke an „Feuerbachs Lehre von der Funktionstüchtigkeit des gesetzlichen Strafens“, in: E. Hilgendorf/J. Weitzel (Hrsg.), Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung. Ringvorlesung zur Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsphilosophie, 2007, S. 101 ff., der diese Lehre als bloß „zweckmäßige Strafgesetzlichkeit“ kritisiert und dieser ein freiheitlich, an der Strafrechtsphilosophie Kants orientiertes Verständnis „kritischer Strafgesetzlichkeit“ entgegensetzt, vgl. dens., Die zweckmäßige und die kritische Strafgesetzlichkeit, dargestellt an den Lehren J. P. A. Feuerbachs (1775 – 1833), Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 36 (2007), S. 321 ff. 13 Übereinstimmend Seebode, aaO. Fn. 2, S. 320/321 m. w. N. in Fn. 22. 14 Vgl. zur Grundlegung des Schuldprinzips in der durch Freiheit und Verantwortung bestimmten Personalität des Menschen nach wie vor insbesondere Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Auflage 1976, etwa S. 127 ff. und passim; aus neuerer Zeit Zabel, Schuldtypisierung als Begriffsanalyse, Berlin 2007, S. 399 ff. und öfter; eindringlich und im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Bedeutung erhellend Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, insbes. S. 176 ff.
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Fragmentarizität des Strafrechts seinen strafrechtsbeschränkenden Sinn (zurück): Der Staat darf nur Verhaltensweisen unter Strafe stellen, die fremde Freiheit in einer die Personalität des Anderen und dessen Würde missachtenden Weise negieren;15 diesem Recht entspricht eine – durch die Voraussetzung der Effektivität des strafbewehrten Verbots bedingte16 – Strafpflicht, so wahr die erste Aufgabe des Staates in der Herstellung und Verwirklichung von allgemeiner, also interpersonal-wechselseitiger Rechtssicherheit besteht.17 Jenseits des Strafgesetzes aber gibt es keine Strafbarkeit, d. h. die Wortlautgrenze eines Strafgesetzes bildet die unübersteigbare Schranke geltenden Strafrechts.18 15 Näher dazu: Michael Köhler, Strafrecht AT, 1997, Kap. 1, insbes. S. 20 ff. i. V. m. Kap. 2, S. 71 ff., bes. S. 86 ff.; siehe auch Klesczewski, Strafrecht AT, 2008, § 1, mit der Bestimmung der Straftat als bewusst eigenmächtiger Angriff auf Rechtsgüter eines Anderen, der diesem seinen Willen in einer Weise aufzwingt, die dessen elementaren Selbstwert als Rechtssubjekt so trifft, dass unser auf die Menschenwürde verpflichtetes Gemeinwesen sich zur Wiederherstellung des Rechts schützend vor das Opfer zu stellen hat (aaO. Rn. 1 i. V. m. Rn. 16 ff.); vgl. auch die rechtsphilosophische Begründung und ausführliche Erörterung dieses intersubjektiven Verbrechensbegriffs durch dens. in seiner Hamburger Habilitationsschrift zu dem Thema „Selbständigkeit und Akzessorietät der Beteiligung. Grundlegung zu einer strafrechtlichen Lehre von Täterschaft und Teilnahme“ (im Internet zugänglich unter >>http://www.LZ-Rechtsphilosophie.de<<), 3. Kap., S. 187 ff., insbes. unter „C. Das Sichzusichverhalten im fremden Unrecht“, S. 298: Das Verbrechen entspringe aus einer Maxime, „die dem Opfer die Rechtsfähigkeit abspricht“, weswegen die kriminelle Handlung „nicht nur ein vereinzeltes Dasein der Freiheit“ trifft, sondern zugleich das grundlegende Band, welches die Personenidentität des Täters mit derjenigen anderer vereint, zerreißt (S. 298). 16 Diese Bedingung kommt in dem Diktum des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck, rechtsstaatliche Legislative sei durch eine – der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogene – Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers geprägt; vgl. BVerfGE 39, 1 (44) zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs; BVerfG NJW 2008, 1137 (1138) zur Strafbarkeit des Beischlafs zwischen Geschwistern; sehr viel „strenger“ die Maßstäbe von BVerfGE 45, 187 (223) zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe. – Auch der Gedanke des Strafrechts als „ultima ratio“, also das strafrechtliche Subsidiaritätsprinzip, gehört in diesen gerade angesprochenen Zusammenhang. 17 Siehe dazu nur Kant, MdS, Rechtslehre, § 41: „Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann“ (mit anschließender Exposition der Gerechtigkeitsformen: iustitia tutatrix oder schützende Gerechtigkeit, iustitia commutativa oder wechselseitig erwerbende Gerechtigkeit und iustitia distributiva oder austeilende Gerechtigkeit). 18 So – speziell im Hinblick auf das Beispiel eigennütziger Strafvereitelung – dezidiert auch Seebode, Wortlautgrenze und Strafbedürfnis, JZ 1998, S. 781. – Dieser Standpunkt erfordert freilich methodentheoretische Anstrengungen zu einer deutlichen Abgrenzung von Auslegung und rechtsschöpferischer Analogie, und dies um so mehr, da heute überwiegend von „fließenden Grenzen“ zwischen diesen beiden Formen des Umgangs mit dem Strafgesetz ausgegangen wird, weil sich die richterliche Rechtsfindung nicht in Subsumtionsakten erschöpft, sondern Elemente der Rechtssetzung enthält; vgl. in diesem Sinne statt anderer Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, S. 80; zustimmend Lackner/Kühl, StGB, 26. Auflage
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Ist dies aber zutreffend, erscheint die heute von der Rechtsprechung und Teilen der strafrechtswissenschaftlichen Literatur vertretene Annahme, derjenige, der einen Anderen, zu einer Straftat schon Entschlossenen (insoweit also: omnimodo facturus), dazu veranlasst, schwerwiegenderes Unrecht zu begehen („Aufstiftung“19), mache sich wegen Anstiftung zur Tat des schwereren Delikts strafbar, zumindest nicht unproblematisch. Kann man wirklich mit überzeugenden, also tragfähigen Gründen sagen, dass wer aufstiftet, auch anstiftet, d. h. bezogen auf den Wortlaut des § 26 StGB: den anderen (Täter) zu seiner Tat, also einem als rechtlich-praktische Einheit zu verstehenden Geschehen, bestimmt? Oder stellt eine solche Handlung sich nicht vielmehr als eine bloße – bekanntlich milder zu bestrafende (§§ 27 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB) – Hilfeleistung zu fremder Haupttat dar?20 Oder besteht vielleicht gar eine Strafbarkeitslücke deswegen, weil der Beihilfe„Tatbestand“ mit der als Unrechtsförderung (Hilfe leisten zu vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat) beschriebenen Beteiligungsform verglichen mit der als „Bestimmen zur Tat“ gesetzlich definieren Handlung ein strafrechtliches aliud verbietet, so dass es sich bei der „Aufstiftung“ um eine gesetzlich nicht geregelte Beteiligungsform, genauer: Art und Weise der Beteiligung handelt?
II. Zumindest mit den ersten beiden der vorstehend genannten Standpunkte sind auch bereits die Grundpositionen angeführt, die in Rechtsprechung und strafrechtswissenschaftlicher Literatur heute vertreten werden. 1.) So hat der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil vom 3. Juni 1964 entschieden, dass sich der Anstiftung zum schweren Raub schuldig mache, wer einen anderen, zum Raub schon fest Entschlossenen dazu bestimme, bei der Tat eine Waffe zu verwenden.21 Dieser Entscheidung lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem der schon erstinstanzlich wegen Anstiftung zum 2007, § 1 Rn. 7 m. w. N. (auch in Rn. 6); aus neuerer Zeit Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, und dazu die Besprechung von Naucke, NJW 2006, 489. 19 Weitgehend gleichbedeutend ist bezüglich des Themas gelegentlich auch von „Umstimmung“ die Rede; so z. B. bei Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 5. Auflage 2004, § 12 Rn. 145; ebenso schon Joachim Schulz, Die Bestrafung des Ratgebers. Zur Abgrenzung von Anstiftung und Beihilfe, 1980, S. 11 und öfter, sowie Ingelfinger, Anstiftervorsatz und Tatbestimmtheit, 1992, S. 187 und öfter. 20 So die heute h. L.; auch Stratenwerth/Kuhlen vertreten aaO. diese Auffassung; vgl. zum aktuellen Meinungsstand einstweilen nur Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB, 27. Auflage 2006, § 26 Rn. 8 m. w. N. 21 BGHSt 19, 339.
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schweren Raub mit Todesfolge verurteilte Angeklagte einem unter anderem als (Haupt-)Täter eines besonders schweren Raubes Verurteilten22, der aus der Wohnung einer alten Frau Geld hatte entwenden wollen, vorgeschlagen hatte, einen Knüppel mitzunehmen und der Frau damit auf den Hinterkopf zu schlagen, damit diese bewusstlos werde. Der (Haupt-)Täter griff diesen Vorschlag auf und nahm, wozu er vorher von sich aus nicht bereit gewesen war, tatsächlich einen Knüppel mit, den er mit Todesfolge für das Opfer auch zum Einsatz brachte. Zur Begründung dieser Entscheidung wird ausgeführt, der Angeklagte habe den Täter – auch wenn dieser bereits dazu entschlossen gewesen sei, das spätere Tatopfer zu berauben – dazu bestimmt, die Tat unter Verwendung eines Knüppels und damit „in einer Art und Weise auszuführen, durch die ihr Unwertgehalt gegenüber dem ursprünglichen Plan erheblich erhöht worden“ sei; damit habe er dessen Tatentschluß mit der Folge übersteigert, dass ein erheblich erhöhter Unrechtsgehalt, „der auch in der gefährlichen Ausführungsart liegen kann,“ verwirklicht worden sei.23 Diese Entscheidung hat in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur zum Teil Zustimmung gefunden.24 Besonders Walter Stree hat sie nicht im Ergebnis nur verteidigt, sondern sich um eine Vertiefung der für sie vorgetragenen Begründung bemüht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die für ihn und in der Tat zentrale Frage, „weshalb der Beteiligte für die gesamte Tat als Anstifter einzustehen hat, obwohl nur das ‚Mehr’, das Hinzutreten der qualifizierenden Merkmale, auf ihn zurückgeht.“25 Dies lasse sich nur dann begründen, wenn „die Einflussnahme auf den Tatentschluß eine Tat herbeigeführt hat, die auf Grund ihres besonderen Unrechtsgepräges mit der ursprünglich gewollten nicht mehr identisch ist,“ was jedenfalls dann anzunehmen sei, wenn sich die Tatabwandlung gegenüber der zunächst geplanten Tat „als ein qualitativ anderes Delikt erweist“, wie beispielsweise der 22 Daß dieser (Haupt-)Täter außerdem wegen Mordes verurteilt worden war, kann für die hier zu klärenden Rechtsfragen ebenso außer Betracht bleiben wie der Umstand, dass an der (Haupt-)Tat ein strafunmündiger Dritter beteiligt war. 23 Vgl. BGHSt 19, 339 (340/341). 24 Jedenfalls im Ergebnis zustimmend insbesondere Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 37. Auflage 2007, § 13 Rn. 571 (der in diesem Zusammenhang von „Hochstiftung“ spricht); Tröndle/Fischer, StGB, 55. Auflage 2008, § 26 Rn. 3; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Auflage 2003, § 30 Rn. 34 (der Täter sei hinsichtlich des Tatganzen kein „omnimodo facturus“ gewesen); Otto, Grundkurs Strafrecht. Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Auflage 2005, § 22 Rn. 38; ders., Anstiftung und Beihilfe, JuS 1982, 557 (561); Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 26 Rn. 34 und 105; Schmidhäuser, Strafrecht AT (Lehrbuch), 2. Auflage 1970, 14/113; LK-Schünemann, StGB, 12. Auflage 2006-2007, § 26 Rn. 34; Stree, Bestimmung eines Tatentschlossenen zur Tatänderung, in: FS Heinitz (1972), S. 281, insbes. S. 293; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht. AT/2, 7. Auflage 1989, § 51 Rn. 11. 25 So Stree, aaO., S. 279/280.
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Übergang vom Diebstahl zum Raub.26 Daraus folge jedoch nun nicht etwa im Wege eines Umkehrschlusses, dass die Identität der Tat zu bejahen, Anstiftung also zu verneinen sei, „wenn dem zunächst Beabsichtigten lediglich ein qualifizierendes Moment hinzugefügt wird,“ wie sich an einer Reihe von Fallgruppen zeige – so etwa an Fällen der Intensivierung der Rechtsgutsverletzung, für die das Beispiel des Übergangs von einer einfachen zu einer schweren Körperverletzung angeführt wird; an der Veranlassung erschwerender Umstände bei der Tatausführung, für die der Übergang von falscher uneidlicher Aussage (§ 153 StGB) zur Verwirklichung des Meineidstatbestandes (§ 154 StGB) benannt wird; und insbesondere an der Konstellation, in denen das durch die „Aufstiftung“ veranlasste Plus „strafloses Unrecht in strafrechtlich erhebliches Unrecht umwandelt und somit erst die Strafbarkeit begründet“ (im Beispiel: ein Schuldner, der ursprünglich der Vollstreckungstätigkeit des von ihm erwarteten Gerichtsvollziehers durch Drohung mit einem empfindlichen Übel entgegentreten will, wird dazu angeregt, stattdessen mit Gewalt zu drohen).27 Vielmehr sei die insoweit entscheidende rechtliche Identität deswegen nicht gegeben, weil auch die Unrechtsmodifikation – wie unter Aufnahme eines von Nagler verwen26 Stree, aaO., S. 281 i. V. m. S. 283/284; auch S. 289, wo „das Identitätsproblem … als springender Punkt“ bezeichnet wird. 27 AaO., S. 285-287. – Den insbesondere hinsichtlich der zuletzt genannten Konstellation nahe liegenden Einwand, es sei ein grundlegender Unterschied, ob durch die „Aufstiftung“ die Grenze zum strafbaren Handeln überschritten werde oder „nur“ eine andere Bewertungsstufe innerhalb des Strafbaren erreicht wird, erkennt dabei auch Stree, meint ihm aber durch den Hinweis auf Fälle der Verabredung einer Straftat begegnen zu können: Verabredeten zwei Personen zunächst eine – straflose – einfache Erpressung eines anderen und einigten sie sich sodann auf Ratschlag eines Dritten, gewaltsam gegen das vorgesehene Opfer vorzugehen (strafbare Verabredung eines Verbrechens nach § 30 Abs. 2 StGB heutiger Fassung), so müsse, „sollen keine Ungereimtheiten entstehen, Anstiftung ebenfalls zu bejahen sein, wenn die verabredete Tat zur Ausführung gelangt“, die Handlung des Dritten also den Übergang von der Verwirklichung einer einfachen zum qualifizierten Delikt einer räuberischen Erpressung bewirkt (aaO., S. 288). Derartige Fälle des § 30 Abs. 2 StGB (seinerzeit: § 49 a StGB) ließen somit erkennen, „dass ein grundlegender Unterschied zwischen dem Überschreiten der Strafbarkeitsschwelle und dem Betreten einer anderen, gesetzlich abschließend gekennzeichneten Unrechtsstufe innerhalb des Strafbarkeitsbereichs zumindest nicht schlechthin bestehen kann (aaO., S. 289) – Aber der Hinweis übersieht zum einen, dass es durchaus fraglich ist, ob eine Anstiftung zu der als Verhalten im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung zu charakterisierenden Verbrechensverabredung (vgl. zur Kritik der Regelung Verf., aaO. Fn. 3 (2001), S. 120 ff., insbes. S. 122 bei und in Fn. 471 m. w. N.) überhaupt strafbar ist, weil dafür zu begründen wäre, dass § 30 Abs. 2 StGB einen Tatbestand darstellt, so dass die fragliche Verabredung sich auch als eine „Tat“ interpretieren lässt; zum anderen zeigt der von Stree selbst – aufgrund der Unselbständigkeit der von § 30 Abs. 2 StGB erfassten Vorbereitungshandlung gegenüber der geplanten Deliktsverwirklichung – zutreffend in Betracht gezogene Ausschluß der Strafbarkeit wegen Anstiftung (aaO., S. 288), dass es im angeführten Fall in Wahrheit gar nicht um den Übergang von straflosem zu strafbarem Handeln geht.
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deten Bildes: dem Grundtatbestand werde mit der qualifizierten Tat „ein weiteres Stockwerk aufgesetzt“ – sich mit dem Grunddelikt zu einem neuen Ganzen, einer Einheit verbinde, „deren Unrechtsschwere die Summe aus dem Unrechtsgehalt des Grunddelikts und dem der Qualifikation übersteigt“.28 Dies zeigten insbesondere auch die unterschiedlichen Mindeststrafen für Grunddelikt und qualifizierte Tat.29 Es gehe also gerade nicht um „gleichstrukturierte Gesetzesverstöße“, wie sich auch daran offenbare, dass Anstiftung sonst immer undenkbar sei, „wenn die von einem Dritten hervorgerufene Änderung des Tatentschlusses zu einer Tat führt, die unter dieselbe Strafvorschrift fällt, gegen die das ursprünglich Gewollte verstoßen hätte.“30 2.) Die heute h. L. lehnt es nach dem Wortlaut und Sinn des § 26 StGB sowie im inhaltlichen und systematischen Zusammenhang der strafgesetzlichen Regelungen zur strafbaren Beteiligung an der Verwirklichung von Kriminaldelikten (§§ 25 ff. StGB) demgegenüber grundsätzlich ab,31 das Handeln desjenigen, der einen anderen aufstiftet, als Anstiftung zu dem je schwereren Delikt zu beurteilen.32 Jedenfalls sofern die Übersteigerung 28 Stree, aaO., S. 290-293. – Weitgehend übereinstimmend Otto, Grundkurs Strafrecht, § 22 Rn. 38: die qualifizierte Tat (schwerer Raub) sei „eine eigenständige, im Unrecht nicht aufteilbare Tat“; ders., Anstiftung und Beihilfe, JuS 1982, 557 (561): der qualifizierte Tatbestand sei „in seinem Unrechtsgehalt nicht in das Unrecht des Grundtatbestandes und das der Qualifikation aufzuteilen“; seine Begründung weicht nur insoweit von derjenigen Strees ab, als Otto annimmt, es sei die Qualifikation „nicht nur als ein Mehr an Unrecht zu interpretieren“, sondern ändere dieses auch qualitativ; deshalb liege zwar kein Unterschied in der Schwere des Unrechts, wohl aber in der Qualität vor. 29 Stree, aaO., S. 291. 30 AaO., S. 289 unten. – Soweit dort freilich, wiederum beispielhaft, ausgeführt wird, dass sich ein Ausschluß der Anstiftung bei Tatbestandsidentität nicht halten lasse, werde „bei der Auswechslung des Opfers bei einem Tötungsverbrechen erkennbar“, wird übersehen, dass es sich in derartigen Fällen um einen Wechsel des Rechtsverhältnisses handelt, dessen Bewirkung durch den Dritten schon deswegen das Unrecht der Anstiftung verwirklicht, sofern auch deren weitere Voraussetzungen gegeben sind. 31 Vgl. zu den in Gestalt differenzierender Lehren vertretenen Ausnahmen von diesem Grundsatz sogleich im Folgenden. 32 Siehe für die h. L. insbesondere Bemmann, Die Umstimmung des Tatentschlossenen zu einer schwereren oder leichteren Begehungsweise, in: FS Gallas (1973), S. 273 ff., S. 279; Cramer, Urteilsanm. JZ 1965, 31 f.; Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB, § 26 Rn. 6; Gropp, Strafrecht AT, 3. Auflage 2005, § 10 Rn. 123; Grünwald, JuS 1965, 311 (313); SKHoyer, StGB, 8. Auflage 2000, § 26 Rn. 20; Ingelfinger, JuS 1995, 321 (322/323); Klesczewski, Strafrecht AT, § 7 Rn. 698; Köhler, Strafrecht AT, Kap. 9, S. 526/527; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, § 12 Rn. 145; Kühl, Strafrecht AT, 5. Auflage 2005, 20/183; Küpper, Besondere Erscheinungsformen der Anstiftung, JuS 1996, 23 (24); Lackner/Kühl, StGB, § 26 Rn. 3; Jescheck/Weigend, Lehrbuch Strafrecht AT, 5. Auflage 1996, § 64 III. 2. c); Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Auflage 1969, § 16 II. 2. – Der im übrigen gut informie-
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(„Aufstiftung“) nicht eine Anstiftung zu einem selbständigen Tatbestand, insbesondere einem verselbständigten Sonderdelikt (delictum sui generis) wie beispielsweise § 249 StGB, verwirklicht, könne sie nach dem sog. analytischen Trennungsprinzip nur das Unrecht psychischer Beihilfe zu (qualifizierter) Haupttat, gegebenenfalls in Tateinheit mit Anstiftung zu einem anderen tatbestandlich vertypten Unrecht, etwa zur gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB), bewirken. Besonders Gerald Grünwald und Günter Bemmann haben sich dabei zunächst um die genauere Begründung dieser Ansicht in je spezifischer Weise bemüht. a.) Dabei geht Grünwald von einem von ihm gebildeten, von dem durch BGHSt 19, 339 entschiedenen Sachverhalt – wie man annehmen darf: bewusst – verschiedenen Beispielsfall aus, in dem ein schon zu einer Diebstahlstat Entschlossener durch den Rat eines Freundes dazu veranlasst wird, „sicherheitshalber“ einen Schlagring mitzunehmen, da das prospektive Tatopfer seine Wohnung unmittelbar über dem Tatort des geplanten Diebstahls habe und deshalb etwas von der Tat bemerken könne; der (Haupt-)Täter befolgt den Rat und bringt den Schlagring schließlich auch zum Einsatz, als das Opfer am Tatort erscheint. In einem solchen Fall, so Grünwald, sei es gerechtfertigt, von einer Anstiftung zum schweren Raub auszugehen; dass sich die Merkmale des Raubes in die des Diebstahls und der (qualifizierten) Nötigung aufgliedern ließen, ändere nämlich nichts daran, dass der Unrechtsgehalt einer Raubtat mehr sei als nur „die Summe aus dem Unrechtsgehalt des Diebstahls und dem der Nötigung“, wie sich schon daran zeigt, dass die Nötigungsmittel final zur Erzwingung des Diebstahls eingesetzt werden müssen.33 Anders sei es dagegen, wenn lediglich – eben wie in dem durch den BGH entschiedenen Sachverhalt – der Übergang von der Verwirklichung des Grunddelikts zu einer Qualifikation veranlasst werde: in einem solchen Fall gehe es nämlich nicht um das Bestimmen zu einem qualitativ anderen Verbrechen, weshalb gegen die Annahme von Anstiftung zum qualifizierten Delikt Bedenken bestünden, sei doch die Tat „in ihrem Kern – der Rechtsgutsverletzung, die den Grundtatbestand erfüllt – … nicht auf die Einflussnahme (scil.: des ‚Aufstifters’) zurückzuführen.“34 b.) Diese Kernaussage hat Günter Bemmann in der Festschrift für Wilhelm Gallas aufgegriffen und sie – besonders durch eine Auseinandersetzung mit
rende Überblick von Geppert, Die Anstiftung (§ 26 StGB), Jura 1997, 299 verkennt, dass es sich hier um die h. L. handelt (vgl. S. 305 bei und in Fn. 56). 33 So Grünwald, JuS 1965, 311 (313). 34 Vgl. nochmals Grünwald, aaO.; ähnliche Formulierung bei Ingelfinger, JuS 1995, 321 (323): „Das Übersteigern des Tatentschlusses ist weniger als das Hervorrufen desselben.“.
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der Argumentation Strees – mit zwei zusätzlichen Überlegungen einesteils untermauert, andernteils modifiziert, die in drei konzentrierten Schritten vorgetragen werden. Der erste Schritt bezieht sich auf die Entscheidungsgründe der bereits dargestellten BGH-Entscheidung, denen entgegengehalten wird, der Hinweis auf das – verglichen mit dem Grunddelikt – „merklich andere Gewicht“ der qualifizierten Tat vermöge nicht zu erklären, „wieso der auf den Tatentschlossenen Einwirkende, der ja nicht zu der Tat überhaupt, sondern nur zu der Qualifikation den Anstoß gibt, für die Tat in ihrer Gesamtheit soll einstehen müssen.“35 Eine derartige Annahme, so wird der zweite Schritt eingeleitet, sei allenfalls dadurch begründbar, dass zwischen Grunddelikt und Qualifikation Wesensverschiedenheit bestünde, und genau darauf ziele die Argumentation von Stree auch ab, die freilich bereits übersehe, dass die Voraussetzung von Wesensverschiedenheit die ungerechte Annahme erzwinge, auch derjenige verwirkliche Anstiftungsunrecht, der einen anderen zu einer leichteren als der geplanten Tat umstimme, und zwar auch dann, wenn dies „das einzige geeignete Mittel“ sei, „um die schwerer wiegende Deliktsverwirklichung zu verhindern.“36 Vor allem aber werde, so der dritte Schritt, bei einer solchen Argumentation verkannt, dass es für die von der „Anstiftungslösung“ angenommene „Ungleichheit der Unrechtsgehalte“ in Form einer mit der Umstimmung zu einem delictum sui generis vermeintlich strafrechtlich vergleichbaren „gründlichen Unrechtsmodifizierung“ entscheidend darauf ankomme, „ob die betreffenden Delikte … in ihrer Unrechtsgestalt übereinstimmen.“ Von der Grundlage dieses Gedankens zeige sich aber schnell, dass Grunddelikt und Qualifikation, aber auch Grunddelikt und zusammengesetztes Delikt zueinander in einem Einschlußverhältnis stünden, die Qualifikation oder auch das delictum sui generis folglich kein aliud, sondern vielmehr nur „etwas Angereichertes, ein plus“ darstelle, weshalb durch die Veranlassung zur Begehung eines zusammengesetzten oder qualifizierten Delikts „kein neuer, jedenfalls kein völlig 35 So – insoweit in Übereinstimmung mit Grünwalds gerade referierter Argumentation – Bemmann, aaO. Fn. 32, S. 275. 36 Vgl. dazu Bemmann, aaO., S. 275/276 mit dem zusätzlichen Hinweis, im Vergleich zu dem Untätigen handele „der auf den Tatentschlossenen mäßigend Einwirkende sicher verdienstlich“ und dürfe daher „nicht schlechter gestellt werden als jener.“ – Dieser Schluß erscheint allerdings nicht unproblematisch, greift doch der mäßigend Einwirkende – insoweit ähnlich den Fällen der Risikoverringerung im Zusammenhang der objektiven Zurechnungslehre (vgl. dazu kritisch Verf., Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der objektiven Zurechnungslehre im Strafrecht, in: FS Küper (2007), S. 249 ff., bes. S. 259 m. w. N.) – im Unterschied zu dem untätig Bleibenden in das verletzende Geschehen ein, wirkt also (abgesehen von Fällen des Garantenunterlassens) auch an der letztlich verletzenden Gestaltung des Rechtsverhältnisses zu dem bedrohten Dritten mit; es dürfte sich daher auch hierbei eher um ein Problem der Rechtswidrigkeit, insbesondere der mutmaßlichen Einwilligung oder des § 34 StGB handeln.
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neuer Deliktsentschluß hervorgerufen“ werde.37 Wer den etwa zu einer Diebstahlstat Entschlossenen dazu bestimmt, die Wegnahme gewaltsam durchzuführen, sei deshalb nicht etwa wegen Anstiftung zum Raub, sondern wegen Beihilfe zum Raub in Tateinheit mit Anstiftung zur Nötigung zu bestrafen.38 Erst recht gelte: Bestärke der Umstimmende den ursprünglich Tatentschlossenen in dessen Willen, die Qualifikation (oder auch das Grunddelikt) zu begehen, mache er sich wegen Beihilfe zur Qualifikation oder zum Grunddelikt strafbar.39 3.) Neben diesen Hauptströmungen werden vereinzelt auch anders differenzierende oder begründende Auffassungen vertreten. a.) So hat zum Beispiel Cramer in seiner Anmerkung zu der Entscheidung des BGH vom 3. Juni 1964 (BGHSt 19, 339) gegen diese zwar ausdrücklich grundsätzliche Bedenken geltend gemacht, insofern diese für die Umstimmung zu einer Qualifikation, einer tatbestandlichen Abwandlung mit höherem Unrechtsgehalt oder zu einem allgemein verwerflicheren Delikt zur Annahme von Anstiftung gekommen sei, zugleich aber auch angenommen, bei „der Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter“ werde man „bei der Änderung der Tatausführung sehr viel leichter zu einer wesentlichen Abweichung kommen als bei den übrigen Delikten.“40 b.) Vor allem aber hat Joachim Schulz mit seiner oben (in Fn. 19) schon erwähnten eindringlichen, um die Abgrenzung von Anstiftung und Beihilfe sich bemühenden Untersuchung über „Die Bestrafung des Ratgebers“ auf die grundsätzlichen, durch die Entscheidung BGHSt 19, 339 aufgeworfenen Fragen41 reagiert.42 Dabei setzt seine Untersuchung zunächst bei der Frage
37 Siehe dazu nochmals Bemmann, aaO., S. 277/278; entsprechend für die „mäßigende Umstimmung“ S. 279. 38 AaO., S. 278/279 unter Hinweis auf Welzel, Deutsches Strafrecht, § 16 II. 2. und insoweit in ausdrücklicher Abgrenzung zu der von Grünwald vorgetragenen Ansicht. 39 So Bemmann, aaO., S. 279, 280. 40 Vgl. in diesem Sinne Cramer, JZ 1965, 31 f. – Deutlich kritisch zu dieser These Stree, aaO. Fn. 24, S. 282: Eine solche „Differenzierung nach der Art der betroffenen Rechtsgüter“ stehe „auf schwachen Füßen“ und „dürfte mehr auf gefühlsmäßigen als auf rationalen Erwägungen beruhen.“ – In anderer Weise differenzierend Jakobs, Strafrecht AT, 2. Auflage 1991, 22/25 f., mit dem zutreffenden Hinweis, eine bloße Änderung von Modalitäten wie Tatmittel, Tatzeit oder Tatort, aber auch quantitativ erhebliche Übersteigerungen werde der Täter in aller Regel nicht in Abhängigkeit vom Willen des Dritten vornehmen. 41 Daß erst durch diese Entscheidung mit der durch sie aufgeworfenen Frage nach der Abgrenzung zwischen Anstiftung und Beihilfe wichtige und schwierige Probleme der strafrechtlichen Beteiligungsformenlehre ins Blickfeld der Strafrechtswissenschaft geraten sind, konstatiert auch Stree, aaO. Fn. 24, S. 277/278.
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an, welche Elemente einer schon vorhandenen Tatplanung eines „omnimodo facturus“ verändert, insbesondere ergänzt werden dürfen, ohne dass ein neuer Tatentschluß hervorgerufen, vielmehr der alte nur modifiziert wird.43 Um der Antwort darauf näher zu kommen, setzt Schulz sich in einem ersten Schritt mit dem „Meinungsstand zum Problem der Umstimmung“ und dabei schließlich auch in Form eines „Exkurses“ mit der Ansicht des Bundesgerichtshofs auseinander.44 Die Auseinandersetzung orientiert sich dabei an dem eingeführten Begriff der normativen (Teil-)Identität der jeweiligen Tat, die allgemein mit der Differenzierung in „aliud“ und bloßes „plus“ verbunden wird. Im Hinblick darauf werden im Wege analytischer Aufspaltung des neuen Tatentschlusses – Schulz spricht insoweit vom „analytischen Trennungsprinzip“45 – die schon vorhandenen und die den schon vorhandenen Entschluß ergänzenden Elemente unterschieden und von dort weitergefragt, wann die Änderung oder Ergänzung des fremden Tatplanes wegen zu konstatierender Ähnlichkeit des neuen Tatentschlusses mit dem ursprünglichen Tatvorsatz nur Ratgeberschaft in Form psychischer Beihilfe sein kann und wann sie eine echte Tatänderung bewirkt, so dass die Annahme von Anstiftung gerechtfertigt ist.46 Dabei wird festgestellt, dass es (bisher) an einer zureichenden Begründung des angeführten Trennungsprinzips fehle und dieses insbesondere nicht „auf die ratio der unterschiedlichen gesetzlichen Regelung von Anstiftung und Beihilfe“ bezogen sei bzw. werde.47 Deswegen werden im Anschluß die phänomenalen und normativen Kriterien untersucht, welche die fragliche (Teil-)Identität stiften könnten – mit dem Ergebnis, dass „jedenfalls immer dann, wenn der Rat zu einem Wechsel des angegriffenen Rechtsguts führt, Anstiftung vorliegt.“48 Eine Antwort auf die weiterführende Frage, ob auch über diese Konstellation hinaus Fälle 42 Vgl. dazu schon die Einleitung zu seiner genannten Arbeit (Die Bestrafung des Ratgebers. Zur Abgrenzung von Anstiftung und Beihilfe, 1980), S. 9; vgl. auch dens., Anstiftung oder Beihilfe, JuS 1986, 933 ff. 43 Siehe dazu nochmals aaO., S. 9 mit der einleitenden Exposition der drei von Schulz im Hinblick auf sein Thema – die Bestimmung und Begründung der Strafbarkeit von Ratgeberschaft als Anstiftung oder Beihilfe – für aufklärungsbedürftig gehaltenen Problembereiche: erstens der Frage nach dem Verlauf der „Grenze zwischen dem Hervorrufen des Willens zur Tat und dem Bestärken eines schon vorhandenen Willens“; zweitens der Frage nach den Konkretisierungsanforderungen an die Vorstellungen des Täters vom zukünftigen Tatgeschehen, „damit ein Hinzufügen von weiteren Einzelheiten den Entschluß nicht hervorruft, sondern nur ergänzt“; und drittens die oben vorgestellte Ausgangsfrage (kursiv jeweils im Original). 44 AaO., S. 10-123; speziell zum BGH S. 120-122. 45 AaO., S. 31 und öfter. 46 So Schulz, aaO., zunächst S. 12 und 14, sodann S. 16 ff. 47 AaO., S. 54/55. 48 AaO., S. 122. – In diesem Abschnitt werden dann auch die Entscheidungsgründe von BGHSt 19, 339 untersucht, und es wird zutreffend festgestellt, dass sich nicht zweifelsfrei ermitteln lasse, worauf der BGH sein Urteil stützt.
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sich denken lassen, in denen die Ratgeberschaft die normative Identität des Entschlusses berührt bzw. verändert, sei jedoch nur unter stärkerer Einbeziehung des Strafgrundes der Anstiftung zu beurteilen, dem in der Diskussion zu wenig Beachtung geschenkt werde und dem sich Schulz, nach einer kurzen Zwischenüberlegung zu den für die Umstimmungsfälle wichtigen Begriff des „omnimodo facturus“, sodann zuwendet.49 Anstiftung, so das Ergebnis seiner diesbezüglichen Überlegungen, sei insbesondere durch das Merkmal der „Planherrschaft“ gekennzeichnet, deren Dominanz darin bestehe, dass der Anstifter den normativen Sinnzusammenhang der Tat bestimme.50 Deswegen sei in den Fällen, in denen „der Täter von einem Diebstahl zum Raub umgestimmt wird, … hinsichtlich des Raubes Anstiftung“ anzunehmen, und zwar nicht etwa deshalb, weil § 249 StGB ein delictum sui generis darstellt, sondern weil im Unrechtstypus des Raubes „der Angriff auf die Willensfreiheit nicht wertungsmäßig hinter den Angriff auf Eigentum und Gewahrsam zurücktritt“, so dass die Umstimmung den normativen Sinnzusammenhang der Tat maßgeblich präge.51
III. Mit diesem Ansatzpunkt beim Unrecht der Anstiftungshandlung ist nun tatsächlich ein wichtiger zusätzlicher Gesichtspunkt für die Beurteilung der „Aufstiftungsfälle“ gewonnen. Bei näherer Betrachtung stellt sich freilich gerade von ihm – nicht nur im Hinblick auf den in BGHSt 19, 339 entschiedenen Sachverhalt, sondern vielmehr noch für den Ausgangsfall von Grünwald – die Frage, ob der jeweilige Ratgeber durch einen bloßen „Vorschlag“ den (Haupt-)Täter denn überhaupt zu dessen Tat „bestimmen“ kann, wie dies § 26 StGB vorschreibt. Die Antwort auf diese Frage erfordert zumindest einige kurze grundlegende Überlegungen dazu, wie sich die Strafbarkeit der Anstiftung (§ 26 StGB) nach geltendem Recht in das gesetzliche System von Täterschaft und Teilnahme einordnet.
49 Vgl. dazu aaO., S. 125-129 (zum „omnimodo facturus“) und dann vor allem S. 130 ff. zum Strafgrund der Anstiftung. 50 Vgl. dazu näher Schulz, aaO., S. 130 ff., bes. S. 137 ff. (zur Planherrschaft als Strafgrund der „beratenden“ Anstiftung) und S. 145 ff. (zur „Schaffung oder Veränderung des deliktischen Sinnzusammenhangs als Haupttyp der Planherrschaft“); ebenso ders., Anstiftung oder Beihilfe, JuS 1986, 933 (937 ff. zur „Anstiftung als Herrschaftsverhältnis“). – Dieser „Dominanzgedanke“ wird auch von Ingelfinger (aaO. Fn. 19, S. 175 ff.) aufgegriffen und für seine Frage nach dem Zusammenhang von „Anstiftervorsatz und Tatbestimmtheit“ fruchtbar gemacht. 51 Vgl. Schulz, JuS 1986, 939.
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Dieses System geht nun bekanntlich, wie Aufbau und Inhalt der einschlägigen strafgesetzlichen Vorschriften (insbes. die §§ 25-27 und § 29 StGB) zeigen, von einem primären und restriktiven Begriff der Täterschaft (§ 25 StGB) aus, auf den Anstiftung und Beihilfe (§§ 26, 27 StGB) nach dem Prinzip der limitierten Akzessorietät als Teilnahmeformen bezogen sind.52 Im Rahmen dieser Grundstruktur erfordert die differenzierende gesetzliche Ausgestaltung der Täterschaft, insbesondere deren Formen der Mit- sowie der mittelbaren Täterschaft, klare Kriterien der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, um die sich Rechtsprechung und Literatur seit langem schon bemühen. Standen sich dabei ursprünglich subjektiver und objektiver Ansatz gleichsam konfrontativ gegenüber, lässt sich dies für die heutige Zeit schwerlich behaupten. Vielmehr führten Wandlungen im Verständnis darüber, was es bedeuten kann, ein Tatgeschehen „als eigenes“ oder „als fremdes“ zu wollen nicht weniger als Veränderungen in der die wissenschaftliche Behandlung der strafrechtlichen Beteiligungsformen seit dem Aufkommen der finalen Handlungslehre bestimmenden Tatherrschaftslehre53 dazu, das man die subjektive Theorie und die Tatherrschaftslehre zwar nach wie vor einander gegenüber zu stellen pflegt,54 dadurch aber doch eher verdeckt, wie nahe sich die beiden Ansätze – gerade hinsichtlich ihrer Beurteilung einzelner Fallgestaltungen – inzwischen sachlich gekommen sind. Dies gilt sowohl für manche, mit der Methode „normativer Kombination“ verbundene „Anleihen“ der Rechtsprechung bei der Tatherrschaftslehre55 als auch dafür, dass die Tatherrschaftslehre ihrerseits so „objektiv“ schon lange nicht mehr ist,56 weswegen wohl die meisten ihrer heutigen Vertreter auch der von der Rechtsprechung inzwischen wiederholt zur Anwendung 52 Das ist für die lex lata praktisch unbestritten. – Im übrigen ist insbesondere die alternative Konzeption eines sekundären Täterbegriffs in der Literatur eine nur vereinzelt, nämlich von Bockelmann (vgl. dens., Über das Verhältnis von Täterschaft und Teilnahme, 1949) vertretene Ansicht geblieben. 53 Vgl. zur Entwicklung der Tatherrschaftstheorie und deren Zusammenhang mit der finalen Handlungslehre die vorzügliche Darstellung bei Klesczewski, aaO. Fn. 15, 2. Kap. unter Ziffer I. (S. 130 ff.), speziell zum „ontologischen Ansatz des Finalismus“ unter C. (S. 136 ff.). 54 Vgl. dafür statt anderer Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 13 Rn. 512 einerseits, Rn. 515 andererseits, der zutreffend auf die Tendenzen der „Objektivierung“ der subjektiven Teilnahmetheorie durch die Rechtsprechung hinweist. 55 Vgl. dafür, wie der BGH aufgrund der von ihm praktizierten „wertenden Beurteilung“ die Tatherrschaft bzw. den Willen zur Tatherrschaft als das maßgebliche Kriterium des Täterwillens und damit der Täterschaft ansieht, nur die Entscheidungen BGH JR 1955, 304 f.; BGHSt 8, 391; 8, 396; und 14, 129. 56 Vgl. dafür etwa LK-Roxin, StGB, 11. Auflage 1992 ff., § 25 Rn. 35, wo ausdrücklich von der Tatherrschaft als einer „subjektiv-objektiven Sinneinheit“ die Rede ist. – Die Auswirkungen solcher begrifflicher „Offenheit“ zeigen sich denn auch etwa in der mittlerweile weitgehend erfolgten Anerkennung der mittelbaren Täterschaftsfigur des „Täters hinter dem Täter“.
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gebrachte mittelbare Täterschaftsfigur des sog. Täters hinter dem Täter57 zustimmen,58 obwohl in diesen Fällen davon, dass die betreffende Tat „durch einen anderen“ als „Werkzeug“ eines kraft rechtlich fundierter Überlegenheit agierenden „Hintermannes“ begangen worden ist, gewiß gar keine Rede sein kann.59 Gegenüber derartigen Ausweitungen des Täterbegriffs ist daran festzuhalten, dass Täterschaft, und zwar in allen ihren Formen, durch die im Recht als Selbständigkeit zu erfassende und zu entfaltende personale Freiheit charakterisiert und deshalb abschließend („geschlossen“) zu bestimmen ist als die allein- oder mitverantwortliche, durch tatbestandsbezogenes Handeln vermittelte Entscheidung über den Eintritt des strafgesetzlich je vertypten Unrechtssachverhalts. Dabei erschließt sich die entscheidende Verantwortung durch die Verwirklichung (sei es durch Tun, sei es durch Unterlassen) willensbegründeter Selbsteinordnung im reflexiven, interaktiv gestalteten Rechtsverhältnis zu anderen.60
IV. Gründet in solcher Form (straf-)rechtlicher Verantwortung des Täters nun auch ersichtlich dessen zentrale Bedeutung im strafgesetzlichen System von Täterschaft und Teilnahme, lässt sich dasselbe jedenfalls nicht ohne weite57
Vgl. dafür BGHSt 40, 218 (236); 42, 65 (68); 45, 270 (296); 48, 77 (89). Vgl. dazu statt anderer nur Roxin, Strafrecht AT II, § 25 Rn. 105 ff. m. w. N. – Demgegenüber zu Recht kritisch Zaczyk, Die „Tatherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate“ und der BGH, GA 2006, 411 ff. 59 In diesem Sinne auch die berechtigte Kritik von Murmann, Tatherrschaft durch Weisungsmacht, GA 1996, 269 ff. – In der Zustimmung zur Annahme von (mittelbarer) Täterschaft in derartigen Fällen wirkt es sich eben aus, dass Täterschaft mit „offenen Begriffen“ (in diesem Sinne ausdrücklich Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 6. Auflage 1994, S. 122 ff.) wie dem des Täters als der „Zentralgestalt des handlungsmäßigen Geschehens“ (aaO., S. 25) eben in Wahrheit eher bildhaft beschrieben als begriffen wird. 60 Vgl. näher zu diesem die Selbstständigkeit der Person mit ausmachenden „reflexiven intentionalen Bezug des Täters zu seinen eigenen Taten als eigene Taten“ Klesczewski, aaO. Fn. 15, der zunächst im Zusammenhang seiner Kritik des Finalismus treffend darauf hinweist, dass mit der so begriffenen Reflexivität die grundlegenden „subjektlogischen Strukturen“ angesprochen sind, wohingegen sich der ontologische Ansatz des Finalismus in „sachlogischen Strukturen“ erschöpft (2. Kap., unter I. C., S. 138/139; kursiv nicht im Original), und sodann die „reflexionstheoretische Perspektive“ für einen intersubjektiven Verbrechens- und Beteiligungsbegriff fruchtbar macht (2. Kap. unter III., S. 180 ff., 3. Kap., S. 187 ff.). – Vgl. zur Reflexivität als Kennzeichen der Selbsteinordnung personaler Praxis überhaupt auch schon die Dissertationen von Michael Bolowich, Urheberschaft und reflexives Verständnis. Untersuchungen zur Grundlage einer strafrechtlichen Beteiligungslehre, 1995, und Uwe Murmann, Die Nebentäterschaft im Strafrecht, 1993. 58
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res auch vom System der Teilnahme sagen. Schon die – von der Strafrechtsdogmatik lange Zeit weitgehend unkritisch übernommene –61 gesetzliche Zusammenfassung der Beteiligungsformen Anstiftung und Beihilfe in der heutige Fassung des § 28 Abs. 1 StGB versteht sich dann nicht von selbst, wenn man die schon äußerlich zu verzeichnenden sachlichen Unterschiede wie insbesondere die doch sehr unterschiedlichen Rechtsfolgenregelungen und die nur für die Anstiftung (zu einem Verbrechen) vorgesehene Strafbarkeit des Beteiligungsversuchs bedenkt. Aber auch im Vergleich zur Täterschaft provoziert § 26 StGB geradezu die Frage, warum der Anstifter „gleich einem Täter“ zu bestrafen sein soll, und dies auch noch ohne jede Strafmilderungsmöglichkeit. – In dieser „Gleichbehandlung“ liegt freilich zugleich auch ein Schlüssel dafür, das Unrecht der Anstiftung genauer zu begreifen: Ist es nämlich so, dass Anstiftungshandlungen, trotz ihrer Akzessorietät zur Tat des (Haupt-)Täters, grundsätzlich gleiches Unrecht verwirklichen wie die primäre Täterschaft,62 dann muß dieses (scil.: das Unrecht) durch eine Form von Willensherrschaft über den Haupttäter gekennzeichnet sein, die zwar von anderer Art als die Herrschaft des Täters, dieser aber zumindest weitgehend angenähert und deswegen als gleich unwertig zu beurteilen ist.63 Daraus folgt aber auch, dass der „Tatbestand“ der Anstiftung, mit seiner vom Gesetz durchaus anschaulich als „Bestimmen zu vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat“ beschriebenen Anstiftungshandlung nicht nur in bloßer „Verursachung des Tatentschlusses“ liegen kann.64 Auch die im Schrifttum vielfach und zunehmend vertretene Kennzeichnung der Anstiftungshandlung als „kommunikative Beeinflussung“ des (Haupt-)Täters65 hilft hier nicht weiter: Zwar wird durch sie immerhin zutreffend auf das 61 Vgl. dazu nochmals Schulz, aaO. Fn. 19, S. 9 mit dem Hinweis, bis zu der Entscheidung BGHSt 19, 399 aus dem Jahre 1967 lasse sich praktisch überhaupt keine Abhandlung über das Problem der Abgrenzung von Anstiftung und Beihilfe finden, obwohl diese nicht weniger bedeutsam sei als diejenige von Täterschaft und Teilnahme. 62 Nur unter dieser Voraussetzung lässt sich die Gleichheit der Strafbarkeit ja überhaupt legitimieren. 63 In diesem Sinne auch Klesczewski, aaO. Fn.15, 328 ff.; ders., Strafrecht AT, § 7 Rn. 691 ff. 64 So aber die Rechtsprechung (vgl. nur BGH GA 1980, 183 (184); BGH NStZ 2000, 421; BGHSt 45, 373 (374); ferner die Nachweise bei Tröndle/Fischer, StGB, § 26 Rn. 3) und weite Teile der Literatur, vgl. dazu nur die Nachweise bei Lackner/Kühl, StGB, § 26 Rn. 2; vgl. dazu auch Nikolidakis, Grundfragen der Anstiftung, 2004, S. 36 ff. 65 Vgl. insbesondere Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 13 Rn. 568; Schönke/Schröder/Cramer/Heine, StGB, § 26 Rn. 10; Ebert, Strafrecht AT, 3. Auflage 2001, S. 210; Tröndle/Fischer, StGB, § 26 Rn. 3; Jescheck/Weigend, Lehrbuch Strafrecht AT, § 64 II. 2. a); Roxin, Zum Strafgrund der Teilnahme, in: FS Stree/Wessels (1993), S. 365 ff., bes. S. 376; Schmidhäuser, Strafrecht AT (Lehrbuch), 14/104; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, § 12 Rn. 143; Welzel, Deutsches Strafrecht, § 16 II. 1.
Bestimmt, wer „aufstiftet“, zur Tat des schwereren Delikts?
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Erfordernis einer restriktiven Auslegung des Anstiftungs-„Tatbestandes“ aufmerksam gemacht, aber warum das Merkmal der Kommunikation eine dem Unrecht der Täterhandlung „gleichwertige“ Veranlassung fremder, und eben im Rechtssinne freiverantwortlicher Tatbestandsverwirklichung sein soll, erschließt sich aus ihr nicht. Dies könnte eher schon die von Ingeborg Puppe vorgetragene Lehre vom „Unrechtspakt“ leisten, derzufolge eine strafbare Anstiftungshandlung nur bei Vorliegen einer Art „kollusiven Vertragsabschlusses“ gegeben sein soll.66 Aber abgesehen davon, dass es fraglich erscheint, ob der Wortlaut des § 26 StGB mit seiner Beschreibung der Anstiftungshandlung als lineareinseitiges „bestimmen“ eine solche Deutung als gegenseitiger Vertrag zulässt, wäre eine solche Vereinbarung gemäß § 134 BGB nichtig, weswegen offen bleibt, worin die angenommene Bindungswirkung liegen soll, wenn dem „Vertrag“ die Kraft der rechtlichen Verbindlichkeit gerade fehlt. Vielmehr lässt sich – vereinbar mit dem gerade erinnerten Wortlaut des § 26 StGB sowie mit Rücksicht auf den durch die lex lata strafgesetzlich vorgegebenen systhematischen Zusammenhang mit § 25 StGB – die Situation einer Art spezifischer Abhängigkeit der Willensbildung des (Haupt-)Täters von derjenigen des Anstifters für den Anstifter nach geltendem Recht wohl nur dadurch herstellen, dass dieser im Zusammenhang des zur Tat bestimmenden Kommunikationsaktes jenem entweder Vorteile verspricht oder Nachteile in Aussicht stellt oder auf den (Haupt-)Täter in anders intensiver, freilich noch nicht als mittelbare Täterschaft beurteilbarer Art und Weise determinierend einwirkt.67 66
Vgl. Puppe, Der objektive Tatbestand der Anstiftung, GA 1984, 101 (112 f.). So zuerst Michael Köhler, Strafrecht AT, Kap. 9, S. 525/526 (mit hilfreichem Hinweis auf die alte, typische Anstiftungsmittel formulierende Regelung des § 48 Abs. 1 StGB: Geschenke oder Versprechen, Drohung, Missbrauch des Ansehens oder der Gewalt, absichtliche Herbeiführung oder Beförderung eines Irrtums oder andere Mittel), der seine Lehre allerdings mit einer sehr viel engeren Vorstellung von mittelbarer Täterschaft und einer damit einhergehenden Ausweitung der Anstiftung verbindet; vgl. in diesem Sinne auch Klesczewski, aaO. Fn. 63; wegen der näheren Einzelheiten seiner – insbesondere auch die Veranlassung schuldlos Handelnder zur Tatbestandsverwirklichung als Anstiftung verstehender – Konzeption kann hier nur auf seine schon mehrfach in Bezug genommene Habilitationsschrift verwiesen werden. – Tendenziell übereinstimmend, d. h. ausdrücklich für eine restriktive Interpretation des § 26 StGB, die über das Erfordernis eines geistigen Kontaktes hinausgeht, Jakobs, Strafrecht AT, 22/22 (Fassen und Durchhalten des Tatentschlusses „in Abhängigkeit vom Willen des Beeinflussenden“); Otto, Grundkurs Strafrecht. Allgemeine Strafrechtslehre, § 22 II. 2. b); ders. JuS 1982, 557 (560): unmittelbar beeinflussende Einwirkung auf den Willen des Täters; Joachim Schulz, aaO. Fn. 19, S. 137 ff.: „Planherrschaft“; ders. JuS 1986, 933 (937 ff.: „Anstiftung als Herrschaftsverhältnis“); ähnlich („Dominanzgedanke“) Ingelfinger, aaO. Fn. 19, S. 175 ff., dessen Unterscheidung von intellektueller und voluntativer Dominanz freilich an die im Hinblick auf die Struktur rechtssubjektiven Praxiswissens problematische Trennung von „Wissen und Wollen“ im Vorsatzbegriff angelehnt ist. 67
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V. In diesen Kontext ist nun auch das hier thematische Problem der „Aufstiftung“ zu setzen: Bloße Vorschläge des Ratgebers, wie in dem Beispielsfall von Grünwald, vermögen schon von vornherein keine Anstiftung und damit eben auch keine tätergleiche Bestrafung zu begründen, so dass in diesem Fall auch dann nur psychische Beihilfe zum Raub anzunehmen ist, wenn man – im Grundsatz zutreffend – zwischen der „Aufstiftung“ zu einem Sonderdelikt (wie § 249 StGB)68 und der nur Beihilfeunrecht verwirklichenden Veranlassung zur Ausführung einer qualifizierten Tat an Stelle des ursprünglich geplanten Grunddelikts unterscheidet. Andererseits kommt schon von vornherein nur (psychische) Beihilfe – gegebenenfalls tateinheitlich mit Anstiftung zu anderem Unrecht, das auf „Urheberschaft“ des „Aufstifters“ zurückzuführen ist – in Betracht, wenn ein bereits zum Grunddelikt Entschlossener dazu veranlaßt wird, den Tatbestand der Qualifikation des Grunddelikts zu verwirklichen: „Was schon da ist“ – nämlich der Tatentschluß zur Verwirklichung des grunddeliktischen Tatbestandes, dessen Unrechtsgehalt sich von dem der Qualifikation nicht trennen lässt – „kann nicht noch einmal erzeugt werden.“69 Der „Aufstifter“ hat also diesbezüglich keinerlei Bestimmungsmacht.70 Damit lässt sich die Ausgangsfrage jetzt wie folgt beantworten: Wer „aufstiftet“, bestimmt nur, aber auch stets dann zur Tat des schwereren Delikts, wenn die Art seines Einwirkens auf den bereits Entschlossenen den an die Handlung des Bestimmens zu stellenden strengen Anforderungen genügt, also determinierenden Charakter aufweist und durch die so begründete spezielle Willensherrschaft über den Entschlossenen bei diesem einen qualitativ andersartigen Entschluß bewirkt. Der schon mehrfach erwähnte Fall (BGHSt 19, 339) ist daher falsch entschieden worden.
68 Dann Anstiftung, sofern die Handlung der Beeinflussung des anderen bestimmend wird, also jene spezifische Form von Willensherrschaft ausmacht, welche die Unrechtshandlung des Anstifters kennzeichnet. 69 So die treffende Formulierung von Klesczewski, Strafrecht AT, § 7 Rn. 698. 70 Andernfalls wäre jedenfalls solange eine Strafbarkeitslücke im Gesetz anzunehmen, wie nicht begründet werden kann, daß die bloße Förderung fremden Unrechts – trotz der mit ihr verbundenen (selbst-)reflexiven Unterordnung unter den Willen des (Haupt-)Täters – kein „aliud“, sondern ein „minus“ im Vergleich mit der bestimmenden, tätergleiche Bestrafung verdienenden Einwirkung auf den anderen darstellt; zu Recht kritisch gegen ein solches Verständnis bezüglich des Verhältnisses der beiden Teilnahmeformen zueinander Hruschka, Alternativfeststellung zwischen Anstiftung und sog. psychischer Beihilfe, JR 1983, 177 (178), der für eine strikte Trennung von tatsubjektsbezogener Anstiftung und tatbezogener Beihilfe plädiert.
Gewinnabschöpfung mit Säumniszuschlag Versuch über die Rechtsnatur der Verbandsgeldbuße (§ 30 OWiG) DIETHELM KLESCZEWSKI
Nach § 30 Abs. 1 OWiG kann auch gegen bestimmte Verbände eine Geldbuße verhängt werden, wenn eine ihrer Leitungspersonen durch eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit Pflichten des Verbandes verletzt oder dessen Vermögen zu bereichern unternimmt. Diese Verbandsgeldbuße stellt im deutschen Recht ein einzigartiges Institut dar. Zwar kennt es mit der Einziehung und dem Verfall zwei Sanktionen, die sich ebenfalls auch gegen an der Tat unbeteiligte Dritte richten können.1 Doch werden diese Maßnahmen hier zur Vorbeugung einer Missbrauchsgefahr (§ 74 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 StGB, § 22 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 OWiG)2 bzw. als kondiktionsähnlicher Ausgleich3 (§ 73 Abs. 3 StGB, § 29a Abs. 2 OWiG) verhängt, während die Geldbuße immer auch der Pflichtenmahnung dient.4 Wie sich in der vor gut zehn Jahren wieder aufgeflammten Diskussion um die Einführung einer Verbandsstrafe ergab,5 verstößt eine solche Sanktion, die unbeteiligte Dritte trifft, freilich gegen das Schuldprinzip. Um die Verbandsgeldbuße vor diesem Verdikt zu retten, ist im Schrifttum zum Ordnungswidrigkeitenrecht, angeregt durch die Auseinandersetzung um die Verbandsstrafe, zum einen der Versuch unternommen worden, § 30 OWiG als Regelung einer originä1
Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeit, 2. Aufl., 2006, § 16 Rn. 2, 4. BGHSt. 19, 158; OLG Saarbrücken, NJW 1975, S. 66; Lackner/Kühl, 26. Aufl., 2007, § 74 Rn. 2; KK-OWiG/Mitsch, 3.Aufl., 2006, § 22 Rn. 5. 3 BVerfGE 110, 1; BGHSt. 31, 145; Lackner/Kühl, § 73 Rn. 1, 4b; vgl. w. KKOWiG/Mitsch, § 29a Rn. 1. 4 BVerfGE 27, 18 (33); KK-OWiG/Mitsch, § 17 Rn. 3. 5 Diese Debatte kann hier noch nicht einmal im Ansatz nachgezeichnet werden. Darstellung des Streitstandes bei Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionenrechts, Band 3: Verbandsstrafe, 2002. Die durch das BMJ eingesetzte Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems hat die Verbandsstrafe in ihrem Abschlussbericht nahezu einhellig abgelehnt, vgl. ibid., S. 351 ff. 2
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ren Verbandstäterschaft zu deuten (I. A.), während zum anderen der Rechtsgrund der Verbandsgeldbuße in einer Zurechnung fremden Unrechts erblickt wird (II. A.). Mein Beitrag unterzieht diese Ansätze eingehender Kritik und sieht den Rechtsgrund der Verbandsgeldbuße in der Perpetuierung einer durch die Organtat geschaffenen rechtswidrigen Vermögenslage, zu deren Rückabwicklung die Verbände durch Androhung eines Säumniszuschlages von sich aus bewegt werden sollen (III.). Mein Bemühen geht dabei dahin, der Verbandsgeldbuße dabei eine Deutung zu geben, die mit dem Schuldprinzip in Einklang steht, ein Grundsatz, für den der Jubilar mit seinem Werk stets eingetreten ist.
I. Die Theorie von der Verbandstäterschaft A. Darstellung Nach einer im Schrifttum vordringenden Ansicht regelt § 30 Abs. 1 OWiG die Täterschaft des Verbandes.6 Zur Begründung bezieht man sich zumeist auf die von Otto v. Gierke formulierte Theorie von der realen Verbandspersönlichkeit,7 die um Anleihen bei der Systemtheorie ergänzt wird.8 Danach sind Verbände sinnhaft strukturierte Systeme bzw. soziale Organismen, die nicht erst durch das staatliche Recht geschaffen werden und dementsprechend durch ihre Repräsentanten wie eine natürliche Person delinquent handeln können. 1. Ausgangspunkt der Theorie von der realen Verbandspersönlichkeit ist die Überwindung einer Aporie. Nach der Fiktionstheorie F. K. v. Savignys9 sind juristische Personen rechtliche Fiktionen. Für sie gilt der Rechtssatz: societas delinquere non potest.10 Otto von Gierke gelang es, das Dilemma aufzuzeigen, in welches die Fiktionstheorie führt: Vertretung setzt Vollmacht voraus. Tritt eine juristische Person erst durch das Handeln ihres Vertreters ins Leben, kann dieser von ihr nicht zuvor bevollmächtigt worden sein. Ist dem so, stellt sich die Frage, warum sein Handeln ein Handeln
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KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 8 ff. m. w. N. O. v. Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, Nachdruck Darmstadt 1954, S. 15, 16 ff., 18, 20 f., 24, 26; ders.: Deutsches Privatrecht I, 1895, S. 470, 473, 487; ders.: Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, S. 21 f., eingehend dargestellt bei K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2002, § 8 II. 3. 8 KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 8, verweist insbes. auf Krieger, Einführung in die allgemeine Systemtheorie, 1996, S. 60 ff. 9 F. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, 1840, Bd. II, S. 2, 235 ff. 10 F. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, 1840, Bd. II, S. 312 f. 7
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der juristischen Person sei.11 Darüber hinaus lässt sich Stellvertreterhandeln nach dieser Theorie nur im Rahmen des Rechts einer juristischen Person zuordnen.12 Dann aber lässt sich eine Haftung der juristischen Person weder für die Nichterfüllung eines Vertrages noch für ein Delikt ihrer Organe begründen. 2. Will man diesen Widerspruch vermeiden, muss man – Otto v. Gierke zufolge – den Verband als sozialen Organismus ansehen. Er sieht in ihm eine reale Persönlichkeit, die sich aus mehreren natürlichen Personen zusammensetzt13 und sich in deren Zusammenwirken wie ein Lebewesen trotz Wechsel dieser seiner Teile selbst erhält.14 Der Verband äußere sich in den Handlungen seiner als Organe fungierenden Mitglieder.15 Die Glieder und das Ganze konstituierten sich wechselseitig.16 Die Verbandspersönlichkeit sei einesteils mehr als die Summe ihrer Organisationsakte, könne aber auch nur in ihnen als Einheit existieren.17 Der einzelne Mensch als Organwalter habe nicht nur eine Gliedstellung im Verband, sondern bleibe auch Individuum mit Eigenleben.18 Dem entspreche eine Doppelnatur seines Handelns: Es sei sowohl Ausdruck seiner Persönlichkeit als auch Äußerung des Verbandswillens. Begehe ein Mensch in seiner Rolle als Organwalter ein Verbrechen, dann drücke sich darin folglich nicht nur sein individueller rechtsfeindlicher Wille aus. Vielmehr äußere sich darin auch der zu einem Rechtsbruch entschlossene Verbandswille.19 3. Mit Bezug auf die Systemtheorie wird darüber hinaus geltend gemacht: Soziales Handeln sei Sinnausdruck. Daher lasse sich nicht nur menschliche Tätigkeit, sondern auch das Verhalten sozialer Systeme als Handlung verstehen.20 Da soziale Systeme sich durch spezifische Sinnselektion konstitu11
O. v. Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, S. 625. Dazu auch Martinek, Repräsentantenhaftung, 1979, S. 26 f. 13 O. v. Gierke, Das Wesen menschlicher Verbände, S. 15, 20 f.; daran anschließend Hafter, Delikts- und Straffähigkeit der Personenverbände, 1903, S. 47 ff. 14 O. v. Gierke, Das Wesen menschlicher Verbände, S. 22. 15 O. v. Gierke, Das Wesen menschlicher Verbände, S. 23 ff.; ders., Deutsches Privatrecht I, S. 472; ders.: Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, S. 624. 16 Gurwitsch, Logos 11 (1922), S. 86 (102 ff.). 17 O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht Band 2, Nachdruck Graz 1954, S. 906. 18 O. v. Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, S. 707. 19 O. v. Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, S. 768.; ähnlich Hafter, Delikts- und Straffähigkeit, S. 103 ff. 20 KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 10 (mit Verweis auf Krieger, Einführung in die allgemeine Systemtheorie, 1996, S. 60 ff.); von einer Handlungsfähigkeit des Verbandes gehen – freilich von einem anderen Ansatz ausgehend – auch aus: Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz und Unternehmensstrafe, 1994, S, 185; Hirsch, Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden, 1993, S. 12; Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, 1993, S. 189 f. 12
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ierten, sei neben einer individuellen, auch eine kollektive Sinnkonstitution denkbar, folglich auch eine fehlerhafte kollektive Sinnsetzung, sprich: eine Verbandsschuld.21 Dementsprechend könne man nicht nur das Individuum, sondern auch den Verband für ein Delikt ahnden.22 Diese Deutung lasse sich grundsätzlich auch mit § 30 Abs.1 OWiG vereinbaren.23
B. Kritik 1. Diese systemtheoretische Auffassung überzeugt nicht.24 Zwar trifft es zu, dass die Systemtheorie Verbände als sich selbst erzeugende Handlungssysteme beschreibt, die sich auch im Wechsel ihrer Elemente erhalten.25 Gleichwohl konstruiert die Systemtheorie die Selbstkonstitution sozialer Systeme nach dem Modell funktional-kybernetischer Regelkreise. Systeme beruhen schon dieser Auffassung nach gerade nicht auf eigenen Bewusstseinsprozessen. Ihnen fehlt es daher an einer eigenen Fähigkeit zur Einsicht in das Recht,26 folglich an einer zentralen Voraussetzung von Schuld und Vorwerfbarkeit (§ 20 StGB, § 12 Abs. 2 OWiG). Mit Rückgriff auf die Systemtheorie lässt sich daher eine eigene Schuld des Verbandes nicht begründen.27 2. Die Verbandspersönlichkeit kann sich danach allenfalls in den Handlungen seiner Organe äußern. Dann stellt sich gerade bei willentlichen Rechtsbrüchen die Frage, warum das individuelle Verhalten zugleich auch eine Verbandshandlung ausmacht. Denn Verbände sind im Unterschied zu Menschen ursprünglich durch das Recht konstituiert,28 nicht wie diese das Recht
21 KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 11, der auf ähnliche Topoi bei anderen Autoren (Verbandsgeist [Bottke, wistra 1997, S. 241 (252), Busch, Grundfragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Verbände, 1933, S. 113] Verbandsattitüde [Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 158]) verweist. 22 O. v. Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, S. 774 f.; ähnlich KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 12 m. w. N.; vgl. w. Ehrhardt, (Fn. 20); S. 199 ff.; Hirsch, (Fn.20), S. 16 ff.; Rotberg, DJT-FS, 1960, S. 193 (203 f.); Volk, JZ 1993, S. 429 (430 ff.). 23 KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 14. 24 v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, 1998, S. 125 ff., 145 ff., 165 ff.; zust. Köhler, AT, S. 558 ff. (562). 25 Teubner, KritV 1987, S. 61 (67 f., 70); ähnlich früher auch Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2.Aufl., 1991, Rn. 6/21, 6/44. 26 So v. Freier, (Fn. 24), S. 136 ff. m. w. N. 27 So jetzt auch Jakobs, in: Lüderssen-FS, 2002, S. 571. 28 v. Freier, (Fn.24), S. 150 f.; Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1960, S. 249 ff.; Landwehr, AcP 164 (1964), S. 504 ff.
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konstituierend.29 Ein Verband lässt sich als soziale Erscheinung nur durch seine Satzung und seinen Verbandszweck identifizieren.30 Beides darf aber nicht – wie sich aus Art. 9 Abs. 2 GG, § 129 StGB, § 3 Abs. 1 VereinsG ergibt – dem geltenden Recht zuwider sein. Kann der Verbandszweck danach nicht darauf gerichtet sein, Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten zu begehen, stellt sich jedes gewollte Unrechttun eines Organwalters als ein dem Verband nicht zurechenbarer Exzess dar.31 Ferner überzeugt es nicht, gleichzeitig mit der Ahndung der Individualtat auch eine Geldbuße gegen den Verband zu verhängen. Will man den willentlichen Rechtsbruch des Organwalters nicht als Exzess ansehen, bleibt nur der Weg, im Anschluss an Otto v. Gierke die Verbandstäterschaft als die zweite Seite der Doppelnatur der Organdelinquenz zu konstruieren. Dann muss sich der Wille der Verbandspersönlichkeit in der Organhandlung „neben“ der individuellen Willenskomponente gleichsam als deren „unwillkürliches“ Element äußern. Diese Art der Identifikation des individuellen Willens mit dem Verbandswillen lässt sich jedoch nicht widerspruchsfrei durchhalten. Nach ihr ist die Repräsentation des Verbandswillens umso größer, je kleiner der individuelle Teil an ihr ausfällt. Folglich müsste die Identifikation dort vollkommen sein, wo der Organwalter selbst nicht mehr vorwerfbar, d. h. nicht willentlich handelte.32 Das höbe jedoch wegen Wegfalls des Individualwillens dessen Identifikation mit dem Verbandswillen auf.33 Darüber hinaus lässt sich dies nicht mit § 30 Abs. 1 OWiG vereinbaren. Denn diese Vorschrift setzt voraus, dass der Organwalter seinerseits eine vorwerfbare Ordnungswidrigkeit bzw. eine schuldhafte Straftat begeht. 3. Auch im Übrigen ist fraglich, ob diese Deutung des geltenden Rechts zutrifft. Schon nach dem Wortlaut von § 30 Abs. 1 OWiG reicht nicht jede Straftat oder Ordnungswidrigkeit, die eine Führungskraft in ihrer Funktion für den Verband begeht, aus, um dessen Ahndbarkeit zu begründen. Erschießt etwa der Geschäftsführer einer GmbH den genialen Konstrukteur des Konkurrenzunternehmens, stellt dies keine Anknüpfungstat im Sinne von § 30 Abs. 1 OWiG dar, da es weder zur Bereicherung des Verbandes kommt noch ihn besonders treffende Pflichten verletzt werden. Würde diese Vorschrift eine Verbandstäterschaft statuieren, wäre darüber hinaus die akzessorische Übernahme des Bußgeldrahmens der Anknüpfungstat in § 30 29 Henke, Handbuch des Criminalrechts, 1823, Bd. 1, S. 394 Fn. 10; Köstlin, System des Kriminalrechts, 1855, S. 121. 30 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 4 I 1, § 5 I 1. 31 v. Freier, (Fn. 24), S. 160. 32 v. Freier, (Fn. 24), S. 165 f. 33 Alwart, ZStW 105 (1993), S. 752 (757, 763).
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Abs. 2 S. 1 Nr. 2 OWiG überflüssig, weil es sich, wie ein Blick in die § 14 OWiG, § 25 StGB zeigt, von selbst verstünde, dass der Verband dieselbe Tat begangen hätte und folglich aus demselben Bußgeldrahmen zu ahnden wäre.34 Auch aus § 30 Abs. 5 OWiG ergibt sich, dass das Gesetz den Verband nicht als Tatbeteiligten auffasst,35 sondern als einen Dritten ansieht, weswegen der Gesetzgeber die Subsidiarität des Verfalls ausdrücklich angeordnet hat. Schließlich geht § 30 Abs. 4 OWiG davon aus, dass die Geldbuße selbstständig festgesetzt werden kann, auch wenn kein Tatbeteiligter verfolgt wird. Dementsprechend versagt das BVerfG dem Verband den Schutz vor einem Zwang zur Selbstbezichtigung.36 Das macht nur Sinn, wenn man eine Verbandstäterschaft nicht anerkennt, wie es das BVerfG ausdrücklich tut.
II. Die These von der Zurechnung von Organverschulden Nach dem herkömmlichen, wohl noch überwiegenden, Verständnis bietet § 30 OWiG die gesetzliche Grundlage, dem Verband das Verschulden seiner Leitungspersonen wie eigenes zuzurechnen.37 Die Begründung dafür fällt nicht einheitlich aus: Einesteils erschöpft sie sich in dem mehr oder weniger substantiierten Hinweis auf § 31 BGB (A.). Anderenteils wird vor allem auf ein Organisationsverschulden des Verbandes abgestellt (B.). Beide Auffassungen halten nicht nur im Ansatz der Kritik nicht stand, sie führen auch zu einer Geldbußenbemessung nach gegenläufigen Gesichtspunkten, die eine rational nachvollziehbare Begründung der Rechtsfolge nicht zulässt (C.).
34 Darüber hinaus räumt Rogall ein, dass sich § 30 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 OWiG nach seiner Theorie nicht erklären lässt, in: KK-OWiG § 30 Rn. 14. 35 Ähnlich Tiedemann, NJW 1988, S. 1169 (1173). 36 BVerfGE 95, 220 (242); vgl. w. BVerwGE 80, 299 (306); zwiespältig der BGH, der einesteils die Verbandstäterschaft nach Besatzungsrecht nicht als Verstoß gegen den ordre public ansieht, andererseits jedoch den Widerspruch zum sozialethischen Schuldbegriff feststellt, BGHSt. 5, 28 (32); m. krit. Anm. Blau, MDR 1954, S. 466 f.; Bruns, JR 1954, S. 251 (253 f.); Heinitz, JR 1954, S. 67; vgl. w. Siegert, NJW 1953, S. 528; Wilmanns/Urbach, BB 1952, S. 102 f.; dem BGH zust. v. Weber, GA 1954, S. 237. 37 BVerfGE 20, 323 (335 f.) (obiter dictum); zust. Göhler/König, 14. Aufl., 2006, Vor § 29a Rn. 12; ähnlich: Busch, (Fn. 21), S. 158 ff.; Ehrhardt, (Fn. 20), S. 179 ff., 192 ff.; Heine, Die strafrechtliche Verantwortung, von Unternehmen, 1995, S. 220 ff.; Müller, Die Stellung der juristischen Person im Ordnungswidrigkeitenrecht, 1985, S. 16 ff., 18 ff. (23); Otto, Jura 1998, S. 409 (417); Ransiek, ZGR 1999, S. 613 (652 ff.); Schroth, S. 173 ff., 184 ff., 191 ff., 203 ff.; Tiedemann, NJW 1988, S. 1169 (1171 ff.); Hetzer, EuZW 2007, S. 75.
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A. Analogie zur § 31 BGB 1. Ein Teil der Zivilrechtswissenschaft sieht § 31 BGB in der Tat als eine Norm zur Zurechnung von Fremdverschulden an.38 Daraus wird geschlossen, dass dann auch im Straf- und im Ordnungswidrigkeitenrecht der Gedanke Platz greifen müsse, dass derjenige, der die Vorteile von dem Einsatz eines Organs habe, auch die Nachteile dessen zu tragen habe.39 2. Zuzugeben ist, dass der Gesetzgeber die Schaffung des § 30 OWiG u. a. mit Hinweis auf den eben genannten Topos der Zusammenführung von Vor- und Nachteilen bei einem Rechtsträger motiviert hat.40 Gleichwohl überwiegen die Bedenken gegen die Übernahme dieser Figur in das Ordnungswidrigkeitenrecht. Im Zivilrecht dient § 31 BGB dazu, zum Zwecke des gerechten Schadensausgleichs das in einer juristischen Person oder in einer Personengesellschaft verselbstständigte Vermögen gegenüber dem Geschädigten haften zu lassen.41 Dementsprechend ist diesem naturgemäß nur einmal Ersatz zu leisten (§§ 840 Abs. 1, 422 Abs. 1 S. 1 BGB),42 dementsprechend kann der Verband seine Organe in Regress nehmen (§§ 27 Abs. 3, 713, 664-670 BGB43 bzw. §§ 840 Abs. 1, 426 Abs. 1 BGB44). Im Unterschied dazu tritt die Verbandsgeldbuße grundsätzlich neben die Strafe bzw. die Individualgeldbuße. Daraus geht hervor, dass mit Strafe und Individualgeldbuße ein höchstpersönlicher Vorwurf erhoben wird. Dies steht einer Zurechnung der Anknüpfungstat zum Verband entgegen,45 weil dieser – wie eben gezeigt – selbst nicht vorwerfbar handeln kann. Hiergegen lässt sich nicht einwenden, das Gesetz kenne auch an anderer Stelle die Zurechnung fremden Unrechttuns (§ 14 OWiG, §§ 25-27 StGB).46 Denn dort ist der Grund der Zurechnung zum Hintermann ein Steuern, Initiieren oder Unterstützen der Tat des Vordermannes, das vorwerfbar ge38 Auch wenn der Gesetzgeber sich nicht in den Streit um die Natur der juristischen Person einmischen wollte (Motive, Bd. 1, S. 103), sehen gewichtige Stimmen den § 31 BGB als Zurechnungsnorm an, Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Bd., 2. Teil, 3. Aufl., 1979 (im folgenden AT I 2), S. 381 ff.; Landwehr, AcP 164 (1964), S. 506; Martinek, (Fn. 12), S. 32; Westermann, JuS 1961, S. 333 (334); Wieacker, in: Festschrift für Ernst Rudolf Huber zum 70. Geburtstag, 1973, S. 339. 39 Göhler/König, Vor § 29a Rn. 12. 40 EOWiG, Begründung, BT-Drucks. V/1269, S. 58 f. 41 Flume, AT I 2, S. 388, 394. 42 Staudinger/Coing, 12. Auflage, 1980, § 31 Rn. 49; vgl. w. Krause, BB 2007, Beilage 007, S. 2. 43 MünchKommBGB/Reuter, 5. Auflage, 2006, § 31 Rn. 27. 44 Staudinger/Coing, § 31 Rn. 49. 45 Eingehend v. Freier, (Fn. 24), S. 95 ff., 121 ff. 46 Brender, Die Neuregelung der Verbandstäterschaft im Ordnungswidrigkeitenrecht, 1989, S. 57 f.; Ehrhardt, (Fn.20), S.184; Tiedemann, NJW 1988, S. 1169 (1172).
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schieht, wozu der Verband als solcher ja gerade nicht fähig ist. Ferner lässt sich hiergegen nicht geltend machen, der Verband habe das Organhandeln objektiv veranlasst.47 Wie dies die Haftung im Zivilrecht trage,48 so auch die Verantwortlichkeit im Ordnungswidrigkeitenrecht. Zwar trifft es zu, dass der Verband durch Einräumung von Kompetenzen und dem ZurVerfügung-Stellen von Mitteln, seinen Organen objektiv die Möglichkeit eröffnet, zu seinen Gunsten Rechtsbrüche zu begehen. Dies ist auch der tragende Grund seiner zivilrechtlichen Haftung, begründet aber allein nicht den Vorwurf einer höchstpersönlichen Verfehlung. Schließlich verfängt auch nicht der Gedanke, den Mangel eines eigenen Verschuldens des Verbandes könne man durch Zurechnung des Verschuldens des Organwalters zum Verband ausgleichen.49 Denn diese These beruht auf dem Zirkel, die Verantwortlichkeit des Verbandes auf sein Handeln zu gründen, dieses Handeln aber auf eine rechtliche Zurechnung fremder Akte.50 Was dem Verband fehlt, die Handlungs- bzw. Schuldfähigkeit und die Verantwortlichkeit, wird ihm dann nämlich zugeschrieben, gerade um ihm eine vorwerfbare Handlung, die er selbst nicht begangen hat, zuzurechnen.51
B. Die Lehre vom Organisationsverschulden 1. Weiterführend scheint demgegenüber der Ansatz von Tiedemann, die Geldbuße gegen den Verband auf ein Organisationsverschulden zu stützen.52 Wie Menschen bei Strafe dazu verpflichtet seien, sich in einem Zustand zu erhalten, in denen sie nicht aufgrund von rauschbedingter Schuldunfähigkeit dazu neigten, mit Strafe bedrohte Handlungen zu begehen (vgl. § 323a Abs. 1 StGB), so müssten auch Verbände dazu verbunden sein, Rechtsbrüche zu unterbinden, die aus ihrer Sphäre hervorgingen.53 Begehe ein Organwalter eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit, zeige dies, dass der
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Zu dieser Argumentation v. Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht, 1907, Bd. 2, S. 140 ff. Vgl. Klingmüller, Haftung für Vereinsorgane nach § 31 BGB, 1900, S. 38; Westermann, JuS 1961, S. 333 (333 f.). 49 Ehrhardt, (Fn.20), S. 178. 50 Engisch, Verhandlungen des 40. DJT, Bd. 2, 1953, S. E 24; zust. v. Freier, (Fn. 24), 1998, S. 109. 51 So v. Freier, (Fn. 24), S. 100 f. 52 Tiedemann, NJW 1988, 1169 (1172); ausführlicher: Brender, Die Neuregelung der Verbandstäterschaft im Ordnungswidrigkeitenrecht, 1989, S. 109 f. u. ö.; vgl. w. Otto, Jura 1998, S. 409 ff. 53 Tiedemann, NJW 1988, S.1169 (1172 f.). 48
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Verband nicht genügend Vorsorge betrieben habe.54 Darin liege sein mit der Verbandsgeldbuße zu ahndendes Organisationsverschulden. Im Unterschied zum strafrechtlichen Schuldbegriff lasse sich die Kategorie der Vorwerfbarkeit auch auf Verbände anwenden. Denn sie knüpfe nicht wie diese an eine persönliche sittliche Fehlleistung an.55 Schließlich könnten mit der in § 30 OWiG vorgesehenen Sanktion alle Zwecke erreicht werden, die auch sonst mit der Geldbuße verfolgt würden.56 2. Auch diese Ansicht vermag jedoch letztlich nicht zu überzeugen. Zwar trifft es zu, dass das heutige Wirtschaftsleben immer weniger von Einzelkaufleuten, sondern immer mehr von Kapital- und Personengesellschaften geprägt wird.57 Indem diese miteinander konkurrieren, schaffen sie auch gegenseitig die Gefahr, dass ihre Organe um der Gewinnerzielung willen zu Straftaten und Ordnungswidrigkeiten neigen.58 Das rechtfertigt es auch, gerade den Verband zum Adressaten von Aufsichtspflichten gegenüber seinen, für ihn handelnden Bediensteten zu machen.59 Daraus lässt sich freilich nur herleiten, dass er mit seinem Vermögen für die von seinen Leitungspersonen begangenen Taten haftet. Ein Organisationsverschulden des Verbandes begründet dies nicht. Denn alle organisatorischen Fehlentscheidungen treten nur als menschliches Handeln in Erscheinung. Sie müssten daher ihrerseits ad infinitum als Ausdruck vorhergehenden Organisationsverschuldens eines anderen Individuums gedeutet werden.60 Zu einem originär dem Verband vorwerfbaren Handeln kommt man so gerade nicht. 3. Im Übrigen folgt auch das geltende Recht der Figur des Organisationsverschuldens nicht. Wäre es der Grund der Verbandsgeldbuße, müsste gerade auch der Einsatz einer unzurechnungsfähigen Leitungsperson einen Organisationsmangel darstellen. § 30 Abs. 1 OWiG setzt aber stets eine schuldhaft bzw. vorwerfbar begangene Anknüpfungstat voraus. Will man die Zurechnung von Exzessen als Anknüpfungstaten ausschließen, dann muss man zum einen auch den Nachweis verlangen, dass die organisatorische Fehlentscheidung für die Anknüpfungstat jedenfalls ursächlich gewor-
54 Tiedemann, NJW 1988, S. 1169 (1172); Brender, Die Neuregelung der Verbandstäterschaft im Ordnungswidrigkeitenrecht, 1989, S. 93 ff.; ähnlich Dannecker, GA 2001, S. 101 (115 ff.); Deruyck, Verbandsdelikt und Verbandssanktion, 1990, S. 163 f. 55 Tiedemann, NJW 1988, S. 1169 (1172). 56 Ibid. 57 Tiedemann, NJW 1988, S. 1169. 58 Zu diesem Zusammenhang: Bock, Kriminologie, 2. Aufl., 2000, Rn. 1054. 59 Tiedemann, NJW 1988, S. 1169 (1173). 60 Zutreffend: LK12/Schünemann, Vor § 25 Rn. 22 ff.; zust. KK-OWiG/Rogall., § 30 Rn. 6.
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den ist; zum anderen müsste es die Möglichkeit der Exkulpation geben.61 Beides sieht jedoch § 30 OWiG nicht vor.62 Liest man diese Erfordernisse de lege ferenda in diese Vorschrift hinein, dann droht entweder der eben angedeutete infinite Regress oder aber die Vorschrift wird schlicht überflüssig: Kommen Anknüpfungstaten nur als Folge von individuellen Aufsichtspflichtverletzungen in Betracht, dann droht nämlich § 130 OWiG hierfür den Verantwortlichen bereits eine Individualgeldbuße an.63
C. Widersprüchliche Bußgeldbemessung Der innere Widerspruch der beiden Auffassungen findet seinen Ausdruck in der Gegenläufigkeit der bei der Zumessung der Verbandsgeldbuße zu beachtenden Kriterien: Zum einen nähern die Rechtsprechung und der überwiegende Teil des Schrifttums die Zumessung der Verbandsgeldbuße an die der Individualgeldbuße an. Gemäß § 17 Abs. 3 S. 1 OWiG soll es danach zunächst auf die Bedeutung der Anknüpfungstat und den Vorwurf ankommen, der gegen die Leitungsperson als ihren Täter erhoben wird.64 Gegenläufig dazu sollen aber auch in diesem ersten Zumessungsschritt schon verbandsbezogene Umstände berücksichtigt werden: Daher spielt es für die h. M. eine Rolle, inwiefern der Verband Vorsorge betrieben hat, um Rechtsverstößen seiner Führungskräfte vorzubeugen.65 Dementsprechend geht die Literatur überwiegend davon aus, dass ein Organisationsmangel, der den Vorwurf gegenüber einer Leitungsperson mildert, in gleichem Maße dem Verband erschwerend zur Last zu legen ist.66 Ferner sollen wiederholte Rechtsbrüche seiner Führungskräfte nach der Literatur dazu führen, die Verbandsgeldbuße zu schärfen.67 Auch bei der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse im zweiten Schritt der Bußgeldzumessung sind gegenläufige Motive wirksam: Einesteils soll es hier grundsätzlich allein auf die Vermögenslage des Verban61 Während Tiedemann ersteres fordert (a. a. O., S. 1172), hält er letzteres für entbehrlich (a. a. O., S. 1173). 62 KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 6. 63 KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 6. 64 BGH wistra 1991, S. 268 (268 f.); OLG Hamm wistra 2000, S. 393 (394 f.); zust. Göhler/König, § 30 Rn. 36a. 65 KG WuW E OLG 4573; Göhler/König, § 30 Rn. 36a; Müller, (Fn.37), S. 82; PohlSichtermann, Geldbuße gegen Verbände. § 26 OWiG, 1974, S. 172; Rebmann/Roth/Herrmann, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 3. Aufl., 12. Lieferung, Stand April 2007, § 30 Rn. 43; ähnlich: Brender, (Fn. 48), S. 158; krit. KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 118. 66 Göhler/König, § 30 Rn. 36a. 67 Göhler/König, § 30 Rn. 36a; vgl. w. Brender, (Fn. 48), S. 157.
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des ankommen, um die Sanktion gerade für diesen fühlbar zu gestalten.68 Anderenteils will die h. M. die Auswirkungen auf die Anteilseigner nicht außer Acht lassen: Sind diese an der Anknüpfungstat beteiligt, dann will die h. M. die Folgen der Verbandsgeldbuße bei der Zumessung der Individualgeldbuße mildernd in Anschlag bringen.69 Sind sie unbeteiligt, darf die Verbandsgeldbuße diese nach h. M. nicht unangemessen hart treffen.70 In dieser Gegenläufigkeit der von der h. M. benannten Zumessungsfaktoren spiegelt sich das grundlegende Problem ihres Ansatzes: Zum einen geht es ihr einerseits darum, fremdes Verschulden dem Verband zuzurechnen. Insofern muss es ihr naturgemäß auf das Ausmaß dieses Verschuldens der Leitungsperson ankommen. Andererseits sucht die h. M. nach einem Grund, dem Verband die Delinquenz seiner Führungskräfte zuzurechnen. Hier spielen dann Aspekte für sie eine Rolle, die ihrer Tendenz nach das Ausmaß des Verschuldens der Leitungsperson mindern. Zum anderen geht es der h. M. einesteils darum, den Verband mit der Geldbuße fühlbar zu treffen. Deswegen sollen allein seine wirtschaftlichen Verhältnisse der Zumessung zugrunde liegen. Nun sind aber die geldwerten Güter des Verbandes ein Zweckvermögen der Anteilseigner, weswegen sich eine Verbandsgeldbuße auch auf diese auswirkt. Dementsprechend will die h. M. anderenteils auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Anteilseigner in die Zumessung einbeziehen. Beide Male gehen die eindeutigen Bezugspunkte verloren, so dass das Bußgeld nicht mehr rational nachprüfbar zugemessen werden kann.
III. Die Verbandsgeldbuße als Gewinnabschöpfung mit Säumniszuschlag Fasst man das Vorhergehende zusammen, ergibt sich: Einer Geldbuße gegen den Verband wegen der Anknüpfungstat einer seiner Leitungspersonen steht das Schuldprinzip entgegen. Denn Verbände können selbst nicht vorwerfbar handeln. Deswegen fehlt letztlich auch ein überzeugender Grund, ihnen das schuldhafte Handeln ihrer Führungskräfte wie eigenes zuzurechnen. Gleichwohl greift es zu kurz, wenn man deswegen eine Verbandsgeldbuße schlechthin für unzulässig hält.71 Wendet man den Blick
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OLG Hamm, wistra 2000, S. 393; wistra 2004, S. 433, zust. Göhler/König, § 30 Rn. 36a. FK-GWB/Achenbach, 64. Lieferung, Stand: November 2007, Vor § 81 Rn. 105; Göhler/König, § 30 Rn. 29. 70 Göhler/König, § 30 Rn. 36a; differenzierend KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 120. 71 So v. Freier, (Fn. 24), S. 225 f.; Jescheck/Weigend, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl., 1996, § 23 VII. 3; Bedenken gegen § 30 OWiG auch bei: Alwart, ZStW 105 (1993), S. 752 (765 ff.); Deruyck, (Fn. 56), S. 122; Kaiser, Verbandssanktionen des Ordnungswidrigkeiten69
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weg von der Anknüpfungstat und hin zu den Folgen, die ihren Verbandsbezug herstellen, lässt sich eine verfassungsrechtlich zulässige Sinngebung für die Verbandsgeldbuße entwickeln: Sie ist eine mit einem Säumniszuschlag versehene Gewinnabschöpfung.
A. Grundlegung Paradigmatisch für den Perspektivenwechsel ist, dass § 30 Abs. 3 OWiG mit seinem Verweis auf § 17 Abs. 4 OWiG bei der Verbandsgeldbuße vor allem die Funktion der Gewinnabschöpfung akzentuiert.72 Dem korrespondiert es, dass gerade die Bereicherung des Verbandes durch das Handeln seiner leitenden Personen den Verbandsbezug ihrer Taten ausmacht, § 30 Abs. 1 2. Hs., 2. Var. OWiG. Nun stellt das Einbehalten dieses Vermögensvorteils einen Unrechtssachverhalt dar, der zu dem der Anknüpfungstat hinzukommt. Es ist Perpetuierungsunrecht im Sinne der Anschlussdelikte (namentlich: §§ 257, 259 StGB).73 Entstehung und Aufrechterhaltung dieses Zustandes sind dabei gerade deswegen dem Verband gemäß § 31 BGB zuzurechnen, weil und soweit eine Leitungsperson, d. h. einer seiner „verfassungsmäßig berufenen Vertreter“ die Tat schuldhaft begangen hat.74 Zwar kann dem Verband dieses Perpetuierungsunrecht ebenso wenig höchstpersönlich zum Vorwurf gereichen wie die Anknüpfungstat. Doch ist er dafür verantwortlich, diesen Unrechtszustand durch umgehende Auskehrung der Bereicherung von sich aus zu beheben. Dies deshalb, weil das schuldhafte Handeln und das Wissen eines seiner Leitungspersonen als verfassungsmäßig berufener Vertreter dem Verband gemäß § 31 BGB zugerechnet werden.75 Demgegenüber stellt die Aussicht der Anordnung des Verfalles und ihrer Vollstreckung keinen hinreichenden Anreiz dar, den Vermögensvorteil von sich aus zu erstatten. Denn dem Verband wird hierdurch nur das genommen, was ihm zugeflossen ist. Will man den Verband von sich aus dazu bewegen, die Bereicherung herauszugeben, muss man eine Sanktion gegen ihn verhängen, die den durch die Tat erlangten wirtschaftlichen Vorteil übersteigt. Eine solche, unabhängig von individuellem Verschulden zu verhängende Rechtsfolge kennt § 240 Abs. 1 AO. Wie dort der Steuerrechts, 1975, S: 93 ff.; Pohl-Sichtermann, (Fn. 57), S. 33 ff., 39, 45 ff.; Schmitt, in: Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag hrsg. v. Warda u. a., 1976, S. 877 (878 ff.). 72 Darauf weist besonders hin: BVerfGE 95, 220 (242). 73 Otto, Grundkurs Strafrecht. Die einzelnen Delikte, 7. Aufl., 2005, § 56 Rn. 1 ff.. allgemein zu dieser Unrechtsform: Klesczewski, ARSP Beiheft 66 (1997), S. 77 (96 f.). 74 Zur Zurechnung nach § 31 BGB: RGZ 78, 347 (353 f.); BGHZ 41, 282 (287); BGH, NJW 1984, S. 1953; näher: K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 10 V 2. 75 BGHZ 49, 19 (21).
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pflichtige durch die Androhung des Säumniszuschlages von sich aus zum rechtzeitigen Zahlen veranlasst werden soll,76 so lässt sich hier die Androhung einer den erzielten wirtschaftlichen Vorteil übersteigenden Geldbuße in § 30 OWiG als ein Mittel verstehen, den Verband dazu zu bewegen, den aus der Tat gezogenen Gewinn unverzüglich von sich aus auszukehren.
B. Vereinbarkeit mit dem geltenden Recht Der eben entwickelte Ansatz steht auch mit dem geltenden Recht in Einklang. 1. Wie bereits angedeutet, lässt sich mit diesem Ansatz begründen, warum § 30 Abs. 1 OWiG gerade auf eine vorwerfbare Anknüpfungstat einer Leitungsperson abstellt. Um den Anspruch gegen den Verband zu begründen, die ungerechtfertigte Bereicherung unverzüglich von sich auszukehren, bedarf es der Zurechnung der Bösgläubigkeit bezüglich des erlangten Vorteils zum Verband im Zeitpunkt der Anknüpfungstat. Dies ist nur denkbar, wenn überhaupt jemand vorsätzlich oder grob fahrlässig für den Verband gehandelt hat.77 Folglich muss die Anknüpfungstat schuldhaft bzw. vorwerfbar ins Werk gesetzt worden sein. Des Weiteren setzt die Wissenszurechnung nach § 31 BGB voraus, dass ein „verfassungsmäßig berufener Vertreter“ für den Verband gehandelt hat. Verfassungsmäßig berufene Vertreter sind dabei nur diejenigen, denen allgemeine Betriebsregelung und Handhabung, bedeutsame, wesensmäßige Funktionen des Verbandes zur selbständigen, eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen sind, so dass sie den Verband auf diese Weise repräsentieren.78 Dieser, vom BGH näher konturierte Begriff entspricht im Wesentlichen dem des leitenden Angestellten i. S. v. § 5 Abs. 3 BetrVG.79 Daraus erhellt, warum die Anknüpfungstat nur von einer Leitungsperson des Verbandes begangen werden kann.80 2. Ferner ist nun einsehbar, warum diese Vorschrift den Verbandsbezug u. a. in der Bereicherung des Verbandes erblickt. Darüber hinaus spricht es nicht gegen die hier entwickelte Auffassung, dass § 30 Abs. 1 2. Hs. 1. Var. OWiG den Verbandsbezug auch in der Verletzung betriebsbezogener 76 BFHE (GS) 117, 352; BFHE 61, 251; 110, 318; 116, 87; 143, 512; 184, 193; vgl. w. Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl., 2008, § 21 Rn. 363. 77 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 10 V 1. 78 BGHZ 49, 19 (21); BGH, VersR 1962, S. 664; RGZ 117, 61 (64); 157, 228 (235 ff;) 163, 21, (29 f.). 79 Palandt/Heinrichs., BGB, 2008, § 31 Rn. 6; MünchKommBGB/Reuter, Bd. 1/I, 5.Aufl. 2006, § 31 Rn. 20. 80 Zu diesem Oberbegriff von § 30 Abs. 1 Nr. 1-5 OWiG: Achenbach, wistra 2002, S. 443; vgl. w. Eidam, StraFo 2003, S. 299; ders., wistra 2003, S. 447.
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Pflichten erblickt. Sind dem Verband eigens Verbindlichkeiten auferlegt, dienen sie dazu, ihn dazu anzuhalten, fremde Rechtsgüter nicht zu gefährden. Die verlässliche Überwachung von Gefahren, die dem Betrieb des Verbandes entstammen, erfordert den Einsatz von Personal und Mitteln und erzeugt so besondere Aufwendungen, die der Verband zu tragen hat. Ersparte Aufwendungen stellen aber genauso wie eine positive Bereicherung einen wirtschaftlichen Vorteil dar.81 Hier wie dort besteht daher ein Grund, den Verband dazu zu bewegen, den Ertrag von sich aus auszukehren. Nicht zuletzt wird damit klar, warum § 30 Abs. 3 OWiG mit seinem ausschließlichen Verweis auf § 17 Abs. 4 OWiG die Funktion der Gewinnabschöpfung besonders herausstellt, dagegen die Zumessungskriterien von § 17 Abs. 3 OWiG nicht in Bezug nimmt. 3. Gegen die hier vorgetragene Ansicht spricht auch nicht, dass der Gesetzgeber mit der Geldbuße als Rechtsfolge in erster Linie die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten bezweckt, § 1 Abs. 1 OWiG.82 Hier hat er die Individualgeldbuße vor Augen, wie ein Vergleich dieser Vorschrift mit § 30 OWiG ergibt. Während dort die Geldbuße ausdrücklich als ahndende Rechtsfolge für vorwerfbares ordnungswidriges Handeln angesprochen wird, geht es hier mit keinem Wort um die Ahndung von Unrecht. Auch die systematische Auslegung weist in diese Richtung: Mit seinem ausschließlichen Verweis auf den vierten Absatz von § 17 OWiG stellt § 30 Abs. 3 OWiG die Gewinnabschöpfungsfunktion der Verbandsgeldbuße ganz in den Vordergrund.83 Des Weiteren stehen auch die Rechtsfolgenanordnungen in § 30 Abs. 2 OWiG dem hier entwickelten Ansatz nicht entgegen. Zwar trifft es zu, dass der Gesetzgeber mit ihnen zum Ausdruck bringen wollte, dass sich die Zumessung der Geldbuße nach dem Ausmaß des Verschuldens der Leitungsperson richten soll.84 Doch findet sich diese Vorstellung des Gesetzgebers nicht eindeutig im Gesetz wieder. Zum einen statuiert § 30 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 OWiG naturgemäß eigene Bußgeldrahmen für Straftaten als Anknüpfungstaten. Zum anderen folgt auch aus dem in Nr. 2 enthaltenen Verweis auf die Bußgeldrahmen der als Ordnungswidrigkeit einzugruppierenden Anknüpfungstat nicht, dass die Vorwerfbarkeit der handelnden Leitungsperson Richtpunkt für die Zumessung der Verbandsgeldbuße sein kann oder gar muss.85 Zum einen widerspricht dies, wie dargetan, dem höchstpersönli81
BGHZ 20, 270 (275). Näher: KK-OWiG/Mitsch, § 17 Rn. 4, 8 f. 83 Darauf stellt besonders ab: BVerfGE 95, 220 (242); krit. KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 13. 84 EOWiG, BT-Drs. V/1269, S. 62. 85 So aber die überwiegende Ansicht: FK-GWB/Achenbach, § 81 Rn. 345; KKOWiG/Rogall, § 30 Rn. 115, Rebmann/Roth/Herrmann, § 30 Rn. 43; Wegner, wistra 2000, 82
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chen Charakter des Vorwurfs und führt zu einer widersprüchlichen Bußgeldbemessung. Zum anderen ist die akzessorische Rechtsfolgenanordnung nicht Fällen der Ahndung einer Beteiligung an einer Tat vorbehalten. Wie sich §§ 257 Abs. 2, 258 Abs. 3 StGB entnehmen lässt, findet sich diese Verweisungstechnik auch bei Anschlussdelikten. Die Rechtsfolgenanordnung in § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG harmoniert daher mit der Deutung dieser Vorschrift als Sanktion gegen ein Perpetuierungsunrecht des Verbandes. 4. Nur mit der hier zugrunde gelegten Ansicht, wird auch die Judikatur verständlich, nach der ein Rechtsformwechsel die Verhängung einer Verbandsgeldbuße nicht ausschließt, wenn das Unternehmen der Sache nach dasselbe geblieben ist.86 Darüber hinaus wird klar, dass gegen den Verband auch dann nur eine Geldbuße festgesetzt werden kann, wenn sich mehrere Leitungspersonen an einer Anknüpfungstat beteiligen.87 Gerade hieran zeigt sich, dass es bei der Verbandsgeldbuße nicht darum geht, dem Verband fremdes Verschulden als eigenes zuzurechnen. Denn in diesem Falle müssten wegen des mehrfachen Verschuldens folgerichtig auch mehrere Geldbußen gegen den Verband angeordnet werden. Geht man dagegen – wie hier – davon aus, dass die Geldbuße dazu dient, den Verband anzuhalten, sich von wirtschaftlichen Vorteilen zu distanzieren, die ihm aufgrund der Anknüpfungstat zugeflossen sind, versteht es sich von selbst, dass nur eine Geldbuße festzusetzen ist. 5. Schließlich lässt sich die hier vorgetragene Ansicht auch mit Sinn und Zweck der Geldbuße vereinbaren. Es hat sich eingebürgert, die Geldbuße als eine Sanktion anzusehen, welche Repression, Prävention und Gewinnabschöpfung miteinander kombiniert.88 Für die Rechtsprechung kommt dabei mit der Eigenschaft der Geldbuße, bloße Pflichtenmahnung zu sein, dem spezialpräventiven Aspekt zu Recht besondere Bedeutung zu.89 Im Unterschied zur Strafe, die wegen einer Auflehnung gegen die Rechtsordnung
S. 361 (362); zurückhaltender: Brender, (Fn. 46), S. 156 f.; Göhler/König, § 30 Rn. 36a; Korte, NStZ 2001, S. 582 (584). 86 BGH NJW 2005, S. 1381. 87 BGH, wistra 1994, S. 232 (233); zust. Göhler/König, § 30 Rn. 27b. 88 Achenbach, BB 2000, S. 1116 (1119), Schroth, wistra 1986, 158 (160); KKOWiG/Mitsch, § 17 Rn. 4. 89 BVerfGE 9, 167 (171); 22, 49 (79); 27, 18 (28); 45, 272 (289); ); zust. Cramer, Grundbegriffe des Rechts der Ordnungswidrigkeiten, Verwaltung und Wirtschaft Heft 42, 1971, S. 21; Göhler/König, Vor § 1 Rn. 5; Jescheck/Weigend, AT, § 7 V m. w. N.; Lang-Hinrichsen, JZ 1970, S. 796; Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Aufl., 1992, § 1 Rn. 35; Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeit, § 3 Rn. 7; Rebmann/Roth/Herrmann, Vor § 1 Rn. 9; Rotberg, Ordnungswidrigkeitengesetz, 5. Aufl., 1975, S. 47.
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schlechthin ein sozialethisches Unwerturteil ausspricht,90 reagiert nach Ansicht des BVerfG die Geldbuße lediglich auf einen Ungehorsam gegenüber verhältnisbedingten Vorschriften staatlicher Verwaltung.91 Diese Unterscheidung beider Sanktionen knüpft an verschiedene Arten der Verletzbarkeit unserer Rechtsordnung an.92 Höchstwert unserer Rechtsordnung ist die Würde des Menschen, Art. 1 Abs. 1 GG. Jeder Mensch ist danach Zweck an sich selbst und darf niemals zum bloßen Objekt gemacht werden.93 Die Verletzung oder Gefährdung fremder Rechtsgüter zwingt deren Inhaber einen fremden Willen auf und degradiert ihn so zum bloßen Objekt für fremde Willkür.94 Hierdurch ist das Opfer in seinem elementaren Selbstwert, seiner Rechtsfähigkeit, getroffen, weswegen es notwendig und angemessen ist, darauf mit einer tadelnden Sanktion, d. h. mit Strafe, zu reagieren. Respektieren die Menschen einander in ihrem unmittelbaren Umgang, dann ist Basis für jedwede soziale Interaktion gelegt. Für moderne Gesellschaften, die sich in der Nachfolge der Französischen Revolution formiert haben, ist zudem deren Trennung vom Staat kennzeichnend, eine Trennung, die in Deutschland durch den Grundrechtskatalog abgesichert wird.95 Konsequenz dessen ist, dass nicht mehr der Staat in erster Linie dafür zuständig ist, dass jedermann sein Glück finde. Durch die Grundrechte konstituiert er vielmehr eine Sphäre, in der jeder seine Persönlichkeit frei von staatlicher Bevormundung entfalten (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG) und dazu mit seinen Gütern privatnützig (Art. 14 Abs. 1 GG) verfahren darf. Das gibt jedem die Chance, durch frei gewählten Austausch von Waren und Dienstleistungen die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Dementsprechend ist es primär die Waren produzierende Gesellschaft, die aus sich heraus im Großen und Ganzen den allgemeinen Wohlstand schafft.96 Doch garantiert diese, lediglich durch wechselseitigen Eigennutz motivierte Kooperation nicht, dass damit stets auch das Gemeinwohl gesichert ist. Vielmehr bedarf dazu der staatlichen Aufsicht.97 Namentlich muss sie dafür sorgen, dass der Transport von Gütern und Personen sicher und leicht von statten geht, und dass die dem Konkurrenzmechanismus innewohnende Gefahr zur Konzentration wirtschaftlicher Macht nicht zu einem Marktversagen führt. Freilich dürfen 90
BVerfGE 22, 49 (80); 27, 18 (29); 27, 36 (42). BVerfGE 9, 167 (171); 22, 49 (79); 27, 18 (28); 45, 272 (289). 92 Zum folgenden auch: Klesczewski, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2008, Rn. 1 ff. 93 BVerfGE 45, 187 (227 f.). 94 Vgl. Stratenwerth, ZStW 68 (1956), S. 41 ff. 95 N. Luhmann, Grundrechte als Institutionen, 1965, S. 187. 96 Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 199, Theorie Werkausgabe (TW) Band 7 hrsg. v. Markus und Mickel, S. 353. 97 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 235, TW 7, S. 384. 91
Gewinnabschöpfung mit Säumniszuschlag
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staatliche Aufsichtmaßnahmen niemals soweit gehen, die gefahrenträchtige Interaktion seiner Bürger schlechthin zu untersagen und durch staatliche Tätigkeit zu ersetzen. Denn dies höbe die Trennung von Staat und Gesellschaft und damit die Eigeninitiative als Motor unseres Wohlstandes auf.98 Als Alternative bietet es sich stattdessen an, die Privatpersonen selbst für die Aufgabe der Gefahrenvorsorge in Dienst zu nehmen,99 indem der Staat ihnen Standards vorgibt, wie sie z. B. im Straßenverkehr miteinander möglichst gefahrlos umgehen, bzw. wie sie im wirtschaftlichen Wettbewerb miteinander konkurrieren können, ohne dass es zu Marktversagen o. ä. kommt. Nun lassen sich, um bei diesen Lebensbereichen zu bleiben, sowohl für die Ordnung des Straßenverkehrs als auch für die der Marktwirtschaft vielerlei Regelungsmodelle denken. Um allseitige Erwartungssicherheit herzustellen, muss daher der Staat eines dieser Regelungsmodelle in entsprechenden Kodifikationen (StVO, GWB) verbindlich setzen. Weil auch andere Weisen des Umgangs miteinander möglich sind,100 kommt den dergestalt in Kraft gesetzten Normen ein gewisse „Willkürlichkeit“ und „Künstlichkeit“ zu. Dem korrespondiert, dass die Adressaten dieser Normen sich deren Gehalt nicht durch Anwendung des Grundgedankens wechselseitigen Respekts, dem neminem laede (Inst. 1, 1, 3), erschließen können. Ob das Rechtsfahrgebot (§ 2 Abs. 2 StVO) oder das Linksfahrgebot gilt, lässt sich durch Gewissensanspannung allein nicht herausfinden. Sind derartige Normen nicht, bzw. nicht ohne weiteres aus sich heraus einsichtig, werden sie folglich im lebensweltlichen Umgang der Menschen miteinander typischerweise gar nicht oder nur schwer internalisiert. Damit sie überhaupt als verbindliche Verhaltensanforderungen ins Bewusstsein rücken, muss deren Übertretung mit einer Sanktion verknüpft werden, mit der ordnungsgemäßes Verhalten auch in der Perspektive eines primär eigennützig handelnden Menschen vorzugswürdig erscheint.101 Begeht jemand eine Ordnungswidrigkeit, so bringt er damit folglich nicht die Missachtung elementarer Regeln des Zusammenlebens zum Ausdruck. Vielmehr offenbart sein Verhalten typischerweise einen vorwerfbaren Mangel an Internalisierung der geltenden Gefahrenvorsorgestandards. Derartigem Verhalten muss daher mit einer Sanktion begegnet werden, die eine nachdrückliche Pflichtenmahnung enthält, die Geldbuße. 98
Vgl. dazu: Thieß, Ordnungswidrigkeitenrecht, 2002, Rn. 97. Zu Grund und Grenze der Indienstnahme Privater: BVerfGE 7, 337; 30, 292 (351 f.); 33, 240 (244); 68, 155 (171); Isensee/Kirchhof/Breuer, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 2. Aufl., 2001, § 148 Rn. 20. 100 Näher dazu: E. A. Wolff, in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, 1987, S. 137 (219). 101 Zu diesem Zusammenhang: Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 58 ff. u. ö. 99
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Diethelm Klesczewski
Wie dargestellt, kooperieren Menschen in modernen Gesellschaften vornehmlich aus Eigennutz miteinander. Sinnfällig repräsentiert wird dies im Streben nach Geld. Dementsprechend eignet sich die Anordnung der Zahlung eines den (angezielten) Nutzen übersteigenden Betrages besonders dazu, ordnungsgemäßes Verhalten in Zukunft als vorzugswürdige Alternative zu internalisieren. Daraus erhellt nicht zuletzt auch, warum die Gewinnabschöpfung (gemäß § 17 Abs. 4 S. 1 OWiG) einen integrales Element der Bußgeldzumessung darstellt. Der mit der Ordnungswidrigkeit erlangte geldwerte Vorteil bildet einen Bestandteil der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters. Dementsprechend fiele die Geldbuße nicht fühlbar für ihn aus, würde sie ihm diesen aus seiner Tat gezogenen Gewinn belassen.102 Schließlich gestatten diese Sinngebung der Geldbuße es, sie – freilich in modifizierter Form – auch gegen Verbände zu verhängen. Unser Wirtschaftsleben wird immer weniger durch Einzelkaufleute, immer mehr durch Kapitalgesellschaften geprägt. Diese Unternehmen agieren strikt nach ökonomischem Kalkül. Dementsprechend ist es für sie von maßgeblicher Bedeutung, wie sie Aufwendungen einsparen oder sonst Gewinne steigern können. Das bietet einen Ansatzpunkt, sie dadurch zu spontan rechtskonformen Verhalten anzuregen, dass ihnen durch die Androhung einer Verbandsgeldbuße in Aussicht gestellt wird, den wirtschaftlichen Vorteil103 mit Säumniszuschlag abzuschöpfen, wenn sie diesen nicht von sich aus auskehren.104 Wie die Individualgeldbuße den Täter nachdrücklich an seine Pflichten gemahnt, so gestaltet eine so verstandene Verbandsgeldbuße die Verhältnisse für den Verband dergestalt um, dass seine Leitungspersonen Anreiz genug haben, zum wohlverstandenen Vorteil des eigenen Verbandes darauf zu dringen, dass alle seine Mitglieder oder Bediensteten die dem Verband obliegenden Pflichten einhalten.105 Wie dargetan, gestattet § 30 OWiG diese analogische Sinngebung bei der Verbandsgeldbuße. Denn in ihm geht es mit keinem Wort um Ahndung von Unrecht. 102 Zu diesem, in letzter Zeit vornehmlich beim Verfall erörtertem Gedanken: Eberbach, NStZ 1987, S. 486; Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeit, § 17 Rn. 1. 103 Kehrt das Unternehmen das Erlangte von sich aus unverzüglich aus, hat die Anordnung einer Verbandsgeldbuße folglich zu unterbleiben. Den Verzicht auf die Festsetzung einer Geldbuße kennt auch die Bonusregelung des BKartA (Bekanntmachung Nr. 9/2006 vom 7. Mai 2006, abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de). Sie prämiert aber in erster Linie die Mitarbeit bei der Aufklärung bestimmter Kartellordnungswidrigkeiten, vgl. Hellmann/Beckemper, Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1032 ff. 104 Wegen der Wissenszurechnung nach § 31 BGB lässt sich auch eine Bemessung nach dem Bruttoprinzip rechtfertigen. Zu dieser Auslegung von § 17 Abs. 4 OWiG vgl. Brenner, NStZ 2004, S. 256. 105 Das bietet auch einen Anreiz für die Implementierung von Compliance-Programmen; vgl. dazu: Hauschka, BB 2004, S. 1778; Kiethe, GmbHR 2007, S. 393; Pampel, BB 2007, S. 1636.
Über grausames Töten Zur tatbestandlichen Koordination von »Tötung« und »Grausamkeit« WILFRIED KÜPER
Die hier vorgelegte, Manfred Seebode in herzlicher kollegialer Verbundenheit gewidmete Studie gilt nicht in erster Linie dem Mordmerkmal der »Grausamkeit« selbst, seinem Inhalt und seinen Voraussetzungen; sie wird sich vielmehr zentral mit den Problemen des tatbestandsmäßigen Zusammenhangs zwischen »Grausamkeit« und »Tötung« beschäftigen. Um gewissermaßen den Hintergrund dieses Themas zu beleuchten, sollen jedoch – in Form einer analytischen Problemübersicht – einige Bemerkungen zum Mordmerkmal »grausam« vorangestellt werden.
I. 1. Nach § 211 I, II StGB ist als »Mörder«, d.h. wegen Mordes,1 zu bestrafen, wer einen Menschen »grausam« tötet. Das – meist substantivisch so bezeichnete2 – Mordmerkmal der »Grausamkeit« ist bei weitem nicht in dem Maße Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung wie etwa die »Heimtücke« oder die »Verdeckungsabsicht«.3 Doch verbindet sich auch mit diesem Mordmerkmal eine Reihe von Zweifelsfragen, und es gibt dazu eine reichhaltige, wenngleich noch überschaubare Rechtsprechung sowie eine gewisse – freilich nicht besonders intensive – Diskussion in der Literatur.
1 Zur Unverbindlichkeit der gesetzlichen Täter(typus)-Bezeichnung Küper JZ 1991, 910 (912) mwN. 2 Die übliche Substantivierung solcher Merkmale im strafrechtlichen Sprachgebrauch beanstandet Grasnick JZ 2004, 232. 3 Problemübersichten dazu bei Küper Strafrecht BT – Definitionen mit Erläuterungen, 6. Aufl. 2005, S. 187 ff., 335 ff.
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Die üblichen Beschreibungen »grausamen« Verhaltens als Mordqualifikation gehen auf Entscheidungen des RG aus den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts zurück, die sich erstmals mit dem »neuen« Mordmerkmal4 zu befassen hatten.5 Dabei stützte sich das RG auf die seinerzeit anerkannte Auslegung der »grausamen Behandlung« i.S. des § 223 a II StGB a.F. (Misshandlung von »Schutzbefohlenen«).6 Im Anschluss hieran und an Urteile des OGH7 hat sich in der Rechtsprechung ein Begriff der »Grausamkeit« entwickelt, der aus einem Ensemble teils extensiv, teils restriktiv wirkender Elemente besteht. Zwar arbeitet die Judikatur bei der Anwendung der Mordqualifikation nicht stets mit dem Gesamtkontingent dieser Elemente, sondern greift häufig nur einzelne fallrelevante heraus. Nimmt man jedoch alle in der Rechtsprechung genannten Elemente zusammen, so entsteht als »voraussetzungsreichste« Begriffsbestimmung der Grausamkeit etwa die folgende: »Grausam tötet, wer dem Opfer aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt, die nach Stärke oder Dauer über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen.«8 Auch die Literatur orientiert sich bei der Bestimmung der 4 Mit den übrigen Merkmalen des § 211 II StGB eingeführt durch das Gesetz zur Änderung des RStGB vom 4.9.1941 (RGBl. I, 549). Zu historischen Vorläufern Witt Das Mordmerkmal »grausam«, 1996, S. 7 ff. und passim. Zur Entstehungsgeschichte allgemein vgl. die Hinw. bei Küper JZ 1995, 1161 f. mit Fn 30 ff.; Schroeder JuS 1984, 275 f. 5 Vgl. RGSt 76, 297 (299); 77, 41 (45); 77, 246 (248); RG JW 1944, 148. Zu dieser Mordrechtsprechung Werle Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, S. 343 ff.; Witt (Fn 4), S. 54 ff. 6 Vgl. RGSt 76, 297 (299) unter Hinw. auf RGSt 62, 160. – Zur Auslegung der »grausamen Behandlung« in § 223 a II StGB a.F. Frank StGB, 18. Aufl. 1931, § 223 a Anm. III 3 a, der im Anschluss an die Gesetzesmaterialien definierte: »Grausam ist eine Behandlung, wenn sie objektiv ganz besonders schwere Leiden verursacht, sei es durch die Intensität,...die Dauer,...die Wiederholung der Schmerzzufügung, und wenn sie außerdem subjektiv aus einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung hervorgeht.« – Zur Einführung des früheren § 223 a II StGB im historischen Kontext näher Küper Das Verbrechen am Seelenleben, 1991, S. 247 ff., mwN. 7 Vgl. OGHSt 1, 87 (90); 1, 95 (99 f.); 1, 321 (327); 1, 369 (371); 2, 113 (116); 2, 173 (174 ff.); 2, 179 (181). Zur Rechtsprechung des OGH (Oberster Gerichtshof für die Britische Zone) näher Witt (Fn 4), S. 61 ff. 8 So zuletzt wieder BGH NStZ-RR 2006, 236 (237). Vgl. ferner etwa BGHSt 3, 180 (181); 3, 264; 22, 375 (382); 49, 189 (195); BGH NJW 1971, 1189 (1190); MDR 1974, 14 (bei Dallinger); NStZ 1982, 379; NJW 1985, 334; NJW 1986, 265 (266) mit Anm. M. Amelung NStZ 1986, 265; Otto JK-StGB § 211 Nr. 14; BGH MDR 1987, 623 (bei Holtz) = BGHR StGB § 211 II – grausam 1; BGH NJW 1988, 2682 mit Anm. Frister StV 1989, 343; BGH StV 1997, 565 /566); NStZ 2005, 26 (bei Altvater); NStZ 2007, 402 (403 f.). – Die Wendung »Schmerzen oder Qualen« durchzieht die gesamte Rechtsprechung, ohne dass ein inhaltlicher Unterschied benannt wird. Statt von »Qualen« ist bisweilen von »Leiden« die Rede. Die Intensität der Beeinträchtigung wird häufig nur allgemein mit dem Hinweis auf »besondere« oder »besonders starke« Schmerzen/Qualen gekennzeichnet. Die schon auf RGSt 77, 246 (248) zurückge-
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»Grausamkeit« größtenteils an diesen Kriterien, wenngleich sie insoweit manchmal etwas eklektisch verfährt.9 Doch haben drei Elemente des traditionellen Grausamkeitsbegriffs im neueren Schrifttum deutliche Kritik erfahren: das »Gesinnungserfordernis«, die Voraussetzung, dass die Schmerzzufügung das »zur Tötung erforderliche Maß überschreiten« müsse, und die Einbeziehung »seelischer« Leiden: 2. a) In der Strafrechtsdogmatik gilt die Grausamkeit heute als sog. »unechtes Gesinnungsmerkmal«10, d.h. als ein komplexes Merkmal, welches nicht unmittelbar und ausschließlich die Motivation oder innere Einstellung des Täters bewertend kennzeichnet, sondern zugleich und primär eine objektive, vom Vorsatz umfasste Tathandlung (mit korrespondierendem Taterfolg) beschreibt, die in einer bestimmten – aus der Handlungssituation zu erschließenden – »Gesinnung« vorgenommen werden muss.11 Im Schrifttum zum Mord wird hingegen die Gesinnungskomponente der Grausamkeit mit wachsender Skepsis betrachtet. Die vordringende Kritik berührt ein noch nicht genügend ausgearbeitetes Spezialproblem des Mordmerkmals, zu dem hier nur einige kursorische Anmerkungen möglich sind.12 Leitaspekt der
hende Maßbestimmung, dass die Schmerzen »über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen« müssen, findet sich ausdrücklich oder der Sache nach z.B. in BGHSt 3, 264; 22, 375 (382); 49, 189 (195); BGH MDR 1987, 623 (bei Holtz); StV 1997, 565 (566). 9 Vgl. aus dem Schrifttum Arzt in: Arzt/Weber, Strafrecht BT, 2000, § 2 Rn 51; Eser in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 211 Rn 27; Gössel in: Gössel/Dölling, Strafrecht BT 1, 2. Aufl. 2004, § 4 Rn 120 ff.; Horn in: SK-StGB, 6. Aufl. 2000, § 211 Rn 40 ff.; Kindhäuser Strafrecht BT I, 3. Aufl. 2007, § 2 Rn 31 f.; Krey/Heinrich Strafrecht BT 1, 13. Aufl. 2005, Rn 41; Küpper Strafrecht BT 1, 3. Aufl. 2007, Teil I § 1 Rn 50; Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 211 Rn 10; Mitsch JuS 1996, 213 (214 f.); Otto Strafrecht BT, 7. Aufl. 2005, § 4 Rn 36; Rengier Strafrecht BT II, 8. Aufl. 2007, § 4 Rn 44; Schroeder in: Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, 9. Aufl. 2003, § 2 Rn 47; Tröndle/Fischer StGB, 54. Aufl. 2007, § 211 Rn 23; Wessels/Hettinger Strafrecht BT 1, 31. Aufl. 2007, Rn 102. – Vgl. auch den Definitionsvorschlag bei Küper (Fn 3), S. 182. 10 Vgl. etwa Frister Strafrecht AT, 2006, 8/32; Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 8/97 f.; Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 42 II 2 a; Kelker Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht, 2007, S. 164; Lenckner/Eisele in: Schönke/Schröder (Fn 9), Vorbem. §§ 13 ff. Rn 122; Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn 79; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2004, § 8 Rn 147 ff.; Wessels/Beulke Strafrecht AT, 37. Aufl. 2007, Rn 422. – Als überholt gilt Schmidhäusers Konzeption eines »echten«, rein subjektiven Gesinnungsmerkmals (Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 1958, S. 238 ff.). 11 Stratenwerth in: FS H. von Weber, 1963, S. 171 (173): »Die Gesinnung selbst...wird nur indirekt, in ihrer Widerspiegelung durch andere objektive oder subjektive Momente, faßbar«. 12 Für ein »Gesinnungselement« nachdrücklich Otto (Fn 9), § 4 Rn 36, und in: ZStW 83 (1971), 39 (64 f.). Kelker (Fn 10), S. 624 ff., 628, begründet ein Gesinnungserfordernis der »Grausamkeit« neuerdings unter dem Aspekt, dass es die für die »Höchstschuld« des Täters erforderliche »umfassende Herabwürdigung des Opfers« als »fühlendes Wesen« und damit in dessen »grundlegenden existentiellen Bedingungen als freies Subjekt« gewährleiste.
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Kritik ist der Gedanke,13 dass in einem am Rechtsgüterschutz orientierten Strafrecht die besondere Strafwürdigkeit »grausamer« Tötung als Mord bereits und allein auf den schweren Leiden beruhe, die der Täter dem Opfer vorsätzlich zufüge, und nicht auf irgendeiner verwerflichen Motivation, die ihn dabei leite. Das für die Grausamkeit notwendige subjektive Element sei bei diesem Verständnis durch das Vorsatzerfordernis hinreichend gewährleistet. Eine zusätzliche, inhaltlich weitgehend diffuse Voraussetzung der »gefühllos-unbarmherzigen Gesinnung« führe dagegen zur inakzeptablen Subjektivierung des Mordmerkmals in Richtung einer vage »moralisierenden« Gesamtbewertung von Tat und Täterpersönlichkeit sowie zu einer unzulässigen (verdeckten) »negativen Typenkorrektur«. Konfrontiert man diese abstrakt-theoretische Generalkritik mit der konkreten Wirklichkeit der Rechtsprechungspraxis, aus der das Gesinnungserfordernis stammt, so reduziert sich die Kritik erheblich. Die »unbarmherzige Gesinnung« folgt für die Rechtsprechung regelmäßig schon aus dem Bewusstsein des Täters, seinem Opfer schwere Leiden zuzufügen, und aus der Gleichgültigkeit gegenüber dieser Verletzung.14 Eine eigenständige Bedeutung erhält das Gesinnungserfordernis hauptsächlich in extremen psychischen Ausnahmesituationen, namentlich bei affektiven Entgleisungen in »hochgradiger Erregung« und bei unüberlegt»blinden« Spontanreaktionen etwa auf eine überraschende Gegenwehr des Opfers. In solchen und vergleichbaren Fällen15 geht es unter dem Aspekt der »gefühllosen Gesinnung« dann aber nicht primär um eine diffuse »Gesamtbewertung« von Tat und Täterpersönlichkeit, geschweige denn um »Moralisierung«. Es handelt sich vielmehr um objektiv »grausame« Verhaltensweisen, die zwar an sich noch »vorsätzlich« sind, bei denen der Täter jedoch die dem Opfer zugefügten Verletzungen nicht mehr im vollen Gewicht ihrer Grausamkeit deutlich wahrnimmt.16 In derartigen Ausnahmelagen bleibt das für eine Bestrafung wegen Mordes notwendige Höchstschuldmaß – der »Verwerflichkeitssuperlativ«17 – aus kognitiv13 Vgl. zur – im Folgenden kurz zusammengefassten – Kritik Frister StV 1989, 343 (345); Grünewald Jura 2005, 519 (522); Kargl StraFo 2001, 365 (371); Neumann in: NK-StGB, Bd. 2, 2. Aufl. 2005, § 211 Rn 78 f.; Rüping JZ 1979, 617 (620); Hartmut Schneider in: MünchKomm-StGB, Bd. 3, 2003, § 211 Rn 120 f.; Witt (Fn 4), S. 147 ff. Vgl. auch AE-StGB, BT, 1. Halbbd., 1970, Begründung zu § 100 II Nr. 3, S. 19. 14 In dieser Richtung mehr oder weniger deutlich schon BGHSt 3, 330 (333), ferner etwa BGH NStZ 1981, 388 (bei Eser); NStZ 1982, 379 f.; MDR 1987, 623 (bei Holtz); NJW 1988, 2682; NStZ 2005, 26 (bei Altvater). 15 Vgl. hierzu BGH MDR 1970, 383 (bei Holtz); NStZ 1981, 388 (bei Eser); NStZ 1982, 379 f.; MDR 1987, 623 (bei Holtz); StV 1997, 565 (566); NStZ 2001, 647. Vgl. auch bereits RGSt 76, 297 (299); OGHSt 1, 369 (371 f.); 2, 113 (116); 2, 173 (177); BGHSt 3, 264. 16 Vgl. zuletzt den »Fall Dennis«, BGH NStZ 2007, 402 (404), in dem der BGH bei der »Gesinnungsprüfung« die Frage stellt, ob den Angeklagten aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur das schwere Leiden des Kindes »tatsächlich bewusst« war. 17 Schmidhäuser in: FS Reimers, 1979, S. 445 (452).
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emotionalen Gründen deshalb zweifelhaft. Jedenfalls in diesen Grenzfällen eines »unvollkommenen Grausamkeitsvorsatzes« erfüllt das Gesinnungserfordernis als Schuldkorrektiv – das man »Typenkorrektur« nennen mag – eine grundsätzlich berechtigte restriktive Funktion.18
b) Die Kritik an dem traditionellen Schwerekriterium,19 dass die dem Opfer zugefügten Schmerzen über das »für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen« müssen,20 betrifft weniger die Ablehnung dieses Maßstabes als vielmehr dessen angemessene Deutung. Denn anders, als es die ursprüngliche Fassung nahelegt,21 kann das Kriterium nicht den Sinn haben, dass die konkret-schmerzvolle Tötungshandlung einer »Erforderlichkeitsprüfung« daraufhin zu unterziehen wäre, ob der Täter statt der zur Erfolgsherbeiführung tatsächlich vollzogenen Tötungsart die »Wahl« einer weniger schmerzhaften Begehungsweise hatte, von der er keinen Gebrauch gemacht hat:22 mit der Folge, dass die reale »Grausamkeit« des Verhaltens gewissermaßen normativ-kontrafaktisch zu verneinen wäre, wenn für den Täter im Einzelfall diese Alternative nicht bestand oder er sie nicht erkannt hat. Eine solche Erforderlichkeitsbeurteilung nach dem Prinzip (der Überschreitung) des konkret »relativ mildesten Mittels« führt in die Absurdität. Fügt der Täter dem Opfer bei der Tötung besonders schwere Leiden zu, so lässt sich die Grausamkeit nicht deshalb verneinen, weil er »situativ über keine mildere Alternative verfügt hat«,23 wie andererseits »Grausamkeit« nicht schon damit begründet werden kann, dass der Täter kein verfügbares milderes Tötungsmittel »gewählt« hat.24 Die Überschreitung des »erforderlichen Maßes« ist daher nur eine rhetorische Formel für den Befund, dass das 18 Aus den im Text angedeuteten Gründen dürfte dies auch in den »Affektfällen« einer – auf die Schuldfähigkeit generell bezogenen – Anwendung allgemeiner Regeln über die Beachtlichkeit (und Vermeidbarkeit) von Affektentladungen vorzuziehen sein. Anders aber Jähnke in: LK, 11. Aufl. 2001, § 211 Rn 55; Schneider (Fn 13), § 211 Rn 120; Witt (Fn 4), S. 137. – Zur schuldmindernden Bedeutung von Affekten beim Mord, unabhängig von § 21 StGB, in anderem Zusammenhang grundsätzlich Köhler GA 1980, 121 (130 ff.). 19 Vgl. die Hinw. in Fn 8. 20 Kritisch dazu etwa Frister StV 1989, 344; Kargl StraFo 2001, 371; Neumann (Fn 13), § 211 Rn 75; Schneider (Fn 13), § 211 Rn 112; Schroeder (Fn 9), § 2 Rn 47; Witt (Fn 4), S. 72 f. Vgl. auch Jähnke (Fn 18), § 211 Rn 54; Kindhäuser (Fn 9), § 2 Rn 32. 21 Vgl. RGSt 77, 246 (248): »nicht erforderlich, um den Tod herbeizuführen«. Vgl. auch BGHSt 22, 375 (382): »über den Tötungszweck hinausgehende Schmerzen«. 22 Hierzu sehr klar Frister StV 1989, 344. 23 Schneider (Fn 13), § 211 Rn 112. 24 Witt (Fn 4), S. 73. – Sehr problematisch sind daher Entscheidungen, die Erwägungen in Richtung einer »konkreten Erforderlichkeitsprüfung« anstellen. Vgl. z.B. BGH MDR 1987, 623 (bei Holtz); StV 1997, 565 (566) mit Anm. Altvater NStZ 1998, 344 f.; auch BGHSt 49, 189 (195 f.); dazu kritisch Altvater NStZ 2005, 26; Bertram NJW 2004, 2278 (2280); Zöller Jura 2005, 552 (559).
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konkrete Verletzungsverhalten dem Opfer Schmerzen zufügt, die nicht schon zwangsläufig und typischerweise als Durchgangsstadium der Vernichtung eines Menschenlebens unvermeidlich sind:25 Die Formel kennzeichnet die »grausame« Leidensverursachung gleichsam als ein durch die Tötung allein nicht konsumierbares »zweites Delikt«26 von besonderem Unwertgehalt. c) Gleichfalls aus der Rechtsprechung stammt die nahezu allgemeine Auffassung,27 dass »Grausamkeit« auch die Zufügung »seelischer Qualen« umfasst, also nicht auf physische Schmerzzufügung beschränkt ist. Die Judikatur nimmt bei der Bestimmung »grausamen« Verhaltens durchweg zugleich auf »seelische Leiden« oder »Qualen seelischer Art« Bezug, häufig nur formelhaft,28 nicht selten aber zur substantiellen Begründung – oder Mitbegründung – von Grausamkeit.29 Dabei spielt die Versetzung des Opfers in qualvolle »Todesangst« eine bedeutsame Rolle. Die bisher allerdings vereinzelt gebliebene Kritik30 beanstandet, dass seelische Leiden den physischen nicht gleichgestellt werden dürften: Anders als bei körperlicher Schmerzzufügung, die sich relativ leicht feststellen und gewichten lasse, fehle es für die »seelische Grausamkeit« an einem qualitativ und quantitativ tauglichen Bewertungsmaßstab. Auch führe die Einbeziehung von »Todesangst« zu systematischen Unstimmigkeiten im Verhältnis zum Mordmerkmal der »Heimtücke«. Die Bewertung, heimtückisches Verhalten scheide aus, wenn der Täter dem Opfer »offen-feindselig« entgegentrete, könne dadurch unterlaufen werden, dass die mit der Ankündigung des Todes verbundene Angst des Opfers dem Täter als seelisch-grausame Verletzung angelastet werde. Solche Bedenken sind ernst zu nehmen, aber letztlich nicht überzeugend. Die Verursachung seelischer Qualen bedarf keiner sekundären »Gleichstellung« mit körperlicher Schmerzzufügung; sie ist vielmehr ein gleich-ursprüngliches Moment der »Grausamkeit«, das sich – wie die Rechtsprechung zeigt – aufgrund der jeweiligen Opfersituation auch hinreichend objektivieren lässt. Häufig ergibt sich 25 In diesem Sinn überwiegend auch die in Fn 20 zitierten Autoren. Vgl. bereits BGHSt 3, 264: schwerer »als die mit der Todeszufügung an sich meist unvermeidlichen Schmerzen«. 26 Müssig Mord und Totschlag, 2005, S. 430: »gleichsam zwei Delikte«. Vgl. auch Rüping JZ 1979, 620: »selbständiges Rechtsgut«. 27 Vgl. die Hinw. in Fn 9. 28 Vgl. z.B. RGSt 77, 246 (248); RG JW 1944, 148; OGHSt 1, 95 (99); 2, 173 (175); BGH NStZ 1982, 379; NJW 1986, 265 (266); MDR 1987, 623 (bei Holtz); NStZ 2002, 24 (bei Altvater). 29 Vgl. dazu OGHSt 2, 179 (180); BGHSt 3, 264; 37, 40 f.; 49, 189 (195); BGH NJW 1951, 666 (667); NStZ 1981, 388 (bei Eser); MDR 1974, 14 (bei Dallinger); NJW 1985, 334; NStZRR 2006, 236 (237). 30 Schneider (Fn 13), § 211 Rn 115, im Anschluss an Witt (Fn 4), S. 159 ff.
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zudem das volle Ausmaß grausamen Verhaltens erst aus dem Zusammentreffen von körperlicher und seelischer Beeinträchtigung. Soweit es um die »Todesangst« geht, steht sie – auch dies zeigt die Rechtsprechung – nicht als gewöhnliche, ubiquitäre Furcht des Opfers vor dem Tod zur Debatte, sondern nur als extrem qualvoller Angstzustand, der regelmäßig Körper und Seele zugleich tangiert, wie etwa beim bewussten Hinauszögern des Todeseintritts oder bei Verlängerung des Sterbens. Es gibt also keinen Grund, »seelische Leiden« von vornherein auszuklammern, mag auch die Rechtsprechung hier in Einzelfällen zu weit gegangen sein.31
Bei den auf diese Skizze folgenden Überlegungen steht nicht mehr der Inhalt »grausamen« Handelns im Vordergrund, sondern der Zusammenhang von »Grausamkeit« und »Tötung«, das »grausame Töten«. Hierfür darf der übliche, »merkmalsreichste« Begriff der Grausamkeit vorausgesetzt werden.
II. Wenn nach § 211 I, II StGB wegen Mordes zu bestrafen ist, wer einen anderen Menschen »grausam tötet«, so kennzeichnet das Gesetz die Grausamkeit prädikativ-adjektivisch als Merkmal, Element oder Eigenschaft der – vorsätzlichen – »Tötung«. Es setzt damit eine bestimmte Beziehung, einen Zusammenhang zwischen dem »grausamen« Verhalten des Täters und der »Tötung« des Opfers voraus. Dieser Zusammenhang – nennen wir ihn »Konkordanz«32 – bedarf näherer Analyse und normativer Begründung. Er kommt unter mehreren Aspekten und mit verschiedenem Inhalt in Betracht: 1. Für sich gesehen ist »Grausamkeit« – objektiv – nichts weiter als eine besonders gravierende, schmerzhafte Verletzung der physischen oder psychischen Integrität des (lebenden) Opfers, eine schwerwiegende Misshandlung oder Gesundheitsschädigung (i.w.S.), der auf der subjektiven Tatseite ein entsprechender Vorsatz und – wenn man dies für erforderlich hält – eine »gefühllose, unbarmherzige Gesinnung« korrespondiert. Eine solche Grausamkeit ist prinzipiell auch ohne »Tötung« denkbar und möglich. In § 211 II StGB fügt sie indes das Gesetz mit der »Tötung« zur tatbestandlichen Einheit des »grausamen Tötens« zusammen. Nimmt man diese gesetzliche Verbindung in der Weise ernst, dass sie normativ als »materieller« Zusammenhang und nicht als ein nur faktisches Zusammentreffen von »Grausam31 Vgl. etwa BGH NJW 1951, 666 (667); dazu kritisch Jähnke (Fn 18), § 211 Rn 54; auch BGH NJW 1985, 334 (»Kopftuch-Fall«, insoweit nicht in BGHSt 32, 382); zur Frage der »Heimtücke« in diesem Fall näher Küper JuS 2000, 740 (742 f.). 32 Neumann (Fn 13), § 211 Rn 81: »Konkordanz von Tötung und Schmerzzufügung«.
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keit« und »Tötung« zu verstehen ist, so folgt daraus zunächst der – unbestrittene – Befund, dass eine bloße »Addition« oder »Summierung« von grausamer Verletzung (ohne Tötungsvorsatz) und daran anschließender, ihrerseits nicht mehr »grausamer« Tötung den gesetzlichen Anforderungen »grausamen Tötens« selbst bei einem engen zeitlich-räumlichen Konnex der Handlungsakte nicht genügt.33 Die nur äußere Sukzessivität von »Grausamkeit« und »Tötung« vermag auch bei faktischer (»natürlicher«) Raum-ZeitEinheit deren innere, tatbestandliche Einheit nicht herzustellen. Das gilt dann folgerichtig ebenso bei einer Sequenz von nicht-grausamer »Tötung« (Tötungshandlung) und nachfolgender »grausamer« Verletzung. Diesem doppelten Negativbefund scheint die – ebenfalls unbestrittene – positive Konsequenz zu entsprechen, dass einem i.S. des § 211 II StGB als »grausam« qualifizierbaren Verletzungsverhalten jedenfalls stets ein Tötungsvorsatz zugrunde liegen muss,34 der durch die subjektive Ausrichtung der grausamen Verletzung auf die finale »Tötung«, als unverzichtbares Mindesterfordernis eines materiellen Zusammenhanges, die innere Verbindung von »Grausamkeit« und »Tötung« begründet. Auf dieses naheliegende Minimalerfordernis wird noch zurückzukommen sein.
2. Die Konkordanz von »Grausamkeit« und «Tötung« kann aber noch aus anderer Perspektive in den Blick genommen werden. Aus ihr ergibt sich dann eine Verbindung beider Komponenten, die das Erfordernis eines die Grausamkeit leitenden Tötungsvorsatzes zwar ebenfalls enthält, darüber aber noch hinausgeht und davon analytisch zu trennen ist. Ausgangspunkt dafür ist die allem Anschein nach geradezu selbstverständliche Annahme, dass die mit der »Grausamkeit« in Bezug genommene »Tötung« nicht den Tötungserfolg, das Ereignis des Todeseintritts betrifft – denn wie sollte dieser Erfolg als solcher »grausam« sein können?35 –, sondern die Tötungshandlung. Daraus resultiert die Voraussetzung einer – freilich nicht nur 33 Betont in BGHSt 37, 40 (41) und BGH NJW 1986, 265 (266). Aus der Literatur z.B. Jähnke (Fn 18), § 211 Rn 54; Kargl StraFo 2001, 371; Krey/Heinrich (Fn 9), Rn 60; Küper (Fn 3), S. 183; Lackner/Kühl (Fn 9), § 211 Rn 10; Neumann (Fn 13), § 211 Rn 82; Schneider (Fn 13), § 211 Rn 116. 34 So explizit oder der Sache nach etwa Eser (Fn 9), § 211 Rn 27; Jähnke (Fn 18), § 211 Rn 54; Kargl StraFo 2001, 370 f.; Mitsch JuS 1996, 215; Neumann (Fn 13), § 211 Rn 82; Rengier (Fn 9), § 4 Rn 45; Schneider (Fn 13), § 211 Rn 116; BGHSt 37, 40 (41); BGH NJW 1986, 265 (266); NJW 1988, 2682; NStZ 2005, 26 (bei Altvater); NStZ-RR 2006, 236 (237); NStZ 2007, 402 (404). 35 Zum »Erfolgsunwert« der Lebensvernichtung als angeblich »fixer Größe«, die qualitativ und quantitativ nicht »steigerungsfähig« sei, vgl. Eser in: Verh. des 53. DJT, Bd. 1, Gutachten, 1980, D 31 (98 f.); Lackner Referat zum 53. DJT, 1980, M 25 (31 f.). Vgl. aber auch Müssig (Fn 26), S. 127.
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zeitlich zu verstehenden – »Synchronisierung«36, »Simultaneität« oder »Koinzidenz« von Grausamkeit und Tötung in dem Sinn, dass das »grausame« Verletzungsverhalten in einer Handlung bestehen muss, die sich – schon und noch – als tatbestandsmäßige »Tötungshandlung« qualifizieren lässt: Die »Grausamkeit« muss selbst Bestandteil dieser Tatbestandshandlung sein.37 Geht die »Grausamkeit«, auch bei zugrunde liegenden Tötungsvorsatz, der »Tötungshandlung« voraus oder folgt sie ihr erst nach, so liegt aus dieser Sicht kein »grausames Töten« vor: entweder noch nicht oder nicht mehr. Auch darauf wird zurückzukommen sein. Die hier angesprochenen Probleme eines materiellen Zusammenhangs zwischen »Grausamkeit« und »Tötung« treten namentlich in zwei Grundkonstellationen auf, die sich mit den Stichworten »vorbereitende Grausamkeit« und »nachträglich-begleitende Grausamkeit«38 kennzeichnen lassen. In der ersten Konstellation verhält es sich so, dass der Täter nur in der Vorbereitungsphase seines letztlich auf Tötung gerichteten Verhaltens »grausam« handelt, während die spätere, »eigentliche« Tötungshandlung selbst nicht mehr durch Grausamkeit qualifiziert ist. Die zweite Grundkonstellation, eine Art Umkehrung der ersten, besteht – in vorläufiger Charakterisierung – darin, dass ein »grausames« Verletzungsverhalten erst einsetzt, nachdem der Täter seine Tötungshandlung bereits abgeschlossen hat: Er quält sein zuvor schon (tatsächlich oder vermeintlich) lebensgefährlich, aber nicht »grausam« verletztes Opfer.
III. 1. Bleiben wir vorerst bei dieser zweiten Fallgestaltung, weil sie in der Beurteilung relativ einfach zu sein scheint. Auf einen Fall dieser Art bezieht sich das in BGHSt 37, 40 ff. veröffentlichte,39 grundlegende Urteil des 1. Strafsenats vom 17.5.1990, in dessen Leitsatz es heißt: »Grausames Verhalten kann den Tatbestand des Mordes nur dann erfüllen, wenn es vor Abschluß einer den tödlichen Erfolg herbeiführenden Handlung auftritt und
36 Kargl StraFo 2001, 371; Mitsch JuS 1996, 215; Schneider (Fn 13), § 211 Rn 116. Vgl. auch Küper (Fn 3), S. 183. 37 In der Rechtsprechung am deutlichsten BGHSt 37, 40 (41); BGH NJW 1986, 265 (266); NStZ 2007, 402 (404). Zur Literatur vgl. namentlich Kargl StraFo 2001, 371; Neumann (Fn 13), § 211 Rn 83; Rengier (Fn 9), § 4 Rn 45. Bereits in RGSt 77, 246 (248) ist davon die Rede, dass »die Ausführung der Tötung« dem Opfer besondere Leiden bereiten müsse. 38 Vorschlag bei Küper (Fn 3), S. 183; übernommen von Neumann (Fn 13), § 211 Rn 83. 39 Veröffentlicht auch in NStZ 1990, 491 und in BGHR StGB § 211 II – grausam 6.
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vom Tötungsvorsatz umfaßt ist.«40 Der Entscheidung lag folgender, nur knapp mitgeteilter Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte (A) schoss seinem Opfer (K) mit bedingtem Tötungsvorsatz in den Hals, »aus Wut und um ihn am Telefonieren zu hindern«; K überlebte aber den Anschlag. Nachdem A einen Fluchtversuch des K verhindert hatte, fügte er ihm »zusätzlich zu der durch den Schuß hervorgerufenen schweren, möglicherweise tödlichen Verletzung Qualen körperlicher und seelischer Art zu« (über die man vom BGH nichts Genaueres erfährt). Auf diese nachträglichen »Qualen« hatte das LG die Annahme des Mordmerkmals »grausam« und die Verurteilung wegen versuchten Mordes gestützt. Der BGH hat dieser Bewertung widersprochen, die Sache jedoch zurückverwiesen, weil das LG von seinem Standpunkt aus nicht geprüft habe, ob A »durch andere Maßnahmen den Todeseintritt mit (bedingtem) Tötungsvorsatz förderte und die Grausamkeit einer (weiteren) Tötungshandlung anhaftete«. Solche »anderen Maßnahmen« sieht der BGH in dem Verhalten des A bei der Verhinderung des Fluchtversuchs (»Zurückholen und Festhalten« bzw. »Niederschlagen« des Opfers) angesichts einer Situation, in der A »im Zeitpunkt des Quälens« davon ausging, »K könne ohne Hilfe alsbald verbluten«: »Trotzdem verhinderte er nach dem Schuß die Flucht seines Opfers und schlug es nieder.« Hier interessiert primär die Beurteilung des Ausgangssachverhalts; sie lohnt eine genauere Betrachtung.
In seiner Kritik an der Auffassung des LG setzt der BGH – mit dem LG – voraus, dass die Verletzung durch den Schuss in den Hals noch kein »grausames« Verhalten darstellt (was gewiss zutrifft). Soweit dafür das körperlich-seelische »Quälen« nach gescheitertem Fluchtversuch in Frage kommt, verweist der BGH auf einen allgemeinen Grundsatz, den er sodann konkretisiert.41 Der Grundsatz lautet: »Zum gesetzlichen Tatbestand des Mordes gehört, daß die als grausam zu bewertenden Umstände Bestandteile des Tatgeschehens sind, das als Töten i.S. des § 211 II StGB beschrieben wird.« Bei der Konkretisierung des Grundsatzes wird das »Tatgeschehen« – deutlicher – als »tatbestandsmäßige Tötungshandlung« bezeichnet und zunächst mit der Konstellation »vorbereitender Grausamkeit« in Verbindung gebracht, um die es im vorliegenden Fall allerdings nicht ging: »Was nur vor dem Beginn der objektiv und subjektiv tatbestandsmäßigen Tötungshandlung liegt – z.B. grausames Verhalten mit Körperverletzungsvorsatz –, kann in der Regel nicht Moment des (vorsätzlichen) Tötens und damit nicht von Umständen sein, durch die dem Opfer ›beim Vorgang des Tötens‹ besondere Qualen zugefügt werden.«42 Aus der Bewertung dieser Konstellation 40
BGHSt 37, 40. – Hervorhebungen (wie in diesem Beitrag allgemein) nicht im Original. BGHSt 37, 40 (41). 42 Unter Hinw. auf BGH NStZ 1986, 265 (= BGH NJW 1986, 265 [266]). 41
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wird – nun offenbar nicht mehr als bloße »Regel«, sondern als zwingende Maxime – gefolgert: »Entsprechendes gilt für ein Verhalten, das diesem Vorgang des Tötens erst nachfolgt.« Der BGH versucht sodann, die Maxime mit einer in der Judikatur häufiger verwendeten, etwas schillernden Formel zu harmonisieren, die auf ein extensives Verständnis des für die Grausamkeit relevanten »Tatgeschehens« hindeutet, vom BGH jedoch wieder auf das Erfordernis einer »tatbestandsmäßigen Tötungshandlung« zurückgeführt wird: »Zwar muß die Grausamkeit nicht notwendig in der eigentlichen Ausführungshandlung im engeren Sinne und den durch diese verursachten Leiden liegen; sie kann sich auch aus den Umständen ergeben, unter denen die Tötung eingeleitet und vollzogen wird.43 Das grausame Verhalten muß jedoch vor Abschluß der den tödlichen Erfolg herbeiführenden Handlung auftreten und vom Tötungsvorsatz umfaßt sein. Ein nur zeitlicher oder räumlicher Zusammenhang zwischen einer grausamen Körperverletzungshandlung und der Tötungshandlung, die selbst nicht grausam ist, genügt den Anforderungen an den objektiven und subjektiven Tatbestand des grausamen Tötens nicht. Das gilt auch dann, wenn der Täter weiterhin den infolge der Tötungshandlung möglichen Todeseintritt billigt.«44
Zum konkreten Sachverhalt wird anschließend bemerkt, dass die grausame Verhaltensweise noch nicht in der »Tathandlung« gelegen habe, »die den Tod verursachen konnte«. Andererseits sei nicht festgestellt worden, »daß (auch) das als grausam bewertete Handeln« – also das Quälen des Opfers – »geeignet war, den Tod des Opfers herbeizuführen oder zu beschleunigen«, oder dass es wenigstens »in dem Sinne vom Vorsatz des Angeklagten getragen war, dadurch könne der Tod eintreten, gefördert oder mitverursacht werden«. 43 Die unklare Formel geht auf BGH NJW 1951, 666 (667) zurück und bezweckt dort primär die Einbeziehung »grausamer Vorbereitungen« in den Mordtatbestand. In der Ausgangsentscheidung dient sie der Begründung, dass grausames Verhalten bereits in der Ankündigung einer Tötung (Exekution von Kriegsgefangenen) liegen könne, welche später ohne besondere körperliche Leiden »rasch vollzogen« werde: Grausamkeit als Zufügung »seelischer Leiden« während einer »beträchtlichen Zeitspanne«. In BGH NJW 1971, 1189 (1190) wird die Formel um die »Umstände« erweitert, unter denen die »Tötung eingeleitet« wird: Die vielfach grausamen Verletzungen unmittelbar vor und bei dem Abtransport von Juden in das »Vernichtungslager B.« werden in das »grausame Töten« einbezogen. In BGH NJW 1986, 265 (266) taucht die Formel dagegen als »Anhang« einer Begründung auf, die ein dem »unmittelbaren Ansetzen« zur Tötung vorausgehendes grausames Verhalten aus dem Mordtatbestand ausschließt (vgl. dazu unten IV 1). BGH NStZ-RR 2006, 236 (237) begründet mit der Formel die Annahme einer »grausamen Tötung« bei der »nicht schmerzhaften« Injektion einer InsulinÜberdosis, die zur Folge hat, dass das Opfer »während eines langsamen Sterbeprozesses Todesangst erleidet«. 44 BGHSt 37, 40 (41).
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Nach Auffassung des BGH muss somit das »grausame« Verletzungsverhalten noch Element einer Handlung sein – oder selbst in einer Handlung bestehen –, die ihre Qualität als tatbestandsmäßige Tötungshandlung daraus bezieht, dass sie objektiv (und subjektiv) zur Herbeiführung des Todes »geeignet« ist oder zumindest subjektiv von dem Vorsatz bestimmt wird, diesen Erfolg zu »fördern« oder »mitzuverursachen«. In diesem Sinn ist »grausames Töten« eine vorsätzlich-erfolgsgerichtete Tötungshandlung, deren Vorsätzlichkeit nicht durch die nachträgliche Billigung eines künftigen Erfolges ersetzt werden kann, der (wenn er eintritt) allein auf einer vorausgegangenen Tötungshandlung beruht. Praktisch bedeutet dies, dass in der Situation des beendeten Versuchs einer selbst nicht »grausamen« Tötung ein hinzutretendes, nunmehr »grausames« Folgeverhalten den Mordtatbestand nur zu erfüllen vermag, wenn es wenigstens subjektiv noch darauf gerichtet ist, den Todeseintritt zu bewirken oder zu beschleunigen. Andernfalls gehört es in den mordtatbestandlich irrelevanten Bereich des bloß räumlich-zeitlichen Zusammenhangs von »Tötung« und »Grausamkeit«. Es ist leicht zu erkennen, dass diesem Tatbestandsverständnis eine kausal-instrumentelle Deutung der »Grausamkeit« zugrunde liegt: Das grausame Verletzungsverhalten wird im Ansatz als ein für den Todeserfolg ursächliches oder mitursächliches Verhalten begriffen, bei dem freilich die subjektiv-prognostische Spiegelung der Erfolgskausalität im erfolgsbezogenen Vorsatz ausreichen soll. »Grausames Töten« ist danach – kurz gesagt – »Töten durch Grausamkeit« oder doch »Töten mittels Grausamkeit«.45 Dieses kausal-instrumentelle Verständnis zeigt sich in BGHSt 37, 40 nicht nur terminologisch in den kausalitätsorientierten Kriterien, die der BGH im Ausgangssachverhalt auf das grausame Verhalten anwendet und deren Erfüllung er in casu vermisst: »Verursachen«, »Fördern«, »Mitverursachen«, »Eignung« der Handlung zur »Herbeiführung« oder »Beschleunigung« des Todeseintritts. Es wird auch in den revisionsgerichtlichen Hinweisen für eine neue Verhandlung auf abweichender Sachverhaltsgrundlage deutlich.46 Hier wird dem Tatgericht die Prüfung aufgegeben, ob A durch »andere Maßnahmen« bzw. eine »weitere Tötungshandlung« den Todeserfolg vorsätzlich »förderte« und diesem Verhalten »die Grausamkeit anhaftete«. Dafür wird das »Zurückholen und Festhalten« bzw. »Niederschlagen« des Opfers genannt, weil es »geeignet« gewesen sei, den Tod durch Verbluten zu »fördern«, und sich deshalb als »Töten« i.S. der §§ 211, 212 StGB darstellen könne: Falls nämlich dem A »bewußt war, (auch) dadurch könne 45 In BGH NStZ 2005, 26 (bei Altvater) ist davon die Rede, dass der Täter »durch die Tötung« dem Opfer besondere Schmerzen zufügen müsse. Vgl. auch BGH NStZ 2007, 402 (403), wo von »Tatumständen« gesprochen wird, »welche es bedingen, dass dem Opfer durch die Tötungshandlung besondere Schmerzen zugefügt werden«. 46 BGHSt 37, 40 (41 f.).
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der Tod eintreten, und er dies wenigstens in Form eines bedingten Vorsatzes billigte, kann das grausame Verhalten während der dem Schuß nachfolgenden Phase einer objektiv und subjektiv tatbestandsmäßigen Tötung selbst anhaften«. Wie diese »Anhaftung« genauer beschaffen sein soll, wenn A erst »im Zeitpunkt des Quälens« von der Möglichkeit ausging, das Opfer werde infolge der Schussverletzung verbluten, bleibt dabei freilich unklar.47
2. BGHSt 37, 40 hat in der Literatur nahezu einhellige Zustimmung gefunden.48 Man wird dies auf die dogmatische Stringenz des Gedankens zurückführen dürfen, dass ein grausames Verhalten nach endgültigem »Abschluss« der vorsätzlichen Tötungshandlung auch dann kein tatbestandsmäßig »grausames Töten« mehr darstellt, wenn der Täter hierbei – nach Art eines »dolus subsequens« – den Todeseintritt billigt, auf dessen Herbeiführung sein Vorverhalten gerichtet war. Umgekehrt bleibt danach für eine »grausame Tötung« Raum, sofern der Täter mit der grausamen Handlung weiterhin »vorsätzlich tötet«, indem er z.B. den Erfolgseintritt bewusst beschleunigt, seine Tötungshandlung also noch nicht definitiv »abgeschlossen« ist. Die Konstellationen »nachträglich-begleitender Grausamkeit« scheinen in diesem Modell eine überzeugende Lösung gefunden zu haben. Doch hat die »subtile Jagd«49 nach noch irgendwie (wenigstens subjektiv) »erfolgskausalen Momenten« in der »Grausamkeit«, zu der diese Lösung zwingt, zugleich etwas Unbefriedigendes und Befremdlich-Pedantisches:50 Ein Täter, der das – jedenfalls nach seiner Vorstellung – bereits lebensgefährlich verletzte Opfer in einem grausamen Exzess noch zusätzlich quält, soll nur dann »grausam töten«, wenn in seinem Verhalten zufällig noch irgendwelche »kausalen Faktoren« auffindbar sind, die überdies häufig gar nicht feststellbar sein werden? Auch der mühsame und unklare Umweg,51 den der BGH dem Tatgericht anbietet, um über die Grausamkeit »anderer Maßnahmen« letztlich doch wieder zur Bejahung des Mordtatbestandes gelangen zu können, weckt Zweifel an der Verbindlichkeit der Kausalitätslösung. – Es bleibt damit die Frage, ob sich in Fällen »nachträglicher Grausamkeit« ein 47 Nach dem Sachverhaltsbericht des BGH schloss sich das »Quälen« an die fluchtverhindernden Handlungen nachträglich an (!?). 48 Vgl. z.B. Eser (Fn 9), § 211 Rn 27; Horn (Fn 9), § 211 Rn 42; Kargl StraFo 2001, 371; Krey/Heinrich (Fn 9), Rn 60; Küpper (Fn 9), § 1 Rn 50; Neumann (Fn 13), § 211 Rn 83; Otto Jura 1994,141 (150); Rengier (Fn 9), § 4 Rn 45; Schneider (Fn 13), § 211 Rn 166; Tröndle/Fischer (Fn 9), § 211 Rn 23 a; Witt (Fn 4), S. 71 f. – Kritisch aber Arzt (Fn 9), § 2 Rn 51; S. Walther NStZ 2005, 657 (664); dazu unten 4. 49 In Anlehnung an Ernst Jünger Subtile Jagden, 1967. 50 So verstehe ich auch die knappe Kritik von Arzt (Fn 9), § 2 Rn 51 a.E., dass »das Handlungsdetail, aus dem die Grausamkeit gefolgert wird«, nicht »seinerseits eine conditio sine qua non für den Tod des Opfers bilden muss«. 51 Vgl. oben im Text bei Fn 46, 47.
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gleichwohl noch tatbestandsmäßig grausames Töten auch für die »nichtkausale Grausamkeit« unter anderen Gesichtspunkten begründen lässt. Die unbarmherzig-gefühllose »Gesinnung«, die der Täter – wohl regelmäßig – erkennen lässt, wenn er dem verletzten Opfer seiner vorangegangenen Tötungshandlung zusätzlich schwere Leiden zufügt, ist allerdings zur Begründung nicht geeignet. Eine solche Gesinnung ist, sofern sie für die »Grausamkeit« verlangt wird, notwendige Voraussetzung dafür, dass grausames Verletzungsverhalten in subjektiver Hinsicht überhaupt vorliegt. Sie kann aber, wenn sie insoweit vorliegt, die fehlende Verbindung von »Grausamkeit« und »Tötung« nicht gleichsam überbrückend ersetzen: Eine Schmerzzufügung, die nicht zugleich als »Tötung« begriffen werden kann, wird durch die ihr zugrunde liegende gefühllose Gesinnung nicht zum »grausamen Töten«.
3. Näher liegt es, einen tatbestandsmäßigen Zusammenhang von »Grausamkeit« und »Töten« dadurch herzustellen, dass die grausame Verletzung in Beziehung zu der Unterlassungsphase des vorausgegangenen Tötungsversuchs gesetzt wird, in der die Verletzung stattfindet: als Element der Tötung durch ein pflichtwidriges Unterlassen des Täters, der aufgrund seines Vorverhaltens zum Ingerenz-Garanten geworden ist. Dabei geht es hier nicht um das Sonderproblem der »Grausamkeit durch Unterlassen«, also nicht um die Möglichkeit, »grausames« Verletzungsverhalten in der Modalität des Unterlassens – der Verhinderung oder Beendigung von Leiden – zu verwirklichen.52 Es handelt sich vielmehr um die andersartige Frage, ob grausame Verletzungsaktivität in einem der (abgeschlossenen) aktivvorsätzlichen Tötung nachfolgenden Stadium des »Unterlassens« als »grausames Töten« qualifiziert werden kann. Die »nachträglich-begleitende Grausamkeit« berührt damit – überraschenderweise – ein namentlich in neuerer Zeit vieldiskutiertes Problem der »Sukzession von Verhaltensformen«.53 Es lässt sich durch die Alternative kennzeichnen, ob die »sukzessive« Passivitätsphase einer zuvor aktiv begangenen (versuchten) Tötung im Verhältnis zu dieser Begehungstat derart verselbstständigt werden darf, dass sie – alle dafür sonst notwendigen Bedingungen vorausgesetzt – eine tatbestandsmäßige Ingerenz-Unterlassung ergibt, oder ob jene Anschlussphase als »strukturelles Unterlassen» lediglich ein unselbstständiges Unterlassungsmoment der vorausgegangenen Aktivität darstellt. Neben verschiedenen normtheoretischen Gründen für die Möglichkeit einer tatbestandlichen
52
Hierzu zuletzt eingehend Grünewald Jura 2005, 521 ff., mwN. Gründliche Aufarbeitung der Diskussion nunmehr bei Hillenkamp in: FS Otto, 2007, S. 287 ff. 53
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Verselbstständigung des Unterlassens54 wird dabei für deren Notwendigkeit manchmal das in unserem Zusammenhang bemerkenswerte Argument genannt, dass andernfalls Qualifikationsmerkmale nicht berücksichtigt werden könnten, die der Täter erst im Unterlassungsstadium der Begehungstat verwirklicht.55 Die Annahme eines »grausamen Tötens« bei nachträglicher, auf aktives Tötungsverhalten folgender Grausamkeit (der ein zumindest subjektivkausaler Bezug zum Erfolgseintritt fehlt) scheint damit von der prinzipiellen Alternative abhängig zu werden, ob die Unterlassungsphase der Begehungstat gegenüber dem aktiven Vorverhalten tatbestandlich »verselbstständigt« werden darf oder ob sie in dieser Aktivität strukturell schon enthalten ist.56 Im zweiten Fall kann die »Unterlassungsphase« ohnehin nicht Grundlage für eine Verklammerung von »Grausamkeit« und »Tötung« zu einem tatbestandsmäßig »grausamen Töten« sein. In der konkurrierenden Alternative eines verselbstständigten Unterlassungsstadiums würde »grausames Töten« jedenfalls voraussetzen, dass der grausam handelnde (Unterlassungs-)Täter – zumindest nach seiner Vorstellung – noch die Möglichkeit hat, den Eintritt des Todeserfolges abzuwenden, und die »Unterlassungslösung« müsste auf solche Konstellationen beschränkt werden. Gleichwohl bleibt bei genauerem Zusehen auch in dieser Alternative die Basis für eine tatbestandsmäßige Verbindung von »grausamer Verletzung« und vorsätzlicher »Tötung« eigentümlich defizitär. Stellt man sich nämlich auf den grundsätzlichen Standpunkt, dass die sukzessive Passivität des Täters ein im Verhältnis zur vorangegangenen Begehungstat eigenständig zu bewertendes Garanten-Unterlassen darstellt, so resultiert daraus nicht mehr als eine zeitliche Parallelität zwischen aktiver »Grausamkeit« und passiver »Tötung«, eine Grausamkeit im bloßen Zeitrahmen des Tötens durch Unterlassen – ein Befund, der eine materielle Verbindung zwischen Tötung und Grausamkeit schwerlich begründen kann.57 Verlangt die (subjektivierte) »Kausalitätslösung« für ein »grausames Töten« gewissermaßen zu viel, so enthält die »Unterlassungslösung« dafür gleichsam zu wenig.
54 Dazu namentlich Stein JR 1999, 265 (270 ff.), sowie die Nachw. bei Hillenkamp (Fn 53), S. 288 Fn 7. 55 Vgl. dazu etwa Herzberg Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 284; Krack ZStW 117 (2005), 555 (574); Hartmut Schneider NStZ 2004, 91 (92); Stein JR 1999, 268; Welp Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 336 f.; Wilhelm NStZ 2005, 177 (178). 56 Dafür zuletzt nachdrücklich Hillenkamp (Fn 53), S. 300 ff. 57 Anders mag es sich verhalten, wenn die »Grausamkeit« selbst in einem »Unterlassen« besteht oder in der Unterlassungsphase ein subjektives Mordmerkmal (Habgier, Verdeckungsabsicht) hinzukommt, das die »Unterlassung« qualifiziert.
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Solche Zweifel an der Angemessenheit einer »Unterlassungslösung« bestätigen sich unter Konkurrenzaspekten. Das vollendete oder versuchte Unterlassen, das an eine vorsätzliche Tötungshandlung anschließt, tritt bei tatbestandlicher Verselbstständigung gegenüber dem entsprechenden Begehungsdelikt auf der Ebene der Gesetzeskonkurrenz grundsätzlich zurück.58 Dies gilt zwar nicht mehr, wenn die Unterlassung einen höheren Unwertgehalt aufweist als die Begehungstat. Doch kann eine im Unterlassungsstadium aktiv verübte »Grausamkeit« den Unwertgehalt des Unterlassens nicht erhöhen. Wird aber die Unterlassung durch die Begehungstat konkurrenzrechtlich verdrängt, so kann sie andererseits nicht Grundlage einer Mordqualifikation sein.
4. Als notwendiges Substrat tatbestandsmäßig »grausamen Tötens« kann das »Töten« indessen nicht nur, wie bisher, aus der täterbezogenen Perspektive des kausal-erfolgsgerichteten Handelns oder des Unterlassens betrachtet werden, sondern auch unter dem Erfolgsaspekt des Todes, den das von einer grausamen Verletzung betroffene Opfer der vorangegangenen Tötungshandlung erleidet oder erleiden soll. Zwar ist der »Tod« als Handlungserfolg, der das Ereignis des Todeseintritts bezeichnet, inhaltlich nicht weiter differenzierbar und deshalb kein tauglicher Gegenstand prädikativer Attribute wie etwa »schwerer« oder »leichter« Tod; und insofern kann es auch keinen »grausamen Tod« geben. Dies gilt aber nicht unbedingt für den »Tod« als prozesshaft verstandenen Zustand oder Vorgang des Sterbens, der zum Todeseintritt führt. Aus der Sicht dieses »Erfolges« eröffnet sich eine neue Möglichkeit, auch die »nachträglich-begleitende Grausamkeit« unter bestimmten Voraussetzungen noch als ein tatbestandlich »grausames Töten« zu begreifen. Dabei kann an bisher wenig beachtete Überlegungen angeknüpft werden, die unlängst Susanne Walther in einem Beitrag über »Vollendungsprobleme beim Tötungsdelikt« vorgetragen hat:59
58 Vgl. statt vieler Kühl Strafrecht AT, 5. Aufl. 2005, § 18 Rn 105 a, mwN in Fn 230 b; Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 32 Rn 193 (»vorbestrafte Nachtat«). Zur Konkurrenzform Stein JR 1999, 267 mit Fn 24. 59 S. Walther NStZ 2005, 657 (663 f.). – Der systematische »Rahmen« dieser Überlegungen interessiert hier nicht näher: Walther hält es offenbar für möglich, die »Setzung der unumkehrbar tödlichen Ursache« bereits als »formelle Vollendung« des Tötungsdelikts zu betrachten, an die sich bis zum Erfolgseintritt eine Nachzone der »Beendigung« anschließe. In diesem Rahmen werden die folgenden Überlegungen angestellt. Von dem Ausgangspunkt aus, dass mit dem Eintritt des Todeserfolges das Delikt zugleich »vollendet« und »beendet« ist, scheint es die Autorin hingegen für unproblematisch zu halten, »die Möglichkeit der Qualifizierung während des andauernden, zum Tode führenden Prozesses, also in der Phase zwischen beendetem Versuch und Vollendung«, prinzipiell zu bejahen. Gerade dies bedarf jedoch der Begründung.
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Nach Walthers zutreffender Beobachtung nimmt die »Grausamkeit« im Katalog der Mordmerkmale eine gewisse Sonderstellung ein. Während etwa »heimtückisches« Handeln den Charakter eines »Tatbegehungsmittels« habe, gehe es bei der Grausamkeit »nicht notwendig um ein speziell auf die Ins-Werk-Setzung des Tötungsgeschehens gerichtetes Mittel«. Der »Vorwurf des Mordunrechts« beruhe hier weniger auf einer »Zweck-Mittel-Relation«, eher auf einer »Umstandsrelation«. Deshalb brauche die Grausamkeit nicht ursächlich für den Todeseintritt oder dessen Beschleunigung zu sein: »sie begleitet vielmehr den Tötungsvorgang bzw. geschieht im Rahmen des Vorgangs des Tötens«. Von einer solchen »Begleitung« könne aber nicht nur im Stadium zwischen Versuchsbeginn und -beendigung gesprochen werden, sondern »auch noch in der Phase zwischen Versuchsbeendigung und Erfolgseintritt«, d.h. »in der Phase des Sterbens«, in der dem Opfer beim »Vorgang des Tötens« besondere Schmerzen zugefügt werden. Jedenfalls bei »fortdauerndem Tötungsvorsatz« erscheine es deshalb – entgegen BGHSt 37, 40 – richtiger, »eine Qualifikation des Tötungsgeschehens zum Mord anzunehmen, wenn dem bereits todgeweihten Opfer noch Grausamkeiten zugefügt werden, mögen diese auch, für sich genommen, nicht (mehr) tötungskausal sein«.60
Diese Überlegungen zum grausamen Verhalten als »begleitendem« Moment des »Tötungsvorgangs« bei »fortdauerndem Tötungsvorsatz« bedürfen zwar der Präzisierung, sind aber in ihrer Grundrichtung wegweisend. Sie machen zunächst deutlich, dass »Grausamkeit« nicht oder doch nicht notwendig ein instrumentell-kausal auf den Todeserfolg gerichtetes Handeln beschreibt, sondern eine – von Walther »Umstandsrelation« genannte – spezifische Modalität des Tötens, eine Tötungsart. In dieser Eigenschaft kann das Mordmerkmal auch auf die Art des Todes bezogen werden, den das Opfer beim Vorgang des Sterbens erleidet, ohne dass in subtiler Kausalitätsperspektive nach der Mitverursachung oder Beschleunigung des Todeseintritts gefragt werden muss. Der Täter ist beim Abschluss seines Tötungsversuchs mit einem Opfer konfrontiert, das er – zumindest nach seiner Vorstellung – in Lebensgefahr gebracht und damit vorsätzlich dem »Prozess des Sterbens« ausgesetzt hat. Wenn er nunmehr im Bewusstsein dieser Todesgefahr dem Opfer weiterhin in grausamer Weise Leiden zufügt, so greift er verschärfend in einen Sterbeprozess ein, den er aufgrund seines vorsätzlichen Ausgangsverhaltens zu verantworten hat, und bereitet insofern dem (tatsächlich oder vermeintlich) tödlich verletzten Opfer zusätzlich einen »grausamen Tod«. Diese Veränderung der Todesart, der Art des Opfers zu sterben, auf der Basis der vorausgegangenen vorsätzlichen Tötungshandlung geht über eine bloße »Begleitung« im zeitlichen Rahmen des Sterbens deutlich hinaus und lässt sich deshalb als ein vorsätzlich »grausa60
S. Walther NStZ 2005, 664.
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mes Töten« begreifen. Zwar ist der »fortdauernde Tötungsvorsatz« (Walther), der dem Verhalten zugrunde liegt – und zugrunde liegen muss – keine auf die Verursachung des Todeserfolges gerichtete »instrumentelle« Tötungsintention mehr und unter diesem Aspekt als »nachträgliche Billigung« des Erfolges ein »dolus subsequens«. Versteht man jedoch die grausame Verschärfung des Sterbeprozesses als »Töten«, so fehlt ein darauf gerichteter Tötungsvorsatz bei nachträglicher Grausamkeit nicht.
IV. 1. Die Konstellationen der »vorbereitenden Grausamkeit« kennzeichnen sich strukturell dadurch, dass der eine Tötung planende – und insofern mit Tötungsvorsatz handelnde – Täter das Opfer in einem Vorstadium des unmittelbaren, »eigentlichen« Tötungsakts grausam behandelt und es sodann in einer Weise tötet, die nicht oder nicht eindeutig noch als »grausam« angesehen werden kann. Solche »vorbereitenden Quälereien« hat die Rechtsprechung ursprünglich in weitem Umfang als Fälle »grausamer Tötung« bewertet.61 Leitgesichtspunkt war dabei meist die schon erwähnte Formel, dass die »Grausamkeit« nicht unbedingt in den Leiden liegen müsse, die der Täter dem Opfer durch die »eigentliche Tötungshandlung im engeren Sinne« zufüge, sondern sich auch aus dem »Umständen« ergeben könne, »unter denen die Tötung eingeleitet und vollzogen wird«. Obwohl der BGH an dieser »Einleitungsformel« weiterhin festgehalten hat,62 entspricht die Einbeziehung grausamer Tötungsvorbereitungen indessen nicht mehr der restriktiven Linie, die seit dem Beschluss des BGH vom 4.9.l98563 in der neueren Judikatur erkennbar wird.64 Nach dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt misshandelte der Angeklagte seine »Bekannte«, Frau M., über einen längeren Zeitraum hinweg äußerst brutal, brachte ihr u.a. eine schwere Kopfverletzung bei und ertränkte sie später in der Badewanne. Es ließ sich nicht ausschließen, dass er »den Tötungsvorsatz erst nach Beendigung der längeren, erheblichen und für das Opfer sehr schmerzhaften körperlichen Verletzungen faßte«.65 Das LG hatte die »eigentliche
61
Vgl. die Hinw. oben Fn 43 sowie bereits RGSt 77, 41 (45); OGHSt 2, 179 (181). BGHSt 37, 40 (41); BGH NStZ 1986, 265 (266); NStZ-RR 2006, 236 (237). 63 BGH NJW 1986, 265 (266) mit Anm. M. Amelung NStZ 1986, 265; Otto JK-StGB § 211 Nr. 14. 64 Vgl. außer den in Fn 62 zitierten Entscheidungen auch BGH NJW 1988, 2682; StV 1997, 565 (566). 65 BGH NJW 1986, 265 (266). – Unklar bleibt in dem berichteten Sachverhalt (vgl. auch die Schilderung in BGH NStZ 1986, 265) die Bedeutung eines »bedingten Tötungsvorsatzes«, der 62
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Ausführungshandlung der Tötung« – das Ertränken – nicht mehr als »grausam« beurteilt, eine »grausame Tötung« aber daraus abgeleitet, dass dieser Tötungsakt im Zusammenhang mit den vorausgegangenen brutalen Verletzungen nur der »Schlußpunkt eines einheitlichen Geschehens« gewesen sei. Es berief sich dafür auf die »Einleitungsformel«, aus der es folgerte: »Vor dem Tötungsakt liegende körperliche Mißhandlungen stempeln, selbst wenn sie zunächst nur Verletzungen bezwecken, die Tat als grausam, sofern sie gleichsam die Tötungsart verschärfen sollen oder sonst mit der Tötung ein einheitliches...Geschehen bilden, in dem die Herbeiführung des Todes lediglich den Schlußpunkt einer Entwicklung darstellt.«66 Der BGH rügt diese Beurteilung, weil das LG mit bloßem Körperverletzungsvorsatz ausgeführte und weitere, sodann mit Tötungsvorsatz vorgenommene Tätlichkeiten zu einem »einheitlichen Geschehen zusammengefaßt« und das Merkmal der Grausamkeit »vor allem wegen der schmerzhaften – nicht mit Tötungsvorsatz begangenen – körperlichen Mißhandlungen« bejaht habe. Es folgen grundsätzliche Ausführungen, die deutlich über die Auskunft des Leitsatzes hinausgehen, dass »ein allein zeitlich, räumlich und durch die Art der Tatausführung geschaffener objektiver Zusammenhang zwischen als grausam zu bewertenden Körperverletzungshandlungen und einer selbst nicht grausamen Tötungshandlung« ungeeignet sei, »das gesamte Geschehen zu einer einheitlich als Mord zu beurteilenden Tat zu verbinden«.
Nach Ansicht des BGH67 müssen nämlich die »Tatumstände«, aus denen die Grausamkeit resultiert, »Bestandteil des Tatgeschehens« sein, »das der gesetzliche Tatbestand (§ 211 II StGB) beschreibt«. Nur ein dieser Beschreibung entsprechendes, tatbestandsmäßiges Handeln könne den Tatbestand verwirklichen. »Infolgedessen beginnt der Mord erst, wenn der Täter nach seiner Vorstellung zum Töten eines anderen Menschen unmittelbar ansetzt, also den Entschluß zum Töten gefaßt hat und ihn so betätigt, daß sein gewolltes Verhalten Akt des Tötens ist oder (ohne Zwischenakte) in das Töten des Opfers übergeht.« Was »vor dieser Betätigung« geschehe, könne deshalb »in der Regel nicht Moment des vorsätzlichen Tötens und damit von Umständen sein, die es bedingen, daß beim Vorgang des Tötens dem Opfer besondere Schmerzen oder Qualen zugefügt werden«. Ob es von dieser »Regel« Ausnahmen geben, namentlich bei »protrahierter Tötung«68 die Schmerzzufügung dem »unmittelbaren Ansetzen zum Töten vorausgeanscheinend schon vor dem Ertränken bei oder unmittelbar nach Zufügung der schweren Kopfverletzung vorgelegen hat. Dieser Punkt muss hier außer Betracht gelassen werden. 66 Unter Berufung auf die Kommentierung Jähnkes. Vgl. jetzt weiterhin Jähnke (Fn 18), § 211 Rn 54. 67 Zum Folgenden BGH NJW 1986, 265 (266). 68 Hierzu wird hingewiesen auf BGH NJW 1951, 666 (667); NJW 1971, 1189 (1190); OGHSt 2, 179 (181). Vgl. auch oben Fn 43, 61. Zum Begriff Schneider (Fn 13), § 211 Rn 117.
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hen« könne, soll freilich letztlich offen bleiben, weil jedenfalls der im Leitsatz erwähnte äußere Zusammenhang zwischen grausamer Körperverletzung und nicht-grausamer Tötungshandlung allein nicht genüge. Anschließend wird – erst jetzt – wieder auf die »Einleitungsformel« der bisherigen Rechtsprechung Bezug genommen: »Das grausame Verhalten muß sich aus den Umständen ergeben, unter welchen nach dem Tatplan die Tötung eingeleitet oder vollzogen werden soll, die also vom Tötungsvorsatz umfaßt sind.« 2. Die für die weitere Rechtsprechung maßgebende Entscheidung ist einigermaßen erstaunlich. Im Grunde ging es dem BGH nur darum, dem Tötungsakt vorausgehende Körperverletzungen (ohne Tötungsvorsatz) auch bei engem äußeren Zusammenhang mit der Tötungshandlung aus dem Mordtatbestand auszuschließen. Dafür wird indessen eine zur Beurteilung dieser Konstellation gar nicht erforderliche »Zeitregel« aufgestellt, die besagt, dass vor dem Beginn des Tötungsversuchs verübte grausame Schmerzzufügungen schlechthin, auch bei handlungsübergreifender Tötungsintention, im Tatbestand des »grausamen Tötens« unberücksichtigt bleiben müssen.69 Die »Regel« trifft damit unversehens zugleich die Fälle, in denen schon die Vorbereitung der Realisierung eines Plans zur späteren Tötung dient (»protrahierte Tötung«), also die eigentlich relevanten Konstellationen »vorbereitender Grausamkeit«. Gilt aber die Regel, dass »grausame« Handlungen, die dem unmittelbaren Ansetzen zur Tötung vorausgehen, nicht der Beschreibung des gesetzlichen Tatbestandes entsprechen, dann bleibt unerfindlich, inwiefern es von dieser Regel noch Ausnahmen geben könnte. Weniger erstaunlich ist es, dass die – als zwingender Grundsatz verstandene – »Zeitregel« in der Literatur erhebliche Zustimmung gefunden hat.70 Denn sie erfüllt offenbar eine zweifache deliktssystematische Forderung: die Anerkennung einer tatbestandsfreien – in diesem Fall: »qualifikationsfreien« – Zone der Tatvorbereitung und zudem das Postulat einer »Simultaneität« von grundtatbestandlichem Verhalten (»Töten«) und qualifizierter Begehung (»Grausamkeit«). Damit verhindert sie, dass die Grenze, die der 69
Übersehen in der Anm. von M. Amelung NStZ 1986, 265 f. Vgl. namentlich Kargl StraFo 2001, 371; Mitsch JuS 1996, 215; Neumann (Fn 13), § 211 Rn 83; Rengier (Fn 9), § 4 Rn 45; Schneider (Fn 13), § 211 Rn 117 f.; Witt (Fn 4), S. 70 f.; tendenziell auch Küper (Fn 3), S. 184. In manchen positiven Stellungnahmen wird allerdings nur die Aussage des Leitsatzes wahrgenommen und die darüber hinaus gehende »Zeitregel« vernachlässigt. – Kritisch zu der Entscheidung Otto Jura 1994, 150 (auch in: JK-StGB § 211 Nr. 14; BT [Fn 9], § 4 Rn 37), der im Anschluss an Jähnke (Fn 18), § 211 Rn 54, Vorbereitungs- und Tötungshandlung in der »unbarmherzigen Gesinnung« zur tatbestandlichen Einheit verbinden will. Dagegen jedoch mit Recht Schneider (Fn 13), § 211 Rn 118; vgl. auch bereits oben III 2. 70
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gesetzliche Tatbestand aus dieser Sicht der Einbeziehung eines »grausamen« Verhaltens setzt, das noch nicht der »Tötung« zugeordnet werden kann, durch eine pragmatische »Gesamtbetrachtung« des Handlungsablaufs nivelliert wird. Doch bleibt die Regel zugleich aus zwei Gründen unbefriedigend.71 Es liegt in der Eigenart der »Grausamkeit«, dass das Opfer häufig vor der eigentlichen Tötungshandlung, auch vor deren Versuch, besonders gequält wird, während der Tötungsakt selbst u.U. relativ schmerzfrei verläuft. Insofern ist der »Grausamkeit« ein gewisser Vorbereitungscharakter schon immanent. Außerdem zwingt die »Zeitregel« auch bei übergreifendem Tötungsvorsatz – auf den freilich für die Begründung »grausamen Tötens« nicht verzichtet werden kann – zu einer genauen Bestimmung der notorisch unsicheren Grenze zwischen Tötungsvorbereitung und Tötungsversuch; sie macht die Anwendung des Mordmerkmals strikt von dieser Abgrenzung abhängig, selbst wenn zwischen »grausamer« Vorbereitung und Todeserfolg eine Kausalbeziehung besteht. 3. Zur Überwindung dieser unbefriedigenden Situation bietet sich ein Weg an, der hier zum Abschluss wenigstens noch angedeutet werden soll. Er beruht auf der Trennung zweier Fragen: einerseits der zeitlichen Frage des Beginns einer tatbestandsmäßigen »Tötung« und andererseits der hiervon unterscheidbaren Frage, ob nach deren Beginn auch die »Grausamkeit« des bereits auf Tötung gerichteten Vorverhaltens tatbestandliche Bedeutung gewinnen kann: Als Tatbestand eines reinen Erfolgsdelikts beschreibt § 212 StGB lediglich die zurechenbare Herbeiführung des Todeserfolges durch eine beliebige Handlung; über den Beginn dieser Tötungshandlung gibt er keine Auskunft. Für die Bestimmung der Anfangsphase des tatbestandsmäßigen Verhaltens ist deshalb eine Orientierung am »unmittelbaren Ansetzen« zur Tatbestandsverwirklichung (§§ 22, 212 StGB) als Anfang der Ausführung unvermeidlich.72 Der Zeitpunkt des Versuchsbeginns bezeichnet zugleich, auch für das schließlich vollendete Delikt, den Beginn der Tötungshandlung in Differenz zur noch straffreien Vorbereitung. Ein »grausames« Handeln im Vorbereitungsstadium kann diese zeitliche Tatbestandsgrenze selbst bei 71
Auf u.U. »schwer erträgliche Ergebnisse« weist auch Altvater NStZ 2005, 22 (26) hin. Vgl. hierzu in anderem Zusammenhang näher Küper Der »verschuldete« rechtfertigende Notstand, 1983, S. 61 ff.; ferner z.B. Frister (Fn 10), 11/11; Hettinger Die »actio libera in causa«, 1988, S. 439, 462 und passim; Leupold Die Tathandlung der reinen Erfolgsdelikte und das Tatbestandsmodell der »actio libera in causa« (usw.), 2005, S. 196 ff.; Rath JuS 1995, 405 (408). – Die Orientierung des »Beginns« der Tatbestandshandlung am Versuchsbeginn spielt – worauf hier nur hingewiesen werden kann – in der weitläufigen Diskussion um die vorsätzliche »actio libera in causa« (offen oder versteckt) eine zentrale Rolle. Kritisch zu diesem Ansatz aber namentlich Herzberg JZ 1991, 856 (857 ff.) und in: FS Spendel, 1992, S. 203 (209 ff.); dazu wiederum Hettinger in: FS Geerds, 1995, S. 623 (637 ff.). 72
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übergreifendem Tötungsvorsatz nicht verändern. Hat der Täter aber mit der Tötungshandlung die Grenze zwischen Versuch und Vorbereitung überschritten, handelt er also i.S. des § 212 StGB tatbestandsmäßig, so ist auf der Grundlage dieser Tatbestandshandlung die neue Frage zu stellen, ob und inwiefern auch das bei der Vorbereitung – mit Tötungsvorsatz – verwirklichte Qualifikationsmerkmal in die tatbestandliche Bewertung (nachträglich) einbezogen werden darf.73 Da es jetzt nicht mehr um die Abgrenzung zwischen einem noch straffreien und einem schon strafbaren – auf Tötung gerichteten – Verhalten geht, sondern allein noch um die strafschärfende Qualifizierung einer bereits strafbaren Tötungshandlung, kann es hierfür kein absolutes Rückgriffs- oder Verwertungsverbot nach dem Prinzip strenger zeitlicher »Simultaneität« geben.74 Die Einbeziehung der »vorbereitenden Grausamkeit« in den Mordtatbestand wird damit zumindest dann möglich, wenn die grausame Handlung zwar noch im Vorbereitungsstadium der Tötung stattfindet, ihre Wirkungen jedoch das Opfer auch in der Zeitspanne zwischen Versuch und Vollendung treffen. Der Täter »übernimmt« bei dieser Situation den Schmerzeffekt seines grausamen Handelns gleichsam in die Phase der tatbestandsmäßigen Tötung; er tötet ein durch Grausamkeit »gezeichnetes« Opfer. Auch dies kann als »grausames Töten« begriffen werden.
73 Es geht also nicht etwa (auch) um die Einbeziehung der lediglich von einem Körperverletzungsvorsatz bestimmten »Grausamkeit«. 74 Vgl. auch das ähnliche Problem bei der »vorbereitenden Heimtücke«; dazu Küper (Fn 3), S. 192, und in: JuS 2000, 743 f.; jew. mwN. – Abschluss des Manuskripts: November 2007.
Desavouierung kartellrechtlicher Monopolverbote durch Strafvorschriften? Am Beispiel des neuen Hessischen Glücksspielgesetzes KLAUS LÜDERSSEN
Was mit dem Hessischen Glücksspielgesetz vom 17.12.2007 (GVBl. S. 835, Entwurf der Landesregierung Drucksache 16/7556) und dem Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland (Glücksspielstaatsvertrag – GlüStV) beabsichtigt wird, ist die Stabilisierung und Intensivierung des staatlichen Monopols auf dem Gebiet des Glücksspielwesens. Der folgende Beitrag beschränkt sich auf die Partien des Gesetzes, die das Spielen in Lotterien betreffen, und kommt zu dem Ergebnis, dass jedenfalls auf diesem Gebiet staatliche Monopole nicht mehr gerechtfertigt sind.
A. Die Entwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts hat endgültig deutlich gemacht, dass dem Prinzip des freien Wettbewerbs überall dort der eindeutige Vorrang gebührt, wo ordnungspolitische Vorstellungen dem nicht entgegen stehen. I. Diese könnten hier nur aus der Notwendigkeit abgeleitet werden, einer sich auf größere Teile der Bevölkerung erstreckenden Spielsucht vorzubeugen. Das ist seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28.3.20061 in Deutschland geltendes Recht. Da wissenschaftlich inzwischen geklärt ist, dass das Suchtpotential beim Lotteriespiel äußerst gering ist,2 1
NJW 2006, S.1261. Heino Stöver, Glücksspiele in Deutschland – Eine repräsentative Untersuchung zur Teilhabe und Problemlage des Spielens um Geld: „Nur ein kleiner Teil der Lotteriespieler“ habe „überhaupt Probleme im Zusammenhang mit Glücksspielen“ (aaO., S.1). Personen, die mindestens wöchentlich spielen bzw. mehr als 50 Euro im Monat für ein Glücksspiel ausgeben, wurden gebeten, einen Test („Das diagnostische und statistische Manual psychischer Störun2
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besteht insoweit kein Bedarf für ein staatliches Monopol. Vom Bundeskartellamt ist das – unter Bezugnahme auf einschlägige empirische Untersuchungen3 – unmissverständlich ausgesprochen worden,4 und es hat deshalb auf wettbewerbswidrige Entscheidungen des Rechtsausschusses des deutschen Lotto- und Totoblocks zu Lasten der Spielvermittler mit einer Untersagungsverfügung reagiert. Sie ist darauf gestützt, dass § 21 GWB sowie die Art. 81 und 82 EG verletzt sind. Über Art. 10 Abs. 2 EG bindet diese Entscheidung auch den Landesgesetzgeber. II. Die Tatsache, dass das neue Hessische Glücksspielgesetz gegen Bundesrecht verstößt, das gemäß Art. 31 GG Landesrecht bricht, hat die hessische gen“: DSM-IV) zur Bestimmung eines pathologischen Spielverhaltens zu absolvieren. Nach den Ergebnissen dieses Tests erfüllen 0,5% aller 8.000 befragten Personen in Bezug auf das zurückliegende Jahr die Kriterien einer pathologischen Spielsucht. Die Prävalenz pathologischen Spielens in Deutschland liegt somit im internationalen Vergleich über den Werten aus Norwegen (0,15%) und Großbritannien (0,03%), aber unter den Anteilen aus Schweden (0,6%), der Schweiz (0,8%) und Spanien (1,7%). Das Spielen um Geld gilt in der Glücksspielforschung insbesondere dann als besonders suchtgefährdend, wenn es mit einer raschen Spielabfolge (hohe Ereignisfrequenz) und einer kurzen Zeitspanne zwischen dem Geldeinsatz und der Bekanntgabe des Spielergebnisses und der Auszahlung eines möglichen Gewinns verbunden ist. Insbesondere die Casinospiele und die Geldspielautomaten, aber auch Rubbellose und bestimmte Formen der Sportwette erfüllen diese Kriterien. Auf das Zahlenlotto, mit seiner vergleichsweise geringen Spielfrequenz (zwei Ziehungen pro Woche) und der in der Regel großen Zeitspanne vom Ausfüllen der Tippscheine bis zur Ziehung der Zahlen treffen sie hingegen kaum zu. Als eine empirische Bestätigung dieses letztgenannten Sachverhaltes kann die sehr geringe Verbreitung pathologischen Spielens von 0,33% der ausschließlichen Lottospieler angesehen werden. Dieser Personenkreis ist somit nur einem äußerst geringen Risiko ausgesetzt, ein Spielproblem zu entwickeln. Weitere einschlägige Untersuchungen sind nachgewiesen bei Klaus Lüderssen, NStZ 2007, S.17 (Fn.18). Vgl. ferner die Hinweise bei Georg Hermes, Die Beschränkungen für die Vermittlung öffentlicher Glücksspiele im Entwurf eines Werkvertrags im Glücksspielwesen – Gemeinschafts- und verfassungsrechtliche Untersuchung – in: Georg Hermes/Hans-Detlef Horn/Bodo Pieroth, Der Glücksspiel-Staatsvertrag, 3 verfassungs- und europarechtliche Gutachten, Heidelberg u.a. 2007, S.39ff (78ff). 3 Diese Hinweise sind inzwischen viele Male zustimmend rezipiert worden, kürzlich von Christian König/Simon Ciszewski, Novellierung der gesetzlichen Grundlagen des Glücksspielrechts durch eine duale Glücksspielordnung, in: DöV, 2007, S.213ff, wo es ausdrücklich heißt: „Auch die Feststellung des Bundeskartellamts, dass Lotterien aufgrund ihres geringen Suchtpotenzials ein Staatsmonopol nicht zu rechtfertigen (...) sei, wird nicht berücksichtigt. Vielmehr werden Jackpot-Lotterien schlicht als ‚Glücksspiel mit besonderem Gefährdungspotenzial’ bezeichnet. Ein Beleg hierfür wird nicht erbracht. Daher ist mit dem Bundeskartellamt davon auszugehen, dass Lotterien kein einen Wettbewerbsausschluss beim Angebot von Lotterien und bei der Nachfrage nach Vermittlungsleistungen rechtfertigendes Suchtpotenzial haben“ (aaO., S.316). 4 AaO., S.84ff: „Eine wissenschaftliche Untermauerung der für die Einführung eines staatlichen Monopols notwendigen These, Lotterien seien derart spielsuchtgefährdend, dass private Anbieter von vornherein vom Angebot vollständig ausgeschlossen werden müssten, existiert nicht“ (S.87).
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Landesregierung trotz dahingehender Hinweise im Vorfeld nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Mit Blick auf den gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund dieser Rechtslage ist das besonders schwer verständlich. An entsprechenden Aufklärungen seitens der Europäischen Kommission hat es wirklich nicht gefehlt. Ich verweise insoweit speziell auf die Stellungnahme, die die Europäische Kommission mit Blick auf den Entwurf eines Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland gegenüber dem Außenministerium und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und dem außerordentlichen und bevollmächtigten Botschafter Wilhelm Schönfelder abgegeben hat. Diese Stellungnahmen waren dem Gesetzentwurf der Landesregierung beigefügt, haben darin aber keine inhaltliche Berücksichtigung gefunden. Das gleiche gilt für die entsprechenden Erwiderungen der Ministerien und der Bundesregierung. Allerdings möchte ich schon an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass der bereits in der ersten Stellungnahme (Brief des Vizepräsidenten Verheugen) erhobene Vorwurf, „der Entwurf des Staatsvertrages werde nicht durch eine Folgenabschätzung gestützt, die es der Kommission ermöglicht hätte, die Erwägungen zu berücksichtigen, die zu dem im Entwurf vorgesehenen Vorgehen geführt haben“, in der Folge nirgends aufgegriffen wird. Das ist schlechterdings unbegreiflich. Auch der Vorsitzende der Sechsten Beschlussabteilung des Bundeskartellamts hat sich noch vor kurzem mit einem Schreiben an den Finanzausschuss des SchleswigHolsteinischen Landtags in diesem Sinne geäußert. Dabei macht er sich vor allem die Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 14.5.2007 zu eigen, unter Hervorhebung der folgenden Punkte: x Die Kommission hat darauf hingewiesen, dass es keine Belege für eine tatsächliche Gefahr der Spielsucht im Internet gebe. x Die vorgesehenen Beschränkungen für die Zulassung gewerblicher Spielvermittler würden die Gefahr einer Diskriminierung gewerblicher Spielvermittler aus anderen Mitgliedstaaten begründen und zu einer verbotenen Marktaufteilung führen. III. „Rechtstechnisch“ ist festzuhalten, dass nach den die Zuständigkeit des Landesgesetzgebers bestimmenden Regeln des Grundgesetzes dem Hessischen Landtag die Kompetenz für die Verabschiedung der einschlägigen Vorschriften fehlte. Seine Zuständigkeit für ordnungspolitische Probleme kann aus dem Gesichtspunkt der Suchtbekämpfung nicht begründet werden, auch dann nicht, wenn man nur eine geringfügigen Suchtbelastung feststellen und ihr Rechnung tragen möchte. Entscheidend ist der Schwerpunkt der Regelungsmaterie, und da kann kein Zweifel bestehen, dass er wirtschaftlicher Natur ist. Deshalb ist Art. 74 Abs. 1 Ziff. 11 Grundgesetz einschlägig
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Klaus Lüderssen
in Verbindung mit Art. 72 Abs. 1 zweite Satzhälfte: Der Bund hat von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht. So kommt es auch gar nicht mehr darauf an zu prüfen, ob wenigstens die einschlägigen Strafvorschriften des Bundes eine primär gegebene landesrechtliche Zuständigkeit auf nichtstrafrechtlichem Gebiet in Frage stellen und deshalb zweifelhaft sein könnten.5 Denn diese primäre nichtstrafrechtliche Zuständigkeit auf dem Gebiete des Lotteriewesens ist ja schon von vornherein nicht gegeben.6
B. Angesichts dessen ist es kaum glaubhaft, dass der Hessische Landtag auf Betreiben der Hessischen Landesregierung mit der Monopolisierung des Lotteriespielrechts wirklich die Auflagen erfüllen wollte, die das Bundesverfassungsgericht gemacht hat. Ein starkes Indiz für diese Skepsis ist, dass in der Begründung des Entwurfs nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem Beschluss des Bundeskartellamts – der wirklich nach allen Richtungen Klarheit geschaffen hat – fehlt, sondern dass er nicht einmal erwähnt wird. Jede auch nur oberflächliche Beschäftigung mit diesem Beschluss hätte die Landesregierung allerdings in die Situation gebracht, die „Lebenslüge“ zu enthüllen, dass ausschließlich fiskalische Interessen hinter den wettbewerbsbeschränkenden Regelungsvorschlägen stehen, ein Tatbestand, der die allgemeine, kürzlich von Wolfgang Zöllner wieder ausgesprochene Sorge, dass der Staat „gegenwärtig zuviel in das Marktgeschehen“ eingreife,7 anschaulich belegt.
C. Selbst wenn man sich über diesen Eindruck hinweg setzt und den Versuch macht, die offiziell formulierte Motivation der Landesregierung ernst zu nehmen, zeigen sich unüberwindbare Begründungsdefizite, die den Vorschlägen die Legitimation nehmen.
5 Eingehender zu dieser Frage Klaus Lüderssen, Keine Strafdrohungen für gewerbliche Spielvermittler, Berlin 2006, S.33ff. 6 Bodo Pieroth, Erlaubnispflicht für gewerbliche Spielvermittlung am Maßstab des Grundgesetzes, in: Hermes u.a., aaO., S.1ff (15). 7 Vortrag im Rahmen einer Tagung der Ruhr-Akademie für Europäisches Privatrecht am 20. und 21.4.2007 in Bochum unter dem Thema „Privatrechtsgesellschaft“. Im gleichen Sinne hat sich auch der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Paul Kirchhof, geäußert (vgl. den Tagungsbericht in Juristenzeitung 2007, S. 991ff).
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I. Zu den allgemeinen Rationalitätsanforderungen, denen sich eine moderne Gesetzgebung stellen muss,8 gehören korrekte Tatsachenermittlungen. Der Gesetzgeber „muss die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abstecken zu können“.9 Allgemein wird davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber eine Tatsachenermittlungspflicht im Gesetzgebungsverfahren hat, die verfassungsrechtlich abgesichert sein muss.10 „Der Gesetzgeber muss sich über die tatsächlichen Grundlagen seiner Abwägung auf Grund verlässlicher Quellen ein eigenes Bild verschaffen“.11 Es geht um das „Erfordernis eines differenzierten Gefährdungsnachweises“.12 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum staatlichen Wettmonopol hat deutlich gemacht, dass „die bloße Ausformulierung eines Gemeinwohlbelangs auf dem Papier des Gesetzestextes nicht“ ausreicht. „Das vom Gesetzgeber geltend gemachte Gemeinwohlziel muss vielmehr auf einer relevanten Wirklichkeit beruhen. Das heißt: Die Gefahr einer Spielsucht im Glücksspielbereich muss überhaupt existieren. Dem Gesetzgeber obliegt eine Nachweispflicht für die Gefahren, deren Bekämpfung seine Anordnungen dienen sollen.“13 1) Es ist nicht zu erkennen, welche Erhebungen im vorliegenden Gesetzgebungsverfahren insoweit stattgefunden haben. 2) Die spärlichen Feststellungen zur – minimalen – Suchtproblematik bei Lotteriespielen werden auch nicht in Beziehung gesetzt zu den Schlussfolgerungen. a) Inwiefern ein Staatsmonopol geeigneter ist, Suchtgefährdungen vorzubeugen als eine sorgfältige Konzessionstechnik im Rahmen der Zulassung privater Aktivitäten, insbesondere der Spielvermittler, wird nicht deutlich. b) Auch erfährt man nichts darüber, mit welchen Überlegungen der Gesetzgeber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dessen Bedeutung für Gesetzgebungen, die in Freiheitsrechte eingreifen – hier die Berufsfreiheit und das Recht zur Teilnahme am Wett8 Grundlagen bei Helmuth Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, Berlin 1988. 9 BVerfGE 15, S.290ff (334). 10 Gerhard Hoffmann, Das verfassungsrechtliche Gebot der Rationalität im Gesetzgebungsverfahren, ZG 1990, S.97ff. 11 BVerfGE 86, S.90ff. 12 Hans-Detlef Horn, Die gewerbliche Spielvermittlung im Entwurf eines Staatsvertrags zum Glücksspielwesen in Deutschland vom 14.Dezember 2006, in: Hermes u.a., aaO., S.91ff (117). 13 Horn aaO., S.117/118 mit weiteren Einzelheiten.
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c)
bewerb – allgemein anerkannt ist, Rechnung getragen und die gebotenen Abwägungen vorgenommen hat. An diesem Eindruck ändert auch das im Gesetz vorgesehene Programm der Glücksspielsuchtprävention (§§ 3 und 4) nichts, denn mit Bezug auf Lotteriespiel hat es keine bemerkenswerte Funktion und gehen insoweit in Leere.
II. Ferner muss ein Gesetz gewisse Konsistenzerfordernisse erfüllen. Das Hessische Glücksspielgesetz leidet unter der offensichtlichen Inkonsistenz, dass derjenige Bereich, für den signifikante Suchtpotentiale unstreitig feststehen – Glücksspielautomaten – von seiner Regelung nicht erfasst wird. In Bezug auf das – insoweit parallele – Gesetz zur Ausführung des Staatsvertrages im Glücksspielwesen in Deutschland Schleswig-Holsteins ist das vom Wissenschaftlichen Dienst des Schleswig-Holsteinischen Landtages expressis verbis herausgestellt worden: „Während der Glücksspielstaatsvertrag Regelungen über weniger suchtrelevante Bereiche wie Lotterien enthält, werden darin jedoch Glücksspielformen mit nachweislich hohem Suchtpotential wie Glücksspielautomaten mit Gewinnmöglichkeiten oder Pferdewetten nicht berücksichtig... Hierin liegt eine unübersehbare Inkonsistenz des Regelungskonzepts. Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist das Gefährdungspotential ein problematisches bzw. pathologisches Spielverhalten bei Glücksspielautomaten am stärksten, an zweiter Stelle der Statistik folgen die vom Anwendungsbereich des Glücksspiel-Staatsvertrags umfassenden Casinospiele, während alle anderen Glücksspielformen deutlich weniger zu einem problematischen Suchtverhalten beitragen“.14 Nach Ansicht des Wissenschaftlichen Dienstes ist „eine sektorale Regelungsstrategie, die zentrale suchtrelevante Bereiche mit nachweislich erheblichem Gefährdungspotential ausklammert, letztlich als willkürlich anzusehen“.15 Ausdrücklich wird betont, dass damit „die Vorgaben des EuGH missachtet“ werden: „Denn anders als bei einer Teilregulierung wird im vorliegenden Fall eine vereinheitlichende nationale Rahmenregelung für Zulassung und Durchführung von Glücksspielen eingeführt, die für wesentliche suchtrelevante Bereiche keine Geltung beansprucht. Dadurch setzt der Gesetzgeber sich in Widerspruch zu seinem Regelungsziel und gerät in Kollision mit dem auch im Gemeinschaftsrecht geltenden Willkürverbot“.16 Diese Feststellungen werden keineswegs durch die Tatsache relativiert, dass die Gesetzgebungszuständigkeit für Glücksspielautomaten beim Bund liegt. Das materielle Konsistenzgebot bleibt davon unberührt. 14
AaO., S.22. AaO., S.23; in diesem Sinne äußert sich auch der Vorsitzende der Sechsten Beschlusskammer des Bundeskartellamts, aaO. 16 AaO., S.23. 15
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D. I. Soweit die Vorschriften des Hessischen Glücksspielgesetzes festlegen, dass das Land Hessen allein befugt sei, Lotterien zu veranstalten (§ 6), und gewerbliche Spielvermittlung von der Erteilung einer Erlaubnis abhängig zu machen (§§ 14, 15), verstoßen sie also gegen Bundes- und Europäisches Gemeinschaftsrecht; das gleiche gilt für die im Glücksspielstaatsvertrag vorgesehenen entsprechenden Vorschriften (§§ 4, 19), und es besteht Veranlassung, auf die Mitteilung des Vorsitzenden der Sechsten Beschlussabteilung des Bundeskartellamts hinzuweisen, dass sich das Bundeskartellamt ausdrücklich vorbehalte, „gegen die Lottogesellschaften erneut ein Verfahren wegen einer nach Art. 81 EG-Vertrag verbotenen Marktaufteilung einzuleiten“.17 Das ist inzwischen geschehen (Verfahren B 6 29/08). II. Es versteht sich von selbst, dass damit die in Anknüpfung an die vorgesehenen Verbote formulierten straf- und ordnungswidrigkeitsrechtlichen Vorschriften hinfällig sind. Im einzelnen verweise ich dafür auf meine früheren Ausführungen.18 Manfred Seebode ist vor allem in seinen strafprozessualen Arbeiten immer für den Schutz individueller Rechte eingetreten und wird deshalb wohl auch skeptisch sein gegenüber paternalistischen Strafvorschriften, zumal, wenn der Verdacht besteht, dass sie nur der Paravant sind für die Erreichung anderer staatlicher Zwecke. So hoffe ich, dass ihm dieser kleine Beitrag nicht unwillkommen sein wird.
17 18
AaO. Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts II, Baden-Baden 2007, S.169ff; 203ff.
Der Spielraum des Tatrichters bei Wertungs- und Wahrscheinlichkeitsurteilen ANDREAS MOSBACHER
I. Problemstellung Wer das Rechtsmittel der Revision führt, ist mit den Entscheidungen des Revisionsgerichts häufig unzufrieden. Bemängelt werden nicht nur die hohen Anforderungen an die Vortragspflicht aus § 344 Abs. 2 S. 2 StPO1 und die Tatsache, dass die Zulässigkeit mancher Verfahrensrügen von der Geltendmachung innerprozessualer Zwischenrechtsbehelfe abhängt.2 Häufig tritt dem Beschwerdeführer auch ein Phänomen entgegen, dass weniger Verfahrensfragen als vielmehr die Anwendung materiellen Rechts betrifft: die Anerkennung eines Spielraum des Tatrichters bei der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung. Aus Sicht des Revisionsgerichts wird dann – etwa bei der Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe – wie folgt formuliert: „Mittäter ist, wer nicht nur fremdes Tun fördert, sondern einen eigenen Tatbeitrag derart in eine gemeinschaftliche Tat einfügt, dass sein Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheint. Ob ein Beteiligter ein so enges Verhältnis zur Tat hat, ist nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, in wertender Betrachtung zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte können der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft sein. In Grenzfällen hat der Bundesgerichtshof dem Tatrichter für die ihm obliegende Wertung einen Beurteilungsspielraum eröffnet. Lässt das angefochtene Urteil erkennen, dass der Tatrichter die genannten Maßstäbe erkannt und den Sachverhalt vollständig gewürdigt hat, so kann das gefundene Ergebnis vom Revisionsgericht auch dann nicht als rechtsfehlerhaft beanstandet werden, wenn eine andere tatrichterliche Beurteilung möglich gewesen wäre. Gemessen an diesen Maßstäben ist die Entscheidung des 1
Vgl. hierzu etwa kontrovers Ventzke/Mosbacher NStZ 2008, 262 ff. mwN. Hierzu näher etwa Herdegen NStZ 2000, 1, 6; Kindhäuser NStZ 1987, 531; Mosbacher JR 2007, 382 mwN. 2
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Andreas Mosbacher
Landgerichts vertretbar... Dass eine abweichende tatrichterliche Wertung... näher gelegen hätte, berechtigt das Revisionsgericht noch nicht zum Eingreifen.“3
Dies ist für den Revisionsführer dann besonders ärgerlich, wenn nach seiner Auffassung eine andere Bewertung des Geschehens richtig gewesen wäre. Er fühlt sich vom Revisionsgericht mit seiner Rüge rechtsfehlerhafter Gesetzesanwendung (§ 337 StPO) im Stich gelassen. Tatsächlich ist es nicht ohne weiteres einsehbar, weshalb das Revisionsgericht die Rechtsanwendung (wie etwa bei der Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe) nicht uneingeschränkt nachprüfen können soll. Aus diesem Grund wird von vielen die zunehmende Anerkennung von revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Spielräumen des Tatrichters kritisiert.4 Im Folgenden wird zunächst das Phänomen des tatrichterlichen Spielraums aus Sicht der höchstrichterlichen Rechtsprechung näher dargestellt und auf verschiedene Strukturprinzipien zurückgeführt. Es folgt der Versuch, die Anerkennung eines Spielraums des Tatrichters auf der Grundlage der Ansicht des Bundesgerichtshofs konsistent systematisch zu begründen. Ergebnis der Untersuchung wird sein, dass dem Tatrichter bei bestimmten Wahrscheinlichkeitsurteilen und bei bestimmten originären Werturteilen aufgrund der Eigentümlichkeit dieser Urteile ein Spielraum zukommt, der mehrere gleich richtige Entscheidungen zulässt. Beruht die Entscheidung des Tatrichters auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage, wendet er das richtige Wertungsprogramm an und hält sich die Entscheidung im Rahmen vertretbarer Wertung, ist seine Entscheidung auch dann hinzunehmen, wenn das Revisionsgericht selbst zu einer anderen Bewertung gekommen wäre. Denn soweit sich die tatrichterliche Entscheidung innerhalb dieses Spielraums des Vertretbaren hält, hat der Tatrichter das Recht richtig angewendet, so dass keine revisible Gesetzesverletzung im Sinne von § 337 StPO vorliegt.5
II. Die Anerkennung von „Spielräumen“ in der höchstrichterlichen Rechtsprechung Der Bundesgerichtshof erkennt Spielräume des Tatrichters (und anderer Verfahrensbeteiligter im Ermittlungsverfahren) auf verschiedenen Ebenen an: bei den Tatbestandsvoraussetzungen für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen oder Belehrungspflichten im Ermittlungsverfahren, bei der Anwen3 4
BGH NStZ-RR 2005, 71. Kritisch in diesem Sinne insb. Tolksdorf in: Festschrift für Meyer-Goßner (2001), S. 523
5
Grundlegend zu diesem Ansatz: Maatz StraFo 2002, 373, 377.
ff.
Spielraum des Tatrichters bei Wertungs- und Wahrscheinlichkeitsurteilen 229
dung des Strafverfahrensrechts durch das erkennende Gericht in und außerhalb der Hauptverhandlung, bei der Tatsachenfeststellung und schließlich bei der Anwendung des materiellen Strafrechts auf die festgestellten Tatsachen durch den Tatrichter.6 Die höchstrichterliche Rechtssprechung räumt dem Tatrichter insbesondere in folgenden Bereichen Spielräume ein:
1. Im Ermittlungsverfahren Bei der Prüfung der Voraussetzungen einer Telekommunikationsüberwachung durch den Ermittlungs- und Tatrichter daraufhin, ob ein auf bestimmte Tatsachen gestützter Tatverdacht vorliegt und der Subsidiaritätsgrundsatz nicht entgegensteht;7 beim Beginn der Beschuldigteneigenschaft als Voraussetzung der Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO;8 bei der Frage, ob die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO „notwendig“ ist und deshalb die Beiordnung durch die Staatsanwaltschaft beantragt werden muss;9 bei der Feststellung eines Anfangsverdachts (§ 152 Abs. 2 StPO);10 beim Unterbleiben einer Benachrichtigung nach § 168c Abs. 5 S. 2 StPO wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks;11 bei den Voraussetzungen des hinreichenden Tatverdachts (§ 203 StPO).12
2. In der Hauptverhandlung Bei der Feststellung, ob eine Amtshandlung unaufschiebbar im Sinne von § 29 Abs. 1 StPO ist;13 bei der Frage, ob dem Zeugen wegen Verfolgungsgefahr ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrechts nach § 55 StPO zukommt,14 bei der Annahme des wichtigen Grundes der konkreten Gefahr einer Interessenkollision, welcher die Ablehnung der Bestellung des vom Beschuldigten bezeichneten Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger gemäß § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO rechtfertigt;15 bei der Ausschließung des Ange-
6 Vgl. hierzu auch die Übersichten bei Tolksdorf aaO S. 526 ff.; Maatz/Wahl in: Festschrift 50 Jahre BGH (2000), S. 531, 552; Maatz StraFo 2002, 373, 375; Störmer ZStW 108 (1996), 494, 495 f. 7 BGHSt 41, 30 m. krit. Anm. Küpper JR 1996, 214; BGHSt 47, 362; BGH Urt. v. 11. 5. 2006 – 3 StR 23/06. 8 BGHSt 38, 214, 227. 9 BGHSt 46, 93, 98; 47, 172; 47, 233. 10 BGH NJW 1970, 1543; NStZ 1988, 510; NStZ 2005, 519. 11 BGHSt 31, 140; BGH NJW 2003, 3142; kritisch hierzu insb. Wohlers GA 2003, 895. 12 BGH NJW 1970, 1543. 13 BGH NStZ 2002, 429. 14 Vgl. BGHSt 43, 321, 325 f.; 47, 220, 222 f.; BGH JR 2007, 382 m. Anm. Mosbacher. 15 BGHSt 48, 170.
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klagten infolge ungebührlichen Verhaltens (§ 231b StPO);16 bei der Frage, ob ein Zuhörer als Zeuge in Betracht kommt und deshalb den Sitzungssaal verlassen soll;17 bei der Beweiswürdigung (§ 261 StPO);18 bei der Feststellung der Verhinderung eines Richters im Sinne von § 275 StPO;19 bei der Entscheidung über die Besetzung der großen Strafkammer nach § 76 Abs. 2 GVG hinsichtlich der Frage, ob Umfang und Schwierigkeit der Sache die Hinzuziehung eines dritten Berufsrichters gebieten;20 bei der Frage, ob die öffentliche Erörterung sexualbezogener Vorgänge nach allgemeiner Anschauung anstößig wäre und deshalb die Öffentlichkeit nach § 172 Nr. 1 GVG ausgeschlossen werden kann;21 bei der Entscheidung über den Ausschluss der Öffentlichkeit wegen zu besorgender persönlicher Gefährdung nach § 172 Nr. 1a GVG;22 bei der Bildung einer Hilfsstrafkammer wegen Überlastung;23 bei der Frage, ob einem Fall im Sinne von § 120 Abs. 2 GVG besondere Bedeutung zukommt.24
3. Bei der Strafzumessung und anderen Rechtsfolgeentscheidungen Bei der Bemessung der konkreten Einzelstrafe nach § 46 StGB;25 bei der Frage, ob ein seelischer Zustand bereits eine „schwere“ seelische Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB ist;26 bei der Frage, ob die Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit infolge eines der in § 20 StGB genannten Defekte „erheblich“ ist;27 bei der Frage, ob trotz erheblicher Verminderung der Steuerungsfähigkeit infolge Alkoholisierung die mögliche Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB zu versagen ist, weil die Alkoholisierung vorhersehbar und vermeidbar das Tatrisiko wesentlich erhöht hat;28 bei der Bemessung der Tagessatzhöhe bei der Geldstrafe;29 bei Prognoseentscheidungen wie etwa der Frage, ob der Täter zukünftig keine Straftaten
16
BGH NJW 2005, 2466. BGH NStZ 2001, 163; NJW 2001, 2732; NStZ 2004, 453. 18 Vgl. Meyer-Goßner StPO 50. Aufl. (2007), § 261 Rn. 38 ff. mwN. 19 BGHR StPO § 275 Abs. 2 S. 2 Verhinderung 3; BGH NStZ-RR 1999, 46; StraFo 2006, 334. 20 BGH NJW 1999, 1644; NStZ 2004, 56; NStZ-RR 2006, 214. 21 BGH NStZ 1986, 179 m. Anm. Gössel; BGHSt 38, 248. 22 BGH NStZ-RR 2003, 116. 23 BGH NStZ 2000, 219. 24 BGHSt 46, 238. 25 Vgl. nur Fischer StGB, 55. Aufl. (2008), § 46 Rn. 114 ff. mwN. 26 BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 34. 27 BGH NStZ 1996, 592; NStZ 2000, 136; NStZ-RR 2000, 166. 28 BGH NJW 2004, 3350, 3353; StV 2005, 495. 29 BGHSt 27, 212, 215; 228, 230. 17
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mehr begehen wird (§ 56 Abs. 1 StGB);30 bei der Bewertung besonderer Umstände im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB;31 bei der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld;32 bei der Frage, ob im Rahmen von § 60 StGB eine schwere Tatfolge vorliegt;33 bei der Annahme eines minder schweren Falls;34 bei der Frage, ob die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB eine hinreichend konkrete Aussicht auf Erfolg verspricht;35 bei der Bewertung zu erwartender künftiger Straftaten als „erheblich“ als Voraussetzung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB.36
4. Im sonstigen materiellen Strafrecht, Allgemeiner Teil Bei der Bewertung, auf welchen von mehreren, vom Täter teils als Heranwachsender, teils als Erwachsener begangenen Taten das Schwergewicht im Sinne von § 32 JGG liegt;37 bei der Entscheidung, ob der heranwachsende Täter noch einem Jugendlichen gleichsteht (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG);38 bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen durch Bestimmung des Schwerpunktes vorwerfbaren Verhaltens;39 bei der Frage, ob der Täter bereits im Sinne von § 22 StGB unmittelbar zur Tat angesetzt hat;40 bei der Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung im Rahmen der Notwehr (§ 32 StGB);41 bei der Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe in Grenzfällen;42 bei der Bewertung, ob mehrere Taten eine natürliche Handlungseinheit43 und mehrere Rauschgiftdelikte eine Bewertungseinheit44 darstellen.
30
Vgl. BGH NStZ 2000, 587, 589. BGHR StGB § 56 Abs. 2 Umstände, besondere 3. 32 BGHSt (GS) 34, 345, 351. 33 BGH NStZ 1997, 121. 34 BGH Urt. v. 10. 3. 1999 – 3 StR 15/99. 35 BGH NStZ 2000, 587. 36 BGH wistra 1988, 22, 23; NStZ 2000, 587. 37 BGH NStZ 1986, 219. 38 BGHSt 36, 37, 38; BGH NStZ-RR 1999, 26. 39 BGH NStZ 1999, 607. 40 BGH NStZ 1998, 210. 41 Vgl. RGSt 55, 82. 42 Vgl. nur BGH NStZ 2000, 482; NJW 2004, 3051, 3053 f.; NStZ-RR 2005, 71. 43 BGH NStZ-RR 1998, 68. 44 BGH StV 1997, 636, 637; NStZ 2001, 41. 31
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5. Im materiellen Strafrecht, Besonderer Teil Bei der Wertung, ob die Beweggründe zur Tötung niedrig im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB sind;45 dies gilt auch für die Bewertungen in Zusammenhang mit den subjektiven Anforderungen an das Mordmerkmal, die mit den objektiven Kriterien in engstem Zusammenhang stehen;46 bei der ärztlichen Erkenntnis im Rahmen von § 218 StGB;47 bei der Gewährung von Lockerungen für möglicherweise gefährliche psychisch Kranke in Hinblick auf § 222 StGB;48 bei der Beurteilung, ob im Rahmen von § 226 StGB nur eine schwere Beeinträchtigung oder der Verlust des Sehvermögens vorliegt;49 bei der Entscheidung, wann eine Wegnahme vollendet ist;50 bei der Bewertung eines auffälligen Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung bei Wucher (§ 291 StGB);51 bei der Frage, ob der Angeklagte (etwa im Rahmen von § 30a Abs. 1 BtMG) eine Bandenabrede getroffen und aufgrund eines gemeinschaftlichen übergeordneten Bandeninteresses gehandelt hat.52 Auch bei der Auslegung von mündlichen und schriftlichen Erklärungen (etwa im Rahmen von § 185 StGB oder bei Willenserklärungen) wird dem Tatrichter ein Spielraum zugestanden.53
III. Systematisierung und Begründung von tatrichterlichen Spielräumen 1. Systematisierung Spielräume des Tatrichters bei der Tatsachenfeststellung und Anwendung materiellen Rechts54 lassen sich nach folgenden Kategorien systematisieren: 45 BGH Urt. v. 12. 2. 1998 – 4 StR 617/97; BGHR StGB § 211 Strafmilderung 7; NStZ 2006, 284, 285; NStZ-RR 2006, 140; 340; hierzu auch Altvater NStZ 1998, 342, 343; ders. NStZ 2006, 86, 89. 46 BGH NStZ-RR 2006, 340. 47 BGHSt 38, 144. 48 BGHSt 49, 1. 49 BGH NJW 2001, 980. 50 BGHR StGB § 242 Abs. 1 Wegnahme 4; BGHSt 41, 198, 205. 51 BGHSt 43, 53, 60. 52 BGH NJW 1998, 293, 294; Beschl. v. 17. 11. 1998 – 1 StR 586/98. 53 Vgl. nur BGHSt 21, 371, 373 (zu § 185 StGB); hierzu näher auch: Wittig GA 2000, 267 ff.; zum Spielraum bei der Auslegung von Willenserklärungen: BGH NJW 2004, 2248, 2250; BGH Urt. vom 9. 2. 2006 – 5 StR 423/05. 54 Aus der unter 2. gegebenen Übersicht wird deutlich, dass sich die nachfolgenden Ausführungen nur teilweise auf die Anwendung von Verfahrensrecht übertragen lassen; dort spielen auch andere Gesichtspunkte noch eine Rolle, die hier aus Platzgründen nicht vertieft werden können.
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Zum einen geht es um subjektive Wahrscheinlichkeitsurteile, nämlich retrospektive (Verdacht) und prospektive (Prognose). Eng verwandt mit den Wahrscheinlichkeitsurteilen ist die Feststellung von in der Vergangenheit geschehenen Tatsachen im Rahmen tatrichterlicher Überzeugungsbildung. Denn Kern dieser Feststellung ist die zwischen Wahrscheinlichkeit und Gewissheit angesiedelte subjektive Überzeugungsbildung, dass etwas in der Vergangenheit geschehen sei.55 Ein zweites Feld sind Abgrenzungsfragen in Grenzfällen. Hierzu zählen insbesondere die Abgrenzungen zwischen Versuch und Vollendung, zwischen Tun und Unterlassen, zwischen Mittäterschaft und Beihilfe. Derartige Abgrenzungen spielen zumeist für die Strafrahmenwahl eine entscheidende Rolle.56 Drittens geht es um wertungsausfüllungsbedürftige Tatbestandsmerkmale. Hierzu können etwa Begriffe wie „niedrige Beweggründe“, „unzüchtig“, „wichtiges Glied“, „unbedeutender Wert“, die „Schwere“ einer anderen seelischen Abartigkeit, die „Erheblichkeit“ einer Verminderung der Steuerungsfähigkeit, die „Erforderlichkeit“ der Notwehr, die „Besonderheit“ von Umständen bei § 56 Abs. 2 StGB zählen.57 Ein vierter Bereich betrifft Abwägungsprozesse im Rahmen der Strafzumessung, entweder bei der Findung des richtigen Strafrahmens oder bei der Festsetzung der schuldangemessenen Strafe innerhalb dieses Strafrahmens, und im sonstigen Bereich der Rechtsfolgen (etwa bei der Anordnung von Maßregeln).
2. Begründungansätze Zur Begründung von revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren „Spielräumen“ des Tatrichters werden im Wesentlichen die folgenden Argumente angeführt: Manche Wertungen entzögen sich schon der Natur der Sache nach einer exakten Festlegung; speziell bei der Abwägung von Schuld, erheblich verminderter Schuld oder Nichtschuld gebe es in Grenzbereichen kaum ein „richtig“ oder „falsch“.58 Unbestimmte Rechtsbegriffe bedürften notwendiger Weise der Ausfüllung im Einzelfall und die damit verbundene Bewertung tatsächlicher Umstände entziehe sich vielfach zwangsläufig einer exakten Festlegung.59 Die Abgrenzung von nichtrevisibler Tatsachenfeststellung und revisibler Rechtsanwendung sei in vielen Bereichen nicht exakt möglich („Gemengelage“ zwischen Rechts- und Tatfrage); zudem stünden viele normative Zuschreibungen zugleich für die 55 Ein Teil derartiger Tatsachenfeststellung ist die Auslegung von Äußerungen mündlicher und schriftlicher Art, vgl. hierzu Wittig GA 2000, 267, 279. 56 Vgl. Tolksdorf aaO S. 534. 57 Vgl. auch näher Tolksdorf aaO S. 525 mwN. 58 Maatz/Wahl aaO S. 553; Maatz StraFo 2002, 373, 377. 59 Maatz StraFo 2002, 373, 375.
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nichtrevisible Feststellung eines Tatsachenkerns.60 Der umfassenden Überprüfung von Wertungsentscheidungen des Tatrichters in der Revision stünde schon die durch die Grundsätze des Revisionsrechts bedingte Beschränkung der Beurteilungsgrundlagen entgegen; insoweit sei der Tatrichter leistungsfähiger als das Revisionsgericht.61 Wahrscheinlichkeitsurteilen wie dem Verdacht wohne notwendigerweise ein subjektiver Urteilsakt inne, den die Revisionsinstanz nicht vollständig auf seine objektive Richtigkeit überprüfen, sondern nur durch einen eigenen subjektiven Urteilsakt ersetzen könne.62 Wo von dem Tatrichter Wertungen verlangt würden, sei dies kein Akt bloßer empirischer Erkenntnis, der bei gleicher Tatsachengrundlage stets nur zu einem einzigen richtigen Ergebnis führen könne.63
3. Gegenargumente Gegen die Anerkennung eines „Spielraums“ des Tatrichters werden etwa die folgenden Argumente vorgebracht: Die Anerkennung von nicht näher überprüfbaren Beurteilungsspielräumen bei der Rechtsanwendung, etwa hinsichtlich des Mordmerkmals der „niedrigen Beweggründe“, sei in Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) bedenklich; denn hierbei handele es sich um eine Rechtsfrage, die nur einheitlich und anhand von für das Revisionsgericht in vollem Umfang nachprüfbaren Kriterien, nicht aber nach der individuellen Sicht des jeweiligen Tatrichters zu entscheiden sei.64 Die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots seien nicht gewahrt, wenn über die Strafbarkeit eines Verhaltens abschließend erst das nicht mehr kontrollierbare Urteil des Tatrichters entscheide und nicht ausgeschlossen sei, dass dasselbe Verhalten, je nach dem Ergebnis seiner rechtlichen Bewertung, strafbar oder auch nicht strafbar sei.65 Aufgabe des Revisionsgerichts sei nach § 337 StPO die uneingeschränkte Nachprüfung der Rechtsanwendung des Tatgerichts, der Revisionsrichter habe nach § 337 StPO die letztverbindliche Entscheidung hinsichtlich der Gesetzesanwendung auf den festgestellten Sachverhalt zu treffen; für eine Einschränkung dieses Prüfungsmaßstabes gebe es keine hinreichenden Gründe.66 Die Feststellung der Tatsachen und deren rechtliche Bewertung ließen sich bei sorgfältiger Differenzierung innerhalb der einzelnen Merkmale hinreichend voneinander trennen; zur Begründung eines Beurteilungsspielraums reiche 60
Maatz StraFo 2002, 373, 376 f. Maatz StraFo 2002, 373, 377. 62 Küpper JR 1996, 214, 215. 63 Maatz StraFo 2002, 373, 378. 64 Altvater NStZ 1998, 342, 343. 65 Tolksdorf aaO S. 535. 66 Tolksdorf aaO S. 531 f.; ähnlich Wohlers GA 2003, 895, 899. 61
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dieses Argument nicht aus.67 Aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG folge, dass innerhalb eines existenten Verfahrenszuges eine effektive Kontrolle der Justizorgane untereinander stattfinden müsse, weshalb – sofern nicht gesetzlich vorgesehen – kein Organ der Judikative dem anderen einen Beurteilungsspielraum bei der Konkretisierung des Rechts zugestehen dürfe.68 Soweit Begriffe wie etwa der des Verdachts auf einen subjektiven Wertungsakt des Beurteilenden abstellten, sage dies noch nichts darüber aus, ob die Überprüfungsinstanz auf die Willkürprüfung beschränkt sei oder ob sie ihr eigenes subjektives Urteil an die Stelle der vorinstanzlichen Beurteilung setzen dürfe.69 Im Folgenden soll versucht werden, den von Maatz überzeugend vorgezeichneten Ansatz zur Begründung von Spielräumen des Tatrichters70 auf etwas anderer systematischer Grundlage fortzuschreiben. Dabei wird sich zeigen, dass nicht alle für die Anerkennung von Spielräumen des Tatrichters genannten Argumente überzeugen, viele aber schon den richtigen Weg weisen, während die Gegenargumente letztlich den hier vertretenen Ansatz nicht grundlegend in Frage stellen. Der für richtig erachteten ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Anerkennung von Spielräumen des Tatrichters läst sich so vielleicht die bislang (zu Recht) vermisste71 systematische Grundlegung geben. Auf dieser Basis können Grund und Grenzen der Anerkennung von Spielräumen des Tatrichters neu beleuchtet werden.
IV. Was bedeutet der Spielraum des Tatrichters? Entscheidend ist zunächst, wie das Phänomen des tatrichterlichen Spielraums verstanden und systematisch eingeordnet wird. Versteht man den Beurteilungsspielraum als Einschränkung der Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts, ergibt sich eine ganz erhebliche Begründunglast. Denn aus welchem Grund soll das Revisionsgericht eine Art rechtsfreien Raum im Rahmen der revisionsgerichtlichen Urteilsüberprüfung anerkennen? Tolksdorf formuliert diesen Gedanken wie folgt: Unter dem Gesichtspunkt des Revisionzwecks der Einzelfallgerechtigkeit könne überhaupt nicht einleuchten, warum die revisionsrechtliche Kontrolle der Gesetzesanwendung durch den Tatrichter Einschränkungen unterworfen sein müsste.72 Zudem tut man 67
Zutreffend: Tolksdorf aaO 536 f. Störmer ZStW 108 (1996), 494, 507; ähnlich Wittig GA 2000, 267, 283. 69 Küpper JR 1996, 214, 215; Frisch NJW 1973, 1345, 1348. 70 Vgl. Maatz StraFo 2002, 373 ff. 71 Vgl. nur Tolksdorf aaO S. 528. 72 Tolksdorf aaO S. 534. 68
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sich vor dem Hintergrund von Art. 20 Abs. 3 i. V. mit Art. 97 Abs. 1 GG schwer, eine Art rechtsfreien Raum innerhalb eines Rechtszuges zu etablieren.73 Von diesem Ausgangspunkt ist es in der Tat schwer zu begründen, weshalb dem Tatgericht bei der Rechtsanwendung ein Vorrang vor dem Revisionsgericht zukommen können soll. Man kann den Spielraum des Tatrichters aber auch anders verstehen: Die Anerkennung eines Spielraums bedeutet in diesem Sinne nichts anderes, als dass die innerhalb dieses Spielraums getroffenen Entscheidungen alle gleichermaßen richtig sind, so unterschiedlich sei auch ausfallen mögen.74 Bei einem derartigen Verständnis erschließt sich schon aus § 337 StPO, dass es dabei inhaltlich nicht etwa um eine rechtfertigungsbedürftige Einschränkung der Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts geht, sondern darum, dass diesem immer dann ein Eingreifen verwehrt ist, wenn sich die tatrichterliche Entscheidung innerhalb dieses Spielraums bewegt, weil dann das Recht richtig angewendet wurde:75 Nach § 337 Abs. 1 StPO kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht. Gemäß § 337 Abs. 2 StPO ist das Gesetz nur dann verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. Sind aber mehrere Entscheidungen gleichermaßen richtig, hat das Tatgericht die Rechtsnorm richtig und nicht falsch angewendet. Ein revisibler Rechtsfehler liegt in einem solchen Fall nicht vor, auch wenn das Revisionsgericht bei seiner Rechtsanwendung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.76 Entscheidend ist demnach die Frage, ob (und wenn ja in welchen Fällen) es bei der Rechtsanwendung überhaupt mehrere richtige Entscheidungen geben kann. Denn immer dann wäre dem Revisionsgericht schon nach geltendem Recht (§ 337 StPO) ein Eingreifen in die tatrichterliche Entscheidung verwehrt.
V. Gibt es bei der Rechtsanwendung die Möglichkeit mehrerer richtiger Entscheidungen? Bei der Beantwortung dieser Frage scheiden sich ersichtlich die Geister: Während etwa Tolksdorf davon ausgeht, dass es bei der Rechtsanwendung stets nur eine richtige (oder richtigere) Entscheidung geben kann,77 ist für Maatz die Möglichkeit mehrerer richtiger Entscheidungen ganz selbstver73
Wittig GA 2000, 267, 283. Neuhaus in: Festschrift für Peter Riess (2002), S. 375, 396; Maatz StraFo 2002, 373, 377; BGH NJW 1978, 599. 75 Maatz StraFo 2002, 373, 377. 76 Zutreffend Maatz StraFo 2002, 373, 377; vgl. auch BGH NJW 1978, 599. 77 Vgl. Tolksdorf aaO S. 530 ff. 74
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ständlich.78 Die gründliche Beantwortung dieser Frage würde den Rahmen dieses Beitrags ersichtlich sprengen. Die folgenden Ausführungen können deshalb nur als ein erster Versuch verstanden werden, einige Gesichtspunkte zur Lösung dieser Frage beizutragen. Das Phänomen, dass mehrere Entscheidungen gleichermaßen richtig sein können, ist bei der Strafrechtsanwendung nicht ungewöhnlich. Hauptanwendungsfall ist die konkrete Strafzumessung innerhalb eines Strafrahmens. Hierbei handelt es sich zunächst um nichts anderes als Rechtsanwendung, nämlich die Anwendung von § 46 StGB. Anerkannt ist dabei, dass die Strafe innerhalb des gefundenen Strafrahmens auf der Grundlage der individuellen Schuld des Täters unter Berücksichtigung der Strafzwecke zu bemessen ist, wobei sich aus dem Schuldmaß zwar keine feste Strafgröße für die konkrete Tat, aber ein konkreter Schuldrahmen finden lässt, innerhalb dessen der Tatrichter durch einen Akt richterlicher Wertung die schuldangemessene Strafe bestimmt (sog. „Spielraumtheorie“ der Strafe).79 Auch hierbei könnte man einwenden, weshalb – bei Transport aller hierfür wesentlichen Zumessungstatsachen durch die Urteilsgründe – dem Tatrichter beim Akt der Strafzumessung überhaupt ein Spielraum zukommen soll, kann doch das Revisionsgericht diese Rechtsanwendung möglicherweise viel richtiger vornehmen. Entscheidend ist hierbei nicht etwa, dass die Urteilsgründe nach § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO nicht alle Strafzumessungstatsachen dokumentieren; denn aus § 354 Abs. 1a StPO lässt sich (wie auch aus der Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO in vergleichbaren Fällen) der Schluss ziehen, dass die im Urteil niedergelegten Strafzumessungstatsachen durchaus auch einen eigenen Strafzumessungsakt des Revisionsgerichts zulassen können. Entscheidend ist vielmehr, dass es beim Strafzumessungsakt als richterlichem Akt der Bewertung menschlichen Verhaltens keine durch logische Operationen ableitbare einzig richtige Entscheidung gibt, sondern es hierfür eines genuinen Wertungsaktes bedarf, durch den innerhalb des Spielraums schuldangemessener Strafe dezessionistisch eine konkrete Strafe ausgewählt wird. Ob für eine bestimmte Raubtat eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten richtiger ist als eine solche von drei Jahren und drei Monaten oder drei Jahren und neun Monaten, lässt sich rational nicht entscheiden. Auch wenn jede Strafzumessungsentscheidung für sich in Anspruch nimmt, die richtige zu sein, gibt es bei derartigen originären Wertungsakten, die für die Strafrechtspraxis eigentümlich sind, einen Bereich,
78 Maatz StraFo 2002, 373, 377; ebenso BGH NJW 1978, 599; BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 9. 79 Vgl. nur BGHSt 20, 266; Fischer aaO § 46 Rn. 20 mwN.
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der sich im Letzten der logischen Nachprüfbarkeit entzieht.80 Rational argumentativ überprüfbar ist dieser Wertungsakt nur eingeschränkt, nämlich darauf, ob er auf einer zutreffenden und rechtlich verwertbaren Tatsachengrundlage beruht, ob die richtigen Wertungsmaßstäbe angewandt wurden und ob er sich innerhalb eines gewissen Spielraums des Angemessenen/Vertretbaren bewegt. Im Kern bleibt aber ein Bereich reinen Dezissionismusses übrig, der – um mit Radbruch zu reden81 – nicht mehr der (rational nachprüfbaren) Erkenntnis, sondern nur noch des (höchstpersönlichen) Bekenntnisses fähig ist.82 Strafzumessung ist also im Kern kein Akt bloßer logischer Subsumtion, sondern ein genuiner höchstpersönlicher Wertungsakt. Bei derartigen genuinen Wertungsakten sind mehrere Entscheidungen gleichermaßen richtig, weil sich nach rein logischen Maßstäben nicht mehr entscheiden lässt, welche innerhalb eines Spielraums nach zutreffenden Maßstäben getroffene Entscheidung richtiger ist als die andere. Die Eigentümlichkeit dieses dezissionistischen Wertungsaktes beruht vor allen Dingen darauf, dass es im Strafrecht (im Unterschied zu den anderen Rechtsgebieten) ganz wesentlich um die tadelnde Bewertung menschlichen Verhaltens geht. Bestrafung ist Missbilligung, ein sozialethisches Unwerturteil über menschliches Tun.83 Das Gewicht dieses Tadels drückt sich in der Höhe der verhängten Strafe aus und wird ganz wesentlich durch die individuelle Schuld des Täters bestimmt (vgl. § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB). Der die gesamte Strafrechtspraxis (neben der Tatsachenfeststellung) zentral prägende Wertungsakt ist im Kern keine logische Operation und deshalb nicht bis ins Letzte logisch mit rechtlichen Erwägungen begründbar. Es bleibt bei derartigen originären Wertungsakten vielmehr stets ein rational nicht weiter aufklärbarer Rest von Dezissionismus übrig. Weil dem so ist, können originäre Wertungsakte, bei denen es zentral um die missbilligende Bewertung menschlichen Verhaltens geht, innerhalb eines gewissen Rahmens zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ohne dass sich rational weiter aufklären ließe, welche dieser Entscheidungen richtiger ist als die andere (zutreffende Tatsachengrundlagen und ein zutreffendes Wertungsprogramm unterstellt). Die Überprüfungsinstanz könnte innerhalb dieses Rahmens allenfalls den 80 Vgl. zu diesem Problem ganz allgemein auch Alexy Theorie der juristischen Argumentation (1983), S. 222 f. 81 Vgl. Radbruch Rechtsphilosophie, 6. Aufl. (1963), S. 100. 82 Vgl. Lackner/Kühl StGB 26. Aufl. 2007, § 46 Rn. 50 mwN; den guten Strafrechtspraktiker zeichnet deshalb (auch im Vergleich zu seinen Kollegen aus dem Zivilrecht und öffentlichen Recht) nicht nur die Fähigkeit zur Tatsachenfeststellung und zur feinsinnig logischen Subsumtion, sondern ganz besonders auch sein Judiz, also die Urteilskraft bei derartigen genuinen Wertungsakten aus. 83 Vgl. nur BVerfGE 105, 135, 157; 96, 245, 249; BGH NJW 2000, 1427; Fischer aaO § 46 Rn. 2 mwN.
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überprüften Wertungsakt durch einen eigenen originären Wertungsakt ersetzen. Dies ist dem Revisionsgericht aber durch § 337 StPO von Rechts wegen verwehrt, denn es muss jede richtige Rechtsanwendung durch den Tatrichter hinnehmen, auch wenn es selbst aufgrund eigener Wertung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
VI. Der Spielraum des Tatrichters bei originären Wertungsakten Solche für die Strafrechtsanwendung zentralen höchstpersönlichen originären Wertungsakte finden sich indes nicht nur bei der Strafzumessung im engeren Sinne im Rahmen von § 46 StGB, sondern auch in vielen anderen Bereichen. Überall dort, wo dem Tatrichter derartige originäre Wertungsakte auferlegt werden, kann man berechtigter Weise von einem „Spielraum“ des Tatrichters bei seiner Entscheidung reden, den das Revisionsgericht aufgrund § 337 StPO nur eingeschränkt daraufhin überprüfen kann, ob die Grundlagen zutreffend ermittelt wurden, das Wertungsprogramm rechtlich zutreffend ist und sich die Entscheidung im Rahmen des Vertretbaren hält.84 Um die Bewertung menschlichen Verhaltens im Sinne eines originären Wertungsaktes geht es auch bei Abgrenzungsfragen in Grenzfällen, etwa der Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe oder von Tun und Unterlassen. Die Anerkennung eines Wertungsspielraums ist in derartigen Fällen zwar nicht zwingend im Gesetz angelegt, sondern Ergebnis gewachsener ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung. Diese Rechtsprechung ist aber sinnvoll: In derartigen Grenzbereichen ist die Abgrenzungsfrage stets für die Strafrahmenwahl entscheidend. Weil der Gesetzgeber den Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs wenig detailliert geregelt hat und die Strafrahmenwahl stets auch ein Mehr oder Weniger an Missbilligung konkreten menschlichen Verhaltens bedeutet, erscheint es richtig, in Grenzfällen aufgrund würdigender Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls einen originären Wertungsakt des Rechtsanwenders ausschlaggebend sein zu lassen. In Fällen dieser Art ist etwa die Entscheidung zwischen Beihilfe und Mittäterschaft gleichsam eine Art wertender Strafzumessungsakt durch Auswahl des richtigen Strafrahmens. Möglich ist dies deshalb, weil der Gesetzgeber gerade im Allgemeinen Teil die konkrete Ausformung der Rechtsprechung überlassen hat, es dabei um das Maß tadelnder Bewertung menschlichen Verhaltens geht und sich deshalb die Entscheidung in Grenzfällen dieser Art einem Strafzumessungsakt annähert. Zwingend ist die Rechtsprechung zu Beurteilungsspielräumen des Tatrichters in diesem Bereich allerdings nicht. Dass der Spielraum des Tatrichters etwa bei der Abgrenzung zwischen 84
Vgl. Maatz StraFo 2002, 373, 377.
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Beihilfe und Mittäterschaft in den BtM-Kurierfällen neuerdings enger gezogen wird,85 ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot oder Art. 20 Abs. 3, Art. 97 GG liegt durch die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen in Grenzfällen dieser Art ebenso wenig vor wie bei der Anerkennung eines erheblichen Spielraums des Tatrichters bei der für den Bestraften viel wichtigeren Frage, wie hoch seine Strafe ausfallen wird. Insoweit gleicht die Abgrenzung verschiedener Begehungsweisen nach dem Allgemeinen Teil eher einem Akt der Strafzumessung. Beurteilungsspielräume können auch dann eröffnet sein, wenn gesetzliche Tatbestandsmerkmale einen originären Wertungsakt des Tatrichters erfordern. Dies ist etwa der Fall bei der Bewertung eines Tötungsmotivs als „niedrig“ im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB. Auch hier geht es nicht nur um die logische Subsumtion von Tatsachen unter festgestellte sozialethische Bewertungen der Rechtsgemeinschaft, sondern um die originäre tadelnde Bewertung menschlichen Verhaltens durch einen Richter aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls innerhalb eines gewissen Rahmens.86 Die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums ist in diesem Fall vom Gesetzgeber vorgezeichnet und hat nichts mit Willkür zu tun, sondern damit, dass das zu verhängende Unwerturteil einem Strafzumessungsakt insoweit gleicht, als es durch die Wortwahl ganz zentral auf eine Bewertung menschlichen Tuns ankommt und deshalb mehrere Entscheidungen gleich richtig sein können. Dies wohnt aber dem für die Strafrechtsanwendung zentralen Wertungsakt als solchem inne und ist kein Ausdruck von Willkür. Dass man das Tatbestandsmerkmal der niedrigen Beweggründe mit der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung in diesem Sine versteht, ist sicher nicht zwingend, nach hiesiger Auffassung aber sinnvoll, weil die Rechtsanwendung in diesem Falle aufgrund der Öffnung des Tatbestandes für Wertungsurteile durch die Verwendung des Begriffs „niedrig“ gleichsam strafzumessungsähnlichen Charakter hat. Auch andere Tatbestandsmerkmale wie etwa die „Erheblichkeit“ einer Einschränkung der Steuerungsfähigkeit bei § 21 StGB oder die Feststellung der „besonderen Schwere der Schuld“ im Sinne von § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB erfordern schon aufgrund der jeweiligen Gesetzesfassung originäre Wertungsakte des Tatrichters. In allen diesen Fällen „wertungsausfüllungsbedürftiger Tatbestandsmerkmale“ ist ein Spielraum des Tatrichters anzuerkennen.
85 86
Vgl. etwa BGH NJW 2007, 1220; Winkler NStZ 2007, 317; Puppe JR 2007, 299. Vgl. auch kritisch: Fischer aaO § 211 Rn. 14 mwN.
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VII. Der Spielraum des Tatrichters bei Wahrscheinlichkeitsurteilen Ganz anderer Provenienz ist der tatrichterliche Spielraum bei der Feststellung vergangener Tatsachen sowie bei Verdachts- und Prognoseentscheidungen. Dass dem Tatrichter bei derartigen Urteilen ein Spielraum zusteht, ist nahezu unbestritten. Bei Prognoseentscheidungen scheint dies dem Bundesgerichtshof aufgrund des Prognosecharakters geradezu selbstevident zu sein.87 Verständlich wird dieser Ansatz schon deshalb, weil Wahrscheinlichkeitsurteilen notwendig ein hohes Maß an Unsicherheit innewohnt. Hinzu kommt Folgendes: Bei derartigen Urteilen geht es um Akte persönlicher Überzeugungsbildung über das, was geschehen ist, oder das, was geschehen wird. In diesem Punkt gleicht die zur Tatsachenfeststellung im Sinne von § 261 StPO führende Beweiswürdigung der Schöpfung eines Verdachts oder der Annahme einer bestimmten Prognose. Es handelt sich dabei jeweils um Wahrscheinlichkeitsurteile. Die Überzeugungsbildung im Sinne von § 261 StPO erfordert im Falle des Schuldspruchs lediglich einen höheren Grad an persönlicher Überzeugtheit; strukturell kann der Tatrichter über die Frage, ob etwas in der Vergangenheit geschehen ist, das er selbst nicht wahrgenommen hat, lediglich ein Wahrscheinlichkeitsurteil fällen, das sich zur subjektiven Gewissheit auf nachvollziehbarer Grundlage festigen muss. In allen drei Fällen handelt es sich um Akte subjektiver Überzeugungsbildung, denen notwendig ein nicht weiter rational auflösbares subjektives Element persönlichen Überzeugtseins innewohnt.88 Der eine schöpft beim Vorliegen bestimmter Indizien einen Verdacht, der andere nicht; der eine ist aufgrund bestimmter Tatsachen von einer zukünftigen Entwicklung überzeugt, der andere nicht; für den einen ist aufgrund bestimmter Indizien die Täterschaft des Angeklagten persönlich gewiss, für den anderen nicht. Dieses vom Recht vorausgesetzte persönliche Überzeugtsein ist eine höchstpersönliche Leistung, die eine andere Struktur als etwa der logische Subsumtionsvorgang aufweist. Rational auflösbar im Sinne argumentativen Diskurses (und damit ohne weiteres vom Revisionsgericht überprüfbar) ist bei einem derartigen höchstpersönlichen Überzeugtsein jeweils, ob die Grundlagen der Überzeugungsbildung zutreffend gewählt wurden, ob die richtigen Regeln bei der Überzeugungsbildung eingehalten wurden und ob schließlich das Ergebnis der Überzeugungsbildung vertretbar (im Sinne von rational aufgrund der angegebenen Gründe nachvollziehbar) ist. Hat sich der Tatrichter auf zutreffendem Wege eine persönliche Überzeugung gebildet, hat er das Recht 87 88
BGH NStZ 2003, 671. Vgl. bereits Küpper JR 1996, 214, 215, für den Verdacht.
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richtig angewendet. Ob sich die Revisionsrichter aufgrund der durch die Urteilsgründe transportierten Gründe auch selbst diese Überzeugung bilden, ist vor dem Hintergrund des § 337 StPO völlig unerheblich. Denn hat der Tatrichter das Recht richtig angewandt, ist dem Revisionsgericht nach § 337 StPO ein Eingreifen von Rechts wegen verwehrt. Die Urteilsgründe dienen deshalb im Bereich von Tatsachenfeststellung, Verdachts- und Prognoseurteilen nicht dazu, dem Revisionsgericht eine eigene Überzeugung im Sinne eines eigenen subjektiven Überzeugtseins zu verschaffen, sondern lediglich dazu, den Weg der Überzeugungsbildung des Tatrichters transparent abzubilden. Sofern dieser Weg richtig, das Ergebnis der Überzeugungsbildung möglich ist und sich im Rahmen des Vertretbaren hält, ist das Recht im Sinne von § 337 StPO richtig angewandt und das Gesetz nicht verletzt. Eine andere Form der Überprüfung solcher Wahrscheinlichkeitsurteile, die im Kern einen Akt subjektiven Überzeugtseins voraussetzen, ist natürlich auch vorstellbar (und in anderen rechtlichen Zusammenhängen wie etwa bei der gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen, auch wegen Art. 19 Abs. 4 GG, üblich)89. Man kann etwa fordern, dass die Überprüfungsinstanz selbst auch die subjektive Überzeugung von dem bisher Geschehenen oder der zukünftigen Entwicklung gewinnt, also etwa aufgrund der mitgeteilten Indizien selbst einen Verdacht schöpft, zur gleichen Prognose kommt oder die Beweise in gleicher Weise würdigt. Strukturell würde dies bedeuten, dass die Überprüfungsinstanz ihr eigenes Überzeugtsein an die Stelle des Überzeugtseins des zunächst Entscheidenden setzt.90 Auf diese Weise geht etwa der Ermittlungsrichter bei Bestätigung der staatsanwaltschaftlichen Anordnung einer Telekommunikationsüberwachung vor; er muss dabei in einem Akt subjektiver Überzeugungsbildung selbst den vorausgesetzten Verdacht schöpfen und nicht nur überprüfen, ob die Verdachtsschöpfung durch die Staatsanwaltschaft rechtsfehlerhaft war.91 Eine derartige Kontrolldichte ist vor dem Hintergrund von Art. 19 Abs. 4 GG stets dort angebracht, wo es um die gerichtliche Überprüfung exekutiven Vorgehens geht.92 Anders hingegen das Revisionsrecht: Dem Revisionsgericht steht aufgrund der in § 337 StPO niedergelegten Struktur des Revisionsrechts im Tatsächlichen, also bei der Beweiswürdigung und sämtlichen Wahrscheinlichkeitsurteilen, kein eigenes Recht auf subjektives Überzeugtsein zu, sondern nur auf Überprüfung, ob dem Tatrichter bei dem Weg seiner Überzeugungsbildung Fehler unterlaufen sind und sich das Ergebnis im Rahmen des Vertretbaren hält. Also: Der Tatrichter, nicht das 89
Vgl. nur Störmer ZStW 108 (1996), 494, 510 ff. Vgl. Küpper JR 1996, 214, 215. 91 Vgl. Geppert DRiZ 1992, 409; BGH (Ermittlungsrichter) NStZ 1989, 333 f. 92 Vgl. näher Maatz StraFo 2002, 373, 379; Störmer ZStW 108 (1996), 494, 510 ff. 90
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Revisionsgericht muss im Tatsächlichen überzeugt sein, damit Recht richtig angewendet wird.
VIII. Ergebnis In vielen unterschiedlichen Bereichen kommt dem Tatrichter bei seinen Entscheidungen ein Spielraum zu, innerhalb dessen mehrere Entscheidungen gleichermaßen richtig sein können. Grund hierfür ist, dass es im Strafrecht zwei Arten von Urteilsakten gibt, die einen Kern nicht weiter rational überprüfbarer höchstpersönlicher Entscheidung enthalten: Werturteile bei der tadelnden Bewertung menschlichen Verhaltens und Akte persönlichen Überzeugtseins von Geschehnissen in Vergangenheit und Zukunft. Originäre höchstpersönliche Wertungsakte sind nicht nur bei der Strafzumessung im engeren Sinne zu treffen, sondern auch bei strafzumessungsähnlichen Abgrenzungsfragen und wertungsausfüllungsbedürftigen Tatbestandsmerkmalen. In diesem Punkt unterscheidet sich das Strafrecht von den anderen Rechtsgebieten grundlegend, weil es der Strafrechtspraxis (neben Tatsachenfeststellung und Subsumtion) im Kern um die missbilligende Bewertung menschlichen Verhaltens geht und sich die Strafrechtsanwendung deshalb nicht auf Akte bloßer logischer Subsumtion beschränken lässt. Anders verhält es sich bei den Wahrscheinlichkeitsurteilen, die der Tatrichter (wie in anderen Rechtsgebieten) im Rahmen der Tatsachenfeststellung sowie von Verdachts- und Prognoseurteilen notwendig treffen muss. Diesen wohnt nicht nur ein Akt höchstpersönlichen Überzeugtseins sondern stets auch eine gewisse Unsicherheit inne. In beiden Fällen ist das Recht richtig angewendet, wenn der Tatrichter auf der richtigen Grundlage und dem richtigen Weg innerhalb eines gewissen Rahmens zu einem vertretbaren Ergebnis gekommen ist. Dem Revisionsgericht ist dann ein Eingriff wegen § 337 Abs. 2 StPO verwehrt. In diesem Sinne bedeutet die Anerkennung von Spielräumen des Tatrichters nicht ein Zurückweichen der revisionsgerichtlichen Kontrolldichte, sondern die Anerkennung der Tatsache, dass es im Strafrecht nicht nur im Tatsächlichen, sondern auch im Bereich originärer Wertungsakte einen Spielraum gibt, also mehrere Entscheidungen richtig sein können. Innerhalb dieses Spielraums weist das Gesetz nach § 337 Abs. 2 StPO nicht dem Revisionsgericht, sondern dem Tatrichter die letztgültige Entscheidungskompetenz zu.
Fürsorgliche Erschießung Über einige Pragmata hoheitlicher Grundrechts-Eingriffe – und das Glück, heute zu leben HANS-ULLRICH PAEFFGEN
Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein, / Nur viele untergänge ohne würde ... Stefan George1
Soll man wirklich noch über Werte sprechen? Allerdings schallt es einem vielfältig entgegen, daß es „unsere Werte zu verteidigen“ gelte. Nachdem Helmut Kohl die geistig-moralische Wende ausgerufen hat und nicht nur den Diskurs über jene auf ungeahnte Höhen trieb, nein, seitdem Werte auch wirklich gelebt werden,2 verspricht fürderhin über sie zu theoretisieren 1 Aus Anlaß des Ausbruchs des 1. Weltkriegs, Zitat aus der 5. Strophe des Gedichts „Der Krieg“ (Berlin, 1917), S. 5. – Oder sollte man an den immer etwas Passendes bietenden Goethe erinnern (Faust II, Kaiserliche Pfalz, BI, 5. Band [1902], S. 203 [210, Z. 4782 ff.]): „Wer schaut hinab von diesem hohen Raum ins weite Reich, ihm scheints ein schwerer Traum, wo Mißgestalt in Mißgestalten schaltet, das Ungesetz gesetzlich überwaltet und eine Welt des Irrtums sich entfaltet“. 2 Exemplarisch von dem Proklamator dieser Neubesinnung selbst, der sogar sein „Ehrenwort“ über das Gesetz zu stellen sich genötigt sah – und damit in die Reihe der Gesinnungsund Gewissenstäter einging. Da ich davon lesen mußte, daß schon Gorbatschow Helmut Kohl für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen hat, möchte ich wenigstens der erste sein, der ihn für den Geschwister-Scholl-Preis vorschlägt – allerdings erst, nachdem die Stifter jenes Preises (der Verband Bayerischer Verlage und Buchhandlungen und die Stadt München) dessen Statuten geändert haben: Denn derzeit wird der Geschwister-Scholl-Preis nur für ein Buch verliehen, „das geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortungsvollen Gegenwartsbewußtsein wichtige Impulse zu geben“ (wie es in den Statuten steht) – und, völlig unverständlich, nicht auch für entsprechende Taten. (Für diejenigen, denen die Gnade der späten Geburt zuteil wurde, oder die mit der Gnade eines schlechten Gedächtnisses gesegnet sind, sei noch einmal kurz in Erinnerung gerufen: „In der CDU-Spendenaffäre nach der verlorenen Bundestagswahl 1998 verschwieg Kohl die Herkunft eines Betrags in Höhe von anderthalb bis zwei Millionen DM, obwohl er gemäß dem Parteiengesetz, welches er als Bundeskanzler selbst unterzeichnet hatte, und der darin verankerten Publikationspflicht zur Auskunft verpflichtet war. Bis heute nimmt Kohl keine Stellung zu
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Hans-Ullrich Paeffgen
eigentlich wenig Erkenntnisgewinn. Gleichwohl – vielleicht sollte man sich gelegentlich auf sie zurückbesinnen.
I. Einführung Wenden wir uns aber zunächst einigen Pragmata zu, blicken wir auf die Folgen, auf die Rahmenbedingungen präsumtiven präventiven und repressiven Handelns zum Schutz eben dieser Werte und die Umsetzung eben jener Rahmenbedingungen. Da ist festzustellen, daß wir im Polizeirecht wie in der StPO seit 1970 permanent „aufrüsten“.3 Gerade ermatteten die RAF und die Roten Brigaden etwas,4 da schickte Nemesis den, infolge Zusammenbruchs der Sowjetunion und ihres Systems, von Müßiggang und Ziellosigkeit bedrohten Nachrichtendiensten, Polizei- und Militärstrategen eine neue Bedrohung in Form des islamistischen Terrorismus. Und weil, diesen Prozeß überlagernd und dadurch verstärkend, der technische Fortschritt auch
diesem Thema. Seine Argumentation, er habe das Geld von Spendern erhalten, denen er mit Ehrenwort versprochen habe, ihren Namen zu verschweigen, steht im Gegensatz zur geltenden Rechtslage und der verfassungsrechtlich festgeschriebenen Unabhängigkeit der Parteien und stieß seinerzeit auf heftige öffentliche Kritik. Für die der CDU durch die anschließende Sperrung der Wahlkampfkostenerstattung entstandenen finanziellen Einbußen kam Kohl mit Geldern aus einer privaten Spendenaktion auf“, lt. Wikipedia-Aufruf vom 16.8.2007. Wer sich genauer informieren will, mag nur, u.a., in den Artikeln von R. Leicht, Ein Klacks für Kohl, DIE ZEIT 11/2001, http://www.zeit.de/2001/11/200111_2._leiter.xml, oder von Thomas Hauschild, Bimbes statt Bimbos, DIE ZEIT, http://www.zeit.de/2000/06/200006.bimbo1_.xml, oder das SZ-Gespräch mit Walter Leisler-Kiep, Die Aura von Helmut Kohls Macht hat Weyrauch geblendet, SZ v. 29. 1. 2000, S. 14, nachlesen.) – Ähnliche Säuberungs-Attacken (,moralische Revolution’) wollte auch der polnische Ministerpräsident Jarosáaw KaczyĔski reiten (vgl. etwa nur Thomas Urban, Die moralische Revolution ist gescheitert, SZ v. 13. 8. 2007, S. 4; Alice Bota, Die halbierten Zwillinge, DIE ZEIT v. 16.08.2007 Nr. 34, http://www.zeit.de/2007/34/Polen-Regierungskrise ). Nur ließ ihm sein eigenes Ungestüm wie auch zahlreiche kooperationsunwillige Betroffene mit guten 2 Jahren nur ein Bruchteil derjenigen Zeit, die die deutsche Wählerschaft Helmut Kohl einräumte, um die endliche Wiederkehr von Anstand, Sauberkeit und Gerechtigkeit zu ermöglichen. 3 Der Ausdruck stammt aus dem Bereich des Martialischen. Aber eine solche – militärische – Sprache bemächtigt sich seit dem „deutschen Herbst“ zunehmend unseres Denkens, leider durch mediale Schwätzer stark unterstützt, die die Hemdsärmeligkeit der Sprache in politischen Dingen von unser aller Vorbild, den USA, nur allzu gern ins Deutsche übertragen, wenn sie sie nicht gleich in ihrem Denglish-Kauderwelsch als solche belassen: Es sei nur an den „war on drugs“ und den „war on terrorism“ erinnert. Da nimmt es denn nicht wunder, wenn sich manche zu solch lichten Höhen der Begriffs-Ablösung versteigen wie Hetzer, wenn er davon spricht, daß die Steuerhinterziehung eine „Kriegserklärung“ an den Staat als Ordnungsmacht sei, WM 1999, 1306 (1314). 4 Was man von anderen Terror-Organisationen, etwa in Kolumbien (u.a.: Sendero Luminoso), aber selbst in Europa (ETA) nicht sagen konnte.
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immer weiter voranschreitet, überschlagen sich auch unsere Kriminalpolitiker mit immer neuen Ideen und Vorschlägen für Techniken, wie wir der permanent wachsenden Bedrohung endlich Herr werden können. Dabei läuft unsere Findigkeit im Aushecken neuer Errungenschaften der „Sicherheitskultur“ immer der in den USA hinterher, die auch insoweit ein „Land der (beinahe) unbegrenzten Möglichkeiten“ sind. Als gelegentliche Linderung appliziert man dann der bisweilen doch etwas irritiert dreinblickenden Öffentlichkeit ein Trostpflaster – allerdings auf die Augen: ‚Das mit den Eingriffen ist ja alles notwendig, und passieren kann auch eigentlich nichts, denn, wo es doch mal was tiefer in die individuellen Freiheiten einschneidet, da steht vor allfälligem Fehlgebrauch jedweder Art ja das Palladium des Richtervorbehaltes, gleichsam als Rocher de bronce, an dem alle dienstübereifrigen, aber unrechtlichen polizeilichen Aktivitäten zerschellen.’ Um an dieser Legendenbildung ein wenig herumzukritteln, seien dem rechtspolitisch Interessierten5 zwei tatsächlich passierte Episoden aus dem prozessualen Alltag als kleine Nachdenklichkeits-Hilfe an die Hand gegeben. Es geht um diesen vorgeblichen Balsam des Richtervorbehaltes, der die heutige „Sicherheitskultur“ im Bereich von (Polizei- und) Strafprozeßrecht erträglich machen können soll. – Es sei nicht verschwiegen, daß unser Jubilar sich dieser Gloriolen für die Gesamtheit der Richterschaft in verschiedenster Weise in den Weg gestellt hat. Er gehört damit zu der – schwindenden – Zahl derer, die an einem – von vielen nur noch als „naiv“ klassifizierten – Glauben an das, was sie den Studenten in der Universität über Liberalität in einem freiheitlich verfaßten Staatswesen erzählen, auch wissenschaftlich hartnäckig festhielten.6 Dadurch kann man freilich, wie es 5 Dem Jubilar vermag ich derartiges freilich nicht als Neuigkeiten anzudienen; das hieße nur, Eulen nach Athen zu tragen. 6 Was nicht gleichbedeutend mit Libertinismus steht. Erinnert sei nur an seinen, an das Werk seines Lehrers Spendel anknüpfenden Kampf für ein Verständnis von dem Tatbestand der Rechtsbeugung, der es erlauben würde, den Justizstab auch wirklich für sein Tun zur Verantwortung zu ziehen (Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung [1969], S. 1 ff., 135 ff.; ders., Versteckte Strafrechtsreform – Geringere Richterverantwortlichkeit?, ZRP 1973, 239; ders., Rechtsbeugung und Rechtsbruch, JR 1994, 1 ff.; ders., Anm. zu BGH JR 1997, 471 [= BGHSt 42, 343], JR 1997, 474; ders., DDR-Justiz vor Gericht, Lenckner-FS [1998], S. 585 [604]; ders, Anm. zu BGH JZ 2000, 317, [319 f.]; Bemmann/Seebode/Spendel, Rechtsbeugung – Vorschlag einer notwendigen Gesetzesreform, ZRP 1997, 307 ff.; zuvor schon Spendel, Zur Problematik der Rechtsbeugung, Radbruch-GS [1968], S. 312 ff.; ders., Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Richters, Heinitzs-FS [1972], S. 445 ff.; ders., Richter und Rechtsbeugung, Peters-FS [1974], 163 ff.; ders., Rechtsbeugung durch Rechtsprechung [1984], S. 5; ders., Unrechtsurteile der NS-Zeit, Jescheck-FS I [1985], S. 179 ff.; ders., Der Bundesgerichtshof zur Rechtsbeugung unter dem SED-Regime, JR 1994, 221; ders., Rechtsbeugung und Justiz insbesondere unter dem SED-Regime, JZ 1995, 375 [378]; ders., DDR-Unrechtsurteile in der neueren BGH-Judikatur. Eine Bilanz, JR 1996, 177; ders., Rechtsbeugung und BGH –
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eine Kritik, NJW 1996, 809 [810]; LK11-Spendel [1999], § 339 Rn. 54b ff. – was unsere Justiz, im Bemühen, ihren zahlreichen reaktivierten, aber auch, horribile dictu: nicht reaktivierten NSKollegen nicht wehtun zu müssen, mit Hilfe tatmächtigen Unterlassens des Gesetzgebers zu sabotieren verstanden hat. Vgl. insbes. BGHSt 10, 294 = NJW 1957, 1158), indem das Erfordernis des dolus directus in den Tatbestand gelesen wurde. Zynischer Tiefpunkt ist das berüchtigte Rehse-Urteil des BGH, BGH NJW 1968, 1339; zu den krit. Stimmen damals vgl. F. Bauer, Das „gesetzliche Unrecht“ des Nationalsozialismus und die deutsche Strafrechtspflege, Radbruch-GS (1968), S. 302 ff.; Dellian, Haftungsprivileg des Richters im Strafrecht?, ZRP 1969, 51; Marx, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Spruchrichters gemäß § 336 StGB, JZ 1970, 248; Rasehorn, Das Verfahren gegen Rehse und die Problematik des § 336 StGB, NJW 1969, 457 (459); Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung (1968) S. 135 ff.; ders., Rechtsblindheit und bedingter Vorsatz bei der Rechtsbeugung, JuS 1969, 204 (207); später: Schmidt-Speicher, Hauptprobleme der Rechtsbeugung (1982), S. 82 Fn. 5. – Immerhin hat sich die Justiz – mit dem Abstand von fast zwei Generationen – vor gut 10 Jahren zu der Einsicht bequemt, daß diese alte Judikatur methodisch unvertretbar und moralisch unerträglich war, BGHSt 41, 317 (319 ff.) (= BGH NJW 1996, 857 = MDR 1996, 402; i.E. zust. [obschon ihm der BGH nicht weit genug geht] dazu: Begemann, Rechtsbeugung durch DDR-Richter, NStZ 1996, 389; Bemmann, Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Richters, Radbruch-GS [1968], S. 308; Gritschneder, Rechtsbeugung. Die späte Beichte des Bundesgerichtshofs, NJW 1996, 1239; Spendel, Rechtsbeugung und BGH – eine Kritik, NJW 1996, 809). Zugleich brachte uns die Neuauflage der Problematik im Zuge der sog. „Wiedervereinigung“ aber zugleich die aufschlußreich-kryptische Aufgabe der alten Maximen: BGHSt 40, 30 (40 ff.); 40, 169 (178 ff.); krit. dazu etwa Bemmann, Zu aktuellen Problemen der Rechtsbeugung, JZ 1995, 123 (127); Dallmeyer, Rechtsbeugung durch Beweisführung in der Bundesrepublik Deutschland, GA 2004, 540 (547 ff.); Seebode, JR 1994, 1 ff.; Spendel, JZ 1995, 375 (378 ff.); E. Wolf, Rechtsbeugung durch DDR-Richter, NJW 1994, 1390 f.; Fischer, StGB55 (2008), § 339 Rn. 15a; grundsätzlich zust. etwa Burian, „Richterliches“ Unrecht im totalitären Staat., ZStW 112 (2000), 106 (110 ff.); Rogall, Bewältigung von Systemkriminalität, BGH-FG IV [2000], S. 383 (430 ff.); Roggemann, Richterstrafbarkeit und Wechsel der Rechtsordnung. Das BGH-Urteil zur Rechtsbeugung durch DDR-Richter, JZ 1994, 769 (776 ff.); K. Rudolph, Lesearten für Rechtsbeugung, NJW 1994, 1201 ff.), zwischen schlicht „unvertretbaren“ und „völlig unvertretbaren“ Entscheidungen unterscheiden zu müssen; (mit Recht abl. Foth, BGH v. 4. 9. 2001 5 StR 92/01 Rechtsbeugung durch zögerliche Bearbeitung einer Rechtssache, JR 2002, 254 [258]; Herdegen, Rechtsbeugung im Bußgeldverfahren, NStZ 1999, 457 ff.; sehr viel nachsichtiger: NK2-Kuhlen [2005], § 339 Rn. 69 [„befremdlich(e)“ Kritik, die „von einem sehr selektiven Problembewusstsein der Kritiker“ zeuge, deren Vertreter „offenbar verkennen, dass sie selbst im Glashaus“ säßen]). – Zu der Duodezfürsten-Mentalität, die sich mancher Richter bemächtigt, exemplarisch der Fall Schill (BGHSt 47, 105 ff.; zu dessen Faktenhintergrund etwa Bertram, „Schill ante portas!“ – eine „Hamburgensie“?, NJW 2001, 1108 f.). Dem BGH freilich i.E. zust.: Böttcher, Rechtsbeugung durch zögerliche Bearbeitung einer Rechtssache – Der Fall Schill, NStZ 2002, 146; Foth, BGH v. 4. 9. 2001 5 StR 92/01 Rechtsbeugung durch zögerliche Bearbeitung einer Rechtssache, JR 2002, 257 [258 f.]; Müller, Anmerkung zum BGH Urt. v. 4.9.2001 – 5 StR 92/01 [LG Hamburg], „Fall Schill“, StV 2002, 306 [308]; zust. NK2-Kuhlen [2005], § 339 Rn. 56; a.A., das Judikat abl., etwa: Kühl/Heger, Anmerkungen zum Schill – Urteil, JZ 2002, 201 [202]; Müller, Anmerkungen zu BGH U. v. 4.9.01 – 5 StR 92/01, StV 2002, 306 [308: „die Wendung in der Rechtsbeugungsjudikatur ist neu und schwer verständlich“]; Wohlers/Gaede, Rechtsbeugung durch Handeln aus sachfremden Erwägungen?, GA 2002, 483 ff.; daneben werden die sehr hohen Anforderungen kritisiert, die der BGH an die Tathandlung stellt, vgl. Kühl/Heger, JZ 2002, 201 [203]; Schaefer, Überzoge-
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scheint, weniger denn je Ferment im Sauerteig der kommenden Juristengeneration werden, sondern wird eher als Sand im Getriebe stromlinienförmiger Ausbildung und weichgespülter Gesetzgebung wahrgenommen.
II. Veranschaulichung Blicken wir also den Realitäten ins Gesicht – etwa:
a) Beispiel 17 aa) Sachverhalt: Ein Anwalt, nennen wir ihn A, war von einem ausländischen Verurteilten V (Schuldspruch: Freiheitsstrafe von neun Jahren wegen Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung), der sich in Strafhaft befand, mit der Wahrnehmung seiner Rechtsinteressen betraut. Die Polizei hat den Eindruck, V reorganisiere seine ihn ehemalige Gruppierung oder organisiere eine solche neu, um weiterhin das Sagen in der Türsteherszene und im Rotlichtmilieu „seiner“ Stadt zu behalten. Im Zuge dieser Ermittlungen, bei der auch TÜ und Raumüberwachungen gegen die Ehefrau des V, VF, und dessen ehemalige rechte Hand H eingesetzt wurden, richtete sich der polizeiliche Verdacht auch gegen A. Er habe die (im neuen Verfahren der Bildung einer kriminellen Vereinigung mitbeschuldigte) Ehefrau des V darauf hingewiesen, daß sie von H mehr Geld zu bekommen habe, als sie tatsächlich erhielt. Außerdem habe er Geld auf das Anstaltskonto des V (10.000,- €) überwiesen und damit Geldwäsche begangen, zumal er über weitere Transaktionen Bescheid gewußt haben soll. Diese Gelder sollten aus unversteuerten Einnahmen aus Bordellen stammen. I. ü. würden in diesen Bordellen Frauen zur Prostitution gezwungen. Deswegen beantragte die Polizei eine TÜ gegenüber und eine Durchsuchung bei A. – Die zuständige Staatsanwältin lehnte zunächst ab: Für ein fortwirkendes oder neues Organisationsverhalten des inhaftierten V i.S.d. § 129 StGB gebe es keine einen Anklageverdacht ausreichend tragenden Anhaltpunkte. Auch für Geldwäsche des A fehle es an zureichenden Verdachtsmomenten: Zwar sei er aus seiner Verteidigerzeit möglicherweise über die finanziellen Hintergründe von V und H informiert. Dies reiche
nes Richterprivileg, NJW 2002, 734 f.; Schiemann, Rechtsbeugung durch den Strafrichter – Der Fall Schill, NJW 2002, 112 [114]; Seebode, Zum Tatbestand der Rechtsbeugung – Anmerkungen zu BGH U.v. 3.12.98 – 1 StR 240/98, JZ 2000, 319). Daß mit jener Judikatur, die einen bewußt überzeugungswidrigen Rechtsverstoß verlangt (BGH 42, 343 [350 ff.]; 44, 258 [264]; 275 [291 f.]; BGH JZ 2002, 198 [199]), der Gesetzeszweck unterlaufen werde, meinen Maurach/Schroeder/Maiwald, BT-29 (2005), § 77 Rn. 16; (krit. auch SK7-Rudolphi/Stein [2003], Rn 20; der Judikatur jedoch zust.: NK2-Kuhlen [2005], § 345 Rn. 77). 7 Ein Teil der Ermittlungsakten hat mir vorgelegen.
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aber nicht. Zudem sei ungesichert, ob die im neuen Verfahren fraglichen Beträge tatsächlich aus einer Katalog-Vortat stammten. Aber selbst, wenn H nunmehr gewerbsmäßig Steuern hinterzogen haben sollte, was mangels Einbindung der Steuerfahndung noch nicht feststehe, käme eine Strafbarkeit des A nicht in Betracht. Denn es ließe sich nicht belegen, daß die auf das Anstaltskonto des V überwiesenen Beträge gerade aus ersparten Aufwendungen aus den in Betracht kommenden Steuerstraftaten stammen würden. Gleiches gelte hinsichtlich der finanziellen Beratung der VF, zu der sich die Betroffenen verschwiegen. Geeignete Beweismittel, die zu einer Tataufklärung – und dabei insbesondere zur Frage der Herkunft der Gelder führen könnten, seien nicht ersichtlich. Deshalb sei das Verfahren gegen alle Beteiligten nach § 170 Abs. 2 StPO einzustellen, abgesehen von einer Weiterleitung der Akten gegen H an die Steuerfahndung. Dieser Bescheid wich, wohl auf Intervention der Polizei, alsbald einer neuen Einschätzung der nämlichen StAin: In den nunmehrigen Anträgen an das Amtsgericht auf TÜ bei den Mandantengesprächen in der JVA und Durchsuchung wurde, auf der Basis unveränderter Tatsachen der für jene massiven Grundrechtseingriffe erforderliche Tatverdacht und die sonstigen Eingriffsvoraussetzungen bejaht.
bb) Rechtliche Würdigung: Man mag als kundiger Thebaner um die enormen Arbeitslasten wissen, unter denen die meisten Staatsanwaltschafts-Angehörigen zu leiden haben, – soweit sie nicht Behördenleiter sind. Permanente Personalausdünnung und ständig steigenden Pensen (und einem in seinem Sanguinismus, was die Steuerungskraft des Strafrechts für die Gesellschaft und gegen deren Gebresten anlangt, geradezu heißlaufenden Gesetzgeber, der immer neue Tatbestände auf den Markt bringt),8 garniert mit einem exuberanten Berichtswesen sind fortdauernde und sich verschärfende Rahmenbedingungen. Da mag die aus besserer Einsicht stammende Widerstandskraft eines Staatsanwaltes9
8 Man kann ihn eigentlich nur mit der Pharmaindustrie vergleichen, der auch zu den wirklich bedrückenden Krankheiten wenig Neues einfällt, wohl aber das Vorhandene ständig mit kleinen Abweichungen garniert und dann marktschreierisch als Innovation herausputzt und -stellt, vgl. zur Misere dieses Industriezweiges etwa Lubbadeh, Mehr Immitation als Innovation, Stern vom 8.8.2006, abrufbar unter http://www.stern.de/wissenschaft/medizin/:Streit-InsulinAnaloga-Der-Selbstbedienungsladen/567177.html?eid=567257; Angell, Der Pharmabluff (2005), passim. – Nur, während sich die Zahl der Apotheken, jedenfalls in den größeren Städten, gleichfalls ständig zu vermehren scheint, konkurrieren die Landesgesetzgeber mit den bundesgesetzlichen Normkaskaden insofern in unharmonischer Weise, als sie im Justiz- und Polizeibereich permanent Stellen abbauen. 9 Politisch inkorrekt, aber aus Gründen der Lesbarkeit, halte ich es mit Ulpian, Digesten 50, 16, 1 („Verbum hoc‚si quis’ tam masculos quam feminas complectitur“); 50, 16, 195 („Pronuntiatio sermonis in sexu masculino ad utrumque sexum plerumque porrigitur“ – sinngemäß:
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gegenüber hartnäckig insistierenden Polizisten schon einmal etwas schneller ermatten. Dies passiert – menschlich besonders gut nachvollziehbar – deswegen besonders leicht, weil „man“ nun einmal keine letztliche, wirkliche Verantwortung für den Erlaß der Maßnahme trägt. Die fällt ja dem Richter zu. Das ist der eigentliche (psychologische) Fluch des an sich so sachgerechten Vier-Augen-Prinzips:10 Zwar sehen vier Augen u. U. mehr als zwei; aber sie müssen auch mehr sehen wollen! Wenn man aber, getreu der Maxime: ‚Wird schon stimmen!’11 agiert, ist die vermeintliche drittschützende Barriere ein Drittschutz-Hemmnis: Jeder salviert sich damit, daß der je
Eine Bezeichnung mit männlichem Geschlecht bezieht sich gewöhnlich auf beide Geschlechter). 10 Man sollte auch nicht übersehen, daß die Rolle des Richters bei dem Erlaß von strafprozessualen Grundrechts-Eingriffen angesichts des Zeitdrucks und des bisweilen abschreckenden Aktenumfangs nicht selten eher der eines Feierlichkeitszeugen ähnelt (SK-StPO-Paeffgen [2007], Vor § 112 Rn. 9a). Ohne die grundsätzliche Wichtigkeit und Richtigkeit des so praktizierten Vier-Augen-Prinzips in Abrede stellen zu wollen (Paeffgen, Haftgründe, Haftdauer, Haftprüfung, Dt.-poln. Kolloquium, S. 113 [136 m. w. N.]), muß man sich deren gleichfalls zwangsläufig beschränkte Leistungsfähigkeit vor Augen halten. Vgl. etwa auch: Asbrock, Der Richtervorbehalt – prozeduale Grundrechtssicherung oder rechtsstaatliches Trostpflaster, ZRP 1998, 17 (,,Mythos und bloßes rechtsstaatliches Trostpflaster“); Jahn, Strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen im Lichte der aktuellen Rechtsprechung des BVerfG – Unter besonderer Berücksichtigung der in BVerfGK 1-5 veröffentlichten Entscheidungen, NStZ 2007, 255 (259 ) („bestenfalls… Prüfung eines gewissen Plausibilitätsniveaus“); Müller, Die Durchsuchungspraxis – Unterwanderung eines Grundrechts, AnwBl 1992, 349, (351) (,,Wachhund, der weder bellt, noch beißt“); Lilie, Verwicklungen im Ermittlungsverfahren, ZStW 111 (1999), 807, (814), (,,Schlichtes Feigenblatt ohne eingriffsbegrenzende Wirkung“); Schünemann, Wohin treibt der deutsche Strafprozess?, ZStW 114 (2002), 1 (20) (Ermittlungsrichter wird zum „Urkundsbeamten der Staatsanwaltschaft“); krit. auch Heghmanns, Die prozessuale Rolle der Staatsanwaltschaft, GA 2003, 433 (440). – Optimistischer: Brüning, Der Richtervorbehalt im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (2005), S. 195 ff. (225 f.); Helmken, Reform des Richtervorbehalts: vom Palliativum zum effektiven Grundrechtsschutz, StV 2003, 193 ff.; Hilger, Über den „Richtervorbehalt“ im Ermittlungsverfahren, Meyer-GS (1990), S. 209 (213 ff.); Hilger, Über den „Richtervorbehalt“ im Ermittlungsverfahren, JR 1990, 485; Kolz, Einwilligung und Richtervorbehalt (2006), S. 127 ff. (161); Rabe von Kühlewein, Der Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozeßrecht (2001), S. 409 ff. und passim; ders., Normative Grundlagen der Richtervorbehalte, GA 2002, 637 ff.; ders., (zust.) Anmerkung zum Beschluß des BVerfG DVBl 2002, 1263, DVBl 2002, 1545; vgl. auch Gusy, Überwachung der Telekommunikation unter Richtervorbehalt – Effektiver Grundrechtsschutz oder Alibi?, ZRP 2003, 275 ff. 11 Im Mannschaftsspiel hieß das früher – in bezug auf den den Ball führenden Gegner: „(Über-)Nimm Du ihn, – ich krieg ihn auch nicht!“ (Denn der Richter, im obigen und vergleichbaren Fällen, verläßt sich nur allzu gerne, angesichts der sich türmenden Akten, darauf, daß der Staatsanwalt, immerhin auch ein Volljurist, schon alle kritischen Punkte überprüft und für einwandfrei befunden hat. Gutes Beispiel aus einem anderen Bereich ist dafür die weitgehende Kongruenz zwischen Haftbefehlsantrag und -erlaß, Gebauer, Die Rechtswirklichkeit der U-Haft … (1987), S. 345 (88,7 % der der befragten 240 Staatsanwälte gingen von einer unter 10% liegenden Ablehnungsquote aus).
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andere seine Arbeit schon ordentlich gemacht hat/machen wird – und wäscht seine eigenen Hände, zumindest psychologisch, in Unschuld. Hier nun nimmt die zunächst (recht) alltäglich anklingende Geschichte Fahrt auf und entwickelt sich zu einer bizarren Mischung aus Posse und Drama.
cc) Justitielles Zwischenspiel: Denn die zuständige Richterin am Amtsgericht verfügte mit einem Text, der in weiten Teilen wortwörtlich der staatsanwaltschaftlichen Antragsschrift entsprach,12 die beantragte Durchsuchung und die TÜ bezüglich der Gesprächsüberwachung des Mandantengesprächs zwischen A und V in der Besuchszelle der JVA. Was die Form anlangt, wird man einem – nicht minder gestreßten13 – Eilrichter am AG sicher nicht verdenken, wenn er bei der Beschluß-Abfassung sich auch verbal auf die Antragsschrift stützt. Gleichwohl spricht es nicht unbedingt für die gesteigerte Sorgfalt, die die ständige Rspr. des BVerfG bei derartigen Beschlüssen gebietet, insbesondere wenn es um Eingriffe in das Mandanten-Anwalt-Verhältnis geht,14 wenn Antrag und Beschluß weitgehend wortlautgleich sind. 12 Die Ursprungspartien waren auch in diesem Schreiben durch doppelte Spitzklammern, wohl entsprechend den Markierungen durch die Amtsrichterin auf dem staatsanwaltschaftlichen Antrag, kenntlich. 13 Denn die Personal- und Ausstattungsmisere ist ja an den Gerichten keine andere als an den Staatsanwaltschaften. Vgl. dazu auch Paeffgen, Zwischenhaft, Organisationshaft – Verfassungswidriges mit (nicht nur) stillschweigender Billigung des Verfassungsgerichtes, Fezer-FS (2008). – Aber auch im Bereich unserer Sicherheitsfanatiker sieht es, schaut man nur genauer hin, wenig rosig aus: Über den grandiosen Fahndungserfolg in Lathen weiß die SZ zu berichten: „Einmal dauerte es ganze sechs Wochen, bis der Mitschnitt eines vierstündigen Telefongesprächs der Terrorverdächtigen technisch so weit bearbeitet war, dass die Fahnder damit arbeiten konnten. Der Grund: Im Bundeskriminalamt gibt es nur vier Phonetiker, die für diese diffizile Arbeit ausgebildet sind. Einmal schafften es die Fahnder nicht, schnell geheime Informationen auszutauschen, weil es auf ihren Dienststellen keine Telefone mit Verschlüsselungsmöglichkeiten gibt. Einmal konnten sie zwar die hochgeschützten Telefone in einer anderen Dienststelle nutzen, aber nur innerhalb der Dienstzeiten. Terroralarm nach fünf Uhr nachmittags ist in Deutschland nicht vorgesehen“, Ramelsberger, Pannen bei der Terrorfahndung, SZ 12.12.2007, S. 2; http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/118/147770. 14 BVerfGE (2. Sen.) 103, 142 (151 f.) (Wohnungsdurchsuchung) (= NJW 2001, 1121); BVerfG (2. Sen. ) StV 2005, 195 (Durchsuchung bei Verteidiger bei Geldwäscheverdacht); BGHSt 33, 347 (350) (Geldstrafe für Rechtsanwalt, der dem flüchtigen Mandanten Geld zukommen ließ, obwohl er wußte, daß der dieses Geld für die weitere Flucht benutzen würde. Verdacht einer Strafvereitelung zugunsten eines Mandanten berechtige aber nicht zur Überwachung des Telefonanschlusses eines RA); SK-StPO-Wohlers (2004), § 148 Rn. 34: keine Berechtigung zur Überwachung der Telekommunikation bei Hehlerei und Strafvereitelung, aber auch nicht, wenn sich der RA an der Katalogtat des Beschuldigten beteiligt hat; Rn. 37: Telefonat darf auch nicht durch Mithören überwacht werden, unter Hinweis auf: Welp, Abhörverbote zum Schutz der Straf-
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Ob Unterredungen eines Beschuldigten mit dessen Verteidiger in einer Sprechzelle einer JVA, wie StA und AG meinten, unter § 100c Abs.1 Nr. 2 (a.F.) fallen, hat das BVerfG dahinstehen lassen. Die Beschwerdeführer hatten mit guten Gründen die Nr. 3 (a.F.): „Wohnraum“ ins Feld geführt: Denn Geschäftsräume, wozu gerade auch die Büroräume des Verteidigers zählen, faßte die h.M. unter den Wohnungsbegriff des § 100c Abs. 1 Nr. 3 (a.F.)15.16 Kann aber der Mandant, als Inhaftierter, den Anwalt nicht in dessen Kanzlei aufsuchen, so erscheint es bei einer solchen Lesart sachgerecht, die Besuchszelle, für die Zeit des Mandantengesprächs, dem nämlichen, verstärkten Schutz des § 100c Abs. 1 Nr. 3 a.F. zu unterstellen.17 Die Kam-
verteidigung, NStZ 1986, 294 (295), der durch § 148 I offene Kontrollen ebenso verboten sieht wie heimliche Überwachungen; Schäfer, Zum Schutz der Verteidigung gegen Zugriffe der Strafverfolgungsorgane, Hanack-FS (1999), S. 77; Welp, NStZ 1986, 294 (295); vgl. auch BVerfG 3. Kammer, 2. Sen., Beschl. v. 28.9.2004 – 2 BvR 2105/03, NJW 2005, 275 (276) (zum richterl. Durchsuchungsbeschluß betreffs einer Wohnung): „Wird die Durchsuchung – wie regelmäßig – ohne vorherige Anhörung des Betroffenen angeordnet, so soll die Einschaltung des Richters auch dafür sorgen, dass die Interessen des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden (vgl. BVerfGE 103, 142 [151] = NJW 2001, 1121). Dies verlangt eine eigenverantwortliche richterliche Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen. Die richterliche Durchsuchungsanordnung ist keine bloße Formsache.“. 15 Obwohl die Beschlüsse nach der Entscheidung des BVerfG vom 3.3.2004 zum „großen Lauschangriff“ und dem dortigen Verdikt als verfassungswidrig wegen § 100c Abs.1 Nr. 3 StPO a.F. ergangen sind (BVerfGE 109, 279 [= NJW 2004, 999 = StV 2004, S. 169]; vgl. dazu Denninger, Verfassungsrechtliche Grenzen des Lauschens – Der „große Lauschangriff“ auf dem Prüfstand der Verfassung, ZRP 2004, 101; Haas, Der „Große Lauschangriff“ – klein geschrieben, NJW 2004, 3082; Ruthig, Verfassungsrechtliche Grenzen der heimlichen Datenerhebung auf Wohnungen – Zugleich Besprechung von BVerfG, Urteil vom 3.3.2004, GA 2004, 587; sowie die Beiträge in der Lisken-GS [2004] von: Bergmann, Die Telekommunikationsüberwachung nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum ,,großen Lauschangriff“, S. 69; Denninger, Der ,,große Lauschangriff“ auf dem Prüfstand der Verfassung, S. 13; Hirsch, Bemerkungen zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 30. März 2004, S. 87; Kutscha/Roggan, Große Lauschangriffe im Polizeirecht – Konsequenzen des Karlsruher Richterspruchs, Roggan, Lauschen im Rechtsstaat (2004) S. 25; Leutheuser-Schnarrenberger, Rechtsstaat und großer Lauschangriff – Bedeutung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für den Schutz der Freiheitsrechte, S. 99; Weßlau, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung – Auswirkungen auf den Strafprozess, S. 47), liegen den Beschlüssen – wegen der Gedulds-Klausel des BVerfG (Änderungsfrist bis zum 30.6.2005) – die alten Vorschriften zugrunde. 16 BVerfGE 44, 353 (371) (= NJW 1977, 1489); KK5-Nack (2003), § 100c Rn. 29; SKStPO-Wolter (2006), § 100c Rn. 34. 17 Die Ziffer 3 des alten § 100c Abs. 1 lautete: § 100c StPO a.F. [Aufzeichnungen ohne Wissen des Betroffenen] „(1) Ohne Wissen des Betroffenen … 3. darf das in einer Wohnung nichtöffentlich gesprochene Wort des Beschuldigten mit technischen Mitteln abgehört und aufgezeichnet werden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand …[Aufzählung von Straftaten]… begangen hat und die Erforschung
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mer des BVerfG ließ diesen Aspekt bedauerlicherweise offen, weil es schon anderweitig die Grundrechte verletzt sah.18 – Doch mag man diesen Aspekt als typische professorale Feinheitsbläserei abtun. Entscheidender ist etwas anderes: Obwohl die Anforderungen an die Begründung von Abhör- und Durchsuchungsmaßnahmen bekannt hoch sind, ließ die Eilrichterin es mit derjenigen platten Verdachtsbehauptungen bewenden, die schon der Antrag aufführte, und die im krassen Widerspruch zur ursprünglichen Bewertung im Einstellungsvermerk stand. Ohne daß auch nur irgendein Faktum neu hinzugetreten wäre, wurde – nachgerade more geometrico – Informationsbewertung und rechtliche Schlußfolgerung schlicht „in Klammern gesetzt“ und mit einem Minuszeichen versehen: Nunmehr wurde alles, was vorher für die Annahme eines Eingriffs nach § 100c bzw. nach § 102 nicht zureichte, als ausreichend eingestuft. Nur die Begründungen für die ursprünglichen, gegenteilig lautenden Einschätzungen waren auf einmal19 verschwunden. Freilich fanden sich – mangels entsprechender Fakten20 – nunmehr keine anders lautenden Indizien. Man ließ es einfach bei der VerdachtsBehauptung bewenden, ohne daß etwa eine taugliche Vortat für die Geldwäsche (in der Form einer schweren Steuerhinterziehung) auch nur ansatzweise durch Tatsachen plausibilisiert worden wäre. Hier ließen es die beiden Rechtswahrerinnen mit dem Hinweis darauf bewenden, daß der V Geld aus dunklen Kanälen mit Prostitutionshintergrund bezog – und daß der Anwalt dies (möglicherweise) wusste.21 des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre.“ Der geltende § 100c (g.F.) StPO hat der früheren Sichtweise weitgehend die Grundlage entzogen: Abs. 4 S. 2: „Gespräche in Betriebs- oder Geschäftsräumen sind in der Regel nicht dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen.“ – ohne daß die Fälle der Rückausnahmen konturiert wären. In jedem Falle wäre hier aber über das Verhältnis von § 100c Abs. 6 S. 1 und 3 (g.F.) StPO (Zeugnisverweigerungsberechtigter Berufsgeheimnisträger /Rückausnahme bei Tat- oder Nachtatbeteiligungs-Verdacht) zu handeln gewesen. 18 BVerfG NJW 2006, 2974 f. = StV 2006, 505 = StraFo 2006, 366. 19 …sicherlich nicht auf wundersame Weise, da man bei den Begründungen nicht so ohne weiteres aus einem Plus- ein Minus-Zeichen machen konnte… 20 … ausweislich der Äußerungen des BVerfG… 21 Da sich der Fall nach der Entscheidung des BVerfG zum Verteidigerhonorar bei § 261 StGB (BVerfG 110, 226 [= JR 2004, 339 = JZ 2004, 670 = NStZ 2004, 259 = StV 2004, 254] [m. zust. Anm. von Dahs/Krause/Widmaier, NStZ 2004, 259 ff.; zust. v. Matt, Verfassungsrechtliche Beschränkungen der Strafverfolgung von Strafverteidigern, JR 2004, 321 ff.; im Ergebnis zust. zur Notwendigkeit und Zulässigkeit einer restriktiven Interpretation des § 261 II Nr.1 StGB, zur Begründung aber krit. Grund für restriktive Interpretation liege nicht darin, die Berufsausübungsfreiheit des als Strafverteidiger tätigen RA zu schützen, sondern darin, den Anspruch des Beschuldigten auf eine effektive Verteidigung durch einen Verteidiger des Vertrauens zu gewährleisten; krit. auch zur „Vorsatzlösung“, mit der die Restriktion erreicht werden soll): Wohlers, JZ 2004, 678 ff.]; – abl.: Fischer, Ersatzhehlerei als Beruf und rechts-
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Allerdings hätte die Annahme einer Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 AO) als Vortat eigentlich vorausgesetzt, daß in den Beschlüssen aufgeführt worden wäre, welche Steuererklärung oder Voranmeldung pflichtwidrig unterlassen oder unzutreffend abgegeben und welche Steuer dadurch verkürzt worden sein könnte. Doch hätte dies bei weitem nicht gereicht. Vielmehr hätte weiterhin plausibilisiert werden müssen, was die Annahme des Tatverdachts hinsichtlich der Bildung einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) hätte stützen sollen.22 Insoweit genügte es jedenfalls unter gar keinen Umständen, auf die voraufgegangene Verurteilung zu verweisen; denn die Vortat muß aktuell begangen worden sein. Hier wird jedoch durchgängig mit ziemlich schlichten Vermutungen gearbeitet. Auf den dezidierten Vortrag der vorstehenden Rügepunkte in der Rechtsbeschwerde geht freilich auch die Beschwerdeentscheidung der LGKammer nicht ein. Weder wird unter den Tatbestand des § 261 StGB richtig subsumiert, noch behandelt sie die sachverhaltlichen Einwendungen – ein leider nur sehr vertrautes Phänomen. Statt dessen werden die in den Beschlüssen zu den Grundrechtseingriffen – reichlich unsubstantiiert – vorgebrachten Behauptungen wiederholt. Garniert wird das ganze mit einer Replik auf den § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO, die evident nicht einschlägig ist (wenn man sich der Mühe eines Blicks in die Entscheidung selbst unterzogen hätte): Die Kammer verweist nämlich auf BGHSt 44, 138. Deren erster Leitsatz lautet tatsächlich: „Der Besuchsraum einer Untersuchungshaftvollzugsanstalt ist keine Wohnung im Sinne des Art. 13 GG“. Diesen Satz dürfte der Berichterstatter in irgendeinem Kommentar gefunden haben.23 Doch dieser Satz steht, wie eben auch sonst, in einem bestimmten Sinn-Kontext, – im BGH-Fall dem eines Besuchs durch einen engen Verwandten. Wieso sich die Parallele zum Verteidigergespräch so sehr aufdrängte, daß sie keines Wortes der Begründung erforderte, erschließt sich dem in der Froschperspektive verharrenden Beobachter leider auch auf den zweiten Blick nicht.
staatliche Verteidigung, NStZ 2004, 473 ff.) ereignete, hätten StA u. Ermittlungsrichterin sogar von „sicherer Kenntnis“ des Verteidigers von der Herkunft der Gelder ausgegangen sein müssen, was ohne Änderung der Tatsachenbasis gegenüber der vorherigen abschlägigen Entscheidung praktisch nicht möglich ist. Dazu findet sich aber nichts in der Beschluß-Begründung. 22 Vgl. zuletzt BGHSt 31, 202 (204 ff.) (= NJW 1983, 1334); 31, 239 (= NJW 1983, 1686); 45, 26 (35 f.) (= NJW 1999, 1876); BGH NJW 2005, 1668 (1669 f.). 23 Allerdings nicht in der Prozeßrechts-Bibel des Landgerichtsrates, dem Meyer-Goßner48 (2005), weder bei § 119 noch bei § 148.
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dd) Zwischenfazit: Wer jetzt einwendet, daß Ausreißer immer wieder passieren, wenn Menschen agieren, hat damit natürlich nur allzu recht24 – obwohl mir Anwälte von ähnlichen Dingen zuhauf berichten, – und andererseits Richter und Staatsanwälte von einem zunehmend schwerer erträglichen Klima in den Gerichtssälen künden. Eine latent-aggressive Grundstimmung fördert sicher nicht die individuelle Konzentrationsfähigkeit. Aber hier geht es eigentlich mehr um die Empirie des normativ Erwartbaren: Inwieweit erfüllen jene Richter ihre Barriere-Funktion, kommen also ihren Dienstpflichten und -obliegenheiten wirklich nach?
b) Beispiel 2 Um dem Einwand zu begegnen, daß Sonderfälle nicht verallgemeinerungsfähig seien, eine kleine weitere, diesmal kürzere Kostprobe: Ein Klient eines Rechtsanwaltes wurde inhaftiert. Die Polizei informierte den Anwalt über diese Tatsache auf der Fahrt zum zuständigen Richter nach Koblenz. Der Anwalt benachrichtigte die Polizei nach Rücksprache mit seinem Mandanten, daß er bei der Vernehmung anwesend zu sein wünsche. Angesichts von 90 Minuten Fahrtzeit und da wegen Schnee-Einbruchs mit schwierigen Verkehrsbedingungen zu rechnen sei, bat er die Polizei, bei der Ermittlungsrichterin, die den Vernehmungstermin auf 11:30 Uhr angesetzt hatte, um einen viertelstündigen Aufschub zu bitten. Dies wurde vom Polizeibeamten auch so weitergeleitet. Doch kümmerte sich die Ermittlungsrichterin nicht um diesen Wunsch. Als der Verteidiger schließlich um 11:47 Uhr bei dem Amtsgericht eingetroffen war, war der Vernehmungstermin bereits beendet. „Es wurde ihm allerdings gewährt, seinen Mandanten, der gerade abgeführt wurde, noch etwa 7 Minuten auf dem Flur – ein Besprechungsraum wurde trotz entsprechender Bitte nicht zur Verfügung gestellt – zu sprechen.“25 – Nun ist dieses Gebaren schon für sich genommen schon ziemlich unglaublich, da, wie eigentlich jedem Rechtsadepten klar sein sollte, § 115 StPO dem Verteidiger – von hier nicht einschlägigen Sonderkonstellationen – ein Anwesenheitsrecht bei der richterlichen Vernehmung seines festgenommenen Mandanten gewährleistet.
Doch auch dies mag man erneut nur als einen weiteren der bereits apostrophierten Ausreißer ansehen.26 Was aber die Sache zu einem regelrechten Skandal macht, ist, daß zwei weitere Gerichte, die sich nicht, wie eine 24 Goethe formulierte das so: „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ (Faust I, Prolog im Himmel, l.c. [Fn. 2], S. 35, Z. 317). 25 Kühne/Haufs-Brusberg, Anm. zum nachfolgend erwähnten Judikat, StV 2006, 316. 26 Obwohl, wenn wir in Deutschland Richter erst rekrutieren würden, wenn sie geraume Zeit als Anwalt (erfolgreich) tätig gewesen wären – wie dies in Großbritannien üblich ist –, ein solch evidentes prozessuales Fehlverhalten höchstwahrscheinlich nicht passiert wäre.
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wahrscheinlich gestreßte Amtsrichterin mit Bergen von Akten abrackern muß, sondern Ruhe zum Nachdenken – und gegebenenfalls Nachlesen oder -recherchieren haben, an dieser Entscheidung nicht Unebenes zu entdecken vermochten. Das gilt sogar für den Beschwerdesenat des OLG Koblenz. Es bedurfte vielmehr erst eines Machtwortes des LVerfG, um die Rechtswidrigkeit der gerichtlichen Vorgehensweise festzustellen.27 Und die, obschon bereits andere Gerichte in dem Fall, in dem sich der Inhaftierte des Beistandes eines Verteidigers versichern wollte, – mit Recht – verlangt hatten, daß die Vernehmung – in den Grenzen des Abs. 2 – solange zurückzustellen ist, bis sich der Verteidiger eingefunden hat.28
III. Zwischenbilanz Was will uns das besagen? Alle Menschen machen Fehler! Nicht zuletzt zur Bewältigung dieses Phänomens gibt es das Recht. Wir sollten uns aber davor hüten, zu glauben, mit ein paar vorgeschalteten Formalien und dem Deus ex machina des Richtervorbehaltes wäre nun das Terrain geebnet, um immer weitere Eingriffstechniken bereitstellen zu können, mittels derer der Kampf gegen die (vermeintlich oder tatsächlich) neuen Kriminalitätsformen zu gewinnen sei. Wir sollten uns freilich auch davor hüten, den gleisnerischen Reden Glauben zu schenken, die Eingriffs-Erweiterungen seien deswegen tolerable, weil sie, schon wegen des Kosten- und Personalaufwandes, nur in wenigen Ausnahmefällen zum Einsatz kämen.29 Zum einen haben technische Mög27
VerfGHRP StV 2006, 315 (m. zust. Anm. Kühne/Haufs-Brusberg). Vgl. etwa BrbgVerfGH NJW 2001, 2533; NJW 2003, 2009; vgl. zu der Konstellation auch schon EGMR – Murray/GB, U. v. 8.2.1996, 18731/91, Reports 1996-I, Rn. 16 für den SV und 59f. für die Gründe (EGMR EuGRZ 1996, 571 m. zust. Anm. Kühne). Dazu auch SK-StPOPaeffgen (2007), § 115 Rn. 9. Vgl. hier: VerfGHRP StV 2006, 315 m. zust. Anm. Kühne/Haufs-Brusberg, die die anmaßende und rechtsignorante Haltung der Koblenzer (Vor-) Instanzen, einschließlich des OLG (!) mit berechtigter Schärfe geißeln), NJW 2006, 3341). 29 So aber, in bezug auf die Online-Durchsuchung, BKA-Präsident Ziercke („fünf bis zehn Fälle im Jahr“) und sein Für- und Vorsprech und Dienstherr, Minister Schäuble, sowie der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Kauder („zehn bis zwölf Fälle im Jahr“), etwa in: Lehnartz Online-Durchsuchung. Die Datenspäher und das Unbehagen, FASZ v. 16.9.2007, S. 61 abrufbar unter http://www.faz.net/s/RubF359F74E867B46C1A180E8E1E1197DEE/Doc~EF233E62 A2BC144AF908CC01D8729E30B~ATpl~Ecommon~Scontent.html. Vielleicht sind die beteiligten Juristen alle nicht so gut im Rechnen („Iudex non calculat“); immerhin sei ihnen mit dem Verfasser jenes FAZ-Artikels entgegengehalten: „Der BKA-Präsident versicherte in einer Rede vor dem 10. Europäischen Polizeikongress im Februar, von Online-Durchsuchungsmaßnahmen seien „99,9 Prozent“ der Bevölkerung nicht betroffen. In einem Interview mit der „tageszeitung“ waren es im März dann schon „99,99 Prozent“. Das hieße, wahlweise 8000 oder 80.000 Bundesbürger würden online überwacht. In jedem Fall dürften das mehr sein als fünf 28
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lichkeiten, einmal geschaffen, die neuzeitliche technik-übliche Tendenz, einfacher und preiswerter zu werden, so daß der Kostenfaktor keinen wirklichen Schutzriegel darstellte.30 Außerdem sind die Halbwertzeiten von Politikeraussagen in Sachen Kriminalitätsbekämpfung noch deutlich geringer, als man das, u.a., etwa für den Bereich der „sicheren Renten“ vor Augen geführt erhalten hat. Sie erinnern eher an Sentenzen von Muhammed Saeed al-Sahaf, alias Comical-Ali, jenem famosen irakischen Informationsminister, über dessen mediale Aussagen während der Irak-Invasion sich viele so gern belustigt haben, wenn er etwa im Fernsehen bestritt, daß die US-Truppen Erfolge erzielt hätten oder gar schon in Bagdad seien, während deren Panzer im Hintergrund bereits herumfuhren: So wurde die Einführung der „Mautstationen“ mit treuherzigen Versicherungen begleitet, man wolle bis zehn pro Jahr, es sei denn, der BKA-Präsident hat die Zahl der Online-Durchsuchungen für die nächsten 1600 bis 8000 Jahre überschlagen.“ – Jener abwiegelnde Hinweis wird zudem gern mit dem Hinweis getarnt, das ganze Geschehen sei viel zu kostenaufwendig, um im breiteren Umfang eingesetzt zu werden. – In der Tat würde sicher niemand eine breit-streuende länger dauernde Überwachung erwarten. Aber den vielen in diesem Punkte Empfindlicheren würde es möglicherweise schon „genügen“, wenn die Polizei/StA nur mal gelegentlich ihre elektronischen, „Netze“ auswürfe. 30 Jedenfalls haben die beträchtlichen Personal- und Sachkosten der TÜ in der Form der Telephonüberwachung nicht verhindert, daß Deutschland immer noch – mit weitem Abstand – Listenführer derjenigen Länder ist, die für sich die Selbstetiketierung „freiheitlicher Rechtsstaat“ in Anspruch nehmen, (die Zahlen stiegen von 3353 im Jahr 2000 auf 4925 im Jahr 2005; im Jahr 2006 sank die Zahl wieder auf 4664), ausweislich der TKÜ-Statistik beim BMJ (https://ssl.bmj.de/enid/0,7dcffe5f7472636964092d09313031/Statistiken/Telefonueberwachung_z2. html). Dabei gelangt die Bundesnetzagentur freilich zu – erstaunlich – anderen Zahlen, nämlich: 4112 im Jahre 2000 bis zu 5398 im Jahre 2005 (mit einem sensationellen Absinken im Jahre 2006 auf 5099), bei gleichzeitiger Steigerung der Mobilfunk-TKÜ von 13028 (2000) auf 35816 (2006) (Bundesnetzagentur: http://www.bundesnetzagentur.de/media/archive/9710.pdf). Schön zu wissen ist auch, daß die Zahl der TKÜ von 1990 (von 2494) auf schlappe 15741 im Jahre 2000 gestiegen sind (ausweislich einer breitflächig angelegten Studie des MPI Freiburg im Auftrag der Bundesregierung, von Dorsch/Krüpe-Gescher/H.-J.Albrecht, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen (2005), S. 652; Zusammenfassung: http://www.mpg.de/bilderBerichteDokumente/dokumentation/jahrbuch/2005/ strafrecht/forschungsSchwerpunkt/pdf.pdf). – Schön zu wissen ist ferner, daß, ausweislich einer Zeitungsnotiz der SZ v. 10.12.2007, S. 5, seit 2004 allein die deutschen Geheimdienste im vergangenen Jahr 25 Mal mehr als im Jahr 2004, nämlich mehr als 460.000 Telefonate, Briefe oder Faxe überprüft haben, – unter Berufung auf einen Bericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste. Zum Ausgleich dafür legt das BMI die bisher getrennt gehaltenen Abteilungen für Geheimdienste und Polizei zusammen (SZ v. 10.12.2007, S. 4). Früher gab es noch welche, die sich noch für ein „Trennungsgebot“ im Verhältnis von Polizei und Nachrichtendiensten ausgesprochen haben, vgl. Paeffgen, StV 1999, 668 ff; Paeffgen/Gärditz, Die föderale Seite des „Trennungsgebotes“ oder: Art. 87 III, 73 GG und das G10-Urteil, KritV 2000, 65 ff. und dies sogar für Konstitutiva unserer grundgesetzlichen Ordnung hielten. Heute erscheint der dahinter stehende Rechtsgedanke als Quantité négligable, die man mittels innerdienstlicher Weisung auf den Kehrichthaufen der Geschichte fegt.
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sie ausschließlich zu Sicherung der Verkehrswegeabgaben einsetzen; Vermutungen, man werde sie alsbald zu Zwecken der Straftatverfolgung heranziehen, wies man seinerzeit als polemische, und letztlich technikfeindliche, Verdächtigungen gegen eine weitere tolle deutsche Innovationsoffensive zurück.31 Jetzt ist genau jene Zusatz-Widmung in (fast) aller Rechtspolitiker Munde.
IV. Unsere jüngstes Ideenfeuerwerk für neue „Sicherheitspakete“ Betrachten wir weitere „Anregungen“, die unsere nimmermüden Sicherungswahrer im Schilde führen: So rührt die Idee des „targeted killing“,32 des gezielten Tötens von Verdächtigen, die unser Verfassungsminister Schäuble in die Debatte warf,33 aus Staaten her, die sich im Kriegszustand 31 Durch die Zweckbindung in § 4 Abs. 2 ABMG wollte der Gesetzgeber eine zweckfremde Datenverwendung ausschließen. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen wies 2003 aufkommende Kritik, dass das Mautsystem nicht sicher sei und die Daten anderweitig verwendet werden könnten, zurück, abrufbar unter http://www.computerwo che.de/nachrichten/541443. Trotz eindeutigen Gesetzeswortlautes stieß die Einführung des ABMG, angestoßen durch ein Urteil des AG Gummersbach (NJW 2004, 240), auf Bedenken: Göres, Rechtmäßigkeit des Zugriffs der Strafverfolgungsbehörden auf die Daten der Mauterfassung, NJW 2004, 195; Pfab, Rechtsprobleme bei Datenschutz und Strafverfolgung im Autobahnmautgesetz, NVZ 2005, 506. 32 Nicht zu verwechseln mit dem finalen Rettungsschuß, etwa Art. 66 Abs.2 S.2 BayPAG; §§ 54 Abs.2 BWPolG; 67 BrPolG; 65 Abs.2 S.2 LSASOG; 63 Abs.2 S.2 RhPfPOG; 34 Abs.2 SPolG; 64 Abs.2 S.2 ThPAG. Während wir hier von einer nothilfe-ähnlichen Norm sprechen, geht es bei beim „targeted killing“ darum, jemanden – ohne jegliches Gerichtsverfahren – zu töten, nur aufgrund mehr oder minder zuverlässiger Geheimdienstinformationen. Allerdings schien das BVerfGE 115, 118 (145 ff.) (= NJW NJW 2006, 751) (§ 14 LuftsicherheitsG) den Aspekt der verfahrenslosen Liquidation hinnehmen zu wollen, im Rahmen der Gefahrenabwehr, um zu verhindern, daß ein besonders schwerer Unglücksfall nach Art. 35 II 2 GG eintritt. 33 Wie er, im Spiegel-Gespräch unter dem Titel „Es kann uns jederzeit treffen“ (Der Spiegel v. 9.7.2007, S. 31 ff.) in Betracht gezogen hat; vgl. dazu auch FAZ v. 9.7.2007, S. 4 (abrufbar: http://www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~EAA686997FB9649 009881852140570EE6~ATpl~Ecommon~Scontent.html: „Kritik an Schäuble ‚Frontalangriff auf den Rechtsstaat’“), sowie, treffend, Prantl, Der Angstmach-Minister, SZ 9.7.2007, S. 4. – Es soll aber auch an dieser Stelle nicht versäumt werden, darauf hinzuweisen, daß Herr Schäuble das „targeted killing“ nicht verlangt hat, sondern nur gefragt hat, was man mit Bin Laden machen solle, wenn man ihn in Afghanistan ausmachen würde. Er sei (mal wieder) mißverstanden worden. Die doch sicher von Schäuble autorisierte Stelle las sich wie folgt: „Schäuble: Nein. Wir müssen jedoch klären, ob unser Rechtsstaat ausreicht, um den neuen Bedrohungen zu begegnen. Den sogenannten Unterbindungsgewahrsam gibt es ja jetzt schon, zum Beispiel für Hooligans bei Fußballspielen, wenn auch in engen rechtlichen Grenzen. Und wir müssen darüber reden, ob das Maß an Prävention, das unseren Polizeigesetzen heute schon eigen ist, genügt. Man könnte zum Beispiel bestimmte Auflagen für jemand erlassen, den man nicht abschieben kann, etwa
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befinden, wie etwa Israel, das auf diese Weise als terroristisch eingestufte Leute der Hamas oder anderer palästinensischer Aufstands-Gruppierungen ohne Gerichtsverfahren liquidiert, oder aus Staaten, über deren rechtsstaatliches Selbstverständnis wir sonst die Nase zu rümpfen pflegen, wie etwa Rußand34.35 – Nett ist auch seine Idee, eine geringfügige Erweiterung des ein Kommunikationsverbot im Internet oder mit dem Handy. Die rechtlichen Probleme reichen bis hin zu Extremfällen wie dem sogenannten Targeted Killing ... SPIEGEL: ... also der gezielten Tötung von Verdächtigen durch den Staat. Schon Ihr Amtsvorgänger Otto Schily hat Islamisten damit gedroht: ‚Wer den Tod liebt, kann ihn haben.’ Schäuble: Nehmen wir an, jemand wüsste, in welcher Höhle Osama Bin Laden sitzt. Dann könnte man eine ferngesteuerte Rakete abfeuern, um ihn zu töten. SPIEGEL: Die Bundesregierung würde wahrscheinlich erst einen Staatsanwalt losschicken, um Bin Laden festzunehmen ... Schäuble: ... und die Amerikaner würden ihn mit einer Rakete exekutieren, und die meisten Leute würden sagen: Gott sei Dank. Aber seien wir ehrlich: Die Rechtsfragen dabei wären völlig ungeklärt, vor allem, wenn daran Deutsche beteiligt wären.“ – Die Rechtsfragen sind sicherlich strittig, aber nicht so, wie es in dem Interview den Anschein hat. Das Töten von Kombattanten (auch von [in- oder ausländischen] Terroristen) wäre im Rahmen der wehrverfassungs- und völkerrechtlichen Rahmenbedingungen ohnehin zulässig. Rechtsprobleme tauchen lediglich gegenüber Nicht-Kombattanten, die man – zwecks Vermeidung von Querelen – hinterher gern zu „Kombattanten“ umdefiniert. Und noch mehr Probleme tauchen auf, wenn man diese „Überlegungen“ auf inländische Gefahrensituationen zu „parallelisieren“ sucht. Doch darüber verhält sich der Minister wohlweislich (?) nicht. 34 … das auf diese Art und Weise, wie sie auch Herrn Schäuble vorschwebt, u.a. den tschetschenischen gewählten Präsidenten und Aufstandsführer Maschadow mittels einer Lenkrakete liquidierte, nachdem man sein Funktelephon geortet hatte. 35 Auch hier sollte man allerdings, wenn schon, auch die kleinen Dinge nicht vergessen: Wie man lesen kann, ist die seit längerem im Schwange befindliche E-mail-Überwachung durch die Polizei nicht eben billig für die sogenannten „Provider“ (vulgo: Netzanbieter). So berichtet etwa Hauck, E-Mail-Überwachung – Moderner Postraub, SZ 26.09.2007, S. 9-11 (http://www.sueddeutsche.de/,tt3l1/computer/artikel/995/134738/), daß ein größerer Anbieter, GMX, für den Aufbau der gesetzlich geforderten Infrastruktur etwa 60.000, -- € ausgegeben habe – und daß der erforderliche Personalaufwand, mangels gesetzlichen Erstattungstatbestandes, nur über die Regeln der Zeugenentschädigung, d.h. mit 17, -- €/h entschädigt würden. Da gleichzeitig die Überwachungsanfragen ständig stiegen (Verneunfachung, wie Hauck von einem Anbieter berichtet), müßten die Telephonkunden diese Zusatzkosten für die erheblich teureren Informatikerstunden wie für die Infrastruktur bezahlen. Nun bin ich sicher, daß jeder gerne diesen geringen Obulus auf dem Altar der eigenen Sicherheit entrichtet, vor allem diejenigen, die ja wissen, daß sie nichts zu verbergen haben. Doch könnten skrupellose und sicherheitsvergessene Oppositionspolitiker mit dem Slogan: „Geiz ist geil!“ vielleicht auch versuchen, auf Dummenfang zu gehen und die Weniger-Problembewußten gegen ihre eigenen Interessen aufwiegeln. (Nur mit Unverständnis ob der schnöden sicherheitspolitischen Ignoranz muß man freilich hören, daß die Provider gegen die Regelung Verfassungsklage angestrengt haben. Leider kann man nicht sicher sein, ob sie dort ihre verdiente Abfuhr erfahren werden – angesichts der dort immer wieder aufwallenden liberalistischen Tendenzen!) – Damit jedoch nicht wieder eine solch unglückliche Unterfinanzierung wegen mangelnden GebührenTatbestandes eintritt, sollte man gleich einen entsprechenden Tatbestand auch für das „targeted killing“ entwerfen, um den Hinterbliebenen der getöteten Gefährder die Rechnung für die
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polizeirechtlichen Unterbindungsgewahrsams zuzulassen: Personen, die man (wer? Schäuble!? Alleine?) für gefährlich hält, die aber hinterhältigerweise (noch) keine Straftat begangen haben, will er nicht nur jedwede Telekommunikation untersagen, sondern sie auch als „Gefährder“ internieren.36 Daß wir in Deutschland Freiheitsentziehungen an jenen oben schon einmal thematisierten Richtervorbehalt knüpfen (zur Erinnerung: Art. 104 GG), mag da nicht groß stören: Wenn die Polizei zum Richter sagt, X sei ein Gefährder, dann wird der das schon einsehen – siehe oben, – und ihn für geraume Zeit hinter Gitter stecken. Die Petitesse, daß dies ja für eine doch sehr lange Zeit geschehen müßte, da der Gefährder (wenn er denn wirklich einer sein sollte) sonst von seiner Gefährlichkeit nichts verloren hätte, sondern allenfalls noch gefährlicher, weil gereizter, geworden wäre,37 wird Schäuble sicherlich als für- und treusorgender „Pater familias et patriae“ bedacht38 und auch dafür eine Remedur in der Hinterhand haben. Mir fiele da auf Anhieb eine Kombination mit der erstgenannten Maßnahme ein: Wäre der Gefährder erst einmal interniert, wäre jedenfalls der Aufwand für ein „targeted killing“ nicht mehr so groß. Und Ressourcen-Schonung ist ja heute, wo wir in den letzten Jahren in der Bundesrepublik ca. 6.000 Polizisten-Stellen aus Ersparnisgründen gestrichen haben,39 mehr denn je eine vorrangige Aufgabe aller mit dem Schutz der Bürger und Werte befaßten
verfeuerte Munition in Rechnung stellen zu können. Sonst kommt wohlmöglich die Allgemeinheit nicht nur für die erhöhten Handy-Gebühren, sondern auch noch dafür auf!? (Zumal sie ja schon für die sicher zu erwartenden Verwechselungsfälle schmerzliche Rückstellungen aufbringen müßte – Geld, das bei der Neuanschaffung weiterer neuer schöner Techniken dann wieder bitter fehlt!). 36 Leider nur geringfügig voraussetzungsvoller ist jetzt der Vorschlag von Justizministerin Zypries, mit § 89a n.F. den Besuch in einem terroristischen Ausbildungslager als Straf(!)Tatbestand positivieren zu lassen (vgl. Pressemitteilung des BMJ v. 18.9.2007, http://www.bmj.de/enid/aa181244f24160a51182ec4a5b65b1f9,a34ce8706d635f6964092d0934 373034093a0979656172092d0932303037093a096d6f6e7468092d093039093a095f747263696 4092d0934373034/Pressestelle/Pressemitteilungen_58.html). – Eine andere faktisch-normative (= eingeschränktere) Qualität bekommt dieser geplante Grundrechts-Eingriff nur dadurch, daß eine gerichtliche Entscheidung nach vorheriger Beweisaufnahme vorausgeht. 37 … wenn er bis dato innerlich noch kein Gefährder war, vielleicht infolge dieser Behandlung zu einem solchen mutiert, – womit sich – wie auch bei anderen „self-fulfilling prophecies“ – im nachhinein die Richtigkeit der Maßnahme gegen ihn herausstellt. 38 Immerhin hatte er mit seinen kaskadenhaft immer neuen Ankündigungen immer neuer Bedrohungen und probater Abwehrtechniken sich wie ein aufgeregter Kettenhund geriert, – wohl wissend – und dies schon seit Monaten –, daß demnächst die Bombenbastler-Aktivitäten jener Konvertiten in Lathen hochgenommen werden würden – und er dann als einziger weit vorausschauender Politiker unter der „Pygmäenschar“ der Bedenkenträger herausragen werde. 39 Statistik des statistischen Bundesamtes mit der Nummer VIC/41100010-PS (per E-Mail zugeschickt erhalten).
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Stellen.40 – Ruft da jemand Guantanamo? Nicht doch, ein geradezu beleidigende Assoziation! Guantanamo liegt schließlich auf Cuba!41 Aber apropos: US-Amerikaner als Vorbilder für polizeiliche und strafprozessuale Sicherheitsstrategien und -techniken: Der US-Geheimdienstkoordinator Mike McConnell hatte vor dem US-Senat noch versichert, es sei „einfach nicht wahr“, daß amerikanische Bürger mit Hilfe von Data-MiningProgrammen überwacht würden. Derselbe McConnell hatte allerdings drei Wochen früher schon einräumen müssen, daß Telekommunikationsfirmen wie AT&T Regierungsbehörden bei nicht genehmigten Abhöraktionen unterstützt hatten. „AT&T nutzte dafür seine ‚Hawkeye’-Datenbank, in der 1,88 Trillionen Verbindungen gespeichert sind, und die hauseigene DataMining-Software ‚Daytona’.“42 Wenn der Verfasser des zitierten FASZArtikel, Lehnartz, dann freilich fortfährt: „Dem ‚unbescholtenen Bürger’ wäre wohler, wenn seine Beschützer seltener lögen“, so gilt das natürlich nur für die USA. In Deutschland können wir uns diesbezüglich, ein wenig
40 Hier erreicht denn auch das ständige Rufen nach mehr Sicherheit eine groteske Dimension: Wie die Süddeutsche Zeitung jüngst berichtete, waren sämtliche baden-württembergischen Sondereinsatz-Kräfte durch die Überwachungsmaßnahmen des grandiosen polizeilichen Präventionserfolg in Oberschledorn/Sauerland und im Schwarzwald gebunden worden, so daß die sonstigen OK-Kriminellen im „Ländle“ freie Fahrt hatten, was nur deswegen nicht sonderlich auffiel, weil es zu keinem Zusatzeinsatz gekommen ist. (Wahrscheinlich haben die Drogenund Menschenhändler aus reinem Mitleid mit den gestreßten SEK-Leuten für ein paar Wochen einen großen Bogen über diesen Hort der Bürgersicherheit gemacht!) – Schön ist auch bei der Technik-Verliebtheit unserer Innenminister zu wissen, daß die Polizeibeamten wegen mangelhafter Funksicherheit im Polizeifunknetz mit ihren privaten Mobiles (vulgo: „Handys“) telephonieren mußten, was freilich – infolge mickriger Senderkapazitäten im ländlichen Raum – wiederholt dazu führte, daß der Funkkontakt abriß, vgl. Ramelsberger, Pannen bei der Terrorfahndung, SZ 12.12.2007, S. 2; (Internet-Aufruf o., Fn. 11). Nur, in diesem Bereich Verbesserungen herbeizuführen, würde zwar die Prävention und Repression effektuieren, entbehrte aber der gern gesuchten publizistischen und alarmistischen Tendenz. 41 Gleichwohl gibt es auch hierzulande Sicherheitsstaat-Apologeten, die unverblümt „Guantanamo-ähnliche Zustände“ erwägen, Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates (2007) S. 63 f.: „Phänomenologische Chiffre für die Rechtlosigkeit des Feindes und Maßgeblichkeit reiner Staatsraison steht »Guantanamo« als ein Ort, an dem Recht solange suspendiert ist, wie die Gefahr andauert. (…) Das ist eine verfassungstheoretisch mögliche Antwort im Kampf der rechtsstaatlichen Zivilisation gegen die Barbarei des Terrorismus.“ Einschränkend aber S. 65, daß dies (noch?) nicht lex lata sei: „Vorstehende Erwägungen spiegeln eine verfassungstheoretische Option. (…) Noch aber steht das geltende Verfassungsrecht dieser Option entgegen: Feindschaft ist keine Kategorie der geltenden Rechtsordnung.“ – Muß man das ‚um der Sache willen’ bedauern? 42 Lehnartz, Online-Durchsuchung. Die Datenspäher und das Unbehagen, FAZ 16.9.2007, S. 61, abrufbar unter http://www.faz.net/s/RubF359F74E867B46C1A180E8E1E1197DEE/ Doc~EF233E62A2BC144AF908CC01D8729E30B~ATpl~Ecommon~Scontent.html.
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biedermeierlich-pharisäerhaft, zurücklehnen und sagen: Ach wie gut, daß wir nicht so sind wie die anderen!43, 44 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob eine Vielzahl von Politikern, die sich mit Fragen der Sicherheit befassen, einem Denkstil huldigen, der dem des amerikanischen Präsidenten im Irak-Krieg entspricht: Wenn ich weiß, daß der Irak biologische und chemische Kampfmittel besitzt und Atomwaffen anstrebt, dann sollte das dem Rest der Welt als Kriegsgrund genügen.45 – Daß ein derartiges Denken sehr viel älter ist, ist 43 Immerhin sonderte der amerikanische Präsident jüngst so bemerkenswerte Äußerungen ab wie: „Diese Regierung foltert nicht“, „Die Vereinigten Staaten hielten sich an ihre internationalen Verpflichtungen. Die Befragungen der Verdächtigen würden überdies von ‚ausgebildeten Profis’ vorgenommen“, vgl. etwa: FAZ.NET v. 5.10.2007, http://www.faz.net/s/RubDD BDABB9457A437BAA85A49C26FB23A0/Doc~EAD5008C304204BCC941B54EAE81D079 0~ATpl~Ecommon~Scontent.html, – obwohl just in der nämlichen Zeit die US-Vernehmungstechniken wie das simulierte Ertränken („Waterboarding“) oder Schläge auf den Kopf medial bekannt wurden („Vernichtete Videoaufzeichnungen – CIA-Direktor: Hatte nichts damit zu tun“, FAZ.NET v. 12.12.2007; vgl. http://www.faz.net/s/RubFC06D389EE76479E9E7642 5072B196C3/Doc~E151E2FE7FD1844DDB19198E6E84BC38B~ATpl~Ecommon~Scontent. html, sowie Rüb, „Verhör-Videos – Wer wusste was wann?“, FAZ v. 12.12.2007, http://www. faz.net/s/RubDDBDABB9457A437BAA85A49C26FB23A0/Doc~EAEB598CE818047C4994 DFC 219547F6C5~ATpl~Ecommon~Scontent.html?rss_politik; Hubertus Breuer, Amerikanische Verhörmethoden – Foltern fürs Vaterland, FASZ 19.8.2007, S. 51). – Gegen ein entsprechendes Verbotsgesetz des Senates (formal als des Republikaners McCains Anhang zum Verteidigungsbudget eingebracht) hatte der Präsident dann freilich nichts Besseres zu tun, als sein Veto anzukündigen. Am 12.3.2006 scheiterte das Repräsentantenhaus daran, mittels ҀMehrheit das Veto zu überwinden. – Vielleicht sollte man allen Befürwortern sogenannter verschärfter Verhörpraktiken, die aber natürlich nie unter den Begriff „Folter“ fallen (wie der Justizberater von Bush, und spätere kurzzeitige US-Justizminister Alberto Gonzales, im Wege finaler Subsumtion sachverständig festgestellt hatte), eine solche Behandlung kurzzeitig angedeihen lassen. Vielleicht würde dies ihre Fähigkeit steigern helfen, Folter von Nicht-Folter leichter zu unterscheiden. 44 Daß die alarmistische Technik der kriminalistischen Kleinkinder (Polizei, Innenpolitiker) im Spielzeugwarenladen der „Schönen neuen Welt“ (Motto: „Das will ich auch!!!!“) noch lange kein Ende gefunden hat, konnte man kürzlich wieder feststellen: Da durfte man in zahlreichen Blättern lesen, daß der Überwachungs-„Coup“ in Lathen beinahe mißlungen wäre, weil man bei der akustischen Überwachung vieles nicht verstanden, weil man nichts gesehen habe, – weswegen es jetzt – nach dem „großen Lauschangriff“ – auch noch unbedingt den „großen Spähangriff“ für das BKA geben müsse, vgl. SZ 10.12.2007, S. 5. Dem soll also nicht einmal die Befugnis-Aquise durch die Gefahrenabwehr-Polizei vorausgehen, der dann die RepressivPolizei erst nach einer bisher üblichen Schamfrist folgt!? 45 Auch hier soll den Vergeßlicheren unter uns die leider erst sehr viel später enthüllte Faktenlage in Erinnerung gerufen werden: Vgl. etwa IRAK OHNE ABC-WAFFEN. USWaffeninspektoren widerlegen Kriegsgrund, Spiegel online 6.10.2004 http://www.spiegel.de/ politik/ausland/0,1518,321737,00.html: „Laut dem Report, den die US-Waffeninspektoren einem Senats-Komitee vorlegten, besaß der Irak zum Kriegsbeginn keinerlei Massenvernichtungswaffen.“ „ ‚Ich erwarte auch weiterhin nicht, dass im Irak militärisch signifikante Arsenale an Massenvernichtungswaffen versteckt sind’, sagte der Leiter der ‚Iraq Survey Group’,
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vielen, vor allem jüngeren Bundesdeutschen aus den Westzonen freilich weniger geläufig: Immerhin meinte schon Lenin: „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“.46 Charles Duelfer, gestern bei seiner Anhörung vor dem Streitkräfte-Ausschuss des US-Senats. Auch das Atomwaffenprogramm sei in den Jahren nach dem Golf-Krieg 1991 verfallen und nicht mehr von Bedeutung gewesen. Duelfer kam damit zu dem gleichen Ergebnis wie sein Vorgänger David Kay, der im Dezember vergangenen Jahres seinen Rücktritt erklärte und danach die Regierung von Präsident George W. Bush öffentlich kritisierte“. Vgl. auch M.Streck, Das Ziel war die Manipulation, taz 31.5.2003, S. 3, http://www.taz.de/index.php? id=archivseite&dig=2003/05/31/a0181, der sich aber zum Schluß noch (erstaunlicherweise) darüber verwundert zeigt, daß es „die US-Öffentlichkeit nicht zu stören (scheint), dass ausgerechnet George W. Bush, der Gralshüter von Anstand und Moral, sie womöglich belogen hat. Ein Krieg, basierend auf einer Lüge, gibt offenbar weniger Anlass zum öffentlichen Aufschrei als die Lüge über eine Sexaffäre mit einer Praktikantin.“ Dabei könnte er doch wissen, daß noch immer die Losung gilt: Hypokritiker aller Länder, vereinigt Euch! – Wohl aber weist er darauf hin, daß Vice-Secretary of State Wolfowitz (neben Vizepräsident Cheney und Verteidigungsminister Rumsfeld der Hauptinitiator jenes Krieges) seinen Vorgesetzten Collin Powell damit zu desavouieren vermochte; dieser hatte noch Anfang Februar 2003 vor dem UNOSicherheitsrat seine „Beweise“ gegen Bagdad vorgelegt, die die Weltgemeinschaft von der Bedrohung durch irakische Waffen überzeugen sollten. 46 Vgl. das Motto in dem Lehrbuch „Grundlagen des Marxismus-Leninismus“ (Berlin[-Ost], 1960), S. 1. Vielleicht knüpft die Bush-Administration aber auch an die – freilich gescheiterte – „Madman-Theory“ des früheren Präsidenten Nixon an, vgl. etwa Los Angeles Times vom 20.10.2007, S. 18 (Quelle lexisnexis): „So why rattle the sabers now, at a moment of U.S. military weakness? In 1969, with the Vietnam War going badly, President Nixon devised a plan to spook the Soviets and the North Vietnamese into making concessions by making them think that he was just crazy enough to use nuclear weapons. Nixon called it the "madman theory." There is speculation that the Bush administration could be trying out its version of the madman gambit by advertising Vice President Dick Cheney's alleged desire to bomb Iranian nuclear sites and Revolutionary Guard targets, in hopes of scaring Tehran into submission. The problem with the madman act, however, is that it presumes that the Iranians will react sensibly. But who wants to stake U.S. foreign policy on the wisdom of Iran's mullahs and its titular head, President Mahmoud Ahmadinejad, a paranoid who can beat us at the madman game any day of his choosing? He has already threatened to wipe Israel off the map.” – Vgl. auch James Carrol, in: The Boston Globe v. 14. Juni 2005 S. A-19: „"I call it the madman theory, Bob," Richard Nixon said to Robert Haldeman. With the recent revelation of the identity of "Deep Throat," the nation's memory has been cast back to the Watergate crisis, which began with a burglary 33 years ago this week. Nixon is remembered as having threatened the US Constitution, but his presidency represented a far graver threat than that. Various published tapes have put on display his vulgarity, pettiness, and prejudice and his regular drunkenness. But what has generated insufficient alarm is Nixon’s insane flirtation with the actual use of nuclear weapons. "I want the North Vietnamese to believe," he went on, "that I’ve reached the point that I might do anything to stop the war. We’ll just slip the word to them that for God’s sake, you know Nixon is obsessed about communism. We can’t restrain him when he's angry, and he has his hand on the nuclear button, and Ho Chi Minh himself will be in Paris in two days begging for peace." Six months into his presidency, Nixon’s frustration with Hanoi's refusal to budge in its demands at the Paris peace talks was extreme, and he put his madman ploy into gear. For
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Zu welchen intellektuellen Höhenflügen Minister und deren Ratgeber ansetzen können, die eben nur gelegentlich (bei Bedarf) hinter einer unübersehbaren, aber leider unbekannten Vielzahl von Bürgern potentielle Terroristen wittern, mag der jüngste Vorschlag aus dem Hause Schäuble illustrieren, – wenn gerade mal interimistisch Liberalisierung angesagt ist: Die geplante „Rolle rückwärts“ im deutschen WaffenG, nämlich die gerade (nach dem Schulmassaker in Erfurt) auf 21 Jahre angehobene Altersgrenze wieder auf 18 Jahre abzusenken, wurde mit einer abenteuerlichen Begründung erläutert: Der Sprecher des BMI verlautbarte, die Altersmaßgabe habe keinen „meßbaren Sicherheitsgewinn“ erbracht.47 Wenn wir diese Meßlatte überall anlegen wollten, müßten wir eigentlich gleich ganz auf das Strafrecht verzichten. Denn einen meßbaren Erfolg hat dem Strafrecht noch niemand seriös, d.h. empirisch belegbar, bescheinigen können. Außerdem wäre interessant zu wissen, wie das Ministerium diese Ineffizienz ermittelt haben will. Weil der Amokläufer von Emstetten sich seine Waffen aus dem Internet besorgt hatte? Oder weil in der kurzen Zeit der Geltung des novellierten WaffenG – merkwürdigerweise – kaum Taten eines Heranwachsenden mit einer großkalibrigen Waffe begangen wurden? Schön war auch, daß in unseren registrierungswütigen Zeitläuften hier endlich einmal Schluß gemacht werden sollte mit der überbordenden Bürokratie – indem das zentrale Waffenregister beseitigt werden sollte. Wenn die Polizei dann auf eine großkalibrige Waffe gestoßen wäre, dann hätte sie ihr in der Asservatenkammer nur das Schild „Nanu?“ umhängen können. – Für manche irritierenderweise hat der sonst seiner selbst so sichere Minister bei diesem „Versuchsballon“ angesichts des aufkommenden medialen Unmuts ganz schnell beigedreht und die Pläne wieder in den Orkus innenministerieller Schubladen versenkt.48 – Gleichwohl – liegt darin nicht ein unübersehbares
this account, I depend on the political scientists Scott D. Sagan and Jeremi Suir, whose 2003 article in the journal International Security brought the incident to light.". 47 FAZ.net vom 3.9.2007: http://www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010 EE1/Doc~EE8D42AC89C854845 B26F854F6A66B50A~ATpl~Ecommon~Scontent.html. 48 Spiegel-Online vom 3.9.2007 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,503503, 00.html. Aber vielleicht war es auch nur eine taktische Meisterleistungen eines in 16 KohlRegierungsjahren an die Schlechtigkeit der Homines politici Gewohnten: Indem er sich hier als „lernfähig“ gezeigt hat, kann er mit um so größerer psychologischer Verve auf die Betonköpfe unter den Grundrechtsschutz-Fanatikern zeigen, die einfach nichts verstehen wollen und ihre Augen vor den uns ständig bedrohenden Gefahren des Islamismus verschließen. Daß bei uns jährlich etwa 14.000 Menschen an den Folgen des Alkoholismus sterben, wird demgegenüber als Quantité négligeable wahrgenommen, – obwohl an solchen Zahlen auch AlQuaida lange „stricken“ müßte (Stat.Bundesamt, Todesursachen in Deutschland – Fachserie 12 Reihe 4 – 2006, erwähnt in 2.2 unter „F 10“, daß im Jahr 2006 4.603 Menschen an psychischen und Verhaltensstörungen gestorben sind, die durch Alkohol hervorgerufen wurden. Zusätzlich sind
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Zeichen für aktionistische und wenig reflektierte GesetzgebungsKonzeption? Ähnliches, wenn auch mit umgekehrter Wirkungstendenz, ist auch bei der unter dem harmlosen Namen „Einführungsgesetz zur Abgabenordnung“ daherkommenden Einführung einer elf-zifferigen Kennzahl für jeden Bundesdeutschen zu beobachten.49 Alle versichern mit biederem Augenaufschlag, diese 82 Millionen Datensätze, die in den deutschen Finanzämtern verwaltet werden, ausschließlich für Fragen der Steuerverwaltung (und vielleicht auch zur Abwehr unberechtigter Sozialleistungen?) nutzen zu wollen. Wie war das noch einmal mit den Mautdaten? Alfred Polgar, ein zu Unrecht in Vergessenheit geratener Journalist und Satiriker, regte aus Anlaß des, glücklicherweise erfolglosen Attentats auf König Zogu von Albanien in Wien 1931 an: „Absolute Herrscher und Diktatoren, die sich ins Ausland begeben, werden am sichersten durch Festnahme ihrer dort ansässigen Landsleute geschützt“.50 Vielleicht sollte man die Anregung, mit Blick auf den leidigen Tod von Benno Ohnesorg51 bei der Auseinandersetzung mit der Polizei anläßlich des Schahbesuchs in Berlin und der, u.a. dadurch ausgelösten, „68er Studentenrevolte“, allerdings gleich noch auf einheimische politische Gegner des Staatsgastes erstrekken!? Nicht alles, was technisch möglich ist, sollte man zwecks Verbrechensbekämpfung auch einsetzen – geschweige denn rechtlich einsetzen dürfen. Zwar kann man am technischen Fortschritt nicht vorbeigehen und etwa Gangster in Panzerlimousinen mit Wolfseisen zu fangen suchen. Aber was technisch vorstellbar ist, mag, ähnlich wie in den Think-tanks und den Laboratorien der Waffenindustrie, antizipierend durchdacht, konzipiert und unter Umständen auch gebaut werden. Aber es fällt, jenseits von Schutztechniken, damit, daß es existent ist, nicht notwendig gleich in den Bereich unter der „K 70“ 9676 Todesfälle aufgrund von alkoholischer Leberkrankheit vermerkt. Das macht eine Zahl von über 14.000 [die Vorjahre haben ähnliche Zahlenwerte]). 49 Art. 97 § 5 EGAO i.V.m. §§ 139a Abs. 1, 139b. AO (Steueränderungsgesetz 2003 [genauer: Zweites Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften] vom 15.12.2003, BGBl. 2003, 2645 – eigentlich hätte man bei dem Namen des Programms [Elektronische Steuererklärung ELSTER] schon stutzig werden müssen, denn die Elster ist bekanntlich ein diebischer Krähenvogel). Sie erhält jeder deutsche Bürger, egal ob Baby oder Urgroßmutter; fürsorglich wird sie noch über den Tod hinaus auf bis zu 20 Jahre gespeichert, § 139d Nr. 3 AO: „Die Bundesregierung bestimmt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates: (…) 3. Fristen, nach deren Ablauf die nach §§ 139b und 139c gespeicherten Daten zu löschen sind.“ http://www.bundesfinanzministerium.de/cln_01/nn_3380/DE/Steuern/Steueridentifikationsnumme r/020_a.html. 50 Alfred Polgar, Attentat in Wien, in: ders., Ansichten (1933), S. 183 (186). 51 Metzner, Benno Ohnesorg, Ein zufälliger Tod wurde zum Fanal (http://www.stern.de/ politik/historie/316834.html?eid=501091).
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der in Dienst zu stellenden Instrumentarien. Den Verbrechern immer mit technischer Innovation einen Schritt voraus sein zu wollen, wäre pure Illusion – vergleichbar mit dem Denken des französischen Generalstabs in bezug auf die Maginot-Linie vor dem ersten Weltkrieg. Aber selbst das beliebte Schlagwort von der „Waffengleichheit“ ist faktisch ebenso illusionär wie rechtlich fragwürdig: Illusionär: Mögen verbrecherische Großsyndikate (oder sogenannte Schurkenstaaten) Gelder in einer beliebigen Höhe in jene kriminelle Technik stecken können, der Staat darf es allenfalls im Kriegsfall. Und rechtlich fragwürdig, weil wir – um der gleichen martialischen Redeweise zu genügen – vermeintliche Verbrechernester nicht mit „Flammenwerfern ausräuchern“ und Tatverdächtige nicht foltern dürfen – obgleich diese derartige Praktiken durchaus einzusetzen bereit sein mögen.52
V. Zukunftweisendes Mich wundert, daß noch niemand den Vorschlag gemacht hat, jedem Bürger – und in einem zweiten Arbeitsgang dann: jedem Besucher Deutschlands (oder, angesichts unserer Xenophobie, doch besser in umgekehrter Reihenfolge) – einen Chip mit dessen persönlichen Daten zu implantieren. Dann könnte er zu jeder Zeit durch die im Tiefflug über Deutschland hinweg donnernden Aufklärungstornados ausgemacht und identifiziert werden.53 Wenn wir dies noch mit einem Kontaktelement verbänden, das die zentrale Blutzufuhr zum Gehirn mittels elektronischer Impulse unterbrechen 52 Allerdings mehren sich neuerdings die Stimmen, die, um den alten Bundeskanzler Adenauer zu zitieren, in diesem Punkte „jar nich so pingelich“ sein mögen. Als letzter hat sich Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates (2007), in dieser Richtung geäußert, den als Carl-Schmitt-Bewunderer das Denken in Grenzlagen und von den Extremen her anzieht (Depenheuer, a.a.O., S. 35 ff.) (jenes Carl Schmitt, nota bene, der nicht nur gesagt hat: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ [Carl Schmitt, Politische Theologie1 (1922), S. 9 (= Politische Theologie2 [1934], S. 11)], sondern auch: „Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik“, Politische Theologie1 [1922], S. 15 = Politische Theologie2 [1934], S. 22 [wo Schmitt sich allerdings die Auseinandersetzung mit Erich Kaufmann geschenkt hatte]). Jenes Buch von Depenheuer hatte es denn auch sogleich unserem Bundesinnenminister sehr angetan, vgl. taz Magazin v. 06.10.2007, S. VII „Schäubles Liebling“. – Nun ist auch an Extremlagen zu denken zweifellos in der Theorie wie in der Politpraxis wichtig. Die Frage ist nur, ob und in welchem Umfang man jene zur Grundlage von normativen Handlungsmodellen macht. 53 Ein Probelauf wurde bei dem G-8-Gipfel in Heiligendamm praktiziert, vgl. „TORNADOTIEFFLÜGE, Regierung entschuldigt sich bei G-8-Demonstranten“, Spiegel online 4.7.2007 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,492426,00. html).
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könnte, wären wir endlich aller Sorgen vor kriminellem Ungemach ledig. Dies ließe sich – im Bedarfsfalle – auch noch auf politisch AndersDenkende erstrecken. Immerhin ist eine andere schiefe Ebene für Allmachts-Phantasien gerade schon betreten: Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung (BT-Drs. 16/5846) hat den Weg in das Bundesgesetzblatt genommen.54 Damit kann seit dem 01.01.2008 „die wohl größte Datensammlung in der Geschichte der Bundesrepublik“55 beginnen, bei der nämlich Telekommunikationsanbieter verpflichtet werden, die Verbindungsdaten aller Teilnehmer für sechs Monate lang zu speichern, damit Polizei und Geheimdienste, aber auch Strafverfolgungsbehörden (siehe § 113b Nrn. 2 und 3 TKG-E) ggfls. darauf zugreifen können. Für Internetverbindungen (also die jedem Internetsurfer zugewiesene IP-Adresse, Beginn und Ende ihrer Nutzung, bei E-Mails die IP-Adressen von Absendern und Empfängern mit Datum und Uhrzeit sowie alle Abfragen des E-Mail-Postfachs) beginnt diese FeststellungsMöglichkeit ein Jahr später. Hier hat sich der nationale Gesetzgeber mit dem billigen Verweis auf – vermeintlich verbindliche – Brüsseler Vorgaben (Richtlinie 2006/24/EG) einmal mehr über mannigfaltige verfassungsrechtliche56 und europarechtliche Bedenken hinweggesetzt.57 Der Einwand, es handele sich bei diesen Grundrechtseingriffen doch bloß um eine Quantité négligeable, schließlich werde nicht der Inhalt der Kommunikation überwacht, geht ins Leere: Es braucht nicht viel Phantasie, um die Bedeutung einer E-mail an eine AIDS-Beratungsstelle oder eines Telefonats mit einem auf Steuerstrafrecht spezialisierten Rechtsanwalts zu erkennen.58 Auch hier 54
BGBl. 2007 I, S. 3198. So Tomik, „Hunderte Terabyte zur Verfolgung von Straftaten“, FAZ v. 28.12.2007 S. 4. 56 … auch und gerade „aus dem eigenen Hause“ – nämlich dem wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, siehe Sierck/Schöning/Pöhl, Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste, Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung nach europäischem und deutschem Recht, abrufbar auf http://www.bundestag.de/bic/analysen/2006/zulaessigkeit_der_vorratsdatenspei cherung_nach_europaeischem_und_deutschem_recht.pdf. 57 Vgl. die ablehnenden Stellungnahmen zum Gesetzentwurf von Breyer, Rechtsprobleme der Richtline 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung …, StV 2007, 214 ff.; Gitter/Schnabel, Die Richtlinie zur Vorratsspeicherung und ihre Umsetzung in das nationale Recht, MMR 2007, 411 ff.; Gola/Klug/Reif, Datenschutz- und presserechtliche Bewertung der „Vorratsdatenspeicherung“, NJW 2007, 2599 ff.; Leutheusser-Schnarrenberger, Vorratsdatenspeicherung – Ein vorprogrammierter Verfassungskonflikt, ZRP 2007, 9 ff.; Zöller, Vorratsdatenspeicherung zwischen nationaler und europäischer Strafverfolgung, GA 2007, 392 ff. 58 Um nur zwei Beispiele von Breyer, StV 2007, 214, aufzugreifen. – Man wende nicht ein, eine solche Möglichkeit von weiteren Schlüssen (AIDS, Steuerstraftat) sei ubiquitär (man könne auch bei einer Hausdurchsuchung die Telefonnummern oder Kontaktdaten dieser Gesprächspartner finden oder die Besuche visuell beobachten); doch sind gerade die Häufigkeit, die zeitlichen Zusammenhänge und die weiteren (Quer-)Verbindungen eine auf die konventionelle Weise nie erlangbare Informations-Vielfalt. Und auch der Umstand, daß man aus diesen 55
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werden, wie man vielleicht noch hoffen darf, erst wieder Luxemburg59 oder Karlsruhe60 die „Reißleine“ ziehen. Leider kann man nicht darauf vertrauen, daß all jene schönen neuen Dinge aus dem Desideraten-Markt unserer Sicherheitspolitiker so wenig taugen wie die neu, im April einzuführende Gesundheits-Chipkarte für jedermann.61 Die kostet zwar 1,4 bis 1,6 Milliarden Euro, kann aber nicht mehr als die alte, trägt dafür aber ein Bild von dem jeweiligen Inhaber. Dafür soll sie dem Kartenmißbrauch vorbeugen, der die Versicherungen angeblich ca. 300 Millionen Euro per anno kosten soll. Zum Ausgleich für die horrenden Kosten ist in der Karte ein – vorläufig nicht genutzter – Chip eingelassen, mit dessen Hilfe man dann in Zukunft unglaublich vieles wird machen können – vielleicht auch den oben erwähnten Tornado-Fliegern den Nachweis ermöglichen, daß der elektronisch erfaßte „Terrorist“ auch krankenversichert ist, bzw. – in einer ferneren Zukunft – sogar noch festzustellen, daß er Nierensteine und Akne hat. Zum Abschluß möchte ich noch einen weiteren konstruktiven Vorschlag machen, der einen Lackmustest auf die Überzeugungsfestigkeit unserer Sicherheitspolitiker darstellen und so den sich ausbreitenden Tendenzen von Politik-Müdigkeit, ja -Aversion entgegenwirken könnte: Alle diejenigen, die für das Abschießen von „gehighjackten“ Flugzeugen sind, mögen sich verpflichten, sich umgehend an die Stelle des geplanten hoheitlichen Eingriffs zu begeben – damit sie nicht nur Zeugen der Segnungen ihrer Gesetze werden, sondern auch für allfällige Colateralschäden zur Verfügung stehen. Auch wenn die Gefahren von islamischem und anderem Terrorismus keineswegs geleugnet werden sollen, so kann man sich doch nicht des Eindrucks erwehren, als sielten sich einige in einer Sehnsucht nach dem „Aus-
Informationen bei entsprechenden Vertrauensverhältnissen keine Konsequenzen ziehen darf, entschärft das Problem nur bedingt – abgesehen davon, daß Herr Schäuble gerade dabei ist, auch an diesen Sonderschutzbereichen herumzustutzen, vgl. Kai Biermann, Das BKA im Beichtstuhl, Zeit online vom 16.01.2008 http://www.zeit.de/online/2008/03/bka-gesetzlauschangriff; Annette Ramelsberger, Lauschangriff auf Pfarrer und Imame, Süddeutsche vom 16.01.2008 http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/296/152907/: Im neuen BKAGesetz-Entwurf sollen die Abhörprivilegien für Verteidiger und Priester fallen. 59 Wenigstens Irland hat gegen die sowohl kompetenzrechtlich wie auch gemeinschaftsgrundrechtlich bedenkliche Richtlinie 2006/24/EG Nichtigkeitsklage erhoben (Az. C-301/06). In Deutschland, wo man gern medial auf die Kompetenz-Exzesse von Brüssel einhackt, wenn es niemandem wehtut, hat man in seinem Terrorismus-Bekämpfungs-Furor jeden Blick für wirkliche Kompetenzüberschreitungen verloren. 60 Laut spiegel-online v. 27.12.2007 bereiten Gegner des Gesetzes eine „Massen“Verfassungsbeschwerde mit mehr als 25.000 Beschwerdeführern vor, http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/0,1518,525460,00.html. 61 Vgl. dazu etwa Germis, Digitale Patienten. Der Murks mit der Gesundheitskarte, FASZ 30.9.2007, S. 38.
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nahmezustand“, die an Carl Schmitt gemahnt. Man sollte aber weder die StPO und das StGB noch das Polizeirecht vom Ausnahmezustand her – noch zu ihm hin konzipieren.62
62 Wie hier tendenziell auch Schmidt-Jortzig, Die Verallgemeinerung des Außergewöhnlichen, Ress-FS (2005), S. 1569 ff., hinsichtlich der Normierung von „eigentlich Unnormierbarem“, etwa S. 1578: „Zum einen dürfte schon die ‚Ausweglosigkeit der normativen Lage’ einer Kodifizierung solcher Sonderbedingungen entgegenstehen. (…) Aber das Festmachen von Umständen, unter denen eine Regel durchbrochen bzw. außer acht gelassen werden darf, tangiert eben immer auch die Standfestigkeit der Regel selbst, läßt Zweifel an ihrer Ernsthaftigkeit und Grundsätzlichkeit aufkommen. (…) Zum anderen aber erscheint das normative Einfangen letzter, exzeptioneller Ausnahmelagen, die das Gewöhnliche zu überspielen erlauben, aus Gründen des Regelungsgegenstandes selber unangängig. Auch die Sprache legt dies ja nahe. Denn normieren kann man offenbar nur das ‚Normale’, nicht das Unnormale.“ ... S. 1581: „Der Irrweg entsprechender Legalisierungsbemühungen hat natürlich den Trend des allgemeinen Normierungsdranges für sich. Der Rechtsstaat aber, der zweifellos die Vergesetzlichung vorantreibt und fordert, kann weder für rechtliche Denaturierungen noch für normative Unsinnigkeiten in Anspruch genommen werden. Gesehen werden muß immer die Grenze des Normierbaren.“ – Vgl. auch di Fabio, Westen muß Westen bleiben, Die Welt v. 12.11.2007, S. 7 (http://www.welt.de/welt_print/article1354254/Westen_muss_Westen_bleiben.html): „Ein Stück falscher Rezeption des Kriminellen liegt auch in der Vorstellung, der Rechtsstaat bräuchte im Innern ein spezielles Feindstrafrecht, ein Sonderrecht für diejenigen, die sich außerhalb der Rechtsgemeinschaft setzen wollen. Ein solches ‚Feindrecht’ findet im Grundgesetz keine Stütze. Hier sind alle vor dem Gesetz gleich, der Rechtsstaat fahndet nach jedem Mörder in gleicher und angemessener Weise. … Es ist die konservative Tonlage im großen Chor derjenigen, die seit Jahrzehnten bei jeder Herausforderung den modernen Staat als bewährte Institution verabschieden wollen. Doch die intellektuelle Lust am antizipierten Ausnahmezustand ist kein guter Ratgeber. Sie verfehlt auch ihr erklärtes Ziel, durch harte Maßnahmen mehr Sicherheit für die Freiheit zu schaffen. Der amerikanische ‚Krieg gegen den Terror’ wird durch die Schaffung von Sonderrecht auf Guantánamo oder durch eigenwillige Interpretationen des Völkerrechts nicht effektiver gemacht, sondern à la longue geschwächt: … Wer die Identitätsmerkmale der Humanität und Rechtsstaatlichkeit aufgibt, opfert sich selbst und kann in unserer Rechtsordnung schwerlich Opfer von den Bürgern verlangen.…Viele meinen, jeden denkbaren Grenzfall noch gesetzlich regeln oder rechtlich antizipierend schon diskutieren zu müssen. Dieser Hang zur Rechtsperfektion will vollständige juristische Beurteilungsgewissheit, die es – schon weil der Ernstfall dann doch anders ist – so nicht geben kann.…Man sollte nicht den Versuch unternehmen, das Recht in einen Ausnahmezustand hinein zu veralltäglichen oder vom Ausnahmezustand her konzeptionell zu denken.…Eine Gesellschaft sollte sich nicht hysterisch in eine ‚Not-Wende-Zeit’ hineinreden, in der jedes Mittel recht scheint, um zu überleben. Wer heute so katastrophenfixiert formuliert, könnte morgen eine solche Wirklichkeitswahrnehmung herbeigeredet haben.“ (Herv.: H.-U.P.). – Vgl. demgegenüber Depenheuer, S. 29: „Weil der Abschuß der Passagiermaschine absolut verboten ist, werden die Opfer am Boden dem Attentat und damit ihrem sicheren Tod unter Hinweis auf das allgemeine Lebensrisiko teilnahmslos preisgegeben. Dieser Zynismus indiziert in signifikanter Weise das Abgleiten der Verfassungsdogmatik in einen wirklichkeitsblinden und letztlich verantwortungslosen Verfassungsautismus.“; a.a.O., auch unter forcierter Berufung auf Jakobs’ Feindstrafrecht, a.a.O., S. 56 f. (siehe Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS 2004, 88 ff.; ders, Terroristen als Personen im Recht?, ZStW 117 [2005], 839 ff.; ders, Feindstrafrecht?
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Jedenfalls neige ich auch bezüglich der Neo-Schmittianer mehr der Feststellung Kirchheimers zu, die dieser schon 1944 in bezug auf den großen Meister selbst äußerte: „Carl Schmitts ‚Dezisionismus’ hatte schon 1922 die Hoffnung aufgegeben, ein dauerndes Subjekt der Souveränität zu finden, das darauf bedacht und in der Lage wäre, die Interessen und Wünsche der verschiedenen Parteien ins Gleichgewicht zu bringen. Er ging daraufhin dazu über, Souveränität jenen Personen oder Gruppen zuzusprechen, die unter außergewöhnlichen Umständen sich als fähig erweisen, politische Herrschaft auszuüben“.63, 64 – Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit, HRRS 2006, 289 ff.; vgl. zu dessen grundsätzlicher Position krit.: NK2-Paeffgen [2005], Vor § 32 Rn. 223. 63 Kirchheimer, Zur Frage der Souveränität, in: ders., Politik und Verfassung (1964), S. 57 (92). 64 Das BVerfG hatte freilich, auch das sollte nicht übersehen werden, bei seiner Nichtigkeitserklärung des § 14 Abs. 3 LuftSiG immerhin ausdrücklich einen Strafrechts-Vorbehalt und einen solchen bzgl. des „absoluten Ausnahmefalls“ (Zerstörung des Gemeinwesens) einbezogen, BVerfGE 115, 118 (157): „Auch wenn sich im Bereich der Gefahrenabwehr Prognoseunsicherheiten vielfach nicht gänzlich vermeiden lassen, ist es unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich, wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs, in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls sogar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten vorsätzlich zu töten. Dabei ist hier nicht zu entscheiden, wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären (vgl. dazu und zu vergleichbaren Fallkonstellationen etwa OGHSt 1, 321 [331 ff., 335 ff.]; OGHSt 2, 117 [120 ff.]; Hilgendorf, in: Blaschke/Förster/Lumpp/Schmidt, Sicherheit statt Freiheit? [2005], 107 [129 ff.]; Lackner/Kühl26 [2007], Vorb. § 32 Rn. 31; MüKo-Erb [2003], § 34 Rn. 117 ff.; Roxin, AT I4 [2006], § 22 Rn. 142 ff., 146 ff. 161 ff.; SK7-Rudolphi [2003], Vorb. § 19 Rn. 8; Tröndle/Fischer54 [2006], Vorb. § 32 Rn. 15, § 34 Rn. 23). Für die verfassungsrechtliche Beurteilung ist allein entscheidend, dass der Gesetzgeber nicht durch Schaffung einer gesetzlichen Eingriffsbefugnis zu Maßnahmen der in § 14 Abs. 3 LuftSiG geregelten Art gegenüber unbeteiligten, unschuldigen Menschen ermächtigen, solche Maßnahmen nicht auf diese Weise als rechtmäßig qualifizieren und damit erlauben darf. Sie sind als Streitkräfteeinsätze nichtkriegerischer Art mit dem Recht auf Leben und der Verpflichtung des Staates zur Achtung und zum Schutz der menschlichen Würde nicht zu vereinbaren.“. BVerfGE 115, 118 (159): „Der Gedanke, der Einzelne sei im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen (so etwa Enders, in: BerlKomm. z. GG I, Art. 1 Rdnr. 93 [2005]), führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen dem Grundgesetz über die mit der Notstandsverfassung geschaffenen Schutzmechanismen hinaus eine solche solidarische Einstandspflicht entnommen werden kann. Denn im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 LuftSiG geht es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind.“ Mit gutem Grund rügt zwar Isensee, Leben gegen Leben – Das grundrechtliche Dilemma des Terrorangriffs mit gekaperten Passagierflugzeugen, G.Jakobs-FS (2007), S. 205 (216 Fn. 45), daß „für das Ergebnis des Urteils die grundrechtlichen Ausführungen eigentlich ent-
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behrlich (sind), weil die Nichtigkeit schon aus staatsorganisatorischen Verfassungsverstößen folgt. (…) Der grundrechtliche Begründungsüberhang, der nicht der Entscheidungsnotwendigkeit des Gerichts, sondern seinem Volksbelehrungsdrang entspringt, darf getrost zu den obiter dicta gerechnet werden. Insofern bildet er kein Hindernis für künftige Gesetzgebung.“ (so auch Hillgruber, Der Staat des Grundgesetzes – nur bedingt abwehrbereit?, JZ 2007, 209 [217]). Doch materiell zeiht er das BVerfG feiger Realitätsflucht: (S. 207): „Eine andere Strategie, ein systembedrohliches Dilemma zu negieren, geht dahin, seine reale Möglichkeit in Abrede zu stellen. … Heute bedient sich ihrer das Bundesverfassungsgericht. Die geflissentliche Leugnung des Ausnahmefalls von seiner empirischen Seite her ist eine Methode, der normativen Regel eine schwierige Bewährungsprobe zu ersparen und so ihre Akzeptanz zu stabilisieren.“ …(S. 227) „Das Gericht huldigt einem grundrechtlichen Autismus, der die Position der Personen an Bord aus allen rechtlichen Beziehungen und sozialen Bedingtheiten herauslöst und sogar das faktische Zusammensein mit den Terroristen an Bord der Maschine, kurz: die objektive Gefahrenlage ignoriert. (…) Konsequent weitergedacht, ließe sich das Bundesverfassungsgericht selbst des Verstoßes gegen die Menschenwürde überführen, und zwar der Menschenwürde der Personen am Boden, deren Rettung im Ernstfall es verhindert. Es opfert die Servabiles, um die eigenen Vorstellungen von grundrechtlicher Liberalität nicht zu beflecken.“ … (S. 233): „Im schizophrenen Idealismus des Flugsicherungs-Urteils manifestiert sich das gestörte Verhältnis der Deutschen zum Staat. Sie wollen in ihm nur den Widersacher ihrer Freiheit sehen, nicht aber auch deren Garanten, vollends nicht deren Voraussetzung. (…) In dieser Sicht erscheint das Grundgesetz als Schönwetterverfassung, in der der Ernstfall keinen Platz findet.“ – Doch wer die begrifflichen Regularien aus der Regelhaftigkeit in den in seinen Details nebelhafte Ausnahmezustand erstreckt und zu einer Pseudo-Normherrschaft ausbaut, zieht die dortigen Ausnahmemöglichkeiten mit psychologischer Notwendigkeit in den Bereich des „Normalen“. Nur allzu schnell finden sich dann nämlich im „Normalen“ die Vorboten des Ausnahmezustandes. Wie meinte doch C.Schmitt, Politische Theologie2 (1934), S. 18/19 (= Politische Theologie1 [1922], S. 13): „Ist dieser Zustand eingetreten {i.e.: der Ausnahmezustand, H.-U.P.}, so ist klar, daß der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt…Die Existenz des Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm… Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft seines Selbsterhaltungsrechts, wie man sagt. Die zwei Elemente des Begriffs ‚Rechts-Ordnung’ treten hier einander gegenüber und beweisen ihre begriffliche Selbständigkeit“. – Anders ist der Ansatz von Hirsch, Defensiver Notstand gegenüber ohnehin Verlorenen, Küper-FS (2007), 149 (160 ff.), der die Besatzung und die übrigen Passagiere in einer gekaperten Maschine in der Wertbilanz mit Null valutiert. (Das Vorliegen einer Defensivnotstandslage lasse die vorsätzliche Tötung unrettbar Verlorener zu, falls diese untrennbar [wenn auch nur schicksalhaft] mit der Gefahrenquelle verbunden seien und die Rettung des Lebens der von der Gefahr bedrohten Dritten nur durch die Opferung des Lebens der ohnehin nicht zu Rettenden möglich sei. Man könne diejenigen, die noch zu retten seien, nicht durch Untersagung der Rettungshandlung dazu verpflichten, das Schicksal der ohnehin Verlorenen zu teilen). – Abgesehen davon, daß die Insassen des vierten Flugzeuges an jenem grauenvollen Tag des 11.9.2001 bewiesen haben, daß sie nicht nur nicht nichts zählen, sondern ihr und anderer Menschen Schicksal begrenzt in die Hand nehmen können, sollte man auch hier das Gesamtszenario in den Blick nehmen – ganz so, wie es Isensee mit Recht einfordert. Dann wird man aber über den Umstand nicht hinweggehen können, daß ein Abschuß eines Flugzeuges, zumal wenn es noch voll betankt ist, unkalkulierbare Risiken für die – angeblich ja zu schützenden Dritten birgt: Zwar mögen dann die in den Deutsche Bank-Türmen in Frankfurt als etwaiges Ziel Auserkorenen davonkommen. Aber da diese Türme bekanntlich nicht in der Tundra stehen, opfern wir bei dieser vermeintlich rationalen Bilanz – in einem völlig unüberschaubaren Umfang – Menschen, die in den Streubereich
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Insgesamt kann einen der gesamte Wirbel der Sicherheits-Sanguiniker nur trübsinnig stimmen,65 wenn man an die sonstigen Fakten auf dem Gebiet der „Inneren Sicherheit“ denkt. Nur exemplarisch sei daran erinnert, daß die Polizei und die Staatsanwaltschaften so unterbesetzt sind, daß sie sich zur Auswertung von Computer-Festplatten fremder Hilfe versichern müssen.66 Da der Daten- und Persönlichkeitsschutz in unserem Land kaum noch jemanden interessiert, werden mit solchen, höchst persönliche Informationen betreffenden Datenbeständen externe, nicht sonderlich verpflichtete Firmen beauftragt. Daß dies – neben der scheinbaren Petitesse des Privatheitsschutzes – Erpressungen und Schlimmerem Vorschub leistet, können selbst von dem Wunsch nach effektiver Terrorismusbekämpfung Beseelte schwerlich in Zweifel ziehen.67
der abgeschossenen Maschine sind/geraten!? Will da noch jemand von „Colateralschäden“ sprechen? 65 Zumal, wenn man an das sich exponentiell vermehrende Risiko des Daten-Diebstahl aus solchen Daten-Agglomerationen erinnert. Nur Schwachköpfe in des Wortes engster Bedeutung können ernsthaft meinen, die Daten seien bei der Polizei/StA „sicher“ (es sei nur an die diversen erfolgreichen Hacker-Attacken auf den wohl bestgesicherten Computer der Welt, den im Pentagon, erinnert), – einer weiteren Gefahr, vor der zu warnen ich nicht müde werde, vgl. etwa Paeffgen, Kompetenzen zur (präventiven und repressiven) Datenübermittlung, Hilger-FG (2003), S. 153 (169); ders. Vernachrichtendienstlichung des Strafprozesses, GA 2003, 647 (662). Nur als weiteres Aperçu dazu die Nachricht aus der FR-online v. 2.1.2008: „Rekord bei Datendiebstahl“: 162 Millionen Daten seien 2007 entwendet worden, mehr als dreimal so viele wie 2006 (49 Millionen). „Ursache der Steigerung sei vor allem der Zuwachs bei den von Unternehmen erstellten persönlichen Daten, sagte Brian Martin von Attrition.org“. – Oder: Der Diebstahl eines Laptops eines britischen Offiziers, auf dem 600000 Datensätze mit Personaldaten, Gehaltskonten usw. festgehalten waren, vgl. Spiegel-online vom 19.01.2008 http://www. spiegel.de/netzwelt/tech/0,1518,529603,00.html. 66 So berichten Insider der SZ, daß eine „Staatsanwaltschaft aus Kostengründen Datenträger per Standard-Post verschicken wollte“. Und andere kolportieren die Geschichte von „einem Staatsanwalt, der einem Sachverständigen keinen konkreten Analyse-Auftrag erteilte, sondern einen Computer ‚kommentarlos ohne jegliche Vorsichtung’ zur Auswertung überließ“, vgl. Stefan Mayr, Bayern: Personalmangel bei Polizei – Die Privat-Ermittler, SZ.de v. 11.12.2007. 67 Daß das Amtswaltern gelegentlich auch zupaß kommt, sei aus Fairneß-Gründen nicht verschwiegen: So war die Festplatte von Max Strauß, dem Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß, in dessen Steuerhinterziehungs-Prozeß ein zentrales Beweisstück. Sie ging dann passenderweise bei einem privaten Sachverständigen verloren und blieb bis heute verschwunden – und wird dies sicher mindestens bis zum Ablauf allfälliger Verjährungsfristen bleiben.
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VI. Vielleicht doch noch etwas Ernsthaftes als Verbesserungsvorschlag zum Schluß? Im Vorstehenden wurde vieles kritisiert und destruiert. Deswegen dürfte einem sofort der Ruf entgegenschallen: Wo bleibt das Positive, Herr Paeffgen? – Nun, zu Ehren des Jubilars soll auch ein substantieller Vorschlag gemacht werden, der sich etwas leichter verwirklichen ließe, als die beiden vorstehenden; ich will mich also nicht nur auf miesepetrige Kritik und vorgebliche Beckmessereien beschränken – und damit zugleich zu unseren Anschauungsfällen zurückkehren. Wenn wir dem Richtervorbehalt wirklich diejenige Bedeutung beilegen wollen, die – völlig unqualifiziert – in den politischen Sonntagsreden diesem Institut unterstellt wird, dann sollten wir uns endlich darum bemühen, genau dieses zu effektuieren. Man sollte es, zumindest bei heimlichen und besonders grundrechtsinvasiven Maßnahmen – insbesondere solchen, die teuer und (angeblich) nur selten praktiziert werden –, von der Ebene der überlasteten, zum Gutteil berufsunerfahrene (und womöglich noch um ihre Dauereinstellung kämpfenden und deswegen möglicherweise besonders beflissenen) Amtsrichtern abziehen. Statt dessen wäre es sachgerecht, mit derartig heiklen Fragen Senate der Oberlandesgerichte zu befassen. Diese erleiden die geringste Überlast und haben sich – theoretisch-modellhaft – ein solches Maß an Lebenserfahrung, Einsicht in die Schliche der Polizei/Staatsanwaltschaft, Rechtskompetenz und berufliche Unabhängigkeit erarbeitet, daß man dort ein größeres Maß an „Rechtlichkeit“ erhoffen darf. Schon allein der Umstand, daß drei Augenpaare auf den Fall gerichtet sind, eröffnet die Chance einer Diskussion – und führt potentiell weg vom bloßen abgebrühten oder enervierten Durchwinken. Das fortdauernde Sachproblem, daß es sich um eine Eilendscheidung handelt und daß die Frage, in welchem Umfang die Polizei/Staatsanwaltschaft ihre kompletten Ermittlungen auf den Tisch legt, weitestgehend im Ermessen jener beiden Institutionen verbleibt,68 wird dabei keineswegs übersehen. 68 Es dürfte keineswegs ein staunenswerter Einzelfall sein, wenn ein Polizeibeamter, der in dem seinerzeitigen Nitribit-Verfahren zu den ermittelnden Kommissaren gehört hat, nunmehr, nach vielen Jahren, bekennt, daß er ein Lichtbild eines Kunden jener damaligen NobelProstituierten unauffällig hat vom Schreibtisch des ermordeten Opfers verschwinden lassen, um den Betroffenen, es handelte sich um Harald von Bohlen und Halbach (den Bruder des Konzernlenkers Alfred), aus der „Schußlinie“ der Pressemeute herauszuhalten, wie er heute bekennt. (Berliner Zeitung.online vom 13.12.1996: „Nur einer der Kunden war wirklich nicht aus der kleinen Welt der schönen Aufsteigerin. Sein Foto stand auf ihrer Kommode. Wenn der pensionierte Kommissar Kalk heute darüber spricht, klingt es, als würde er ein Geheimnis verraten: ‚Jetzt kann ich es ja sagen. Der Mann ist ja tot. Es war Harald von Bohlen und Halbach.’; http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/1996 /1213/reporter/ 0005/; Rheinischer Merkur vom 25.10.2007: „In Liebesbriefen verzehrt sich Harald von
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VII. Letzter Ausblick Doch verlassen wir die Feinheits-Bläserei in puncto Rechts-Effektuierung wieder. Vielleicht brauchen wir dergleichen bald nicht mehr. Denn irgendwann ist einmal der Zeitpunkt verstrichen, bis zu dem noch in Deutschland machtvolle Stimmen in der Politik und der Justiz den Verfassungsvergessenen – wie einst Cicero dem Catilina – entgegenschleudern könnten: „Quousque tandem abutimini patientia nostra?“69 Die heutige Sicht vieler Rechtspolitiker ist demgegenüber, sich an Kleinigkeiten medienträchtig abarbeiten, – und die großen Systemverschiebungen passieren lassen. Karlsruhe mag’s dann schon richten und uns sagen, wo’s lang geht.70 Wie lange Bohlen und Halbach nach ihr und teilt ihr in seiner steilen Handschrift mit, wie gern er bei ihr in Frankfurt wäre und dass er sich um ihr Wohlergehen sorge. Die Christophorus-Plakette in ihrem Mercedes stammt ebenso von ihm wie Tonbänder mit Jazz und karibischer Musik, Schmuck – und ein Werkzeugkoffer. Diskret verschwindet sein Porträtfoto auf Geheiß des Leiters der Mordkommission zusammen mit den Liebesbriefen aus der Wohnung.“; http://209.85.135.104/search?q=cache:3c4qBz4LZyAJ:www.merkur.de/2007_43_Die_Koenigi n_der.24186.0.html%3F%26no_cache%3D1+von+Bohlen+und+Halbach+nitribitt&hl=de&ct= clnk&cd=4&gl=de. 69 Und nur selten folgt in der Geschichte der jeweiligen Republik ein augusteisches Zeitalter. 70 Aber vielleicht ist ja auch das Vorbild vieler Sicherheitspolitiker und -experten „nur“ der UN-Sicherheitsrat, der auf Zuruf der CIA eine Liste von Terror-Verdächtigen aus dem Bereich von Al Kaida und Osama Bin Laden ausgegeben hat (Ziff. 4 lit. b UN-SicherheitsratsResolution 1267[1999]), deren Bankverbindungen einzufrieren sind. Das EuG sah sich außerstande, einen derartigen Grundrechtseingriff zu überprüfen (EuG Rs T-306/01, v. 21.9.2005 [Yussuf], Rn. 243 ff., 276; vgl. auch EuG Rs T-315/01, v. 21.9.2005 [Kadi], Rn. 225, 258, und EuG Rs T-253/02 v. 12.7.2006, [Ayadi/Rat], Rn. 101 f.mit Verweis auf die Urteile Yussuf und Kadi), obwohl der Rat eine entsprechende Verordnung ([EG] Nr. 881/2002 vom 27.5.2002) erlassen hatte. Daß die Namen auf die Liste kamen, ist Folge von an sich üblichem Geheimdienst-Gebaren. Daß man über die Gründe für das Erscheinen nichts erfährt, liegt „natürlich“ daran, daß die CIA ihre Quellen nicht offenbaren möchte. Daß man aber ohne Korrekturmöglichkeit gegen derartige „Informationen“, solche Anprangerungen und ein damit einhergehendes monate-, u.U. jahrelanges, finanzielles Aushungern in jeder Weise rechtsschutzlos gestellt wird (und allenfalls mit dem zynischen Hinweis vertröstet wird, Einfrieren sei ja kein Vollentzug des Vermögens, EuG Rs T-306/01 [Yussuf], Rn. 299), das spottet jedem Verständnis von Grundrechts-Gewährleistung Hohn. Es sind sicher ähnliche, „höchst zuverlässige“ Quellen, denen zufolge etwa der Irak an der Atombombe und anderen Massenvernichtungswaffen baute (vgl. etwa Colin Powell Rede vor dem UN-Sicherheitsrat am 5.02.2003, Übersetzung der Uni http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Irak/powell3.html). – Aber so stellt sich ein wahrer Sicherheitsschützer eine heile Welt vor: Die Sicherheitsdienste rufen, und schon setzt ein Legislativ- (oder, zur Not, Exekutiv-)organ deren Erkenntnisse in Repressionsregeln und -maßnahmen um, für die dann aber niemand verantwortlich, geschweige denn haftbar gemacht werden kann. Denn: Sie lieben uns doch alle! – Allerdings bedroht jetzt Generalanwalts Maduro mit seinem Antrag gegenüber dem EuGH die Idylle, indem er sich, gegen das EuG, für eine Kassation der angegriffenen VO wegen Verstößen gegen Grundrechte und einen effektiven Rechtsschutz ausgesprochen hat, Pressemitteilung zu den Schlußanträgen des Generalanwalts
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aber können wir uns noch darauf verlassen, daß wir jene in Karlsruhe nicht nur wiedersehen, sondern sie dort auch ihr Philippi erleben? Schon der nächste Richter-Schub in Bundesverfassungsgericht könnte auch dort das Klima ändern.
in re C-402/05 Yassin Abdullah Kadi / Rat der Europäischen Union und Kommission der Europäischen Gemeinschaften (in denen er dem EuGH vorschlägt, die Verordnung für nichtig zu erklären, da diese gegen die Grundrechte des Herrn Kadi verletze; http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?referece=CJE/08/2&format=HTML&aged=0&l anguage=DE&guiLanguage=en). Da droht das schöne Maß an „Rechtsklarheit“ wieder zerstört zu werden. Denn in ca. 95 % der Fälle folgt der EuGH dem Schlußantrag.
Gerichtsüberzeugung als Prozesshandlungsvoraussetzung RAINER PAULUS
I. 1. Gerichte sind „an Gesetz und Recht gebunden“ (Art. 20 III GG: Gesetzlichkeitsprinzip). Zweifel in Rechtsfragen (Normauslegung und -anwendung) gelten im (Straf-)Prozess als stets überwindbar durch geforderte Rechts-Überzeugungen. Ein non liquet im Untersatz des Subsumtionssyllogismus bei – streng- oder/und freibeweislicher – „Erforschung der Wahrheit“ (§ 244 II StPO) dagegen darf und muss Gerichts-Überzeugung (§ 261 StPO) hindern. Dann soll als Entscheidungsmaxime der „Grundsatz“1 in dubio pro reo (= idpr) – ein eigenständiger2 „Rechtssatz“3 des Gewohnheitsrechts,4 „einer der wichtigsten Grundsätze des Strafrechtes“,5 ja ein „rechtsstaatlicher Fundamentalsatz“6 von Verfassungsrang,7 „gesichert und 1 BGHSt 22, 154 (156); 47, 311 (313); BayVerfGH MDR 1966, 477; W. Stree In dubio pro reo, 1962, S. 5, 57; D. Mann/U. Mann Die Anwendbarkeit des Grundsatzes „in dubio pro reo“ auf Prozessvoraussetzungen, ZStW 76 (1964), 264 ff. (passim); W. Frisch Zum Wesen des Grundsatzes „in dubio pro reo“, in: FS H. Henkel, 1974, S. 273 ff. (passim); LR-StPO(24. A. 1987)-K. Schäfer, Einl. Kap. 11 Rn 38; G. Fezer Strafprozeßrecht, 2. A. 1995, Fall 19 Rn 39; H.-H. Kühne Strafprozeßrecht, 5. A. 1999, Rn 955; U. Kindhäuser Strafprozessrecht, 2006, § 23 Rn 65; W. Beulke Strafprozessrecht, 9. A. 2006, Rn 25; L. Meyer-Goßner StPO, 50. A. 2007, § 261 Rn 26. 2 T. Walter Die Beweislast im Strafprozeß, JZ 2006, 340: Der In-dubio-Satz „kann und muß heute auf eigenen Beinen stehen“. 3 BVerfG DAR 1983, 208; Stree (Fn 1) S. 19 Anm. 19; Eb. Schmidt Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Teil I, 2. A. 1964, Rn 376; KMR-(StPO)-C.-F. Stuckenberg § 261 Rn 74; Meyer-Goßner (Fn 1) § 261 Rn 26. 4 OLG Hamm NJW 1951, 286; K. Moser Die geschichtliche Entwicklung des Satzes In dubio pro reo und seine Bedeutung im heutigen Strafrecht, 1933, S. 78, 95 f.; J. Zopfs Der Grundsatz „in dubio pro reo“, 1999, S. 328 ff., 378; C. Roxin Strafverfahrensrecht, 25. A. 1998, § 15 Rn 31 („unstreitig“); U. Weber in: J. Baumann/U. Weber/W. Mitsch, Strafrecht, Allg. Teil, 11. A. 2003, § 9 Rn 107; K. Volk Grundkurs StPO, 5. A. 2006, § 18 Rn 17; V. Krey Deutsches Strafverfahrensrecht, Bd. 2, 2007, Rn 1037 („Rang von Verfassungsgewohnheitsrecht“). 5 H. Henkel Strafverfahrensrecht, 2. A. 1968, S. 406. 6 OGHSt 1, 243; Roxin (Fn 4) § 15 Rn 33; LR-StPO(24. A. 1987 ff.)-W. Gollwitzer § 261 Rn 103; U. Eisenberg Beweisrecht der StPO, 4. A. 2002, Rn 116; KK-StPO(5. A. 2003)A. Schoreit § 261 Rn 56.
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unanfechtbar ... im Prinzip“,8 „den ganzen Strafprozess beherrschend“9 – gelten: in der (materiell-rechtlichen) Schuld- und Rechtsfolgenfrage immer, für Verfahrensvoraussetzungen (bzw. -hindernisse) in der Regel oder jedenfalls im Ergebnis, bei (sonstigen) Prozesshandlungen jedoch grundsätzlich nicht.10 2. Jedoch ist dem Strafverfahrensrecht ein solcher Grundsatz – trotz aller ihn überhöhenden Epitheta ornatia – fremd, das Kriterium „pro reo“ entscheidungsuntauglich, der Satz eine Leerformel,11 die nichts leistet und viel schadet. „Recht sprechen“ muss das Gericht vielmehr auch in non-liquet-Situationen ausnahmslos am Maßstab rechtsrichtiger Überzeugung von den Bedingungen ordnungsgemäßen Prozesshandelns, dem einheitlichen Lösungsprinzip dafür, ob rechtsinhaltlichen Voraussetzungen gemäß die Entscheidung eine Rechtsfolge „pro reo“ begründet oder nicht.12 Maxime dafür und „rechtsstaatlich fundamentaler“ Rechtsgrund ist das (prozessuale) Gesetzlichkeitsprinzip.
II. Manfred Seebode hat bereits in seiner Würzburger Dissertation13 „Das Verbrechen der Rechtsbeugung (§ 336 StGB)“, 1968, den (bedingten) Rechtsbeugungsvorsatz verneint, falls, wie heute (zu § 339 StGB) anerkannt, der Richter, obwohl Fehlerkorrektur in höherer Instanz als möglich sehend, „das Recht nach bester eigener Überzeugung … auslegt“ und auf die „Rechtsmässigkeit seiner Entscheidung vertraut“, sie „für richtig hält“.14 Scheinbar nichts Entsprechendes kennt das Verfahrensrecht, dem subjektive 7 BVerfGE 22, 265; 84, 82 (87); BayVerfGH NJW 1983, 1600 (1602); B. Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, 1992, S. 208; KMR-Stuckenberg (Fn. 3) § 261 Rn 74. 8 Stree (Fn. 1) S. 5; P. Holtappels Die Entwicklungsgeschichte des Grundsatzes „in dubio pro reo“, 1965, S. 97. 9 C. Seibert In dubio pro reo, DRZ 1949, 557; KMR-StPO(4. A. 1958)-Th. Kleinknecht 1 f (3) vor § 48. 10 Zum Ganzen unten III. 2. mit Fn. 99-141. 11 Vgl. auch A. Montenbruck In dubio pro reo aus normtheoretischer, straf- und strafverfahrensrechtlicher Sicht, 1985, S. 63 ff. („Berechtigung als ‚vulgärrechtliche’ Formel mit sozialpsychologischem Hintergrund“). 12 W. Sax Zur Anwendbarkeit des Satzes „in dubio pro reo“ im strafprozessualen Bereich, in: FS U. Stock, 1966, S. 143 (165 f.); Verf. Erl. zu § 244 StPO (Stand: 1981), in: KMR-StPO(47. Lfg. 2007), § 244 Rn 288; B. Lehmann Die Behandlung des zweifelhaften Verfahrensverstoßes im Strafprozeß, 1983, S. 85. 13 Verfasst zu gemeinsamer Assistentenzeit: Er bei Günter Spendel, ich bei Walter Sax. 14 S. 140 f.
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Kriterien wie Vorsatz oder Schuld in der Bewertung prozessualen Verhaltens fremd sind. Muss gleichwohl das Gericht auch – quasi i. S. eines subjektiven Rechtfertigungselements – „überzeugt“ sein, die sein Prozesshandeln legitimierenden Verfahrensnormen ordnungsgemäß zu konkretisieren? Oder zählt – als gültig, wirksam, beachtlich, zulässig, begründet – allein das dem „Gesetz und Recht“ gemäße, „moralinfreie“15 Ergebnis? 1. Prozesshandlunqen konkretisieren Prozessrechtsnormen16 in syllogistischer Entscheidungsform: Obersatz ist das Gesetz, Untersatz der hierfür relevante Sachverhalt, subsumtive Conclusio eben die Prozesshandlung. Bleibt jener Sachverhalt unklärbar zweifelhaft,17 kann nicht dieses non liquet im Faktischen eine rechtliche (Prozesshandlungs-)Folge18 begründen, sondern nur ein normativer Obersatz. Welcher aber – der bei feststehendem Untersatz an sich einschlägige oder ein notwendig anderer19 – dann eingreift, regelt das Prozessrecht formal-explizit für Obersätze nur des materiellen Strafrechts (Verurteilung oder Freispruch: §§ 260 I; 261; 267 I, IV StPO),20 nicht auch des Verfahrensrechts:21 Dies zu entscheiden bedarf es eines übergeordneten rechtsinhaltlichen Kriteriums,22 das „dem Richter eine Weisung gibt, wie er zu entscheiden habe, wo er eine rechtlich erhebliche Tatsache mit Sicherheit weder bejahen, noch verneinen kann, einen Rechtssatz, nach dem sich, einerlei, ob der Entscheidungsinhalt objektiv das
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J. Goldschmidt Der Prozeß als Rechtslage, 1925, S. 292. Verf. Beweisverbote als Prozesshandlungshindernisse, in: GS K. Meyer, 1990, S. 309 (316 ff.) m. krit. Würdigung (S. 310 ff.) herkömmlicher Definitionsversuche. 17 Z.B. §§ 314, 341 StPO: Rechtsmittel rechtzeitig oder verspätet eingelegt? 18 Zu Fn 17: Pro reo/appellante (= Fortsetzung des Verfahrens) oder contra reum/appelantem (= Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig)? 19 Im Beispielsfall (Fn 17, 18; vgl. auch LR-Schäfer [Fn 1] Einl. Kap. 11 Rn 47, 48): Rechtsmittel im Zweifel zulässig, da Verwerfung nur, wenn Verspätung feststeht (§§ 319 I, 322 I; 346 I, 349 I StPO), oder Rechtsmittel im Zweifel unzulässig, da Rechtskrafteintritt nur gehemmt, falls Rechtzeitigkeit erwiesen (§§ 316 I; 343 I StPO)? 20 Sax (Fn 12) S. 164 f.; aM: Frisch (Fn 1) S. 279 f. 21 Z.B. §§ 206a, 260 III StPO (Zweifel, ob ein Verfahrenshindernis [= fehlende Prozessvoraussetzung] „sich herausstellt“ bzw. „besteht“): Unzulässigkeit der Einstellung, weil Prozesshindernis, oder des (weiteren) Verfahrens, weil Prozessvoraussetzung nicht feststeht? So unterscheidet etwa Sax (Fn 12) S. 166, 168 f. sowie in KMR-StPO (6. A. 1966), 1 f (3) cc (2) (a) und (b) vor § 48, zwischen prozessualen Gegebenheiten, die erst bei zweifelsfreiem Feststehen der sie begründenden Tatsachen wirksam werden (d.h. Verfahren unzulässig, wenn zweifelhaft, ob z.B. ein Strafantrag gestellt oder die Sache schon rechtskräftig erledigt ist), und solchen, deren Wirksamkeit nur dann entfällt, falls die fraglichen Tatsachen zweifelsfrei nicht bestehen (d.h. in dubio Verfahren zulässig, wenn etwa der Eintritt der Verjährung oder der Amnestie in tatsächlicher Hinsicht unaufklärbar ist). Hierzu und zum Ganzen unten III. 2. a) mit Fn. 100-102. 22 Sax (Fn 12) S. 162, 164 f. 16
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Richtige trifft oder nicht, wenigstens die Rechtgemäßheit des richterlichen Verhaltens als solchem bestimmt“.23 2. Nun ist als Rechtsgrund begriffene „Entscheidungsregel“24 für den Richter, wie er – nach erfüllter Aufklärungspflicht und abgeschlossener Beweiswürdigung25 – „zu verfahren hat, wenn er sich ... keine Gewißheit verschaffen kann“,26 weitgehend und dominant im Angebot: In dubio seien pro reo auf die ihm „günstigste Rechtsfolge“ zu erkennen27 und dazu der sie tragende Sachverhalt „festzustellen“, „zu unterstellen“, „zugrunde zu legen“, „anzunehmen“, „als wahr zu behandeln“.28 Dem ist zu widersprechen: a) Ein Gebot der günstigsten Rechtsfolge wäre befolgbar ohnehin nur im Bereich der materiell-rechtlichen Strafnormen: Schrieb in der 23
E. Beling Deutsches Reichsstrafprozessrecht, 1928, S. 238 f. (Hervorhebung im Original). BGHSt 49, 112 (122); OLG Jena VRS 107, 200; E. Beling Anm. zu RG JW 1931, 1578, aaO S. 1579; Eb. Schmidt (Fn 3) Rn 373; A. Michael Der Grundsatz in dubio pro reo im Strafverfahrensrecht, 1981, S. 20; Lehmann (Fn 12) S. 85; Frisch (Fn 1) S. 281, 283; M. Alsberg/K.-H. Nüse/K. Meyer Der Beweisantrag im Strafprozeß, 6. A. 1995, S. 664; SKStPO-E. Schlüchter § 261 Rn 69; LR-StPO(25. A. 1999)-P. Rieß Einl. Abschn. H Rn 46; LR-Gollwitzer (Fn 6) § 261 Rn 103; Zopfs (Fn 4) S. 307, 328 ff.; O. Ranft Strafprozessrecht, 3. A. 2005, Rn 1639; Kindhäuser (Fn 1) § 23 Rn 67 u. 69; Meyer-Goßner (Fn 1) § 261 Rn 26. 25 BGH NJW 1978, 114; NStZ 1999, 205; 2001, 609; 2002, 656; NStZ-RR 2005, 209; Beling (Fn 24) S. 1579; Moser (Fn 4) S. 46, 111; Sax (Fn 12) S. 165; Eb. Schmidt (Fn 3) Rn 373; Frisch (Fn 1) S. 275; SK-Schlüchter (Fn 24) § 244 Rn 35; K. Volk In dubio pro reo und Alibibweis – BGHSt 25, 285, JuS 1975, 25 (27); Fezer (Fn 1) Fall 12 Rn 183; LR-Gollwitzer (Fn 6) § 261 Rn 40, 63, 103; Eisenberg (Fn 6) Rn 116; Zopfs (Fn 4) S. 274 mwN in Fn 51; H. H. Lesch Strafprozessrecht, 2. A. 2001, Kap. 2 Rn 250; Kindhäuser (Fn 1) § 23 Rn 67; Ranft (Fn 24) Rn 1639; Krey (Fn 4) Rn 1036; Meyer-Goßner (Fn 1) § 261 Rn 26. 26 BVerfG (Kammer) NStZ 1988, 477. 27 BGH StV 1994, 115; 2001, 666; OLG Köln NJW 1953, 157; Frisch (Fn 1) S. 283, 285; SK-Schlüchter (Fn 24) § 261 Rn 69; KMR-Stuckenberg (Fn 3) § 261 Rn 76; Kindhäuser (Fn 1) § 23 Rn 65; Meyer-Goßner (Fn 1) § 261 Rn 26; BayVerfGH NJW 1963, 1600 (1602: idpr „besagt, daß … der … nicht behebbare Zweifel im Tatsächlichen den Ausschlag zugunsten des Angeklagten geben muß“). 28 In diesem Sinn RGSt 48, 308; 70, 1 (3); BGHSt 19, 36; 47, 311 (313: „davon auszugehen“); BGH NStZ 1982, 433; 1984, 408; 1988, 450; 1994, 432 (433); 1996, 328; 2001, 609; StV 1995, 509; BGHR StGB § 21 „Voraussetzungen 1“, StPO § 261 „in dubio pro reo 1-3“, BtMG § 29 „Strafklageverbrauch 6“; Seibert (Fn 9) S. 557; K. Peters Strafprozeß, 4. A. 1985, S. 287 f.; SK-Schlüchter (Fn 24) § 261 Rn 69. – Vgl. insoweit schon früher: J. Vargha Die Vertheidigung in Strafsachen, 1879, S. 462 f.; J. Glaser Beiträge zur Lehre vom Beweis im Strafprozess, 1883, S. 86 f.: „Der Richter handelt … so, als wäre das Gegentheil derselben (scil.: der zweifelhaft gebliebenen belastenden Tatsache) erwiesen“ (ebenso A. v. Kries Lehrbuch des Deutschen Strafprozessrechts, 1892, S. 341: es werde „so entschieden, as ob ihr Gegenteil feststünde“). – Dagegen zutr. Eb. Schmidt (Fn 3) Rn 373; H. Peters „In dubio pro reo“ als geltender Rechtssatz des materiellen Strafrechts, 1964, S. 8; Schmitt (Fn 7) S. 208; E. Graul Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, 1991, S. 269 ff.; KMR-Stuckenberg (Fn 3) § 261 Rn 76. 24
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non-liquet-Situation fehlenden Vollbeweises der Schuld und Unschuld der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess – ne crimina remaneant impunita – noch Rechtsfolgen vor wie poena extraordinaria, absolutio (nur) ab instantia, Reinigungseid vor, so begründet fehlende Überzeugung (§ 261 StPO) vom „Untersatz“ eines Strafrechtssyllogismus im heutigen Amtsprozess in Anklageform – actore (resp. judice) non probante, reus absolvitur – ohne Weiteres die Freispruchsfolge.29 Für verfahrensrechtliche Obersätze30 dagegen versagt eine Regel pro reo, weil hier angesichts der Ambivalenz prozessualer Zweifelslagen31 ex ante häufig offen ist, ob und ggf. wie weit die Entscheidung (materiell-rechtlich) sich zugunsten des Beschuldigten auswirkt: Eine Verfahrenseinstellung wegen in tatsächlicher Hinsicht zweifelhaft gebliebener Prozessvoraussetzung32 pro reo nur dann, falls der Beschuldigte dadurch einer drohenden Verurteilung entginge, nicht aber, wenn ihm hierdurch versagt bliebe, gerichtlich seine Unschuld feststellen zu lassen oder auch nur einen Freispruch mangels Tatnachweises zu erwirken.33 Nicht anders liegt es bei sonstigen Prozesshandlunqen,34 vor allem zweifelhaft gebliebenen Verfahrensfehlern im Laufe gerichtlicher Wahrheitsfindung: Auch insoweit ist eine Vorabent29 Oben II. 1. mit Fn. 20. Keine Ausnahme (sondern allenfalls ein Problem aus Art. 103 II GG, § 1 StGB) ist die Verurteilung bei wahldeutiger Tatsachengrundlage etwa zu § 242 und § 259 StGB, weil das Gericht überzeugt ist, dass der Angeklagte des Diebstahls oder der Hehlerei schuldig sei. 30 Hierzu genügte Beling (Fn 23) S. 239 Anm. 1, noch die lapidare Feststellung: „Doch lösen sich Zweifel außerhalb des Bereichs der Sachurteilsvoraussetzungen meist ohne Schwierigkeit“ (exemplifiziert am Fall des § 8 StPO). Auch für die frühere Rspr. (z.B. RGSt 52, 319; 65, 250 [255]; RG JW 1931, 1578 m. abl. Anm. Beling) hatte der idpr-Satz im prozessualen Feld schon „wesensgemäß keinen Platz“ (BGH [b. Herlan] MDR 1955, 527; vgl. auch OGHSt 1, 203 [207 f.] = NJW 1949, 566 m. abl. Anm. Reinicke). 31 Moser (Fn 4) S. 103 f.; Sax (Fn 12) S. 167; H.-E. Sulanke Die Entscheidung bei Zweifeln über das Vorhandensein von Prozeßvoraussetzungen und Prozeßhindernissen im Strafverfahren, 1974, S. 78 ff., 80; Lehmann (Fn 12) S. 88 ff.; Frisch (Fn 1) S. 285; Kühne (Fn 1) Rn 965; LR-Rieß (Fn 24) § 206a Rn 30; KMR-Stuckenberg (Fn 3) § 261 Rn 141. 32 Hierzu näher unten III. 2. a) mit Fn. 100-102. 33 Sax (Fn 21) 1 f (3) cc (2) vor § 48; Sulanke (Fn 31) S. 83 f.; Verf. (Fn 12) § 244 Rn 300; T. Noack Tatsächlich unklare Sachverhalte im Strafrecht (etc.), Jura 2004, 539 (540). – Letztere Mittel(Verfahren)-Zweck(Freispruch)-Relation bleibt unbeachtet im Argument, der Zweifelssatz legitimiere bereits prozessuale Beschwer insofern, als die Verfahrensnorm (Prozessvoraussetzung) den Angeklagten notwendig und unmittelbar „belastend“, „diskreditierend“, „stigmatisierend“ in seinen Rechtspositionen beeinträchtige („negative Statusveränderung“) durch Einleitung und Fortführung des Strafverfahrens (so Zopfs [Fn 4] S. 270 ff., 308 ff., 334, 345, 351 ff., 381; weithin zust. Walter [Fn 2] S. 348, 349). Noch weniger überzeugt, dass dies selbst dann, weil staatlich letztlich veranlasst, noch gelte (Zopfs aaO S. 358–360), falls der Prozess fortgesetzt wird auf Rechtsmittel bzw. Einspruch des Angeklagten hin (er bezweckt damit doch eine „positive Statusveränderung“!). 34 Dazu im Einzelnen unten III. 2. c) mit Fn 126-142.
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scheidung, ob sie zu bestimmten Beweisverfahrensergebnissen führen und welche Bedeutung diese letztlich im Rahmen der Gesamtwürdigung nach § 261 StPO haben werden, nicht selten unmöglich.35 Dass die Zweifelslösung nicht vom späteren Prozessausgang abhängen darf oder kann,36 ist offensichtlich. Somit kann jedenfalls im prozessualen Bereich der Angeklagte überhaupt nicht Bezugspunkt entsprechender prozessualer Erwägungen,37 die Antwort „idpr“ nur Resultat falsch gestellter Frage sein.38 Soll aber der idpr-Satz hier nur „grundsätzlich“39 oder fallbezogen „eingeschränkt“40 bzw. nicht „schablonenhaft“41 anwendbar sein, ist er als eigenständiges Rechtsprinzip aufgegeben,42 weil in Wahrheit davon externe Kriterien entscheiden, ob eine pro-reo-Wirkung eintritt oder nicht, und es wäre kreisschlüssigdenkfehlerhaft, eine nur mögliche, nicht stets notwendige Rechtsfolge als „Grundsatz“ zu etablieren und daraus wiederum Rechtsfolgen abzuleiten.43 Gleiches gilt schließlich der Auffassung, bei zweifelhaftem Untersatz einer Prozessvoraussetzungsnorm gelte der idpr-„Grundsatz“44 sogar uneingeschränkt;45 denn das hier regelmäßige Ergebnis der Verfahrenseinstellung
35 Verfehlter Einwand hiergegen bei Zopfs (Fn 4) S. 373, dies wisse der Vorsitzende (Schöffen?) aus den Akten i.d.R. sehr wohl (Stichwort „Beweisantizipationsverbot“?). 36 Sax (Fn 12) S. 167; Verf. (Fn 12) § 244 Rn 300. – Unrichtig Zopfs (Fn 4) S. 373, das Gericht habe über einen etwaigen Verfahrensfehler erst nach Urteilsberatung zu entscheiden (richtigerweise: über ihre Zulässigkeit schon bei Vornahme der Prozesshandlung!). 37 Sax (Fn 21) 1 f (3) cc (2) vor § 48. Daher sei gemäß verbreiteter Meinung der idpr-„Grundsatz“ auf das materielle Recht zu beschränken: W. Sarstedt Anm. zu KG JR 1954, 470, aaO S. 471; H. Peters (Fn 28) S. 101; Henkel (Fn 5) S. 352 f.; Lehmann (Fn 12) S. 83 ff.; LR-StPO(25. A. 1997 ff.)-E.-W. Hanack § 337 Rn 14, 26; Fezer (Fn 1) Fall 9 Rn 165; KMR-Stuckenberg (Fn 3) § 261 Rn 141; Noack (Fn 33) S. 540; KK-Schoreit (Fn 6) § 261 Rn 62; Kühne (Fn 1) Rn 965; Krey (Fn 4) Rn 1039; Meyer-Goßner (Fn 1) § 261 Rn 34, 35. 38 Verf. (Fn 12) § 244 Rn 300. 39 Kleinknecht (Fn 9) 1 f (3) ee vor § 48. 40 Stree (Fn 1) S. 8. 41 BGHSt 18, 274 (277) = JZ 1963, 605 m. Anm. Eb. Schmidt = MDR 1963, 855 m. Anm. Dreher. 42 Sax (Fn 12) S. 144, 161. 43 Verf. (Fn 12) § 244 Rn 288; Frisch (Fn 1) S. 285. 44 Insoweit zumeist verortet unmittelbar im Rechtsstaatsprinzip (dazu unten II. 2. c) cc) mit Fn 73-76). 45 W. Niese Prozeßvoraussetzungen und -hindernisse und ihre Feststellung im Strafprozeß, DRZ 1949, 505 (507); Eb. Schmidt (Fn 3) Rn 198; Mann/Mann (Fn 1) S. 276 f.; Henkel (Fn 5) S. 353; K.-H. Gössel Strafverfahrensrecht, 1977, § 15 B II; LR-Schäfer (Fn 1) Einl. Kap. 11 Rn 38, 52; Roxin (Fn 4) § 15 Rn 38; SKStPO-H.-U. Paeffgen § 206a Rn 19; SK-Schlüchter (Fn 24) § 261 Rn 83; Zopfs (Fn 4) S. 351 ff., 381 f.; AKStPO-F. Loos § 206a Rn 25; Ranft (Fn 24) Rn 1103; Weber (Fn 4) § 9 Rn 14 („wenigstens analoge Geltung“); Volk (Fn 4) § 14 Rn 10; SK-Frisch (Fn 24) § 337 Rn 50.
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beruht auf anderen rechtsinhaltlichen Gründen,46 und die pragmatische Erwägung, es sei dann „ohne praktische Bedeutung, ob ... von der Funktion der Prozessvoraussetzung als Bedingung für die Zulässigkeit eines Sachurteils oder von der Anwendung des Zweifelssatzes ausgegangen wird“,47 wäre rechtsdogmatische Kapitulation, jedenfalls aber, revisionsrechtlich (§ 337 StPO) gesprochen, ein Rechtsfehler, auf dem die Entscheidung lediglich nicht „beruhen“ würde. b) Dass in dubio der günstigste Alternativsachverhalt pro reo (positiv) zumindest zu fingieren sei,48 wäre selbst bei Geltung des Zweifelssatzes keine Bedingung „günstiger“ Rechtsfolge: Es genügte die (negative) Feststellung, dass der Untersatz der „ungünstigen“ Norm nicht erwiesen ist.49 c) Verwirrend-vielstimmig wie zum Anwendungsbereich des idpr-Satzes sind auch die Stellungnahmen zu einem ihm Rechtssubstanz verleihenden Geltungsgrund.50 Keine davon überzeugt: aa) Idpr ist keine dem Beweis immanente, sein Resultat bestimmende Beweis- oder Beweiswürdigungsregel.51 Auch keine ergebnisbezogene Beweis46
Dazu unten III. 1. c) aa) mit Fn 96-98. BGHSt 46, 349 (352). Dogmatische Klarheit anmahnend auch L. Meyer-Goßner Zweifelssatz und Verschlechterungsverbot, in: FS H. Jung, 2007, S. 543 (546 f.). 48 Oben II. 2. vor a) mit Fn 24-28: Wohl (unangesprochenes) Relikt (vgl. auch Volk [Fn 25] S. 26) überwundener Einschätzungen, der idpr-Satz sei „eine von der Wissenschaft aufgestellte“ (RGSt 52, 319) Beweisregel (RGSt 65, 250 [255]; RG JW 1924, 1784; 1931, 1578 f. m. abl. Anm. Beling; BGHSt 9, 390 [395]; 18, 274 [276]; 23, 203 [207: „Beweis- oder Verfahrensregel“]; w. Nachw. bei Graul [Fn 28] S. 268 Fn. 192) oder Beweiswürdigungsregel (Stree [Fn 1] S. 56; BayVerfGH NJW 1983, 1600 [1602: „beherrscht die Beweiswürdigung“ als „Ergänzung der Regeln über die richterliche Meinungsbildung im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 261 StPO“]). – Da die hM hierbei einen Sachverhalt nur „fingiert“, ist allerdings der Einwand (z.B. Frisch [Fn 1] S. 375 ff.; Verf. [Fn 12] § 244 Rn 291; Schmitt [Fn 7] S. 208; Graul [Fn 28] S. 267 ff.; Zopfs [Fn 4] S. 208) unbegründet, dies könne zu einander sich widersprechenden Urteils-„Feststellungen“ führen. 49 BVerfG MDR 1975, 468 (469); Moser (Fn 4) S. 46 f.; Frisch (Fn 1) S. 275 f.; Verf. (Fn 12) § 244 Rn 291; Montenbruck (Fn 11) S. 42; Volk (Fn 4) § 18 Rn 19; i. E. auch Zopfs (Fn 4) S. 309, 327. Vgl. bereits Beling (Fn 23) S. 239: „Es steht somit der Nichtbeweis der Strafbarkeit dem Beweis der Nichtstrafbarkeit gleich“. Erg. unten Fn 81. – Beispiel: Tatzeit: 12.00 Uhr – Blutentnahmezeitpunkt: 22.00 Uhr (BAK: 1,0 ‰) – Rückrechnung (zur Methode vgl. Th. Fischer StGB, 55. A. 2008, § 20 Rn. 13, § 316 Rn 19): Tatzeit-BAK mindestens 1,8 ‰, maximal 3,20 ‰. Obgleich beide Werte die reale Tatzeit-BAK sogar überwiegend wahrscheinlich verfehlen, ist zweifelsfrei bewiesen nur absolute Fahruntüchtigkeit (§ 316 StGB) und ebenso zweifelsfrei nicht bewiesen die (überzeugungssichere Feststellung einer BAK von weniger als ca. 3,00 ‰ voraussetzende) Schuldfähigkeit (§ 20 StGB): Wo kein dubium, da keine „Entscheidungsregel“ pro reo. 50 Rechtshistorisch zum idpr-Satz ausführlich Moser (Fn 4) S. 16-30; Holtappels (Fn 8) S. 1-95; Sax (Fn 12) S. 146-161; Zopfs (Fn 4) S. 107-261. 51 Oben Fn 48 i.V.m. oben II. 2. vor a) mit Fn 25. 47
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lastregel,52 weder i. S. „formeller“, die „auch mit den Grundsätzen des Strafverfahrens unvereinbar wäre“,53 noch „materieller“54 Beweislast,55 weil die rechtsrichtige Entscheidung, gleichgültig, mit welcher Rechtsfolge, dem Gericht (oder der StA) niemals „nachteilig“ sein kann.56 Fremd wäre dem Strafverfahren auch eine (materielle) Beweislast des Beschuldigten57 etwa für Ausnahmen vom „gewöhnlichen Lauf der Dinge“58 bzw. „Regelgang der Strafrechtspflege“.59 Zwar oblag noch im „reformierten Strafprozeß“ des 52 So aber J. Glaser Handbuch des Strafprozesses, Bd. I, 1883, S. 364 f.; ders. (Fn. 28) S. 88; E. Ullmann Lehrbuch des Deutschen Strafprocessrechts, 1893, S. 332 f.; v. Kries (Fn 28) S. 341 f.; E.-H. Rosenfeld Der Reichs-Strafprozeß, 4./5. A. 1912, S. 158; H. Gerland Der Deutsche Strafprozess, 1927, S. 188 f.; A. Graf zu Dohna Das Strafprozessrecht, 3. A. 1929, S. 98 f.; Beling (Fn 23) S. 320 f. und (Fn 24) S. 1579; Moser (Fn 4) S. 106; R. v. Hippel Der deutsche Strafprozess, 1941, S. 384; D. Leipold Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen (etc.), 1966, S. 129; Graul (Fn 28) S. 267; J. Bock Begriff, Inhalt und Zulässigkeit der Beweislastumkehr im materiellen Strafrecht, 2001, S. 39 ff., 59 ff.; Weber (Fn 4) § 9 Rn 129; Volk (Fn 25) S. 26 f. 53 RGSt 57, 213; 58, 293. 54 Verstanden als „die Rechtslage, die sich für die Partei daraus ergibt, daß die Nichtfeststellung ihr zum Nachteil gereicht“ (Goldschmidt [Fn 15] S. 340 f.); v. Hippel (Fn 52) S. 384: „Wenn mangels oder trotz erfolgter Beweiserhebung rechtlich erhebliche Tatsachen zweifelhaft bleiben, welche Partei hat dann praktisch den Nachteil davon?“. 55 Abl. auch M. Alsberg Der Beweisantrag im Strafprozeß, 1930, S. 8 f.; Eb. Schmidt (Fn 3) Rn 366-370; H. Peters (Fn 28) S. 62-66; Sax (Fn 12) S. 164; Frisch (Fn 1) S. 278; Henkel (Fn 5) S. 102 f.; Sulanke (Fn 31) S. 70; Lehmann (Fn 12) S. 70-73. 56 Im Ergebnis auch KMR-Stuckenberg (Fn 3) § 261 Rn 72; Volk (Fn 4) § 18 Rn 18. 57 Abl. bereits H. A. Zachariae Handbuch des deutschen Strafprocesses, 2. Bd., 1868, S. 415. 58 Sog. Interimswahrheiten (Ullmann [Fn 52] S. 331 f.; v. Kries [Fn 28] S. 337): Es „ist fast unvermeidlich, dass sie dasjenige, was dem natürlichen Verlaufe der Dinge entspricht, einstweilen voraussetzen, als ‚Interimswahrheit’ gelten lassen, so lange nicht Gründe hervortreten, welche einen Zweifel dagegen anregen“; rein „abstracte Möglichkeiten“ seien unerheblich, und ein Beweis erst nötig, „sobald concrete Umstände darauf hindeuten, dass jene abstracte Möglichkeit im vorliegenden Falle verwirklicht sein könnte“ (Glaser [Fn 52] S. 359 f.); erg. unten Fn 61. 59 Anders ältere Auffassungen für „prozessuale Einreden“ (Glaser [Fn 28] S. 90 und [Fn 52] S. 364; Ullmann [Fn 52] S. 333; v. Kries [28] S. 342) wie z.B. Prozesshindernissen allgemein (OGHSt 1, 203 [207] = NJW 1949, 556 m. abl. Anm. Reinicke; 1, 337; 2, 126; O. Schwarz Das Grundgesetz in der strafrechtlichen Praxis, NJW 1950, 124 [125]), speziell Verfolgungsverjährung (BGH [b. Herlan] MDR 1955, 527; GA 1963, 127; OLG Düsseldorf NJW 1957, 1485), Verjährungsunterbrechung (OLG Hamm JMBlNRW 1963, 135), Begnadigung (Glaser [Fn 28] S. 94 Anm. 54), res judicata (OGHSt 1, 207; OLG Hamm NJW 1960, 1784), Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten (BGH [b. Dallinger] MDR 1973, 902), Amnestie (RGSt 53, 324; 56, 49 [50 f.]; 66, 76 [78]; 71, 259 [263]; RG JW 1934, 2560; 1935, 3397; 1937, 2446; 1938, 2736; BGH 3 StR 427/52 v. 19.2.1953 bei Zopfs [Fn 4] S. 28; BGH JZ 1951, 655; NJW 1952, 633 [634]; JR 1954, 351 m. Anm. Nüse; [b. Herlan] MDR 1955, 527 u. GA 1956, 350 [351]; v. Hippel [Fn 52] S. 386; erg. unten III. 2. c) mit Fn 122-124). – Ebenso bei (insbes. in der Revision gerügten) Verfahrensfehlern (näher unten III. 2. c) bb) mit Fn 143), da zu vermuten
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19. Jahrhunderts (gegenüber dem Gericht) der Anklagebehörde der „Anschuldigungs-“, dem Angeklagten der „Entschuldigungsbeweis“.60 Doch war Letzterer erforderlich nur bei vollständig geführtem „Anschuldigungsbeweis“,61 und dieser war entkräftet bereits bei „Wahrscheinlichkeit“62 im „Entschuldigungsbeweis“ geltend gemachter Umstände.63 In heutiger Diktion:64 Der „Entschuldigungsbeweis“ hat Erfolg, wenn mittels Beweisanresei, „daß ordnungsgemäß verfahren worden ist“ (BGH 5 StR 115/55 v. 8.7.1955 bei Kleinknecht [Fn 9] 1 f (3) vor § 48); diese Präsumtion müsse (positiv) widerlegt (BGHSt 16, 164 [167]; Stree [Fn 1] S. 78 ff.; H. Koeniger Die Hauptverhandlung in Strafsachen, 1966, S. 522 f.; Th. Kleinknecht StPO, 35. A. 1981, § 261 Rn 35; LR-Gollwitzer [Fn 6] § 261 Rn. 133; P. Löffeler „In dubio pro reo“ – einheitliche Antwort auf alle Zweifelfragen?, JA 1987, 77 [84]; Kindhäuser [Fn 1] § 31 Rn 27; Beulke [Fn 1] Rn 564), zumindest (in Fällen zumeist des § 136a StPO) „ernsthaft erschüttert“ werden (Peters [Fn 28] S. 339; Michael [Fn 24] S. 154; Fezer [Fn 1] Fall 3 Rn 39; LR-Hanack [Fn 37] § 136a Rn 69 u. § 337 Rn 76; SK-Schlüchter [Fn 24] § 261 Rn 80; Roxin [Fn 4] § 15 Rn 32; Kühne [Fn 1] Rn 575; Eisenberg [Fn 6] Rn 209; Beulke [Fn 1] Rn 143). 60 Ch. C. Stübel Das Criminalverfahren in den deutschen Gerichten (etc.), 1811, Bd. III, §§ 1167, 1170, 1207, 1218, 1289, 1301; C. J. A. Mittermaier Theorie des Beweises im Peinlichen Processe (etc.), 1821, S. 3, 149 ff., 152 ff.; ders. (Zitat unten in Fn 82); P. J. A. Feuerbach/C. J. A. Mittermaier Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 14. A. 1847, §§ 567-571; H. A. Zachariae Grundlinien des gemeinen deutschen CriminalProcesses (etc.), 1837, S. 183 ff.; Glaser (Fn 28) S. 98. – Der Anschuldigungsbeweis hatte „solche Thatsachen zum Gegenstande, welche die wirkliche Anwendung des Strafgesetzes (die Verurtheilung) als rechtliche Folge bestimmen“, der Entschuldigungsbeweis „hingegen solche, die entweder alle Strafe ausschließen oder eine mildere Strafe begründen“ (Feuerbach/Mittermaier aaO, § 567). Vgl. schon A. Matthaeus Commentarius lib. XLVII et XLVIII Dig. de Criminibus, 1727, lib. 48 tit. XV cap. 1 n. 1: „Probatio est intentionis legitima fides, quam facit judici actor, vel reus, vel uterque. Actor probat crimen, reus innocentiam“. 61 Dieser begründete „Gewißheit“ nur, „wenn alle Gründe des Gegentheils, welche die Erfahrung in concreto aufzeigt, völlig beseitigt sind, und die nur als Möglichkeiten gedachten Gründe für das Gegentheil, wenn man den gewöhnlichen Lauf der Dinge berücksichtigt, durch die im einzelnen Falle vorhandenen Gründe so ausgeschlossen sind, daß kein Zweifel zurückbleibt“ (C. J. A. Mittermaier Das deutsche Strafverfahren in der Fortbildung durch GerichtsGebrauch und Particular-Gesetzbücher (etc.), 2. Abt. 1833, S. 360 f.). Ebenso Glaser (Fn 28) S. 85, 88; erg. oben Fn 58. 62 „Zweifel“ verstanden als „jede Wahrscheinlichkeit für das Gegentheil des zu beweisenden Umstands“ (Mittermaier [Fn 60] S. 153). 63 P. J. A. Feuerbach Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 8. A. 1823, § 571; C. J. A. Mittermaier Anleitung zur Vertheidigungskunst im deutschen Criminalprocesse, 4. A. 1845, S. 336; ders. (Fn 61) S. 336. – „Auf diesen Grundsatz ist alles zurückzuführen, was man in der älteren Theorie und Gesetzgebung als favor defensionis hingestellt findet“ (Zachariae [Fn 57] S. 414 f.). 64 Vgl. auch Volk (Fn 25) S. 26: Die „Maxime in dubio pro reo“ konnte „die Funktion der alten Unterscheidung (scil.: zwischen An- und Entschuldigungsbeweis) allmählich übernehmen“. Dazu schon Glaser (Fn 28) S. 88: Bleibt eine zum Gegenstand des Anschuldigungsbeweises gehörende Tatsache „zweifelhaft, so ist der Anschuldigungsbeweis mißlungen …, der Angeklagte freizusprechen. Insofern trifft die materielle Beweislast die Anklage, … und es gilt der Satz: In dubio pro reo!“.
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gung oder Beweisantrags der Angeklagte einen die rechtsrichtige SchuldÜberzeugung (§ 261 StPO) möglicherweise hindernden Sachverhalt behauptet, und entweder dieser erwiesen wird oder das Gericht prozess-fehlerhaft (§ 244 II, III-VI StPO) ohne entsprechende Beweiserhebung in folglich lückenhafter Beweiswürdigung verurteilt.65 bb) Konsequenz des materiellen Schuldprinzips („keine Strafe ohne Schuld“)66 – als dessen „prozessuale Kehrseite“ – kann ein idpr-„Grundsatz“ nicht sein,67 weil aus den abstrakt-hypothetischen Strafnormen nichts ableitbar ist für die allein im „prozessualen Raum“ nach dessen Kategorien stattfindende Feststellung rechtlich-konkreter Schuld und Strafe,68 und das Strafverfahren der „Verwirklichung des materiellen Rechts“ überhaupt nicht zu dienen bestimmt ist.69 – Auch aus § 261 StPO folgt nicht – im Umkehrschluss70 – das idpr-„Prinzip“,71 da § 261 StPO nur das Beweismaß für den Normuntersatz vorschreibt, nicht auch den Entscheidungsinhalt, falls es nicht erreicht ist. cc) Unmittelbare Rückgriffe auf Postulate der Justizförmigkeit72 oder Rechtsstaatlichkeit,73 insbes. durch Abwägung von Erfordernissen der Ge-
65 Hierzu ausführlich Verf. Strafprozessuale Beweisstrukturen, in: FS G. Fezer, 2008 (im Druck). 66 BGHSt 10, 373; 14, 274 (275 f.); BayVerfGH NJW 1963, 1600 (1602: idpr-Grundsatz nehme „am Verfassungsrang des Grundsatzes ‚nulla poena sine culpa’ teil“); OLGe Celle MDR 1957, 436; Koblenz VRS 44, 192 (194); Seibert (Fn 9) S. 557; W. Sax Anm. zu BGH JZ 1958, 177, aaO S. 179; Stree (Fn 1); H. Peters (Fn 37) S. 29; Sulanke (Fn 31) S. 77 ff.; Schmitt (Fn 7) S. 208; LR-Gollwitzer (Fn 6) § 261 Rn 103; Fezer (Fn 1) Fall 9 Rn 165; Roxin (Fn 4) § 15 Rn 31; SK-Schlüchter (Fn 24) § 261 Rn 69; Löffeler (Fn 59) S. 77; Eisenberg (Fn 6) Rn 117; U. Hellmann Strafprozessrecht, 2. A. 2005, Rn 808; Ranft (Fn 24) Rn 1639; Kindhäuser (Fn 1) § 23 Rn 66; Beulke (Fn 1) Rn 25; Krey (Fn 4) Rn 1037. 67 KG NStZ 1986, 560 f.; Leipold (Fn 52) S. 132; Frisch (Fn 1) S. 283 f.; Henkel (Fn 5) S. 284; Verf. (Fn 12) § 244 Rn 290, 293; Montenbruck (Fn 11) S. 27 f., 65 f.; KMR-Stuckenberg (Fn 3) § 261 Rn 75; Walter (Fn 2) S. 345. 68 Ausführlich Verf. Materielles Strafrecht im „prozessualen Raum“, in: FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 683 (688 ff., 706 f.). 69 Verf. (Fn 68) S. 689 ff. 70 Schmitt (Fn 7) S. 208; Lesch (Fn 25) Kap. 2 Rn 247. 71 A.M.: Roxin (Fn 4) § 15 Rn 31; KMR-Stuckenberg (Fn 3) § 261 Rn 74; Hellmann (Fn 66) Rn 808; Kindhäuser (Fn 1) § 23 Rn 66; Volk (Fn 4) § 18 Rn 17; Beulke (Fn 1) Rn 25. 72 Eb. Schmidt (Fn 3) Rn 198 mit Anm. 350. 73 BayObLG NJW 1968, 2118; Stree (Fn 1) S. 15; Sax (Fn 12) S. 168 f.; Frisch (Fn 1) S. 285; Lehmann (Fn 12) S. 120 ff.; LR-Gollwitzer (Fn 6) § 261 Rn 103; Roxin (Fn 4) § 15 Rn 32; Löffeler (Fn 59) S. 77; Eisenberg (Fn 6) Rn 116; Beulke (Fn 1) Rn 25; Walter (Fn 2) S. 345.
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rechtigkeit gegen solche der Rechtssicherheit im jeweiligen Einzelfall74 zur Lösung des non liquet im prozessualen Bereich, plakatieren häufig nur dezisionistische, kreisschlussgefährdete Rechtsfindung75 und können nicht unmittelbar rechtsinhaltliche Erkenntnisse liefern.76 dd) Ein idpr-„Grundsatz“ ist schließlich nicht ohne Weiteres ableitbar aus der prozessualen Unschuldsvermutung.77 Art. 6 II EMRK, 14 II IPBPR normieren nur rechtsstaatlichen Mindeststandard,78 indem sie es dem „innerstaatlichen Recht ... überlassen zu bestimmen, was zum gesetzlichen Nachweis der Schuld gehört und auf welche Weise der Schuldbeweis zu führen ist“,79 ohne selbst bestimmte Rechtsfolgen anzuordnen.80 Denn die Fiktion der Unschuld, gleichbedeutend mit rechtlicher Nicht-Schuld,81 ist einerseits nur Konsequenz mangelnden Schuldbeweises mit gebotener Freispruchsfolge,82 andererseits tautologisch-inhaltsgleich83 der Aussage, dass Verurteilung wegen strafrechtlicher Schuld voraussetzt, dass alle dafür
74 Grundlegend BGHSt 18, 274 (= JZ 1963, 505 m. Anm. Eb. Schmidt = MDR 1963, 855, m. Anm. Dreher): „Ausdruck fortschreitender Entwicklung rechtsstaatlichen Denkens“ (S. 277). 75 Verf. (Fn 12) § 244 Rn 161 und (Fn 68) S. 696. 76 Verf. (Fn 12) § 244 Rn 299. 77 Zutr. Montenbruck (Fn 11) S. 67 ff., 74; Graul (Fn 28) S. 322 f.; SK-Paeffgen (Fn 45) Art. 6 MRK Rn 180. – Anders die hM: E. Schlüchter Das Strafverfahren, 2. A. 1983, Rn 389, 582; Roxin (Fn 4) § 11 Rn 4, § 15 Rn 31; AK-StPO (1933)-M. Maiwald § 261 Rn 28; Schmitt (Fn 7) S. 208; Fezer (Fn 1) Fall 3 Rn 5 („Kerngehalt“); Weber (Fn 4) § 9 Rn 107; Hellmann (Fn 66) Rn 808; Lesch (Fn 25) Kap. 2 Rn 247 („Kernbestand“); SKStPO-J. Wolter Rn 108 vor § 151; Bock (Fn 52) S. 213 ff.; Volk (Fn 4) § 18 Rn 17; Beulke (Fn 1) Rn 25. 78 Montenbruck (Fn 11) S. 73 f. 79 BGHSt 21, 306 (308). Vgl. auch EuGHRZ 1983, 475; SK-Paeffgen (Fn 44) Art. 6 MRK Rn 179. 80 C.-F. Stuckenberg Die normative Aussage der Unschuldsvermutung, ZStW 111 (1999), 422 (425). 81 Oben II. 2. b) mit Fn 49; Stuckenberg (Fn 80) S. 442. 82 Durchaus keine neue Erkenntnis. Vgl. Feuerbach (Fn 63) § 592 (zu Art. 61 CCC): „Wenn der Angeschuldigte, ohne zu bekennen, die Marter übersteht, so werden alle Indizien getilgt und er ist juridisch für unschuldig zu halten“; Mittermaier (Fn 61) S. 336: „Begünstigung des Vertheidigungsbeweises“ insofern, als „der Angeklagte in gewisser Rücksicht die Vermuthung der Schuldlosigkeit für sich hat, als auch durch die bloße Wahrscheinlichkeit des Vertheidigungsbeweises die Wirksamkeit des Anschuldigungsbeweises schon verhindert werden kann“ (erg. oben Fn 58, 61, 62); S. Mayer Commentar zur Oesterreichischen Strafproceß-Ordnung v. 23. Mai 1873, 2. Theil 1884, § 259 Anm. 4: „Die Forderung nach unbedingter Freisprechung oder Verurtheilung ist … auch die wesentliche Folgerung des Anklageprocesses“, weil „derjenige, welcher auf die gesetzliche Weise der ihm zur Last gelegten Handlung nicht überwiesen werden kann, als nichtschuldig gelten muß“. 83 Stuckenberg (Fn 80) S. 445, 447.
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rechtsstaatlich vorgesehenen normativen Voraussetzungen erfüllt sind.84 Jedenfalls für non-liquet-Entscheidungen ist die Unschuldsvermutung keine eigenständige Rechtsquelle; allein maßgebend ist das Gesetzlichkeitspostulat.85
III. 1. a) Die rechtsstaatlich gebotene Legalität strafprozessualen Justizhandelns86 ist Konsequenz der Funktion des Strafverfahrensrechts: Konkretkategorische Rechtsfindung in Entscheidungen über rechtswirkliche Schuld und Strafe im – gegenüber den abstrakt-hypothetischen Imperativen des materiellen Rechts meta-rechtlichen – „prozessualen Raum“87, konstituiert durch die Gesamtheit der Normen des Verfahrensrechts. Diese wiederum sind als „angewandtes Verfassungsrecht“88 Ergebnis einer das Verhältnismäßigkeitsgebot achtenden Abwägung89 zwischen Effektivität der Strafrechtspflege („Wahrheits“-Erforschung, aber nicht „um jeden Preis“)90 und Wahrung anderer Rechtswerte durch Vorschriften z.B. über Prozessvoraussetzungen, Rechtssicherheit (Fristen und Förmlichkeiten), Rechtskraft, Beweisverbote, Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten, Inanspruchnahme und Schutz von Beweispersonen. Auch deshalb91 kann Bezugspunkt von non-liquet-Entscheidungen nicht stets der Beschuldigte sein. b) Nur durch ordnungsgemäße Konkretisierung jener Verfahrensbestimmungen werden Prozesshandlungen rechtlich existent (= beachtlich, wirk84 H. A. Zachariae Über die Lossprechung von der Instanz, ACrR n.F. 1839, 371 (388): „Man setze statt unschuldig: ‚nicht schuldig’, was juristisch das Nämliche ist“, so dass „der Angeschuldigte bis zur rechtskräftigen Verurtheilung als unschuldig betrachtet werden muß, ohne daß man an einer besonderen Präsumtion der Unschuld bedürfte“. 85 Oben I. 2. 86 Oben II. 1. mit Fn. 16-23. 87 Verf. (Fn. 16) S. 315 f. und (Fn. 68) S. 706. – Dass der idpr-„Grundsatz“ Bestandteil bereits der materiellen Strafrechtsnormen sei, weil nur bestraft werde, wer nachgewiesenermaßen straftatbestandsmäßig gehandelt habe (W. Sarstedt Die Revision in Strafsachen, 4. A. 1962, S. 240 f.), ist unrichtig (abl. auch Leipold [Fn. 52] S. 22 ff.; Frisch [Fn. 1] S. 277 f.; Lehmann [Fn. 12] S. 70 ff.; Zopfs [Fn. 4] S. 332 f.; Graul [Fn. 28] S. 273 ff.; Bock [Fn. 52] S. 68): Materielles Recht bestimmt nur abstrakt-generell, welches Verhalten strafwürdiges Unrecht oder bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit ist, sagt aber nichts darüber aus, ob und ggf. wie es in concreto auch verfolgt und geahndet werden darf (oben II. 2. c) bb) mit Fn. 68-69; Verf. [Fn. 12] § 244 Rn. 290 und erg. [Fn. 68] S. 703 mit Fn. 166). 88 BVerfGE 32, 373 (383); BGHSt 19, 325 (330). 89 Verf. (Fn. 68) S. 686 f. 90 BGHSt 14, 358 (365); 38, 372 (374). 91 Dazu bereits oben II. 2. a) mit Fn. 37-38.
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sam, gültig, zulässig, begründet); andernfalls sind sie als gesetzwidrig eo ipso nichtig (unbeachtlich etc.).92 Sie sind stets Entscheidungen in Aussageform: ausdrücklich oder konkludent in (gesetzlich gebotenen) Handlungen und Unterlassungen.93 Wahr sind diese Aussagen, falls rechtlich lege artis begründet. Das erfolgt erkenntnistheoretisch notwendig subjektgebunden und durch normative Kompetenzzuweisung94 in gerichtlicher Überzeugung, d.h. in Übereinstimmung (adaequatio) subjektiv-richterlicher Gewissheit (intellectus) mit objektiv-rechtsrichtiger Verifikation (res).95 c) Fehlt diese Gerichts-Überzeugung, weil der Untersatz („Sachverhalt“) einer potenziell anzuwendenden Norm nicht zweifelsfrei feststeht, ist zu unterscheiden: aa) Greifen Prozesshandlungen in bestehende Rechte (Art. 2 GG) ein, wie insbesondere bei Verurteilung und strafprozessualem Zwang, hat der Betroffene einen verfassungsrechtlichen (Art. 20 III GG) Unterlassungsanspruch, solange nicht alle Voraussetzungen einer ermächtigenden Befugnisnorm für das Gericht erfüllt sind: Es muss überzeugt sein, dass es überhaupt prozedieren darf, dass also alle Prozessvoraussetzungen und keine Prozesshindernisse gegeben sind, und dass der Angeklagte tatbestandsmäßig, rechtswidrig, schuldhaft sowie auch im Übrigen strafbar gehandelt hat, dass mithin insbesondere Rechtsfertigungs-, Schuldausschließungs- und Strafaufhebungsgründe ausscheiden; daher in dubio contra procedere96 bzw. Freispruch.97 Da auch einzelne Prozesshandlungen, vor allem im Rahmen der Beweisaufnahme, gesetzlicher Legitimation bedürfen, haben sie als unzulässig zu unterbleiben, wenn eine Voraussetzung der Ermächtigungsnorm fehlt.98 bb) Hat der Beschuldigte (oder ein sonstiger Prozessbeteiligter) Anspruch (Option) erst auf Gewährung einer prozessualen Rechtsposition, etwa auf 92 Verf. (Fn. 16) S. 320 f. – Allein aus (zusätzlichen) Gründen der Rechtssicherheit (Rechtsklarheit) bedarf dies expliziter Entscheidung in Fällen z.B. der §§ 27, 28; 222a, b; 396 II; 241 II, 241a II, 242; 238 II; 244 VI; 319 I, 322 I, 346 I, 349 I; 368 I; 46 I StPO. 93 Verf. (Fn. 16) S. 317 f. 94 Zu Konsequenzen für die Revisibilität unten III. 2. c) bb) mit Fn. 147. 95 Verf. (Fn. 68) S. 707 f. Vgl. auch Verf. Abstraktion und Konkretisierung in der „gesetzlichen Beweistheorie“ des Strafverfahrens, in: FS U. Weber, 2004, S. 485 (504). 96 Fezer (Fn. 1) Fall 9 Rn. 165. Erg. unten III. 2. a) mit Fn. 100-102. Der Angeklagte hat, vom Fall der „Freispruchsreife“ abgesehen (BGHSt 13, 268 [273]; 20, 333 [335]; MeyerGoßner [Fn. 47] S. 549: bei „Bestrafungsverboten“ im Gegensatz zu „Befassungsverboten“), keinen prozessualen Anspruch auf Verfahrensfortführung mit dem Ziel der Freisprechung (BGHSt 44, 209 [218]). 97 Oben II. 1. mit Fn. 20. 98 Näher unten III. 2. c) aa) mit Fn. 126-142.
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eine Amnestie, Beweisaufnahme oder weitere (Rechtsmittel- bzw. Rechtsbehelfs-)Instanz, ist diese zu versagen (als unzulässig, unbegründet) nur bei feststehendem Ablehnungsgrund; bleibt dieser in tatsächlicher Hinsicht zweifelhaft, hat folglich das Gericht – auf Antrag oder von Amts wegen – die entsprechende Rechtslage herzustellen. 2. Vorstehendes ist nur noch für den prozessualen Bereich99 in knappen Strichen zu konkretisieren: a) Fehlt Gerichtsüberzeugung wegen Zweifels, ob eine Prozessvoraussetzung/ein Verfahrenshindernis vorliegt, ist weiteres Prozedieren nicht (mehr) legitimiert, daher zu unterlassen („einzustellen“) und dies gem. §§ 204 I, 206a bzw. 260 III StPO klarstellend zu dokumentieren.100 Das ist heute, wenn auch zumeist nur im Ergebnis, anerkannt.101 Je nach Art der Prozessvoraussetzung differenzierende, zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit abwägende oder sich am Kriterium „pro reo“ orientierende Einzelfallprüfungen102 finden nicht statt. b) aa) Bleibt die Zulässigkeit der Entscheidungs-Anfechtung als Prozessvoraussetzung des Rechtsmittelverfahrens, insbesondere zufolge möglicherweise verspäteter (§§ 311 II; 314; 341, 345; 410 I; 45 I StPO) Einlegung, zweifelhaft,103 ist dem prozessualen Anspruch des Berechtigten (§§ 296-298; 390; 410 I StPO) auf die begehrte (weitere) Instanz stattzugeben: Sein Antrag ist zu verwerfen (§§ 319 I, 322 I; 346 I, 349 I; 411 I 1; 46 I StPO) nur bei Überzeugung des Gerichts, dass die Option auf die erstrebte neue Rechtslage nicht (mehr) besteht.104 Zu entscheiden ist also stets in dubio pro appellante,105 gleichgültig, wer (z.B. Angeklagter oder 99 Zu in-dubio-Entscheidungen im Bereich des materiellen Strafrechts ausführlich Verf. (Fn. 12) § 244 Rn. 311-328. 100 Verf. (Fn. 12) § 244 Rn. 330-331 (im Einzelnen Rn. 332-339 m. Nachw.). Mit Hinweis auf die Funktion der Prozess- als Sachurteilsvoraussetzungen ebenso Sulanke (Fn. 31) S. 72 ff.; Michael (Fn. 24) S. 22; Fezer (Fn. 1) Fall 9 Rn. 165; Kühne (Fn. 1) Rn. 965; LR-Rieß (Fn. 24) § 206a Rn. 30; SK-Paeffgen (Fn. 45) § 206a Rn. 19; Meyer-Goßner (Fn. 1) § 206a Rn. 7 und (Fn. 47) S. 543 f. (S. 545-551 zu einzelnen Verfahrenshindernissen). 101 Detaillierte Übersicht zur Entwicklung und Gegenwart bei Zopfs (Fn. 4) S. 19-35, 39-54, 60-66. 102 Dazu oben II. 2. a) mit Fn. 37-45. 103 Erg. oben II. 1. mit Fn. 17-19. 104 Oben III. 1. c) bb). – Gleiches gilt für fristgebundene Anträge nach §§ 6a S. 3, 16 S. 3; 25 I, 26 I 1; 222b I 1 StPO. 105 Auch in Fällen der §§ 45 I, 46 I StPO (OLGe Hamburg NJW 1974, 68; Stuttgart NJW 1981, 471; KK-StPO(5. A. 203)-H. Maul § 45 Rn. 3; LR-StPO(26. A. 2006)-K. GraalmannScheerer § 45 Rn. 5; – aM: OLGe Karlsruhe OLGSt § 45 Nr. 27; Celle NdsRpfl. 1982, 140; Verf. [Fn. 12] § 244 Rn. 340; SKStPO-E. Weßlau § 45 Rn. 5; Meyer-Goßner [Fn. 1] § 45 Rn. 3), weil die Erwägung, nach feststehendem Rechtskrafteintritt sei die Ausnahmevorkeh-
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StA) Rechtsmittelführer ist,106 ob die StA das Rechtsmittel zugunsten oder zum Nachteil des Angeklagten eingelegt hat,107 in wessen (z.B. Gericht oder Angeklagter) „Verantwortungsbereich“ die mögliche Fristversäumung fällt108 oder ob schon der Eingang der Anfechtungserklärung bei Gericht zweifelhaft,109 damit aber möglich ist, dass sie bereits den „prozessualen Raum“ erreicht hat. bb) Ebenso ist zugunsten des (Fort-)Bestands der Prozesslage in der Rechtsmittelinstanz zu entscheiden, wenn innerhalb der Anfechtungsfrist sowohl eine Verzichtserklärung (§ 302 I StPO) des Angeklagten als auch eine von ihm zeitlich später verfasste Anfechtungserklärung bei Gericht eingegangen und unklärbar ist, welche davon früher,110 oder falls zweifelhaft bleibt, ob der Widerruf des Angeklagten einer Rücknahmeermächtigung (§ 302 II StPO) vor der Rücknahmeerklärung des Verteidigers (§ 302 I 1 StPO) wirksam geworden war oder nicht.111 c) Gleiches gilt für (sonstige) einzelne Prozesshandlungen: Prozessual zulässig, weil rechtsrichtig, sind sie nur, sofern für das (Tat- bzw. Revisions-)Gericht der Untersatz der anzuwendenden Verfahrensnorm überzeugungssicher, also zweifelsfrei erwiesen ist. Dass bei unklärbar zweifelhafter rung der Wiedereinsetzung in ihren tatsächlichen Voraussetzungen zu beweisen, demgegenüber nicht tragfähig ist (vgl. oben II. 2. c) aa) mit Fn. 58-59 sowie unten III. 2. c) vor aa) mit Fn. 122-123). 106 BGH NJW 1960, 2202; OLGe Düsseldorf MDR 1969, 1031; 1985, 784; Karlsruhe NJW 1981, 138; Verf. (Fn. 12) § 244 Rn. 342; Fezer (Fn. 1) Fall 19 Rn. 39; LR-Gollwitzer (Fn. 6) § 314 Rn. 31; SK-Schlüchter (Fn. 24) § 261 Rn. 81. 107 BayObLG DAR 1979, 241 (b. Rüth); Sax (Fn. 12) S. 169 und (Fn. 21) 1 f (3) cc (2) b vor § 48; Sarstedt (Fn. 87) S. 246; Kleinknecht (Fn. 59) § 261 Rn. 35 und § 319 Rn. 1; – aM: BGH StV 1995, 454; KG JR 1954, 470 m. abl. Anm. Sarstedt; OLGe Celle NJW 1967, 640; Hamburg JR 1976, 254 m. i. E. zust. Anm. H. Foth; Düsseldorf JZ 1985, 300; Eisenberg (Fn. 6) Rn. 130; SK-Frisch (Fn. 24) Rn. 187 vor § 296; Meyer-Goßner (Fn. 1) § 261 Rn. 35. 108 Anders als die hM; vgl. BayObLG NJW 1966, 957; OLGe Braunschweig NJW 1973, 2119; Stuttgart MDR 1981, 424; Celle NdsRpfl. 1983, 123 f.; 1985, 173 f.; Hamm NStZ 1982, 43 (44); Foth (Fn. 107) S. 254 f.; offengelassen von Zopfs (Fn. 4) S. 365. Vgl. erg. unten III. 2. c) aa) mit Fn. 136-137. – Die „Schuld“-Frage wäre nur bei feststehender Verspätung gem. § 44 StPO relevant. 109 A.M.: BGH NStZ 1999, 372; BGHR § 345 „Frist 1“; OLGe Hamm NStZ 1982, 43; Stuttgart MDR 1984, 512; Düsseldorf JZ 1985, 300; MDR 1991, 986; NZV 2001, 47. Ist jedoch kraft zuverlässiger Geschäftsorganisation zweifelsfrei, dass das Rechtsmittel bei Gericht nicht eingegangen und so bereits seine Aufgabe zur Post oder dortiger Verlust offen ist, liegt überhaupt keine „Prozesshandlung“ vor, über die konstitutiv zu entscheiden wäre. 110 BGH NJW 1960, 2202; BGHR § 302 StPO „Rücknahme 4“; BGH NStZ 1992, 29 (b. Kusch). 111 Verf. (Fn. 12) § 244 Rn. 343; – aM: BGHSt 10, 235 m. zust. Anm. Dünnebier JR 1957, 349 f. und abl. Anm. Sax JZ 1958, 178 f.; BGH NStZ 1997, 28 (b. Kusch); Meyer-Goßner (Fn. 1) § 261 Rn. 35 und § 302 Rn. 35.
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Faktenbasis die Unzulässigkeit der Prozesshandlung aus dem idpr-„Grundsatz“ folge,112 ist, da ein solcher nicht existiert, allerdings ebenso unrichtig wie die Gegenauffassung, die Prozesshandlung bleibe statthaft, weil (a) andernfalls effektive Strafrechtspflege „gelähmt“ werde113 und schon deshalb114 die idpr-Regel nicht gelten dürfe115 – ein in seinen Prämissen erst zu fundierendes Folgenargument,116 das den Begriff des überzeugungsausschließenden (§ 261 StPO) Zweifels (möglicherweise) zu eng begreift–,117 (b) weil „solange der Gegenbeweis nicht erbracht ist“,118 die „Vermutung ordnungsgemässen Verfahrens“ gelte119 – ein begründungsloses, rechtsstaatlich untragbare Diktum,120 tragfähig allenfalls i. S. einer (vorläufige) Überzeugung begründenden „Interimswahrheit“121 – und (c) weil Ausnahmen122 von Regelabläufen des Strafverfahrens nur bei positivem Nachweis prozessual beachtlich seien123 – ein rein formales, zivilpro-
112 Eb. Schmidt aaO Fn. 115; Michael (Fn. 24) S. 154; Roxin (Fn. 4) § 15 Rn. 40; Kühne (Fn. 1) Rn. 582. 113 Insbes. Sarstedt (Fn. 87) S. 247 f. 114 Zur Auffassung, der idpr-„Grundsatz“ beherrsche ohnehin nur das materielle Strafrecht, s. oben II. 2. c) bb) mit Fn. 66-71. 115 Ganz hM mit der Devise: „Verfahrensfehler müssen bewiesen werden“ (dazu unten III. 2. c) bb) mit Fn. 143): RGSt 60, 63 (64 f.); 65, 250 (255); RG JW 1931, 1578; BVerfG NJW 1961, 2012 f.; BGHSt 16, 164 (167) = JR 1962, 108 m. abl. Anm. Eb. Schmidt; 17, 353; 21, 4 (10); BGH NJW 1953, 837; 1978, 1390; MDR 1955, 652 (b. Herlan); StV 2001, 554; OLGe Karlsruhe VRS 33, 128; Hamm VRS 47, 122 u. 370; 50, 306; Frankfurt NJW 1974, 1152; Alsberg (Fn. 55) S. 365; Alsberg/Nüse/Meyer (Fn. 24) S. 895; Schlüchter (Fn. 77) Rn. 672.1; LR-Gollwitzer (Fn. 6) § 261 Rn. 124; KK-Schoreit (Fn. 6) § 261 Rn. 63; Eisenberg (Fn. 6) Rn. 131; Kindhäuser (Fn. 1) § 31 Rn. 27; Meyer-Goßner (Fn. 1) § 261 Rn. 35; Volk (Fn. 4) § 14 Rn. 10 (Verfahrensfehler, „für die in dubio pro reo sicher nicht gilt“). 116 Zutr. Kühne (Fn. 1) Rn. 966. 117 Dafür genügen nicht ohne Weiteres bloße dahingehende Behauptungen z.B. des Angeklagten oder rein theoretisch-denkgesetzliche Zweifel (BGHSt 46, 349 [352]), sondern nur in konkreten Umständen liegende Gründe, die einer lückenlosen, in sich widerspruchs- und kreisschlussfreien Überzeugungsbegründung (§ 261 StPO) unter Beachtung auch sonstiger Denkgesetze und gesicherter Regeln allgemeiner und wissenschaftlicher Erfahrung (je nach dem Grad ihrer Geltungskraft) entgegenstehen können (Verf. [Fn. 18] S. 486 und – ausführlich [Fn. 65] sub I. 2. mit Fn. 42-58 und w. Hinw. aaO in Fn. 41). 118 SK-Schlüchter (Fn. 24) § 261 Rn. 80. 119 BGH 5 StR 115/55 v. 8.7.1955 (insoweit nicht in BGHSt 9, 42 ff.) bei Kleinknecht (Fn. 9) 1 f (3) ff vor § 48; Stree (Fn. 1) S. 80 f.; Sulanke (Fn. 31) S. 13; Sarstedt (Fn. 87) S. 247 f.; Kindhäuser (Fn. 1) § 31 Rn. 27; Beulke (Fn. 1) Rn. 567. 120 Sax (Fn. 21) 1 f (3) cc (2) vor § 48. 121 Dazu oben Fn. 58. 122 Z.B. Beweisverbote vom „Grundsatz“ des § 244 II StPO (Kleinknecht [Fn. 59] § 261 Rn. 35; Koeniger [Fn. 59] S. 522 f.; LR-Gollwitzer [Fn. 6] § 261 Rn. 133) oder Zeugnisverweigerungsrechte (BGH 1 StR 77/62 v. 27.3.1962 bei Meyer-Goßner [Fn. 1] § 261 Rn. 35). 123 Dazu bereits oben II. 2. c) aa) mit Fn. 58-59.
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zessualem Beweislastdenken nahes Argument.124 Im Übrigen ist zu unterscheiden:125 aa) Für das Tatgericht relevant sind bereits mögliche Verfahrensfehler: Es ist prozesshandlungsgehindert bei zweifelhaftem Untersatz der Prozessnorm, z.B. an einer Geständnisverwertung (§ 136a III 2 StPO) nicht nur bei erwiesener,126 sondern schon möglicher Beeinträchtigung der Willensfreiheit (§ 136a I, II StPO),127 an der Berücksichtigung einer Aussage, falls offen ist, ob eine (ordnungsgemäße) Belehrung gem. §§ 136 I 2, 163a IV 2 StPO128 oder §§ 52 III, 81c III 2 HS. 2 StPO129 erfolgt war, an der Fortsetzungsverhandlung (§ 231 II StPO) bei unbewiesen eigenmächtigem Fernbleiben des Angeklagten,130 an der Verwerfung der Berufung (§ 329 I 1 StPO) oder des Einspruchs (§§ 412 S. 1 StPO, 74 II OWiG), wenn es am Nachweis ordnungsgemäßer Ladung und ungenügender Entschuldigung des Ausbleibens fehlt,131 an der Verwertung einer Zeugen- oder Sachverständigenaussage, falls die Terminsnachricht gem. §§ 168c V 1, 224 I 1 StPO zweifelhaft ist,132 an einer Beschlussentscheidung nach § 72 OWiG, sofern 124 Verf. (Fn. 12) § 244 Rn. 297. Abl. auch Mann/Mann (Fn. 1) S. 267 f.; Lehmann (Fn. 12) S. 40 ff., 98 ff. 125 Verf. (Fn. 12) § 244 Rn. 346 u. 348. Ebenso Zopfs (Fn. 4) S. 79, 80 f., 375 f.; KMR-Stuckenberg (Fn. 3) § 261 Rn. 143; i. E. auch SK-Frisch (Fn. 24) § 337 Rn. 76. 126 So aber die hM.: vgl. OGH NJW 1950, 271; BGHSt 16, 164 (167) = JR 1962, 108 m. abl. Anm. Eb. Schmidt; 31, 395 (400); BGH MDR 1955, 652 (b. Herlan); VRS 29, 203 (204); Kleinknecht (Fn. 9) 1 f (3) ff vor § 48; Henkel (Fn. 5); Stree (Fn. 1) S. 78 ff.; SK-Schlüchter (Fn. 24) § 261 Rn. 80; SKStPO-K. Rogall § 136a Rn. 83; KK-Schoreit (Fn. 6) § 261 Rn. 63; Löffeler (Fn. 59) S. 83; Ranft (Fn. 24) Rn. 1642; Meyer-Goßner (Fn. 1) § 261 Rn. 35, § 337 Rn. 10 u. 12. – Dann genügt, wenn die Aussage nur möglicherweise „unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen“ ist (Kausalität): BGHSt 5, 290 (291); 13, 60; 34, 365 (369); SK-Rogall aaO; Zopfs (Fn. 4) S. 73 m. Fn. 276; Meyer-Goßner aaO § 136a Rn. 28. 127 Zutr. Eb. Schmidt (Fn. 3) Rn. 198; Sax (Fn. 21) 1 f (3) cc (2) a vor § 48; Fezer (Fn. 1) Fall 3 Rn. 39; LR-Hanack (Fn. 37) § 136a Rn. 69; Roxin (Fn. 4) § 15 Rn. 40; Volk (Fn. 1) § 15 Rn. 22; Beulke (Fn. 1) Rn. 143. 128 Nach hM begründet nur erwiesene Nicht- bzw. Falschbelehrung ein Verwertungsverbot (BGHSt 31, 395 [400]; 39, 349 [350]), es sei denn, dass ungeachtet dessen der Beschuldigte sein Schweigerecht kannte oder ohnehin ausgesagt hätte (BGHSt 38, 214 [224 f.] m. zust. Anm. Fezer JR 1992, 385 [386]; 39, 350; KMR-Stuckenberg [Fn. 3] § 261 Rn. 143; Beulke [Fn. 1] Rn. 117). 129 A.M.: BGHSt 40, 336 (339 f.) = StV 1995, 171 m. abl. Anm. Eisenberg aaO S. 625. 130 BGHSt 10, 304 (305) m. zust. Anm. Eb. Schmidt JZ 1957, 674; 16, 178 (180); BGH StV 1981, 392; 1982, 356; NStZ 1984, 520 f.; 1988, 421 m. Anm. D. Meurer; 1989, 284; 1999, 418; NStZ-RR 2001, 333; SK-Schlüchter (Fn. 24) § 231 Rn. 20; Meyer-Goßner (Fn. 1) § 231 Rn. 25. 131 BGH NStZ 1987, 239 (240 gegen OLG Düsseldorf StV 1982, 216); KG JR 1984, 78; OLGe Stuttgart NStZ 1989, 91; Düsseldorf StV 1990, 58. 132 BayObLG NJW 1952, 1316; OLGe Frankfurt NJW 1952, 1068; Bremen OLGSt § 224 StPO S. 1.
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der Zugang des Hinweises (§ 72 I 2 OWiG)133 oder der rechtzeitige Eingang des Widerspruchs (§ 72 I 1, II 1 OWiG) bei Gericht nicht feststeht,134 wobei unerheblich ist, ob die mögliche Verspätung in den Verantwortungsbereich135 des Betroffenen136 oder des Gerichts137 fällt. Eines in Fällen insbesondere des § 136a StPO vereinzelt geforderten „qualifizierten Zweifels“138 i. S. etwa „verhältnismäßig hoher Wahrscheinlichkeit“,139 einer „Glaubhaftmachung“140, „Besorgnis“ (entsprechend § 24 I, II StP0)141 oder „ernsthafter Erschütterung“ der Justizförmigkeit staatlichen Verfahrens142 bedarf es hierbei nicht. bb) Das Revisionsgericht muss zwecks Urteilsaufhebung (§ 353 I StPO) überzeugt sein, dass dem Tatgericht ein Verfahrensfehler (§§ 337, 338 StPO) unterlaufen ist. Nur insoweit gilt uneingeschränkt: Verfahrensfehler müssen nachgewiesen werden.143 Ein solcher steht aber bereits fest, wenn das Tatgericht bei ihm nur zweifelhafter Faktengrundlage oder bei Unkenntnis des Fehlers infolge Verletzung seiner Aufklärungspflicht (§ 244 II StPO) die gerügte Prozesshandlung vorgenommen hat.144 Ein Verfahrensfehler bei im Übrigen prozessordnungsgemäßer Beweiswürdigung (§ 261 StPO)145 scheidet dagegen angesichts dem Tatgericht vorbehalter Beurteilungskompetenz146 aus, falls einzelne tatgerichtliche Schlussfolgerungen aus Beweisergebnissen (außerhalb allgemein gültiger Denk- und Erfahrungsgesetze) nur möglich, aber nicht zwingend waren.147 Und auch noch der letzten Entscheidung in einem Strafverfahren gilt der Titel dieser Studie: Contra appellantem darf das Revisionsgericht nur entscheiden,148 wenn es mit 133
BGHSt 24, 293 (297); OLGe Celle VRS 38, 137 (138); Hamm NJW 1970, 624. A.M.: BayObLG DAR 1983, 259 (b. Rüth). 135 Vgl. bereits oben III. 2. b) aa) mit Fn. 108. 136 A.M.: KG VRS 42, 223 (224); BayObLG VRS 55, 53 (54); OLG Karlsruhe Justiz 1974, 232. 137 A.M.: BayObLG VRS 53, 199 (200; aufgegeben in VRS 55, 53, 54); OLGe Karlsruhe Jutiz 1976, 299; Köln VRS 57, 299. 138 Roxin (Fn. 4) § 15 Rn. 40: „ernster Zweifel“. 139 So F. Dencker Verwertungsverbote im Strafprozeß, 1977, S. 137 f., 140, 146. 140 Montenbruck (Fn. 11) S. 166 f., 169 f.; Beulke (Fn. 1) Rn. 143. 141 Montenbruck aaO Fn. 140. 142 Oben II. 2. c) aa) mit Fn. 59 (aE). 143 Nachweise oben Fn. 115. 144 Verf. (Fn. 12) § 244 Rn. 348; zust. Zopfs (Fn. 4) S. 79 ff., 375 f. 145 Oben Fn. 117. 146 Oben III. 1. b) mit Fn. 94. 147 BGHSt 10, 208 (210); 12, 311 (315); 25, 365 (367); 29, 18 (20); BayObLG VRS 4, 384; 29, 151; GA 1970, 186; OLGe Hamm NJW 1973, 160; Koblenz GA 1975, 220; Celle NJW 1976, 2031; Köln VRS 57, 191. Der induktive Beweis ist erkenntnistheoretisch niemals „zwingend“. 148 Oben III. 1. c) bb) und 2. b) aa) mit Fn. 104-107. 134
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rechtsrichtiger Begründung „überzeugt“ ist, dass auf dem festgestellten Verfahrensfehler das angefochtene Urteil nicht beruht (§ 337 I StPO), also insoweit prozessordnungsgemäß ergangen ist.149
149 Näher Verf. Die begründete „Verfahrensrüge“ in der strafprozessualen Revision, in: GS E. Schlüchter, 2002, S. 587 (608 ff.): Auf die Ebene richterlicher Erkenntnis und Aussage transponiertes gegenständliches Diktum, das „Beruhens“-Erfordernis bedeute einen möglichen kausalen bzw. normativen Konnex zwischen Prozessverstoß und Urteilsergebnis (Nachw. bei Frisch [Fn. 24] § 337 Rn. 187).
Der Begriff der „Tat“ im prozessualen Sinne in Europa HENNING RADTKE
I. Grundlegungen 1. Strafklageverbrauch und prozessualer Tatbegriff im nationalen Recht Der nach nationalem Verfassungsrecht in Art. 103 Abs. 3 GG als Prozessgrundrecht1 gewährleistete Grundsatz „ne bis in idem“ garantiert lediglich insoweit Schutz vor einer erneuten Verfolgung2 derselben Tat, als das erste Strafverfahren durch eine rechtskräftige Entscheidung eines deutschen Gerichts abgeschlossen worden ist.3 Abgesehen von der Beschränkung des Schutzbereichs auf eine inländische Zweitverfolgung bei inländischer Erstverfolgung der Tat ist der Umfang der verfassungsrechtlichen Gewährleistung von „ne bis in idem“ noch wenigstens in zweierlei Weise beschränkt. Zum einen durch die Art der Abschlussentscheidung des ersten Strafverfahrens; nicht jede verfahrenserledigende Entscheidung führt einen Strafklageverbrauch im Sinne des „ne bis in idem“ herbei.4 Zum anderen ist der Schutzbereich des Art. 103 Abs. 3 in gegenständlicher Hinsicht durch den Begriff der „Tat“ umgrenzt. Nur im Umfang der „Tat“ tritt durch die das Strafverfahren abschließende Entscheidung Strafklageverbrauch und damit Schutz vor einer erneuten Verfolgung desselben Betroffenen ein. Zwar 1 BVerfGE 56, 22 (32); Sachs/Degenhart, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 103 Rn 76; BeckOKGG/Radtke Art. 103 Rn 43; ohne sachliche Abweichung wird Art. 103 Abs.3 GG auch als „grundrechtsgleiches Rechtt“ bezeichnet, vgl. Jarras/Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 103 Rn 56. 2 Dass über den Wortlaut hinausgehend Art. 103 Abs. 3 GG nicht lediglich eine mehrfache Bestrafung derselben Tat sondern bereits deren mehrfache Verfolgung ausschließt, ist ebenfalls Allgemeingut; BGHSt 38, 54 (57); BGHSt 44, 1 (3); BK/Rüping, Zweitbearbeitung, GG, Art. 103 Rn 72; ausführlich Radtke, Die Systematik des Strafklageverbrauchs verfahrenserledigender Entscheidungen im Strafprozeß, 1993, S. 76 ff. 3 BVerfG 12, 62 (66); BVerfGE 75, 1 (15); Jarass/Pieroth, Art. 103 Rn 63; BeckOK-GG/ Radtke, Art. 103 Rn 48. 4 Radtke, Systematik des Strafklageverbrauchs (Fn. 2), S. 341 ff. bzgl. gerichtlicher Entscheidungen und S. 376 ff. bzgl. staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen.
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nimmt Art. 103 Abs. 3 GG auf ein vorgefundenes Prinzip des Strafverfahrensrechts Bezug,5 legt aber dem Begriff der „Tat“ ungeachtet der strafprozessualen Deutung ein eigenständiges verfassungsrechtliches Verständnis zugrunde. „Tat“ im verfassungsrechtlichen Sinne ist der nach natürlicher Lebensauffassung zu bewertende „geschichtliche Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll“.6 Dieser verfassungsrechtliche Tatbegriff ist nach seinen Inhalten ersichtlich verschieden von dem Begriff der Tat im Sinne des materiellen Strafrechts (§§ 52, 53 StGB).7 Das materielle Strafrecht stellt naturgemäß auf die Übereinstimmung der Straftat ab (idem crimen). Mit dem strafprozessualen Tatbegriff8 teilt der im Grundgesetz verankerte Tatbegriff dagegen insofern den Ausgangspunkt, als jeweils auf den dem Strafverfahren zugrunde liegenden Lebenssachverhalt abgestellt wird (idem factum). Allerdings gewährleistet Art. 103 Abs. 3 GG lediglich den Kerninhalt des Prinzips „ne bis in idem“, ohne den „dogmatischen Verästelungen“ des im Strafverfahrensrecht verwendeten Tatbegriffs in den Details zu folgen.9 Bereits dieses knappe, lediglich die groben Strukturen der Diskussion um den Begriff „Tat“ im nationalen deutschen Recht nachzeichnende Referat deutet die mit dem Terminus verbundenen sachlichen Schwierigkeiten an. Drei verschiedene Inhaltsbestimmungen, eine verfassungsrechtliche, eine strafverfahrensrechtliche und eine materiell-strafrechtliche existieren nebeneinander. Während die beiden erstgenannten im Grundsatz die Tat vom Faktischen über einen historischen Lebenssachverhalt her definieren, ist der materiell-strafrechtliche Tatbegriff notwendig mit rechtlichen Wertungen aufgeladen. Dass aber auch der verfassungsrechtliche und der strafverfahrensrechtliche Tatbegriff nicht vollständig von Rückkoppelungen auf materiell-rechtliche Wertungen frei sind, zeigt insbesondere die Diskussion um die Reichweite dieser Tatbegriffe etwa im Kontext von Organisations- und Dauerdelikten.10 Der Umfang des durch eine (straf)verfahrensabschließende Entscheidung bewirkten Strafklageverbrauchs wird durch die inhaltliche 5 BVerfGE 3, 248 (252 f.); Dreier/Schultze-Fielitz, GG, Band 3, 2000, Art. 103 Abs. 3 Rn 15 f. 6 BVerfGE 45, 434 (435); BVerfGE 56, 22 (28); Maunz/Dürig/Schmidt-Assmann, GG, Art. 103 Rn 281; Sachs/Degenhart, GG, Art. 103 Rn 77; BeckOK-GG/Radtke Art. 103 Rn. 47. 7 BVerfGE 45, 434 f.; BVerfGE 56, 22 (32-34). 8 Stdg. Rspr. siehe nur BGHSt 49, 211 (212); BGH NStZ-RR 2006, 316 f.; LR/Gollwitzer, StPO, 25. Aufl., § 264 Rn. 3 ff., ausführlich Radtke, Systematik des Strafklageverbrauchs (Fn. 2), S. 91 ff. sowie jüngst Paeffgen, Gedächtnisschrift für Heinze, 2005, S. 615 ff. 9 BVerfGE 56, 22, (34); BK/Rüping, GG, Art. 103 Rn. 57; Jarras/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 57. 10 Zum verfassungsrechtlichen Tatbegriff insoweit BVerfGE 56, 22 (31 ff.); BVerfG NJW 2004, 279 (280); aus strafverfahrensrechtlicher Perspektive Erb GA 1994, 265 ff.
Der Begriff der „Tat“ im prozessualen Sinne in Europa
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Ausfüllung des Begriffs der Tat insoweit entscheidend bestimmt, als ein rein oder überwiegend faktisches, auf den gesamten mit der Anklage unterbreiteten Lebenssachverhalt abstellendes Verständnis tendenziell zu einem umfänglicheren Strafklageverbrauch in Relation zu einem mit rechtlichen Wertungen aufgeladenen Tatbegriff führt. Hat etwa das über die Strafbarkeit des Angeklagten zu befindende Strafgericht den in der Anklage unterbreiteten Sachverhalt lediglich unter dem Aspekt eines Organisationsdelikts (z.B. § 129 a StGB) würdigen können, führt eine rechtskräftige Entscheidung über diesen Vorwurf nicht notwendig einen Strafklageverbrauch in Bezug auf ein Tötungsdelikt herbei, das derselbe Angeklagte im Rahmen seiner Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung verübt haben mag und das innerhalb des die Verurteilung aus § 129 a StGB betreffenden Zeitraums lag.11
2. Europäisierung und Internationalisierung des Grundsatzes „ne bis in idem“ Fällt nach dem Vorgenannten bereits die Bestimmung des Umfangs der „Tat“ in einem verfassungs- und strafverfahrensrechtlichen Sinne und des davon abhängigen Umfangs des Strafklageverbrauchs auf der Grundlage des nationalen deutschen Rechts nicht leicht, kann man sich das Ausmaß der Schwierigkeiten der Bestimmung eines Strafklageverbrauchs in Strafverfahren mit einem transnationalen Hintergrund vorstellen. Auch wenn Strafverfahren mit Auslandsberührungen unterschiedlichster Art längst nicht die tägliche Arbeit deutscher Strafverfolgungsbehörden bestimmen und dies vermutlich auch nie tun werden, dürfte die Anzahl von Verfahren mit Gegenständen, die Bezug oder Bezüge außerhalb des eigenen Nationalstaates aufweisen, in den letzten Jahren gestiegen sein. Zumindest erfreut sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Internationalisierung und Europäisierung des Grundsatzes „ne bis in idem“ großer Beliebtheit.12 Allerdings handelt es sich nicht lediglich um ein „Modethema der Strafprozessrechtswissenschaft“,13 sondern Umfang und Intensität der wissenschaft11 Vgl. BVerfGE 56, 22 (29 ff.); BGHSt 46, 349 (358), dazu Mitsch NStZ 2002, 159; Verrel JR 2001, 210 f.; umfassend Cording, Der Strafklageverbrauch bei Dauer- und Organisationsdelikten, 1993. 12 Siehe bereits Jung, Festschrift für Schüler-Springorum, 1993, S. 493 ff. sowie aus jüngerer Zeit Vogel, Festschrift für Schroeder, 2006, S. 877; monographisch u.a. Kniebühler, Transnationales „ne bis in idem“, 2005; Liebau, „Ne bis in idem“ in Europa, 2005; Specht, Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem, 1999; S. Stein, Zum europäischem ne bis in idem nach Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens, 2004; Thomas, Das Recht auf Einmaligkeit der Strafverfolgung, 2002. 13 Vogel, Festschrift für Schroeder, S. 877 (878).
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lichen Beschäftigung mit dem Grundsatz „ne bis in idem“ in einem europäischen und internationalen Kontext haben insoweit eine rechtstatsächliche Basis, als mittlerweile eine erkleckliche Anzahl von Entscheidungen des EuGH zu unterschiedlichen Aspekten des Schutzes vor strafrechtlicher Mehrfachverfolgung auf der europäischer Ebene vorliegt.14 Offenbar spielt die Frage eines europäischen „ne bis in idem“ in der forensischen Praxis der Strafverfolgungsbehörden durchaus eine gewisse Rolle. Die rechtstatsächlichen Umstände, die zu einem häufigeren Auftreten von Rechtsproblemen transnationalen Strafklageverbrauchs führen, sind vielfältig.15 Für die nachfolgenden Überlegungen zu einem strafprozessualen Tatbegriff in Europa16 genügt jedoch die Beschränkung auf zwei dieser Umstände; zum einen die Veränderungen in den tatsächlichen Erscheinungsformen von Kriminalität und zum anderen eine Tendenz zur Ausweitung des Geltungsbereichs der jeweiligen nationalen Strafrechtsordnungen17 insbesondere durch einen vermehrten Zugriff auf das Weltrechtsprinzip als Anknüpfungsgrundsatz für die Ausübung nationaler Strafgewalt. Die tatsächlichen Erscheinungsformen bestimmter Art von Kriminalität haben sich dergestalt „internationalisiert“, dass etwa durch die Verwendung moderner Kommunikationsmittel Auslandsbezüge von Straftaten begründet werden. Bei sog. Äußerungsdelikten (z.B. § 130 StGB) mag der ausländische Täter die inkriminierten Texte über einen ausländischen Server dem Zugriff inländischer Internetnutzer zugänglich machen und so einen Erfolg (Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens) im Inland herbeiführen.18 Ob eine solche Art von Erfolg bei dem als abstraktes oder abstraktkonkretes Gefährdungsdelikt19 verstandenen § 130 StGB trotz der Begehung der Tat durch einen ausländischen Staatsbürger mittels eines ausländi14 EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – verbundene Rechtssachen C-187/01 und C-385/01 (Gözütok und Brügge), NJW 2003, 1173 f.; dazu Radtke/Busch NStZ 2003, 281 (283 ff.); Vogel/Nourouzi JuS 2003, 1059; S. Stein NJW 2003, 1162; Thym NStZ 2003, 332 sowie Streinz JuS 2003, 1211; EuGH, Urt. v. 9.3.2006 – C-436/04 (Van Esbroeck), ABl. EU 2006, Nr. 131, 18 = NJW 2006, 1781-1783; dazu Kühne JZ 2006, 1019 und Radtke NStZ 2008, 362; EuGH, Urt. vom 28.9.2006 – C-150/05 (Van Straaten), NJW 2006, 3406 (LS) = JZ 2007, 245 ff. mit Anm. Kühne; EuGH, Urt. vom 28.9.2006 – C-467/04 (Gasparini), NStZ 2007, 408 f.; EuGH, Urt. v. 18.7.2007 – C-288/05 (Kretzinger), NStZ 2008, 166 (LS); EuGH, Urt. v. 17.7.2007 – C367/05 (Kraaijenbrink), NStZ 2008, 164 ff. 15 Vogel, Festschrift für Schroeder, S. 877. 16 Gemeint sind präziser die europäischen Staaten, in denen das Schengener DurchführungsÜbereinkommen (SDÜ) gilt; zu Entstehung und Entwicklung des SDÜ in dem hier interessierenden Kontext bereits Radtke/Busch EuGRZ 2000, 421 ff. 17 Zutreffend Vander Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002, 624 (625); siehe auch Lagodny, Festschrift für Trechsel, 2002, S. 253 (263); S. Stein ZStW 115 (2003), S. 983 (984). 18 BGHSt 46, 212 ff. 19 BGHSt 46, 212 (219 f.).
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schen Servers genügt, um über §§ 3, 9 StGB die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts zu begründen,20 kann im hier interessierenden Zusammenhang dahinstehen. Das Beispiel zeigt jedenfalls die tatsächlichen Veränderungen der Erscheinungsformen von Kriminalität. Aber auch außerhalb solcher Deliktstypen weisen manche Kriminalitätsformen „internationale Bezüge“ auf. Ein Drogendealer erwirbt illegal Betäubungsmittel im Staat X, führt sie illegal aus dem Erwerbsstaat aus und ebenso illegal in den Staat Y ein, um sie dort zu verkaufen.21 Geht man von einer Strafbarkeit des Umgangs mit verbotenen Betäubungsmitteln in beiden Staaten aus,22 ist für den beschriebenen Gesamtvorgang des Erwerbs und Transfers der Drogen zum Zwecke des Weiterverkaufs die jeweilige Strafgewalt von zwei Staaten bereits nach dem strafanwendungsrechtlich unverdächtigen Territorialitätsprinzip eröffnet. Die rechtliche Bewertung des tatsächlichen Geschehens mag sich nach dem nationalen Strafrecht des Staates X als verbotene Ausfuhr der fraglichen Menge Betäubungsmittel darstellen und für den Staat Y verbotene Einfuhr derselben Menge sein.23 Vergleichbare Konstellationen grenzüberschreitender, die Strafgewalt mehrerer Nationalstaaten begründender Kriminalität lassen sich etwa für die Begehung von Zoll- und Abgabendelikten leicht vorstellen.24 Die mit der „Internationalisierung“ bestimmter Erscheinungsformen von Kriminalität häufig verbundene Begründung der Strafgewalt mehrerer Nationalstaaten birgt geradezu notwendig die Gefahr von Strafgewaltskonflikten zwischen den Staaten sowie die Gefahr der Mehrfachfolgung desselben tatsächlichen Verhaltens durch verschiedene Staaten. Angesichts des im deutschen Recht – wie auch in anderen Mitgliedstaaten der Union25 – auf die nationale Erstverfolgung begrenzten Schutzumfangs des „ne bis in idem“ (oben I.1.) stellt sich die Möglichkeit einer mehrfachen Verfolgung derselben Tat desselben Täters durch Strafverfolgungsbehörden als eine reale Gefahr dar. Der strafverfahrensrechtliche Grundsatz des Verbots der Mehrfachverfolgung derselben Tat in Bezug auf die innerstaatliche Mehr20 BGHSt 46, 212 (219 ff.); krit. etwa Heghmanns JA 2001, 276; Sieber CR 2001, 97; näher zur Gesamtproblematik Heinrich GA 1999, 72 ff.; Hilgendorf ZStW 113 (2001), S. 650 ff. 21 Vgl. den Sachverhalt der dem Urteil des EuGH (Fn.14 – Van Esbroeck), NJW 2006, 1781 zugrunde liegt. 22 Zu den völkerrechtlichen Vereinbarungen bezüglich der Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität siehe die Nachw. bei MünchKommStGB/Ambos, Band 1, 2003, § 6 Rn 14; siehe auch Dieckmann NStZ 2001, 617, 619 über die Maßnahmen auf der EU-Ebene zur Bekämpfung des Drogenhandels sowie Art. 71 SDÜ. 23 So in Bezug auf Belgien und Norwegen im Fall Van Esbroeck (Fn. 14). 24 Siehe den Sachverhalt von EuGH (Fn. 14 – Kretzinger), NStZ 2008, 166 (LS). 25 Anders aber z.B. die Niederlande, die in Art. 68 Wetboek van Strafrecht auch ausländische Abschlussentscheidungen Strafklageverbrauch zusprechen; siehe Liebau, „Ne bis in idem“ in Europa (Fn. 12), S. 18.
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fachverfolgung gilt in nahezu allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.26 Dann liegt es angesichts des Ziels der Union, einen (einheitlichen) Raum „der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts“ (Art. 29 Abs. 1 EUV) zu schaffen, nahe, Doppelverfolgungen desselben Täters wegen der derselben Tat auch transnational im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander möglichst weitgehend auszuschließen. Insofern betont der EuGH in mittlerweile ständiger Rechtsprechung zutreffend die Beeinträchtigungen des Rechts der Unionsbürger auf Freizügigkeit innerhalb der Union, die aus der Möglichkeit einer weiteren Strafverfolgung in einem Mitgliedstaat trotz bereits erfolgter rechtskräftiger Aburteilung derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat resultierten.27 Zur Vermeidung derartiger Doppelverfolgungen im transnationalen Kontext stehen im Wesentlichen drei Wege zur Verfügung. (1.) Weitgehende Rückführung der Anwendungsprinzipien der nationalen Strafanwendungsrechte auf den Gebietsgrundsatz (für das deutsche Recht § 3 StGB), um Strafgewaltskonflikte von vornherein zu vermeiden, zumindest aber in ihrer Zahl zu reduzieren. Die Beschreitung dieses Weges verspricht jedoch unabhängig davon, dass er den aktuellen, in die gegenteilige Richtung auf Ausweitung weisenden Tendenzen entgegensteht, nur wenig Aussicht auf Erfolg. Bereits die wenigen hier angeführten Beispiele grenzüberschreitender Kriminalität haben belegt, dass wegen der tatsächlichen Erscheinungsformen von Kriminalität ein einheitlicher Lebenssachverhalt selbst dann der Strafgewalt mehrerer Staaten unterfallen kann, wenn diese Gewalt jeweils allein an den Gebietsgrundsatz anknüpfen würde. (2.) Erfolgversprechender wäre die Schaffung von zwischen den Staaten geltenden Rechtsregeln, die, nach welchen Sachkriterien auch immer, eine (vorrangige) Strafgewalt einer der konkurrierenden Strafgewalten in einem wie auch immer normierten Verfahren festlegte. Untersuchungen und daraus abgeleitete diesbezügliche Regelungsvorschläge sind von verschiedenen europäischen Strafrechtswissenschaftlern in den letzten 10 Jahren bereits vorgenommen bzw. unterbreitet worden.28 Ohne in diesem Beitrag zu den Vorschlägen inhaltlich Stellung zu nehmen, ist jedenfalls derzeit ihre Umsetzung weder auf der Ebene der Union noch der Mitgliedstaaten absehbar. Zumindest bis tatsächlich 26 Zu der diesbezüglichen Rechtslage in den wichtigsten Mitgliedstaaten siehe Liebau, „Ne bis in idem“ in Europa (Fn. 12) S. 74-85. 27 Grundlegend EuGH (Fn. 14 – Gözütok/Brügge), NJW 2003, 1173 (1174 Abs. 28 f.). 28 Vor allem Biehler/Lelieur-Fischer/Kniebühler/Stein (Edit.), Freiburg Proposals on Concurrent Jurisdictions and the Prohibition of Multiple Prosecutions in the European Union, 2003; dazu Stein ZStW 115 (2003), S. 983 ff.; Vander Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002, 624 ff. mit ausführlichen Hinweisen zu den jeweiligen Forschungsprojekten der beteiligten Wissenschaftler; umfassend auch Kniebühler, Transnationales „ne bis in idem“ (Fn. 12), S. 70 ff.
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„Kriterien für die jeweils ‚beste’ Strafgewalt in Europa“29 und ein Verfahren für ihre Anwendung im Einzelfall statuiert sind, ist der dritte Weg, ein transnational geltendes „ne bis in idem“ unverzichtbar. (3.) Die transnationale Geltung des Verbots der Doppelverfolgung begründet im Verhältnis der Mitgliedstaaten der Union30 Art. 54 SDÜ.31 Nach dieser Regelung, die seit 1.5.1999 in den Rechtsrahmen des Titels VI des EUV überführt worden ist,32 darf niemand, der durch einen Mitgliedstaat rechtkräftig abgeurteilt worden ist, durch einen anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat verfolgt werden, wenn – für den Fall der Verurteilung – die verhängte Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Erstverfolgungsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann. Sieht man von dem hier nicht interessierenden Vollstreckungselement ab, wird der Schutzbereich von Art. 54 SDÜ durch zwei zentrale Kriterien geprägt, der rechtskräftigen Aburteilung im Erstverfolgungsstaat und dem Vorliegen derselben Tat. Wie bereits für das nationale Recht aufgezeigt, hängt der Schutzumfang des Art. 54 SDÜ und damit die Reichweite des transnationalen Strafklageverbrauchs auf der Grundlage dieser Regelung davon ab, welche verfahrenserledigenden Entscheidungen im Rahmen der Erstverfolgung als rechtskräftige Aburteilungen zu werten sind und wie der Terminus „dieselbe Tat“ inhaltlich zu verstehen ist.
II. Die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 54 SDÜ Für die Auslegung von Art. 54 SDÜ ist seit der Überführung des SDÜ in den Rechtsrahmen des EUV der EuGH zuständig.33 Dessen Rechtsprechung zu dem europäischen Doppelbestrafungsverbot ist zunächst auf die Klärung der Anforderungen an die rechtskräftige Verurteilung gerichtet gewesen.34
29
Vander Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002, 624. Mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs; vgl. Kühne JZ 2006, 1019 Fn. 2. 31 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen – BGBl. II 1993, S. 1013 ff.; dazu Gesetz vom 15.7.1993 – BGBl. 1993 II, S. 1010 ff. 32 Durch das Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der EU vom 2.10.1997 (im folgenden Schengen-Protokoll), abgedruckt bei Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG), 3. Aufl., 1998, Hauptteil IV, S. 1021ff; siehe auch Vogel, Festschrift für Schroeder, S. 879 (881). 33 Näher Radtke/Busch NStZ 2003, 281 (282) mw.N. 34 Grundlegend im Hinblick auf die Einbeziehung (bestimmter) staatsanwaltschaftlicher Abschlussentscheidungen EuGH (Fn. 14 – Brügge/Gözütok) NJW 2003, 1173 f. 30
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Seit 2006 liegen mittlerweile auch mehrere Entscheidungen zum Verständnis des Begriffs derselben Tat vor.35
1. Anforderungen an die rechtskräftige Aburteilung Die in Bezug auf dieses Element des transnationalen Strafklageverbrauch wohl am intensivsten diskutierte Frage ist die Einbeziehung nichtrichterlicher Abschlussentscheidungen eines Strafverfahrens in den Kreis derjenigen Entscheidungen, die sich als rechtskräftige Aburteilung im Sinne von Art. 54 SDÜ erweisen. Der EuGH hat methodisch gestützt auf die dynamische Interpretation36 und unter weitgehender Vernachlässigung des Wortlauts der Vorschrift in nahezu allen Amtssprachen37 sich für ein weites Verständnis der unter die „rechtskräftige Aburteilung“ zu fassenden Vorschriften entschieden.38 Mit seinem Urteil in den verbundenen Rechtsachen Gözütok und Brügge39 hat der EuGH staatsanwaltschaftliche Verfahrensabschlüsse (konkret gemäß § 153 a Abs. 1 StPO) selbst dann in den Anwendungsbereich von Art. 54 SDÜ einbezogen, wenn die Einstellung durch die Staatsanwaltschaft ohne Mitwirkung eines Gerichts erfolgt.40 Nach Auffassung des Gerichtshofs sind die im jeweiligen Erstverfolgungsstaat einen Strafklageverbrauch auslösenden Verfahren dadurch charakterisiert, dass diese durch die Entscheidung einer solchen Behörde abgeschlossen werden, die zur Mitwirkung bei der Strafrechtspflege berufen sei, und das dem Beschuldigten vorgeworfene Verhalten durch bestimmte Auflagen, von deren Erfüllung die Einstellung des Verfahrens abhänge, geahndet werde.41 Verbrauche eine solche Einstellungsentscheidung die Strafklage (nach nationalem Recht) vollständig, handele es sich auch um eine rechtskräftige Aburteilung nach Art. 54 SDÜ.42 Die Judikatur ist im Hinblick auf die grundsätzliche Einbeziehung von verfahrensabschließenden Entscheidungen
35 In den Rechtssachen Van Esbroeck; Van Straaten, Kretzinger und Kraaijenbrink (Nachw. wie in Fn. 14). 36 Radtke/Busch NStZ 2003, 281 (283). 37 Zu den Formulierungen in den ursprünglichen drei Amtssprachen des SDÜ (deutsch, französisch, niederländisch) näher Radtke/Busch EuGRZ 2000, 421 (424); zu den nach der Einbeziehung in den Rechtsrahmen des EUV maßgeblichen weiteren Amtssprachen knapp Böse GA 2003, 744 (747-749) und ausführlicher Specht, Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem (Fn. 12), S. 134 ff. 38 EuGH, (Fn. 14 – Gözütok/ Brügge), NJW 2003, 1173 f. 39 Wie Fn. zuvor. 40 EuGH (Fn. 14 – Gözütok/Brügge), NJW 2003, 1173 (1174 Abs. 34 und 48). 41 EuGH (Fn. 14 – Gözütok/Brügge), NJW 2003, 1173 (1174 Abs. 48). 42 EuGH wie Fn. zuvor.
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von Staatsanwaltschaften43 eindeutig, wenn in der Berechtigung in der Sache auch zweifelhaft.44 Unabhängig davon bleiben aber zahlreiche offene Fragen zum Umfang des durch Art. 54 SDÜ bewirkten transnationalen Strafklageverbrauchs. So hängt etwa das Eingreifen von Art. 54 SDÜ nach dem Verständnis des EuGH von dem „endgültigen“ Strafklageverbrauch der jeweiligen verfahrenserledigenden Entscheidung nach dem nationalen Recht des Erstverfolgungsstaates ab. Das ist schlicht gedacht. Denn der Umfang des „endgültigen“ Strafklageverbrauchs bestimmt sich jedenfalls auch von den rechtlichen Möglichkeiten der Durchführung eines zweiten Verfahrens über dieselbe Tat her, wie sie sich aus Regelungen über eine Wiederaufnahme des Verfahrens im eigentlichen Sinne (für das deutsche Recht §§ 359 ff. StPO) oder Regelungen über ein Wiederaufgreifen von Ermittlungen (vgl. nur § 153 a Abs. 1 S. 5 StPO) ergeben können. Ob Art. 54 SDÜ einer teleologischen Reduktion, die eine Zweitverfolgung der Tat in einem anderen Mitgliedstaat unter den Voraussetzungen der – untechnisch – Wiederaufnahme im Erstverfolgungsstaat gestattete, zugänglich ist, wird jedenfalls in der deutschen Strafprozessrechtswissenschaft streitig diskutiert.45 Eigene, für den transnationalen Strafklageverbrauch maßgebliche Sachkriterien (etwa Umfang der jeweiligen Aufklärungspflicht, Mittel der Sachaufklärung etc.)46 hat der EuGH nicht entwickelt. Angesichts dessen verweist der Gerichtshof auf der Grundlage eines Plädoyers für einen möglichst umfassenden Strafklageverbrauch wegen der ansonsten drohenden Beeinträchtigungen der Freizügigkeit der Unionsbürger für die Bestimmung des Umfangs des Strafklageverbrauchs und damit die Reichweite des Art. 54 SDÜ auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten. Der Umfang des von einer Erstverfolgung ausgehenden transnationalen Strafklageverbrauchs wird damit auch durch den für den betroffenen Beschuldigten oder Angeklagten eher zufälligen Umstand bestimmt, welcher Mitgliedstaat als erster seine Strafgewalt ausübt und ein Strafverfahren zum „endgültigen“ Abschluss bringt. 43 Nicht sämtlichen staatsanwaltschaftlichen verfahrenserledigenden Entscheidungen kommt Strafklageverbrauch zu. Das ergibt sich zum einen aus dem Hinweis des EuGH auf den endgültigen Strafklageverbrauch nach nationalem Recht und zum anderen aus dem – allerdings inhaltlich nicht eindeutigen – Abstellen auf die Erbringung von Auflagen durch den Beschuldigten. In Bezug auf das deutsche Recht stellt jedenfalls eine Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 StPO keine „rechtskräftige Aburteilung“ nach § 54 SDÜ dar; ganz zutreffend ÖstOGH NStZ 2005, 344-346. 44 Krit. etwa Radtke/Busch NStZ 2003, 281 (283 ff.); siehe aber auch Vogel/Nourouzi JuS 2003, 1059; S. Stein NJW 2003, 1162; Thym NStZ 2003, 332 sowie Streinz JuS 2003, 1211. 45 Dafür Radtke/Busch EuGRZ 2000, 421 (429 f.); siehe auch Radtke/Busch NStZ 2003, 281 (286 f.); Bohnert/Lagodny NStZ 2000, 636 (640); ablehnend Böse GA 2003, 744 (754-756). 46 Kriterienkatalog für den Umfang des Strafklageverbrauchs unterschiedlicher verfahrenserledigender Entscheidungen nach deutschem Strafverfahrensrecht bei Radtke, Systematik des Strafklageverbrauchs (Fn. 2), S. 323 ff.
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2. Der Begriff „dieselbe Tat“ in der Rechtsprechung des EuGH Eine dem zuletzt Angesprochenen vergleichbare Ausgangslage bei der Interpretation des transnationalen Strafklageverbrauchs findet sich auch für die Auslegung des Begriff „dieselbe Tat“ in Art. 54 SDÜ. Denkbar ist sowohl eine eigenständige, dann im Geltungsbereich des SDÜ insgesamt maßgebliche „europäische Begriffsbestimmung“47 als auch eine Rückverweisung auf den jeweiligen Tatbegriff des Erstverfolgungsstaates.48 Bei der Entwicklung eines eigenständigen europäischen Tatbegriffs für Art. 54 SDÜ besteht entsprechend dem zum deutschen Recht (oben I.1.) Ausgeführten die Alternative zwischen einem faktischen Verständnis der Tat (idem factum) und einem mit materiell-rechtlichen Wertungen aufgeladenen Begriffsverständnis (idem crimen).49 Der EuGH hat in seinen Entscheidungen50 zu dem Begriff „derselben Tat“ nach Art. 54 SDÜ im Sinne der autonomen Auslegung gemeinschafts- bzw. unionsrechtlicher Begriffe einen eigenständigen europarechtlichen Tatbegriff, der nicht auf das jeweilige prozessuale Tatverständnis des Erstverfolgungsstaates zurückgreift, formuliert und sich für einen im Grundsatz weiten faktischen Tatbegriff (idem factum) ausgesprochen.51 Als maßgebliches Kriterium für die Anwendung des Art. 54 SDÜ im Hinblick auf dieselbe Tat hat der EuGH bereits in seinem ersten Urteil in der Rechtssache Van Esbroeck52 auf die „Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandsein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen“ hingewiesen, die „unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse“ ist, abgestellt. Trotz des Terminus’ „Identität der materiellen Tat“ legt der Gerichtshof Art. 54 SDÜ damit das idem factum als Kriterium der prozessualen Tatidentität zugrunde. Der Verweis auf die Unabhängigkeit der Identität der materiellen Tat von der rechtlichen Qualifizierung und den (durch den verwirklichten Tatbestand) geschützten rechtlichen Interessen, ist eindeutig.53 Die im Fall Van Esbroeck geprägte Formel, die der in der höchstrichterlichen 47 Dafür Böse GA 2003, 744 (757 f.); Lagodny NStZ 1997, 265; Radtke/Busch EuGRZ 2000, 421 (430); Thomas, Das Recht auf Einmaligkeit (Fn. 12), S. 207. 48 Dafür etwa Hecker StV 2001, 306 (309); Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 691; S. Stein, Zum europäischen ne bis in dem (Fn. 12), S. 189 ff.; siehe auch MünchKommStGB/Ambos, Vor §§ 3-7, Rn. 76; wegen des Grundsatzes der autonomen Auslegung gemeinschafsrechtlicher Begriffe (dazu Streinz, Europarecht, 7. Aufl., Rn.500 m.wN.) zu Recht ablehnend Böse GA 2003, 744 (757); siehe auch Radtke NStZ 2008, 162 (164). 49 Ausführlich Kniebühler, Transnationales „ne bis in idem“ (Fn. 12), S. 105 ff. 50 Nachw. wie Fn. 14. 51 Radtke NStZ 2008, 162-164; siehe auch Kühne JZ 2006, 1019 (1020). 52 EuGH (Fn. 14), NJW 2006, 1781 (1783 Abs. 42). 53 Radtke NStZ 2008, 162 (163).
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Rechtsprechung zum Tatbegriff des deutschen Strafverfahrensrechts verwendeten durchaus ähnlich ist, hat der EuGH in seinen nachfolgenden Entscheidungen54 bestätigt und jeweils – unter Vorbehalt der Letztbeurteilung durch das zuständige nationale Gericht – auf die verfahrensgegenständlichen Sachverhalte angewendet. Um das Kriterium des „Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen“ näher inhaltlich auszufüllen, fragt der EuGH, ob der Komplex der Tatsachen in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden ist.55 Gemessen an diesem Kriterium stellt sich die Ausfuhr von Betäubungsmitteln aus einem Mitgliedstaat einerseits und die Einfuhr derselben Menge Betäubungsmittel in einen anderen Mitgliedstaat andererseits als dieselbe Tat im Sinne von Art. 54 SDÜ dar (Fall Van Esbroeck).56 Diese Bewertung hat der Gerichtshof im Fall Van Straaten57 ebenfalls in einer tatsächlichen Konstellation des Verbringens von Betäubungsmitteln von einem Mitgliedstaat in einen anderen bestätigt. Dem unlösbaren Tatsachenkomplex und damit der Tatidentität steht es dabei nicht entgegen, dass die fragliche Menge Betäubungsmittel in den betroffenen Vertragsstaaten nicht (vollständig) identisch war und jeweils unterschiedliche Personen in den verschiedenen Staaten an den jeweiligen Straftaten (im materiellen Sinne) beteiligt waren.58 Angesichts der zumindest bestehenden Teilidentität der betroffenen Tatobjekte sowie des jeweils einheitlichen Transfervorgangs ist auf der Grundlage einer Entscheidung für eine Anknüpfung der Tat an das idem factum und nicht das idem crimen die Annahme eines transnationalen Strafklageverbrauchs im Rahmen des SDÜ geradezu zwingend. Im Fall Gasparini59 hat der EuGH zunächst unter Fortführung der in der Rechtssache Van Straaten60 entwickelten Grundsätze ausgeführt, dass auch eine auf Verjährung gestützte freisprechende Entscheidung im Erstverfolgungsstaat eine rechtkräftige Aburteilung nach Art. 54 SDÜ darstellt. In Bezug auf die Identität der Tat nimmt der Gerichtshof im Kontext von Zollvergehen61 an, bei einer Vermarktung eine Ware in einem anderen Mitgliedstaat im Anschluss an ihre Einfuhr in den Mitgliedstaat, in dem der Freispruch ergangen ist, könne eine Handlung vorliegen, die – als zu dem 54
In den Rechtssachen Van Straaten, Gasparini, Kretzinger und Kraaijenbrink (wie Fn. 14). Ständige Rspr. seit EuGH (Fn. 14 – Van Esbroeck), NJW 2006, 1781 (1783 Abs. 42). 56 EuGH (Fn. 14), NJW 2006, 1781 ff.; zustimmend Kühne JZ 2006, 1018 und Radtke NStZ 2008, 162-164; siehe auch Schlothauer StV 2006, 393. 57 EuGH (Fn. 14), NJW 2006, 3406 (LS) = JZ 2007, 245 ff. mit Anm. Kühne. 58 EuGH (Fn. 14 – Van Straaten), NJW 2006, 3406 (LS) – im vollständigen Urteilsabdruck (abrufbar über juris) Abs. 53. 59 EuGH (Fn. 14 – Gasparini), NStZ 2007, 408 f. 60 EuGH (Fn. 14 – Van Straaten), NJW 2006, 3406 (LS). 61 „Vergehen“ ist nicht im technischen Sinne des § 12 Abs. 1 StGB gemeint. 55
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unlösbaren Tatsachenkomplex gehörend – Bestandteil derselben Tat sei,62 die bereits Gegenstand des Strafverfahrens in dem Erstverfolgungsstaat gewesen war. Dem entspricht das Urteil des Gerichtshofs vom 18.7.2007 im Fall Kretzinger,63 der den Schmuggel von Tabakwaren in einem Vertragsstaat und der anschließenden Einfuhr dieser Waren in einen anderen Vertragsstaat betraf. Der Angeklagte des Ausgangsverfahrens64 hatte in Griechenland von anderen Personen aus einem Nichtmitgliedstaat nach dorthin verbrachte Zigaretten übernommen und u.a. über italienisches und deutsches Staatsgebiet in das Vereinigte Königreich verbracht. Nach der Auslegung des EuGH können die fraglichen Handlungen insbesondere dann unter den Begriff „derselben Tat“ subsumiert werden, wenn der Angeklagte bereits von der ersten Übernahme der unverzollten Ware an vorhatte, sie durch mehrere Mitgliedstaaten an den endgültigen Bestimmungsort zu verbringen, ohne sie jemals zu verzollen.65 Das soweit ersichtlich bisher einzige Urteil, in dem der Gerichtshof das Vorliegen „derselben Tat“ nach Art. 54 SDÜ – vorbehaltlich der Prüfung der Voraussetzungen durch das zuständige nationale Gericht im Einzelfall – verneint hat, ist in dem Fall Kraaijenbrink66 ergangen. Die Angeklagte des Ausgangsverfahrens war wegen Besitz, Erwerb oder Übertragen von Einnahmen aus dem Handel mit Betäubungsmitteln in den Niederlanden zu einer kurzen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Das rechtkräftige Urteil des niederländischen Gerichts betraf den Tatzeitraum Oktober 1994 bis Mai 1995. Gegen die Angeklagte wurde später in Belgien ein weiteres Strafverfahren geführt, in dem ihr vorgeworfen wurde, in der Zeit zwischen November 1994 und Februar 1996 aus dem strafbaren Handel mit Betäubungsmittel in den Niederlanden stammende Geldbeträge in Wechselstuben in Belgien umgetauscht zu haben.67 Nach den Feststellungen und der rechtlichen Bewertung der belgischen Tatsachengerichte handelte es sich bei den in den beiden Mitgliedstaaten vorgeworfenen Taten um unterschiedliche Straftaten, die jedoch die aufeinander folgende und fortgesetzte Durchführung ein und desselben Vorsatzes zur Begehung einer Straftat seien. Wären die fraglichen Straftaten ausschließlich in Belgien begangen worden, wären sie dort rechtlich als eine Tat angesehen worden. Der EuGH stellte auf die Anfrage des belgischen Kassationsgerichtshofs (Hof van Cassatje) klar, 62
EuGH (Fn. 14 – Gasparini), NStZ 2007, 408 (409 Abs. 57). EuGH (Fn. 14 – Kretzinger), NStZ 2008, 166 (LS). 64 Das Urteil des EuGH ist auf Vorlagebeschluss des BGH v. 30.6.2005 – 5 StR 342/04, NStZ 2006, 106 ergangen, dazu Lagodny NStZ 2006, 109 und Wegner PStR 2005, 203. 65 EuGH (Fn. 14 – Kretzinger), NStZ 2008, 166 (LS) – im vollständigen Urteilsabdruck (abrufbar über juris) Abs. 37. 66 EuGH (Fn. 14 – Kraaijenbrink), NStZ 2008, 164 ff. 67 EuGH (Fn. 14 – Kraaijenbrink), NStZ 2008, 164 (165). 63
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dass es für die Identität der Tat nach Art. 54 SDÜ auf den untrennbaren Komplex der „materiellen Tat“ in räumlicher und zeitlicher Hinsicht ankomme.68 Fehle es an einer danach beurteilten Identität der Tatsachen, genüge ein einheitlicher Vorsatz des Täters nicht, um von einem Komplex unlösbar miteinander verbundener Tatsachen auszugehen. Der maßgebliche Grund für den EuGH das Vorliegen derselben Tat zu verneinen, war in dem Umstand begründet, dass es sich bei den jeweils betroffenen Geldbeträgen nicht sicher um identische oder jedenfalls teilidentische Gewinne aus Drogengeschäften handelte.69
3. Begründungslinien des EuGH Den vorstehend referierten europarechtlichen Tatbegriff stützt der Gerichtshof argumentativ auf den Wortlaut (in den verschiedenen Amtssprachen) und vor allem auf den Sinn und Zweck eines transnational, nahezu im gesamten Rechtsraum der Union geltenden Verbots der Mehrfachverfolgung. Der Wortlaut „dieselbe Tat“ („dezelde feiten“, „les mêmes faits“, „same acts“) weise im Gegensatz zu anderen internationalen Übereinkünften über den Grundsatz ne bis in idem, die Formulierungen wie „strafbare Handlung“ (Art. 14 Abs. 7 IPBPR) oder „Straftat“ (Art. 4 des Zusatzprotokolls Nr. 7 zur EMRK) verwenden, einen auf die Faktizität abstellenden Charakter auf.70 Diese Deutung ist ungeachtet der nicht völlig eindeutigen Wortwahl einiger Amtssprachen71 zustimmungsfähig, weil die große Mehrzahl der Amtssprachen ausdrücklich auf das idem factum Bezug nimmt.72 Entscheidend ist aber für den Gerichtshof, dass ein von normativen Bewertungen weitgehend freier faktischer Tatbegriff dem Zweck des Art. 54 SDÜ, das allen Unionsbürgern zustehende Recht auf Freizügigkeit innerhalb des einheitlichen Rechtsraums der Union in möglichst großem Umfang durch möglichst weitgehenden Ausschluss von Doppelverfolgungen derselben Tat in verschiedenen Mitgliedstaaten zu gewährleisten, besser gerecht wird als ein auf ein idem crimen rekurrierender Tatbegriff.73
68
EuGH (Fn. 14 – Kraaijenbrink), NStZ 2006, 164 (165 Abs. 28). EuGH (Fn. 14 – Kraaijenbrink), NStZ 2006, 164 (165 Abs. 31). 70 EuGH (Fn. 14 – Van Esbroeck), NJW 2006, 1781 (1782 Abs. 27 f.). 71 In der englischen Amtssprache heißt es „the same acts“, was sich jedenfalls auch in Richtung auf „the same offence“ deuten lässt; dazu näher Böse GA 2003, 744 (758 f.). 72 Lediglich exemplarisch die italienische Fassung „i medesime fatti“ und die portugiesische Fassung „pelos mesmos factos“; weitere Nachw. bei Böse GA 2003, 744 (758 Fn 105); siehe auch Liebau, „ne bis in idem“ in Europa (Fn. 12), S. 246 f.; Specht, Die zwischenstaatliche Anerkennung (Fn. 12), S. 159 ff. 73 EuGH (Fn. 14 – Van Esbroeck), NJW 2006, 1781 (1782 Abs. 34). 69
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III. Bewertungen Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt verdient die auf den Telos eines transnationalen Mehrfachverfolgungsverbotes gestützte Argumentation des EuGH für einen am idem factum abstellenden Tatbegriff grundsätzlich ebenso Zustimmung74 wie die Entscheidung für ein faktisches Verständnis des idem in Art. 54 SDÜ insgesamt vorzugswürdig ist.75 Ein auf das idem crimen bezogener transnationaler Tatbegriff führte unabhängig von der konkreten Ausgestaltung notwendig zu einer beträchtlichen Relativierung der von einem transnationalen Strafklageverbrauch für den betroffenen Beschuldigten oder Angeklagten ausgehenden Schutzwirkung. Das gilt unabhängig davon, ob die Identität des crimen nach den Recht des Erstverfolgungsstaates (ggf. auch des Zweitverfolgungsstaates)76 oder aufgrund eines eigenständigen transnationalen Verständnisses des idem crimen im Rahmen des Art. 54 SDÜ vorgenommen würde. Die Maßgeblichkeit des Tatbegriffs des Erstverfolgungsstaates entspräche einer in der Strafprozessrechtswissenschaft verschiedentlich erhobenen Forderung.77 Eine solche Lösung führte aber zu einem von der meist zufälligen zeitlichen Reihenfolge der Strafverfolgung und des entsprechenden Verfahrensabschlusses in den betroffenen Mitgliedstaaten abhängigen und damit zu einem je nach konkretem Verfahrensablauf unterschiedlichen Umfang des transnationalen Strafklageverbrauchs. Richtet sich der Strafklageverbrauch des Erstverfolgungsstaates nach der Identität des dort verfahrensgegenständlichen crimen, träte angesichts der Maßgeblichkeit der Identität der Straftat78 typischerweise ein Umfang des Strafklageverbrauchs ein, der hinter dem zurückbliebe, der mit einem auf der Identität des Lebenssachverhalts beruhenden Verständnis der prozessualen Tat verbunden ist. Ein solches von der Reihenfolge der Strafverfolgung in den involvierten Mitgliedstaaten abhängiges transnationales „ne bis in idem“ würde der Gewährleistung größtmöglicher Freizügigkeit für alle Unionsbürger kaum entsprechen. Damit bliebe, für Art. 54 SDÜ einen am idem crimen orientierten, aber von dem Tatverständnis der betroffenen Mitgliedstaaten entkoppelten eigenständigen europäischen Tatbegriff zugrunde zu legen.79 Eine solche 74
Radtke NStZ 2008, 162 (163 f.). Dafür bereits Radtke/Busch EuGRZ 2000, 421 (430); Radtke NStZ 2001, 662 (665). 76 Zu den grundsätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten Kniebühler, Transnationales „ne bis in idem“ (Fn. 12), S. 120 f. 77 Hecker StV 2001, 306 (309). 78 Zum Umfang des Strafklageverbrauchs in England aufgrund der autrefois convict/autrefois acquit-Regel siehe Kniebühler, Transnationales „ne bis in idem“ (Fn. 12) S. 108 f.; Liebau, „ne bis in idem in Europa“ (Fn. 12), S. 77-80. 79 Dafür etwa Van den Wijngaert/Stessens ICLQ 48 (1999), S. 779 (791 ff.); Böse GA 2003, 744, 761 f. 75
Der Begriff der „Tat“ im prozessualen Sinne in Europa
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Begriffsbestimmung ließe sich wiederum in den Details unterschiedlich gestalten; vorgeschlagen wurde eine strikte Ausrichtung an der Identität der Straftat (same offence)80 oder eine von den konkreten Strafvorschriften teilweise abstrahierende Betrachtung, die den Unrechtsgehalt der in den involvierten Mitgliedstaaten einschlägigen Strafvorschriften zum Maßstab der Identität erhebt.81 Von „derselben Tat“ im Sinne von Art. 54 SDÜ wäre nach dieser Auffassung dann auszugehen, wenn „die Handlung und das betroffene Rechtsgut sowie ggf. die Art des Angriffs (z.B. Verletzung oder abstrakte Gefährdung“) in beiden Tatbeständen im Wesentlichen gleich sind.“82 Ein solches (normatives) Verständnis der Tat im prozessualen Sinne, des idem, liegt im Kern auch der Rechtsprechung des EuGH zum Tatbegriff im europäischen Kartellrecht zugrunde.83 Bereits die unterschiedlichen inhaltlichen Konkretisierungen des im Kern auf ein idem crimen abstellenden Tatbegriffs lassen aber vor dem Hintergrund des Zwecks des transnationalen Strafklageverbrauchs die Bedenken gegen ein im Ausgangspunkt normatives Verständnis „derselben Tat“ hervortreten. Eine an der Identität der Straftat (im Sinne von „same offence“) ausgerichtetes Tatverständnis trüge zwar den Unterschieden in den materiellen Strafrechtsordnung der Mitgliedstaaten Rechnung und verhinderte den Strafklageverbrauch in Bezug auf solche Handlungen, die nach dem Strafrecht des Erstverfolgung aus materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Gründen dort nicht abgeurteilt werden konnten. Allerdings würde dieser vermeintliche Gewinn an materieller Gerechtigkeit erkauft durch eine erhebliche Rechtsunsicherheit84 sowohl für den Betroffen als auch für die Strafverfolgungsbehörden. Zumindest bei der horizontalen Wirkung des Grundsatzes „ne bis in idem“ zwischen verschiedenen Nationalstaaten lassen sich die in den nationalen Rechtsordnungen, denen ein idem crimen Verständnis des Strafklageverbrauchs zugrunde liegt, entwickelten Rechtsregeln zur Feststellung der Identität nicht ohne weiteres auf die transnationale Ebene übertragen. Exemplarisch sei auf das Verständnis des Strafklageverbrauchs im Sinne des Double Jeopardy im Sinne des 5. Amendments
80
Van den Wijngaert/Stessens ICLQ 48 (1999), S. 779 (792 f.). Böse GA 2003, 744, (762); in der Sache weitgehend übereinstimmend Thomas, Das Recht auf Einmaligkeit (Fn. 12), S. 225. 82 Böse GA 2003, 744 (762). 83 Dazu ausführlich Liebau, „Ne bis in idem“ in Europa (Fn. 12), S. 252-270; vgl. auch Dannecker, in: Immenga/Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, 1997., Art. 15 VO 17 Rn. 112. 84 Im Übrigen stehen im Kontext der materiellen Rechtskraft Gerechtigkeit und Rechtssicherheit keineswegs stets in einem Gegensatz; die Durchführung eines weiteren Verfahrens über dasselbe tatsächliche Geschehen führt nicht notwendig zu einer „gerechteren“ Entscheidung über die Sache; dazu Radtke, Systematik des Strafklageverbrauchs (Fn. 2), S. 41 ff. 81
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Henning Radtke
der US-Verfassung85 einerseits und des Strafklageverbrauchs nach der autrefois convict/autrefois acquit-Regel im englischen Strafrecht86 andererseits verwiesen. Trotz eines im Kern gemeinsamen idem crimen Verständnisses des Verbots der Doppelbestrafung in beiden Rechtsordnungen führt Double Jeopardy Strafklageverbrauch letztlich nur bei Identität der Tatbestandsvoraussetzungen der fraglichen Straftaten herbei. Die englische Regel führt dagegen anhand eines komplexen Kanons von für den Strafklageverbrauch maßgeblichen Kriterien letztlich zu einer Reichweite des Doppelbestrafungsverbots, die sich im Ergebnis kaum von dem einer Strafverfahrensordnung mit einem idem factum-Verständnis des Strafklageverbrauchs unterscheidet. Entscheidend ist jedoch, dass die knapp vorgestellten Regeln des Strafklageverbrauchs letztlich nur innerhalb des Gesamtkontextes der jeweiligen (Straf)Rechtsordnung des jeweiligen Nationalstaates handhabbar sind. Zum Beleg mag der Verweis auf den umfassenden Kriterienkatalog für die Anwendung der autrefois convict/autrefois acquit-Regel im englischen Strafrecht genügen. Solche Schwierigkeiten sind einem am idem crimen ausgerichteten Verständnis des Strafklageverbrauchs immanent. Sie können allenfalls durch den Rekurs auf den Unrechtsgehalt der jeweiligen Straftaten – statt auf die Identität der Tatbestandsmerkmale – gemindert, nicht aber aufgehoben werden.87 Die Auslegung des Begriffs „dieselbe Tat“ im Sinne von Art. 54 SDÜ seitens des EuGH als idem factum ist daher auch angesichts der vorstehend angedeuteten Schwierigkeiten der Handhabung eines idem crimenVerständnisses des Tatbegriffs vorzugswürdig.
IV. Offene Fragen Die grundsätzliche Zustimmung zu der Rechtsprechung des EuGH zum Tatbegriff des Art. 54 SDÜ darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese mindestens ebenso viele Fragen offen lässt wie die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur „rechtskräftigen Aburteilung“ auch.88 Eine dieser offenen Fragen zum faktischen Tatbegriff des EuGH resultiert aus der Vagheit des Kriteriums der „materiellen Tat“. Die zur inhaltlichen Ausfüllung ver85 Ausführlich Stuckenberg, Double Jeopardy – Das Verbot doppelter Bestrafung und Strafverfolgung im US-amerikanischen Recht, 2001, S. 17 ff. 86 Liebau, „Ne bis in idem“ in Europa (Fn. 12), S. 78-80. 87 Anders Böse GA 2003, 744 (762). 88 Etwa die Frage nach der Bedeutung des Sanktionselements bei staatsanwaltschaftlichen Einstellungsentscheidung (z.B. bei § 153 a StPO) oder die nach der eventuellen Berücksichtigung der – weit verstandenen – Wiederaufnahmeregelungen des Erstverfolgungsstaates; dazu Radtke/Busch NStZ 2003, 281 (286 f.).
Der Begriff der „Tat“ im prozessualen Sinne in Europa
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wendete Formel vom „Komplex unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem rechtlich geschützten Interesse“89 lässt im Hinblick auf die unlösbar miteinander verbundenen Tatsachen der Rechtsanwendung im Einzelfall erhebliche Spielräume – sowohl für den EuGH selbst als auch und erst recht für die letztlich zur Entscheidung berufenen nationalen Gerichte. Die weitere Konkretisierung, dass der untrennbare Komplex auf die materiellen Tatsachen hin in räumlicher und zeitlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck zu beurteilen sei,90 trägt nur in einem geringen Umfang zu einer Klärung des Umfangs des faktischen Tatbegriffs bei. Die Vagheit des Kriteriums zeigt sich selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der EuGH lediglich zur Vorabentscheidung über die Auslegung des SDÜ nicht aber zur Entscheidung des konkreten Ausgangsverfahrens berufen ist, an der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs selbst. So wurde in der Rechtssache Van Straaten91 dieselbe Tat wegen Identität der Tatsachen in einer Konstellation angenommen, in der in Bezug auf die verfahrensgegenständlichen Betäubungsmittel von den zuständigen nationalen Strafgerichten nicht sicher geklärt werden konnte, ob es sich bei den in den Niederlanden aufgefundenen Drogen zumindest um eine Teilmenge der Betäubungsmittel handelte, die der Angeklagte von Italien aus dorthin verbracht hatte. Identität des Tatobjekts ist also offenbar zumindest für den strafbaren Umgang mit Betäubungsmitteln keine notwendige Voraussetzung des transnationalen Strafklageverbrauchs gemäß Art. 54 SDÜ.92 Angesichts der recht großzügigen Annahme eines idem factum in dieser Sache ist die Entscheidung gegen das Vorliegen von Tatidentität in der Rechtssache Kraaijenbrink93 nicht ganz leicht nachzuvollziehen. Wie bereits berichtet war die Angeklagte des Ausgangsverfahrens in den Niederlanden bereits wegen Erwerbs, Besitzes oder Übertragens von Einnahmen aus dem Handel mit Betäubungsmittel verurteilt worden. Das nachfolgende belgische Strafverfahren bezog sich auf den Umtausch (Geldwäsche) von eben solchen Einnahmen aus dem Drogenhandel. Der dem niederländischen Strafverfahren zugrunde liegende Tatzeitraum lag bis auf einen Monat innerhalb des Zeitraums, auf den sich das später in Belgien betriebene Verfahren bezog. Allerdings war nicht eindeutig geklärt, ob den Verfahren in den beiden Mitgliedstaaten jeweils (in gegenständlicher Hinsicht) identische oder wenigstens teilidentische Gewinne zugrunde lagen.94 Da aber nach den Ausführungen in Van Straaten 89
Siehe nur EuGH (Fn. 14 – Van Esbroeck) NJW 2006, 1781 (1783 Abs. 42). EuGH (Fn. 14 – Kraaijenbrink), NStZ 2008, 164 (165 Abs. 29). 91 EuGH (Fn. 14), JZ 2007, 245 f. 92 Vgl. auch Kühne JZ 2007, 247. 93 EuGH (Fn. 14), NStZ 2008, 164-166. 94 EuGH (Fn. 14 – Kraaijenbrink) NStZ 2008, 164 (165 Abs. 31). 90
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Identität des Tatobjekts bzw. der Tatobjekte keine notwendige Voraussetzung „derselben Tat“ nach Art. 54 SDÜ ist, musste in Kraaijenbrink der Strafklageverbrauch nicht daran scheitern. In der Sache lässt sich die Verneinung des idem factum in letztgenannter Entscheidung aber damit begründen, dass sich der Vorgang des Sich-Verschaffens der Gewinne aus Geschäften mit Betäubungsmitteln in den Niederlanden in zeitlicher und räumlicher Hinsicht von dem späteren Inverkehrbringen dieser Gewinne in Belgien zum Zwecke der Geldwäsche durchaus unterscheidet. Anders als bei dem Transfer von Betäubungsmitteln von einem Mitgliedstaat in einen anderen geht es auch nicht um einen notwendig einheitlichen tatsächlichen Vorgang, der sich lediglich aus verschiedenen Einzelakten des Transports zusammensetzt. Selbst wenn die unterschiedlichen Ergebnisse in den beiden Urteilen akzeptabel sind, zeigen die Entscheidungen angesichts der Kargund Schlichtheit der rechtlichen Ausführungen des Gerichtshofs jedoch, dass inhaltliche Konkretisierungen des faktischen transnationalen Tatbegriffs des Art. 54 SDÜ durch die Rechtsprechung des EuGH noch dringend erforderlich sind. Das gilt erst recht angesichts des Umstandes, dass durch den an sich begrüßenswerten kategorischen Ausschluss des Rückgriffs auf die rechtliche Qualifizierung der Tatsachen und das rechtlich geschützte Interesse selbst schwache Anleihen an das materiell-rechtliche Verhältnis der Taten (Tateinheit/Tatmehrheit), wie sie für den ebenfalls faktischen Tatbegriff des deutschen Strafverfahrensrechts durchaus vorkommen,95 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 54 SDÜ nicht zulässig sind. Die zweite offene Frage ist grundsätzlicher Natur und stellt sich für eine am idem factum ausgerichteten Tatbegriff nicht nur in seiner vertikalen (internationales Strafrecht – nationales Strafrecht) sondern auch in seiner horizontalen Dimension im Verhältnis verschiedener Nationalstaaten zueinander. Die Frage betrifft den Umfang der richterlichen Kognitionspflicht in den fraglichen Strafverfahren.96 Während etwa in Bezug auf das deutsche Strafverfahrensrecht das Gericht grundsätzlich verpflichtet ist, den durch Anklage und Eröffnungsbeschluss unterbreiteten Lebenssachverhalt, in tatsächlicher Hinsicht vollständig aufzuklären und in rechtlicher Hinsicht unter jedem in Frage kommenden Gesichtspunkt zu würdigen, besteht nach dem Recht anderer Mitgliedstaaten eine solche umfassende Kognitionspflicht nicht. Vielmehr darf u.U. das zuständige Gericht den fraglichen 95 Dazu LR/Gollwitzer § 264 Rn. 6 ff.; Radtke, Systematik des Strafklageverbrauchs (Fn. 2), S. 95 ff. 96 In Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH Kühne JZ 2006, 1019 (1020); ders. JZ 2007, 247; vgl. auch Böse GA 2003, 744 (761); zur Bedeutung der gerichtlichen Kognitionspflicht für den Strafklageverbrauch Radtke, Systematik des Strafklageverbrauchs (Fn. 2), S. 107 ff. und 324 f.
Der Begriff der „Tat“ im prozessualen Sinne in Europa
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Lebenssachverhalt nur unter bestimmten rechtlichen Gesichtspunkten würdigen.97 Unabhängig von solchen Unterschieden in den nationalen Strafrechtsordnungen stellt sich aber generell auch für die horizontale Dimension eines internationalen Strafklageverbrauchs das in dessen vertikaler Dimension98 stets virulente Problem einer begrenzten gerichtlichen Kognitionspflicht. So ist bei transnationalen Lebenssachverhalten bei der Begründung der nationalen Strafgewalten allein über den Gebietsgrundsatz regelmäßig die Erstreckung der Kognitionspflicht des nationalen Strafgerichts auf die außerhalb des Staatsgebietes stattgefundenen Handlungen ausgeschlossen.99 Anderes würde nur dann gelten, wenn andere Anwendungsprinzipien, etwa das aktive Personalitätsprinzip oder das Weltrechtsprinzip, eine Ausdehnung der nationalen Strafgewalt auch auf die im Ausland begangenen Teile des Gesamtgeschehens zuließen. Fehlt es daran, würde eine auf einer begrenzten Aburteilungsbefugnis beruhende Entscheidung eines mitgliedstaatlichen Strafgerichts (oder einer Staatsanwaltschaft) bei Tatidentität nach dem idem factum-Kriterium des EuGH einen auf den gesamten untrennbaren Tatsachenkomplex bezogenen Strafklageverbrauch auslösen. Die zur Vermeidung dieser Konsequenz vorgeschlagene Lösung, dem Strafklageverbrauch nach Art. 54 SDÜ nur insoweit greifen zu lassen, wie das im Erstverfolgungsstaat zuständige Gericht die rechtliche Möglichkeit hatte, den unterbreiteten Lebenssachverhalt zu würdigen,100 ist angesichts der Abhängigkeit des Strafklageverbrauchs von dem Umfang der Aburteilungsbefugnis101 an sich folgerichtig. Sie korrespondierte auch mit der Regelung des Strafklageverbrauchs in der vertikalen internationalen Dimension nach Art. 20 IStGH.102 Allerdings entspricht diese Lösung nicht der Rechtsprechung des EuGH. Mit der Entscheidung für einen autonomen und in der Sache auf ein idem factum abstellenden europäischen Tatbegriff hat der Gerichtshof jedem Rückgriff auf das nationale Strafrecht der Mitgliedstaaten eine Absage erteilt. Ein solcher Rückgriff wäre aber mit der Begrenzung des Tatbegriffs über den Umfang der Aburteilungsbefugnis des zuständigen Strafgerichts im Erstverfolgungsstaat verbunden. Der Umfang des Strafklageverbrauchs würde in concreto danach divergieren, wie das nationale 97 Böse GA 2003, 744 (761) in Bezug auf England; allerdings ist nach dem bereits Ausgeführten (oben Text bei Fn. 86) darauf zu verweisen, dass nach der autrefois acquit/autrefois convict-Regel des englischen Strafverfahrensrechts der Strafklageverbrauch auch auf solche Straftaten bezieht, die in dem ersten Verfahren hätten mitangeklagt werden müssen. 98 Dazu Vogel, Festschrift für Schroeder, S. 877 (890). 99 Zutreffend Kühne JZ 2003, 1019 (1020). 100 Dafür etwa Kühne JZ 2006, 1019 (1020); Vogel, Festschrift für Schroeder, S. 877 (890). 101 Vgl. Radtke, Systematik des Strafklageverbrauchs (Fn. 2), S. 107 ff. 102 Dazu Ambos, Internationales Strafrecht, 2006, § 7 Rn. 7; Kreß, in: Grützner/Pötz (Hrsg.), IRG, Vor III 28 Rn. 28.
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Strafverfahrensrecht des Erstverfolgungsstaates die Aburteilungsbefugnis der Gerichte und der Staatsanwaltschaften ausgestaltet. Selbst wenn die Unterschiede in den Mitgliedstaaten insoweit nicht gravierend sein mögen, führte die Einbeziehung der Aburteilungsbefugnis dennoch zu einer Aufhebung eines unionsweit einheitlichen Umfangs des Strafklageverbrauchs. So wie der EuGH den Zweck des Art. 54 SDÜ bisher bestimmt und auf die Sicherung des Rechts der Unionsbürger auf Freizügigkeit fokussiert, will der Gerichtshof aber eine solche „Zersplitterung“ gerade ausschließen. Daher nochmals: so richtig dogmatisch die Begrenzung eines faktischen prozessualen Tatbegriffs über die Aburteilungsbefugnis ist, in der Rechtsprechung des EuGH ist sie nicht angelegt; im Gegenteil. Wie bei der Auslegung des Merkmals „rechtskräftig abgeurteilt“ deutet der Gerichtshof den Art. 54 SDÜ auch zum Tatbegriff in einer Weise, die zu einem Strafklageverbrauch führt, der im Umfang über den innerhalb der Nationalstaaten gewährten Standard hinausgeht. Rechtlich überzeugend ist das trotz der hier bekundeten Präferenz für einen über das idem factum bestimmten Tatbegriff des Art. 54 SDÜ nicht. Es bleibt die Hoffnung auf zukünftig differenziertere Auslegungsergebnisse aus Luxemburg.
Rechtsbeugung und Immunität UWE SCHEFFLER / KAMILA MATTHIES
Die wissenschaftlichen Wege des Jubilars haben sich mit meinen (Mitautor Scheffler) seit Mitte der neunziger Jahre mehrfach zufällig gekreuzt, worüber wir uns beide schon auf der Strafrechtslehrertagung in Berlin amüsierten. So hatten wir uns an der Wortlautgrenze getroffen,1 vor allem aber in den Niederungen des Rechtsbeugungstatbestandes. Insbesondere hatte es uns offenbar gleich der damals spektakuläre Fall der „Mutter Courage“ angetan, einer Amtsrichterin aus Syke, die es gelegentlich – horrible dictu! – unterlassen hatte, gegen nächtliche Raser auf einer gut ausgebauten Autobahn automatisch Fahrverbot zu verhängen, und deshalb von einer forschen Staatsanwaltschaft wegen Rechtsbeugung verfolgt wurde. (Seebode besprach in der Jura2 das Urteil des BGH,3 das den Freispruch des LG Verden bestätigte, den ich vorher in der NZV erörtert hatte.4) Denn später haben wir beide uns zugleich dann dem – so erschien es jedenfalls auf den ersten Blick – parallelen Fall eines fränkischen Amtsrichters gewidmet.5 Dass wir im Bereich der Rechtsbeugung häufig zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind, war mir immer eine wichtige Bestätigung, hat sich der Jubilar mit diesem tückischen Paragraphen doch viel länger als ich beschäftigt, wie schon seine vielzitierte Doktorarbeit dokumentiert.6 Aber zur Rechtsbeugung gibt es einen Aspekt, der mich seit einiger Zeit beschäftigt und den ich hier dem Jubilar zusammen mit meiner Mitautorin (die ihn viel besser darlegen kann, findet er sich doch in einer Rechtsordnung, in der sie weit mehr als ich zu Hause ist) zu Gehör bringen möchte – die (aus deutscher Sicht) kaum verständliche, völlig abweichende Regelung in unserem direkten Nachbarland Polen: 1
Scheffler Jura 1996, 505; Seebode JZ 1998, 781. Seebode Jura 1997, 418. 3 BGH NJW 1997, 1455. 4 Scheffler NZV 1996, 479. 5 Siehe BGHSt 44, 28 m. Anm. Seebode JZ 2000, 319 und Anm. Scheffler JR 2000, 117. 6 Seebode Das Verbrechen der Rechtsbeugung, 1969; s. auch ders. JuS 1969, 204; ders. ZRP 1973, 239. 2
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Uwe Scheffler / Kamila Matthies
I. Rechtsbeugung in Deutschland Greifen wir zuvor die „unbegreifliche“,7 „überraschende“8 Erosion der „Beugung des Rechts“ im heutigen § 339 StGB, die „seit Jahrhunderten und bis zu den Ansätzen der neuen Rechtsprechung im Jahre 1984 in Rechtsprechung, Lehre und Gesetzgebung einhellig nichts anderes meinte als jede unrichtige Rechtsanwendung“,9 und gegen die sich der Jubilar in so manchen Veröffentlichungen massiv gestemmt hat, auf:
1. Eindeutige Unvertretbarkeit Ausgangspunkt können hier die prägnanten Ausführungen des Kammergerichts zur Rechtsbeugung sein, das vor 20 Jahren „eindeutig ... Stellung bezogen“10 hat – im Sinne der sog. objektiven Theorie, die auch der Jubilar propagiert und von der aus, so müsste man eigentlich meinen, klare Ergebnisse zu erwarten sind: „Eine fehlerhafte Rechtsanwendung ist objektiv nur dann Rechtsbeugung, wenn die Auffassung des Richters nicht einmal vertretbar erscheint; sind mehrere Interpretationsmöglichkeiten gegeben, liegt der Tatbestand der Rechtsbeugung nur dann vor, wenn die Grenze des Vertretbaren eindeutig überschritten worden ist.“11
Nun ist die Grenze des Vertretbaren offenbar sicher dann noch nicht erreicht, wenn die fragliche Auffassung auch von anderen vertreten wird; das KG weiter (es ging um eine Mietsache): „Schon die StA hat aber in ihren Einstellungsbescheiden zutreffend darauf hingewiesen, daß die Rechtsfrage, ob das Verschuldensprinzip auch auf die fristlose Kündigung eines Mietverhältnisses wegen Zahlungsverzuges anzuwenden ist, nicht völlig einheitlich beantwortet wird. In einem Kommentar (vgl. Soergel, BGB, 11. Aufl., § 554 Rn. 5) wird auf einen Aufsatz von Derleder (NJW 1975, 1677) hingewiesen, der die Anwendung des Verschuldensprinzips – allerdings gegen die ganz herrschende Meinung – zu bejahen scheint.“
Was irgendwo vertreten wird (oder auch nur vertreten zu werden „scheint“), ist also auch vertretbar. Und da Originalität auch in der Rechts-
7
Seebode Jura 1997, 420. Seebode JZ 2000, 320. 9 Seebode Jura 1997, 420. 10 Seebode JR 1994, 1. 11 KG NStZ 1988, 557. 8
Rechtsbeugung und Immunität
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wissenschaft – noch12 – oberstes Gütekriterium ist, kann man von Dissertationen angefangen bis zu Festschriftbeiträgen schon erstaunlich kühne Rechtsauffassungen finden. Sogar in einer zunächst aussichtslos erscheinenden Strafverteidigung in einer Rechtsbeugungssache kann es für den Rechtsanwalt folglich ein hoffnungsvoller Ansatz sein, selbst am loco obscuro und in uralter Literatur zu suchen, ob nicht irgendein abseitiger Beitrag existiert,13 der das Handeln des Mandanten als „noch vertretbar“ bezeichnen lässt: „Der Beschuldigte hat sich dahin eingelassen, daß ihm dieser Aufsatz bekannt gewesen sei und er auch wisse, daß in einem anderen Erläuterungswerk (vgl. Sternel, Mietrecht IV, Rn. 268) dazu ausgeführt wird, daß die Ansicht von Derleder mit beachtlichen Argumenten begründet sei.“
Entgegen dem KG kann aber selbst dieser Zwischenschritt, der bei einer erst nachfolgenden erfolgreichen Recherche auch nicht der Wahrheit entspräche, weggelassen werden: Es geht nur um den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung. Jedenfalls auf der Basis der herrschenden objektiven Rechtsbeugungstheorie kann sich Handeln selbst in der sicheren, aber eben irrtümlichen Überzeugung des „Unvertretbarseins“ aufgrund der besonderen Deliktsstruktur des § 339 StGB nur als (strafloses) Wahndelikt darstellen. Ein Kollege bot mir deshalb einmal, als ich in einer Rechtsbeugungssache verteidigte (im Scherz natürlich, aber an sich völlig konsequent), an, „einen Aufsatz dazu zu schreiben“. Ein solches nachträgliches Elaborat hätte den Freispruch auf Grundlage dieser Rechtsprechung garantiert.
2. Bewusste Entfernung in schwerwiegender Weise vom Gesetz Nun geht der BGH – und vor allem hier setzt die Kritik Seebodes an – bekanntlich noch ein gutes Stück weiter. Auch eine unvertretbare, von niemandem vertretene Rechtsauffassung vorsätzlich zu vertreten, muss noch längst nicht den Rechtsbeugungstatbestand des § 339 StGB erfüllen: „Zweck der Vorschrift ist es, den Rechtsbruch als elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege unter Strafe zu stellen. Die Einordnung der Rechtsbeugung als Verbrechenstatbestand indiziert die Schwere des Unwerturteils und führt in der Regel im Falle der rechtskräftigen Verurteilung kraft Gesetzes zur Beendigung 12 Jüngst erdummen sich auch Juristische Fakultäten, wissenschaftliche „Leistungen“ für die Mittelzuweisung etwa nach der Zeichenzahl der Publikationen bemessen zu wollen, aber dies ist ein anderes Thema. 13 Um Missverständnisse zu vermeiden: Genauso wenig, wie die NJW eine fragwürdige Publikationsadresse ist, soll hier die Auffassung von Derleder als „abseitig“ klassifiziert werden (s. dazu Scheffler NStZ 1996, S. 67 Fn. 4)!
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Uwe Scheffler / Kamila Matthies
des Richter- oder Beamtenverhältnisses (§ 24 Abs. 1 DRiG, § 24 Abs. 1 BRRG). Mit dieser gesetzlichen Zweckbestimmung wäre es nicht zu vereinbaren, jede unrichtige Rechtsanwendung und jeden Ermessensfehler in den Schutzbereich der Norm einzubeziehen. Rechtsbeugung begeht deshalb nur der Amtsträger, der sich bewußt in schwerwiegender Weise vom Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an seinen eigenen Maßstäben ausrichtet.“14 Und dann unmissverständlich: „... die (bloße) Unvertretbarkeit einer Entscheidung begründet eine Rechtsbeugung nicht.“15
Es hätte danach also genügt, wenn der Aufsatz des Kollegen dargelegt hätte, dass ein solcher Rechtsverstoß nicht so elementar, die gebrochene Norm nicht so wichtig sei. Auf die „untragbaren Ungewißheiten“, die „unvorhersehbare Ungereimtheiten“ nach sich zögen, hat der Jubilar mahnend hingewiesen.16
3. Offensichtliche Verletzung von Menschenrechten Doch damit ist die letzte Stufe noch nicht erreicht. Der BGH erweiterte diese Rechtsprechung im Zusammenhang mit der justitiellen Aufarbeitung des sog. DDR-Unrechts, vordergründig wegen Erfordernissen des Rückwirkungsverbotes. Danach wird die Bestrafung wegen Rechtsbeugung „auf Fälle zu beschränken sein, in denen die Rechtswidrigkeit der Entscheidung so offensichtlich war und insbesondere die Rechte anderer, hauptsächlich ihre Menschenrechte, derart schwerwiegend verletzt worden sind, daß sich die Entscheidung als Willkürakt darstellt. Orientierungsmaßstab wird die offensichtliche Verletzung von Menschenrechten sein ...“17
Auch der Jubilar konnte nicht umhin, hier an das Krähenprinzip zu denken:18 Der Rechtsprechung „haftet ein Hautgout an. Sie begünstigt wider Text, Tradition und Geist des Gesetzes die Angehörigen der eigenen Berufsgruppe.“19 Ein Richter, der sich bei dieser Rechtslage der Rechtsbeugung überführen lässt, hat, etwas pointiert, die bei diesem Verbrechenstatbestand unabweisliche Folge des Verlustes des Richteramtes (§ 24 Nr. 1 DRiG) schon wegen exemplarischer Dummheit zu tragen!
14
BGHSt 38, 381 (383). BGH NJW 1997, 1455 mit Hinweis auf BGHSt 41, 247 (251) mwN. 16 Siehe Seebode JR 1994,1 ff.; insbes. S. 3. 17 BGHSt 40, 30 (41). 18 Siehe Seebode Jura 1997, 420 Fn. 17. 19 Seebode Jura 1997, 420. 15
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II. Richterliche Immunität in Polen Jedoch sind mir zwischenzeitlich Zweifel gekommen, ob der deutsche Rechtsbeugungsparagraph selbst in der beschriebenen „richterfreundlichen“ Auslegung wirklich als ein so außerordentlich „befremdliches Justizprivileg“ anzusehen ist, wie es der Jubilar im Anschluss an eine Formulierung aus der strafrechtlichen Lehrbuchliteratur eingeschätzt hat.20 Ausgangspunkt ist die an meinem Frankfurter Lehrstuhl übliche Beschäftigung auch mit Fragen des polnischen Rechts. Die Mitautorin Matthies (die im Folgenden die Federführung dieses Beitrages übernehmen wird; die wissenschaftliche Verantwortung tragen wir beide Autoren für den gesamten Text), machte mich schon frühzeitig darauf aufmerksam, dass das polnische Strafgesetzbuch, der „Kodeks karny“ (KK) von 1997, keinen eigentlichen Rechtsbeugungstatbestand kennt. Allerdings kann der polnische Richter gem. Art. 107 des Gesetzes über das Recht der Struktur der ordentlichen Gerichte von 27. Juli 2001 (vergleichbar dem deutschen GVG) wegen eines Dienstvergehens, insbesondere wegen offensichtlichen und groben Rechtsverletzungen, vor dem Disziplinargericht für die Richterschaft zur Verantwortung gezogen werden. Als Disziplinarstrafe kommt nach Art. 109 § 1 des genannten Gesetzes Ermahnung, Verweis, Verlust der ausgeübten Funktion, Versetzung oder Amtsverlust in Betracht. Insofern kann der polnische Richter selbst für kleinere Verstöße disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen werden21 – weitergehend, als § 26 DRiG dies in Deutschland zulässt.
In Art. 231 KK ist dann noch weiter geregelt, dass ein Amtsträger – d.h. auch ein Richter –, der seine Befugnisse überschreitet oder seine Pflichten nicht beachtet und zum Nachteil öffentlicher oder privater Interessen handelt, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden kann. Und ähnlich wie in Deutschland bei der Rechtsbeugung wird auch in Polen darüber diskutiert, wie „schwer“ die Überschreitung der Befugnisse sein muss, damit sich der Amtsträger (Richter) wegen dieser Vorschrift strafbar macht: Strafbar seien nur solche Verstöße, die als „gesellschaftsschädlich“ einzustufen sind. Art. 181 der heutigen polnischen Verfassung und Art. 81 des Gesetzes über das Recht der Struktur der ordentlichen Gerichte garantieren jedoch dem Richter, dass er ohne Zustimmung des schon erwähnten Disziplinargerichts für die Richterschaft ohnehin nicht strafrechtlich verfolgt werden darf. Der Richter darf grundsätzlich nicht festgehalten oder festgenommen 20
Seebode Jura 1997, 420; Bemmann/Seebode/Spendel ZRP 1997, 307. Siehe Góral/Górniok PrzestĊpstwa przeciwko instytucjom paĔstwowym i wymiarowi sprawiedliwoĞci, Kommentar, 2000, Art. 231 Rn. 7; Wąsek Kodeks karny, CzĊĞü szczególna, Kommentar, 2. Aufl. 2005, Art. 231 Rn. 9. 21
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werden (es sei denn, dass er auf frischer Tat ertappt wird und seine Festnahme für das weitere Verfahren unentbehrlich ist). Bis zur Entscheidung über die Bewilligung der strafrechtlichen Verfolgbarkeit sind nur die Maßnahmen erlaubt, die keine Verzögerung dulden. Diese Richterimmunität, auch in anderen osteuropäischen Rechtsordnungen nicht unbekannt, ist im polnischen Rechtssystem schon seit langer Zeit fest verankert. Sie wurde bereits im Jahre 1921 durch die sog. polnische Märzverfassung eingeführt. In der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wurde die Richterimmunität sogar als „Unantastbarkeit“ eines Richters bezeichnet.22 Die Immunität schützt den Richter vor Strafverfolgung nicht nur wegen des Verdachts der Rechtsbeugung (bzw. des Verstoßes gegen Art. 231 KK), sondern wegen aller möglichen anderen Straftaten – ein ausgesprochen weitreichendes Privileg! Die Immunität des Richters in Polen ist formeller Natur.23 Die Strafbarkeit eines Richters für begangene Straftaten wird zwar nicht aufgehoben. Eine strafrechtliche Verfolgung bzw. Ahndung und damit die Aufhebung der Immunität hängt jedoch vom Zustimmungserfordernis des Disziplinargerichts ab.24 Damit in Polen die Immunität aufgehoben werden kann, müssen gem. Art. 80 § 2c des Gesetzes über das Recht der Struktur der ordentlichen Gerichte die Vorwürfe „hoch dringend“ sein. Hierzu müssen vor allem hinreichende Beweise für die begangene Straftat vorliegen. Erst wenn das Disziplinargericht diese Voraussetzungen bejaht, kann es überhaupt erwägen, die Immunität aufzuheben. Eine Verpflichtung des Disziplinargerichts zur Aufhebung der Immunität besteht aber auch bei der Bejahung „hoch dringender“ Vorwürfe und dem Vorhandensein hinreichender Beweise gleichwohl nicht.
1. Kritik Diese Richterimmunität ist in Polen in den letzten Jahren zunehmend auf heftige Kritik in der Öffentlichkeit gestoßen25 – häufig angestoßen von Journalisten. Es wird einerseits bemängelt, dass generell Straftaten polnischer Richter der Immunität unterworfen seien. Denn sie gilt auch für Straftaten, die der
22
Vgl. Górecki http://www.krs.pl/admin/files/100132.doc. Winczorek Komentarz do Konstytucji, 2000, S. 237. 24 Winczorek Komentarz do Konstytucji, 2000, S. 237. 25 Vgl. Górecki http://www.krs.pl/admin/files/100132.doc. 23
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Richter völlig unabhängig von der Ausübung seines Amtes begangen hat, z.B. Trunkenheitsfahrten.26 Darüber hinaus wird beanstandet, dass die Immunität rechtstatsächlich nur relativ selten aufgehoben wird.27 Als ein Grund hierfür wird angeführt, dass die Disziplinargerichte ihrerseits mit Richter-„Kollegen“ der Betroffenen besetzt sind.28 Die Disziplinarrichter empfänden zu den anderen Richtern eine gewisse Solidarität.29 Es sei zu beobachten, dass die Disziplinargerichte ihre Entscheidung über die Aufhebung der Immunität bis zum Eintritt der Verjährung des jeweiligen Vorwurfs hinausschieben. Der Redakteur des Internetverlages „Afery Prawa“, Raczkowski,30 nennt in diesem Zusammenhang den Begriff des „Verjährungsspiels“ und kritisiert schroff: „Nur in ein paar von tausend Sachen wird das Verfahren bei den Disziplinargerichten (Disziplinarkammer) eingeleitet. Und da spielt man überwiegend auf Zeit und genauer gesagt ‚auf Verjährung’. Es herrscht da eine gewisse Überzeugung von Solidarität der richterlichen Clique, so wie bei einer Mafia – alle für einen, einer für alle. Der sich bestechenlassende Richter wird durch die (richterliche) Immunität geschützt – d.h. eigentlich durch die Freunde wird er geschützt. Nur in sehr extremen Fällen, wenn die Straftat von den Medien verfolgt wird und öffentlich wird, sind die Richterfreunde gezwungen, in der Sache zu erkennen und ein Urteil zu fällen (aber da man sich kennt [Beziehungen], nimmt man sowieso darauf Rücksicht). So entziehen sich die Richter der Verantwortung nicht nur bei Trunkenheitsfahrten, sondern auch im Falle einer Belästigung von Arbeitnehmer oder sogar bei der sadistischen Misshandlung eigener Familienmitglieder.“
a) Reform Angesichts dieser harschen Kritik scheint also auch in Polen das sog. Krähenprinzip nicht unbekannt zu sein. Im Gegenteil. Raczkowski geht in seiner Kritik noch über dieses hinaus und spricht im Verhältnis von Disziplinargericht und betroffenen Richter-(Kollegen) sogar von Mafiastrukturen 26 Siehe etwa CzabaĔski http://209.85.129.104/search?q=cache:-C7YYXOm3WMJ:jacekcz abanski.salon24.pl/10243,index.html+immunitet+sedzia+jazda+w+stanie&hl=de&ct=clnk&cd =4&gl=de. Zu CzabaĔski siehe unten Fn. 33. 27 Vgl. Raczkowski http://www.aferyprawa.com/index2.php?p=teksty/show&dzial=sady&id =193. 28 Vgl. Raczkowski http://www.aferyprawa.com/index2.php?p=teksty/show&dzial=sady&id =193. 29 Vgl. zu diesem Thema Raczkowski http://www.aferyprawa.com/index2.php?p=teksty/ show&dzial=sady&id=193. 30 Vgl. Raczkowski http://www.aferyprawa.com/index2.php?p=teksty/show&dzial=sady&id =193.
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und Korruption31 – Worte, die in Deutschland so wohl niemandem über die Lippen kommen. Kein Wunder, dass sich in Polen die Stimmen für eine umfassende Reform mehren: Domagalski betonte in einem Beitrag für die Zeitschrift Rzeczpospolita vom 20. September 2004, dass die Immunität ein Relikt des vergangenen Systems ist und heute nicht mehr haltbar sei.32 CzabaĔski33 weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Richterimmunität „Verwunderung“ bei den westlichen Ländern hervorrufe und typisch für die ostmitteleuropäischen Staaten sei. Es widerspreche der Idee einer Republik, wenn einige Menschen „über dem Recht stehen“ und über die strafrechtliche Verantwortung die „Kollegen“ und nicht das Gericht selbst entscheidet. Eine Änderung der jetzigen Rechtslage hat auch der Bürgerbeauftragte Kochanowski34 gefordert. Eine solche sei insbesondere deshalb notwendig, weil es mehrere Fälle gebe, in denen ein Richter wegen seiner Immunität nicht zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden könne.35 Er schlug eine Mittellösung vor. Die Immunität solle an sich bestehen bleiben. Der Richter müsse sich aber zuerst auf seine Immunität berufen. Danach müsse das Disziplinargericht diese bestätigen. Erst dann solle der Richter durch seine Immunität geschützt werden.
Auch der damalige Justizminister Ziobro schlug am 13. Oktober 2006 eine Gesetzesänderung vor. Polen habe die weitestverstandene Immunität in Europa, welche eingeschränkt werden müsse.36 Man solle sich an den Ländern orientieren soll, die keine Richterimmunität kennen. Er nannte als Beispiel Deutschland.37 Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Richterschaft im Hinblick auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren bevorzugt behandelt werden soll. Da jedoch die gänzliche Abschaffung der Institution der Immunität in absehbarer Zeit nicht durchsetzbar sei, solle die Immunität wenigstens auf eine schnellere Art und Weise aufgehoben werden können.38 Über die Immunität eines Richters müsse deshalb innerhalb von 24 Stunden
31 Vgl. Raczkowski http://www.aferyprawa.com/index2.php?p=teksty/show&dzial=sady&id =193. 32 Domagalski Rzeczpospolita vom 20.09.2004. 33 CzabaĔski war Berater des ehemaligen Justizministers Ziobro, siehe http://jacekczabanski .salon24.pl/10243,index.html. 34 http://www.rpo.gov.pl/pliki/1181047364.pdf. 35 Vgl. Kochanowski http://www.rpo.gov.pl/pliki/1181047364.pdf. 36 Vgl. Interview mit Ziobro in Radio Zet, in schriftlicher Form http://209.85.129.104/search ?q=cache:4qe-Dg1LqwYJ:www.pis.org.pl/article.php%3Fid%3D704+krajowa+rada+immunite t+stalinowskie&hl=de&ct=clnk&cd=1&gl=pl. 37 Vgl. Ziobro http://serwisy.gazeta.pl/kraj/1,65648,4178211.html. 38 Vgl. hierzu http://prawo.money.pl/aktualnosci/wiadomosci/artykul/ziobro;za;ograniczenie m;immunitetu;sedziow,209,0,243665.html.
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entschieden werden. Dies könne wenigstens verhindern, dass die Immunitätsaufhebungsverfahren zu lange dauern.39 Der Gesetzentwurf Ziobros wurde am 24. Mai 200740 durch Änderung des Art. 80 und Einfügung der Art. 80a § 1; 80b § 1, 80c in das Gesetz über das Recht der Struktur der ordentlichen Gerichte Gesetz. Die Entscheidung der Disziplinargerichte über die Aufhebung der Immunität (und Anordnung der Untersuchungshaft) sollte danach gem. Art. 80a dieses Gesetzes im Schnellverfahren (bis 24 Stunden) erfolgen. Voraussetzung dafür war, dass der Richter einer Straftat verdächtig wird, die mit einer Freiheitsstrafe bedroht ist, deren gesetzlich angedrohte Höchststrafe über acht Jahre liegt, und außerdem der Staatsanwalt den Erlass eines Haftbefehls beantragt.41 Der betroffene Richter hatte nach diesem Änderungsgesetz u.a. kein Recht, an dem „schnellen“ Immunitätsaufhebungsverfahren teilzunehmen.42 Sind die speziellen Voraussetzungen des Art. 80a des Gesetzes über das Recht der Struktur der ordentlichen Gerichte nicht gegeben, so muss das Gericht gem. Art. 80 § 2d des genannten Gesetzes über den Antrag auf Zustimmung zur strafrechtlichen Verfolgbarkeit (das Gesetz spricht von „strafrechtlicher Verantwortung“) innerhalb von 14 Tagen entscheiden. Diese Gesetzesänderungen wurden in der Richterschaft als „stalinistische Lösung“,43 als „wahnsinnige Idee“44 und „Beleidigung“ der Richterschaft45 bezeichnet. Auf diese Weise würden Richter mit „Fußballrandalen“ gleichgestellt, die innerhalb von 24 Stunden verurteilt werden können.46 Polen könne doch nicht z.B. mit Frankreich oder Belgien verglichen werden, wo es keine Richterimmunität gebe. Die Immunität solle – gerade zu heutigen Zeiten – die Gewähr der Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen geben.47 Die Richterimmunität werde durch dieses Gesetz illusorisch. Dadurch würden die Richter eingeschüchtert.48 Die Änderungen beschränkten den Richter in seiner Unabhängigkeit. Nur die Immunität garantiere seine Un39 Vgl. hierzu http://prawo.money.pl/aktualnosci/wiadomosci/artykul/ziobro;za;ograniczenie m;immunitetu;sedziow,209,0,243665.html. 40 Dziennik Ustaw 2001 Nr. 98 poz. 1070 mit Änderungen. 41 Vgl. Rede des damaligen Justizministers Ziobro am 25.05.2007 im Fernsehsender TVN24; kritisch hierzu Gardocki Gazeta.pl vom 28.05.2007. 42 Vgl. hierzu Siedlecka Gazeta Wyborcza vom 29.11.2008. 43 Vgl. hierzu das in Radio Zet gegebene Interview mit Ziobro, abdruckt unter http://209.85. 129.104/search?q=cache:4qe- Dg1LqwYJ:www.pis.org.pl/article.php%3Fid%3D704+krajowa +rada+immunitet+stalinowskie&hl=de&ct=clnk&cd=1&gl=pl. 44 Vgl. Gardocki http://www.polityka.pl/polityka/index.jsp?place=Lead30&news_cat_id=44 8&news_id=219829&layout=18&page=text. 45 Vgl. Gardocki http://wiadomosci.gazeta.pl/wiadomosci/1,53600,4181894.html. 46 Vgl. Gardocki Gazeta.pl vom 28.05.2007. 47 Vgl. Gardocki http://serwisy.gazeta.pl/tokfm/2029020,54123,4182028.html. 48 Vgl. Gardocki http://wiadomosci.gazeta.pl/wiadomosci/1,53600,4181894.html.
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abhängigkeit und die Freiheit seiner Entscheidungen. Sie müsse davor schützen, dass von Außen auf den Richter Druck, insbesondere durch die Instrumentarien des Strafprozessrechts, ausgeübt werde. Er habe vor unnötigen Ermittlungen geschützt zu werden, die nur auf vagen Vorwürfen basieren. Nur auf diese Weise könnten die Gerichte ordnungsgemäß funktionieren.49
b) Gegenreform Demzufolge beantragte der sog. Richterrat (eine Organisation, die die Wahrung der Richterunabhängigkeit überwachen soll, vergleichbar mit dem Deutschen Richterbund), die entsprechenden Vorschriften des Gesetzes über das Recht der Struktur der ordentlichen Gerichte für verfassungswidrig zu erklären.50 Die Vorschriften verstießen gegen Art. 178 der polnischen Verfassung, also gegen die Unabhängigkeitsgarantie eines Richters. Das polnische Verfassungsgericht hat nun tatsächlich am 28. November 2007 die Vorschriften über die 24-Stunden-Gerichte für Richter (insbesondere den Art. 80a) für verfassungswidrig erklärt.51 Dabei hat das Verfassungsgericht betont, dass ein solches schnelles Verfahren die Gefahr mit sich bringe, dass die Disziplinargerichte entweder viel zu schnell und unüberlegt über die Aufhebung der Immunität entscheiden oder die Aufhebung deshalb ablehnen, weil sie zu wenig Zeit haben, sich mit der Sache ordentlich zu befassen.52 Auch die Tatsache, dass der Richter kein Teilnahmerecht an dem Aufhebungsverfahren hat, sei verfassungsrechtlich zu beanstanden.53 Das polnische Verfassungsgericht hat zudem erwähnt, dass innerhalb der letzten sechs Jahre insgesamt nur 21 Immunitätsaufhebungsanträge aus den Gründen, die das neue Gesetz nennt, gestellt wurden. Für die insgesamt ca. 8.000 Richter in Polen sei das kein derartiger Zustand, der die Einführung von 24-Stunden-Gerichten rechtfertigen würde.54
Art. 80 § 2 des Gesetzes über das Recht der Struktur der ordentlichen Gerichte, also die Notwendigkeit der Entscheidung über die Zustimmung zur strafrechtlichen Verfolgbarkeit eines Richters innerhalb von 14 Tagen, behielt dagegen Bestand. 49
Banaszak Prawo konstytucyjne, Rn. 520. Vgl. Antrag des Richterrates, http://www.trybunal.gov.pl/index2.htm. 51 Das Verfassungsgericht Sygn. K 39/07 – bejahte einen Verstoß gegen formelle Verfahrensvorschriften. 52 Vgl. Siedlecka http://www.gazetawyborcza.pl/1,76842,4716594.html. 53 Kroner Rzeczpospolita vom 28.11.2007. 54 Vgl. hierzu Kroner Rzeczpospolita vom 28.11.2007. 50
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2. Befürwortung Die Entscheidung, weitgehend zur umfassenden Immunität zurückzukehren, entspricht auch Stimmen in der Literatur und der Praxis, die die Richterimmunität als zwingenden Bestandteil des Rechtssystems betonen. Die Notwendigkeit der Richterimmunität hat aus diesem Blickwinkel vor allem Górecki,55 stellvertretender Vorsitzender des Richterrates, näher dargelegt: Polen habe eine junge Demokratie. In Polen seien die Einflüsse der Geschäftsleute und Politiker viel zu stark. Sie verfügen über verschiedene außerprozessuale Mittel, den Richter zu beeinflussen. Er beruft sich in diesem Zusammenhang auf die gut funktionierende Richterimmunität in Litauen und Ungarn. Diese Länder haben auch wie Polen eine junge Demokratie. Górecki stellt auch fest, dass das Fehlen der richterlichen Immunität in anderen Ländern, wie z.B. Deutschland, zwingende Konsequenz abweichender Rechtssysteme sei. In diesen Ländern genössen die Richter ohnehin hohen Respekt in der Gesellschaft, so dass dort eine strafrechtliche Verfolgung praktisch so gut wie undenkbar sei. Es wäre – so Górecki – vollkommen inakzeptabel, wenn ein polnischer Richter als Beschuldigter in einem Privatklageverfahren angeklagt wäre, wo noch möglicherweise als Kläger eine Person fungiert, die in einer seiner Rechtssachen unterlegen ist. In der jüngsten Zeit seien aber solche Versuche, auf den Richter mittels einer Privatklage einzuwirken, öfter aufgetreten. Die Richterimmunität sei ein Instrument, das vor einer solchen Beeinflussung schützen soll. Ein Richter dürfe in seiner Arbeit nicht durch zweifelhafte Vorwürfe durch die Instrumente des Strafprozesses behindert werden.56
Górecki appelliert schließlich, dass dann, wenn die Richterimmunität in den schlechtesten Zeiten in der polnischen Geschichte funktioniert hat, ihre Funktionalität gerade in der Demokratie nicht angezweifelt werden dürfte.57 Auch andere betonten, dass es in Ländern wie Deutschland, Frankreich und Belgien deshalb keine Richterimmunität gebe, weil dort „niemals jemand auf die Idee kommen würde, einen Richter wegen zweifelhafter Vorwürfe strafrechtlich zu belangen“. Die Situation in Polen sei mit diesen Ländern noch nicht vergleichbar.58
55
http://www.krs.pl/admin/files/100132.doc. Vgl. Górecki http://www.krs.pl/admin/files/100132.doc; WaltoĞ Rzeczpospolita vom 20.09.2004 sieht dagegen kein Risiko, dass das Strafverfahren gegen einen polnischen Richter ausgenutzt werden könnte. 57 Vgl. Górecki http://www.krs.pl/admin/files/100132.doc. 58 Siehe hierzu den Beitrag in der Gazeta Wyborcza http://serwisy.gazeta.pl/kraj/1,65648,41 78211.html. 56
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HyĪy 59 hebt in der „ĩycie Wielkopolski“ die Aussage Dehmels, Leiter der Kontrollabteilung des Wojewodschaftsamtes PoznaĔ, hervor, dass die Hoffnung in den jüngeren Richtern liege. Sie hätten eine andere Mentalität, so dass sich die Situation in Polen langsam verändere. Sie zitiert aber auch die Aussage des Verfassungsgerichtspräsidenten, der die Marktwirtschaft, den Kapitalismus und andere neue Lebensbedingungen als einen Gefahrfaktor für die Unabhängigkeit des Richters sieht.
III. Schlussbetrachtung Unsere kleine Tour d’Horizon durch die aktuelle polnische Diskussion dürfte klargestellt haben: Die Richterimmunität mag ein geeignetes, vielleicht sogar erforderliches Mittel für ein Land ohne langjährig gefestigte demokratische und rechtsstaatliche Tradition sein. Hier kann die richterliche Unabhängigkeit gegebenenfalls die Absicherung benötigen, dass kein Richter fürchten muss, auch nur indirekt strafrechtlich unter Druck gesetzt zu werden. Die eigentlich maßlos übertrieben erscheinende Reaktion, den Gesetzentwurf Ziobros gleich als „stalinistische Lösung“ zu bezeichnen, mag hiervon Zeugnis ablegen. Demgegenüber genügt es in „reifen“ Staats- und Rechtsordnungen angesichts der sog. Sperrwirkung des Rechtsbeugungstatbestandes – Seebode spricht hierbei prägnant von „Schutzfunktion“60 – bzgl. tateinheitlich verwirklichter Tatbestände (z.B. Freiheitsberaubung bei gesetzwidrig angeordneter Untersuchungshaft),61 den Richter davor in Obhut zu nehmen, für Fehler, für bloße Rechtsirrtümer strafrechtlich verfolgt zu werden. Soweit die Theorie. Reichte aber in Deutschland tatsächlich der Schutz des Richters durch einen „schlanken“ Rechtsbeugungstatbestand, wie vom Jubilar so nachdrücklich eingefordert? Immerhin wäre zu bedenken, dass immer wieder aus Kreisen der Politik mit dem Rechtsbeugungsparagraphen (und der Entlassung aus dem Beamtenverhältnis als „Annex“!) gedroht wird, missfällt eine Entscheidung. Die Schelte etwa des „Kruzifix“-Urteils des BVerfG sowie der „Sitzblockaden“- oder „Soldaten-sind-Mörder“Entscheidungen des BGH aus den 1990er Jahren sind noch gut im Gedächtnis.62 Doch es trifft nicht nur Bundesrichter, sicher stark genug, solche Anwürfe zu ignorieren. In Brandenburg etwa wünschen regional mächtige Parteigeneralsekretäre lautstark auch „kleine“ Amtsrichter auf der Anklage59
http://www.mateusz.pl.wdrodze/nr332/10-wdr.htm. Seebode Jura 1997, 421. 61 Siehe etwa OLG Düsseldorf NJW 1990, 1374. 62 Siehe näher Scheffler NStZ 1996, 70. 60
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bank zu sehen, wenn die in Betäubungsmittel-Sachen nicht ihren Law-andOrder-Vorstellungen entsprechend ruck-zuck aburteilen.63 Wäre es ein Wunder, wenn die BGH-Richter es auch angesichts solcher leider bei uns noch immer existenten politischen Kultur für erforderlich erachteten, durch exzessive Auslegung des § 339 StGB einen Schutzzaun als eine Art Immunisierung um inkriminierte Kollegen zu bauen?
63
Siehe Tagesspiegel vom 17.07.2004.
Unberechenbares Strafrecht Vermeidbare Bestimmtheitsdefizite im Tatbestand der Vorteilsannahme und ihre Auswirkungen auf die Praxis des Gesundheitswesens HENDRIK SCHNEIDER
I. Vorbemerkungen Die Maxime der „Berechenbarkeit des Strafbaren“1 ist ein kriminalpolitisches Leitmotiv im umfangreichen, mittlerweile vier Jahrzehnte umspannenden wissenschaftlichen Werk des Jubilars.2 Sie richtet sich zunächst an den Gesetzgeber und „fordert für ein verfassungsgemäßes Strafgesetz so exakte und so eindeutig wie eben möglich gefasste Voraussetzungen des Eingriffs in die Freiheit des Bürgers, dass ihm die vom gesetzesgebundenen Richter aufzuerlegende Belastung voraussehbar, berechenbar und messbar ist“. In Bezug auf die Auslegung der Strafgesetze folgt aus der Berechenbarkeitsmaxime eine Bindung an den Gesetzeswortlaut und zwar „an den Wortsinn, der sich nach allgemeinem Sprachgebrauch aus Sicht des Bürgers ergibt“.3 In verschiedenen Aufsätzen und Entscheidungsrezensionen hat Manfred Seebode „missglückte“4 Straftatbestände identifiziert, in ihnen die entscheidenden rechtsstaatlichen Mängel und Verstöße gegen die Bere1 Seebode, Zur Berechenbarkeit der strafrechtlichen Hilfspflicht (§ 323c StGB); in: Hirsch/Wolter/Brauns (Hrsg.): Festschrift für Günter Kohlmann, Köln 2003, S. 279-294. 2 Vgl. zum Beispiel Seebode, Anm. z. Urt. des OLG Karlsruhe v. 28.09.1972 (§§ 170 b, 170 d StGB, 1360, 1606 BGB), JZ 1973, 601-604; ders., Zur gesetzlichen Bestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts, in: Seebode (Hrsg.): Festschrift für Günter Spendel, Berlin, New York 1992, 317-347, 321; ders., Rechtsbeugung und Rechtsbruch, JR 1994, 1-6, 3; Bemmann/Seebode/Spendel, Rechtsbeugung – Vorschlag einer notwendigen Gesetzesreform, ZRP 1997, 307f.; Seebode, Wortlautgrenze und Strafbedürfnis. Die Bedeutung des Wortlauts der Strafgesetze am Beispiel eigennütziger Strafvereitelung, JZ 1998, 781-783; ders., FS-Kohlmann (Fn. 1); ders., Anm. z. Beschl. des BVerfG v. 21.11.2002 – 2 BvR 2202/01 (Strafvereitelung im Amt bei außerdienstlich erlangter Kenntnis von einer Straftat), JZ 2004, 303-309. 3 Seebode, FS-Kohlmann (Fn. 1) 2003, S. 280. 4 Seebode, FS-Kohlmann (Fn. 1) 2003, S. 281.
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chenbarkeitsmaxime aufgezeigt und gleichzeitig dogmatisch eindrucksvolle Wege der Vermeidbarkeit von Bestimmtheitsdefiziten entwickelt.5 Ein dem Verfasser dieses – Manfred Seebode mit den herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag gewidmeten – Beitrages auch aus der Praxis geläufiges Beispiel unberechenbaren Strafrechts betrifft die Neufassung der §§ 331 ff. StGB durch das „Korruptionsbekämpfungsgesetz“ aus dem Jahr 1997.6 Die Reform des „Korruptionsstrafrechts“7 durch dieses Gesetz8 aus Anlass des so genannten „Herzklappenskandals“9 hat insbesondere im Gesundheitswesen für Verunsicherung gesorgt. Hinsichtlich der spiegelbildlich aufgebauten Straftatbestände der Vorteilsannahme (§ 331 StGB) und der Vorteilsgewährung (§ 333 StGB) sind die Grenzen der zulässigen Kooperation zwischen den als Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB in Universitätskliniken, Kreis-, Bezirks-, oder städtischen Krankenhäusern tätigen Ärztinnen und Ärzte10 einerseits und der Medizinprodukte- und Pharmaindustrie andererseits auch mehr als 10 Jahre seit dem Inkrafttreten der reformierten Vorschriften unklar.11 Die fehlende Berechenbarkeit der einschlägigen Vorschriften folgt aus einer Änderung zweier Tatbestandsmerkmale des § 331 StGB, die kriminalpolitisch als Lösung 5
Vgl. die in Fn. 2 zitierten Arbeiten des Jubilars. Gesetz zur Bekämpfung der Korruption vom 13.08.1997, BGBl. I 2039; kritisch zur bellizistischen Rhetorik der modernen Gesetzgebung: Schneider, in: Göppinger: Kriminologie, 6. Aufl. 2008, § 30, Rn. 9. 7 In der Praxis und im rechtspolitischen Diskurs werden die in diesem Beitrag erörterten Fragestellungen unter dem Begriff der „Korruption“ diskutiert. Deshalb wird auch hier dieser Terminologie gefolgt, obgleich ein strafrechtlicher Terminus der Korruption nicht existiert und das Wort „als Sammelbecken für höchst unterschiedliche Konstellationen“ fungiert (Hettinger, Das Strafrecht als Büttel? Fragmentarische Bemerkungen zum Entwurf eines Korruptionsbekämpfungsgesetzes des Bundesrats vom 3.11.1995, NJW 1996, 2263-2273, 2265). 8 Zusammenfassende Darstellung der Entwicklung der Gesetzgebung bei Möhrenschlager, in: Dölling (Hrsg.): Handbuch der Korruptionsprävention 2007, S. 413. 9 Näher: Dieners/Lembeck/Taschke, Der „Herzklappenskandal“ – Zwischenbilanz und erste Schlussfolgerungen für die weitere Zusammenarbeit der Industrie mit Ärzten und Krankenhäusern, PharmR 1999, 156-171; Dietrich, Herzklappen: Drittmittel und Bürokratie, Deutsches Ärzteblatt 44/97 v. 03.11.00, Seite A-2898, ferner Albus, Die Zusammenarbeit zwischen Industrie und Ärzten an medizinischen Hochschuleinrichtungen – unter dem Verdacht der Vorteilsannahme und Bestechlichkeit gem. §§ 331, 332 StGB, Baden-Baden 2007. 10 Vgl. zur Amtsträgereigenschaft eines Oberarztes in einem Kreis- bzw. Universitätskrankenhaus, Hans. OLG Hamburg, Beschl. v. 14.01.00 – 2 Ws 243/99, MedR 2000, 371; BGH Urt. v. 19.10.1999 – 1 StR 264/99, NStZ 2000, 90 = wistra 2000, 22; ferner OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.10.2000 – 2 Ws 304/99, NStZ-RR 2001, 144. 11 Zu aktuellen Ermittlungsverfahren vgl. z.B.: Süddeutsche Zeitung vom 14.04.07, eine aktuelle Bestandsaufnahme zur Korruption im Gesundheitswesen kann ferner dem von Transparency International herausgegebenen „Global Corruption Report 2006“ entnommen werden (dt. Übersetzung: Transparency International (Hrsg.): Jahrbuch Korruption 2006, Schwerpunkt: Gesundheitswesen, Berlin 2006). 6
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strafprozessualer Probleme durch eine Korrektur des materiellen Rechts interpretiert werden kann. Während nach altem Recht die Strafbarkeit des Amtsträgers daran geknüpft war, dass der Amtsträger den Vorteil als Gegenleistung für eine konkrete Diensthandlung forderte, annahm oder sich versprechen ließ, genügt es seit 1997, wenn der Vorteil für die Dienstausübung gefordert, angenommen oder versprochen wird. Außerdem ist es nicht mehr erforderlich, dass die Vorteilsgewährung den Amtsträger zumindest mittelbar persönlich besser stellt. Vielmehr ist nach der gegenwärtig geltenden Fassung des § 331 StGB auch der einem Dritten zugewendete Vorteil tatbestandsmäßig. Begründet wurde diese erhebliche Öffnung der Straftatbestände mit den in Korruptionsverfahren häufig gegebenen Beweisschwierigkeiten.12 Das Synallagma zwischen Diensthandlung und Vorteilsgewährung sei in der Praxis oft nur schwer nachweisbar.13 Werde der Vorteil einem Dritten gewährt, sei es zudem schwierig, eine persönliche Besserstellung des Amtsträgers zu beweisen. Im Zuge einer „effektiven Korruptionsbekämpfung“ wurde es daher nicht nur für erforderlich erachtet, das materielle Recht entsprechend anzupassen. Der Gesetzgeber entschied sich darüber hinaus auch für die Anhebung des Strafrahmens, der nunmehr Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren gegenüber Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren nach der alten Rechtslage vorsieht. Die Gesetzesänderung wirft die Frage auf, wie die Rechtsprechung das neue Recht auslegt und inwieweit es ihr gelungen ist, den Tatbestandsmerkmalen der §§ 331 und 333 StGB die erforderlichen Konturen zu verleihen (II., 1.). Insbesondere aus kriminologischer Sicht ist darüber hinaus von Interesse, wie das Gesundheitswesen auf das moderne, „elastische“ Korruptionsstrafrecht reagiert hat und welche Folgerungen sich hieraus für die einzelnen Kooperationsfelder, das heißt zum Beispiel die Drittmittelforschung, die Finanzierung von Fortbildungsveranstaltungen und Kongressen, Sachzuwendungen seitens der Medizinprodukte- und Pharmaindustrie oder für die Durchführung klinischer Studien ergeben (II., 2.). Im Anschluss an diese Bestandsaufnahme wird dem Anliegen Seebodes folgend, der Versuch 12 BT-Drucks. 13/8079, S. 15; die Änderung basiert auf einem Beschluss des 61. Deutschen Juristentages, vgl. Dölling, Gutachten 61. DJT, C 64 1996 „Empfehlen sich Änderungen des Straf- und Strafprozessrechts, um der Gefahr von Korruption in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wirksam vorzubeugen, NJW 1996, Beilage zu Heft 23; ders., Die Neuregelung der Strafvorschriften gegen Korruption, ZStW 112 (2000), 334-355; grundlegend zur Problematik des Einbezugs von Drittvorteilen: Wentzell, Zur Tatbestandsproblematik der §§ 331, 332 StGB unter besonderer Berücksichtigung des Drittvorteils, 2004. 13 Vgl. Ambos, Zur Strafbarkeit der Drittmittelakquisition, JZ 2003, 345-354, 349 mit weiteren Nachweisen in Fußnote 85; grundlegend Haeser, Erfahrungen mit der neuen Rechtslage im Korruptionsstrafrecht und Drittmittelrecht – aus Sicht des Staatsanwalts, MedR 2002, 55-59, 57.
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unternommen, den nach wie vor bestehenden Bestimmtheitsdefiziten durch eine einschränkende Auslegung des § 331 StGB zu begegnen (III.).
II. Die Auswirkungen der §§ 331 ff. StGB auf die Kooperation im Gesundheitswesen 1. Die Auslegung des § 331 StGB durch die höchstrichterliche Rechtsprechung a. Der Begriff des Vorteils Bereits der Begriff des Vorteils wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung weit ausgelegt. Vorteil im Sinne der Normen des Korruptionsstrafrechts ist jede Leistung, „auf die der Amtsträger keinen Anspruch hat und die seine wirtschaftliche, rechtliche oder auch nur persönliche Lage objektiv verbessert“.14 Über das Prinzip der Sozialadäquanz werden lediglich Zuwendungen unter der Schwelle von 25,- €15 aus dem Vorteilsbegriff ausgeschieden.16 Ausgehend von dieser Definition hat sich auch in Bezug auf die Kooperationsbereiche im Gesundheitswesen eine reichhaltige Kasuistik entwickelt. So ist insbesondere seit der den Leiter der Abteilung Herzchirurgie der Heidelberger Universitätsklinik betreffenden Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs zur Drittmittelforschung anerkannt, dass die Zahlung von Geldern an einen Förderverein einen mittelbaren Vorteil darstellt, wenn ein ärztlicher Direktor einer Klinik oder z.B. der Chefarzt Einfluss auf die Verwendung der Gelder hat.17 Werden die dem Förderver14 St. Rechtspr., vgl.: BGHSt 47, 295, 304 (Urt. v. 23.05.2002 – 1 StR 372/01); OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.03.2000 – 2 Ws 181/99, NJW 2001, 907; OLG Köln, Beschl. v. 21.09.2001 – 2 Ws 170/01, MedR 2002, 413, 414. 15 Vgl. zu dieser Grenze: Korte, in: Dölling (Hrsg.): Handbuch der Korruptionsprävention, S. 320, Tröndle/Fischer, 55. Aufl. 2008, § 331, Rn. 26 (30 €); 50. Aufl. 2001, Rn. 26 (50 DM); kritisch gegenüber der Begrenzung auf eine bestimmte Summe: Otto, Grundkurs Strafrecht, BT, 7. Aufl. 2005, § 99, Rn. 14. 16 Ansätze zu einer restriktiven Auslegung des Vorteilsbegriffs finden sich demgegenüber bei Lackner/Kühl, § 331, Rn. 6a; Lüderssen, Antikorruptions-Gesetze und Drittmittelforschung, JZ 1997, 112-120; ders., Die Zusammenarbeit von Medizinprodukte-Industrie, Krankenhäusern und Ärzten – strafbare Kollusion oder sinnvolle Kooperation? Stuttgart 1998, S. 39; ders., Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts II; Baden Baden 2007, S. 145; zur Einschränkung über die Annahme eines „übergesetzlichen Rechtfertigungsgrundes“ vgl. Cramer, Zum Vorteilsbegriff bei den Bestechungsdelikten, FS-Roxin 2001, S. 945-951, 948f.; Schönke/Schröder-Cramer, (26. Aufl.) § 331, Rn. 53, a.A. aber Schönke/Schröder-Heine (27. Aufl.), § 331, Rn. 53. 17 BGHSt 47, 295 (Fn. 14) mit Besprechung Ambos (Fn. 13), JZ 2003, 345; Bruns, Drittmittel der Industrie – Strafbarkeit von Krankenhausärzten, ArztRecht 2003, 93-104; Michalke, Drittmittel und Strafrecht – Licht am Ende des Tunnels? NJW 2002, 3381f.; Korte, Anmer-
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ein zugedachten Mittel benutzt, um Auslagen für Kongressreisen von Mitarbeitern zu ersetzen oder Einrichtungen und Geräte zu beschaffen, so liegt eine objektiv messbare Verbesserung der Arbeits- und Forschungsbedingungen vor, die nach Auffassung des Bundesgerichtshofs schon nach der alten Rechtslage zur Annahme eines mittelbaren Vorteils ausreicht. Da heute die Annahme von Drittvorteilen tatbestandsmäßig ist, kommt es schon grundsätzlich nicht mehr darauf an, ob die Vorteile dem Täter auch nur mittelbar persönlich zugute kommen.18 Ein solcher Drittvorteil liegt schließlich auch dann vor, wenn der für ein Drittmittelprojekt zugewendete Betrag auf ein Konto der Universitätsverwaltung oder – wie dies etwa bei akademischen Lehrkrankenhäusern der Fall ist – der Klinikleitung überwiesen wird. Auf die Tatsache, dass solche Gelder in der Regel auf der Grundlage einer vertraglichen Vereinbarung gezahlt werden, die einen Anspruch des Amtsträgers oder des Trägers der Einrichtung auf die Zuwendung begründen, kommt es nach der Rechtsprechung entgegen anders lautender Stimmen eines Teils der Literatur19 nicht an, weil Korruptionstatbestände nicht durch gegenseitige Verträge ausmanövriert werden sollen und bereits das Angebot auf Abschluss eines derartigen Vertrages, soweit der Amtsträger hierauf keinen Anspruch hat, als Vorteil gewertet wird. Aus diesem Argument folgert die Rechtsprechung zugleich, dass die Offerte einer Nebentätigkeit, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Durchführung einer klinischen Studie oder auch nur dem Abhalten eines Vortrakungen zu BGHSt 47, 295, NStZ 2003, 156ff.; Kuhlen, Untreue, Vorteilsannahme und Bestechlichkeit bei Einwerbung universitärer Drittmittel – zugleich eine Anmerkung zu den Urteilen des BGH vom 23.5.2002 und vom 23.10.2002, JR 2003, 231-237; Rönnau, Untreue und Vorteilsannahme durch Einwerbung von Drittmitteln? – BGH, NJW 2002, 2801, JuS 2003, 232-237; Tholl, Anmerkungen zu BGHSt 47, 295, wistra 2003, 181f. 18 Vgl. Tag, Drittmitteleinwerbung – strafbare Dienstpflicht? Überlegungen zur Novellierung des Straftatbestandes des Vorteilsannahme, JR 2004, 50-57, 52: „Mit dem Einbezug des Drittvorteils haben die feinsinnigen Abgrenzungen von unmittelbarem, mittelbarem, materiellem und immateriellem Vorteil deutlich an Bedeutung verloren. Durch die Gesetzesänderung ist es kaum noch möglich, an die Grenzen des Wortsinns zu stoßen. Da es praktisch keine Vorteilsgewährung gibt, die nicht mit irgendeinem Nutzen für den Forscher oder einen Dritten verbunden ist, wird nahezu jeder Vorteil erfasst.“. 19 Lüderssen (Fn. 16), JZ 1997, 114; ders., Die Zusammenarbeit von MedizinprodukteIndustrie, Krankenhäusern und Ärzten – strafbare Kollusion oder sinnvolle Kooperation? Stuttgart 1998, S. 39; vgl. auch dens., Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts II; Baden Baden 2007, S. 145; Günter, Unbegründete Ängste der Klinikärzte und der pharmazeutischen Industrie vor den Änderungen des Antikorruptionsgesetzes, MedR 2001, 457-459, 458; Verrel, Überkriminalisierung oder Übertreibung? Die neue Furcht vor Korruptionsstrafbarkeit in der Medizin; MedR 2003, 319-326, 322; Zieschang, Rezension von Lüderssen: Die Zusammenarbeit von Medizinprodukteindustrie usw., JZ 2000, 95; ders., Anmerkung zu OLG Karlsruhe, Beschl. V. 30.03.2000 – 2 Ws 181/99 (StV 2001, 288-290), StV 2001, 290-292, 291; Darstellung des Meinungsstandes bei Albus (Fn. 9), S. 79ff.
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ges auf einer Tagung, einen tatbestandsmäßigen Vorteil darstellt.20 Ob insgesamt strafwürdiges Unrecht vorliegt, ist freilich in allen genannten Kooperationsbereichen von anderen Tatbestandsvoraussetzungen abhängig.
b. Der Zusammenhang mit der Dienstausübung Im Unterschied zur früheren Rechtslage muss nach § 331 Abs. 1 StGB in der Fassung des Korruptionsbekämpfungsgesetzes der Vorteil nicht mehr mit einer Diensthandlung, sondern lediglich mit der Dienstausübung in Zusammenhang stehen. Die so genannte „Unrechtsvereinbarung“21 zwischen Vorteilsgeber und Vorteilsnehmer ist daher in der Neufassung des § 331 StGB hinsichtlich der Bindung des Vorteils an die Gegenleistung des Amtsträgers gelockert worden. Sie kann auch durch schlüssiges Verhalten22 getroffen werden und braucht die Diensthandlung in „ihrem sachlichen Gehalt“ noch nicht näher „festzulegen“.23 Vielmehr genügt heute eine Zuwendung „zur Klimapflege“,24 bzw. ein so genanntes, in der Praxis durchaus oft wörtlich zu nehmendes „Anfüttern“, durch das die Geneigtheit des
20 BGH, Urt. v. 25.02.2003 – 5 StR 363/02, NStZ-RR 2003, 171 = wistra 2003, 303: „Soweit das LG indes mit Blick auf eine angemessene Honorierung dieser Nebentätigkeiten (Honorarzahlungen und Nebenkostenerstattungen für Fachvorträge; Bezahlung der Organisation von Fortbildungsveranstaltungen, H.S.) einen Vorteil im Sinne des § 331 Abs. 1 StGB ausschließen wollte, lässt diese Folgerung außer acht, dass ein solcher Vorteil gerade in der Übertragung jener Nebentätigkeiten liegen kann, die der Angeklagte nicht zu beanspruchen hatte und die daher prinzipiell als Gegenleistung für Entscheidungen im Bereich der Herzschrittmacherauswahl in Betracht kommt“, vgl. ferner OLG Hamburg, Beschl. v. 14.01.2000 – 2 Ws 243/99, MedR 2000, 371 = StV 2001, 373; im Anschluss an BGHSt 31, 264, 279f. (Urt. v. 10.03.1983 – 4 StR 375/82); zustimmend Höltkemeier, Sponsoring als Straftat – Die Bestechungsdelikte auf dem Prüfstand, 2005, S. 101-105; NK-Kuhlen, § 331, Rn. 55ff; Walter, Medizinische Forschung mit Drittmitteln – lebenswichtig oder kriminell, ZRP 1999, 292-297, 293; Ambos (Fn. 10), JZ 2003, 351; Schönke/Schröder-Heine, § 331, Rn. 18; Lackner/Kühl § 331, Rn. 4; MK-Korte, § 331, Rn. 72ff.; ders., in: Dölling (Hrsg.): Handbuch der Korruptionsprävention 2007, S. 292; Möhrenschlager, in Dölling (Hrsg.): Handbuch der Korruptionsprävention 2007, S. 398. 21 Die Unrechtsvereinbarung ist auch nach der neuen Rechtslage grundsätzlich erforderlich, vgl. nur NK-Kuhlen, § 331, Rn. 76 m.w.N. 22 BGH, Urt. v. 19.10.1999 – 1 StR 264/99, MedR 2000, 193. 23 Zur früheren Rechtslage, vgl. BGHSt 32, 290, 291 (Urt. v. 29.02.1984 – 2 StR 560/83); 39, 45, 47 (Urt. v. 19.11.1992 – 4 StR 456/92): Gefordert wurde, dass die Diensthandlung durch die Unrechtsvereinbarung zumindest in „groben Umrissen erkennbar und festgelegt“ war. 24 BGHSt 47, 295, 306f. (Fn. 14), vgl. ferner M. Schröder, Sponsoring in der Bundesverwaltung, NJW 2004, 1353-1356, 1354.
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Amtsträgers erkauft werden soll, den Geber zum Beispiel bei einer Beschaffungsentscheidung des Krankenhauses zu bevorzugen.25 Diese durch den konturenlosen Begriff der Dienstausübung26 ermöglichte „Lockerung der Unrechtsvereinbarung“ begründet eine nicht nur im Wirtschaftsstrafrecht immer häufiger zu beobachtende Vorverlagerung der strafrechtlichen Verantwortung27 in den Bereich einer lediglich abstrakten Gefährdung des geschützten Rechtsguts.28 Das Vertrauen der Allgemeinheit in die Sachlichkeit der Entscheidungen der Amtsträger, deren Schutz die §§ 331 ff. StGB bezwecken, soll schon im Vorfeld der erwiesenen Käuflichkeit des Amtsträgers durch den Zugriff des Strafrechts auf Sachverhalte stabilisiert werden, in denen nur der Anschein einer zukünftigen unlauteren Amtsausübung geweckt wird. Die Kehrseite dieser Erweiterung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist eine im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot zumindest bedenkliche Lockerung der Gesetzesbindung. Sie führt seitens der am Gesundheitswesen beteiligten Akteure zu erheblichen Unsicherheiten über die Grenzen der zulässigen Kooperation und verhilft den Strafverfolgungsbehörden häufig schon dann zu einer „Schuldvermutung“, wenn die Zuwendung ohne Gegenleistung gewährt wird oder eine Mitwirkung des Arztes an Beschaffungsentscheidungen des Krankenhauses ersichtlich ist.29 Repräsentativ für diese Perspektive der Strafverfolgungsbehörden ist die nachfolgend wiedergegebene Äußerung der bei der Staatsanwaltschaft München I beschäftigten Staatsanwältin Dr. Petra Alexa Haeser: „Bei der Frage, ob das Vorliegen eines Anfangsverdachts bejaht wird, setzt die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf Zahlungen an Ärzte voraus, 25 Vgl. BT-Drucks. 13/1879, S. 15: Nach altem Recht schied eine Verurteilung wegen Vorteilsannahme aus, wenn die Zuwendung lediglich zu dem Zweck erfolgte, „allgemeines Wohlwollen und Geneigtheit des Amtsträgers zu erkaufen.“ Die Änderung des Gesetzes erfolgte auch zu dem Zweck, diese nach Auffassung des Gesetzgebers „strafwürdigen und strafbedürftigen“ Fälle zu erfassen. 26 Unter Bezug auf Dölling (Fn. 12), Gutachten 61. DJT 1996, C 65 wird der Begriff der Dienstausübung als „dienstliche Tätigkeit im allgemeinen“ (Lackner/Kühl, § 331 Rn. 8) oder als „Tätigkeit“ umschrieben, die zu den dienstlichen Obliegenheiten gehört und in amtlicher Eigenschaft wahrgenommen wird“ (Wessels/Hettinger, § 25, Rn. 1111). Zwar werden Privathandlungen, wie etwa erlaubte oder unerlaubte Nebentätigkeiten (klassisches Beispiel: Privatunterricht durch einen Lehrer), nicht dem Bereich der Dienstausübung zugeordnet. Diese Abgrenzung läuft aber leer, wenn bereits das Angebot, eine Nebentätigkeit ausüben zu können, als Vorteil gewertet und mit der Dienstausübung in Zusammenhang gebracht wird, vgl. auch Verrel (Fn. 19), MedR 2003, 319-326. 27 Lüderssen (Fn. 16), JZ 1997, 112, 115; Hettinger (Fn. 7), NJW 1996, 2263, 2268; Walter (Fn. 20), ZRP 1999, 292, 294. 28 Ambos (Fn. 13), JZ 2003, 345. 29 Haeser (Fn. 5), MedR 2002, 55.
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dass auch eine Firma aus dem Pharma- und Medizinbereich nichts zu verschenken hat, sondern auf Gewinnerzielung angelegt ist. Die Forschung als Selbstzweck kann nicht Ziel eines wirtschaftlichen Unternehmens sein, sondern immer nur Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung. Daraus folgt, dass das Unternehmen für jede Zuwendung eine Gegenleistung haben will. Deshalb geht die Staatsanwaltschaft zunächst von folgendem aus: Wenn für eine Zuwendung eines Unternehmens keine Gegenleistung des Arztes erbracht wird, besteht der Verdacht, dass die Zuwendung für die Bestellung von Produkten dieses Unternehmens erfolgt. In diesem Fall leitet die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein.“ Mangels einer trennscharfen Definition des Begriffs der Dienstausübung hilft sich die Rechtsprechung schließlich mit einer „Gesamtwürdigung“,30 bei der sie das Beziehungsverhältnis zwischen Arzt und dem Vertreter des Pharma- oder Medizinproduktekonzerns im Hinblick auf mögliche Indizien auf eine „gelockerte Unrechtsvereinbarung“ analysiert. Hierbei kommt es zum Beispiel auf „statistische Erhebungen über die Verteilung des Schrittmacher-Umsatzes in der Abteilung des Angeklagten“, einem Oberarzt in der Abteilung Thorax-, Herz, und Gefäßchirurgie einer Universitätsklinik, an und auf dessen „Produktneutralität“, die seitens des Gerichts auch aus der „unverhohlenen Kritik“ des Angeklagten an den Produkten des Vorteilsgebers abgeleitet wurde.31 Die Tatbestände der Vorteilsannahme und der Vorteilsgewährung sind daher durch einen weiten Begriff des Vorteils und einen diffusen Begriff der Dienstausübung gekennzeichnet. Jede Zuwendung an den Arzt eines Universitäts-, Kreis-, Bezirks-, oder städtischen Krankenhauses im Wert von mehr als 25,- € seitens eines Repräsentanten eines Pharma- oder Medizinprodukteunternehmens ist prinzipiell korruptionsverdächtig. Zum Alltag des Klinikbetriebs gehörende Vorgänge, wie zum Beispiel die Verwendung kostenlos und zur Probe von einem Hersteller überlassener Medizinprodukte oder Medikamente, die Einladung zu einer Fortbildungsveranstaltung, die Offerte, als Referent auf einem vom Produktehersteller ausgerichteten Kongress mitzuwirken oder eine klinische Studie durchzuführen, können bei den Ermittlungsbehörden den Anschein der Käuflichkeit erwecken, wenn der Arzt in seinem Krankenhaus bei Bestellentscheidungen mitwirkt oder diese zumindest beeinflussen kann.
30 Hierzu näher Knauer/Kaspar, Restriktives Normverständnis nach dem Korruptionsbekämpfungsgesetz, GA 2005, 385-405, 395: „Globalabwägung“; Schönke/Schröder-Heine, § 331, Rn. 28. 31 BGH, Urt. v. 25.02.2003 – 5 StR 363/02, NStZ-RR 2003, 171, 172.
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c. Teleologische Reduktion des § 331 StGB Um die Weite des § 331 StGB bereits auf der Tatbestandsebene einzuschränken, ist vom Bundesgerichtshof in der schon oben angesprochenen, den Leiter der Heidelberger Herzchirurgie betreffenden Grundsatzentscheidung32 für den Bereich der Drittmittelforschung der Weg der teleologischen Reduktion33 beschritten worden. Der Arzt mache sich dann nicht wegen Vorteilsannahme strafbar, wenn er sich bei der Einwerbung von Drittmitteln an das hierfür erforderliche Verfahren halte. Das Vertrauen in die Redlichkeit des öffentlichen Dienstes sei in diesem Fall deshalb nicht betroffen, weil durch die Einhaltung der für Drittmitteleinwerbungen vorgesehen Anzeige- und Genehmigungsverfahren die „Transparenz des Vorgangs“ sichergestellt sei, eine Überwachung durch Aufsichts- und Kontrollorgane stattfinde und damit der „Anschein der Käuflichkeit“ vermieden werden könne. Unter strafrechtsdogmatischen Gesichtspunkten und vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB ist an diesem vom Ergebnis her begrüßenswerten Ansatz zunächst bedeutsam, dass § 331 StGB durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in ein Blankettstrafgesetz34 umformuliert wird. Die Voraussetzungen der Strafbarkeit können, soweit ein Fall der Drittmitteleinwerbung vorliegt, nicht alleine § 331 StGB entnommen werden, sondern erfordern den zusätzlichen Blick in das Landeshochschulrecht und in die jeweilige Drittmittelrichtlinie der Universität, die im Fall der Universität Leipzig immerhin 5 längere Abschnitte umfasst und mit 2.369 Wörtern länger ist, als mein bisheriger Beitrag. Der Arzt oder Hochschullehrer, der im Spannungsfeld zwischen Korruptionsstrafrecht und der für ihn auch unter dem Gesichtspunkt einer leistungsbezogenen Vergütung wichtigen Drittmittelakquisition tätig ist, muss deshalb nicht nur wissen, dass das „unbequeme“ Anzeige- und ggf. auch Genehmigungsverfahren für die Frage der Strafbarkeit seines Verhaltens entscheidend sein kann, er muss darüber hinaus auch unter dienstrechtlichen Gesichtspunkten alles richtig machen, will er dem Vorwurf der Vorteilsannahme entgehen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs läuft nur derjenige Forscher „kaum je Gefahr“, „in den Verdacht der Vorteilsannahme zu geraten“, der mit den Drittmitteln „wie hochschul32 BGHSt 47, 295 (vgl. die Angaben in Fn. 17), siehe auch BGH, Urt. v. 23.10.2002 – 1 StR 541/01, NJW 2003, 763. 33 Zutreffend Tag (Fn. 18), JR 2004, 50, 52. 34 Der Begriff geht – wie Seebode (‚Freiheitsstrafe’, ein Blankett des Strafgesetzbuchs; in: Hettinger u.a. [Hrsg.] Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag; Heidelberg 2007, S. 577-595, 580) in Erinnerung ruft, zurück auf Binding (Die Normen und ihre Übertretungen, 1. Bd., 1872, S. 74).
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rechtlich und beamtenrechtlich vorgesehen“ verfährt. Der Sache nach entscheidet daher das von Bundesland zu Bundesland und teilweise auch von Hochschule zu Hochschule unterschiedliche Dienstrecht über die Strafbarkeit des Verhaltens. Ein nur dienstordnungswidriges Verhalten kann deshalb über die teleologische Auslegung des § 331 Abs. 1 StGB zur Straftat aufgewertet werden.35 Das strafrechtswissenschaftliche Schrifttum hat sich schon bald nach der genannten Grundsatzentscheidung intensiv mit der Problematik des Spannungsverhältnisses zwischen Drittmitteleinwerbung und Vorteilsannahme beschäftigt.36 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und die „Legalisierung durch Verfahren“37 ist überwiegend auf Zustimmung gestoßen. Hierbei wurde jedoch übersehen, dass in der Praxis des Klinikbetriebes, insbesondere außerhalb der Universitätskrankenhäuser, ein von der Rechtsprechung abweichender Begriff der Drittmittel vertreten wird. Die Grundlagenentscheidung des Bundesgerichtshofs bezieht sich auf „Fördermittel“, die weder durch den Hochschullehrer selbst (Erstmittel), noch aus dem Haushalt der Hochschule (Zweitmittel), sondern durch andere Personen 35 Vgl. auch Otto, Grundkurs Strafrecht, BT, 7. Aufl. 2005, § 99 Rn. 14 und Lüderssen, Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts II; Baden-Baden 2007, S. 146: „Die Versuche der Rechtsprechung, die materiell unanstößigen Fälle der Drittmitteleinwerbung aus dem Anwendungsbereich der §§ 331 ff. StGB heraus zu halten, beschränken sich auf die Empfehlung formaler Absicherung … . Fehlen sie, soll der Anwendung der Strafvorschriften nichts mehr im Wege stehen. Das ist doppelt falsch. Einmal, weil das im zivilen und öffentlichen Recht festgestellte Unrecht nicht ohne weiteres ein strafrechtliches nach sich zieht – vielmehr muss für das Strafrecht, weil es ultima ratio ist, noch eine zusätzliche Unrechtsstufe erreicht werden, und zum anderen deshalb, weil in diesen speziellen Fällen mit Händen zu greifen ist, dass alle Verstöße gegen die formalen Vorschriften hier doch nur Verwaltungsunrecht begründen können.“. 36 Vgl. das in Fn. 17 genannte Schrifttum, ferner: Fuchs, Drittmittelforschung und Strafrecht in Österreich, MedR 2002, 65-67; Fürsen/Schmidt, Drittmitteleinwerbung – strafbare Dienstpflicht? Ein Symposion ruft den Gesetzgeber zum Handeln auf, JR 2004, 57-60; Pfeifer, Drittmittelforschung unter Korruptionsverdacht? Die Hochschulmedizin zwischen Leistungsdruck und Strafrecht. Der Blick in die Schweiz, MedR 2002, 68-75; Lippert, Die problematische Einwerbung von Drittmitteln, VersR 2000, 158-162 und grundlegend jetzt Albus (Fn. 9); aus der Perspektive der Ärzteschaft ferner: Beyer/Frewer/Klingreen/Meran/Neubauer, Kooperation statt Korruption. Wege zu verantwortlicher Zusammenarbeit zwischen Medizin und Industrie, Der Onkologe (12) 2003, 1355-1361. Außerdem haben verschiedene Rechtsanwälte „Fachbeiträge als Marketing-Maßnahmen“ (Sürner, Markt und Wettbewerb über alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideolodie, 2007, S. 24) in von Ärzten gelesenen Zeitschriften veröffentlicht. Hierzu gehören z. B.: Broglie, Kooperation zwischen Ärzten und Nichtärzten, Der Internist 2004, S. M84-M87; Jungeblodt, Medizin und Industrie. Eine Liebe in Zeiten des Korruptionsbekämpfungsgesetzes, Der Gynäkologe 2004, 56-60; Karsten, Sponsoring oder Bestechung, f&w 2003, 612-619; Lammer, Vorteilsannahme und Bestechlichkeit bei der Bestellung von Medizinprodukten in staatlichen Kliniken, Berliner Ärzteblatt 2002, 125 f. 37 Otto, Grundkurs Strafrecht, BT, 7. Aufl. 2005, § 99 Rn. 14.
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oder Institutionen „für Forschung und Lehre“38 zur Verfügung gestellt werden.39 In städtischen- oder Bezirkskrankenhäusern wird demgegenüber ein weiterer Begriff der Drittmittel zugrunde gelegt, der insbesondere nicht auf die vom BGH angenommene Zweckbindung „Forschung und Lehre“ begrenzt ist. Der Begriff der Drittmittel umfasst in der Praxis vielmehr den vielschichtigen Bereich des Sponsoring durch die Medizinprodukteindustrie, bei dem der Kreativität in der Ausgestaltung der Kooperation kaum Grenzen gesetzt sind. So kann die Gegenleistung des Krankenhauses für eine „Spende“ in Gestalt einer finanziellen Unterstützung oder Sachleistung etwa in einer Firmendarstellung, zum Beispiel in der Krankenhauszeitung, bestehen oder in der Duldung, einen Stand aufzustellen, durch den sich das Unternehmen in den Räumen des Krankenhauses präsentieren kann. Ferner werden als Drittmittel auch Honorarzahlungen an Krankenhausärzte aufgefasst, zum Beispiel als Gegenleistung für die Organisation von Weiterbildungsveranstaltungen oder für Vorträge bis hin zu der Erstattung von Nebenkosten für die Teilnahme an Kongressen. Problematisch ist weiterhin die Verwendung überschüssiger Drittmittel, bei denen in der Praxis die Frage aufkommt, ob diese etwa für Weihnachtsfeiern, Arbeitsessen oder die bauliche Umgestaltung der Diensträume verwendet werden dürfen. In den genannten Fallgestaltungen ist die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Einwerbung von Drittmitteln aus zwei Gründen nicht ohne weiters anwendbar. Erstens handelt es sich nicht grundsätzlich um Fördermittel für Forschung und Lehre und zweitens gibt es in der Regel keine schriftlichen dienstrechtlichen Regelungen, die eine Legalisierung durch Verfahren zulassen. Wenn demnach in derartigen Fallgestaltungen die teleologische Reduktion des Tatbestands des § 331 Abs. 1 StGB nicht unmittelbar einschlägig ist, kann der Verdacht der Vorteilsannahme nur auf der Ebene der Rechtswidrigkeit ausgeschlossen werden. Insoweit ist an das Genehmigungsverfahren des § 331 Abs. 3 StGB zu denken.
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BGHSt 47, 295, 306 (Fn. 14). Zum Begriff der Drittmittel im hochschulrechtlichen Sinn, vgl. Ambos (Fn. 13), JZ 2003,
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d. Die Genehmigung gemäß § 331 Abs. 3 StGB Die strafrechtsdogmatisch als Rechtfertigungsgrund40 ausgestaltete Genehmigung durch die zuständige Behörde41 schließt, sofern die Genehmigung der Behörde im Rahmen ihrer Befugnisse liegt und der Vorteil nicht vom Amtsträger gefordert wurde, den Vorwurf der Strafbarkeit aus. Dies setzt voraus, dass die zuständige Behörde Kenntnis über die Art, die Zielsetzung und die Höhe der Zuwendung sowie über die Person des Zuwendungsempfängers und des Zuwendungsgebers hat.42 § 331 Abs. 3 StGB ist schon ausweislich seines Wortlauts ersichtlich auf den in § 11 Abs. 1 Nr. 2a StGB angesprochenen Beamten im staatsrechtlichen Sinne zugeschnitten, dessen oberste Dienstbehörde sich bei der Erteilung der Genehmigung an den beamtenrechtlichen Regelungen (vgl. etwa § 43 BRRG und § 70 BBG)43 sowie an den einschlägigen Verwaltungsvorschriften orientieren muss und insofern verhältnismäßig eindeutige rechtliche Vorgaben für die Grenzen einer zulässigen Genehmigung vorfindet.44 Bei einer privatrechtlichen Organisationsform des Krankenhauses ist die Rechtslage hinsichtlich der Genehmigung demgegenüber unklarer. Einigkeit besteht dahingehend, dass die Genehmigung der Vorteilsannahme auch hier grundsätzlich möglich sein muss.45 Da eine „Genehmigungsbehörde“46 40 St. Rechtspr.: BGHSt 31, 264, 285 und h.M.: vgl. LK-Jescheck, § 331 Rn. 16; Lackner/Kühl, § 331, Rn. 14; Otto, Grundkurs Strafrecht, BT, 7. Aufl. 2005, § 99 Rdn. 23 differenzierend Schönke/Schröder-Heine, § 331, Rn. 45 ff.; grundlegend: Hardtung, Erlaubte Vorteilsannahme – §§ 331 StGB, 70 BBG, 10 BAT – Zugleich ein Beitrag zur Einheit der Rechtsordnung und zur „Rückwirkung“ behördlicher Genehmigungen im Strafrecht, 1994, S. 109 ff. 41 § 331 Abs. 3 StGB enthält keine nähere Definition des Begriffs der Behörde; § 11 Abs. 1 Nr. 7 StGB stellt lediglich klar, dass unter einer Behörde auch ein Gericht zu verstehen ist. 42 In der Praxis sehen die Staatsanwaltschaften die Genehmigung häufig als unwirksam an, weil die Klinikleitung zuvor nicht über alle Umstände der Kooperation des Arztes mit dem Medizinprodukteunternehmen informiert worden war, vgl. Haeser (Fn. 13), MedR 2002, 55, 58. 43 Eine vollständige Aufzählung der einzelnen Vorschriften findet sich bei Möhrenschlager, in: Dölling (Hrsg.): Handbuch der Korruptionsprävention 2007, S. 421. 44 Zu Widersprüchen zwischen den einschlägigen beamtenrechtlichen Vorschriften und § 331 Abs. 3 StGB, vgl. Schönke/Schröder-Heine, § 331, Rn. 43; darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die einschlägigen Verwaltungsvorschriften unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten und daher auch insofern die Gesetzesbindung gelockert ist. 45 Der Behördenbegriff des § 331 Abs. 3 StGB ist insofern im Lichte des § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB auszulegen. Ist jemand nach dieser Vorschrift als Amtsträger zu beurteilen und insofern einem Beamten gleichgestellt, muss er auch hinsichtlich der Genehmigung wie ein Beamter im staatsrechtlichen Sinn behandelt werden; grundlegend nur: Jutzi, Genehmigung der Vorteilsannahme bei nicht in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis stehenden Amtsträgern, NStZ 1991, 105-108. 46 Jutzi (Fn. 45), NStZ 1991, 105, 107.
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fehlt, wird in der Praxis der Arbeitgeber für zuständig erklärt, der durch den Verwaltungsdirektor oder im Fall der Organisation des Krankenhauses als GmbH oder gGmbH durch den Geschäftsführer repräsentiert wird. Diese Personen können – je nach den internen Organisationsstrukturen – ihre Zuständigkeit auch an andere Abteilungen, zum Beispiel die innere Revision, delegieren. Die Voraussetzungen der Genehmigung können in Verträgen,47 z.B. im Chefarztdienstvertrag enthalten sein. Teilweise wird eine entsprechende Anwendung der beamtenrechtlichen Regelungen empfohlen.48 Die Praxis hilft sich häufig mit internen „Organisationsanweisungen“, in denen die Voraussetzungen der Genehmigung von Krankenhaus zu Krankenhaus durchaus unterschiedlich geregelt sein können, oder sie stellt die Genehmigung in das Ermessen der Hausleitung. Die hiermit verbundene Rechtsunsicherheit – die zu Unrecht erteilte Genehmigung entfaltet nach herrschender Meinung keine Wirkung – ist folgenschwer. Im Unterschied zur früheren Rechtslage, bei der die Genehmigung gemäß § 331 Abs. 3 StGB in ihrem Anwendungsbereich infolge der engeren Fassung der Voraussetzungen der Strafbarkeit in § 331 Abs. 1 StGB auf in der Praxis seltene Ausnahmefälle,49 wie z.B. die Belohnung des mutigen Polizeibeamten oder Feuerwehrmannes oder das „Abschiedsgeschenk an den Leiter einer diplomatischen Mission durch ein Staatsoberhaupt“50 beschränkt war, kommt der Genehmigung heute eine Schlüsselstellung zu. Da die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den universitären Drittmitteln auf die in der Praxis bedeutsamsten Kooperationen, wie oben dargelegt, nicht angewendet wird, kann ein Ausschluss der Strafbarkeit nur über § 331 Abs. 3 StGB erzielt werden. Dies führt auf Seiten der Adressaten der §§ 331 StGB bisweilen zu verhängnisvollen Irritationen, so z. B. wenn eine im Arbeitsvertrag generell ausgesprochene Genehmigung, bestimmte Nebentätigkeiten ausführen zu dürfen, mit der Genehmigung des Dienstherren zur Annahme von Vorteilen identifiziert und die erforderliche separate Genehmigung der Vorteilsannahme daher für überflüssig erachtet wird. Zu beachten ist ferner, dass der Rechtfertigungsgrund der Genehmigung beim Tatbestand der Bestechlichkeit (§ 332 StGB) und auch bei der in der Praxis wichtigen Angestelltenbestechlichkeit nach der neuen Regelung des
47 Vgl. BGHSt 31, 264, 285 (Urt. v. 10.03.1983 – 4 StR 375/82): Dienstvertrag zwischen Landesbank und Vorstandsvorsitzendem. 48 MK-Korte, § 331, Rn. 150ff; ähnlich Jutzi (Fn. 45), NStZ 1991, 108: „Richtschnur sollten daher auch bei nicht in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis stehenden Amtsverhältnis stehenden Amtsträgern die für Beamte geltenden Regelungen sein…“. 49 Vgl. das Resümee von Geppert, Repetitorium Strafrecht: Amtsdelikte (§§ 331 ff. StGB), Jura 1981, 42-51, 50. 50 LK-Jescheck, § 331, Rn. 15.
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§ 299 StGB nicht eingreift.51 § 299 StGB ist etwa anwendbar, wenn es sich bei dem Vorteilsnehmer um einen Arzt in einem Krankenhaus unter kirchlicher Trägerschaft handelt. Auch dieser Arzt ist zwar in die Daseinsvorsorge eingebunden, er agiert aber nicht als verlängerter Arm des Staates und ist deshalb kein Amtsträger, vgl. Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung).52 Diese Differenzierung ist den beteiligten Ärzten nur schwer vermittelbar und auch in der Sache nicht ohne weiteres gerechtfertigt. Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass schon die Tatbestände des Korruptionsstrafrechts unklar und unübersichtlich sind. Wie die Analyse der bisher publizierten Urteile ergibt, ist es der Rechtsprechung noch nicht vollständig gelungen, diese Defizite zu kompensieren und über eine eingrenzende Auslegung der Voraussetzungen der §§ 331 und 333 StGB in den Kooperationsbereichen jenseits der Drittmittelforschung für die am Gesundheitswesen beteiligten Akteure ausreichende Orientierungsgewissheit herzustellen.
2. Anpassungsversuche der Praxis – das Prinzip der Selbstregulierung Die Beteiligten haben sich daher bemüht, Rechtssicherheit über den Mechanismus der Selbstregulierung zu gewinnen.53 Vor allem zwei Vereinbarungen, der Kodex Medizinprodukte des Bundesfachverbands Medizinprodukteindustrie e.V. und der von verschiedenen Fachverbänden und der Deutschen Krankenhausgesellschaft herausgegebene „Gemeinsame Standpunkt zur strafrechtlichen Bewertung der Zusammenarbeit zwischen Industrie, medizinischen Einrichtungen und deren Mitarbeitern“ aus dem Jahr 2000 enthalten Verhaltensregeln, die Compliance mit dem Korruptionsstraf-
51 BGH NJW 2001, 2120, Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis; Heidelberg 2008, S. 519; Erlinger, Drittmittelforschung unter Korruptionsverdacht? Der Stand der Rechtsprechung. Gibt es schon Rechtsprechung zur neuen Rechtslage? MedR 2002, 60-62, 61. 52 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.10.2000 – 1 Ws 534/00, NJW 2001, 85; BGH, Urt. v. 09.10.1990 – 1 StR 538/89, NJW 1991, 367. 53 Vgl. z.B. das Vorwort zum Kodex Medizinprodukte des Bundesfachverbandes der Medizinprodukteindustrie e. V.: „Alle im Gesundheitswesen Beteiligten brauchen Klarheit, unter welchen Bedingungen Sponsoring im Gesundheitswesen noch erlaubt ist“ bzw. die „Einleitung“ des „Gemeinsamen Standpunkts zur strafrechtlichen Bewertung der Zusammenarbeit zwischen Industrie, medizinischen Einrichtungen und deren Mitarbeitern“: „Vor dem Hintergrund des sog. Herzklappenkomplexes und der daraufhin eingeleiteten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wächst die Unsicherheit hinsichtlich der Zulässigkeit verschiedenster Kooperationsformen zwischen der Industrie, medizinischen Einrichtungen (z.B. Krankenhäuser, Universitätsklinika etc.) und deren Mitarbeitern“.
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recht sicherstellen sollen.54 Beide Regelungswerke orientieren die unterschiedlichen Kooperationsfelder an vier grundlegenden Prinzipien. Nach dem „Trennungsprinzip“ sind Zuwendungen an Mitarbeiter medizinischer Einrichtungen von Umsatzgeschäften abzukoppeln. Das „Transparenzprinzip“ postuliert, dass Dienstherren, Krankenhausverwaltungen bzw. Krankenhausträger bei der Einladung zu einem Kongress z. B. über Art und Inhalt der Veranstaltung und die Höhe der Zuwendung informiert werden. Die Teilnahme bedarf der Genehmigung, wobei eine Dienstreisegenehmigung nicht ausreichend ist („Genehmigungsprinzip“) und sichergestellt sein muss, dass sich die Kostenerstattung auf „angemessene“ Kosten beschränkt. Schließlich sind nach dem „Dokumentationsprinzip“ alle maßgeblichen Informationen über die Drittfinanzierung schriftlich niederzulegen. Insbesondere der „Gemeinsame Standpunkt“ enthält eine Fülle von Konkretisierungen der genannten Prinzipien und erläutert differenziert die einzelnen Kooperationsbereiche. So dürfen bei der Einladung zu einem Kongress oder einer Fortbildungsveranstaltung z. B. keine Kosten für Unterhaltung, wie Theater- und Konzertbesuche, Rundflüge, Sportveranstaltungen usw. erstattet werden. Klinische Prüfungen und Anwendungsbeobachtungen sollten auf Verträgen beruhen, die vorrangig mit der medizinischen Einrichtung und nur unter bestimmten weiteren Voraussetzungen mit dem Prüfarzt selbst abgeschlossen werden. Der Ansatz der Korruptionsprävention über den Mechanismus der Selbstregulierung ist grundsätzlich zu begrüßen. Er steht im Einklang mit der auch in anderen Bereichen des Wirtschaftslebens zu beobachtenden Entwicklung, der Entstehung von Kriminalität durch unternehmensinterne Maßnahmen vorzubeugen.55 Die Verhaltensgebote des Kodex und des Gemeinsamen Standpunktes erleichtern nicht nur die Bestimmung der aus dem Gesetzestext nicht alleine ableitbaren Grenzen zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten, sondern dokumentieren auch die Sensibilität der sich selbst verpflichtenden Unternehmen und Ärzte für die Problematik der Korruption im Gesundheitswesen. Sie verdeutlichen damit eine „Branchenethik“, die zu54 Vgl. hierzu näher: Hauschka/Greeve: Compliance in der Korruptionsprävention – was müssen, was sollen, was können die Unternehmen tun? BB 2007, 165-173; aus organisationssoziologischer Sicht: Fleissner/Kliche/Dickhaus, Korruption im Krankenhaus: Die Tripelhierarchie, ihre Folgeprobleme und mögliche Gegenmaßnahmen, Zeitschrift für Politische Psychologie 1995, 151-187. 55 Bussmann, Business Ethics und Wirtschaftsstrafrecht. Zu einer Kriminologie des Managements, MschrKrim 86 (2003), 89-104; ders., Kriminalprävention durch Business Ethics. Ursachen von Wirtschaftskriminalität und die besondere Bedeutung von Werten, zfwu 5 (2004), 35-50; Schneider, in: Göppinger, Kriminologie 6. Aufl. 2008, § 30, Rn. 17-24; kritisch Hefendehl, Corporate Governance und Business Ethics: Scheinberuhigung oder Alternativen bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität? JZ 2006, 119-125.
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mindest darauf abzielt, auf die Wertorientierung56 der Akteure einzuwirken und demnach potentiell dazu geeignet ist, der Entstehung eindeutig korruptiver Beziehungen vorzubeugen. Dass im Gesundheitswesen auch solche Delikte vorkommen, zeigen bereits die Sachverhalte publizierter Entscheidungen des Bundesgerichtshofes, wie z.B. der Fall des Leiters der Kardiologie eines Kreiskrankenhauses, der sich die Bestellung überteuerter Herzschrittmacher und Sonden bei einem Hersteller mit einer „kick-back Zahlung“ von 15% der Bestellsumme vergüten ließ.57 Andererseits bedeuten die Mechanismen der Selbstregulierung auch „Verrechtlichung“58 und haben zur Konsequenz, dass Abläufe verlangsamt sowie Entscheidungen bürokratisiert und formalisiert werden. An die Stelle gegenseitigen Vertrauens und der Selbstverantwortung der Akteure tritt „eine Art kalkulierte(s) Misstrauen“59 und die Delegation der Verantwortung auf die genehmigende Verwaltung des Krankenhauses. Dies verstärkt zugleich die in manchen Kliniken zu beobachtenden Dissonanzen zwischen Ärzten und Verwaltungsmitarbeitern, weil der Offenlegung und Transparenz fordernde und die Genehmigung unter bestimmten Umständen auch einmal verweigernde Mitarbeiter der internen Revision als sozialneidischer Spaßverderber wahrgenommen wird, der die Leistungen des Arztes ohnehin nicht richtig zu beurteilen weiß und folglich auch zur „Angemessenheit“ einer Vergütung nicht Stellung nehmen kann. Deshalb ist auch die Akzeptanz der Verhaltenskodizes in der Praxis äußerst unterschiedlich. Die Ärzteschaft oszilliert zwischen den Polen der Verweigerung und Ausblendung der Risiken, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden und einer kompromisslosen Gefolgschaft, die sich entweder darin äußert, bei jedem Vorgang nachzufragen und die Formulare gewissenhaft auszufüllen oder überhaupt keine Finanzierung durch Dritte mehr in Anspruch zu nehmen.
56 Zur Bedeutung der Wertorientierung für die Entstehung von Wirtschaftsstraftaten, vgl. Schneider, Das Leipziger Verlaufsmodell wirtschaftskriminellen Handelns. Ein integrativer Ansatz zur Erklärung von Kriminalität bei sonstiger sozialer Unauffälligkeit, NStZ 2007, 555562; ders. in: Göppinger, Kriminologie, 6. Auflage 2008, § 25, Rn. 26-32. 57 Vgl. hierzu den Sachverhalt aus BGH, Urt. v. 19.10.1999 – 1 StR 264/99, MedR 2000, 193f. mit Anm. Göben, MedR 2000, 194f., weitere Beispiele bei Verrel (Fn. 19), MedR 2003, 322 und bei Ulsenheimer, Gesponsert oder kriminell? Drittmittelfinanzierung, Anästhesiologie & Intensivmedizin 2002, 164-169. 58 Hierzu grundlegend: Bock, Recht ohne Maß. Die Bedeutung der Verrechtlichung für Person und Gemeinschaft, Berlin 1988, explizit zur Verrechtlichung im Gesundheitswesen, S. 13f. 59 Kaufmann, Was heißt Verrechtlichung und wo wird sie zum Problem? In: ders (Hrsg.): Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen und Vertrauen; Düsseldorf 1984, S. 9.
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III. Vorschläge zur Behebung bestehender Bestimmtheitsdefizite in § 331 StGB Die vorstehende Bestandsaufnahme zur Bedeutung des Korruptionsbekämpfungsgesetzes für die Praxis des Gesundheitswesens dokumentiert daher einerseits, dass der Judikatur wenig daran gelegen ist, die verfassungsrechtlich problematischen „flexiblen Vorgaben“60 des Gesetzgebers im Interesse der Berechenbarkeitsmaxime einzuschränken. Andererseits hat die Reform des Korruptionsstrafrechts den zumindest grundsätzlich zu begrüßenden Prozess der Selbstregulierung erst angestoßen. Offensichtlich hängt daher die Bereitschaft zur Selbstregulierung am Tropf des Strafrechts. Dessen Verschärfung hat diesen Prozess katalysiert und die Branche zur Vergewisserung über die Legitimität bestimmter eingeschliffener Verhaltensmuster angeregt. Da aber auch eine nachhaltige kriminalpräventive Wirkung nur von Straftatbeständen mit eindeutigem und berechenbarem Anwendungsbereich61 ausgeht, besteht – akzeptiert man die Neufassung der §§ 331 ff. StGB im Zuge des Korruptionsbekämpfungsgesetzes als Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers – hinsichtlich der Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 331 StGB de lege lata folgender Verbesserungsbedarf:
1. Entkriminalisierung der Nebentätigkeiten Die eingangs referierte Rechtsprechung, die einen Vorteil im Sinne der §§ 331 ff. StGB bereits im Abschluss eines Vertrages über bestimmte Nebentätigkeiten des Arztes erblickt, ist vom Bundesgerichtshof im Anschluss an eine Entscheidung des Reichsgerichts62 noch auf der Grundlage des alten § 331 StGB entwickelt worden. Diese Kriminalisierung von Nebentätigkeiten aufgrund rechtswirksamer Verträge hatte in der Praxis aber zu keiner wesentlichen Ausweitung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit geführt, weil der Vertragsschluss aufgrund der alten Gesetzeslage seitens des Arztes nur dann als Vorteilsannahme strafbar war, wenn dieser seinem Vertragspartner die Nebenerwerbsmöglichkeit mit einer Diensthandlung, z. B. der Bevorzugung bei einer Bestellentscheidung, honoriert hatte. Über die Öffnung des Tatbestandes im Zuge des Korruptionsbekämpfungsgesetzes genügt heute aber jeder Zusammenhang mit der Dienstausübung, so dass damit faktisch alle Nebentätigkeiten, die mit der fachlichen Qualifikation des 60
Seebode, FS-Kohlmann (Fn. 1) 2003, S. 293. Vgl. zu der Verknüpfung zwischen Normklarheit und Kriminalprävention Seebode, FS-Kohlmann (Fn. 1) 2003, S. 280. 62 BGHSt 31, 264, 280; RGSt 77, 75ff., eingehende Analyse bei Lüderssen (Fn. 16), JZ 1997, 112, 114f. 61
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Arztes im Zusammenhang stehen und für ein Unternehmen aus der Pharmaoder Medizinprodukteindustrie ausgeübt werden, unter dem Verdacht der Vorteilsannahme stehen. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wären im Ergebnis nur fachfremde Nebentätigkeiten, wie zum Beispiel kellnern oder Zeitungen austragen korruptionsrechtlich unbedenklich. Dass diese vom BGH nur mit dem kriminalistischen Argument, ansonsten sei eine Umgehung der Straftatbestände durch Verträge möglich, dogmatisch angreifbar ist, ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut des § 331 StGB als auch aus der historischen Auslegung des Gesetzes anhand der Materialien zum Korruptionsbekämpfungsgesetz. Der Begriff „Vorteil“ wird von Rechtsprechung und herrschender Lehre zu Recht als Leistung oder Zuwendung definiert, auf die der Amtsträger keinen Anspruch hat.63 Das Angebot auf Abschluss eines Dienst- oder Werkvertrages und auch der Abschluss des Vertrages selbst sind aber weder im umgangssprachlichen Sinne, noch nach zivilrechtlichen Grundsätzen Zuwendungen oder Leistungen.64 Sie eröffnen lediglich die Möglichkeit, sich eine Zuwendung durch die Erfüllung der vertraglichen Hauptleistungspflicht verdienen zu können. Nur die Zahlung der Vergütung ist daher eine Zuwendung oder Leistung des Vertragspartners und nicht bereits das im Sinne des § 145 BGB nur das Unternehmen bindende Angebot oder der wechselseitige Ansprüche begründende gegenseitige Vertrag.65 Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich ferner, dass der Gesetzgeber sich ausdrücklich gegen eine grundsätzliche Kriminalisierung des Nebentätigkeitsrechts ausgesprochen hatte. So lag dem parallel zum Korruptionsbekämpfungsgesetz verabschiedeten „Zweiten Nebentätigkeitsbegrenzungsgesetz“66 zwar die Zielsetzung zugrunde, „Nebentätigkeiten von Mitgliedern des öffentlichen Dienstes soweit wie möglich einzuschränken“. Andererseits wurde es aber als verfehlt angesehen, „die Nebentätigkeiten generell in einen Zusammenhang mit Korruption zu bringen“. Deshalb wurde bei der Änderung des § 331 StGB auch dem Vorschlag des Bundesrates eine Absage erteilt, nach dem bereits die Annahme eines Vorteils „im Zusammenhang mit dem Amt“ unter Strafe gestellt werden sollte.67 Somit kommt nach dem Willen des Gesetzgebers auch dem in der bisherigen Dogmatik vernachlässigten Begriff der „Dienstausübung“ (auch 63
Vgl. die Nachweise in Fn. 14. Mit dem Abschluss des Vertrages entstehen lediglich beiderseitige Ansprüche, die in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen und die jeder für sich keinen realisierbaren Vermögensvorteil darstellen. 65 Dieser Standpunkt wird insbesondere von Lüderssen vertreten, vgl. die in Fn. 16 genannten Arbeiten. 66 BT-Drucks.: 13/8079, S. 10ff., 14. 67 Vgl. BT-Drucks.: 13/8079, S. 15. 64
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jenseits der Problematik einer „gelockerten Unrechtsvereinbarung“) eine eigenständige Bedeutung zu. Denn die Vergütung einer Nebentätigkeit, wie z.B. das Honorar für einen Vortrag oder die Organisation einer Veranstaltung ist in der Regel die vertraglich geschuldete Honorierung einer Privathandlung und nicht die der Dienstausübung. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Leistung des Arztes geteilt werden kann und die in diesen Fällen inadäquat hohe Vergütung sich teilweise auf die vertraglich geschuldete Leistung und teilweise auf eine parallel dazu vereinbarte Dienstausübung oder Diensthandlung bezieht, die der Arzt zugunsten des Vertragspartners ausführt. Vorteil ist aber auch in diesen, entweder nach § 331 StGB oder sogar als Bestechlichkeit nach § 332 StGB strafbaren Fällen die Vergütung selbst und nicht bereits der Abschluss des Vertrages.
2. Gleichstellung sonstiger Kooperationsformen mit den Drittmittelkonstellationen Weiterhin besteht mit Rücksicht auf die unterschiedlichen Kooperationsformen zwischen Ärzten und Pharma- bzw. Medizinprodukteindustrie Bedarf für eine Erweiterung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Einwerbung von Drittmitteln für Forschung und Lehre. Geboten ist zunächst die Gleichbehandlung universitärer Forschung und Lehre mit der durch Dritte finanzierten Weiterbildung von Krankenhausärzten. Wenn es nach Auffassung des Bundesgerichtshofs zulässig ist, die universitäre Ausbildung angehender Mediziner durch Drittmittel fördern zu lassen, muss es erst recht statthaft sein, eine Entlastung staatlicher Haushalte durch die Drittfinanzierung von Weiterbildungsmaßnahmen bereits praktizierender Ärzte zu ermöglichen. Entsprechend der vom Bundesgerichtshof in den Drittmittelfallkonstellationen eingeschlagenen Richtung einer „Legitimation durch Verfahren“, wäre an eine strafrechtliche Aufwertung der in den Kodices der Branche aufgeführten Verhaltensrichtlinien zu denken. Hat der Arzt in Übereinstimmung mit den dort genannten, immerhin bundeseinheitlich geltenden Verhaltensmaßstäben gehandelt, ist ebenfalls sichergestellt, dass bereits der Anschein der Käuflichkeit vermieden wird. Dasselbe gilt hinsichtlich der verschiedenen Formen des Sponsoring, die im „Gemeinsamen Standpunkt“ ebenfalls unter bestimmte Zulässigkeitsvoraussetzungen gestellt worden sind. Für die Verwendung überschüssiger Drittmittel (im weiteren Sinne) sollten in den Kodices Regelungen getroffen werden. Bis dahin bietet sich die entsprechende Anwendung der Drittmittelrichtlinien der
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Hochschulen an, die insoweit in der Regel vorsehen, dass die Gelder in den Haushalt der Klinik eingestellt werden.68 Als Kehrseite dieses Lösungsansatzes ist zwar ebenfalls zu befürchten, dass bloßer Dienstungehorsam strafrechtliche Sanktionierung nach sich zieht. Auf der Grundlage der derzeitigen Gesetzeslage und der generellen Tendenz zu einer Hypertrophie des Strafrechts, bietet sich die Lösung über eine teleologische Reduktion aber als einzige Alternative zu ansonsten kaum kalkulierbaren Strafbarkeitsrisiken an. Im Gegensatz zu einer Lösung über den Rechtfertigungsgrund des § 331 Abs. 3 StGB ist der Weg über die teleologische Reduktion schließlich auch deshalb vorzugswürdig, weil der Rechtfertigungsgrund der Genehmigung nicht eingreift, wenn der Amtsträger den Vorteil gefordert und z.B. ein Pharmaunternehmen um ein Sponsoring gebeten hat.
IV. Fazit Der Schutz des Vertrauens in die Unkäuflichkeit von Trägern staatlicher Funktionen und die erwünschte Förderung durch Private in einem Raum, aus dem sich die öffentliche Hand immer mehr zurückzieht, sind in eine adäquate Balance zu bringen. Einerseits unterliegt die medizinische Versorgung auch durch Innovationen der Medizinprodukte- und Pharmaindustrie einem permanenten Änderungsdruck, der eine ständige Fort- und Weiterbildung an den neuen Produkten erfordert. Andererseits können die Produkte nur verbessert und weiterentwickelt werden, wenn die Hersteller aus der Praxis Rückmeldungen erhalten.69 Dies setzt Kommunikation und Kooperation voraus, die nicht unter dem Damoklesschwert des Strafrechts und durchaus auch einmal bei einem Abendessen stattfinden darf. Die hier vorgeschlagenen Lösungen verschaffen den Akteuren Rechtssicherheit und dienen im Sinne des Anliegens Manfred Seebodes der Berechenbarkeit des staatlichen Strafrechts. Außerdem ermöglichen sie der Staatsanwaltschaft die erforderliche Ressourcenkonzentration auf die wirklich problematischen Fälle, weil ihre Kapazitäten nicht bereits durch die Beschäftigung mit Verfahren erschöpft werden, die sie zumeist ohnehin nach §§ 153, 153a StPO einstellt. 68 Vgl. z. B. § 6 Abs. 4 der Richtlinie zur Beantragung und Verwendung von Drittmitteln für Forschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vom 14.02.07. 69 Die Industrie ist bei der Produktzulassung auf klinische Prüfungs- und Anwendungsbeobachtungen angewiesen (§§ 17ff. Medizinproduktegesetz, §§ 40ff. Arzneimittelgesetz), vgl. Imme Roxin, Drittmitteleinwerbung und Korruption, in: Roxin/Schroth (Hrsg.): Handbuch des Medizinstrafrechts, 3. Aufl. 2007, 613-643, 617.
Sicherheitsdenken, Strafrechtsdogmatik und Verfassungsrecht im Jugendmedienschutz Anmerkungen zu § 184c StGB und § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2 JMStV HERIBERT SCHUMANN / ANTJE SCHUMANN
I. Seit dem 1. 4. 2003 ist der Jugendschutz für Rundfunk und Telemedien im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) geregelt. Wie sich § 2 Abs. 1 und 2 JMStV entnehmen lässt, sind Telemedien i. S. d. Gesetzes die in § 1 Abs. 1 Telemediengesetz (TMG) genannten elektronischen Informations- und Kommunikationsdienste. Die die Telemedien betreffenden Regelungen des JMStV gelten also z. B. für das Internet und Video on DemandDienste. § 4 Abs. 1 Nr. 1-11 JMStV enthält einen Katalog von Angeboten (Rundfunksendungen und Inhalte von Telemedien, § 3 Abs. 2 Nr. 2 JMStV), die in Rundfunk und Telemedien absolut unzulässig sind. Dazu zählen gem. Nr. 10 z. B. pornographische Angebote, die Gewalttätigkeiten, den sexuellen Missbrauch von Kindern und – über § 184b StGB hinaus – den von Jugendlichen1 oder sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum 1 Nach der amtlichen Begründung (z. B. BayLT Drs. 14/10246, S. 16) verbietet § 4 Abs. 1 Nr. 10 JMStV pornographische Inhalte nach § 184 Abs. 3 a. F. StGB, also nur die von Kinderund sodomitischer Pornographie. Ein sachlicher Grund dafür, dass der JMStV „Jugendpornographie“ als qualifizierte Form der Pornographie einführt, ist daher nicht ermittelbar. Dies ist nicht untypisch für den JMStV. So nennt § 4 Abs. 1 Nr. 4 – ebenfalls ohne Begründung – über § 130 Abs. 3 StGB hinaus auch Taten i. S. d. § 7 Abs. 1 VStGB, enthält andererseits aber nicht die Begehungsweise des Billigens. § 4 Abs. 1 Nr. 6 soll § 130a StGB aufgreifen. Die Regelung wie auch ihre amtliche Begründung verfälschen allerdings den Wortlaut des Straftatbestands in unsinniger Weise. § 4 Abs. 1 Nr. 5 betrifft Gewaltdarstellungen im Sinne des § 131 Abs. 1 StGB und damit nach allgemeiner Meinung jede Darstellungsform. Dies war den Gesetzgebern des JMStV offensichtlich nicht bekannt. Denn Nr. 5 ordnet ausdrücklich auch die Unzulässigkeit virtueller Darstellungen an, und die amtliche Begründung erklärt, damit sei eine Lücke geschlossen worden! Dasselbe scheinbare Defizit soll in Nr. 9 und 10 behoben werden. Zu weiteren Merkwürdigkeiten des Gesetzes s. H. Schumann, ZUM 2004, 697 ff.
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Heribert Schumann / Antje Schumann
Gegenstand haben. § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3 JMStV erklärt drei weitere Arten von Angeboten für unzulässig. Zu ihnen gehören gem. Nr. 1 solche, die „in sonstiger Weise“ pornographisch sind. Gemeint ist damit die sog. einfache Pornographie im Sinne des § 184 Abs. 1 StGB, sofern sie nicht „jugendpornographisch“ i. S. d. § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 10 JMStV ist. Anders als die Verbote des § 4 Abs. 1 JMStV gelten die des Abs. 2 S. 1 uneingeschränkt nur für den Rundfunk. In Telemedien sind die in Abs. 2 S. 1 genannten Angebote gem. S. 2 „abweichend von Satz 1 zulässig, wenn von Seiten des Anbieters sichergestellt ist, dass sie nur Erwachsenen zugänglich gemacht werden (geschlossene Benutzergruppe).“ Entsprechend ist der an § 4 Abs. 2 Nr. 1 geknüpfte Bußgeldtatbestand des § 24 Abs. 1 Nr. 2 JMStV gefasst. Danach handelt ein Anbieter ordnungswidrig, wenn er „vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 4 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Angebote verbreitet oder zugänglich macht, die in sonstiger Weise pornografisch sind.“ Pornographische Telemedienangebote sind also nur tatbestandsmäßig, wenn sie außerhalb einer geschlossenen Benutzergruppe verbreitet oder zugänglich gemacht werden. § 4 Abs. 2 S. 2 JMStV enthält somit einen Tatbestandsausschluss. Eine ähnliche Regelung enthält aufgrund der Neufassung der Pornographietatbestände durch das SexualdelÄndG vom 27. 12. 2003 § 184c StGB. Gem. S. 1 wird nach §§ 184 bis 184b auch bestraft, wer eine pornographische Live-Darbietung durch Rundfunk oder Telemedien verbreitet. Nach S. 2 gilt dies im Fall des § 184 Abs. 1, also für einfache Pornographie, bei Verbreitung durch Medien- oder Teledienste nicht – der Tatbestand ist also ausgeschlossen – „wenn durch technische oder sonstige Vorkehrungen sichergestellt ist, dass die pornographische Darbietung Personen unter achtzehn Jahren nicht zugänglich ist.“2 Beide Bestimmungen werfen die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen „sichergestellt“ ist, dass pornographische Medieninhalte „nur Erwachsenen zugänglich“ bzw. – was sachlich dasselbe ist – „Personen unter 18 2 Was die unterschiedlichen Regelungen für die Verbreitung einfach pornographischer Aufzeichnungen in Rundfunk und Telemedien – für sie gilt § 184 StGB – und für LiveDarbietungen rechtfertigen soll, ist allerdings unklar (s. dazu auch Hörnle, MK-StGB, 2005, § 184c Rdn. 1, 2). Verfehlt ist auch, dass § 184c S. 2 StGB nur für Telemedien gilt, die Ausstrahlung von Live-Darbietungen im Rundfunk – anders als die von Filmen (dazu unten II. 1. a) – somit ausnahmslos strafbar ist, obwohl auch im Rundfunk geschlossene Benutzergruppen geschaffen werden können. Nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf sollte der Tatbestandsausschluss auch für den Rundfunk gelten (s. BT-Drs.15/350, S. 7). Die Beschränkung auf Telemedien beruht auf einer Empfehlung des Rechtsausschusses, der offenbar fälschlich davon ausging, auch die Ausstrahlung pornographischer Aufzeichnungen im Rundfunk sei ausnahmslos strafbar (s. BT-Drs. 15/1311, S. 24). – Das von Art. 22 Abs. 1 der – noch geltenden – EG-Fernsehrichtlinie (Richtlinie 89/552/EWG i. d. Fassung durch die Richtlinie 97/36/EG) verlangte Totalverbot für Pornographie im Fernsehen ist durch § 4 Abs. 2 Nr. 1 JMStV umgesetzt.
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Jahren nicht zugänglich“ sind. Die in der straf- und jugendschutzrechtlichen Literatur h. M. stellt diesbezüglich fast durchweg höchste Anforderungen und verlangt eine nahezu absolute Abschottung gegen die Wahrnehmung durch Minderjährige.3 Jede „Durchlässigkeit des Sicherungssystems, die Jugendlichen Zugang ermöglicht“, führe zur Unzulässigkeit des Angebots,4 ausgenommen die Fälle, in denen der Minderjährige die Zugangsbarriere nur aufgrund „nicht vorhersehbarer besonderer Kenntnisse, Fertigkeiten und Anstrengungen“ überwinden könne.5 Um diesen Grad an Sicherheit zu gewährleisten, wird zumeist eine zweistufige Kontrolle des Alters des Nutzers verlangt. Zum einen sei in persönlichem Kontakt mit dem Nutzer zuverlässig seine Volljährigkeit festzustellen.6 Zum anderen müsse ein weiteres im System angelegtes wirksames Hindernis den Abruf durch Minderjährige ausschließen, und die Voraussetzungen zu seiner Überwindung dürften nur dem erwachsenen Nutzer zugänglich sein.7 Teilweise wird darüber hinaus verlangt, weitgehend sei auch die Weitergabe der Mittel zur Überwindung dieser zweiten Stufe des Sicherungssystems durch den erwachsenen Nutzer an Minderjährige auszuschließen. Als ein solches zweites Zugangshindernis gilt z. B. eine Hardwarekomponente, die der Nutzer vor jedem Zugang zu pornographischen Inhalten in sein Gerät integriert. Diese dürfe auch nur die zum Abruf der pornographischen Inhalte erforderlichen Daten enthalten, da andernfalls das Risiko bestehe, dass der Nutzer sie an Minderjährige z. B. für den Zugang zu jugendgeeigneten Medieninhalten weitergebe.8 Mit der Entwicklung des technischen Fortschritts einhergehend wird zum Teil die Authentifizierung mittels biometrischer Daten gefordert, indem der erwachsene Nutzer durch ein optisches oder sensorisches Lesegerät am heimischen Bildschirm seinen zuvor erfassten und ge3 S. z. B. Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner, JMStV (Stand Juli 2005), § 4 Rdn. 64; Hörnle (Fn. 2), § 184c Rdn. 8; Lenckner/Perron/Eisele, S/S-StGB, 27. Aufl. 2006, § 184c Rdn. 6; Nikles/Roll/Spürck/Umbach, Jugendschutzrecht, 2. Aufl. 2005, § 4 JMStV Rdn. 34 ff.; Scholz/Liesching, Jugendschutz, 2004, § 4 JMStV Rdn. 36 ff.; Ukrow, Jugendschutzrecht, 2003, Rdn. 429, 431; Wolters/Horn in: SK-StGB (Stand März 2007), § 184c Rdn. 6. Die Literatur folgt damit der Ansicht der Kommission für Jugendmedienschutz (s. § 14 JMStV), vgl. Pressemitteilung der KJM vom 24. 6. 2003, abrufbar unter www.kjm-online.de. Ebenso BGH, Urteil vom 18. 10. 2007, – I ZR 102/05 –, s. Pressemittelung des BGH Nr. 149/07. Die schriftlichen Entscheidungsgründe lagen am 25. 2. 2008 noch nicht vor. 4 So Bornemann, NJW 2003, 787, 789. 5 So Nikles/Roll/Spürck/Umbach (Fn. 3), § 4 JMStV Rdn. 34 a. E. 6 S. dazu z. B. Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner (Fn. 3): Erforderlich sei die Vorlage eines Personalausweises oder Reisepasses sowie die vollständige Erfassung und Speicherung der für die Altersprüfung relevanten Personendaten (Name, Adresse, Geburtsdatum und -ort, ausstellende Behörde, Ausstellungsort, Ausweisnummer und Staatsbürgerschaft). 7 S. Fn. 3. 8 So Scholz/Liesching (Fn. 3), Rdn. 41a; Nikles/Roll/Spürck/Umbach (Fn. 3), Rdn. 35 a. E.
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speicherten Fingerabdruck oder die Iris-Struktur seiner Augen für den Abruf überprüfen lässt.9 Diese Anforderungen werden zumeist nicht auf eine Auslegung der jeweils tatbestandsausschließenden Merkmale gestützt.10 Vielmehr lassen sie ein Sicherheitsdenken erkennen, das das jeweils technisch Machbare zum Erforderlichen erklärt und die Verantwortung für den Jugendschutz einseitig dem Anbieter einfach pornographischer Medieninhalte auferlegt. Im Folgenden wird demgegenüber aufgezeigt, wie die hier fraglichen Bestimmungen auf der Grundlage herkömmlicher Auslegung und Strafrechtsdogmatik zu verstehen sind. Zudem soll auf verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Pornographietatbestände des Jugendmedienschutzrechts und speziell § 184c StGB und § 24 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 Nr. 1, S. 2 JMStV hingewiesen werden.
II. 1. Sichergestellt sein muss nach dem Wortlaut der §§ 184c S. 2 StGB, 4 Abs. 2 S. 2 JMStV zunächst, dass die pornographischen Inhalte Minderjährigen nicht „zugänglich“ sind bzw. gemacht werden. Beide Ausnahmeregelungen greifen somit auf die in § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB und sonstigen Bestimmungen des Jugendmedienschutzrechts genannte Tathandlung des Zugänglichmachens bzw. deren Erfolg, das „Zugänglichsein“, eines tatbestandsmäßigen Mediums für Minderjährige zurück. Da sich aus den amtlichen Begründungen zu § 184c StGB und § 4 JMStV nichts anderes ergibt,11 9 So Lenckner/Perron/Eisele (Fn. 3), § 184c Rdn. 6; Wolters/Horn (Fn. 3), § 184c Rdn. 6; s. auch Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner (Fn. 3), § 4 Rdn. 64. 10 Auch auf die amtlichen Begründungen zu den beiden Bestimmungen kann man sich nicht berufen. In der Begründung zu § 4 Abs. 2 S. 2 JMStV (Fn. 2), S. 17, wird lediglich gesagt, es müsse sichergestellt sein, dass Minderjährige keinen Zugang zur geschlossenen Benutzergruppe haben. Es müsse „also ein verlässliches Altersverifikationssystem die Verbreitung an oder den Zugriff durch Minderjährige hindern.“ In der Begründung zu § 184c StGB (Fn. 2), S. 21 f., heißt es, die Bestimmung knüpfe an § 184 Abs. 2 StGB a. F., der ein Totalverbot pornographischer Darbietungen im Rundfunk enthielt, an, und dehne dieses Verbot auf Telemedien aus. Hinsichtlich Satz 2, der ursprünglich auch für den Rundfunk gelten sollte (zur Beschränkung auf Telemedien s. o. Fn. 2), wird gesagt, dieser Tatbestandsausschluss habe sich dem § 184 Abs. 2 StGB schon durch Auslegung entnehmen lassen. Hierfür verweist die amtliche Begründung auf Lenckner/Perron in: Schönke/Schröder, 26 Aufl., § 184 Rdn. 51. Dort heißt es, § 184 Abs. 2 sei ausgeschlossen, wenn die Darbietungen verschlüsselt gesendet würden und sichergestellt sei, dass der zur Entschlüsselung erforderliche Decoder nicht an Minderjährige abgegeben werde. In beiden amtlichen Begründungen ist daher weder ausdrücklich noch in der Sache von einem maximalen Schutzniveau oder einer zweistufigen Sicherung durch Identifizierung und Authentifizierung bei jedem Zugriff die Rede. 11 Vgl Fn. 10.
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ist davon auszugehen, dass das Merkmal „zugänglich“ für Minderjährige in diesen Bestimmungen ebenso zu verstehen ist wie z. B. in § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Der Erfolg des Zugänglichseins ist gegeben, wenn ein Minderjähriger die konkrete Möglichkeit hat, von dem Inhalt des Mediums unmittelbar durch sinnliche Wahrnehmung Kenntnis zu nehmen. Nach fast allgemeiner Ansicht liegt „Zugänglichsein“ jedoch nicht schon bei jeder tatsächlich möglichen Kenntnisnahme vor. Wahrnehmungshindernisse müssen nicht unüberwindlich sein. Vielmehr ist Zugänglichkeit für Minderjährige bereits dann zu verneinen, wenn der Möglichkeit der Kenntnisnahme rechtliche und/oder tatsächliche Hindernisse entgegenstehen,12 die eine „spürbare Hemmschwelle“13 darstellen.14 a) Wenn die h. M. abweichend hiervon im Rahmen der §§ 184c S. 2 StGB, 4 Abs. 2 S. 2 JMStV Hindernisse verlangt, die nahezu unter allen Umständen die Wahrnehmung durch Minderjährige ausschließen, so beruht dies vor allem darauf, dass – auch in der strafrechtlichen Literatur – die vom Bundesverwaltungsgericht in der Entscheidung BVerwGE 116, 5 ff. zu § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB aufgestellten Thesen unkritisch übernommen werden.15 In diesem Urteil hat das BVerwG zu der Frage Stellung genommen, unter welchen Voraussetzungen die Ausstrahlung pornographischer Filme im verschlüsselten Pay-TV nicht den objektiven Tatbestand des § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB in der Form des Zugänglichmachens pornographischer Schriften an für Jugendliche zugänglichen Orten erfüllt. Das BVerwG verlangt dafür folgendes: Zunächst müsse gewährleistet sein, dass der zum Empfang pornographischer Filme notwendige Decoder nur an Erwachsene gelangt. Hierfür sei eine zuverlässige Alterskontrolle beim Abschluss des Abonnentenvertrags erforderlich. Als zuverlässig sieht das BVerwG z. B. eine Alterskontrolle 12 So z. B. wenn eine für einen Dritten bestimmte pornographische Schrift einem Minderjährigen in einem verschlossenen Umschlag oder Paket übergeben wird bzw. im Kassenraum einer Tankstelle ausliegende pornographische Hefte in Plastikfolie eingeschweißt sind, OLG Karlsruhe NJW 1984, 1975; OLG Celle MDR 1985, 693. 13 Hörnle (Fn. 2), § 184 Rdn. 30. 14 Vgl. z. B. Lenckner/Perron/Eisele (Fn. 3), § 184 Rdn. 9; Wolters/Horn (Fn. 3), § 184 Rdn. 18; Laubenthal, Sexualstraftaten, 2000, Rdn. 763. Unzutreffend Pooth, Jugendschutz im Internet, 2005, S. 64, 72: § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB sei nur dann nicht gegeben ist, wenn die Rezeption durch Minderjährige „ausgeschlossen“ sei, das Gesetz verlange ein „Höchstmaß an Sicherheit“. 15 S. Hörnle (Fn. 2), § 184 Rdn. 41; Nikles/Roll/Spürck/Umbach (Fn. 3), Rdn. 34; Scholz/Liesching (Fn. 3), § 4 JMStV Rdn. 36a; Wolters/Horn (Fn. 3), § 184c Rdn. 6; Erdemir, CR 2005, 275, 277 f.; s. auch KG (5. Strafsenat) NStZ-RR 2004, 249, 250; KG (5. Zivilsenat), KGR 2006, 228.
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an, wenn vor oder während des Vertragsschlusses ein persönlicher Kontakt mit dem späteren Kunden stattfindet und dabei die Feststellung des Alters anhand amtlicher und mit Lichtbild versehener Dokumente sowie die Aufzeichnung darin enthaltener Daten, namentlich der Personalausweisnummer, vorgenommen wird. Des Weiteren sei so weit wie möglich sicherzustellen, dass der Decoder auch tatsächlich nur an volljährige Kunden abgegeben wird. Über diese Alterskontrollen bei Vertragsschluss und Auslieferung des Decoders hinaus verlangt das BVerwG eine weitere im System angelegte effektive Schutzvorkehrung gegen die Wahrnehmung der zu decodierenden Filme durch Minderjährige. Denn der Jugendschutz im Fernsehen habe auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass es „soziale Bindungen gibt, in denen erzieherisches Handeln nicht oder nur unzureichend stattfindet“. „Insbesondere in solchen Fällen kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass sich Minderjährige trotz vielfältiger Wahrnehmungshindernisse selbst visuellen Zugang zu dem Inhalt der Filme verschaffen“.16 Nach der Ansicht des BVerwG ist der objektive Tatbestand des § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB daher erst dann ausgeschlossen, wenn die Wahrnehmung pornographischer Filme über den Einsatz allgemeiner Decodiereinrichtungen hinaus die Überwindung zumindest eines weiteren im System angelegten wirkungsvollen Hindernisses erfordert und zudem sichergestellt ist, dass die dafür notwendigen Voraussetzungen ebenfalls nur Erwachsenen zugänglich gemacht werden. Die geforderten Wahrnehmungshindernisse trügen nicht nur Defiziten im häuslichen Fernseherziehungsverhalten Rechnung. Sie erhöhten auch in gebotenem Umfang die Wahrscheinlichkeit, dass Minderjährige nur mit Erlaubnis ihrer verantwortungsbewussten Eltern bestimmte verschlüsselte Filme ansehen und dass es sich dabei nicht um Filme pornographischen Charakters handele.17, 18 Die Entscheidung des BVerwG verstößt gegen allgemein anerkannte Regeln des Strafrechts und ist zudem mit den Grundsätzen des Jugendmedienschutzrechts nicht vereinbar. Nach ihr erfüllt derjenige, der eine pornographische Fernsehsendung ausstrahlt, den objektiven Tatbestand des § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB, wenn er nicht erstens durch eine zuverlässige Alterskontrolle dafür sorgt, dass der zum Empfang erforderliche Decoder nur an Erwachsene abgegeben wird und zweites ein weiteres wirkungsvolles Hindernis gegen den Zugriff Min16
BVerwGE 116, 5, 16. S. dazu aber bei Fn. 24. 18 Das VG München, MMR 2003, 292, hat sich der Ansicht des BVerwG angeschlossen und das Erfordernis des weiteren im System angelegten wirkungsvollen Hindernisses dahingehend präzisiert, dass für den Zugang zu pornographischen Sendungen eines spezielle PIN zu verlangen sei. 17
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derjähriger auf die Sendung schafft. Diese Ansicht ist aus mehreren Gründen unzutreffend. Den objektiven Tatbestand des § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt der Veranstalter grundsätzlich schon dann nicht, wenn der Decoder tatsächlich nur Erwachsenen ausgehändigt wurde. Ob dies durch eine Altersprüfung „sichergestellt“ war oder auf Zufall beruhte, ist entgegen der Ansicht des BVerwG gleichgültig.19 Wie der volljährige Kunde des Weiteren mit dem Decoder verfährt, liegt grundsätzlich in seinem und nicht mehr im Verantwortungsbereich des Veranstalters.20 Im Hinblick auf § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB gilt also nichts anderes als im Fall der Veräußerung eines pornographischen Buchs an einen erwachsenen Käufer. Hier erfüllt der Käufer – als unmittelbarer Täter – den objektiven Tatbestand des § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB, wenn er das pornographische Buch ohne Schutzvorkehrung z. B. in einen für Minderjährige zugänglichen Raum legt, ebenso der Erwerber des Decoders, wenn er diesen zu einem betriebsbereiten Fernsehgerät in einen solchen Raum stellt und dadurch auch für Minderjährige pornographische Filme empfangbar macht. Als Inhaber der Herrschaft über die Quelle der Jugendgefährdung können sie den Tatbestand auch durch Unterlassen (z. B. des Verschließens des Raums) erfüllen. Der Verkäufer des Buchs bzw. der Pay-TV-Veranstalter haben mit dem Verkauf des Buchs bzw. der Ausstrahlung eines pornographischen Films zur Tatbestandserfüllung durch den Käufer des Buchs bzw. Erwerber des Decoders zwar eine conditio sine qua non gesetzt. Nach gängigen Täterschaftsregeln bedeutet dies allein jedoch nicht, dass auch sie den Tatbestand verwirklicht haben.21 Der Verkäufer des Buchs und der Fernsehveranstalter verwirklichen den objektiven Tatbestand des § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB nur in den Fällen, in denen zusätzlich zu ihrem jeweiligen kausalen Beitrag die objektiven Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft, § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB (z. B. Unkenntnis des unmittelbaren Täters vom pornographischen Inhalt des Buchs oder Programms) oder die der Mittäterschaft, § 25 Abs. 2 StGB (gemeinsamer Tatplan, entsprechendes arbeitsteiliges Zusammenwirken) erfüllt sind. Die Auffassung des BVerwG, die Ausstrahlung pornographischer Filme im Pay-TV erfülle unter den oben genannten Voraussetzungen stets den objektiven Tatbestand des § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB, verstößt daher gegen allgemein anerkannte strafrechtliche (Täterschafts-)Regeln. 19 Unzutreffend daher auch Laubenthal, (Fn. 14), Rdn. 776, nach dem die Ausgabe der Decoder nur an Erwachsene „sichergestellt“ sein muss. 20 So noch zutreffend Lenckner/Perron, S/S-StGB, 26. Aufl. 2001, § 184 Rdn. 15. 21 Dass erwachsene Besitzer eines Decoders, insbesondere Eltern, auch darüber bestimmen können, ob der Raum, in dem der Decoder und das Fernsehgerät stehen, Minderjährigen zugänglich ist, erwähnt das BVerwG nicht.
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Auch soweit das BVerwG seine Ansicht damit zu begründen versucht, bei der Auslegung des Merkmals „Zugänglichmachen“ sei zu berücksichtigen, dass es häusliche bzw. familiäre Verhältnisse gebe, in denen Erziehung nicht oder nur unzureichend stattfinde, erweist sich dies als verfehlt. „Zugänglichmachen“ heißt – sieht man von den Modifikationen bei mittelbarer Täterschaft und Mittäterschaft ab –, einem anderen durch eigenes Handeln die konkrete Möglichkeit der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung zu verschaffen. Nach der Ansicht des BVerwG bedeutet es dagegen auch, einem anderen ein solches Handeln zu ermöglichen. Wenn das StGB eine derartige Mitwirkung an Taten voll verantwortlicher anderer Personen als Täterschaft erfassen will, bringt es das in den Tatbeständen des Besonderen Teils deutlich zum Ausdruck (vgl. z. B. §§ 146 Abs. 1 Nr. 1, 184 Abs. 1 Nr. 8). Das Merkmal „Zugänglichmachen“ auch auf das „Ermöglichen des Zugänglichmachens“ durch andere auszudehnen, stellt daher keine Auslegung, sondern einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG dar. Das Vorhandensein sozialer Verhältnisse, in denen Erziehung unzureichend stattfindet, hat deshalb zu Recht noch niemanden veranlasst, die vom BVerwG aufgestellten Regeln z. B. auf die Vermietung pornographischer Videokassetten zu übertragen. Dies bedeutete nämlich, den Vermieter gem. § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB für strafbar zu erklären, wenn er die Kassette dem erwachsenen Kunden nicht in einem z. B. mit einem Zahlenschloss versehenen Behältnis übergibt und dessen Kombination nur dem Kunden mitteilt. Dass diese Konsequenz auch diejenigen nicht ziehen, die ansonsten dem BVerwG folgen, liegt wohl an seiner Begründung für die Forderung nach einer zweiten effektiven Vorkehrung: Der Jugendschutz im Fernsehen müsse fehlender oder unzureichender Erziehung Rechnung tragen und dies sei bei der Auslegung des Merkmals „Zugänglichmachen“ zu beachten. Ein spezielles „Fernsehstrafrecht“, für das Art. 103 Abs. 2 GG nicht gilt, gibt es jedoch nicht. Die Ansicht des BVerwG ist aber auch mit den Grundsätzen des Jugendmedienschutzrechts, zu dem § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB gehört, nicht vereinbar. Das Jugendmedienschutzrecht soll die ungestörte Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen sichern.22 Da Art. 6 Abs. 1 GG den Eltern das Recht gibt, diese Entwicklung zu lenken, besteht die Aufgabe des Jugendmedienschutzrechts letztlich darin, Störungen des grundgesetzlich garantierten Erziehungsrechts durch das Eingreifen Dritter zu verhindern. Es soll gewährleisten, dass das Zugänglichmachen jugendgefährdender Medien durch Dritte von der Zustimmung der Eltern abhängig ist.23 Im Fall 22 23
BVerfGE 83, 130, 140. BVerfGE a. a. O.
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des Decoders, mit dem pornographische Filmsendungen zu empfangen sind, ist dieser Zweck schon dann erreicht, wenn der Decoder an erwachsene Eltern abgegeben wird. Das Recht überlässt grundsätzlich ihnen die Verantwortung für seinen Einsatz. Denn das ihnen garantierte Erziehungsrecht umfasst, worauf das BVerfG24 ausdrücklich hingewiesen hat, grundsätzlich auch die Entscheidung darüber, ob die Kinder zu Medieninhalten Zugang haben, die das Gesetz – wie im Fall von Pornographie (s. § 15 Abs. 2 Nr. 1 JuSchG) – als offensichtlich schwer gefährdend einstuft.25 Die elterliche Entscheidungsfreiheit findet ihre rechtliche Grenze nur in § 1666 BGB. Erziehungsverhalten, das diese Grenze beachtet, ist im Rechtssinne nicht unzureichend. Es kann daher auch kein Argument dafür sein, dem Fernsehveranstalter durch „Auslegung“ des § 184 Abs. 1 StGB Maßnahmen aufzuerlegen, die eine „hinreichende“ Erziehung fördern sollen.26 Aber selbst das Vorhandensein missbräuchlichen Erziehungsverhaltens vermag die Auffassung des BVerwG nicht zu rechtfertigen. Für Fälle missbräuchlichen Erziehungsverhaltens ist das Familiengericht zuständig, das gem. § 1666 BGB „die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen“ hat. Ist die durch das SexualdelÄndG eingeführte Missbrauchsklausel des § 184 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 StGB oder sind die Voraussetzungen des § 171 StGB erfüllt, so ist ein Strafverfahren gegen die Eltern einzuleiten. Verfehlt ist es dagegen, diesen Fällen des Missbrauchs des elterlichen Erziehungsrechts vorbeugen zu wollen, indem der Fernsehveranstalter unter Strafdrohung – der ultima ratio des Gesetzgebers – zu im familiären Bereich wirkenden Schutzvorkehrungen verpflichtet wird. Im Übrigen ist das Postulat eines „weiteren im System angelegten wirkungsvollen Hindernisses“ auch ungeeignet, einen Missbrauch des elterlichen Erziehungsrechts zu verhindern. Denn auch eine spezielle „Erwachsenen-PIN“ oder eine zur Entschlüsselung pornographischer Sendungen erforderliche Hardwarekomponente können Eltern ihren Kindern ohne weiteres missbräuchlich überlassen. Das „weitere Hindernis“ erleichtert es lediglich den Eltern, ihren Kindern das „normale“ verschlüsselte Programm unter Ausschluss jugendgefährdender Sendungen zu ermöglichen. Das Jugendmedienschutzrecht soll jedoch, wie bereits festgestellt, Eingriffe Dritter in die elterliche Erziehung verhindern. Ihm obliegt es nicht, Dritte unter Strafandrohung zu verpflichten, den Eltern die Durchsetzung ihrer Erziehungsziele zu erleichtern.
24
BVerfGE a. a. O. Unzutreffend daher Erdemir, MMR aktuell, 2/2004, V f. 26 Dies hätte zur Folge, dem Fernsehveranstalter eine Kontrollfunktion nicht nur bezüglich der Erziehung der Kinder durch die Eltern, sondern auch der Eltern selbst zuzuweisen. 25
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b) Eine weitere Entscheidung, auf die sich die herrschende Jugendmedienschutzliteratur mit ihrer Forderung nach einem nahezu absolut sicheren Ausschluss Minderjähriger von pornographischen Angeboten bzw. Darbietungen in Telemedien stützt,27 ist das Urteil BGHSt 48, 278 zu Automatenvideotheken mit pornographischem Material. In dieser Entscheidung erklärt der BGH, der Betrieb von Videotheken ohne Personal sei nur dann nicht tatbestandsmäßig i. S. d. § 184 Abs. 1 Nr. 3a StGB, wenn der zuvor als volljährig festgestellte Kunde sich vor der Auswahl und dem Entleihen einer Kassette durch seinen im Kontrollsystem gespeicherten Daumenabdruck identifizieren müsse. Aus diesem Urteil leitet die h. M. her, die Unzugänglichkeit einer geschlossenen Benutzergruppe sei nur dann sichergestellt, wenn der angemeldete erwachsene Nutzer sich auch bei jedem Abruf durch den Abgleich biometrischer Daten oder in einer gleichermaßen sicheren Weise authentifizieren müsse. Diese Folgerung aus der Entscheidung vernachlässigt die Verschiedenheit der zugrunde liegenden Sachverhalte. Denn der BGH befasst sich hier nicht mit dem Merkmal des Zugänglichseins, das in § 184 Abs. 1 Nr. 3a StGB auch nicht enthalten ist. Vielmehr betrifft die Entscheidung in der Sache den in § 184 Abs. 1 Nr. 3a StGB normierten Tatbestandsausschluss der „Unzugänglichkeit des Ladengeschäfts“ für Minderjährige. Die „Unzugänglichkeit“ ist nach Ansicht des BGH bei einer Automatenvideothek nicht in demselben Maß gegeben wie bei einer herkömmlichen „Bedienvideothek“.28 Denn die Kunden, die mittels Chipkarte die Automatenvideothek betreten konnten, waren nicht gehindert, Minderjährige mit hinein zu nehmen.29 Dieses Defizit wird nach Ansicht des BGH jedoch kompensiert, wenn Aus27 S. Scholz/Liesching (Fn 3), § 4 JMStV Rdn. 36a; Wolters/Horn (Fn. 3), § 184c Rdn. 6; s. ferner auch OLG Düsseldorf CR 2005, 657, 658; KG (5. Strafsenat), NStZ-RR 2004, 249, 250; KG (5. Zivilsenat), KGR 2006, 228. 28 Es überrascht, wenn der BGH an späterer Stelle erklärt, der Automatenraum sei für Minderjährige (doch) unzugänglich gewesen (a. a. O. S. 288). Liegt „Unzugänglichkeit“ nach der Ansicht des BGH vor, dann erscheinen seine Erwägungen zur Kompensation der Vor- und Nachteile einer Automatenvideothek (s. den folgenden Text) überflüssig. Vermutlich hat der BGH übersehen, dass der Jugendschutz „in“ der Videothek, nämlich beim Vermieten der pornographischen Videokassetten, durch § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB und § 27 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. § 15 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 JuSchG geregelt ist. 29 Die Wahrscheinlichkeit eines solchen vertragswidrigen Verhaltens war zwar dadurch reduziert, dass es durch Videoüberwachung festgestellt werden konnte und der Kunde mit Kündigung seines Vertrags rechnen musste. Andererseits – so der BGH weiter – kann anwesendes Personal Minderjährige schon am Zutritt hindern. Zudem sei die Hemmschwelle, die ein Erwachsener bei der Mitnahme eines Minderjährigen in eine Pornographie-Videothek überwinden müsse, bei Anwesenheit von Personal höher als bei einer Automatenvideothek (a. a. O. S. 287).
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wahl und Entleihen einer Kassette die technische Authentifizierung des Kunden anhand biometrischer Daten voraussetzt. In einer solchen technischen Vorkehrung liege eine zuverlässigere Alterskontrolle als durch Personal, das z. B. unaufmerksam oder abgelenkt sein oder getäuscht werden kann. In diesem Fall, und nur in diesem, bleibe eine Automatenvideothek unter dem Gesichtspunkt des Jugendschutzes „– insgesamt betrachtet – in ihrer Effektivität“ nicht hinter einer herkömmlichen Videothek zurück.30 Die Entscheidung beruht somit auf den Besonderheiten einer Videothek ohne Personal. Die allgemeine Aussage, Pornographie in Telemedien sei Minderjährigen stets zugänglich, wenn der Abruf des Angebots außer der Volljährigkeitsprüfung nicht zusätzlich eine Authentifizierung mittels Abgleichs biometrischer Daten oder eine gleichermaßen sichere Kontrolle voraussetzt, lässt sich nicht aus ihr herleiten. c) Außer mit den genannten nicht tragfähigen Hinweisen auf die soeben erörterten Entscheidungen begründet die h. M. ihre Forderung nach einem maximalen (zweistufigen) Schutz zumeist nicht weiter. Nur vereinzelt wird ausdrücklich angeführt, dass nach § 184c S. 2 StGB und § 4 Abs. 2 S. 2 JMStV deshalb wesentlich höhere Anforderungen an die Unzugänglichkeit von Pornographie für Minderjährige zu stellen seien als nach § 184 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB, weil Telemedien unter dem Gesichtspunkt des Jugendschutzes ein höheres Gefahrpotential aufwiesen als Schriften i. S. d. § 11 Abs. 3 StGB:31 Überwinde ein Minderjähriger z. B. im Internet die Zugangshindernisse zu Pornographie, so habe er – anders als typischerweise 30 Die Entscheidung geht davon aus, § 184 Abs. 1 Nr. 3a StGB solle den Kontakt Minderjähriger mit den Kassetten „in“ speziellen Pornographie-Videotheken unterbinden (a. a. O. S. 282). Der Tatbestandsausschluss der Unzugänglichkeit soll also nach ihr eine spätere Vermietung von Videokassetten an Minderjährige verhindern. Dem Merkmal „Unzugänglichkeit“ eine solche Vorfeldfunktion zuzuschreiben, widerspricht es jedoch, dass die legale gewerbsmäßige Vermietung zusätzlich zur Unzugänglichkeit der Videothek auch ihre Uneinsehbarkeit für Minderjährige verlangt. Nr. 3a soll also nicht erst den Kontakt Minderjähriger mit pornographischem Material „in“ der Videothek (dazu oben Fn. 28), sondern – wie es in der vom BGH selbst zitierten amtlichen Begründung heißt – bereits den (auch nur visuellen) Kontakt zur Vermietung ausschließen. Die Vorschrift hat somit aus der Sicht des Gesetzgebers eine ähnliche Funktion wie das Werbeverbot des § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB. Zwar überdehnt Nr. 3a – wie andere Bestimmungen des § 184 Abs. 1 StGB (s. Hörnle, KritV 2003, 299, 305; Fischer, StGB, 55. Aufl., 2008, § 184 Rdn. 3a) – den Bereich des Strafbaren, so dass die Entscheidung des BGH im Ergebnis sachgerecht erscheinen mag. Mit dem Gesetz und den Intentionen des Gesetzgebers ist sie jedoch nicht vereinbar. Im Übrigen ließe sich auf ihrer Grundlage schwerlich die Strafbarkeit des Betreibens einer PornographieVideothek nach Nr. 3a begründen, die zwar nicht unzugänglich und/oder uneinsehbar für Minderjährige ist, aber aufgrund entsprechender Vorkehrungen die Vermietung von Kassetten an Minderjährige mit höchster Sicherheit ausschließt. 31 So Döring/Günter, MMR 2004, 231, 236; Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner (Fn. 3), § 4 Rdn. 64.
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im Fall von Schriften oder sonstigen Darstellungen – Zugriff auf eine Vielzahl pornographischer Angebote.32 Auch diese Ansicht kann nicht überzeugen. Denn abgesehen davon, dass weder die Materialien zu § 184c StGB noch die zu § 4 JMStV sie stützen,33 führt sie dazu, im Bereich der Telemedien die durch § 184c StGB entstandene sachwidrige Diskrepanz zwischen den Regeln für pornographische Live-Darbietungen und Aufzeichnungen noch zu vergrößern. Während die Verbreitung von Live-Darbietungen ohne eine maximale Sicherung gegen den Zugriff Minderjähriger stets gem. § 184c StGB strafbar wäre, wäre die von Aufzeichnungen unter denselben Umständen lediglich eine Ordnungswidrigkeit gem. § 24 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 Nr. 1 JMStV und erst dann strafbar gem. § 184 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StGB, wenn das nach herkömmlichen Maßstäben zu bestimmende Merkmal des Zugänglichmachens erfüllt ist. Zudem führt die auf das Argument des erhöhten Gefahrenpotentials34 von Telemedien gestützte Auffassung zu einem Wertungswiderspruch zwischen §§ 184c StGB, 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2 JMStV und § 184 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB sowie allen sonstigen Vorschriften des Jugendmedienschutzrechts, die es untersagen, Minderjährigen jugendgefährdende Medien zugänglich zu machen. Denn das Merkmal „Zugänglichmachen“ ist in § 184 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB usw. stets nach demselben Maßstab („spürbare Hemmschwelle“) und unabhängig davon zu bestimmen, ob es sich im konkreten Fall um umfangreiches jugendgefährdendes Material oder um eine einzelne Darstellung handelt. Dieser Widerspruch ließe sich nur vermeiden, wenn aus der Begründung, mit der im Rahmen von § 184c StGB und § 4 Abs. 2 S. 2 JMStV höchste Sicherheitsanforderungen gestellt werden, die Konsequenz 32 Soll die Annahme eines erhöhten Gefahrenpotentials nicht lediglich vage Vermutung bleiben, so müsste zunächst (empirisch) geklärt sein, ob Pornographiekonsum überhaupt schädliche Auswirkungen für Minderjährige hat. Bereits dies ist unklar (s. Hörnle [Fn. 2], § 184 Rdn. 2 ff.; Fischer [Fn. 30], § 184 Rdn. 3, 3a; näher dazu unten III. 2.). Die These, die Quantität pornographischer Angebote im Internet berge ein zusätzliches Gefahrenpotential, entbehrt – solange die Risiken von einfacher Pornographie nicht belegt sind – daher einer sachlichen Grundlage. Sie offenbart eher „Elemente irrationaler Furcht vor der faktischen Unkontrollierbarkeit der Kommunikation“ (Fischer, a. a. O.) im anonymen Raum des weltweiten Netzes. Diese mit der Entwicklung der neuen Medien in der Erwachsenenwelt zunehmende Verunsicherung hat ihren Grund wohl auch in einer mangelnden Nutzungskompetenz, die zu einer Angst vor dem (als bedrohlich empfundenen) Unbekannten und seinen Folgen führt. Der Ruf nach mehr Sicherheit durch Kontrolle ist somit verständlich und ernst zu nehmen. „Strafrechtlich-symbolische Maßlosigkeit einer Schein-Kontrolle bei gleichzeitiger Hysterisierung der Gefahren ist gleichwohl nicht das richtige Steuerungsmittel“ (Fischer, a. a. O., Rdn. 25). Dazu auch unten III. 3. 33 Vgl oben Fn. 10. 34 O. Fn. 31.
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gezogen würde, das Merkmal des Zugänglichmachens in § 184 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB anhand des im Einzelfall angenommenen Wirkungsrisikos unterschiedlich – extensiv oder restriktiv – zu bestimmen. Was Zugänglichmachen heißt bzw. welche Zugangshindernisse dieses Merkmal ausschließen, wäre dann nicht nur von der Menge des jugendgefährdenden Materials abhängig, sondern z. B. auch davon, ob es die Schwelle zur Pornographie geringfügig überschreitet oder hochgradig pornographisch ist, ob es aus gedruckten Texten oder aus ungleich wirkungsmächtigeren bewegten Bildern besteht.35 Damit aber würde der Gesetzesbegriff nicht ex ante und für den Normadressaten vorhersehbar ausgelegt werden, sondern seine Definition ex post und nicht vorhersehbar der jeweiligen Risikoeinschätzung durch die Strafgerichte überlassen. Eine solche Auslegung würde das Merkmal des Zugänglichmachens „entgrenzen“ und gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen.36 d) Zusammenfassend ergibt sich: Das negative Tatbestandsmerkmal des Zugänglichmachens nur für Erwachsene bzw. umgekehrt der Unzugänglichkeit für Minderjährige in § 184c S. 2 StGB und § 4 Abs. 2 S. 2 JMStV ist anhand derselben Kriterien zu bestimmen wie das des Zugänglichmachens in § 184 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB. Ausreichend ist demnach ein rechtliches und/oder tatsächliches Zugangshindernis, das für Minderjährige eine „spürbare Hemmschwelle“ darstellt. Nicht genügend ist es daher, wenn der Minderjährige z. B. allein durch das Anklicken eines entsprechenden Feldes auf dem Bildschirm erklären kann, er sei 18 Jahre alt. Im Fall von LiveDarbietungen hat der Anbieter dann den Tatbestand des § 184c S. 1 StGB und im Fall von Aufzeichnungen den des § 184 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StGB erfüllt.37 2. Der Tatbestandsausschluss des § 184c S. 2 StGB und des § 4 Abs. 2 S. 2 JMStV setzt weiterhin voraus, dass die Unzugänglichkeit für Minderjährige bzw. die Zugänglichkeit nur für Erwachsene „sichergestellt“ ist. a) Die Verwendung des Begriffs „Sicherstellen“ scheint auf den ersten Blick für die Auffassung zu sprechen, nach der die Zugänglichkeit nur für 35 Damit würden Strafzumessungsgesichtspunkte schon zur Bestimmung eines Tatbestandsmerkmals herangezogen. 36 Vgl. dazu BVerfGE 92, 1, 12; 87, 209, 223 f. 37 Die Ordnungswidrigkeit des § 24 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 Nr. 1 JMStV tritt in beiden Fällen bei Vorsatztaten zurück (§ 21 Abs. 1 OwiG) und hat nur bei fahrlässiger Begehung eine eigenständige Bedeutung. Dazu, dass trotz der Regelung des § 1 Abs. 2 S. 2 JuSchG auch in diesem Fall § 24 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 15 Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 Nr. 1 JuSchG nicht anwendbar ist, s. Scholz/Liesching (Fn. 3), § 1 JuSchG Rdn. 14 f.; Erdemir CR 2005, 275, 276; KG, NStZ-RR 2004, 249, 252.
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Erwachsene durch eine zweistufige, für Minderjährige nahezu unüberwindliche Zugangsbarriere zu gewährleisten ist. Diese Interpretation führt im Ergebnis jedoch zu den schon oben genannten sachwidrigen Konsequenzen (II. 1. c). Gegen sie spricht zudem auch § 184c StGB. Denn die h. M. verlangt mit ihrer zweifachen Kontrolle (Volljährigkeitsprüfung des Nutzers und seine Authentifizierung beim Abruf) kumulativ zwei Arten von Sicherungsmaßnahmen. Damit weicht sie ohne eine Begründung vom Wortlaut des § 184c S. 2 StGB ab, der als Mittel zum „Sicherstellen der Unzugänglichkeit“ alternativ technische oder sonstige Vorkehrungen nennt, also eine dieser beiden Arten von Maßnahmen für ausreichend erachtet. § 4 Abs. 2 S. 2 JMStV nennt zwar keine Methoden des Sicherstellens. Da der Schutzzweck des Bußgeldtatbestands des § 24 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2 JMStV jedoch derselbe ist wie der des § 184c StGB, wäre es verfehlt, hier andere Anforderungen zu stellen. b) Das Merkmal „Sicherstellen“ ist daher nicht im Sinne der h. M. zu verstehen. Es bedeutet vielmehr, die Eröffnung der Zugangsmöglichkeit von einer systematischen und sorgfältigen Feststellung der Volljährigkeit des Nutzers abhängig zu machen. Darin liegt der Unterschied zwischen §§ 184c StGB, 24 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 JMStV einerseits und § 184 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB auf der anderen Seite. Wie oben bei der Erörterung der Entscheidung des BVerwG bereits erwähnt, sind § 184 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB tatbestandlich auch dann nicht erfüllt, wenn der Zugang zu einer pornographischen Schrift zwar ohne eine Altersprüfung aber zufällig nur Erwachsenen gewährt wird. Dagegen verlangen § 184c StGB und § 24 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2 JMStV, dass die Unzugänglichkeit der Angebote für Minderjährige durch ein – wie es in der amtlichen Begründung zu § 4 JMStV heißt – „verlässliches Altersverifikationssystem“ gewährleistet ist. Das heißt, ohne eine der Zugangseröffnung vorgeschaltete systematische und sorgfältige Alterskontrolle sind die objektiven Tatbestände des § 184c StGB und des § 24 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2 JMStV auch dann erfüllt, wenn der Zugang gleichwohl keinem Minderjährigen gewährt worden ist.38 Sie sanktionieren also nicht wie § 184 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB erst das „Zugänglichmachen“, sondern schon das „Verbreiten ohne Sicherstellen der Unzugänglichkeit“, mithin das Risiko
38 Kennt der Anbieter das Defizit seines Kontrollsystems und hat sich infolge des Mangels ein Minderjähriger Zugang zu der Benutzergruppe verschafft, so kommt im Fall der Verbreitung pornographischer Aufzeichnungen – je nach dem, welche Anforderungen man an diese Vorsatzform stellt – eine bedingt vorsätzliche Tat gem. § 184 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StGB in Betracht.
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der Zugänglichkeit für Minderjährige.39 Diese Vorverlagerung des Jugendschutzes ist im Bereich der Telemedien – ebenso wie beim Versandhandel (s. § 1 Abs. 4 JuSchG) – wegen der Verbreitung von Angeboten ohne persönlichen Kontakt zum Empfänger auch gerechtfertigt.40 Das Merkmal Sicherstellen betrifft demnach nicht die Höhe des Zugangshindernisses (im Sinne eines maximalen Schutzniveaus), sondern es bezeichnet eine Sorgfaltsmaßnahme gegen das Zugänglichsein im Sinne des § 184 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB bei der Verbreitung. Es genügt daher ein solches „verlässliches“ Altersverifikationssystem, das aus rechtlichen und/oder tatsächlichen Gründen eine für Minderjährige „spürbare Hemmschwelle“ bildet. Wird die Volljährigkeit des Nutzers in persönlichem Kontakt mit ihm festgestellt, so muss das nicht stets anhand eines Ausweises mit Lichtbild geschehen. Die Vorlage eines Ausweises ist nur erforderlich, wenn auf Grund des Aussehens Zweifel an der Volljährigkeit begründet sind. Zudem kann die Volljährigkeit der Nutzer entgegen der h. M. auch ohne einen persönlichen Kontakt „sichergestellt“ werden.40a So genügt es, wenn dem Anbieter Kopien des Personalausweises, einer Kredit- oder Kontokarte sowie ein unterschriebener Antrag zugefaxt werden und die Gültigkeit der Karte durch Belastung geprüft wird.41 Eine spürbare Hemmschwelle besteht bei diesem System für Minderjährige schon deshalb, weil sie im Fall des Benutzens des fremden Ausweises eines Erwachsenen, dessen Unterschrift auf dem Antrag fälschen, also eine Tat gem. § 267 Abs. 1 StGB begehen müssten.42 In der Praxis zwar gebräuchlich,43 aber entgegen der h. M. rechtlich nicht zu fordern, ist ein zweistufiges Sicherungssystem, bei dem der als volljährig festgestellte Nutzer sich vor jedem Abruf des Angebots durch ein ihm zugeteiltes Passwort, die Benutzung einer Hardwarekomponente oder sogar
39 Entgegen Wolters/Horn (Fn. 3), § 184c Rdn. 6, kann die Wertung des § 184c StGB daher nicht auf Fälle der Verbreitung nach § 184 Abs. 1 StGB, d. h. auf die Verbreitung pornographischer Filme im Fernsehen oder in Telemedien, übertragen werden. 40 Sinnvoll wäre sie auch für die Ausstrahlung pornographischer Filme im Fernsehen. Die oben (II. 1. a) kritisierte Entscheidung BVerwGE 116, 5 ff., die § 184c StGB für diesen Fall vorwegzunehmen versucht, ist – sieht man von ihren übertriebenen Anforderungen ab – daher rechtspolitisch verständlich. 40a So auch Sellmann, MMR 2006, 723, 726. 41 Nach Scholz/Liesching (Fn. 3), § 4 JMStV Rdn. 39 f., soll dieses System, das die von den Ländern eingerichtete Stelle „jugendschutz.net“ (s. § 18 JMStV) vor Inkrafttreten des JMStV für hinreichend erachtet hatte, nur noch für eine Übergangszeit zulässig sein. 42 S. Cramer/Heine-S/S-StGB (Fn. 3), § 267 Rdn. 43. 43 S. die Darstellung verschiedener Systeme bei Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner (Fn. 3), § 4 Rdn. 65a.
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durch den Abgleich biometrischer Daten authentifizieren muss.44 Wird die „Eröffnung des Zugangs“ zu einem Angebot von der verlässlichen Feststellung der Volljährigkeit des Nutzers abhängig gemacht, so ist es bei einer Freischaltung auch nur ihnen im rechtlichen Sinne „zugänglich“. Eine nochmalige Prüfung, z. B. durch die Eingabe eines Passworts, ob der angemeldete und bereits auf seine Volljährigkeit hin geprüfte Nutzer auch tatsächlich der Abrufende ist, wird vom Gesetz nicht gefordert. Die für ihn abrufbaren Angebote gegen den Zugriff Minderjähriger zu sichern, ist ebenso Sache des Nutzers45 wie die Sicherung der von ihm bereits abgerufenen und z. B. in seinem Computer gespeicherten Angebote.
III. Unabhängig davon, wie die oben erörterten Jugendschutzregelungen auszulegen sind, sei im Folgenden noch auf die gegen sie bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken hingewiesen.
44 Mit der Forderung nach Authentifizierung des Nutzers setzt sich die h. M. auch in Widerspruch zu der Regelung des Versandhandels in § 1 Abs. 4 JuSchG. Denn für das „Sicherstellen“, dass kein Versand an Minderjährige erfolgt, ist nach überwiegender Auffassung (Hörnle [Fn. 2], § 184 Rdn. 56; Lenckner/Perron/Eisele [Fn. 3], § 184 Rdn. 22; Scholz/Liesching [Fn. 3], § 1 JuSchG Rdn. 22 f.) keine Authentifizierung des Empfängers bei der Auslieferung erforderlich (and. OLG München NJW 2004, 3344, 3346; Nikles/Roll/Spürck/Umbach [Fn. 3], § 1 JuSchG, Rdn. 23). Dies ist auch zutreffend, da tatbestandsmäßiger Versandhandel nach § 1 Abs. 4 JuSchG auch ohne „Sicherstellen“ bereits dann ausscheidet, wenn dem Versand ein persönlicher Kontakt zwischen Lieferant und Besteller vorausgegangen ist (so auch Liesching, NJW 2004, 3303, 3304). – Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass die – auch für § 184 StGB geltende (s. z. B. Hörnle [Fn. 2], Rdn. 55 f.; Lenckner/Perron/Eisele [Fn. 3], Rdn. 22) – restriktive Definition des Versandhandels des § 1 Abs. 4 JuSchG zu einem Wertungswiderspruch zu dem weiterhin geltenden Verbot des Kioskhandels (§ 184 Abs. 1 Nr. 3 StGB, § 15 Abs. 1 Nr. 3 JuSchG) führt, bei dem stets persönlicher Kontakt zwischen Händler und Kunde gegeben ist. 45 Macht er Telemedienangebote, die aus Aufzeichnungen bestehen, vorsätzlich Minderjährigen oder an einem für Minderjährige zugänglichen Ort zugänglich, so verwirklicht er – sofern nicht das Erzieherprivileg des § 184 Abs. 2 S. 1 StGB eingreift – die Tatbestände des § 184 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StGB. Verhindert er den Zugriff Minderjähriger nicht, so erfüllt er als Verantwortlicher für die Gefahrenquelle diese Tatbestände durch Unterlassen (§ 13 StGB). Trotz des perfektionistischen Strebens von Bundes- und Landesgesetzgeber nach lückenlosem Jugendschutz bleibt es dagegen sanktionslos, wenn der Nutzer einem Minderjährigen durch Tun oder Unterlassen die Möglichkeit gibt, pornographische Live-Darbietungen zu sehen. § 184c StGB erfasst nur das Verbreiten solcher Darbietungen, und der Bußgeldtatbestand des § 24 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2 JMStV ist eine Sonderordnungswidrigkeit für Anbieter, d. h. Rundfunkveranstalter und Anbieter von Telemedien (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 JMStV).
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1. Zunächst ist schon zweifelhaft, ob das Merkmal „pornographisch“, das erstmals durch das 4. StrRG vom 23. 11. 1973 in § 184 StGB a. F. aufgenommen und von den Landesgesetzgebern ohne eigene Erwägungen in ihre Regelungen übernommen worden ist, dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG genügt.46 Eine Legaldefinition des Begriffs Pornographie findet sich weder im StGB noch im JMStV. Eine am allgemeinen Sprachgebrauch orientierte Wortlautauslegung führt zu keinem Ergebnis, weil, wie ein Blick in verschiedene Wörterbücher zeigt, Einigkeit nur darüber besteht, dass es sich bei Pornographie um Sexualdarstellungen handelt, aber sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber existieren, was solche Darstellungen zu pornographischen macht.47 Die subjektive Auslegung führt zu keinem Erfolg, weil der Sonderausschuss des Deutschen Bundestags, auf dessen Vorschlag die Einführung des Merkmals beruht, dieses zwar definiert, aber zugleich erklärt hat, er wolle damit die Auslegung nicht festlegen.48 Die Definition des Sonderausschusses kann also nicht als „Wille des Gesetzgebers“ gelten. Eine teleologische, am Ziel des Jugendschutzes orientierte Interpretation scheitert daran, dass die Materialien des 4. StrRG nicht erkennen lassen, vor welchen möglichen negativen Wirkungen von Sexualdarstellungen der Gesetzgeber Minderjährige geschützt wissen wollte. Ist dies aber unklar, so lassen sich auch die Eigenschaften nicht bestimmen, die solche Darstellungen zu im Rechtssinne pornographischen werden lassen.49 Der Sinn des Merkmals „pornographisch“ ist daher mit herkömmlichen juristischen Auslegungsmethoden nicht zu ermitteln. Bundes- wie Landesgesetzgeber haben folglich bei allen Regelungen, die dieses Merkmal verwenden, entgegen Art. 20 Abs. 3 GG50 die wesentlichen Wertentscheidungen nicht selbst getroffen und somit bei Straf- und Bußgeldtatbeständen auch ihre aus Art. 103 Abs. 2 GG folgende Pflicht verletzt, „Wertungskriterien“ anzugeben, an die sich die richterliche Entscheidung zu halten hat.51
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So auch Scholz/Liesching (Fn. 3), § 184 StGB Rdn. 2 m. w. N. S. z. B. Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, 1983, S. 175; Stölzel/Eitz, Zeitgeschichtliches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, 2002, S. 313; Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 6. Aufl., 1997, S. 974; Die Zeit, Das Lexikon, 2005, Bd. 11, S. 465. 48 Nach seiner Definition sind Darstellungen pornographisch, „die 1. zum Ausdruck bringen, daß sie ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes bei dem Betrachter abzielen und dabei 2. die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstandes eindeutig überschreiten.“ S. BT- Drs. VI, 3521, S. 60. 49 Zum Versuch einer verfassungskonformen Auslegung des Begriffs Pornographie s. H. Schumann, FS Lenckner, 1998, S. 565 ff. 50 S. dazu BVerfGE 84, 212, 226; 49, 89, 126 f. m. w. N. 51 S. dazu BVerfGE 105, 135, 156. 47
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2. Weiterhin dürfte auch die Erforderlichkeit eines Schutzes Minderjähriger vor einfacher Pornographie mittlerweile nicht mehr hinreichend belegt und daher neu zu überprüfen sein. Denn die Grundlage aller einschlägigen, die Rechte aus Art. 5 Abs. 1 GG beschränkenden, Bestimmungen ist bis heute die Erwägung, mit der der Gesetzgeber den Jugendschutz in der Neufassung des § 184 StGB durch das 4. StrRG begründet hat. Er ging damals davon aus, dass die Möglichkeit einer Gefährdung Minderjähriger durch Pornographie zwar wissenschaftlich nicht erwiesen, Jugendschutz aber schon deshalb erforderlich sei, weil man Risiken nicht völlig auszuschließen könne.52 Diese Einschätzung beruht auf einer Sachverständigenanhörung, die der Sonderausschuss des Bundestags für die Strafrechtsreform im November 1970 durchführte, und in der die Mehrheit der Sachverständigen von einfacher Pornographie ausgehende Wirkungsrisiken für Minderjährige verneint hat.53 Das BVerfG hat im Jahr 1990 die Entscheidung des damaligen Gesetzgebers gebilligt, weil sie im Rahmen der ihm einzuräumenden Einschätzungsprärogative liege. Deren Ausmaß hänge u. a. von der Möglichkeit des Gesetzgebers ab, sich ein hinreichend sicheres, empirisch abgestütztes Urteil über die Gefahrenlage zu bilden. Dies sei aber bei den Vorarbeiten zum 4. StrRG durch das Fehlen systematischer Untersuchungen und Langzeitstudien zu den Wirkungen von Pornographie auf Minderjährige erschwert gewesen. In einer solchen wissenschaftlich ungeklärten Situation sei der Gesetzgeber befugt, die Risiken selbst abzuschätzen und darüber zu entscheiden, ob er Maßnahmen ergreifen wolle oder nicht. Den ihm zustehenden Entscheidungsspielraum hätte der Gesetzgeber nach Ansicht des BVerfG nur dann überschritten, wenn eine Gefährdung Minderjähriger nach dem Stand der Wissenschaft vernünftigerweise auszuschließen gewesen wäre. Davon könne aber nach den Beratungen zum 4. StrRG nicht die Rede sein.54 Mit diesen Erwägungen dürfte sich die Erforderlichkeit des Jugendschutzes vor einfacher Pornographie heute jedoch nicht mehr begründen lassen.55 Zum einen fand die Sachverständigenanhörung, die zu der „wissenschaftlich ungeklärten Situation“ führte, zu einer Zeit statt, in der es noch keine Medienwirkungsforschung gab. Schon aus diesem Grund leidet sie aus heutiger Sicht an einem Defizit. Zum anderen wurde eine Gefährdung Minderjähriger durch einfache Pornographie in der Anhörung überwiegend von 52 Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses des Bundestags für die Strafrechtsreform, BT-Drs. VI/3521, S. 58. 53 S. Laufhütte, Protokolle des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, 6. Wahlperiode, S. 1908; Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses, BT-Drs. VI/3521, S. 58. 54 BVerfGE 83, 130, 141 f. 55 So auch Berger, MMR 2003, 773, 775.
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solchen Sachverständigen angenommen, die zu einer derartigen Aussage fachlich nicht qualifiziert waren56 und denen bereits aufgrund der Einteilung des Fragenkatalogs des Sonderausschusses ein „Sachverständigenwissen“ zur Frage der Wirkungen von Pornographie nicht zugestanden wurde.57 Die Mehrheit der ausdrücklich zu dieser Frage eingeladenen Sachverständigen schloss dagegen entweder eine Gefährdung aus58 oder schätzte sie (mit hoher Wahrscheinlichkeit) als gering59 ein. Unter ihnen waren auch Sachverständige, die ihre Annahme einer wohl auszuschließenden Beeinträchtigung Minderjähriger auf wissenschaftliche Untersuchungen60 oder langjährige praktische Erfahrungen aus ihrer beruflichen Tätigkeit (z. B. als Kinder- und Jugendpsychiater, -Mediziner, -Psychologe) stützen konnten.61 56 So erwartet der Strafrechtler Jescheck von der „Freigabe der Pornographie einen Abstieg in der äußeren Gesittung“ und fordert ein Totalverbot, Protokolle des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, 6. Wahlperiode, S. 1105; ebenso der katholische Theologe Ermecke, der das Strafwürdige von Pornographie in ihrem „Angriff auf die Institutionen von Ehe und Familie“ sieht, a. a. O., S. 1068. Der evangelische Theologe Trillhaas erkennt die Sozialschädlichkeit von Pornographie in der „Infiltration des allgemeinen Bewusstseins“, a. a. O., S. 1075, 1077, 1080. 57 S. Fragenkatalog für die Anhörung von Sachverständigen zum Vierten Gesetz zur Reform des Strafrechts (Fn. 56), Anlage 1, S. 1140 f. 58 Daher befürworten eine Freigabe einfacher Pornographie Hallermann, Institut für gerichtliche und soziale Medizin, Universität Kiel, (Fn. 56), S. 999, 1000, 1003; Nau, Institut für forensische Psychiatrie, FU Berlin, (Fn. 56), S. 1007; der Psychiater Wille, (Fn. 56), S. 988; die Kinder- und Jugendpsychiaterin Schönfelder, (Fn. 56), S. 919; Metzger, Institut für Psychologie, Universität Münster, (Fn. 56), S. 940 f., 944; der Arzt und Psychoanalytiker Mitscherlich, (Fn. 56), S. 967 f.; die Kriminaldirektorin Matthes, (Fn. 56), S. 1021; Sigusch, Institut für Sexualforschung, Universität Hamburg, (Fn. 56), S. 867, zunächst nur für Jugendliche. 59 Dabei wird immer wieder darauf hingewiesen, dass selbst die Annahme einer geringen Gefährdung nicht aus empirischen oder experimentellen Untersuchungen geschlossen wird, sondern nur eine bloße nicht auszuschließende Hypothese sein kann. S. dazu die Aussagen des Psychologen Kentler, Pädagogisches Zentrum Berlin, (Fn. 56), S. 1031; des Kinder- und Jugendpsychiaters Lempp, (Fn. 56), S. 930, 932; des Mediziners Strunk, Universität Marburg, (Fn. 56), S. 924. 60 S. dazu Sigusch, (Fn. 56), S. 866 f; Hallermann, (Fn. 56), S. 995 ff., insbes. S. 999, der auf seine gerichtsärztlichen Begutachtungen von mehr als 1000 Sexualstraftätern über einen Zeitraum von 30 Jahren verweist; sowie die zusätzliche Stellungnahme von Kentler zur Frage der Jugendgefährdung durch Pornographie, (Fn. 56), S. 1159 ff. m. w. N. 61 Vgl. oben Fn. 58 f. Nur zwei der aus derartigen Berufsfeldern stammenden Sachverständigen, nämlich Böttcher von der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik in Düsseldorf, (Fn. 56), S. 1042, der sich selbst als „pädagogischen Praktiker“ bezeichnet, und der Facharzt für Psychotherapie Affemann, (Fn. 56), S. 948 f., bejahen eine umfassende Gefährdung durch Pornographie und fordern ein Totalverbot. Wissenschaftliche Belege für ihre Ansicht nennen beide nicht. Vielmehr weist Böttcher, (Fn. 56), S. 1048, selbst auf den hypothetischen Charakter seiner Annahme hin. Befremdlich ist es, dass Laufhütte (Vertreter des Bundesjustizministeriums im Sonderauschuss) in seiner Zusammenfassung der Anhörung, (Fn. 56), S. 1908, die Stellungnahme von Affemann, dem schon die Mitglieder des Ausschusses ein Fachwissen deutlich abgesprochen hatten, s. (Fn. 56), S. 950 f., an erster Stelle erwähnt. Im übrigen be-
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„Wissenschaftlich ungeklärt“ war die Frage nach den Wirkungsrisiken von Pornographie für Minderjährige in den Beratungen zum 4. StrRG deshalb zwar insofern, als systematische Untersuchungen und Langzeitstudien fehlten, nicht aber in dem Sinne, dass sich wissenschaftlich begründete Auffassungen, die ein Wirkungsrisiko bejahten bzw. verneinten, gegenüberstanden. Indem der Gesetzgeber sich der Minderheitsmeinung anschloss, hat er vielmehr eine schon damals angezweifelte Alltagstheorie übernommen und zur Grundlage seiner Regelungen gemacht. Mangels Möglichkeiten zur Erforschung von Medienwirkungen mag dies zum damaligen Zeitpunkt allerdings nicht zu beanstanden gewesen sein. Inzwischen gibt es jedoch eine mit wissenschaftlichen Methoden arbeitende Medienwirkungsforschung, die z. B. durch zahlreiche Untersuchungen zu den Wirkungen von Gewaltdarstellungen eine hinreichende verfassungsrechtliche Basis für § 131 StGB geliefert hat.62 Ebenso wäre es möglich zu untersuchen, ob und wenn ja, welche Art von Sexualdarstellungen welche Wirkungen haben. Zutreffend wird darauf hingewiesen, dass zahlreiche Jugendliche – sei es aufgrund des Erzieherprivilegs (§ 184 Abs. 2 S. 1 StGB, § 184 Abs. 6 S. 1 StGB a. F.), sei es durch rechtswidriges Handeln anderer – an Pornographie gelangt sind und gelangen, Probanden also zur Verfügung stünden.63 Zudem könnten Untersuchungen auch in europäischen Staaten durchgeführt werden, in denen einfache Pornographie Minderjährigen insgesamt64 oder ab einem bestimmten Alter65 zugänglich gemacht werden darf. Da seit dem Inkrafttreten des 4. StrRG einfache Pornographie für Erwachsene erlaubt ist, können schließlich auch die in den Vorarbeiten zum 4. StrRG vermissten systematischen Untersuchungen und Langzeitstudien durchgeführt werden. Untersuchungen an jüngeren erwachsenen Pornographiekonsumenten und Langzeitstudien an älteren Dauerkonsumenten würden in Verbindung mit den sonstigen Erkenntnissen der Medienwirkungsforschung und der Entwicklungspsychologie Rückschlüsse auf die Wirkungen von Pornographie auf Minderjährige zulassen.
gründet Affemann seine Gefährdungstheorie – in populistischer Art und Weise – mit triebtheoretischen Annahmen Sigmund Freuds, s. (Fn. 56), S. 945 ff., 951 f. 62 S. dazu z. B. Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, 1993, S. 69 ff., Bundesministerium des Innern, Medien und Gewalt, 1996; Merten, Gewalt durch Gewalt im Fernsehen, 1999; Grimm, Fernsehgewalt, 1999. 63 Beisel, Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes und ihre strafrechtlichen Grenzen, 1997, S. 205. 64 So in den Niederlanden, s. Crans, tv diskurs, Ausg. 2 (August 1997), S. 30 f. 65 So in Schweden (ab 11 Jahren), s. Wallander, tv diskurs, Ausg. 6 (Oktober 1998), S. 9; und in Dänemark (ab 15 Jahren), s. Hoedt-Rasmussen, tv diskurs, Ausg. 13 (Juli 2000), S. 15. S. dazu auch Weigend, ZUM 1994, 133, 137; Liesching, MMR 2003, 156, 158 f., 161; sowie Büttner/Crans/v. Gottberg/Metze-Mangold, Jugendmedienschutz in Europa, 2000, S. 51 ff.
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Der Gesetzgeber ist auch verpflichtet, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG ist bei Regelungen, die auf einer möglicherweise unzutreffenden Einschätzung der Sachlage beruhen, die ursprüngliche und vorläufige These innerhalb einer „hinreichenden Frist“ zu überprüfen, um sich Gewissheit über ihre Richtigkeit zu verschaffen, und die betroffenen Regelungen gegebenenfalls aufzuheben oder zu ändern.66 Zur Aufhebung der hier fraglichen Bestimmungen ist der Gesetzgeber allerdings wohl nicht erst verpflichtet, wenn eine Gefährdung Minderjähriger durch einfache Pornographie „nach dem Stand der Wissenschaft vernünftigerweise auszuschließen“, also der (Negativ-)Beweis, die probatio diabolica, der Unschädlichkeit geführt ist. Würde man diese Formulierung des BVerfG beim Wort nehmen, so könnte der Gesetzgeber grundrechtseinschränkende Gesetze auch auf irrationale Annahmen stützen, die – eben wegen ihrer Irrationalität – wissenschaftlich nicht widerlegbar sind. Richtigerweise wird man die hier angesprochenen Vorschriften nur dann für erforderlich halten können, wenn eine Gefährdung Minderjähriger nach dem Stand der Wissenschaft zumindest „vertretbar“ erscheint.67 Dass die Alltagstheorie, auf der die Pornographietatbestände beruhen, möglicherweise unrichtig ist, liegt auf der Hand und war dem Gesetzgeber auch bewusst.68 Da er trotz der Entwicklung der deutschen Medienwirkungsforschung in den vergangenen etwa 20 Jahren nicht tätig geworden ist, dürfte auch die „hinreichende Frist“ zu ihrer Überprüfung – wie auch immer man sie bemessen mag – verstrichen sein.69 66
BVerfGE 57, 139, 162 f. BVerwGE 77, 75, 82 f. 68 Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses, BT-Drs. VI/3521, S. 58. S. auch Entwurf eines 4. StrRG, BT-Drs. VI/1552, S. 120, wo angekündigt wird, die getroffenen Entscheidungen bei Vorliegen neuer Erkenntnisse zu überprüfen. 69 Auch wenn man der Ansicht ist, die Pornographiebestimmungen des Jugendmedienschutzrechts ließen sich auch heute noch auf die Entscheidung des Gesetzgebers des 4. StrRG stützen, so sollten die oben dargestellten Grundlagen seiner Entscheidung doch davor bewahren, für den Schutz der Jugend gegen die vermuteten Risiken von Pornographie das höchstmögliche Abschirmungsniveau zu verlangen. Auch wenn der Gesetzgeber von seiner Einschätzungsprärogative Gebrauch gemacht und Regelungen getroffen hat, so entbindet das die Rechtsanwender nicht von der Pflicht, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten (anders offenbar OLG Düsseldorf, CR 2005, 657, 658; LG Saarbrücken, MMR 2006, 250, 252). Bei der Auslegung sind daher auch das Gewicht und die Dringlichkeit der Gründe, auf denen die Entscheidung des Gesetzgebers beruht, zu berücksichtigen (vgl. z. B. BVerfGE 83, 1, 19). So begründet das OLG Karlsruhe, NJW 1984, 1975, 1976, seine Ansicht, der Jugendschutz verlange keine Vorkehrungen, die die Kenntnisnahme vom Inhalt pornographischer Schriften „unter allen Umständen“ verhinderten, u. a. auch damit, dass „wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über schädliche Auswirkungen von Pornographie auf die sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nach wie vor fehlen, die Gefahr der Verletzung des geschützten Rechtsguts also auch von daher gesehen nicht besonders nahe liegt“. 67
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3. Schließlich erscheint zweifelhaft, ob die hier erörterten Regelungen geeignete Mittel zum Schutz der inländischen Jugend vor Pornographie darstellen und ob sie mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG vereinbar sind. Zwar gilt das „Weltrechtsprinzip“ des § 6 Nr. 6 StGB nicht für einfache Pornographie. Gleichwohl gelten die §§ 184 Abs. 1 Nr. 1 und 2, 184c StGB sowie § 24 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 4 Abs. 2 Nr. 1, S. 2 JMStV auch für denjenigen, der aus dem Ausland einfach pornographische Telemedienangebote in Deutschland verbreitet, ohne ihre Unzugänglichkeit für Minderjährige sicherzustellen. Denn der zu diesen Tatbeständen gehörende Erfolg des Verbreitens oder Zugänglichmachens der Angebote, das Zugänglichsein, tritt in Deutschland ein. Es gilt also gemäß §§ 3, 9 Abs. 1 StGB bzw. §§ 5, 7 Abs. 1 OWiG auch für vom Ausland aus begangene Taten deutsches Strafund Ordnungswidrigkeitenrecht.70 Die in der Literatur unterbreiteten Vorschläge zur Vermeidung dieses Ergebnisses71 können nicht überzeugen. § 9 Abs. 1 StGB und § 7 Abs. 1 OWiG zielen darauf ab, deutsches Recht dann für anwendbar zu erklären, wenn der tatbestandsmäßige Sachverhaltsunwert einer Tat im Inland eintritt. Ob dieser Sachverhaltsunwert in einer Verletzung, einer konkreten Gefährdung oder in einem Zustand besteht, den der Gesetzgeber als abstrakt gefährlich missbilligt, ist nach der ratio legis gleichgültig. Davon geht im übrigen auch § 3 Abs. 5 Nr. 1 TMG aus, der für in Deutschland zugängliche Telemedienangebote von im EG-Ausland ansässigen Anbietern das für diese nach Abs. 2 geltende Herkunftslandprinzip u. a. im Interesse des Jugendschutzes eingeschränkt.72 Die hier fraglichen Bestimmungen beanspruchen also weltweite Geltung und unterwerfen alle im Inland abrufbaren pornographischen Internetangebote dem deutschen Recht.73 Dieser Versuch einer globalen Regelung durch den deutschen Gesetzgeber ist allerdings von vornherein untauglich. Denn im Inland sind weit mehr als 10 Millionen überwiegend aus dem Ausland stammende pornographische Internetangebote frei abrufbar.74 70 S. dazu Hoyer, SK StGB, § 9 Rdn. 7; Pooth (Fn. 14), S. 58 ff.; Ulich, Der Pornographiebegriff und die EG-Fernsehrichtlinie, 2000, S. 91 ff.; vgl. ferner auch BGHSt 46, 212, 220 ff.; LG Düsseldorf CR 2003, 452; BGH (Fn. 3). 71 S. z. B. Eser, S/S-StGB, § 9 Rdn. 6 m. w. N. 72 Ebenso schon § 4 Abs. 5 Nr. 1 des früheren TDG und § 5 Abs. 5 Nr. 1 des früheren MDStV. 73 Unzutreffend daher OLG Düsseldorf, CR 2005, 657, 658 f.; LG Krefeld, Urteil v. 5. 1. 2005, – 12 O 110/04 –, Rn. 56 (abrufbar bei juris); LG Saarbrücken, MMR 2006, 250, 251 und Döring/Günter, MMR 2005, 231, 235, die § 9 Abs. 1 und § 7 Abs. 1 OWiG übersehen und davon ausgehen, der Geltungsbereich der Bestimmungen beschränke sich auf das Inland. 74 Gibt man in die Suchmaschine „Google“ die Suchwörter „free porn“ oder „free live porn“ ein, so erhält man bis zu 12, 5 bzw. 2, 5 Mio. Treffer.
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Der Grund für die offensichtliche Ineffektivität der hier behandelten Bestimmungen bei Taten, die vom Ausland aus begangen werden, liegt auf der Hand: Ihre Beachtung wäre nur durch eine effektive Verfolgung erreichbar. Es fehlt aber bereits die Verfolgbarkeit, da es keine Rechtshilfeabkommen gibt, die sie ermöglicht. So gehört die Verbreitung einfacher Pornographie im Internet z. B. nach Art. 2 Abs. 1 des Auslieferungsvertrags mit den U. S. A.,75 aus denen eine große Zahl der entsprechenden Angebote stammt, mangels Strafbarkeit in den U. S. A. 75a nicht zu den „auslieferungsfähigen“ Taten. Im Ergebnis sind die hier fraglichen Vorschriften also allein in Deutschland durchsetzbar. Nur wer im Inland handelt, muss mit Strafe oder Geldbuße rechnen. Für den größten Teil ihres Geltungsbereichs, die gesamte restliche Welt, von wo aus auch die meisten der Taten begangen werden, und damit für die überwiegende Mehrzahl der Normadressaten, stellen diese Regelungen lediglich „symbolisches Recht“ dar, gegen das sanktionslos verstoßen werden kann und verstoßen wird. Da die Ursache hierfür nicht in einem rein tatsächlichen Vollzugsdefizit liegt, sondern im Mangel der rechtlichen Voraussetzungen, die die Durchsetzung im Ausland ermöglichen, wird man die Geeignetheit der Bestimmungen nur dann bejahen können, wenn man den sprichwörtlichen „Tropfen auf den heißen Stein“ genügen lässt.76 Aus den genannten Gründen weisen sie ferner auch das „normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts“ auf, das nach Ansicht des BVerfG zu einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG führt.77
IV. In der Nutzung neuer Medien, insbesondere des Internets, sind die Kinder zumeist versierter als ihre Eltern. Anders als bei Schriften sehen sich die Eltern oftmals nicht mehr in der Lage, ihren Kindern einen verantwortungsvollen Umgang mit den Inhalten der neuen Medien zu vermitteln (Medienkompetenz). Auch können sie den Medienkonsum ihrer Kinder nur noch schwer kontrollieren. Diese Situation mit den Mitteln des Strafrechts regeln zu wollen, indem einseitig vom Anbieter jugendgefährdender Telemedienangebote bis in den familiären Bereich wirkende Schutzvorkehrungen ver75
BGBl. II 1980, 646, 1300, i. d. Fassung des Zusatzvertrags, BGBl. II 1988, 1087; II 1993,
846. 75a
S. dazu unten IV. S. dazu auch Hörnle (Fn. 30), 301 f.; Köhne, NJW 2005, 794, 795. 77 S. dazu BVerfGE 110, 94, 113; Bryde, Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem, 1993, S. 17 ff. And. BGH (Fn. 3). 76
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langt werden, führt letztlich zu einer wohl nicht mehr sachgerechten Verschiebung von Verantwortungsbereichen. Die durch diese Belastung der Medienanbieter bewirkte Entlastung der Eltern birgt zudem die Gefahr in sich, dass letztere das Bewusstsein ihrer Verantwortung für diesen Bereich verlieren und sie ganz dem Staat übertragen wollen. Wie man einer solchen Entwicklung vorbeugen und die Eltern in der Wahrnehmung ihrer Aufgabe unterstützen kann, zeigt eine Entscheidung des U. S. Supreme Court aus dem Jahr 2004:78 In dieser bestätigt er eine einstweilige Verfügung gegen den Vollzug eines Bundesgesetzes, das ebenso wie die hier behandelten Vorschriften für pornographische Angebote im Internet die Einrichtung geschlossener Benutzergruppen vorschrieb und Verstöße mit Strafe bedrohte. Nach Ansicht des Supreme Court ist es wahrscheinlich, dass dieses Gesetz eine verfassungswidrige Einschränkung des im First Amendment zur Verfassung garantierten Grundrechts auf „free speech“, also der Äußerungsfreiheit, darstellt. Die Regierung habe nämlich nicht dargelegt, dass es keine ebenso geeignete und weniger restriktive Methode zum Schutz der Jugend vor Pornographie im Internet gebe. Eine solche sieht das Gericht – entsprechend dem Klägervortrag – in der Förderung des Einbaus von Filtersystemen, die pornographische Angebote blockieren. Diese Alternative sei weniger einschneidend als die gesetzliche Regelung, denn sie ermögliche eine spezifische Auswahl von Äußerungen auf der Empfängerseite, statt die Äußerungsfreiheit des Anbieters unter Strafdrohung generell einzuschränken. Durch das Abschalten des Filters könnten z. B. Eltern von ihrem Recht auf Pornographiekonsum Gebrauch machen, ohne sich identifizieren zu müssen. Filtersysteme seien wahrscheinlich sogar effektiver als die gesetzliche Regelung, da sich mit ihnen jede Pornographie im Internet blockieren lasse. Das Bundesgesetz schütze dagegen die Jugend nur vor Pornographie, die in den USA ins Internet gestellt werde, nicht aber vor frei zugänglichen Angeboten aus dem Ausland. Die Wirksamkeit des Gesetzes sei ferner auch deshalb fragwürdig, weil sie die inländischen Anbieter pornographischer Websites zur Verlagerung ihrer Tätigkeit ins Ausland veranlassen könnte. 79 Der Supreme Court hat in seiner Entscheidung nicht verkannt, dass Filtersysteme keine perfekte Lösung darstellen und vielleicht auch einige jugendgeeignete Angebote blockieren und einige pornographische nicht erfassen. Die Regierung habe jedoch nicht den Beweis angetreten, dass Filtersysteme weniger effektiv als die gesetzliche Regelung seien.80 In diesem Zusam78
Ashcroft v. Amercan Civil Liberties Union, 542 U.S. 656. Fn. 78, 667. 80 Die Regierung genüge ihrer Beweislast nicht schon durch den Nachweis gewisser Schwächen der weniger einschneidenden Alternative und einer gewissen Wirksamkeit ihres Gesetzes. 79
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menhang wendet sich der Supreme Court ausdrücklich gegen das Argument, die Verwendung von Filtersystemen sei deshalb keine Alternative zu der angegriffenen Regelung, weil man sie nicht gesetzlich vorschreiben könne. Diesen Einwand lässt er nicht gelten, weil der Kongress sich für die Verwendung von Filtersystemen einsetzen und Maßnahmen zur Förderung ihrer Entwicklung durch die Industrie sowie ihrer Anwendung durch die Eltern ergreifen könne. Eine gegenüber einer gesetzlichen Regelung weniger restriktive Alternative scheide nicht deshalb automatisch aus, weil sie die Mitwirkung der Eltern voraussetze.81 Schließlich weist der Supreme Court auf folgendes hin: Das Gesetz nehme an, den Eltern fehle die Möglichkeit, nicht aber der Wille zu kontrollieren, was sich ihre Kinder im Internet ansehen. Wenn der Kongress Programme zur Förderung des Gebrauchs von Filtersystemen verabschiede, könne er den Eltern diese Möglichkeit geben, ohne verfassungsrechtlich geschützte Äußerungen harten Strafen zu unterwerfen.82
Noch müssten die Kläger die größere Wirksamkeit ihrer Alternative, sondern die Regierung müsse deren geringere Wirksamkeit beweisen (Fn. 78, 668 f.). Die Ausführungen des Supreme Court offenbaren ein anderes Verständnis der „Freiheit des Bürgers“ in seinem Verhältnis zum Staat als das hierzulande vorherrschende. Zwar ist nach gängigem Lehrsatz des deutschen Verfassungsrechts der Gesetzgeber bei Grundrechtseinschränkungen an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden: Ein Gesetz muss geeignet, erforderlich und angemessen sein. Den Nachweis der Geeignetheit und des Fehlens weniger einschränkender Mittel zur Zweckerreichung braucht jedoch, worauf auch umfangreiche verfassungsrechtliche Werke (s. z. B. P. Kirchhof in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 1988, § 59, Rdn. 25 f; Sommermann in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20, Rdn. 314) nicht immer hinweisen, der deutsche Gesetzgeber nicht zu erbringen. Vielmehr obliegt dem Bürger die materielle Beweislast dafür, dass ein vom Gesetzgeber angenommenes Risiko „nach dem Stand der Wissenschaft vernünftigerweise auszuschließen“ (BVerfGE 83, 130, 142) oder das Gesetz zu seiner Bekämpfung „schlechthin ungeeignet“ (BVerfGE 61, 291, 313; 47, 109, 117 m. w. N.) bzw. „von vornherein untauglich“ (BVerfGE 100, 313, 373) ist. Auf weniger restriktive Alternativen kann sich der Bürger nur berufen, wenn ihre Gleichwertigkeit zur Zweckerreichung „in jeder Hinsicht eindeutig feststeht“ (BVerfGE 30, 292, 319; 81, 70, 91). Zweifel gehen somit zu Lasten der Freiheit des Bürgers. Schließlich verlangt auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne keine positive „angemessene“ Zweck-Mittel-Relation. Sie ist bereits gewahrt, solange die Einschränkung der Freiheit des Bürgers nicht „übermäßig“ belastend und „unverhältnismäßig“ ist (BVerfGE 100, 17, 36; 90, 145, 173). Das Übermaßverbot ist aber erst dann verletzt, wenn die „dem Eingriff entgegenstehenden Interessen ersichtlich wesentlich schwerer wiegen, als die Belange, deren Wahrung die staatliche Maßnahme dient“ (BVerfGE 44, 353, 373). In unserer „freiheitlichen“ demokratischen Grundordnung (Art. 21 Abs. 2 GG) besteht, zumindest gegenüber dem Gesetzgeber, folglich keine Vermutung zugunsten der Freiheit des Bürgers, sondern eine für die Legitimität ihrer Einschränkung. 81 Fn. 78, 669. 82 Fn. 78, 669 f.
Zum Vergehen der unterlassenen Hilfeleistung GÜNTER SPENDEL
Zu den Rechtsgelehrten, die immer wieder aus rechtsstaatlichen Gründen die Notwendigkeit der gesetzlichen Bestimmtheit und Berechenbarkeit der Strafbarkeitsvorrausetzungen betont haben, gehört Manfred Seebode.1 So hat er auch unter diesem Gesichtspunkt dem Vergehen der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB) eine kritische Studie gewidmet.2 In ihr kann er nicht genug die Unbestimmtheit, die „uferlose und unkonturierte Fassung“ des Delikts, die „rechtsstaatlich schwer handhabbare Strafnorm“, den „Ausnahmecharakter“ der Strafvorschrift, den Straftatbestand als „Fremdkörper“ rügen.3 Dieser Kritik gegenüber drängt sich aber doch die Frage auf, ob hier nicht des Guten zu viel getan wird. Wenn der Autor Zweifel äußert oder sich gar zum Jubilar in Widerspruch setzt, so wird Seebode das tolerieren. Denn „jeder weiß jetzt, dass Widerspruch-vertragen-Können ein hohes Zeichen von Kultur ist“, hat Nietzsche einmal gesagt. Der geschätzte Kollege, der, bei aller Übereinstimmung mit dem Verfasser in gewissen Grundüberzeugungen, in jahrzehntelanger freundschaftlicher Verbundenheit stets offen seine für richtig gehaltenen Ansichten vertreten hat, wird daher auch für Gegenargumente offen sein. Bei der Kritik an dem Vergehen der unterlassenen Hilfeleistung fällt auf, dass die Kritiker zwar mehr oder minder scharfsinnige Einwände gegen die Fassung der Strafvorschrift erheben, dass aber kaum scharfe Kritik an der früheren ungenügenden Regelung geübt und an die infolgedessen zum Teil völlig unzureichende Ahndung skandalöser Fälle erinnert wird. Wenn z. B. 1900 ein Schiffer trotz polizeilicher Aufforderung seinen Kahn nicht herausgab und daher 18 (!) Insassen eines auf dem Rhein bei Bingen kenternden Bootes ertranken, so ist es für eine Gesetzgebung ein 1 Vgl. z. B. Seebode, Zur gesetzlichen Bestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts, in: Spendel-Festschr., 1992, S. 317 ff. 2 Seebode, Zur Berechenbarkeit der strafrechtlichen Hilfspflicht (§ 323 c StGB), in: Kohlmann-Festschr., 2003, S. 279. 3 Seebode aaO (Fn. 2), S. 283 f.
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Günter Spendel
Armutszeugnis ohnegleichen, dass in diesem Fall nur strittig war, ob der Beamte zur Erteilung des polizeilichen Gebotes zuständig war und allein deshalb das statt auf der damaligen Höchststrafe von sechs Wochen Haft auf vier Wochen lautende Urteil aufgehoben wurde.4 Oder, um einen Fall aus neuerer Zeit zu bringen. Ein am Bach fischender Arzt und Leiter eines städtischen Krankenhauses lehnt die Bitte eines Bauern ab, einen diesem unter den Wagen gekommenen und erheblich verletzten, stark am Kopf blutenden Jungen anzusehen und mit dem Pkw in die Klinik zu fahren, um sein Fahrzeug nicht zu beschmutzen.5 Das Zusammenleben der Menschen, das gemäß dem Wort des Rechtsgelehrten Heinrich (von) Cocceji „Ubi societas ibi ius“ durch das Recht geregelt wird, kann nicht allein durch aktive Handlungen, sondern ebenso durch passive Unterlassungen gestört werden. „Oft tut auch Unrecht, der nichts tut; wer das Unrecht nicht verbietet, wenn er kann, befiehlt es“ gibt es ein Wort von Marc Aurel. Der einzelne Rechtsgenosse hat seinen Mitbürgern gegenüber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Wie er in Gefahren und Notlagen Hilfe erwartet, so soll er sie auch einem anderen leisten. „Dem Nächsten muss man helfen; es kann uns allen Gleiches ja begegnen“, heißt es in Schillers „Wilhelm Tell“ (I. Aufz., 1. Sz, Z. 107). Die Individualwie die Sozialethik gebietet ein solches Verhalten. Der Mensch ist als gesellschaftliches Wesen auf seine Mitmenschen angewiesen. Das sollte gerade in einem Staat, der ein „demokratischer und sozialer“ Staat sein will (§ 20 I GG), und in einer Zeit, die so gern von „Solidarität“ spricht, nicht zweifelhaft sein, Ein anschauliches Beispiel ist der moderne Autoverkehr: wie der Einzelne als Autofahrer oder Passant Rücksicht und verkehrsgerechtes Verhalten den anderen Verkehrsteilnehmern gegenüber üben muss, so darf er auch Vorsicht und richtiges Verhalten von diesen erwarten. Erkennt die Gesetzgebung dem Einzelnen das Recht zu, einem in Not geratenen Rechtsgenossen Not-hilfe zu leisten und z.B. einem Angegriffenen beizuspringen und den Angriff abzuwehren, dann ist ihm unter Umständen auch eine Pflicht zum Beistand aufzuerlegen. Daß diese nicht so weit wie das Recht hierzu gehen kann,6 ergibt sich schon daraus, dass Pflichten schwerer zu erfüllen sind als Rechte auszuüben. Ein eindringliches Beispiel für eine Hilfspflicht ist der Spezialfall einer Anzeigepflicht zur Verhinderung schwerer Verbrechen (§ 138 StGB). Die Bestimmung steht zu der allgemeinen Beistandspflicht des § 323 c StGB in Gesetzeskonkurrenz in
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Vgl. OLG Darmstadt in DJZ 1901, S. 512 1. Sp. BGHSt. 2, S. 296. 6 Vgl. schon Spendel in LK, 11. Aufl., 22. Lfg. 1996, § 323 c StGB, RNr. 29 a. E., 31. 5
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Form der Spezialität.7 § 138 I Nr.7 i. Verb. m. § 234 a StGB gebietet z. B. Hilfe in Form einer Meldung an die Behörde oder den Bedrohten wegen dessen geplanter Verschleppung. Zu schützendes Rechtsgut ist hier die besonders gefährdete persönliche Freiheit. Eine Pflicht zur Hilfe durch Anzeige z.B. bei der Polizei kommt auch auf Grund des § 323 c StGB bei einer Freiheitsberaubung nach § 239 in Betracht. Man denke an den Fall, dass jemand beobachtet, wie in einem Nachbarhaus ein körperlich oder geistig behinderter Angehöriger in der Wohnung oder in einem Stall gefangen gehalten wird. Hier ist die sich für den Betroffenen als „Unglücksfall“ darstellende Einsperrung zu einem Dauerdelikt geworden, dessen weitere Ausführung noch verhindert werden kann. Der Beobachter darf sich nicht damit abfinden, dass ihn die Sache nichts angehe; denn durch seine Nichtunterrichtung der zuständigen Behörde würde er die Weiterbegehung der Straftat zulassen. Werden Eigentum und Verfügungsfreiheit des Einzelnen durch einen vorbereiteten oder versuchten Raub bedroht, besteht eine Hilfsals Anzeigepflicht gemäß § 138 I Nr. 8 i. V. m. § 249 StGB. Eine solche ist auch nach § 323 c StGB anzunehmen, wenn z. B. nachts jemand bemerkt, dass sich ein Mann an dem draußen abgestellten neuen Auto eines Nachbarn zu schaffen macht und es stehlen will. Hier sollte nicht zweifelhaft sein, dass der Beobachter, sofern er den Dieb nicht durch einen Anruf verjagt, die Polizei oder den Eigentümer benachrichtigen muss.8 Es ist viel zu eng, nur Leib und Leben und nicht auch erhebliche Sachgüter bei einem Unglücksfall nach § 323 c StGB als schutzwürdige Objekte anzuerkennen.9 Die Vorschrift muss vielmehr dem Schutz aller Rechtsgüter dienen.10 Daß neben Individualrechtsgütern auch Güter der Allgemeinheit in Betracht kommen, zeigen schon die Notfälle der gemeinen Gefahr und Not nach § 323 c StGB. In diesen muss der Einzelne „notfalls“ auch einspringen und helfen. Zur Ehrenrettung eines Einzelnen ist es von einem Kaufhausbesucher wohl nicht zuviel verlangt, den von ihm beobachteten Vorfall aufzuklären, dass ein Warenhausdieb einem Kunden ein gestohlenes Schmuck7 Tröndle/ Fischer, StGB, 54 Aufl. 2007, § 323 c, RNr. 11; Sch./ Schr./ Cramer/ SternbergLieben, StGB, 27.Aufl. 2007, § 323 c RNr. 33; Wohlers in Nomos-Komm., 2.Aufl. 2005, 2. Bd. § 323 c RNr. 16. 8 Vgl. schon Spendel (Fn.6), RNr. 45. 9 So aber Seebode (Fn.2), S. 289 a. E.; and. Geilen, Probleme des § 323 c StGB, in Jura 1983, S. 78, 84; s. auch bereits Frank, StGB-Komm., 18. Aufl. 1931, § 360 I Nr. 10 ehem. F. Die Rechtsgutfrage bei § 323 c wird z.B. näher in der angeblich „zur Notwendigkeit seiner verfassungskonformen Restriktion“ verfassten Dissertation von Haubrich, Die unterlassene Hilfeleistung, 2001, S. 224, 230 ff. erörtert, der nur „im Falle der gemeinen Gefahr“ eine Hilfspflicht bei erheblichem Sachgüterschaden annehmen will. 10 Tröndle/ Fischer, StGB, 54. Aufl. 2007, § 323 c RNr. 2; Spendel in LK (Fn. 6), RNr. 29 ff., Fn. 38 mit weit. Belegen.
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stück in die Manteltasche steckte, um vor dem auf ihn zukommenden Hausdetektiv den Verdacht von sich abzulenken.11 Der objektive Tatbestand des § 323 c StGB nennt mit dem Unglücksfall, der Gemeingefahr und der gemeinen Not drei wesentliche Notfälle, die zur Hilfe verpflichten. Als Oberbegriff ist der der Not anzusehen.12 Das Sprichwort „Not kennt kein Gebot“ ist in dieser Allgemeinheit nicht richtig und irreführend; denn auch das Verhalten in der Not versucht der Gesetzgeber noch nach Möglichkeit zu regeln. Die beiden letztgenannten Gründe einer Hilfspflicht zeigen, dass die Vorschrift nicht moralisierend nur der „Samariterpflicht“ entspricht, sondern einer Rechtspflicht im menschlichen Zusammenleben. Not bedeutet zweierlei: einmal eine Bedrängnis, einen drückenden Mangel an „Not-wendigem“, z.B. Wassernot als Trinkwassermangel infolge Ausfalls der Wasserversorgung, so dass ein Landwirt seine Nachbarn das nötige Trink- und Kochwasser aus seinem Brunnen schöpfen lassen muss.13 Zum anderen bedeutet Not eine Bedrohung, die durch einen „Überfluss“ entstehen kann, z.B. Wassernot durch Überschwemmung,14 die einen Schiffer „nötigt“, seinen Kahn zur Rettung der vom Hochwasser bedrohten Hausbewohner zur Verfügung zu stellen. In diesem Falle wird die gemeine Not zur Gemeingefahr; beide Begriffe werden sich oft decken, man denke an eine Feuersnot. Der zweite vom Gesetz genannte Notfall, die Gemeingefahr, bedeutet eine konkrete Gefährdung, d.h. die nahe Möglichkeit einer Schädigung oder Verletzung. Sie erfordert eine nachträgliche Prognose vom Standpunkt eines objektiven Beobachters auf Grund einer Ex-ante-Betrachtung.15 Typische Fälle sind ein Wald- oder Hausbrand, ein Bergrutsch, gelockerte Eisenbahnschienen usw.16 Ein Lastwagenfahrer, der auf der Straße große schwere Säcke verliert, begründet für den allgemeinen Straßenverkehr ebenso eine gemeine Gefahr wie ein mit seinem Fahrrad gestürzter und verletzt oder tot liegenbleibender Mensch, dem Autofahrer durch Fahrtänderung oder plötzliches Bremsen auszuweichen suchen und so zu Schaden kommen können. Damit wird eine Gemeingefahr auch durch einen Unglücksfall begründet. Dieser dritte, vom Gesetz an erster Stelle angeführte Notfall wird von Seebode sogar als „der zentrale Begriff“ bezeichnet.17
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Vgl. zu diesem Fall Spendel (Fn.6), RNr. 30. Zu dem Begriff Spendel (Fn.6), RNr. 70 ff., 78. 13 Vgl. dazu BayObLGSt. 20 (1920), S. 268 ff. 14 BayObLGSt. 1, S. 246 = GA 48 (1901), S. 142. 15 Spendel in LK (Fn. 6), RNr. 58. 16 Spendel in LK (Fn. 6), RNr. 61 mit Beispielen und Fällen. 17 Seebode (Fn. 2), S. 285. 12
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Während für die beiden hier zuerst genannten Notfälle der gemeinen Gefahr und (gemeinen) Not die Allgemeinheit betroffen ist, ist beim Unglücksfall die Notlage meist eine individuelle. Diese ist als ein plötzliches Ereignis zu bestimmen, durch das ein erheblicher Schaden droht.18 Seebode kritisiert an solcher Auslegung, dass sie schon dem Sprachgebrauch widerspreche und nicht wie früher einen Schadenseintritt, sondern nur eine Schadensdrohung, also eine Gefährdung, verlange.19 Ein neuer, kaum glaublicher Fall im Main-Spessart-Landkreis dürfte die Fragwürdigkeit, ja Unhaltbarkeit dieser Einschränkung des Begriffs „Unglücksfall“ zeigen. Ein 80jähriger, anscheinend etwas verwirrter Mann war auf freiem Feld beim Überqueren einer eingleisigen Bahnstrecke gestürzt und auf dem Gleisbett zwischen den Schienen unverletzt liegengeblieben. Der ihn alsbald mit 100 km/h überrollende Güterzug hat den Gestürzten wie durch ein Wunder auch nicht verletzt oder gar getötet. Der Mann erlitt nur einen leichten Schock, ebenso der Zugführer, der, nachdem er den Zug zum Stehen gebracht und die Rettungskräfte alarmiert hatte, nach über einer Stunde weiterfahren konnte.20 Bei der nachträglichen Prognose ist für eine Ex-ante-Betrachtung nicht zweifelhaft, dass für den Überrollten die allergrößte Gefahr des tödlichen Überfahrenwerdens bestand, obgleich ex post gesehen kein Schaden drohte und eintrat, wenn man diesen nicht schon in gezwungener Konstruktion in dem Liegenbleiben bzw. Nicht-sofort-aufstehen-Können sehen will. Der alte Mann hatte ein unwahrscheinliches „Glück im Unglück(sfall)“. Ein vorbeikommender Wanderer wäre verpflichtet gewesen, dem Liegenden aufzuhelfen. Gleich den beiden anderen Notfällen des § 323 c StGB ist auch für den Unglücksfall das Bestehen einer Gefahrenlage ausreichend.21 Der Verfasser hat schon früher das Beispiel gebracht, dass eine im Wald herumstreunende Dogge, die einen Spaziergänger anzufallen droht, eine Leibes- und Lebensgefährdung bedeutet, die als Unglücksfall anzusehen ist, in den der Besitzer oder ein Jäger eingreifen und das Tier mit einem Schuss unschädlich machen muss, bevor es sich in sein Opfer verbissen und großen Körperschaden angerichtet hat. Dagegen ist Seebode darin zuzustimmen, dass, im Gegensatz zur Rechtsprechung, der frei verantwortliche Selbstmordversuch eines zurechnungsfähigen Täters als bewusste Selbstgefährdung keinen Unglücksfall i. S. d. 18
So mit Recht die grundlegende Plenarentscheidung BGHSt. 6, S.147, 152. Seebode (Fn. 2), S. 287. 20 Siehe den Bericht „Vom Güterzug überrollt: unverletzt“ in Würzburger Main-Post v. 22. Nov. 2007, Nr. 243, S. 11 und ebenda vom 12. Jan. 2008, Nr. 10, S. 16 über einen 20jährigen Australier, der betrunken in einem Gleisbett eingeschlafen und folgenlos überrollt worden ist. 21 Spendel in LK (Fn. 6), RNr. 35,40. 19
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§ 323 c StGB darstellt. Wie auch der Verfasser ausgeführt hat, widerspricht die Ansicht der höchstrichterlichen Judikatur zwei Grundsätzen der Teilnahmelehre und des Arztrechts, worauf hier verwiesen werden darf.22 Die Unbestimmtheit des Begriffs „Unglücksfall“ sieht Seebode in der Nichtbenennung der schutzbedürftigen Rechtsgüter.23 Abgesehen davon, dass bei den anderen beiden Notfällen auch keine kasuistische Aufzählung erfolgt, ohne der Auslegung der Begriffe besondere Schwierigkeiten zu bereiten, sind Unglücksfälle in den mannigfachsten Formen denkbar, wie schon im Vorhergehenden die Beispiele der Freiheitsberaubung und des versuchten Warenhaus- und Autodiebstahls gezeigt haben sollten. Die Beschränkung auf den Schutz der Rechtsgüter Leib und Leben ist, um das bereits früher Gesagte noch einmal zu wiederholen, einfach eine zu weitgehende, nicht zu rechtfertigende Einengung des Begriffs. Gegenüber der Befürchtung, bei der Gefährdung anderer, z. B. sachlicher Güter werde das „Solidaritätsgebot“ mit einer strafrechtlichen Hilfspflicht „überstrapaziert“,24 ist eher zu befürchten, dass bei der Ablehnung einer solchen Verpflichtung mehr der „Trägheit des menschlichen Herzens“, der Gleichgültigkeit, zum Teil auch der Feigheit des Einzelnen Tribut gezollt wird. Zum objektiven Tatbestand des § 323 c StGB gehört weiter die Erforderlichkeit der Hilfe(handlung). Das bedeutet – wie die Erforderlichkeit der Verteidigung(shandlung) bei der Notwehr des § 32 StGB – den notwendigen, d. h. den die Not wendenden Beistand für den oder die in Not geratenen Rechtsgenossen zu leisten. Die Bestimmung verlangt ebenfalls eine Ex-ante-Betrachtung. So kann es z. B. nötig sein, dass sich der Benutzer eines Campingplatzes an einer Eimerkette beteiligt, um einen in einem Wohnwagen ausgebrochenen Brand löschen zu helfen.25 Von einem alten, schwachen oder herzkranken Menschen kann man das nicht verlangen. Von einer „Sonderstrafdrohung für professionelle Retter“ wie Ärzte zu sprechen,26 dürfte übertrieben sein. Die Nothilfe ist nach dem Gesetz „bei“ den Notfällen zu leisten, d. h. bei Gelegenheit oder aus Anlass derselben.27 Sie ist in erster Linie „Nächstenhilfe“, nicht „Fernhilfe“. Das schließt aber nicht aus, dass unter Umständen ein „Abwesender“, insbesondere ein um Hilfe „Angerufener“, beistands-
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Seebode (Fn.2), S. 286; Spendel in LK (Fn.6), RNr. 48 ff. Seebode (Fn. 2), S. 288 Nr. 3. 24 Seebode (Fn. 2), S. 290. 25 Vgl. Spendel in LK (Fn. 6), RNr. 83 gegen Ende. 26 So aber zu Unrecht Arzt/Ulrich Weber, Strafrecht. Besond. Teil, 2000, S. 862 (§ 39 RNr.21). 27 Treffend BGHSt. 21, S. 50, 53; so auch Spendel in LK (Fn. 6), RNr. 34, 107 ff. 23
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pflichtig ist.28 Mit der Unterlassung der erforderlichen und dem Täter möglichen Hilfe ist der objektive Tatbestand der § 323 c StGB verwirklicht. Das Unrecht des Verhaltens ist mit der Nichterfüllung des Handlungsgebots und der damit gegebenen objektiven Pflichtverletzung begründet. Es kann ausgeschlossen werden, wenn dem Unterlassenden nur bei erheblicher eigener Gefahr (ein besonderer Fall der Güter- und Interessenkollision) und Verletzung anderer wichtiger (höherer) Pflichten (eine allgemeine Formel des Pflichtwiderstreits) die Nothilfe möglich ist. Der in § 34 StGB für den rechtfertigenden Notstand aufgestellte Grundsatz des wesentlichen Überwiegens eines geschützten Interesses oder Rechtsgutes über das beeinträchtigte scheint dort begründet, wo für den Täter fremde kollidierende Interessen betroffen sind. Wo sich ein Arzt schlüssig werden muss, ob er einen gestürzten und verletzten Radfahrer oder eine größere Zahl Schwerverwundeter betreuen soll, hat er sich natürlich für den zweiten Fall zu entschließen. Soweit es sich um einen Widerstreit des eigenen Interesses des Unterlassenden mit dem des Hilfsbedürftigen und erhebliche eigene Gefahr handelt, rechtfertigt auch bei Gleichwertigkeit der Güter das Eigeninteresse die Nichthilfe, da der Einzelne sich selbst der „Nächste“ ist: Der Passant braucht nicht unter eigener Leibes- und Lebensgefahr ein auf der dünnen Eisdecke eines Sees in einem Park eingebrochenes Kind zu retten, sondern genügt seiner Hilfspflicht, wenn er Rettungskräfte schnellstens benachrichtigt. Ebensowenig ist das Unrecht der unterlassenen Hilfe gegeben, wenn der Unterlassende nicht nur auf Grund einer erheblichen Eigengefährdung ein Recht zu seinem Verhalten hat, sondern auch dann, wenn ihn eine wichtige(re) Pflicht zu einem anderen Handeln zwingt. Die Pflicht eines Vaters, sich zu Hause um sein an Erstickungsanfällen leidendes Kind zu kümmern, geht der Pflicht vor, beim Brand einer alten Scheune auf dem Acker zu helfen. In dem neuerdings wieder zur Frage der Pflichtenkollision bei § 323 c StGB zum Ausgangspunkt der Erörterung genommenen Schulfall, dass ein Vater vor der Alternative steht, nur seinen Sohn oder dessen Freund von dem Ertrinken retten zu können,29 ist die Lösung nicht schwer und schon nach natürlichem Empfinden angezeigt. Es treten hier gegenüber einerseits die sich aus dem Elternverhältnis ergebende besondere (Garanten)Pflicht, für die Erhaltung des Lebens seines Kindes zu sorgen und es zu retten, andererseits die aus der vorstehend ausgeführten Strafvorschrift folgende allgemeine Pflicht, dem Freunde seines Sohnes zu helfen. Die erste Verpflichtung ist die höhere und vor der zweiten zu erfüllen. Denn die 28 Das ist nicht, wie Arzt (Fn. 26) meint, eine „extensive“, sondern vernünftige Interpretation des Merkmals „bei“. 29 So von Beulke, „Pflichtenkollisionen“ bei § 323 c StGB? in: Küper-Festschr., 2007, S.1 f.
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Pflicht des Vaters gegenüber dem Sohn geht weiter als die gegenüber dessen Gefährten: hinsichtlich des ersteren hat er möglichst einen Erfolg, d.h. die Rettung seines Jungen zu erzielen, hinsichtlich des letzteren nur zu handeln, d.h. die Rettung dessen Freundes zu versuchen. Daß hier zwei gleichwertige Rechtsgüter, das Leben zweier Schwimmer, miteinander in Widerstreit treten, ändert daran nichts. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, bedarf es keiner langen, gewundenen Begründung unter Leugnung einer echten Pflichtenkollision.30 Hat in einem Widerstreit der Pflichten der Handelnde die geringere statt der höheren erfüllt, ist sein Verhalten rechtswidrig: Ein Arzt fährt zu seiner plötzlich erkrankten alten Mutter und unterlässt es, unterwegs einem gestürzten und schwerer verletzten Motorradfahrer zu helfen. Er ist sich zwar bewusst, dass die Leibes- und womöglich Lebensgefahr für den Verunglückten größer ist als die Leibesgefahr für seine Mutter und er mit seiner Weiterfahrt nicht richtig und nicht rechtmäßig handelt. Er hat also auch den subjektiven Tatbestand des § 323 c StGB verwirklicht. Seine Sorge um die betagte Mutter ist aber durchaus verständlich und ihm sein schnelles Weiterfahren nicht vorzuwerfen. Ein längerer Aufenthalt bei dem verunglückten Motorradfahrer, um ihn näher zu versorgen, war ihm nicht zuzumuten. Er hat daher zwar rechtswidrig, aber nicht schuldhaft i. S. d. § 323 c StGB gehandelt. In der Gesetzesfassung der Vorschrift werden allerdings unsystematisch Unrechts- und Schuldausschließungsgründe nicht klar getrennt, was eine Begriffsverwirrung in Literatur und Judikatur begünstigt, die zum großen Teil die Zumutbarkeit der Hilfe als ein Tatbestandsmerkmal ansehen.31 Es ist zumindest nicht zweckmäßig und sachlich wohl nicht gerechtfertigt, den Begriff, der, wenngleich nicht einheitlich, bei den Fahrlässigkeits- und unechten Unterlassungsdelikten sowie bei dem Vergehen der Strafvereitelung (§ 258 StGB) die Schuldfrage betrifft,32 bei § 323 c StGB in einer anderen Bedeutung zu gebrauchen.33 Entsprechendes muss für die Eigen- und Fremdgefährdung gelten. Ist die erstere nicht unerheblich geringer als die letztere und deshalb eine Hilfe 30
Vgl. aber Beulke (Fn. 29), S. 2 ff., 7. So z.B. Beulke (Fn. 29), S. 4; Wessels/Hettinger, Strafr., Bes. T. 1, 31. Aufl. 2007, RNr. 1048; BGHSt. 17, S. 166, 170. 32 Vgl. bei Fahrlässigkeitsdelikten RGSt. 30, S. 25, 28; 67, S. 12, 18; 74, S. 195, 198; BGHSt. 2, S. 194, 204; 4, S. 20, 23; bei unechten Unterlassungsdelikten BGHSt. 2, S. 194, 204; 6, S. 46/47; Spendel, Zur Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, in JZ 1973, S. 137, 143 r. Sp.; bei Strafvereitelung (§ 258 V StGB); RGSt. 60, S. 101, 103; 63, S. 233, 237; BGHSt. 9, S. 71, 73; Roxin, Strafr., AT I, 4. Aufl. 2006, S. 1022, § 22 RNr. 138. 33 Für Zumutbarkeit als Schuldfrage Welzel, Das Deutsche Strafr., 11. Aufl. 1969, S. 473 (§ 68 I 3 b; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafr., Bes. T., 2. TBd., 7. Aufl. 1991, S. 46/47 (§ 55 II, RNr. 23, 25); Spendel in LK (Fn. 6), RNr. 157 ff., 159. 31
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geboten, so kann deren Nichtleistung unter Umständen doch nicht zum Vorwurf gereichen und ein Eingreifen nicht zumutbar erscheinen. Bei der Brandkatastrophe der Weimarer Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek am 2. September 2004 ist deren Leiter noch in das brennende und einsturzgefährdete Gebäude eingedrungen und hat den kostbaren Erstdruck der Luther-Bibel und einige andere Werke gerettet. Aber ein solch mutiges Verhalten ist nicht jedermann zuzumuten. Wenn ein ängstlicher Mensch die ihm noch mögliche Rettung eines Kindes aus einem brennenden Haus nicht wagt, so mag die mangelnde Entschlossenheit und Tatkraft bedauerlich sein. Sie ist aber verzeihlich und die vielleicht nur geringe Eigengefährdung nicht zumutbar. Für Seebode entbehrt der Begriff der Zumutbarkeit „der gebotenen Bestimmtheit des strafbaren Verhaltens“, ob man sie nun als Tatbestands-, Schuld- oder anderes Merkmal ansähe. Sie ist für ihn mit anderen Autoren ein „ethischer Blankoscheck“ oder eine „Leerformel“.34 Daß der Begriff „nach dem allgemeinen Sittengesetz“ zu bestimmen sei, wie die höchstrichterliche Rechtsprechung gesagt hat,35 ist allerdings eine zu vage Erläuterung. Aber dass er nicht bestimmbar sei, obwohl er schon in den vorstehend angeführten Deliktsfällen herangezogen worden ist, dürfte auch nicht zutreffen. Er setzt wie andere normative Merkmale eine Wertung voraus. Anhaltspunkt ist: in dem zu entscheidenden Falle muss eine Eigengefährdung des Unterlassenden vorliegen, die geringer als die Fremdgefährdung des Hilfsbedürftigen ist, oder es muss die erfüllte Pflicht des Täters weniger „wichtig“ sein als die zu erfüllende Hilfspflicht, da im umgekehrten Falle der Nichthandelnde gerechtfertigt wäre. Eine solche Abwägung ist in den in der Praxis vorkommenden Fällen, auf die die Kritiker des § 323 c StGB und seines Zumutbarkeitsbegriffs in ihren theoretischen Erörterungen nicht näher eingehen, durchaus möglich.36 Denn dann zeigt sich meist anschaulich, dass man in dem Notfall eine Hilfe schlecht erwarten oder sogar verlangen kann, sie eben unzumutbar ist. Zusammenfassend ist danach festzuhalten: Die Strafvorschrift wegen unterlassener Hilfeleistung ist kein „Fremdkörper“ in unserem Strafgesetzbuch. Sie ist auch nicht nur ein „Lückenbüßer“, sondern ein notwendiges Gegenstück zu den Verbotsbestimmungen. Es war ein großes Manko des Gesetzgebers, dass er weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik fähig war, eine ausreichende Regelung der Nothilfe-Pflicht zu treffen. Denn ein gedeihliches Zusammenleben der Men34
Seebode (Fn. 2), S. 291. BGHSt. 11, S. 353, 354; 14, S. 213, 216; 17, S.166, 169 ob. 36 Eine ganze Reihe solcher Fälle hat der Verfasser in seiner Kommentierung des § 323 c StGB in LK (Fn. 6) RNr. 44 ff., 59 ff.; 72 ff., 83 ff., 110 ff., 123 ff. 135 ff., 161 ff. angeführt. 35
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schen, das ohne Ver- und Gebote für die Rechtsgenossen nicht möglich ist, fordert gerade für Notfälle ausreichende Bestimmungen. Die NS-Vertreter haben denn auch betont, wie unzureichend die frühere Strafvorschrift (§ 360 I Nr. 10 StGB. ehem. F.) und wie verdienstvoll ihre Neufassung war. Sieht man von den heute gestrichenen früheren NSFloskeln ab, d.h. von der „nach gesundem Volksempfinden“ gebotenen und aus der „Treuepflicht“ des Einzelnen gegenüber den anderen Volksgenossen folgenden Hilfspflicht, dann bedeutet die neue Strafbestimmung einen wesentlichen Fortschritt. Daß die Verurteilungen nach § 323 c StGB nicht zahlreich sind, spricht ebensowenig gegen ihn wie die Tatsache, dass Bestrafungen wegen Landesverrats auch nicht häufig sind, gegen diesen Tatbestand anzuführen ist. Die Kritik, die Strafbarkeitsvoraussetzungen der unterlassenen Hilfeleistung seien nicht bestimmt genug, geht zu weit. Die Strafvorschrift bedarf wie andere Deliktstatbestände einer vernünftigen Gesetzesauslegung, die dem Richter anvertraut ist. Für sie gilt die lateinische Regel: „Ex praecedentibus et consequentibus fit optima interpretatio“, d.h.: Aus den vorausgegangenen (Fällen und Regelungen) und ihren Konsequenzen ergibt sich die beste Auslegung.
Darf Folter als Nothilfe in extremen Fällen angewandt werden? DIONYSIOS SPINELLIS
A. Einleitung Mit der Folter hatte ich mich in der Vergangenheit in einigen Arbeiten beschäftigt,1 und ich glaubte, das Thema wäre meinerseits fast erschöpft. Jüngste Entwicklungen zeigen jedoch, dass das Thema leider aktuell bleibt, so dass eine nochmalige Beschäftigung mit diesem nicht überflüssig ist. Der Jubilar hat vor kurzer Zeit in einem bedeutsamen Aufsatz2 die Frage behandelt, ob gewisse billigenswerte Zwecke die staatliche Folter heiligen können. Darum werde ich mich in dieser ihm gewidmeten Festschrift mit dieser Frage erneut beschäftigen. In Deutschland, wo aus Anlass des Falls Daschner eine rege Diskussion im Schrifttum stattgefunden hat, sind m.E. die Meinungen geteilt, so dass man mit gutem Recht von einer „Pat-Situation“ spricht. Daher möchte ich in diese Diskussion nicht eingreifen, zumal ich weder alle Einzelheiten der Verfahren gegen Gäfgen und gegen Daschner kenne, noch zu allen Stellungnahmen Zugang haben konnte.3 Ich werde von einem fiktiven Fall, den 1 Die Folter, eine nicht-konventionelle Straftat, die neulich in Griechenland kriminalisiert wurde, (Übersetzung eines Vortrags vor dem 7. UNO-Kongress über die Kriminalitätsprävention, in Zeitschrift „Straftat und Gesellschaft”, 1987, 51ff. (auf griech.); Die Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung in der griechischen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Praxis. Kaiser-FS, 1998, 1593; Mit der Folter konfrontiert sein in Griechenland: Die strengen Rechtsvorschriften und die zweifelhaften Resultate (auf griech.), in Mangakis-FS (1999), 783. (Die Titel der auf griechisch verfassten Werke wurden ins deutsche übersetzt.). 2 Seebode, Strafrechtliche Bemerkungen zum Folterverbot, in H. Goerlich (Hrsg.) Staatliche Folter, Heiligt der Zweck die Mittel?, 2007, 51. 3 Ich habe folgendes deutsches Schrifttum berücksichtigt: Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ, 2000, 165ff.; Schroeder, Der Begriff der Folter, Spinellis-FS 2001, 983; Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613 ff; Merten, Folterverbot und Grundrechtsdogmatik, JR 2003, 404; Miehe, Nochmals: Die Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot, NJW 2003, 1219; Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern”?, JR 2004, 182; Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331; Lüderssen, Die Folter bleibt tabu – kein Paradigmenwechsel ist geboten, Rudolphi-FS 2004, 691; Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24; ders. Notwehr als Menschenrecht, NZSt 2005,
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ich mit „P“ (von: Polizist) bezeichnen werde, ausgehen und ihn vom Standpunkt der mir besser bekannten griechischen Vorschriften und des Schrifttums beurteilen. Darüber hinaus werde ich einen anderen fiktiven Fall, den der „tickenden Bombe“ („TB“) zum Vergleich erwähnen.
B. Die Antifolter-Vorschriften des griechischen Rechts Das Folterverbot ist im griechischen Recht in einer Reihe von Vorschriften verkündet und seine Verletzung mit schweren Strafen bedroht. Zunächst ist die Grundsatzbestimmung von Art. 2 Abs. 1 der gr. Verfassung von 1975 zu nennen: „Die Achtung und der Schutz des Menschenwertes ist die allererste Verpflichtung des Staates“. Nach der Lehre des führenden griechischen Staatsrechtlers der letzten Jahrzehnte Aristoboulos Manessis4 spricht diese Bestimmung einen allgemeinen Grundsatz aus, der in einer Richtlinie an den Gesetzgeber besteht. Sie schuf aber weder ein besonderes Grundrecht, das gegenüber dem Staat einen Anspruch auf konkrete Handlungen begründet, noch ein unabhängiges und schutzwürdiges Rechtsgut. Der konkrete Inhalt dieses Grundsatzes ist in besonderen Vorschriften der Verfassung und in allgemeinen Regeln der Gesetzgebung verankert, aber der Grundsatz selbst hat keine höhere Geltung als die übrigen Bestimmungen der Verfassung. Immerhin hat er einen normativen Charakter, so dass jede Minderung des bereits von der Gesetzgebung gewährten Schutzes des Menschenwertes oder der Menschenwürde verfassungswidrig wäre. Die eigentliche Grundlage des Folterverbots liegt darum in Artikel 7 § 2 der gr. Verfassung, der folgendermaßen lautet: „Folterungen, jede körperliche Misshandlung oder Beschädigung der Gesundheit, die Ausübung von psychologischer Gewalt, sowie jede andere Verletzung der Menschenwürde sind verboten und werden bestraft, wie es im Gesetz vorgeschrieben wird.“ Also enthält die geltende Verfassungsvorschrift neben dem Verbot der legalen Folter, das in allen griechischen Verfassungen seit 18275 bestimmt wur593; Jerouschek, Gefahrenabwendungsfolter – Rechtsstaatliches Tabu oder polizeirechtlich legitimierter Zwangseinsatz? JuS 2005, 296; Roxin, Kann staatliche Folter in Ausnahmefällen zulässig oder wenigstens straflos sein? in Eser-FS, 2005, 461; ders. Strafrecht Allg. Teil, Bd. I, 4. Aufl. (2006) 100-107. Seebode (wie Fn 2). 4 A. Manessis, Verfassungsrechte, A. Grundfreiheiten, 4. Aufl, (1982), (griech.) 110-111; vgl. auch Chrysogonos, Individualrechte und soziale Rechte, 2006, (griech.) 109-111; nach Dagtoglou, Verfassungsrecht, Individualrechte, 1991, (griech.) 1137 soll diese Vorschrift subsidiär angewandt werden. 5 Art. 18 der in Troizina 1827, während des Freiheitskampfes, verabschiedeten Verfassung lautete: „Die Folter und die allgemeine Einziehung sind verboten“. Ähnliche Vorschriften enthielten die „monarchischen“ Verfassungen von 1832 (Art. 43), von 1844 (Art. 13), von 1864/1911/1952 (Art. 18), sowie die „republikanische“ Verfassung von 1927 (Art. 17).
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de, auch den Auftrag an den (griechischen) Gesetzgeber, die Folter „als solche“ zu kriminalisieren. Es soll aber erinnert werden, dass im geltenden Recht auch Art. 22 grStGB enthalten ist, der die Nothilfe vorsieht. Auch mehrere internationale Konventionen enthalten entsprechende Verbote. Gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 der gr. Verfassung werden solche Konventionen, nach ihrer Ratifizierung durch griechisches Gesetz, Bestandteile des griechischen Rechts und gehen den einfachen Gesetzen vor. Die wichtigsten relevanten Bestimmungen von internationalen Konventionen und Übereinkommen sind: (a) Art. 3 der MRK und (b) Artikel 4 der UNO „Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“6 vom 10.12.1984 („UNCAT“), wonach die Parteien sichern sollen, dass alle Taten der Folter nach ihrem Recht strafbar sind. Beide Konventionen, obwohl sie ausdrücklich keine Ausnahme vom Verbot in Kriegszeit oder anderen Ausnahmesituationen erlauben, erwähnen die Notwehr und die Nothilfe nicht; diese sind also nicht ausgeschlossen. Der griechische Gesetzgeber erfüllte den Auftrag von Artikel 7 § 2 der Verfassung und Art. 4 der UNCAT 1984, als dem grStGB vier neue Artikel hinzugefügt wurden (137A – 137D). In Artikel 137A grStGB Abs. 1 wurden gewisse Handlungen als „Folter“ und in Abs. 3 weitere als „andere Verletzungen der Menschenwürde“ bezeichnet und alle mit schweren Strafen bedroht. Es soll auch Art. 239 grStGB erwähnt werden („Gewaltmißbrauch“), der mit Gefängnis nicht unter einem Jahr (und bis fünf Jahre) „einen Beamten zu dessen Pflichten die Verfolgung und Untersuchung von Straftaten gehört“ bedroht, „wenn er rechtswidrig erpresserische Mittel anwendet, um irgendwelche mündliche oder schriftliche Aussage des Beschuldigten, eines Zeugen oder eines Sachverständigen zu erzwingen“. In der griechischen StPO wird die Anwendung von Folter bei der Vernehmung von Beschuldigten nicht ausdrücklich untersagt, wie etwa im § 136a dtStPO. Aber zu demselben Ergebnis führt das aus Art. 239 grStGB zu erschließende primäre Verbot, rechtswidrig erpresserische Mittel anzuwenden, um eine Aussage zu erzwingen. Insbesondere wird das klar, wenn die obige Vorschrift mit Art. 177 Abs. 2 grStPO in Verbindung gesetzt wird, wo es heißt: „Beweise, die durch rechtswidrige Taten oder mittels solcher Taten erlangt worden sind, dürfen für den Schuldspruch, für den Strafspruch oder für das Auferlegen von Zwangsmaßnahmen nicht berücksichtigt werden.“
6 United Nations Convention against Torture and other Cruel Inhuman or Degrading Treatment or Punishment of 10-12-1984 (UNCAT).
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Nach Art. 137A Abs. 4 sind Taten und Erfolge, die mit der rechtmäßigen Vollstreckung einer Strafe oder einer anderen legalen Beschränkung der Freiheit oder prozessualen Zwangsmaßnahme verbunden sind, den Tatbeständen dieses Artikels nicht subsumierbar.
C. Die Straftatbestände im Fall „P“ Der Fall „P“ sollte zunächst nach Art. 324 Abs. (1) und (3) grStGB beurteilt werden, wo die Tat als Kindesentführung und, falls das Kind jünger als 14 Jahre alt ist, und der Täter auf diese Weise ein Lösegeld erpressen wollte, als Verbrechen mit Zuchthaus (10-20 Jahre) bestraft wird. Die Tötung des Kindes sollte in Realkonkurrenz mit der obigen Tat als vorsätzliche Tötung nach Art. 299 Abs. (1) grStGB mit lebenslänglicher Zuchthausstrafe belegt werden. Das Verhalten eines Polizeikommissars „P“, der erpresserische Mittel anwendet, um eine Aussage des Beschuldigten zu erzwingen, sollte zunächst als Gewaltmißbrauch (Art. 239 grStGB) beurteilt werden. Als „erpresserische Mittel“ werden von dieser Vorschrift sowohl die Gewalt als auch die Androhung derselben betrachtet.7 Bloße Drohungen mit Folterungen oder anderen Verletzungen der Menschenwürde können nicht dem Abs. 2 von Art. 137A (Folter), sondern dem Abs. 3 subsumiert werden, wo u.a. die „rechtswidrige psychologische Gewalt“ (vis compulsiva) als eine andere Form von schwerer Verletzung der Menschenwürde (aber weniger schwer als die „Folter“) vorgesehen ist.8 Diese Straftaten, deren der Polizist „P“ schuldig ist, werden mit Gefängnisstrafen von mindestens drei (und bis fünf) Jahren bedroht. Weil die oben erwähnte (Nr. 5) Vorschrift von Art. 239 (Gewaltmißbrauch) eine Strafe vom mindestens einem Jahr androht, soll sie als subsidiär derjenigen von Art. 137A Abs. 3 weichen.
D. Die besonderen Polizeigesetze Das Verhalten der Polizeibeamten wird vom grundsätzlichen Gesetz Nr. 1481/1984 geregelt: Nach Art. 5 hat die „Griechische Polizei“ (EL.AS) u.a. die Aufgabe der Sicherheitspolizei, die in der Prävention und der Ver7 Spinellis, Strafrecht, Besonderer Teil, Straftaten im Amt, 1988, (griech.) 42; Bitzilekis, Straftaten im Amt, 2. Aufl. (2001), (griech.) 326. 8 Die auch von Art. 7 Abs. 2 der Verfassung umfasst ist, wo die „Ausübung psychologischen Zwangs” verboten wird.
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folgung des Verbrechens besteht. Unter ihren „besonderen Zuständigkeiten“ gehört (Art. 13) auch die Pflicht, die polizeiliche Voruntersuchung gemäß Art. 33 der grStPO durchzuführen. Nach Ermächtigung vom Gesetz Nr. 1481/1984, Art. 53 Abs. 1, wurde auch die Verordnung 254/2/3-12-2004 erlassen, die den Verhaltenskodex der Polizisten enthält. In Art. 4 derselben wird das Verhalten des Polizisten bei der Voruntersuchung vorgeschrieben. Da heißt es (u. Ziff. c ): (der Polizist) „… soll die Beschuldigten, die Verdächtigen, die Zeugen und die Opfer der Straftaten tadellos behandeln und, in seinem Bemühen Auskünfte zu erhalten, keine Art von Gewalt oder Druck ausüben“. Auch in Art. 3 wird u.a. bestimmt, dass der Polizist bei der Festnahme und der Haft von Bürgern jede Tat von Folterung oder anderer Form von unmenschlicher, grausamer oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterlassen und denunzieren soll, sowie jede Art von Gewalt oder Androhung von Gewalt.
E. Notwehr und Nothilfe Wenn man nach eventuellen Rechtfertigungsgründen sucht, sollte man zunächst bemerken, dass Art. 137D die Anwendung der Rechtfertigungsgründe des Notstands (Abs. 1) und des Befehls von Vorgesetzten (Abs. 2) ausdrücklich ausschließt.9 Diese Vorschriften erwähnen aber die Notwehr nicht, so dass die Anwendung der Bestimmungen über Notwehr und Nothilfe nicht ausgeschlossen ist. Art. 22 grStGB definiert die Notwehr und Nothilfe wie folgt: „1. Die in Notwehr begangene Straftat ist nicht rechtswidrig. 2. Notwehr ist die erforderliche Verletzung des Angreifers, die jemand begeht, um sich oder einen anderen gegen einen rechtswidrigen und gegenwärtigen Angriff zu verteidigen“. Nach der griechischen Lehre und Rechtsprechung dient die Notwehr zunächst dem Zweck des Schutzes der Rechtsgüter der die Notwehr ausübenden Person oder eines Anderen („individualistische Grundlage“), aber auch dem Zweck, durch die individuelle Tätigkeit des Angegriffenen oder des Nothelfers, die Rechtsordnung und die Geltung des Rechts aufrechtzuerhalten („soziale Grundlage“). Es wird sich oft auf den alten Grundsatz „Recht darf sich vor dem Unrecht nicht beugen“ berufen.10 Dieses Prinzip wird aber durch gewisse andere Grundsätze weniger streng angewandt. Außer9 Dasselbe bestimmen die Vorschriften von Art. 2 Abs. 2 und 3 der UN Antifolter Konvention. 10 Nach Bitzilekis, Die neuen Tendenzen zur Einschränkung des Notwehrrechts, (deutsch) 1984, 61 sind beide Momente desselben Gedankens.
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dem, während man sich auf den Notstand und das Handeln auf Befehl gemäß Art. 2 Abs. 2 und 3 der UNO Antifolter Konvention vom 10-12-1984 und Art. 137D Abs. 1 und 2 grStGB als Rechtfertigungsgründe nicht berufen darf, wird die Notwehr/Nothilfe in keiner dieser Vorschriften erwähnt. Man kann also davon ausgehen, dass auch in solchen Fällen die Notwehr/Nothilfe grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist. Können nun Androhungen, die einen psychischen Druck ausüben und eine Form von der nach Art. 137A Abs. 3 grundsätzlich strafbaren „rechtswidrigen psychologischen Gewalt“ sind, durch Nothilfe gerechtfertigt werden?11 Im Fall „P“ würde ein Angriff gegen die Freiheit und das Leben des entführten Kindes vorliegen, der gewiss rechtswidrig wäre. Nach dem Stand der Kenntnis der ermittelnden Polizei wäre der Angriff (immer noch) gegenwärtig. Diese Situation des Kindes verstößt auch gegen seine Menschenwürde. Denn der Entführer behandelt das Kind nicht als einen Menschen, sondern als ein Objekt, das einen Tauschwert hat. Er gibt vor, es gegen das Lösegeld seinen Eltern übergeben zu wollen. Die Verteidigungshandlung war erforderlich, um die durch den Angriff entstandene Gefahr vom Kind abzuwenden. Denn nach der Annahme der Polizei war das Kind noch am Leben, wäre also seiner Freiheit beraubt, in seiner Menschenwürde verletzt, deren Verletzung andauerte, und auch in Lebensgefahr. Der einzige, der den Ort kannte, wo er das Kind versteckt hatte, war der Verdächtige. Also könnte und sollte nur er die Auskunft über das Versteck des Opfers preisgeben. Die Tatsache, dass er diese Auskunft nicht geben wollte und das Kind in Lebensgefahr blieb, bedeutete einen andauernden Angriff (durch Unterlassung) des Beschuldigten auf die Freiheit und eine Gefahr für das Leben des Kindes. Nach Art. 15 grStGB ist die Nichtverhinderung des Erfolgs, nämlich der fortdauernden Freiheitsberaubung sowie des Todes des Kindes, der Herbeiführung durch aktives Tun gleichgestellt, weil der Angreifer durch sein vorangegangenes Tun (die Entführung und die Einsperrung des Kindes) diese Situation herbeigeführt, und er dadurch als Garant eine besondere rechtliche Verpflichtung hatte, den Erfolg abzuwenden. Die Tat des Angegriffenen oder des dritten Nothelfers sollte erforderlich sein, um eine sichere, unmittelbare und endgültige Abwendung des Angriffs zu sichern. Im Fall „P“ sollte einmal unterstellt werden, dass der Beschuldigte tatsächlich der Entführer war, dass er das Versteck des Opfers kannte 11 Zum folgenden: Spinellis, Systematischer Kommentar des StGBes Allg. Teil, (2005) Art. 22, RN 4-34; Mangakis, Allg. Teil, 2. Aufl. 1982, 191 ff.; Androulakis, Strafrecht, Allg. Teil, Die Theorie vom Verbrechen, 2000, 368 ff.; Manoledakis, Strafrecht, Allgemeine Lehre, 2004, RN 1062 ff.; Kotsalis, Strafrecht, Allg. Teil I, 2005, 301 ff.; Mylonopoulos, Strafrecht, Allg. Teil I, 2007, 428 ff. (Alle angeführten Werke auf griech.).
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und dass die Anwendung gewisser Gewaltmittel ihn dazu bringen kann, das Versteck preiszugeben. Die Befragung des Beschuldigten durch die Polizei findet zwar im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens statt, das die Entdeckung des Schuldigen einer Straftat bezweckt, die Befragung des Verdächtigen (und eventuell auch von Zeugen), um das Versteck des Kindes zu entdecken, fällt jedoch unter die Zuständigkeit der Polizei, Fahndungen zu treffen, um Gefahren abzuwehren, welche unschuldige Menschen (hier das entführte Kind) bedrohen. Ermittlungen mit diesem Zweck sind auch von der Polizei durchzuführen (Art. 13, Gesetz 1481/1984), normalerweise nach Anweisung des Staatsanwalts (Art. 243 Abs. 1 grStPO) oder in dringenden Fällen, wo der Täter auf frischer Tat ertappt worden ist, auch bevor eine solche Anweisung ergangen ist (Art. 243 Abs. 2 grStPO). Im vorliegenden Fall aber dauert die Begehung der Tat noch an, und es geht in dieser Phase hauptsächlich noch nicht darum, den verdächtigen Schuldigen aufzufinden, sondern, wenn möglich, darum, das Opfer noch zu retten. Es handelt sich also um eine Polizeiaktion im Gange, im Rahmen der allgemeinen Zuständigkeit der Polizei der Prävention und Verfolgung von Verbrechen. In diesem Fall finden die beiden Tätigkeiten uno acto statt. Ihre rechtlichen Schranken sind die allgemeinen Regeln, die die polizeiliche Tätigkeit bestimmen. Im Rahmen ihrer Zuständigkeit zur Gefahrenabwehr muss die Polizei ihre Tätigkeit nach ihren Auskünften über das Vorhandensein einer Gefahr richten, aufgrund derer oft lediglich ein Wahrscheinlichkeitsurteil und nicht Sicherheit erreicht werden kann. Aufgrund seiner Auskünfte wird nämlich der für die Ermittlung zuständige Polizeibeamte vermuten, dass eine Gefahr besteht, sowie über die Quelle derselben. Diesem Wahrscheinlichkeitsurteil gemäß soll er sich dann für die weiteren Maßnahmen entscheiden. Dann stellen sich die Fragen: Kann er soweit gehen und, unter der Annahme, dass ein rechtswidriger und gegenwärtiger Angriff vorliegt, auch entscheiden, dass keine andere Möglichkeit vorhanden ist, die vom Angriff ausgehende Gefahr abzuwenden, als durch Anwendung von Zwangsmassnahmen gegen den mutmaßlichen Täter, die seine Menschenwürde betreffen und sogar von Folterungen? Und können solche Druckmittel als „erforderliche Nothilfe“ vom Recht gerechtfertigt sein? Um die Sachlage klarer durchdenken zu können, werde ich folgende Beispiele zugrunde legen: (a) Im Fall „P“ schlägt das Opfer selbst den schlafenden Entführer heftig mit einer Flasche am Kopf, um vom ohnmächtigen Kriminellen den Schlüssel des Raumes, wo er ihn gefangen hält, zu nehmen und sich zu befreien. In einem solchen Fall könnte man gegen die Anwendung der Vorschriften über die Notwehr m.E. keine Einwände haben. (b) Das würde auch gelten, falls der Vater des Kindes den Entführer entdecken würde und er ihn mit Schlägen und Armverdrehen zu zwingen versuchte,
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das Versteck seines Kindes preiszugeben. (c) Eindeutig scheint mir auch der Fall zu sein, wo der Kommissar der Polizei im Laufe der Fahndungen den Verdächtigen zu überzeugen versucht, ihm das Versteck des entführten Opfers zu verraten, indem er ihm zunächst verspricht, für ihn beim Prozess eine günstige Aussage zu machen. (d) Wie wäre es aber, wenn auf die weitere Weigerung des Verdächtigen, das Versteck zu verraten, auf gewisse Drohungen von Schmerzzufügung übergeht? (e) Und wenn der Verdächtige weiterhin die Aussage verweigert, wenn er ihn gebunden an einem Stuhl allein mit dem Vater des entführten Kindes lässt, der Boxkämpfer von Beruf ist? Dieser droht dem Verdächtigen heftige Schläge, Armumdrehen und weitere Gewaltmassnahmen an. Und wenn er weiterhin auf sein Schweigen beharrt, und der Vater Gewaltmittel in der Tat anwendet? Würden diese auch durch Notwehr gerechtfertigt sein?12 Wie kann man den Kommissar beurteilen? Sollte sein Verhalten als Beihilfe bzw. als Anstiftung zu Folterungen beurteilt werden und strafbar sein (Art. 49 grStGB, vgl. § 28 dtStGB), während das Verhalten des Vaters gerechtfertigt bleiben würde? Die Versprechungen des Polizeibeamten, eine günstige Aussage über den Beschuldigten im Prozess zu machen, bewegen sich immer noch im Rahmen des Erlaubten. Dagegen unterfällt die Androhung von Gewaltanwendung zwar dem Tatbestand von Art. 137A Abs. 3 („psychologische Gewalt“), aber, obwohl sie tatbestandsmäßig ist,13 ist sie m.E. durch Nothilfe gerechtfertigt. Gewiss, wenn man gezwungen ist, soweit zu gehen, und solche Drohungen wahr zu machen, sollte man sich vorher sehr ernst diese Handlungen im Rahmen einer Abwägung überlegen. Kommt man zu dem Schluss, dass es keine andere Lösung gibt, das Leben, die Menschenwürde und die Freiheit des entführten Kindes zu retten und zu schützen, als durch die Anwendung von Gewalt, dann ist sie auch durch Nothilfe gerechtfertigt. Die Rechtfertigung würde dann abstoßende Taten, wie (leichte) Körperverletzungen des Verdächtigen und die Anwendung von Folterungen umfassen. So wie bei jeder Abwägung muss man auch hier gewisse, auch ganz abstoßende, Folgen in Kauf nehmen. Gewiss wird die Anwendung von Gewalt zum Zwecke der Nothilfe durch den Polizisten von mehreren Gesichtspunkten begrenzt. Zunächst einmal ist er nach Art. 2 Abs. 2 (a) der MRK auf die „unbedingt erforderliche Gewaltanwendung“ beschränkt, die bis zur Tötung eines Menschen reicht. Ferner soll der Polizist durch seine Ausbildung besser als das Opfer oder seine Angehörigen in der Lage sein, das unbedingt Erforderliche zu erkennen, um 12 Nach Lüderssen (wie Fn. 3), 705, wäre es auch Privaten verboten, Gewalt auszuüben. Dann stellt sich die Frage, wie sie sich gegen einen solchen rechtswidrigen Angriff wehren oder Nothilfe leisten könnten? 13 Nach Roxin 2001 (wie Fn. 3) 464, ist schon die bloße Androhung verboten.
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sich daran auszurichten.14 Dabei soll der Polizist als Staatsbeamter in seiner Tätigkeit auch auf Beschränkungen im Hinblick auf das Prinzip der Proportionalität und des Übermaßverbots besonders achten,15 das in Art. 25 Abs. 1 Satz 4 der griechischen Verfassung enthalten ist. Wenn es sich um Rechtsgüter von geringerem Range handeln würde, wie das Eigentum oder das Vermögen, würde der Gebrauch von Mitteln der Gewaltanwendung nicht gestattet. Aber wenn es um die höchsten Rechtsgüter des Lebens und der Menschenwürde des Opfers geht, dann kann und soll man die Aufopferung des höchsten Wertes der Menschenwürde des Verdächtigen in Kauf nehmen.16 Außerdem, soll die Tatsache, dass der Täter die Situation dieses tragischen Dilemmas selbst verschuldet hat, auf der Seite der Nothilfe wiegen. Schließlich soll die Nothilfe die Tat rechtfertigen, unabhängig davon, ob der Handelnde ein Bürger oder ein Polizist ist. In beiden Fällen handelt es sich um die Ausübung eines individuellen Rechts, das vom Opfer des Angriffs ausgeht,17 nämlich der Notwehr. Im deutschen Schrifttum wurde darauf hingewiesen, dass Strafverfolgung und Gefahrenabwehr sich nicht trennen lassen.18 Das ist auch nach griechischem Recht richtig, aber die Pflicht des Polizisten, keine Erpressungsmittel zu gebrauchen, um eine Aussage zu erzwingen (Art. 239 grStGB) und zu diesem Zweck psychischen Druck auszuüben (Art. 137A Abs. 1 und 3 grStGB), sowie die oben erwähnten Vorschriften des Polizeirechts (Nr. 12 und 13 oben) gemäß Art. 7 Abs. 2 der Verfassung (mit Gesetzesvorbehalt) sind Regeln, die das verbotene Verhalten abstrakt beschreiben. Sie werden aber ausnahmsweise von der Pflicht des Polizisten, das Leben, die Menschenwürde und die Freiheit des Kindes durch Nothilfe zu schützen und zu retten (Art. 5 Abs. 2 der Verfassung),19 wie es Art. 22 Abs. 1 grStGB bestimmt, umfasst, und sie sind deshalb gerechtfertigt. In dieser Konfliktsituation20 zweier Pflichten soll die Pflicht, Nothilfe zu leisten, den Vorrang 14
Mylonopoulos, aaO, 466. Androulakis, (wie Fn. 10) 365, 385; Mylonopoulos, Strafrecht, Allg. Teil, I, 2007, 459. 16 Spinellis, (wie Fn. 10) RN 48. Mylonopoulos, (wie Fn. 10) 464-466, 467. 17 Mylonopoulos (wie Fn. 10), 466. 18 Roxin (wie Fn. 3), 463. 19 Chrysogonos (wie Fn. 4) 111, nach dem die Menschenwürde nicht nur geachtet sondern auch gegen Verletzungen von Privatleuten positiv geschützt werden soll; vgl. Seebode (wie Fn. 2) 66, der im deutschen Recht zwar ein Nohilferecht nicht aber auch eine Nothilfepflicht durch Folter anerkennt. 20 In solch einem Konflikt zwischen der Menschenwürde des Täters einerseits und dem Leben, der Menschenwürde und der Freiheit des Opfers, und auch der Autorität der Rechtsordnung andererseits, entscheidet sich Roxin ( wie Fn. 3) 2005, 466 für die Erstere, weil die Pflicht des Staates, das Leben und die Menschenwürde des Opfers zu schützen, den Staat nicht legitimiert, die Menschenwürde des Täters anzugreifen. Im Konflikt zwischen den Rechtsgütern und auch der Autorität der Rechtsordnung soll also nicht der Wert dieser, sondern die Tatsache 15
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haben. Denn erstens soll dadurch, neben den wichtigsten Rechtsgütern des Opfers, auch die Rechtsordnung gegen den Verbrecher verteidigt werden. Zweitens ist der Verdächtige selbst für diese Konfliktsituation verantwortlich, und er ist in der Lage, sie in jedem Moment aufzulösen, indem er das Versteck des Kindes preisgibt. Die Präsumtion der Unschuld (Art. 6 Abs. 2 EMRK) betrifft zwar jede Person, die beschuldigt wird, aber das gilt hauptsächlich für das Strafverfahren, während im Laufe der Polizeifahndungen der Polizist versuchen soll, von jemandem, der Kenntnisse von einer Gefahrensituation hat, Auskünfte im Rahmen der Polizeifahndungen zu erlangen. Macht der Befragte von seinem Recht auf Schweigen Gebrauch, dann darf man normalerweise auf ihn keinen Druck ausüben. Wenn sich aber nach den Auskünften des Polizisten das Leben des Opfers in Gefahr befindet, und alle andere Mittel ihn zu überzeugen, das Versteck des Opfers zu verraten, scheitern, dann könnte er notfalls auch wenigstens von den Mitteln des Art. 138A Abs. 3 StGB Gebrauch machen. Die Anwendung von diesen Mitteln wäre dann als Nothilfe von Art. 22 gerechtfertigt.
F. Verstößt die Anwendung der Notwehr gegen Normen der Verfassung oder internationaler Abkommen? Die Verfassung würde einer solchen Rechtfertigung nicht entgegenstehen. Erstens, weil Art. 2 Abs. 2 einen Gesetzesauftrag erhält (…wie es im Gesetz vorgeschrieben wird…). Dadurch wird der Gesetzgeber beauftragt, die Strafbarkeit der Folterungen und anderer Verletzungen der Menschenwürde zu regeln. Er sollte daher Regelungen einführen, die sowohl das abstrakte Verbot als auch die Rechtfertigungsgründe betreffen. Diese Regelungen wurden in Art. 137A und 137B grStGB vorgesehen. In Art. 137D Abs. 1 und 2 wurde auch bestimmt, dass der Notstand und der Befehl des Vorgesetzten die Rechtswidrigkeit der Straftaten von Art. 137A und 137B nicht ausschließen. Also a contrario können diese Taten nach den Bestimmungen von Art. 22 grStGB über Notwehr und Nothilfe evtl. gerechtfertigt werden. Ferner bestimmt Art. 5 Abs. 2 der Verfassung: „Alle, die sich im griechischen Staat befinden, genießen absoluten Schutz ihres Lebens, ihrer Ehre und ihrer Freiheit, unabhängig von ihrer Nationalität, Rasse, Sprache, religiösen und politischen Überzeugungen.“ Darum ist der Staat verpflichtet einzugreifen, um das Leben, die Menschenwürde und die Freiheit jeder sich in Griechenland befindenden Person zu schützen. entscheiden, dass die Nothilfe gegen den Täter durch positives Tun während der Schutz des Opfers durch Unterlassen betätigt werden sollte. Jedoch ist m.E. die Abwägung von Rechtsgütern und Werten das wichtigere Kriterium.
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Die relevanten Bestimmungen von internationalen Abkommen, die Griechenland ratifiziert hat, schließen die Anwendung der Notwehr, auch notfalls durch Folterungen, nicht aus: (a) Die MRK, welche die Folter in Art. 3 verbietet, enthält in Art. 15 Abs. 1 und 2, wo die Ausnahmen bestimmt sind, kein Verbot der Anwendung von Folter in Notwehr- und Nothilfesituationen. (b) Ebenfalls verbietet Artikel 2 Abs. 2 und 3 der „UNCAT“, der die Berufung auf Ausnahme- und Kriegssituationen sowie auf die Anweisung von Vorgesetzten ausschließt, die Möglichkeit der Notwehr durch Gewalt, inklusive evtl. Folter, nicht. (c) Art. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966 verbietet die Folter, ohne Rechtfertigungsgründe zu erwähnen. Man könnte daraus folgern, dass entweder keiner solcher Gründe die Folterungen rechtfertigen können oder, weil sie nicht einmal erwähnt werden, dass sie selbstverständlich auch bei diesen außerordentlichen Fällen im gleichen Ausmaß gelten, wie in den griechischen Vorschriften (Art. 137D), die die Notwehr und Nothilfe nicht verbieten. Die zweite Alternative scheint mir überzeugender, da andernfalls diese Vorschrift die Anwendung von gewissen Rechtfertigungsgründen ausdrücklich ausschließen würde, wie es die zwei anderen oben erwähnten Konventionen in den Fällen von Kriegssituationen usw. tun.
G. Liegt hier eine Pflichtenkollision vor, die evtl. mit übergesetzlichen Mitteln gelöst werden soll? Im Fall „P“ würde sich der Polizist in einer Konfliktsituation befinden, die er nur nach den Vorschriften über Nothilfe lösen kann. Dabei wird er eventuell gezwungen sein, auch zu den extremen Mitteln der Gewaltanwendung Zuflucht zu nehmen, unabhängig davon, ob diese die Form der Folter, der Körperverletzung und jeder anderen Verletzung der Menschenwürde nehmen soll. In extremen Konfliktsituationen, selbst wenn die Vorschriften über Notwehr, Nothilfe und auch Notstand keine Anwendung finden können, wenn man vor einer Pflichtenkollision steht, die ein tragisches moralisches Dilemma darstellt, ist man gezwungen, trotz großem Drucks von Faktoren beider Seiten, doch eine Entscheidung zu treffen, wobei Menschenleben, auch auf Kosten anderer Menschenleben, gerettet werden. Diese Situation ist aber ein Grenzfall, der selten vorkommt, und man daher selten in eine übergesetzliche Behandlung Zuflucht nehmen sollte.21 21 Mangakis, (wie Fn. 11), 217-221; ders. Die Plichtenkollision im Strafrecht, 1955, 137 ff. (beide griech.). Es geht dabei immer um die Kollision von zwei oder mehreren Pflichten, die alle Menschenleben schützen sollen. Das Menschenleben ist der höchste Wert und darf nicht
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Der vorliegende Fall „P“ bedarf aber keiner übergesetzlichen Behandlung, denn die Vorschrift über die Nothilfe genügt, um dem „P“ die Möglichkeiten zu geben, auch zu den extremen und abstoßenden Mitteln der Gewaltanwendung Zuflucht zu nehmen. Denn es geht nicht um eine Kollision von Menschenleben, sondern um einen Konflikt zwischen der Menschenwürde des Verdächtigen einerseits und dem Leben, der Menschenwürde und der Freiheit des Kindes andererseits, auf deren Seite auch die Autorität der Rechtsordnung stehen sollte. Grundsätzlich soll in einer Situation von Notwehr/Nothilfe keine Abwägung zwischen den Rechtsgütern des Angreifers und denen des Angegriffenen entscheidend sein – außer in extremen Fällen von Disproportionalität. Jedoch hilft es hier, eine Abwägung zu machen, um die moralische Rechtfertigung der Entscheidung zu zeigen, auch zu den extremen Mitteln der Folter Zuflucht zu suchen. Darum sind in diesem Fall nicht nur die allgemeinen Voraussetzungen der Nothilfe erfüllt, sondern auch die zusätzlichen, die in einer solchen extremen Situation vorliegen müssen.22
H. Der Fall der „tickenden Bombe“ Nun werden wir sehen, ob die obigen Ergebnisse für den fiktiven Fall „P“ auch auf den fiktiven Fall der „tickenden Bombe“ („TB“) angewandt werden können. In diesem Fall wird angenommen, dass ein Terrorist eine Bombe mit einem tickenden Mechanismus an einem geheimen Ort gelegt hat und androht, dass sie in X Stunden automatisch explodieren und viele unschuldige Menschen töten oder verletzen wird, wenn nicht vor dem Ablauf dieser Frist z.B. gewisse verurteilte Gefangene befreit werden. Der Terrorist wird entdeckt und verhaftet, die Bombe tickt weiterhin, aber er weigert sich, den Ort zu verraten, wo er sie versteckt hat. So besteht immer noch die Gefahr, dass ihre Explosion viele Opfer fordern wird. Auch hier liegt ein rechtswidriger und gegenwärtiger Angriff gegen die wichtigsten Rechtsgüter dritter Personen vor – auch unter der Annahme, dass der Polizist nicht selbst gefährdet wird. Auch hier wird vorausgesetzt, dass nur der Verdächtige den Ort, wo sich die Bombe befindet, kennt. Der Polizist hat vergebens mit allen anderen milderen Mitteln versucht, ihn zu überzeugen, den geheimen Ort der Bombe preiszugeben. Kann er nun Drohungen gebrauchen und schließlich sogar zu Zwangsmitteln inklusive Folter durch eine Berechnung von Kosten und Gewinn geschätzt werden. Andererseits kann man nicht einfach, auf Grund der Achtung für jedes Menschenleben, von jeder Tätigkeit absehen, wenn dies den Tod eines konkreten Menschen als Folge haben wird. 22 Brugger, (wie Fn. 3) 167.
Darf Folter als Nothilfe in extremen Fällen angewandt werden?
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Zuflucht suchen, um die fatale Auskunft zu bekommen? M.E. kann die Antwort leider nicht anders als positiv sein. In diesem „tragischen Dilemma“ stehen die Sachen ähnlich wie im früher extensiver besprochenen „P“ Fall.
I. Fazit (a) In Ausnahmesituationen, wo ein rechtswidriger und gegenwärtiger Angriff auf Leben, Menschenwürde und Freiheit von Personen vorliegt, darf ein Polizist oder ein Privater in Notwehr oder Nothilfe auch durch Zwang und Folter versuchen, den Angriff abzuwenden. (b) Ein Polizist hat nicht weniger Rechte als ein Privatmann; nur wegen seiner besonderen Ausbildung ist er besser in der Lage, auf die Prinzipien der Proportionalität und des Übermaßverbots bei der Ausübung von Notwehr oder Nothilfe zu achten. (c) Die durch Zwang oder Folter erzwungene Aussage des Verdächtigen darf, weil sie unter Verstoß gegen Art. 239 grStGB erlangt wurde, im Strafprozess nicht verwertet werden. (d) Wenn man in wirklichen Grenzsituationen, wie in den „P“ und „TB“ Fällen, „blutenden Herzens“ auch die Notwendigkeit der Anwendung von Zwang und Folter hinnehmen muss, um das Leben eines Kindes bzw. von mehreren unschuldigen Menschen zu retten, würde dies nicht unbedingt einen „Dammbruch“ bedeuten. Missbräuche von Polizisten und anderen Beamten kommen leider manchmal oder öfters vor, und sie sollen gewiss von Strafgerichten und Disziplinarbehörden streng und gerecht missbilligt und geahndet werden. Der Gebrauch aber von Zwang in außerordentlichen Situationen, wie die Fälle „P“ und „TB“, wird den Damm nicht brechen, wenn die Voraussetzungen der Notwehr/Nothilfe streng und korrekt beachtet werden.
Rechtliche Grenzen einer Patientenverfügung DETLEV STERNBERG-LIEBEN
I. Die Probleme sachgerechter rechtlicher Eingrenzung von ärztlichen lebensverkürzenden Maßnahmen (Sterbehilfe i.w.S.) beschäftigen nicht nur seit Langem Rechtsprechung und Rechtswissenschaft,1 sondern nunmehr auch den Gesetzgeber. Im Bundestag werden derzeit2 verschiedene Gesetzesentwürfe zur rechtlichen Normierung der mit einer Patientenverfügung verbundenen Probleme beraten. Im Mittelpunkt der parlamentarischen Diskussion3 steht hierbei nicht nur die Frage, welche formalen Anforderungen an derartige Vor-ab-Erklärungen des Patienten, mit denen er für konkrete Behandlungssituationen bestimmte ärztliche oder pflegerische Eingriffe ablehnt, aufgestellt werden sollen; ein weiterer Schwerpunkt der parlamentarischen Kontroverse bezieht sich auf die Reichweite einschlägiger Behandlungsdirektiven, insbesondere auf die Frage, ob diese nur in relativer Todesnähe Geltung beanspruchen dürfen, und ob in diesen antizipierten Willenserklärungen auch ein Stopp für Maßnahmen der künstlichen Ernährung wirksam ausgesprochen werden kann. Umgekehrt berichten Mediziner aus ihrer Praxis, dass Patienten vorab für den Fall ihrer aktuellen Kommunikationsunfähigkeit bestimmte ärztliche und pflegerische Maßnahmen (etwa künstliche Beatmung und Ernährung) strikt einfordern.4 In meinem Beitrag soll diesen beiden Fragen5 nachgegangen werden, also etwaigen gesetzlich zu statuierenden Beschränkungen für Behandlungsverbote, die in 1 Auf die Vielzahl einschlägiger Beiträge aus dem Bereich der Medizinethik, Philosophie und Theologie kann hier nicht einmal ansatzweise eingegangen werden. 2 Abschluss dieses Beitrages am 13. Januar 2008. 3 Vgl. die Bundestagsplenardebatte am 29. März 2007 (Plenarprotokoll 16/91 – TOP 3; abgerufen unter http://dip.bundestag.de/btp/16/16091.pdf); vgl. bereits die Bundestagsplenardebatte vom 10. März 2005 (Plenarprotokoll 15/163 – TOP 4; abgerufen unter: http://dip.bundes tag.de/btp/15/15163.pdf). 4 Diese Frage wurde – allerdings nur unter dem Gesichtspunkt fehlender Strafbarkeit entsprechender Lebensverlängerung – bereits 1999 von Schöch zur Diskussion gestellt (HirschFS, 1999, S. 693, 705 f.). 5 Die grundsätzliche Verbindlichkeit von Patientenverfügungen soll hier nicht mehr erneut begründet werden, vgl. hierzu etwa Verf. Eser-FS, 2005, S. 1186, 1188 ff.
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Patientenverfügungen ausgesprochen werden (unter II.), sowie dem Umgang mit einem in einer Patientenverfügung niedergelegten, aus ärztlicher Sicht übermäßigen, Behandlungswunsch (unter III.).
II. 1. Hat ein Patient in seiner Patientenverfügung bestimmte ärztliche, lebenserhaltende Maßnahmen (etwa die künstliche Beatmung) ausgeschlossen, so stellt sich die Frage, ob dieses Behandlungsverbot6 stets, also unabhängig von der Todesnähe des Patienten, Geltung zu beanspruchen hat,7 oder ob entsprechende Patientenverfügungen in ihrer Wirksamkeit auf Konstellationen mehr oder weniger ausgeprägter Todesnähe8 beschränkt werden sollen,9 also auf Fälle eines irreversiblen Grundleidens, das trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis alsbald zum Tode führen wird.10 6 Bekanntlich (für alle: Schneider in: MünchKomm-StGB, 2005, Vor § 211 Rn. 121) stellt sich im Zusammenhang mit dem Problembereich Sterbehilfe/Patientenverfügung von Rechts wegen nicht die Frage, ob der Patient wirksam in den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen eingewilligt hat bzw. überhaupt einwilligen konnte. Da jede in die Körperintegrität des Patienten eingreifende ärztliche Heilmaßnahme nach ständiger Rechtsprechung als Körperverletzung anzusehen ist, ist vielmehr zu prüfen, ob derartige Heileingriffe (Entsprechendes gilt für pflegerische Maßnahmen, wie etwa die Aufrechterhaltung einer mittels Magensonde verabreichten künstlichen Ernährung) überhaupt vom (mutmaßlichen) Patientenwillen gedeckt sind; liegt nun ein wirksames Behandlungsveto in Form einer Patientenverfügung vor, so ist – da eine ärztliche Zwangsbehandlung auch im Falle vitaler Indikation ausgeschlossen ist – eine entsprechende Weiterbehandlung, die dann mangels (mutmaßlicher) Einwilligung ja eine rechtswidrige Körperverletzung darstellen würde, untersagt. Dieser grundlegende Ansatz – aus dem für Problemsituationen eines nicht hinreichend feststellbaren Patientenwillens m. E. aber für den Fall einseitig passiver Sterbehilfe nichts Entscheidendes gewonnen werden kann – wird leider mitunter von der Rechtsprechung mit ihrem Abstellen auf die Einwilligung in Maßnahmen der Sterbehilfe verdunkelt (z.B. BGHStE 40, 257, 262: „sofern der Patient mit dem Abbruch mutmaßlich einverstanden ist“). 7 So die Rechtslage de lege lata. 8 Dann bedarf es überhaupt keiner Patientenverfügung mehr, da eine Weiterbehandlung schon medizinisch nicht mehr indiziert ist. 9 So de lege ferenda der Gesetzesentwurf der Abgeordneten Bosbach, Röspel u.a., der im neu vorgeschlagenen § 1904a BGB einen „nach ärztlicher Überzeugung unumkehrbaren tödlichen Verlauf“ als Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Patientenverfügung fordert, während bei Bewusstlosigkeit das Vormundschaftsgericht eine entsprechende Genehmigung der Nichteinwilligung des Betreuers in eine lebenserhaltende medizinische Maßnahme infolge eines Konsenses von Arzt und Betreuer überflüssig ist (§ 1904 III BGB n.F.) bzw. anderenfalls (nach § 1904a II BGB n.F.) nur erteilen darf, wenn „der Betreute ohne Bewusstsein ist und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit trotz Ausschöpfung aller medizinischen Möglichkeiten das Bewusstsein niemals wieder erlangen wird“. 10 Hierzu m.w.Nachw. Verf. JRE 15 (2007), S. 307, 317 ff.
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Hintergrund derartiger Restriktionsforderungen, wie sie etwa auch die Mehrheit der Mitglieder der Bundestags-Enquete-Kommission11 vertreten hat, mag partiell eine spezifisch religiös geprägte Vorstellung von der „Heiligkeit des Lebens“ sein, eine für theokratische Gemeinwesen mögliche, im säkularen Staat des Grundgesetzes als Richtschnur für gesetzgeberische Lösungen oder die konkrete Rechtsanwendung aber unzulässige Vorgabe.12 Derartige Beschränkungen wären nämlich mit dem verfassungsrechtlich garantierten, umfassenden Selbstbestimmungsrecht des Patienten über seine Körperintegrität, das auch die Ablehnung vital indizierter ärztlicher Maßnahmen beinhaltet,13 nicht zu vereinbaren; allein der Patient und nicht der Staat hat darüber zu befinden, wann eine Weiterbehandlung sinnvoll ist. Eine derartige weitgehende Unverfügbarkeit des Lebens hingegen würde das grundgesetzliche Verhältnis von Staat und Bürger auf den Kopf stellen: Der Staat des Grundgesetzes ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.14 Hieran ändert auch die Gemeinschaftsgebundenheit des Einzelnen nichts. Arthur Kaufmann hat dies bereits 1983 klargestellt:15 „Der einzelne ist der Gemeinschaft verpflichtet, aber nur solange er lebt; er ist der Gemeinschaft indessen nicht verpflichtet zu leben.“ Nach der von der Verfassung garantierten Personenautonomie muss niemand von Rechts wegen sein Leben auf eine Weise beschließen, die seinen eigenen Vorstellungen widerspricht. Wollte man anders entscheiden, so entartete ein vom Ansatz her wohlgemeintes Prinzip (Lebensschutz) in puren Biologismus: eine „fundamentalistische“16 Verkehrung des Lebensschutzes zum Lebenszwang, die in einem existentiellen Bereich die Freiheit des Einzelnen der Erreichung eines gesellschaftspolitischen Ziels opferte.17 Am Rande bemerkt: Geradezu gegenläufig zum intendierten Lebensschutz würden bei einer entsprechenden Reichweitenbeschränkung spezifische Lebenszustände (Todesnähe) als nicht mehr lebenswert (und deshalb beendbar) deklariert.18
11 Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Ethik und Recht in der modernen Medizin“, BT-Drs. 15/3700, S. 38. 12 Vgl. Hilgendorf in: Joerden/Szwarc (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, 2007, S. 173, 178. 13 Hierzu Verf. (Fn. 10), S. 309 ff. 14 So die ursprüngliche Formulierung von Art. 1 I GG im Herrenchiemseer Verfassungsentwurf (JöR 1 N.F. [1951], S. 48). 15 „Euthanasie – Selbsttötung – Tötung auf Verlangen”, MedR 1983, S. 121, 124. 16 So der Palliativmediziner Borasio (FAZ vom 19. 1. 2007, S. 42). 17 Im Übrigen finden sich Brüche im angeblichen Prinzip des absoluten Lebensschutzes ja bereits durch Anerkennung der indirekten Sterbehilfe sowie auch durch das Abstellen auf das Hirntodkriterium i.Z.m. Organspenden. 18 Vgl. Ingelfinger JZ 2006, 821, 829.
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Es geht folglich nicht an, gerade Fälle des Wach-Komas19 dem möglichen Regelungsbereich einer Patientenverfügung zu entziehen.20 Zwar mag es sein, dass sich hinsichtlich der Einstufung von Wachkoma-Patienten ein Paradigmenwechsel in der ärztlichen Betrachtung abzeichnet.21 Hieraus würde aber nur eine ärztliche Indikation zur Erhaltung des Lebens dieser Patienten folgen (hierzu dann noch unter III.), nicht aber die Unwirksamkeit einer diesbezüglichen Patientenverfügung, die ja ohnehin erst bei Vorhandensein einer ärztlichen Indikation zum Tragen käme.22 – Im Übrigen können etwaige medizinische Erkenntnisse über eine vorhandene Bewusstseinsqualität von Wachkoma-Patienten umgekehrt geradezu Anlass für das Aufsetzen von Patientenverfügungen sein, die sich auch auf derartige Situationen beziehen. Entsprechendes würde für den Umstand gelten, dass mitunter Wachkoma-Patienten aus diesem Zustand wieder „erwachen“: Diesen zumeist Schwerstbehinderten ist dann selbstverständlich die höchstmögliche fürsorgende Pflege zu erbringen. Es muss aber der Entscheidung des Einzelnen überlassen bleiben, ob er für sich ein Weiterleben in diesem Zustand für akzeptabel erachtet.23 2. Infolge der verfassungsrechtlich gesicherten Befugnis des Einzelnen, selbst und damit nach je eigenen Maßstäben über die Preisgabe seiner Körperintegrität bestimmen zu können, verbieten sich auch gesetzgeberische Beschränkungen, mit denen einem vom Patienten verfügten Ausschluss von Maßnahmen künstlicher Ernährung die Verbindlichkeit abgesprochen werden sollte. Der – psychologisch nicht zu unterschätzende24 – Unterschied zum Absetzen anderer lebenswichtiger Maßnahmen besteht zwar darin, dass bei der Einstellung künstlicher Ernährung stärker die Intention hervortritt,
19 Zur Vielgestaltigkeit der mit dieser Kurzformel nur unscharf umschriebenen Krankheitskonstellationen: Oehmichen, Schwere erworbene Hirnschädigung – Wege zur Behandlungsentscheidung, 2007, S. 7 ff.; Prange in Kettler/Simon/Anselm/Lipp/Duttge (Hrsg.), Selbstbestimmung am Lebensende, 2006, S. 69, 71 ff. 20 So die Mehrheitsauffassung im Zwischenbericht der BT-Enquete-Kommission (Fn. 11), S. 38 f. 21 So ausdrücklich die Mehrheitsauffassung der BT-Enquetekommission (ebd.), S. 39; s.a. Nacimento sowie Zieger in: Höfling (Hrsg.), Das sog. Wachkoma, 2005, S. 29 ff., bzw. S. 49 ff. 22 Kutzer in: Meier/Borasio/Kutzer, Patientenverfügung, 2005, S. 102, 105 f. 23 Hiergegen kann auch nicht das Dammbruchargument einer „Klimaverschiebung“ zulasten behinderten Lebens durchschlagend in Stellung gebracht werden: Verf. (Fn. 10), S. 319. 24 Zu denken ist hierbei insbesondere an die Belastungen, die für das pflegerische Personal mit der Umsetzung entsprechender Patientenvorgaben verbunden sein können. Da aber die grundgesetzlich geschützte Gewissensfreiheit keinen Eingriffstitel zum Eingriff in die Rechte anderer bildet, bleibt es sehr wohl verpflichtet, eine dem Patienten unerwünschte Heil- oder Pflegebehandlung abzubrechen; hierzu m.w.Nachw. Verf. (Fn. 10), S. 333 f.
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wunschgemäß zur Beendigung des Lebens beizutragen,25 und zwar durch eine Todesursache, die geringen Raum für die Vorstellung lässt, hier werde lediglich dem Sterbeprozess sein natürlicher Lauf gelassen. Dies ändert aber aus rechtlicher Sicht nichts daran, dass dieses „Verhungernlassen“26 die zwingende Konsequenz der zu respektierenden Patientenautonomie bildet. Da das Legen einer Sonde zwecks künstlicher Ernährung mit einem Eingriff in die Körperintegrität verbunden ist,27 gelten insoweit die allgemeinen, vom ärztlichen Heileingriff her bekannten Grundsätze. Eine gegen den Willen des Patienten erfolgende Zwangsernährung würde eine im Widerspruch zur bisherigen Praxis und Rechtsauffassung stehende Zwangsbehandlung eines Kranken darstellen, die die Menschenwürde des Betroffenen tangiert.28 Müsste diese invasive Maßnahme auf jeden Fall verabfolgt werden, so würde dem Einzelnen infolge seiner Kommunikationsunfähigkeit die Möglichkeit entzogen, sich seinem Weiterleben zu entziehen, eine Option, die einem Nichtbehinderten (also aktuell zum Veto Fähigen) ja unstreitig zur Verfügung steht. Die Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit gehört mithin keineswegs zu einer der Verfügung des Patienten von vornherein entzogenen Basisversorgung.29 Gerade die künstliche Ernährung kann im Übrigen zu einer schweren körperlichen Belastung des Sterbenden führen und somit – anders als das Stillen von Hunger- und Durstgefühlen – medizinisch kontraindiziert sein.30 25 Der Unterschied zur – strafrechtlich, aber nicht arztethisch (vgl. die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, DÄ 101 [2004], A 1298 [Präambel]) – ebenfalls zulässigen Suizid-Unterstützung als Aktivität eines Dritten besteht darin, dass ihr wunschgemäßes Absetzen keine zusätzliche, den Tod eigenständig herbeiführende Gefahrenquelle schafft; der Betroffene macht vielmehr von seiner Abwehrbefugnis Gebrauch, den zu seinem natürlichen Tod führenden Verlauf seiner Krankheit nicht durch körpertangierende Eingriffe Dritter beeinflusst zu sehen. 26 Durch die künstliche Ernährung wird häufig ein Sterbeprozess nur verlängert, ohne dass die Betroffenen – jedenfalls bei hinreichender Mundpflege – an Hunger oder Durst litten (vgl. unten Fn. 30). 27 Eine fortdauernde Sondenernährung durch eine bereits gelegte Sonde stellt einen ebenfalls legitimationsbedürftigen Eingriff zumindest in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Patienten dar, vgl. Berg Lebensbeendende Behandlungsbegrenzung bei Wachkomapatienten, 2006 (Medizinethische Materialien, H. 172), S. 23. 28 Hufen NJW 2001, 849, 855 f.; ders. ZRP 2003, 248, 249. 29 Für eine entsprechende Untersagungsbefugnis des Patienten auch die strafrechtliche Abteilung des 66. DJT 2006 (Beschluss II.3.b / abgerufen unter http:/www. djt/index.php) im Anschluss an das vorbereitende Gutachten von Verrel (Gutachten C zum 66. DJT Stuttgart 2006), S. C 78; sowie Duttge Preis der Freiheit, 22006, S. 15 f.; ders. GA 2006, 573, 582; Otto NJW 2006, 2217, 2219; Schöch/Verrel GA 2005, 553, 561. 30 Die künstliche Ernährung birgt die Gefahr, dass ein Sterbeprozess nur verlängert wird, während bei ihrer Absetzung die Betroffenen – jedenfalls bei hinreichender palliativer Versorgung (Mundpflege) – weder Hunger noch Durst leiden. Demgegenüber führt die Reduktion von Flüssigkeitszufuhr patientenfreundlich zu einer deutlichen Abnahme erheblich belastender,
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3. Der Frage, inwieweit zur Sicherstellung einer wirklich freiverantwortlich getroffenen Patientenentscheidung die Wirksamkeit einer Patientenverfügung an bestimmte Formvorschriften31 im Sinne eines „weichen“ Paternalismus32 geknüpft werden könnte und sollte, kann in diesem Beitrag nicht weiter nachgegangen werden.33
III. Während sich Fragen einer Reichweitenbeschränkung für Behandlungsverbote, die in Patientenverfügungen getroffen sind, erst de lege ferenda stellen, verlangt die Frage, inwieweit der Patient auch in einer Patientenverfügung eine Behandlung rechtlich wirksam verlangen kann, die nach ärztlicher Einschätzung nicht indiziert ist (übermäßiger Behandlungswunsch), bereits gegenwärtig und völlig unabhängig von einer etwaigen gesetzlichen Regelung zur Patientenverfügung nach Antwort: Derartige „übermäßige“ Behandlungswünsche sind ja keineswegs ein Spezifikum der Patientenverfügung, da auch ein aktuell kommunikationsfähiger Patient bzw. dessen Stellvertreter (etwa Eltern) vom behandelnden Arzt Maßnahmen einfordern können, für die nach dessen Einschätzung keine medizinische Notwendigkeit besteht. Im Falle einer Patientenverfügung, die entsprechende Patientenwünsche enthält, verschärft sich diese Problematik allerdings dadurch, dass dem Arzt die Möglichkeit genommen ist, den Patienten (bzw. dessen Stellvertreter) im Behandlungsgespräch davon zu überzeugen, dass die begehrte Maßnahme (also etwa eine [Neuland-]Operation oder eine be-
ihre letzte Lebenszeit vergällender körperlicher Funktionsstörungen (z.B. von Erbrechen; auch die zur Atemnot führende Sekretproduktion wird gemindert): Oehmichen Künstliche Ernährung am Lebensende, 2001 (Berliner Medizinethische Schriften, H. 45), S. 10; ders. Ethica 13 (2005), 69, 77, der ebd. auch darauf hinweist, dass eine Flüssigkeitszufuhr bei Sterbenden zur Verstärkung von Schmerzzuständen und einer Verlängerung des Sterbeprozesses führen kann. Zu der entsprechenden internationalen Datenlage Strätling/Bartmann/Fieber/SedemundAdib/Scharf/Schmucker, Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung in Deutschland, 2005 (Medizinethische Materialien, H. 162), S. 17 f. 31 Also etwa unerlässliche ärztliche Beratung vor Niederlegen einer entsprechenden Willensbekundung; oder: Zwang zur hinreichenden Aktualisierung einer Patientenverfügung; vgl. hierzu etwa die Vorschläge von J. Lorenz in: Schildmann/Fahr/Vollmann (Hrsg.), Entscheidungen am Lebensende in der modernen Medizin: Ethik, Recht, Ökonomie und Klinik, 2006, S. 179 ff., sowie dens. in seiner Dresdener Dissertation (2008) „Sterbehilfe – Ein Gesetzentwurf“. 32 Dem Betroffenen sollen hierbei keine fremden Wertvorstellungen oder Entscheidungen zu seinem Wohle aufgezwungen werde; er soll vielmehr davon abgehalten werden, etwas zu tun, was er, wenn er besser informiert wäre, nicht tun würde. 33 Vgl. Verf. (Fn. 10), S. 325 ff.
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stimmte Medikamentation) in seinem spezifischen Falle nach Abwägung aller Umstände ärztlich nicht angezeigt ist.34 1. Strafrechtlich relevant wird eine gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten abgebrochene35 bzw. trotz ihrer Möglichkeit nicht durchgeführte Heilbehandlung36 unter dem Blickwinkel der Unterlassensstrafbarkeit. Soweit der behandelnde Arzt als Garant für Leib und Leben seines Patienten anzusehen ist,37 steht bei lebensverkürzenden bzw. Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht behebenden Maßnahmen eine Strafbarkeit aus §§ 212/222, 13 bzw. §§ 223, 229, 13 StGB im Raum.38 Zwar ist nun gerade im Zusammenhang mit Fragen konsentierter Sterbehilfe die „Vereinbarungsabhängigkeit“ der ärztlichen Garantenstellung mittlerweile allgemein anerkannt:39 Der Patient kann – so die dort angesprochene, umgekehrte Konstellation eines Behandlungswunsches (aus ärztliche Sicht) „im Untermaß“ – einen erfolgversprechenden Heileingriff jederzeit und aus beliebigen Gründen ablehnen,40 und zwar auch dann, wenn hierdurch sein natürlicher Tod beschleunigt wird.41 In all diesen Fällen – und hierauf haben bereits 1987 Koch/v. Lutterotti aufmerksam gemacht42 – geht es aber um die Abwehr eines ärztlichen 34 Sollte der Patient sich dann allerdings von seinem Arzt nicht überzeugen lassen, so stellt sich auch beim aktuellen kommunikationsfähigen Patienten die im Text behandelte Frage. 35 Also etwa die Einstellung künstlicher Beatmung bei einem Bewusstlosen oder das Absehen von künstlicher Ernährung bei einem Wachkoma-Patienten. 36 Etwa eine Operation oder Einsatz eines Medikaments. 37 Hierzu allgemein: Schöch in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 3 2007, S. 109, 110 ff.; Ulsenheimer Arztstrafrecht in der Praxis, 42008, Rn. 34 ff. 38 Eine mögliche Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB), bei der sich insoweit die Problematik einer Krankheitslage als „Unglücksfall“ stellt (vgl. Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, 272006, § 323c Rn. 6) soll hier nicht weiter untersucht werden. 39 Für alle: Schneider (Fn. 6), Vor § 211 Rn. 75. 40 BGHStE 11, 111, 114; s.a. BGHStE 45, 219, 225. 41 Die Selbstbestimmung über den eigenen Körper umfasst also mittelbar auch die Freiheit der Selbstbestimmung zu einem natürlich verursachten Tod: Kämpfer Die Selbstbestimmung Sterbewilliger, 2005, S. 205 (unter Bezug auf Dürig in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 1958 [Erstbearbeitung], Art. 2 Abs. 2 Rn. 12 Fn. 3); entsprechend Dreier in: Joas (Hrsg.), Die zehn Gebote, 2006, S. 93; Hufen (Fn. 28), 852 f. 42 DMW 112 (1987) 1597, 1598, in einer Stellungnahme zur gegenteiligen Auffassung von Rieger (ebd., 565), der den Arzt an den Patientenwillen gebunden sah und deshalb im Falle eines 17jährigen Tumorpatienten (Stammhirnbereich) mit Eintrübung des Bewusstseins, verbunden mit Somnolenz und drohender zentraler Atemlähmung, trotz fachlich begründeter Aussichtslosigkeit der Situation den behandelnden Arzt für verpflichtet ansah, einem Wunsch der Eltern auf Einsatz kurzzeitig lebensverlängernder Maßnahmen nachzukommen (die Minderjährigenproblematik, die in casu Fragen der Grenzen elterlicher Stellvertretung aufwarf [hierzu ebenfalls Koch/von Lutterotti, ebd.], sei hier ausgeklammert.
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(Heil-)Eingriffs und damit um den Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Patienten.43 Aus der dortigen Rechtslage kann aber nicht gefolgert werden,44 dass umgekehrt ein Arzt jedem Behandlungsverlangen seines Patienten, dessen Erfüllung ihm technisch möglich ist, nachzukommen hat:45 Der Patient hat zwar das Recht, dem Arzt einen von diesem noch so gut fachlich begründeten Zugriff auf seinen Körper auch willkürlich zu verwehren. Dieses Selbstbestimmungsrecht reicht aber nicht soweit, den Arzt zur Vornahme von Handlungen zu zwingen, die dieser seinerseits als medizinisch unvertretbar ansieht; sein durch Art. 2 II GG (Körperintegrität) geschütztes Abwehrrecht ermöglicht es dem Patienten also nur, sich eingreifender ärztlicher Fachkompetenz zu entziehen, sie bietet aber umgekehrt keine Hand43 Insoweit hat der Arzt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten, auch wenn ihm dessen konkrete Ausübung aus fachlicher Sicht unvernünftig erscheint (vgl. nur BGHStE 11, 111, 114). 44 So (für den Fall irreversiblen Bewusstseinsverlustes) BGH (Z) NJW 2003, 1588, 1592: „Auch dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen lässt sich eine Antwort [ergänze: auf die Frage, welche lebensverlängernden oder -erhaltenden Maßnahmen der Betroffene beanspruchen kann] nicht entnehmen; denn dieses Recht lässt sich nur als Abwehrrecht gegen, nicht aber als Anspruch auf eine bestimmte Behandlung begreifen (Taupitz, [Gutachten zum 63. DJT Leipzig 2000], S. A 23; Verrel, JZ 1996, 224 [226]; einschränkend Lilie, in: Festschr.f. Steffen, 1995, S. 273 [276]).“; ebenso D. Albrecht Schreiber-FS, 2003, S. 551, 560 f.; Glöckner Ärztliche Handlungen bei extrem unreifen Frühgeborenen, 2007, S. 309; Laufs NJW 1998, 3399, 3400; Jähnke in LK, 112001, vor § 211 Rn. 16; Krey/Heinrich BT 1, 132005, § 1 Rn. 9; Otto Gutachten D zum 56. DJT Berlin 1986, S. D 36f.; ders. BT, 72005, § 6 Rn. 33 (jeweils unter fragwürdigem Bezug auf die Menschenwürde des Betroffenen [so auch angedeutet von Schöch {Fn. 4}, S. 706]: Die Respektierung des von seinen eigenen Werthaltungen bestimmten Patientenwunsches würde aber gerade umgekehrt die Wahrung seiner Selbstbestimmung in einem existentiellen Bereich bedeuten, vgl. Rieger Die mutmaßliche Einwilligung in den Behandlungsabbruch, 1998, S. 145; Verrel JZ 1996, 224, 228 Fn. 54); Roxin in: Roxin/Schroth (Fn. 37), S. 313, 333 f.; Sahm ZfL 2005, 45, 49; Verrel (Fn. 29), S. C 99; ebenso die strafrechtliche Abteilung des 66. DJT 2006 Stuttgart (II, 1, a – abgerufen unter http://www.djt.de/index.php); letztlich offengelassen von Merkel ZStW 107 (1995), 545, 574 f.; einschr. Neumann in: NK, 22005, vor § 211 Rn. 120; abl. Schneider (Fn. 6), vor § 211 Rn. 119; Thias Möglichkeiten und Grenzen des selbstbestimmten Sterbens durch Einschränkung und Abbruch medizinischer Behandlung, 2004, S. 186; Verrel JZ 1996, 224, 228; aus dem älteren Schrifttum tendenziell die Zulässigkeit eines Behandlungsabbruches trotz entgegenstehenden Patientenwillens bejahend: Dahm Ärztliche Entscheidung unter Reanimationsbedingungen aus rechtlicher Sicht und „passive“ Euthanasie, 1978, S. 118 f.; Hanack in: Hiersche (Hrsg.), Euthanasie, 1975, S. 121, 141; abl. von Dellinghausen Sterbehilfe und Grenzen der Lebenserhaltungspflicht des Arztes, 1981, S. 365 ff.; Geilen, Euthanasie und Selbstbestimmung, 1975, S. 14; Lenckner in: Forster (Hrsg.), Praxis der Rechtsmedizin für Mediziner und Juristen, 1986, S. 605 (anders aber bei irreversibler Bewusstlosigkeit). 45 Für die besondere Konstellation des Schwangerschaftsabbruches sowie der Mitwirkung an fortpflanzungsmedizinischen Maßnahmen wurde dieser allgemeine Grundsatz explizit wiederholt (s. § 12 Abs. 1 Schwangerschaftskonfliktgesetz bzw. z.B. D IV Nr. 15 Abs. 2 Berufsordnung der Sächsischen Landesärztekammer, 24.6.1998 [Fassung 23.11.2007 – abgerufen unter http://www.slaek.de/10ordnung/10berufsordnung]).
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habe, den Arzt zu einem bloßen Erfüllungsgehilfen seiner Wünsche zu degradieren.46 2. Die Frage nach der Verbindlichkeit eines sog. übermäßigen Behandlungswunsches wäre nun einfach zu beantworten, wenn ein körperverletzender ärztlicher Heileingriff nur im Falle seiner medizinischen Indikation zulässig wäre.47 Dann würde bei deren Fehlen infolge der mit Strafandrohung belegten (§ 223 StGB)48 Unzulässigkeit des in Frage stehenden Eingriffs die strafbewehrte Behandlungsverpflichtung entfallen, da die zur Erfolgsabwendung erforderlichen Maßnahme rechtlich verboten wäre.49 Diese Frage soll hier aber nicht weiter verfolgt werden, da eine derartige, ohnehin abzulehnende50 Einwilligungsschranke51 ja darauf zu stützen wäre, dass andernfalls das Vertrauen der Allgemeinheit in eine gewissenhaft agierende Ärzteschaft als Basis eines funktionierenden Systems der Heilbehand46 Der behandelnde Arzt wird also nicht – gleichsam in Umkehr althergebrachter paternalistischer Verhältnisse der Arzt-Patienten-Beziehung – zu einem Befehlsempfänger seines „Kunden“ degradiert (Verf. in: Günther/Ehninger [Hrsg.], Anthropologische Grundlagen und aktuelle Herausforderungen in der Onkologie, 2003, S. 108, 120); sachentsprechend das bekannte betreuungsrechtliche Judikat BGH (Z) NJW 2003, 1588, 1593, sowie eine im Eilverfahren vorläufigen Rechtsschutzes getroffene Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe (NJW 1992, 756), das einem an einem Bronchialkarzinom Erkrankten im Endstadium bei infauster Prognose keinen Anspruch auf Anschließung an eine Beatmungsmaschine gegen den Willen der behandelnden Ärzte zusprach (da in casu dies auch nicht zur Leidensminderung unerlässlich war). Dem kann nicht durchschlagend entgegenhalten werden, hiermit würde an arztdominierte Entscheidungsvorstellungen der 1970er und 80er Jahre angeknüpft (so aber Saliger MedR 2004, 237, 242), da es eben nicht um die strikt zu schützende Selbstbestimmung des Patienten über die eigene Leiblichkeit, sondern um die durchaus regelgesteuerte Berufausübungsfreiheit des Arztes geht, der hierbei seinerseits vor Bevormundung durch den Patienten zu schützen ist. Die als arztethisches Leitbild zunehmend in den Vordergrund gerückte „partizipativen Entscheidungsfindung“ (Synofzik/Marckmann DÄ 104 [2007], C 2876, 2877; vgl. auch Hick Klinische Ethik, 2007, S. 8 ff. [i.Z.m. der Aufklärung des Patienten], 99 ff., 113; Krones/Richter in: Schulz/Steigleder/Fangerau/Paul [Hrsg.], Geschichte, Theorie und Ethik in der Medizin, 2006, S. 94, 99 ff., 113.) i.S.e therapeutischen Partnerschaft zwischen Arzt und Patient führt eben nicht nur zu einer Stärkung der Patientenstellung; sie gebietet auch, den jeweiligen Entscheidungsbereich des anderen (hier also: den des Arztes) zu respektieren. 47 So etwa OLG(Z) Karlsruhe, MedR 2003, 104 ff. (riskante Laserbehandlung zur Behebung einer erheblichen Sehschwäche). 48 So die ständige Rechtsprechung seit RGStE 25, 375, 378; BGHStE 11, 111, 112; für den Bereich des Zivilrechts: BGHZE 29, 46, 49; einschr. Eser in: Schönke/Schröder (Fn. 38), § 223 Rn. 31. 49 Die Konstellation entspräche also derjenigen mangelnder Unterlassungsstrafbarkeit (§§ 212, 13 StGB) desjenigen Arztes, dem sein Patient die körperverletzende Heilbehandlung wirksam untersagt hat. 50 Vgl. Verf. Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 192 ff.; sowie zuletzt Duttge MedR 2005, 706 ff. (unter dem Blickwinkel eines kontraindizierten Eingriffs); Schroth in Roxin/Schroth (Fn. 37), S. 21, 41. 51 Nachw. entsprechender Rechtsprechung und Literaturstimmen bei Duttge ebd.
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lung gefährdet würde.52 Dieses Vertrauen in eine ärztliche Praxis, die sich sowohl an fachlich-medizinischen Vorgaben als auch an arztethischen Parametern ausrichtet, wäre indessen allenfalls dann beeinträchtigt, wenn ärztlicherseits „Heil“behandlungen durchgeführt würden, die kontraindiziert wären.53 Ein derartiger Vertrauensverlust stünde hingegen nicht zu befürchten, wenn es lediglich um die Durchführung von nicht indizierten Heilmaßnahmen geht.54 3. Eine von Anfang an fehlende bzw. fortgefallene ärztliche Indikation zur (Weiter-)Behandlung des Patienten kann aber auf andere Weise Bedeutung erlangen, sofern nämlich durch ihr Fehlen die ärztliche Garantenstellung in Fortfall55 gerät. Dieser Ansatz ist aus der Diskussion um die einseitige passive Sterbehilfe bekannt, bei der bekanntlich vertreten wird,56 dass infolge „normativer Unzumutbarkeit“ ein einseitiger Behandlungsabbruch dann zulässig ist, wenn der auf Erhaltung und Ermöglichung menschlicher Selbstverwirklichung beschränkte ärztliche Auftrag infolge unwiderruflichen Verlusts jeglicher Reaktions- und Kommunikationsfähigkeit des Patienten, also im Falle irreversibler Bewusstlosigkeit, seine Grenze findet. Nun findet dieser eben genannte strafrechtsdogmatische Ansatz gerade im Bereich eines Behandlungsabbruches (genauer: einer Behandlungsumstellung von einem kurativen zu einem rein palliativen Ziel) keineswegs ungeteilte Zustimmung.57 Seine Ablehnung gründet allerdings auf dem besonderen, kontrovers beurteilten Problem der Reichweite ärztlicher Behandlungspflicht gegenüber irreversibel bewusstlosen Patienten, ohne 52 Vgl. Horn JuS 1979, 30 f.: generalpräventiver Schutz der therapeutischen ärztlichen Wissenschaft vor Missbrauch durch nicht indizierten Gebrauch. 53 Auch für diesen Fall lehnt Duttge zu Recht de lege lata eine Strafbarkeit des Arztes ab und stellt stattdessen die Schaffung eines Straftatbestands des „Patientenverrats“ zur Diskussion, um Fälle offensichtlicher Kontraindikation strafrechtlich erfassen zu können (Fn. 50), 709 f.; abl. Schroth (Fn. 49). 54 Insoweit ist nur an das weite Feld kosmetischer „Schönheitsoperationen“ zu denken, für die regelmäßig kein medizinisch-fachlicher Anlass besteht (vgl. Eser [Fn. 48], § 223 Rn. 50 b). Derart fließende, in Randbereichen kaum noch plausibel abgrenzbare Konturen des ärztlichen Heilauftrags infolge eines sich wandelnden ärztlichen Berufsbildes finden sich gerade bei den „neu erschlossenen“ ärztlichen Tätigkeitsfeldern, etwa in Bezug auf das generative Verhalten des Menschen. 55 Die ärztliche Garantenstellung käme allerdings auch bei fehlender Indikation für einen Heileingriff von vornherein keineswegs völlig in Fortfall, so dass in Anpassung an ein neues Therapieziel der Arzt beispielsweise zur Durchführung palliativmedizinischer Maßnahmen – auch unter strafrechtlichen Vorzeichen (§§ 223, 13, 323c StGB) – verpflichtet bleibt. 56 Z. B. Eser in Schönke/Schröder (Fn. 48), vor § 211 Rn. 29; ders. in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, 1976, S. 392, 403; ders. in: Auer/Menzel/Eser, Zwischen Heilauftrag und Sterbehilfe, 1977, S. 75, 129 ff.; Lenckner (Fn. 44). 57 Krit. etwa Merkel Früheuthanasie, 2001, S. 303 f.; Duttge (Fn. 29), 583.
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dass dieser Streit den Ansatz als solchen in Frage zu stellen vermag. Da nämlich der Arzt nur infolge seiner Übernahme58 einer Heilbehandlung in eine gegenüber der Jedermannspflicht (§ 323c StGB) gesteigerte Pflichtenstellung einrückt, wird diese Pflichtenposition, die ihn ja gerade in seiner Eigenschaft als (behandelnder) Arzt trifft, durch das ärztlicherseits Gebotene nicht nur begründet, sondern auch begrenzt. Dies hat auch der 12. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes in seinem aus anderen Gründen59 umstrittenen Judikat aus dem Jahre 2003 hervorgehoben, wenn er erklärte, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten lasse sich nur als Abwehrrecht gegen, nicht aber als Anspruch auf eine bestimmte Behandlung begreifen, so dass „(der) Grundsatz gesichert erscheint, dass der Arzt – gestützt auf sein Grundrecht der Berufsfreiheit und seine allgemeine Handlungsfreiheit – jedenfalls solche Maßnahmen verweigern kann, für die keine medizinische Indikation besteht.“60 Eine Limitierung spezifisch ärztlicher Rechtspflichten durch eine von dieser Profession selbst geschaffene und von der Rechtsordnung kontrollierend rezipierte Kriterienbildung stellt insoweit auch keinen Fremdkörper dar, ist sie doch vom ärztlichen Haftungsrecht („Kunstfehler“) her bekannt: Auch dort werden die bei der ärztlichen Heilbehandlung einzuhaltende Sorgfaltspflichten durch den ärztlichen Standard (also durch das zum Behandlungszeitraum in der ärztlichen Praxis infolge medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis und/oder ärztlicher Erfahrung akzeptierte Vorgehen) bestimmt;61 diese Vorgaben gilt es einzuhalten mit der Konsequenz, dass einerseits ein Unterschreiten dieses Standards grundsätzlich (Straf-)Haftung auslöst, andererseits ein von eben diesem Standard nicht gefordertes Handeln im Regelfall62 vom (Straf-)Recht akzeptiert wird, da es „lege artis“ erfolgt.63 58 Bzw. infolge seiner in der Übernahme ärztlichen Bereitschaftsdienstes liegenden „Garantiezusage“, für erforderliche Behandlungen zur Verfügung zu stehen. 59 Vgl. Verf. (Fn. 5), S. 1197 ff. 60 NJW 2003, 1588, 1593, im Anschluss an Taupitz (Fn. 44), S. A 23 f. m.w. Nachw.; zust. aus ärztlicher Sicht: Sahm (Fn. 44), 49 (Orientierung am Angemessenen als Bindeglied zwischen zwei zentralen Prinzipien ärztlichen Handelns [vgl. Beauchamp/Childress Principles of biomedical ethics, 52001, die als diskussionsleitende Prinzipien mittlerer Reichweite zusätzlich die Prinzipien des Nicht-Schadens sowie der Gerechtigkeit anführen), nämlich [Respektierung der] Autonomie und Fürsorge [für den Patienten]). 61 Cramer/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder (Fn. 38), § 15 Rn. 219; sowie Eser (Fn. 48), § 223 Rn. 35. 62 Bei Einhalten des Standards scheidet ein Sorgfaltsverstoß allerdings nur grundsätzlich aus: Infolge besonderer Umstände des Einzelfalls kann ein Abweichen von dieser ja nur typisierenden Vorgabe geboten sein; umgekehrt führt nicht zwangsläufig ein Abweichen vom Standard automatisch zur Annahme von Sorgfaltswidrigkeit (Cramer/Sternberg-Lieben [ebd.]). 63 Medizinische Indikation und einzuhaltender Standard fallen weitgehend zusammen (allerdings sind sie wohl nicht völlig deckungsgleich, da der zugrunde zu legende Standard sich anerkanntermaßen danach unterscheidet, welche Kenntnisse, Fertigkeiten und Ressourcen
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a) Allerdings stößt auch dieser Ansatz, durch den die Verantwortung für eine Nicht-(Weiter-)Behandlung unter Einschluss eines einseitigen Behandlungsabbruchs primär in die Verantwortung des behandelnden Arztes gelegt wird, während das (Straf-)recht sich auf eine sicherlich noch näher zu konturierende Rahmenkontrolle beschränken könnte, auf Schranken. Diese ergeben sich aus dem Wesen der Indikation, einer in der ärztlichen Profession in ihren näheren Konturen keineswegs unstrittigen Vorgabe für zulässiges ärztliches Handeln. Unter Indikation wird – allgemein gesprochen – ein Grund verstanden, der es erlaubt, eine bestimmte ärztliche Maßnahme durchzuführen, die nach Abschätzung des möglichen Nutzens und Risikos – unter Beachtung etwaiger Kontraindikationen – für den Patienten sinnvoll ist (begründeter Entschluss zu einer bestimmten ärztlichen Handlung),64 genauer:65 Nach Feststellung einer Erkrankung (Diagnose), die behandelbar ist (Inblicknahme des medizinischen Methodenspektrums), wird im Hinblick auf ein bestimmtes Behandlungsziel die Prognose gestellt, dass mögliche Behandlungsmaßnahmen zu einem objektivierbaren „Behandlungserfolg“ kurativer oder palliativer Art führen werden, ohne dass der Maßnahme eine Kontraindikation66 entgegensteht. Jede fachgerecht bestimmte Indikation geht also zunächst einmal von der Diagnose des Krankheitszustandes des Patienten aus. Dieser „diagnostische Imperativ“67 – nach dem unter Vernachlässigung von am Behandlungsziel zu orientierender Prognose sowie der Abwägung von Kontraindikationen allein auf die Feststellung des körperlichen Ist-Zustandes als entscheidender Basis für indiziertes therapeutisches Vorgehen abzustellen wäre – erfährt zunehmend (nicht nur)68 innermedizinisch Kritik,69 zumal diese „statische
(personeller wie auch apparativer Art) im jeweiligen Verkehrskreis des Arztes (z.B. Universitäts- bzw. Kreiskrankenhaus) vorauszusetzen sind (vgl. BGHZE 102, 17, 24 f.; Laufs in: Laufs/Uhlenbruck [Hrsg.]), Handbuch des Arztrechts, 32002, § 99 Rn. 11). Ob dieses auch für die medizinische Indikation zu gelten hat, bedarf noch näherer Diskussion. 64 Anschütz in: Eser/v. Lutterotti/Sporken, Lexikon Medizin Ethik Recht, 1989, Sp. 537; ders., Indikation zum ärztlichen Handeln, 1982, S. 6; Oehmichen (Fn. 19), S. 62. 65 Strätling/Schmucker Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 39 (2004), 1, 9. 66 Wegen der als Folge der erwogenen Maßnahme zu erwartenden körperlichen Belastungen und weiteren Nebenwirkungen in Bezug auf die Lebensqualität des Patienten. 67 So krit. Anschütz (Fn. 64), Sp. 542 bzw. S. 13; Oehmichen (Fn. 19), S. 63; Strätling/Schmucker (Fn. 65), 8. 68 So hat u.a. bereits Künschner Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, 1992, S. 186 f., darauf aufmerksam gemacht, dass in die medizinische Indikation normative Elemente außerhalb der naturwissenschaftlichen Seite der Medizin einfließen. 69 Anschütz (Fn. 64), S. 3 „Indikationsstellung als…der Ort, wo in den fast zwangshaften naturwissenschaftlich logischen Gedankengang von Anamnese, Befund, Diagnose und Therapie ethische Gedankengänge eingebracht werden können.“; Oehmichen (Fn. 19), S. 63; Strätling/Schmucker (Fn. 65), 8.
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Misperzeption des Indikationsbegriffs“70 die ärztliche Praxis dazu verleiten könnte, am einmal erhobenen Ausgangsbefund71 festzuhalten und die Progredienz einer Erkrankung72 zu vernachlässigen, mit der keineswegs nur theoretischen Konsequenz einer „‚interventionellen Übertherapie’ bei gleichzeitiger palliativer Unterversorgung der betroffenen Patienten“.73 Indikation ist also – soviel kann als unstreitig zugrunde gelegt werden – der begründete Entschluss zu einer bestimmten ärztlichen Handlung.74 Jede fachgerecht gewählte Indikation knüpft zunächst einmal an die Diagnose des Zustandes des Patienten an. Insoweit stellt sich (straf)rechtlich allenfalls die Frage, ob diese Feststellungen entsprechend den naturwissenschaftlichtechnischen Regeln ärztlicher Kunst erfolgt sind. Medizinisches Denken – und dies kann für die behandelte Rechtsfrage nicht ohne Bedeutung bleiben – hat aber allmählich diesen „diagnostischen Imperativ“, dem gemäß die Diagnose als alleinige Basis für indiziertes therapeutisches Vorgehen anzusehen wäre, überwunden.75 Neben die Diagnose treten als Vorgabe für die ärztliche Indikationsentscheidung eine Vielzahl weiterer Faktoren, nämlich die Prognose76 über Nutzen77 und Schaden 70
So Strätling/Schmucker (Fn. 65), 9. Der dann (zunächst einmal) bestimmte Heilmaßnahmen erforderte oder zumindest nahelegte. 72 Diese wird vielfach auch zu einer Neubewertung möglicher Kontraindikationen führen sowie ggf. zu einer Neufestlegung des Behandlungsziels (z.B. palliative statt kurative Behandlung). 73 Strätling/Schmucker (Fn. 65), 13. 74 Vgl. Oehmichen (Fn. 19) S. 62: „Indikation … [als] der Grund oder Umstand, welcher es erlaubt, eine bestimmte ärztliche Maßnahme durchzuführen, die nach Abschätzung des möglichen Nutzen und Risikos – unter Beachtung etwaiger Kontraindikationen – für den Patienten sinnvoll ist.“. 75 Oehmichen (Fn. 19), S. 63. 76 Auch die Prognose als eine „auf ärztlicher Erfahrung und wissenschaftlichen Kriterien basierende Vorhersage über den wahrscheinlichen Verlauf und Ausgang einer Krankheit“ (Oehmichen [ebd.]) ist im medizinischen Alltag keineswegs stets eindeutig: Sie geht von Durchschnittseinschätzungen aus (zur Bedeutung prädiktiver Scoring-Systeme mit ihren quantitativen, aus ärztlicher Erfahrung gewonnen Aussagen über den Schweregrad einer Erkrankung und ihre Verlaufsprognose, die aber als solche keine hinreichend valide Aussage für den individuellen Patienten ermöglichen: Strätling/Schmücker [Fn. 65], 2 f.), die dann durchaus auch intuitiv und subjektiv erfahrungsgeleitet anzupassen sind (vgl. Oehmichen [Fn. 19], S. 66 ff., der auch darauf hinweist, dass prognostische Aussagen mit zunehmender Berufserfahrung präziser, hingegen mit zunehmender emotionaler Nähe des Arztes zum Patienten unpräziser werden): Also liegt auch insoweit eine bei menschlicher Urteilsfindung unvermeidbare, vom Recht zu respektierende subjektive Komponente vor. 77 Die physiologische Wirksamkeit der in Aussicht genommenen ärztlichen Intervention ist eben eine nur notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Nützlichkeit der Maßnahme (vgl. auch BGHStE 32, 367, 379 f.: „Andererseits darf der Arzt berücksichtigen, daß es keine Rechtsverpflichtung zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens um jeden Preis gibt. 71
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der in Aussicht gefassten Heilbehandlung sowie die therapeutischen Möglichkeiten. Mithin beeinflussen die individuellen Gegebenheiten des Patienten wie das Stadium seiner Erkrankung, bisherige erfolgreiche oder erfolglose Therapieversuche, aber auch Alter und Todesnähe die Indikationsstellung. Eine von ihrer einseitigen Abhängigkeit vom Diagnosebezug befreite Indikationsstellung wird dann aber auch die Vorstellungen des Patienten in die Behandlungsziele einzubeziehen haben (Individualisierung der Indikationsstellung im Kommunikationsprozess),78 so dass aus ärztlicher Sicht die objektiven Merkmale einer Indikation als Grund für eine ärztliche Maßnahme und die Patientensicht ineinander fließen. Dem (Straf-) Recht kommt insoweit (nur) die Funktion zu, die hinreichende Berücksichtigung der individuellen Patientenvorstellung bei dieser ärztlichen Entscheidung sicherzustellen. Dies gilt auch für die Frage einer möglichen Kontraindikation, sofern diese aus der für den Patienten zu gewinnenden Lebensqualität hergeleitet würde: Insoweit hat nicht der Maßstab des Arztes maßgebend zu sein,79 sondern die Vorstellung des Patienten.80 Maßnahmen zur Lebensverlängerung sind nicht schon deswegen unerläßlich, weil sie technisch möglich sind. Angesichts des bisherige Grenzen überschreitenden Fortschritts medizinischer Technologie bestimmt nicht die Effizienz der Apparatur, sondern die an der Achtung des Lebens und der Menschenwürde ausgerichtete Einzelfallentscheidung die Grenze ärztlicher Behandlungspflicht.“). Es ist vielmehr zusätzlich ärztlicherseits zu bedenken, ob die erstrebten Behandlungsziele für den Patienten in der jeweiligen Lebens- und Krankheitssituation erstrebenswert sind (Synofzik/Marckmann [Fn. 46] C 2877 ff.); dies. DÄ 102 [2005], A 2079 ff.; jeweils zur PEG-Ernährung). Die Bewertung der Nützlichkeit hat sich – von der Konstellation einer nach fachlich-medizinischer Einschätzung nutzlosen, da das Behandlungsziel nicht erreichen könnenden Maßnahme abgesehen, die aus fachlich-naturwissenschaftlicher Sicht zu bestimmen ist – aber an den Präferenzen des betroffenen Patienten zu orientieren (so auch aus Sicht nordamerikanischer Medizinethiker Jonsen/Siegler/Winslade Klinische Ethik, 2002, S. 157), da nur diesem die Entscheidung darüber zusteht, was an Lebensqualität er für persönlich sinnvoll bzw. zumutbar hält (so auch Synofzik/Marckmann [ebd.] mit Vorstellung eines Entscheidungsalgorithmus, der sich am Verhältnis von Nutzen und Schaden orientiert: DÄ 104 [2007], C 2876 ff.). Damit ist die Frage nach dem Nutzen einer Sondenernährung im Wachkoma/Persistent Vegative State nur unter Rückgriff auf den erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen zu entscheiden, wobei hier nicht der Raum ist, darüber zu befinden, ob bei Fehlen einer ausdrücklichen Erklärung sowie Mangel an hinreichend validen Anhaltspunkten für den mutmaßlichen Patientenwillen dieser Wille dann doch – wie schon 1994 vom 1. Strafsenat (BGHStE 40, 257, 263) ausgeführt – aus allgemeinen (ergänze: patientenzentrierten!) Wertvorstellungen notdürftig, aber auch notgedrungen erschlossen werden darf (so etwa Kämpfer [Fn. 41], S. 343 ff., mit dem bedenkenswerten Hinweis, dass auch die [ergänze: vorrangig zu beantwortende] Frage nach der Legitimität einer die Körperintegrität tangierenden medizinischen Weiterbehandlung nur unter Rückgriff auf allgemeine Wertvorstellungen getroffen werden kann [ebd., S. 344]; vgl auch Verrel [Fn. 29], S. C 24). 78 Oehmichen (Fn. 19), S. 64 f., 73 ff. 79 Es handelt sich bei der ärztlichen Entscheidung eben um eine zwar primär, aber nicht ausschließlich in die Entscheidungprärogative des Arztes fallende Frage des Werts oder Unwerts eines medizinischen Verfahrens in einer bestimmten Situation (so aber Opderbecke/Weißauer
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Zukünftig könnte die Kontrollfunktion des Rechts i.Z.m. der ärztlichen Indikationenstellung allerdings zu verstärken sein. Ärztlicherseits wird nämlich in durchaus sympathischer Ehrlichkeit hervorgehoben, dass die Behandlungsindikation „letztlich determiniert [ist] vom individuellen Krankheitszustand und der Prognose, von der kollektiven Erfahrung, von medizinischer Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie sowie von personellen, organisatorischen, institutionellen und ökonomischen Bedingungen der gesamten Gesellschaft“.81 Hieraus wird deutlich, dass ärztlicherseits zunehmend Überlegungen einbezogen werden,82 die über das Schicksal des betroffenen Patienten hinausgehen. Sollten in diesen also keineswegs mehr rein objektiv-naturwissenschaftlich verstandenen Indikationsbegriff83 nun auch Erwägungen einbezogen werden, die nicht mehr ausschließlich am Patientenwohl orientiert sind,84 scheidet ein bloßes Anknüpfen des (Straf-)rechts im Sinne eines unreflektierten Übernehmens85 ärztliche IndiMedR 1998, 395, 397; Sahm [Fn. 45], 49; Strätling/Schmucker [Fn. 65], 5, die allerdings – zurecht – betonen, dass es hierbei in Abkehr eines ausschließlichen Abstellens auf ein physiologisches Kalkül um Antwort auf die Frage ginge, ob eine technisch mögliche Maßnahme dem einzelnen Kranken in seiner konkreten Situation noch gerecht würde). Eine Antwort auf die Frage, welche Umstände in diesen Entscheidungsprozess einbezogen werden dürfen (objektiv oder subjektiv aus Sicht des Patienten ermitteltes „lebensunwertes Leben“?), hat aber innerhalb der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen zu liegen. Zur Problematik s.a. Duttge NStZ 2006, 479, 481 f. 80 Die Patientenvorstellungen würden dann ggf. über das zweifelhafte, aber wohl unvermeidliche „Vehikel“ seines mutmaßlichen Willens zum Tragen kommen; notfalls wären sie aus allgemeinen Wertvorstellungen (vgl. BGHStE 40, 257, 263) zu „rekonstruieren“. 81 So Oehmichen (Fn. 19), S. 64 bzw. 65. 82 Diese erweiterte Basis für eine Indikationsstellung kann sich durchaus auf eine arztethische Basis stützen, zählt doch zu den grundlegenden arztethischen Prinzipien auch die Wahrung von Gerechtigkeit, hier zu verstehen als Sicherung des Teilhaberechts zukünftiger Patienten an medizinischen Leistungen (vgl. auch die Mahnung Kirchhofs ZME 51 [2005], 229, 237, auch im Arzt-Patienten-Verhältnis die „Kultur des Maßes“ neu zu entdecken. 83 Vgl. etwa Oehmichen (Fn. 19), S. 65: „Die Indikation wird entschieden vom Arzt, vom Kranken, den Angehörigen und der Gesellschaft mit ihren Gesundheitsinstitutionen.“ (im Anschluss an Gahl, DMW 130 [2005], 1155 ff.). 84 Diesem Umstand hatte ich in meinen Ausführungen in der Eser-FS (Fn. 5), S. 1189 in Fn. 17, noch nicht hinlänglich Rechnung getragen. 85 Sicherlich kommt privatautonom gesetzten Standards in der jeweiligen „Zunft“ eine hoch wirksame verhaltenssteuernde Kraft zu, wie dies von den von Technikanwendern aufgestellten „Normierungen“ im sog. Recht der Technik bekannt ist (vgl. zuletzt etwa Vec, Recht und Normierung in der industriellen Revolution, 2006, S. 223 ff., zu dem hiermit einherhergehenden Konflikt zwischen Juristen und Ingenieuren: S. 352 ff.; weitere Nachw. bei SternbergLieben, Weber-FS, 2004, S. 69, 82 f. in Fn. 95 ff.). Diese eigenständig entwickelten Regulierungen können aber nur unter zwei Voraussetzungen Rechtswirkungen entfalten (s. SternbergLieben, ebd.): Zum einen – dies kommt vorliegend in Betracht – bei einer vom Rechtsanwender kontrollierten Rezeption (so bildet der ärztliche Standard den wesentliche Orientierungspunkt bei der einzelfallbezogenen Ermittlung ärztlicher Sorgfaltspflichten), zum anderen dann,
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kationsstellung86 gerade im Falle der Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen aus.87 b) Die Indikation ist vielmehr vor die Prüf-Folie rechtlicher Anforderungen zu stellen,88 Vorgaben, die hier nicht näher konturiert werden sollen, da es mir nur um den grundsätzlichen Ansatz geht. Insoweit hat Eser89 bereits 1976 einen Weg gewiesen, der zwischen der Scylla ärztlicher Immobilität (infolge einer übermäßigen Einengung seines Entscheidungsspielraums durch feinsteuernde rechtliche Vorgaben) und der Charybdis rechtsbindungslosen ärztlichen Beliebens, die mit den grundgesetzlichen Schutzgarantien für Leib und Leben (Art. 2 II GG) unvereinbar wäre, hindurchzuführen vermag:. Dem Arzt ist bei seiner Indikationsstellung, auch bei seiner Entscheidung über eine lebensverkürzende Therapieumstellung, kein Handlungsermessen der Beliebigkeit einzuräumen, das ihm den Freiraum zusprä-
wenn durch vom Recht garantierte prozedurale Absicherungen (namentlich hinreichende Beteiligungsrechte von Drittbetroffenen, hier also: der Patienten) Gewähr dafür besteht, dass Belange der Allgemeinheit in hinreichendem Maße berücksichtigt werden. 86 Vgl. auch die eindringliche Warnung von Duttge (Fn. 79), 481 ff. m.w.N., vor einer kritiklosen Übernahme des nordamerikanischen „Futility“-Konzeptes mit seinem Abstellen auf das Gesamtwohl des Patienten. Der Ansatz, eine lebenserhaltende Behandlungsmethode darauf zu prüfen, ob sie dem einzelnen Kranken in seiner Situation auch gerecht wird (Sahm [Fn. 45], 49), erscheint mir allerdings zur Vermeidung einer Übertherapie vom Ansatz her alles andere als abwegig.- Allerdings setzt dieses Konzept gerade für die viel diskutierten Fälle des Wachkomas eine hinreichende, rechtlich verantwortete Begründung voraus, welche Voraussetzungen (z.B. irreversibler Verlust auch nur rudimentärer Kommunikationsfähigkeit: Eser [Fn. 56], vor § 211 Rn. 29 m.w.Nachw.; krit. Merkel [Fn. 57], S. 294 ff.) insoweit maßgebend sein sollen – die Feststellung ihres Gegebenseins fällt dann wieder allein in die ärztliche Kompetenz – und damit eine Verständigung über das Essentielle des Menschen, eine Festlegung, zu der beispielsweise die Autoren des Alternativ-Entwurfs Sterbegleitung sich nicht in der Lage sahen (Schöch/Verrel GA 2005, 553, 568 f.). 87 Vgl auch BGHStE 40, 257, 264 f.: „Zwar hat der Arzt in Grenzfällen einen gewissen Beurteilungs- und Ermessensspielraum bei der Entscheidung über Beendigung oder Fortsetzung einer Behandlung (…). Sind jedoch wesentliche Lebensfunktionen wie Atmung, Herzaktion und Kreislauf noch erhalten, so kommt ein zulässiger Behandlungsabbruch nur in Betracht, wenn er dem mutmaßlichen Willen des entscheidungsunfähigen Patienten entspricht.“. 88 Es handelt sich hierbei keineswegs um eine völlig neuartige Konstellation, wenn man nur an die Diskussion darüber denkt, inwieweit bei der Entscheidung über einen Behandlungsabbruch bessere Heilungschancen Dritter einbezogen dürfen, denen durch Fortbehandlung des Patienten eine Behandlungsmöglichkeit entzogen würde. Bei dieser Entscheidung über konkurrierende Handlungspflichten im Falle aktueller Ressourcenknappheit wird bekanntlich darauf abgestellt, dass ein an der Dringlichkeit der Behandlung orientiertes ärztliches Auswahlermessen, das dann eben auch an den unterschiedlichen Erfolgsaussichten einer Heilbehandlung ausgerichtet sein darf, nur dann einzuräumen ist, wenn (ausnahmsweise) sich die Frage einer Behandlungsaufnahme gleichzeitig stellt (vgl. Künschner [Fn. 68], S. 311 ff., 343). 89 (Fn. 56/Suizid und Euthanasie), S. 403, bzw. (Fn. 56/Zwischen Heilauftrag und Sterbehilfe), S. 81 f.
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che, die Kriterien für eine Behandlung oder ihre Nichtvornahme selbst festzulegen; stattdessen steht ihm ein „kriterienorientiertes Beurteilungsermessen“90 zu, bei der die entscheidenden Kriterien gerade für einen Behandlungsabbruch von der Rechtsgemeinschaft zu entscheiden sind.91 Bei der auf dieser Basis erfolgenden ärztlichen Indikationsstellung wird man – wie auch von der (strafrechtlichen) Arzthaftung für sog. Behandlungsfehler92 und auch dem Angezeigtsein eines Schwangerschaftsabbruchs „nach ärztlicher Erkenntnis“ (§ 218a II )93 her bekannt – dem Arzt einen Beurteilungsspielraum einzuräumen haben, so dass sich das (Straf-)Recht in Anlehnung an die im Verwaltungsrecht diskutierten Grundsätze des Beurteilungs- und Ermessensfehlers94 auf eine bloße Grenzkontrolle zu beschränken hat,95 90 So Eser (Fn. 89), S. 82; ähnlich Jähnke (Fn. 44), vor § 211 Rn. 16; Laufs NJW 1998, 3399, 3400, der die ärztliche Indikation und ihre Umgrenzung wie folgt beschreibt: „Das ärztliche Berufsethos muß angesichts der ständig wachsenden Möglichkeiten der Medizin Kriterien der Normalität entwickeln, Kriterien für das, was wir jedem Menschen und gerade den kranken und alten, an Zuwendung, an Pflege, an medizinischer Grundversorgung schulden und was statt dessen abhängig gemacht werden muß von Alter, Heilungsaussicht und persönlichen Umständen“ (Spaemann [in: ders./Fuchs, Töten oder sterben lassen?, 1997], S. 30). Selbstverständlich müssen die ärztlichen Standards nach Berufssatzung (Musterberufsordnung, Gelöbnis) und Gesetz (§ 70 II SGB V) den Geboten der Humanität genügen. In die Einzelfallentscheidung nach diesen Kriterien fließen konstituierend prognostische Einschätzungen nach dem Stande der medizinischen Erfahrung ein, die dem Arzt niemand abnehmen kann. Auch in der Dienstleistungsgesellschaft bleibt der Arzt an die Regeln seines Berufes und Faches gebunden. Wer den Arzt in Anspruch nimmt, darf nur Ärztliches erwarten, nicht jeden Dienst nach eigener Wahl.“ Auch Duttge (Fn. 79), 483 betont die Notwendigkeit, die ärztliche Einzelfallentscheidung über die Nutzlosigkeit („futility“) einer (Weiter-)Behandlung nicht intuitiv zu treffen, sondern an abstrakt-generellen, von der Rechtsordnung bestimmten Vorgaben zu orientieren. Bislang hat sich allerdings der Gesetzgeber hierzu verschwiegen, so dass das juristische Herausarbeiten eines Konsenses über Handlungsoptionen bei Vorliegen mehr oder weniger unbestimmter Leitbegriffe (z.B. Todesnähe – ein i.Ü alles andere als trennscharfer Begriff, vgl. nur Oehmichen [Fn. 19], S. 68 ff.; oder noch problematischer: Irreversibilität des Bewusstseinsverlustes) geboten ist. Diese juristische Vorgabe wird ohne hinreichende Berücksichtigung der arztethischen Diskussion sowie der sie dokumentierenden standesrechtlichen Beschlüsse (wie etwa die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung [Fn. 26], A 1298 ff., die für eine Behandlungseinstellung bei Wachkomapatienten auf den ausdrücklich erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten abheben) nicht sinnvoll getroffen werden können. 91 Als Parallele kann hier auf die ärztliche Kompetenz für die Methoden der Todesfeststellung und die hierauf gestützte Einzelfallanwendung verwiesen werden, nachdem aber gesamtgesellschaftlich entschieden worden war, wann der Tod eines Menschen eintritt (s. Eser [Fn. 56], vor § 211 Rn. 19 f.). 92 Vgl. Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 61), § 15 Rn. 219d. 93 Hierzu Merkel in: NK, 22005, § 218a Rn. 132 ff. 94 Zur Feststellung eines Beurteilungsfehlers werden im Verwaltungsrecht die i.Z.m. Ermessensfehlern entwickelten Kriterien herangezogen (Kopp/Schenke Verwaltungsgerichtsordnung15, 2007, § 114 Rn. 23).
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nämlich darauf, ob der Arzt bei der Indikationsstellung alle entscheidungsrelevanten Parameter berücksichtigt und eine medizinisch vertretbare Erntscheidung ohne Berücksichtigung sachfremder96 Erwägungen getroffen hat:97 Wenn auch die ärztliche Indikationsstellung als ein durchaus mehrdimensionaler Prozess anzusehen ist, in den eine Vielzahl in ihrer konkreten Entscheidungsrelevanz letztlich nicht mehr unterscheidbarer Faktoren eingeht,98 so muss die ärztliche Indikationsstellung doch von Beurteilungsfehlern freigehalten bleiben.99 Des Weiteren besteht ärztlicher Beurteilungsspielraum nur innerhalb des spezifisch ärztlich verantwortbaren Behandlungsspielraums, über dessen nähere Konturierung (Stichwort: Allokation medizinischer Ressourcen am Krankenbett)100 in Abgrenzung zu gesamtgesellschaftlich zu verantwortenden Behandlungsbeschränkungen allerdings weiter zu streiten ist.101 Sind diese soeben angedeuteten Grenzen 95 So auch (i.Z.m. der Ermittlung eines mutmaßlichen Patientenwillens zur Weiterbehandlung) Verrel (Fn. 29), S. C 93: „Die Aufgabe des Strafrechts als ultima ratio staatlicher Verhaltenskontrolle kann nur darin bestehen, eine äußerste Grenze für ärztliches Handeln zu ziehen, die im Falle von Abwägungsprozessen erst dann überschritten wird, wenn es zu evident fehlerhaften, schlechthin unvertretbaren Entscheidungen gekommen ist, unterhalb derer aber alle Entscheidungen liegen, die auf einer soliden Entscheidungsgrundlage und einer nachvollziehbaren, nicht von sachfremden Erwägungen getragenen Begründung beruhen.“. 96 Beispielsweise läge ein ggf. zur strafrechtlichen Verantwortung aus §§ 212/222, 13 StGB führender Beurteilungsfehler vor, wenn eine Behandlung abgelehnt würde, weil es sich bei dem Patienten um einen Ausländer oder drogenabhängigen Obdachlosen handelte. In diesen Fällen wäre allerdings die Behandlungsablehnung dann beurteilungsfehlerfrei erfolgt und damit auch (straf-)rechtlich vertretbar, wenn sie auf die begründete (!) Prognose mangelnder Patientendisziplin nach dem Eingriff, die dann zum Misserfolg der Heilmaßnahme führen müsste, gestützt würde (fehlende Patienten-Compliance als Kontraindikation (vgl. bereits Anschütz [Fn. 64], S. 32, ein im Bereich der Entscheidung über Organtransplantationen mit ihren weitreichenden Folgen für die zukünftige Lebensführung keineswegs fernliegender Umstand). 97 Vgl. insoweit die zur Vermeidung von Beurteilungsfehlern entwickelten verwaltungsrechtlichen Kriterien (Kopp/Schenke [Fn. 94], § 114 Rn. 28 m.w.Nachw.): Zutreffende und vollständige Sachverhaltsaufklärung / Beachtung der einschlägigen Bewertungsmaßstäbe / Vermeidung sachfremder, willkürlicher oder sonst unsachlicher Erwägungen. Insgesamt muss die Entscheidung in sich schlüssig und nachvollziehbar sein; sie darf den Erfordernissen rationaler Abwägung nicht widersprechen. 98 Aus dieser Komplexität des (auch) Rechtsbegriffs der ärztlichen Indikation, über deren Vorliegen überdies von einem hierfür besonders Qualifizierten zu befinden ist, resultiert auch hier letztlich die Funktionsbeschränkung kontrollierender Rechtsanwendung (vgl. für den Beurteilungsspielraum allgemein BVerfGE 84, 34, 50; NVwZ 02, 1368 [Kammer]). 99 Dies verlangt eine hinreichende Klärung des Sachverhalts (Diagnose), eine genügende Berücksichtigung vorhandener Behandlungsalternativen und ihrer Auswirkungen (Prognose) sowie die Nichtberücksichtigung sachfremder Erwägungen bei der Entscheidungsfindung. 100 Vgl. Verf. (Fn. 87), S. 69 ff. 101 Sollte der Gesetzgeber seiner parlamentarischen Regelungsmöglichkeit nicht nachkommen, so werden Überlegungen gerechter Ressourcen-Zuteilung, über die ja auf einer Stufe der
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ärztlicher Indikationsstellung aber eingehalten, so hat die Rechtsordnung die Entscheidung des abwägenden Arztes102 zu respektieren.103 Leistungszuteilung zwangsläufig entschieden werden muss, dann letztlich doch auf die ärztliche Indikation Einfluss haben. Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, DÄ 101 (2004), A 1298 (Präambel) bestimmen derzeit, dass lebensverkürzende Therapie-Einschränkungen nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden dürfen. 102 Sein (begrenzter) Freiraum sollte nicht als Kontrollverlust des Rechts beklagt werden, kann doch eine Orientierung an (arzt-)ethischen Vorgaben gerade deshalb einen Normierungsverzicht fordern, um die Verantwortlichkeit und Verantwortungskraft des Arztes zu entfalten (s. a. Kirchhof [Fn. 82], 230). Insoweit ist an die Mahnung von Opderbecke/Weißauer, Anaesthesist 48 (1999), 207, 208, zu erinnern, dass „seit jeher besonnene, kritisch eingestellte Ärzte die Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten erkannt und in aussichtslosen Fällen, sei es im Endstadium eines inkurablen Leidens, sei es am biologisch vorgegebenen altersbedingten Lebensende, auf die Anwendung einer weiteren lebensverlängernden Therapie verzichtet [haben]. Sie haben … auf eine Krankenhauseinweisung verzichtet, um dem Kranken ein friedliches Sterben in seiner ihm vertrauten familiären Umgebung zu ermöglichen.“ In der Tat kann die bedingungslose (um nicht zu sagen: gnadenlose) Aufrechterhaltung von Vitalfunktionen, auch wenn das Weiter-am-Leben-erhalten-werden für den Betroffenen mit Leiden verbunden ist (z.B. Dekubitus-Schmerzen oder mit Erstickungsangst verbundene Atemnot, psychologischer Leidensdruck [s. Synofzik/Marckmann {Fn. 46}, C 2879] als bei der Indikationsstellung zu berücksichtigende Kontraindikationen), dem Arzt nicht als rechtlich gebotenes Verhalten auferlegt werden, dem sich jedweder Patient (da im Regelfall aktuell kaum noch einwilligungsverweigerungsfähig) nur noch mittels einer Patientenverfügung bzw. Einsetzen eines Patientenvertreters entziehen könnte, eine befremdliche Vorstellung, dürfte hierdurch doch lebenspraktisch betrachtet die Steuerungs- und Kontrollfunktion des Rechts – ebenso wie bei einer Feinsteuerung im Bereich der Kontrolle ärztlicher Indikation – überfordert werden: Die sich nach wie vor stellende Entscheidungsproblematik würde nur in den Bereich der Auslegung entsprechender Erklärungen (so sie denn stets greifbar sein sollten), ggf. ergänzt oder ersetzt um Indikatoren für den mutmaßlichen Willen des Betroffenen, verschoben. Auch wenn man – wie der Verfasser – das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen als Leitprinzip für das ArztPatientenverhältnis betont, so sollte man sich doch vor der verzerrenden Übertreibung hüten, eine am individuellen Krankenschicksal orientierte ärztliche Nichtweiterbehandlungsentscheidung nur noch bei entsprechenden Vorab-Verfügungen des Patienten zu gestatten, da dem Einzelnen dann die – ebenfalls in seinem Selbstbestimmungsrecht über die eigene Körperlichkeit und sein Weiterleben wurzelnde – Handlungsoption versperrt würde, derartige Behandlungsentscheidungen vertrauensvoll (oder auch nur resigniert schicksalsergeben) in die Entscheidung des ihn behandelnden Arztes zu legen. 103 So Schmoller ÖJZ 2000, 364, 361, nach dem jedes Verhalten des entscheidenden Arztes, dem eine vertretbare Interessenabwägung zugrunde liege, als rechtmäßig anzusehen sei, mit der Konkretisierung (ebd., 375), dass eine derartige, zur Behandlungsreduktion führende „Unverhältnismäßigkeit“ gegeben sei bei einem hohem Behandlungsaufwand, durch den (a) allenfalls eine Lebensverlängerung um Stunden oder wenige Tage möglich scheine (also im Falle einer quantitativen Sinnlosigkeit, bei der ebenso wie bei probalistische Sinnlosigkeit, bei der ab einem gewissen Grad der Unwahrscheinlichkeit des erwünschten Erfolges eine Abwägung mit dem dafür erforderlichen Aufwand beginnt, wodurch letztlich [unvermeidbar] hier nicht näher zu untersuchende ökonomische und sozialethische Überlegungen [Verteilung knapper Ressourcen als fundamentale Frage sozialer Gerechtigkeit] in die Abwägung einfließen,
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c) Fazit: Bei einem übermäßigen Behandlungswunsch des Patienten (übermäßig infolge einer fehlenden ärztlichen Indikation) besteht keine ärztliche Behandlungspflicht; eine Strafbarkeit des Arztes aus Unterlassungsdelikt104 entfällt.105, 106
vgl. Merkel [Fn. 57], S. 297 ff.), bzw. durch den eine Lebensverlängerung bewirkt würde, die für den Patienten mit andauernden und nicht linderbaren Qualen verbunden wäre, bzw. durch den (c) allein die Verlängerung eines irreversibel bewusstlosen Lebens möglich wäre (insoweit seien allerdings Maßnahmen künstlicher Ernährung – da nicht mit hohem Aufwand verbunden – fortzusetzen). 104 Auch keine Strafbarkeit aus § 323c StGB mangels Erforderlichkeit der Hilfeleistung. 105 Brisant wird das Problem fehlender ärztlicher Indikation namentlich bei sog. Wachkoma-Patienten. Für den Fall, dass bei einer entsprechenden Krankheitskonstellation ein ausdrücklicher Behandlungswunsch des Patienten vorliegt, ist auf Basis der im Text entwickelten Auffassung anzunehmen (so auch Schneider [Fn. 6], vor § 211 Rn. 119 m.w.Nachw.), dass ein Behandlungsabbruch unzulässig ist, da ärztlicherseits immerhin das Leben des Patienten noch erhalten werden kann und in Hinblick auf bei der Indikationsstellung einzubeziehende Kontraindikationen der Gesichtspunkt mangelnder Lebensqualität (Bewusstlosigkeit) infolge der Patientendisposition zwingend als berücksichtigungsfähiges Kriterium ausscheidet (vgl. auch Duttge [Fn. 79], 481; Synofzik/Marckmann [Fn. 46], C 2879: Orientierung einer Bewertung dieses Lebens an den individuellen Präferenzen des Betroffenen). Dies hat zur Konsequenz – um der ärztlichen Berufausübungsfreiheit hinreichend Rechnung zu tragen und den Arzt nicht zu einem aktiven Verhalten zu verpflichten, das er von seiner fachlich fundierten Einschätzung her ablehnt –, dass die behandelnden Ärzte die Verlegung des Wachkoma-Patienten in eine seine Weiterbehandlung ermöglichende Institution (Pflegeheim) zu ermöglichen und für die Übergangszeit bis zur Verlegung seine Behandlung fortzusetzen haben. 106 Dieser Beitrag ist Manfred Seebode in Dankbarkeit gewidmet, der als Leipziger Kollege Solidarität und Zivilcourage mit seinen damals von der Schließung ihrer Fakultät bedrohten Dresdener Kollegen bewies, als er im Rahmen seiner Lehrveranstaltung Dresdener Studierenden und Lehrenden eine Protestdemonstration ermöglichte, die er mit deutlichen Worten unterstützte.
Probleme des § 353d Nr. 3 StGB (Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen) THOMAS VORMBAUM
Fast am Ende des Strafgesetzbuches platziert, dort in einem „Buchstabenparagraphen“ untergebracht und in diesem wiederum als letzte von drei Ziffern „versteckt“, ist die Regelung des § 353d Nr. 3 StGB, nach der sich strafbar macht, wer „die Anklageschrift oder andere amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist“,
schon von der „Performance“ her marginal; tatsächlich ist sie es wohl auch in der Sache. Immerhin birgt die Vorschrift dogmatische und rechtspolitische Probleme; und es ist kaum ein Zufall, dass das BVerfG vor der Aufgabe gestanden hat, ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Die Probleme resultieren sowohl aus der (nicht unbedingt geglückten) gesetzlichen Regelung als auch aus deren Gegenstand. Auf den folgenden Seiten sollen nach einem kurzen Blick auf die Gesetzgebungsgeschichte einige Grundprobleme der Vorschrift und sodann in einem „Besonderen Teil“ Fragen der „mittelbaren Veröffentlichung“ erörtert werden.
I. § 353d Nr.3 ist ein anschauliches Beispiel für jene Erkenntnis Nietzsches, die uns lehrt, dass die Arbeit am Begriff weniger zu dessen analytischer
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Entfaltung als zu seiner Überformung im Sinne des jeweiligen Zeitgeistes führt.1 Die Gesetzgebungsgeschichte ist wechselhaft. Da mein Doktorand Eckhard Voßiek sie eingehend geschildert hat,2 genügen hier einige grobe Striche: Abgesehen von französischen Vorläufern3 ist Ausgangspunkt der modernen Entwicklung in Deutschland das Preußische Pressegesetz von 1851.4 Dessen § 48 bestimmte: „Die Namen der Geschworenen dürfen in Zeitungen nur bei der Mittheilung über die Bildung des Schwurgerichts mitgetheilt werden. Zuwiderhandlungen gegen diese Bestimmung ziehen eine Gefängnißstrafe von Einer Woche bis zu Einem Jahr nach sich. Gleiche Strafe trifft Denjenigen, der eine Anklageschrift oder ein anderes Schriftstück eines Kriminalprozesses veröffentlicht, bevor die mündliche Verhandlung stattgefunden oder der Prozeß auf anderem Wege sein Ende erreicht hat.“
Diese Vorschrift galt bis zum reichseinheitlichen Pressegesetz von 1874. Dessen § 18 Abs. 1 Nr. 1 bedrohte denjenigen mit Strafe, der gegen die in § 74 getroffene Regelung verstieß, wonach „die Anklageschrift oder andere amtliche Schriftstücke eines Strafprozesses [...] durch die Presse nicht eher veröffentlicht werden [dürfen], als bis dieselben in öffentlicher Verhandlung kundgegeben sind oder das Verfahren sein Ende gefunden hat“.
Diese Regelung galt über das Ende des Reiches im Jahre 1945 hinaus als übereinstimmendes Landesrecht5 weiter, soweit sie nicht durch einzelne 1 „Alle Dinge, die lange leben, werden allmählich so mit Vernünftigkeit durchtränkt, dass ihre Abkunft aus der Unvernunft dadurch unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede Geschichte einer Entstehung für das Gefühl paradox und frevelhaft?“; Friedrich Nietzsche Morgenröte. Buch I, Aphorismus 1). 2 Eckhard Voßiek Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke (§ 353d Nr. 3 StGB). Gesetzgebung und Rechtsanwendung seit 1851. Berlin 2004; s. auch die die „Entstehungsgeschichte“ in LK, 12. Auflage (voraussichtlich 2008), § 353d Vor Rn 1 (die Darstellung firmiert unter meinem Namen, ist aber weitgehend unverändert aus der von Träger bearbeiteten Vorauflage übernommen). Da beide Fundstellen reichhaltige Nachweise über die rechtsgeschichtlichen Quellen enthalten, wird im folgenden auf deren erneute Wiedergabe verzichtet. 3 Dazu Voßiek aaO S. 22 ff. 4 Voßiek aaO S. 25 ff. 5 Zum Streit darüber, ob das Reichspressegesetz als Bundesrecht oder als (übereinstimmendes) Landesrecht weitergelte, s. Voßiek aaO S. 124 ff.; der Streit wurde durch BVerfGE 7, 29 ff. im Sinne der „föderalistischen“ Auffassung entschieden.
Probleme des § 353d Nr. 3 StGB
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Landespressegesetze ersetzt wurde. Nach Absprache zwischen den Bundesländern traten dort weitgehend gleichlautende Landespressegesetze in Kraft, die in ihrem jeweiligen § 5 ein Veröffentlichungsverbot aussprachen.6 So lautete § 5 des nordrhein-westfälischen Pressegesetzes von 1966: „Die Presse darf Anklageschriften und andere amtliche Schriftstücke eines Strafoder Bußgeldverfahrens nicht veröffentlichen, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren beendet ist.“
Nach § 21 dieser Gesetze machte sich strafbar, wer „entgegen der Vorschrift des § 5 amtliche Schriftstücke veröffentlicht“. Durch das EGStGB von 19747 schaffte der Bundesgesetzgeber eine einheitliche Strafvorschrift.8 Dabei wurde der Anwendungsbereich des Tatbestandes einerseits insofern ausgedehnt, als nunmehr nicht nur Veröffentlichungen durch die Presse unter Strafe gestellt sind (womit die Regelung nicht mehr eine pressestrafrechtliche ist), andererseits insofern eingeengt, als nur Veröffentlichungen im Wortlaut erfasst werden.
II. Die knappen Hinweise zur Entstehungsgeschichte lassen kaum deutlich werden, wie intensiv die Diskussionen um die Ausgestaltung des Straftatbestandes gewesen sind. Ein Blick in die einschlägigen Kommentierungen und Lehrbücher zeigt, dass niemand mit der gefundenen Regelung besonders glücklich ist.9 Ob dies ein bloßes kriminalpolitisches oder ein verfassungs6
Alle landesrechtlichen Vorschriften b. Voßiek aaO S. 138 f. Ausführliche Darstellung der Entstehungsgeschichte der neuen Vorschrift b. Voßiek aaO S. 156 ff. 8 § 353d enthielt bis dahin die Regelung anderer Materien; zu ihnen Vormbaum LK (12. Aufl.) (s. dazu Hinweis in Fn 2). 9 Hier nur eine Auswahl der kritischen Stimmen: Bottke NStZ 1987, 314; Hassemer NJW 1985, 1921; Hoffmann-Riem JZ 1986, 495; Lackner/Kühl § 353d, Rn. 4; Maurach/Schroeder/ Maiwald Strafrecht BT, § 76, Rn. 7; Kuhlen NK § 353d, Rn. 28; Waldner MDR 1983, 424, 425; Schomburg StV 1984, 337, 338; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron Rn. 41; Többens GA 1983, 97, 109; Tröndle/Fischer Rn. 1, 6; Wilhelm NJW 1994, 1520; BVerfG NJW 1986, 1239, 1240 f.; Schuppert AfP 1984, 67, 71 ff.; Stapper ZUM 1995, 590, 595; Träger LK § 353d, 11. Aufl. (2004), Rn 47; Vormbaum ebd. 12. Aufl. 2008; AG Hamburg NStZ 1984, 265 m. Anm. Rogall; OLG Hamm NJW 1977, 967; LG Lüneburg NJW 1978, 117; AG Weinheim NJW 1994, 1543, 1544; LG Mannheim NStZ-RR 1996, 360, 361; Schulz Die rechtlichen Auswirkungen von Medienberichterstattung im Strafverfahren, 2002, S. 55; Schwan Amtsgeheimnis oder Aktenöffentlichkeit. München 1984, S. 98 ff., 100 ff.; Stürner Empfiehlt es sich, die Rechte und Pflichten der Medien präziser zu regeln und dabei den Rechtsschutz des Einzelnen zu verbessern? S. A28; 58. DJT, Beschluß IV, 11b der Abt. MedienR, NJW 1990, 2992. – 7
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rechtlich relevantes Unbehagen ist, hatte das Bundesverfassungsgericht, vom Amtsgericht Hamburg 1984 angerufen,10 zu entscheiden. Es hat die verfassungsrechtlichen Bedenken des vorlegenden Gerichts nicht geteilt und hat der Vorschrift die Verfassungsmäßigkeit bescheinigt, soweit die wörtliche Mitteilung der Anklageschrift ohne oder gegen den Willen des von der Berichterstattung Betroffenen erfolgt ist. Das Gericht erkennt zwar an, dass der erstrebte Schutz der von der Vorschrift umfassten Rechtsgüter nur unvollkommen erreicht wird;11 „schlechthin ungeeignet“ (S. 216) als Schutznorm sei die Strafbestimmung jedoch nicht. Der Gesetzgeber habe im Interesse der Rechtsklarheit eine gewisse Schwächung des Rechtsgüterschutzes in Kauf genommen und damit grundrechtlicher Freiheit mehr Raum gegeben; das zu beanstanden könne „nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts sein“ (S. 218). Ausdrücklich offen gelassen hat das BVerfG die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift für Fälle, in denen die Veröffentlichung mit dem Willen des von der Berichterstattung Betroffenen erfolgt ist. Darauf ist zurückzukommen. Davon abgesehen aber soll im folgenden die Frage der Verfassungskonformität angesichts ihrer Bejahung durch das BVerfG hier nicht weiter verfolgt werden; auch die – unabhängig von der Frage der Verfassungsmäßigkeit bestehenden – Zweifel an der legislativen Weisheit der Vorschrift sollen zurückgestellt werden.12 Es soll nur um Fragen des inneren Gefüges des § 353d Nr. 3 gehen.
III. 1. Die Schutzrichtung der Strafvorschrift bzw. das ihr zugrunde liegende Unrecht erblicken der Gesetzgeber und die h.M. darin, dass durch die Veröffentlichung Verfahrensbeteiligte, vor allem Laienrichter und Zeugen, durch die vorzeitige Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke in ihrer Unbefangenheit beeinträchtigt werden.13 Was das Strafrecht angeht, kann man den Tatbeständen, in denen es um die möglichst ungestörte Ausübung der Aufgaben der Rechtspflege geht, drei Schutzrichtungen zuordnen: dem Schutz des Verfahrensgefüges, des Verfahrenszieles und der VerfahrensGesetzentwürfe von B 90/Grünen (16/576, S. 3) und FDP 16/956, S. 3 sahen bzw. sehen die Streichung des Tatbestandes vor. 10 AG Hamburg NStZ 1984 265; StV 1984, 207. 11 BVerfGE 71 206 S. 217, 219. 12 Ich habe mich in der Monographie Th. Vormbaum Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils. Baden-Baden 1987, S. 467 ff., 469, für die Streichung der Vorschrift ausgesprochen. 13 BTDrucks. 7/550 S. 282 f; BVerfGE 71, 206, 217ff; OLG Hamm NJW 1977, 967; OLG Köln JR 1980, 473.
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funktionen14 – eine Dreiteilung, die, wie dies für dogmatische Figuren generell gilt, vergröbernd sein mag, die aber doch die strukturellen Gegebenheiten auf operable Weise einfängt.15 Verfahrensgefüge ist die institutionelle – von der existentiellen Seite zu unterscheidende16 – Seite von Rechtspflege, ihre Trennung von den anderen Teilen der Staatsgewalt, insbesondere die richterliche Unabhängigkeit, sowie jene Vorkehrungen, welche den Ablauf des Verfahrens selber vor illegitimen Einflüssen abschirmen sollen, und zwar nicht nur für den Zeitraum des jeweils laufenden Verfahrens, sondern – wie die Geheimhaltungsvorschriften und ihre Strafbewehrung zeigen – mitunter auch über dessen Abschluss hinaus. Verfahrensziel betrifft die dynamische Komponente von Rechtspflege, das Verfahren. Dieses ist kein „Ritual“, also keine zwar zweckblinde, aber mit mechanistischer Zwangsläufigkeit einem festen Ende entgegensteuernde Aufeinanderfolge feststehender Stereotypen; es ist auch nicht ein zwar thematisch begrenzter, im übrigen aber beliebiger Gedanken- und Meinungsaustausch („Palaver“, „Diskussion“), sondern ein rechtlichen Regeln unterworfener, durch Sprachkommunikation und Interaktion in seinem Verlauf bestimmter Vorgang, der gesellschaftliche Konflikte thematisiert, dabei aber auf die Erreichung eines Zieles, der Entscheidung, hin funktionalisiert ist. Diese Zielerreichung auf bestimmtem verfahrensmäßigem Wege ist das Verfahrensziel. Verfahrensfunktionen betreffen die Ausstrahlungen und Reflexe des Verfahrens in die Gesellschaft hinein und auf den Einzelnen, im Strafverfahren insb. auf den Täter, mithin die Realisierung der Aufgaben der Rechtspflege in der Umwelt.
Misst man das von der h.M. formulierte Unrecht der Tat nach § 353d Nr. 3, so ist dieses der Schutzrichtung „Verfahrensgefüge“ zuzuordnen.17 Zwar beeinträchtigt mangelnde Unbefangenheit des Verfahrensbeteiligten, 14 Zum Schutz des Verfahrenszieles s. – bezogen und beschränkt auf den Strafprozess – Th. Vormbaum Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils. Untersuchungen zum strafrechtlichen Schutz des strafprozessualen Verfahrenszieles. Berlin 1987, insb. S. 119 ff. 15 Henning Ernst Müller Falsche Zeugenaussage und Beteiligungslehre. Tübingen 2000, S. 58, hat eingewandt, diese Trias schließe die Möglichkeit aus, ein Schutzgut zu definieren, „das in einer Abstraktionsebene unterhalb der drei [...] definierten Schutzgüter anzusiedeln ist“. Da es vorliegend auf diesen Einwand nicht ankommt, braucht auf ihn nicht näher eingegangen zu werden. Ich deute nur an, dass der Einwand nur so weit trägt, wie es um Schutzgüter geht, die sich nicht einer drei Schutzrichtungen einfügen lassen, die also quer zu dieser Dreiteilung liegen. Insofern ist der Einwand bedenkenswert, es müsste jedoch erst ein Fall gebildet werden, der diese (negative) Voraussetzung erfüllt, der also (positiv) die Binnengrenze zwischen zwei dieser Schutzrichtungen schneidet. 16 Dazu Th. Vormbaum (wie Fn 12), S. 113. 17 S. bereits (hypothetisch) Vormbaum (wie Fn 12), S. 467.
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vor allem des Laienrichters, gegenüber dem Prozessstoff letztlich auch das Verfahrensziel; § 353d Nr. 3 bezweckt jedoch – die genannte Schutzrichtung unterstellt – die Abschirmung des Verfahrens gegen äußere Einflüsse. Zwar besteht eine gewisse sachliche Nachbarschaft zu § 160 StGB, also zu einer das Verfahrensziel schützenden Vorschrift;18 verglichen mit der auf die gezielte Beeinflussung von genau bezeichneten Rollenträgern gerichtete Tathandlung jener Vorschrift ist § 353d Nr. 3 jedoch im Hinblick auf das Verfahrensziel ganz unspezifisch formuliert. Für die h.M. sprechen – jedenfalls funktional betrachtet – gute Gründe. Zwar gilt das Wächteramt der demokratischen Öffentlichkeit, die der Berichterstattung bedarf, wie für jede Staatstätigkeit auch für die Justiz; die letztere soll jedoch ihre Tätigkeit – anders als diejenige der beiden anderen Staatsgewalten, die der Umsetzung des (wenn auch mediatisierten) Volkswillens dient – in einer möglichst unaufgeregten und politikfernen Atmosphäre ausüben. Bereits die frühe Rechtsgeschichte kennt die Hegung der Gerichtsversammlung, die Einfriedung der Gerichtsstätte durch Zweig und Schnur, durch Pflock und Seil.19 Zur Realisierung des mit dieser Hegung bzw. Einfriedung verfolgten Zieles stehen dem modernen Recht viele Mittel zur Verfügung; der Erlass von Strafvorschriften ist nur eines davon. Eine vertiefte Erörterung des Grundsatzes der ultima ratio kann möglicherweise einen Gesichtspunkt dingfest machen, der kriminalpolitisch gegen die Existenz des § 353d Nr. 3 spricht. Da hier aber voraussetzungsgemäß eine immanente Betrachtung zugrunde gelegt werden soll, ist festzustellen, dass der von der h.M. vertretene Gesichtspunkt plausibel ist:20 Der durch eine vorweggenommene öffentliche Diskussion amtlichen Prozessmaterials – oft verbunden mit einseitigen Stellungnahmen oder gar unmittelbar auf Einflussnahme angelegten Wertungen – drohenden Voreingenommenheit und den darin liegenden Gefahren für die Wahrheitsfindung und für ein gerechtes Urteil soll entgegengetreten werden. Dass diese Zielsetzung mit der bereits angesprochenen Funktion demokratischer Öffentlichkeit kollidiert, liegt auf der Hand. Und wie bei der 18
Dazu Vormbaum (wie Fn 12), S. 295 ff. Hermann Conrad Deutsche Rechtsgeschichte. Band I: Frühzeit und Mittelalter. 2. Aufl. Karlsruhe 1962, S. 28. 20 Eine weitere Frage (neben derjenigen nach der ultima ratio) ist, ob Sanktionstatbestände mit – wie vorliegend – eher geringem Unrechtsgehalt (oder allgemeiner: außerhalb des sicheren Bereiches eines Kernstrafrechts) überhaupt kriminalrechtlichen Charakter tragen sollten. Dies muss nicht unbedingt zu ihrer Eingruppierung als Ordnungswidrigkeiten führen; eine wiederholt diskutierte Zwischenkategorie eines „Sanktionenrechts“ oder der „schweren Ordnungswidrigkeiten“ – das österreichische Gesetz von 1803 betraf „Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen“ – könnte hier neue Wege öffnen; sed de his hic non est locus. 19
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Herstellung der Einfriedung des Verfahrensgefüges stellen sich auch bei ihrer sachgerechten Beschränkung für den Gesetzgeber mehrere Optionen; von ihnen hat er, wie die Gesetzesgeschichte zeigt, mehrere ausprobiert. Die gegenwärtige Regelung begegnet dem Vorwurf einer übermäßigen Einschränkung der Pressefreiheit zum einen durch die Einbeziehung aller Veröffentlichungen, also nicht nur der Presseveröffentlichungen, in den Tatbestand, zum anderen dadurch, dass nur wörtliche Zitate unter Strafe gestellt sind, Wiedergaben in indirekter Rede also straflos bleiben. Ob damit sachlich ein angemessenes Kriterium gefunden ist, mag man bezweifeln, jedoch dient die jetzige Fassung der Strafvorschrift zweifellos der Rechtsklarheit.21 Sie beseitigt die Auslegungsschwierigkeiten, welche die Rechtsprechung in Grenzbereichen vor eine nahezu unlösbare Aufgabe gestellt hatte.22 2. Die h.M. belässt es allerdings nicht bei der Benennung des gerade angesprochenen Schutzzweckes. Die Strafbestimmung soll daneben auch dem Schutz des vom Verfahren Betroffenen dienen, der durch Veröffentlichung „amtlicher Papiere“ nicht an den Pranger gestellt werden soll, noch bevor überhaupt eine gerichtliche Überprüfung erfolgt ist.23 Für diese Zielrichtung spricht die in § 353d Nr. 3 enthaltene Aufzählung der geschützten Verfahrensarten, denn bei Straf-, Bußgeld- und Disziplinarverfahren ist die Gefahr einer Bloßstellung am größten.24 Dagegen spricht freilich, dass Laienrichter auch in anderen Verfahren, beispielsweise vor den Arbeits- und Verwaltungsgerichten, mitwirken (§§ 16, 20 ff, 37, 41 ArbGG, §§ 5 Abs. 3 S. 1, 19ff VwGO). Es fragt sich allerdings, ob die angenommene Verdoppelung der Schutzzwecke überhaupt praktische Konsequenzen nach sich zieht.25 Hier kommt vor allem die vom Bundesverfassungsgericht offen gelassene Frage ins Spiel, ob der Beschuldigte bzw. Betroffene oder derjenige, der mit seiner 21
BVerfGE 71, 206, 222. Schönke/Schröder/Lenckner/Perron § 353d Rn 41. 23 Bericht des Sonderausschusses BTDrucks. 7/1261 S. 23; Erl. der Arbeitsgruppe „Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch“, Anl. 1 der Niederschriften des Sonderausschusses, 7. Wahlperiode, 10. Sitzung, zu Art. 18 Nr. 183; von Bülow im Sonderausschuß, Niederschriften 7. Wahlperiode, 11. Sitzung S. 409; Tröndle und Dünnebier Niederschriften Band 13 S. 300; Bericht der Bundesregierung zum Thema „Öffentliche Vorverurteilung“ und „faires Verfahren“, BTDrucks. 10/4608 S. 11; BVerfGE 71, 206, 217, 219; LG Lüneburg NJW 1978, 117; Lackner/Kühl Rn 1; Tröndle/Fischer Rn 1; Kuhlen NK Rn 25; Bottke JR 1980, 474, 475 (Anm. zu OLG Köln JR 1980, 473); Bottke NStZ 1987, 314, 315; aA: Schönke/Schröder/Lenckner/Perron Rn 40; Hoyer SK Rn 6; Samson SK (1991) Rn 16. 24 Vgl. BVerfGE 35 202, 226; 71 206, 223. 25 Die folgenden Überlegungen habe ich nach Abschluss meiner Kommentierung zur 12. Auflage des LK angestellt; sie stimmen im Ergebnis mit der dort vertretenen Auffassung überein, berücksichtigen aber zusätzliche Gesichtspunkte und begründen das Ergebnis teilweise neu. 22
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Zustimmung handelt, sich nach § 353d Nr. 3 strafbar machen kann. Dies wird auch von Autoren bejaht, die sich für die Verdoppelung des Schutzzweckes einsetzen.26 Methodische Voraussetzung für diese Position ist, dass die doppelte Schutzrichtung nicht als eine kumulative, sondern als eine – sprachlich ungenau27 – alternative aufzufassen ist. Nur im zuletzt genannten Fall, also dann, wenn man das Berührtsein eines der beiden Rechtsgüter für die Tatbestandserfüllung ausreichen lässt, kommt in den genannten Fällen eine Strafbarkeit in Betracht. Prinzipiell bestehen gegen eine solche alternative Schutzzweckverdoppelung, die leider einer um sich greifenden argumentativen Praxis entspricht, Bedenken,28 denn sie hebelt den durch die Rechtsgutslehre intendierten Strafbegrenzungseffekt wieder aus. Eben dies ist mit ihr auch intendiert, wie aus § 164 StGB bekannt ist: Bei reinem Rechtspflegeschutz wäre eine falsche Verdächtigung vor ausländischen Stellen nicht erfasst; bei reinem Individualgüterschutz würde das Einverständnis bzw. die Einwilligung des Verdächtigten die Strafbarkeit ausschließen. Die „alternative“ Verdoppelung schließt beide Einschränkungsmöglichkeiten aus. Diese Form der Verdoppelung sollte daher verpönt sein. Zu Recht nimmt ein zunehmender Teil des Schrifttums inzwischen an, dass für § 164 StGB nur einer der beiden Schutzgesichtspunkte in Betracht zu ziehen ist; welcher dies sein soll und welcher nur als Schutzreflex einzuordnen ist, ist freilich umstritten.29 Andererseits wird eine kumulative Schutzzweckverdoppelung den objektiv zutage getretenen gesetzgeberischen Intentionen häufig direkt zuwider laufen. Beschränkt man daher die Betrachtung auf die isolierte Betrachtung der beiden in Frage stehenden Rechtsgüter, so scheint, abstrakt betrachtet, bei § 353d Nr. 3 dieselbe Struktur wie bei § 164 vorzuliegen: Die Einwilligung des Beschuldigten wird unter Hinweis auf den Rechtspflegeschutz für unbeachtlich erklärt; die Veröffentlichung von Schriftstücken eines ausländischen Straf-, Bußgeldoder Disziplinarverfahrens wäre konsequent unter dem Gesichtspunkt des Individualgüterschutzes in den Tatbestand einzubeziehen; letzteres wird allerdings – soweit ersichtlich – nirgends vertreten. Das Rechtsempfinden bestätigt dieses Ergebnis.30 Da dies bei § 164, auch wenn man sich dort – 26 Träger LK § 353d Rn 39; Schr/Schr/ Lenckner/Perron aaO; Samson SK (1991) Rn 16; Hoyer SK Rn 6. 27 Dazu Langer Die falsche Verdächtigung. Ein Beitrag zur Strafrechtsreform. Berlin 1973, S. 36; Vormbaum (wie Fn 12), S. 451. Zutreffender wäre die Bezeichnung „Uterquität“, s. Vormbaum NK Vor § 153 Rn 26 (zu korr. der Hinweis a.a.O., § 164 Rn 8 Fn 10). 28 Dazu Th. Vormbaum Festschrift f. Dimitris Tsatsos. Baden-Baden 2003, 703 ff., 706. 29 Nachweise b. Vormbaum (wie Fn 28). 30 Dies kann sich freilich bei entsprechend ausgewählten Fällen ändern; man denke sich den Fall, dass ein deutsches Boulevardblatt die Anklageschrift einer ausländischen Strafverfolgungsbehörde gegen einen prominenten Deutschen im Wortlaut veröffentlicht.
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wie der Verfasser dieses Beitrages – für den Individualgüterschutz ausspricht,31 anders ist, fragt sich, ob es der Schutzzweckverdoppelung in § 353d Nr. 3 überhaupt bedarf. Mit der Beschränkung auf die inländische Rechtspflege ist die einschränkende Konsequenz eines reinen RechtspflegeSchutzes erreicht. Fraglich bleibt somit die einschränkende Konsequenz des reinen Individualgüter-Schutzes, nämlich die unrechtsausschließende Wirkung der Einwilligung. Hier scheint sich eine Lösung wie bei § 164 anzubieten; wer dort, wie der Verfasser dieses Beitrages, für bloßen Individualgüterschutz plädiert, scheint hier zur selben Konsequenz gedrängt zu werden. Dagegen spricht jedoch ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Tatbeständen. Während die Tat nach § 164 schon nach dem Gesetzeswortlaut nur zu Lasten des Verdächtigten begangen werden kann, ist die Tat nach § 353d Nr. 3 insoweit „neutral“, denn der Tatbestand erfasst hier nach dem Gesetzeswortlaut auch solche Schriftstücke, die den Betroffenen entlasten.32 Auch ist nicht zu übersehen, dass die gesetzliche Konstruktion des § 353d Nr. 3, anders als diejenige des § 164, gegen die Annahme eines reinen Individualgüterschutzes (oder der Kumulierung beider Gesichtspunkte) spricht: In § 164 sind die Interessen der Rechtspflege und die des falsch Verdächtigten weitgehend „gleichgerichtet“; die Einwilligung des Verdächtigten wird, wo sie wirklich legitim sein sollte, ein marginaler Fall bleiben; wo sie dies nicht ist, wird der Verdächtigte selbst sich im Bereich des § 145d bewegen. Kurz gesagt: Die Rechtspflege kann des Schutzes des § 164 entbehren,33 nicht aber der Verdächtigte. In § 353d Nr. 3 hingegen ist das Schutzbedürfnis der Rechtspflege, wie eingangs ausgeführt, zumindest als gegeben zu unterstellen. Was andererseits den Schutz des Beschuldigten angeht, kann für die formale Beschränkung des Tatbestandes auf wörtliche Wiedergaben neben der Tatbestandsbestimmtheit noch angeführt werden, dass sie dem Beschuldigten die Möglichkeit belässt, sich in indirekter Rede öffentlich gegen die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zur Wehr zu setzen. Dies gilt zwar auch für andere Personen, doch kann in dieser Hinsicht die Beschränkung auf die wörtliche Wiedergabe als der Versuch angesehen werden, eine schonende Abgrenzung zur (Einschrän31
Th. Vormbaum (wie Fn 12), S. 458 f.; Ders. NK (2. Aufl.), § 164 Rn 10). S. nur Sch/Schröder/Lenckner/Perron Rn 40; freilich ist die Dichotomie Be-/Entlastung nicht immer klar durchzuhalten. Aus rein prozessualer Sicht können amtliche Schriftstücke durchaus ambivalent, nämlich zugleich be- und entlastend sein. Überdies müssten selbst dann, wenn man § 353d Nr. 3 nur dem Individualgüterschutz zuordnete, die Veröffentlichung durch Personen, die ohne oder gar gegen den Willen des Beschuldigten handeln, tatbestandsmäßig bleiben, denn der Beschuldigte kann auch ein Interesse an der Nichtveröffentlichung solcher Schriftstücke haben, die ihn prozessual entlasten (aber z.B. seinem Leumund nachteilig sind). 33 S. auch Backes/Lindemann Staatlich organisierte Anonymität als Ermittlungsmethode bei Korruptions- und Wirtschaftsdelikten. Heidelberg 2006, S. 102 f. 32
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kung der) Pressefreiheit vorzunehmen, auch wenn die Presse aus grundsätzlichen Erwägungen nicht mehr (wie in früheren Gesetzesfassungen) besonders erwähnt wird. Da somit die Möglichkeiten des Beschuldigten, sich vor der Öffentlichkeit zu rehabilitieren, nur unwesentlich beschränkt sind, erscheint weder eine Verdoppelung des Schutzzweckes noch eine Beschränkung auf den Individualgüterschutz geboten. Die vom Bundesverfassungsgericht offen gelassene Frage ist demnach mit der h.M. dahin zu beantworten, dass auch der Beschuldigte bzw. Betroffene selbst den Tatbestand des § 353d Nr. 3 erfüllen kann.34 Problematische Fälle können auf der Rechtswidrigkeitsebene erörtert und ggf. ausgeschieden werden. Letzte Bedenken mögen dadurch ausgeräumt werden, dass man den Begriff der „amtlichen Schriftstücke“ eng auslegt. Dazu sollen abschließend noch zwei Beiträge geliefert werden.
IV. Das Verbot der öffentlichen Mitteilung bezieht sich auf die Anklageschrift oder andere amtliche Schriftstücke der im Tatbestand genannten Verfahren. Bestandteil der Straf-, Bußgeld- oder Disziplinarakten – und damit amtliche Schriftstücke im Sinne des § 353 d Nr. 3 – werden darüber hinaus die beigezogenen Vorgänge anderer Verfahren.35 Dadurch, dass sie auch Gegenstand eines weiteren Verfahrens werden, fallen sie selbstverständlich nicht aus dem Schutzbereich des § 353d Nr. 3. Sind die fraglichen Schriftstücke in jenem anderen Verfahren aber bereits in öffentlicher Verhandlung erörtert worden, so beseitigt dies die Strafbarkeit einer Veröffentlichung auch im Hinblick auf das anhängige Verfahren.36 Zwar kann ein amtliches Schriftstück eines Verfahrens in einem anderen Verfahren in einem anderen Funktionszusammenhang erörtert werden, so dass das Rechtsgut „Rechtspflege“ betroffen sein kann. Jedoch eröffnen sich bei der Einbeziehung dieser Schriftstücke zwei gleichermaßen unbefriedigende praktische Möglichkeiten: Man kann zum einen ein relatives Zitierverbot annehmen, d.h. im Hinblick auf das frühere Verfahren die wörtliche Wiedergabe der Papiere für erlaubt halten, im Hinblick auf das neue Verfahren aber für strafbar erklären – ein praktisch kaum durchführbares Vorgehen. Man könnte zum 34 Ebenso im Ergebnis bereits Träger LK 11. Aufl. Rn 39, Vormbaum LK 12. Aufl. ebd.; Samson SK (1991), Rn 16; Hoyer SK Rn 6; Lenckner/Perron aaO.; aA Waldner MDR 1983, 424, 425. 35 Vormbaum LK 12. Aufl. (s. Fn 2), Rn 47 m. weiteren Nachw. 36 AA Träger LK, 11. Aufl., § 353d Rn 47.
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anderen in dem Augenblick, in dem die beigezogenen Akten in das neue Verfahren gelangen, das durch § 353d Nr. 3 strafbewehrte Verbot wieder aufleben lassen; dies wäre allerdings weder rechtlich noch praktisch zu rechtfertigen. Verfassungsrechtlich wäre es nicht haltbar, einen Text, der bereits wörtlich zitiert werden durfte, nunmehr erneut zu „indizieren“; da der Text bereits „in der Welt ist“, wäre dies bedenklich, hat doch jeder „das Recht […], sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“ (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 1); praktisch würden sich dieselben Probleme stellen wie bei einem relativen Zitierverbot – jedenfalls dann, wenn die betreffenden Schriften im Zusammenhang mit den anderen Verfahren bereits veröffentlicht worden sind. Auch wäre es schwer zu vermitteln, dass Schriftstücke, für die früher bereits ein Zitierverbot bestand, das danach aufhoben war, nunmehr erneut unter Strafdrohung geraten. Schließlich spricht auch der Tatbestandswortlaut gegen die kritisierte Auffassung, denn er spricht nicht davon, dass die Schriftstücke in diesem Verfahren erörtert worden sein müssen, sondern von der Erörterung schlechthin. Erörtert worden sind die Schriftstücke aber bereits, nämlich im früheren Verfahren.
V. Wie aber ist zu entscheiden, wenn zwar das geschützte Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, jedoch bereits ein Strafverfahren wegen eines Verstoßes gegen § 353d Nr. 3 im Hinblick auf dieses Verfahren stattgefunden hat. Es ist abermals das für die Pressemetropole Hamburg zuständige AG Hamburg, das sich, indem es Anlass zu dieser Frage gegeben hat, in die Annalen des Tatbestandes eingeschrieben hat: Nach dem Regierungswechsel infolge der Bundestagswahl 1998 war der Verdacht aufgetaucht, auf Veranlassung der abgewählten CDU/CSU/FDP-Bundesregierung habe im Bundeskanzleramt eine systematische Löschung digital gespeicherter amtlicher Dokumente stattgefunden.37 Die neue Regierung beantragte darauf ein Disziplinarverfahren gegen die verdächtigen Beamten des Bundeskanzleramtes. Als Untersuchungsführer wurde der ehemalige Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch eingesetzt. Dieser erstattete einen umfänglichen Bericht, von der Presse als „Hirsch-Bericht“ bezeichnet. Das Disziplinarverfahren wurde Jahre später durch die Staatsanwaltschaft Bonn eingestellt. Einige Zeit nach der Erstattung des Hirsch-Berichts erschien in der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT ein Artikel mit der beziehungsreichen Überschrift „Operation Löschtaste“, in dem Teile des Ermittlungsberichts 37 Auf die seinerzeit diskutierte Frage, wie solche amtlichen Dokumente von persönlichen „Gedankenskizzen“ u.ä. abzugrenzen seien, kommt es hier nicht an.
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und der zugehörigen Anhörungen und schriftlichen Äußerungen im Wortlaut zitiert wurden. Zur Zeit der Veröffentlichung war im Disziplinarverfahren der „Hirsch-Bericht“ weder öffentlich erörtert worden noch das Disziplinarverfahren abgeschlossen gewesen. Das gegen die Verantwortlichen des Artikels eingeleitete Strafverfahren wegen eines Vergehens nach § 353d Nr. 3 StGB endete mit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB. Von Interesse für unser Thema ist die Sachverhaltsdarstellung im Urteil des Amtsgerichts. Sie macht deutlich, welche Paradoxien § 353d Nr. 3 gerade dann produzieren kann, wenn es an seine prozessuale Umsetzung geht. Weil der Ort der Veröffentlichung des Urteils abseits des Üblichen liegt, seien einige Passagen, die auch von zeitgeschichtlichem Interesse sind, wörtlich wiedergegeben. Das Gericht zitiert zunächst Abschnitte aus dem inkriminierten Artikel (die kursiven Passagen sind aus den Urteilsgründen übernommen): (...) So berichtet der Geheimschutzbeauftragte über ein Treffen mit dem Computerchef des Hauses und dem Abteilungsleiter der Zentralverwaltung. Die drei erörtern im Oktober 1998, kurz vor dem Amtsantritt der neuen Bundesregierung, den Umgang mit „sensitivem Material“. Die Runde stellt fest, man könne heikle Informationen nicht „gezielt aus dem Datenmaterial heraussuchen“, etwa aus den Computern in den Vorzimmern von Bohl und Kohl. Dazu müsse man „so viele Mitarbeiter in das Vertrauen ziehen, dass im Ergebnis dieser Weg nicht gangbar“ sei. Daher komme nur „eine generelle Lösung in Betracht“. Dazu sagt, laut Anhörungsprotokoll, der Geheimschutzbeauftragte „Ich habe gegen diese Entscheidung entschieden remonstriert“. Heldenhafter, aber nutzloser Widerstand. Nichts fruchtet. Nicht der Hinweis, dass man „bei einer pauschalen Löschung zu 90 Prozent Datenbestände treffe, die nicht sensibel sind und für die Arbeitsfähigkeit des Hauses (...) von erheblicher Bedeutung sind“. Da wird der Geheimschützer beschieden, dass er „wohl den Inhalt des Datenbestandes überschätze“. Vergebens auch sein Hinweis, dass „die Daten der Sicherheitsüberprüfung der Mitarbeiter nur noch EDV-gestützt bearbeitet werden, so dass eine Löschung (...) die Tätigkeit über Monate erschwert oder unmöglich macht“. Dass alle Einwände an den Vorgesetzten abprallen, kann nur einen Grund haben: Kohls Mannen wollen etwas verbergen. Der Geheimschutzbeauftragte mahnt: Auch bei einer Datenvernichtung müssten „unter allen Umständen die Vorschriften über Verschlussmaterial gelten“, also „Dokumentation des Auftrags, des Auftraggebers, der Akte selbst“ sowie die „Hinzuziehung eines Nichtbeteiligten“.
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(...) Den Part des bösen Buben gibt Hans-Achim R., ein eiserner Kohl-Mann und Leiter der Zentralabteilung. Nach seiner „Rechtsauffassung sind“ Daten auf Festplatten „eine Art Zwischenmaterial“. (...)
Um nun zu beweisen, dass die kursiv gesetzten Passagen dem „HirschBericht“ und den Vernehmungsakten des Disziplinarverfahrens entstammen, folgen in der Sachverhaltsdarstellung des AG Hamburg die einschlägigen Passagen aus den Akten jenes Verfahrens; sie betreffen die Vernehmung des Zeugen W. durch den Untersuchungsführer: „Ich war seit 1994 im BK, seit 1995 Sicherheits- und Geheimschutzbeauftragter als Referatsleiter 115 und war das bis zu meinem Ausscheiden aus dem BK im Januar 2000. Ich habe an einem Gespräch zwischen Herrn R. und Herrn G. teilgenommen, meiner Erinnerung nach in der zweiten Oktoberhälfte. Dabei ging es um die Löschung bestimmter Datenbestände. Herr R. hatte zu diesem Gespräch gebeten, weil bestimmte Datenbestände gelöscht werden sollten, nicht administrativer, sondern politischer und parteipolitischer Art, persönliche Aufzeichnungen des Kanzlers bzw. ChefBK, wie sie in einem Kanzleramt anfallen, um sie nicht zur Kenntnis der nachfolgenden Bundesregierung zu bringen. Herr R. vertrat dabei die Rechtsauffassung, dass diese Datenbestände eine Art ‚Zwischenmaterial’ seien, die nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung nicht formaler Aktenbestand waren und daher disponibel seien. Er vertrat die Auffassung, dass sich die Geschäftsordnung mit der Verpflichtung zur lückenlosen Dokumentation der Verwaltungsvorgänge nicht auf die Dateien, sondern nur auf das ausgedruckte Material beziehe. Wir haben zunächst erörtert, ob das in den beschriebenen Sinn sensitive Material überhaupt in den Dateien sei und haben das bejaht. Denn in der Tat ist es eine Arbeitsvereinfachung, bestimmte Dokumente in der Datei zu haben, weil man sie dann leicht aufrufen und für seine Arbeit nutzen kann. Wir haben dann weiter erörtert, ob man das Material gezielt aus dem Datenmaterial heraussuchen kann, also z.B. Dateien im Vorzimmer BK oder ChefBK, oder ob es nicht vielmehr so ist, dass das sensitive Material sich auch in den Arbeitsebenen befindet. Auch diese Frage haben wir nach Lage der Dinge bejaht. Wir haben dabei auch die Frage erörtert, wie man bei den besonders sensitiven stand-alone Systemen die Wiederherstellung gelöschten Materials verhindern könne und waren uns klar darüber, dass man das nur dadurch machen kann, dass man die Festplatten ausbaut und physisch vernichtet. Wir kamen damit zu dem Ergebnis, dass man bei einer selektiven Löschung so viele Mitarbeiter in das Vertrauen ziehen müsse, dass im Ergebnis dieser Weg nicht gangbar war und nur eine generelle Löschung in Betracht kommt. Ich habe gegen diese Entscheidung entschieden remonstriert. Man mag über die Rechtslage streiten und unterschiedlicher Meinung sein, ich habe aber vor allem darauf hingewiesen, dass man unabhängig von der Rechtslage zu 90% bei einer pauschalen Löschung Datenbestände treffe, die nicht sensibel sind und die für die Arbeitsfähigkeit des Hauses im Sinne einer kontinuierlichen
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Fortführung der Verwaltung von erheblicher Bedeutung sind. Mir ist dazu entgegen gehalten worden, dass ich wohl den Inhalt des Datenbestandes überschätze. Ich habe dann darauf hingewiesen, dass es nicht nur im Personalbereich viele Daten gibt, sondern dass insbesondere im Sicherheitsbereich die Daten der Sicherheitsüberprüfung der Mitarbeiter praktisch nur noch EDV-gestützt bearbeitet werden, so dass eine Löschung des Materials auch in diesem Teil der Tätigkeit über Monate erschwert oder unmöglich macht. Herr G. und ich haben versucht, diese differenzierte Betrachtungsweise dem AL 1 nahe zu bringen. Ich hatte aber am Ende des Gesprächs trotzdem den Eindruck, dass Herr R. Herrn G. beauftragen würde, als zuständiger IT-Referatsleiter eine pauschale Löschung des Datenbestandes durchzuführen. Das Gespräch dauerte weniger als eine halbe Stunde. Nach dem Gespräch hatte ich den Eindruck, dass Herr G. mit der getroffenen Entscheidung nicht glücklich war. Ich selbst habe mich gefragt, ob Herr R. das Problem verstanden hatte. Ich sah mich in einem schweren Loyalitätskonflikt zwischen der Vertrauensbasis auf der einen Seite, auf der ich gearbeitet hatte, und meinen beamtenrechtlichen Pflichten auf der andere Seite, eine kontinuierliche Verwaltungstätigkeit zu sichern. Ich habe dann einen meiner Mitarbeiter ins Vertrauen gezogen und von dem für mich wichtigen Material Sicherheitskopien auf die Festplatte gezogen, um eine reibungslose Weiterarbeit zu sichern. Ich habe dann mit Herrn U., dem damaligen Vorsitzenden des Personalrates, telefoniert, dem das Problem sofort bewusst wurde und ich glaube, dass dann Herr U. beim ChefBK erreicht hat, dass an Stelle der pauschalen Löschung eine differenzierte Regelung angeordnet wurde. In dem Gespräch mit Herrn R. haben wir auch darauf hingewiesen, dass die Löschung der Dokumente, von denen Herr R. der Auffassung war, sie gingen die neue Regierung nichts an, in den Dateien dann keinen Sinn machen, wenn sich die Dokumente dann ausgedruckt in den Akten befinden. Wir haben ihm gesagt, dass er dann doch zunächst an die Akten gehen müsse, um in dem zweiten Arbeitsgang zu prüfen, ob sich noch Spuren in den Dateien befinden. Ich bin aber nicht sicher, ob er den Gedankengang verstanden hat. Sein Hauptansatz war aber, dass der Zugriff auf die Akten in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit arbeitsmäßig nicht geleistet werden konnte und dass man außerdem dabei zu viele Personen ins Vertrauen ziehen muss. Deswegen sei die Löschung der Datenverarbeitung der bessere Weg, das Ziel zu erreichen. Wir haben über die GdL, die anderen Nachweissysteme und z.B. die Datei des ChefBK nicht im einzelnen gesprochen, sondern wie schon erwähnt die Frage erörtert, wie man bei diesen stand-alone Systemen die Wiederherstellung der gelöschten Daten mit Sicherheit ausschließen könnte, nämlich durch den Ausbau und die physische Zerstörung der Festplatten. Herr R. war der Meinung, dass es
Probleme des § 353d Nr. 3 StGB
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sich bei diesen Daten um politische Konzepte, Planungen und persönlichen Daten der Amtsleitung handelte, die den Nachfolger nichts angehen. In dem Gespräch mit Herrn R. habe ich unter anderem auch darauf hingewiesen, dass auch weiterhin unter allen Umständen die Vorschriften über VS-Material hier gelten, d.h. also, dass eine Vernichtung solcher Dokumente nur unter bestimmten formalen Voraussetzungen – Dokumentation des Auftrages, des Auftraggebers, der Akte selbst, Vernichtungsverhandlung unter Hinzuziehung eines Nichtbeteiligten usw. – möglich ist. Ich habe keine Kenntnis darüber, ob der Chef [des] B[undes]K[anzleramtes] selbst an den anfänglichen Überlegungen beteiligt war oder nicht. Herr R. erklärte am Anfang des Gespräches, er müsse das anweisen, denn es sei seine Aufgabe als politischer Beamter, seinen Minister zu schützen und es ginge darum, o.g. Datenbestände der Nachfolgeregierung nicht zur Kenntnis zu geben. Ich hatte zwar den Eindruck, dass diese Entscheidung in irgendeiner Weise verabredet war, aber das ist ein rein subjektiver Eindruck. Auf Befragen, ob ich in größerem Umfang das Vernichten von Aktenmaterial im Kollegenkreis erlebt habe, kann ich nur sagen, dass wohl im Bereich von Handakten in größerem Umfang solches abtransportiert wurde. Ich habe es nicht als meine Aufgabe betrachtet, mich darum zu kümmern, was mit Kleinlastern transportiert werden sollte, da es sich nicht um VS-Material handelte, für das ich zuständig bin, sondern offenes Material. Auf Befragen: Ob mir Herr G. nach dem Gespräch beim AL 1 noch weitere Details zu den beabsichtigten Löschungen mitgeteilt hat: Während des Gesprächs beim AL 1 über eine umfassende Löschung war klar, dass dies nur Herr G. allein tun könnte. Im übrigen hat mir Herr G. in der Folgezeit keine weiteren Erklärungen über die beabsichtigten Datenlöschungen gegeben, zumal wir kein intensives Vertrauensverhältnis zueinander hatten.“
Unterstellt man der Einfachheit halber, dass die wörtliche Wiedergabe von Abschnitten aus dem „Hirsch-Bericht“ und aus Vernehmungsprotokollen des Disziplinarverfahrens im Urteil des AG Hamburg durch die Verpflichtung des Gerichts aus § 267 Abs. 1 StPO gerechtfertigt ist, so stellt sich die weitere Frage, wie es sich mit der Veröffentlichung des Wortlauts dieses Urteils verhält, so lange das Ursprungsverfahren (hier: das Disziplinarverfahren) nicht abgeschlossen ist. Der Verf. des vorliegenden Beitrages, dem das Urteil kurz nach dessen Erlass zugänglich geworden war, stand damals vor der Frage, ob er dieses in dem von ihm herausgegebenen Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte
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veröffentlichen solle bzw. dürfe. Er hat sich dazu entschlossen, obwohl immerhin eine Auffassung im Schrifttum auch hier den Tatbestand bejaht.38 Die Richtigkeit der Gegenauffassung ergab und ergibt sich aus den Überlegungen zur vorher erörterten Fallkonstellation. Zwar sind die beiden Konstellationen gewissermaßen konträr, denn während in der vorigen Konstellation das geschützte Verfahren Akten eines anderen Verfahrens einbezieht, gibt es hier seine Akten an ein anderes Verfahren, nämlich an das zu seinem Schutz stattfindende Strafverfahren, ab. Dennoch sind die beiden Konstellationen im Hinblick auf die hier erörterte Problematik funktional äquivalent. Ist nämlich das betreffende Schriftstück einmal im Wortlaut allgemeinkundig geworden, so kann das Ursprungsverfahren es sich nicht mehr „zurückholen“ und ein relatives oder gar absolutes Zitierverbot verhängen. In beiden Konstellationen einer „vermittelten“ Veröffentlichung ist daher der Tatbestand ausgeschlossen. Allerdings gilt dies in der zuletzt betrachteten Konstellation nur in dem Umfang, in dem das fragliche Schriftstück in den Urteilsgründen des sekundären Strafverfahrens wörtlich veröffentlicht worden ist, während es in der zuerst erörterten Konstellation in vollem Umfang zitierfähig bleibt, da das Ende des auf das erste Verfahren bezogenen Verbots sich auf das gesamte Schriftstück erstreckt hat.
38 RGSt 14, 342; OLG Dresden JW 1925, 1538; Schönke/Schröder/Lenckner/Perron Rn 44 mwN; aA Kuhlen NK Rn 29.
Untreue durch Verursachung straf- und bußgeldrechtlicher Sanktionen gegen den Vermögensinhaber? ULRICH WEBER
I. Einleitung 1. Zu der hier für Rechtsfolgen des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts gestellten Frage liegt, soweit ersichtlich, bislang keine veröffentlichte Rechtsprechung vor. In jüngerer Zeit bekanntgewordene Bestechungsdelikte, bei denen die Täter zugunsten von Unternehmen wie der SiemensAG gehandelt haben, lassen jedoch erwarten, dass sich die Gerichte nicht nur mit der Strafbarkeit der Täter wegen Bestechung, sondern auch mit ihrer Strafbarkeit nach § 266 StGB wegen des Auslösens von Sanktionen gegen das involvierte Unternehmen zu befassen haben werden. Nach Presseberichten vom 3.2.2008 (z. B. in der Süddeutschen Zeitung) hat die Siemens AG dieserhalb zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gegen der Bestechung schuldige Mitarbeiter geltend gemacht. Die nachstehend mitgeteilten Entscheidungen haben zwar die Hervorrufung anderer als strafrechtlicher, nämlich vorwiegend verbands- und parteienrechtlicher Sanktionen zum Gegenstand, erscheinen aber gleichwohl geeignet, Licht auf die untreuestrafrechtlichen Probleme auch der im folgenden erörterten straf- und bußgeldrechtlichen Sanktionen zu werfen. (1) Im Bundesligaskandal ging es um die Bestechung von Spielern der gegnerischen Mannschaft durch Vorstandsmitglieder der abstiegsbedrohten Arminia Bielefeld mit Vereinsgeldern zum Zwecke der Herbeiführung eines für diesen Verein günstigen Spielausgangs. Es sollte der Abstieg aus der 1. Bundesliga, verbunden mit ruinösen finanziellen Einbußen, vermieden werden. Untreuestrafrechtlich stellte sich die Frage der Schadenszufügung durch Heraufbeschwörung der Gefahr eines ebenfalls desaströsen Lizenzentzuges durch den DFB im Fall des Bekanntwerdens der Spielerbestechung. Der BGH (NJW 1975, 1234) hob die Verurteilung der Verantwortlichen wegen Untreue zum Nachteil der Arminia auf, weil das LG die schadensausgleichende Wirkung des
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durch die Bestechung erreichten zeitweiligen Verbleibs in der 1. Bundesliga nicht hinreichend berücksichtigt habe. (2) Im Beschluss des OLG Hamm NJW 1982, 190 (192) zu Sanktionen gegen den Asta wegen Verstößen einzelner Mitglieder gegen das Verbot allgemeinpolitischer Betätigung wurde der Vermögensschaden mit der Gefahr der Verhängung von Ordnungsgeldern gegen den Asta begründet und offengelassen, ob auch eine drohende Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG als Schaden gewertet werden könnte. (3) Im Fall Dr. Kohl, in dem das Strafverfahren wegen Untreue zum Nachteil der CDU vom LG Bonn (NStZ 2001, 375) gem. § 153 a StPO eingestellt wurde, kamen als Schaden die der Partei nach dem ParteienG drohenden Sanktionen (Zahlung des doppelten Betrags der nicht im Rechenschaftsbericht erwähnten Spenden) in Betracht. Eine Verantwortlichkeit von Dr. Kohl nach § 266 StGB wegen Veranlassung eines gegen die CDU angeordneten Verfalls oder einer gegen sie verhängten Verbandsgeldbuße kam nicht in Frage, weil Kohl durch die Entgegennahme der Spenden als solcher keine Straftat begangen hatte. – Als die genannten Sanktionen auslösende Straftat kommt seit der 8. Parteiengesetznovelle von 2002 das Rechnungslegungsdelikt nach § 31 d ParteienG in Betracht. Auf den Fall Dr. Kohl, der von 1993 bis 1998 spielte, ist diese Strafvorschrift wegen des Rückwirkungsverbots nicht anwendbar. (4) Im Fall Kanther (BGHSt 51, 100) kam als ein die CDU schädigender Umstand die Gefahr des Verlusts staatlicher Zuwendungen aus der Parteienförderung und die Rückforderung derartiger in der Vergangenheit gewährter Zuwendungen in Betracht (BGHSt 51, 100, 116 ff.). Der objektive Tatbestand des § 266 StGB wird insoweit in Gestalt einer schadensgleichen konkreten Vermögensgefährdung vom BGH im wesentlichen bejaht. Jedoch stellt der 2. Strafsenat an den diesbezüglichen (bedingten) Vorsatz bemerkenswert strenge Anforderungen und gelangt aus subjektiven Gründen zur Ablehnung einer Strafbarkeit. 2. In der neueren Literatur wird die Anwendbarkeit des § 266 StGB auf Fallgestaltungen wie die vorstehend geschilderten verstärkt behandelt. Sogar zwei Monographien sind dieser spezifischen Untreueproblematik gewidmet: die Frankfurter Habilitationsschrift von Saliger1 vor allem der Untreue im Zusammenhang mit Parteispenden,2 die Tübinger Dissertation von Stefan Burger der „Untreue (§ 266 StGB) durch das Auslösen von 1
Frank Saliger Parteiengesetz und Strafrecht, 2005. Neben der Strafbarkeit wegen Untreue wird die Verantwortlichkeit nach den Tatbeständen des Parteiengesetzes sowie wegen Betruges behandelt. 2
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Sanktionen zu Lasten von Unternehmen“.3 In beiden Arbeiten ist die übrige einschlägige Literatur lückenlos nachgewiesen. Ergänzend zu nennen ist das auf der Osnabrücker Strafrechtslehrertagung 2007 erstattete Referat von Thomas Rönnau zur „Untreue als Wirtschaftsdelikt“,4 in dem u. a. der Einsatz anvertrauten Vermögens zu Bestechungszwecken unter dem Gesichtspunkt des § 266 StGB erörtert wird.5 3. Im Folgenden kann naturgemäß die mögliche Untreuestrafbarkeit wegen Hervorrufung vonnachteiligen Folgen für täterfremdes Vermögen nicht umfassend behandelt werden. Vielmehr muss eine doppelte Eingrenzung erfolgen: bei der Umschreibung des Täterverhaltens auf strafbare Handlungen, wobei der Schwerpunkt bei aktiven Bestechungen gelegt wird, bei der Betrachtung vermögensbeeinträchtigender Rechtsfolgen im Wesentlichen auf den Verfall (§§ 73 ff. StGB) und die Verbandsgeldbuße (§ 30 OWiG). Ich habe den Spendel-Schüler Manfred Seebode, an dessen Würzburger Habilitation 1984 ich mitwirken konnte, als ausgeprägt liberalen Denker kennen und schätzen gelernt, der das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht auf das unbedingt Nötige beschränken möchte.6 So darf ich hoffen, dass ein Beitrag zu seiner Festschrift sein Interesse finden wird, der vor einer m. E. bedenklichen weiteren Ausuferung7 des Untreuetatbestandes warnen möchte. In diesem Sinne wird im Folgenden die Erfüllung zweier Tatbestandsmerkmale des § 266 StGB vornehmlich für den Fall geprüft, dass der Täter Sanktionen zu Lasten des von ihm zu betreuenden Vermögens auslöst: die Verletzung der Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen (II) sowie die Nachteilszufügung (III). Namentlich angesichts der oben 1 (4) angeführten Kanther-Entscheidung des BGH mit ihren strengen Anforderungen zum bedingten Vorsatz wäre es reizvoll, auch zur subjektiven Tatseite der Untreue Stellung zu nehmen. In dem hier nur begrenzt zur Verfügung stehenden Raum ist dies jedoch nicht möglich.
3 So der Titel der 2007 erschienenen Arbeit. – Burger stellt auf S. 7-76 alle Sanktionen dar, die zur Schadensbegründung i.S. des § 266 StGB führen können, also auch die verwaltungs-, steuer- und europarechtlichen. 4 Veröffentlicht in ZStW 119 (2007), 887 ff. 5 ZStW 119 (2007), 887 (919 ff.). 6 Erinnert sei an Seebodes Widerstand gegen die Einführung einer bußgeldbewehrten Gurtpflicht für Autofahrer (§§ 21 a, 49 Abs. 1 Nr. 20 a StVO) Mitte der 1980er Jahre; s. Seebode Freisprüche für „Gurtmuffel“, JR 1986, 265. 7 S. Zur Uferlosigkeit des § 266 StGB, die der Vorschrift sogar den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit eingetragen hat, z. B. Arzt/Weber Strafrecht Besonderer Teil, 2000, § 22 Rn. 45; Ransiek ZStW 116 (2004), 634 (640 ff.).
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II. Verletzung der Treupflicht 1. Handeln ohne Einverständnis des Geschäftsherrn Handelt der Treupflichtige ohne Einverständnis des Trägers des betreuten Vermögens (Geschäftsherrn), verwendet z.B. der Geschäftsführer einer GmbH oder der Angestellte eines Unternehmens auf eigene Faust Firmengelder zu Bestechungszwecken (§ 299 Abs. 2, §§ 333 ff. StGB), so liegt eine Treupflichtverletzung vor, und zwar auch dann, wenn der Täter dem Geschäftsherrn „etwas Gutes tun“, also mit der Zuwendung an den Dritten den Abschluss eines gewinnbringenden Vertrages zustandebringen oder die Genehmigung einer umweltgefährdenden Anlage erlangen möchte. Gewinnstreben für das betreute Vermögen schließt die Pflichtverletzung auch hier nicht aus, ebensowenig wie in den Fällen von Bürgermeistern, die Gelder der Gemeinde vorschriftswidrig für wertlose Kapitalanlagen verwenden, weil sie, wie der Neckarwestheimer Bürgermeister, den Versprechungen hoher Gewinne geglaubt hatten. – Bei pflichtwidrigem Handeln kommt allenfalls eine Rechtfertigung des Täters nach § 34 StGB (Notstand) in Betracht, wenn nur durch die Pflichtverletzung größerer Schaden von dem betreuten Vermögen abgewendet werden kann.8 – Geht die Sache trotz Pflichtverletzung im Ergebnis gut, wirkt sich also die Bestechung tatsächlich zum Vorteil des Geschäftsherrn aus, so stellt sich allerdings noch die Frage nach der von § 266 StGB geforderten Nachteilszufügung; dazu unten III.
2. Handeln mit Einverständnis des Geschäftsherrn § 266 StGB schützt, ebenso wie § 263 StGB, ausschließlich das Vermögen. Demgemäß bestimmen sich die Betreuungspflichten des für den Vermögensträger Tätigen ausschließlich nach dessen Willen. Und ebenso wie der Eigentümer einer Sache mit dieser nach Belieben verfahren kann, z. B. wirksam in deren Beschädigung oder Zueignung durch einen Dritten einwilligen kann, kann der Geschäftsherr über Tun und Lassen seines Verwalters grundsätzlich frei bestimmen. Ist der Geschäftsherr mit einem bestimmten Vorgehen des Treupflichtigen einverstanden, so fehlt es an einer Pflichtverletzung.9 Die Einwilligung führt also bei der Untreue zum Tatbestandsausschluss, sog. Einverständnis.10 Anders als z. B. das eine tatbestandsmäßige Wegnahme nach § 242 StGB ausschließende Einverständnis des Gewahr8
Wie im Falle BGHSt 12, 299. Beim Missbrauchstatbestand an einem Missbrauch; vgl. z. B. MK-Dierlamm § 266 Rn. 129. 10 H. M.; s. z. B. Arzt/Weber aaO (Fn. 7), § 22 Rn. 70 m. w. N. 9
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samsinhabers, bei dem es nur auf dessen natürlichen Willen ankommt,11 gelten für das den Tatbestand des § 266 StGB ausschließende Einverständnis jedoch Einwilligungsregeln,12 weil die Vermögensbetreuungspflicht und damit auch ihre Verletzung normativer und nicht rein tatsächlicher Natur sind.13 Die Frage ist allerdings, welche Anforderungen dann an die Wirksamkeit des Einverständnisses zu stellen sind, oder, anders gefragt, welche Schranken der Wirksamkeit der tatbestandsausschließenden Zustimmung entgegenstehen. Vollständige Übereinstimmung mit der (rechtfertigenden) Einwilligung dürfte insoweit bei den subjektiven Wirksamkeitsvoraussetzungen bestehen, so dass die anerkannten einwilligungshindernden Willensmängel auf Seiten des Zustimmenden zur Unwirksamkeit auch des auf § 266 StGB bezogenen Einverständnisses führen. Und ebenso wie die rechtfertigende Einwilligung ist selbstverständlich das tatbestandsausschließende Einverständnis nur wirksam, wenn es von den dazu befugten Personen oder Gremien erteilt wird. Auf vor allem beim Handeln im Interesse von Gesellschaften bestehende Zweifelsfragen hinsichtlich der Einwilligungszuständigkeit kann hier nicht weiter eingegangen werden.14 Schließlich unterliegt dieses Einverständnis auch gewissen objektiven Schranken. Dies gilt vor allem für das Handeln für Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, aber auch für privatrechtlich organisierte juristische Personen und Personenvereinigungen, die mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, etwa bei der Daseinsvorsorge, z. B. der Gewährleistung des öffentlichen Nahverkehrs betraut sind. So können sich Amtsträger in Kommunen und Kommunalverbänden auch dann nicht über zwingende Vorschriften des Gemeinderechts hinwegsetzen, wenn die Aufsichtsorgane dies billigen oder sogar dazu auffordern. Dagegen unterliegt das Finanzgebaren von privaten Vermögensträgern, seien es Einzel- oder juristische Personen oder Personenvereinigungen, grundsätzlich keinen Beschränkungen im dem Sinne, dass dem mit der Wahrnehmung der Vermögensinteressen Betrauten bestimmte Verhaltensweisen nicht wirksam gestattet werden könnten.15 Mit dem Charakter der Untreue als ausschließlich gegen das Vermögen gerich11
S. z. B. Schönke/Schröder/Eser StGB, 27. Aufl. 2006, § 242 Rn. 36. S. z. B. Arzt/Weber aaO (Fn. 7), § 22 Rn. 70; Fischer StGB, 55. Aufl. 2008, § 266 Rn. 51. 13 S. z. B. Fischer aaO (Fn. 12), § 266 Rn. 51. 14 S. dazu z. B. Tiedemann Der Untreuetatbestand – ein Mittel zur Begrenzung von Managerbezügen?, Weber-FS 2004, S. 319 (321 m. w. N.). 15 So z. B. auch NK-Kindhäuser 2. Aufl. 2005, § 266 Rn. 81, 113; Rönnau ZStW 119 (2007), 887 (923 ff. m. w. N. Fn. 142); Thomas Rieß-FS 2002, S. 795 (805). Anders die wohl h. M.; s. z. B. BGHSt 50, 331 (342); Fischer aaO (Fn. 12), § 266 Rn. 51 m.w.N. Auf die umstrittene Frage, ob Verstöße gegen das in § 30 GmbHG enthaltene Gebot der Erhaltung des Stammkapitals der GmbH zur Unwirksamkeit des Einverständnisses führen, kann hier nicht eingegangen werden; S. dazu Burger aaO (Fn. 3), S. 119 ff. Zum vergleichbaren Problem bei der Aktiengesellschaft (§§ 57 ff. AktG) vgl. Burger aaO (Fn. 3) S. 127 f. 12
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teter Straftat ist das Bestreben nicht vereinbar, den Schutz anderer Rechtsgüter dadurch erreichen zu wollen, dass dem tatbestandsausschließenden Verzicht des Geschäftsherrn auf Vermögensschutz die Wirksamkeit abgesprochen wird. Im Hinblick auf die hier ins Auge gefassten Bestechungsdelikte bedeutet das: Bliebe § 266 StGB trotz Einverständnis des Geschäftsherrn mit dem Zugriff auf sein Vermögen deshalb anwendbar, weil die freigegebenen Mittel zur Korruption verwendet werden sollen, so würde § 266 StGB sachfremd zur Ahndung von Bestechungsunrecht herangezogen. In der von Sternberg-Lieben16 begründeten Terminologie würde es sich um eine unzulässige Rechtsgutsvertauschung handeln.17 Ein weiteres Argument für die hier vertretene sittlich neutrale Einverständnislösung folgt daraus, dass die in § 228 StGB errichtete Einwilligungsschranke der Sittenwidrigkeit nach mittlerweile ganz h. M. ausschließlich für die Körperverletzungsdelikte gilt.18 Da sich schließlich ein einwilligungshindernder Rückgriff auf § 138 Abs. 1 BGB (Nichtigkeit sittenwidriger Rechtsgeschäfte) verbietet,19 ist als Ergebnis festzuhalten, dass eine tatbestandsmäßige Pflichtverletzung des Treupflichtigen nach § 266 StGB durch das Einverständnis des Geschäftsherrn auch dann ausgeschlossen wird, wenn der konsentierte Zugriff auf das Vermögen die Verfolgung strafbarer Zwecke, hier: Bestechung, ermöglichen soll.
III. Vermögensschaden 1. Da die Untreue Erfolgsdelikt ist, d. h. der Tatbestand des § 266 StGB den Eintritt eines Vermögensschadens verlangt, ist nach der Feststellung einer Pflichtverletzung (in den hier untersuchten Fallgestaltungen bei Vornahme einer nicht vom Vermögensträger gestatteten Bestechung, dazu oben II. 1.) noch zu erörtern, ob durch die Pflichtverletzung dem zu betreuenden Vermögen ein Nachteil zugefügt wurde.20 Für diese Schadensbegründung kommen zwei Umstände in Betracht: einmal die nach § 299 Abs. 2 oder nach §§ 333 ff. StGB tatbestandsmäßige Vorteilsgewährung aus Mitteln des 16
Sternberg-Lieben Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 512
ff. 17
Von einer Rechtsgutsvertauschung geht auch Rönnau ZStW 119 (2007), 887 (924) aus. S. dazu z. B. Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn. 112 m. w. N.; Schramm Untreue und Konsens, 2005, S. 224 f. – Insbesondere SternbergLieben aaO (Fn. 16), S. 136 ff. (Ergebnis S. 162 m. w. N. dieser Ansicht in Fn. 492) nimmt sogar Verfassungswidrigkeit und somit Nichtigkeit des § 228 StGB an. 19 Dazu Sternberg-Lieben aaO (Fn. 16), S. 132 ff. 20 Diese Prüfung obliegt auch den Vertretern der oben II. 2. abgelehnten Ansicht, ein wirksames Einverständnis in die Mittelverwendung zu Bestechungszwecken sei nicht möglich. 18
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betreuten Vermögens (dazu nachstehend 2), zum anderen die Auslösung von Sanktionen gegen den Geschäftsherrn, die dessen Vermögen belasten (dazu unten 3). 2. Für sich betrachtet führt die Mittelverwendung zu Bestechungszwecken zu einer Schmälerung des betreuten Vermögens. Ebenso wie über den Schaden beim Betrug ist allerdings auch über den Schaden bei der Untreue nach objektiv-wirtschaftlicher Betrachtung zu befinden (wirtschaftlicher Vermögensbegriff).21 Ein wichtiger, gerade auch in den hier behandelten Bestechungsfällen zum Tragen kommender Pfeiler des wirtschaftlichen Vermögensbegriffs ist die Saldierung, d. h. die Verrechnung des dem Opfer zugefügten Nachteils mit Vorteilen, die ihm durch die Tat zufließen.22 Für Bestechungsfälle wurde die Berücksichtigung eines derartigen Schadensausgleichs in der höchstrichterlichen Rechtsprechung vom BGH in der oben I. 1. (1) skizzierten Entscheidung NJW 1975, 1234 zum Bundesligaskandal nachdrücklich gefordert. Für Bestechungsfälle im Wirtschaftsverkehr bedeutet das, dass beim Handeln des Täters im Interesse des Geschäftsherrn zu prüfen ist, ob der aus dem zu betreuenden Vermögen geleisteten Bestechungssumme schadensausgleichende Vorteile des Vermögensträgers gegenüberstehen. Ob dies der Fall ist, ist naturgemäß in erster Linie eine Frage des konkreten Einzelfalles. Über den Einzelfall hinaus, lässt sich allerdings sagen, dass ein tatbestandsausschließender Schadensausgleich nicht mit der Begründung abgelehnt werden kann, Vorteile des Geschäftsherrn aus dem mittels Bestechung zustande gebrachten Vertrag düften nicht in Ansatz gebracht werden, weil dieser Vertrag, eben wegen der Bestechung, nichtig sei. Vielmehr ist mit BGH NJW 1999, 2266 von der Wirksamkeit eines durch Bestechung zustande gebrachten Vertrags auszugehen, es sei denn, dieser Vertrag verstoße seinerseits seinem Inhalt nach gegen § 134 oder § 138 StGB.23 Letzteres dürfte z. B. bei den mit der SiemensAG abgeschlossenen Verträgen jedoch nicht der Fall sein, so dass dem Unternehmen die vertraglichen Ansprüche uneingeschränkt zustehen und zu einem tatbestandsausschließenden Schadensausgleich führen können. Auch ein durch Bestechung bewirkter Verwaltungsakt ist wirksam (§§ 44, 48 VwVG) und ist, falls er nicht zurückgenommen wird, in seinem Wert bei der Saldierung des Schadens in Rechnung zu stellen. – Für umweltrechtliche Genehmigungen ist allerdings § 330 d Nr. 5 StGB zu beachten. Dort wird entgegen der verwaltungsrechtlichen Regelung für das Um21 S. zur Identität des Vermögens- und damit des Schadensbegriffs bei Betrug und Untreue sowie zur Herrschaft des wirtschaftlichen Vermögensbegriffes z.B. Arzt/Weber aaO (Fn. 7), § 22 Rn. 1 mit § 20 Rn. 87 ff. 22 S. dazu z. B. Arzt/Weber aaO (Fn. 7), § 20 Rn. 89 f. 23 Ebenso z. B. MK z. BGB (Mayer-Maly/Armbrüster), 4. Aufl. 2001, § 134 Rn. 67 m.w.N.
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weltstrafrecht von einem Handeln ohne Genehmigung u. a. dann ausgegangen, wenn die Genehmigung durch Bestechung erwirkt wurde.24 Eine dem § 330 d Nr. 5 StGB unterfallende Genehmigung dürfte, obwohl verwaltungsrechtlich wirksam, im Ergebnis wertlos und damit für den Schadensausgleich bedeutungslos sein. Steht zur Zeit der Aburteilung des Täters wegen Bestechung (§ 299 Abs. 2 oder §§ 333 ff. StGB) noch nicht definitiv fest, ob der dem betreuten Vermögen mit der Zahlung der Bestechungssumme zugefügten Schaden endgültig durch Vorteile aus dem zustandegebrachten Vertrag ausgeglichen wird, so darf der Angeklagte nicht mit der Begründung verurteilt werden, eine Kompensation sei nicht eingetreten. Vielmehr ist es nur recht und billig, quasi in Umkehrung der für die schadensgleiche Gefährdung entwickelten Kriterien25 zu fragen, wie nahe- oder fernliegend schadensausgleichende Umstände sind. Je nachdem ist das objektive Schadensmerkmal des § 266 StGB zu bejahen oder abzulehnen. 3. Führt wegen der vorstehend 2. skizzierten Verrechnung mit Vorteilen für das betreute Vermögen nicht bereits die Zahlung der Bestechungssumme einen Schaden i. S. des § 266 StGB herbei, so ist abschließend zu fragen, ob dies nicht durch die Auslösung von Sanktionen gegen den Vermögensträger geschieht. a) Zunächst ist zu den hier erörterten Rechtsfolgen „Verfall“ (§§ 73 ff. StGB) und „Verbandsgeldbuße“ (§ 30 OWiG)26 zu bemerken, dass ihre Verhängung nur dann zu einem Schaden des betreuten Vermögens führt, wenn sie der Höhe nach die erlangte Bereicherung übersteigen. Wird also z. B. durch die Verbandsgeldbuße lediglich der Gewinn abgeschöpft, der dem Geschäftsherrn aus dem mittels Bestechung zustande gebrachten Vertrag erwachsen ist, so ist der Vermögensstand derselbe wie vor der Bestechung, ist also kein Schaden entstanden.27 Beide Sanktionen, der Verfall und die Verbandsgeldbuße, sind jedoch so ausgestaltet, dass sie über die Gewinnabschöpfung hinausgreifen können, ja sogar sollen, und damit den Inhaber des betreuenden Vermögens schlechter stellen können als er ohne die Tat stehen würde, so dass ein Schaden entstanden ist.
24 S. dazu z. B. S/S/Cramer/Heine aaO (Fn. 11), § 330 d Rn. 23 ff.; Weber Zur Reichweite sektoraler gesetzlicher „Mißbrauchsklauseln“, insbesondere des § 330 d Nr. 5, Hirsch-FS 1999, S. 795. 25 S. z. B. Arzt/Weber aaO (Fn. 7), § 20 Rn. 97 ff.; Weber Rücktritt vom vermögensgefährdenden Betrug, Tiedemann-FS 2008, S. 649 (651 ff.). 26 S. zur Beschränkung der Untersuchung auf diese Sanktionen oben I. 3. 27 S. z. B. Burger aaO (Fn. 3), S. 16 (für den Verfall), 35 (für die Verbandsgeldbuße).
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Für den Verfall ergibt sich dies aus dem 1992 erfolgten Übergang vom Nettoprinzip zum Bruttoprinzip:28 In § 73 Abs. 1 StGB wurde der Begriff „Vermögensvorteil“ durch das Wort „etwas“ ersetzt, womit der Gesetzgeber erreichen wollte, dass der Vermögenszuwachs als solcher entzogen werden kann, ohne dass – wie beim Nettoprinzip – Aufwendungen, etwa auch der für eine Sache entrichtete Kaufpreis, zu berücksichtigen sind.29 Für die Verbandsgeldbuße tritt die über die Gewinnabschöpfung hinausgehende Reichweite am klarsten in dem u.a. in § 30 Abs. 1 OWiG erfassten Fall zutage, dass die juristische Personen u. dgl. nur bereichert werden sollte, ein dahingehender Erfolg aber nicht eingetreten ist. Weiter ist auf die gewinnunabhängigen Rahmen der Geldbuße in § 30 Abs. 2 OWiG hinzuweisen, schließlich auf den in § 30 Abs. 3 für anwendbar erklärten § 17 Abs. 4 OWiG, wonach die Geldbuße den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter aus der Ordnungswidrigkeit (bzw. Straftat) gezogen hat, übersteigen soll. Zur Erreichung dieses Anliegens kann das gesetzliche Höchstmaß der Geldbuße überschritten werden, § 17 Abs. 4 S. 2 OWiG. b) Soweit sie die Gewinnabschöpfung übersteigen, führen der Verfall und die Verbandsgeldbuße beim Geschäftsherrn zu einem Vermögensverlust, dessen Zurechnung auf den Bestechungstäter als tatbestandsmäßiger Nachteil i. S. des § 266 StGB auf der Hand zu liegen scheint. Im folgenden sind jedoch einige Bedenken vorzutragen, die m. E. Zweifel an der glatten Bejahung einer Strafbarkeit des Treupflichtigen wegen Untreue wecken. Allerdings können die aufgeworfenen Fragen im Rahmen dieses Beitrages nicht abschließend beantwortet werden. Vielleicht sind die Bemerkungen aber immerhin geeignet, vor einer unüberlegten Heranziehung des § 266 StGB zu warnen. aa) Zwar ist an der Kausalität der Bestechung für die den Inhaber des betreuten Vermögens treffenden Sanktionen nicht zu zweifeln. Aber wie steht es um den Rechtswidrigkeitszusammenhang?30 Die Sanktion gegen den Geschäftsherrn würde nämlich in gleicher Weise verhängt, wenn er die Bestechung gestattet und damit der Treupflichtige nicht pflichtwidrig i. S. des § 266 StGB gehandelt, also keine Untreue begangen hätte. So gesehen stünde die Untreue nicht in einem Rechtswidrigkeitszusammenhang mit der Sanktion. Oder muss die Alternative im Hinblick auf die Prüfung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs dahin gebildet werden, dass gar keine 28
G vom 28.2.1992, BGBl. I, 372. S. z.B. die prägnante Darstellung bei Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 73 Rn. 4-4c m.w.N. 30 S. dazu allgemein z.B. Baumann/Weber/Mitsch aaO (Fn. 18), § 14 Rn. 61, 84, 92 f., 100 sowie § 22 Rn. 49 ff. 29
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Bestechung erfolgt ist, z. B. weil sie der Geschäftsherr untersagt hätte, wenn er gefragt worden wäre? Daran schließt sich dann fast zwangsläufig die weitere Frage an, ob auch in Untreuefällen die von der Rechtsprechung für die ärztliche Operation ins Spiel gebrachte hypothetische Einwilligung31 herangezogen werden kann, mit der Konsequenz, dass es sich dabei um einen umfassenden, auch für die Vermögensdelikte geltenden und nicht auf die Einwilligung in die Körperverletzung beschränkten Rechtfertigungsgedanken handelte. bb) Wer den vorstehend aa) gegen den Rechtswidrigkeitszusammenhang geltend gemachten Bedenken nicht zu folgen vermag, sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob es sich bei den hervorgerufenen Sanktionen nach §§ 73 ff. StGB und § 30 OWiG um Vermögenseinbußen handelt, die einem anderen angelastet und damit dem Träger des zu betreuenden Vermögens abgenommen werden dürfen. Die zivilrechtliche Folge der Bejahung eines Vermögensschadens nach § 266 StGB wäre ja, dass der dann auch wegen Untreue verantwortliche Bestechungstäter dem Geschäftsherrn nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. mit § 266 StGB32 schadensersatzpflichtig wäre.33 Gegen eine derartige Befreiung des Vermögensträgers von den Lasten eines Verfalls oder einer Verbandsgeldbuße spricht der Zweck, der mit diesen Sanktionen verfolgt wird: Seit Einführung des Bruttoprinzips34 lässt sich der Verfall nicht mehr (allein) kondiktionsrechtlich begründen, sondern die über die Gewinnabschöpfung hinausgehende Übelszufügung gegen den Vermögensträger lässt sich am überzeugesten damit erklären, dass der Maßnahme ein strafähnlicher Charakter zukommt.35 Desgleichen werden mit der Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG weitere Zwecke als die Abschöpfung der der juristischen Person oder Personenvereinigung infolge des Handelns der natürlichen Person zugeflossenen Vorteile verfolgt.36 Vergleichbar § 831 BGB soll der Verband für die nicht hinreichende Auswahl und Überwachung seiner Organe verantwortlich gemacht werden. Tiedemann37 spricht sogar von einem Organisationsver-
31 S. z. B. BGH JZ 2004, 800. Dazu – kritisch – z. B. Arzt/Weber Strafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl. 2008, § 6 Rn. 106 c-g. 32 Wie auch bei anderen das Individualvermögen schützenden Strafvorschriften, etwa §§ 253 und 263 StGB, handelt es sich bei § 266 StGB zweifellos um ein Schutzgesetz. 33 Daneben würden sich Schadensersatzansprüche aus dem zwischen den Beteiligten bestehenden Dienstvertrag ergeben. 34 S. dazu oben 3. a. 35 So z. B. Lackner/Kühl aaO (Fn. 29), § 73 Rn. 4 b m. w. N., auch anderer Auffassungen. 36 S. zur gewinnunabhängigen Ausgestaltung des § 30 OWiG bereits oben 3. a. 37 NJW 1988, 1169, 1171 ff.
Untreue durch Verursachung straf- und bußgeldrechtlicher Sanktionen
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schulden. Präventiv soll der Verband zur künftigen Sorgfalt bei der vorstehend genannten Auswahl und Überwachung angehalten werden.38 Die repressive und präventive Zweckrichtung sowohl des Verfalls als auch der Verbandsgeldbuße legen den Schluss nahe, dass diese Sanktionen ausschließlich den Träger des zu betreuenden Vermögens treffen sollen, ohne die Möglichkeit der Abwälzung auf andere. Aber auch die beiden Sanktionen zukommende Funktion der Gewinnabschöpfung würde durch die Abwälzung auf andere im Wege des Schadensersatzes zunichte gemacht; denn z.B. der juristischen Person oder Personenvereinigung würde dann entgegen der Intention des Gesetzgebers die Bereicherung im Ergebnis erhalten. Was den sanktionsauslösenden Täter anlangt, so wird von Rechtsprechung39 und Literatur40 die Vermeidung einer Doppelsanktion gefordert. Ist der Täter am Vermögen der juristischen Person oder Personenvereinigung beteiligt, so ist dies bei der Bemessung der Geldbuße für die begangene Ordnungswidrigkeit und der Bemessung der Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG zu berücksichtigen. Dem Verbot der zweifachen Ahndung würde besonders intensiv zuwidergehandelt, wenn der Täter neben der gegen ihn verhängten Strafe oder Geldbuße auch die Lasten der Sanktion gegen die juristische Person oder Personenvereinigung tragen müsste. Für den Verfall ist auch darauf hinzuweisen, dass er zu den Maßnahmen gehört, die Gegenstand einer Strafvereitelung sein können, § 258 Abs. 1 und 2 i. V. mit § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB. Eine Verpflichtung des Handelnden zum Schadensersatz hätte also strafvereitelnde Wirkung. – Die Vereitelung der Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG unterfällt zwar nicht dem § 258 StGB, dürfte aber allemal anrüchig sein. Den vorstehend dargelegten Bedenken gegen einen Ausgleich des Verfalls und der Verbandsgeldbuße im Wege des Schadensersatzes ist seitens des Strafrechts dadurch Rechnung zu tragen, dass die Verursachung dieser Sanktionen bereits nicht als Schaden i. S. des § 266 StGB bewertet wird. cc) Wer sich von den unter aa) und bb) vorgetragenen Argumenten nicht überzeugen lässt und die Erfüllung des Nachteilsmerkmals des § 266 StGB nicht ausschließen möchte, muss bei der Schadensfeststellung Schwierigkeiten gewärtigen. In der Regel wird nämlich zur Zeit der Aburteilung des Täters wegen Bestechung noch nicht feststehen, ob dem betreuten Vermögen ein endgültiger Schaden entstanden ist. Denn ob gegen den Vermögens38 S. zu den mit § 30 OWiG verfolgten Zwecken z.B. Mitsch Recht der Ordnungswidrigkeit, 2. Aufl. 2005, § 16 Rn. 6 f.; Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Rogall), 3. Aufl. 2006, § 30 Rn. 16 ff. 39 OLG Hamm NJW 1975, 1851. 40 S. die Nachweise bei Burger aaO (Fn. 3), S. 37/38.
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träger eine Sanktion zu verhängen ist, hängt gerade davon ab, dass der Handelnde eine rechtswidrige Tat, hier eine Bestechung begangen hat; vgl. für den Verfall § 73 Abs. 3 i. V. mit Abs. 1 StGB, für die Verbandsgeldbuße § 30 Abs. 1 OWiG. Wie Burger41 zutreffend darlegt, stehen Bestechung und Untreue im Verhältnis der Tateinheit, § 299 Abs. 2 (oder §§ 333 ff.), § 266, § 52 StGB. Über die Untreue muss im selben Verfahren wie über die Bestechung befunden werden, da einem späteren Verfahren wegen Untreue (etwa erst nach Entscheidung über die Sanktion gegen den Vermögensträger) das Verbot des „ne bis in idem“ (Art. 103 Abs. 3 GG) entgegenstünde. Das bedeutet, dass die Schadensfeststellung i. S. des § 266 StGB nur nach den problematischen Grundsätzen der schadensgleichen Gefährdung erfolgen kann. Im Hinblick auf den wirtschaftlichen Vermögensbegriff spielt dann vor allem die Entdeckungswahrscheinlichkeit im Zeitpunkt der Tatbegehung eine Rolle.42 Auf die damit verbundenen beträchtlichen Unsicherheiten kann hier nicht weiter eingegangen werden. Nicht verhehlt werden soll allerdings ein Unbehagen daran, dass der schlaue und gerissene Täter, der das Entdeckungsrisiko minimiert, besser dasteht als der eher einfältige.
IV. Ergebnisse 1. a) Ist der Vermögensträger mit der Mittelverwendung zu Bestechungszwecken einverstanden, so fehlt es an einer Treupflichtverletzung des Handelnden i. S. des § 266 StGB. b) Liegt kein Einverständnis vor, so verletzt der Bestechungstäter seine Treupflicht, auch wenn er das Beste für den Geschäftsherrn will. 2. Wird eine Treupflichtverletzung bejaht, so stößt die Feststellung eines durch die Auslösung von Sanktionen herbeigeführten Vermögensschadens i. S. des § 266 StGB auf m. E. unüberwindliche Schwierigkeiten (Rechtswidrigkeitszusammenhang?, Verbot der Schadensabwälzung auf den Handelnden?, schadensgleiche Vermögensgefährdung?). Deshalb wird vorgeschlagen, auf die Heranziehung des § 266 StGB neben der Strafbarkeit wegen Bestechung zu verzichten.
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AaO (Fn. 3), S. 193/194. S. dazu und gegen eine normative Erweiterung des Schadensbegriffs z. B. Burger aaO (Fn. 3), S. 214 ff. (220 ff.). 42
Begründet die Sachgefahr einen Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB? JAN ZOPFS
Manfred Seebode hat in seinem Beitrag in der Festschrift für Kohlmann1 zur Berechenbarkeit der strafrechtlichen Hilfspflicht aus § 323c StGB darauf hingewiesen, dass einer „anhaltende[n] Erosion der strafrechtlichen Bestimmtheit“2 – nicht nur (aber eben gerade auch) bei § 323c StGB – weder vom Gesetzgeber3 noch seitens der Rechtsprechung4 entgegengetreten werde. Es sei deshalb Aufgabe der Literatur, die Konkretisierungen zur Eingrenzung des Tatbestandes vorzunehmen. So spricht er sich nachdrücklich für eine „pflichtenbegrenzende Konkretisierung“5 des Nothilfegebots aus und weist nach, dass die Auslegung des Begriffs des Unglücksfalls durch die hM mit der von ihm angemahnten restriktiven Interpretation der Tatbestandsmerkmale des § 323c StGB6 nicht vereinbar ist.7 So hält er den Begriff des Unglücksfalls für zu unbestimmt, wenngleich das Gebot zur restriktiven Interpretation einen mehr oder weniger umfassenden Ausschluss von Sachgefahren gebieten würde.8 Für einen solchen Ausschluss der Sachgefahr sprechen sich indes nur vereinzelte Stimmen in der Literatur aus. Die überwiegende Ansicht im 1
Seebode, FS für Kohlmann, hrsg. v. H. J. Hirsch u. a., 2003, S. 279 ff. Seebode (Fn. 1), S. 294. 3 So unterlasse dieser, sei es aus Bequemlichkeit oder aus Nachlässigkeit, die notwendige gesetzliche Bestimmung derjenigen Gefahren, denen im Wege einer allgemeinen strafrechtlichen Hilfspflicht begegnet werden soll, vgl. Seebode (Fn. 1), S. 293. 4 Diese schätze vielmehr aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit die flexiblen Vorgaben des Gesetzgebers, was zu einer Herabstufung des Gesetzlichkeitsprinzips führe (das Bestimmtheitsgebot sei zum Bestimmbarkeitsgebot geworden), Seebode (Fn. 1), S. 293 f. mit Fn. 96 ebd. 5 Seebode (Fn. 1), S. 284 im Anschluss an seinen Leipziger Kollegen Michael Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt, 2001, S. 331. 6 Dass das Korrektiv der Zumutbarkeit den generellen Anwendungsbereich der Hilfspflicht nicht konturieren kann, sondern mit der Anwendung im Einzelfall eher das Gegenteil bewirkt, hat Seebode überzeugend dargelegt (Fn. 1), S. 290 ff. 7 Seebode (Fn. 1), S. 285 ff. 8 Seebode (Fn. 1), S. 289 f. mit den Nachweisen in Fn. 64 ebd. 2
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Schrifttum bezieht ebenso wie die Rechtsprechung die Sachgefahren bei der Bestimmung des Unglücksfalls mit ein. Dabei schließt sie an eine vom Reichsgericht geprägte Definition an, die – wie noch darzulegen ist – in der Kommentarliteratur schon zur Übertretungsvorschrift des § 360 Nr. 10 RStGB entwickelt worden ist. Diese rechtsgeschichtliche Entwicklung führt zu der Frage, ob eine Auslegung, die unter anderen gesetzlichen Vorgaben entstanden ist, auf die gegenwärtige Gesetzesfassung des § 323c StGB übertragen werden darf. Um der eingangs erwähnten Aufforderung des Jubilars zu folgen und den Begriff des Unglücksfalls zumindest in diesem Teilbereich näher zu konkretisieren, wird anhand der klassischen Auslegungsmethoden weiter auch zu untersuchen sein, welche Aspekte für eine Einbeziehung der Sachgefahr in den Begriff des Unglücksfalls sprechen.
I. Der gegenwärtige Meinungsstand In seinen Anfangsjahren definierte der Bundesgerichtshof den Unglücksfall im Anschluss an die Rechtsprechung des Reichsgerichts9 als „ein plötzlich eintretendes Ereignis, das erheblichen Schaden an Menschen oder Sachen anrichtet und weiteren Schaden zu verursachen droht.“10 Der Große Strafsenat hat im Jahre 1954 die Definition dahingehend modifiziert,11 dass ein Ereignis genügt, welches „eine erhebliche Gefahr bringt oder zu bringen droht“.12 Diese Modifikation ist sprachlich nicht geglückt. Mit dieser Änderung sollte nämlich nicht auf ein Vorliegen der Gefahr, sondern nur auf das zwingende Erfordernis eines bereits eingetretenen Schadens verzichtet werden.13 Mit anderen Worten: Seit 1954 soll genügen, dass ein Schaden droht (= also die Gefahr eines Schadenseintritts besteht). Lässt man hingegen eine nur drohende Gefahr ausreichen, so wird nunmehr auch eine Situation erfasst, die derjenigen, in der die Gefahr bereits besteht, noch vorgelagert ist.14 Gleichwohl definiert die Rechtsprechung des BGH den Unglücksfall 9
RGSt 75, 68 (70); 160 (162). Vgl. auch RG DR 1940, 2063. BGHSt 2, 150 (151); 3, 65 (66); BGH NJW 1954, 728 (729). Ebenso BayObLG NJW 1953, 556 (556). 11 Ob dieser Modifikation zu folgen oder schon wegen des Wortlauts an der Voraussetzung festzuhalten ist, dass ein Schaden auch eingetreten sein muss (so Seebode [Fn. 1], S. 286 f.), soll hier nicht näher untersucht werden. 12 BGHSt 6, 147 (152). 13 Nicht treffend daher die Definition bei Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 5. Aufl. 1956, § 67 I. 1. a. bb., wenn dort ein Ereignis vorausgesetzt wird, welches einen Schaden verursacht hat oder diesen zu verursachen droht; dazu auch LK-Spendel, 11. Aufl., Stand: 10/1995, § 323c Rn. 39. Vgl. auch BGH NJW 1954, 728 (729: bloße Sachbeschädigung, die keine weitere Gefahr in sich birgt, genügt nicht). 14 Treffend hierzu Geilen Jura 1983, 78 (82) und LK-Spendel (Fn. 13) Rn. 42. 10
Begründet die Sachgefahr einen Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB? 451
seitdem als „jedes mit einer gewissen Plötzlichkeit eintretende Ereignis, das eine erhebliche Gefahr bringt oder zu bringen droht“15 oder sieht in Unglücksfällen „nur solche plötzlich eintretenden Ereignisse, die erhebliche Schäden an Personen (oder Sachen) hervorrufen und weiteren Schaden zu verursachen drohen“, um dann ergänzend hinzuzufügen: „es müssen zumindest erhebliche Gefahren für Personen oder Sachen drohen“.16 Ein Teil der Literatur folgt der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und verlangt ein plötzliches Ereignis, das eine erhebliche Gefahr für Personen oder Sachen bringt.17 Nach dieser Definition würde jedoch bereits dann ein Unglücksfall vorliegen, wenn eine geringwertige Sache in erhebliche Gefahr gerät. Daher wird vielfach eine „Gefahr für erhebliche Sachwerte“18 oder eine „Gefahr eines erheblichen Schadens für fremde Sachen von bedeutendem Wert“19 gefordert. Andere beziehen Sachgefahren nur ein, wenn im Schadensfalle die bürgerliche Existenz des Opfers bedroht werden würde. Denn nur in diesem Fall sei das Opfer im Kern seiner Rechtssubjektivität beeinträchtigt, erst dann sei Jedermann zur Hilfeleistung verpflichtet.20 Nachdem Horst Schröder zunächst die von Schönke befürwortete Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fortgeführt hatte, hat er sich in der 10. Auflage seines Strafrechtskommentars dafür ausgesprochen, die Sachgefahr als Voraussetzung eines Unglücksfalls grundsätzlich nicht hinreichen zu lassen:21 Da der Unglücksfall auch bei deliktischen Angriffen bejaht werde, würde die Einbeziehung von Sachgefahren dazu führen, dass jeder 15 BGH NJW 1983, 350 (351); dem folgend OLG Düsseldorf NJW 1991, 2979 (2979). Hervorhebung vom Verf. 16 BGHR StGB § 323c Unglücksfall 2; Hervorhebungen vom Verf. Ebenso BGHR aaO. Unglücksfall 1, während bei BGHR aaO. Unglücksfall 3 (= MDR 1993, 721) treffender von einem drohenden Schaden die Rede ist. 17 So Lackner/Kühl, 26. Aufl. 2007, § 323c Rn. 2 unter Hinweis darauf, dass dies die hM sei. Ebenso Tröndle/Fischer, 54. Aufl. 2007, § 323c Rn. 2a (Gefahr für ein Individualrechtsgut – Sachgefahr genügt); ähnlich LPK-Kindhäuser, 3. Aufl. 2006, § 323c Rn. 4, allerdings mit der Beschränkung auf die Gefahr eines erheblichen Schadens. 18 LK-Spendel (Fn. 13) Rn. 43 f.; ähnlich: Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT-2, 9. Aufl. 2005, § 55 Rn. 14 und Rengier, BT II, 8. Aufl. 2007, § 42 Rn. 3 (bedeutende Sachwerte); SK-StGB-Rudolphi, Stand: 10/1999, § 323c Rn. 5 (Sachen von bedeutendem Wert); Geilen, Jura 1983, 78 (87: Gefahr erheblicher Sachschäden); Geppert Jura 2005, 39 (42). 19 Küper, Strafrecht BT, 7. Aufl. 2008, S. 310; Wessels/Hettinger, BT/1, 31. Aufl. 2007, Rn. 1044; ähnlich MK-Freund, 1. Aufl. 2006, § 323c Rn. 26. 20 NK-Seelmann, 1. Aufl., Stand: 1/1995, § 323c Rn. 12; ders. JuS 1995, 281 (284); NKWohlers, 2. Aufl. 2005, § 323c Rn. 6; ähnlich Pawlik GA 1995, 360 (367). 21 Schönke/Schröder, 10. Aufl. 1961, § 330c Anm. I. 1. sowie alle nachfolgenden Auflagen des Schönke/Schröder, zuletzt Sch/Schr/Cramer/Sternberg-Lieben, 27. Aufl. 2006, § 323c Rn. 5. Ähnlich Otto, BT, 7. Aufl. 2005, § 67 Rn. 4 (Unglücksfall sei einerseits der gemeinen Gefahr gleichgestellt und könne sie andererseits nicht überflüssig machen); Haubrich, Die unterlassene Hilfeleistung, 2001, S. 245 ff., insb. S. 250-253; Hoffmann GA 2002, 385 (391 f.).
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gegen Sachbeschädigungen oder Diebstähle eintreten müsse;22 im Übrigen bestünde kein kriminalpolitisches Bedürfnis, jeden – etwa bei einem drohenden Ernteschaden – zur Hilfe zu verpflichten. Schließlich werden Sachgefahren als Auslöser der Hilfeleistungspflicht schlechthin (also nicht nur als Voraussetzung eines Unglücksfalls) ausgeschlossen. Insoweit wird darauf verwiesen, dass der Sachverlust einen kalkulierbaren oder ersetzbaren Schaden darstelle, der eine solidarische Hilfspflicht nicht begründen könne.23 Andere verweisen darauf, dass das Eigentum als ein dem Subjekt eher zufällig und ungleichmäßig zugeordneter Gegenstand die Pflicht zu solidarisch tätiger Hilfe nicht auslösen könne (anderes gelte bei Rechtsgütern, die allen gleichermaßen zukommen).24 Dieser kurze Überblick zu der Frage, ob der Unglücksfall auch drohende Sachschäden erfasst, verdeutlicht zum einen die vom Jubilar betonte Anwendungsunsicherheit:25 Muss man eingreifen, wenn ein Einbruch im Nachbarhaus bevorsteht, wenn ein Graffitisprayer an der fremden Hauswand tätig ist, oder wenn man befürchten muss, dass der Keller des Nachbarn aufgrund einer defekten Hausleitung unter Wasser gesetzt wird? Ist die bürgerliche Existenz eines Wohnsitzlosen (oder hat dieser keine?) bedroht, wenn sein Fahrrad mit seiner gesamten Habe entwendet wird? Und was gilt eigentlich bei Vermögensstraftaten? Zum anderen zeigt der Überblick aber auch, dass diejenige Ansicht, die Sachgefahren unter den Begriff des Unglücksfalls subsumiert, ein Begründungsdefizit aufweist. Deren Argumentation richtet sich vornehmlich gegen
22 Dies wurde in den Folgeauflagen dann mit dem Hinweis auf § 138 StGB gestützt, der keine Anzeigepflicht bei geplanten Vermögens- und Eigentumsstraftaten vorsehe; ebenso Frellesen, Die Zumutbarkeit der Hilfeleistung, 1980, S. 153. Dagegen wandte sich Geilen Jura 1983, 78 (86) mit dem Hinweis auf Delikte wie die länger dauernde Freiheitsberaubung oder die schwere Körperverletzung, die als Unglücksfall erfasst seien, obwohl sie in § 138 nicht aufgeführt würden; krit. auch LK-Spendel (Fn. 13) Rn. 45. Vermittelnd MK-Freund (Fn. 19) Rn. 26 in Fn. 47 („Indizcharakter“ des § 138 StGB). 23 Frellesen (Fn. 22), S. 153 f.; Heil, Die Folgen der unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB, 2001, S. 61-64 (eine Ausnahme will sie bei „völliger Zerstörung der Lebensgrundlagen“ anerkennen); Vermander, Unfallsituation und Hilfspflicht im Rahmen des § 330c StGB, S. 24 ff., S. 50.; Im Ergebnis auch Arzt/Weber, Strafrecht BT, 2000, § 39 Rn. 3. 24 Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt, 2001, S. 302-306, S. 334 ff.; ebenso Momsen, Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten, 2006, S. 420 f.; ähnlich Harzer, Die tatbestandsmäßige Situation der unterlassenen Hilfeleistung, 1999, S. 105. 25 Hier ließe sich einwenden, dass die Fälle, in denen die Sachgefahr einen Unglücksfall begründet, praxisfern (Arzt/Weber [Fn. 23]; vgl. auch die empirische Untersuchung von v. Danwitz, Die justizielle Verarbeitung von Verstößen gegen § 323c StGB, 2002, S. 32 und S. 82 ff.) und damit für den Rechtsanwender irrelevant sind. Dies ändert jedoch nichts an der Unsicherheit desjenigen, der bei Strafe zum Handeln aufgefordert ist.
Begründet die Sachgefahr einen Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB? 453
die Kritik der Gegenansicht, lässt aber Argumente,26 die für eine Einbeziehung der Sachgefahr sprechen, vermissen.
II. Zur Auslegung des Unglücksfalls in § 360 Nr. 10 RStGB Das Reichsgericht hat an eine Definition des Unglücksfalls angeknüpft, die Jahre vorher zu § 360 Nr. 10 RStGB entwickelt wurde. Diese Begriffsbestimmung lässt sich aber nicht unbesehen auf die seit 1935 bestehende allgemeine Hilfsverpflichtung übertragen. 1. In der Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde – soweit ersichtlich – erstmals im Jahre 1940 der Unglücksfall in § 330c StGB a. F. als Ereignis definiert, welches „erheblichen Schaden an Personen oder Sachen verursacht und weiteren Schaden besorgen läßt.“27 Diese Begriffsbestimmung findet sich in vergleichbarer Weise bereits in den Kommentierungen zu § 360 Nr. 10 RStGB, der im Jahre 1935 durch § 330c StGB a. F.28 abgelöst wurde. So wird bei v. Olshausen der Unglücksfall als „ein Unfall von erheblicher Bedeutung hinsichtlich der Verletzung von Personen oder Sachen“ definiert, „der auch den Eintritt weiteren Schadens besorgen läßt“.29 Bei Ebermayer/Lobe/Rosenberg (Leipziger Kommentar) findet sich die später vom Reichsgericht verwendete Definition des Unglücksfalls als „plötzlich eintretendes Ereignis, welches erheblichen Schaden verursacht und weiteren Schaden zu verursachen droht“.30 Hier wird zwar nicht in der Definition selbst, wohl aber in der Kommentierung zwischen Personen- und Sachge-
26 Die dazu vorgetragenen Gesichtspunkte wirken eher vordergründig (Eigentum sei als Individualrechtsgut nicht auszuschließen – in dieser Richtung Geilen Jura 1983, 78 [87] – bzw. einmalige Kunstgegenstände müssen gerettet werden – so LK-Spendel [Fn. 13] Rn. 43 f.). Sie werden zudem durch den Hinweis auf die notwendige Erheblichkeit des Sachwerts und die Zumutbarkeit (als Regulativ) relativiert. 27 RG DR 1940, 2063 (Hervorhebung vom Verf.), ebenso RGSt 75, 68 (70) und 77, 301 (303), statt „besorgen lässt“ hieß es nunmehr „zu verursachen drohe“. Zuvor wurde in RGSt 71, 187 (189) und 200 (203) zwar eine ähnliche Definition verwendet („Ereignis, das einen erheblichen Schaden verursacht und weiteren Schaden zu verursachen droht“), ohne jedoch zwischen Personen- und Sachschäden zu differenzieren. 28 Dieser lautete: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies nach gesundem Volksempfinden seine Pflicht ist, insbesondere wer der polizeilichen Aufforderung zur Hilfeleistung nicht nachkommt, obwohl er der Aufforderung ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten genügen kann, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“. 29 v. Olshausen, StGB für das Deutsche Reich, 11. Aufl. 1927, § 360 Anm. b) Į. 30 Ebermayer/Lobe/Rosenberg, Reichs-Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 1922, § 360 Anm. X. 3.
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fahren differenziert.31 Frank unterschied in der Definition des Unglücksfalles ebenfalls nicht zwischen Personen- und Sachschäden.32 Er ging aber schon seit der Erstauflage seines Kommentars33 davon aus, dass die drohende Verletzung irgend eines Rechtsguts genüge, weshalb auch Vermögensschäden einbezogen seien. Ebenso ließ es v. Liszt in seinem Lehrbuch des Strafrechts für die Begriffe „Unglücksfall“ oder „gemeine Gefahr“ ausreichen, dass nur eine Vermögensgefahr besteht, und nannte als Beispiel dafür den Raupenfraß.34 Auch wenn das Beispiel bei v. Liszt nicht näher belegt wird, beruht es mit großer Wahrscheinlichkeit auf einer Entscheidung des OLG München vom 27. Juni 1891,35 in der jedoch nur ausgesprochen worden war, dass sich die gemeine Gefahr (auch) auf fremdes Eigentum beziehen könne (Nichthilfe bei forstpolizeilich angeordneter Schädlingsbekämpfung).36 Diese weite Auslegung des Unglücksfalls ist darauf zurückzuführen, dass die frühere Regelung der Nothilfepflicht in der Übertretungsnorm des § 360 Nr. 10 RStGB eine grundlegend andere Schutzrichtung verfolgte als die späteren Vergehenstatbestände in § 330c StGB a. F. bzw. § 323c StGB. § 360 Nr. 10 RStGB: „Mit Geldstrafe oder Haft wird bestraft: 10. wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Noth von der Polizeibehörde oder deren Vertreter zur Hülfe aufgefordert, keine Folge leistet, obgleich er der Aufforderung ohne erhebliche eigene Gefahr genügen konnte“. Bestraft wurde die Verweigerung der Hilfe also, weil sie einen Ungehorsam gegenüber der behördlichen Anordnung zum Ausdruck brachte,37 nicht aber deshalb, weil mit der Nichtleistung der Nothilfe eine allgemeine Solidaritätspflicht missachtet oder gegen eine generell geltende Verpflichtung 31 So will Rosenberg wegen der Erheblichkeit des Schadens „geringfügige Beschädigungen an Gesundheit oder Eigentum“ von dem Unglücksfall ausnehmen. 32 Frank, StGB, 18. Aufl. 1931, § 360 Anm. X. 1. a). Mit der 15. Aufl. 1924 hatte Frank die Definition von Ebermayer/Lobe/Rosenberg übernommen. 33 Frank, StGB, 1. Aufl. 1897, § 360 Anm. X. 1. a („ein Fall, bei dem Jemand in irgend einem Rechtsgute verletzt worden ist. Es genügt also auch ein Vermögensunglück.“). 34 v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 19. Aufl. 1912, S. 628. 35 OLG München in GA 1892 (Band 39), 352. Die Entscheidung findet sich auch in einigen Kommentierungen, vgl. z. B. Oppenhoff, StGB für das Deutsche Reich, 14. Aufl. 1901, § 360 Anm. 71a (zur gemeinen Gefahr). 36 Gemeingefahr für die Forstwirtschaft durch den sog. Nonnenschmetterling (Raupe des kl. Fichtenspinners). 37 Als Beispiel der Nichthilfe nannte Hahn, Strafgesetzbuch für das Dt. Reich, 3. Aufl. 1877, § 360 Anm. 17, die Verweigerung einer vom Bürgermeister angeordneten Brandwache; zur Schutzrichtung des § 360 Nr. 10 RStGB auch Kohlrausch-Lange, StGB, 43. Aufl. 1961, S. 670 und LK-Spendel (Fn. 13) Rn. 1. Weitere Nachweise bei Haubrich (Fn. 21), S. 94 ff.
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verstoßen wird, in Gefahr geratene Rechtsgüter zu retten. Da die angeordneten Maßnahmen der Polizei auf eine Gefahrenabwehr ausgerichtet waren, kam der Norm nur als Reflex auch eine Schutzwirkung zugunsten der im Notfall zu rettenden allgemeinen und individuellen Rechtsgüter zu.38 Daraus folgt jedoch nicht, dass diese Norm unausgesprochen (bzw. begrenzt durch die polizeiliche Aufforderung) die allgemeine Pflicht voraussetzte, zum Schutze eines in Not Geratenen tätig zu werden.39 Eine solche allgemeine Rettungspflicht wurde nämlich stets gesondert von der Pflicht betrachtet, der polizeilichen Aufforderung zur Hilfeleistung nachzukommen. 2. Deutlich wird dies bereits in den Regelungen der Partikularstrafgesetzbücher. So lässt sich § 360 Nr. 10 RStGB auf den nahezu wortlautidentischen § 340 Nr. 7 prStGB (1851) zurückführen, der seinerseits auf Art. 475 Nr. 12 des code pénal (1810) zurückgeht,40 der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den später preußischen linksrheinischen Gebieten fortgegolten hat.41 In den anderen preußischen Gebieten galt indes mit § 782 (II. Teil, Titel 20) des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (1794) eine allgemeine strafbewehrte Verpflichtung, andere „aus der Hand der Räuber oder Mörder, aus Wasser- oder Feuersnoth, oder aus einer anderen drohenden Lebensgefahr“ zu retten.42 Obwohl in den Beratungen zur Abfassung des § 340 Nr. 7 prStGB auf den unterschiedlichen Charakter der beiden Vorschriften hingewiesen wurde,43 entschied sich der preußische Gesetzgeber dafür, mit § 340 Nr. 7 prStGB allein den Ungehorsam gegenüber der polizeilichen Anordnung zu bestrafen und auf eine allgemeine Verpflichtung zur Lebensrettung im preußischen Strafgesetzbuch zu verzichten. Dabei blieb es, obwohl sich bald nach dem Inkrafttreten der Vorschrift zeigte, dass die Nichthilfe bei Lebensgefahren nicht bestraft werden konnte.44 Die anderen deutschen Partikularstrafgesetzbücher kannten zwar größtenteils eine Verpflichtung, bevorstehende Verbrechen anzuzeigen,45 eine 38
Weitergehender Haubrich (Fn. 21), S. 96. Dahingehend aber Haubrich (Fn. 21), S. 89 zu § 340 Nr. 7 prStGB und S. 94 zu § 360 Nr. 10 RStGB. 40 Näher dazu Gieseler, Unterlassene Hilfeleistung – § 323c StGB, S. 5-19. 41 Dieser galt nicht nur für den Fall einer polizeilichen Aufforderung bei einem Unglücksfall, sondern auch bei der Verfolgung Flüchtiger oder der Vollstreckung richterlicher Entscheidungen und verpflichtete zu Hilfs-, Arbeits- und Dienstleistungen. 42 Damit sich der Unterlassende strafbar machte, musste hinzutreten, dass „der andre wirklich das Leben einbüßt“. 43 Vgl. die Darstellung bei Gieseler (Fn. 40), S. 11. 44 So beschied der preußische Justizminister im Jahre 1853 die Eingabe abschlägig, die vorhergehende polizeiliche Aufforderung zu streichen und zu einer Regelung im Sinne des § 782 II 20 ALR zurückzukehren, vgl. Gieseler (Fn. 40), S. 14 f. 45 Vgl. dazu die Darstellung bei Haubrich (Fn. 21), S. 76 ff. 39
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strafbewehrte Nothilfepflicht nach polizeilicher Aufforderung regelten sie jedoch ebenso wenig wie das allgemeine Gebot, andere aus Lebensgefahren zu retten.46 Lediglich auf der Ebene der Polizeistrafgesetzbücher finden sich einerseits Rettungspflichten nach polizeilicher Aufforderung und andererseits die allgemeine Verpflichtung, andere aus Lebensgefahren zu retten.47 3. Dieser Dualismus der Strafbarkeit polizeilichen Ungehorsams und der Missachtung des Gebots, andere aus Lebensgefahren zu retten, setzte sich in der Reformdiskussion der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts fort. North, der sich im Jahre 1906 in seiner von Beling betreuten Dissertation eingehend mit der Nothilfepflicht befasst hat, bezog beim Unglücksfall im Sinne des § 360 Nr. 10 RStGB zwar auch Gefahren für das Eigentum ein.48 De lege ferenda sprach er sich aber für eine allgemeine Rettungsverpflichtung bei Lebensgefahren aus, die gesondert von der (besser im Landesrecht zu regelnden) Rettungspflicht nach polizeilicher Aufforderung abzufassen sei. Insoweit betonte er, dass die allgemeine Hilfspflicht auf den Lebensgefährdungsfall zu beschränken sei und nicht auf reine Vermögensgefahren erstreckt werden könne.49 Damit wurde die Rettungspflicht bei einem Unglücksfall und polizeilicher Anordnung zwar auch auf Eigentum und Vermögen erstreckt. Eine allgemeine Rettungspflicht sollte aber nur im Falle der Lebensgefährdung gelten – der Begriff des Unglücksfalls wird in diesem Zusammenhang nicht verwendet. Ein ähnliches Bild zeigen dann die Entwürfe zur Änderung des Strafgesetzbuchs. Ließen der amtliche Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch (1909) und der darauf bezogene Gegenentwurf (1911) die Regelung des § 360 Nr. 10 RStGB noch nahezu unverändert, so differenzierte der Kommissionsentwurf aus dem Jahre 1913
46 Anders das Strafgesetzbuch für Österreich (1852), das in § 335 (ungeachtet einer polizeilichen Aufforderung) die unterlassene Rettung aus Gefahren für Leben, Gesundheit oder körperliche Sicherheit als Vergehen (bei einer Todesfolge) oder als Übertretung (§ 431) bestrafte (dazu Gieseler [Fn. 40], S. 7 f.). 47 Einerseits Art. 56 des bayr. Polizeistrafgesetzbuchs (1861) und andererseits Art. 32 des sächs. Polizeistrafgesetzbuchs (1839) – vgl. Harzer (Fn. 24), S. 49 f. – und Art. 33 des württembergischen Polizeistrafgesetzbuchs (1839) – vgl. Haubrich (Fn. 21), S. 86 –, die eine Strafschärfung vorsahen, wenn der Nichtgerettete zu Tode gekommen war (Württemberg ließ auch einen bleibenden körperlichen Nachteil ausreichen). Vgl. ferner eine oldenb. Verordnung (1830), die bei einer anderen drohenden Gefahr oder zur Rettung verunglückter Personen zur Hilfeleistung verpflichtete (North, Die Nothilfepflicht im dt. Strafrecht, Diss. Tübingen 1906, S. 25), und § 195 des Polizeistrafgesetzbuchs von Hannover (1847), der die Herausgabe von Rettungsmitteln gebot (unklar ist, ob die Herausgabe auf eine staatliche Anordnung zurückging, vgl. Haubrich [Fn. 21], S. 87 und North aaO., S. 26). 48 North (Fn. 47), S. 43 und 48; allerdings will North einen Unglücksfall nur annehmen, wenn eine polizeilich zu organisierende Hilfeleistung notwendig ist (S. 46 f., S. 99 und S. 147). 49 North (Fn. 47), S. 144.
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– beeinflusst durch § 31450 des österreichischen Vorentwurfs (1909) – in seinem § 415 zwischen der unterlassenen Hilfeleistung nach polizeilicher Aufforderung (Nr. 1) und der unterlassenen Rettung bei Lebensgefahren (Nr. 2): § 415 Kommissionsentwurf 1913 „Mit Haft oder Geldstrafe wird ... bestraft: 1. wer bei Unglücksfällen oder bei gemeiner Gefahr oder Not keine Hilfe leistet, obwohl er von der Polizeibehörde oder deren Vertreter dazu aufgefordert wird und der Aufforderung ohne erhebliche eigene Gefahr genügen kann; 2. wer es vorsätzlich unterläßt, einen anderen aus einer Lebensgefahr zu retten, obwohl er ihn ohne Gefahr für Leib oder Leben retten kann; die Tat ist nur strafbar, wenn der Gefährdete in der Gefahr das Leben verloren hat.“51 Diese Unterscheidung findet sich auch in dem Entwurf aus dem Jahre 1919. Die Kommission diskutierte zunächst – ausgehend von § 415 des Kommissionsentwurfs 1913 – zwei Vorschläge, in denen (jeweils in einem Vergehenstatbestand) sowohl die Nothilfepflicht nach Aufforderung bei Unglücksfällen als auch die Verpflichtung zur Lebensrettung (strafbar nur bei Tod des Gefährdeten oder – dies war neu52 – bei schwerer Körperverletzung) geregelt war.53 Schließlich wurden mit § 199 und § 291 zwei Vergehenstatbestände vorgeschlagen: § 199 Entwurf 1919 „Wer bei Gemeingefahr54 der polizeilichen Aufforderung zur Hilfeleistung nicht nachkommt, ... wird ... bestraft.“ § 291 Entwurf 1919 Wer es unterläßt, einen anderen aus einer Lebensgefahr zu retten, obwohl er ihn ohne erhebliche Gefahr für sein eigenes Leben oder seine eigene Gesundheit retten kann, wird ... bestraft. Die Tat ist nur strafbar, wenn der Gefährdete in der Gefahr das Leben verloren oder eine schwere Körperverletzung ... erlitten hat.“55 50 „Wer es unterlässt, einen anderen aus einer offenbaren Lebensgefahr zu retten oder fremden Beistand zur Rettung herbeizurufen, obgleich er dies ... tun konnte, wird ... bestraft, wenn der andere in der Gefahr umgekommen ist“, zitiert nach Gieseler (Fn. 40), S. 31. 51 Zitiert nach Gieseler (Fn. 40), S. 42. 52 Vgl. aber oben Fn. 47 (Württemberg). 53 Näher dazu Gieseler (Fn. 40), S. 45 f. 54 Nach Gieseler (Fn. 40), S. 47 wurde die Beschränkung auf die Gemeingefahr (die in § 9 Nr. 8 des Entwurfs als „Gefahr für Menschenleben oder in bedeutendem Umfang für fremdes Eigentum“ definiert wurde) vorgenommen, um den Tatbestand einzugrenzen. Dabei wurde in Kauf genommen, dass nunmehr Fälle (Gefahr für eine einzelne Person) ungestraft blieben, die in § 360 Nr. 10 RStGB als Unglücksfall erfasst waren. 55 Zitiert nach Gieseler (Fn. 40), S. 48.
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Die späteren Entwürfe der Weimarer Zeit zur Reform des Strafgesetzbuchs nahmen den Tatbestand der unterlassenen Rettung aus einer Lebensgefahr nicht mehr auf.56 Stattdessen begnügte man sich mit einem Vergehenstatbestand, der die Herbeiführung einer Lebensgefährdung unter Strafe stellte.57 Mit § 401 des Entwurfs aus dem Jahre 1927 wurde schließlich die unterlassene Hilfeleistung (trotz polizeilicher Aufforderung) wieder als Übertretung behandelt und der Tatbestand um die Merkmale „Unglücksfall“ und „gemeine Not“ ergänzt. Festzuhalten ist, dass die dargelegten Reformvorschläge sich zwar teilweise für eine Ausweitung der Nothilfepflicht aussprachen, indem sie einen Straftatbestand der unterlassenen Lebensrettung befürworteten. Dieser war jedoch zum einen auf Lebensgefahren beschränkt, zum anderen blieb der Begriff des Unglücksfalls – wenn er denn verwendet wurde – dem polizeilichen Ungehorsamsdelikt vorbehalten, war also von einer Ausweitung der Nothilfepflichten nicht betroffen. 4. Wie der Blick auf die Regelung der Nothilfe in den Partikularstaaten und in den Vorschlägen zur Reform des § 360 Nr. 10 RStGB gezeigt hat, ist der Begriff des Unglücksfalls nur dort verwendet worden, wo die strafbewehrte Verpflichtung zur Nothilfe von einer polizeilichen Anordnung abhängig war. Soweit in diesem Kontext der Unglücksfall auch auf Sach- oder Vermögensgefahren erstreckt wurde, lag dem die Situation zugrunde, dass die Polizei mit den ihr zur Verfügung stehenden Kräften oder Möglichkeiten die Gefahr nicht abwenden konnte. Der Unglücksfall hatte damit nicht die Funktion, die Nothilfepflicht zu begrenzen. Er bezeichnete nur den „Bedürfnisfall“,58 in dem eine polizeiliche Anordnung nötig werden konnte. Erst diese Anordnung (nicht schon der Unglücksfall selbst) löste die Nothilfeverpflichtung aus, wobei sich die Mitwirkung an der staatlichen Gefahrenbekämpfung meist nur auf die Herausgabe benötigter Geräte oder Vorräte beschränkte.59 Außerdem war zu bedenken, dass die Erheblichkeit der Gefahr und die Notwendigkeit der Hilfeleistung bereits von der Behörde geprüft worden waren, also nicht nur eine Gefährdungslage vorlag, deren Ausmaß nachträglich kaum sicher festgestellt werden konnte.60 Eine weite Auslegung des Merkmals „Unglücksfall“ bedeutete deshalb keineswegs auch eine weitgreifende Nothilfeverpflichtung. Diese war – wie dargelegt – damals auch nicht gewollt. Vielmehr erwog man eine allgemeine Nothilfe56
Kritisch zu § 291 des E 1919 Kleinfeller Deutsche Strafrechtszeitung 1921, Sp. 198 (200). § 228 E 1922 (Entwurf Radbruch), § 231 E 1925, § 243 E 1927, § 243 E 1930. 58 North (Fn. 47), S. 33, der den Begriff vom BayObGH übernommen hat. 59 Vgl. etwa die bei LK-Spendel (Fn. 13) Rn. 17 geschilderten Beispiele zu § 360 Nr. 10 RStGB (Beispiele 1, 2, 4 u. 14). 60 So Kleinfeller (Fn. 56). 57
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verpflichtung nur im Falle einer Lebensgefahr. Als das Reichsgericht im Jahre 1940 die zu § 360 Nr. 10 RStGB von der Kommentarliteratur entwickelte Begriffsbestimmung des Unglücksfalls unbesehen auf § 330c StGB a. F.61 übertrug, bedachte es vermutlich62 nicht, dass nunmehr allein das Vorliegen des Unglücksfalles die Reichweite der Nothilfepflicht bestimmte.
III. Zur Sachgefahr als Unglücksfall Da sich die „gefestigte Rechtsprechung“ bei der Frage, ob auch eine Gefahr für fremde Sachwerte als Unglücksfall begriffen werden kann, als nicht tragfähig erwiesen hat, sei dieser Fragestellung noch, soweit dies im Rahmen dieses Beitrags möglich ist, anhand der herkömmlichen Auslegungskriterien nachgegangen. 1. Der Wortlaut legt eine Einbeziehung von Sachgefahren zumindest nicht nahe. Ein Unglück drückt die Empfindung einer Person aus, ein Unglücksfall widerfährt einer Person, nicht aber einer Sache. Letztere nimmt Schaden, sie wird beschädigt. Die Wörterbücher nennen vorrangig die Verletzung eines Menschen oder die Gefährdung von Menschenleben sowie der Gesundheit.63 Wenig aussagekräftig ist die Verwendung des Merkmals „Unglücksfall“ in anderen Straftatbeständen. Das Strafgesetzbuch verwendet den „Unglücksfall“ noch in drei weiteren Tatbeständen: in § 145 (mehrmals), in § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 und in § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB. Die Formulierung in § 145 StGB knüpft erkennbar an § 323c StGB (§ 330c StGB a. F.) an, während § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 StGB den Unglücksfall im Zusammenhang mit der Hilflosigkeit einer anderen Person erwähnt. Die Absicht, einen Unglücksfall herbeizuführen, ist in § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB eine Qualifi-
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Der auf das Erfordernis der polizeilichen Anordnung verzichtete, dazu nachfolgend unter
III. 62 Da die genannten Entscheidungen (Fn. 9) nicht auf die Nothilfe bei Sachgefahren bezogen waren, spricht mehr für eine unbedachte Übernahme, wenngleich für viele zeitgenössische Stellungnahmen aus dem Schrifttum die neugefasste Nothilfeverpflichtung nicht weit genug reichen konnte (vgl. die Nachweise unten in Fn. 70-73). 63 Unglücksfall als ein „durch äußere Faktoren hervorgerufenes, verhängnisvolles Ereignis, bei dem jmd. verletzt oder getötet wird und meist Sachschaden entsteht: ein schwerer, tragischer, tödlicher U.; durch einen U. ums Leben kommen; einem U. zum Opfer fallen; er starb an den Folgen des Unglücksfalles; Unglücksfälle verhüten, verhindern“ (so im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache – www.dwds.de). Vgl. auch Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 3. Aufl. 1999, Stichwort „Unglück“: „1. plötzlich hereinbrechendes Geschick, verhängnisvolles Ereignis, das einen od. viele Menschen trifft“.
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kation, wobei die Grundtatbestände eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert hinreichen lassen. 2. Historisch betrachtet hat das Merkmal des Unglücksfalls seinen nothilfepflichtauslösenden Charakter erst im Jahre 1935 erhalten.64 Durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches v. 28. 6. 193565 wurde § 360 Nr. 10 RStGB aufgehoben und durch § 330c StGB a. F. ersetzt. Dieser lautete: Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies nach gesundem Volksempfinden seine Pflicht ist, insbesondere wer der polizeilichen Aufforderung zur Hilfeleistung nicht nachkommt,66 obwohl er der Aufforderung ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten genügen kann,67 wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Wie bereits dargelegt, wurde nach der Gesetzesänderung die bisher zum Unglücksfall entwickelte Definition in Rechtsprechung und Schrifttum ohne weiteres übernommen. Ein Unglücksfall lag also auch dann vor, wenn ein Sachschaden eingetreten war und weiterer einzutreten drohte.68 Betrachtet man allerdings die damalige Begründung des Gesetzes, so fällt auf, dass diese die Sachgefahr nur im Zusammenhang mit dem Merkmal der gemeinen Gefahr erwähnte. Die gemeine Gefahr für Sachwerte bildete im Übri64 Insoweit ließe sich zwar einwenden, dass die Verpflichtung nach dem „gesunden Volksempfinden“ hinzutreten musste. Indes kam diesem – wenn man es denn freundlich ausdrücken will – „verschwommene[m] Merkmal“ (BT-Drs. I/3713, Entwurf eines 3. StrÄndG nebst Begründung v. 29. 9. 1952, S. 44) keine begrenzende Wirkung zu, vgl. etwa die Ausführungen zur „volksgenössischen Treuepflicht“ und zum „Deutschen Volksempfinden“ bei § 330c StGB a. F. von Barth in JW 1935, 2320 f. 65 RGBl. I., S. 839 (842). 66 Dieser noch aus § 360 Nr. 10 RStGB übernommene Passus wurde als Beispielsfall aufgefasst, welcher eine Strafschärfung nach sich ziehen müsse (Barth JW 1935, 2320 [2321]; Ehlers, Die Nothilfepflicht im Deutschen Strafgesetzbuch [§ 330c StGB], Diss. Rostock 1939, S. 28). Dass dieser Fall – auch aufgrund der Entstehungsgeschichte – gerade keinen Beispielsfall für die allgemeine Nothilfeverpflichtung darstellen konnte, erkannte bereits Schramm, Die Nothilfepflicht nach § 360 Ziff. 10 RStGB und ihre Reform, Diss. Erlangen 1936, S. 121, später dann Gallas JZ 1952, 396 (397 f.) und der Gesetzgeber des 3. StrÄndG v. 4. 8. 1953, der den Passus strich (zur Begr. vgl. BT-Drs. I/3713, S. 44). 67 Diese Einschränkung betraf nur den Beispielsfall der polizeilichen Aufforderung und führte zu einer enger begrenzten Nothilfeverpflichtung als dies beim Unglücksfall der Fall war (insoweit galt nur das gesunde Volksempfinden als Regulativ). Im Schrifttum forderte man deshalb diesen Passus künftig entfallen zu lassen und sich ausschließlich am Volksempfinden zu orientieren (Barth JW 1935, 2320 [2321 f.], Ehlers [Fn. 66], S. 38); krit. hingegen Schramm (Fn. 66), S. 122, der bei der allgemeinen Nothilfeverpflichtung einen Entschuldigungsgrund vermisst. 68 Vgl. z. B. Ehlers (Fn. 66), S. 21; E. Schäfer/Dohnanyi, Die Strafgesetzgebung der Jahre 1931 bis 1935, Nachtrag zur 18. Aufl. des Kommentars von Frank, 1936, S. 214.
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gen auch die Veranlassung zur Aufstellung dieser allgemeinen Nothilfeverpflichtung: Eine effektive Waldbrandbekämpfung konnte nur durchgesetzt werden, wenn die Rettungspflicht im Brandfall nicht an eine vorhergehende polizeiliche Anordnung gebunden wurde.69 Auch wenn die Gesetzesbegründung die Sachgefahr nur im Zusammenhang mit der gemeinen Gefahr nennt, darf doch nicht verkannt werden, dass die allgemeine Nothilfeverpflichtung zur Zeit des Nationalsozialismus weitaus umfassender verstanden wurde. So sollte – folgt man dem Schrifttum – die Verpflichtung zur Hilfeleistung ohne Frage auch bei Gefahren für das Eigentum70 oder bei deliktischen Angriffen auf fremde Sachwerte71 gelten. Dies spiegelt ein Strafrechtsverständnis wider, in dem der „seit der nationalsozialistischen Erhebung eingetretene Wandel in den Auffassungen über die Pflichten des einzelnen gegenüber der Volksgemeinschaft und sein Verhältnis gegenüber den anderen Volksgenossen besonders deutlich“72 wird. Mit anderen Worten: Wer dem nationalsozialistischen Zeitgeist folgte, dem konnte die Nothilfeverpflichtung kaum weit genug reichen73 – auf diesem Hintergrund war es nachrangig, zwischen drohenden Sachschäden als Voraussetzung der Gemeingefahr oder als Bestandteil des Unglücksfalls zu differenzieren; ebenso war eine nähere Untersuchung zur Übertragbarkeit der (zu einer
69 Die Strafrechtsnovellen v. 28. Juni 1935 und die amtl. Begründungen, Berlin 1935, S. 42; vgl. auch L. Schäfer Deutsche Justiz 1935, 994 (998). Haubrich (Fn. 21), S. 250 ff. sieht darin einen maßgeblichen Grund dafür, dass der Unglücksfall – der Entstehungsgeschichte der Vorschrift nach – keine Sachgefahr erfasse. 70 Schramm (Fn. 66), S. 113: Es muss „für jeden einzelnen im täglichen Leben eine Selbstverständlichkeit sein, Leben, Gesundheit und Eigentum seiner Mitmenschen aus eigenem Antrieb mitschützen zu helfen“; ähnlich Wiedenroth, Die Verletzung der Hilfeleistungspflicht, Diss. Erlangen 1936, S. 35 ff. 71 Bauer, Die Nothilfepflicht im § 330c StGB und die Rechtspflichten zum Handeln bei den unechten Unterlassungsdelikten, Diss. Frankfurt a. M. 1939, S. 13; Wiedenroth (Fn. 70), S. 35 f. 72 Amtliche Begründung (Fn. 69); ähnlich E. Schäfer/Dohnanyi (Fn. 68) und L. Schäfer (Fn. 69). Bauer (Fn. 71), S. 33 meint sogar, dass eine derart verstandene Nothilfeverpflichtung „eine Volksgemeinschaft im Sinne des nationalsozialistischen Staates“ voraussetze(!). Nach Wiedenroth (Fn. 70), S. 35, kann „Maßstab für die Abgrenzung des im Sinne des § 330c noch bedeutungsvollen von dem strafrechtlich irrelevanten Ereignis“ ... „nur das gesunde Volksempfinden auf Grund des Gedankenguts nationalsozialistischer Grundsätze sein.“. 73 Schramm (Fn. 66), S. 112: „Die ... Bedürfnisfälle sind schon begrifflich so allgemein gehalten, daß es fast undenkbar erscheint, irgendeinen gefahrvollen Zustand nicht unter einen dieser Fälle bringen zu können“; eine weitere Ausweitung(!) der Bedürfnisfälle sei deshalb nicht nötig. Vgl. auch Huschens, Die unterlassene Hilfeleistung im nationalsozialistischen Strafrecht, Diss. Freiburg i. Br. 1938, S. 28, S. 43 ff., S. 88 f. zur nationalsozialistisch geprägten, „volksgenössischen Hilfe- und Treuepflicht“. Treffend weist Haubrich (Fn. 21), S. 124 ff. darauf hin, dass das nationalsozialistische Rechtsverständnis zwar nicht das „Ob“, wohl aber das „Wie“ (also die Reichweite) der allgemeinen Nothilfepflicht geprägt hat.
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anderen Nothilfeverpflichtung entwickelten) Definition des Unglücksfalls wohl nicht veranlasst. Bedeutsam für die Ermittlung des gesetzgeberischen Willens ist deshalb die Begründung des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes aus dem Jahre 1953, mit dem § 330c StGB a. F. folgendermaßen gefasst wurde: Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Die Gesetzesbegründung74 spricht sich für die Beibehaltung der allgemeinen Nothilfeverpflichtung aus, weil die Einstellung zur Nothilfepflicht „spätestens seit Beginn dieses Jahrhunderts einem Wandel unterworfen gewesen“ sei. Dieser habe „die Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit aller Staatsbürger untereinander und den Gedanken der sozialen Verantwortlichkeit des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft gestärkt. Die Entartung dieser Tendenzen in dem nationalsozialistischen Machtstaat darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine solche Entwicklung besteht.“ „Die Neufassung des § 330c geht deshalb davon aus, daß der Grundgedanke der geltenden Vorschrift mit heutigem Rechtsdenken vereinbar ist.“ Diese Ausführungen lassen nicht erkennen, ob sich der Gesetzgeber der Problematik der weiten Auslegung75 des Begriffs des Unglücksfalls bewusst gewesen ist. Die Bedürfnisfälle des § 330c StGB a. F. werden dort nicht explizit angesprochen, die Rede ist nur allgemein von der Steuerung „gemeiner Not“ und von dem „in die Notlage Geratenen“. Anders liegt es bei den Ausführungen von Gallas, der dem Bundesjustizministerium für das 3. Strafrechtsänderungsgesetz ein vorbereitendes Gutachten erstellte.76 Er weist ausdrücklich darauf hin, dass § 330c StGB a. F. so verstanden werde, dass auch ein drohender erheblicher Sachschaden zur Hilfeleistung verpflichte und sich die deutsche Regelung damit von den vergleichbaren ausländischen Vorschriften unterscheide, die durchweg Lebens- oder doch Leibesgefahren voraussetzen würden. Dies sei „nicht unbedenklich, da damit der Anwendungsbereich der Hilfeleistungspflicht in schwer übersehbarer Weise erweitert“77 und der Solidaritätsgedanke womöglich überspannt werde. Es sei fraglich, die Strafbarkeit unterlassener Hilfeleistung bei bloßer Sachgefahr „auch unter Voraussetzungen beizube74
BT-Drs. I/3713, S. 44 (dort auch die nachfolgenden Zitate). Wiedenroth (Fn. 70), S. 101 hat für das Jahr 1936 zumindest festgestellt, dass keine(!) ausländische Regelung eine allgemeine Nothilfepflicht für Sachgüter vorgesehen habe oder vorsieht (sieht man von einem finnischen Entwurf aus dem Jahre 1921 ab). 76 Wiedergabe des Gutachtens in JZ 1952, 396 ff. 77 JZ 1952, 396 (399); dort auch die beiden nachfolgenden Zitate. 75
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halten, die sich von denen des alten Übertretungstatbestandes polizeilichen Charakters wesentlich unterscheiden.“ Gleichwohl meint Gallas sodann, dass „jedenfalls bei drohendem Sachschaden von der Schwere eines ‚Unglücksfalles’ oder ‚gemeiner Gefahr oder Not’ tatenloses Geschehenlassen als mit der Solidaritätspflicht des Rechtsgenossen grundsätzlich unvereinbar und strafwürdig erscheint“; dies auch vor dem Hintergrund, dass dem Hilfspflichtigen weniger zuzumuten sei als bei Lebens- oder Leibesgefahr. Diese Begründung von Gallas räumt weder die von ihm zuvor formulierten Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit und der Überspannung der Solidaritätspflicht aus, noch setzt er sich hier – trotz des eigenen Hinweises – mit dem geänderten Charakter der Norm auseinander.78 Wie dargelegt, setzte bereits der Unglücksfall im Sinne des § 360 Nr. 10 RStGB keine bloße Sachgefahr, sondern eine Gefährdung bedeutender Sachwerte voraus. Die Begründung von Gallas für die Einbeziehung der Sachgefahr entspricht der gegenwärtig79 dazu angeführten Argumentation: über moralische Gesichtspunkte gelangt sie nicht hinaus. 3. In § 323c StGB wird der Unglücksfall neben der gemeinen Gefahr und der gemeinen Not genannt. Ob die Gemeingefahr oder die gemeine Not auch bei ausschließlichen Sachgefahren einschlägig ist, wird kontrovers beurteilt.80 § 315 Abs. 3 StGB a. F.81 umschrieb die Gemeingefahr zwar dahin, dass sie auch eine Gefahr „für bedeutende Sachwerte“ erfasst. Bereits zu § 330 StGB a. F. war aber umstritten, ob sich diese Begriffsbestimmung überhaupt auf die unterlassene Hilfeleistung übertragen lässt.82 Ob die Sachgefahren sich zumindest unter die Merkmale der gemeinen Gefahr bzw. der gemeinen Not in § 323c StGB subsumieren lassen, kann hier nicht näher untersucht werden. Hingewiesen sei aber auf einen anderen Aspekt. In der Reformdiskussion zur Weimarer Zeit wurde die Verpflichtung zur Rettung aus Lebensgefahren als zu weitgehend kritisiert und zugunsten einer (weil weniger weit reichenden) Strafbarkeit der allgemeinen Herbeiführung einer Lebensgefährdung ersetzt. Überträgt man diesen Gedanken auf das geltende Recht, so ließe sich mit § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB
78 Gieseler (Fn. 40), S. 156 f. kommt mit Recht zu dem Ergebnis, dass gerade in der Zeit bis zum 3. StrÄndG eine grundlegende Auseinandersetzung über die Reichweite der Vorschrift nicht geführt wurde. 79 Vgl. oben in Fn. 26. 80 Vgl. oben im Text unter I. 81 § 315 Abs. 3 StGB a. F. lautete: „Gemeingefahr bedeutet eine Gefahr für Leib oder Leben, sei es auch nur eines einzelnen Menschen, oder für bedeutende Sachwerte, die in fremden Eigentum stehen oder deren Vernichtung gegen das Gemeinwohl verstößt“. 82 Dagegen – ohne allerdings grundsätzlich an der Einbeziehung von Sachgefahren zu zweifeln – Ehlers (Fn. 66), S. 26.
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(zumindest seit 1998) eine Norm finden, die allgemein83 die Herbeiführung einer Lebensgefahr oder der Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung unter Strafe stellt. Demgegenüber findet sich keine Norm, die generell84 die Herbeiführung einer Sachgefahr bestraft. Weshalb sollte dann aber die Nichthilfe bei drohendem Sachschaden strafbar sein? 4. Zu der Frage, ob nicht der Rechtsgüterschutz im Tatbestand des § 323c StGB für eine Einbeziehung der Sachgefahr spricht, kann hier ebenfalls nicht näher Stellung bezogen werden. Ungeachtet der Frage, was denn als Rechtsgut der unterlassenen Hilfeleistung zu bezeichnen ist, bleibt – selbst wenn man von einem Schutz der gefährdeten Individualrechtsgüter ausgeht – für die Ansicht, die Sachgefahren unter den Begriff den Unglücksfalls subsumieren will, darzulegen, weshalb eine Verpflichtung, die allen gleichermaßen auferlegt wird, zugunsten eines Rechtsguts wirken soll, das nicht allen gleichermaßen zukommt.85
IV. Fazit Die Definition des Unglücksfalls als ein Ereignis, das eine erhebliche Gefahr für Personen oder Sachen mit sich bringt, entstammt einer Norm (§ 360 Nr. 10 RStGB), die grundsätzlich einen anderen Rechtscharakter aufwies als der geltende § 323c StGB. Dass diese Begriffsbestimmung auch für eine allgemeine Nothilfeverpflichtung (§ 330c StGB a. F.) fortgeführt wurde, mag bis 1945 dem Zeitgeist zuzuschreiben sein. In der Nachkriegszeit wurde indes versäumt, den auf diese Weise erweiterten Begriff auf ein tragfähiges Maß zurückzuführen bzw. eine fundierte Begründung für die Einbeziehung von Sachgefahren zu liefern.86 Da dies bis heute nicht gelungen ist, geschweige denn die dagegen erhobenen Einwände ausgeräumt wurden, ist der eingangs angeführten Ansicht des hoch geschätzten Jubilars zuzustim-
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Sehr viel mehr vermag das Versetzen in eine hilflose Lage kaum auszudrücken. §§ 315b, 315c StGB setzen insoweit stets voraus, dass die Gefahr für Sachen von bedeutendem Wert gerade durch Maßnahmen verursacht wird, die die Sicherheit im Straßenverkehr beeinträchtigen. Eine allgemeine Gefährdung von Sachwerten genügt also nicht. 85 Näher dazu Kahlo (Fn. 24), S. 306, S. 334 f. sowie die weiteren Nachweise in Fn. 24. 86 Ebenso ließe sich geltend machen, dass die Untätigkeit bei Gefahren für die Ehre oder die Erhaltung des Arbeitsplatzes als mit der Solidaritätspflicht des Rechtsgenossen grundsätzlich unvereinbar und strafwürdig erscheint und deshalb in den Begriff des Unglücksfalles einzubeziehen ist. 84
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men: Die Sachgefahr (sei es für geringe oder für bedeutende Werte) begründet keinen Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB.87
87 Dies entspricht im Übrigen dem Vorschlag des Alternativ-Entwurfs aus dem Jahre 1966, der in § 115 AE bei einem Unglücksfall nur den Zeugen einer Leibes- oder Lebensgefahr verpflichten will, vgl. Gieseler (Fn. 40), S. 125 ff.
III. Strafvollzug und Kriminologie
Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz – Fortschritt oder Rückschritt – ROLF HERRFAHRDT
I. Der Strafvollzug befindet sich bundesweit in einer sehr schwierigen Situation, nachdem er zur Verhandlungsmasse in der Förderalismuskommission wurde. Als Kompensation für die Beibehaltung der Bundeskompetenz für das Notariatswesen wurde die Gesetzeskompetenz für den Justizvollzug vom Bund auf die Länder übertragen. Die Verhandlungsführer Müntefering und Stoiber haben alle Ratschläge und Warnungen missachtet und zwar offensichtlich in Unkenntnis der Tragweite ihrer Entscheidung. Einerseits wird seit Jahren von den Politikern immer wieder auf die europäische Rechtsangleichung hingewiesen, um ein einheitliches europäisches Rechtssystem zu schaffen, und andererseits wurde durch die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für den Justizvollzug vom Bund auf die Länder der Rechtszersplitterung bewusst Vorschub geleistet. Die Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Justizvollzug hat unter anderem in mehreren Memoranden auf die entstehenden Probleme hingewiesen, letztmalig durch die Mindestanforderungen an die Ländergesetzgebung zum Erwachsenenstrafvollzug (November 2006): 1.
Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Gleichermaßen dient der Vollzug der Freiheitsstrafe dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Vollzugsformen sind der geschlossene und der offene Vollzug. Zumindest im geschlossenen Vollzug sind die Gefangenen während der Ruhezeit einzeln unterzubringen. Das Verbot der Überbelegung ist unverzichtbar.
2.
Die bewährten Lockerungsformen (Ausführung, Ausgang, Außenbeschäftigung, Freigang) sowie Urlaub (21 Tage) sind unverzichtbare Behandlungselemente und als solche beizubehalten. Monatlich ist mindestens eine Stunde Besuchszeit zu gewährleisten.
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3.
Arbeit, Ausbildung und Weiterbildung stehen gleichrangig nebeneinander. Die Arbeitspflicht ist beizubehalten. Für ausreichende Beschäftigung ist zu sorgen. Die Entlohnung der Gefangenen und die nichtmonitäre Entlohnung für geleistete Arbeit der Gefangenen sollen bundeseinheitlich sein.
4.
Sozialtherapeutische Einrichtungen sind unverzichtbar. Eine ausreichende Anzahlt von Plätzen mit angemessener Ausstattung ist vorzusehen.
5.
Die geltenden Vorschriften über Sicherheit und Ordnung haben sich grundsätzlich bewährt. Erforderlich ist die Erweiterung der Befugnisse zur Gewinnung, Auswertung und Aufbewahrung von Informationen, die Aufschluss über das von einem Gefangenen ausgehende Gefahrenpotential geben. Für die Anordnung der Fesselung genügt einfache Fluchtgefahr.
6.
Auf Grund des Wegfalls der Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs ist für jedes Bundesland die Einheitlichkeit der Rechtsprechung in Strafvollzugsangelegenheiten sicherzustellen.
7.
Eine Regelung zu Widerruf und Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte (auch außerhalb von § 14 StVollzG) ist zwingend geboten.
8.
Die Gefangenen können angemessen an den Kosten des Justizvollzuges beteiligt werden.
9.
Die Vorbereitung der Entlassung und die Nachsorge sind gesetzlich zu regeln. Die Pflicht zur Zusammenarbeit darf nicht nur einseitig für die Justizvollzugsanstalten festgeschrieben werden.
10. Gegen eine sachgerechte Teilprivatisierung bestehen keine Bedenken. Es muss sichergestellt sein, dass die hoheitsrechtlichen Aufgaben weiterhin von Bediensteten des öffentlichen Dienstes wahrgenommen werden. Verantwortungsbereiche müssen klar zwischen Staat und Privaten gesetzlich definiert werden. 11. Eine Wirksamkeitskontrolle durch unabhängige Institutionen ist festzuschreiben. So appellierte die Bundesvereinigung der Anstaltsleiter eindringlich an die Landesgesetzgeber, die nach 30 Jahren Strafvollzugsgesetz des Bundes erprobten und bewährten vollzuglichen Standards zu halten und sich untereinander auf die Einhaltung bestimmter Mindestanforderungen in den Strafvollzugsgesetzen zu verständigen. Damit würden dann bundesweit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 31.05.2006 – 2 BvR
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1673/04 – und – 2 BvR 2402/04 in NJW 2006, 2093 zur Ausgestaltung des Strafvollzuges Rechnung getragen und die Bestrebungen des Europarates, durch Empfehlungen europaweit vergleichbare Qualitätsstandards zu setzen, nachhaltig unterstützt. Alle vorgetragenen Bedenken wurden im Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz nicht beachtet, sondern die Justizministerin von Niedersachsen Heister-Neumann erklärte in der Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 24.02.2006: „Für die Verlagerung der Gesetzgebungszuständigkeit für den Strafvollzug auf die Länder sind wir bestens vorbereitet“ und noch in der Presseerklärung vom 05.10.2007: „….das Land Niedersachsen sei…mit dem neuen Justizvollzugsgesetz bestens aufgestellt und Vorreiter auf diesem Gebiet“. Einige Zeit vorher äußerte sich die Ministerin dahingehend: „Wir werden ein Vorbild für andere Länder sein“.
II. Ausgangspunkt für die gesetzgeberische Initiative der Länder zum Erlass von Justizvollzugsgesetzen war einerseits die Entscheidung des BVerfG vom 31.05.2006 und andererseits die Förderalismusreform. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung die jetzige Regelung des Jugendvollzuges durch die VVJug für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber zur Regelung des Jugendstrafvollzuges eine Frist bis zum 31.12.2007 gesetzt. Ein weiterer Grund für die gesetzgeberische Aktivität war die Förderalismusreform, wie schon oben erläutert. Durch Artikel 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes wurde Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes (GG) dahingehend geändert, dass der Strafvollzug (Erwachsenenstrafvollzug, Jugendstrafvollzug und die freiheitsentziehenden Maßnahmen der Besserung und Sicherung) und die Untersuchungshaft künftig nicht mehr zur konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 72 GG, sondern unter die ausschließliche Gesetzgebung der Länder nach Art. 70 Abs. 1 GG fallen. Recht, das in diesen Bereichen als Bundesrecht erlassen wurde, gilt gem. Art. 125 a Abs. 1 Satz 1 GG (n. F.) zwar als Bundesrecht weiter, kann aber nach Art. 125 a Abs. 1 Satz 2 GG (n. F.) durch Landesrecht ersetzt werden. Diese Verfassungsänderungen sind am 1. September 2006 in Kraft getreten. Auf Grund dieser Gesetzesänderungen besteht auf der einen Seite zwar die Möglichkeit, ein auf die besonderen Verhältnisse eines Landes zugeschnittenes Justizvollzugsgesetz zu schaffen. Auf der anderen Seite aber droht Rechtszersplitterung verbunden mit unterschiedlichen vollzuglichen Qualitätsstandards.
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Auf diese Gefahr hat Seebode insbesondere in Bezug auf die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz und der Möglichkeit der länderspezifischen Ausgestaltung der Strafzwecke in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 16. Mai 2006 (BT-Drs. 16/813) und in seinem Beitrag: „Freiheitsstrafe“, ein Blankett des Strafgesetzbuchs, in FS Küper, 2007, 577 ff. eindringlich und mit überzeugenden Argumenten hingewiesen. So muss bundeseinheitliches Strafrecht auch bundeseinheitlich umgesetzt werden. Auch dürfen durch die Ländergesetzgebung die Strafzwecke nicht unterschiedlich betont werden, weil dies nicht dem Rechtsstaatsprinzip und damit der Strafgerechtigkeit entspricht. Ebenso können länderspezifische Strafvollzugsgesetze die bundesgesetzlich geregelte Strafzumessung und deren Gerechtigkeit gefährden. Des Weiteren weist Seebode auf das Römische Statut des internationalen Gerichtshofes hin, das möglichst eine einheitliche Gestaltung der nach einem einheitlichen Gesetz verhängten Strafe verlangt. Dies sollte erst recht auch im nationalen Recht gelten. Bei den meisten Gesetzgebern wurden diese Mahnungen auch beachtet. Während die Länder mit Ausnahme von Niedersachsen zunächst nur ein Jugendstrafvollzugsgesetz oder teilweise auch in Verbindung mit einem Erwachsenenstrafvollzugsgesetz in Kraft setzten, hat Niedersachsen im Schnellverfahren gleich alle drei Justizvollzugsbereiche in einem Justizvollzugsgesetz geregelt. So hat Niedersachsen durch ein sog. Artikelgesetz alle drei Bereiche des Justizvollzuges – den Vollzug der Freiheitsstrafe, der Jugendstrafe und der Untersuchungshaft – in einem Gesetz (NJVollzG) geregelt, dass am 01.01.2008 in Kraft getreten ist. Dieses Gesetz hat sich in einigen Bereichen der bisherigen Praxis angepasst und die bisher strittige Rangfolge von Sicherheit und Resozialisierung als gleichwertige Ziele eindeutig festgeschrieben. Andererseits ist das Gesetz mit erheblichen Mängeln und unscharfen Formulierungen behaftet. Hier sollen beispielhaft nur einige Mängel aber auch Anregungen aus der Praxis im Erwachsenenstrafvollzug aufgezeigt werden. Bei §§ ohne Gesetzesbenennung handelt es sich um §§ des Niedersächsischen Justizvollzugsgesetzes. In § 3 dieses Gesetzes wird die Rechtsstellung der Gefangenen und Sicherungsverwahrten geregelt. Es ist daher nicht nachvollziehbar, wenn in Satz 3 („Die Sicherheit der Anstalt umfasst auch den Schutz der Allgemeinheit vor Straftaten der Gefangenen und Sicherungsverwahrten.“) daraufhin gewiesen wird, dass die Sicherheit der Anstalt auch den Schutz der Allgemeinheit vor Straftaten der Gefangenen und Sicherheitsverwahrten umfasst. Dies hat nur im entferntesten Sinne etwas mit der Rechtsstellung des Gefangenen zu tun, sondern hätte allenfalls im Zwölften Kapitel: Sicherheit und Ordnung aufgenommen werden können. Auf den Satz hätte man wegen
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seiner Allgemeingültigkeit auch verzichten können; zumal der Gedanke nochmals in § 5 Satz 2 formuliert ist. Die Mitwirkung der Gefangenen eröffnet in § 6 dem oder der Gefangenen die „Chance“ sich nach der Verbüßung der Strafe in die Gesellschaft einzugliedern. Hier wird in den Gesetzestext ein Schlagwort aufgenommen, dass wenig konkret und hilfreich ist. Aus welcher Sicht ist die gebotene Chance zu beurteilen? Was sind geeignete Maßnahmen? Wer soll sie beurteilen? Welche „Chance“ soll ein notorischer Betrüger bekommen? Mit diesem Schlagwort werden Probleme aufgeworfen, die der Justizvollzug nicht lösen kann und die Gerichte noch häufig beschäftigen wird. Viele Gefangene bedürfen auf Grund ihrer Persönlichkeitsstruktur zuerst einer ständigen Motivation oder müssen Grundfertigkeiten erlernen, um den Anforderungen von Ausbildung und Arbeit gewachsen zu sein. Die zu gewährende Chance muss von der Bedürftigkeit und Fähigkeit eines jeden Gefangenen abhängig gemacht werden und nicht davon, ob er eine „Chance“ nutzt oder nicht nutzt. Die Bedürftigkeit ist objektiv nachprüfbar. Bei der Beurteilung einer „Chance“ besteht die Gefahr von Willkür. Darauf weist auch mit gewichtigen Gründen Schneider in ZfStrVO 2004, 140 f. hin. Die Einteilung der Gefangenen nach ihrer Mitwirkungsbereitschaft räumt der Justizvollzugsanstalt eine nicht nachprüfbare erhebliche Definitionsmacht ein. Es wird eine unbedingte Gefolgschaft und vollständige Akzeptanz des Urteils als auch die Anerkenntnis der Hilfs- und Therapiebedürftigkeit verlangt. Die diesbezügliche Definitionsmacht liegt ausschließlich bei der Anstaltsleitung bzw. dem Vollzugspersonal und setzt sich während des gesamten Vollzugsverlaufs fort. Mit Recht macht Schneider auf die Gefahren eines „Rückkoppelungsmechanismusses“ aufmerksam, der zu einer „erzwungenen Beichte“ bzw. zur Verfestigung oder Verstärkung devianter Verhaltensmuster führt. Durch diese Definitionsmacht der Anstaltsleitung wird der Gefangene förmlich gezwungen Mitwirkungsbereitschaft vorzutäuschen, um Vergünstigungen im Vollzug zu erhalten. Bei länderübergreifenden Verlegungen wie nach § 11 möglich, wurde leider versäumt, trotz nachdrücklichen Hinweises eine Regelung für Widerruf und Rücknahme von begünstigenden Verwaltungsakten in diesem besonderen Fall in das Gesetz aufzunehmen. Der Widerruf und die Rücknahme von Maßnahmen und Vergünstigungen, die die Rechtsstellung der Gefangenen verbessern, spielen in der Praxis eine große Rolle. Um Rechtssicherheit zu gewährleisten, hätte dieser Bereich eigenständig und bundeseinheitlich normiert werden müssen. Gerade bei länderübergreifenden Verlegungen ist die Entschädigung bei der Rücknahme von Vergünstigungen für die Gefangenen sehr wichtig. Die Regelung in § 100 (Aufhebung von Verwaltungsakten) genügt daher nicht. Denn es stellt sich hier die Frage, welches Land hat die Entschädigung zu zahlen? Dies ist insbesondere bei Zwangsverlegungen
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aus Sicherheitsgründen von besonderer Bedeutung, weil der Gefangene sich in diesem Fall nicht freiwillig den Bedingungen des aufnehmenden Landes unterwirft. Die Regelung in § 12, den geschlossenen Vollzug zum Regelvollzug zu erklären, entspricht im Gegensatz zu § 10 StVollzG der Vollzugswirklichkeit und ist daher zu begrüßen. Die Einweisung in den offenen Vollzug wird dadurch nicht ausgeschlossen, sollte aber durch Verwaltungsvorschriften nicht weiter eingeschränkt werden. Eine wesentliche Verschlechterung gegenüber dem Strafvollzugsgesetz stellt die Unterbringung während der Ruhezeit in § 20 Abs. 2 letzter Halbsatz („Ohne Zustimmung der betroffenen Gefangenen ist eine gemeinsame Unterbringung nur zulässig, sofern eine oder einer von ihnen hilfsbedürftig ist, für eine oder einen von ihnen eine Gefahr für Leben oder Gesundheit besteht oder die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern.“) dar. Danach ist eine gemeinschaftliche Unterbringung möglich, wenn „die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern“. Hier verschafft sich das Land einen weiten Spielraum, um fiskalische Interessen berücksichtigen zu können. Es besteht auch die Gefahr, dass Gefangene unerwünschten subkulturellen Einflüssen ausgesetzt werden. Es ist hinreichend empirisch belegt und wird in der Praxis immer wieder aufs neue bestätigt, dass die meisten Übergriffe unter Gefangenen während der Ruhe- und Nachtzeit stattfinden. Es bestehen daher erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. In seinem Urteil vom 31.05.2006 zum Jugendstrafvollzug hat das Bundesverfassungsgericht daraufhin gewiesen, dass die Gefangenen vor gegenseitiger Gewalt zu schützen sind. Diese grundlegende Forderung ist auf den Erwachsenenstrafvollzug übertragbar, da Gründe, die körperliche Unversehrtheit erwachsener Gefangener für weniger schutzwürdig zu halten, schlechterdings nicht erkennbar sind. Die Leiter und Leiterinnen der Justizvollzugsanstalten können aber die ihnen auferlegten Verpflichtungen, für die körperliche Unversehrtheit der ihnen anvertrauten Gefangenen einzustehen, nur dann erfüllen, wenn der wesentliche Inhalt des § 18 StVollzG in das neue Gesetz übertragen wird. Das schließt die Forderung nach dem Verbot der Überbelegung mit ein. Die Überbelegung führt erfahrungsgemäß regelmäßig dazu, dass mehrere Gefangene während der Ruhezeit in einem Haftraum untergebracht werden müssen. Auch hier ist eine Übertragung der Regelung des § 146 StVollzG in das NJVollzG unverzichtbar. Die Regelung in § 174 (Belegungsfähigkeit und Ausgestaltung der Räume) ist dafür kein Ersatz. Die vorgenannte gesetzliche Regelung des Strafvollzugsgesetzes entspricht den europäischen Gefängnisregeln. Sie dürfen daher wegen ihrer fundamentalen Bedeutung
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für einen verfassungsgemäßen Strafvollzug nicht haushälterischen Erwägungen zum Opfer fallen. Die Vorschrift über die Telekommunikation in § 33 ist unsystematisch. Der Absatz 2 hätte als der Allgemeinere der Absatz 1 sein müssen. Außerdem müssen Einschränkungen des Telefonverkehrs im Gesetz und nicht in Nutzungsbedingungen der Anstalt geregelt werden. Des Weiteren ist die zeitversetzte Überwachung des Telefonverkehrs widersinnig und verfassungswidrig. Widersinnig, weil ein Eingreifen bei möglichem Fehlverhalten nicht mehr möglich ist. Verfassungswidrig, weil ohne eine normierte Eingriffsvoraussetzung in das Persönlichkeitsrecht des Gefangenen nicht eingegriffen werden darf. Die Verweisung auf die Vorschriften des Besuchsverkehrs und den Schriftwechsel sollte um des besseren Verständnisses und aus systematischen Gründen in einem gesonderten Absatz geregelt werden. Zu begrüßen ist, dass Pakete mit Nahrungs- und Genussmitteln gem. § 34 Abs. 1 ausgeschlossen sind. Der Kontrollaufwand ist für die Anstalt erheblich und bindet sehr viele Bedienstete, insbesondere vor Fest- und Feiertagen. Außerdem besteht durch den Zusatzeinkauf für den Gefangenen die Möglichkeit, sich zusätzliche Nahrungs- und Genussmittel zu verschaffen. Die Gefangenen machen von dieser Möglichkeit auch umfangreichen Gebrauch. Die Gefangenengelder und neuerdings auch die Kostenbeteiligung in den §§ 45 bis 52 sind ein umfangreicher und schwieriger Bereich, der im Strafvollzugsgesetz aber auch im Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz nicht ausreichend und unverständlich geregelt ist. Dies wird immer wieder zu rechtlichen Streitigkeiten führen. Die Kostenbeteiligung der Gefangenen in § 52 ist aus pädagogischen Gründen ein sinnvolles Anliegen, aber diese sollte nur erfolgen, wenn der damit verbundene personelle und verwaltungsmäßige Aufwand in angemessenem Verhältnis zum Erlös steht. Dass die Entlohnung der Gefangenen nur einen Bruchteil dessen ausmacht, was freie Arbeitnehmer außerhalb des Vollzuges durchschnittlich verdienen, muss dabei berücksichtigt werden. Eine ausführliche Erörterung ist wegen ihres Umfanges hier nicht möglich. In § 68 werden die sozialen Hilfen für den Vollzug geregelt. Die soziale Hilfe soll durch eine durchgängige Betreuung sichergestellt werden. Der Begriff der durchgängigen Betreuung ist nicht eindeutig in dieser Vorschrift zuzuordnen. In Abs. 2 soll sich die durchgängige Betreuung auf die Betreuung innerhalb des Justizvollzuges beziehen und in Abs. 3 und 4 auf Personen und Stellen außerhalb des Vollzuges. In Abs. 2 ließe sich diese Betreuung auf Grund des Direktionsrechts noch sicherstellen. Aber was soll ein „Hinwirken“ auf Personen und Stellen außerhalb des Vollzuges erreichen? Die Wortwahl weist schon darauf hin, dass der Voll-
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zugsbehörde keine Möglichkeiten zur Verfügung stehen, eine durchgängige Betreuung nach der Entlassung sicherzustellen. Der in § 68 Abs. 4 angeregte Informationsaustausch (Satz 1: „Die Vollzugsbehörden sollen darauf hinwirken, dass die zur durchgängigen Betreuung erforderlichen Informationen über die Gefangenen zwischen ihnen und den nach Absatz 3 zu beteiligenden Personen und Stellen außerhalb des Vollzuges ausgetauscht werden, …“) zwischen Stellen und Personen außerhalb des Vollzuges bleibt wirkungslos, wenn dieser nicht gesetzlich oder durch Verwaltungsvorschriften geregelt wird. Ein rechtlich geregelter Informationsaustausch wäre allerdings sehr wünschenswert. Bei den Hilfen im Vollzug in § 69 Abs. 2 ist leider das Problem der Schuldentilgung bzw. der Schuldnerberatung, die wesentlich für die Resozialisierung des oder der Gefangenen sind, nicht genannt. In § 69 Abs. 3 Satz 1 („um die Entlassung vorzubereiten, ist die oder der Gefangene insbesondere bei der Ordnung der persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten zur beraten.“) wird dies nur andeutungsweise erwähnt. Es wäre besser gewesen, wenn hier ausdrücklich wie in § 181 die Schuldnerberatung benannt worden wäre, zumal diese hauptsächlich von Justizvollzugsbediensten durchgeführt wird. Zur Sicherung eines klaren und zweifelsfreien Handelns der Justizvollzugsbehörde sind eindeutige Regelungen und Erweiterungen der Befugnisse zur Gewinnung, Auswertung und Aufbewahrung von Informationen notwenig. Dies ist leider nicht immer der Fall. In § 77 Abs. 3 wird die Durchsuchung nach einem Besuch oder nach einer Abwesenheit von der Anstalt geregelt. Dies ist aber unnötig, weil Abs. 1 Satz 1 eine Generalklausel („Gefangene, ihre Sachen und die Hafträume dürfen durchsucht werden.“) enthält. Absatz 3 ist daher zu streichen. Bei den erkennungsdienstlichen Maßnahmen in § 78 wäre es wünschenswert, wenn die Löschungsfristen in § 197 z. B. von 5 auf 10 Jahre wesentlich verlängert würden. Dies ist besonders wichtig bei Rückfalltätern. Im Beschwerderecht des Gefangenen in § 101 Abs. 1 ist eine wesentliche Verschlechterung eingetreten. Ganz bewusst ist die Verpflichtung zur Einrichtung von Sprechstunden bei dem Anstaltsleiter oder der Anstaltsleiterin gestrichen worden. („Die oder der Gefangene erhält Gelegenheit, schriftlich und mündlich Wünsche, Anregungen und Beschwerden in eigenen Angelegenheiten bei der Vollzugsbehörde vorzubringen.“) Die Verpflichtung des Anstaltsleiters oder der Anstaltsleiterin sich Beschwerden der Gefangenen anzuhören, wurde bewusst in § 108 Abs. 1 Satz 2 StVollG aufgenommen, weil so den europäischen Mindestanforderungen entsprochen wird und andererseits der Anstaltsleiter oder die Anstaltsleiterin sich über die Nöte der Gefangenen und die Atmosphäre in der Anstalt gut informieren kann. Für den Gefangenen ist es von Vorteil, dass er seine Probleme nicht nur
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seinen unmittelbaren Vorgesetzten sondern einem nicht unmittelbaren Entscheidungsträger vortragen kann. Durch die neue Regelung besteht die Gefahr, dass sich Anstaltsleiter oder Anstaltsleiterinnen der Verpflichtung, Gefangene anzuhören, entziehen. Durch die Sprechstunde werden viele Anträge auf gerichtliche Entscheidung entbehrlich und der Verwaltungsaufwand wird insgesamt geringer wie die Praxis zeigt. Dieser Meinung sind auch Staatsanwaltschaft und Richterschaft sowie die Rechtsanwaltskammer in Niedersachsen, dennoch wurde dieser Satz nicht in das Gesetz aufgenommen. Ebenso wurde eine Missbrauchsklausel nicht aufgenommen. Obwohl von der Rechtssprechung anerkannt, wäre für die Praxis eine solche Regelung im Zusammenhang mit dem Beschwerderecht eine wertvolle Hilfe. Die Regelung der Belegungsfähigkeit in § 174 Abs. 1 („Das Fachministerium setzt die Belegungsfähigkeit sowie die Zahl der Einzel- und Gemeinschaftsräume für jede Anstalt fest.“)ist unvollständig. Der Abs. 1 muss um einen weiteren Satz, der die Notbelegung festschreibt, ergänzt werden. Die Belegungsfähigkeit, nur nach der Zahl der Einzel- und Gemeinschaftsräume festzulegen, genügt nicht, denn sonst können die Räume mit beliebig viel Gefangenen belegt werden. Da ist auch Art. 20 Abs. 3 GG keine Bremse. Es sollte deshalb das Verbot der Überbelegung aus § 146 StVollzG übernommen werden, oder wie von der Anstaltsleitervereinigung in Niedersachsen vorgeschlagen, durch den Satz: „Die festgesetzte Belegungsfähigkeit darf nicht überschritten werden“, als Satz 2 ergänzt werden. Auch hier ist wieder eine Verschlechterung eingetreten. Mit § 178 wird eine ganz neue Möglichkeit des Justizvollzuges eröffnet. Danach können „fachlich geeignete und zuverlässige natürliche Personen, juristische Personen des öffentlichen oder privaten Rechts oder sonstige Stellen beauftragt werden, Aufgaben für die Vollzugsbehörde wahrzunehmen…“. Mit der Beauftragung vollzugsfremder Personen wird die Privatisierung des Justizvollzuges ermöglicht. Im Gegensatz zum Entwurf wird nicht mehr von „Übertragung der Aufgabenwahrnehmung“ sondern von „Beauftragung“ gesprochen, so dass eine Beleihung von Privaten nicht mehr möglich ist. Durch die „Beauftragung“ wird sichergestellt, dass nur nicht hoheitsrechtliche Befugnisse übertragen werden können, und eine Beauftragung nur im Bereich der reinen Leistungsverwaltung möglich ist. Durch die Beauftragung wird verdeutlicht, dass die Aufgabe selbst eine solche der Justizvollzugsbehörde bleibt. Trotzdem ist höchste Vorsicht geboten, denn im Vollzugsalltag sind kaum hoheitliche und nicht hoheitliche Bereiche klar von einander zu trennen. Außerdem besteht in Niedersachsen kein Bedarf für weitere größere Teilprivatisierungen. Es ist auch nicht ersichtlich, worin der Gewinn für Niedersachsen liegen sollte. So werden seit einiger Zeit
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keine Belegungsstatistiken mehr veröffentlicht, weil daraus hervorgeht, dass Haftplätze nicht unbedingt mehr benötigt werden. Daher sollten zunächst die Erfahrungen in anderen Ländern mit der Privatisierung von Justizvollzugsanstalten abgewartet und ausgewertet werden. So werden z. B. in England keine privaten Justizvollzugsanstalten mehr gebaut, weil sie sich nicht bewährt haben. Die Verpflichtung der Justizvollzugsbehörde in § 181 zur Zusammenarbeit mit anderen Behörden bzw. Institutionen ist Praxis fremd. Die Vollzugsbehörde kann keine andere Behörde oder Institution zur Zusammenarbeit zwingen. Die Formulierung bleibt daher wirkungslos und unehrlich. In Abs. 1 Satz 1 muss deshalb „…ist…eng zusammenarbeiten…“ durch „…soll…eng zusammenarbeiten“ ersetzt werden. Auch der Hinweis auf den Kompetenztitel für den Straf- und Untersuchungshaftvollzug nach Artikel 72 Abs. 1 Nr. 1 GG n. F. überzeugt nicht. Dieser besagt nur, dass die Initiative vom Justizvollzug ausgehen soll. Wenn die angesprochene Behörde oder Institution, wie es häufig in der Praxis der Fall ist, die Zusammenarbeit nicht will oder nicht leisten kann, dann hilft auch die zwingendeste Vorschrift nichts. Eine Evaluation des Justizvollzuges durch kriminologische Forschung ist unbedingt erforderlich. Allerdings ist die in § 189 Abs. 1 Satz 1 („die im Vollzug eingesetzten Maßnahmen namentlich Therapien und Methoden zur Förderung der Gefangenen, sind vom Fachministerium und den Vollzugsbehörden in Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Forschung im Hinblick auf ihre Wirksamkeit wissenschaftlich zu überprüfen.“) getroffene Regelung unzureichend. Eine beliebige Betrauung verschiedener Einrichtungen mit Forschungsaufgaben ist nicht sinnvoll. Es muss wie im § 166 StVollzG vorgesehen, die kriminologische Forschung im Strafvollzug institutionalisiert werden, nur dann kann anstaltsübergreifend gearbeitet werden; zumal das Bundesverfassungsgericht in seiner oben genannten Entscheidung eine Institutionalisierung der Evaluation im Strafvollzug gefordert hat. Dieser Vorgabe weicht der Gesetzestext wieder bewusst aus. Durch Einrichtung eines Kriminologischen Dienstes im Sinne von § 166 StVollzG wird eine Begleitforschung durch Universitäten oder anderen Institutionen nicht ausgeschlossen, wie es die Vergangenheit gezeigt hat. Der Datenschutz in den §§ 199 ff. war im Entwurf chaotisch gegliedert und in seiner Begrifflichkeit verwirrend. So wurde u. a. Datenerhebung mit Datenverarbeitung verwechselt usw. Durch die Korrekturen des parlamentarischen Beratungsdienstes entstand eine einigermaßen lesbare Fassung.
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III. Das vorliegende Gesetz entspricht nicht den Erwartungen, die im Vorfeld unter anderem mit Schlagworten wie „Wettbewerb der Qualität“ und nicht „Wettbewerb der Schäbigkeit“ geweckt wurden. Bis auf wenige Verbesserungen enthält das Gesetz wesentliche Verschlechterungen. Die oben aufgezeigten Mängel wurden nur beispielhaft benannt. Bei einer Prüfung im Einzelnen wird man noch mehr Mängel und Ungereimtheiten finden. Dies gilt auch für die Regelungen des Jugendstrafvollzuges. Die starke Anlehnung des Jugendvollzuges an den Erwachsenenvollzug wird deutlich durch die Unzahl von Querverweisungen, die das Gesetz unlesbar machen wie z. B. § 164 Abs. 3 oder § 176 Abs. 4 zeigen. Auch die Regelungen der Untersuchungshaft in diesem Gesetz weisen erhebliche Mängel auf, weil es in das Strafverfahrensrecht eingreift, soweit der Bundesgesetzgeber von seiner Gesetzgebungskompetenz gebraucht gemacht hat. So hält der Erste Strafsenat des OLG Oldenburg § 146 Abs. 3 i.V.m. § 134 Abs. 1 Nr. 1 in seiner Entscheidung vom 12.02.2008 – 1Ws 87/08 – für teilweise verfassungswidrig. Nach Auffassung des vorlegenden Senats gehört die richterliche Überwachung des Schriftverkehrs von Untersuchungsgefangenen, die vor allem in Bezug auf die in der StPO geregelten Haftgründe vorzunehmen ist, in den Bereich des dem Bundesgesetzgeber vorbehaltenen Untersuchungshaftrecht. Aus diesem Grund sei das Land Niedersachsen nicht befugt gewesen, die Zuständigkeit durch ein Landesgesetz abweichend zu regeln. Das Bundesverfassungsgericht soll dies nun klären. Der Niedersächsische Richterbund hat sowohl in der Presse als auch in seinem Verbandsblatt NRB-News vom 07.01.2008 erklärt, dass das NJVollzG unübersichtlich, kaum praktikabel und verfassungswidrig sei. Dieser Meinung kann man nur zustimmen. Das Gesetz sollte umgehend kassiert und in Ruhe überarbeitet werden. Auf Grund der Koalitionsvereinbarung vom 25.02.2008 der Regierungsparteien CDU und FDP in Niedersachsen soll dies auch geschehen und ist auch dringend erforderlich.
Privatisierung von Strafsanktionen MATTHIAS KRAHL
I. Formen der Privatisierung von Strafsanktionen Die Erscheinungsformen von Privatisierungen des Sanktionensystems im Strafrecht, Jugendstrafrecht und Betäubungsmittelstrafrecht sind vielfältig und lassen sich aufgrund der divergierenden kriminalpolitischen und kriminologischen Ausgangslagen nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Unterschiedliche Konzepte und Strategien werden mit diesen Privatisierungen der strafrechtlichen Reaktionen verfolgt.1 1. Zunächst gibt es in Deutschland eine ganze Reihe von privaten Sanktionsanbietern, die in Form gemeinnütziger Einrichtungen tätig sind und deren Dienste von der Strafjustiz genutzt werden können.2 Zu nennen sind hier insbesondere stationäre Drogentherapie-Einrichtungen, die seit 1982 gemäß § 35 BtMG durch eine Zurückstellung der Vollstreckung der im Urteil zugemessenen Strafe süchtigen Straftätern auf beinahe freiwilliger Grundlage die Alternative eröffnen, eine die Strafe ersetzende und kompensierende Behandlung in einer privaten oder staatlichen Einrichtung zu absolvieren. Eingebürgert hat sich hierfür der Slogan „Therapie statt Strafe“. Unschwer ist zu erkennen, dass bei Straftaten Drogenabhängiger, die nicht nur auf Verstößen gegen das BtMG beruhen, sondern vor allem auch bei Straftaten, die dem Bereich der Mittelbeschaffung zum Ankauf von Rauschmitteln zuzuordnen sind, der Freiheitsentzug ein eher ungeeignetes Mittel ist, um fördernd und bessernd auf diese Tätergruppe einzuwirken. Flankiert wird die Drogentherapie in Freiheit im Anfangsstadium durch die legale Abgabe von Ersatzdrogen (Methadon), um diese Tätergruppe aus ihrer Szene herauszubringen und von weiteren Straftaten abzuhalten. Das staatliche Sanktionenprogramm ist suspendiert, solange eine Therapie Aussicht auf Erfolg hat und greift erst bei ihrem Misslingen. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, Sozialpädagogen, Psychologen, Ärzte und weitere Berufe haben hier ein großes Arbeitsfeld bekommen, welches in Vollzugs1 Eine zusammenfassende Darstellung der gegenwärtigen Diskussion der Freiheitsstrafe m.z.N. gibt Manfred Seebode in Festschrift für Wilfried Küper 2007, S. 577 ff. 2 Dazu Walter Strafvollzug, 2. Aufl. 1999, Rn 24.
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anstalten kaum mit Aussicht auf Erfolg zu bearbeiten wäre. Es ist gerade der Anreiz, nicht die Freiheit zu verlieren, der die Probanden dazu bewegt, eine Therapie überhaupt erst einmal zu beginnen und dann auch durchzustehen. 2. Mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 wurde in § 46 a StGB und in § 10 Abs. 1 Nr. 7 JGG der Täter-Opfer-Ausgleich und die Schadenswiedergutmachung normiert als eine weitere Privatisierung von Strafsanktionen mit entsprechenden Ergänzungen bei den Möglichkeiten einer Strafaussetzung zur Bewährung3 und der Verwarnung mit Strafvorbehalt.4 Einem Täter wird die Möglichkeit gegeben, durch seinen privaten Einsatz den staatlichen Strafanspruch zurückzudrängen oder gar zu beseitigen im Bereich von Straftaten der unteren bis mittleren Kriminalität. Über § 49 Abs. 1 StGB kann er eine deutlich geringere Strafe erhalten oder er kann sogar durch Absehen von Strafe5 trotz Verurteilung ganz von einer Sanktion verschont bleiben. Voraussetzung hierfür ist, dass der Täter mit seinem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutmacht oder wenn er deren Wiedergutmachung zumindest ernsthaft erstrebt hat. Hierbei sind vor allem von gemeinnützigen Vereinen organisierte private Einrichtungen behilflich, die mit den Namen die „Brücke“ oder die „Waage“ bekannt geworden sind. Es bedarf nach umstrittener Auffassung der Anleitung einer dritten Person, z. B. eines Rechtsanwalts bei einem Angeschuldigten, der sich in Untersuchungshaft befindet. Angestrebt wird eine Lösung des der Tat zugrunde liegenden Gesamtkonflikts, eine Lösung, die auf eine friedensstiftende Wirkung abzielt.6 Nach § 160 Abs. 3 S. 2 StPO hat die Staatsanwaltschaft nach ihrem Ermessen die Möglichkeit, hier die Gerichtshilfe zu beteiligen, wovon allerdings bislang nur selten bei Erwachsenen – im Unterschied zu Jugendlichen und Heranwachsenden – Gebrauch gemacht wird.7 3. Die Tendenz im Strafrecht hin zu einer Privatisierung von Strafsanktionen wird sichtbar durch ein seit 1999 noch nicht abgeschlossenes Gesetzgebungsverfahren, in § 10 a StVollzG den elektronisch überwachten Hausarrest zu regeln.8 Auch ohne gesetzliche Grundlage wird diese privatisierte
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§§ 56 Abs. 2 S. 2, 56 b Abs. 2 Nr. 1 StGB. § 59 a Abs. 2 Nr. 1 StGB. 5 § 60 StGB. 6 Fischer StGB, 55. Aufl. 2007, § 46 a Rn 4; aA Horn SK-StGB, § 46 a Rn 6. 7 Kühne Strafprozeßrecht, 7. Aufl. 2007, Rn 163. 8 Siehe hierzu Dünkel NK-StGB, 2. Aufl. 2005, § 38 Rn. 10 mwN; Krahl NStZ 1997, S. 457 ff; Lesting in: AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, § 10a Rn 1 ff. 4
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Freiheitsstrafe bereits seit 1997 erprobt in Pilotprojekten bzw. praktiziert.9 Kurze Freiheitsstrafen von nicht mehr als sechs Monaten – die in Deutschland allerdings keine Bedeutung haben – oder die praktisch relevanten Restfreiheitsstrafen sollen in der eigenen Wohnung mittels elektronischer Überwachungssysteme, die am Körper getragen werden müssen, vollzogen werden. In Hessen findet die elektronische Fußfessel weit überwiegend Anwendung in Fällen, in denen eine Freiheitsstrafe oder nach einer Teilverbüßung in der JVA der verbliebene Strafrest zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Diese Maßnahme soll eine verbesserte Kontrolle des Straffälligen in der Bewährungszeit als Auflage bzw. Weisung10 bewirken, auch um Rückfallstraftaten zu verhindern. Bei einem Verstoß gegen den Hausarrest riskiert der Verurteilte den Bewährungswiderruf und muss dann die verhängte Freiheitsstrafe weiter verbüßen. Die Überwachung erfolgt durch einen Zentralcomputer, der automatisch den zuständigen Mitarbeiter der Bewährungshilfe informiert, wenn von den vorgegebenen Zeiten der Proband abweicht. Der Mitarbeiter setzt sich dann umgehend mit diesem in Verbindung, um den Verstoß näher aufzuklären. Dies bedeutet eine zusätzliche Einschränkung bei unter Bewährung und Auflagen stehenden. Daneben kommt die Fußfessel in Hessen auch in Fällen zum Einsatz, in denen durch die elektronische Überwachung eine Untersuchungshaft vermieden werden kann. Sie findet dann als Maßnahme bei der Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls Anwendung.11 Ferner kommt diese als Weisung im Rahmen einer Führungsaufsicht in Betracht.12 Erstrebt wird hiermit eine Entlastung der überfüllten staatlichen Gefängnisse sowie eine Kostenersparnis, denn die elektronische Überwachung soll weniger kosten als die Unterbringung in der Untersuchungshaft oder im geschlossenen Vollzug. Den Bewährungshelfern kommt die Aufgabe zu, im Einvernehmen mit dem Gericht bzw. der Aufsichtsstelle die Erfüllung dieser Weisungen zu überwachen. Die Erfolgschancen des elektronischen Hausarrests dürften von einer hohen Betreuungsintensität durch Sozialarbeiter abhängig sein, wobei allerdings fraglich ist, ob diese stattfindet. Für den Probanden wird ein detaillierter Wochenplan erstellt, in welchem angegeben ist, wann er zu Hause sein soll, wie seine sinnvolle Tagesbeschäftigung aussieht und wie lang seine Freizeit ist. Unabdingbare Voraussetzung für die Teilnahme an diesem Versuchsprojekt ist, das der Proband mindestens 20 Stunden in der Woche einer sinnvollen Beschäftigung nachgeht. Dies kann ein versicherungs9 In Hessen seit 2001. Vgl. Details bei Mayer Modellprojekt. Elektronische Fußfessel. Befunde der Begleitforschung – Zwischenbericht Mai 2002 –, Freiburg i. Br. 2002. 10 § 56 c StGB. 11 § 116 StPO. 12 § 68 b StGB.
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pflichtiges, freies Arbeitsverhältnis, gemeinnützige Arbeit oder eine Therapie sein.13 Der elektronische Hausarrest begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken: Er beinhaltet einen Eingriff in die Privatsphäre und würde gesetzlich normiert zu einer legalen Möglichkeit der elektronischen Totalüberwachung und Ausforschung werden. Eine Ausweitung des Netzes der sozialen Kontrolle steht zu befürchten. Täter, die an sich für ambulante Maßnahmen geeignet wären, könnten über den Umweg der elektronischen Überwachung doch in Haft gelangen, falls sie gegen Bewährungsweisungen verstoßen.14 Eine Privatisierung von Freiheitsstrafen erfolgt durch den Hausarrest jedoch an sich nicht, diese ist nur scheinbar. Vielmehr nutzt der Staat lediglich den Privatbereich von Straffälligen, um dort mittels des beschriebenen staatlichen Kontrollinstrumentariums eine gelockerte Freiheitsstrafe15 kostensparend zu realisieren. Für die Bewährungshilfe erweitert sich beim Hausarrest das Tätigkeitsfeld und es verschärft sich ihr Rollenkonflikt.16 Dass der Bewährungshelfer zur optimalen Erfüllung seiner Aufgaben ein gutes, wenn möglich vertrauensvolles Verhältnis zu seinen Probanden haben sollte, liegt auf der Hand. Andererseits ist er aber Helfer des Gerichts, für das er die Erfüllung der Auflagen und Weisungen zu überwachen und welchem der Bewährungshelfer über die Lebensführung zu berichten hat. Bei der elektronischen Fußfessel kommt der Überwachungsfunktion des Bewährungshelfers besondere Bedeutung zu, die seiner sozialen Arbeit mit dem Probanden widerstreitet, da das kontrollierende Element einem vertrauensvollen Zusammenwirken entgegenwirkt. Relevante Verstöße gegen den Hausarrest muss er dem Gericht mitteilen und kann zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe führen. Seine soziale Arbeit findet unter erschwerten Bedingungen statt. Am Hausarrest wird kritisiert, dass an die Stelle von Verhaltensänderungen im Wege des resozialisierenden Haftvollzuges eine bloße technische Verhaltenskontrolle tritt, und dass diese scheinbare Alternative sich zu einem eigenständigen Instrument entwickeln könnte mit der Folge einer verstärkten Verurteilung zu freiheitsentziehenden Sanktionen,17 die dann im Wege der elektronischen Überwachung ggf. abgemildert werden können. 4. Weiteres Beispiel für eine Privatisierung von Strafsanktionen ist die gemeinnützige Arbeit. Sie wird in Hessen und anderen Bundesländern als 13 Vgl. hierzu Pressemitteilung des hessischen Justizministeriums vom 02.01.2006 und 11.10.2007. 14 Kaiser/Schöch Strafvollzug (Einführung), 5. Aufl. 2003, § 4 Rn 28. 15 Im Vergleich zum offenen Regelvollzug. 16 § 56 d Abs. 3 StGB beschreibt ihre Aufgaben. 17 Siehe Lesting aaO, § 10 a Rn 11 ff.
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Alternative für die Vollstreckung uneinbringlicher, also nicht bezahlter Geldstrafen schon seit 1985 angeboten18 und erfolgreich erprobt.19 An sich tritt an die Stelle der Geldstrafe in solchen Fällen die Ersatzfreiheitsstrafe.20 Die Privatisierung der Sanktion besteht im Verzicht auf den hoheitlichobrigkeitlichen Freiheitsentzug und seiner Ersetzung durch eine Wiedergutmachung an der Gesellschaft, die durch die gemeinnützige Arbeit des zu Strafe Verurteilten – ggf. auch in entsprechenden privaten Einrichtungen – geleistet wird. Neben den vorteilhaften, erheblichen Kosteneinsparungen21 für den Staat spricht für sie die Kombination verschiedener Strafzwecke, welche verwirklicht werden können. Die Resozialisierung des Täters wird dadurch erleichtert, dass seine sozialen Kontakte durch den Eingriff nicht gestört werden und fördert beim ihm die Entwicklung sozialen Verantwortungsgefühls, indem er z. B. durch die gemeinnützige Arbeit konstantes Arbeitsverhalten erlernt. Nur durch eine enge Vernetzung bzw. Zusammenarbeit der Justizbehörden mit den Gerichts- und Bewährungshelfern und den gemeinnützigen Organisationen kann dieses wichtige Programm erfolgreich gestaltet werden. Die Vermittlung entsprechender Einsatzstellen zur Ableistung gemeinnütziger Arbeit erfolgt in den meisten Fällen durch die Gerichts- und Bewährungshelfer bei den Staatsanwaltschaften, die die Verurteilten wie auch die Einsatzstellen beraten und betreuen. Nach den Empfehlungen des Berichtes der Kommission zur Zukunft der sozialen Dienste der Justiz in Hessen aus dem Jahr 2006 wird die Schaffung einer einheitlichen Organisation der Gerichts- und Bewährungshilfe in staatlicher Regie und keine Privatisierung – anders als in der Diskussion bei den Gerichtsvollziehern – empfohlen.22 Lediglich die Vermittlung der Ableistung gemeinnütziger Arbeit soll auf einen privaten Träger delegiert werden, also das Projekt „Schwitzen statt Sitzen“ nicht teilprivatisiert werden. Die Mitarbeiter des Justizdienstes sollen entsprechend ihrer Ausbildung in der pädagogischen Betreuungsarbeit weiterhin eingesetzt werden. Das bedeutet bezogen auf dieses Projekt, dass es den Gerichts- und Bewährungshelfern obliegt, die Einhaltung der Ableistung der gemeinnützigen Arbeit kontrollierend zu begleiten und gravierende Verstöße dem Gericht mitzuteilen. Ihre Klientel, die eine verhängte Geldstrafe nicht bezahlen kann oder will, wird häufig Probleme am Arbeitsmarkt haben und dürfte bei der Ableistung der gemeinnützigen Arbeit 18
Nach Art. 293 EGStGB iVm Landesrecht. Eingebürgert hat sich hierfür in der Alltagssprache der Slogan „Schwitzen statt Sitzen“. 20 § 43 StGB. 21 In Hessen über 10 Millonen € in 2005, vgl. mit weiteren Einzelheiten Pressemitteilung des Hessischen Justizministeriums vom 31.07.2006. 22 Siehe hierzu die Pressemitteilung des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 09.08.2006. 19
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Schwierigkeiten verschiedenster Art haben. Im Jugendstrafrecht ist sie mittlerweile zu einer dominierenden Sanktion geworden und es liegt für das Erwachsenenstrafrecht ein Bundesratsgesetzentwurf vor zu ihrer Einführung als weiterer Hauptstrafe ins StGB.23 5. Seit Ende der neunziger Jahre wird darüber hinaus die Privatisierung des Vollzuges von Freiheitsstrafen nicht nur diskutiert, sondern von der Praxis umgesetzt.24 1998 wurde zuerst in Mecklenburg-Vorpommern eine Strafanstalt von einem privaten Investor in Absprache mit der Landesjustizverwaltung gebaut und nach seiner Fertigstellung an das Land verleast. Beabsichtigt wurde die Einsparung von hohen Anlaufkosten, also der Bauplanungsund -herstellungskosten.25 In Nordrhein-Westfalen wurde eine Abschiebehaftanstalt für ausländische Gefangene teilprivatisiert. Erforderliche Dienstleistungen auch im Sicherungsbereich der Haftanstalt wurden an private Firmen vergeben.26 In Hessen wurde in Hünfeld erstmals in Deutschland eine Strafvollzugsanstalt in einem Modellversuch für normale Gefangene teilprivatisiert, die seit Anfang 2006 in Betrieb ist.27 Hintergrund dieser Privatisierung ist die deutliche Überbelegung der hessischen Anstalten, die einen zügigen Kapazitätsausbau erforderlich machen soll und die äußerst angespannte Haushaltslage der öffentlichen Hand, aufgrund derer Einsparungen unumgänglich sein sollen. Von privaten Dienstleistern verspricht sich die Justizpolitik, diese Ziele ohne Qualitätseinbuße beim resozialisierenden Vollzug erreichen zu können.
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Kaiser/Schöch aaO, § 4 Rn 23. Vgl. Walter ZfStrVo 1998, S. 3 ff.; Di Fabio JZ 1999, S. 585 ff.; Hoffmann-Riem JZ 1999, S. 427 ff.; Maelicke ZfStrVo 1999, S. 73 ff.; Bonk JZ 2000, S. 435 ff.; Kruis ZRP 2000, S. 1 ff.; Wagner ZRP 2000, S. 169 ff.; Flügge ZfStrVo 2000, S. 259 ff.; Smartt ZfStrVo 2001, S. 67 ff.; Brauser-Jung/Lange ZfStrVo 2001, S. 162 ff.; Maelicke ZfStrVo 2002, S. 9 ff.; vgl. aus der monographischen Literatur z. B. Kulas Privatisierung hoheitlicher Verwaltung, 2. Aufl. 2001; insb. zur Situation in den USA Nibbeling Die Privatisierung des Haftvollzugs, 2001; Roth Privatisierungsmöglichkeiten im geschlossenen Strafvollzug, 2006; Meyer Larsen Privatisierung von Strafvollzug, 2007. 25 Zusammenfassend Dünkel aaO, § 38 Rn 24. 26 Zur historischen Entwicklung vgl. die auch rechtsvergleichende Darstellung bei Laubenthal Strafvollzug, 4. Aufl. 2007, Rn 39 m.z.N.; Kaiser/Schöch Strafvollzug (Lehrbuch), 5. Aufl. 2002, § 5 Rn 70 ff; Walter aaO, Rn 149 f. 27 Vgl. auch Huchting/Lehmann in: Feest, AK-StVollzG, 5.Aufl. 2006, Vor § 139 Rn 6 f. 24
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II. Privatisierungsmodelle: Teil- und Vollprivatisierung Das Modell der Justizvollzugsanstalt Hünfeld „macht Schule“:28 In Baden-Württemberg und Sachsen Anhalt werden derzeit ebenfalls teilprivatisierte Anstalten nach ihrem Vorbild errichtet. Teilprivatisierung bedeutet, dass die Tätigkeiten der Privaten auf Dienstleistungen im weiteren Sinne begrenzt sind, jedoch ohne hoheitliche Eingriffsbefugnisse gegenüber den Gefangenen. Alle hoheitlichen Vollzugsaufgaben, die Eingriffsbefugnisse gegenüber den Gefangenen, die Verantwortung für die Sicherheit, wie auch die Gesamtverantwortung für die Anstalt verbleiben beim Staat. Anfängliche Pläne einer Vollprivatisierung nach englischem oder US-amerikanischem Vorbild wurden aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgegeben. Bei einer Vollprivatisierung geht die Strafanstalt vollständig in private Hände über einschließlich ihrer Leitung. Der Staat beschränkt sich darauf, ein Kontrollorgan für den Privatdienstleister zu stellen.29 Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass nach deutschem Recht eine Privatisierung des Strafvollzuges als Ganzes unzulässig ist, da der Strafvollzug zum Kernbereich staatlicher Aufgabenwahrnehmung gehört, derer er sich nicht entledigen darf.30 Dies würde mit dem Rechtsstaatsprinzip und Sozialstaatsauftrag des Grundgesetzes kollidieren und zu einem nicht hinnehmbaren Defizit an Rechtspositionen der Gefangenen führen.31 Die Dienstleistungen in der Vollzugsanstalt Hünfeld werden von dem englischen, weltweit tätigen Dienstleistungskonzern Serco erbracht.32 In 28 Siehe Pressemitteilung des Hessischen Justizministeriums vom 08.01.2007 mit seiner Erfolgsbilanz. 29 Zu den einzelnen Privatisierungsmodellen vgl. Kaiser/Schöch aaO (Lehrbuch), § 5 Rn. 75 f. 30 Dünkel aaO, § 38 Rn 25 mwN; Rotthaus/Wydra in: Schwind/Böhm/Jehle, StVollzG, 4. Aufl. 2005, § 155 Rn 1. 31 Vgl. m.w.N. z. B. Laubenthal a.a.o., Rn 41 ff. 32 Das Aufgabenspektrum der Serco GmbH in Hünfeld setzt sich wie folgt zusammen: Gebäudebewirtschaftung, Reinigung, Wartung und Instandhaltung technischer Anlagen; Videoüberwachung der Liegenschaft; Verpflegung der Gefangenen und die Versorgung mit bestimmten Waren des täglichen Bedarfs; Stellung des Anstaltarztes sowie des Pflegepersonals und Übernahme des Betriebs der Krankenstation für die ambulante und stationäre medizinische Regelversorgung; Sicherstellen der fachärztlichen Versorgung in der Anstalt, um die Verlegung von Gefangenen zu medizinischen Einrichtungen außerhalb der JVA Hünfeld möglichst zu vermeiden; Psychologische, soziale und pädagogische Beratungsdienste; Organisation und Betrieb der Werkstätten, Durchführung der arbeitstherapeutischen Beschäftigung und der Maßnahmen zur schulischen und beruflichen Bildung der Gefangenen; Regelmäßige Sportund Freizeitangebote, von der Bibliothek über Gefangenenzeitung und Literaturkreise bis hin zu musisch kreativen Aktivitäten; Zentralassistenzen, d.h. Unterstützung des Sicherheits-, Stations- und Besuchsdienstes; Unterstützung des staatlichen Vollzugsdienstes in kaufmännischen und sonstigen Verwaltungstätigkeiten. Vgl. Case Study Justizvollzugsanstalt Hünfeld der Serco GmbH, www.serco.de.
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Großbritannien betreibt dieser Dienstleister Strafvollzugsanstalten, ist aber auch in ganz anderen Bereichen des öffentlichen Lebens tätig, wie im Gesundheitswesen, Transportgewerbe, in der Landesverteidigung und Justiz.
III. Verfassungsrechtliche und vollzugsrechtliche Implikationen einer Teilprivatisierung von Strafvollzugsanstalten 1. Nach den Ergebnissen der Arbeitsgruppe „Modellprojekte zur Privatisierung im Strafvollzug“, einer vom Hessischen Ministerium der Justiz einberufenen Sachverständigengruppe33 bestehend aus juristischen Praktikern, soll die Teilprivatisierung von JVA’s auf der Grundlage des geltenden Rechts ohne eine Änderung des StVollzG möglich sein. Voraussetzung sei, dass sich die Tätigkeit der Privaten auf Dienst- und Serviceleistungen im weiteren Sinne ohne Eingriffsbefugnisse gegenüber Gefangenen beschränke. Die Teilprivatisierung ohne Eingriffsqualität soll im Einklang mit dem sog. Gewaltmonopol des Staates stehen, welches verfassungsrechtlich in Art. 33 Abs. 4 GG verankert ist.34 Das Gewaltmonopol des Staates ist ein grundlegendes Element des Rechtsstaates. Ausnahmen sieht das Gesetz nur in engen Grenzen vor, z. B. bei Notwehr, im Falle der Selbsthilfe oder des Notstandes. Die Begründung der Arbeitsgruppe für die Vereinbarkeit der Teilprivatisierung von JVA’s mit Art. 33 Abs. 4 GG lautet: Die vertraglich verpflichteten Personen im Strafvollzug handelten nicht in eigenem Namen, sondern stets (nur) im Auftrag der Justizvollzugsbehörden. Sie seien lediglich Verwaltungs- bzw. Vollzugshelfer. Auch der Organisationskompetenzordnung der Art. 83 ff. GG widerspreche nicht die Teilprivatisierung.35 Ferner widerstreite nach Auffassung dieser Arbeitsgruppe die Privatisierung im Strafvollzug auch nicht dem Demokratie- und Sozialstaatsprinzip. Die strafverfassungsrechtliche Rechtslage wird von den Befürwortern einer Teilprivatisierung vereinfachend als unproblematisch angesehen. Sie ist aber komplexer angelegt. 2. Ein sinnvoller Ausgangspunkt für eine Beurteilung der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Frage nach Möglichkeiten einer Privatisierung im Strafvollzug ist die Entscheidung des BVerfG zur Entlohnung Strafgefan33
Vgl. Kurzzusammenfassung des Berichts vom Dezember 1999, www.hmdj.hessen.de. Dieser Grundgesetzartikel besagt: „Die Ausübung hoheitlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen“. 35 Art. 83 GG statuiert: „Die Länder führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zuläßt“. 34
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gener aus dem Jahr 1998.36 Das BVerfG konkretisiert bekanntlich mit Gesetzeskraft das Verfassungsrecht. Diese Gerichtsentscheidung nimmt zwar an sich nicht Stellung zu Möglichkeiten bzw. zur Zulässigkeit einer Teilprivatisierung des Vollzuges von Freiheitsstrafen. Das Urteil enthält jedoch wichtige Erläuterungen zur Interpretation des StVollzG vor dem Hintergrund des Verfassungsrechts. Es führt grundsätzlich aus, wie der Strafvollzug auf der Basis des Grundgesetzes auszusehen hat. Einer Vollprivatisierung des Strafvollzuges wird dabei eine klare Absage erteilt.37 Das Gericht konkretisiert die Strafe dahingehend, dass für alle staatliche Gewalt verbindlich ein verfassungsrechtliches Resozialisierungsgebot bestehe.38 Die Verfassung gebiete, den Strafvollzug auf das Ziel der Resozialisierung der Gefangenen hin auszurichten. Der einzelne Gefangene habe aus Art. 2 Abs. 1 GG (der allgemeinen Handlungsfreiheit) i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (der Menschenwürde) einen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass dieser Zielsetzung bei ihn belastenden Maßnahmen genügt werde.39 Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot lege den Gesetzgeber allerdings nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept fest, vielmehr sei ihm für die Entwicklung eines wirksamen Strafvollzugskonzeptes ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet.40 Dieser BVerfG’s-Entscheidung lässt sich demnach entnehmen, dass der Vollzug auf das Resozialisierungsziel hin auszurichten sei als Verfassungsauftrag und dass dem Gesetzgeber und den Vollzugsbehörden in der inhaltlichen und formalen Organisation Spielraum, auch für Privatisierungen, verbleibe. Jedoch zeigt es bei der Arbeitspflicht auf, dass der Staat die Verantwortung für die ihm anvertrauten Gefangenen nicht delegieren könne und damit einer Privatisierung hier jedenfalls deutliche Grenzen gezogen seien. Dies entspricht dem bereits zitierten Art. 33 Abs. 4 GG. Dieser gibt das Berufsbeamtentum als Institution des Rechts vor und bestimmt, dass die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben – in der Regel – von Beamten wahrzunehmen ist. Art. 33 Abs. 4 GG ist damit seinem Wesen nach eine institutionelle Garantie und seinem Inhalt nach ein Funktionsvorbehalt. Sinn die36
BVerfGE 98, S. 169 ff, 200. Zwei seiner Leitsätze sind hier von Relevanz: „Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber, ein wirksames Konzept der Resozialisierung zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen. Dabei ist ihm ein weiter Gestaltungsraum eröffnet.“; „Art. 12 Abs. 3 GG beschränkt die zulässige Zwangsarbeit auf Einrichtungen oder Verrichtungen, bei denen die Vollzugsbehörden die öffentlich-rechtliche Verantwortung für die ihnen anvertrauten Gefangenen behalten.“. 38 BVerfGE 98, S. 201. 39 BVerfGE 98, S. 200. 40 BVerfGE 98, S. 201. 37
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ser institutionellen Garantie ist es, einer Institution, nämlich den Beamten, die hervorgehobene Rolle bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zuzuweisen. Die Beamten erscheinen gegründet auf die Erwartung ihrer besonderen fachlichen Qualifikation und Loyalität hierfür als besonders geeignet.41 Dieser GG-Artikel lässt gleichwohl zu, dass staatliche Aufgaben auch von außerhalb des öffentlichen Dienstes tätigen Personen wahrgenommen werden dürfen. Aus Art. 33 Abs. 4 GG kann aber gefolgert werden, dass grundsätzlich Beamten zuzuweisende Bereiche nicht so ohne weiteres zur Wahrnehmung auf Private, die außerhalb der staatlichen Organisation stehen, übertragen werden dürfen. Das Grundgesetz zieht also einer Teilprivatisierung des durch hoheitliche Befugnisse gekennzeichneten resozialisierenden Strafvollzuges Grenzen. Eine Teilprivatisierung ist nicht ohne weiteres möglich, sondern bedarf im Einzelnen besonderer Begründungen. Dem entsprechen die Regelungen des § 155 StVollzG, der die Aufgabenzuweisung an Vollzugsbedienstete konkretisiert.42 3. Die in der strafrechtlichen Literatur zum StVollzG aufzufindenden Stellungnahmen sind wenig kompromissbereit, sondern beziehen praktisch durchweg zu Recht eine klare Position auch gegen Teilprivatisierungen. Die Begründungen sehen folgendermaßen aus: Privatisierungen stünden einem humanen Vollzug entgegen, seien verfassungsrechtlich bedenklich und verkürzten die Rechte der Gefangenen. Die behauptete Kostenersparnis sei bisher empirisch nicht nachgewiesen43 und besonders schwierig wäre eine Rückführung in den staatlich organisierten Vollzug im Falle der Insolvenz eines privaten Betreibers. Private, marktwirtschaftlich orientierte Firmen hätten das natürliche Ziel einer Gewinnmaximierung, so dass nicht von ihnen zu erwarten sei, dass sie sich in erster Linie am verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot ausrichteten, sondern die Sicherheitsinteressen in den Vordergrund stellten. Auch sei nicht zu erwarten, dass die Privaten mehr Sozialarbeiter, Psychologen, Pädagogen oder Ärzte beschäftigten als der Staat. Ihrem wirtschaftlichen Hauptziel entsprechend würden sie eher bestrebt sein, die bloße Verwahrung der Gefangenen zu garantieren.44 Die vollständige oder teilweise Ausklammerung der verfassungsrechtlich und 41 So werden z. B. an der Fachhochschule für Rechtspflege Nordrhein-Westfalen in Bad Münstereifel bundesweit in einem dreijährigen theoretischen und praktischem Studium Beamte des gehobenen Dienstes auf ihre Tätigkeit im Strafvollzug vorbereitet. A.A. Laubenthal a.a.O., Rn 46 m.w.N. 42 Ebenso Dünkel aaO; Rotthaus/Wydra aaO. 43 Laubenthal a.a.O., Rn 39 m.w.N.; Dünkel aaO, § 38 Rn 24 unter Hinweis auf höhere Gesamtkosten aufgrund langfristiger Vertragsbindungen. 44 Huchting/Lehmann aaO, Vor § 139 Rn 7.
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gesetzlich geregelten Behandlungs- und Resozialisierungsaufgaben aus dem Bereich der hoheitlichen Vollzugsaufgaben sei mit dem geltenden Recht nicht zu vereinbaren,45 sondern entspreche vielmehr der gegenwärtigen rechtspolitischen Zielsetzung, den Strafvollzug weitgehend für private Aktivitäten, insbesondere im Bereich der Resozialisierung zu öffnen.46 Es kann also konstatiert werden: Die Übertragung der von den Vollzugsbeamten wahrzunehmenden Aufgaben nach § 155 Abs. 1 S. 2 StVollzG auf vertraglich verpflichtete Privatpersonen ist eine Ausnahmeregelung und nur zulässig, wenn hierfür besondere sachliche Gründe vorliegen.47 Ein besonderer Grund für die Übertragung von Vollzugsaufgaben liegt vor, wo dies sachlich erforderlich und geboten, wie vertretbar ist. So z. B. die Hinzuziehung eines nichtbeamteten, vertraglich verpflichteten Verwaltungshelfers, wenn bestimmte Behandlungsmaßnahmen nur periodisch oder zeitlich begrenzt zur Anwendung kommen und sich wegen der fachlichen Spezialkenntnis die Vorhaltung einer ständigen Beamtenstelle nicht lohnt. Dem Einsatz von privaten Sicherheitskräften wird einhellig zu Recht widersprochen,48 da für ihren Einsatz kein besonderer Grund vorliegt, es im Resozialisierungsvollzug keine auf reine Bewachungsfunktionen beschränkten Bediensteten mehr gibt und die privaten Sicherheitskräfte für die dem allgemeinen Vollzugsdienst obliegenden Aufgaben auch nicht ausgebildet sind.49 Das Regel- Ausnahmeverhältnis des § 155 Abs. 1 S. 2 StVollzG würde aus rechtspolitischen und ökonomischen Gründen in sein Gegenteil verkehrt werden. An der Teilprivatisierung ist des weiteren zu kritisieren, dass eine Auslagerung von Funktionen der Anstaltsversorgung, die bisher von staatlichen Eigenbetrieben wahrgenommen werden, auf private Dienstleistungsunternehmen (wie Küche, Bäckerei, Gärtnerei, Wäscherei, Tischlerei) mit dem StVollzG nicht vereinbar ist, weil damit in nicht unerheblichem Maße Arbeits- und Ausbildungsplätze für die Gefangenen verloren gehen, zu deren Schaffung und Erhaltung die Justizverwaltung aber verpflichtet ist.50 4. In § 149 StVollzG sind die Arbeitsbetriebe und Einrichtungen zur beruflichen Bildung normiert. Die Unterstellung der Gefangenen unter die ausschließliche Leitungsgewalt eines Privaten lässt das Gesetz nicht zu. Es 45 Unter Hinweis auf die mitunter massiven Grundrechtseingriffe beim Behandlungsvollzug vgl. Rotthaus/Wydra aaO. 46 Calliess/Müller-Dietz StVollzG, 10. Aufl. 2005, § 155 Rn 3 f. 47 Calliess/Müller-Dietz aaO, § 155 Rn 6, 9; Feest in: Feest-AK-StVollzG, 5 Aufl. 2006, § 155 Rn 3. 48 Vgl zB Dünkel aaO, § 38 Rn 25. 49 Laubenthal aaO, Rn 47 m.w.N. 50 §§ 2, 37 ff StVollzG.
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dürfen in der Anstalt nur private Unternehmerbetriebe zugelassen werden, in denen unter der öffentlich-rechtlichen Gesamtverantwortung der Vollzugsbehörde gearbeitet wird.51 Eine Beleihung privater Unternehmen mit der Wahrnehmung dieser staatlichen Kernaufgaben im Strafvollzug ist mit dem Staatsvorbehalt und mit dem verfassungsrechtlichen Funktionsvorbehalt als auch mit den Schranken des Art. 12 Abs. 3 GG unvereinbar.52 Die Wahrnehmung solcher originären Staatsaufgaben durch Bedienstete im Sinne des öffentlichen Dienstrechts soll den Strafvollzug vor Gefahren einer Ökonomisierung bewahren, die erfahrungsgemäß im Gefolge des Konkurrenz- und Kostendrucks mit einer Privatisierung einherzugehen pflegen.53 Allerdings berührt dies nicht Service-Leistungen und die Wahrnehmung von Helfer-Funktionen durch Private, so wie diese auch schon bisher in verschiedenen Tätigkeitsbereichen des Strafvollzugs üblich waren und sind. Fraglich ist schon seit längerem, ob die Tätigkeit eines Gefangenen in einem privaten Unternehmerbetrieb – sei es innerhalb oder außerhalb der JVA – ohne seine Zustimmung Zwangsarbeit darstellt und deshalb erst recht einer Teilprivatisierung der Arbeit in einer Anstalt entgegensteht. Gegen Zwangsarbeit schützt den Strafgefangenen neben Art. 12 Abs. 3 GG ein von Deutschland ratifiziertes Internationales Abkommen.54 Dieses Ilo-Übereinkommen enthält Interpretationsrichtlinien für die Abgrenzung unzulässiger Zwangs- und Pflichtarbeit von erlaubter Arbeits- und Dienstverpflichtung Strafgefangener. Das Übereinkommen bezweckt, den Handel mit menschlicher Arbeitskraft zu unterbinden. Im Hinblick auf dieses Abkommen hat der Gesetzgeber in § 41 Abs. 3 StVollzG diese Art der Beschäftigung von der Zustimmung des Gefangenen abhängig gemacht. Diese Bestimmung ist bislang aber immer noch nicht durch besonderes Bundesgesetz in Kraft gesetzt worden, so wie dieses an sich § 198 Abs. 3 StVollzG vorsieht mit einer Frist bis zum 31. Dezember 1983! Gleichwohl kommt ein Verstoß gegen das ILO-Übereinkommen bei Unternehmerbetrieben nur in Betracht, wenn der Gefangene an einen Privatunternehmer verdingt oder er sonst diesem zur Verrichtung von Arbeiten überlassen werden soll. Nur dann greift der Schutzzweck des ILOÜbereinkommens ein, nämlich den kommerziellen Handel mit der Arbeitskraft von Gefangenen zu unterbinden. Dies ist bei sog. Unternehmerbetrieben noch nicht der Fall.55 Ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis zwischen 51
BVerfGE 98, S. 209. Art. 12 GG regelt die Berufsfreiheit und sein Abs. 3 lautet: „Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig“. 53 Calliess/Müller-Dietz aaO, Einl. Rn 45. 54 Übereinkommen Nr. 29 der Internationalen Arbeitsorganisation über Zwangs- und Pflichtarbeit. 55 Krahl NStZ 1992, S. 207. 52
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den Gefangenen und dem Privatunternehmer wird durch die Tätigkeit nicht begründet. Diese bleibt vielmehr rechtlich eingebunden in die Sonderrechtsbeziehung des Gefangenen mit dem Staat kraft gerichtlicher Verurteilung nach dem StVollzG.56 Die Tätigkeit des Gefangenen in einem Unternehmerbetrieb darf deshalb auch nur unter Überwachung, Aufsicht und nach Weisung durch das staatliche Vollzugspersonal ausgeführt werden.57 § 149 Abs. 4 StVollzG sieht für Angehörige eines Unternehmerbetriebes eine ausdrücklich einschränkende Regelung vor, dass ihnen nur die technische und fachliche Leitung der Arbeiten übertragen werden darf. Zudem schreibt die Verwaltungsvorschrift zu § 149 StVollzG vor, dass die Angehörigen von Unternehmerbetrieben auf die Einhaltung von Anweisungen der Justizvollzugsbehörden zu verpflichten sind, die ihren Tätigkeitsbereich inhaltlich festlegen. Das Zustimmungserfordernis des § 41 Abs. 3 StVollzG wurde nicht zeitgleich mit dem StVollzG in Kraft gesetzt, sondern einem späteren, längst verstrichenen Zeitpunkt vorbehalten, um den Landesjustizverwaltungen ausreichend Zeit und finanziellen Spielraum zu geben, um die Beschäftigung Strafgefangener zu einem höheren Anteil von Unternehmerbetrieben auf andere Beschäftigungsarten wie Eigenbetriebe umzustellen. Das StVollzG intendiert demnach gerade nicht eine Privatisierung der Arbeit der Gefangenen, sondern das Gegenteil staatlich organisierter Beschäftigungsmöglichkeiten. Das BVerfG58 stellt dementsprechend fest, dass der Verfassungsgeber bei der Ermächtigung des Art. 12 Abs. 3 GG zur Pflichtarbeit von den herkömmlichen Formen der Arbeit im Strafvollzug – also ihrer staatlichen Organisation – ausgegangen sei. Weiterhin sollte es möglich sein, den Strafvollzug durch Arbeitsbeschäftigung sinnvoll zu gestalten und damit zur Resozialisierung des Gefangenen beizutragen. In seiner Entscheidung zum Arbeitsentgelt versteht das BVerfG die Arbeit als ein zentrales Mittel sozialer Integration. Die Auferlegung von Arbeitspflicht sei Teil des vom Gesetzgeber entwickelten Resozialisierungskonzepts. Das StVollzG sehe gerade in der Arbeit einen Weg, um Fähigkeiten für ein straffreies Leben in Freiheit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten und zu fördern.59 Dieses Konzept des Arbeitssystems des StVollzG i. V. m. seiner Auslegung durch das BVerfG lässt unschwer erkennen, dass es nicht mit Blick auf Möglichkeiten einer Teilprivatisierung gemacht worden ist. Das StVollzG geht bei der Arbeit der Gefangenen von staatlichen Eigenbetrie56
Vgl. Art. 12 Abs. 3 GG. So auch BVerfGE 98, S. 169, 205 f. 58 E 98, S. 169, 205. 59 Vgl. hierzu § 37 StVollzG, der die Zuweisung von Arbeit, Ausbildung und Weiterbildung für Gefangene regelt. 57
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ben mit entsprechend qualifiziertem Vollzugspersonal als Regelfall aus. Unternehmerbetriebe Privater sollen die Ausnahme bilden. Dieses RegelAusnahmeverhältnis wird durch weit reichende Teilprivatisierungen wie z. B. in Hünfeld in sein Gegenteil verkehrt und widerspricht der Systematik des Gesetzes. Das vergleichsweise konsequent umgesetzte Resozialisierungsziel des StVollzG läuft Gefahr, durch die Hintertür von Teilprivatisierungen relativiert bzw. unterlaufen zu werden. Die Arbeitspflicht von Gefangenen ist mit einer Teilprivatisierung von Anstalten deshalb nicht zu vereinbaren. 5. Die unzureichende gesetzliche Bestimmtheit der angedrohten Freiheitsstrafe wird zu Recht schon lange gerügt.60 Der Begriff der Freiheitsstrafe ist heute zu einem noch offeneren Blankettmerkmal des Strafgesetzbuchs geworden.61 Mit welcher strafenden Reaktion der Straffällige konkret in seinem Einzelfall zu rechnen hat ist ungewiss, so z. B. wenn anliegt, ob elektronischer Hausarrest zur Anwendung kommt oder nicht. Außerhalb und innerhalb der Strafvollzugsanstalten halten die jeweiligen Bundesländer unterschiedliche Sanktionsprogramme bereit. Nicht nur durch die Differenzierung des Vollzugsalltages aufgrund der Förderalismusreform mit seiner Zersplitterung der vollzugsrechtlichen Regelungen,62 sondern zudem durch die organisatorische Differenzierung in staatliche und teilprivatisierte Vollzugsanstalten als auch der Haftverschonung durch die elektronische Überwachung kann von einer gleichen und inhaltlich bestimmten Freiheitsstrafe keine Rede sein. Art. 103 Abs. 2 GG fordert nicht nur die Bestimmtheit der Voraussetzungen der Tat ein,63 sondern ebenso die der Strafe in ihrer konkreten Gestalt und nicht nur ihrer Art und Höhe nach.64 Aufgrund der recht zahlreichen interpretationsbedürftigen, offenen Formulierungen im StVollzG haben die Anstalten schon bislang ohnehin einen weiten Gestaltungsspielraum wie die Freiheitsstrafe konkret im Einzelfall aussieht.65 Aus
60 Dazu Seebode Strafvollzug I, 1997, S. 79; Krahl Die Rechtsprechung zum Bestimmtheitsgrundsatz, 1986, S. 179, 229 m.N., 404. 61 Siehe mit detaillierter Argumentation und zahlreichen Nachweisen Seebode aaO (Fn 1), S. 580 ff. 62 Landesstrafvollzugsgesetze verstärken die Zersplitterung und führen zur Unstimmigkeit des Strafrechts, siehe Seebode aaO (Fn 1), S. 589. 63 Zusammenfassend am Beispiel des § 323 c StGB Seebode in Festschrift für Günter Kohlmann 2003, S. 279 ff. 64 Kritisch zu der Differenz des Vollzugsalltags angesichts der individualpräventiven Entscheidungen der Vollzugsexekutive bereits Seebode in Festschrift für Dionysios Spinellis 2001, S. 1014. 65 Näher Seebode a.a.O. (Fn 53), S. 164 f.
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den gesetzlichen Regelungen muss sich jedoch ergeben, wie bestraft wird und insbesondere wie schwer die Strafe den einzelnen trifft.66 Bei einem teilprivatisierten Vollzug der Freiheitsstrafe ist die konkrete Gestalt ihrer Vollziehung abhängig von dem jeweiligen privaten Dienstleister und seinem individuellen, vertraglich abgesprochenen Konzept. Einer Teilprivatisierung steht deshalb das Gebot der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafe entgegen. Sie ist somit aus den beschriebenen Gründen grundgesetzwidrig. Im Zusammenspiel von Förderalismusreform und gelegentlichen Teilprivatisierungen wird der Vollzug der Freiheitsstrafe hochindividuell. Die Strafgerechtigkeit bleibt hierbei auf der Strecke.67 Einem Strafverteidiger wächst die Aufgabe zu, im Interesse seines Mandanten Einfluß auf den örtlichen Vollzug der Freiheitsstrafe zu nehmen und zwar nicht nur durch in praxi genutzte Möglichkeiten eines Wohnsitzwechsels des Verurteilten vor Rechtskraft des Urteils,68 sondern auch im Hinblick auf konkrete Anstalten innerhalb eines Bundeslandes. 6. Hintergrund für die beschriebene Entwicklung zugunsten von Teilprivatisierungen ist ein rechtspolitischer Klimawandel gegenüber der Entstehungszeit des StVollzG in der ersten Hälfte der 70’er Jahre. Der Gedanke der Sicherheit und Gefahrenabwehr ist in der öffentlichen Diskussion gegenüber dem Resozialisierungsziel in den Vordergrund getreten.69 Entgegen den ganz überwiegend ablehnenden Stellungnahmen in der Strafrechtswissenschaft70 ist im Rahmen der Föderalismusreform wenig beachtet die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug von der Republik auf die Länder übergegangen.71 Das StVollzG des Bundes hätte gegenwärtig im Bundestag kaum mit der erforderlichen Mehrheit an diese veränderten rechtspolitischen Strömungen angeglichen werden können. Länderstrafvollzugsgesetze haben nicht lange auf sich warten lassen. In Bayern und Niedersachsen sind z. B. entsprechende Entwürfe bereits ausgearbeitet worden, unter anderem mit der Konsequenz einer Neujustierung der Strafvollzugsziele und des Verhältnisses von offenem und geschlossenem Vollzug. Die 66 Hierzu im einzelnen Seebode aaO (Fn 55), S. 1015 f.; Krahl Tatbestand und Rechtsfolge, 1999, S. 108 ff. 67 Besondere Bedeutung kommt hier dem Vollstreckungsplan des jeweiligen Landes zu. Mit der Inbetriebnahme der JVA Hünfeld wurde dieser für das Land Hessen geändert. Ausgenommen sind für Hünfeld Sexualstraftäter und Straftäter mit versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten. Vgl. RdErl. d. MdJ. v. 31.01.2006 – JMBl. S. 241. 68 Siehe zur landesspezifischen Differenzierung der Freiheitsstrafe Seebode aaO (Fn 1), S. 590 f. 69 Siehe Seebode aaO (Fn 1), S. 582 f. 70 Z.B. Müller-Dietz ZfStrVo 2005, S. 38 ff.; Dünkel/Schüler-Springorum ZfStrVo 2006, S. 145 ff. 71 Hierzu eingehend Seebode aaO (Fn 1), S. 577 ff. m.z.N.
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öffentliche Sicherheit vor Gefangenen wird – neben der Resozialisierung – zum bestimmenden Vollzugsziel. Ergänzt wird dieser Politikwandel im Strafvollzug durch Teilprivatisierungen von Vollzugsanstalten zum Zweck einer fraglichen, nicht erwiesenen Kostenersparnis,72 einer erhofften Verbesserung der Qualität der Serviceleistungen in den Anstalten, als auch einer Erhöhung der Sicherheit.
IV. Folgen der Privatisierung für die soziale Arbeit im Strafvollzug 1. In einer Stellungnahme des Bundes der Strafvollzugsbediensteten73 wird die Teilprivatisierung kritisch gesehen: Die privaten Dienstleister böten bei höheren Kosten eine schlechtere Qualität, weil ihre Mitarbeiter über keine vollzugsspezifische Ausbildung verfügten und damit im Gegensatz zu Vollzugsbediensteten nicht multifunktional einsetzbar seien. Im JVA-Betrieb seien zwar deutliche Einsparpotentiale für die auf private übertragbaren Funktionsbereiche erkennbar geworden, doch würden diese Vorteile durch die Gewinnzuschläge der Privaten und die Mehrwertsteuerbelastung des Serviceentgelts vollständig aufgezehrt werden. Der Strafvollzug laufe Gefahr, aus dem gerade noch umsetzbaren Behandlungsvollzug in einen Verwahrvollzug früherer Prägung zurückzufallen, wenn weiterhin der drastische Sparkurs fortgesetzt werde.74 2. Strukturell wird es einen Unterschied machen, ob die vom Sozialstaatsprinzip gebotene75 soziale Arbeit bzw. Hilfe im Strafvollzug in staatlicher oder in privaten Händen liegt, da die Zielorientierungen divergieren. Staatliche Sozialarbeit steht nicht vorrangig unter den Vorgaben marktwirtschaftlichen Denkens, welches bei einer Teilprivatisierung nicht ausgeblendet werden kann, da dieses Beweggrund des Engagements Privater ist. Der Arbeitsplatz z. B. eines Sozialpädagogen wird dann nicht als Beschäftigter im öffentlichen Dienst oder als Beamter bestritten, sondern im Angestelltenverhältnis unter den Bedingungen von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt inklusive anderer Arbeitszeiten und eines anderen Entlohnungssystems. Die Auswahl des Vollzugspersonals erfolgt durch die privaten Dienstleister. Einsparmöglichkeiten an der Qualität der Resozialisierungs72
Ebenso Feest/Lesting in: Feest, AK-StVollzG, 5. Aufl. 2006, Vor § 1 Rn 11. Vgl. zu den rechtlichen Grenzen einer Privatisierung des Jugendstrafvollzuges Gusy www.bsbd-brb.de. 74 Zur Privatisierung der Sozialdienste vgl. Bertram/Huchting in Feest, AK-StVollzG, 5. Aufl. 2006, Vor § 71 Rn 29 f. 75 BVerfGE 35, S. 236. 73
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programme werden von den Privaten, wenn dies möglich ist, genutzt werden.76 Diese veränderten Rahmenbedingungen werden nicht ohne nachteilige Auswirkungen bleiben auf die inhaltliche Gestalt und das Selbstverständnis der sozialen Arbeit.77 Das positiv bewertete Pilotprojekt der JVA Hünfeld kann zudem nur schwer mit den Ergebnissen in anderen JVA’s verglichen werden, da es sich hier um eine brandneue Anstalt auf der Grundlage modernster Arbeitsorganisation handelt, die älteren Anstalten natürlich überlegen ist. Die beschriebenen vorteilhaften ökonomischen Resultate privater Anbieter verzerren das Bild, da ein sachgerechter Vergleich gar nicht stattfindet. 3. Bereits länger wird an den staatlichen sozialen Diensten kritisiert, dass die Lebenslage der Klienten aus Mangel an intensiver, umfassender und kontinuierlicher Hilfeleistung im Wesentlichen unverändert bleibe.78 Aus diesem Grund wurde vorgeschlagen, die bisher getrennt arbeitenden drei Säulen bestehend aus Gerichtshilfe, Sozialdienst in den Vollzugsanstalten und Bewährungshilfe zu einem einheitlichen Sozialdienst der Justiz zusammenzufassen und nach dem Prinzip der durchgehenden Betreuung zu strukturieren. Die Teilprivatisierung auch der sozialen Dienste durchkreuzt derartige Bestrebungen nach Kontinuität und bei einem privatwirtschaftlich orientierten Dienstleister wird eher eine relativ hohe Fluktuation des angestellten, marktwirtschaftlichen Betreuungspersonals zu erwarten sein. Die soziale Arbeit wird als soziale Hilfe in den §§ 71-75 StVollzG in einem recht engen Rahmen institutionalisiert.79 Die Ziele einer modernen, professionellen Sozialarbeit, wie der Aufbau und Erwerb sozialer Kompetenz und Identitätsbildung bei den Probanden oder Initiative und Innovationen lassen sich in diesem gesetzlichen Rahmen ohnehin nur unzureichend verwirklichen.80 Diese Vorschriften konkretisieren die Ansprüche der Gefangenen an die Anstalt bei der Aufnahme in diese, während des Vollzuges und zur Entlassung. Kritisiert wird seit Langem, dass ein Sozialarbeiter bzw. Soziapädagoge eine zu hohe Zahl an Gefangenen81 zu betreuen hat. Eine Verbesserung dieser unzureichenden bis mangelhaften Ausstattung der Vollzugsanstalten mit Sozialarbeitern wird bei weiteren Teilprivatisierungen nicht zu erwarten sein. Gefragt ist an sich von der Aufgabenstellung her 76
Ebenso Laubenthal aaO, Rn 49; Dünkel aaO. Ebenso Huchting/Lehmann aaO, Vor § 139 Rn 8. 78 Bertram/Huchting in Feest, AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, Vor § 71 Rn 33. 79 Der Grundsatz der sozialen Hilfe ist in § 71 StVollzG wie folgt beschrieben: „Der Gefangene kann die soziale Hilfe der Anstalt in Anspruch nehmen, um seine persönlichen Schwierigkeiten zu lösen. Die Hilfe soll darauf gerichtet sein, den Gefangenen in die Lage zu versetzen, seine Angelegenheiten selbst zu ordnen und zu regeln“. 80 Bertram/Huchting aaO, Vor § 71 Rn 13 m.w.N. 81 Durchschnittlich ca. 80. 77
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ein verstärktes persönliches und fiskalisches Engagement im Vollzug, um den hohen Rückfallzahlen wirkungsvoller begegnen zu können. Mit diesem Votum wird man allerdings in den oftmals populistischen, an der Tagespolitik orientierten Diskussionen über leere Kassen gegenwärtig kaum Aussicht auf Gehör haben. Beobachtet werden kann dagegen eher ein leichter Rückgang der im Strafvollzug beschäftigten Sozialarbeiter/Sozialpädagogen, verursacht durch Planstellenstreichungen und Wiederbesetzungssperren.82
V. Resümee Die Privatisierung von Strafsanktionen am Beispiel der begrüßenswerten Instrumente der Therapie statt Strafe, des Täter-Opfer-Ausgleichs, der Schadenswiedergutmachung und der gemeinnützigen Arbeit sind konstruktiv und erfolgreich, sowie juristisch im wesentlichen unbedenklich. Der elektronisch überwachte Hausarrest ist ein ambivalenter Versuch, welcher Chancen und Gefahren in sich birgt und damit ein fragliches Beispiel einer scheinbaren Privatisierung der Strafrechtsfolge. Die Teilprivatisierung des Vollzuges der Freiheitsstrafe durch Kapitalgesellschaften ist zurückzuweisen als ein Schritt in die falsche Richtung, da hierdurch das Strafvollzugsrecht und das Verfassungsrecht missachtet werden. Durch die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz im Strafvollzugsrecht vom Bund auf die Länder sowie die Teilprivatisierung von Vollzugsanstalten wird die Rechtsfolge Freiheitsstrafe ausdifferenziert und kann nunmehr in ihrer rechtlichen und praktischen Gestalt recht unterschiedlich ausfallen, so dass die gesetzliche Bestimmtheit der Rechtsfolge Strafe nicht mehr gewährleistet ist. Im Strafvollzugsrecht droht nunmehr zudem die Gefahr eines Paradigmenwechsels weg vom resozialisierenden Vollzug hin zu einem Sicherungsvollzug. Der offene Vollzug als Regelvollzug gerät auf den Prüfstand zugunsten einer Reetablierung des geschlossenen Vollzugs. Die erkennbaren Entwicklungstendenzen von Privatisierungen im Strafrecht sind recht unterschiedlichen Ursprungs und gründen sich auf ganz unterschiedliche kriminalpolitische und kriminologische Konzepte bis hin zur Konzeptionslosigkeit, so dass diese sich einer einheitlichen Bewertung entziehen.
82 Bertram/Huchting aaO, Vor § 71 Rn 36 mit Bezug auf die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialarbeiter und -pädagogen bei den JVA’s e.V.; dies. aaO, 5. Aufl. 2006, Vor § 71 Rn 19.
Alterskriminalität und Altenstrafvollzug KLAUS LAUBENTHAL
I. Einleitung Kriminelles Verhalten alter Menschen war bislang kaum Objekt kriminologischer Forschungen. Stand in den letzten Jahrzehnten die Kinder- und Jugendkriminalität deutlich mehr im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses, so erlangt die aufgrund von sinkenden Geburtenraten und ansteigender Lebenserwartung bedingte Alterung unserer Gesellschaft zunehmende Aktualität in der Kriminologie. Dabei waren es vor allem Medienberichte1 über Aufsehen erregende Einzelfälle, welche die älteren Straftäter in den Blickpunkt des gesellschaftlichen und nunmehr zunehmend des wissenschaftlichen Interesses rückten. Die immer deutlicher zutage tretende Überalterung unserer Gesellschaft und die damit verbundenen Folgen erreichen mittlerweile den Bereich des Freiheitsentzugs. Lange Zeit befand sich die einzige deutsche Einrichtung für den Altenstrafvollzug im baden-württembergischen Singen als Außenstelle der Justizvollzugsanstalt Konstanz.2 Inzwischen praktizieren bzw. planen auch andere Bundesländer wie z. B. Hessen3 eine solche Haftform. Der sich abzeichnende Wandel in der Altersstruktur der Inhaftierten stellt spezifische Herausforderungen an die Vollzugsgestaltung. Auch wenn Gefangene mit höherem Lebensalter in absehbarer Zukunft eine Minderheit in der jeweiligen Vollzugspopulation der Strafanstalten darstellen, ist dennoch 1 Siehe etwa die Berichte über die sog. Opa-Bande, drei Rentner, die sich in hohem Alter wegen schweren Raubes in 14 Fällen vor dem Landgericht Hagen zu verantworten hatten (vgl. Süddeutsche Zeitung v. 28./29.5.2005, S. 17) oder über den „Opa-Räuber“, der im Oktober 2007 in München wegen zahlreicher bewaffneter Überfälle auf Sparkassen und Supermärkte zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde (Süddeutsche Zeitung v. 12.10.2007, S. 50). 2 Dazu Justizvollzugsanstalt Konstanz Strafvollzug an älteren Menschen, 2005; Rennhak Alte Menschen im Justizvollzug – Erfahrungen aus Baden-Württemberg, in: Kriminalpädagogische Praxis Heft 45, S. 19 ff.; Schramke Alte Menschen im Strafvollzug, 1996, S. 315 ff. 3 Siehe zur Abteilung für über 55-jährige Strafgefangene in der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt-Ziegenhain Fennel Gefängnisarchitektur und Strafvollzugsgesetz, 2006, S. 270; Porada Seniorenabteilung: Gemeinsame (altersgerechte) Unterbringung älterer Gefangener oder zielgruppenspezifischer Behandlungsvollzug? in: Kriminalpädagogische Praxis Heft 45, S. 23 ff.
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den besonderen Bedürfnissen alter Menschen in den Einrichtungen gerecht zu werden. Nach den Daten der Strafvollzugsstatistik lässt sich in den zurückliegenden Jahren bei den Strafgefangenen (ohne Sicherungsverwahrte) eine allmähliche Verschiebung hin zu älteren Jahrgängen erkennen.4 Zwar spiegelt die Altersstruktur der eine Freiheitsstrafe verbüßenden Inhaftierten nicht die Altersverteilung in der bundesdeutschen Bevölkerung wider. In der Vollzugspopulation dominieren immer noch jüngere Jahrgänge. Festzustellen ist jedoch seit dem Jahr 1992 ein fast kontinuierlicher Anstieg der Anteile derjenigen, die das 60. Lebensjahr bereits vollendet haben (siehe Tabelle). Das betrifft nicht nur die absoluten Zahlen, sondern auch den prozentualen Anteil an allen Strafgefangenen. Lag Letzterer im Jahr 1992 noch bei 1,51 Prozent, so vergrößerte sich dieser in 15 Jahren auf 3,12 Prozent. Die absolute Anzahl älterer Inhaftierter im Freiheitsstrafenvollzug hat sich von 1992 bis 2006 mehr als verdreifacht. Tab.: Entwicklung des Anteils älterer Gefangener im Vollzug der Freiheitsstrafe Jahr 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Freiheitsstrafe insg. 35 401 37 128 39 327 41 353 43 475 45 718 50 021 52 351 53 183 52 939 52 988 55 012 56 069 56 122 57 142
60 Jahre und älter 536 537 586 615 722 751 985 1087 1245 1292 1386 1516 1657 1767 1785
Prozent 1,51 1,45 1,49 1,49 1,66 1,64 1,97 2,08 2,34 2,44 2,62 2,76 2,96 3,15 3,12
Quelle: Statistisches Bundesamt, Strafvollzug – Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen am 31.03. – Fachserie 10 Reihe 4.1 – 1992-2006. 4
Vgl. Laubenthal Strafvollzug, 4. Aufl. 2007, S. 37.
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II. Kriminologische Aspekte Unter Alterskriminalität5 versteht man ein gegen Strafgesetze verstoßendes Verhalten alter Menschen. Als Alterskriminalität im eigentlichen Sinne einzuordnen sind – zumindest mittelbar – diejenigen Delikte, die sich auf den physischen, psychischen und sozialen Prozess des Alterns zurückführen lassen.6 Altern ist zwar eine individuelle Entwicklung. Dennoch gilt als eine soziale Definition des Alterns das Überschreiten des sechzigsten Lebensjahres. Es wird deshalb in der Kriminologie als Alterskriminalität die Gesamtheit aller Straftaten von Personen umschrieben, die 60 Jahre und älter sind. Auch die Polizeiliche Kriminalstatistik zieht bei der Altersstruktur der Tatverdächtigen in der Gruppe der Erwachsenen eine Grenze bei 60 Jahren.
1. Kriminalitätsumfang Der steigende Anteil alter Menschen an der deutschen Bevölkerung bleibt nicht ohne Auswirkungen auf deren Kriminalitätsbelastung. Keinesfalls kann aber aus diesem Zuwachs gefolgert werden, dass alte Menschen immer krimineller würden. Dies bestätigt auch ein Blick in die Tatverdächtigenzahlen: Während von den strafmündigen Bundesbürgern gut ein Viertel7 zur Gruppe der über 60-Jährigen gehört, betrug im Jahr 2006 deren Anteil an den Tatverdächtigen nur 6,3 Prozent.8 Die relative Belastung der alten Menschen liegt somit noch deutlich unter ihrem Bevölkerungsanteil. Der niedrige Anteil der Alterskriminalität an der Gesamtkriminalität wird im Wesentlichen auf folgende Faktoren zurückgeführt: Alterskriminalität ist in nicht geringem Umfang als Kriminalität der Schwäche zu interpretieren.9 Vor allem physische und psychische Abbauerscheinungen (etwa der Körperkraft oder der zerebralen Dynamik) reduzieren auch die kriminelle Energie und erschweren die Begehung zahlreicher Delikte. Das altersbedingte Ausscheiden aus dem Erwerbsprozess und damit verbunden eine partielle oder völlige Ausgliederung aus dem Hauptstrom gesellschaftlichen Lebens bedingen darüber hinaus eine Abnahme sozialer Konflikte und somit von 5 Dazu Eisenberg Kriminologie, 6. Aufl. 2005, S. 773 ff.; Jaksch Erstdelinquenz alter Menschen – mögliche Einflüsse cerebraler Alterserkrankungen, 1984, S. 4; Kaiser Kriminologie, 3. Aufl. 1996, S. 493 ff.; Kreuzer/Hürlimann Alte Menschen als Täter und Opfer, 1992; Schwind, Kriminologie, 17. Aufl. 2007, S. 74 ff. 6 Hierzu Keßler Straffälligkeit im Alter, 2005, S. 6 ff.; Schneider Kriminologie, 1987, S. 699. 7 Vgl. Statistisches Bundesamt Statistisches Jahrbuch 2006, S. 42. 8 Siehe Bundeskriminalamt PKS 2006, S. 72. 9 So bereits Albrecht/Dünkel Die vergessene Minderheit – alte Menschen als Straftäter –, in: Zeitschrift für Gerontologie 1981, S. 269; Fopp Die Straftaten des alten Menschen, 1969, S. 79; siehe auch Keßler (o. Fn 6), S. 351 ff.
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Gelegenheiten zu deliktischem Handeln.10 Zahlreiche alte Menschen unterliegen zudem einer verstärkten informellen Kontrolle im sozialen Nahraum. Bevormundung in der Familie oder das Leben in abgegrenzten Systemen der Heime fördert letztlich ihr normkonformes Verhalten. Schließlich sind die Strafverfolgungsbehörden als Instanzen der formellen Sozialkontrolle offenbar geneigt, eher jugendspezifische Delikte zu verfolgen und minder schwere Verfehlungen alter Menschen zu exkulpieren. So werden überdurchschnittlich viele Verfahren in dieser Altersgruppe eingestellt. Da die Altersdelinquenten zumindest im Hellfeld ganz überwiegend Ersttäter sind,11 kommt es im Bereich dieser sog. Spätkriminalität auch seltener zur Verhängung von Freiheitsstrafen und zu deren Vollstreckung.
2. Kriminalitätsstruktur Die Alterskriminalität unterscheidet sich in ihrer Struktur deutlich von jener aller übrigen Altersgruppen. Hinsichtlich der Erscheinungsformen der Alterskriminalität lassen sich keine altersspezifischen Delikte feststellen,12 d.h. Delikte, die in der Mehrzahl von alten Menschen begangen werden. Dominieren über 60-Jährige auch bei keiner Form des Rechtsbruchs, so liegt die Besonderheit des Kriminalitätsbildes jedoch in einem begrenzten Deliktsspektrum: Eigentums- und Straßenverkehrsdelikte nehmen den ganz überwiegenden Anteil der Alterskriminalität ein. Dagegen spielen Gewalttaten wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung oder Raub eine untergeordnete Rolle.13 Werden sie von älteren Tätern begangen, hat das jedoch auch bei diesen gegebenenfalls die Verhängung und Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Unrechtsreaktion zur Folge. Auch andere gegen die Person gerichtete, Kraft und Energie erfordernde Aggressionshandlungen – wie etwa vorsätzliche Körperverletzungen – fallen weniger ins Gewicht.14 Gleichwohl gibt es strafbares Verhalten, dessen Ätiologie und Begehungsweise als alterstypisch zu bezeichnen ist. Zu den alterstypischen Delikten zählt als häufigste Form des Angriffs auf eine Person deren schwächster Begehungsmodus: die verbale Beleidigung. Zwar wurden im Jahr 2006 insgesamt 143 732 über 60-jährige Tatverdächtige polizeilich registriert und weist die Kriminalstatistik bei den Beleidigungsdelikten der §§ 185 ff. StGB insoweit lediglich 16 144 Tatverdächtige 10
Albrecht/Dünkel (o. Fn 9), S. 270; ähnlich Eisenberg (o. Fn 5), S. 773. Siehe Kaiser (o. Fn 5), S. 495; Keßler (o. Fn 6), S. 10 f., 347. 12 Keßler (o. Fn 6), S. 347. 13 Vgl. Hasenpusch Worüber sprechen wir? Ältere Gefangene im Spiegel der Statistik, in: Kriminalpädagogische Praxis Heft 45, S. 13 ff. 14 Dazu bereits Jaksch (o. Fn 5), S. 8. 11
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aus (= 11,2 Prozent).15 Eine Strafverfolgung wegen Beleidigung hängt aber vom Strafantrag des in seiner Ehre Verletzten ab, welcher mit Rücksicht auf das hohe Alter der Tätergruppe seltener gestellt wird – wie überhaupt davon auszugehen ist, dass Delikte älterer Menschen durch eine größere Toleranz bedingt seltener zur Anzeige gelangen.16 Liegt ein Strafantrag vor, werden zumeist die einer strafgerichtlichen Verurteilung vorgelagerten Erledigungsmechanismen bemüht.17 Ein wesentlicher Anteil der Rechtsbrüche alter Menschen entfällt auf Delikte im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr.18 Hierbei dominieren das unerlaubte Entfernen vom Unfallort, die Trunkenheit am Steuer sowie die fahrlässige Körperverletzung. Ursachen hierfür liegen häufig im involutiven Leistungsrückgang begründet. Beeinträchtigt wird die Teilnahme am motorisierten Verkehr im Alter insbesondere durch den Abbau der sensomotorischen Funktionen. Das Delikt des einfachen Diebstahls steht von seiner Häufigkeit her in allen Altersgruppen an erster Stelle der vorsätzlich begangenen Straftaten. Der Anteil liegt bei den alten Männern im Vergleich zu allen anderen Altersgruppen der männlichen Tatverdächtigen am höchsten.19 Auffallend gering ist jedoch die Quote der über 60-jährigen männlichen Täter beim Diebstahl unter erschwerenden Umständen, die bei ca. 1 Prozent liegt.20 Der alte Mann bevorzugt somit das Vermögensdelikt, das die geringsten Anforderungen an Tatplan und kriminelle Energie stellt. Dementsprechend beschränkt er sich im Wesentlichen auf die Wegnahme von Waren in Kaufhäusern und Selbstbedienungsläden. Über die Motivationslage dieser Täter lässt sich jedoch keine allgemein gültige Aussage treffen. Relevanz kann dem Aspekt der übermäßig vorhandenen Freizeit ebenso zukommen wie Armut oder der Furcht vor einer möglichen Verarmung. Die Deliktsbegehung mag auch einen Appellcharakter tragen und damit eine Reaktion auf soziale Isolierung bedeuten.21 Anders stellt sich dies bei der Betrugskriminalität dar. Hier erscheinen finanzielle Probleme des Täters selbst bzw. nahe stehender Personen als ein zentrales Tatmotiv. Einem kleinen Täterkreis geht es zudem um die Aufrechterhaltung seines ungeschmälerten Lebensstandards nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Etwa jahrzehntelang völlig zuverlässige 15
Vgl. Bundeskriminalamt PKS 2006, S. 91. Kreuzer/Hürlimann (o. Fn 5), S. 30 f. 17 Dazu Eisenberg (o. Fn 5), S. 776. 18 Im Jahr 2005 erfolgten 42,8 Prozent der Verurteilungen in dieser Altersgruppe wegen Straftaten im Straßenverkehr (Statistisches Bundesamt Strafverfolgung 2005, Tab. 2.1). 19 2006: 32,7 Prozent (Bundeskriminalamt PKS 2006, S. 91). 20 2006: 1,2 Prozent (Bundeskriminalamt PKS 2006, S. 91). 21 So auch Kreuzer/Hürlimann (o. Fn 5), S. 35. 16
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Buchhalter, Kassenverwalter usw. treffen kurz vor ihrer Pensionierung mit hoher krimineller Intensität „Vorsorge“ für ihren Lebensabend.22 Unter den abgeurteilten Altersstraftaten nimmt die Sachbeschädigung zahlenmäßig zwar nur eine untergeordnete Rolle ein.23 Dass in diesem Bereich aber ein großes Dunkelfeld existiert, dürfte auf den bereits zur Beleidigung beschriebenen Faktoren beruhen. Auch die Sachbeschädigung ist als Delikt der Schwäche24 zu interpretieren. Der alte Mensch kann hierdurch dem Stärkeren, dem er in direkter Auseinandersetzung unterliegen würde, ohne Selbstgefährdung Schaden zufügen. Zu den von alten Männern begangenen Sachbeschädigungen zählt insbesondere das sog. Autokratzen.25 Ein solcher Autokratzer beschädigt parkende Wagen einerseits aufgrund von Versagenserlebnissen. Das Auto symbolisiert für ihn Schnelligkeit, Unabhängigkeit, Wohlstand und wird zum Sinnbild der eigenen untergeordneten sozialen Stellung eines alten Menschen. Autokratzen findet sich zudem als ein Akt der Selbsthilfe. Der alte Mensch ärgert sich über einen vermeintlich rechtswidrigen Zustand, für dessen Abhilfe er keine behördliche Unterstützung erfährt. Die forensischen Wissenschaften richteten im Zusammenhang mit Alterskriminalität lange Zeit ihr Augenmerk vor allem auf die Sexualdelikte alter Männer.26 Es entstand das Stereotyp vom alten Mann als Kinderschänder, der Kinder auf sexueller Ebene deshalb als Opfer auswähle, weil von diesen der schwächste Widerstand zu erwarten sei und sie das geringste Risiko sexueller Blamage böten. Bereits ein Blick in die Verurteiltenstatistik zeigt jedoch, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern weder als altersspezifisches noch als alterstypisches Delikt zu werten ist.27 Zwar existiert gerade in diesem Kriminalitätsbereich – insbesondere bei Sexualdelikten im Verwandten- und Bekanntenkreis – ein enormes Dunkelfeld.28 Anzeichen dafür, dass dieses bei den 60- und über 60-jährigen Tätern größer sein könnte, gibt es allerdings nicht. Kriminologische Forschungen haben zudem ergeben, dass körperliche Verletzungen gerade nicht zum Erscheinungsbild der Sexualdelinquenz von alten Männern an Kindern gehören. Das Tatgeschehen besteht vor allem in exhibitionistischer Betätigung oder verbaler Aktivität.29 22
Vgl. hierzu Schneider (o. Fn 6), S. 709. 2006: 4,4 Prozent (Bundeskriminalamt PKS 2006, S. 91). 24 Kaiser (o. Fn 5), S. 493. 25 Dazu Fopp (o. Fn 9), S. 67; Keßler (o. Fn 6), S. 52 f.; Laubenthal Phänomenologie der Alterskriminalität, in: Geriatrie Praxis 1990, S. 38; Schneider (o. Fn 6), S. 703. 26 Siehe Keßler (o. Fn 6), S. 62 ff.; Körner Sexualkriminalität im Alter, 1977, S. 116 ff. 27 2005: 8,9 Prozent aller Verurteilungen gem. §§ 176-176b StGB (Statistisches Bundesamt Strafverfolgung 2005, Tab. 2.1). 28 Laubenthal Sexualstraftaten, 2000, S. 100. 29 Keßler (o. Fn 6), S. 64 f.; Laubenthal (o. Fn 25), S. 39. 23
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Im Vergleich zu anderen Altersgruppen fällt der Unterschied in der Kriminalitätsbelastung zwischen den Geschlechtern bei den alten Menschen am geringsten aus. Zu den am häufigsten von alten Frauen begangenen Straftaten gehört das Delikt des einfachen Diebstahls. Typische Form weiblicher Alterskriminalität ist dabei der einfache Ladendiebstahl.30
3. Ursachen der Alterskriminalität Alterskriminalität ist ganz überwiegend sog. Spätkriminalität, d.h. etwa drei Viertel der Altersdelinquenten geraten erstmals ins Hellfeld und werden wegen einer Straftat sanktioniert.31 Ebenso wie im Kriminalitätsspektrum insgesamt gibt es im Bereich der Kriminalität alter Menschen nicht d i e Ursache des Normbruches, so dass auch hier jeder monokausale Erklärungsversuch der Vielschichtigkeit des abweichenden Verhaltens nicht gerecht werden kann. Auszugehen ist vielmehr von einem pluralistischen Mehrfaktorenansatz, der verschiedenartige Faktoren, Persönlichkeitsmerkmale und Umwelteinflüsse umfasst. Alterskriminalität gründet nicht selten auf dem physischen, psychischen sowie sozialen Alterungsprozess.32 Das kriminelle Verhalten alter Menschen kann durch individuell divergierende Abbau- und Rückbildungserscheinungen bedingt sein. Hirnorganische Psychosyndrome, affektiv-charakterliche Abbausyndrome infolge atrophischer bzw. arteriosklerotischer Hirnschäden, involutive Wesensveränderungen, Minderungen der intellektuellen Anpassungs- und Leistungsfähigkeit oder altersbedingt herabgesetzte Einsichtsfähigkeit können kriminogene Wirkung erlangen.33 So liegen etwa die Ursachen der Rechtsbrüche im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr häufig im involutiven Leistungsrückgang begründet; hinzukommen Beeinträchtigungen durch den Abbau sensomotorischer Funktionen. Ein altersbedingter Rückgang der Kritikfähigkeit schränkt das Differenzierungsvermögen zwischen Recht und Unrecht ein, wobei ein zusätzlicher Vitalitätsschwund – gerade im Bereich der Diebstahlsdelikte – die Energie vermindern kann, „günstigen“ Gelegenheiten zu widerstehen. Das Altern stellt im Sinne eines tertiären Sozialisationsprozesses den Übergang zu einem neuen sozialen Status dar.34 Dieser ist weitgehend geprägt von einer sozialen Ausgliederung, welche neue Verhaltensanforderungen an die Betroffenen stellt. Das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben 30
Bundeskriminalamt PKS 2006, S. 91. Vgl. Kaiser (o. Fn 5), S. 495. 32 Keßler (o. Fn 6), S. 330 ff.; Schneider (o. Fn 6), S. 700. 33 So Eisenberg (o. Fn 5), S. 773; Laubenthal (o. Fn 25), S. 36. 34 Dazu eingehend Schneider (o. Fn 6), S. 700 ff. 31
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reduziert die materielle Sicherheit; berufliches Ansehen, Kontakte zu anderen Menschen am Arbeitsplatz entfallen. Hinzu kommt ein Übermaß an Freizeit, deren Einteilung und Gestaltung dem Einzelnen nun selbst obliegt und die – wenn er nicht in einem Familienverband oder in einem Heim lebt – mit einer Verringerung der informellen Sozialkontrolle einhergeht. Gelingt das Erlernen der neuen Anforderungen nicht oder nur unvollständig, vermag dies zu abweichendem Verhalten mit beizutragen. So können es z.B. akute materielle Nöte sein, die alte Menschen zur Begehung von Vermögensdelikten veranlassen, aber auch – infolge einer Status- und Rollenunsicherheit – diffuse Ängste vor künftiger Verarmung.35
III. Strafvollzug an alten Menschen 1. (Re-)Sozialisierungsauftrag Wie bei den übrigen Strafgefangenen auch handelt es sich bei den inhaftierten älteren Verurteilten um eine heterogene Gruppe.36 Dies betrifft sowohl die Art der Anlassdelikte als auch die Frage der Hafterfahrung. Für alte Menschen im Freiheitsstrafenvollzug gelten die vollzugsgesetzlichen Regelungen prinzipiell gleichermaßen wie für jüngere Inhaftierte. Das Altsein bedingt jedoch Besonderheiten, denen seitens der Vollzugsbehörden Rechnung zu tragen ist. Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Strafgefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Dieses Sozialisationsziel37 – wie es etwa in § 2 S. 1 des BundesStrafvollzugsgesetzes normiert ist – folgt zwei zentralen Verfassungsprinzipien. Aus Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG ergibt sich für den Verurteilten ein Anspruch auf Resozialisierung.38 Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG verpflichten zudem den Staat, die notwendigen Ressourcen zur Realisierung der Sozialisationsbemühungen im Vollzug zur Verfügung zu stellen.39 Die Lebensbedingungen in den Einrichtungen des Strafvollzugs und die Einwirkungen auf den einzelnen Gefangenen sind damit so zu gestalten, dass sie die Chancen einer sozialen Wiedereingliederung verbessern und zur Verwirklichung einer künftigen Lebensführung ohne weitere Straftaten geeignet erscheinen.
35
Kreuzer/Hürlimann (o. Fn 5), S. 27. Siehe auch Görgen/Greve Alte Menschen in Haft, BewHi 2005, S. 120. 37 Dazu Laubenthal (o. Fn. 4), S. 70 ff.; Seebode Strafvollzug I, 1997, S. 99 ff. 38 BVerfGE Bd. 45, S. 239. 39 BVerfGE Bd. 35, S. 236. 36
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Das Vollzugsziel der Befähigung, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen, gilt für alle Gefangenen.40 Selbst bei Langstrafigen ist der Strafvollzug auf eine soziale Wiedereingliederung hin ausgerichtet.41 Den zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Inhaftierten bleibt der gesetzliche Behandlungsauftrag der Vorbereitung auf die Rückkehr in die Freiheit nicht verschlossen. Da dem Lebenszeitgefangenen prinzipiell eine Chance bleibt, seine Freiheit wieder zu erlangen, steht ihm ein Anspruch auf resozialisierende Maßnahmen zu.42 Die für den Vollzug der Lebenszeitstrafe verfassungsrechtlich vorgegebenen Resozialisierungsbemühungen gelten – angesichts der sich zunehmend reduzierenden Lebenszeit in Haft – auch für zahlreiche der zu zeitiger Freiheitsstrafe verurteilten und inhaftierten alten Menschen. Besteht noch eine Perspektive für ein Leben nach einer Entlassung aus der Anstalt, wird der Behandlungsauftrag im Wesentlichen von der Vorbereitung auf ein ohne weitere Normverstöße gelingendes Altern geprägt.43 Für nicht wenige Alterskriminelle kann aber die Verurteilung zu zeitiger Strafe faktisch einer Lebenszeitstrafe gleichkommen. Das gilt vor allem für Gefangene, bei denen der Vollstreckungsstand eine Strafrestaussetzung zur Bewährung (noch) nicht zulässt. Es betrifft selbst im Alter gefährliche Verurteilte sowie solche, die für eine Vollstreckungsunterbrechung gem. § 455 Abs. 4 StPO nicht in Betracht kommen bzw. die keine vorzeitige Entlassung bzw. eine Strafunterbrechung im Gnadenwege erfahren. Eine Entlassung sterbenskranker Häftlinge wegen Haftunfähigkeit findet in der Praxis angesichts des allgemein gestiegenen medizinischen Standards und einer verbesserten medizinischen Versorgung im Strafvollzug kaum statt.44 Insoweit hat die Leistungsfähigkeit der medizinischen Vollzugseinrichtungen die Schwelle zur Vollzugsuntauglichkeit immer weiter angehoben.45 Im Hinblick auf die Zunahme der Zahlen von in Haft versterbenden zu lebenslanger sowie zu zeitiger Freiheitsstrafe Verurteilten46 stellt sich bereits die Frage nach einer menschenwürdigen Sterbebegleitung im Strafvollzug.47 40
Laubenthal (o. Fn 4), S. 74; Seebode (o. Fn. 37), S. 110. BVerfGE Bd. 98, S. 200. 42 BVerfGE Bd. 45, S. 239; siehe auch Fiedeler Das verfassungsrechtliche Hoffnungsprinzip im Strafvollzug – ein hoffnungsloser Fall? 2003. 43 Görgen/Greve (o. Fn. 36), S. 124. 44 Vgl. Fiedeler Sterben im Strafvollzug – Seismograph der Verfassung unseres Rechtsstaats? ZfStrVo 2003, S. 286. 45 Dazu Skirl In Würde sterben – auch im Vollzug? ZfStrVo 2003, S. 284. 46 Vgl. Fiedeler (o. Fn 44), S. 285. 47 Dazu Schneeberger Georgescu Über 60 Jährige im Vollzug, Informationen zum Strafund Massnahmenvollzug 2/2006, S. 8 f.; Skirl (o. Fn 45), S. 283 ff.; Stieber Seelsorgliche Sterbebegleitung im Gefängnis, ZfStrVo 2003, S. 287 ff. 41
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2. Besondere Vollzugsgestaltung Zwar stellen die älteren Strafgefangenen keine homogene Gruppe dar. Dennoch bringt die Inhaftierung alter Menschen einige spezifische Erfordernisse für ihre Vollzugsgestaltung mit sich. Diese muss besonderen Bedingungen lebensälterer Menschen angepasst werden. Der Alltag in den Justizvollzugsanstalten ist den strafvollzugsgesetzlichen Vorgaben gemäß vor allem durch die Einteilung in Arbeitszeit, Freizeit und Ruhezeit geprägt. Strafgefangene unterliegen einer grundsätzlichen Arbeitspflicht. Hiervon sind jedoch über 65 Jahre alte Inhaftierte ausgenommen. Damit erlangt für sie der Freizeitbereich eine vermehrte Bedeutung. Es müssen insoweit altersgerechte Angebote geschaffen werden, wie sie vergleichbar in Altenheimen erfolgen: Anleitungen zur Lebensführung, altersgerechte sportliche Aktivitäten, Gesprächsgruppen mit seniorenbezogenen Themenstellungen, Kreativität fördernde bzw. erhaltende Kurse, Maßnahmen zum Gedächtnistraining usw. Insoweit sind nicht nur der Allgemeine Vollzugsdienst, Anstaltsgeistliche oder ehrenamtliche Vollzugshelfer besonders gefordert. Die Betreuung und Behandlung der Strafgefangenen verlangt eine zureichende Ausstattung des Vollzugsstabs mit Mitarbeitern des Sozialdienstes. Stellt oberstes Prinzip der Sozialarbeit auch im Strafvollzug zwar die Hilfe zur Selbsthilfe dar,48 verändert sich im Hinblick auf ältere Inhaftierte das Tätigkeitsfeld hin zu eher fürsorgerischer Unterstützung. Schon in der freien Gesellschaft ist das Altern weitgehend geprägt von sozialer Ausgliederung. Hinzu kommt, dass der alte Mensch sich zunehmend an der Spitze der Alterspyramide sieht, das Versterben Gleichaltriger und Nahestehender ihm ein Gefühl des Zurückgebliebenseins und der Vereinsamung vermittelt. Das gilt umso mehr für alte Menschen, die mit ihrem Haftantritt eine zusätzliche Ausgliederung aus ihrer gewohnten sozialen Umwelt und den Verlust des bisherigen gesellschaftlichen Status erfahren haben. Eingegliedert in das von der übrigen Gesellschaft partiell abgeschnittene soziale System der Hafteinrichtung sind Betroffene des Altenstrafvollzugs deshalb in besonderem Maße auf die Erhaltung noch bestehender Beziehungen zu Personen in Freiheit angewiesen. Den Kommunikationsmöglichkeiten mit der Außenwelt kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Das betrifft die Gewährung von Vollzugslockerungen ebenso wie den Besuchsempfang und die Gestattung privater Telefongespräche. Der Rechtsbruch durch alte Menschen gründet nicht selten auf dem sozialen, psychischen und physischen Alterungsprozess. Schon dies macht deut48
Laubenthal (o. Fn 4), S. 142.
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lich, dass der Bereich der Gesundheitsfürsorge für alte Gefangene die Vollzugsbehörden vor besondere Herausforderungen stellt.49 Chronische und alterstypische Erkrankungen treten nach den Ergebnissen ausländischer Studien50 im Altenstrafvollzug zudem noch früher auf als in der freien Gesellschaft, was auch auf eine vergleichbar höhere Wahrscheinlichkeit vorangegangener ungesunder Lebens- und Verhaltensweisen zurückgeführt wird. Das Ansteigen sowohl des Durchschnittsalters der Strafgefangenen als auch der Schwelle zur Vollzugsuntauglichkeit erfordert die Bereithaltung entsprechend zureichender diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten in den Vollzugseinrichtungen. Für pflegebedürftige Gefangene existieren bereits einzelne Pflegeabteilungen.51 Der Strafvollzug muss jedoch nicht nur vermehrt in der Lage sein, kranke, behinderte oder pflegebedürftige ältere Insassen einem der Versorgung der allgemeinen Bevölkerung entsprechenden Standard gemäß zu behandeln. Die besonderen Gesundheitsprobleme stellen darüber hinaus spezifische Anforderungen an die Ausstattung von Hafträumen und die Fortbewegungsmöglichkeiten innerhalb der Anstalt.
3. Abgetrennte Alteneinrichtungen Die besonderen Betreuungs- und Behandlungsbedürfnisse legen eine Separierung lebensälterer Strafgefangener in gesonderten Abteilungen von Justizvollzugsanstalten oder in eigenen Vollzugseinrichtungen nahe. Es sind darüber hinausgehend die auch im bundesdeutschen Strafvollzug den Strafalltag mitbestimmenden subkulturellen Aktivitäten, die eine derartige Konzentration und Zusammenlegung der Betroffenen als notwendig erscheinen lassen. Zwar wird gegen eine Abtrennung eingewandt, dass dadurch eine Art Ghettobildung drohe.52 Erfahrungen aus Seniorenheimen sollen auf die Gefahr einer geistigen Verflachung hinweisen, wenn die älteren Personen miteinander leben und es an Kontakten zu jüngeren Menschen fehlt. Es ist aber gerade bei Nichtseparierung das Zusammenleben mit Gefangenen anderer Altersstufen, das für ältere Inhaftierte das Viktimisierungsrisiko nachhaltig erhöht. Die Gefahr von Gewaltausübung gegen schwächere Mit49 Dazu Görgen/Greve (o. Fn 36), S. 120 ff.; Görgen Ältere und hochaltrige Gefangene – Herausforderung (und Entwicklungschance) für den Strafvollzug, in: Kriminalpädagogische Praxis Heft 45, S. 8 f. 50 Siehe Nachweise bei Görgen (o. Fn 49), S. 8. 51 Z. B. besteht im Bundesland Nordrhein-Westfalen für chronisch erkrankte und/oder erhöht pflegebedürftige Inhaftierte je eine Pflegeabteilung bei den Justizvollzugsanstalten Bochum und Hövelhof (Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, Justizvollzug, 2006, S. 55, 59). 52 Siehe Porada (o. Fn 3), S. 25.
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inhaftierte stellt kein bloßes hypothetisches „worst-case-Szenarium“ dar, derartige Befürchtungen gründen nicht lediglich „auf Medienberichten und Erzählungen Dritter, die die Verhältnisse im Regelvollzug mitunter überzogen darstellen und sicher nicht in vollem Umfang der Realität entsprechen“.53 Gewalttätigkeiten unter Strafgefangenen geschehen in den Vollzugsanstalten weitaus häufiger, als dies im Regelfall der (Medien-)Öffentlichkeit bekannt wird.54 In der Haftanstalt erlebt ein Inhaftierter einen Verlust an persönlicher Sicherheit, denn er befindet sich in einer andauernden Gemeinschaft mit anderen Menschen, die teilweise ihr bisheriges Leben lang Konflikte mit Gewalt und aggressiven Verhaltensweisen zu lösen suchten. Deshalb herrscht dort ein hohes Angstniveau unter den Insassen.55 Dieses trägt nachhaltig zu subkulturellen Aktivitäten56 bei. Denn die Insassen der Vollzugseinrichtungen fühlen, dass während ihrer Inhaftierung die soziale Identität unsicher und aus ihrer Sicht stark bedroht ist. Die Haftsituation wird als eine dauerhafte Bedrohung durch Mitgefangene empfunden. Die Viktimisierungsgefahr durch Unterdrückung und Misshandlung ist gerade bei als „schwach“ bezeichneten Insassen besonders hoch. In der Anstalt findet ein Inhaftierter hierarchische Statusdifferenzen unter seinen Mitgefangenen vor. Dabei stellt ein ganz wesentlicher Aspekt der Statuslegitimation die physische Stärke dar. Wer Durchsetzungsvermögen besitzt, wer in der Lage ist, sich Respekt zu verschaffen, wer sich nichts gefallen lässt, der läuft weniger als andere Inhaftierte Gefahr, Opfer von Misshandlungen durch Mitinhaftierte zu werden.57 Gewaltandrohung und -ausübung stellen unter den Insassen von Vollzugsanstalten anerkannte Mittel dar, die Position des Einzelnen in der Statushierarchie zu bestimmen. Deshalb ist die Gesamtdauer der Strafhaft mitgeprägt von fortwährenden Anerkennungsritualen und Positionskämpfen in einer dynamischen Rangordnung. Angesichts des hohen Angstniveaus findet ein andauernder Kampf um Anerkennung und Statuserlangung statt. Präsentiert wird Aggressivität. Es kommt zur Ausübung physischer Gewalt, wobei es nicht nur bei Körper-
53
So aber Schramke (o. Fn 2), S. 328 f. Siehe z. B. für das Bundesland Nordrhein-Westfalen: Werthebach/Fluhr/Koepsel/Latz/ Laubenthal Gewaltprävention im Strafvollzug – Ergebnis der Überprüfung des Erwachsenenvollzugs in Nordrhein-Westfalen (2. Teilbericht), 2007, S. 171 ff. 55 Vgl. Kury/Smartt Gewalt an Strafgefangenen: Ergebnisse aus dem angloamerikanischen und deutschen Strafvollzug, ZfStrVo 2002, S. 323 ff. 56 Hierzu Laubenthal Erscheinungsformen subkultureller Gegenordnungen im Strafvollzug, Festschrift für Schwind, 2006, S. 593 ff. 57 Siehe auch Bereswill The Society of Captives – Formierungen von Männlichkeit im Gefängnis, KrimJ 2004, S. 103. 54
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verletzungshandlungen bleibt. Die Gewalttätigkeit unter Inhaftierten erfolgt nicht selten auch sexualbezogen.58 In einem solchen Klima von Angst, Misstrauen und dem strukturell vorgegebenen Zwang, sich durchsetzen zu müssen, nehmen körperlich Schwächere, denen es an Durchsetzungsvermögen fehlt und die nicht mehr in der Lage sind, Gewalt anzudrohen bzw. auszuüben, eine Opferrolle ein.59 Insoweit besonders gefährdet sind auch alte Strafgefangene, wenn sie in den allgemeinen Vollzugseinrichtungen ihre Strafe verbüßen. Die aufgrund des psychischen und physischen Prozesses des Alterns regelmäßig eintretende schwächere Position gegenüber jüngeren Mitinhaftierten setzt sie einem erhöhten Viktimisierungsrisiko aus, weil sie innerhalb der Gefangenenhierarchie keine bestimmte Position einnehmen können. Ihnen gegenüber verübte Gewalthandlungen dienen dann nicht der Bestimmung eines Platzes in der vollzuglichen „Hackordnung“. Sie bedeuten vielmehr Ausgrenzungsgewalt oder es kommt zu erniedrigenden Vorgehensweisen u. a. aus sadistischer Veranlagung heraus.
58
Vgl. Döring Sexualität im Gefängnis, Zeitschrift für Sexualforschung 2006, S. 322 ff. Werthebach/Fluhr/Koepsel/Latz/Laubenthal Gewaltprävention im Strafvollzug – Ergebnis der Überprüfung des Jugend- und Erwachsenenvollzuges in Nordrhein-Westfalen (Schlussbericht), 2007, S. 17. 59
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I. Einleitung Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht sind zwei Rechtsgebiete, denen das besondere Interesse und wissenschaftliche Engagement des verehrten Jubilars Manfred Seebode gilt. Darüber hinaus bezeichnen sie zwei Felder des Kriminalrechts, auf denen gegenwärtig – während dieser Text geschrieben wird – aus unterschiedlichen Gründen viel Bewegung zu beobachten ist. Die wertneutrale Bezeichnung „Bewegung“ verschleiert, dass nicht alles gutgeheißen werden kann, was in diesen Bereichen momentan vor sich geht. Die um die Jahreswende 2007/2008 aus offenkundigen wahlkampftaktischen Gründen losgetretene Debatte um Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht gehört gewiss zu den unerfreulichen Zeiterscheinungen und wird wahrscheinlich, nachdem die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen gelaufen sind, vorerst wieder abebben. Betäubt von diesem medial verstärkten Getöse hat die Öffentlichkeit vermutlich gar nicht so richtig mitbekommen, dass sich zur gleichen Zeit im Recht der Bekämpfung jugendlicher Schwerkriminalität etwas wahrhaftig höchst Bedeutsames ereignet hat: Dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts1 gehorchend und die Ergebnisse der Föderalismusreform2 umsetzend,3 haben die Bundesländer im Laufe des Jahres 2007 Gesetze über den Vollzug der Jugendstrafe erlassen, die zum 1. Januar 2008 in Kraft getreten sind.4 Vor diesem Hintergrund lässt sich auch in Zeiten eskalierender populistischer Stammtischparolen durchaus seriös über das Thema reden, ohne in den Verdacht zu geraten, auf einen 1
BVerfG, Urt. v. 31. Mai 2006 – 2 BvR 1673/04; 2 BvR 2402/04. Kritisch dazu Seebode in seiner Stellungnahme im Rahmen der Sachverständigenanhörung vor dem Rechtsausschuss des Bundestages am 17.5.2006. 3 Gemäß Art. 1 Nr. 7a) aa) des Föderalismusreformgesetzes wurden in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG die Wörter „und den Strafvollzug“ gestrichen. Damit wurde die Gesetzgebungskompetenz auf die Bundesländer verlagert. 4 In Bayern und Hamburg wurden Vollzugsgesetze geschaffen, die Erwachsenenstrafvollzug und Jugendstrafvollzug gemeinsam regeln. Die anderen 14 Bundesländer haben eigenständige Jugendstrafvollzugsgesetze erlassen. 2
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Zug zu springen, dessen Geschwindigkeit und Richtung in erster Linie von Politik und Medien – statt von Fachleuten – bestimmt wird. Dabei in Manfred Seebode einen interessierten und sachkundigen Zuhörer zu finden, dürfte außer Frage stehen. Sicher hat auch er selbst dazu Gewichtiges zu sagen. Einige Anregungen und Denkanstöße mag die folgende kleine Abhandlung geben, die der Verfasser zu der Festschrift für den verehrten Jubilar mit herzlichen Glückwünschen gern beiträgt.
II. Sozialpädagogisches Intensivtraining zur Entlassungsvorbereitung in privater Trägerschaft 1. Ein neuralgisches Stadium des Strafvollzugsgeschehens, das maßgeblich über Erfolg oder Misserfolg der vollzuglichen Resozialisierungsbemühungen entscheidet, ist die Phase der Entlassungsanbahnung, mit der die Rückkehr des Strafgefangenen in die Freiheit eingeleitet wird. Ist auch der Vollzug vom ersten Tag an dazu bestimmt, den Gefangenen für ein normangepasstes Leben außerhalb der Mauern der Anstalt zu ertüchtigen (vgl. § 3 Abs. 3 S. 2 BbgJStVollzG),5 so wächst doch der Einübung in „eigenverantwortliche und gemeinschaftsfähige Lebensführung“ (§ 3 Abs. 1 S. 2 BbgJStVollzG) mit dem Näherrücken des Entlassungstermins immer mehr Bedeutung zu. Gründliche und intensive Vorbereitung der Entlassung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen der Rückfallprophylaxe.6 Von den Weichenstellungen, die hier vorgenommen werden, hängt es ab, welche Richtungen der Gefangene auf seinem weiteren Lebensweg einschlagen wird. Daher ist mit der speziellen Entlassungsvorbereitung frühzeitig zu beginnen (§ 19 Abs. 1 S. 1 BbgJStVollzG).7 Die Umstellung, die der Übergang von der oftmals langjährigen Haftsituation in die Freiheit darstellt, kann durch einen rechtzeitig eingeleiteten Anpassungs- und Gewöhnungsprozess erleichtert werden. Dennoch sind viele Entlassene in den ersten Tagen nach der Entlassung mit der neuen Situation überfordert und werden rückfällig.8 Besonders schwierig ist diese Übergangsphase für Gefangene, die die ihrer Strafhaft zugrunde liegende Straftat als Jugendliche oder Heranwachsende begangen haben und demzufolge wertvolle Jahre ihres Lebens, in denen junge Menschen normalerweise mit Planung und Aufbau ihrer persönlichen Zukunft beschäftigt sind, in einer Strafvollzugsanstalt 5 Pointiert Ostendorf Jugendgerichtsgesetz, 7. Aufl. 2007, § 91 Rn 24: „Die Entlassungsvorbereitung muss mit dem ersten Tag der Inhaftierung anfangen.“. 6 Kaiser/Schöch Strafvollzug, 5. Aufl. 2003, § 13 Rn 20. 7 Laubenthal Strafvollzug, 4. Aufl. 2006, Rn 667. 8 Böhm Strafvollzug, 3. Aufl. 2003, Rn 402.
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verbringen mussten. Während ihre Altersgenossen einen Beruf erlernen, ein Studium absolvieren, einen Arbeitsplatz finden, heiraten, Kinder bekommen, eine eigene Wohnung beziehen oder gar ein Haus bauen und mit Mitte/Ende 20 oder Anfang 30 saturiert sind und festen Boden unter ihren Füßen haben, stehen frisch Entlassene oftmals am Anfang und buchstäblich vor dem nichts. Alles, was einem Gleichaltrigen Halt, Sicherheit und Geborgenheit bietet (Arbeit, Familie, Partnerschaft, Ehe, Wohlstand, soziale Anerkennung) und vor dem Abgleiten auf eine „schiefe Bahn“ bewahren kann, muss sich der ehemalige Jugendstraftäter in nunmehr schon vorgerücktem Alter erst mühsam erwerben. Hinzu kommt, dass jugendliche Straftäter mit „schädlichen Neigungen“ (§ 17 Abs. 2 Alt. 1 JGG) in der Regel noch nie richtig sozial integriert gewesen sind, der Strafvollzug ihnen also keine Re-Sozialisierung (Wieder-Eingliederung) angedeihen lassen kann, sondern sie überhaupt erstmals an die Gesellschaft der Freien heran und in sie hinein führen muss. 2. Auf die spezifische Entlassungsproblematik einer kleinen – ca. 10 bis 15 % der Gesamtpopulation des Jugendstrafvollzugs ausmachenden – Gruppe von Strafgefangenen richten sich im Land Brandenburg seit etwa zwei Jahren Bestrebungen einer Neugestaltung des Strafvollzugs in der Entlassungsvorbereitungsphase. Bei dieser Zielgruppe handelt es sich um junge Strafgefangene, die überwiegend zur Verbüßung relativ kurzer Jugendstrafen bis zu zwei Jahren in den Jugendstrafvollzugsanstalten des Landes untergebracht sind und die trotz hinreichender Mitwirkungsbereitschaft und Nutzung der vollzuglichen Behandlungsangebote weder für eine bedingte Entlassung (§ 88 JGG) noch eine Unterbringung im offenen Vollzug (§ 13 Abs. 2 BbgJStVollzG) geeignet sind, da es ihnen sowohl an tragfähigen Außenbeziehungen als auch ausreichend entwickelter Fähigkeit zur Eigenstrukturierung mangelt und somit eine Bewährung im wenig betreuten offenen Vollzug und in Freiheit nicht erwartet werden kann. Diese Jugendstrafgefangenen bedürfen eines speziellen Eigenstrukturierungstrainings und einer intensiv sozialpädagogisch betreuten Überleitung in die Freiheit. Im geschlossenen Vollzug sind sie übersichert, der offene Vollzug vermag ihnen nicht das homogene gruppendynamische Lern- und Betreuungsfeld zu bieten, das sie benötigen. Um diesem spezifischen Behandlungsbedürfnis gerecht zu werden, hat sich das Ministerium der Justiz des Landes Brandenburg entschlossen, geeignete Jugendstrafgefangene in besonderen Einrichtungen freier Träger unterzubringen, um ihnen so die Teilnahme an einem sozialpädagogischen Intensivtraining zur Entlassungsvorbereitung zu ermöglichen. In dem am 1. 1. 2008 in Kraft getretenen Jugendstrafvollzugsgesetz des Landes Brandenburg ist diese Unterbringungsart als Vollzugslockerung ausgestaltet, § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BbgJStVollzG. Dieser
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Legislativakt wird von der nunmehr gefestigten Überzeugung seiner rechtlichen Unbedenklichkeit getragen, einer Überzeugung, die durch die Diskussion über die ursprünglich bestehenden Zweifel und deren Ausräumung aufgebaut und gefestigt worden ist. Zwar betrifft die Frage der rechtlichen Zulässigkeit dieser Maßnahme nur einen kleinen Ausschnitt der Strafvollzugsrealität; sie steht aber dennoch in einem juristischen Kontext, der eine erhebliche Dimension hat, die weit über den Bereich des Strafvollzugs hinausreicht und, wenn man so will, die gesamte Bandbreite der Erfüllung staatlicher Aufgaben umfasst. Es geht um die Zulässigkeit der Übertragung von Tätigkeitsfeldern staatlicher Einrichtungen und Bediensteter auf private Unternehmen und Organisationen mit ihren privatwirtschaftlich beschäftigten Mitarbeitern. Dementsprechend war auch ein vom Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands – Landesverband Brandenburg – in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten des Bielefelder Staatsrechtslehrers Prof. Dr. Christoph Gusy zu den Plänen des Potsdamer Ministeriums überschrieben mit „Rechtliche Grenzen der Privatisierung des Jugendstrafvollzugs“.9 Im Anschluss an dieses außerordentlich gründliche und ausführliche Gutachten verstehen sich die hiesigen Ausführungen zu der Thematik als überwiegend zustimmende, teilweise kritische und ergänzende Stellungnahme eines Autors, der den verfassungsrechtlichen Blickwinkel10 ausblendet und sich auf eine rein strafrechtliche Würdigung beschränkt.
III. Teilprivatisierung des Strafvollzugs durch Einbeziehung freier Träger 1. Nach der gegenwärtigen Rechtslage ist eine Vollprivatisierung des Strafvollzuges – auch im Bereich des Jugendstrafrechts – in Deutschland rechtlich nicht zulässig.11 Die Richtigkeit dieser Auffassung ergibt sich – unterhalb der Grundgesetzebene einfachgesetzlich – aus §§ 139, 155 StVollzG und aus § 92 Abs. 1 JGG. Die gerade in Kraft getretenen Strafvollzugs- und Jugendstrafvollzugsgesetze der Bundesländer haben daran nichts geändert. So findet etwa nach Art. 165 des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes (BayStVollzG) der Vollzug von Freiheits- und Jugendstrafen nach wie vor in Justizvollzugsanstalten statt. Gemäß Art. 176 Abs. 1 S. 1 BayStVollzG 9
Zum Standpunkt des Gutachters vgl. auch Gusy JZ 2006, 651 ff. Dazu insbesondere Gusy JZ 2006, 651 (655 ff.). 11 Kruis ZRP 2000, 1 (5); Lange DÖV 2001, 898 (904); Laubenthal, Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer, 2004, S. 415 (419): ders. Strafvollzug Rn 44; Mösinger BayVBl 2007, 417 (427); Wagner ZRP 2000, 169 (171). 10
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werden die Aufgaben der Justizvollzugsanstalten von „Vollzugsbeamten“ wahrgenommen. Im Land Brandenburg wird die Jugendstrafe in „Jugendstrafvollzugsanstalten“ vollzogen (§ 98 Abs. 1 S. 1 BbgJStVollzG), für die als hauptamtlicher Leiter ein „Beamter des höheren Dienstes“ zu bestellen ist (§ 101 Abs. 2 S. 1 BbgJStVollzG).12 Auf der anderen Seite ist gegen eine Teilprivatisierung bestimmter Vollzugsbereiche in Gestalt gegenständlich beschränkter Erfüllung vollzuglicher Aufgaben durch Private – wie sie in der Vergangenheit und gegenwärtig bereits praktiziert wurde bzw. wird13 – grundsätzlich nichts einzuwenden.14 Das gilt auch für die hier thematisierte Unterbringung von Jugendstrafgefangenen in anerkannten Jugendhilfeeinrichtungen freier Träger zum Zwecke der Teilnahme an einem sozialpädagogischen Intensivtraining zur Entlassungsvorbereitung. Ob sich das aus § 91 Abs. 3 JGG – vor Inkrafttreten der Jugendstrafvollzugsgesetze evtl. in Verbindung mit Nummer 6 Abs. 1, Nummer 9 Abs. 2 und 3 der Bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug – ableiten lässt, halte ich allerdings für fraglich. Gusy scheint dieser Lösung zuzuneigen, da er die „Experimentierklausel“ des § 91 Abs. 3 JGG als Ausnahmevorschrift zu der in § 92 Abs. 1 JGG getroffenen Grundentscheidung für einen Strafvollzug in staatlichen Anstalten deutet.15 Die Gesetzessystematik könnte jedoch eher als Indiz für die Gegenauffassung verstanden werden. Denn die Reihenfolge der Bestimmungen spricht gegen eine Charakterisierung des § 91 Abs. 3 JGG als Ausnahmebestimmung im Verhältnis zu dem Regeltatbestand des § 92 Abs. 1 JGG. Hinzu kommt, dass die in § 91 Abs. 3 JGG normierte Vollzugsgestaltung in aufgelockerter Weise und in freien Formen auch in staatlichen Jugendstrafanstalten praktiziert werden kann. Die Durchführung des Strafvollzugs „in freien Formen“ setzt also nicht zwingend eine Vollzugsorganisation voraus, mit der das in § 92 Abs. 1 JGG verankerte staatliche Vollzugsmonopol durchbrochen oder gelockert wird. Wäre § 91 Abs. 3 JGG eine Ausnahmebestimmung im Verhältnis zu § 92 Abs. 1 JGG, hätte dies umgekehrt zudem 12 Dagegen wird in der Regelung des BbgJStVollzG über „Bedienstete“ (§ 102) der „Beamte“ überhaupt nicht mehr erwähnt: „Die Anstalt wird mit dem für das Erreichen des Vollzugsziels erforderlichen Personal ausgestattet. Es muss für die erzieherische Gestaltung des Vollzugs geeignet und qualifiziert sein. Fortbildung sowie Praxisberatung und -begleitung für die Bediensteten sind zu gewährleisten.“. Damit hat der Gesetzgeber die von Laubenthal (GS Blomeyer, S. 415, 422) im Hinblick auf § 155 Abs. 1 S. 1 StVollzG für notwendig erachtete Gesetzesänderung vollzogen. 13 Böhm Strafvollzug Rn 86; Kaiser/Schöch Strafvollzug § 4 Rn 32; Laubenthal GS Blomeyer S. 415 (418). 14 Kaiser/Schöch Strafvollzug § 4 Rn 36; Laubenthal Strafvollzug Rn 40; Wagner ZRP 2000, 169 (171). 15 Gusy JZ 2006, 651 (654).
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die Konsequenz, dass eine Unterbringung des Gefangenen in Einrichtungen eines privaten Trägers nur zur Realisierung eines aufgelockerten und freien Vollzugs zulässig wäre, also nicht zu anderen Zwecken wie z. B. der Erreichung eines höheren Grades an Sicherung. Eine Ausnahme von § 92 Abs. 1 JGG müsste nach der üblichen Gesetzestechnik in § 92 JGG selbst bzw. in einem dem § 92 JGG nachfolgenden Paragraphen normiert werden, wie das ja in § 92 Abs. 2 JGG bezüglich der Unterbringung im Erwachsenenstrafvollzug geschehen ist. Eine Platzierung der Ausnahme vor der von ihr eingeschränkten Regel ist jedenfalls recht ungewöhnlich. Wäre die vorübergehende Unterbringung in einer anerkannten Jugendhilfeeinrichtung freier Träger eine Ausnahme von dem gem. § 92 Abs. 1 JGG gesetzlich vorgeschriebenen Vollzug in einer staatlichen Jugendstrafanstalt, ergäbe sich nach dem Wortlaut des § 92 Abs. 2 Satz 2 JGG die evident unzutreffende – sowie gesetzesystematisch abwegige – Konsequenz, dass das JGG diese Phase des Strafvollzugs dem Reglement des für Erwachsene geltenden Strafvollzugsrechts unterstellen würde. Denn Ausnahme von § 92 Abs. 1 JGG bedeutet ja, dass die Jugendstrafe – partiell – nicht in einer Jugendstrafanstalt vollzogen wird. § 92 Abs. 2 S. 2 JGG meint aber selbstverständlich allein den Fall, dass die Jugendstrafe deshalb nicht in einer Jugendstrafanstalt vollzogen wird, weil sie stattdessen in einer Justizvollzuganstalt des Erwachsenenstrafvollzugs vollzogen wird. Überhaupt kann man den aufeinander bezogenen Absätzen 1 und 2 des § 92 JGG die Festlegung des Gesetzgebers entnehmen, dass es einen Vollzug der Jugendstrafe, der weder in einer Jugendstrafanstalt noch in einer Anstalt des Erwachsenenstrafvollzugs stattfindet, nicht geben soll. Eine dritte Alternative ist in § 92 JGG nicht vorgesehen. Das JGG enthält somit überhaupt keine Ausnahme von § 92 Abs. 1 JGG mit dem Inhalt, dass unter bestimmten Voraussetzungen der Vollzug der Jugendstrafe nicht in einer Jugendstrafanstalt, sondern in einer privaten Vollzugseinrichtung durchgeführt werden kann. 2. Tatsächlich bedarf es einer Ausnahmebestimmung gar nicht, weil die hier zur Erörterung stehende vorübergehende Unterbringung von Jugendstrafgefangenen außerhalb des Terrains einer Jugendstrafanstalt gar keine Ausnahme zum Vollzug der Jugendstrafe in einer Jugendstrafanstalt ist. § 92 Abs. 1 JGG regelt nur den Vollzug der Jugendstrafe in seiner Gesamtheit, trifft hingegen zur konkreten Ausgestaltung einzelner Vollzugsbereiche keine verbindliche rechtliche Aussage. So lässt sich z. B. aus § 92 Abs. 1 JGG keine zwingende Vorgabe zu den Fragen ableiten, wie und wo der jugendliche Strafgefangene während des Vollzugs der Jugendstrafe unterzubringen ist. Eindeutig ausgeschlossen wird durch § 92 Abs. 1 JGG nur eine vollständige Entlassung des Jugendstrafvollzugs aus dem Verantwor-
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tungsbereich staatlicher Vollzugseinrichtungen. Die teil- und bereichsweise Einbeziehung Privater in die Vollzugspraxis steht daher mit § 92 Abs. 1 JGG nicht in Widerspruch. Die Unterbringung von Jugendstrafgefangenen in anerkannten Jugendhilfeeinrichtungen freier Träger ist eine derartige Einbeziehung. Sie ist daher Teil des Vollzugs der Jugendstrafe und zwar trotz vorübergehend extramuralen Aufenthalts des Gefangenen eine Form des Vollzugs in einer Jugendstrafanstalt. Denn die Verantwortung der Jugendstrafanstalt für das Vollzugsgeschehen einschließlich des staatlichen Gewahrsams bleibt auch während des vollzugsrechtlich zulässigen Aufenthalts außerhalb des Anstaltsgebäudes erhalten. Anders wäre es nicht zu erklären, dass der Straftatbestand der Gefangenenbefreiung (§ 120 StGB) auch dadurch verwirklicht werden kann, dass ein Gefangener oder Verwahrter befreit wird, während dieser sich mit Billigung der Anstaltsleitung außerhalb der Anstalt – z. B. in einer Klinik – aufhält.16 3. Hinsichtlich des „Ob“ einer Teilprivatisierung lassen sich dem JGG außer der pauschalen Feststellung, dass sie nicht von vornherein für unzulässig erklärt ist, keine konkreten positiven Festlegungen – z. B. Bedingungen, Beschränkungen – entnehmen. Soweit die private Einrichtung die Gewähr dafür bietet, dass der Vollzug der Jugendstrafe der Aufgabenbeschreibung in § 91 Abs. 1 und Abs. 2 JGG entspricht,17 steht das JGG nicht entgegen. Mehr sagt das JGG zu unserem Thema nicht. Wesentlich brisanter und schwieriger zu beantworten als die Frage des „Ob“ ist somit die Frage des „Wie“ der Teilprivatisierung. Rechtlicher Maßstab dafür ist in erster Linie das Strafvollzugsrecht. Das Vollzugsrecht gilt für die gesamte Dauer des Vollzugs der Jugendstrafe, also auch während des Aufenthalts des Strafgefangenen in einer Einrichtung außerhalb der Strafanstalt. Denn dieser Aufenthalt bewirkt keine Unterbrechung des Strafvollzugs, sondern er ist Bestandteil des Strafvollzugs. Solange das Strafvollzugsrecht für diese Phase des Vollzugs keine Sonderregelungen vorsieht, muss durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür gesorgt werden, dass die Geltung, Anwendbarkeit und Durchsetzbarkeit des allgemeinen Vollzugsrecht uneingeschränkt gewährleistet ist. Das betrifft vor allem Rechtsvorschriften, deren Anwendung staatlichen Amtsträgern vorbehalten ist, die also dem privaten Personal des freien Trägers zur Aufgabenerfüllung nicht zur Verfügung stehen. Damit dies keinen vollzugsrechtsfreien Raum und keine Rechtsschutz- und Sicherheitslücken zur Folge hat, muss die Möglichkeit des Eingreifens staatlicher Vollzugsbediensteter in Situationen geschaffen werden, in denen nur auf der Grundlage hoheitsrechtlicher Befugnisse Rechts16 17
Bosch, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 2/2, 2005, § 120 Rn 12. Gusy JZ 2006, 651 (655).
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schutz und Sicherheit aufrechterhalten oder wiederhergestellt werden können.18 4. Der rechtliche Handlungsspielraum von Privatpersonen ist teilweise enger, teilweise weiter als der von staatlichen Bediensteten. Enger ist er dort, wo es um die rechtliche Befugnis zu Grundrechtseingriffen geht, im Rahmen des Strafvollzugs also insbesondere auf dem Gebiet der Sicherheit und Ordnung. Beispielsweise ist eine Durchsuchung des Gefangenen unter den in § 84 StVollzG aufgestellten Voraussetzungen dem Mitarbeiter einer privaten Einrichtung rechtlich verwehrt.19 Auf der anderen Seite sind staatlichem Personal in bestimmten Situationen rechtliche Fesseln angelegt, die einen Privaten in der gleichen Situation nicht behindern. Das bekannteste Beispiel dafür ist das Notwehrrecht des § 32 StGB, das nach einhelliger Ansicht keine einschränkende Verhältnismäßigkeitsklausel enthält, dem Verteidiger also auch unverhältnismäßige Verletzungen des Angreifers bis hin zur Tötung erlaubt.20 Staatliche Gefahrenabwehrtätigkeit unterliegt hingegen stets dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebot, auch in Notwehr- und Nothilfelagen.21 Art. 2 Abs. 2 a EMRK schränkt zudem die Befugnis des Amtsträgers zur vorsätzlichen Tötung eines Angreifers ein.22 Gefahrenabwehrrechtlich kann sich also ein Vollzugsbeamter nicht auf das scharfe Notwehrrecht stützen.23 Allenfalls hinsichtlich der repressivstrafrechtlichen Folgen kann für ihn eine Rechtfertigung auf dieser Grundlage in Betracht gezogen werden.24 Der Beschränkung der staatlichen Handlungsbefugnis korrespondiert ein stärkerer Schutz des Betroffenen gegenüber gefahr- oder angriffsabwehrenden Eingriffen. Zweifellos kann in eine solche Lage auch ein Strafgefangener kommen. Steht er als Angreifer einem privaten Verteidiger gegenüber, muss er im Rahmen der Erforderlichkeit auch unverhältnismäßige – unter Umständen durch Schusswaffengebrauch verursachte – Verletzungen hinnehmen. Hat er es hingegen mit einem staatlichen Vollzugsbediensteten zu tun, steht er unter dem Schutz z. B. der Regel, dass unmittelbarer Zwang zu unterbleiben habe, wenn ein durch ihn zu erwartender Schaden erkennbar außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg steht (§ 96 Abs. 2 StVollzG). 18
Laubenthal GS Blomeyer S. 415 (419). Laubenthal GS Blomeyer, S. 415 (423); Mösinger BayVBl 2007, 417 (422). 20 Kühl Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2005, § 7 Rn 116. 21 Gusy JZ 2006, 651 (656). 22 Auf private Verteidiger ist Art. 2 Abs. 2 a EMRK nach zutreffender Ansicht nicht anwendbar, Kühl Strafrecht Allgemeiner Teil § 7 Rn 118: Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1, 2003, § 32 Rn 16. 23 Laubenthal GS Blomeyer S. 415 (420). 24 MK-Erb, § 32 Rn 169; Günther, in: Systematischer Kommentar zum StGB, vor § 32 Rn 70. 19
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Ereignet sich ein solcher Vorfall in der Einrichtung eines freien Trägers, ergibt sich daraus naturgemäß die Konfrontation eines Angreifers mit einem privaten Verteidiger. Da dieser nicht Normadressat hoheitlicher Befugnisnormen mit ihren expliziten oder immanenten Schranken ist, steht ihm die weite Abwehr- und Eingriffsbefugnis des § 32 StGB zur Verfügung. Der Strafgefangene müsste also von Rechts wegen eine höhere Eingriffsintensität dulden. Das bedeutet für ihn verglichen mit der in die Jugendstrafanstalt verlagerten Konfrontationslage einen Verlust an rechtlichem Schutz. Bedenken gegen die rechtliche Hinnehmbarkeit dieser Teilprivatisierungsfolge könnten eventuell mit dem Hinweis darauf zerstreut werden, dass die Unterbringung in der anerkannten Jugendhilfeeinrichtung eines freien Trägers ja nur mit Zustimmung des Strafgefangenen erfolgt. Mit dieser Zustimmung habe der Gefangene auch in die rechtlichen Nachteile eingewilligt, die daraus resultieren. Aber abgesehen davon, dass die Wirksamkeit einer solchen Einwilligung fraglich wäre, würde auf diese Weise der resozialisierungsfördernde Effekt der Maßnahme möglicherweise erheblich beeinträchtigt werden. Wenn Strafgefangene ihre Teilnahme an dem entlassungsvorbereitenden Intensivtraining verweigern, um rechtliche Nachteile zu vermeiden, wäre das gewiss ein zu hoher Preis, der die prinzipiell begrüßenswerte Maßnahme inakzeptabel entwerten würde. Vorzugswürdig ist daher eine Angleichung der Rechtslage in der Einrichtung des freien Trägers an die Rechtslage, die unter den Bedingungen der Jugendstrafanstalt herrscht. Die Rechtsstellung des Gefangenen darf sich nicht verschlechtern. Dem privaten Einrichtungspersonal dürfen daher keine weiterreichenden Eingriffs- und Verletzungsbefugnisse gegenüber dem Gefangenen eingeräumt werden, als sie einem Vollzugsbeamten zustehen. 5. Auch die Rechtsstellung Dritter darf sich infolge der Einschaltung Privater in den Vollzugsbetrieb nicht verschlechtern. Das betrifft insbesondere das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit (vgl. § 2 S. 2 BbgJStVollzG), dem das Strafvollzugsrecht durch diverse Handlungsbefugnisse z. B. zur Verhinderung des Entweichens aus der Anstalt Rechnung trägt. Soweit diese Befugnisse auf Private nicht übertragbar sind (z. B. Schusswaffengebrauch zur Fluchtverhinderung, § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 BbgJStVollzG), muss die Vollzugsbehörde durch die Organisation von Überwachung und Kontrolle Voraussetzungen dafür schaffen, dass staatliche Vollzugsbedienstete im Notfall ihre Befugnisse wirkungsvoll ausüben können. Dritte in diesem Zusammenhang sind darüber hinaus Bezugspersonen des Strafgefangenen wie Eltern, sonstige Familienangehörige, Lebensgefährten usw. Das objektive Recht des Gefangenen, Kontakte zu diesen Personen zu pflegen, beinhaltet auch eine gem. § 109 Abs. 2 StVollzG „einklagbare“ subjek-
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tive Berechtigung dieser Kontaktpersonen.25 Durch den Aufenthalt des Strafgefangenen in einer Jugendhilfeeinrichtung eines freien Trägers darf diese Rechtsstellung nicht beeinträchtigt werden. Das mit dem Besuchsrecht kollidierende private Hausrecht des Inhabers der Einrichtung muss also vollzugsrechtskonform eingeschränkt werden.
IV. Materiellstrafrechtliche Konsequenzen Zum Abschluss ein kurzer Blick auf mögliche Privatisierungsfolgen im materiellen Strafrecht. Einrichtungen des Strafvollzugs sind naturgemäß Bereiche mit einem hohen Konfliktpotential, also Orte, an denen die Rechtsgüter der dort lebenden Personen einem erhöhten Verletzungsrisiko durch Straftaten ausgesetzt sind. Der unfreiwillige Aufenthalt des Strafgefangenen an einem solchen Ort wird im materiellen Strafrecht in zweierlei Weise berücksichtigt: Als potentielles Opfer genießt er erhöhten Schutz, indem seine Rechtsgüter zum Schutzgut besonderer Straftatbestände ernannt sind. Wird er z. B. von einem Vollzugsbediensteten körperlich misshandelt, ist diese Tat als Körperverletzung im Amt mit – gemessen an § 223 StGB – erhöhter Mindeststrafe bedroht (§ 340 Abs. 1 S. 1 StGB). Die unbefugte Offenbarung von geheimhaltungsbedürftigen Umständen, die den Strafgefangenen betreffen, ist als Verletzung von Privatgeheimnissen in § 203 Abs. 2 Nr. 1 StGB pönalisiert. In der Täterrolle privilegiert das Strafrecht den Strafgefangenen, wenn er auf Vollzugshandlungen mit Aggression gegen den handelnden Vollzugsbediensteten reagiert. Anstelle des schärferen Nötigungstatbestandes (§ 240 StGB) kommt der mildere Tatbestand „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ (§ 113 StGB) zur Anwendung. Schutz der Allgemeinheit vor vollzugsrelevanten Rechtsgutsverletzungen gewähren vor allem die Straftatbestände Strafvereitelung (§§ 258, 258 a StGB) und Gefangenenbefreiung (§ 120 StGB). Sind an solchen Delikten Vollzugsbedienstete als Täter oder Teilnehmer beteiligt, wird dadurch jeweils der qualifizierte Tatbestand der Strafvereitelung im Amt (§ 258 a StGB) bzw. der Gefangenenbefreiung im Amt (§ 120 Abs. 2 StGB) verwirklicht. Verlagert sich nun der Ort der oben genannten Delikte von einer staatlichen Jugendstrafanstalt in eine private Einrichtung der Jugendhilfe, verändert sich auch der Status des daran als Täter oder Opfer beteiligten Einrichtungspersonals. Täter der Misshandlung, Strafvereitelung usw., Opfer der Aggression des Gefangenen ist nicht ein Beamter im staatsrechtlichen Sinn, 25
OLG Zweibrücken, NStZ 1993, 407.
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sondern ein Privater. Wie in einem solchen Fall die Veränderung der Rechtslage verhindert werden kann, demonstriert das materielle Strafrecht in § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB: Dort definiert das Strafrecht einen weiten Begriff des Amtsträgers, der über den staatsrechtlichen Beamtenbegriff hinausgeht und auch Privatpersonen einbezieht, die im Auftrag einer Behörde Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen. In strafrechtlicher Hinsicht verändert sich der Status des in die Tat involvierten Vollzugsmitarbeiters nicht. Der materiell-strafrechtliche Schutz des Strafgefangenen und der Allgemeinheit bleibt also in vollem Umfang erhalten, wenn der Strafgefangene aus der Jugendstrafanstalt in eine Jugendhilfeeinrichtung in freier Trägerschaft verlegt wird.
V. Schluss Jugendstrafrecht gilt als Vorreiter für allgemeine strafrechtliche Entwicklungen, weil es ein Experimentierfeld ist, auf dem erprobt werden kann, was im strenger formalisierten Erwachsenenstrafrecht an gesetzliche Schranken stoßen würde. Dieser flexible, kreative und innovative Wesenskern des Jugendstrafrechts korrespondiert dem zentralen Erziehungsauftrag dieses Rechtsgebiets, der die Fähigkeit zu individuellem und differenziertem Reagieren auf die konkreten erzieherischen Defizite des jugendlichen Delinquenten voraussetzt.26 Im Interesse einer optimalen erzieherischen Einwirkung auf den noch unausgereiften – daher formbaren – jungen Menschen27 sollten daher Möglichkeiten der Verbesserung nicht an rechtlichen Schranken scheitern, für die es keine überwiegenden Gründe gibt. Flexibilität statt Starrheit, Sachgerechtheit statt Dogmatismus sollte deshalb auch die leitende Maxime beim Umgang mit dem Thema „Privatisierung des Jugendstrafvollzugs“ sein. Das Land Brandenburg hat dies mit seiner Initiative in nachahmenswerter Weise vorgemacht.
26 27
Laubenthal/Baier Jugendstrafrecht, 2005, Rn 38 ff. Schaffstein/Beulke Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, S. 6.
Die Renaissance der Freiheitsstrafe Strafhaft in Europa, Nordamerika und Japan HANS JOACHIM SCHNEIDER
I. Der weltweite Anstieg der Freiheitsstrafe 1. Prognose: Das Ende der Freiheitsstrafe Die Freiheitsstrafe in ihrer modernen Form ersetzte im 18. und 19. Jahrhundert als humanere Strafe die Todesstrafe und die Deportation der Straftäter in die Kolonien der europäischen Staaten.1 So alt wie die Freiheitsstrafe ist auch ihre Reform und die Forderung nach ihrer Abschaffung. Im Jahre 1922 schrieb beispielsweise Frank Tannenbaum:2 „Die Freiheitsstrafe löst unser Kriminalitätsproblem nicht – sie trägt nicht einmal zu seiner Lösung bei. Sie ist nur eine Verschlimmerung...Lasst sie uns durch irgendetwas ersetzen. Nahezu alles ist eine Verbesserung. Es kann nicht schlimmer werden.“ Im Jahre 1942 sagte Hermann Mannheim voraus:3 „Die Tage der Freiheitsstrafe als Methode der Massenbehandlung der Rechtsbrecher sind großenteils vorüber“. Im Jahre 1965 schrieb Norval Morris:4 „Es wird als sicher vorhergesagt, dass die Freiheitsstrafe in ihrer gegenwärtigen Form bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ausgelöscht sein wird...“. Schließlich äußerte Don C. Gibbons im Jahre 1992:5 „Der massive Gebrauch der Freiheitsstrafe ist eine ineffektive Sozialpolitik...“.
1 V. Garcia (2005): History of Prisons. In: M. Bosworth (Hrsg.): Encyclopedia of Prisons and Correctional Facilities. Band 1. 414-420. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage. 2 F. Tannenbaum (1922): Wall Shadows. A Study in American Prisons. New York, London: Putnam. 3 H. Mannheim (1942): American Criminology and Penology in War Time. In: Sociological Review 34, 222-234. 4 N. Morris (1965): Prison in Evolution: In: T. Grygier, H. Jones, J.C. Spencer (Hrsg.): Criminology in Transition. Essays in Honor of Hermann Mannheim. 267-292. London: Tavistock. 5 D.C. Gibbons (1992): The Limits of Punishment as Social Policy. In: C.A. Hartjen/E.E. Rhine (Hrsg.): Correctional Theory and Practice. 12-28. Chicago: Nelson-Hall.
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2. Realität: Anstieg der Freiheitsstrafe Alle diese Forderungen und Vorhersagen international bedeutender Kriminologen haben sich als irrelevant erwiesen. Die Freiheitsstrafe wächst in den meisten Teilen der Welt seit mehr als einem Jahrzehnt. In der Zeit zwischen 1992 und 2004 sind die Gefangenenzahlen (die Strafgefangenen auf 100.000 Einwohner) z.B. in den USA von 505 auf 723, in Russland von 487 auf 587, in Polen von 153 auf 210, in England und Wales von 88 auf 141, in Spanien von 90 auf 138, in Portugal von 93 auf 129, in den Niederlanden von 49 auf 123, in Deutschland von 71 auf 98, in Italien von 81 auf 96, in Frankreich von 84 auf 91, in der Schweiz von 79 auf 81, in den skandinavischen Ländern von 63 auf 71 und in Japan von 36 auf 60 gestiegen.6 In Europa7 ist die Freiheitsstrafe sehr hoch in der Russischen Förderation, hoch in England/Wales, Spanien, Portugal, Polen und in den Niederlanden, mäßig hoch in Österreich, Frankreich und Deutschland und niedrig in Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und in der Schweiz. Die Gefangenenzahl pro 100.000 Einwohner lag im Jahre 2002 im Weltdurchschnitt bei 140.8 Sie befindet sich unter dem Durchschnitt in den nordischen Staaten (60-70) und in Westeuropa (70-90), leicht über dem Durchschnitt in Australien und Neuseeland (150-170), über dem Durchschnitt in Osteuropa (200) und den baltischen Staaten (300) und erreicht ihre Höhepunkte in der Russischen Förderation (550) und in den USA (über 700).9 Zahlreiche Kriminologen, unter ihnen vor allem Nils Christie,10 treten für eine Begrenzung der Anwendung der Freiheitsstrafe ein. Christie hält den „pönologischindustriellen Komplex“ für ein sich selbst erhaltendes und entwickelndes System.11 Der Umfang der Freiheitsstrafe hängt davon ab, wieviel Kontrolle eine Gesellschaft für angemessen hält.12
6 A. Blumstein (2007): The Roots of Punitiveness in a Democracy. In: Journal of Scandinavian Studies in Criminology and Crime Prevention. 8 (Supplement 1), 2-16, bes. 13. 7 M.F. Aebi (2006): Council of Europe Annual Penal Statistics. Space 1: 2003 Survey on Prison Populations. In: Penological Information Bulletin 25/26, 22-52. 8 R.Walmsley (2003): Global Incarceration and Prison Trends. In: Forum on Crime and Society. 3, 65-78. 9 R. Walmsley (2003): World Prison Population List. 4. Aufl. London: Home Office. 10 N. Christie (2004): Re-integrative Shaming of National States. In: K. Aromaa, S. Nevala (Hrsg.): Crime and Crime Control in an Integrating Europe. 4-9. Helsinki: Heuni; N. Christie (1981): Limits to Pain. Oxford: Robertson. 11 N. Christie (2000): Crime Control as Industry. 3. Aufl. London, New York: Routledge. 12 N. Christie (2004): A Suitable Amount of Crime. London, New York: Routledge.
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II. Determinanten der Freiheitsstrafe Der Entwicklungsprozess der Kriminalität und der Prozess der Verhängung der Freiheitsstrafe sind zwei verschiedene, voneinander unabhängige Prozesse. Mit dem Wachsen der Kriminalität ist kein Anstieg der Freiheitsstrafe, mit dem Kriminalitätsabfall kein automatisches Nachlassen des Gebrauchs der Freiheitsstrafe verbunden. Ein Beispiel bildet die Anwendung der Freiheitsstrafe in Finnland, den Niederlanden und Schweden im letzten halben Jahrhundert.13 Diese Länder erlebten ähnliche ökonomische und soziale Entwicklungen sowie ähnliche Kriminalitätstrends. Während die registrierte Kriminalität in allen drei Ländern anstieg, ging die Anwendung der Freiheitsstrafe in Finnland zurück, in Schweden blieb sie gleich, und die Niederlande hatten eine u-förmige Entwicklung zu verzeichnen. In diesem Land ließ die Anwendung der Freiheitsstrafe zunächst nach; danach war ein Anwachsen der Freiheitsstrafe zu beobachten. Gefangenenraten sind politische Konstrukte. Sie sind zu einem großen Teil eine Funktion der Kriminaljustiz und der Sozialpolitik, die den Gebrauch der Freiheitsstrafe er- oder entmutigen.14 Der Umfang der Gefangenenpopulation ist das Ergebnis von Entscheidungen. Wir haben die freie Wahl.15 Demgegenüber haben sich Korrelationen zwischen dem Gebrauch der Freiheitsstrafe und dem politischen Wandel in einer Gesellschaft, der demographischen Entwicklung, den ökonomischen Bedingungen, insbesondere der Arbeitslosigkeit, und dem Umfang des Konsums illegaler Drogen nicht bestätigt.16
III. Freiheitsstrafe in den 50er bis 70er Jahren des 20. Jahrhunderts Der Freiheitsstrafvollzug war nach dem 2. Weltkrieg bis in die 70er Jahre hinein beherrscht von der Behandlungsideologie und dem Professionalismus. Er empfing seine Rechtfertigung durch die Annahme, alle im Freiheitsstrafvollzug ordnungsgemäß angewandten Behandlungsmethoden seien erfolgversprechend. Der behandelte Straftäter werde nicht mehr rückfällig; 13 H. von Hofer (2003): Prison Populations as Political Constructs: the Case of Finland, Holland and Sweden. In: Journal of Scandinavian Studies in Criminology and Crime Prevention. 4, 21-38. 14 M.F. Aebi/A.Kuhn (2000): Influences on the Prisoner Rate: Number of Entries into Prison, Length of Sentences and Crime Rate. In: European Journal of Criminal Policy and Research 8, 65-75. 15 N. Christie (Fn. 11), 14. 16 F.E. Zimring/G. Hawkins (1991): The Scale of Imprisonment. Chicago, London: University of Chicago Press.
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die Täterbehandlung verspreche die größte Sicherheit für die Gesellschaft. Nicht die erfolgreichste und für den Strafgefangenen geeignetste Behandlungsmethode wurde gewählt, sondern die Behandlungsmethode, in der der Therapeut ausgebildet worden war. Die kriminelle Tat wurde als Typ psychischer Abnormität, als Symptom einer abnormen Persönlichkeit angesehen, die von Psychiatern unter Mithilfe von Psychologen behandelt werden kann. Der Täter war nicht für seine Straftaten verantwortlich; er musste deshalb im Freiheitsstrafvollzug medizinisch und psychologisch behandelt werden.17 Die Idealvorstellung war die Behandlung der „Unbehandelbaren“, waren Spezialinstitutionen für kriminelle Psychopathen.18 Dunkelfelduntersuchungen brachten die Wende:19 Der Rechtsbruch ist statistisch normal. Nur 2 bis 5 Prozent der Straftaten, die von Jugendlichen verübt werden, kommen der Polizei zur Kenntnis. Die Hypothese, dass der typische Rechtsbrecher psychisch gestört ist, konnte nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die Behandlungsideologie war viel zu ehrgeizig. Sie versprach zu viel. Die Annahme war naiv, eine jahrzehntelange kriminelle Fehlentwicklung könne in einigen wenigen Monaten oder Jahren behandlungsmäßig behoben werden. Man musste sich bescheidenere, erreichbare Ziele setzen.20 Mit der Behandlungsideologie eng verbunden war der Professionalismus: Der Kriminalität und Jugenddelinquenz wird man am besten durch spezialisierte Bürokratien gerecht, die vom Staat gelenkt und von Experten beraten werden. Kriminalitätskontrolle steht in staatlicher Verantwortung. Sie ist eine spezielle berufliche Aufgabe. Es besteht keine Notwendigkeit, die Öffentlichkeit und das Verbrechensopfer an der Kriminalitätskontrolle zu beteiligen. Mehr Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter im Freiheitsstrafvollzug sind erforderlich. Der Professionalismus steht in Widerspruch zu demokratischen Prinzipien. Den Beteiligten, dem Täter, dem Opfer und der Öffentlichkeit, wird ihr Konflikt „gestohlen“.21 Experten führen diesen „Diebstahl“ aus. Die meisten Menschen begehen keine Straftaten, weil sie durch die sozialen Gruppen, z.B. durch Familie, Nachbarschaft, Schule, Berufs- und Freizeitgruppen, informell kontrolliert werden. Informelle und formelle Kontrolle, z.B. Kriminaljustiz, sind Koproduzenten der Sicherheit. In Ländern mit niedriger Kriminalität und Delinquenz sind formelle und 17 K. Kendall (2005): Medical Model. In: M. Bosworth (Hrsg.): Encyclopedia of Prisons and Correctional Facilities. Band 1. 584-588. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage. 18 G.K. Stürup (1968): Treating the „Untreatable“. Chronic Criminals at Herstedvester. Baltimore: Johns Hopkins Press. 19 I. Anttila (2001): Ad Jus Criminale Humanius. Essays in Criminology, Criminal Justice and Criminal Policy. 33-47. Helsinki: Finnish Lawyers' Association. 20 M. Tonry (2004): Has the Prison a Future? In: M. Tonry (Hrsg.): The Future of Imprisonment. 3-24. Oxford, New York: Oxford University Press. 21 N. Christie (1981). Limits to Pain. 93. Oxford: Robertson.
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informelle Kontrolle gut ineinander integriert.22 Die Bevölkerung nimmt an ihrer Kriminaljustiz teil und schenkt ihr Vertrauen. Sie weiß am besten, was gut für sie ist. Experten haben in der Demokratie nur Beratungsfunktion, keine Entscheidungsbefugnisse. Sie müssen das Volk von der Richtigkeit der von ihnen vertretenen Interventionen überzeugen.
IV. Die Freiheitsstrafe in den letzten drei Jahrzehnten 1. Die kriminogene Wirkung der Freiheitsstrafe Empirische Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass die Freiheitsstrafe einen kriminogenen Effekt hat.23 Durch das StanfordStrafanstalts-Experiment24 ist klar geworden, dass sie brutalisierend und enthumanisierend wirkt. Die empirischen Studien konzentrieren sich um die Konzepte der Gefängniskultur, der Gefangenendeprivation, der totalen Institution und des Prisonisierungsprozesses. Die Strafanstalt ist ein soziales System mit eigenen Normen, Werten und Glaubenssätzen.25 Die Gefangenen werden nicht nur ihrer Freiheit beraubt; ihnen werden auch Güter und Dienste entzogen (Identitätsausstattung); sie verlieren ihre heterosexuellen Beziehungen; ihre Autonomie und ihre Selbstbestimmung gehen verloren. Es ist ungemein schwer, sie nach ihrer Entlassung wieder in ihre Familie und in eine Arbeitsstelle einzuordnen.26 Durch ihren Strafanstaltsaufenthalt werden sie entsozialisiert. Ihre Familien, insbesondere ihre Kinder, leiden unter dem Freiheitsentzug des Familienvaters. Die Strafanstalt ist eine totale Institution,27 in der alle Aktivitäten nach starren Regeln und nach engem
22 M.B. Clinard (1978): Cities with Little Crime. The Case of Switzerland. Cambridge u.a.: Cambridge University Press; F. Adler (1983): Nations not Obsessed with Crime. Littleton/Col.: Rothman. 23 C. Haney (2005): The Contextual Revolution in Psychology and the Question of Prison Effects. In: A. Liebling, S. Maruna (Hrsg.): The Effects of Imprisonment. 66-93. Cullompton/Devon, Portland/Oregon: Willan. 24 C. Haney/C.Banks/P. Zimbardo (1973): Interpersonal Dynamics in a Simulated Prison. In: International Journal of Criminology and Penology. 1, 69-97. 25 R.R. Dobbs/C.A. Waid (2005): Prison Culture. In: M. Bosworth (Hrsg.): Encyclopedia of Prisons and Correctional Facilities. Band 2. 719-723. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage; G.M. Sykes (1962): The Society of Captives. A Study of a Maximum Security Prison. Princeton/N.J.: Princeton University Press. 26 J. Petersilia (2003): When Prisoners Come Home. Parole and Prisoner Reentry. Oxford, New York: Oxford University Press. 27 E. Goffman (1966): On the Characteristics of Total Institutions: The Inmate World. In: D.R. Cressey (Hrsg.): The Prison. Studies in Institutional Organisation and Change. 15-67. New York: Holt, Rinehart and Winston; E. Goffman (1966): On the Characteristics of Total
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Zeitplan ausgeführt werden. Totale Institutionen verursachen Selbstdemütigung; sie töten die Autonomie, die Identität und die Willenskraft ihrer Insassen. In Degradierungszeremonien wird ihr Selbstkonzept geschädigt. Der Prisonisierungsprozess28 ist ein Anpassungs- und Angleichungsprozess, der durch die Annahme einer bestimmten Konstellation von Normen, Werten und Glaubenssätzen charakterisiert ist, die die Weltsicht des Gefangenen formen und die Ziele seiner Behandlung untergraben. Stanton Wheeler29 hat es auf den Punkt gebracht: Das Nettoergebnis dieses Prozesses ist die Verinnerlichung einer kriminellen Einstellung, die das „prisonisierte“ Individuum gegenüber Einflüssen des konventionellen Wertsystems relativ immun macht. Eine empirische Studie in schwedischen Strafanstalten30 zeigt, dass die Strafgefangenen auch im Behandlungsstrafvollzug kriminelle Subkulturen bilden und dass sie in einem Prisonisierungsprozess in noch intensivere kriminelle Rollen hineinsozialisiert werden (kriminelle Identifikation). Die kriminelle Subkulturbildung und der Prisonisierungsprozess sind im schwedischen Männer-, Frauen- und Jugendstrafvollzug beobachtet worden. Auch deutsche Strafanstalten bilden keine Ausnahme.31 Obgleich der schwedische Strafvollzug resozialisierungsorientiert ist und obwohl in schwedischen Strafanstalten zwischen Personal und Insassen ein Verhältnis von eins zu eins besteht, macht die Rückfallrate infolge Subkulturbildung und Prisonisierungsprozess fünf bis zehn Jahre nach der Entlassung der Strafgefangenen 74% aus.32 Die deutsche Rückfallrate von 35,7% musste notwendigerweise niedrig ausfallen. Denn die deutsche Rückfallstatistik beschränkt sich auf einen Rückfallrisiko-Zeitraum von vier Jahren, auf Legalbewährung und auf eine erneute amtliche Registrierung im Bundeszentralregister als Misserfolgskriterien.33 Institutions: Staff-Inmate Relations. In: D.R. Cressey (Hrsg.): The Prison. 68-106. New York: Holt, Rinehart and Winston. 28 A. Austin (2005): Prisonization. In: M. Bosworth (Hrsg.): Encyclopedia of Prisons and Correctional Facilities. Band 2. 765-767. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage; D. Clemmer (1965): The Prison Community. New York, Chicago u.a.: Holt, Rinehart and Winston. 29 S. Wheeler (1961): Socialization in Correctional Communities. In: American Sociological Review. 26, 697-712. 30 U.V. Bondeson (1989): Prisoners in Prison Societies. New Brunswick (USA), Oxford (U.K.): Transaction. 31 H.J. Schneider (1972): Die halboffene Strafanstalt Hamburg-Neuengamme als soziales System. Unveröffentlichter Forschungsbericht. Hamburg: Universität. 32 U.V. Bondeson (1991): Socialization Process in Prison Communities. In: United Nations Asia and Far East Institute for the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders (Hrsg.): Resource Material Series No. 40. 238-249. Fuchu/Tokyo: UNAFEI. 33 Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz (2006): Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht. 640-664. Berlin: Bundesministerium des Innern, Bundesministerium der Justiz.
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2. Die Krise des Behandlungsmodells Die Überdehnung des Behandlungsmodells und die kriminogene Wirkung der Freiheitsstrafe führten zu einer Krise des Behandlungsmodells. Die Behandlungs-Ideologie, die davon ausging, jede Art von StraftäterBehandlung sei erfolgversprechend, wurde durch eine Evaluation in Frage gestellt. Robert Martinson34 und seine Mitarbeiter hatten in den 70er Jahren 231 Evaluationen von Behandlungsprogrammen untersucht, die von 1945 bis 1967 durchgeführt worden waren. Auf der Grundlage dieser Evaluationen kam Martinson zu dem Schluss, dass mit einigen wenigen isolierten Ausnahmen die Behandlungs-Bemühungen, über die berichtet worden war, keine nennenswerten Wirkungen auf die Straftäter-Rückfälligkeit hatten. Ein Panel der „Nationalen Akademie der Wissenschaften“ in Washington D.C.35 überprüfte die Ergebnisse und stimmte Martinson im Wesentlichen zu. Seine Erkenntnisse hatten eine negative Folge und zwei positive Wirkungen: x Die negative Folge bestand darin, dass die Verurteilungspraktiken nunmehr das Verbrechens-Kontroll-Modell zugrunde legten, das das Unfähigmachen (Incapacitation) für die Verbrechens-Verminderung zum Ziel hatte. x Als erste positive Wirkung wurde das Justizmodell entwickelt, das die Verfassungs- und Menschenrechte der Gefangenen betonte, die Freiheitsstrafe stark einschränkte und freiwillige Behandlung aus humanitären Gründen befürwortete. x Schließlich trugen Martinsons Erkenntnisse wesentlich zu einer Differenzierung der Behandlungs-Methoden und zu einer Schärfung des Methoden-Bewusstseins bei. Die Behandlungs-Programme, die er untersucht hatte, besaßen nämlich zum großen Teil keine zuverlässige theoretische und methodische Grundlage oder waren von solchen Grundlagen in unzulänglicher Weise in die Praxis umgesetzt worden.36
34 R. Martinson (1974): What Works? – Questions and Answers about Prison Reform. In: The Public Interest. 35, 22-54; D. Lipton/R. Martinson/J. Wilks (1975): The Effectiveness of Correctional Treatment. A Survey of Treatment Evaluation Studies. New York, Washington, London: Praeger. 35 L. Sechrest/S.O. White/E.D. Brown (Hrsg.) (1979): The Rehabilitation of Criminal Offenders: Problems and Prospects. Washington D.C.: National Academy of Sciences; S.E. Martin/L.B. Sechrest/R. Redner (Hrsg.) (1981): New Directions in the Rehabilitation of Criminal Offenders. Washington D.C.: National Academy Press. 36 T. Palmer (1975): Martinson Revisited. In: Journal of Research in Crime and Delinquency. 12, 133-152.
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3. Das Unfähigmachen (Incapacitation) Häufigkeit und Länge der Freiheitsstrafen werden beim Unfähigmachen dadurch gerechtfertigt, dass durch das Wegsperren Verbrechen verhindert werden und dass sich hierdurch die Kosten für die Strafanstalten auszahlen.37 Resozialisierung hat an Glaubwürdigkeit verloren. „Incapacitation“, das Unfähigmachen, die physische Hinderung der Strafgefangenen, Rechtsbrüche zu begehen, bildet heute die Legitimation für die größere Häufigkeit und größere Länge der Freiheitsstrafen in den USA.38 Hierbei unterscheidet man kollektives und selektives Unfähigmachen. Beim kollektiven Unfähigmachen werden ganz allgemein häufigere und längere Freiheitsstrafen verhängt. Beim selektiven Unfähigmachen konzentriert man die langen Haftstrafen auf gefährliche Rückfalltäter, auf Karriere-Kriminelle. Man geht dabei vom zentralen Ergebnis der kriminologischen Kohortenforschung aus, nach dem nur 6% der gesamten Geburtskohorte für 53% aller polizeilich registrierten Delikte und für zwei Drittel der Gewaltverbrechen verantwortlich sind.39 Das Unfähigmachen von Tätern mit hohen Rückfallraten hat eine beträchtliche Verbrechensverminderung zur Folge. Es ist für die kleine Gruppe der Karrierekriminellen sinnvoll (Sicherungsverwahrung!). Denn bei dieser Gruppe ist die kriminogene Wirkung der Freiheitsstrafe von geringerer Bedeutung. Das Problem der Prognose der Rückfallkriminalität wird durch die stochastische Selektivität40 abgemildert: Die Kriminaljustiz hat eine Filterfunktion. Die Karriere-Kriminellen sind unter den Gefängnisinsassen überrepräsentiert. Das Ziel des selektiven Unfähigmachens wird allein schon per Zufall erreicht. Denn die Karriere-Kriminellen werden mit größerer Wahrscheinlichkeit verhaftet und zu Freiheitsstrafen verurteilt. Im Jahre 1994 hat Kalifornien die „Three Strikes Legislation“ (die „Drei Schläge Gesetzgebung“) aufgrund eines Referendums eingeführt.41 Ein spektakulärer Mordfall durch einen Rückfalltäter, der von den Massenmedien noch dramatisiert worden ist, bildet die Grundlage für die „moralische
37 A. Barton (2005): Incapacitation Theory. In: M. Bosworth (Hrsg.): Encyclopedia of Prisons and Correctional Facilities. Band 1. 463-465. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage. 38 F.E. Zimring/G. Hawkins (1995): Incapacitation. New York, Oxford: Oxford University Press. 39 M.E. Wolfgang/R.M. Figlio/T. Sellin (1972): Delinquency in a Birth Cohort. Chicago, London: University of Chicago Press; P.E. Tracy/M.W. Wolfgang/R.M. Figlio (1990): Delinquency Careers in Two Birth Cohorts. New York, London: Plenum. 40 A.R. Piquero/A. Blumstein (2007): Does Incapacitation Reduce Crime? In: Journal of Quantitative Criminology. 23, 267-285, bes. 274. 41 F.E. Zimring/G. Hawkins/S. Kamin (2001): Punishment and Democracy. Three Strikes and You're Out in California. Oxford, New York: Oxford University Pres; W. Spelman (1994): Criminal Incapacitation. New York, London: Plenum.
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Panik“ und den „symbolischen Kreuzzug“,42 die diese Gesetzgebung herbeigeführt haben. Nach der „Drei Schläge Gesetzgebung“ muss jeder Rückfalltäter, der eine Vorstrafenliste von zwei schweren Gewalttaten besitzt, zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 25 Jahren oder zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt werden, wenn er eine dritte Straftat verübt. Fast die Hälfte der Staaten der USA und das Kriminaljustizsystem des Bundes haben sich inzwischen dieser Gesetzgebung angeschlossen. Empirische Untersuchungen des kollektiven Unfähigmachens zeigen eine bescheidene Verminderung des Verbrechens verbunden mit einem substantiellen Anstieg der Gefängnispopulation. Die Verdoppelung der Gefängnispopulation in den 70er und frühen 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts führte in den USA zu einer Verminderung der Kriminalität zwischen 10 und 30 Prozent.43 Man kann ganz allgemein sagen, dass das kollektive Unfähigmachen einen relativ schwachen Einfluss auf die Kriminalität hat, aber die Gefängnispopulation stark anwachsen lässt. Die finanziellen und sozialen Kosten sind enorm. In den zwanzig Jahren von 1980 bis 2000 sind mehr Gefängnisse in den USA gebaut worden als während der gesamten Gefängnisgeschichte der USA. Die Strafvollzugsausgaben stiegen zwischen 1986 und 2001 um 150 Prozent. Zwischen 1980 und 2003 wuchs die Zahl der Gefängnisinsassen, die aus den Strafanstalten der USA entlassen worden sind, von 154.107 auf 612.185, also um 297 Prozent. Das kollektive Unfähigmachen lässt auf die Dauer die Kriminalität ansteigen. Die psychologisch destruktive Natur der Freiheitsstrafe verursacht soziale und psychische Schäden beim Strafgefangenen. Strafanstalten sind kriminogen. Mit dem Anwachsen der Strafanstaltsentlassenen steigt auch die Kriminalität signifikant an.44 Das Strafanstaltsleben ist hoch routinisiert, restriktiv und isolierend. Es beeinträchtigt die Fähigkeit des Gefangenen, Macht und Kontrolle über sein eigenes Leben auszuüben. Die Strafanstaltserfahrung schädigt darüber hinaus die Befähigung des Strafgefangenen, sich wieder in die Gesellschaft einzuordnen. Denn die Strafanstalt baut Hindernisse für das Leben nach der Entlassung auf und bereitet die Strafgefangenen nicht darauf vor, nach ihrer Entlassung wieder Wohnung und Arbeit zu finden.45
42 R. Surette (1996): News from Nowhere, Policy to Follow: Media and the Social Construction of „Three Strikes and You're Out“. In: D. Shichor/D.K. Sechrest (Hrsg.): Three Strikes and You're Out. 177-202. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage. 43 D.L. MacKenzie (2006): What Works in Corrections. 45. Cambridge, New York u.a.: Cambridge University Press. 44 L.M. Vieraitis/T.V. Kovandzic/T.B. Marvell (2007): The Criminogenic Effects of Imprisonment: Evidence from State Panel Data, 1974-2002. In: Criminology and Public Policy. 6, 589-622. 45 J. Petersilia Fn. 26.
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4. Das Justizmodell Nach dem Justizmodell soll die Strafe im Verhältnis zur Schwere des Verbrechens stehen, aber nicht dazu dienen, einen Zweck wie die Resozialisierung oder die Verbrechenskontrolle zu erreichen. Es ist zwar neoklassizistisch,46 von dem traditionellen inhumanen Vergeltungsstrafvollzug ist es indessen weit entfernt. Mit Retribution (Vergeltung) hat es nichts zu tun.47 Es ist vor allem in Skandinavien verbreitet48 und orientiert sich an folgenden drei Zielen: x Die Strafe besteht allein im Entzug der Bewegungsfreiheit. Die Strafgefangenen behalten mit Ausnahme ihrer Bewegungsfreiheit, ihre Verfassungs- und Menschenrechte. Sie sind menschenwürdig und fair zu behandeln. Dem obersten Prinzip des Justizmodells, Strafgefangene human und rechtmäßig zu behandeln, liegt der Gedanke zugrunde, dass nur derjenige rechtmäßiges Verhalten lernen kann, dessen Rechte strikt eingehalten werden.49 x Die Freiheitsstrafe soll im geringst möglichen Umfang und mit der kürzest möglichen Dauer angewandt werden.50 Sie soll als letzte Zuflucht gebraucht werden. Mit Alternativen zur Freiheitsstrafe ist auf die Mehrzahl der Delikte zu reagieren. Kleinkriminalität zieht Verwarnung, mittelschwere Kriminalität den ein- oder mehrmaligen Entzug der Freizeit, Geldstrafe oder die Wiedergutmachung des Opferschadens nach sich. Schwere Kriminalität soll mit kurzen Freiheitsstrafen geahndet werden, weil mit kürzeren Freiheitsstrafen den kriminogenen Effekten des Strafvollzugs besser begegnet werden kann. Auf sehr schwere Kriminalität soll mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren reagiert werden. Nur gefährliche Intensivtäter, KarriereKriminelle sollen bis zu 25 Jahre Freiheitsstrafe erhalten.51 46 R. Lahti (2000): Towards a Rational and Humane Criminal Policy – Trends in Scandinavian Penal Thinking. In: Journal of Scandinavian Studies in Criminology and Crime Prevention. 1, 141-155, bes. 144. 47 A.A. D. Garland (2001): The Culture of Control. 59. Oxford: Oxford University Press. 48 R. Lahti Fn 46; H. v.Hofer (2004): Crime and Reactions to Crime in Scandinavia. In: Journal of Scandinavian Studies in Criminology and Crime Prevention. 5, 148-166. 49 D. Fogel (1975): ...We Are the Living Proof... Cincinnati: Anderson; D. Fogel (1978): The Justice Model for Corrections. In: J.C. Freeman (Hrsg.): Prisons Past and Future. 151-177. London: Heinemann; N. Norris (1974): The Future of Imprisonment. Chicago, London: University of Chicago Press; G. Hawkins (1976): The Prison. Chicago, London: University of Chicago Press. 50 U.V. Bondeson (2007): Crime, Punishment and Justice. 130. Kopenhagen: Jurist – og Okonomforbundets Forlag; U.V. Bondeson (1994): Alternatives to Imprisonment. Boulder, San Francisco, Oxford: Westview. 51 A. v.Hirsch (1976): Doing Justice. Report of the Committee for the Study of Incarceration. New York: Hill and Wang.
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Zwangsweise Behandlung ist abzuschaffen, weil sie unwirksam und verfassungswidrig ist. Freiwillige Behandlung soll ausgeweitet werden. Behandlung soll aber nicht Strafvollzugsziel sein, um den Strafvollzug von der Bürde zu befreien, die Wirksamkeit seiner Behandlung nachweisen zu müssen.52 Den Strafgefangenen sollen nur Behandlungsmethoden angeboten werden, die sich durch die Evaluationsforschung als effektiv erwiesen haben.53
Die Freiheitsstrafe ist ganz wesentlich durch die Anwendung der Geldstrafe und der Strafaussetzung zur Bewährung zurückgedrängt worden. Beide Sanktionen stoßen allerdings an ihre Grenzen. Im Kontinuum der Sanktionen fehlen die mittleren Strafen, die Zwischensanktionen (Intermediate Sanctions).54 Die Freiheitsstrafe ist häufig zu streng und unnötig, die Strafaussetzung zur Bewährung eine zu milde Reaktion. Für die Zurückdrängung der sozial wie finanziell zu teuer gewordenen und kriminogenen Freiheitsstrafe spielen ihre Alternativen, die auf die Gemeinschaft gegründeten Interventionen, z.B. Intensivkontrolle, Hausarrest mit elektronischer Überwachung, gemeinnützige Arbeit und Wiedergutmachung, eine wesentliche Rolle. Die Anwendung von Zwischensanktionen hat in den skandinavischen Ländern die Freiheitsstrafe wesentlich begrenzt.55 Zu den Zwischensanktionen gehören vor allem die gemeinnützige Arbeit und die Wiedergutmachung. Bei der gemeinnützigen Arbeit erbringen Straftäter unentgeltliche Leistungen für gemeinnützige Institutionen des Umweltschutzes, für Krankenhäuser und Altenheime. Solche Arbeiten würden sonst nicht getan. Sie ist ein Mittel der positiven Spezialprävention. Sie ist eine aktive Leistung des Täters zur Aussöhnung mit der Gesellschaft; sie stärkt seine soziale Verantwortung. Durch gemeinnützige Arbeit lernt der Rechtsbrecher soziale Verantwortung. Denn er kommt mit Menschen als positiven Rollenvorbildern in Kontakt, die im Rahmen eines Haupt- oder Ehrenamtes Dienst an der Gemeinschaft leisten. Wiedergutmachung kann zu einem eigen- und selbstständigen sanktionsrechtlichen Zentralinstrument erhoben werden. Sie kann auch in einem 52 E. v.d.Haag (1975): Punishing Criminals. New York: Basic Books; J.Q. Wilson (1975): Thinking About Crime. New York: Basic Books. 53 I. Anttila Fn. 19. 113. 54 H. Potter (2005): Intermediate Sanctions. In: M. Bosworth (Hrsg.): Encyclopedia of Prisons and Correctional Facilities. Band 1. 479-482. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage; M. Tonry/K. Hamilton (Hrsg.) (1995): Intermediate Sanctions in Overcrowded Times. Boston: Northeastern University Press; N. Morris/M. Tonry (1990): Between Prison and Probation. New York, Oxford: Oxford University Press. 55 R. Lahti Fn. 46; H. v.Hofer Fn. 48.
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Ausgleichs- und Schlichtungsverfahren vereinbart werden.56 Man muss sie als Interaktions-(Wechselwirkungs-)Prozess zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft verstehen, der den kriminellen Konflikt heilt und Frieden zwischen den Beteiligten schafft. Es handelt sich nicht nur eben um die Zahlung eines Geldbetrages und um ein paar leicht hingeworfene Bemerkungen der Entschuldigung. Wiedergutmachung ist ein kreativer Prozess, eine Persönlichkeits- und Sozialleistung, die eine mühsame psychische und soziale Geständnis- und Trauerarbeit beim Täter verlangt und durch die er seine Verantwortung für seine Tat vor dem Opfer und vor der Gesellschaft übernimmt. Durch Wiedergutmachung, durch die Heilung des kriminellen Konflikts, durch Friedensstiftung zwischen Täter, Opfer und Gesellschaft, wird Rechtstreue eingeübt und Rechtsbewusstsein in der Gesellschaft gestärkt. Die geistig-seelische Auseinandersetzung mit der psychosozialen Verletzung der Person des Opfers ist eine sozial konstruktive Leistung, die innere Betroffenheit zu schaffen in der Lage ist. Wiedergutmachung ist ein Prinzip, das Täter, Opfer und Gesellschaft billigen und durch das alle Beteiligten gewinnen.
5. Das differentielle Behandlungsmodell Die Krise des Behandlungsmodells hatte auch seine Differenzierung und seine Spezialisierung zur Folge. Dem weiterentwickelten Behandlungsmodell liegen folgende Prinzipien zugrunde: x Die Behandlung sollte freiwillig sein. Zwangsbehandlung ist nicht erfolgreich. Der Strafgefangene sollte die Verantwortung für seine Tat übernehmen. Die Therapie sollte berücksichtigen, welche Behandlungsmethoden am besten für welchen Täter, unter welchen Bedingungen und in welchem sozialen Kontext wirken. Diese Faktoren sollten in einer diagnostischen Beurteilung geklärt werden. x Ziele der Behandlung sollten dynamische, kriminogene Bedürfnisse des Täters sein.57 Solche Bedürfnisse sind Umstände, die direkt mit dem kriminellen Verhalten verbunden sind, die also kriminogen wirken, und die durch Behandlung geändert werden können, die also dynamisch sind. x Nur solche Behandlungsmethoden sollten angewandt werden, deren Effektivität durch Evaluationsforschung bewiesen worden ist. Man versteht unter Evaluationsforschung die Aktivität der Kriminologie, 56 H. Strang (2002): Repair or Revenge: Victims and Restorative Justice. Oxford: Clarendon Press. 57 D.A. Andrews/J. Bonta (2006): The Psychology of Criminal Conduct. 4. Aufl. 48, 281/282. Cincinnati: Anderson.
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die auf die Sammlung, Analyse, Interpretation und Kommunikation über das Funktionieren und die Effektivität von Behandlungsprogrammen gerichtet ist.58 Die Effektstärke-Statistik charakterisiert das Ausmaß der Programmwirkung. Die Effektstärke von Behandlungsmethoden sollte in systematischen Überblicken und Metaanalysen ermittelt werden. Nicht jede Behandlungsmethode besitzt dieselbe Qualität. Die Effektstärke sollte aus den quantitativen Ergebnissen zahlreicher Studien derselben oder ähnlicher Interventionen (Metaanalysen) zu dem Zweck hergeleitet werden, die besten Behandlungsmethoden herauszufinden.
Zwar war der im Anschluss an Martinson vertretene Slogan: Alles nützt nichts! eine Übertreibung. Sie war aber nicht allzu groß. Denn neuere systematische Überblicke und Meta-Analysen haben lediglich eine mäßige Rückfallverminderung durch Behandlung festgestellt. Wenn man alle Behandlungsprogramme berücksichtigt, so liegt die Rückfallverminderung bei 10 bis 12 Prozent.59 Nimmt man nur die erfolgreichen ResozialisierungsProjekte, so steigt die Rückfallreduzierung auf 17 bis 22 Prozent.60 Am wirksamsten ist kognitive Verhaltenstherapie:61 Wandel im Verhalten wird dadurch erreicht, dass Individuen ihre Wahrnehmungen, ihre Überlegungen und ihr Denken ändern. Kognitiver Behaviorismus nimmt an, dass Erkenntnisse Verhalten beeinflussen. Dysfunktionale Verhaltensweisen werden durch Wandlungen in den Einstellungen, Glaubenssätzen und Denkprozessen der Menschen korrigiert. In der Therapie werden den Strafgefangenen ihre schlecht angepassten Denkprozesse bewusst gemacht, und sie werden ermutigt, ihre Denkweisen umzugestalten. Man erwartet, dass ihre Wandlungen im Denken ihre schlecht angepassten Verhaltensweisen ändern werden.
58 P.H. Rossi/M.W. Lipsey/H.E. Freeman (2004): Evaluation. 7. Aufl. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage. 59 T. Palmer (1992): The Re-Emergence of Correctional Intervention. 158. Newbury Park, London, New Delhi: Sage. 60 T. Palmer (1994): A Profile of Correctional Effectiveness and New Directions for Research. 45. Albany: State University of New York Press; T. Palmer (1996): Programmatic and Nonprogrammatic Aspects of Successful Intervention. In: A.T. Harland (Hrsg.): Choosing Correctional Options that Work. 131-182. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage. 61 D.L. MacKenzie Fn. 43, 112-134; C.R. Bartol/A.M. Bartol (2008): Criminal Behavior. 8. Aufl. 630. Upper Saddle River/N.J.: Pearson Prentice Hall.
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V. Freiheitsstrafe heute 1. Freiheitsentzug in einigen europäischen Ländern a) Freiheitsentzug in England und Wales Gegenwärtig haben England und Wales die höchste Inhaftierungsrate in Westeuropa. Im Jahre 2003 betrug sie 139.1. Im Vergleich dazu sind die Gefangenenzahlen in Frankreich (93.1), Deutschland (96.4) und Italien (101.7) niedriger.62 Seit Mitte der 90er Jahre geht die Viktimisierungsrate nach der „British Crime Survey63 zurück. Sie ist von 40 Prozent in 1995 auf 24 Prozent in den Jahren 2004/2005 gefallen. Demgegenüber glauben 61 Prozent der Öffentlichkeit, dass die Kriminalität gestiegen ist, und 27 Prozent nehmen sogar an, dass sie stark gewachsen ist.64 Die Gefangenenzahlen haben von 88 im Jahr 1992 auf 141 im Jahr 2004 zugenommen. Zwischen 1980 und 2006 sind 26 neue Strafanstalten errichtet und 14.285 neue Strafanstaltsplätze geschaffen worden. Ende 2005 waren von 142 Gefängnissen 33 überbelegt.65 Man führt das Wachsen der Freiheitsstrafe auf eine Änderung der Urteilspraxis zurück, die auf der Debatte über einen in der Öffentlichkeit angenommenen Kriminalitätsanstieg beruht.66 Für diese Irreführung der Öffentlichkeit werden die Mediendarstellung der Kriminalitätsentwicklung und die Politisierung der Kriminalitätskontrolle verantwortlich gemacht.67 Seit 1993/94 legen beide große Parteien Härte in der Kriminalitätskontrolle („tough on crime“) an den Tag. Sie beeinflussen die Öffentlichkeit, geben allerdings vor, sie seien durch die Öffentlichkeit beeinflusst.
b) Freiheitsentzug in den Niederlanden Die Inhaftierungsrate der Niederlande im Jahre 2004 ist mit 123 relativ hoch; sie liegt über dem westeuropäischen Durchschnitt. Das war nicht immer so. Jahrzehntelang besaßen die Niederlande eine der niedrigsten 62
Aebi Fn. 7, 29. S. Nicholas/D. Povey/A. Walker/C. Kershaw (2005): Crime in England and Wales 2004/2005. 17. London: Home Office. 64 S. Nicholas u.a. Fn. 63, 21. 65 R. Morgan/A. Liebling (2007): Imprisonment: an Expanding Scene. In: M. Maguire/R. Morgan/R. Reiner (Hrsg.): The Oxford Handbuch of Criminology. 1100-1138. New York, Oxford: Oxford University Press. 66 P. Wiles (2004): Crime Control and Integration. In. K. Aromaa/S. Nevala (Hrsg.): Crime and Crime Control in an Integrating Europe. 10-17. Helsinki: Heuni. 67 T. Newburn (2007): „Tough on Crime“: Penal Policy in England and Wales. In: M. Tonry (Hrsg.): Crime, Punishment, and Politics in Comparative Perspective. 425-470. Chicago, London: University of Chicago Press. 63
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Gefangenenzahlen in Europa. Sie waren durch ihr moralisches Klima der Toleranz bekannt. In der Zeitspanne zwischen 1947 und 1974, in der das Prinzip der Resozialisierung herrschend war, ging die Freiheitsstrafe zurück. Die Behandlung in der Psychiatrischen Beobachtungsklinik in Utrecht wurde als ideal angesehen. Das änderte sich im Jahrzehnt von 1975 bis 1985. Eine Ernüchterung, eine Desillusionierung trat ein. Man verlor das Vertrauen zur Kriminaljustiz, deren Erfolg nicht hoch eingeschätzt wurde. Waren die Gefangenenzahlen 1973 noch 18 und 1987 noch 33 gewesen, so kletterten sie bis zum Jahre 2004 auf 123. Strafgesetzgebung und -anwendung nahmen eine punitivere Einstellung an, um verloren gegangenes Vertrauen wiederzugewinnen. Dieser Wandel wird auch mit einer Emotionalisierung des Kriminalitätsproblems durch die Massenmedien und mit der Politisierung der Kriminalitätskontrolle erklärt.68
c) Freiheitsentzug in Skandinavien Die skandinavischen Länder befinden sich unter den Staaten in der Welt, die die niedrigsten Inhaftierungsraten haben. Im Jahre 2004 hatte Schweden 81, Norwegen 65, Dänemark 70 und Finnland 66 Gefangene auf 100.000 Einwohner. Die Freiheitsstrafe ist allerdings zwischen 1999 und 2002 um 25 Prozent gestiegen. Eine härtere Drogen- und Gewaltkontrolle sollen für 75 bis 80% des Anstiegs verantwortlich sein.69 Trotz dieses (mäßigen) Wachsens der Freiheitsstrafe gehören die nordischen Staaten vor wie nach zu den Ländern mit der niedrigsten Anwendung der Freiheitsstrafe. Sie verfolgen in der Kriminalpolitik einen humanen Neo-Klassizismus, einen pragmatisch-rationalen Ansatz, der sich sowohl gegen die Behandlungsideologie wie gegen die Repression und Retribution (Vergeltung) richtet. Gegen die Effektivität der Freiheitsstrafe herrscht ein tiefes Misstrauen, ob sie nun Vergeltung, Abschreckung oder Behandlung zum Ziel hat.70 Die geringe Anwendung der Freiheitsstrafe wird im Wesentlichen auf zwei Gründe zurückgeführt:71 68 D. Downes/R. van Swaaningen (2007): The Road to Dystopia? Changes in the Penal Climate of the Netherlands. In: M. Tonry/C. Bijleveld (Hrsg.): Crime and Justice in the Netherlands. 31-71. Chicago, London: University of Chicago Press; D. Downes (2007): Visions of Penal Control in the Netherlands. In: M. Tonry (Hrsg.): Crime, Punishment, and Politics in Comparative Perspective. 93-125. Chicago, London: University of Chicago Press. 69 T. Lappi-Seppälä (2007): Penal Policy in Scandinavia. In: M. Tonry (Hrsg.): Crime, Punishment, and Politics in Comparative Perspective. 217-295, bes. 287. Chicago, London: University of Chicago Press. 70 T. Lappi-Seppälä Fn. 69, 231. 71 T. Lappi-Seppälä Fn. 69, 217-295; T. Lappi-Seppälä (2006): Reducing the Prison Population: Long-Term Experiences from Finland. In: Council of Europe (Hrsg.): Crime Policy in Europe. 139-156. Strasbourg: Council of Europe Publishing.
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Das Strafrecht wird nur als ein Mittel der Kriminalitätskontrolle und nicht einmal als das wichtigste angesehen. Viel bedeutsamer ist die informelle Kontrolle durch die sozialen Gruppen, z.B. durch die Familie. Deshalb tritt man für Maßnahmen gegen soziale Marginalisation ein. Ziele der nordischen Kriminalpolitik sind eine Minimierung der Freiheitsstrafe und ein fairer Ausgleich aller Schäden, die Täter, Opfer und Gesellschaft durch die Kriminalität entstanden sind. Minimierung der Leiden, die durch die Kriminalitätskontrolle verursacht werden, und die moralschaffende und werteformende Wirkung der Sanktionen werden betont. Die Rolle nicht-freiheitsentziehender Sanktionen wird gestärkt. Geldstrafe ist die wichtigste Hauptstrafe. Gemeinnützige Arbeit ersetzt 35 Prozent der kurzzeitigen Freiheitsstrafen. Strafaussetzung zur Bewährung und elektronisch überwachter Hausarrest werden häufig angewandt. Das Verbrechensopfer hat traditionell eine starke Position, die sich in der Restaurativen Justiz für junge Straftäter ausgewirkt hat. Gemeinnützige Arbeit und Wiedergutmachung des dem Opfer entstandenen Schadens durch den Täter sind in der Bevölkerung der skandinavischen Länder populär.72
d) Freiheitsentzug in Deutschland Im Jahre 2005 wurden in Deutschland 780.659 Straftäter verurteilt. Davon erhielten rund 70 Prozent eine Geldstrafe (Tagessatzsystem). Zu Freiheitsstrafe wurden 16 Prozent verurteilt. Von diesen Freiheitsstrafen wurden allerdings gut zwei Drittel zur Bewährung ausgesetzt.73 Am 31. März 2006 hatte Deutschland 64.137 Strafgefangene.74 Die Anzahl der Strafgefangenen ist zwischen 1991 und 2006 gestiegen.75 Die Inhaftierungsrate belief sich im Jahre 2004 auf 98 und bewegte sich damit im westeuropäischen Durchschnitt. Die relativ niedrige Einsperrungsrate in Deutschland (98) gegenüber der Gefangenenrate in den USA (723) wird mit zwei Gründen zu erklären versucht:76 72 U.V. Bondeson (2003): Nordic Moral Climates. 100, 106. New Brunswick (U.S.A.), London (U.K.): Transaction. 73 Statistisches Bundesamt (2007): Rechtspflege. Ausgewählte Zahlen für die Rechtspflege. 44, 54. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. 74 Statistisches Bundesamt Fn. 73, 79. 75 Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (2006): Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht. 611. Berlin: Bundesministerium des Innern, Bundesministerium der Justiz. 76 J.Q. Whitman (2003): Harsh Justice. Criminal Punishment and the Widening Divide between America and Europe. Oxford, New York: Oxford University Press.
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Europäische Staatsapparate werden von Bürokratien gesteuert, die von demokratischen Prozessen isolierter sind als US-amerikanische Bürokratien. Europäische Bürokratien schotten den Staat von Druckphänomenen demokratischer Politik ab. In Europa verlangt die Theorie der Individualisierung, dass das Ziel der Kriminalpolitik nicht Taten, sondern Täter, nicht Handlungen, sondern Personen sein sollen. Individualisierung unterstützt das Verständnis für die individuelle Persönlichkeit des Täters. Im US-amerikanischen Strafrecht haben Personen nicht so sehr die Bedeutung wie Personen in Deutschland. Alle Personen erhalten in den USA dieselbe Strafe (egalitäre Urteilsphilosophie).
Beide hoch spekulativen und empirisch nicht nachgewiesenen Gründe überzeugen nicht. Demokratische Druckphänomene im Hinblick auf retributive, repressive Kriminalpolitik sind eine einseitige Erklärung. Die Bevölkerung ist gegenüber guten kriminalpolitischen Argumenten durchaus aufgeschlossen. In Deutschland wird die Freiheitsstrafe zwar mäßig angewandt. Im Vergleich zu den skandinavischen Ländern besteht aber immer noch Spielraum. Deshalb hat das Bundesjustizministerium eine Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems eingesetzt, die u.a. die Erweiterung der Strafaussetzung zur Bewährung, die Vermeidung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafen, die Stärkung des Täter-Opfer-Ausgleichs und die Einführung der gemeinnützigen Arbeit als selbstständige Sanktion beraten sollte. Die in ihrer Mehrheit mit Strafrechtsdogmatikern und -praktikern zusammengesetzte Kommission hat alle die Freiheitsstrafe einschränkenden Vorschläge abgelehnt.77 Der Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums zur Einführung der gemeinnützigen Arbeit als selbstständiger Sanktion ist z.B. mit den Begründungen verworfen worden, der gemeinnützigen Arbeit fehle der „Strafcharakter“, Erfahrungen im Ausland mit der gemeinnützigen Arbeit seien auf deutsche Verhältnisse nicht übertragbar (Isolationsargument) und die gemeinnützige Arbeit könne in die bestehende Sanktionsdogmatik nicht ohne systematische Brüche eingefügt werden. Hier hat sich erneut gezeigt, dass die deutsche Strafrechtsdogmatik und -praxis gegenüber allen kriminalpolitischen Reformen abgeneigt ist, die Strafgesetzgebung und öffentliche Meinung befürworten.78
77 Bundesministerium der Justiz (2000): Abschlussbericht der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems. Berlin: Bundesministerium der Justiz. 78 Vgl. die Ablehnung der von der Bevölkerung akzeptierten Wiedergutmachung durch die Kriminaljustiz: K. Sessar (1992): Wiedergutmachen oder strafen. Pfaffenweiler: Centaurus.
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2. Freiheitsentzug in Nordamerika a) Freiheitsentzug in Kanada Die kanadische Inhaftierungsrate betrug in den Jahren 2003/2004 101. Die Anwendung der Freiheitsstrafe in der Zeit zwischen 1960 und 2005 war stabil. Die Mehrheit der Kanadier befürwortet keine harte Kriminalpolitik zur Lösung des Kriminalitätsproblems. Das kanadische Strafgesetzbuch enthält eine Vorschrift, die den Gebrauch der Freiheitsstrafe begrenzt:79 Ein Straftäter sollte nicht seiner Freiheit beraubt werden, wenn weniger restriktive Sanktionen – den Umständen entsprechend – angemessen sind. Alle verfügbaren Sanktionen außerhalb der Freiheitsstrafe, die den Umständen entsprechend vernünftig sind, sollten für alle Straftäter in Betracht gezogen werden. Das kanadische Parlament äußert mehrheitlich die Meinung: Die Freiheitsstrafe für nichtgewaltsame Täter ist eindeutig zu aufwendig in finanzieller wie sozialer Hinsicht. Maßgebend für den mäßigen Gebrauch der Freiheitsstrafe ist die Haltung der kanadischen Richterschaft, die die Bestimmung des Strafgesetzbuchs voll anwendet und der Mehrheitsmeinung ihres Parlaments zustimmt. Die kanadische Bevölkerung unterstützt Parlament und Richterschaft.
b) Freiheitsentzug in den USA Die USA hatten mit 723 Gefangenen auf 100.000 Einwohner im Jahre 2004 die höchste Inhaftierungsrate in der Welt.80 Mit 51 unterschiedlichen Kriminaljustizsystemen haben sie zwar keine einheitliche Kriminalpolitik. Ihre kriminalpolitische Orientierung kann vielmehr als „schizoide Kombination therapeutischer und punitiver Ansätze“81 beschrieben werden. Dennoch ist eine extreme Orientierung zum Freiheitsentzug für die gegenwärtige US-amerikanische Kriminalpolitik charakteristisch. Legt man einen Zeitraum von 1925 bis 2006 zugrunde, so fluktuierte die Inhaftierungsrate in den ersten 50 Jahren um 110 herum. Die USA setzte Standards in der Welt für einen effektiven, humanen Strafvollzug. Das änderte sich Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die Inhaftierungsrate stieg kontinuierlich auf über 700 im Jahre 2004 an.82 In der Wachstumsperiode trieben die Politiker beider großer Parteien die Gefangenenzahlen hoch. In Wahlkämpfen versprachen die eigene Benennung als hart und die Etikettierung des 79 C.M. Webster/A.N. Doob: Punitive Trends and Stable Imprisonment Rates in Canada. In: M. Tonry (Hrsg.): Crime, Punishment, and Politics in Comparative Perspective. 297-369, bes. 332/333. 80 A. Blumstein Fn. 6, 13. 81 D.C. Gibbons Fn. 5, 18. 82 A. Blumstein Fn. 6, 3.
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politischen Wettbewerbers als mild in der Kriminalpolitik politische Vorteile. Der höhere Gebrauch der Freiheitsstrafe galt als hart. In der Strafgesetzgebung wurde mit Hilfe von Urteilsrichtlinien, obligatorischen Mindeststrafen und den Drei-Schläge-Vorschriften der Freiheitsentzug hoch getrieben. Die Politiker gaben vor, der Öffentlichen Meinung zu folgen. In Wirklichkeit formten sie die Öffentliche Meinung.83
3. Freiheitsentzug in Japan Im Zeitraum von 1997 bis 2001 hatte Japan von fünf Industrieländern (Frankreich, Deutschland, vom Vereinigten Königreich, den USA und Japan) die geringsten berichteten Zahlen (Hellfeld) an Tötungen und Diebstählen.84 Es besitzt die niedrigste Viktimisierungsrate (Dunkelfeld) von 17 Industrieländern.85 Die Viktimisierung ist freilich zwischen 1989 und 2000 um 80 Prozent gestiegen.86 Die japanische Kriminaljustiz verhängt milde Sanktionen. Die Zahl der Gefangenen nahm von 48.243 im Jahr 1990 auf 75.289 im Jahr 2005, also um 56 Prozent zu. Die Inhaftierungsrate stieg von 32 im Jahr 1990 auf 60 im Jahr 2005.87 Sie gehört damit immer noch zu den niedrigsten in der Welt. Die Zunahme der Gefangenen wird auf folgende Ursachen zurückgeführt:88 x Die Kriminalitätskontrolle ist verbreitert worden: Der Kampf gegen das Organisierte Verbrechen, gegen Geldwäsche, Kinderprostitution und -pornographie, gegen illegalen Handel mit menschlichen Organen und gegen Gewalt in der Familie ist intensiviert worden. x Im Jahre 2004 sind die Strafen im japanischen Strafgesetzbuch verschärft, die Mindest- und Höchst-Freiheitsstrafen sind angehoben worden. x Die Politiker haben die Öffentlichkeit mobilisiert; die Massenmedien haben die Kriminalität sensationalisiert. Kampf gegen das Verbrechen ist zum Thema der politischen Parteien geworden, die sich in Kriminalitäts-Härte-Kampagnen völlig der Realität verfremdet ha83 M. Tonry (2004): Thinking about Crime. Sense and Sensibility in American Penal Culture. 34. Oxford, New York: Oxford University Press. 84 Ministry of Justice (2004): White Paper on Crime 2003. 108/109. Tokyo: Ministry of Justice. 85 J. v.Kesteren/P. Mayhew/P. Nieuwbeerta (2000): Criminal Victimisation in Seventeen Industrialised Countries. Key Findings from the 2000 International Crime Victims Survey. 38. The Hague: WODC. 86 D.T. Johnson (2007): Crime Punishment in Contemporary Japan. In: M. Tonry (Hrsg.): Crime, Punishment, and Politics in Comparative Perspective. 371-423, bes. 374. Chicago, London: University of Chicago Press. 87 D.T. Johnson Fn. 86, 382/383. 88 D.T. Johnson Fn. 86.
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ben. Gewalt durch Ausländer spielt eine große Rolle. Man spricht – völlig realitätsfremd – vom Zusammenbruch der öffentlichen Sicherheit.
VI. Ursachen der Verhängung der Freiheitsstrafe 1. Spekulative Interpretationsmodelle Angesichts eines weltweiten Anstiegs der Freiheitsstrafe ist eine kriminologische Diskussion über die Ursachen entbrannt. Spekulative Interpretationsmodelle sind zuhauf entwickelt worden, von denen einige als Beispiele genannt werden: x In Ländern mit politischen Konfliktkulturen ist ein Anstieg der Freiheitsstrafe wahrscheinlicher als in Staaten mit politischen Konsenskulturen. Eine Konfliktkultur ist durch zwei große politische Parteien gekennzeichnet, die konträre kriminalpolitische Positionen vertreten. In Konsens-Systemen sorgen mehrere politische Parteien (Koalitionen) für kriminalpolitische Kontinuität.89 x In Ländern, in denen Staatsanwälte und Richter gewählt werden, ist die Verurteilung zu Freiheitsstrafen häufiger. Staatsanwälte und Richter tragen der angeblich punitiven Öffentlichen Meinung Rechnung, um wiedergewählt zu werden.90 x Unsicherheit und soziale Isolation sind in Risikogesellschaften so stark ausgeprägt, dass traditionelle Werte wie Fairness, Gerechtigkeit und Gleichheit im Strafverfahren zu unerreichbarem Luxus geworden sind.91 x Der Anstieg der Freiheitsstrafe ist eine unabwendbare Nebenerscheinung der Modernität.92 Die Variationsbreite der ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandlungen haben die Menschen ängstlich, risikoscheu und unsicher gemacht.
89 M. Tonry (2007): Determinants of Penal Policies. In: M. Tonry (Hrsg.): Crime, Punishment, and Politics in Comparative Perspective. 1-48, bes. 18/19. Chicago, London: University of Chicago Press. 90 M. Tonry Fn. 83, 9. 91 U. Beck (2004): Risk Society. Towards a New Modernity. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage. 92 Z. Bauman (1991): Modernity and Ambivalence. Cambridge: Polity Press; N. Christie Fn. 11.
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Das Verbrechen bedroht die Mittelschicht, die Staatsanwälte, Richter, Bewährungshelfer und Strafvollzugsbeamte stellt.93 Die Distanz zwischen Mittelschicht und Kriminalität ist geschwunden; Kriminalität ist für die Mittelschicht zu einer Quelle der Angst, der Frustration und des Ärgers geworden. Anstelle des Straftäters ist das Verbrechensopfer in den Mittelpunkt des Strafverfahrens gerückt. Die Kombination zwischen größerer Aufgeschlossenheit für die Viktimisierung und der höheren Erwartung an die öffentliche Sicherheit ist für das Wachsen der Freiheitsstrafe verantwortlich.94 Öffentliche Sensibilitäten bestimmen die Häufigkeit der Anwendung der Freiheitsstrafe. Sensibilitäten beruhen auf sozialen Werten, Einstellungen und Glaubenssätzen. Der Zeitgeist (Hegel) formt und gestaltet die Sensibilitäten.95
2. Der Einfluss der Öffentlichen Meinung Der Anstieg der Freiheitsstrafe wird immer wieder allein oder vor allem auf die Punitivität der Öffentlichkeit zurückgeführt. Hierbei wird die Punitivität mit der Häufigkeit der Befürwortung der Freiheitsstrafe gemessen. Zwar wird die Inhaftierungsrate von der Punitivität der Öffentlichkeit mitbestimmt. Die Korrelation zwischen der Untersütztung der Freiheitsstrafe durch die Öffentlichkeit und der Häufigkeit ihrer Verhängung ist indessen äußerst schwach.96 Dafür, dass die Öffentlichkeit punitiv orientiert ist, beruft man sich stets erneut auf Meinungsbefragungen. Aus ihnen folgt nicht selten eine simplifizierte, manchmal stark irreführende Meinung über die öffentliche Reaktion auf Verbrechen. 96 Prozent der Bevölkerung beziehen ihre Informationen über Kriminalität und Kriminaljustiz aus den Massenmedien,97 die Stereotype formen und pflegen. Man hält deshalb in der Bevölkerung abscheuliche, scheußliche Verbrechen, über die die Massenmedien ausführlich be93 D. Garland (2003): Die Kultur der „High Crime Societies“. In: D. Oberwittler/S. Karstedt (Hrsg.): Soziologie der Kriminalität. 36-68, bes. 47 ff. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften; D. Garland Fn. 47, 148 ff. 94 D. Downes (2001): Mass Incarceration in the United States – a European Perspective. In: D. Garland (Hrsg.): Mass Imprisonment. 51-69. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage. 95 M. Tonry Fn. 83, 4/5, 70/71. 96 P. Mayhew/J. van Kesteren (2002): Cross-National Attitudes to Punishment. In: J.V. Roberts/M. Hough (Hrsg.): Changing Attitudes to Punishment. 63-92, bes. 74. Cullompton/Devon: Willan. 97 J.V. Roberts/L.J. Stalans (1997): Public Opinion, Crime, and Criminal Justice. 4. Boulder/Col., Oxford: Westview.
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richten, fälschlicherweise für die Norm. Man glaubt an den Kriminalitätsanstieg, obwohl die Kriminalität in Wirklichkeit fällt. Die populärste Sanktion ist in den Massenmedien und in der Öffentlichen Meinung die Freiheitsstrafe.98 Alternativen zur Freiheitsstrafe kennt die Bevölkerung kaum, weil selten über sie berichtet wird. In Wirklichkeit ist die Öffentliche Meinung kriminalpolitisch weder monolithisch noch einseitig punitiv orientiert. Man muss zwischen Öffentlicher Meinung, die eine erste spontane, oberflächliche, durch die Massenmedien beeinflusste Reaktion in Meinungsumfragen darstellt, und öffentlicher Beurteilung unterscheiden, die als informierte Reaktion gesehen werden muss.99 x Vier kriminalpolitische Ziele, Bestrafung, Wiedergutmachung, Abschreckung und Behandlung, werden in der Bevölkerung – genauso wie bei Experten – für wichtig gehalten. Eine starke Befürwortung von Alternativen zur Freiheitsstrafe koexistiert neben punitiven Einstellungen.100 In einer neuerlichen empirischen Studie in den USA sprachen sich 55% der Stichprobe dafür aus, dass die Rehabilitation das Hauptziel der Strafanstalt sein sollte.101 Die öffentliche Unterstützung für die erzieherische Behandlung delinquenter Jugendlicher ist stark. x Nur etwas mehr als ein Viertel der Befragten befürwortet in Europa die Freiheitsstrafe, aber 46 Prozent sprechen sich für die gemeinnützige Arbeit aus.102 In 23 von 58 Ländern unterstützen weltweit mehr Menschen die gemeinnützige Arbeit als die Freiheitsstrafe. x Die Öffentlichkeit ist in ihrer Bestrafungstendenz nicht härter als die Gerichte.103 Die Richter verhängen unnötig punitive Urteile, weil sie fälschlicherweise davon ausgehen, dass die Öffentlichkeit das so will. Die Politiker haben eine übertriebene Vorstellung von der Punitivität der Öffentlichkeit.
98 H. Shinkai/U. Zvekic (1999): Punishment. In: G. Newman (Hrsg.): Global Report on Crime and Justice. 89-120, bes. 89. New York, Oxford: Oxford University Press; J.V. Roberts/L.J. Stalans Fn. 97, 47. 99 M. Tonry Fn. 83, 35. 100 J. Doble (2002): Attitudes to Punishment in the US – Punitive and Liberal Opinions. In: J.V. Roberts/M. Hough (Hrsg.): Changing Attitudes to Punishment. 148-162, bes. 153. Cullompton/Devon: Willan. 101 F.T. Cullen/J.A. Pealer/B.S. Fisher/B.K. Applegate/S.A. Santana (2002): Public Support for Correctional Rehabilitation in America: Change or Consistancy. In: J.V. Roberts/M. Hough (Hrsg.): Changing Attitudes to Punishment. 128-147, bes. 140. Cullompton/Devon: Willan. 102 P. Mayhew/J. van Kesteren Fn. 96, 72. 103 U.V. Bondeson (2007) Fn. 50, 186; U.V. Bondeson Fn. 72, 69, 76; J.V. Roberts/L.J. Stalans Fn. 97, 203.
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Die Erfahrung der Viktimisierung verstärkt nicht die Verhängung der Freiheitsstrafe.104 Verbrechensopfer sind in ihrer Mehrheit nicht rachedurstig, sondern sie setzen sich für Wiedergutmachung ein.
Für die Arbeit der Kriminaljustiz ist das öffentliche Vertrauen wichtig. Ohne die Kooperation der Bevölkerung, speziell des Verbrechensopfers, scheitert die Kriminaljustiz.105 Deshalb darf sich die gerichtliche Strafzumessung nicht zu sehr von der Öffentlichen Meinung entfernen. In der Demokratie muss das Volk von der Richtigkeit der gerichtlichen Strafzumessung überzeugt werden.
3. Die Bedeutung gesellschaftlicher Lernprozesse Anstieg und Abfall der Kriminalität und Wachsen und Nachlassen der Verhängung der Freiheitsstrafe sind zwei voneinander unabhängige Sozialprozesse. Der Umfang der Freiheitsstrafe hängt von der freien Wahl in einer Gesellschaft ab.106 Er wird nur indirekt beeinflusst vom politischen Wandel, von demographischen Entwicklungen und ökonomischen Bedingungen. Die Verhängung der Freiheitsstrafe entsteht oder vergeht in gesellschaftlichen Lernprozessen, an denen Gesetzgebung (Politiker), Gesetzanwendung (Kriminaljustiz-Professionals), Öffentliche Meinung (Journalisten) und Wissenschaft (Experten) maßgeblichen Anteil haben. Fehllaufende Lernprozesse werden häufig durch „moralische Panik“, durch grauenvolle, entsetzliche Verbrechensereignisse, die von den Massenmedien dramatisiert werden und die öffentliche Emotionen, Sorge und Überreaktion verursachen, oder durch wissenschaftliche Erkenntnisse hervorgerufen, die falsch verstanden oder durch die Massenmedien verfälscht werden. Der empirische Nachweis für einen positiven, gelungenen Lernprozess ist das Nachlassen der Freiheitsstrafe in Finnland.107 Zu Beginn der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hatte Finnland eine Inhaftierungsrate von 200, während sich die Gefangenenraten in Schweden, Dänemark und Norwegen um 50 bewegten. Selbst in den 70er Jahren war die Einsperrungsrate in Finnland unter den höchsten in Westeuropa. Zu Beginn der 90er Jahre war die finnische Gefangenenrate auf die nordische Höhe gesunken. Aufgrund eines humanen, neoklassizistischen, pragmatisch-rationalen Ansatzes hatten finnische Kriminologen Alternativen zur Freiheitsstrafe vertreten: z.B. die Aus104
P. Mayhew/J. van Kesteren Fn. 96, 84. J.V. Roberts (2007): Public Confidence in Criminal Justice in Canada: A Comparative and Contextual Analysis. In: Canadian Journal of Criminology and Criminal Justice. 49, 153-184. 106 N. Christie Fn. 12. 107 T. Lappi-Seppälä Fn. 69; T. Lappi-Seppälä Fn. 71. 105
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weitung der Geldstrafe, der Bewährungshilfe, der Aussetzung des Strafrestes, der Einschränkung der Ersatzfreiheitsstrafe, der Einführung der gemeinnützigen Arbeit. Der Gesetzgeber, der sich für eine Senkung der Verhängung der Freiheitsstrafe einsetzte, wurde durch die Richterschaft unterstützt. Unter den Politikern herrschte Konsens, die Gefangenenzahl zu reduzieren. Innere Sicherheit war kein zentrales Thema in Wahlkampagnen. In Finnland bewahrten die Massenmedien eine sachorientierte, nüchterne, vernünftige Einstellung zu kriminalpolitischen Problemen. Die Öffentliche Meinung war davon überzeugt worden, eine „nordische Identität“ bei der Strafzumessung anzunehmen. Das Vertrauen der finnischen Öffentlichkeit in ihre Kriminaljustiz ist sehr groß: Bei einem europäischen Durchschnitt von 45 Prozent haben in Finnland 66 Prozent der Bevölkerung großes Vertrauen.108 Es ist also gelungen, die Bevölkerung im Lernprozess „mitzunehmen“. Vertrauen schafft soziales Kapital, das für die Stärkung der informellen Kontrolle wesentlich ist.
VII. Schlussfolgerung für die deutsche Kriminalpolitik Aufgeregte Polemik über eine angebliche „kriminalpolitische Wende“ und eine „neue Straflust“ in Deutschland sind wenig hilfreich.109 Allen weltweiten empirisch-viktimologischen Forschungsergebnissen zuwider werden „Racheimpulse des Verletzten und seiner Sympathisanten“ beschworen.110 Es geht nicht um die „Bereitschaft, die Täter mit Sympathie zu unterstützen“.111 Es geht um einen fairen Ausgleich der Täter-, Opfer- und Gesellschaftsinteressen und darum, ein zweites Opferwerden des Verbrechensopfers im Kriminaljustiz-Prozess zu vermeiden. Der weltweite Widerstand der Kriminaljustiz-Professionals und der Politiker gegen restaurative, nicht-punitive und weniger aufwendige Reaktionen auf Kriminalität ist gut dokumentiert.112 Gleichwohl ist in Deutschland zu aufgeregter Polemik
108
J.V. Roberts Fn. 105, 167. Vgl. die Beiträge in: H. Hess/L. Ostermeier/B. Paul (Hrsg.) (2007): Kontrollkulturen. Weinheim: Juventa; R. Lautmann/D. Klimke/F. Sack (Hrsg.) (2004): Punitivität. Weinheim: Juventa. 110 R. Lautmann/D. Klimke (2004): Punitivität als Schlüsselbegriff für eine Kritische Kriminologie. In: R. Lautmann/D. Klimke/F. Sack (Hrsg.): Punitivität. 9-29, bes. 13. Weinheim: Juventa. 111 D. Garland Fn. 93, 62. 112 J.V. Roberts/M. Hough (2002): Public Attitudes to Punishment: the Context. In: J.V. Roberts/M. Hough (Hrsg.): Changing Attitudes to Punishment. 1-14, bes. 5. Cullompton/Devon: Willan. 109
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wenig Anlass. Es ist ein relativ sicheres Land.113 Seine Gefangenenzahlen halten sich im westeuropäischen Rahmen. Bei einem europäischen Durchschnitt von 45 Prozent haben in Deutschland 62 Prozent der Bevölkerung großes Vertrauen in ihre Kriminaljustiz.114 Die Freiheitsstrafe darf freilich nicht steigen; sie muss eher sparsamer angewendet werden. Dafür sind Alternativen zur Freiheitsstrafe der beste Weg.
113 H.J. Schneider (2007): Kriminalitätsmessung: Kriminalstatistik und Dunkelfeldforschung. In: H.J. Schneider (Hrsg.): Internationales Handbuch der Kriminologie. Band 1. 289-332, bes. 324-326. Berlin: De Gruyter. 114 J.V. Roberts Fn. 105, 167.
Tiere im Strafvollzug1 HANS-DIETER SCHWIND
Das gewählte Thema mag zunächst befremdlich erscheinen. Sitzen im Strafvollzug nicht nur verurteilte Straftäter ein? Dass sich auch Tiere im Strafvollzug aufhalten, wurde einer breiteren Öffentlichkeit erst über einen Spielfilm bekannt. Der „Gefangene von Alcatraz“ durfte sich als „Lebenslänglicher“ einen Kanarienvogel im Haftraum halten:2 Alcatraz heißt eine kleine Insel vor San Franzisko, auf der eine alte Strafanstalt steht. Ist Tierhaltung im Haftraum auch in Deutschland gestattet? Und wenn ja, warum? Wer bekommt die Erlaubnis? Werden in den Anstalten Tiere auch außerhalb der Hafträume gehalten? Mit diesen Fragen beschäftigt sich dieser Aufsatz, der dem verehrten Kollegen und bekannten (liberalen) Strafvollzugswissenschaftler Manfred Seebode gewidmet ist. Der Verfasser hofft, dass das zunächst randständig erscheinende Thema den Jubilar interessiert. Es geht dabei um die Frage, ob bzw. inwieweit tiergestützte Pädagogik und Therapie zum Resozialisierungsziel des § 2 StVollzG3 mit beitragen kann. 1 An dieser Stelle möchte ich allen Anstaltsleitern, Bediensteten und Vertretern von Aufsichtsbehörden danken, die mir zum Thema „Tiere im Strafvollzug Informationen zur Verfügung gestellt haben. 2 Der Film („Birdman of Alcatraz“) orientiert sich an der (wahren) Geschichte des wegen zweifachen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Häftlings Robert Groud, der während 43-jähriger Haft seine Liebe zu Vögeln entdeckte und zu einem der bekanntesten Vogelexperten Amerikas wurde. Groud wird im Film von Burt Lancaster gespielt. 3 Dieser Beitrag orientiert sich noch an den Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes vom 16. März 1976. Die Rechtslage hat sich zwar inzwischen verändert, aber ohne die Thematik „Tiere im Strafvollzug“ zu berühren. Durch Art. 1 Nr. 7 a des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I, S. 2034) wurde Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 des GG dahingehend geändert, dass der Strafvollzug künftig nicht mehr in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 72 GG, sondern in den Bereich des ausschließlichen Gesetzgebungsrechts der Länder nach Art. 70 Abs. 1 GG fällt. Das Strafvollzugsgesetz gilt danach nach § 125 a Abs. 1 Satz 1 GG zwar als Bundesrecht fort, aber nur solange es nicht durch Landesrecht ersetzt worden ist. (Art. 125 a Abs. 1 Satz 2 GG). Der niedersächsische Landtag hat am 13. Dezember 2007 insoweit ein „Niedersächsisches Gesetz zur Neuregulierung des Justizvoll-
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I. Rechtliche Regelungen der Tierhaltung Die rechtlichen Regelungen, die sich auf die Tierhaltung im Strafvollzug beziehen, reichen vom (grundsätzlich noch geltenden) Strafvollzugsgesetz bis zur Hausordnung.
1. Strafvollzugsgesetz und Rechtsprechung Die (wenige) einschlägige Rechtsprechung der letzten rund 25 Jahre hat sich hauptsächlich mit der Vogelhaltung (Wellensittiche, Kanarienvögel, Salomonkakadu) beschäftigt. Ausgangspunkte waren immer die §§ 19 und 70 StVollzG, und zwar im Kontext des § 3 Abs. 1 (Angleichungsgrundsatz). Nach § 19 Abs. 1 darf der Gefangene seinen Haftraum in angemessenem Umfang mit eigenen Sachen (wohnlich) ausstatten, es sei denn die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt würde gefährdet (§ 19 Abs. 2). § 70 Abs. 1 bestimmt, dass der Gefangene in angemessenem Umfang Gegenstände zur Freizeitbeschäftigung besitzen darf, wobei (nach § 70 Abs. 2 Nr. 2) derselbe Vorbehalt wie bei § 19 Abs. 2 gilt. Zusätzlich wird erwähnt, dass der Besitz des Gegenstandes auch nicht das „Ziel des Vollzuges“ beeinträchtigen darf. Zu den „Gegenständen“ bzw. „Sachen“ von denen in beiden Paragraphen die Rede ist, zählen nach dem Verständnis unserer Rechtsordnung auch Tiere. a) Das Landgericht Stuttgart hat mit Beschluss vom 27.05.19804 entschieden, dass die Zulassung der Vogelhaltung grundsätzlich die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden würde. Gründe dafür: die Möglichkeit der Übertragung von Krankheitserregern und die Unmöglichkeit einer geordneten veterinärärztlichen Überprüfung. Auch das OLG Koblenz hat in seinem Beschluss vom 16.5.19835 betont, dass die Haltung von Wellensittichen die Anstaltsordnung in hygienischer Hinsicht gefährde: Sie berge sowohl die Gefahr einer Übertragung von Infektionskrankheiten vom Tier auf den Menschen, als auch die einer Allergisierung des Menschen durch direkt oder indirekt vom Tier abstammende Allergene. Außerdem begründe die Haltung von Vögeln die Gefahr einer allgemeinen Geräuschbelästigung der Mitgefangenen. Die Verpflichtung der Vollzugsbehörde, das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit wie möglich anzugleichen (§ 3 Abs. 1) sei „unter diesen Umständen bei der Haltung von Vögeln nicht zu verwirklichen“. Das sollte ungeachtet der Erfahrung gelten, zuges (NJVollzG)“ verabschiedet. Was das Thema „Tiere im Strafvollzug“ anbelangt, entsprechen die neuen Vorschriften jedoch denen der bisherigen Rechtslage. 4 ZfStrVo 1980, S. 250. 5 ZfStrVo 1983, S. 315.
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dass die Haltung von Vögeln namentlich „Langzeitgefangenen“ psychisch und therapeutisch von Nutzen sein könne. Das OLG Frankfurt hatte allerdings bereits am 20.4.19836 zu bedenken gegeben, dass nach einer Einzelgestattung davon auszugehen wäre, dass eine noch unbestimmte Zahl weiterer Gefangener die Haltung (von Tieren auf der Zelle) nicht versagt werden könne. b) Neun Jahre später lockerte dann das OLG Saarbrücken mit seinem Beschluss vom 25. Mai 19937 diese Verbotsrechtsprechung. Die Vollzugsbehörde sei auch bei Vorliegen der Gefährdung der Anstaltsordnung im Haftraum (hieß es nun) nicht gehalten, Gegenstände bzw. Tiere auszuschließen. Vielmehr stehe diese Entscheidung in ihrem Ermessen. Bei der Abwägung zwischen den Interessen des Gefangenen und denen des Vollzuges müsse jedenfalls berücksichtigt werden, dass ein Gefangener eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüße. Entsprechend hat das OLG Karlsruhe mit Beschluß vom 11. April 20028 entschieden, dass die Haltung eines Salomonkakadus im Haftraum nur verweigert werden könne, wenn gerade dadurch die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährdet werden würde.
2. Kommentare und Lehrbücher Die Auswertung der gängigen Strafvollzugs-Kommentare und Lehrbücher ergibt das folgende Bild:
a) Kommentare Im Kommentar von Calliess/Müller-Dietz9 wird bei § 19 nur darauf hingewiesen, dass zwar „allgemein das Verbot der Vogelhaltung gebilligt wird“, aber dass das OLG Saarbrücken „mit Recht vor allem bei sog. Lebenslänglichen gewichtige Gründe für die Genehmigung“ (der Haltung von Wellensittichen) sehe. Bei § 70 wird auch die Möglichkeit störender Geräuschbelästigung erwähnt und dann unter bezug auf eine unveröffentlichte Entscheidung des Kammergerichts der Satz angefügt, dass „ein generelles Verbot der Vogelhaltung in der Anstaltsordnung nur berechtigt erscheine, wenn jede Vogelhaltung in der Anstalt eine Gefährdung für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt enthält“.
6
NStZ 1984, S. 239. ZfStrVo 1994, S. 51. 8 ZfStrVo 2002, S. 373. 9 Calliess, R.-P./Müller-Dietz, H.: Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 10. Aufl., 2004. 7
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Im Kommentar von Arloth/Lückemann10 kann man bei § 19 (Arloth) erfahren, dass über die „Vogelhaltung im Einzelfall unter Berücksichtigung der Haftdauer“ zu entscheiden sei (Rdn. 9). Auch bei § 70 (Lückemann) wird dazu nur auf die einschlägige Rechtsprechung hingewiesen. Im „Alternativkommentar“, den Feest herausgibt,11 wird bei § 19 auf § 70 verwiesen. Dort heißt es, dass die Verbots-Rechtsprechung abzulehnen sei und als „grundsätzlich ausreichendes Reaktionsmittel immer noch der Widerruf der Erlaubnis nach § 70 Abs. 3“ verbleibe. Auch im Kommentar von Schwind/Böhm/Jehle12 wird ein ausnahmsloses Verbot der Vogelhaltung für bedenklich gehalten. Dementsprechend heißt es bei § 70 (Schwind), dass die Rechtsprechung nach der der Strafgefangene generell kein Recht auf Haltung eines Vogels haben soll, weil von der Haltung von Kleintieren grundsätzlich eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt ausgehen kann (etwa eine Übertragung von Krankheiten), nicht überzeuge; zumindest Lebenslänglichen solle im Rahmen des § 3 Abs. 2 StVollzG ein solches Recht wenigstens grundsätzlich eingeräumt werden, weil die Haltung von Tieren gerade in dieser Haftsituation psychisch und therapeutisch von Nutzen sein kann“. Auf die Notwendigkeit einer Interessenabwägung wird (unter Hinweis auf das OLG Saarbrücken) hingewiesen.
b) Lehrbücher Liest man in einschlägigen Lehrbüchern nach, ergibt sich das folgende Bild: Kaiser/Schöch erwähnen13 lediglich das Verbot der Vogelhaltung unter Hinweis auf die bereits oben zitierte Rechtsprechung. Böhm schreibt:14 „Sofern hygienische Bedenken nicht entgegenstehen und die artgerechte Haltung möglich ist, ist – vor allem für langstrafige Gefangene – auch die Haltung von Tieren (Fischen in Aquarien, Vögeln in Käfigen, manchmal sogar Katzen und anderen Kleintieren) erlaubt.“ Walter15 weist darauf hin, dass „selbst für die Frage der Kleintierhaltung dem Angleichungsgrundsatz etwas abgewonnen werden“ könne.
10
Arloth, F./Lückemann, C.: Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 1. Aufl., 2001. Feest, J. (Hrsg.), Kommentar zum Strafvollzugsgesetz (AK-StVollzG), 5. Aufl., 2006, Rdn. 6. 12 Schwind, H.-D./Böhm, A./Jehle, H.J., (Hrsg.): Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 4. Aufl. 2006. 13 Kaiser, G./Schöch, H.: Strafvollzug, 5. Aufl., 2002, Rdn. 186. 14 Böhm, A.: Strafvollzug, 3. Aufl., 2003, Rdn. 196. 15 Walter, M.: Strafvollzug, 2. Aufl., 1999, Rdn. 404. 11
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Laubenthal16 hebt hervor, dass „die Vollzugsbehörde verpflichtet ist, ihr Ermessen im Einzelfall auszuüben und (dabei) die individuellen Gegebenheiten zu ihrer Entscheidungsgrundlage zu machen“. In „dem bloßen Hinweis der Vollzugsbehörde auf die Gefahr für die Ordnung der Anstalt (liege) ein Ermessensfehlgebrauch“ sofern „diese nicht in eine Abwägung des Einzelfalls eingetreten ist“. Dabei müsse berücksichtigt werden, ob ein Antragsteller eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüße. Denn gerade solche Gefangene hätten „ein Interesse an einer möglichst individuellen und wohnlichen Haftraumausstattung. Die „Gefahr für die Ordnung der Anstalt (verliere) insoweit gegenüber den individuellen Interessen des Langzeitgefangenen an Bedeutung“.
3. Rundverfügungen und Hausordnungen Konkrete Handlungsanweisungen können sich aus Vorgaben der Landesjustizverwaltung ergeben und aus den anstaltsinternen Hausordnungen.
a) Nordrhein-Westfalen Ein Beispiel für entsprechende Vorgaben bildet eine Rundverfügung des Justizministers von Nordrhein-Westfalen vom 14. September 1988.17 In dieser RV wird darauf verwiesen, dass „bei der Tierhaltung in Justizvollzugsanstalten die einschlägigen gesetzlichen und die Verwaltungsbestimmungen aus den Bereichen des Tierschutzes und der Seuchenbekämpfung zu beachten sind. Zum Umfang der Tierhaltung heißt es, dass Strafgefangene (generell) das Halten: „kleinerer Vögel (Wellensittiche, Zwergpapageien, Kanarienvögel oder Singvögel vergleichbarer Größe)“ gestattet (sein soll), sowie „das Halten von Kalt- und Warmwasserfischen, sofern das Aquarium höchstens 70 Liter Wasser erfasst.“
Die Erlaubnis zur Vogelhaltung wird von Verbüßungszeiten abhängig gemacht, es sei denn, dass therapeutische Gesichtspunkte eine andere Regelung erfordern. Diese RV wurde im Jahre 2001 allerdings wieder aufgehoben, und zwar (so das dortige Justizministerium)18 als Ergebnis einer Organisationsuntersuchung nach der im Rahmen der Förderung der Selbstverantwortung bzw. 16
Laubenthal, K.: Strafvollzug, 3. Aufl., 2003, Rdn. 392. Az. 4565 – IV A. 4. 18 Auskunft des NRW-Justizministeriums (Strafvollzugsabteilung). 17
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Eigenständigkeit der Anstalten die Regelung der Kleintierhaltung in Hausordnungen (§ 161 StVollzG) vor Ort geregelt werden sollte. Das ist z.B. in der JVA Werl mit einer Hausordnung19 (§ 161 StVollzG) geschehen, in der es heißt, dass die Haltung von Kleintieren der Genehmigung der Anstalt bedarf. In der JVA Gelsenkirchen wurde die Kleintierhaltung im Haftraum hingegen vollständig abgeschafft.
b) Hessen In dem hessischen Runderlass des dortigen Justizministeriums vom 9. Juli 200320 heißt es zu § 19 lediglich: „Tierhaltung ist nicht erlaubt“.
c) Niedersachsen Auch in Niedersachsen ist die Regelung der Kleintierhaltung (zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt) auf die Justizvollzugsanstalten übergegangen,21 und zwar z.B. in der JVA Celle mit dem Ergebnis (wie in Gelsenkirchen), dass die Kleintierhaltung grundsätzlich (seit einem Anstaltsumbau 2003) nicht mehr erlaubt wird. Es gibt dort nur noch „Resttiere“.22 Dementsprechend heißt es in der Celler Hausordnung23 wie folgt: „Es werden keine neuen Kleintiere zugelassen“. Für die bereits in Besitz (von Gefangenen) befindlichen Tiere gilt: „Vögel sind tagsüber im verschlossenen Käfig zu halten. Die Hygienevorschriften sind zu beachten. Die Zucht und Weitergabe von Kleintieren ist nicht gestattet“. In der Hausordnung der JVA Lingen24 (Hauptanstalt) kommt die Tierhaltung zwar nicht mehr vor, wohl aber in der Hausordnung für die Abteilung Groß-Hesepe (unter III, 1 c). Zusammenfassend ergibt sich aus den rechtlichen Regelungen folgendes Bild: Die Rechtsprechung betont die Gefährdung der Sicherheit und Ordnung, die mit einer Tierhaltung (im Haftraum) verbunden sein kann, hält aber eine Abwägung zwischen den Interessen des Gefangenen mit denen des Vollzuges dann für geboten, wenn es sich um Gefangene handelt, deren Freiheitsentzug langzeitig ist. Diese Differenzierung nehmen auch grundsätzlich die Kommentatoren und Verfasser von Lehrbüchern vor. Dabei 19 Hausordnung der JVA Werl (Stand Dez. 2003, Pkt. 4.4); ergänzt durch ein „Merkblatt für den Besitz von Vögeln nebst Zubehör“ (Stand Juli 2002) sowie durch „Hinweise über eine hygienisch einwandfreie Vogelhaltung“. 20 JMBl. 2001, S. 646. 21 Auskunft des Nds. Justizministeriums (Strafvollzugsabteilung). 22 Anstaltsleiter Werner Cordes in einem Schreiben vom 9. Juli 2006. 23 Hausordnung der JVA Celle I vom Sept. 2005, S. 5. 24 Hausordnung der JVA Lingen (vom 4.10.2005).
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wird besonders betont, dass das Halten eines Tieres grundsätzlich therapeutisch von Nutzen sein kann.
II. Verbreitung der Tierhaltung in JVAen Die Haltung von Tieren im Strafvollzug hat in Deutschland wahrscheinlich (nach dem Kriege) mit der Errichtung von Vogelvolieren begonnen. Den Nachwuchs der Tiere durften Gefangene auf Antrag in den Haftraum mitnehmen. Es folgten dann Anträge, die sich auf die Haltung anderer Tiere bezogen.
1. Statistische Hinweise Erste statistische Hinweise sind aus dem Jahre 1994 bekannt.
a) Vogelsangs Umfrage25 (1993) 1994 erschien in der Zeitschrift für Strafvollzug ein (kurzer) Aufsatz unter der Überschrift „Kleintierhaltung im Strafvollzug“. Die Autorin (Eva Vogelsang) weist zunächst auf den Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 hin, zu dessen Konkretisierung im Rahmen des § 19 Abs. 1 auch die Haltung von Tieren auf der Zelle gehöre. Denn „angesichts der weit verbreiteten Haltung von Haustieren in Privathaushalten“ müsse man es den Gefangenen auch zugestehen, „ein kleines Haustier in ihrem Haftraum halten zu dürfen. Einen entsprechenden Fragebogen, der an JVAen bundesweit verschickt worden ist, haben von insgesamt 75 Anstalten allerdings nur 56 ausgefüllt wieder zurückgeschickt. Ergebnisse: x In insgesamt 29 Anstalten war den Gefangenen eine Tierhaltung im Haftraum grundsätzlich erlaubt; in sieben dieser Anstalten wurden Tiere auch in Gemeinschaftseinrichtungen gehalten. x In neun Anstalten gab es Tiere „nur in Gemeinschaftsräumen“, die dort z.T. von den Gefangenen versorgt wurden. x Soweit eine Tierhaltung im Haftraum erlaubt war, schwankte die Rate der Tierhalter zwischen 0,3 % und 70 % der Anstaltspopulation. x Dass viele Gefangene von der Möglichkeit der Tierhaltung keinen Gebrauch machen konnten, hatte vor allem mit den Voraussetzungen der Erlaubnis zu tun; verlangt wurde nämlich, dass der Gefangene in der Lage war, die Kosten für die Anschaffung und für evtl. tierärztli25 Vogelsang, E.: Kleintierhaltung im Strafvollzug. Das Ergebnis einer Umfrage, in: ZfStrVo 2/94, S. 67-68.
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che Untersuchungen selbst zu bezahlen; außerdem wurde das nötige Verantwortungsbewusstsein überprüft; teilweise ist von dem Gefangenen die Vorlage einer tierärztlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung verlangt worden. Schließlich hing eine Erlaubnis in einigen Anstalten auch von der Verweildauer des Gefangenen in der Anstalt ab. Soweit die Tierhaltung erlaubt wurde, ging es um Vögel (auch Papageien), Katzen, Hamster und (in Gemeinschaftsräumen) Hühner. Abgelehnt wurden Anträge auf Haltung von Schlangen, Ratten und Vogelspinnen. Bezogen wurden die Tiere vom Fachhandel oder von Angehörigen, die die Tiere in die Anstalt mitbrachten. Beschwerden seitens der Mitgefangenen oder Bediensteten z.B. wegen Lärmbelästigungen oder mangelnder Hygiene gab es nicht. Zu Tierquälereien soll es nur sehr selten gekommen sein.
b) Niedersachsen-Umfrage (2006) Dreizehn Jahre nach dieser (bundesweiten) Umfrage wurde ein zweiter Befragungsversuch (im Oktober/November 2006) unternommen, und zwar im Bundesland Niedersachsen. Dass die Rücklaufquote mit 100 % optimal ausfiel, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der zweiseitige Fragebogen z.T. unvollständig ausgefüllt wurde. Dass geantwortet wurde, dürfte nicht zuletzt mit einem Erlass26 des Niedersächsischen Justizministeriums zu tun gehabt haben, das die Fragebogen-Aktion unterstützte. Befragt wurden alle 15 Anstalten des Landes.27 Resultate aus den Hauptanstalten: x Eine Tierhaltung im Haftraum ist grundsätzlich schon nach den Hausordnungen nicht (mehr) gestattet; das gilt grundsätzlich auch für den offenen Vollzug; nur eine geschlossene und eine offene Anstalt gaben an, dass bei diesen die Tierhaltung auf der Zelle erlaubt sei; in der JVA Celle sind für Langstrafige (vgl. schon oben) als „Resttiere“ Wellensittiche erlaubt; 26
Erlass vom 29. Sept. 2006 (4400 I-III.550). Die (Haupt-) Anstalten befinden sich in Braunschweig, Celle, Hameln, Hannover, Lingen, Lingen-Damaschke, Meppen, Oldenburg, Rosdorf, Salinenmoor, Sehnde, Uelzen, Vechta (Jungtäter/Jugendarrest), Vechta (Frauen) und Wolfenbüttel. Ausgewertet wurde, was diese ausgefüllt haben. Soweit Hauptanstalten Fragebögen vorgelegt haben, die in den ihnen zugeordneten Abteilungen (aus anderen Kommunen) ausgefüllt wurden, blieben diese unberücksichtigt, weil sie z.T. offensichtlich falsch ausgefüllt worden waren. Beispiel: eine der Abteilungen hat pauschal alle Fragen des Fragebogens (offenbar ohne diesen überhaupt gelesen zu haben) bejaht. Da es nicht plausibel erschien, dass tiergestützte Pädagogik durchgeführt wurde, ohne, dass es Tiere in der Anstalt gab, erfolgte eine telefonische Überprüfung. Der Rückruf hat ergeben, dass dort weder Tiere noch tiergestützte Pädagogik existiert. 27
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Anders ist es mit der Tierhaltung außerhalb des Haftraumes im Anstaltsbereich; dort werden in jeder zweiten Anstalt noch Tiere gehalten, und zwar (Zier-)Fische in Teichen oder in Aquarien, die auf Stations- oder Funktionsfluren stehen oder in Gruppenräumen (Sozialtherapie und Suchtbehandlung), in Flurbereichen der Schule, im Verwaltungsbereich oder in der Hauszentrale. Seltener werden gehalten: Vögel in Vogelvolieren (etwa im Freistundenhof) und Nutzgeflügel, das aber oft wegen der „Vogelgrippe“ inzwischen abgeschafft wurde. Um die Tiere kümmern sich in der Regel Gefangene (z.T. Hausarbeiter), aber mitunter auch Bedienstete, die die Fische füttern und die Aquarien säubern usw. Darüber hinaus wird aus einigen Anstalten über „Anstaltskatzen“ berichtet, die keinem bestimmten Gefangenen oder Bediensteten zugeordnet sind. Schafe, Emus, Pfauen gibt es in der JVA Vechta (Arrestanstalt), Kaninchen (außer dort) auch in der Abt. Groß-Hesepe (JVA Lingen). Drogenspürhunde werden in allen (Haupt-)Anstalten gehalten, ein „Therapie“-Hund nur in der Frauenstrafanstalt Vechta. Mit tiergeschützter Pädagogik beschäftigen sich lediglich die beiden Vechtaer Anstalten (Frauenstrafvollzug und Jugendarrest). In der Frauenanstalt wird ein „Therapiehund“ eingesetzt. Großhesepe will wieder Schafe anschaffen.
Dass die Zahl der Häftlinge, die sich auf der Zelle, Tiere halten, abnimmt, hat zunächst natürlich mit den entsprechenden Verboten in den Hausordnungen zu tun. Abgesehen davon, wird in den Anstalten vermutet, dass das Interesse an einer Tierhaltung bei den Gefangenen abgenommen hat. Man scheut, so wird in Gesprächen berichtet, die Arbeit sowie die (Unterhalts-)Kosten und entscheidet sich lieber fürs Fernsehen. Nur bei den Langstrafigen ist das anders.
2. Interviews mit langstrafigen Tierhaltern Tiere im Haftraum werden auch in anderen Bundesländern grundsätzlich nur noch von (langstrafig) Inhaftierten, nämlich Lebenslänglichen und SVern gehalten. Befragt man diese (z.B. in der JVA Werl/NRW)28, was ihnen die Tiere bedeuten, bekommt man Antworten, die zum Nachdenken zwingen.
28 Der Verf. hat die JVA Werl am 15. August 2006 besucht (Anstaltsleiter ist Michael Skirl).
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Beispiele: Otto S., 72 Jahre alt, seit 25 Jahren in Haft, lebt mit zwei Wellensittichen (beide heißen „Hansi“) zusammen in seinem Haftraum: „Ich mache nur Zellenarbeit. Da bist Du nicht so allein“. S. bekommt keinen Besuch (mehr). Helmut L., 53 Jahre, seit 23 Jahren in Haft, lebt mit drei Nymphensittichen („Koko“, „Susi“ und „Mäxchen“) im Haftraum (Klein-Kakadus). Er ist in der JVA als Tischler beschäftigt, bekommt ebenfalls keinen Besuch: „Mit Tieren kann man schmusen“. „Die sind wie eine Familie für die man sorgen muss“. „Man arbeitet, damit die Tiere was haben“, nämlich gutes Futter, das man bei einem Vogelhändler einkaufen kann, der alle drei Wochen in die Anstalt kommt und dort in der Kammer die von den Gefangenen bestellte Ware verteilt.29 Als im vorigen Jahr ein Vogel verstarb, hat L. nach eigenen Angaben 10 kg vor Kummer abgenommen. „Der Tod war für mich genauso schwer, wie draußen ein Menschenverlust“. Karsten F., 30 Jahre, (lebenslänglich) seit sechs Jahren in Haft, lebt mit zwei Nymphensittichen („Eva“ und „Peter“) im Haftraum. Besuch bekommt auch er nicht. Vögel sind „was anderes als Fernsehen, bisschen Gesellschaft“. F. arbeitet in der Anstaltsschlosserei. „Meine Tiere begrüßen mich, wenn ich von der Arbeit komme. Abends sage ich ihnen Gute Nacht, ist Feierabend“. „Wenn man sich um Lebewesen kümmert, stumpft man nicht ab“. „Bringen Freude auf die Hütte“. Ralf M., 41 Jahre (zeitige Freiheitsstrafe: 13 Jahre), seit fünf Jahren in Haft, hält auf der Zelle einen Graupapagei („Lotti“). Besuch bekommt er von „Mama“, seinen Geschwistern und „Kollegen“. Warum hält er das Tier? „Weil man Gesellschaft hat, weil man Beschäftigung hat, man hat was, um das man sich kümmern kann“. Aber: „Macht viel Arbeit“. Unlängst war das Tier pilzerkrankt, der Fahrdienst der JVA hat es zum Tierarzt gebracht. Micha M., 49 Jahre alt, (zeitige Höchststrafe: 15 Jahre), seit 12 Jahren in Haft, hat einen Wellensittich „auf der Hütte“ („Schecky“). „Schecky merkt, wenn es mir schlecht geht“. „Ich brauche seine Gesellschaft ... das ist psychisch“. Ein zweiter Vogel ist unlängst gestorben. Mischa will sich beim Vogelhändler einen neuen kaufen, weil sich ein einzelner Wellensittich zu einsam fühlen würde. Besuch bekommt Mischa auch nicht. „Nach so langer Zeit schlafen alle Freundschaften ein“. „Atze“ K., 48 Jahre, gehört zu den SVern und wird seit 16 Jahren „verwahrt“. K. hält sich Goldfische (Kaltwasserfische) in einem 64 Liter fassenden Aquarium („bis zu 70 Liter sind erlaubt“). Warum? „Keinen Bock den ganzen Tag vor der Glotze... Verblöde sonst“. Vögel will er keine im Haftraum haben. „Vögel machen zu viel Dreck auf der Zelle“. K hat an einem Gitter des Anstaltshofes eine „Wespenspinne“ mit Kokon gefunden, die er in ein Einmachglas eingesperrt 29 Entsprechend der Regelung in einem „Merkblatt für den Besitz von Vögeln und Zubehör“ der JVA Werl (Stand Juli 2002).
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hat in der Hoffnung, dass sie Fliegen frisst und überlebt. Bisher hat sie die Fliegen, die K für sie gefangen hat, aber noch nicht angerührt. Auf der Station gilt K als aggressiv, was K. offenbar als Markenzeichen akzeptiert. Ein Sachverständiger soll ihm Persönlichkeitsstörungen attestiert haben. Den Interviewer fragt er (verschmitzt lächelnd), ob dieser das merkt. Im Trend der Antwort fällt auf, dass die Strafgefangenen, die länger einsitzen müssen, eine emotionale Beziehung zu ihren Geschöpfen aufbauen. Sie sehnen sich nach Gesellschaft und wollen sich „kümmern“.
3. Tiere in Gemeinschaftsbereichen Außerhalb der Hafträume werden Tiere häufiger gehalten.
a) Innerhalb der Anstalt Außerhalb der Hafträume, aber innerhalb der Anstalt, trifft der Besucher z.B. auf Aquarien in den Abteilungsfluren: z.B. in der JVA Lingen und in der JVA Werl. In der JVA Bochum („Krümmede“)30 fällt darüber hinaus eine Kaninchenhaltung in der Werkstatt für Arbeitstherapie auf. Gefangene (Drogenabhängige) sollen Verantwortung übernehmen. Die Kaninchen leben in einem abgeteilten riesigen Kral und können von den (arbeitenden) Inhaftierten beobachtet werden. In der Drogenabteilung gibt es zwei Katzen für die jeweils ein Gefangener sorgt. In zahlreichen Anstalten ist auch der Innenhof Lebensraum für z.B. Fische (in Teichen) und Vögel (in Volieren).
b) Landwirtschaftliche Betriebe (außerhalb der Mauern) Außer Kleintieren hat es in manchen Strafvollzugsanstalten (bis in die späten 70er Jahre hinein) auch landwirtschaftliche Außenbetriebe gegeben. Der Verfasser wurde auf diese Situation 1978 im Rahmen der Vorbereitung auf seine (erste) Haushaltsrede (im niedersächsischen Landtag)31 aufmerksam. Er konnte nämlich anhand des Haushaltsplanes32 feststellen, dass er auch für etliche Pferde, Kühe und Hühner zuständig war.
30 Auf Exkursionen (mit Bochumer Studierenden) beobachtet und in einem Telefongespräch mit dem Anstaltsleiter Henning Köster am 6. September 2006 ergänzt und bestätigt. 31 Als Justizminister (1978 – 1982). 32 Unter dem Titel 534 (Einzelplan 11) des Haushaltsplanes für den Geschäftsbereich des Niedersächsischen Ministeriums der Justiz.
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Solche anstaltsbetriebenen Bauernhöfe hat es nach 1945 z.B. in Niedersachsen in Vechta-Falkenrott,33 Wolfenbüttel34 und in der Nähe des damaligen „Zuchthauses“ Celle gegeben. Für die Errichtung des Celler Betriebes wurde am 7. März 1949 ein (abgelegenes) Gelände (rund 120 Hektar) von der Klosterkammer Hannover gepachtet,35 und zwar mit dem Ziel, mit Hilfe von Strafgefangenen, Moor- und Heideland zu kultivieren und für die Landwirtschaft nutzbar zu machen. 1977 arbeiteten dort 16 Gefangene (des offenen Vollzuges), und zwar unter Anleitung von zwei Landwirtschaftsmeistern. Die geernteten Feldfrüchte sowie das Schlachtvieh wurden auf dem freien Markt verkauft, Kartoffeln und Gemüse gelangten in die Küchen der JVA Celle I und der JVA Hannover. 1981 standen noch 150 Rinder und 200 Schweine im Stall.36 Viele der hier arbeitenden Gefangenen konnten nach ihrer Entlassung als Arbeitskräfte in andere landwirtschaftliche Betriebe vermittelt werden. 1989 kam das „AUS“.37 Die landwirtschaftlichen Geräte wurden versteigert.38 Die anderen beiden Anstaltsbetriebe (VechtaFalkenrott und Wolfenbüttel) sind schon in den 70er Jahren zugemacht worden, und zwar auf Betreiben des Landesrechnungshofes (LRH) der „nicht einzusehen vermochte, diese erheblichen Zuschussbetriebe auf Kosten des Steuerzahlers zu erhalten“.39 Hinzu kam, dass geeignete Gefangene, nämlich solche, die schon in der Landwirtschaft gearbeitet hatten (und entsprechend motiviert waren), immer seltener wurden. Bei der Einstellung des Celler Betriebes haben auch Sicherheitsbedenken eine Rolle gespielt. Die therapeutischen Vorteile tiergestützter Pädagogik sind hingegen seierzeit offenbar noch nicht thematisiert worden: es ging mehr um Beschäftigungsmöglichkeiten.
33 Vgl. dazu Hauser, T. in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Vechta, 1981, S. 368; Schreiben des früheren Anstaltsleiters (Klaus Stege) vom 13. August 2006, Cellesche Zeitung vom 30. Juli 1977, 43 Hektar – Hof. 34 Cellesche Zeitung vom 30. Juli 1977: 43 Hektar-Betrieb mit Viehbestand (Zucht- und Mastferkel). 35 Cellesche Zeitung vom 10. März 1969 und 13./14. Februar 1971; Schreiben des früheren Celler Anstaltsleiters (Paul Kühling) vom 9. August 2006. 36 Land und Forst Nr. 23 vom 6.6.1981 S. 32. 37 Cellesche Zeitung vom 28. Februar 1989. 38 Versteigerungsanzeige aus der Celleschen Zeitung vom 19. August 1989; auf dem zwölf Hektar großen Hofgrundstück wurde die JVA Celle II errichtet. 39 Land und Forst aaO (Fn. 35); der Zuschussbedarf betrug damals allerdings nur jährlich 30.000,-- DM (Cellesche Zeitung vom 28. Februar 1989).
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III. Tiergestützte Pädagogik und Therapie Tiergestützte Pädagogik im Rahmen entsprechender Therapie40 verspricht vor allem im Jugendstrafvollzug positive Wirkungen, weil sich dort verhaltensgestörte bzw. verhaltensauffällige Jugendliche weit überproportional häufig versammeln.
1. Innerhalb des Vollzuges a) JVA Vechta41 Als “einzigartig” in den alten Bundesländern gilt eine “tiergestützte Pädagogik” in einer separaten Abteilung (des offenen Vollzuges, Freigang und Jugendarrest) der JVA Vechta (Niedersachsen). Das Projekt „Gartenarbeit in Theorie und Praxis“ wird seit 1986 in Zusammenarbeit mit dem „Verein für kriminalpädagogische Praxis“ e.V. (VfKP) auf einer etwa 6000 qm großen Freifläche, die an die Anstaltsmauer anschließt, betrieben. Dort tummeln sich in speziellen Gehegen z.B. Pfauen, Emus, Truthühner, Enten und Hühner, aber auch Kamerun-Schafe und Kaninchen. Außerdem werden auf dem Dachboden des Hafthauses (Haus II) Brieftauben gezüchtet, die allerdings primär von einem ehemaligen Anstaltsbediensteten betreut werden. Auf dem Innenhof der Anstalt sind Vogelvolieren und ein Fischteich angelegt worden. An der Pflege aller Tier werden Gefangene beteiligt, und zwar mit folgenden Zielen: Die Jugendlichen (bzw. Heranwachsenden) sollen x biologische Vorgänge kennen lernen; nach der Erfahrung des Abteilungsleiters (Bernhard Weimann) sind Jugendliche „immer wieder überrascht, was in der Natur alles geschieht“; als „Wunder“ wird z.B. das Schlüpfen von Küken aus Eiern empfunden: das gilt insbesondere für Straftäter aus der Großstadt; x erkennen, „dass alle Lebewesen kontinuierlicher Pflege bedürfen (und), dass das Wachsen und Gedeihen von ihrem Tun abhängt“; sie sollen ferner x durch „die Verantwortung für Tiere wieder Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft und Verantwortungsgefühl „reflektieren“.
40 Unter tiergestützter Therapie „sind gezielte Interventionen im Rahmen eines therapeutischen Konzepts zu verstehen“ (Endenburg, N., in: Olbrich, E./Otterstedt, C.: Menschen brauchen Tiere, Stuttgart 2003, S. 126). 41 Die Informationen stammen von Abteilungsleiter Bernhard Weimann anlässlich eines Besuches des Verf. im August 2006, die wörtlichen Zitate sind aus dem Schriftverkehr des Verfassers mit Bernhard Weimann entnommen. Die Betreuung der Tiere überwacht in der JVA Vechta Amtsinspektor Johannes Hoping.
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Weimann schreibt weiter:42 „Das beruhigende Schnurren einer Katze,43 das Streicheln eines Kaninchenfalle sind Erlebnisse, deren Wert nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Gerade junge Gefangene, die in der Haft Isolation und Einsamkeit verspüren und somit in eine Stresssituation geraten, können durch den Umgang mit Tieren in dieser Krisensituation der psychischen Belastung Einsamkeit überbrücken ... Sie können emotionale Lücken füllen, die durch mangelnde Sozialkontakte entstanden sind.“ Alle Tierkontakte wirken sich – wie auch Grusella44 für Vechta festgestellt hat – auf das Anstaltsklima positiv aus bzw. tragen zu einer gewaltfreien Atmosphäre mit bei.45 Bei Weimann46 klingt das so: „Wir haben Leute da, die furchtbare Straftaten begangen haben, die aber mit den Tieren sensibel umgehen“.
b) Jugend(straf)anstalt Neustrelitz47 Eine zweite Anstalt, die tiergestützte Pädagogik zu Therapiezwecken einsetzt, liegt in den neuen Bundesländern: die Jugend(straf)anstalt Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern. Diese Anstalt des (primär geschlossenen) Vollzuges hat erst 2001 ihren Betrieb aufgenommen. Der Besitz von Tieren im Haftraum ist nach der Hausordnung „in der Regel nicht gestattet“.48 Anders ist es im Gemeinschaftsbereich. Auf einem Teilareal der „JSA“ von ca. 10 000 qm (des insgesamt 15 Hektar umfassenden Anstaltsgeländes) lebten 2006 in Koppelhaltung bzw. auf eingezäunten Weiden oder in Ställen: 3 Ponys, 6 Kamerunschafe, 11 Ziegen, 15 (Hängebauch-)Schweine, 60 Kaninchen und fünf Hunde. Die Hunde stammen aus dem örtlichen (Neustrelitzer) Tierheim und werden in der Anstalt von einem Spezialtrai42
Schreiben vom 3. Sept. 2006. Klemke, V, (Gruppenheld mit Dackel. Warum wir Tiere brauchen, Stuttgart 2002, S. 17), spricht in anderem Zusammenhang von der Beobachtung „Schnurrender Katzen auf dem Schoß hartgesottener Strafgefangener.“. 44 Grusella, S.: Forensische Resozialisation mit Tieren, in Olbrich/Otterstedt (Fn. 39), S. 434. 45 Die Presse International schreibt in einem Beitrag zum Thema „Treffpunkt Gesundheit“ (Schreiben vom 25. Febr. 2002): „Auch in der Jugendarrestanstalt Vechta ist man dankbar für die positiven Reaktionen der meisten jungen Straftäter auf die 600 Tiere, die hier leben. Die sinnvolle Aufgabe, Tiere zu pflegen, die Möglichkeit, sie zu streicheln und mit ihnen oder über sie zu reden, baut Aggressionen ab und schafft Offenheit.“. 46 Zit. nach Süddeutsche Zeitung vom 9. Mai 2006, S. 18. 47 Der Verf. hat die Anstalt am 31. August 2006 besucht und gewünschte Informationen vom Anstaltsleiter (Bernd Eggert), der stellv. Anstaltsleiterin (Andrea Sarozyk), dem Verwaltungsdienstleiter Thomas Kämpfe, sowie von dem stellv. Leiter Tierzucht Stefan Fritsche erhalten. 48 Hausordnung Pkt 4.7 (Stand März 2006). 43
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ner, der durch Häftlinge unterstützt wird, in einer Art Hundeschule zu Begleithunden ausgebildet49 und danach wieder an das Tierheim zurückgegeben, dem es meistens gelingt, die nun ausgebildeten Tiere in gute Hände zu geben. Jeder Hund wird jeweils von zwei Gefangenen betreut, die sich jedoch um das Tier zu unterschiedlichen Zeiten kümmern. Der Spezialtrainer gibt Hinweise zur Pflege bzw. Betreuung der Tiere. Jeder Gefangene kann „seinen“ Hund in der Freizeit auf dem Anstaltsgelände ausführen. Auch für die übrigen Tiere, die das Freigelände bevölkern, wird die Verantwortung Gefangenen übertragen, die solche Aufgaben freiwillig übernehmen. Ursprünglich waren das vor allem „nicht ausbildungsfähige“ Jugendliche und Heranwachsende. Inzwischen münden die Angebote jedoch in eine Berufsausbildung (mit Abschlussprüfung) ein: zum Tierpfleger (z.B. für Tierheime) bzw. Landwirtschaftshelfer. In Mecklenburg-Vorpommern werden (nach Aussage der Anstaltsleitung) solche Kräfte gesucht. Für Untersuchungsgefangene werden von einer Spezialkraft50 Hunde auch im schulischen Unterricht für die Gefangenen eingesetzt. Insoweit wird auf den positiven Erfahren aufgebaut, die mit Tieren im Rahmen des Schulunterrichts, gemacht worden sind.51 Alle Aktivitäten dieser Jugend(straf)anstalt fügen sich in ein „Konzept für die Tierhaltung“ ein, in dem es u.a. wie folgt heißt:52 „Als Schwerpunkte werden den Gefangenen nachstehende Aufgabenbereiche vermittelt: x „Wie man Nutztiere füttert, tränkt, reinigt, beobachtet und pflegt.“ x „Welche artspezifischen Verhaltens- und Lebensweisen der Nutztiere es gibt und welche Ansprüche die Tiere an die Umwelt haben.“ x „Welche Krankheiten und anzeigepflichtigen Seuchen auftreten können.“ x „Was man über Geschlechtszuchtreife, Trächtigkeit und Geburt sowie über Vererbungsregeln wissen muss.“ 49
Die Ausbildung schließt mit einer Begleithundeprüfung ab. Vgl. das Faltblatt „Einzel-Fälle-Hunde für Menschen“ von Donatha Wölk. 51 Der Diplompädagoge Bernhard Retzlaff (zit. nach Klimke, V.: Gruppenbild mit Dackel. Warum wir Tiere brauchen, 2002, S. 77) nimmt seine Labradorhündin „Jule“ in den Unterricht mit und war von der Wirkung selbst überrascht: „Seit sie unseren Unterricht begleitet, habe ich mich über keine einzige Störung mehr ärgern müssen. Die Kinder arbeiten heute eher konzentrierter als früher“. Hunde werden zu therapeutischen Zwecken (z.B. in der Polizeidirektion Osnabrück) auch bei der Polizei mit Erfolg eingesetzt, wenn es darum geht, eine Vernehmungssituation (kindliche Opfer) zu entspannen und ein Klima zu schaffen, in dem das „Trauma des Kindes leichter thematisiert werden kann“ (Forschungsprojekt der Tierärztlichen Hochschule Hannover, Schreiben vom 11. Mai 2006). 52 „Konzept für die Tierhaltung in der JSA Neustrelitz i.d.F. vom 16.4.2002). 50
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„Wie Tierunterkünfte eingerichtet sein müssen und wie man Tierunterkünfte selber baut.“
Diesen Zielen liegt letztlich auch die Erwartung zugrunde, dass sich die Arbeit mit Tieren nicht nur positiv auf das Anstaltsklima auswirkt, sondern auch auf die Psyche der beteiligten Anstaltsinsassen. Das zeigt sich auch am Aufbau von Sensibilitäten: So wollen sonst gewaltbereite Gefangene nicht akzeptieren, dass z.B. gerade „ihr Streichelhase“ geschlachtet werden soll (um die Küche zu versorgen).
c) JVA Lingen/Abt. Groß-Hesepe53 Als dritter Standort, an dem Tiere zu therapeutischen Zwecken bzw. im Rahmen von Beschäftigungsaktivitäten eingesetzt werden, soll noch die Abteilung Großhesepe erwähnt werden, die zur JVA Lingen gehört. In Groß-Hesepe wird geschlossener Vollzug vollzogen. Nach der Hausordnung54 ist der „Besitz von Tieren – hierunter fallen auch Fische und Vögel – grundsätzlich nicht gestattet“. Dafür werden Tiere im Außenbereich der Anstalt, aber innerhalb der Mauern gehalten. Allerdings sind es nur noch einige Kaninchen und rund 70 zugeflogene Wildenten (auf einem Teich innerhalb der JVA), die von Gefangenen mitbetreut bzw. gefüttert werden. Früher hat es auch Hühner und Gänse gegeben (die aber im Zuge der Vogelgrippe-Gefahren) abgeschafft wurden. Ein Hirsch entsprach nicht mehr den Bedingungen artgerechter Haltung, Kamerunschafe, Enten und Ziegen gibt es inzwischen ebenfalls nicht mehr. Gleichwohl ist beabsichtigt diese Tiere, falls sich Sponsoren finden, erneut in Obhut zu nehmen und zwar deshalb, weil einige Gefangene selbst Tierkontakte hoch ansetzen. Eine kleine Umfrage in der Anstalt hat dazu u.a. folgende Stellungnahmen erbracht. „Man bekommt einen geregelten Tagesablauf“; „man hat die Verantwortung, dass die Tiere sauber und in Ordnung sind“; „die Freude ist groß, wenn man einen Wurf junge Kaninchen aufziehen kann“: mein „kleines Kaninchen strahlt für mich Freude und innerliche Ruhe aus; die Arbeit übernehme ich gerne, weil mein Kaninchen Schutz und Fürsorge braucht“; „es tut gut, Verantwortung für die Tiere zu übernehmen, man kann nicht einfach von der Arbeit wegbleiben, da die Tiere einen brauchen“: Deshalb soll auch die Schafzucht wieder aufgebaut werden.
53 Der Verf. hat die Anstalt 15. September 2006 besucht und hat die nachfolgenden Zusatzinformationen vor allem von Amtsrat Fels (Abteilungsleiter) und Amtsinspektor Peter Dobranz erhalten. 54 Hausordnung vom 28. Oktober 2005 (Pkt. 2.5).
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Die bisherigen Resultate der Erörterung lassen Raum für die Frage, ob es im Rahmen der §§ 2 und 3 Abs. 1 StVollzG (Aufgaben und Gestaltung des Vollzuges) sinnvoll erscheint, Tiere therapieflankierend (zumindest in Ausnahmefällen mehr als bisher) im Strafvollzug einzusetzen – mit entsprechender Berücksichtigung in den Hausordnungen (§§ 161 i.V. mit den §§ 19 und 70). Da es (hierzulande) dazu grundsätzlich keine empirisch gesicherten Forschungsergebnisse gibt, könnte ein Blick auf die Wirkungsforschung außerhalb der Mauern interessant sein.
2. Tiere als „therapeutische Begleiter“ (außerhalb des Strafvollzugs) Entsprechende Erfahrungen liegen aus Krankenhäusern, Schulen und Altenheimen vor. Dort versuchen Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeiter, mitunter sogar Mediziner bzw. Psychotherapeuten den Umgang mit Tieren in Behandlungskonzepte zu integrieren. Allerdings befinden sich auch diese Versuche „heute (noch) in der Phase der (Wieder-)Entdeckung“55 Insoweit geht es zunächst um „die uralte Erfahrung, dass das Zusammenleben von Menschen und Tieren ... eine bessere Qualität des Lebens ermöglicht, sozial, somatisch und psychisch“.56 Wertet man das einschlägige FachSchrifttum aus,57 so ergibt sich (zusammengefasst) etwa das folgende Bild: zu den Wirkungen der Tierhaltung (mit Relevanz auch für den Strafvollzug) zählen x Die Reduktion negativer Gefühle: wie Einsamkeit, Langeweile, depressiver (bis zu suizidalen) Stimmungen; x Aufbau von Verantwortungsbewusstsein: Gefühl des Gebrauchtwerdens, wenn „Kümmern“ in den Vordergrund rückt: füttern, pflegen, misten; x Verstärkung von emotionalen Bindungen: durch den Dialog auf nonverbaler Ebene (streicheln, spielen), „Zwiesprache“ („Herz ausschütten“) mit der Möglichkeit, sich ohne Gefahr des Verrats einem Lebewesen anvertrauen zu können;
55 Aus dem Vorwort zu dem Band „Menschen brauchen Tiere – Grundlagen und Praxis der tiergestützten Pädagogik und Therapie, herausgegeben von Olbrich, E. und Ottenstedt C., Stuttgart 2003, S. 11. 56 Vorwort aaO (Fn. 55). 57 Vgl. dazu die fast 40 Beiträge aus der Sicht verschiedener Disziplinen in Olbrich, E./Otterstedt, C. aaO (Hrsg.) Menschen brauchen Tiere, Grundlagen und Praxis der tiergestützten Pädagogik und Therapie, Stuttgart 2063; sowie die Beiträge in Bergler, R.: Gesund durch Heimtiere. Beiträge zur Prävention und Therapie gesundheitlicher und seelischer Risikofaktoren, Köln 2000.
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Förderung sozialer Fähigkeiten: wie Empathie bzw. Rücksichtnahme, Geduld, stressfreier Umgang mit Routinetätigkeiten, Strukturierung des Alltags, Frustrationstoleranz, Durchhaltevermögen; Verbesserung der Zugänglichkeit durch Verstärkung der Kontaktbereitschaft i.S. positiver gruppendynamischer Prozesse; sinnvolle Freizeitgestaltung.
So kann „die Begegnung mit Tieren die Lebensqualität steigern und bewahren helfen“58 – auch hinter Gittern wie die Interviews mit Lebenslänglichen gezeigt haben.
3. Tiergestützte Therapie in forensischen Einrichtungen der USA Während in Deutschland die tiergestützte Therapie im Rahmen des Vollzugsziels der Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft eher selten vorkommt, ist diese in den Vereinigten Staaten weiter verbreitet: so z.B. in einem Hochsicherheitsgefängnis im Bundesstaat Washington.
a) Das Washington Correction Center for Woman59 Diese Strafanstalt (in Greg Harbour/Washington) bietet den Insassinnen die Möglichkeit während der Haftzeit Hunde, die (wie in Neustrelitz) aus Tierheimen stammen, unter Anleitung zu Behindertenbegleithunden auszubilden, und zwar mit zwei Zielen: erstens sollen die im Leben meist gescheiterten Frauen wieder Erfolgserlebnisse haben, nämlich erleben, dass die von ihnen betreuten Tiere Zuneigung zurückgeben können. Erwartet wird, dass sich die Gefangenen durch diese Erfahrung auch selbst (wieder als) liebenswert empfinden, neuen Lebensmut entwickeln und Aktivitäten entwickeln. Mit diesen hat auch das zweite Ziel zu tun: die Gefangenen erhalten nämlich die Möglichkeit, eine Ausbildung zur Tierpflegerin zu absolvieren (etwa für Hundeschulen) bzw. zur Tierarzthelferin. Der Abschied von dem lieb gewordenen Hund wird dadurch erleichtert, dass die Inhaftierten 14 Tage lang gemeinsam mit dem späteren Besitzer des Hundes trainieren und dann oft mit diesem später in Kontakt bleiben: auch z.B. im Rahmen einer Nachschulung des Tieres. Gusella60 schreibt dazu, dass „kei-
58 Otterstedt, C.: Grundlagen der Mensch-Tier-Beziehung, in Olbrich, E./Otterstedt, C. aaO (Fn. 56), S. 65. 59 Dazu Grusella, S.: Forensische Resozialisation mit Tieren, in: Olbrich, E./Otterstedt, C. (Hrsg.) aaO (Fn. 56), S. 430-437. 60 Gusella aaO (Fn. 59).
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ne der Frauen, die am Projekt mitgearbeitet haben“ nach der Entlassung „bisher erneut straffällig“ wurde (?!).
b) Green Chemneys61 Tiergestützte Konzeptionen werden in den USA auch außerhalb der Mauern im Rahmen der Heimerziehung (für sozial schwierige Kinder und Jugendliche) eingesetzt, und zwar ebenfalls begleitet von (wissenschaftlicher?) Effizienzforschung. Zu den besonders vorbildlichen Projekten dieser Art gilt ein Programm, das in „Green Chimneys“ realisiert wird. Auf einer Farm (mit grün gestrichenen Kaminen), die ungefähr 60 Meilen nördlich von New York City liegt, werden Kinder und Jugendliche (mit Erziehungsdefiziten, Alkohol- und Drogenproblemen usw.) aus sozialen Brennpunkten der Großstadt (für 2 bis 3 Jahre) von einem Team, das aus Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeitern besteht, intensiv tiergestützt betreut. Zu den Farmtieren zählen: Ziegen, Schweine, Kühe, Schafe, Pferde, Hühner, Gänse, Esel und Kaninchen. Die meisten der (insgesamt rd. 400 Tiere) werden ähnlich (wie in Neustrelitz) von Tierschutzorganisationen übergeben: Tiere, die von ihren Vorbesitzern misshandelt, verletzt bzw. gequält worden waren. Den emotional gestörten Jugendlichen wird die Pflege (unter sachkundiger Anleitung) anvertraut in der Erwartung, dass die Tiere in den seelisch traumatisierten jungen Menschen wieder die Bereitschaft auslösen, eine Verbindung zu einem Lebewesen aufzunehmen und Empathie zu entwickeln. Anders als in Neustrelitz werden die Tiere (etwa Kaninchen) aber nicht geschlachtet. Wert wird vielmehr auf die Erfahrung gelegt, dass ein misshandeltes Tier wieder Zutrauen zu den Menschen gewinnt und geheilt werden kann: So wie die Insassen selbst in Green Chimneys eine neue Chance bekommen. Das oft bei den Jugendlichen gestörte Selbstwertgefühl wird ferner durch andere Einflussnahmen (neu) aufgebaut: so z.B. durch einen obligatorischen Reitunterricht. Schließlich existiert in Green Chimneys noch ein Rehabilitationszentrum für verletzte Wildtiere: Vögel, Flugenten, Damwild usw. Auch die Pflege dieser Tiere wird Jugendlichen übertragen, die ihre Schützlinge nach der Heilung wieder in die Freiheit entlassen dürfen – auch eine Art symbolischer Akt.
4. Schlussbemerkung: Zum Ergebnis des Überblicks Der Überblick sollte zeigen, dass das Strafvollzugsgesetz (in der derzeitigen Fassung als Bundesgesetz) für eine Tierhaltung in der Strafvollzugsan61 Dazu Beetz, A.: Green Chimneys – ein Vorbild für tiergestützte Therapie mit Kindern und Jugendlichen, in: Olbrich, E./Otterstedt, C. (Hrsg.) aaO (Fn. 57), S. 411-418.
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stalt grundsätzlich (unter bestimmten Voraussetzungen) Raum lässt (§§ 19, 70) und Rechtsprechung sowie Lehre den Einsatz von Tieren im Rahmen des Behandlungsvollzuges (§ 2) für therapeutisch hilfreich halten. Auch der Angleichungsgrundsatz (§ 3 Abs. 1) spielt eine Rolle. Die Resultate der Forschung, die außerhalb des Strafvollzuges durchgeführt wurde, stützen diese Einschätzung auf überzeugende Weise. Gleichwohl hat der Überblick auch gezeigt, dass solche Aktivitäten in den letzten Jahren nicht ausgebaut, sondern eher abgebaut wurden. Nach den Hausordnungen der meisten Justizvollzugsanstalten ist die Tierhaltung auf der Haftzelle jedenfalls rundweg verboten und außerhalb des Haftraumes nur selten gestattet. Wegen des generellen Verbots dürften die meisten dieser Hausordnungen allerdings rechtswidrig sein.62 Der Gesetzgeber hat nur eine Abwägung (im Einzelfall) an Hand der Kriterien der „Gefährdung der Sicherheit und Ordnung“63, sowie des „Vollzuges“ vorgesehen. Insoweit wird zu differenzieren sein zwischen x einer Tierhaltung auf der Haftzelle und einer solchen außerhalb des Haftraumes, x einer Tierhaltung im geschlossenen Vollzug und einer solchen im offenen Vollzug, x sowie in Bezug auf die Anlaßstraftaten. Am ehesten kommt eine Tierhaltung außerhalb des Haftraumes im offenen Vollzug in Betracht. Zumindest könnte sie ausgebaut werden. Im Jugendstrafvollzug kommt eine tiergestützte Pädagogik (und Therapie) hingegen auch im geschlossenen Vollzug (Beispiel Neustrelitz) in Frage: Erziehungsvollzug.64 Zur Bedeutung des Jugendstrafvollzuges hat unlängst das Bundesverfassungsgericht entsprechende Hinweise zur Verfügung gestellt.65 Das gilt auch für die Bedeutung des Behandlungsvollzuges für Lebenslängliche. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht66 besonders betont, dass die Vollzugsanstalten (auch in diesen Fällen) verpflichtet sind „die Gefangenen ‚lebenstüchtig zu erhalten’ und zwar (vor allem) deformierenden Persönlichkeitsänderungen entgegenzuwirken“. Diese Aufgabe leite sich – so das BVerfG – aus der in Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz garantierten Unantastbarkeit der Menschenwürde ab. Entsprechendes müsse für die Sicherungsverwahrung (SV) gelten.67 Aber auch in solchen Fällen gilt, dass im Interesse des Tierschutzes nicht nur die Gewährleistung der artgerechten 62
So auch Calliess/Müller/Dietz (Fn. 9); Feest (Fn. 11); Schwind (Fn. 12). Dazu SBJ – Schwind: Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 4. Aufl. 2005, Rdn. 7 in § 70. 64 Vgl. BGHSt 36, S. 42; BGH NStZ 2002, S. 207. 65 BVerfG NJW 2006, 2096. 66 BVerfGE 45, 208. 67 BVerfGE 98, S. 200. 63
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Haltung, sondern auch die persönliche Eignung des Antragstellers zu prüfen ist. Im Rahmen der niedersächsischen Umfrage (2006) hat eine Anstaltsleiterin übrigens aus eigenem Antrieb auf den Fragebogen geschrieben: „Ich bedauere es sehr, dass Tierhaltung im Justizvollzug (zumindest in Niedersachsen) schon lange kein Thema mehr ist“. Muss das so bleiben?
Zur gerichtlichen Beiordnung eines Rechtsbeistands in Strafvollstreckungs- und Strafvollzugssachen WOLFGANG WOHLERS
I. Einführung in die Problemstellung Anders als im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess ist der Beschuldigte im modernen Strafprozess nicht mehr nur Objekt, sondern ein mit eigenen prozessualen Rechten ausgestattetes Subjekt des Verfahrens. Aufgabe und Funktion der Verteidigung ist es, den als Laien und direkt Betroffenen in der Regel intellektuell und in jedem Fall emotional überforderten und zudem oft – insbesondere im Fall der Vollstreckung von Untersuchungshaft – auch faktisch nur eingeschränkt handlungsfähigen Beschuldigten in rechtlicher Hinsicht zu beraten und bei der Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte zu unterstützen.1 Der durch Art. 6 EMRK verbürgte Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren beinhaltet als ein zentrales Element das Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK).2 Der Anspruch des Beschuldigten, sich durch einen Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen, besteht in jeder Phase des Strafverfahrens und auch dann, wenn er nicht in der Lage ist, die Kosten eines gewählten Verteidigers aufzubringen.3 Das Bedürfnis für eine professionelle Unterstützung besteht aber nicht nur für den Beschuldigten im strafprozessualen Erkenntnisverfahren, sondern in gleicher Weise auch im Strafvollstreckungsverfahren und während des Strafvollzugs: Im Strafvollstreckungsverfahren folgt dies insbesondere aus dem Umstand, dass die in Frage stehenden Entscheidungen häufig Wertun1 Zur Rolle der Verteidigung als Prozesssubjektsgehilfe des Beschuldigten vgl. SKStPO/Wohlers, 38. Aufbau-Lfg. (April 2004), Vor § 137 Rn. 28 ff. 2 Vgl. hierzu SK-StPO/Wohlers (Fn. 1), Vor § 137 Rn. 32 sowie umfassend Gaede, Fairness als Teilhabe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, 2007, passim. 3 Zum Anspruch auf amtliche Beiordnung eines erbetenen Verteidigers (sog. Wahlpflichtverteidigung) vgl. SK/Wohlers (Fn. 1), Vor § 137 Rn. 37 f., 40 f. sowie 39. Aufbau-Lfg. (Juni 2004), § 140 Rn. 3, jeweils m.w.N.
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gen erforderlich machen und/oder Prognoseelemente enthalten. Der Verurteilte ist hier auf professionellen Beistand angewiesen, wenn er in der Auseinandersetzung mit der Vollzugsbehörde nicht von vornherein auf verlorenem Posten stehen soll.4 Und für Strafvollzugssachen ist der in einer „totalen Institution“5 befindliche Strafgefangene in einer Situation, in der seine Handlungskompetenz entscheidend beeinträchtigt ist6 und gleichzeitig Streitgegenstände zur Entscheidung anstehen, die für unbeteiligte Außenstehende eher banal erscheinen mögen, die aber für den Gefangenen selbst eine besondere, für sein Leben zentrale Bedeutung haben. Vollkommen zutreffend hat das BVerfG – bezogen auf das Strafvollstreckungsverfahren – die besondere Bedeutung des professionellen Rechtsbeistands daraus abgeleitet, dass vermieden werden muss, dass der Gefangene zum bloßen Objekt des Verfahrens wird: „Dem im allgemeinen rechtsunkundigen und wenig handlungskompetenten Verurteilten ermöglicht erst ein unabhängiger, von ihm selbst gewählter und zur Hilfe verpflichteter Beistand die sachgerechte und seinen Interessen entsprechende Wahrung und Ausübung seiner prozessualen Rechte und Möglichkeiten auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluß zu nehmen, indem die tatsächlichen und rechtlich bedeutsamen Umstände vorgetragen werden.“7 Dass Verurteilte und Strafgefangene in der Rechtswirklichkeit von dem ihnen unstreitig zustehenden Recht, sich eines professionellen Beistands zu bedienen, praktisch keinen Gebrauch machen,8 hat seinen Grund darin, dass sie in der Regel finanziell nicht in der Lage sind, einen Rechtbeistand zu bezahlen.9 Die Möglichkeit, sich professioneller Unterstützung zu bedienen, steht und fällt nach alledem damit, ob Verurteilte und Strafgefangene einen Anspruch auf amtliche Beiordnung eines Rechtsbeistands haben. Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich als Plädoyer dafür, die bereits de 4 Laubenstein, Verteidigung im Strafvollzug – zugleich ein Beitrag zu den Rechtsschutzverfahren nach den §§ 109 ff. StVollzG, Diss. Frankfurt am Main 1984, S. 116 ff.; zur Bedeutung des Beistands vgl. auch anschaulich BVerfG NStZ 1993, 355, 356 f. 5 Kamann StV 1996, 120. 6 Müller-Dietz StV 1982, 83, 86; Laubenstein (Fn. 4), S. 119 ff.; Litwinski, Strafverteidigung im Strafvollzug, Diss. Kiel 1986, S. 58 ff.; Litwinski/Bublies, Strafverteidigung im Strafvollzug, 1989, S. 5 ff. 7 BVerfG NStZ 1993, 355, 357. 8 Hein/Piel, in: Widmaier (Hrsg.), Münchener AnwaltsHandbuch Strafverteidigung, 2006, § 22 Rn 188; Lüderssen, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Auflage, 21. Lieferung (März 2002), § 137 Rn 48; Laubenstein (Fn. 4), S. 160 f.; Müller-Dietz StV 1982, 83, 84; Rotthaus NStZ 1990, 164, 165. 9 Hein/Piel (Fn. 8), § 22 Rn. 188; Müller-Dietz StV 1982, 83, 84 f.; Volckart, Verteidigung in der Strafvollstreckung und im Vollzug, 3. Auflage, 2001, Rn. 490, 510; Rotthaus NStZ 1990, 164, 165; Laubenstein (Fn. 4), S. 178 f.; zu anderen Gründen („Schwellenangst“ und „Sprachbarriere“) vgl. Laubenstein (Fn. 4), S. 174 ff.
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lege lata mögliche Beiordnung im Strafvollstreckungsverfahren über die analoge Anwendung der §§ 140 ff. StPO und in Strafvollzugssachen über § 120 Abs. 2 StVollzG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO in einer Art und Weise zu handhaben, die der zentralen rechtsstaatlichen Bedeutung der Institution des Rechtsbeistands gerecht wird und die Voraussetzung dafür schaffen würde, dass der Anspruch des Verurteilten und Gefangenen auf wirkliche und konkrete Teilhabe am Verfahren zur prozessualen Realität werden könnte.
II. Amtliche Verteidigung in Strafvollstreckungssachen Gesetzlich zwingend ist die Beiordnung in Strafvollstreckungsverfahren in den Fällen, in denen über die Erledigung einer Sicherungsverwahrung nach deren zehnjähriger Vollstreckung entschieden wird sowie – wenn die Erledigung der Verwahrung verneint wurde – für die weiteren periodischen Überprüfungen (§ 67d Abs. 2 und 3 StGB i.V.m. § 463 Abs. 3 Satz 5 StPO). Gleiches gilt für die Entscheidungen, die der Jugendrichter nach den §§ 86 bis 89a und § 92 Abs. 2 JGG sowie nach den §§ 462a und 463 StPO zu treffen hat (§ 83 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 68 JGG).10 In allen anderen Fällen ist die Beiordnung zwar nicht zwingend, sie kann aber nach allgemeiner Meinung in analoger Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO erfolgen.11 Eine im Erkenntnisverfahren erfolgte Beiordnung wirkt nach herrschender Meinung nicht in das Vollstreckungsverfahren fort, sondern endet mit der Rechtskraft des Urteils.12 Dieser Auffassung ist im Grundsatz zuzu10
Nobis/Schneider, in: Widmaier (Fn. 8), § 22 Rn. 168. OLG Celle AnwBl. 1980, 306; OLG Karlsruhe NJW 1972, 220 m. Anm. Steinhilper; OLG Koblenz MDR 1976, 336; OLG Saarbrücken NJW 1973, 1010, 1012; OLG Schleswig bei Lorenzen/Schiemann SchlHA 1997, 153; SK-StPO/Wohlers (Fn. 3), § 140 Rn. 55 ff.; AKStPO/Stern § 140 Rn. 80; Meyer-Goßner, StPO, 50. Auflage, 2007, § 140 Rn. 33; Laufhütte, in: Pfeiffer (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 5. Auflage, 2003, § 141 Rn. 11; HK-StPO/Julius, 3. Auflage, 2001, § 140 Rn. 14; Beulke, FS Böhm, 1999, S. 652; Laubenstein (Fn. 4), S. 183; Litwinski (Fn. 6), S. 188 ff.; Litwinski/Bublies (Fn. 6), S. 148 ff., insbesondere S. 157 ff.; Lüderssen NJW 1986, 2742, 2748; Oellerich StV 1981, 434, 440; Schwenn StV 1981, 203 ff.; Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozessrecht, Diss. Köln 1992, S. 70 ff.; Volckart (Fn. 8), Rn. 491; vgl. auch LR-Lüderssen (Fn. 8), § 140 Rn. 118; Peters, Strafprozeß, 4. Auflage, 1985, S. 217: nicht nur analoge, sondern direkte Anwendung; a.A. noch OLG Neustadt MDR 1955, 508; OLG Hamm JMBlNRW 1963, 109 (aufgegeben durch OLG Hamm NStZ 1983, 189); OLG Bremen StV 1983, 187 m. abl. Anm. Schwenn und abl. Bespr. Dahs/Feigen NStZ 1984, 66 ff. 12 BGH NJW 1952, 797; OLG Düsseldorf AnwBl. 1982, 259; OLG Hamburg StV 1981, 349; SK-StPO/Wohlers (Fn. 3) § 141 Rn. 23 m.w.N.; Laubenstein (Fn. 4), S. 192 f.; Litwinski (Fn. 6), S. 180 ff. sowie Litwinski/Bublies (Fn. 6), S. 152 f.; Nobis/Schneider (Fn. 10), § 22 Rn. 166; a.A. LR/Lüderssen (Fn. 8), § 140 Rn. 28. 11
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stimmen: Aus dem Umstand, dass im Erkenntnisverfahren ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben war, kann nicht ohne weiteres abgeleitet werden, dass dies auch im Vollstreckungsverfahren zwingend so ist. Eine Beiordnung ist zwar auch im Vollstreckungsverfahren möglich, erforderlich ist aber, dass die Voraussetzungen der Norm bezogen auf das Vollstreckungsverfahren vorliegen,13 wobei die Beiordnung jeweils nur für das Verfahren über einen konkreten Antrag bzw. eine von Amts wegen zu treffende konkrete Entscheidung gilt.14 Zu beanstanden ist, dass die Beiordnungspraxis sich zwar in den letzten Jahren etwas gelockert hat, dass aber – ganz abgesehen davon, dass eine Beiordnung in der Regel nur auf Initiative des Verurteilten und/oder seines Wahlverteidigers hin erfolgt15 – die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 StPO immer noch zu streng gehandhabt werden.16 Ein Beispiel für den eingetretenen Wandel sind die Fälle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.17 Bei Entscheidungen zur Überprüfung einer Unterbringung hatte die Rechtsprechung ursprünglich noch auf den Einzelfall abgestellt.18 Die Beiordnung eines Verteidigers wurde im Zusammenhang mit der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erst dann als notwendig angesehen, „wenn es nach der konkreten Fallgestaltung, insbesondere bei Besonderheiten und Schwierigkeiten im Diagnose- und Prognosebereicht, als evident erscheint, dass er [= der Verurteilte] sich angesichts seiner Erkrankung nicht selbst verteidigen kann.“19 Die vom OLG Düsseldorf ohne jede weitere Begründung vertretene Prämisse, die Beiordnung müsse angesichts des Charakters des § 140 Abs. 2 StPO die Ausnahme bleiben,20 hat sich nun allerdings durch die neuere Rechtsprechung erledigt, nach der – wohl nicht zuletzt ausgelöst
13
Vgl. KG StraFo 2002, 244 f.; LG Heilbronn StraFo 2002, 329. OLG Schleswig bei Lorenzen/Görl SchlHA 1989, 105; SK-StPO/Wohlers (Fn. 3), § 140 Rn. 55. 15 Nobis/Schneider (Fn. 10), § 22 Rn. 167. 16 Nobis/Schneider (Fn. 10), § 22 Rn. 167. 17 LR/Lüderssen (Fn. 8), § 140 Rn. 120; Nobis/Schneider (Fn. 10), § 22 Rn. 169; Schwenn StV 1981, 203, 205. 18 Vgl. BVerfGE 70, 297, 323; OLG Bremen NStZ 1986, 379, 380; OLG Celle StV 1987, 400; OLG Düsseldorf StV 1983, 407; 1985, 377 f.; OLG Düsseldorf NStZ 1989, 92; KG StV 1984, 502; OLG Koblenz StV 1983, 93; OLG Schleswig bei Lorenzen/Görl SchlHA 1993, 226. 19 BVerfGE 70, 297, 323. 20 Vgl. OLG Düsseldorf StV 1983, 407, 408. 14
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durch eine Entscheidung des EGMR aus dem Jahre 199221 – die Beiordnung eines Verteidigers stets als erforderlich anzusehen ist.22 Demgegenüber hält die Rechtsprechung bei den Entscheidungen über eine bedingte Entlassung (§ 57 StGB) bis heute daran fest, dass das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Beiordnung stets im Einzelfall zu prüfen ist.23 Zwar soll bei einer erheblichen Restfreiheitsstrafe eine Beiordnung geboten sein;24 dass es um einen Strafrest von mehr als einem Jahr geht, also um einen Freiheitsentzug, dessen drohende Anordnung im Erkenntnisverfahren unstreitig die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich macht,25 soll aber für sich gesehen noch nicht ausreichen, um die Beiordnung im Vollstreckungsverfahren als zwingend erscheinen zu lassen.26 Die Beiordnung eines Verteidigers wird erst dann als erforderlich angesehen, wenn der Beschuldigte im konkreten Einzelfall in seiner Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt ist.27 Einschränkungen der Verteidigungsfähigkeit ergeben sich zum einen dann, wenn die Sach- und Rechtslage besonders schwierig ist, was sich insbesondere aus der Notwendigkeit ergeben kann, eine Prognoseentscheidung zu treffen.28 Zum anderen sind aber auch Defizite zu beachten, die sich aus der Person des Verurteilten bzw. aus den besonderen persönlichen Umständen ergeben, in denen sich dieser befindet.29 Die gleichen Grundsätze sollen auch dann gelten, wenn es um den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung geht (§ 57f StGB). Die Oberlandesgerichte gehen davon aus, dass dem Verurteilten ein Verteidiger beizuordnen ist, wenn die Sach- und/oder Rechtslage schwierig oder der Verurteilte in seiner Ver-
21 EGMR v. 12.5.1992, Megyeri vs. Deutschland, §§ 22 ff. = EuGRZ 1992, 347, 349 ff. = StV 1993, 88, 89 f. m. Anm. Bernsmann. 22 Vgl. OLG Brandenburg NStZ-RR 1997, 96; OLG Braunschweig StV 2001, 21; OLG Düsseldorf StV 1996, 221; OLG Hamm StV 2001, 20; OLG Jena StV 1997, 540; OLG Karlsruhe StV 1997, 314, 315; OLG Stuttgart StV 2001, 20, 21. 23 Rotthaus NStZ 2000, 350 ff. 24 Vgl. auch BVerfGE 88, 288, 338 [für die Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe] sowie allgemein LR/Lüderssen (Fn. 8), § 140 Rn. 121; vgl. aber auch OLG Hamm NStZ-RR 1999, 319; OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 2002, 150, 151. 25 Vgl. SK-StPO/Wohlers § 140 Rn. 33 m.w.N. zum Streitstand. 26 OLG Hamm NStZ-RR 1999, 319; KG StraFo 2002, 244, 245; Rotthaus NStZ 2000, 350, 351; a.A. OLG Schleswig SchlHA 1997, 153; Nobis/Schneider (Fn. 10), § 22 Rn. 170; Schwenn StV 1981, 203, 205; Zieger StV 2006, 375, 376. 27 Vgl. OLG Hamm StV 2000, 92; 2002, 320, 321. 28 Vgl. OLG Hamm NStZ 1983, 189, 190; OLG Hamm StV 1984, 105 f. 29 Vgl. OLG Hamm StV 2002, 320, 321: Verurteilter, der sich seit fast zwei Jahren nicht mehr in Freiheit befindet und der der als ausländischer Staatsangehöriger die deutsche Sprache nicht vollständig beherrscht.
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teidigungsfähigkeit eingeschränkt ist.30 Weiterhin soll die Beiordnung dann notwendig sein, wenn der Widerruf zur Verbüßung einer längeren Freiheitsstrafe führen würde.31 Die dargestellte Praxis vermag aus zwei Gründen nicht zu überzeugen: Zunächst einmal ist es widersprüchlich, wenn einerseits im Erkenntnisverfahren eine drohende Strafe von mehr als einem Jahr einen Fall notwendiger Verteidigung begründen soll, während dies anderseits für einen im Vollstreckungsverfahren in Frage stehenden Strafrest von mehr als einem Jahr nicht gelten soll. Auch im Erkenntnisverfahren folgt die Notwendigkeit der Verteidigung in diesen Fällen nicht aus der Erwägung, dass bei einer hohen Straferwartung die Verteidigung vor besondere Schwierigkeiten gestellt ist als bei einer weniger gewichtigen Straferwartung. Entscheidend ist vielmehr allein, dass für den Betroffenen so viel auf dem Spiel steht, dass er einen professionellen Beistand benötigt. Dass sich hieran etwas ändert, wenn es nicht mehr um die Verhängung der Sanktion, sondern um deren Vollstreckung geht, leuchtet nicht ein.32 Im Strafvollstreckungsverfahren geht es immer noch um die Verteidigung gegen die Sanktion als solche.33 Steht ein Strafrest in Frage, dessen drohende Verhängung im Erkenntnisverfahren einen Fall notwendiger Verteidigung begründet, muss auch im Strafvollstreckungsverfahren eine Beiordnung erfolgen. Im Übrigen ergibt sich die Notwendigkeit der Beiordnung eines Verteidigers aber in vielen Fällen auch unabhängig von der in Frage stehenden Sanktion aus dem Gesichtspunkt, dass der Verurteilte jedenfalls in den Fällen überfordert ist, sich selbst zu verteidigen, in denen es um Entscheidungen geht, die Wertungen und/oder eine (Legal-)Prognose erforderlich machen. Deshalb ist die Rechtslage jedenfalls bei einer Halbstrafenaussetzung per se als schwierig einzustufen.34 Gleiches dürfte aber auch für die Strafaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung von 2/3 der verhängten Strafe gelten. Vollkommen zutreffend hat das BVerfG ausgeführt, dass die Situation des Verurteilten im Verfahren zur Strafrestaussetzung zur Bewährung nicht weniger diffizil ist als diejenige des Beschuldigten in der Hauptverhandlung: „Zu erörtern sind die in § 57 Abs. 1 S. 2 StGB aufgeführten Umstände, nämlich ob nach der Persönlichkeit des Verurteilten, seines Vorlebens, den Umständen seiner Tat, seines Verhaltens im Vollzuge, sei30 OLG Bamberg NStZ 1985, 39 m. abl. Anm. Pöpperl und zust. Bespr. Schütz NStZ 1985, 347 f.; OLG Celle StV 1989, 241; OLG Schleswig bei Ernesti/Lorenzen SchlHA 1985, 130; OLG Schleswig bei Döllel/Dreeßen SchlHA 2002, 151. 31 Vgl. OLG Karlsruhe StV 1994, 552; a.A. OLG Hamm StraFo 2002, 29, 30: die Länge der Restfreiheitsstrafe sei kein Kriterium. 32 Vgl. auch bereits LR/Lüderssen (Fn. 8), § 140 Rn. 121. 33 Litwinski (Fn. 6), S. 20 f. 34 Schwenn StV 1981, 203, 205.
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nen Lebensverhältnissen und den Wirkungen, die einer Strafaussetzung zur Bewährung zukommen, von einer künftig straffreien Lebensführung auszugehen ist. In diesem Zusammenhang ist eine Auseinandersetzung mit der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt und der Staatsanwaltschaft zu führen.“35 Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen, außer, dass es entweder naiv oder aber zynisch ist anzunehmen, der Verurteilte sei selbst in der Lage, diese Aufgabe sachangemessen zu erledigen. Soweit es um Strafvollstreckungsverfahren geht, hat die Beiordnung eines Rechtsbeistands nach alledem in analoger Anwendung der §§ 140 ff. StPO zu erfolgen. Zu wünschen bleibt, dass die Strafgerichte ihre im Wesentlichen wohl fiskalisch begründete Zurückhaltung bei der Anwendung dieser Normen revidieren und so dem Anspruch auf effektive Verteidigung auch im Vollstreckungsverfahren Wirksamkeit verleihen.
III. Amtliche Verteidigung in Strafvollzugssachen Müller-Dietz hatte bereits vor mehr als 20 Jahren die Auffassung vertreten, die Notwendigkeit der amtlichen Beiordnung eines Verteidigers in Strafvollzugssachen müsse „im Blickwinkel des Rechts- und Sozialstaatsprinzips vor dem Hintergrund der vielfältigen Defizite und Probleme der Insassen unserer Vollzugsanstalten“ bereits de lege lata als zulässig und geboten angesehen werden, jedenfalls für die Fälle, in denen der Betroffene die Kosten für einen Beistand nicht aufbringen könne.36 Nach Dopslaff soll ein verfassungsrechtlich abgesicherter Anspruch auf Beiordnung dann bestehen, wenn (alternativ)37 1. der Gefangene sich nicht selbst verteidigen kann 2. die Sach- und/oder Rechtslage schwierig ist 3. ein schwerwiegender Fall vorliegt und der Gefangene die Kosten für einen Anwalt nicht tragen kann. Die h.M. steht demgegenüber auf dem Standpunkt, dass die §§ 140 ff. StPO in Strafvollzugssachen weder direkt noch analog Anwendung finden, sondern sich ein Anspruch auf rechtlichen Beistand allein über die Verweisung des § 120 Abs. 2 StVollzG aus den §§ 114 ff. ZPO ergebe.38
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BVerfG NStZ 1993, 355, 356. Müller-Dietz StV 1982, 83, 90 f. 37 Dopslaff StV 1986, 352, 354. 38 Nobis/Schneider (Fn. 10), § 22 Rn. 171; Kamann StV 1996, 120; Volckart (Fn. 9), Rn. 510. 36
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Weiterhin kann sich ein Anspruch auf Beratungshilfe nach dem BerHG39 ergeben, das zwar grundsätzlich anwendbar ist, da eine rechtliche Beratung des Strafgefangenen durch die Anstalt jedenfalls in schwierigen Fragen und bei Streitfragen, in denen die Anstalt die andere Seite ist, nicht zumutbar ist.40 Umstritten ist allerdings schon, ob in Strafvollzugssachen nur die außergerichtliche Beratung über das BerHG abgedeckt ist41 oder auch die Vertretung im Verfahren.42 Unabhängig davon, wie man sich zu dieser Frage stellt, wird die faktische Wirksamkeit des über das BerHG gewährleisteten Rechtsbeistands dadurch grundlegend in Frage gestellt, dass die Gebühren so gering sind,43 dass der Beistand praktisch gesehen pro bono tätig werden muss.44 In der Rechtswirklichkeit wird die Möglichkeit einer Rechtsberatung nach dem BerHG selbst in den Strafanstalten, in denen dies organisatorisch möglich wäre, eher selten in Anspruch genommen.45 Die faktische Wirksamkeit des Anspruchs des Strafgefangenen auf rechtlichen Beistand hängt damit entscheidet davon ab, ob dieser über § 120 Abs. 2 StVollzG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO angemessen gewährleistet werden kann oder aber eine analoge Anwendung der §§ 140 ff. StPO möglich ist.
1. Der Anspruch des Strafgefangenen auf rechtlichen Beistand nach § 120 Abs. 2 StVollzG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO § 120 StVollzG bestimmt in Absatz 1, dass die Vorschriften der Strafprozessordnung für Strafvollzugssachen entsprechende Anwendung finden, „soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt“. § 120 Abs. 2 StVollzG bestimmt: „Auf die Bewilligung der Prozeßkostenhilfe sind die Vorschriften der Zivilprozeßordnung anzuwenden.“ Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist nach § 114 ZPO zunächst einmal das finanzielle Unvermögen des Gefangenen, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage sein darf, die Kosten der Prozessführung selbst zu tragen. Hinzukommen muss dann noch, dass
39 Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen vom 18.6.1980, BGBl. I 1980, 689. 40 Laubenstein (Fn. 4), S. 137; Müller-Dietz StV 1982, 83, 89. 41 Callies/Müller-Dietz, StVollzG, 10. Auflage, 2005, § 120 Rn. 4; Laubenthal, Strafvollzug, 3. Auflage, 2003, Rn. 817; Müller-Dietz StV 1982, 83, 89/90. 42 So Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Auflage, 2002, § 9 Rn. 59; Laubenstein (Fn. 4), S. 139 f. 43 Beratungsgebühr in Höhe von 30 Euro (Nr. 2602 VV RVG) und Vertretungsgebühr in Höhe von 70 Euro (Nr. 2603 VV RVG). 44 Vgl. Laubenstein (Fn. 4), S. 142 f. 45 Vgl. Rotthaus NStZ 1990, 164, 165.
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die beabsichtigte Rechtsverfolgung „hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint“. Die Mittellosigkeit des Antragstellers, die grundsätzlich mit dem entsprechenden amtlichen Formular über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu belegen (§ 117 Abs. 2 ZPO) und auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen ist (§ 118 Abs. 2 ZPO), dürfte bei Strafgefangenen im Regelfall gegeben sein und soll deshalb bei einem im geschlossenen Vollzug befindlichen Gefangenen keiner detaillierten Glaubhaftmachung bedürfen.46 Da auch Strafgefangene über Vermögen verfügen können, ist allerdings ein vollständiger Verzicht auf die Überprüfung der Vermögensverhältnisse nicht zu rechtfertigen.47 Ausreichend ist es, wenn dem Gericht die wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers aufgrund anderweitiger Information bekannt sind, z.B. auch aus vorangegangenen Verfahren.48 Der These, dass mutwillig herbeigeführte Leistungsunfähigkeit – z.B. durch Arbeitsunwilligkeit – die Bedürftigkeit ausschließt,49 ist dann zu folgen, wenn der Gefangene im Falle der Arbeitswilligkeit ein Einkommen erzielt hätte, aufgrund dessen er nicht mehr als mittellos einzustufen wäre. Bezogen auf die umstrittene Frage der Berücksichtigung des Hausgeldes des Gefangenen50 ist der in der Literatur vertretenen Auffassung zu folgen, nach der jedenfalls die Teile des Hausgeldes nicht berücksichtigt werden können, die für die Bildung des Überbrückungsgeldes (§ 51 StVollzG) benötigt werden.51 Im Regelfall scheitert die Gewährung von Prozesskostenhilfe allerdings nicht daran, dass die Antragsteller vermögend sind, sondern vielmehr daran, dass die Gerichte der beabsichtigten Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussichten absprechen. Entgegen einer in der Literatur erhobenen For-
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LG Heilbronn StV 1987, 543, 544. Kamann/Volckart, in: Feest (Hrsg.), Kommentar zum Strafvollzugsgesetz (AKStVollzG), 5. Auflage, 2006, § 120 Rn. 12. 48 Callies/Müller-Dietz (Fn. 41), § 120 Rn. 3; Arloth, in: Arloth/Lückemann, Strafvollzugsgesetz, 2004, § 120 Rn. 5. 49 OLG Nürnberg NStZ 1997, 359 f.; Arloth, in: Arloth/Lückemann (Fn. 48), § 120 Rn. 6; Schuler, in: Schwind/Böhm/Jehle (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz, 4. Auflage, 2005, § 120 Rn. 4; Laubenthal (Fn. 41), Rn. 817; vgl. aber auch Kamann/Volckart, in: Feest (Fn. 47), § 120 Rn. 11. 50 vgl. Laubenstein (Fn. 4), S. 106 ff.; Callies/Müller-Dietz (Fn. 41), § 120 Rn. 3 m.w.N. zum Streitstand. 51 Callies/Müller-Dietz (Fn. 41), § 120 Rn. 3; noch weitergehend Arloth, in: Arloth/Lückemann (Fn. 49), § 120 Rn. 6: nicht zu berücksichtigen seien auch die Anteile des Hausgelds, die der Gefangene für den Einkauf benötige; a.A. LG Hamburg bei Franke NStZ 1985, 356. 47
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derung, diese Voraussetzung nicht allzu engherzig zu beurteilen,52 verfährt die Praxis hier nicht großzügig, sondern im Gegenteil durchaus kleinlich.53 Dies gilt insbesondere für die Beiordnung eines Rechtsanwalts, die nach § 121 ZPO entweder gesetzlich vorgeschrieben sein muss (§ 121 Abs. 1 ZPO), was in Strafvollzugssachen nicht der Fall ist, oder „die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint oder der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist“ (§ 121 Abs. 2 ZPO),54 wobei dann die Bedeutung und der Umfang des Verfahrens maßgebend sein soll.55
2. Die entsprechende Anwendung der §§ 140 ff. StPO in Strafvollzugssachen Angesichts dessen, dass der Anspruch auf Prozesskostenhilfe nach den § 120 Abs. 2 StVollzG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO in der Praxis weitgehend leer läuft, stellt sich die Frage, ob der Anspruch auf rechtlichen Beistand über eine analoge Anwendung der §§ 140 ff. StPO gestärkt werden kann. Voraussetzung hierfür wäre zum einen, dass die Interessenlage gleich ist und die ratio legis für eine Anwendung spricht,56 was von der h.M. unter Verweis auf die in Strafvollzugssachen geltende Dispositionsmaxime verneint wird.57 Zum anderen müsste eine planwidrige Lücke im Gesetz vorhanden sein, was angesichts dessen, dass § 120 Abs. 2 StVollzG ausdrücklich auf die §§ 114 ff. ZPO verweist, durchaus zweifelhaft erscheint.58 Da § 120 Abs. 2 StVollzG für den mittellosen Strafgefangenen die Möglichkeit eröffnet, anwaltlichen Beistand über das Institut der Prozesskostenhilfe zu erlangen, liegt keine Gesetzeslücke vor, sondern vielmehr eine planmäßige Ent-
52 Callies/Müller-Dietz (Fn. 41), § 120 Rn. 3; Kamann/Volckart, in: Feest (Fn. 47), § 120 Rn. 13; Schuler, in: Schwind/Böhm/Jehle (Fn. 49), § 120 Rn. 4; Laubenthal (Fn. 41), Rn. 817; kritisch zur anders agierenden Praxis: Müller-Dietz StV 1982, 83, 85; Litwinski (Fn. 6), S. 197 f.; Litwinski/Bublies (Fn. 6), S. 162 f. 53 Hein/Piel (Fn. 8), § 22 Rn 192; Laubenstein (Fn. 4), S. 185 f.; Litwinski (Fn. 6), S. 196 ff.; Litwinski/Bublies (Fn. 6), S. 162 ff. 54 Litwinski (Fn. 6), S. 201; Müller-Dietz StV 1982, 83, 90. 55 Callies/Müller-Dietz (Fn. 41), § 120 Rn 3. 56 OLG Bremen NStZ 1982, 84; LG Osnabrück StV 1986, 351. 57 Ablehnend im Hinblick auf den in Strafvollzugssachen geltenden Verfügungsgrundsatz: OLG Hamm ZfStrVO SH 1979, 113 (Ls); Arloth, in: Arloth/Lückemann (Fn. 48), § 120 Rn 4; Callies/Müller-Dietz (Fn. 41), § 120 Rn 2; Kamann/Volckart, in: Feest (Fn. 47), § 120 Rn 5; Kamann StV 1996, 120. 58 OLG Bremen NStZ 1982, 84; 1984, 91, 92; KG bei Bungert NStZ 1994, 382; OLG Nürnberg bei Franke NStZ 1981, 250; Arloth, in: Arloth/Lückemann (Fn. 48), § 120 Rn 4; Schuler, in: Schwind/Böhm/Jehle (Fn. 49), § 120 Rn 3.
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scheidung des Gesetzgeber für die Anwendung der Vorschriften über die Prozesskostenhilfe.59 Im Übrigen ist aber auch durchaus zweifelhaft, ob man überhaupt den richtigen Weg einschlagen würde, wenn man den bestehenden Rechtsschutzdefiziten über eine entsprechende Anwendung der §§ 140 ff. StPO abhelfen wollte. Das Institut der notwendigen Verteidigung dient nach h.M. der Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung.60 Liegen die Voraussetzungen des § 140 StPO vor, hat die Beiordnung auch dann zu erfolgen, wenn der betroffene Beschuldigte dies nicht wünscht.61 Im strafprozessualen Erkenntnisverfahren ist diese Form der dem Beschuldigten gegen seinen Willen aufgenötigten Zwangsverteidigung62 angesichts dessen, was in diesen Verfahren für den Beschuldigten aber auch für die Gesellschaft auf dem Spiel steht, als grundsätzlich legitim anzuerkennen.63 In Strafvollzugssachen ist eine vergleichbare Situation aber allenfalls dann gegeben, wenn es um Disziplinarverfahren geht.64 Im Übrigen würde eine zwingende Beiordnung einen grundlegenden Widerspruch zu der in Strafvollzugssachen geltenden Dispositionsmaxime begründen. In dem de lege lata durch die §§ 140 ff. StPO ausgestalteten Institut der notwendigen Verteidigung mischen sich zwei Prinzipien:65 Zum einen das Prinzip, dass die Wahl eines Verteidigers nicht von den finanziellen Ver-
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OLG Bremen NStZ 1984, 91, 92. BVerfGE 46, 202, 210; 63, 380, 391; 70, 297, 323; BVerfG NStZ 1998, 363, 364; BVerfG StV 2001, 241; 2001, 601, 602; SächsVerfGH StraFo 2004, 54, 55; BGH StV 2003, 210, 211; OLG Bamberg StraFo 2003, 419; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 78; OLG Rostock StraFo 2002, 85; 2002, 231; Meyer-Goßner, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 624; Rieß StV 1981, 460, 461; kritisch und differenzierend: LR/Lüderssen (Fn. 8), § 140 Rn 15 ff.; SKStPO/Wohlers (Fn. 1), Vor § 137 Rn. 30 ff., 37 ff., § 140 Rn. 3. 61 Zu den Voraussetzungen, unter denen ein Verteidiger auch gegen den Willen des Beschuldigten zur Sicherung des Verfahrens bestellt werden kann, vgl. SK-StPO/Wohlers (Fn. 1), Vor § 137 Rn. 45 f. 62 Vgl. SK-StPO/Wohlers (Fn. 1), Vor § 137 Rn. 42 ff. 63 Zur Vereinbarkeit der aufgezwungenen Verteidigung mit der EMRK vgl. EGMR v. 25.9.1992, Croissant vs. Bundesrepublik Deutschland, §§ 28 f. = EuGRZ 1992, 542, 546; SKStPO/Paeffgen, 35. Aufbau-Lfg. (Januar 2004), Art. 6 EMRK Rn 137, 139. 64 Zur Anwendung der §§ 140 ff. StPO auf Disziplinarverfahren vgl. OLG Karlsruhe NStZRR 2002, 29; LR/Lüderssen (Fn. 8), § 140 Rn. 127 f; AK/Stern (Fn. 11), § 140 Rn. 82; a.A. OLG Bremen StV 1983, 187; OLG Saarbrücken NJW 1973, 1010, 1012; Meyer-Goßner (Fn. 11), § 140 Rn. 33b; zur Einordnung von Disziplinarverfahren als Verfahren über eine „criminal charge“ i.S.d. Art. 6 EMRK vgl. EGMR v. 28.6.1984, Campbell und Fell vs. Vereinigtes Königreich, §§ 67 ff. = EuGRZ 1985, 534, 538 f. 65 Vgl. immer noch grundlegend Welp ZStW 90 (1978), 101, 105 ff.; ders. ZStW 90 (1978), 804, 821 f. 60
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hältnissen abhängig sein soll (Fürsorgeprinzip),66 zum anderen das Prinzip, dass der Staat ein Interesse daran hat, dass das Verfahren justizförmig abläuft. Die – zwingende – Mitwirkung des Verteidigers beruht hier auf dem Gesichtspunkt der Verfahrenssicherung (Sicherungsfunktion). In Strafvollzugssachen kann die Sicherungsfunktion angesichts des hier geltenden Verfügungsgrundsatzes von vornherein keine Bedeutung haben, im Vordergrund steht allein der sozialstaatliche Gedanke: die Rechtsschutzmöglichkeiten des Strafgefangenen sollen nicht deshalb leer laufen, weil er nicht in der Lage ist, einen Rechtsbeistand aus eigener Tasche zu bezahlen. Vor diesem Hintergrund ist der richtige Wege dann aber nicht die analoge Anwendung der §§ 140 ff. StPO, sondern vielmehr die konsequente Umsetzung der Möglichkeiten, die in der über § 120 Abs. 2 StVollzG vorgesehenen Anwendung der §§ 114 ff. ZPO stecken.67
3. Der Anspruch des Strafgefangenen auf Prozesskostenhilfe und/oder Beiordnung eines Rechtsbeistands Das Recht auf ein faires Verfahren zählt zu den wesentlichen Grundsätzen eines jeden rechtsstaatlichen Verfahrens. Das BVerfG68 hat hierzu ausgeführt, das Recht auf ein faires Verfahren „erschöpft sich nicht in der Selbstbeschränkung staatlicher Mittel gegenüber den beschränkten Möglichkeiten des Einzelnen, die sich in der Verpflichtung niederschlägt, dass staatliche Organe korrekt und fair zu verfahren haben. Als ein unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens und daran anknüpfender Verfahren gewährleistet es dem Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde wahrnehmen und Übergriffe der im vorstehenden Sinn rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können.“ Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum Zeugenbeistand aus der „einem fairen Verfahren immanenten Forderung nach verfahrensmäßiger Selbständigkeit des in ein justizförmiges Verfahren hineingezogenen Bürgers bei der Wahrnehmung ihm eingeräumter prozessualer Rechte und Möglichkeiten gegenüber anderen Verfahrensbeteiligten“ abgeleitet, dass dem Zeugen das Recht zuzubilligen ist, einen Rechtsbeistand seines Vertrauens hinzuzuziehen, wenn er dies für erforderlich hält, um von seinen prozessualen Befugnissen selbständig und seinen Interessen entsprechend sachgerecht Gebrauch zu machen.69 Der Anspruch auf professionellen Bei66
Vgl. BVerfGE 9, 36, 38; BVerfG StV 2001, 601, 602. So auch bereits Litwinski (Fn. 6), S. 208 ff.; Litwinski/Bublies (Fn. 6), S. 169 ff. 68 BVerfGE 38, 105, 111. 69 BVerfGE 38, 105, 112. 67
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stand gilt aber nicht nur für die in ein Strafverfahren involvierten Personen, sondern erstreckt sich über das eigentliche Strafverfahren hinaus auf die an dieses Verfahren anknüpfenden Verfahren, in denen – wie im Strafvollstreckungsverfahren70 – über das „Ob“ oder – wie in Strafvollzugssachen – über das „Wie“ der Vollstreckung der verhängten Sanktion gestritten wird.71 Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe und/oder die Beiordnung eines Rechtsbeistandes ist Teil des Anspruchs auf Zugang zum Gericht. Der EGMR hat hierzu in der Entscheidung Airey vs. Irland grundlegend ausgeführt: „Die Regierung behauptet, die Beschwerdeführerin habe Zugang zum High Court, da es ihr freistehe, dieses Gericht ohne den Beistand eines Rechtsanwalts anzurufen. Der Gerichtshof sieht diese Möglichkeit als solche nicht für entscheidend an. Die Konvention soll nicht Rechte garantieren, die theoretisch oder illusorisch sind, sondern Rechte, die praktisch ausübbar und wirksam sind. Dies gilt in besonderem Maße für das Recht auf Zugang zu den Gerichten angesichts des hohen Ranges, den das Recht auf ein faires Verfahren in einer demokratischen Gesellschaft einnimmt.“72 Der Staat ist nach Auffassung des EGMR gehalten „to provide for the assistance of a lawyer when such assistance proves indispensable for an effective access to court either because legal representation is rendered compulsory or by reason of the complexity of the procedure or of the case.”73 Auch das BVerfG vertritt – in der Sache übereinstimmend – in ständiger Rechtsprechung den Standpunkt, dass der Anspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG beeinträchtigt ist, wenn der Zugang zu den Gerichten ausgeschlossen oder in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert wird.74 Nach Auffassung des BVerfG darf der Rechtsschutz nicht vornehmlich nach Maßgabe wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit eröffnet sein.75 Ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe und/oder auf die Vertretung durch eine rechtskundige Person folgt nach der Rechtsprechung des BVerfG aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip, wonach die prozessuale Stellung des Bemittelten und des Unbemittelten möglichst weitgehend einander anzugleichen sind.76 70
Vgl. BVerfG NStZ 1993, 355, 356 f. Laubenstein (Fn. 4), S. 190 f.; vgl. auch Litwinski (Fn. 6), S. 22 ff.: Auch der Vollzug sei Teil der Ausgestaltung der Strafe; es gehe um die Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs. 72 EGMR v. 9.10.1979, Airey vs. Irland, § 24 m.w.N. = EuGRZ 1979, 626, 627/628. 73 Vgl. EGMR v. 19.9.2000, Gnahoré vs. Frankreich, § 38. 74 BVerfGE 10, 264, 268; 40, 272, 274 f.; 60, 253, 269; 69, 381, 385; BVerfG StV 1996, 445. 75 BVerfGE 50, 217, 231; BVerfG ZfStrVo 2001, 187. 76 BVerfGE 10, 264, 270; 22, 83, 86; 51, 295, 302; 56, 139, 143 f.; 63, 380, 394 f.; 81, 347, 356 ff.; BVerfG StV 1996, 445; BVerfG ZfStrVO 2001, 187; BVerfG NJW 2005, 3489, 3490; vgl. auch Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band I, 2. Auflage, 2004, Art. 3 Rn. 95; vgl. 71
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Der EGMR anerkennt, dass die Kosten, welche die Prozesskostenhilfe verursacht, dem System Grenzen setzt und eine Selektion der Fälle zulässig ist, in denen Prozesskostenhilfe gewährt wird.77 Nach Auffassung des EGMR und auch des BVerfG ist das Abstellen auf die Erfolgsaussichten in Ordnung, wenn diese sorgfältig geprüft und die Maßstäbe nicht zu hoch angesetzt werden:78 Das BVerfG vertritt den Standpunkt: „Es kann nicht Sinn des Art. 19 Abs. 4 GG sein, Unbemittelten nutzloses Prozessieren auf Kosten der Allgemeinheit zu ermöglichen.“79 Deshalb ist es unbedenklich – und sogar geboten –, den Unbemittelten demjenigen Bemittelten gleichzustellen, „der bei gleichen Prozesschancen vernünftigerweise den Rechtsweg beschreiten würde, also dem verständig rechnenden Bemittelten, der auch die Tragweite des Kostenrisikos mitberücksichtigt. Soweit hierin für den Unbemittelten eine tatsächliche Erschwerung des Zugangs zu den Gerichten liegt, handelt es sich nicht um eine Ungleichbehandlung im Rechtssinne.“80 Andererseits gilt: „Die Anforderungen an die Erfolgsaussichten dürfen im Hinblick auf die Funktion der Prozesskostenhilfe, die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend anzugleichen (vgl. BVerfGE 81, 347, 357; st. Rspr.), nicht überspannt werden.“81 Weiterhin darf die Prüfung der Erfolgsaussichten nicht dazu dienen, die eigentliche Sachentscheidung in ein Nebenverfahren auszulagern, in dem der Betroffene (noch) ohne rechtlichen Beistand ist: „Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen. Dem genügt das Gesetz in § 114 Satz 1 ZPO, aber auch – für eine Ableitung aus Art. 19 GG – Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 10. Auflage, 2004, Art. 19 Rn. 32; Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band 1, 5. Auflage, 2005, Art. 19 Abs. 4 Rn. 457; Schwachheim, in: Umbach/Clemens, GGMitarbeiterkommentar, Band 1, 2002, Art. 19 Rn. 170 sowie – für eine Ableitung aus Art. 103 Abs. 1 – Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 27. Lfg. (November 1988), Art. 103 Rn. 113; Jarras/Pieroth, GG, 8. Auflage, 2006, Art. 103 Rn. 34. 77 EGMR, Airey vs. Irland, § 26; EGMR, Gnahoré vs. Frankreich, § 41; EGMR v. 26.2.2002, Del Sol vs. Frankreich, § 23; kritisch hierzu die abweichende Auffassung der Richter Tulkens und Loucaides, die in § 4 auf die Gefahr einer Diskriminierung der finanziell weniger gut gestellten Bürger hinweisen. 78 Vgl. EGMR, Gnahoré vs. Frankreich, § 41; EGMR, Del Sol vs. Frankreich, §§ 24 ff.; BVerfGE 10, 264, 268; 81, 347, 357 ff.; BVerfG ZfStrVo 2001, 187; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 27. Lfg. (November 1988), Art. 103 Rn. 114. 79 BVerfGE 10, 264, 269. 80 BVerfGE 10, 264, 270 f.; 51, 295, 302; 81, 347, 357. 81 SächsVerfGH StraFo 2007, 436, 437.
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indem es die Gewährung von Prozesskostenhilfe bereits dann vorsieht, wenn nur hinreichende Erfolgsaussichten für den beabsichtigten Rechtsstreit bestehen, ohne dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss. Dies bedeutet zugleich, dass Prozesskostenhilfe verweigert werden darf, wenn ein Erfolg zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist“.82 Die offenbar weitverbreitete Praxis der Strafvollstreckungskammern, die Entscheidung über das Gesuch über Prozesskostenhilfe faktisch mit der Hauptsacheentscheidung zu verbinden, wird diesen Grundsätzen nicht gerecht.83 Die Praxis, Anträgen auf Gewährung von Prozesskostenhilfe nur dann stattzugeben, wenn sich die Rechtsverfolgung auch aus der Sicht des Gerichts nach summarischer Prüfung84 des Antrags als erfolgversprechend darstellt, wird den verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorgaben des Weiteren auch deswegen nicht gerecht, weil Strafgefangene auf sich allein gestellt typischerweise nicht einmal in der Lage sind, die Erfolgsaussichten ihres Begehrens plausibel darzustellen.85 Wenn man die Gewährleistung der Subjektstellung des Strafgefangenen als Teil des Anspruchs auf ein faires Verfahren versteht, dann muss man mit Müller-Dietz dafür eintreten, eine Beiordnung entgegen der Praxis bereits dann vorzunehmen, wenn eine Sache in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht schwierig gelagert ist.86 Gleiches gilt, wenn die Intensität des in Frage stehenden Eingriffs in die Rechtssphäre des Gefangenen oder ein Mangel an sozialer Handlungskompetenz des Gefangenen dies nahe legt.87 Bei ungeklärten Rechtsfragen ist Prozesskostenhilfe schon allein deswegen zu gewähren, um dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien gerecht zu werden.88 Tatsächlich dürfte die Beiordnung in der Regel schon allen deshalb erforderlich sein, weil die Gegenseite (Anstalt) stets durch Volljuristen vertreten ist.89
82 BVerfGE 81, 347, 357; BVerfG NJW 2005, 3489, 3490; Huber, in: von Mangoldt/Klein/ Starck (Fn. 71), Art. 19 Abs. 4 Rn. 457. 83 Vgl. auch BVerfG StV 1996, 445; BVerfG ZfStrVo 2001, 187; Laubenstein (Fn. 4), S. 109; Zieger StV 2006, 375, 377. 84 Kritisch insoweit Dopslaff StV 1986, 352, 354. 85 Vgl. Laubenstein (Fn. 4), S. 134. 86 Müller-Dietz StV 1982, 83, 85 und 90. 87 Müller-Dietz StV 1982, 83, 90. 88 Kamann/Volckart, in: Feest (Fn. 47), § 120 Rn 13. 89 Kamann/Volckart, in: Feest (Fn. 47), § 120 Rn 14; Laubenstein (Fn. 4), S. 180; Litwinski/Bublies (Fn. 6), S. 164; a.A. BVerfG NJW 2002, 2773, 2774, wo allerdings das Fehlen einer kontradiktorisch ausgestalteten Hauptverhandlung wohl überbewertet wird.
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IV. Ausblick Die dem rechtlichen Beistand in Strafvollstreckungs- und Strafvollzugssachen gesetzlich gewährte Vergütung, die nach altem Recht eine klar prohibitive Wirkung hatte, ist auch nach dem neuen Gebührenrecht90 kein adäquates Äquivalent für die zeit- und arbeitsintensive Tätigkeit, die gerade in diesen Verfahren zu leisten ist.91 Insoweit gilt auch weiterhin, was Kamann in aller Deutlichkeit zum alten Recht ausgeführt hat: „Geld ist hier nicht zu verdienen.“92 Da realistischerweise nicht damit zu rechnen ist, dass sich an den Gebührensätzen in absehbarer Zukunft etwas ändern wird, vermag auch die hier befürwortete Ausweitung der Beiordnungspraxis für sich allein gesehen die Rechtsschutzdefizite in Strafvollstreckungs- und Strafvollzugssachen nicht zu beseitigen. Erforderlich ist, dass gerade die etablierten Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst werden und entsprechend handeln: „Wenn alle Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger in einem ihrer Praxis sicherlich nicht in den Ruin treibenden Umfang bis zu 5% ihrer Mandate auch in diesem Bereich tätig werden, wäre es um die betroffenen Mandanten, aber auch um das Ethos und Ansehen der Strafverteidiger besser gestellt.“93 Dem ist eigentlich nur hinzuzufügen, dass man ein vergleichbares Engagement auch und erst recht von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern erwarten sollte.
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Vgl. Burhoff StV 2006, 207, 213; Hein/Piel (Fn. 8), § 22 Rn. 189 ff. Hein/Piel (Fn. 8), § 22 Rn. 194; Rotthaus NStZ 1990, 164, 165. 92 Kamann StV 1996, 120, 122. 93 Zieger StV 2006, 675, 677. 91
Die Bedeutung der Strafbegründung für den Strafvollzug RAINER ZACZYK
I. Manfred Seebode zählt zu den Strafrechtswissenschaftlern, die in ihrem wissenschaftlichen Werk immer Bedacht darauf genommen haben, dass der Strafvollzug ein integrales Element des Strafrechts im Ganzen ist. Denn im Strafvollzug tritt die im materiellen Recht mit dem Tatbestand verbundene Rechtsfolge in die Wirklichkeit – ausgelöst durch die Tat, rechtskräftig festgestellt durch den Prozess. Der Strafvollzug ist daher notwendig Gegenstand einer sich als Zusammenhang verstehenden Strafrechtswissenschaft. Es sollte auch unmittelbar einsichtig sein, dass insbesondere die Freiheitsstrafe als der am schwersten wiegende staatliche Eingriff in die bürgerliche Freiheit nicht schon dann wissenschaftlich hinreichend erfasst ist, wenn sie nach Grund und Maß gerechtfertigt ist, sondern erst dann, wenn der Vollzug ebenfalls nach Prinzipien bestimmt ist und damit der Vollzugspraxis Orientierungspunkte für ihre Arbeit gegeben sind. Auch sie haben ihren Grund in der Strafgerechtigkeit und auch der Strafvollzug ist ein Seismograph der Staatsverfassung. Für Manfred Seebode mögen diese einleitenden Sätze trivial klingen, aber er wird gewiss darin zustimmen, dass sie etwa für die juristische und näher strafrechtliche Ausbildung durchaus Ungewohntes formulieren. Schon die strafrechtlichen Rechtsfolgen und ihre Maßprinzipien selbst führen in dieser Ausbildung eine Randexistenz; der Strafvollzug aber wird nur von speziell Interessierten als Rechtsgebiet wahrgenommen und studiert. Das führt dann dazu, dass die allermeisten „fertigen“ Juristen das Strafrecht mit „Definitionen“ und „Theorien“ aus Allgemeinem und Besonderem Teil identifizieren (was durchaus seine Teil-Berechtigung hat), nicht aber mit dem spezifischen Gewicht, das die in diesem Rechtsgebiet begründete Rechtsfolge für das Leben dessen hat, den sie (vorausgesetztermaßen: zu Recht) trifft.1 1 Hier soll nicht einer Ausweitung des Lehrstoffs in einem ohnehin schon völlig überfrachteten Studienprogramm das Wort geredet werden, sondern einer Vertiefung.
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Die Strafrechtswissenschaft aber muss dies in den Blick nehmen und darf sich der Aufgabe nicht entziehen, Eigenart, Grund und Zusammenhang der verschiedenen Elemente des Strafrechts zu erarbeiten. Dieser Aufgabe soll im Folgenden unter einem bestimmten Aspekt nachgekommen werden. Es lässt sich ja denken, dass die verschiedenen Elemente des Strafrechts einen lediglich äußeren Zusammenhang aufweisen: In je einzelnen Begründungsschritten ist zunächst der Tatbestand zu legitimieren, sodann die Rechtsfolge, weiter die Gestalt des Prozesses und schließlich die des Vollzugs. Das ergäbe für das Recht der Strafe eine bloße Addition der einzelnen Phasen des Strafrechts. Dagegen lässt sich aber zeigen, dass ein innerer Zusammenhang besteht, der die Phasen als Teilelemente verstehbar werden lässt und vom Rechtsbegriff selbst hergestellt wird. Er wirkt sich auf Strafbegründung und Strafvollzug zugleich aus und die Einsicht in ihn macht deutlich, dass aus einer freiheitsgesetzlichen Strafbegründung notwendig ein humaner Strafvollzug resultiert. – Die nachfolgenden Überlegungen, Manfred Seebode in kollegialer Verbundenheit zum 70. Geburtstag herzlich gewidmet, setzen an mit einem Widerspruch gegen eine von Seebode (mit anderen) vertretene These, gelangen am Ende aber zu einer völligen Übereinstimmung in einer aktuellen, den Strafvollzug unmittelbar betreffenden Frage.
II. In seinem Lehrtext „Strafvollzug I – Grundlagen“2 schließt sich Manfred Seebode einer Auffassung an, die im Strafvollzugsrecht von der weit überwiegenden Zahl der Autoren geteilt wird:3 Aufgaben und Ziele des Strafvollzugs seien von der Strafbegründung selbst zu trennen und eigenständig zu bestimmen. Im Strafvollzug gehe es wesentlich um Resozialisierung4 eines Gefangenen – dies in Aufnahme eines Gedankens einer der Lehren der Strafbegründung, der Spezialprävention. Nur eine Nebenfolge 2
1997, S. 101. Vgl. etwa (im Einzelnen unterschiedlich rigide die Trennung betonend) Calliess/ MüllerDietz, Strafvollzugsgesetz (StVollzG), 10. Aufl. 2005, § 2 Rn 8; Feest/ Lesting in: Feest (Hrsg.) StVollzG, 5. Aufl. 2006, § 2 Rn 3; Kaiser/ Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl. 2003, § 6 Rn 8; Laubenthal, Strafvollzug, 4. Aufl., 2007, Rn 178; Michael Walter, Strafvollzug, 2. Aufl. 1999, S. 86 ff. (Rn 48 ff.); jeweils mit weiteren Nachweisen. 4 Schüler-Springorum hat darauf hingewiesen, dass die Re-Sozialisierung nur zu oft eigentlich eine „Erst-Sozialisierung“ sei (Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 157 ff.). Dem ist zuzustimmen – allerdings mit dem wesentlichen Vorbehalt, dass das nicht bedeuten darf, dass ein Erwachsener wie ein Kind behandelt wird. S. dazu auch Müller-Dietz, Strafvollzug und Strafvollzugsdienst heute, Monatsschrift für Kriminologie 1967, 281 ff. (290 ff.). 3
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könnte die Sicherung der Allgemeinheit vor dem Straftäter sein, auszuschließen sei aber grundsätzlich das Hineinwirken des Tatvergeltungsgedankens in den Strafvollzug. Bei dieser Forderung nach strikter Abgrenzung von den die Strafe selbst begründenden Theorien dürfte eines ihrer wesentlichen Motive gerade die Sorge sein, dass mit dem Gedanken des Tatschuldausgleichs sonst fast zwingend „Härte“ in den Strafvollzug einzöge – notwendige Vollzugsmaßnahmen wie z. B. Vollzugslockerungen könnten mit Hinweis auf die Schwere der Schuld dann zurückgestellt werden. Auf den ersten Blick und nach dem gewöhnlichen Verständnis der sog. Straftheorien und insbesondere der sog. „absoluten“ Theorie scheint diese Befürchtung nachvollziehbar. Nur die Lehre von der Spezialprävention könnte danach darauf verweisen, schon bei der Begründung des Strafzwangs und damit von Anfang des Begründungsgangs an auf die Person des (an diesem Anfang noch präsumtiven) Täters das Augenmerk zu richten und dann im Strafvollzug gleichsam ihre volle Kraft entfalten zu können.5 Die anderen Lehren aber scheinen sich geradezu zwangsläufig für die Begründung von Form und Gehalt des Strafvollzugs auszuschließen: Die Lehre von der Generalprävention deshalb, weil sie ohnehin nur auf die Rechtsüberzeugung der Allgemeinheit zielt, die Lehre von der Tatvergeltung aber ganz und gar, da sie allein schon mit der Verurteilung ihr Ziel erreicht zu haben scheint. Beide Lehren würden sich also schädlich auswirken, wenn sie in irgendeiner Weise auf den Vollzug Einfluss nehmen könnten, geht es dort doch um den Umgang mit dem wirklichen einzelnen Menschen. Die Lehre von der Generalprävention würde hier den wichtigsten gegen sie erhobenen Einwand geradezu manifest werden lassen, dass nämlich der einzelne Verurteilte zum Demonstrationsobjekt für die anderen würde.6 Jede Lehre von der „Tatvergeltung“ aber müsste im Vollzug völlig versagen, fehlt ihr doch – fixiert auf das geschehene Verbrechen – scheinbar jedes Maß für einen angemessenen Umgang mit den Inhaftierten. In den Worten Claus Roxins: „(…) der Gedanke der Vergeltung (vermittelt) für den Strafvollzug kein Konzept, das geeignet ist, dem Täter in Zukunft ein straffreies Leben zu ermöglichen; bloße Vergeltung führt zu Trotz und Abstumpfung, fördert also den Rückfall, anstatt ihm vorzubeugen.“7 5 Dabei ist freilich immer zu bedenken, wie diese Lehre mit dem Gespenst der Gruppe der sog. „Unverbesserlichen“ umgeht; s. dazu exemplarisch Franz v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 (1883), S. 1 ff. (26 f.). 6 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, in: Werke in 10 Bänden, hrsg. von Weischedel, 1968 u. ö. Band 7, Allgemeine Anmerkung E, S. 453 (A 197 f./ B 227 f.). Dazu E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786 ff.; Michael Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986, S. 3; Hassemer/ Neumann, Nomos-Kommentar, 2. Aufl. 2005, Rn 107 vor § 1. 7 Roxin/ Arzt/ Tiedemann, Einführung in das Strafrecht und Strafprozessrecht, 5. Aufl. 2006, S. 5.
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Diese Gleichung zwischen Tatvergeltung durch Strafe und „harter“ (inhumaner) Behandlung ist gedanklich einfach und liegt deshalb nahe. Genaueres Nachdenken wird zeigen, dass sie falsch ist. Dazu muss in einem ersten Schritt gefragt werden, ob es denn überhaupt auf einen Zusammenhang zwischen Strafbegründung und Strafvollzug ankommt. Im Anschluss daran kann geklärt werden, in welcher Weise die „Straftheorien“ diesen Zusammenhang herstellen können und was dabei eine „absolute“ Straftheorie leisten kann.8
III. Die Wirklichkeit einer Straftat ist im Tatbestand des Strafgesetzes (als konkretisiertem Allgemeinwillen) auf Rechtsbegriffe gebracht und es wird mit dieser Tat die Rechtsfolge „Strafe“ und hier genauer „Freiheitsstrafe“ verbunden, die – nach rechtskräftigem Urteil – zur Wirklichkeit im Leben des Verurteilten wird: sie wird vollzogen. Schon allein diese Beschreibung zeigt, dass es doch merkwürdig wäre, wenn der Grund der Rechtsfolge, die vollzogen wird, so gar keine Bedeutung für den Vollzug selbst haben sollte – wird dort doch gerade das praktisch realisiert, was im Gesetz allgemein angeordnet ist. Gerade auch im Verständnis des Verurteilten ist die Freiheitsstrafe, die er erleidet, eben jene Strafe, die das Gericht gegen ihn ausgesprochen hat, wobei es sich auf das Gesetz stützte, das diese Rechtsfolge als Folge der Tat vorsieht. Claus Roxin hat in einem 1966 erschienenen Aufsatz9 versucht, diesen Zusammenhang durch eine von ihm so bezeichnete „dialektische Vereinigungstheorie“ zu erklären: Die Androhung der Strafe speise sich mehr aus generalpräventiven Gründen, ihre Verhängung durch den Richter müsse schuldangemessen (also tatbezogen) sein und im Vollzug stehe der Gedanke der Resozialisierung im Vordergrund. Diesem Versuch ist allerdings zu Recht entgegengehalten worden, dass hier ein Zusammenhang zwar behauptet, nicht aber inhaltlich ausgewiesen und begründet wird: Drei ganz unterschiedliche Begründungsgänge für staatliches Strafen werden einfach hintereinander geschaltet, ohne dass daraus ein einheitlicher Grund für das Gesamtgeschehen „Strafe“ erkennbar würde; das ist nicht Dialektik, sondern Synkretismus.10 Die fehlende innere Kohärenz kann man deutlich auch 8 Die distanzierenden Anführungszeichen im Text sollen darauf hinweisen, dass aus Gründen der Üblichkeit und besseren Zugänglichkeit Bezeichnungen und Unterscheidungen gewählt werden, die im Grunde zu den vom Recht geforderten Bestimmungen quer liegen; vgl. dazu E. A. Wolff (Fn 6), S. 787 f. 9 JuS 1966, S. 377 ff. 10 S. E. A. Wolff (Fn 6), S. 806 m. Fn 50; Köhler (Fn 6), S. 5 in Fn 11.
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aus der Perspektive des Bestraften erkennen: In ein und demselben Strafrecht wird er einmal als Bürger betrachtet (in der Strafdrohung), dann als Verbrecher (im Urteil) und schließlich als Behandlungsbedürftiger (im Vollzug). Ein Rechtsinstitut wie die Strafe kann aber nicht rasch wechselnd eine unterschiedliche Gestalt annehmen. Mit dem Blick auf die unübergehbare Einheit der Person des Täters ist zugleich der Ansatz für die Notwendigkeit ausgewiesen, dass es einen Zusammenhang zwischen Strafbegründung und Strafvollzug geben muss. Und auch die Tatsache, dass es sich bei der Strafe um ein Rechtsinstitut handelt (und nicht um ein Gewaltmittel in Händen anderer) bringt es mit sich, dass der Zusammenhang der Phasen ihrer Verwirklichung einheitlich bestimmt werden muss. Denn nach dem neuzeitlichen Rechtsverständnis sind das Recht und seine einzelnen Institute nur aus dem vereinigten Willen aller als gewiss begründet verstehbar; nur dann ist Freiheit Grund für das Recht einer Gemeinschaft und dieses nicht nur eine väterliche Spende der Obrigkeit. Da die Freiheitsstrafe aber einen erheblichen Eingriff der Gemeinschaft in das Recht des Einzelnen darstellt, muss sie vor ihm als einem Vernünftigen gerechtfertigt werden. Dazu genügt es nicht, mit irgendeiner Begründung für das Geschehen „Strafe“ gleichsam um Verständnis zu werben für das, was mit dem Verurteilten geschieht, sondern es muss weitergehend ein vernünftiger Grund des gesamten Vorgangs auch mit seiner eigenen vorauszusetzenden Vernunft verbunden werden. Da das Recht eine das praktische Leben gestaltende Macht ist, muss es an dieser Wirklichkeit auch den Begründungsgang für die Strafe ansetzen. Dies geschieht dadurch, dass die Qualität der Tat bestimmt wird, das Unrecht, das einem anderen geschieht. Mit ihm ist ein Grund gefunden, der im (später) Bestraften selbst seinen Ursprung hat. Seine rechtliche Bedeutung enthält dieser Anknüpfungspunkt für das Rechtsinstitut Strafe aber dadurch, dass er von einem prinzipiell als Vernünftigem gesetzten, einem einzelnen Bürger, geschaffen worden ist. Dessen Qualität, Staatsbürger zu sein, durchzieht dann den gesamten Begründungsgang: Der Straftatbestand muss allgemeingesetzlich bestimmt sein (nullum crimen, nulla poena sine lege); Strafe setzt Schuld voraus und kann nur in der strengen Rechtsform eines Prozesses verhängt werden (der nicht ein „fairer Ringkampf“ ist, sondern ein selbst in sich rechtlich gestaltetes Verfahren) und schließlich in der Rechtlichkeit des Vollzuges, in der immer noch und trotz ihrer Tat eine Rechtsperson dem Vollzugspersonal gegenübertritt.11
11 So betrachtet ist es unbegreiflich, wie lange verkannt werden konnte, dass der Vollzug der Freiheitsstrafe gesetzlicher Regelung bedarf. Hellsichtig demgegenüber Freudenthal, Die staatsrechtliche Stellung des Gefangenen (Rektoratsrede Frankfurt 1909), 1910.
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Bestätigt werden diese grundsätzlichen Überlegungen, die zu einem inneren Zusammenhang zwischen Strafbegründung und Strafvollzug führen, durch Formulierungen, die der Wissenschaftler und erfahrene Vollzugspraktiker Alexander Böhm in seiner Kommentierung des Strafvollzugsgesetzes gefunden hat: „Die Freiheitsstrafe ist ein zur Ahndung der schuldhaften Straftat dem Verurteilten auferlegtes Strafübel, eine Rechtseinbuße. Jede Verschleierung dieses Sachverhalts ist schädlich und erschwert die Erreichung des Vollzugsziels. Dem Verurteilten können die ihn durch den Vollzug der Freiheitsstrafe treffenden Beschränkungen und Belastungen niemals allein (oder auch nur überwiegend) aus den in § 2 genannten Aufgaben des Strafvollzugs und schon gar nicht aus dem Vollzugsziel erklärt werden. Wird ihm der wahre Hintergrund seines Strafleidens verschwiegen oder zerredet, fühlt er sich letzten Endes betrogen oder für dumm verkauft (…)“12 Diese Sätze belegen aus der Lebens- und Berufserfahrung des Praktikers, was sich auch aus einem entfalteten, freiheitlich begründeten Begriff des Rechts ergibt: Die Strafgründe in abstracto und in concreto bilden eine Einheit.13 Wenn damit die Vorfrage dahin beantwortet ist, dass die Begründung der Strafe auch in ihrem Vollzug anwesend sein muss: Schließt sich dann die Lehre von der Tatvergeltung oder dem Tatausgleich nicht doch (gleichsam im Rückstoß) aus einem humanen Strafrecht aus, weil sie – angeblich – als Konsequenz ihres Ansatzes einen „harten“ Vollzug fordert?
IV. Um diese zentrale Frage eindeutig beantworten zu können, ist im Folgenden zunächst ein Missverständnis aufzuklären, und es sind im Anschluss daran Folgerungen aus der Klärung zu ziehen. 1. Mit der sog. absoluten Theorie oder einer Lehre von der Tatvergeltung werden in der Neuzeit herkömmlicherweise die Namen Kant und Hegel assoziiert und einige plakative Stellen aus ihren Werken zur Rechtsphilosophie herangezogen.14 Was dabei Strafe und Strafarten betrifft, ist bei beiden Autoren leider festzustellen, dass sie die Todesstrafe nicht prinzipiell als Rechtsstrafe ausschlossen15 und dass sich zumal bei Kant Ausführungen zu 12
Böhm in: Schwind/ Böhm/ Jehle, StVollzG, 4. Aufl. 2005, § 2 Rn 3. Köhler (Fn 6), S. 6 m. Fn 12. 14 S. dazu Verf., Festschrift Eser, S. 207 ff., 209 ff. 15 Kant, Metaphysik der Sitten (o. Fn 6), A 199/ B 229; s. aber auch Verf., „Hat er aber gemordet, so muss er sterben“ in: Kugelstadt (Hrsg.) Zur Philosophie Kants und zu Aspekten ihrer Wirkungsgeschichte (im Erscheinen); Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: 13
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Strafarten finden, die auf jeden heutigen Leser abschreckend wirken müssen.16 Identifiziert man also beide Autoren mit der „absoluten Theorie“, fasst man zudem jeden Satz ihrer Werke als in Stein gemeißelte, nicht anders denkbare Ausbildung ihrer Grundbestimmungen (der Fundierung des Rechts als eines Daseins in Freiheit), dann in der Tat kämen beide Autoren und käme eine so verstandene „absolute Theorie“ insgesamt nicht mehr für eine humanen Ansprüchen genügende Strafbegründung in Frage.17 Auch unter rezeptionsgeschichtlichen Aspekten lässt sich eine auf vordergründige Argumente gestützte Ablehnung einer so reduzierten „absoluten Theorie“ verständlich machen. Kants Rechtsphilosophie galt während des gesamten 19. Jahrhunderts und noch weit ins 20. Jahrhundert hinein als Werk eines Greises, das man nicht nur in den Detailbestimmungen wie dem Recht der Strafe, dem Recht der Ehe oder dem Recht des Eigentums nicht ernst nehmen konnte.18 Was das Strafrecht im speziellen betraf, so wird Kant bei Hepp kurzerhand „zum Verteidiger des Racheprinzips“,19 seine Theorie verdiene, so Carl Ludwig von Bar „kaum die Bezeichnung eines wissenschaftlichen Versuchs“.20 Etwas anders verhält sich die Sache bei Hegel. Zum einen, weil seine Rechtsphilosophie von 1821 ein viel genauer ausgearbeitetes Werk als das Kants ist; zum anderen aber wurde seine Strafrechtslehre durch bedeutende Strafrechtswissenschaftler (Köstlin, Abegg, Hälschner, Berner) in mehrfachem Sinn „vermittelt“.21 Gleichwohl wurde auch seine Formulierung, in der Strafe werde „der Täter als Vernünftiges geehrt“22 zum Anknüpfungspunkt fast spöttischer Kritik gerade im Hinblick auf den Strafvollzug gemacht: Eberhard Schmidt spricht in seinem Vortrag Werke in 20 Bänden, hrsg. von Moldenhauer/ Michel, Frankfurt/ Main 1971 u. ö., § 100 (m. Zusatz); s. aber auch Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 591 f. 16 Vgl. Metaphysik der Sitten (Fn 6) A 199/ B 229, wo von Karrenstrafe und Zuchthausarbeit, ja vom Sklavenstand die Rede ist; B 171, wo für Notzucht und Päderastie recht unbefangen die Kastration verlangt wird. 17 Ich übergehe dabei den zusätzlich oft geäußerten Vorwurf, mit einer solchen Begründung werde ein transzendenter (göttlicher) Grund der Strafe in Anspruch genommen; dieser Vorwurf verkennt den Unterschied zwischen transzendental-philosophischer Begründung und alter Metaphysik, vgl. dazu Verf. (wie Fn 14). 18 Vgl. nur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (in: Sämtliche Werke, Hrsg. von Löhneysen), Band 1, S. 707. 19 Kritische Darstellung der Strafrechts-Theorien nebst einem Versuch über die Möglichkeit einer strafrechtlichen Theorie überhaupt, Heidelberg 1829, Nachdruck 1968, S. 22 ff. (S. 33 m. Fn 2). 20 Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, Berlin 1882, Neudruck 1992, S. 242. 21 Vgl. die kurze Darstellung bei Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, unveränderter Nachdruck der 3. Aufl. 1983, §§ 267 – 271. Ausführlich Ramb, Strafbegründung in den Systemen der Hegelianer, 2005. 22 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (wie Fn 15).
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„Zuchthäuser und Gefängnisse“23 davon, dass eine an Hegel orientierte Vergeltungslehre einen einsamen Vollzug an der autonomen Persönlichkeit, einen bloßen Tatvergeltungsvollzug fordere. „Um den bestraften Menschen, seine inneren und äußeren Nöte, seine Wesensart, seine soziale Lage, sein Schicksal nach der Entlassung aber kümmert sich dieser Strafvollzug grundsätzlich nicht.“24 Und weiter heißt es, der Tatvergeltungsgedanke habe noch im 19. Jahrhundert seinen Bankrott erlebt; je öfter einer als Vernünftiges geehrt worden sei, desto öfter sei er rückfällig geworden.25 Mindestens zwei Gesichtspunkte sollten den Verdacht nahe legen, dass es sich bei solchen Behauptungen um Verkürzungen handelt. Zunächst sollte es doch nachdenklich machen, dass allgemein mit der Aufklärung eine „Humanisierung“ auch des Strafvollzugs einhergeht, Kant aber zu Recht als einer der wichtigsten Denker der Aufklärung gilt:26 Er hat die Freiheit und die Würde der Person in den Mittelpunkt seines Rechtsdenkens gestellt.27 Sollten wirklich seine Ausführungen zur Strafe in ihrer Konkretion das letzte Wort einer solchen Rechtsphilosophie sein oder sollte hier eine genauere Interpretation schon der Grundlagenbestimmungen nicht doch ganz andere Folgerungen ergeben?28 Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Rechtsphilosophie Hegels, die nur im Zusammenhang mit der Rechtsphilosophie Kants wirklich verstanden werden kann: Wenn Hegel davon spricht, dass der Täter in der Strafe „als Vernünftiges geehrt“ werde, so ist unter dem Begriff des „Vernünftigen“ keineswegs eine gedankenblasse Geistererscheinung zu verstehen, die in ihrer Autonomie allen irdischen Gebrechen enthoben ist. Dass Hegel Menschen in ihrer je konkreten individuellen und sozialen, ja auch historischen Befindlichkeit vor Augen hat, ergibt sich 23
Göttingen o. J. (wohl 1960). Zuchthäuser und Gefängnisse (Fn 23), S. 23. 25 Zuchthäuser und Gefängnisse (Fn 23), S. 24. – Anzumerken ist allerdings auch, dass Eberhard Schmidt durchaus Verständnis für Hegels Ansatz insgesamt zeigt, vgl. S. 19 ff. 26 So beginnt R. v. Hippel in seiner Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Strafrechts (Deutsches Strafrecht, Band 1, Neudruck der Ausgabe Berlin 1925, 1971) den Abschnitt „Die Aufklärungszeit“ (S. 258 ff.) mit Kants berühmter Definition aus dem Aufsatz „Was ist Aufklärung“ (S. 258 Fn 1). Am Beginn des folgenden Abschnitts („Das 19. Jahrhundert bis zum Deutschen Reich“, S. 287 ff.) schreibt v. Hippel den Satz: „Im Gegensatz zur Aufklärung stellt Kant den Vergeltungsgedanken als absolutes Prinzip in den Mittelpunkt des Strafrechts.“ Hier folgen dann die bekannten, z. T. auch hier bereits im Text zitierten Stellen aus der Metaphysik der Sitten. 27 Daher wollen manche hier einen Widerspruch zur Strafrechtslehre sehen, den sie als „Januskopf“ der Rechtsphilosophie Kants beschreiben (s. Stintzing/ Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., 1 Halbband, 1898, Nachdruck 1957, S. 503 ff.). 28 Von Kant selbst ist immerhin ausgewiesen, dass er u. a. den Abschnitt über das Strafrecht „mit minderer Ausführlichkeit bearbeitet“ habe (Metaphysik der Sitten, Fn 6, S. A/ B X) und er das entscheidende Urteil auf einige Zeit noch aufzuschieben bitte (ebd.). Vgl. dazu auch Verf., „Hat er aber gemordet, so muss er sterben“ (Fn 15). 24
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allein schon aus einem genauen Studium seiner Rechtsphilosophie, etwa aus der Willensdialektik der Einleitung oder, im Komplex der „Bürgerlichen Gesellschaft“, dem Abschnitt über das „System der Bedürfnisse“.29 Man wird beiden Philosophen (und anderen, die in gleicher Richtung gearbeitet haben) nur gerecht, wenn man einsieht, dass sie mit ihrem Denken einen Denkraum eröffnet haben, in dem das Recht als Dasein (und das heißt auch: umfassende Wirklichkeit) der Freiheit verstanden werden muss. Für das Strafrecht bedeutet das, dass jede nach ihnen vertretene „absolute Straftheorie“ ihre Bestimmungsgründe aus diesem Denkraum beziehen muss, will sie nicht geradewegs freiheitswidrig sein und damit für einen Rechtsstaat inakzeptabel.30 Und es lässt sich leicht zeigen, dass eine freiheitsgegründete Strafrechtslehre für den Strafvollzug genau das Gegenteil einer „harten Behandlung“ fordert. 2. Strafrecht ist sekundäres Recht in dem Sinn, dass es eine rechtliche Ordnung voraussetzt und auf ihr aufbaut, die den Rechtsstatus einer in dieser Ordnung lebenden Person einschließlich ihrer Teilhabe am Gütererwerb dieser Gemeinschaft begründet und ihr so einen gesicherten Status im Zusammenleben mit anderen gewährleistet. Eine solche Ordnung ist dann eine freiheitliche Ordnung, wenn sie als Ganze von ihren Bürgern aus deren Selbstbegründung getragen und als von ihnen gestaltet begriffen werden kann, so dass diese in ihrem Recht zwar einem allgemeinen, nicht aber einem heteronomen Willen unterworfen sind. In einer solchen Ordnung gilt generell, dass das Recht nicht auf eine Funktion (etwa den Erhalt der Ordnung) reduziert werden kann, denn das entzöge ihm seine freiheitsgegründete Substanz; vielmehr muss das Recht immer einen Schritt weiter als Gestalt der Freiheit selbst begriffen werden – das ist die gedanklich feine, in der Realität aber harte Grenze zwischen Gewalt und Recht. Das Recht hat es daher als erstes mit Bürgern (in einem weiten Sinn) zu tun – das Strafrecht als Sekundärrecht also mit Bürgern, die verbrochen haben. Jedes Rechtsinstitut aber (einschließlich der Strafe) muss aus der Perspektive des Bürgers gerechtfertigt werden und nimmt daher notwendig an der freiheitsgründenden Substanz des Primärrechts teil. Sekundärrecht ist Strafrecht daher nur insofern, als es auf den Bruch der Ordnung bezogen ist 29 Hegel (Fn 15), §§ 4-29; §§ 189-208. Genauer zu den Dimensionen von Hegels Strafrechtslehre vor allem Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, 1991. 30 Dass gerechte, an der Tat orientierte Strafe danach nicht etwa auf transzendente Gründe zurückgreift, wie immer wieder behauptet wird, sondern auf praxislogische Zusammenhänge habe ich in der Festschrift für Eser, S. 207 ff., darzulegen versucht. Das völlige Missverständnis dieser Ausführungen bei Alwart (Otto-Festschrift, S. 3 ff., S. 8 f. mit Fn 20) kann nur auf subjektiv bedingten Verständnisschwierigkeiten beruhen.
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und ihn voraussetzt. Deshalb muss die Tat (das Verbrechen) als Übergang bestimmt werden, bei dem der Handelnde die Sphäre des Rechts verlässt und Unrecht verwirklicht. Nur die Tat kann deshalb Ausgangspunkt der Strafbegründung als Strafrechtsbegründung sein, sonst kann Strafe buchstäblich nicht gerecht sein. Denn würde sie allein als auf Zwecke gegründet verstanden werden, würde in der Begründung verloren gehen, warum gerade diese seine Tat die Strafbefugnis gegenüber dem Täter auslöst. Da bloße Zwecke ihm gegenüber äußerlich sind, könnte auch die Grenze nicht mehr markiert werden, an der ein Einzelner nur noch fremden Zwecken unterworfen wird; die Tat würde insgesamt zum bloßen Anlass, den Zweck zu realisieren.31 Nur wenn die Tat als Grund der Strafe (in allen erforderlichen gedanklichen Elementen) bestimmt ist, nimmt sie den Bürger, der Täter wurde, über seine Aktion in den Begründungsgang auf und schafft damit zugleich der Strafe ein Maß. Dieses Maß kann nach allem keine äußere Talion sein, denn in ihr würde das Gewaltsame des Unrechts nur verdoppelt werden.32 Ihr Maß als das eines Rechtsinstituts lässt sich nur mit Praxisvernunft ermitteln: Wenn das Recht Dasein der Freiheit ist, wenn aber zugleich das Dasein der Freiheit keine abstrakte Größe ist, sondern über die Selbständigkeit der Einzelnen mit ihrem wirklichen Leben verbunden, dann lassen sich auch Grade der Intensität dieser Verletzung feststellen.33 Die Straftat als Grund der Strafe führt dann auch zur Qualität der Strafe selbst: Verletzung fremder Freiheit durch die Tat hat die Beschränkung eigener Freiheit zur Folge – auch dies ist aber keine naturhafte Beschränkung („Wegsperren“), sondern eine auf Praxisvernunft beruhende und auf Praxisvernunft (beim Täter) gerichtete rechtliche Aktion.34 Ein solcher Zusammenhang zwischen Tat und Strafe vor dem Hintergrund der sie verbindenden rechtlichen Ordnung muss zwar zunächst einmal nach seinen allgemeinen Elementen umschrieben werden und bleibt dabei notwendig in grundsätzlichen Bestimmungen. Es ist aber leicht einsichtig zu machen, dass damit kein abstrakt-lebensabgewandter „Theoriezusammenhang“ formuliert wird, sondern dass seine Elemente als mit dem 31
S. auch Jescheck/ Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, § 8 II 3, S. 67. Auch das hat Hegel schon völlig zutreffend gesehen, s. Rechtsphilosophie (Fn 16), § 99. 33 Die Regelung des § 34 StGB nimmt im Grunde ganz unbefangen darauf Bezug. – Die Arbeit der Maßbestimmung im Einzelfall, bei der Schaffung eines Tatbestandes und bei der Strafrahmenbestimmung generell bleibt schwierig genug; vgl. dazu einerseits Köhler, Allgemeiner Teil, S. 578 ff. und – zum geradezu katastrophalen Versagen des Gesetzgebers in diesem Bereich – Hettinger, Küper-Festschrift, S. 45 ff. mit weiteren Nachweisen. 34 Gegenüber insbesondere im anglo-amerikanischen Raum vertretenen Theorien des „Retributivismus“ ist hervorzuheben, dass die Möglichkeit einer solchen Verbindung der Strafe mit der Tat eine ihr tiefer zugrundeliegende Solidarität mit dem Täter als Bürger voraussetzt; „Vergeltung“ in einer unsolidarischen Gesellschaft ist maßlos. – Vgl. zu den entsprechenden Konzeptionen Kaiser, Widerspruch und „harte Behandlung“, S. 134 ff. 32
Die Bedeutung der Strafbegründung für den Strafvollzug
599
praktischen Leben unmittelbar verbunden, in ihm wirkliche Elemente sind, die in dieser zusätzlichen lebendigen Gestalt in die gedankliche Erfassung des Zusammenhangs mit eingehen müssen. Die Vernunft des Menschen (und damit auch seine Praxisvernunft) ist die Vernunft eines endlichen Wesens, das eine naturhafte Seite unübergehbar besitzt und das – um nur ein Beispiel zu nennen – auch seine Glückseligkeit (und zwar notwendig und legitim) zu befördern sucht. Das bedeutet zugleich, dass er in sein Leben Neigungen und Triebe integrieren muss.35 Das Vermögen, solchen Strebungen zu widerstehen, wenn sie nur auf Kosten anderer z. B. gewaltsam befriedigt werden können, ist eine Leistung rechtlich-praktischer Vernunft, die überhaupt ausgebildet werden muss und ihrerseits Schwächen ausgesetzt ist. Im Verhältnis zu ihr ist daher auch nicht das Strafrecht die erste Instanz, sondern viel weitergehend eine humane und gerechte Sozialund Bildungspolitik. Aus dem Gesagten lässt sich nun eine Folgerung ziehen, die für jede auf dem gedanklichen Fundament der sog. idealistischen Philosophie aufgebaute Rechts- und Strafrechtslehre gilt: Da sie den Täter einer Straftat primär als prinzipiell Vernünftigen in einer gemeinsamen Lebenspraxis ansieht, kann sie in der Strafe erstens nicht mit ihm als einem Unvernünftigen umgehen, zweitens aber auch nicht so, als blieben nunmehr alle Bedingungen und Bedingtheiten seines Lebens außer Betracht. Eine solche Lehre würde ihre eigenen Voraussetzungen vergessen oder verleugnen und würde in Inhumanität umschlagen. Vielmehr fordert sie in deutlich größerer gedanklicher Notwendigkeit als jede zweckorientierte Lehre einen auf Freiheit und Freiheitseröffnung gerichteten Vollzug. Denn sie weiß, dass soziales Verhalten Leistung des Subjekts ist und dass dabei jede erforderliche Hilfestellung für diese Leistung ihrer eigenen Strafbegründung immanent ist. Am Strafvollzug kann man daher gut ablesen, inwieweit eine Gesellschaft den Zusammenhang von Freiheit und Sozialität begriffen hat.36 Bei der Ausgestaltung der Hilfsmaßnahmen im einzelnen – unter dem festgehaltenen Prinzip ihrer freiheitsgegründeten und freiheitseröffnenden Qualität – ist die Kompetenz des Juristen überschritten und die von Sozialpädagogen, Psychologen und Bewährungshelfern eröffnet. 35 Die Meinung, die sog. „idealistische“ Philosophie habe dies nicht berücksichtigt, beruht ausschließlich auf ungenügender Kenntnis der einschlägigen Texte. Vgl. nur für den in dieser Hinsicht besonders oft gescholtenen Kant seine Ausführungen in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, Werke Band 6 (o. Fn 6), S. 10 ff. 36 Völlig berechtigt ist die Kritik von Heike Jung „Wider die neue ‚Straflust’“, GA 2006, S. 724 ff., denn diese „Straflust“ ist, wie das Wort richtig sagt, nur auf die Zufälligkeit des Gefühls gegründet. Die Strafrechtswissenschaft darf aber nicht in der Alternative „Straflust“/ „Strafunlust“ (dies ist die Haltung in den 70er Jahren) stehen bleiben, sondern muss sich der Mühe unterziehen, Grund und Grenzen gerechter Strafe rational zu bestimmen.
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V. Nach dem Gesagten ist also der herrschenden Meinung in der Vollzugswissenschaft und damit, es lässt sich nicht vermeiden, auch Manfred Seebode zu widersprechen, wonach es einen Zusammenhang zwischen Strafbegründung und Strafvollzug nicht gebe. Das Gegenteil ist der Fall, ja der Zusammenhang ist sogar zwingend. Dabei konnte weiter gezeigt werden, dass gerade eine freiheitsgesetzlich begründete Lehre von der Tatvergeltung als Tatausgleich mit Notwendigkeit einen „humanen“ Strafvollzug fordert, ja dass sie ohne ihn sich geradezu selbst widersprechen würde. Beide Punkte zusammengenommen haben aber eine weitere Konsequenz, und hier kommt es glücklicherweise am Schluss dieses Beitrags noch zu einer vollen Übereinstimmung mit einer Ansicht, die Manfred Seebode in der Festschrift für Küper vertreten hat:37 Die mit der sog. Föderalismusreform beschlossene alleinige Kompetenzbegründung der 16 Bundesländer für das vom Strafrecht abgespalten gedachte Recht des Strafvollzugs ist ein gesetzgeberischer Missgriff ersten Ranges, beschlossen bezeichnenderweise gegen die Kritik der gesamten Fachwelt.38 Denn damit wurde ein sachlicher Zusammenhang zerrissen, der begriffsnotwendig besteht:39 Wer das Strafrecht ausübt, muss auch die Gestalt des Vollzugs bestimmen. Mit Seebode ist daher darauf zu beharren, dass diese Kompetenz beim Bundesgesetzgeber verblieben ist, denn dieser hat die (in konkurrierender Kompetenz stehende) Gesetzgebungsbefugnis im Strafrecht ausgeübt, sowohl im StGB als auch im StVollzG. In diesem Bereich können also die Länder auch nach der Föderalismusreform nur noch solche Regelungen treffen, die nicht den wesentlichen Inhalt der Freiheitsstrafe ausmachen.40
37
„Freiheitsstrafe“, ein Blankett des Strafgesetzbuchs, Küper-Festschrift, S. 577 ff. Vgl. Müller-Dietz, ZRP 2005, S.156 ff. m. w. Nachw. 39 Man stelle sich nur einmal vor, Art und Weise der Vollstreckung von Geldforderungen würde von jedem Bundesland einzeln geregelt. 40 Ebenso Seebode, Küper-Festschrift, S. 594 f. 38
IV. Verzeichnis der Schriften von Manfred Seebode I. Selbständig erschienen 1.
2.
3. 4. 5.
Das Verbrechen der Rechtsbeugung, Würzburger Dissertation (Dissertationsdruck), 1968; ergänzte und erweiterte Auflage: Das Verbrechen der Rechtsbeugung, Bd. 28 der Reihe „Strafrecht, Strafverfahren, Kriminologie“, Heinitz / Kielwein (Hrsg.), Neuwied und Berlin (Luchterhand) 1969; Reprint (Keip) 1995. Alternativentwurf einheitlicher Polizeigesetze des Bundes und der Länder, Neuwied (Luchterhand) 1979 (zusammen mit E. Denninger, M. Dürkop. W. Hoffmann-Riem, U. Klug, A. Podlech, H. Rittstieg und H.-P. Schneider). Der Vollzug der Untersuchungshaft, (Würzburger Habilitationsschrift, 1984), Berlin und New York (de Gruyter) 1985. Das System sozialer Rechtsfürsorge. Probleme und Perspektiven, Korea Legal Aid Corporation (Hrsg.), Seoul 1992. Strafvollzug – Recht und Praxis – Teil I: Grundlagen, mit Kontrollfragen, Fällen und Lösungen, Lingen (Kriminalpädagogischer Verlag) 1997.
II. Aufsätze 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Vorbeugehaft, in: ZRP 1969, S. 25 – 27. Rechtsblindheit und bedingter Vorsatz bei der Rechtsbeugung, in: JuS 1969, S. 204 – 208. Schweigen des Beschuldigten zur Person, in: MDR 1970, S. 185 – 189. Schriftverkehr zwischen Strafgefangenem und Anwalt. Ein Beitrag zu Grundfragen des Strafvollzugsrechts, in: MDR 1971, S. 98 – 104. Unterhaltspflichtverletzung als Straftat, in: JZ 1972, S. 389 – 394. Die gerichtliche Zurückweisung eines Strafverteidigers, in: NJW 1972, S. 2257 – 2259. Versteckte Strafrechtsreform – Geringere Richterverantwortlichkeit?, in: ZRP 1973, S. 239 – 240.
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Schriften von Manfred Seebode
Strafverfolgung nach Polizeirecht? Kritische Bemerkungen zum Musterentwurf einheitlicher Polizeigesetze, in: MDR 1976, S. 537 – 540. Das Recht zur Festnahme entwichener Strafgefangener. Bemerkungen zu § 87 StVollzG, § 457 StPO und § 13 Abs. 3 MEPolG, in: W. Frisch / W. Schmid (Hrsg.), Festschrift für Hans-Jürgen Bruns, Köln u.a. 1978, S. 487 – 503. Über die Freiheit, die eigene Strafverfolgung zu unterstützen, in: JA 1980, S. 493 – 499. „Hörensagen ist halb gelogen“. Das Zeugnis vom Hörensagen im Strafprozeß (unter Mitarbeit von F. Sydow), in: JZ 1980, S. 506 – 516. Neue Entwicklungen im Strafverfahrens- und Polizeirecht – aus der Sicht der Wissenschaft (Vortrag auf der Arbeitstagung 1980 des Bundeskriminalamtes), in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Polizei und Kriminalpolitik, Vortragsreihe des Bundeskriminalamtes, Bd. 26, Wiesbaden 1981, S. 101 – 115. Verzicht auf Haftentschädigung?, in: NStZ 1982, S. 144 – 148. Verbrechensverhütung durch staatliche Hilfe bei der Schuldenregulierung Straffälliger, in: ZRP 1983, S. 174 – 181. Polizeiliche Notwehr und Einheit der Rechtsordnung, in: G. Kohlmann (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Klug, Köln 1983, Bd. 2, S. 359 – 373. Opfer der Straftat – Stiefkind der Strafrechtspflege. Bemerkungen zur Stellung des Verletzten im Strafrecht de lege lata et ferenda (Referat auf der Tagung „Viktimologie“ der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Kriminologie, Interlaken 1985), in: W. Haesler / Schweizerisches Nationalkomitee für geistige Gesundheit (Hrsg.), Viktimologie, Grüsch 1986, S. 177 – 203. Freisprüche für „Gurtmuffel“. Bemerkungen über die Freiheit, sich selbst zu schützen, in: JR 1986, S. 265 – 269. Recht und Wirklichkeit des Untersuchungshaftvollzuges in der Bundesrepublik Deutschland (Referat auf der Tagung „Untersuchungshaft im Übergang“ der Evangelischen Akademie Hofgeismar, 1987), in: H. Schöch (Hrsg.), Untersuchungshaft im Übergang, Hofgeismar 1987, S. 7 – 31. Gebotene Änderungen der Untersuchungshaft. Anregungen zu Reformen des Rechts und der Praxis der Untersuchungshaft, in: Kriminalpädagogische Praxis, Heft 23/24 (1987), S. 15 – 26. Zwischenhaft, ein vom Gesetz nicht vorgesehener Freiheitsentzug (§ 345 StGB), in: StV 1988, S. 119 – 124. Die unterlassene Rücksendung des Fragebogens im Ordnungswidrigkeits- und Strafverfahren, in: NJW 1988, S. 1768.
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22. Recht und Wirklichkeit der Untersuchungshaft (Vortrag auf der Jahrestagung 1988 der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Strafvollzug), in: ZfStrVo 1988, S. 268 – 275. 23. Das Recht der Untersuchungshaft und seine Anwendung in der Praxis. Ein Überblick über Dauer, Anordnung, Zwecke, Aussetzung, Vollzug und Reformfragen der Untersuchungshaft (Vortrag vor dem Verein für kriminalpädagogische Praxis und der Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen), in: G. Koop / B. Kappenberg (Hrsg.), Praxis der Untersuchungshaft, Lingen 1988, S. 28 – 78. 24. Aktuelle Reformvorhaben: Weniger Untersuchungshaft durch neues Haftrecht und mehr Sozialarbeit. Drei Gesetzentwürfe im vergleichenden Überblick, in: G. Koop / B. Kappenberg (Hrsg.), Praxis der Untersuchungshaft, Lingen 1988, S. 177 – 206. 25. Zur Bedeutung der Gesetzgebung für die Haftpraxis, in: StV 1989, S. 118 – 122. 26. Gesetzliche Notwehr und staatliches Gewaltmonopol, in: E. Schlüchter / K. Laubenthal (Hrsg.), Festschrift für F.-W. Krause (Recht und Kriminalität), Köln u.a. 1990, S. 375 – 391. 27. Rauschgiftkriminalität, Drogenberatung und Strafprozeßreform, in: Kriminalpädagogische Praxis, Heft 31 (1990), S. 38 – 41. 28. Gezielt tödlicher Schuß de lege lata et ferenda. Zur Bedeutung der polizeigesetzlichen Regelungen, in: StV 1991, S. 80 – 85. 29. Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft. Alte Gegebenheiten und neue Entwicklungen (Referat beim deutsch-polnischen Colloquium des Max-Planck-Instituts für ausländ. u. internat. Strafrecht 1990, Ringberg (Tegernsee), in: A. Eser / G. Kaiser / E. Weigend (Hrsg.), Viertes deutsch-polnisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie, Baden-Baden 1991, S. 169 – 185. 30. Zur gesetzlichen Bestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts, in: M. Seebode (Hrsg.), Festschrift für Günter Spendel, Berlin 1992, S. 317 – 346. 31. Zweispurige Freiheitsstrafe. Grund und Grenzen der mit Freiheitsstrafe bewirkten Repressionen, in: W. Küper / J. Welp (Hrsg.), Beiträge zur Rechtswissenschaft. Festschrift für Walter Stree und Johannes Wessels, Heidelberg 1993, S. 405 – 428. 32. The System of Legal Aid Assistance, its Problems and Perspectives (Vortrag auf der Tagung „Developing Plans of Legal Aid System“ der Korea Legal Aid Corporation 1992 in Seoul), in: Korea Legal Aid Corporation (Hrsg.), Developing Plans of Legal Aid System, engl./korean., Seoul 1993, S. 75 – 107, 195 – 227. 33. Rechtsbeugung und Rechtsbruch, in: JR 1994, S. 1 – 6.
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34. Zur Rückwirkung von Strafgesetzen. Das Rechtsgutachten für den Reichstagsbrandprozeß, in: Brieskorn / Mikat / D. Müller / Willoweit (Hrsg.), Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft (Festschrift für W. Trusen), Paderborn 1994, S. 425 – 452. = japanisch, in: The Journal of the Institute of Legal Study Osaka University of Economics and Law, Vol. 29 (1999), S. 95 – 114, Vol. 30 (2000), S. 83 – 98 (übersetzt von M. Honda). 35. Freiheit der Kunst in Unfreiheit, in: R. Räbiger / Dokumentations- und Informationszentrum Torgau e.V. (Hrsg.), Kunst hinter Gittern, Torgau 1996, S. 43 – 57. 36. Einsicht in Personalakten Strafgefangener, in: NJW 1997, S. 1754 – 1757. 37. Freiheit und Gebundenheit des Richters. Freispruch für „Mutter Courage“, in: Jura 1997, S. 418 – 424. 38. Rechtsbeugung – Vorschlag einer notwendigen Gesetzesreform (gemeinsam mit: G. Bemmann und G. Spendel), in: ZRP 1997, S. 307 f. 39. Behandlungsvollzug für Ausländer, in: Kriminalpädagogische Praxis, Heft 37 (1997), S. 52 f. 40. DDR–Justiz vor Gericht, in: A. Eser / U. Schittenhelm / H. Schumann (Hrsg.), Festschrift für Theodor Lenckner, München 1998, S. 585 – 617. 41. Wortlautgrenze und Strafbedürfnis. Die Bedeutung des Wortlauts der Strafgesetze am Beispiel eigennütziger Strafvereitelung, in: JZ 1998, S. 781 – 783. 42. Die Untersuchungshaft und ihre Reform an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Fortschritt und Rückschritt im jüngsten Ministerial-Entwurf eines Gesetzes über den Vollzug der Untersuchungshaft, in: G. Koop / B. Kappenberg (Hrsg.), Untersuchungshaft – eine vergessene Reform?, Lingen 1998, S. 14 – 42. 43. Problematische Ersatzfreiheitsstrafe, in: W. Feuerhelm / H. D. Schwind / M. Bock (Hrsg.), Festschrift für Alexander Böhm, Berlin 1999, S. 519 – 552. 44. Schleierfahndung. Zum Spannungs- und Abhängigkeitsverhältnis von Freiheit und Sicherheit im sich einigenden Europa, in: G. Bemmann / D. Spinellis (Hrsg.), Festschrift für Georgios Alexandros Mangakis, Athen 1999, S. 693 – 713. 45. Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Vollzuges der Untersuchungshaft (BR-Drs. 249/99 vom 30.04.1999) (zusammen mit U. Paeffgen), in: ZRP 1999, S. 524 – 526. 46. Rechtliche Bewertung der Tätigkeit von DDR-Richtern im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und parteilichem Gehorsam, in: Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission (Hrsg.), Überwin-
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dung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit, Band II/2, Frankfurt a.M., 1999, S. 1524 – 1601. Vollzugsrechtliche Reformüberlegungen, in: N. Courakis (Hrsg.), Festschrift für Dionysios Spinellis, Athen 2001, S. 1005 – 1017. Aktuelle Fragen zum Justizvollzug 2000 und seiner Reform (Vortrag auf der Jahrestagung 2000 der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Strafvollzug), in: R. Herrfahrdt (Hrsg.), Strafvollzug in Europa, Schriftenreihe der Anstaltsleiter im Strafvollzug, Bd. 4, 2001, S. 47 – 70. Streitfragen des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots im Zeitenwandel. Das Rechtsgutachten für den Reichstagsbrandprozess, in: Th. Vormbaum (Hrsg.), Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, Bd. 3, 2001, S. 203 – 233 (akt. Fassg. der Nr. 34). Zur Berechenbarkeit der strafrechtlichen Hilfspflicht (§ 323c StGB), in: H. J. Hirsch / J. Wolter / U. Brauns (Hrsg.), Festschrift für Günter Kohlmann, Köln 2003, S. 279 – 294. Registrierte Rückfallerwartung. Überlegungen zum Reformbedarf des Strafregisterrechts, in: T. Feltes / C. Pfeiffer / G. Steinhilper (Hrsg.), Kriminalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen, Festschrift für Hans-Dieter Schwind zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2006, S. 671 – 685. Härtere Untersuchungshaft. Paketempfang und Rechtsstellung inhaftierter Verdächtiger bei hoher Belegung von Vollzugsanstalten, in: StV 2006, S. 552 – 556. Wer Strafe androht, muß auch sagen, wie sie aussieht. Die Zuständigkeit zur gesetzlichen Regelung des Justizvollzugs. (Vortrag auf der Jahrestagung der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Strafvollzug 2006), in: R. Herrfahrdt (Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit im Strafvollzug, Schriftenreihe der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Strafvollzug, Bd. 8, 2006, S. 107 – 121. Strafrechtliche Bemerkungen zum Folterverbot, in: H. Goerlich (Hrsg.), Staatliche Folter. Heiligt der Zweck dieses Mittel?, Paderborn 2007, S. 51 – 73. Folterverbot und Beweisverbot, in: G. Dannecker / W. Langer u.a. (Hrsg.), Festschrift für Harro Otto, Köln u.a., 2007, S. 999 – 1012. „Freiheitsstrafe“, ein Blankett des Strafgesetzbuchs, in: M. Hettinger / J. Zopfs u.a. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper, Heidelberg 2007, S. 577 – 595. Das „Recht des Untersuchungshaftvollzugs“ im Sinne des Art. 74 GG, in: Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (HRRS) 2008, S. 236 – 241.
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III. Entscheidungsanmerkungen 1.
2.
3. 4. 5. 6. 7.
8.
9.
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11.
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Anmerkung zum Beschluß des BVerfG vom 20.6.1967 – 2 BvL 10/64 – BVerfGE 22, 106 ff. (Verfassungsmäßigkeit unabhängiger Verwaltungsausschüsse), in: DVBl 1968, S. 177 f. Anmerkung zum Beschluß des BayObLG vom 8.5.1969 – RReg 4a St 80/69 – (§ 360 StGB, §§ 136, 163 StPO), in: NJW 1969, S. 2057 – 2059. Anmerkung zum Beschluß des OLG Nürnberg vom 21.3.1969 – VAs 34/68 – (§ 148 StPO), in: JR 1971, S. 121 f. Anmerkung zum Beschluß des LG Würzburg vom 19.4.1972 – Qs 117/72 – (§§ 119, 148 StPO), in: NJW 1972, S. 1824 – 1826. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 26.7.1972 – 2 StR 62/72 – BGHSt 24, 386 ff. (§§ 263, 266 StGB), in: JR 1973, S. 117 – 120. Anmerkung zum Beschluß des BayObLG vom 18.12.1972 – RReg 8 St 142/72 – (Waffenerwerb), in: MDR 1973, S. 431. Anmerkung zum Urteil des OLG Karlsruhe vom 28.9.1972 – 2 Ss 144/72 – (§§ 170 b, 170 d StGB, 1360, 1606 BGB), in: JZ 1973, S. 601 – 604. Besprechung der Entscheidungen des BVerfG vom 13.10.1972 – 2 BvR 307/72 –, OLG Bamberg vom 17.7.1974 – Ws 264/74 –, AG Zweibrücken vom 2.2.1979 – Gs 18/79 – NJW 1979, 1557 ff. (Arbeitspflicht junger Untersuchungsgefangener), in: JA 1979, S. 613 – 615. Anmerkung zum Beschluß des BayObLG vom 20.8.1981 – BReg 2 Z 56/81 – (§§ 160 StVollzG, 60 BGB, Art. 9 GG), in: NStZ 1982, S. 86 – 88. Anmerkung zum Beschluß des OLG Celle vom 23.2.1984 – 3 Ws 41/84 (StrVollz) – (§§ 51, 111 StVollzG, Art. 103 Abs. 1 GG), in: NStZ 1984, S. 335 f. Anmerkung zum Beschluß des OLG Karlsruhe vom 30.1.1985 – 3 Ss 238/84 – (§§ 6, 6 a, 328 StPO, 74 GVG, Art. 101 I 2 GG), in: NStZ 1985, S. 424 f. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 13.8.1985 – 1 StR 330/85 – BGHSt 33, 290 (§ 338 Nr. 1 StPO), in: JR 1986, S. 474 – 478. Anmerkung zum Beschluß des OLG Celle vom 25.6.1986 – 3 Ss 89/86 – (§ 328 StPO), in: JR 1987, S. 35 f. Anmerkung zum Beschluß des OLG München vom 17.3.1986 – 1 Ws 1026/85 – (§§ 109 ff., 93 StVollzG), in: NStZ 1987, S. 46 – 48. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 28.4.1987 – 5 StR 666/86 – BGHSt 34, 362 (§ 136a StPO), in: JR 1988, S. 427 – 432. Anmerkung zum Beschluß des BayObLG vom 18.2.1988 – RReg 1 St 309/87 – (§§ 266, 13 StGB), in: JR 1989, S. 301 – 303.
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17. Anmerkung zum Beschluss des OLG Hamm vom 22.4.1988 – 11 W 133/87 – (§ 63 StGB, Art. 5 EMRK), in: NStZ 1989, S. 328 f. 18. Anmerkung zum Urteil des OLG Hamm vom 29.1.1992 – 3 Ss 1128/91 – (§§ 153, 27 StGB), in: NStZ 1993, S. 83 – 85. 19. Anmerkung zu den Beschlüssen des OLG Düsseldorf vom 16.11.1992 – 3 Ws 636/92 – und 5.1.1993 – 3 Ws 743/92 – (§§ 112, 120 StPO), in: StV 1994, S. 86 – 89. 20. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 29.4.1994 – 3 StR 528/93 – BGHSt 40, 125 ff. (§§ 5, 239, 241a StGB, Art. 315 EGStGB), in: JZ 1995, S. 417 – 419. 21. Anmerkung zum Beschluß des Thüringer OLG Jena vom 13.9.1994 – 1 Ws 49/94 – (Art. 1, 6 GG, § 119 StPO), in: JZ 1996, S. 158 – 160. 22. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 5.12.1996 – 1 StR 376/96 – BGHSt 42, 343 (§§ 115a, 116 StPO, 339 StGB), in: JR 1997, S. 474 – 478. 23. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 30.4.1997 – 2 StR 670/96 – BGHSt 43, 82 (§§ 258, 13 StGB, 2 StVollzG), in: JR 1998, S. 338 – 342. 24. Anmerkung zum Beschluß des OLG Zweibrücken vom 20.8.1997 – 1 Ws 430/97 – (§ 119 Abs. 3, Abs. 6 StPO), in: StV 1998, S. 386 f. 25. Anmerkung zum Beschluß des Thüringer OLG Jena vom 30.10.1997 – 1 Ws 195/97 – (§ 57 StGB), in: NStZ 1999, S. 318 f. 26. Anmerkung zur Verfügung des LG Frankfurt/Main vom 18.9.1998 – 5/21 Ks 80 Js 387988/96 – (Gefängnisüberfüllung), in: StV 1999, S. 325 – 328; aktualisierte und von A. Fukui ins Japanische übersetzte Fassung in: Review of Law and Political Sciences Hosei University, Vol. XCIX, 2001, S. 269 – 278. 27. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 03.12.1998 – 1 StR 240/98 – (§§ 47 OWiG, 339 StGB) in: JZ 2000, 319 f. 28. Anmerkung zum Beschluss des BVerfG vom 21.11.2002 – 2 BvR 2202/01 – (Strafvereitelung im Amt bei außerdienstlich erlangter Kenntnis von einer Straftat), in: JZ 2004, S. 305 – 309. 29. Anmerkung zum Beschluss des BGH vom 04.12.2003 – 5 StR 457/03 – (subjektive Voraussetzungen des Heimtückemordes), in: StV 2004, S. 596 – 598.
IV. Buchbesprechungen 1.
Waider, H., Die Bedeutung der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen für Methodologie und Systematik des Strafrechts, 1970, in: JZ 1972, S. 375 f.
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2.
Sydow, F., Kritik der Lehre von den „Beweisverboten“, 1976, in: MDR 1976, S. 963 f. 3. Schünemann, B., Nulla poena sine lege? Rechtstheoretische und verfassungsrechtliche Implikationen der Rechtgewinnung im Strafrecht, 1978, in: JR 1978, S. 438 f. 4. Jehle, J.-M., Untersuchungshaft zwischen Unschuldsvermutung und Wiedereingliederung, 1985, in: JZ 1986, S. 25. 5. Paeffgen, H.-U., Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, 1986, in: JZ 1987, S. 611 f. 6. Göhler, E., Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 8. Aufl. 1987, in: JR 1989, S. 85 f. 7. Schwind, H.-D. / Blau, G. (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis, Eine Einführung in die Probleme und Realitäten des Strafvollzugs und der Entlassenenhilfe, 2. Aufl. 1988, in: JR 1990, S. 85 f. 8. Haft, F. / Hassemer, W. / Neumann, V. / Schild, W. / Schroth, U. (Hrsg.), Strafgerechtigkeit. Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, 1993, in: NJW 1994, S. 987 f. 9. Scholderer, F., Rechtsbeugung im demokratischen Rechtsstaat. Zur Rekonstruktion des § 336 StGB für die Gegenwart, 1993, in: NJW 1995, S. 647 f. 10. Schlothauer, R. / Weider, H.-J., Untersuchungshaft, 2. Aufl. 1996, in: JZ 1996, S. 1072. 11. Ostendorf, H., Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 1997, in: NJW 1999, S. 200. 12. Ostendorf, H., Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 5. Aufl. 2000, in: NJW 2002, S. 2083.
V. Veröffentlichte Gutachten 1.
2.
3.
Gutachtliche Stellungnahme zum Entwurf eines § 163d StPO („Schleppnetzfahndung“) mit Gesetzesvorschlag, in: Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, Innenausschuß, Anlagen zu Protokoll Nr. 95 vom 12.2.1986. Gutachtliche Stellungnahme zur Reform des Bundesdatenschutzgesetzes und insbesondere des Datenschutzstrafrechts, in: Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, Innenausschuß, Anlage zu Protokoll 110 vom 21.4.1986. Gutachtliche Stellungnahme zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Datenschutzes, in: Landtag Nordrhein-Westfalen, Anlage zum Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Innere Verwaltung vom 10.9.1987.
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4.
5.
6.
7.
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Rechtsgutachten für den Landtag des Saarlandes zum Regierungsentwurf zur Neuordnung des Saarländischen Polizeirechts, in: Landtag des Saarlandes, 9. Wahlperiode, Ausschuß für Innere Verwaltung, Anlage zum Protokoll der Sitzung vom 22.6.1989. Rechtsgutachten für den Sächsischen Landtag zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Polizeigesetzes, in: Sächsischer Landtag, Innenausschuß, Anlage zum Protokoll der Sitzung vom 1.3.1994. Rechtsgutachtliche Stellungnahme zur vorgesehenen Einführung anlaßund verdachtsunabhängiger Kontrollen von Personen und Durchsuchungen von Sachen durch den Bundesgrenzschutz (BT-Drs. 13/10790), Anhörung vom 15.6.1998, Anlage zum Protokoll des BTInnenausschusses vom 15.6.1998. Gutachtliche Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (BT-Drs. 16/813) vom 7.3.2006: Föderalismusreform, Kompetenz zur gesetzlichen Regelung des Justizvollzugs, in: Deutscher Bundestag / Bundesrat (Hrsg.), Gemeinsame öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Sten. Bericht, Anlage 2 zum Rechtsausschussprotokoll 14 (Sitzung vom 17.5.2006), 2006, S. 242 – 249.
VI. Glückwunschartikel 1.
2.
Gegen Unrecht und Unvernunft. Günter Spendel zum 70. Geburtstag, in: M. Seebode (Hrsg.), Festschrift für Günter Spendel, Berlin 1992, S. 1 – 6. Günter Spendel zum 70. Geburtstag, in: JZ 1992, S. 677 f.
VII. Herausgeber 1. 2.
Mitteilungen einer Untersuchungsgefangenen, Frankfurt/Main 1983 (mit einem Vorwort und einer Einleitung des Herausgebers). Festschrift für Günter Spendel zum 70. Geburtstag, Berlin 1992.
V. Autorenverzeichnis
NESTOR COURAKIS, Dr., Professor an der Universität Athen VOLKER ERB, Dr., Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz WALTER GROPP, Dr., Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen UWE HELLMANN, Dr., Professor an der Universität Potsdam ROLF HERRFAHRDT, Dr., Regierungsdirektor, Garbsen MINORU HONDA, Dr., Professor an der Universität Ritsumeikan, Japan MICHAEL KAHLO, Dr., Professor an der Universität Leipzig ERHARD KAUSCH, Dr., Professor an der Fachhochschule Münster i.R. DIETHELM KLESCZEWSKI, Dr., Professor an der Universität Leipzig MATTHIAS ALEXANDER KRAHL, Dr., Rechtsanwalt, Privatdozent an der Leibniz Universität Hannover KRISTIAN KÜHL, Dr. Dr., Professor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen WILFRIED KÜPER, Dr., em. Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg KLAUS LAUBENTHAL, Dr., Richter am Oberlandesgericht Bamberg, Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg KLAUS LÜDERSSEN, Dr., em. Professor an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main KAMILA MATTHIES, Dr., LL.M, Rechtsanwältin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) WOLFGANG MITSCH, Dr., Professor an der Universität Potsdam ANDREAS MOSBACHER, Dr., Vorsitzender Richter am Landgericht Berlin HARRO OTTO, Dr. Dr. h.c., em. Professor an der Universität Bayreuth
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Autorenverzeichnis
HANS-ULLRICH PAEFFGEN, Dr., Professor an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn RAINER PAULUS, Dr. iur. utr., apl. Professor an der Julius-MaximiliansUniversität Würzburg, Richter am Amtsgericht a. D. HENNING RADTKE, Dr., Professor an der Leibniz Universität Hannover UWE SCHEFFLER, Dr. Dr., Professor an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) HANS JOACHIM SCHNEIDER, Dr. Dr. h.c., Dipl.-Psych., em. Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster HENDRIK SCHNEIDER, Dr., Professor an der Universität Leipzig ANTJE SCHUMANN, Dr., Akademische Rätin an der Universität Leipzig HERIBERT SCHUMANN, Dr., M.C.L., em. Professor an der Universität Leipzig HANS-DIETER SCHWIND, Dr., Landesjustizminister a. D., em. Professor an der Ruhr-Universität Bochum; Honorarprofessor an der Universität Osnabrück GÜNTER SPENDEL, Dr., em. Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg DIONYSIOS SPINELLIS, Dr., em. Professor an der Universität Athen DETLEV STERNBERG-LIEBEN, Dr., Professor an der Technischen Universität Dresden THOMAS VORMBAUM, Dr. Dr., Professor an der Fernuniversität Hagen ULRICH WEBER, Dr., em. Professor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen WOLFGANG WOHLERS, Dr., Professor an der Universität Zürich RAINER ZACZYK, Dr., Professor an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn JAN ZOPFS, Dr., Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz