Wolfgang Koydl
Gebrauchsanweisung für Ägypten
Gewaltige Pyramiden, der Fluch der Pharaonen und der Goldschatz des Tute...
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Wolfgang Koydl
Gebrauchsanweisung für Ägypten
Gewaltige Pyramiden, der Fluch der Pharaonen und der Goldschatz des Tutench-Amun, Agatha Christie und der Tod auf dem Nil: Das ist Ägypten, wie wir es zu kennen glauben. Aber wie verhält es sich wirklich mit Ägypten? Eigentlich – das ist das Zauberwort zum Verständnis des Landes und seiner Bewohner. Eigentlich ist alles verboten, tatsächlich ist alles machbar und Ägypten vielleicht das einzige Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ob beim zähen Feilschen auf dem Basar oder auf dem Irrweg durch die kafkaeske Bürokratie, ob im Abwehrkampf gegen die mütterlichen Fütterinstinkte ägyptischer Hausfrauen oder beim Studium des ägyptischen Zauberspruchs IBM – inshallah, bukra, malesh. Diese Gebrauchsanweisung hilft, sich vor unangenehmen Überraschungen zu schützen und die angenehmen genießen zu lernen. ISBN 3-492-03316-4 Piper GmbH & Co. KG, München 1989 Umschlag: Federico Luci Mit 21 Abbildungen von Ulfert Kasten und Ekkehart Schmidt
Autor
Wolfgang Koydl, geb. 1952 in Tübingen. Nach dem Abitur Eintritt in die Deutsche Journalistenschule in München. Außenpolitischer Redakteur beim »Münchner Merkur«. Von 1976 bis 1980 politischer Redakteur beim »Los Angeles Times/Washington Post Service« und bei der BBC in London. Danach bis 1982 Ressortchef Außenpolitik der »Presse«, Wien. Seit 1983 bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Von 1984 bis 1988 dpa-Korrespondent in Kairo. Gegenwärtig dpa-Bürochef in Moskau.
Für Jihan, der es gelang, mir die Augen für dieses Land zu öffnen. Und für Emanuel Ashraf, der es vielleicht einmal besser verstehen wird, inshallah.
Inhalt
Eigentlich…................................................................................. 5 Ahlan wa sahlan oder: Willkommen im Land des Lächelns ................................... 7 Der tägliche Nahkampf oder: Verkehrsdschungel Kairo ................................................. 17 Feiertagsparadies Ägypten oder: 26 Minuten sind ein Arbeitstag......................................... 31 IBM auf ägyptisch oder: Inshallah, bukra, malesh .................................................. 46 Die Sprache der Logik und des Koran oder: Allah sprach arabisch........................................................ 57 Allahu akbar oder: Gott ist auch im Islam sehr groß....................................... 70 Auch Papierkrieg kommt von Papyrus oder: Die Heimat der Bürokratie................................................ 87 Unbekannter Urahn Ramses oder: Have you been to Upper Egypt?....................................... 99 Heißgeliebte Ausländer oder: Eine Milchkuh namens chawaga.................................... 112 Camembert unter dem Ladentisch oder: Die Freuden des Einkaufs............................................... 123 Kairo die Siegreiche oder: Die kranke »Mutter der Welt«........................................ 136 Immer nur am Nil entlang oder: Schon wieder Herodot .................................................... 151 Von Anfang bis zum Ende: Geduld, Geduld und noch mal Geduld .................................... 160
Eigentlich… müßte jedes Kapitel dieses Buches mit diesem Wörtchen beginnen. Denn in Ägypten ist alles anders, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Eigentlich ist alles verboten, selbst das, was ausdrücklich erlaubt ist. Doch tatsächlich läßt sich alles, selbst Illegales, bewerkstelligen – mit Charme, Geduld und Bakschisch. Eigentlich unterliegt alles einer an Paranoia grenzenden Geheimhaltungsmanie, dennoch bleibt in keinem anderen Land so wenig verborgen, werden selbst Staatsgeheimnisse an der Gerüchtebörse frei gehandelt. Eigentlich funktioniert nichts in Ägypten, nicht die Strom- und Wasserversorgung, nicht das Telefon, schon gar nicht der Verkehr, von der Wirtschafts- und Finanzpolitik ganz zu schweigen. In Wirklichkeit findet sich aber für jedes Problem eine gangbare und jedermann mehr oder minder zufriedenstellende Lösung – dank Findigkeit, Nachsicht und Improvisationsvermögen. Eine Gebrauchsanweisung für Ägypten kann es somit eigentlich gar nicht geben, denn von einer solchen Anleitung erwartet man im allgemeinen unzweideutige Hinweise auf die Benutzung und Handhabung einer Sache. Doch Ägypten läßt sich nicht mit einer Maschine vergleichen, an der stets ein rotes Lämpchen erglüht, sobald ein grüner Knopf gedrückt wird. In der ägyptischen Version erglimmt entweder gar nichts oder eine andere Lampe, oder es ertönt eine Klingel sofern überhaupt der Knopf vorhanden ist. Wenn nach unserem Verständnis zwei plus zwei immer vier ergeben, dann legt Ägypten eine größere intellektuelle -5-
Aufgeschlossenheit an den Tag. Je nach Stimmung, Wetter, Lage und Laune kann das Ergebnis variieren. Erwarten Sie in Ägypten nie Perfektion. Genießen Sie lieber die kleinen und – zugegeben – oft auch großen menschlichen Schwächen, die zahllosen Hintertürchen, Ausflüchte, Notlösungen. Jedermann weiß, daß nur Allah vollkommen ist. Es würde nachgerade an Blasphemie grenzen, wollte man mit ihm wetteifern. Keinem Ägypter käme es in den Sinn, sich für eine Handlung verantwortlich zu erklären. Wie sollte er auch, wenn das Leben so kompliziert, er selbst ein klitzekleines Rädchen im Getriebe der Welt ist und alles in Allahs Hand liegt. Eine anschauliche Lektion erfuhr ich einmal, als ich eine Trennwand in ein Zimmer einziehen ließ. Die Arbeiter hatten den Raum genau ausgemessen und nach diesen Maßen die Wand hergestellt, die sich schließlich als zwei Zentimeter zu breit erwies – hätten wir europäisch kurzsichtig gesagt. Der Ägypter indes erwiderte im Brustton der Überzeugung: »Ihr Zimmer ist geschrumpft.« Wenn nun ein Kenner Ägyptens nach der Lektüre dieses Büchleins empört aufschreit, eigentlich sei alles ganz anders, dann kann ich nur sagen, auch er hat recht. Ägypten steckt voller Überraschungen; Ziel dieses schmalen Bändchens soll es sein, eine Anleitung zum Verständnis zu geben. Und, Sie wissen ja: Nur Allah ist vollkommen.
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Ahlan wa sahlan oder: Willkommen im Land des Lächelns Als Operettenkenner werden Sie jetzt stutzen, denn das Land des Lächelns würden Sie vermutlich weiter östlich ansiedeln. Tatsächlich aber wird in Ägypten ebenso viel und herzlich gelächelt wie in Ostasien. Obwohl das Land seit Jahrtausenden Erfahrungen mit Touristen hat (der griechische Geschichtsschreiber Herodot besuchte als früher Individualreisender Tempel und Pyramiden) und ausländische Herrscher jahrhundertelang die Fellachen des Niltales unterdrückten, begegnet man Ausländern noch immer mit unverfälschter Neugier und Freundlichkeit. Wo Sie gehen und stehen, wird man Ihnen ahlan wa sahlan zurufen, den Willkommensgruß. Geradezu reflexartig entringt er sich jeder ägyptischen Kehle beim Anblick eines chawaga, wie die Ausländer genannt werden – und in den meisten Fällen ist er aufrichtig gemeint. Vielleicht haben Sie bei Karl May gelesen, daß sich Orientalen mit marhaba oder salaam aleikum begrüßen. Vergessen Sie es. Sie sind zwar in der arabischen Welt, aber nicht unter Arabern, sondern unter Ägyptern. Ahlan wa sahlan ist so typisch für Ägypten wie die Pyramiden, und wenn Sie ordentlich darauf antworten wollen, so sagen Sie einfach ahlan biek. Vielleicht ist Ihr Besuch in Ägypten Ihre erste Reise in den Nahen Osten, und Sie können sich eines flauen Gefühls in der Magengrube nicht erwehren. Man hört ja soviel über Terroristen und eifernde moslemische Kleriker; weiß man, ob man seines Lebens sicher ist oder ob man nicht öffentlich gezüchtigt wird, -7-
wenn man zum Abendessen ein Bier bestellt? Sie können beruhigt sein: Auf Ägyptens Straßen sind Sie selbst in finsterer Nacht sicherer als in mancher heimischen Fußgängerzone nach Ladenschluß. Und Ausländern billigt man ohnehin ein größeres Maß an Narrenfreiheit zu. Ihr Visum haben Sie sich rechtzeitig zu Hause bei einem ägyptischen Konsulat beschafft, falls nicht Ihr Reisebüro dies für Sie erledigt hat. Stolz haben Sie den ganzseitigen Stempel mit den arabischen Schriftzeichen betrachtet, der Ihnen die Einreise in die Arabische Republik Ägypten gestattet – wenn auch der Sichtvermerk ungebührlich lange auf sich warten ließ, und Ihre panischen Nachfragen beim Konsulat nur Achselzucken und verständnisloses Kopfschütteln hervorriefen: Wozu die Aufregung, Sie werden Ihr Visum schon bekommen, wenn nicht heute, dann eben morgen, und wenn nicht von der diplomatischen Vertretung, dann ganz unkompliziert bei der Einreise am Flughafen. Eile schadet nur der Gesundheit, und letztlich liegt alles in Allahs Hand. Das Visum wird nicht der einzige Eintrag in Ihrem Paß bleiben, blickt doch die Bürokratie in Ägypten auf eine vieltausendjährige Geschichte zurück. Der Paßbeamte wird, sobald er sich an seinem Computer von Ihrer Unbedenklichkeit überzeugt hat, einen Einreisevermerk hinzustempeln sowie die Ergänzung please register within seven days. Diese obligatorische polizeiliche Registrierung wird im allgemeinen von Ihrem Hotel vorgenommen. Falls Sie privat wohnen, müssen Sie selbst zur Ausländerbehörde in der Mogamma, einer kafkaesken Gralsburg der Bürokratie im Zentrum von Kairo, oder zum nächsten Polizeirevier gehen. -8-
Berührungsangst ist ein Fremdwort: Sturm auf einen Kairoer Bus
Ruhe nur aus der Vogelschau: Kairos majestätisches Nilpanorama
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Dort drückt man Ihnen dreimal dürfen Sie raten – einen weiteren Stempel in den Paß. Beliebt sind auch handschriftliche Zusätze in Ihrem Reisedokument, was Sie vermutlich aus zwei Gründen schockieren dürfte: zum einen, weil Sie die Zeichen nicht entziffern können, zum anderen, weil wir viel zu viel Respekt vor amtlichen Dokumenten haben, um darin herumzukritzeln. Doch die schwungvollen Anmerkungen entwerten weder Ihren Paß, noch ziehen sie andere unangenehme Folgen nach sich. Oft bedeuten sie sogar überhaupt nichts. Einer britischen Kollegin widerfuhr es einmal, daß ein Grenzbeamter eine ganze Paßseite über und über mit Schriftzeichen bedeckte. Unsicher, was da geschrieben stand, zeigte sie den Paß später einem befreundeten Ägypter, der indes nur verständnislos den Kopf schüttelte, denn der Text machte keinen Sinn. Des Rätsels Lösung: Der Paßbeamte war Analphabet und hatte bedeutungslose Schriftzeichen auf die Seite gemalt, weil er sich schämte, vor einer Ausländerin seine Unbildung einzugestehen. Den letzten Stempel erhalten Sie schließlich bei der Ausreise, und wenn Sie nun noch bedenken, daß das Konsulat Ihr Visum mit zwei, drei bunten Stempelmarken verziert, so können Sie ermessen, daß sich ein einziger Urlaub am Nil in Ihrem Reisedokument ausnimmt wie eine mittlere Kreuzfahrt. Bei der Ankunft wird der Paßbeamte Ihnen jene weiße Karte wieder abnehmen, die Sie im Flugzeug ausgefüllt haben und auf der Sie Angaben zur Person, die Nummer Ihres Visums sowie Ihre Adresse in Ägypten eintragen müssen. Sollten Sie noch nicht wissen, wo Sie absteigen werden, lassen Sie das entsprechende Feld nicht leer, sondern tragen Sie den Namen -10-
irgendeines Hotels ein. Hilton oder Sheraton machen sich immer gut. Sie ersparen sich langwierige Fragen. Ihre wirkliche Adresse erfährt die Bürokratie spätestens bei der polizeilichen Registrierung, und ein leeres Feld auf der Karte würde die Dienstauffassung des Beamten verletzen, die Vollständigkeit verlangt. Also, tun Sie ihm den Gefallen. Kleine Mogeleien gehören zum Alltag, ohne sie könnte man kaum überleben. Fragen Sie auch nicht, wozu die Einreisekarten im Zeitalter der Computerisierung dienen. Abermillionen müssen mittlerweile in den Archiven der Staatssicherheit als Futter für Ratten und Mäuse lagern. In Ägypten fragt man nicht nach den Motiven und Absichten der allmächtigen Bürokratie, man erduldet sie still – und beschummelt sie. Da der umständliche Pflichtumtausch inzwischen abgeschafft wurde, bleibt Ihnen nur noch der Weg durch die Zollkontrolle. Im allgemeinen werden Sie als ausländischer Gast kaum überprüft. Dennoch sollten Sie die Bestimmungen beachten. Strikt verboten ist die Einfuhr ägyptischer Währung, die Sie daheim unwesentlich billiger erhalten. An Devisen, also harten D-Mark, Schweizer Franken oder US-Dollar, dürfen Sie jedoch soviel mitnehmen, wie Sie wollen. Größere Summen sollten Sie bei der Einreise in den Paß eintragen lassen. Es könnte nämlich bei der Ausreise Probleme geben, wenn Ihre Brieftasche kontrolliert und darin ein großer Batzen Bargeld gefunden wird. Der Zollbeamte würde bezweifeln, daß jemand mit derart viel Geld reist, und Ihnen unterstellen, daß Sie dem devisenhungrigen, verschuldeten Land wertvolle Valuta entziehen wollen. Ein heißes Eisen ist Video. Kameras und Recorder werden im Paß eingetragen, damit Sie sie nicht im Lande gegen -11-
Aufpreis verhökern und der ägyptische Fiskus das Nachsehen hat. Bespielte Kassetten müssen Sie beim Zoll zurücklassen, wo sie auf ihre sittliche Unbedenklichkeit hin überprüft und irgendwann – inshallah –, zumindest in der Theorie, an Sie zurückgegeben werden. Verboten ist ferner die Einfuhr »pornographischer Literatur«, denn Ägypten ist ein islamisches Land, das streng auf die Einhaltung von Sitte, Anstand und Moral achtet. Unter Pornographie kann schon eine Illustrierte mit einem Bikinimädchen auf dem Titelblatt fallen. Noch eine eindringliche Warnung: Finger weg von Rauschgift. Auch wenn das Bröckchen Haschisch in der Wasserpfeife bei den Fellachen zum festen Feierabendritual gehört, bei Fremden werden angesichts der wachsenden Bedeutung Ägyptens als internationale Drehscheibe des Drogenschmuggels andere Maßstäbe angelegt. Bereits für bloßen Rauschgiftbesitz sind die Strafen sehr hart, meist drohen langjährige Zwangsarbeit oder der Tod. Wer einmal ein ägyptisches Gefängnis von innen gesehen hat, wird sich im Zweifelsfall lieber für den Strang entscheiden. Haben Sie die Zollkontrolle hinter sich und die Empfangshalle des Flughafens betreten, so werden Sie bei dem Anblick, der sich Ihnen bietet, zunächst an Flucht, genauer: sofortigen Rückflug denken. Sie stehen vor einer dichten, undurchdringlichen Woge schreiender, gestikulierender, drückender, schiebender und stoßender Menschen. Was Sie vermutlich für den Beginn eines Volksaufstandes halten, ist indes nur das freudig bewegte Empfangskomitee für heimkehrende Ägypter. Vom Großvater bis zum Kleinkind erwarten ganze Familienclans, die zum Teil von weither -12-
angereist sind, Vater Ali, Bruder Mahmud oder Tante Mona, die – bepackt wie ein Speditionsunternehmen – aus dem Ausland zurückkehren. Beeindruckend sind die mitgeführten gigantischen Gepäckstücke. Es gibt Koffer, die offenbar eigens für den nahöstlichen Markt hergestellt werden, in denen ein kompletter Junggesellenhausstand bequem Platz fände – den Junggesellen eingeschlossen. Vielleicht werden auch Sie erwartet, hat Ihnen Ihr ägyptischer Geschäftspartner einen Fahrer geschickt, der ein Pappschild mit Ihrem Namen an die Brust drückt oder – was seltener ist, weil es ermüdet – in die Höhe reckt. Jetzt müssen Sie zum ersten Mal Ihre Phantasie unter Beweis stellen. Denn bei der Ansammlung von Konsonanten mit locker dazwischengestreuten Vokalen, die Ihnen vage vertraut erscheint, kann es sich tatsächlich um Ihren Namen handeln. Da die arabische Sprache weitgehend ohne Vokale auskommt, birgt die Umschreibung europäischer Namen nach Gehör zuerst ins Arabische und dann wieder zurück in die lateinische Schrift gewisse Probleme. Je nach Einfallsreichtum des ägyptischen Fahrers kann deshalb aus einem Herrn Wagner ein Wuajnr, Vignar oder gar Fegner werden. Angesichts dieser Schwierigkeit sind die Ägypter auf eine bestechend einfache Lösung verfallen: Aus Hans Wagner wird schlicht ein Mister Hans, und er wird es für den Rest seines Aufenthaltes bleiben. Für Ägypter ist dies nichts Ungewöhnliches, da sie selbst Familiennamen, wie wir sie verstehen, kaum kennen. Im Normalfall setzt sich ein ägyptischer Name aus drei Vornamen zusammen. Ein Ali Mohammed Mahmud ist somit nichts anderes als Ali, Sohn des Mohammed und Enkel des -13-
Mahmud. Angesprochen wird er stets mit dem ersten Namen, und sollte er es zu Ehren oder einer hohen Position bringen, so wird dem Ali ein »Pascha« oder ein »Bey« zugefügt, einer jener alten osmanischen Ehrentitel, die in der Türkei längst abgeschafft wurden, in Ägypten jedoch fröhliche Urständ feiern. Also, Mister Hans oder Mistress Helga, betrachten Sie es nicht als plumpe Vertraulichkeit, wenn man Sie schlankweg beim Vornamen anspricht. Und wenn Sie niemanden in Ägypten kennen und niemand auf Sie wartet, verloren sind Sie gleichwohl nicht. Jeder Ägypter hält es für seine nationale Pflicht, einen Ausländer ungefragt und zuweilen auch aufdringlich unter die Fittiche zu nehmen, und sei es nur mit dem Hintergedanken, dabei ein wenig Geld zu machen. Dank eines dehnbaren Zeitverständnisses der Einheimnischen und ihrer manchmal irritierend ungenauen Angaben kann diese Hilfsbereitschaft den Besucher allerdings oft Nerven kosten. Während Sie noch hilflos in der von Menschen wimmelnden Empfangshalle stehen und wie ein Schießhund auf Ihr Gepäck aufpassen, werden quasi aus dem Nichts Gestalten auftauchen, die sich erbötig zeigen, Ihre Koffer zu schleppen, ein Taxi zu besorgen oder ein Hotelzimmer zu buchen – gegen eine geringe Aufwandsentschädigung, versteht sich. Die Mehrzahl dieser hilfreichen, doch unrasierten Geister in abgetragenen Nylonhosen und mit martialischen Schnauzbärten wird Ihnen undurchsichtig und wenig vertrauenswürdig vorkommen. Sie können sich ihnen jedoch getrost anvertrauen. Trotz der eklatanten Einkommensunterschiede und der für unsere Begriffe elenden Lebensumstände vieler Ägypter sind -14-
Sie am Nil vor Raub und Diebstahl verhältnismäßig sicher. Natürlich werden der Kofferträger, der Taxifahrer oder der Basarhändler versuchen, Sie auf mehr oder minder charmante Art übers Ohr zu hauen, doch das gilt als legitimer, fairer Wettbewerb im Rahmen der Vermögensumverteilung vom reichen Norden in den armen Süden. Zügeln Sie ihren Pulsschlag, wenn der Kofferträger wieselflink mit Ihren Taschen im Getümmel untertaucht. Er wird Sie bestimmt nicht aus den Augen verlieren, schließlich bedeuten Sie für ihn eine wertvolle Investition. Bestehen Sie aber darauf, daß er Sie zu einer Misr-Limousine führt, und steigen Sie keinesfalls in eines der meist baufälligen, schwarzweißen Taxis, das im Zweifelsfall einem seiner Neffen oder Vettern gehört. Der Limousinendienst ist staatlich, hat feste Preise und ist sogar billiger als die Privatdroschken. Haben Sie ein Zimmer in einem der größeren und bekannten Hotels gebucht, wird die Fahrt zur Unterkunft problemlos verlaufen – sieht man einmal von haarsträubenden Verkehrssituationen ab, über die noch ausführlich die Rede sein wird. Sollten Sie jedoch privat oder in einer Pension absteigen, dann müssen Sie Ihrem Fahrer bei der Spurensuche schon behilflich sein. Auch darüber später mehr. Im Hotel können Sie erste Erfahrungen nutzbringend verwerten. Ohne Frage, Sie werden mit ahlan wa sahlan, Welcome to Egypt begrüßt, und souverän erwidern Sie ahlan biek. Man findet die Reservierung nicht für Herrn Wagner? Für Sie kein Problem. Wie erwartet ist die Buchung perfekt, nur eben unter dem Buchstaben »H«, wo Mister Hans registriert ist. Bevor Sie sich endlich auf Ihr Zimmer zurückziehen können, -15-
noch ein wichtiger Tip: Teilen Sie Ihren Freunden und Bekannten im Lande Ihre Zimmernummer mit. Denn mit Ihrem für ägyptische Zungen unaussprechlichen Nachnamen kann die Telefonvermittlung im Hotel nichts anfangen. Und es soll vorgekommen sein, daß mehr als ein Mister Hans zur selben Zeit und im selben Hotel abgestiegen ist.
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Der tägliche Nahkampf oder: Verkehrsdschungel Kairo Im Grunde unterscheidet sich der Verkehrsfluß in Ägypten nicht von dem, was Sie von zu Hause gewöhnt sind: Man fährt grundsätzlich auf der rechten Straßenseite, Verkehrszeichen entsprechen internationalem Standard, manchmal schmücken sogar Ampeln den Straßenrand, und auch in Ägypten hat nach den Buchstaben des Gesetzes die Vorfahrt, wer von rechts kommt. Doch daß dies graue Theorie ist, haben Sie vermutlich schon auf der Taxifahrt vom Kairoer Flughafen ins Hotel bemerkt, als Ihnen öfter schwarz vor den Augen wurde angesichts der – milde gesagt – unorthodoxen Fahrweise sowohl Ihres Fahrers als auch der anderer Verkehrsteilnehmer. Von einer Straßenverkehrsordnung haben Sie nichts wahrgenommen, als Ihr Taxi mit 80 Stundenkilometern durch dichten Innenstadtverkehr brauste (Radarkontrollen gibt es nur auf Überlandstrecken), je nach Gusto mal rechts, mal links überholte und um Haaresbreite an einem von rechts herandonnernden überfüllten Stadtbus vorbeischrammte. Denn wer sich im Straßenverkehr in Ägypten im allgemeinen und in Kairo im besonderen auf Regeln verlassen wollte, der kommt keine zehn Meter weit von der Stelle. Grundsätzlich gilt: Vertrauen Sie nichts und niemandem außer Ihren eigenen Augen und Ihrem Reaktionsvermögen. Gefahren wird nicht nach Vorschrift, sondern nach Möglichkeiten – und die hängen von höchst unwägbaren Faktoren ab: Zustand des Fahrzeuges und des Fahrers, Beschaffenheit der Straße, Mut, Witz, Instinkt, Frechheit und blindem Gottvertrauen. -17-
Wundern Sie sich nicht, wenn Ihnen auf einer dichtbefahrenen fünfspurigen Schnellstraße auf der Mittelspur langsam schwankend ein Radfahrer entgegenkommt, der auf dem Kopf einen überdimensionalen Korb mit frisch gebackenem Fladenbrot balanciert. Auch Eselskarren, die nachts unvermutet – weil unbeleuchtet – vor Ihnen auftauchen, sind eine echte Herausforderung an Ihre Reaktionsgabe. Auf Ägyptens Straßen herrscht eine an Anarchie grenzende Demokratie: Jeder hat das Recht, am Straßenverkehr teilzunehmen, allerdings auf eigenes Risiko. Halten Sie den Blick stets unverwandt nach vorne gerichtet und rechnen Sie immer mit dem Schlimmsten. Niemand kann Ihnen garantieren, daß die Straße nicht plötzlich in einem – natürlich durch keinen Warnhinweis gekennzeichneten – Loch endet. Und wer sagt Ihnen denn, daß der Tanklaster vor Ihnen nicht, einer plötzlichen Eingebung folgend, abrupt ausschert. Kümmern Sie sich nicht um hinter Ihnen fahrende Wagen, vorn spielt die Musik. Deshalb verzichten die meisten Verkehrsteilnehmer auf so überflüssiges Zubehör wie Rückspiegel, innen wie außen. Mißtrauen ist auch bei Einbahnstraßen angebracht, die vermutlich nur deshalb eingeführt wurden, weil man beim Großeinkauf von Verkehrszeichen die entsprechenden Schilder als Draufgabe erhielt. Selbstverständlich wird eine Einbahnstraße in beiden Richtungen befahren, selbst wenn sie gerade breit genug für ein Fahrzeug ist, alles andere wäre eine unverantwortliche Vergeudung knappen Raumes. Ähnlich locker hält man es mit Einfädelspuren für Schnellstraßen. Malesh, »macht nichts«, wird Ihnen der Fahrer des -18-
klapprigen Taxis entwaffnend zulächeln, wenn er im Rückwärtsgang versucht, dem nachdrängenden Verkehr zum Trotz wieder die ursprüngliche Abzweigung zu erreichen. Er hat sich eben verfahren, und das, bitte schön, kann doch jedem einmal passieren. Lieblingsbeschäftigung ägyptischer Autofahrer ist der Reifenwechsel. Schlaglöcher, weit aus dem Asphalt herausragende Gullideckel mit scharfen Kanten und die profillose Bereifung vieler Fahrzeuge ergeben im engen Zusammenspiel den gewünschten Effekt. Der Staat trägt dieser nationalen Leidenschaft Rechnung, indem er einen Wagenheber für jedes Auto zwingend vorschreibt. Er ist allerdings das einzige obligatorische Zubehör. Es gehört indes zu den Mysterien Ägyptens, daß Reifen unausweichlich nur an unübersichtlichen Kurven, an Engpässen, jedenfalls allemal dort gewechselt werden, wo dieser Vorgang den abträglichsten Effekt auf den Verkehrsfluß ausübt. Die Reparatur wird an Ort und Stelle vorgenommen, denn niemand würde sein Auto auch nur einen Meter weit an den Straßenrand schieben. So werden mit liegengebliebenem Fahrzeug, sorgfältig bereitgelegtem Reserverad und interessierten Schaulustigen zwei bis drei Fahrspuren komplett blockiert. In neun von zehn Fällen ist auf die Geduld der anderen Verkehrsteilnehmer Verlaß. Wer weiß, Allah kann doch jeden jederzeit mit einer Panne schlagen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist angesichts des technischen Zustandes der meisten Fahrzeuge recht groß. Im Grunde genommen fehlt ihnen alles, was in Europa zur Grundausstattung gehört. Außer auf den Rückspiegel läßt sich in einem Land mit wenigen Millimetern Niederschlag im Jahr auch -19-
trefflich auf Scheibenwischer verzichten. Wenn es dann im Winter doch einmal regnet, so kann man an jeder Ampel das Schauspiel beobachten, wie aus Dutzenden von Autos synchron die Fahrer herausspringen und den Naturgewalten trotzend mit einem Lappen die Windschutzscheibe notdürftig von dem klebrigen Gemisch aus Regenwasser und Staub säubern. (Sollten Sie übrigens einmal selbst nach längeren Regenfällen durch Kairo fahren müssen, dann folgen Sie lieber dem Vorbild der anderen Verkehrsteilnehmer und machen um jede Pfütze einen großen Bogen. Denn Sie wissen ja nicht, was sich unter der Wasseroberfläche verbirgt. Das kann von unter Strom stehenden Hochspannungskabeln bis zum mannstiefen Graben alles sein). Blinkleuchten, Bremslichter und Scheinwerfer, die bei Karambolagen als erstes in Mitleidenschaft gezogen werden, ersetzt man besser gar nicht. Ein ägyptischer Autofahrer wird ohnehin erst in schwärzester Nacht die Beleuchtung anknipsen – die Parkleuchten. Die Dicke der Bremsbeläge ist umgekehrt proportional zur Stärke des Gottvertrauens, in demütiger Bescheidenheit wird es ertragen, wenn nur noch der dritte und vierte Gang im Getriebe greifen, und der Auspuff wird – so vorhanden – immer aufs neue liebevoll mit einem Stück Draht oder Schnur am Chassis festgezurrt, bis er eines Tages scheppernd endgültig verlorengeht.
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Zeitlose Gesichter in einem zeitlosen Land – Fellachen
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Ist eine Reparatur dennoch unvermeidlich, so wird sie weniger mit Sachverstand, als vielmehr mit gutem Willen, Phantasie und Einfühlungsvermögen ausgeführt. Wo Ersatzteile teuer und schwer erhältlich sind, da greift man eben auf unkonventionelle Methoden zurück, um den rollenden Untersatz wieder flottzumachen. Es erübrigt sich zu sagen, daß es keinen technischen Überwachungsverein gibt. Die alle zwei Jahre vorgeschriebene technische Überprüfung des Fahrzeugs erschöpft sich in der Kontrolle von Motor- und Fahrgestellnummer. Wie unwichtig all jener Firlefanz sein mag, auf den wir kurzsichtigen Europäer gesteigerten Wert legen, so unverzichtbar ist die Hupe. Ohne Hupe ist man im ägyptischen Straßenverkehr so fehl am Platz wie ein Taubstummer in einem Gesangverein. Gehupt wird, um dem Vordermann einen Überholvorgang, sei es auf der linken oder der rechten Seite, anzuzeigen, gehupt wird, um Fußgänger, die sich mit der traumwandlerischen Trance japanischer Kamikazepiloten durch den Verkehr bewegen, auf drohende Gefahren hinzuweisen und zu rekordverdächtigen Sprüngen zu animieren, gehupt wird, um den im fünften Stock wohnenden Freund daran zu erinnern, daß der Wagen vor der Haustür wartet, gehupt wird schließlich aus Freude am Geräusch und gar manisch zwanghaft – manche Fahrer hupen rhythmisch alle 30 Sekunden, ohne jeden Grund. So erwarb sich Kairo den Ruf der lautesten Hauptstadt der Welt: 90 Dezibel erreicht der Verkehrslärm in Stoßzeiten, und das sind 18 von 24 Stunden am Tag. Verständlich, daß dieser Teil des Fahrzeugs liebevoll gepflegt und verfeinert wird. Vom symphonischen Dreiklang bis zum -22-
melodischen Nebelhorn reicht das Angebot von Hupen, das Zubehörhändler führen. Getreu dem Motto, daß gut ist, was Krach macht, sind Ägypter noch in andere akustische Spielereien vernarrt. Geräuschvoll geht es zu, wenn der Rückwärtsgang eingelegt wird. Dann ertönt als Glockenspiel »Üb immer Treu und Redlichkeit«, ein kleines Zusatzteil macht's möglich. Daß Singvögel in Kairo praktisch ausgestorben sind, muß nicht weiter schmerzen. Wer wollte, konnte sich bis vor kurzem einen Mechanismus ins Auto einbauen lassen, der bei jedem Bremsen fröhliches Gezwitscher von sich gab. Als geplagte Fußgänger bei jedem Piepsen schreckhaft in die Höhe sprangen, verbot die Regierung dieses hübsche Spielzeug. Der ägyptische Autofahrer hat jedoch einen eigenständigen Beitrag zur Verkehrssicherheit entwickelt: Das Handsignal, also der unablässig bei Wind und Wetter aus dem linken Fenster ragende Fahrerarm. Quasi mit links und einer bis zur Perfektion verfeinerten Gestik bewegt sich Bürger Mohammed sicher durch die Hölle des Verkehrs. Eine der ersten Lektionen, die jeder Verkehrsteilnehmer in Ägypten lernt, lautet: »Traue nie Blinksignalen, sondern lege dein Schicksal in die Hand deines Vordermanns – sowie seines Armes und seiner Finger.« Wer diesen Ratschlag beherzigt, fährt gut. Hat der Vordermann die Kuppen von Daumen, Zeige- und Mittelfinger geschlossen und bewegt die Hand rhythmisch auf und ab, so signalisiert er dem hinter ihm rollenden Verkehr nichts anderes als »Immer mit der Ruhe«. Entdeckt er ein Hindernis, so gerät der bislang in absolut entspannter Ruhestellung senkrecht an der Wagentür schlaff herabhängende Arm unvermittelt wieder in -23-
Bewegung. Die Handfläche parallel zur Straße ausgestreckt, vollführt der Fahrer Bewegungen, als ob er wie ein Handballspieler einen Ball auf dem Spielfeld tanzen ließe. Die Botschaft sollte in neun von zehn Fällen beherzigt werden: »Langsam fahren, ich sehe etwas, das mir gar nicht gefällt.« Selten empfiehlt es sich, dem gelangweilten Winksignal zu folgen, das ausdrückt, daß einem Überholvorgang nichts im Wege steht. Wird diese freundliche Aufforderung doch selbst dann gegeben, wenn auf der Gegenfahrbahn ein Tanklastzug heranrast. Nicht etwa aus böser Absicht, sondern aus mitfühlender Freundlichkeit gegenüber dem ungeduldigen Hintermann, der es offensichtlich eilig hat. Sollte trotz aller beredten Gestik der Verkehr zum Erliegen kommen, so greift der ägyptische Autofahrer zu einer tiefgläubigen Bewegung. Beide Arme mit den Handflächen nach oben gestreckt, deutet er an: »Was soll ich machen? Gott ist groß und gerecht, doch diesmal hat er uns alle im Stich gelassen.« Ein Kairoer Stau scheint auf den ersten Blick wirklich nur durch Intervention des Allmächtigen auflösbar, so ineinander verkeilt schieben sich die Blechschlangen millimeterweise voran. Ägyptische Findigkeit indes hilft auch hier. Da Autofahrer weder Berührungsängste noch Furcht vor Kratzern und kleinen Beulen am Wagen kennen, wird jeder noch so kleine Raum zum Vorankommen genutzt. Ein amerikanisches Expertenteam beging deshalb in einer Studie über den Kairoer Verkehr einen folgenschweren Fehler. Die Fachleute hatten schlicht die Quadratkilometerzahl der -24-
Gesamtstraßenfläche Kairos genommen und durch die Zahl der schätzungsweise 150.000 Fahrzeuge dividiert, die sich pro Stunde durch die Stadt quälen. Ergebnis: Der Verkehr müßte doppelstöckig abrollen, da es nicht genug Platz für alle Autos, Eselskarren, Motorräder und Omnibusse gibt. Die Amerikaner hatten allerdings – aus für Ägypter unerfindlichen Gründen – eine zweispurige Straße als Straße mit zwei Spuren berechnet. Dabei weiß doch jedes Kind, daß diese Straße hauteng bis zu vierspurig befahren wird, zur Not auch unter Einbeziehung des Bürgersteigs. Wahrscheinlich wird Ihnen angesichts dieser Schilderungen seit geraumer Zeit die Frage auf der Zunge liegen: »Ja, gibt es denn keine Polizei in diesem Land?« Doch, doch, die gibt es, sogar in großer Zahl. Sie werden sich vermutlich wundern, wie viele Uniformierte Sie auf der Straße sehen. Meist sind es junge Männer im wehrpflichtigen Alter, die – mangels intellektueller Mindestvoraussetzungen – von der Armee abgewiesen wurden und einen Ersatzdienst bei der Polizei absolvieren. Die Polizisten, schlecht bezahlt, oft Analphabeten, haben es längst aufgegeben, das Verkehrschaos zu bändigen, und dies, obwohl sie amtlich den stolzen Namen askari elmurur tragen – »Soldaten des Verkehrs«. Die Berufsoffiziere der Polizei sind ohnehin mit der Bekämpfung von Regierungsgegnern ausgelastet und somit keine große Hilfe bei der Verkehrsregelung. Die Polizisten beschränken sich darauf, so gut es eben geht, den totalen Kollaps zu verhindern – mit einer Mischung aus Selbstaufopferung und Apathie und auf Kosten der eigenen Gesundheit. -25-
Kairos Fahrzeuge produzieren im Jahr rund zweihundert Tonnen Blei, und im Blut der Verkehrspolizisten fand man bei einer Reihenuntersuchung bis zu fünfzig Mikrogramm des Schwermetalls auf hundert Kubikzentimeter. Die Schupos in ihren ausgebeulten Uniformen und viel zu großen Stiefeln, die bis zu acht Stunden am Tag in dichten Abgaswolken Dienst tun, klagen über chronischen Husten, entzündete Nasen- und Augenschleimhäute. Jeder dritte hat Herzrhythmusstörungen und Arteriosklerose. Selbst bleifreies Benzin würde nur einen Teil des Problems lösen, da die Verkehrspolizisten überdies ungewöhnlich viel Kohlenmonoxid absorbieren. Ein Tag in Kairos Luft, so fand man vor einiger Zeit heraus, entspricht dem Konsum von vierzig Zigaretten. Den Polizisten ist es gleich: Die meisten regeln mit einer Zigarette im Mundwinkel den Verkehr. Derart geschwächt, stellen sie kaum eine Bedrohung für Verkehrssünder dar. Natürlich verteilen sie auch Strafmandate, etwa für Falschparker. Diese werden jedoch nur deshalb als Ärgernis empfunden, weil sie mit schier unlösbarem Kleister direkt auf die Windschutzscheibe geklebt werden. Mit der Bezahlung kann man sich Zeit lassen. Einmal im Jahr, wenn die Zulassung verlängert werden muß, wird die Rechnung für die in den verflossenen zwölf Monaten angesammelten Mandate mit präsentiert. Da jedoch das Chaos sich keineswegs auf die Straßen beschränkt, sondern auch in die Verwaltung Einzug gehalten hat, entpuppt sich die große Abrechnung als reines Glücksspiel. Es gibt Fälle, in denen ein Wagen nachweislich ein ganzes Jahr lang aufgebockt in einer Garage stand, dem Besitzer gleichwohl nachgewiesen wird, daß er – man stelle sich vor – -26-
gehupt, eine rote Ampel übersehen und mehrfach falsch geparkt hat. Andererseits können hartnäckige Verkehrssünder frei ausgehen. Kenner des Systems behaupten, daß die Polizei im Rahmen des Wirtschaftsplanes eine Zielvorgabe von soundso viel Pfund an Einnahmen aus Strafzetteln zu erfüllen hat und diese nach Gutdünken so gerecht wie möglich auf alle Verkehrsteilnehmer zu verteilen suche. Daß Fußgänger im Hexenkessel des Kairoer Verkehrs in die Nähe einer vom Aussterben bedrohten Gattung geraten, werden Sie wohl schon vermutet haben. Ägyptische Passanten legen daher ihr Schicksal in Allahs Hand und bewegen sich mit grenzenloser Apathie über die Straßen. Als rationalistischer Mitteleuropäer sind Sie im Nachteil, weil Sie vermutlich nicht mit demselben blinden Gottvertrauen gesegnet sind. Um es kurz zu machen: Weder Kairo noch Alexandria laden zum Bummeln, zum Flanieren ein. Ein Spaziergang ist harte Arbeit. Am besten, Sie halten den Blick stets fest auf die Straßenoberfläche gesenkt und werfen nur ab und zu einen kurzen Kontrollblick nach vorne, damit Sie nicht mit zu vielen anderen Passanten kollidieren. Die Gefahren lauern zu Ihren Füßen: mannstiefe Löcher, offene Gullis, übelriechende Abwasserlachen, Fußangeln in Gestalt loser Kabelenden und Berge achtlos aufgetürmten Bauschutts verbinden sich zu einem Hindernisparcours, der dem Überlebenstraining von Antiterroreinheiten zur Ehre gereichen würde. Vollends zur Mutprobe wird die Überquerung einer Straße, denn Autofahrer gehen grundsätzlich davon aus, daß Fußgänger an ihrem Schicksal selbst schuld sind, weil einzig sie für sich die Verantwortung tragen. Es sind Fälle bekannt, da entnervte -27-
Ausländer ein Taxi nahmen, um von einer Seite des als »Selbstmörderplatz« verschrienen Tahrir-Platzes im Herzen von Kairo auf die sechzig Meter entfernte andere Seite zu gelangen. Ein Taxi holen Sie sich am Straßenrand. Taxistände gibt es nur bei den großen Hotels, doch dort werden Sie doppelt und dreifach zur Ader gelassen. Sollten Sie einen Wagen für einen ganzen Tag mieten wollen, dann empfehlen sich diese Limousinen. Denn die klapprigen, schwarzweißen Sammeltaxis werden Sie selten für sich alleine haben. Der Fahrer liest unterwegs laufend neue Passagiere auf, die in die gleiche Richtung wollen. Darum erschrecken Sie nicht, wenn immer wieder wildfremde Menschen auf Ihr Taxi zuspringen und Ihnen etwas ins Ohr brüllen. Es ist das gewünschte Fahrziel. Im allgemeinen sind alle Droschken mit Taxametern ausgerüstet. Meist handelt es sich um imposante, aus schwerem Messing gegossene Apparaturen, die irgendwie nachträglich neben dem Armaturenbrett befestigt wurden und nun eine ständige Bedrohung für die Kniescheiben des Beifahrers darstellen. Dies scheint ihre einzige Existenzberechtigung zu sein, denn eingeschaltet werden sie selten. Den Fahrpreis sollten Sie deshalb vorab aushandeln. Die vom Taxameter angezeigte Summe ist zwar staatlich festgesetzt, aber so lächerlich niedrig, daß der Fahrer davon nicht leben könnte. Auch Ägypter zahlen im allgemeinen mehr. Von Ihnen als reichem Ausländer erwartet man, daß Sie für das Privileg, mit traumtänzerischer Sicherheit in einem automobilen Wrack durch Kairo kutschiert zu werden, noch etwas drauflegen. Als Faustregel gilt mittlerweile, daß Ihnen kürzere Strecken in der Innenstadt etwa ein Pfund wert sein -28-
sollten. Falls Sie sich von einem Taxifahrer betrogen oder beschimpft fühlen, wenden sie sich an die Touristenpolizei, die in jedem Hotel repräsentiert ist. Verlassen Sie sich indes nicht allzusehr auf die Ortskenntnis Ihres Fahrers. Er wird sich zwar in groben Zügen in der 15Millionen-Metropole auskennen, kleinere Straßen und Plätze werden ihm hingegen ebenso fremd sein wie Ihnen. Für Kairo, das sich in den letzten Jahren unkontrolliert wie ein Krebsgeschwür in alle Himmelsrichtungen ausgedehnt hat, gibt es nicht einmal einen Stadtplan. Die Exemplare, die Sie daheim kaufen können, zeigen Ihnen vielleicht Teile der Innenstadt, doch bereits der Weg zu den Pyramiden von Gizeh ist buchstäblich ein weißes Feld. Passanten nach dem Weg zu fragen, eröffnet Ihnen zwar erneut tiefe Einblicke in die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Einheimischen, hilft Ihnen aber keinen Deut bei der Spurensuche. Jeder Ägypter wird es als Zeichen von Schwäche empfinden, müßte er zugeben, daß er etwas nicht weiß. Über den Daumen gepeilt können Sie davon ausgehen, daß Sie so viele Richtungen zur Auswahl erhalten, wie Sie Leute gefragt haben, die richtige muß nicht unbedingt dabei sein. Wenn Sie in Kairo oder Alexandria in eine Privatwohnung eingeladen sind, so werden Sie von Ihren Gastgebern einen kleinen, fotokopierten Übersichtsplan des betreffenden Viertels erhalten, auf dem die Wohnung mit einem dicken Pfeil gekennzeichnet ist. Machen Sie nun nicht den Fehler, die Karte einem Passanten oder dem Taxifahrer zu zeigen. Aus Gründen, die noch nicht näher erforscht wurden, sind die ausgezeichneten kartographischen Kenntnisse der frühen Araber ihren -29-
Nachkommen restlos abhanden gekommen. Ihre Karte sagt dem Durchschnittsägypter soviel wie ein Schnittmusterbogen. Es ist besser, den Ausflug generalstabsmäßig zu planen, mit ausführlichen Instruktionen von Ihren Gastgebern, die Ihnen Hinweise auf markante Gebäude in der Umgebung – eine Tankstelle, eine Apotheke, eine Moschee – geben werden. Lotsen Sie also mit diesem Wissen den Fahrer geduldig in die richtige Richtung. Sie werden reich belohnt durch sein breites Lächeln, das den Stolz darüber ausdrückt, wie zielsicher er Sie in dieses unbekannte Viertel gebracht hat. Ein gutes Trinkgeld wäre jedenfalls angemessen.
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Feiertagsparadies Ägypten oder: 26 Minuten sind ein Arbeitstag Wie unwahrscheinlich Ihnen manches in Ägypten vorkommen mag, so groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß Sie während Ihres Aufenthalts – und sei er noch so kurz – einen religiösen, staatlichen oder inoffiziellen Feiertag miterleben. Obwohl der Islam seine Anhänger nicht gerade mit Festen überhäuft, dürfte es kaum ein zweites Land auf der Welt geben, das derart viele Feiertage aufweisen kann wie Ägypten. Not macht eben erfinderisch, und so kommt es, daß kein Monat ins Land geht, ohne daß nicht mindestens zwei Tage im Kalender rot eingetragen sind. Das beginnt mit dem Wochenende, das eigentlich nur aus einem Tag, dem Freitag, besteht, den der Prophet Mohammed zum wöchentlichen Ruhetag erklärt hat. Dennoch können Sie freitags überall einkaufen gehen. Sie befinden sich sogar in unverfänglicher Gesellschaft der Einheimischen, die während der Arbeitswoche keine Zeit dafür finden. Zwar sind an diesem Tag alle öffentlichen Dienststellen, Banken und Firmen geschlossen, die Händler hingegen machen die besten Umsätze. Geplagte Verkäufer können sich sonntags ausruhen, wenn anderswo wieder gearbeitet wird. Bei zwei quasi freien Tagen in der Woche wird sich Ihnen angesichts des dazwischenliegenden Sonnabends eine naheliegende Vermutung aufdrängen. Sie sind auf dem besten Weg, die wundersame Feiertagsvermehrung der Ägypter zu begreifen. Denn in vielen Fällen wird der Samstag klammheimlich für die Freizeit mit vereinnahmt. Obwohl den -31-
Ägyptern theoretisch mithin nur ein freier Tag pro Woche zusteht, sind sie bereits bei einem dreitägigen Weekend angelangt. Dieser anscheinend leichtfertige Umgang mit der Arbeitszeit läßt sich noch weitertreiben. Um die horrenden Verkehrsprobleme Kairos in den Griff zu kriegen, verordnete die Regierung vor einiger Zeit den ungläubig staunenden Staatsbediensteten (immerhin mehr als 13 Millionen von insgesamt 30 Millionen Berufstätigen) zwei freie Tage in der Woche. Die Beamten konnten es sich aussuchen, ob sie schon am Donnerstag zu Hause bleiben oder den Samstag anhängen wollten. Es ist natürlich nur ein Gerücht, daß auf diese Weise über Nacht ein drei- bis viertägiges Wochenende staatlich sanktioniert wurde. Unerklärlich bleibt indes, weshalb es gerade an diesen vier Tagen so schwierig ist, einen ägyptischen Staatsdiener an seinem Arbeitsplatz anzutreffen. Dasselbe Vermehrungsprinzip gilt für hohe religiöse und staatliche Feiertage. Christliche Feste wie Weihnachten, Ostern oder Pfingsten, ja nicht einmal das christliche Neujahr tauchen im Kalender des moslemischen Ägypten auf. Ganze vier hohe religiöse Feste im Jahr gönnt der Islam seinen Gläubigen: den sogenannten kleinen Bairam zum Ende des Fastenmonats Ramadan, das Opferfest, das islamische Neujahr und den Geburtstag des Propheten. Mit gesundem Pragmatismus wurden diese Feste bereits vom Religionsstifter zu Blöcken von drei, vier freien Tagen zusammengelegt. Es erübrigt sich zu sagen, daß die Ägypter diesem Pragmatismus nacheifern und in der Nähe des jeweiligen Festtages liegende Wochenenden kurzerhand in die Feiern integrieren. -32-
Besonders virtuos geht man am Nil mit einem stattlichen Repertoire staatlicher Feiertage um, einem veritablen Kaleidoskop der jüngeren arabischen Geschichte. Der Reigen beginnt am 22. Februar, an dem die längst beendete Vereinigung Ägyptens mit Syrien begangen wird. Am 25. April wird der Befreiung der Sinai-Halbinsel im Oktoberkrieg 1973 gedacht. Die Arbeiterklasse kommt am 1. Mai zu ihrem Recht. Der 18. Juni ist dem Andenken an den Abzug der letzten britischen Truppen gewidmet, der 23. Juli der Revolution Gamal Abdel Nassers von 1952. Alle Räder stehen ebenfalls still, wenn am 6. Oktober die Streitkräfte und der Oktoberkrieg gefeiert werden. Das Feiertagsjahr geht am 23. September zu Ende im Gedenken an den Sieg über die britischen, französischen und israelischen Truppen 1956. Immerhin rang sich die Regierung vor einigen Jahren zur Abschaffung von zwei Festen durch: dem Jahrestag der libyschen Revolution Muammer el Gaddafis am 1. September und von Wafa'a el Nil, einem in vorpharaonische Zeit zurückreichenden Fest. Seinerzeit wurde alljährlich eine Jungfrau im Nil ertränkt, um auf diese Weise Hochwasser und Dürre abzuwenden. Für einen konstanten Nilpegel sorgt mittlerweile der Assuan-Hochdamm, die Jungfrauen wurden entbehrlich. Wie traditionsbewußt die Ägypter an alten Festen festhalten, zeigt das Frühlingsfest Sham el-Nessim im April. Schon in pharaonischer Zeit feierten die alten Ägypter an diesem Tag das Ende des Winters und den Beginn der warmen Jahreszeit. Bis heute hat Sham el-Nessim einen unstreitigen Platz im ägyptischen Festtagskalender. -33-
Der tägliche Nahkampf- brodelnde Verkehrshölle Kairo
Kabelverlegung – solche »Straßenfallen« gefährden den Stadtbummel
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Addiert man noch die Feste der koptischchristlichen Minderheit, so versteht man die Rechnung des statistischen Zentralamtes in Kairo, wonach ein Arbeitnehmer im Durchschnitt 55 Tage im Jahr frei hat, Urlaub mitgezählt. Berücksichtigt man bei weiblichen Angestellten (rund vierzig Prozent der berufstätigen Bevölkerung) den gesetzlich vorgeschriebenen Mutterschaftsurlaub, so kommt man gar auf 175 freie Tage. »Die Ägypter«, konstatierte ein angesehenes Wirtschaftsmagazin, »widmen sich sorgfältig und gründlich ihrer Freizeit.« Eine Regierungsstudie kam einmal sogar zu dem schockierenden Ergebnis, daß der durchschnittliche Beamte 26 Minuten am Tag seine Arbeitskraft Staat und Allgemeinwohl zur Verfügung stellt und ansonsten anderen, besser honorierten Beschäftigungen nachgeht. Daraus den Schluß zu ziehen, daß sich die Ägypter nur dem Dolcefarniente hingäben, Allah einen guten Mann sein ließen und arbeitsscheu seien, wäre jedoch grundverkehrt. Da vor allem Beamte von den Hungerlöhnen, die ihnen der Staat jeden Monat auszahlt, weder sich noch ihre Familie ernähren können, sind sie gezwungen, auf lukrativere Nebenbeschäftigungen auszuweichen. So wird der Abteilungsleiter im Touristikministerium nach einem kurzen Gastspiel im Büro sein Privattaxi besteigen und Touristen durch Kairo kutschieren. Der Mechaniker in einer staatlichen Autofirma repariert die Fahrzeuge in seinem Viertel lieber schwarz, und der Briefträger setzt sein auf den täglichen Runden erworbenes Wissen in klingende Münze um, indem er sich als Makler für Wohn- und Büroraum betätigt. -35-
Eines werden Sie in Ägypten selbst an den höchsten Festtagen nicht erleben: jene ausgestorbenen Straßen und Plätze, jene gespenstische Ruhe, wie sie bei uns an Sonn- und Feiertagen herrscht. Alle Geschäfte sind geöffnet, denn ein Einkauf, ein bißchen Feilschen und ein kleines Schwätzchen gehören zum festen Feiertagsritual. Straßen, Basare und Kaffeehäuser sind berstend voll, und auf den wenigen Grünflächen Kairos haben sich ganze Großfamilien zu einem Picknick niedergelassen. Der manische Zwang, sich an einem Feiertag ins Auto zu setzen und ins Grüne zu fahren, entfällt, da Kairo von Wüste umgeben ist, in die ein Bewohner des Niltales ohnehin freiwillig nie einen Fuß setzen würde. Die Freizeit wird wirklich zu Entspannung und Muße genutzt, kurz: Man tut nichts, genießt die Ruhe und den Sonnenschein. Mindestens ebenso wichtig sind Speis und Trank, ja, im Grunde genommen sind alle ägyptischen Festtage mit einer lukullischen Spezialität verbunden. Zum Frühlingsfest Sham elNessim werden Unmengen von fesih verzehrt, ein wochenlang in Salzlake marinierter und grauenhaft stinkender Fisch. Auf den Fastenmonat Ramadan freuen sich Groß und Klein, weil an jeder Straßenecke besondere Süßspeisen und andere Leckereien feilgeboten werden. Und das Opferfest wäre unvollständig, wenn nicht ein Hammel geschlachtet würde, der während des drei Tage dauernden Festes von der Familie komplett verspeist wird. Die Ägypter essen gern. Wenn es etwas gibt, das sie noch lieber tun, dann ist es das Essen in Gesellschaft. Sie werden es erleben, daß wildfremde Menschen, die auf offener Straße vor einem gefüllten Teller sitzen, Sie zum Mitessen einladen. Das -36-
Essen mit Familie, Verwandten und Freunden bietet zum einen die Möglichkeit zum Austausch von Klatsch und Tratsch, zum anderen ist es die beste Ausrede, ganz groß auftischen zu können. Im wesentlichen dient eine Essenseinladung der Darstellung grenzenloser Gastfreundschaft, in die sich nicht zuletzt ein wenig Hochstapelei mischt. Die Tante aus Alexandria, der Freund aus Deutschland, sie müssen ja schließlich mit eigenen Augen sehen, am eigenen Magen verspüren, was man sich alles leisten kann, und daß einem für die Gäste – und den eigenen Ruf – nichts zu teuer ist. Beides äußert sich in brechend vollen Platten, Schüsseln und Tellern mit in alpine Höhen gestapelten Fleischstücken (Fleisch, weil teuer, ist unverzichtbarer Bestandteil des Mahles) und einer unüberschaubaren Vielfalt von Salaten, Beilagen und Vorspeisen, die meist buffetartig auf einem langen Tisch angeordnet sind. Sind Sie privat zum Abendessen eingeladen, dann sollten Sie die folgenden Punkte beherzigen. Holen Sie zunächst den besten Anzug, das beste Kleid aus dem Koffer. Abendessen sind gesellschaftliche Ereignisse ersten Ranges, die oft durch die Anwesenheit eines Ausländers noch aufgewertet werden. Wenn Sie als Ehrengast in Urlaubs-Jeans und T-Shirt erscheinen, wird man Ihnen nicht ins Gesicht sagen, daß sie in Ihrer Aufmachung deplaziert sind, aber Sie werden es beim Anblick der Roben und dunklen Anzüge sehr bald selbst bemerken. In gehobenen Gesellschaften dürfen Damen Schmuck anlegen – so vorhanden –, sie sollen es sogar. Dies ist besonders bei Einladungen von Geschäftspartnern wichtig. Denn nach dem fachmännisch taxierten Wert der Preziosen der Ehefrau wird der reelle Wert -37-
ihres Gatten beurteilt. Wohlstand versteckt man nicht, man trägt ihn zur Schau. Natürlich müssen Sie Ihren Gastgebern etwas mitbringen. Im Grunde genommen haben Sie die gleiche Auswahl wie zu Hause, nur muß alles ein paar Nummern größer ausfallen. Verzichten Sie bei Blumen auf den hübsch zusammengestellten Frühlingsstrauß. Begeben Sie sich lieber in eines der großen Hotels (nur dort gibt es die entsprechenden Floristen) und lassen sich für eine bestimmte Summe (je höher, desto besser) einen Strauß binden. Die Angestellten wissen, was sie tun, erschrecken Sie also nicht, wenn man Ihnen ein kunstvolles, in Zellophan gehülltes Gebilde aushändigt, das Sie am liebsten am nächsten Grabmal des Unbekannten Soldaten niederlegen würden, weil es Sie frappant an den Volkstrauertag erinnert. Was bei Ihren Gastgebern zählt, ist nicht die Originalität einer Idee oder Ihr erlesener Geschmack, sondern die ins Auge springende Bereitschaft, sich das Mitbringsel etwas kosten zu lassen. Im Zweifelsfall landen Ihre Blumen ohnehin unausgepackt in der Küche. Dasselbe gilt für Ihr liebevoll ausgesuchtes kleines Gastgeschenk, das nicht vor Ihren Augen ausgewickelt wird. Das ist keine Undankbarkeit, es ist Höflichkeit. Man will einander Peinlichkeiten ersparen, falls das Mitbringsel zu klein oder falsch ausgefallen ist. Am nächsten Tag erhalten Sie dann einen Anruf von Ihren Gastgebern, in dem sich die Beschenkten bedanken. Wenn Sie schon in einem der Fünf-Sterne-Hotels nach einem Mitbringsel Ausschau halten, wie wäre es mit einer schönen, runden, schokoladenüberzogenen Schwarzwälder Kirschtorte? -38-
Ja, Sie haben richtig gehört: eine Torte. Natürlich nicht ein, zwei Stücke, nein, das ganze Ding. Quälen Sie sich nicht mit müßigen Fragen, ob Ihr Gastgeber lieber Obsttorte oder Schokoladenkuchen mag. Wählen Sie ruhig nach Ihrem eigenen Gusto. Auch bei der Torte ist die aufwendige Schachtel mit Schleife und Aufdruck einer teuren Patisserie ausschlaggebender als der Inhalt. Vermutlich werden Sie Ihren Kuchen am selben Abend selbst aufgetischt bekommen – zusätzlich zu all den anderen Leckereien. Ist doch die Hauptsache des Abends das Essen. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Begeben Sie sich mit knurrendem Magen zu einer Einladung. Das Knurren wird sich zwar mit Sicherheit zunächst verstärken, da am Nil sehr spät, erst gegen 20 oder 21 Uhr gegessen wird. Meist trudeln die letzten Gäste gegen 23 Uhr ein, und bis dahin werden Sie den mit verlockenden Genüssen beladenen Tisch nur von weitem bestaunen und den größten Hunger mit Erdnüssen bekämpfen können. Sobald das Signal zum Sturm aufs Büffet gegeben ist, werden Sie die Mutterinstinkte Ihrer ägyptischen Freunde in schönster Blüte erleben können. Man geht ganz offenkundig davon aus, daß Sie seit Tagen nichts gegessen haben (was stimmt, wenn Sie meinen Rat beherzigen) und daß Ihr Magen ein unbegrenztes Fassungsvermögen hat (was nie zutrifft, weil seine Größe immer maßlos überschätzt wird). Man wird Ihren Teller wahllos mit allem vollpacken, was die Küche zu bieten hat: Salate, gebratene Hackfleischstückchen, Filets, Tomaten, gefüllte Zucchini und obendrauf noch ein halbes Huhn. Versuchen Sie gar nicht erst zu protestieren, man wird es als falsche Bescheidenheit auslegen. Balancieren Sie Ihren Teller lieber vorsichtig zurück zum -39-
Wohnraum, wo die Sessel hufeisenförmig um einen niedrigen Couchtisch angeordnet sind, und picken Sie aus dem Wust an Nahrung das heraus, was Ihnen schmeckt. Vergessen Sie, was Ihnen Ihre Eltern eingebleut haben: Iß den Teller leer, sonst gibt es morgen kein schönes Wetter. Denn erstens scheint in Ägypten auch ohne Ihr Zutun jeden Tag die Sonne, und zweitens gilt ein leerer Teller als stille Aufforderung nach mehr. Außerdem wird Ihre Gastgeberin bemüht sein, jede Tomate, die Sie glücklich verzehrt haben, durch zwei neue zu ersetzen. Werden Sie nicht ungeduldig, wenn Sie trotz mehrmaligen Kopfschüttelns (den Mund haben Sie sowieso voll) immer wieder zum erneuten Zugreifen ermuntert werden. Es ist ein Zeichen von guter Kinderstube, ein Angebot mindestens dreimal zu wiederholen, weil man davon ausgeht, daß der Gast aus Höflichkeit die ersten beiden Male abwinkt. Wenn Sie beim besten Willen nichts mehr hinunterbringen, dann stellen Sie Ihren Teller einfach in einer dunklen Ecke ab, auch wenn sich auf ihm noch Hühnerbeine und Auberginen türmen. Sie drücken damit aus, daß es Ihnen geschmeckt hat. Am schlimmsten für die Hausfrau wäre es nämlich, äßen die Gäste alle Töpfe und Pfannen leer. Denn das hieße, daß sie zuwenig gekocht hat und die Gäste hungrig von dannen ziehen. Eine Faustregel besagt, daß zwei Drittel der Speisen stets übrigbleiben sollten. Also zügeln Sie Ihren Ehrgeiz. Es ist nicht unbedingt ein Ausdruck von Prasserei oder Angabe, wenn sich die Tische biegen, sondern durchaus ein Zeichen tiefempfundener Gastfreundschaft. Selbst die Ärmsten werden sich lieber in Schulden stürzen, um Ihren Gästen ein angemessenes Mahl bieten zu können, als sich der Schande -40-
auszusetzen, als geizig zu gelten. Sie kennen die goldene Regel so mancher deutscher Hausfrau: Vier Personen am Tisch, also warten wir mit fünf Stück Fleisch auf, damit es nicht so abgezählt aussieht. Folgendes Gegenbeispiel soll die ägyptische Auffassung von Gastfreundschaft demonstrieren: Fausy, ein Bürobote, lud drei Ausländer zum Essen in sein bescheidenes Heim in einem Kairoer Slumviertel ein. Da seine Frau den ganzen Abend über in der Küche blieb und er selbst als guter Gastgeber nur ein bißchen Reis aß, hatte er drei Esser zu beköstigen. Es verstand sich von selbst, daß er vier ganze gebratene Enten auftischte – damit es nicht wie abgezählt wirkte. Bliebe zu erwähnen, daß eine Ente ein Drittel seines monatlichen Gehaltes kostete. Da sich immer mehr Ägypter auf die Werte des Islam besinnen, werden Sie das reichliche Essen oft nicht mit Bier oder Wein herunterspülen können, ganz zu schweigen von einem Verdauungsschnaps zum schwarzen türkischen Kaffee, der das Mahl beschließt. Begnügen Sie sich mit den gereichten Fruchtsäften und Erfrischungsgetränken. Ein Ausruf, zumal an heißen Tagen, wie »ein Bier, ein Bier, ein Königreich für ein Bier«, würde Ihre Gastgeber in die tiefste Verlegenheit stürzen. Zudem sind alkoholische Getränke so teuer, daß viele Ägypter sie sich nicht leisten können. Wenn Sie Ihre Gastgeber nicht sehr genau kennen oder nicht wissen, daß Sie bei einer koptischchristlichen Familie eingeladen sind, verbietet sich auch das Mitbringen von Spirituosen oder Wein. Die Tatsache, daß die Ägypter gerne essen, beinhaltet nicht, daß sie auch Feinschmecker sind. Die ägyptische Küche ist eher bescheiden, ländlich geprägt und stark von türkischen -41-
Vorbildern beeinflußt. Entscheidend ist Fleisch, das – weil teuer – fast schon zu einem Statussymbol geworden ist. Die Phantasie der Zubereitung erschöpft sich im allgemeinen darin, ein Stück Rind- oder Lammfleisch zu braten und mit einer Soße zu übergießen. Sehr einfallsreich ist hingegen die Palette der Vorspeisen, Mezze genannt. Manches werden Sie bereits aus der griechischen Küche kennen, die ja auch den Türken in die Töpfe geguckt hat. Babaghanu ist eine aus Auberginen hergestellte würzige Soße, in die das allgegenwärtige Fladenbrot getunkt wird. Aus Sesamkörnern wird die helle Tahina-Creme gemacht, aus Kichererbsen und Joghurt Hummus. In all diese Soßen werden nicht nur Brotstücke getaucht, sondern auch eingelegte Tomaten und Gurken sowie Kofta und Kebab, der berühmte arabische Schaschlik. Kofta sind kleine, gewürzte Hackfleischröllchen, Kebab auf dem Grill gebratene Fleischstücke. Vor allem in ärmeren Vierteln werden Sie einen KoshariStand schon von weitem daran erkennen, daß auf dem Bürgersteig viele Leute mit knallbunten Plastiktellern sitzen, die eine schwer zu identifizierende Masse vertilgen. Koshari ist so einfach gekocht, wie es am Straßenrand gegessen wird: gekochte Nudeln und Reis, plus Linsen und gebratene Zwiebeln, übergossen mit einer höllisch scharfen Soße. Eine weitere Delikatesse, die mit fetttriefenden Fingern auf offener Straße verspeist wird, sind Fetiha, dicke Pfannkuchen, entweder würzig mit gebratenem Hackfleisch und Zwiebeln oder süß mit Marmelade und Puderzucker gefüllt.
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Kein Einkauf ohne Feilschen und Schwätzchen
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Eine Umstellung für Sie dürften wohl auch Tauben auf dem Teller sein. Hammam, wie sie auf arabisch heißen, gelten am Nil als Delikatesse, egal ob mit Reis, Nüssen und Rosinen gefüllt oder auf dem Holzkohlenrost gegrillt. Eine Reihe von Restaurants am Nilufer in Kairo spezialisieren sich darauf. Nur robusten Mägen zuträglich ist eine weitere Spezialität: Molocheia, eine aus Blattspinat hergestellte Suppe mit Unmengen von Knoblauch. Sie wird traditionell mit gebratenen Hühnern oder – wenn es etwas Besonderes sein soll – Kaninchen gegessen. Molocheia ist ein typisches Wintergericht, nicht nur weil dann der Spinat reift, sondern auch weil sie wärmt, kräftigt und stärkt. Im Sommer würde die Kombination aus blutdrucksenkendem Knoblauch, heißer Suppe und Temperaturen über 40 Grad nicht allein bei einem Mitteleuropäer irreparable Erschöpfungszustände auslösen. Bleibt die Frage, wo Sie in Ägypten typisch ägyptisch essen können, und hier kann ich Ihnen eine Enttäuschung nicht ersparen. Denn Ägypter, die sich natürlich gerne an Koshari, Molocheia und Tauben gütlich tun, leiden insgeheim unter einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber allem Ausländischen – und das schließt auch das Essen ein. Deshalb offerieren die meisten Restaurants langweilige Einheitskost nach dem Motto »Internationale Küche«, also diverse Escaloppes, Steaks und Chateaubriands. In Kairo selbst gibt es ein einziges Restaurant, in dem Sie original ägyptische Küche in reicher Auswahl finden: das Filfila in der Stadtmitte mit einer Dependance in der Nähe der Pyramiden, inklusive Bauchtanz, Gesang und Folklore.
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In Hafenstädten wie etwa in Alexandria, am Suezkanal oder am Roten Meer empfehlen sich Fischrestaurants, wo Sie Fisch, Krabben und Oktopus frisch auswählen und nach eigenen Wünschen zubereiten lassen können. Vor allem die Fischrestaurants von Abukir, heute ein Vorort Alexandrias, gelten als Mekka für Freunde von Meeresfrüchten. Das triste Äußere der Lokale, die den Charme schmuddeliger Wartesäle besitzen, tut der Begeisterung keinen Abbruch. Von einem fliegenden Händler auf der Straße ein Sandwich zu kaufen muß nicht unbedingt sein. Nicht immer entspricht die Hygiene der Imbißstände europäischen Vorstellungen und selten kann ein verwöhnter deutscher Magen mit der gußeisernen Resistenz ägyptischer Verdauungsorgane konkurrieren. Nicht von ungefähr werden Ausländer am Nil oft ein Opfer von »Pharaos Rache«, wie hartnäckiger Durchfall und Magenverstimmungen genannt werden. Einige Kenner des Landes behaupten, daß Pharaos Rache nicht zuletzt ein psychologisches Problem sei. Wer bei jedem Bissen immer gleich ans Schlimmste denke, so sagen sie, der hole es sich auch.
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IBM auf ägyptisch oder: Inshallah, bukra, malesh Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Flugzeug und der Kapitän begrüßt sie mit den folgenden Worten: »Herzlich willkommen an Bord unseres Fluges nach Kairo, das wir in dreieinhalb Stunden erreichen werden – so Gott will.« Genau dies passiert Ihnen, wenn Sie mit der staatlichen ägyptischen Fluggesellschaft Egypt Air an den Nil reisen. Sie brauchen nun aber nicht gleich am fliegerischen Können des Piloten zu zweifeln, der da sein und seiner Fluggäste Schicksal anscheinend unbekümmert und leichtfertig in Gottes Hand legt. Ohne den Zusatz inshallah, »so Gott will«, wird kein moslemischer Ägypter eine Aussage über eine Handlung machen, die in die Zukunft weist, und läge sie auch noch so nahe. Ein paar Beispiele gefällig? Fahrgast zum Taxifahrer: »Fahren Sie nach Zamalek?« Antwort: »Inshallah.« Automechaniker zum Kunden: »Die Reparatur wird ein Klacks, inshallah.« Minister vor dem Parlament: »Im kommenden Fünfjahresplan werden wir die Baumwollproduktion verdoppeln, inshallah.« Denn letztlich liegt alles in der Hand des Allmächtigen. Wer weiß, ob das Taxi nicht in einen Unfall verwickelt wird und nie in Zamalek ankommt, ob die Reparatur nicht den Preis für einen Neuwagen verschlingt, die Baumwollernte wegen schlechten Wetters nicht sogar zurückgehen wird. Inshallah drückt die -46-
Einsicht des frommen Moslems aus, daß alles im Leben vorbestimmt ist und das Schicksal nicht gegen den Willen Allahs geändert werden kann. So weit, so gut. Doch der inflationäre Gebrauch von inshallah läßt leider oft, und nicht zu Unrecht, den Verdacht aufkommen, daß damit weniger die demütige Ergebenheit ins unabänderliche Schicksal ausgedrückt, sondern vielmehr die eine oder andere persönliche Unzulänglichkeit kaschiert, ja vielleicht Gott selbst in die Schuhe geschoben werden soll. Wenn Ihr Geschäftspartner die Lieferung des seit Wochen angemahnten Kontingentes Baumwollunterwäsche nun endlich für »Donnerstag, inshallah« ankündigt, können Sie sich getrost auf eine weitere Wartezeit einstellen. Denn ist es nicht unwiderrufliches Schicksal, daß die Webmaschinen seit Wochen kaputt sind? Hat es nicht Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß selbst so bestimmt, daß der Vertragspartner bis einschließlich nächsten Donnerstag einen Kurzurlaub an der Küste verbringen muß? So betrachtet, gewinnt inshallah für die meisten Neulinge im Land eine irritierende, ja bedrohliche Note. Dasselbe gilt für die beiden anderen Wörter jenes »Trio infernal« ägyptischer Schlüsselbegriffe, die Novizen in Wechselbäder aus Tobsuchtsanfällen und tiefer Niedergeschlagenheit stürzen: bukra, was mit »morgen« nur höchst unzureichend übersetzt und eng mit dem dehnbaren spanischen mañana verwandt ist, und malesh, dessen Bandbreite von »macht nichts« über »ist mir egal« bis zu »regen Sie sich doch nicht auf« reicht. Alle drei Begriffe – inshallah, bukra, malesh – werden von Ägyptern selbst als Antwort auf die perfektionistische Technologie des Westens empfunden und trefflich zu »IBM« verkürzt. -47-
Richtig gefährlich wird es, wenn die drei Wörter kombiniert werden. Geradezu diabolisch ist beispielsweise die Verbindung aus inshallah und bukra. Kündigt jemand sein Kommen für – wörtlich übersetzt – »morgen, so Gott will« an, so hat er sich gleich doppelt abgesichert. Zum einen bei Gott höchstpersönlich, zum anderen mit der schwammigen Bedeutungsvielfalt von bukra. Denn bukra kann alles sein, vom kommenden Tag bis hin zu einem nicht näher spezifizierten Zeitpunkt in der Zukunft, irgendwo dort, wo sich in der Geometrie zwei Parallelen in der Unendlichkeit schneiden. Inshallah bukra wird wieder Speiseöl geliefert, inshallah bukra kommt der Elektriker ins Haus. Inshallah bukra erhalten Sie Ihr Geld zurück – was soll's, auf jedes bukra folgt ein neues Morgen. Wer wollte in einem Land mit einer mehr als 5000jährigen Geschichte schon kleinlich sein. Nehmen Sie es also nicht allzu wörtlich, wenn man Ihnen etwas für den morgigen Tag fest zusagt. Besonderes Mißtrauen ist angebracht, sobald Ihr Gesprächspartner sein Versprechen mit einer Handbewegung zu beiden Augen und den Worten min ain il ain unterstreicht, wörtlich: »von Auge zu Auge.« Mit dem Arabern eigenen Hang zur leichten Übertreibung soll damit auf poetische Weise ausgedrückt werden: »Dein Wunsch ist mir so wichtig wie meine beiden Augen.« Keine Angst, das Versprechen wird kein blutiges Ende finden. Noch niemand hat sein Augenlicht opfern müssen, weil ein auf derart dramatische Weise fest zugesagter Termin ergebnislos verstrich. Wappnen Sie sich mit viel Geduld. Denn siehe, Gott ist groß und gerecht, früher oder später wird es ihm gefallen, alle Versprechen in Erfüllung gehen zu lassen. Nur nicht drängeln. -48-
Und sollte es Allah nun nicht gefallen? Wenn nun wirklich etwas nicht klappt? Malesh, macht nichts. Es liegen zwar keine entsprechenden Untersuchungen vor, aber man kann mit Fug und Recht annehmen, daß malesh in einem Land, in dem so wenig funktioniert wie in Ägypten, die am häufigsten verwendete Vokabel ist. Es gibt immer noch kein Speiseöl? Malesh. Das Auto ist zusammengebrochen? Malesh. Der Sohn hat die Prüfung nicht bestanden? Malesh. Der Beamte schließt einem nach stundenlangem Warten vor der Nase den Schalter? Alles malesh. Malesh, das ist der Ausdruck hilfloser Resignation, sich in alles geduldig zu fügen, was ohnehin nicht zu ändern ist. Manche Ägypter halten malesh für die Wurzel aller Mißstände im Land. Statt stets bereitwillig mit einem malesh auf den Lippen zu resignieren, so meinen sie, sollte man lieber aufbegehren und für Veränderungen und Verbesserungen kämpfen. Doch das kleine Wörtchen schleicht sich wie ein heimtückisches Virus ins Denken eines jeden ein. Unter Ausländern gilt die Diagnose, daß zu lange in Ägypten gelebt hat, wer malesh sagt – und es auch meint. Immerhin läßt sich dem Wort eine gewisse therapeutische Bedeutung nicht absprechen. Wollte man sich über jede Panne, jeden Fehler, jede Unzulänglichkeit aufregen, man käme aus dem Toben nicht mehr heraus. Lieber malesh als Magengeschwüre. Auch Sie sollten während Ihres Aufenthaltes ruhig ein wenig von diesem Malesh-Denken absorbieren. Das Drei-Minuten-Ei zum Frühstück lag offenkundig dreißig Minuten im kochenden Wasser – malesh. Der Ausflug nach Luxor verzögert sich um zwei Stunden malesh. Das Hotel hat Ihre Buchung verschlampt, -49-
und Sie sitzen auf der Straße – malesh. Es gibt stets Schlimmeres im Leben, und Sie können durchaus sicher sein, daß man Ihnen auch bei größeren Urlaubskatastrophen nach Kräften zur Seite stehen wird. Sie müssen, malesh, nur immer ruhig bleiben. Wer sich aufregt, schreit und tobt, der verspielt in Ägypten jede Sympathie. Der Kellner, der Taxifahrer, der Parkwächter – sie werden durch einen ärgerlichen Ausländer verunsichert und ziehen es vor, sich zu verdrücken, bis der Anfall vorbei ist. Der Zöllner, der Polizeioffizier oder der hohe Beamte werden sich in ihrem Stolz gekränkt fühlen und erst recht auf stur schalten. Vor allem, setzen Sie sich selbst nie unter Zeitdruck. In Ägypten sagt man, Gott habe die Menschen nicht allzu reichlich beschenkt. Eines aber, das habe er großzügig in unendlicher Menge den Sterblichen mitgegeben, Zeit. Den größten Teil ihres Lebens verbringen die Ägypter mit Warten: im Stau auf dem Weg zur Arbeit, im Vorzimmer des Bürovorstehers, in Ämtern, Geschäften und vor Schaltern. Niemand wird ungeduldig, und wenn die Wartezeit zu lange dauert, die Zeitung ausgelesen und alle Gesprächsthemen mit den Umstehenden erschöpft sind, so legt man sich eben zu einem Nickerchen nieder. Daß auch Pünktlichkeit nach anderen als europäischen Maßstäben bemessen wird, versteht sich von selbst. Man wird es Ihnen nicht übelnehmen, wenn Sie sich verspäten. Allzu preußische Pünktlichkeit sollten Sie für die Dauer Ihres Aufenthaltes am Nil ablegen, Sie stürzten einen Ägypter in tiefe Verlegenheit, erschienen Sie auf die Minute genau zum vereinbarten Termin. Wenn Sie dieses Büchlein vor Ihrer Reise nach Ägypten -50-
gelesen haben, werden Sie sich nach ersten selbst gesammelten Erfahrungen vermutlich wundern, warum auf diesen Seiten so oft von Unzulänglichkeiten, Versäumnissen, Pannen die Rede ist. Versichert Ihnen nicht jeder Ägypter, daß die Erfüllung all Ihrer Wünsche kein Problem sei? In der Tat, Sie werden es nie erleben, daß jemand die Stirne in Falten zieht, bedächtig den Kopf wiegt und mit Grabesstimme verkündet, dies oder jenes werde sich leider schwierig gestalten. Mit einem jeder Erfahrung hohnsprechenden und dennoch unerschütterlichen Optimismus wird jeder Ägypter auf jede Frage geradezu reflexhaft antworten misch mischkella, »kein Problem« – selbst wenn Sie von ihm die Verlegung der Cheops-Pyramide nach Arizona verlangen würden. Misch mischkella wurzelt tief in der Erkenntnis der Ägypter, daß selbst auf den ersten Blick verhältnismäßig harmlos erscheinende Aufgaben sich infolge der Fährnisse und Unwägbarkeiten des ägyptischen Alltags rasch zu schier unlösbaren Knoten schürzen können. Doch weshalb immer gleich ans Schlimmste denken? Außerdem wäre es unhöflich, den unkundigen Fremden vor den Kopf zu stoßen. Er wird früher oder später selbst erkennen, daß es doch ein mischkella, ein Problem, gibt. Nie wird man Ihnen etwas ausschlagen, nie nein sagen, selbst wenn man weiß, daß Ihr Wunsch unerfüllbar ist. Zunächst will man den Gast bei Laune halten, zum anderen könnte es ja durchaus sein, daß ein Wunder geschieht und der Wunsch in Erfüllung geht. Und wie stünde man dann da, wenn man Zweifel angemeldet hätte? So wird jede neue Aufgabe mit ungebrochener Zuversicht angepackt. Die Erfahrung lehrt hingegen, daß die Zahl der später -51-
auftauchenden Probleme in direktem Verhältnis zur Menge der abgegebenen Versicherungen von misch mischkella steht. Als einmal ein ausländisches Staatsoberhaupt Ägypten einen offiziellen Besuch abstattete, kehrte der mit dem Vorauskommando angereiste Sicherheitschef hochbefriedigt und gleichzeitig verwundert in die Botschaft seines Landes zurück. Er könne nicht verstehen, rügte er den Mann vor Ort, weshalb die Diplomaten in ihren Berichten immer wieder über ständig auftauchende Schwierigkeiten in Ägypten berichteten. Er habe dem ägyptischen Sicherheitsoffizier eine Reihe von Fragen betreffend die Sicherung des Staatsgastes vorgelegt und auf jeden Punkt die selbstbewußte Antwort erhalten: no problem. Nach Ablauf des Besuches wurde den Berichten der Botschaft wieder Glauben geschenkt. Beliebt ist folgende Kombination aus der Versicherung misch mischkella und der Zusage, das Problem lösen zu wollen. Die Führung des Staates verfährt selbst oft und gern nach diesem Muster. Trocknet der Nil aus, versiegt der Import von Grundnahrungsmitteln, gehen die Devisenreserven zur Neige, kurz, droht eine Krise, so betonen die Minister immer folgende Punkte: erstens, es gab nie ein Problem. Zweitens, das Problem wurde kürzlich gelöst. Drittens, wir haben schon Maßnahmen zur Lösung des Problems ergriffen. Sie werden es wohl inzwischen selbst bemerkt haben: Außer viel Geduld sollten Sie auch eine gehörige Portion Humor mit nach Ägypten bringen. Sie befinden sich in guter Gesellschaft, denn die gutmütigen Ägypter gelten als das humorvollste Volk der arabischen Welt. Das Leben ist schwer, die Regierung gestaltet es um keinen Deut leichter, also macht man sich in -52-
Witzen Luft. Mutterwitz und die seltene Gabe der Selbstironie waren nach neuesten Erkenntnissen der Archäologen auch den alten Ägyptern nicht fremd. Witze waren immer die Waffen des einfachen Volkes gegen die Tyrannen, meinte der ägyptische Archäologe Sabri Hawas. Jahrtausendealte Hieroglyphen beweisen, daß nicht nur der Feind lächerlich gemacht wurde, sondern sogar der Pharao Zielscheibe des Spotts gewesen ist. Auch der schlitzohrige, schwejksche Wesenszug ist den Ägyptern offensichtlich seit alters zur zweiten Natur geworden. So ist ein Papyrus mit dem Protokoll einer Gerichtsverhandlung gegen einen Grabräuber bekannt, der sich mit den folgenden Worten verteidigt: »Ihr sagt, der König ist Gott. Warum hat er dann seine Sachen nicht verteidigt?« In unseren Tagen sind die allmächtige Regierung und die Person des Staatschefs die beliebtesten Opfer. Oft werden sie als total unfähig dargestellt. In solch einer possenhaften Anekdote treffen auf dem Kairoer Flughafen nacheinander ein bekannter Sänger und eine berühmte Bauchtänzerin ein, allerdings ohne Paß. Beide können ihre Identität durch unnachahmlichen Gesang und Tanz beweisen. Als schließlich das Staatsoberhaupt – ohne Ausweispapiere – eintrifft, wird es ebenfalls aufgefordert, zum Beweis seiner Identität irgend etwas zu tun, was einzig der erste Mann im Staate kann. »Was nur ich kann?« erwidert er nachdenklich. »Eigentlich nichts.« Er darf passieren. Oder in einer Karikatur über die leeren Versprechungen der Regierung: »Siehst du, im Juni waren es noch 30 Tage, jetzt hat die Regierung den Juli auf 31 Tage erhöht.« -53-
Die frische Ware ist oft unter dem Karren versteckt
Nobelpreisträger Mahfuz im Kreis seiner Romanfiguren
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Über Nasser ging das Gerücht um, daß er seinen gefürchteten Geheimdienst in die Kaffeehäuser ausschwärmen ließ, um Witze über sich zu sammeln als zuverlässigen Gradmesser für die Stimmung im Volk. Auch alte Bekannte werden sie in Ägypten wiedertreffen: die Ostfriesen, deren orientalische Vettern sich offenbar am Oberlauf des Nils niedergelassen haben. Die Saidis, wie die Einwohner zwischen Beni Suef im Norden und Assuan im Süden heißen, gelten als zurückgeblieben und sind Opfer böser Witze. Beispiel: Haben Sie die fürchterliche Geschichte gehört? Drei Saidis haben sich Krawatten gekauft. Man hat sie alle erdrosselt aufgefunden.« Aber die Ägypter verstehen es ebenso gut, sich über ihre eigenen Fehler und Schwächen lustig zu machen. Nach der verheerenden Niederlage im Junikrieg 1967 gegen Israel, als ganze Bataillone ägyptischer Soldaten die Stiefel auszogen und, so schnell die Füße trugen, zum rettenden Suezkanal flüchteten, machte folgender Witz in Kairo die Runde. Ein Passant zu einem Offizier, der mit heraushängender Zunge einer Straßenbahn hinterher rennt: »Heh, immer mit der Ruhe, hier ist nicht der Sinai.« Der Minderwertigkeitskomplex gegenüber Ausländern schließlich ist Inhalt einer charakteristischen Anekdote. Ein Amerikaner, ein Franzose und ein Ägypter kommen in die engere Wahl für den Posten eines Chefingenieurs einer internationalen Firma. Die Bewerber werden einzeln für drei Tage in eine leere, fensterlose Gummizelle gesperrt und erhalten zur Beschäftigung nur zwei Stahlkugeln. Der Amerikaner nutzt die Zeit, um ein neues digitales Rechensystem zu entwickeln, -55-
der Franzose erfindet ein anspruchsvolles Billardspiel. Der Ägypter hingegen gibt nach dem Ende der Gefangenschaft auf die Frage nach den Kugeln zur Antwort: »Ach die. Die eine habe ich zerbrochen, die andere ist verlorengegangen.«
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Die Sprache der Logik und des Koran oder: Allah sprach arabisch Als Gott, nach der Überlieferung, den Erzengel Gabriel aussandte, um Mohammed die einzelnen Suren des Koran zu verkünden, da gab es keine sprachlichen Barrieren. Gabriel und der Prophet, so steht es im heiligen Buch der Moslems und in den Überlieferungen des Propheten, sprachen – natürlich – arabisch. Wenn Sie schon einmal nähere Bekanntschaft mit diesem Idiom gemacht haben oder auch nur staunend die exotischen und absolut unlesbaren Schriftzeichen bewundern, so wird es Ihnen wie Schuppen von den Augen fallen: Man muß offenbar über übermenschliche Fähigkeiten verfügen, um diese Sprache erlernen zu können. Zudem gilt sie als eines der grammatikalisch logischsten Idiome der Welt. Dennoch sprechen mehr als 100 Millionen Menschen diese Sprache, darunter einfache Kameltreiber und sogar Analphabeten. Unser größtes Hindernis zum Verständnis des Arabischen ist die – noch dazu »falsch«, nämlich von rechts nach links geschriebene – Schrift, deren einzelne Buchstaben keinem der uns vertrauten Zeichen ähneln. In der arabischen Welt hat es mit ihr indes eine besondere Bewandtnis: Sie ist auch Schmuckgegenstand. Da der Islam die bildliche Darstellung von Lebewesen verbietet, entwickelte sich eine Hochform der Kalligraphie, die auch für jene ein Kunstgenuß ist, die der arabischen Schrift nicht kundig sind. Doch darüber hinaus klingt uns im Arabischen keine Silbe, kein Wort vertraut, ganz im Gegensatz zu europäischen Sprachen, wo wir uns notfalls an einer Kette vage bekannter -57-
Fremdwörter entlanghangeln können. Keine Angst, dies soll nicht zu einem Seminar in Arabistik ausarten. Zum einen bin ich selbst kein Fachmann (siehe oben unter übermenschliche Fähigkeiten), zum anderen würde es den Rahmen dieses Buches sprengen und zum dritten Sie sehr rasch langweilen. Aber ein paar Grundkenntnisse möchte ich Ihnen wenigstens vermitteln, zumal da jeder Ägypter hocherfreut ist, wenn ein Ausländer ein Paar Brocken seiner Sprache beherrscht. Ein ahlan oder malesh zur rechten Zeit löst unumgänglich die Antwort aus: »Oh, Sie sprechen aber sehr gut arabisch.« Was für andere Ohren das Arabische so unverständlich macht, ist sein von Sprachen wie Deutsch, Englisch oder Französisch deutlich unterschiedlicher Aufbau. Denn das Arabische legt bei weitem nicht soviel Wert auf Vokale, wie sie bereits beim Namensspiel im ersten Kapitel bemerkt haben. Statt dessen werden Verben, Substantive und alle möglichen Ableitungen aus »Radikale« genannten Stämmen von zwei, drei oder manchmal auch vier Konsonanten gebildet. Wenn wir im Deutschen das Adjektiv »frei« kennen, so ist es kein großer Schritt zur Freiheit, der Befreiung oder zum Befreien. Wenn Sie jetzt hören, daß die entsprechenden Wörter im Arabischen horr, horreia, tahrir und jaherrar lauten, so werden Sie – zu Recht stutzen. Was haben die denn gemeinsam? Antwort: die Wurzel, in diesem Fall die beiden Konsonanten h und r. Nun werden Sie einwenden, daß Ihnen das alles schon viel zu theoretisch ist, Sie genauso klug sind wie vorher und Sie knapp und präzis wissen möchten, wie Sie sich am besten in Ägypten verständigen. Gemach. Vorweg ein Trost: Viele Ägypter beherrschen ihre Muttersprache nicht perfekt. Einmal unab-58-
hängig davon, daß 60 Prozent aller Ägypter weder lesen noch schreiben können, also ebensowenig Namensschilder und Wegweiser zu entziffern vermögen wie Sie, bereitet ihnen auch so manche grammatikalische Konstruktion, so mancher Laut Schwierigkeiten. Die am Nil praktizierte einfache Lösung: Man läßt weg, was zu schwer ist. So etwa das qaf, ein in den finstersten Rachentiefen angesiedelter Knacklaut. Wo er steht, da ist im ägyptischen Arabisch einfach ein sprachliches Loch. Es ist wahrhaftig nicht leicht: Ein Buchstabe, der Laut für am, wird von arabischen Philologen enthusiastisch mit dem »Brunftschrei einer verliebten Kamelstute« verglichen. Wo man nicht mithalten kann, sollte man sich in Bescheidenheit üben. Außerdem sind gerade in Ägypten dank den jahrhundertealten ausländischen Einflüssen viele fremde Ausdrücke in den Sprachschatz aufgenommen worden. So ist ein otobis bei näherem Hinsehen nichts anderes als einer der chronisch überfüllten klapprigen Autobusse. Ein telefon und ein teleks sind dasselbe wie im Deutschen, und auch wenn Sie ein foto mit ihrer kamera auf den filim bannen wollen, können Sie sich verständigen. Keine Schwierigkeiten dürften ferner television und die musika aus dem radio bereiten. Ein wenig problematischer wird es mit dem bisciletta, doch mit einigem Scharfsinn wird man das englische bicycle, das Fahrrad – leicht italienisch verfremdet – wiederfinden. Beim biskawit müssen Sie nur das zwecks besserer Aussprache eingestreute a entfernen, und Sie haben ein Biskuit, müssen also im fremden Land schon nicht mehr verhungern. Gelüstet es Sie nach etwas Handfesterem, so verlangen Sie einfach ein sandawisch, ebenfalls mit einem zusätzlichen a , und -59-
man wird Ihnen ein leckeres Sandwich reichen. Der in Kairo residierenden Akademie für die Erhaltung der arabischen Sprache sind solche fremdländischen Eindringlinge natürlich ein Greuel, Einfluß auf die Alltagssprache haben die Sprachpuristen indes nicht. Kein Wunder angesichts ihrer komplizierten Alternativen. Ein Sandwich etwa heißt in der deutschen Übersetzung des korrekten hocharabischen Ausdrucks »zwei Scheiben Brot mit etwas Frischem dazwischengeklemmt«. Bis man das über die Lippen gebracht hat, hat einem schon jemand das sandawisch vor der Nase weggeschnappt. Im übrigen verwenden wir im Deutschen mehr arabische Wörter, als uns bewußt ist. Vom Admiral über den Alkohol bis zur Razzia haben wir von den Arabern übernommen, was wir nicht kannten und somit nicht benennen konnten. In den meisten Fällen sind diese Ausdrücke von uns jedoch so sehr verballhornt worden, daß sie für arabische Ohren inzwischen unverständlich und im täglichen Sprachgebrauch nicht mehr dienlich sind. Nun werden Sie ganz zu Recht anmerken, daß man einen vierzehntägigen Urlaub in Ägypten nicht mit einem Vokabular bestreiten kann, das aus Admiral, Fahrrad, Fernsehen und Biskuit besteht. Die Kombinationsmöglichkeiten sind beschränkt und nicht unbedingt auf die Bedürfnisse eines Touristen zugeschnitten. (Es sei denn, man wolle über eine mit Musik untermalte Fernsehsendung berichten, in der ein alkoholsüchtiger Admiral mit seinem mit Biskuits beladenen Fahrrad in eine Razzia gerät, weil er einen Autobus gestreift hat. Solche Konversationsthemen sind selbst in Ägypten selten.) Deshalb sollten Sie vielleicht auch den einen oder anderen rein ägyptischen Ausdruck behalten. Die Schlüsselworte des -60-
Nillandes haben Sie ja schon kennengelernt: malesh, inshallah, ahlan und bukra. Es gibt langjährige ausländische Gäste Ägyptens, die davon überzeugt sind, daß dieser Wortschatz für alle erdenklichen Gelegenheiten ausreicht. Ich finde jedoch, daß ein bißchen mehr nicht schadet. Wollen Sie sich etwa erkundigen, ob ein Händler eine bestimmte Ware vorrätig hat oder nicht, so erkundigen Sie sich einfach mit einem fragend modulierten fi, etwa fi sandawisch?, und man wird Sie verstehen. In vielen Fällen erhalten Sie vermutlich zur Antwort mafisch, was soviel heißt wie »haben wir nicht und kriegen wir auch nicht rein«. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung in Ägypten sind die Verbote. Wenn jemand auf Sie zustürmt – meist trägt er eine Uniform und mamnouah, mamnouah schreit, dann wissen Sie, daß Sie gegen eine der zahlreichen Vorschriften verstoßen haben, die der ägyptische Staat aus unerfindlichen Gründen erlassen hat. Kritisch wird es beim Ruf haram, darin schwingen Staunen und Entsetzen mit, denn jetzt haben Sie bewußt oder unbewußt ein religiöses Gebot verletzt. Wollen Sie selbst etwas verneinen, dann genügen zwei Buchstaben: la, die zu einem zackigen la'a verlängert werden können, wenn Sie etwas partout nicht wollen. Empfinden Sie ungefragte Hilfsbereitschaft als zu aufdringlich, dann schmettern Sie ein entschiedenes chalas, der Ägypter wird so verdutzt sein, daß er sofort zurückweicht. »Ja« ist im ägyptischen Arabisch das gemütliche aiwa, in dem etwas von der Behäbigkeit eines nubischen Kellners anklingt, der sich gemächlich daranmacht, die Suppe zu servieren. Schließlich noch schukran, wann immer Sie sich für etwas bedanken wollen. Schicker, weltmännischer und nicht zuletzt unseren -61-
Zungen vertrauter ist das ebenfalls gebräuchliche merci. Bei »bitte« wird es schwieriger, begeben wir uns doch hier schon auf das Glatteis der arabischen Grammatik: mit min fadhlak müssen Sie einen Mann um etwas bitten, mit minfadhlik eine Frau. Halten Sie sich lieber an das praktische mumken, was soviel heißt wie »ist es möglich, kann ich haben«. Mumken sandawisch? Aiwa, fi – Sie sehen, es ist gar nicht so schwer. Öfter werden Sie wohl hören misch mumken, »nicht oder unmöglich« – und das wird auch in Ägypten nicht allein auf Situationen, sondern gleichermaßen auf Personen angewandt. Ein Wort zu den Zahlen. Natürlich wissen Sie, daß wir keine römischen, sondern arabische Ziffern schreiben – und schon zweifeln Sie wieder an Ihrem Verstand, wenn Sie das erste Mal diese Zahlen sozusagen im Original sehen. Was hat denn, so werden Sie nicht zu Unrecht fragen, ein V mit unserer 7 gemein? Und warum wird die 3 spiegelverkehrt geschrieben und ist eine 41 Wo, bitte, ist die Logik, wenn eine 7 ohne Strich durch den Bauch bei den Arabern zur 6 wird? Das sollen unsere arabischen Zahlen sein? Nun, Handschriften sind unterschiedlich, und im Verlauf der Jahrhunderte haben die arabischen Ziffern eben eine etwas andere Form angenommen. Zum Trost: Immerhin sehen die 1 und die 9 ein wenig vertraut aus. Um die Zahlen kennenzulernen – es ist eine kleine Hürde –, empfiehlt sich folgendes Spiel: Im Stau, in dem Sie oft genug stecken werden, können Sie auf den Nummernschildern die Zahlen in der fremden und in der vertrauten Schreibweise miteinander vergleichen. Falls Sie immer noch Zweifel haben sollten, daß wir außer den Zahlen auch einen Großteil unserer mathematischen Grundkenntnisse den Arabern zu verdanken -62-
haben: Die Null, die schlicht durch einen Punkt dargestellt wird, heißt auf arabisch sifr – genau, die Wurzel unserer deutschen Ziffer. In kaum einer zweiten Sprache wird Gott, Allah, so oft in den Mund genommen wie im Arabischen, ausgenommen vielleicht entlegene Gegenden im katholischen Niederbayern, wo sich Vergelt's Gott, Grüß Gott und Pfüad Gott noch erhalten haben. Inshallah und seine vielfältigen Bedeutungen haben Sie ja schon kennengelernt. Ähnlich ist ma'ashallah, wörtlich: wie Gott will, das aber im Sinne von »unberufen, klopf auf Holz« gebraucht wird. Fragen Sie einen Ägypter, wie es ihm geht, so wird er reflexartig erwidern: el – hamdullilah, »Gott sei Dank«. Selbst wenn die Frau krank ist, die Kinder mißraten und die Geschäfte schlecht er wird Gott für sein Schicksal danken. Immer gibt es irgendwo auf der Welt Menschen, denen es weniger gut ergeht als ihm. Kein Moslem wird irgendeine Tätigkeit oder eine Rede beginnen, ohne zuvor bismillah, »im Namen Gottes«, gemurmelt zu haben, damit das Unterfangen unter einem guten Stern stehe. Selbst wer nur einen Lift besteigt, wird auf diese Weise sein Schicksal in die Hand des Allmächtigen legen – in Anbetracht des technischen Zustandes der meisten ägyptischen Fahrstühle eine kluge Vorsichtsmaßnahme.
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Ahlan wa sahlan – welcome to Egypt
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Sehr oft wird man Sie in Ihrer eigenen Muttersprache ansprechen, und sei sie auch noch so ausgefallen. Dank den ausgedehnten Erfahrungen mit Touristen aus aller Herren Länder haben die Ägypter einen untrüglichen Blick für die Nationalität der in Shorts und bunten Hemden durch die Straßen bummelnden Fremden entwickelt. Gerade am unteren Ende des Fremdenverkehrsbetriebes, bei den Kameltreibern an den Pyramiden, den Droschkenkutschern in Luxor oder den Andenkenhändlern in Sakkara, beherrscht man souverän ein halbes Dutzend Weltsprachen, genauer, eine gute Handvoll allzeit brauchbarer Floskeln und Redewendungen. Ein Meister dieses Faches ist ein junger Mann namens Sherif, der seit Jahren die Kairoer Innenstadt unsicher macht. Dieses polyglotte Talent arbeitet als Schlepper für seinen Vater, der einen Parfumessenzenladen betreibt. Sherif parliert nämlich nicht nur ausländisch, und das fast akzentfrei, er hat auch für jede Nationalität eine maßgeschneiderte Lebensgeschichte parat. Sein – imaginärer – Bruder, so erzählt er den arglosen Touristen, arbeitet in München, Birmingham, Lyon oder Rotterdam, er selbst sei deshalb ganz vernarrt in Deutschland, England, Frankreich oder die Niederlande – je nachdem, aus welchem Land der angesprochene und von soviel Freundlichkeit überwältigte Fremde stammt. Eine spezielle Geschichte dachte sich Sherif für israelische Besucher aus, die nach dem Friedensvertrag von 1979 in hellen Scharen an den Nil kamen. Sein Bruder, erklärte er ihnen – auf hebräisch – mit ernster Miene und tränenerstickter Stimme, sei im ägyptischisraelischen Krieg 1973 bei der Überquerung des Suezkanals in feindliches Sperrfeuer geraten und gefallen. -65-
Gerührt kauften die Israeli bei Sherifs Vater die Blütenessenzen gleich literweise. Der Beredsamkeit von Sherif und seinen Nachahmern sind jedoch enge Grenzen gezogen. Dauert die Konversation zu lange und geht der Vorrat sorgfältig auswendig gelernter Phrasen zur Neige, müssen sie ihr Repertoire wieder von vorne anfangen, wie eine abgelaufene Spieluhr. Ausländische Sprachinstitute in Kairo und Alexandria führen einen aussichtslosen Kampf gegen Kursteilnehmer, die gezielt Schlüsselsätze wie »Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas Besonderes« oder »Für Sie mache ich einen guten Preis« für ihre Berufsausübung erlernen wollen. Ägypten hat indes auch ganz andere Meister der arabischen Sprache hervorgebracht und ist generell von Bedeutung für das von rund 200 Millionen Menschen gesprochene Idiom. Die in Kairo ansässige und für den gesamten arabischen Sprachraum – zumindest theoretisch – verbindliche Sprachakademie haben wir ja schon kennengelernt. Ebenfalls am Nil angesiedelt ist die Al Ahzar-Moschee nebst angeschlossener Universität als letzter Instanz in islamischen Angelegenheiten, die oft auch eine etymologische Note besitzen. Sie sind auf dem besten Wege zu erkennen, weshalb Ägypten sich als kultureller und geistiger Mittelpunkt der arabischen Welt begreift. Sollten Sie einem Libanesen, Saudi, Syrer oder Iraki begegnen, dann sparen Sie im Gespräch diese soeben gewonnene Erkenntnis lieber aus. Sie würden aufs Glatteis der gar nicht so brüderlichen Beziehungen der arabischen Länder geraten. Jeder sieht sein Land als Mittelpunkt der umma arabeia, der arabischen Nation, jeder behauptet von sich, das reinste Arabisch zu sprechen – und keiner hat im Grunde -66-
genommen recht. Die Ägypter haben immerhin den Vorteil, daß ihr Akzent in allen Winkeln der arabischen Welt verstanden wird. Denn in der Aussprache unterscheiden sich ein Marokkaner und ein Omani mehr voneinander als ein bayerisch sprechender Regensburger und ein platt snaakender Ostfriese. Das Fernsehen macht's möglich: Was für uns amerikanische TV-Serien, das sind für die Araber ägyptische Produktionen, die noch im fernsten Nomadenzelt begeistert verfolgt – und verstanden – werden. Daß Ägypter ihre Vettern kaum oder gar nicht verstehen, stört sie aufgrund erwähnten kulturellen Selbstbewußtseins wenig: Hauptsache, man wird gehört. Unbestritten, selbst bei den arabischen Brüdern, ist jedoch Ägyptens Beitrag zur arabischen Literatur. Das Nobelpreiskomitee in Stockholm erkannte das nach Jahrzehnten endlich an, als es mit dem Ägypter Naguib Mahfuz den größten lebenden Dichter arabischer Zunge auszeichnete. Mahfuz, der die Kunstform des Romans erst in die arabische Literatur einführte, erzählt vom Leben der einfachen Menschen am Nil, von seinem Land und den politischen Erschütterungen der letzten Jahrzehnte. Seine Bücher stellen somit eine Gebrauchsanweisung für Fortgeschrittene dar. Der mittlerweile fast taube alte Herr arbeitet weiter tagaus, tagein in seinem Büro in der Redaktion der Tageszeitung Al Ahram. Zum festen Ritual gehört auch der morgendliche Capuccino im Café Riche in Kairos Innenstadt. Mahfuz genießt in seinem Sprachraum eine in Europa kaum nachvollziehbare Popularität. So erstaunlich es klingt: Selbst Analphabeten, die aus offensichtlichen Gründen nie eines seiner Bücher gelesen haben, kennen und schätzen -67-
seine Werke. Denn schon früh schrieb Mahfuz seine Romane in Drehbücher um, damit er über den Film auch jene erreichte, denen seine Werke sonst unzugänglich wären. Leider wurden die wenigsten seiner Bücher ins Deutsche übersetzt. In Kairo können Sie indes eine verhältnismäßig große Auswahl auf Englisch erstehen, die von der American University Cairo herausgegeben werden. Aber Sie wollen ja nicht unbedingt nur lesen in Ägypten, sondern sich verständigen. Sie haben Glück, denn Sie werden Ägypter antreffen, die fließend Deutsch, Englisch oder Französisch beherrschen. Das Personal in den großen Hotels und Restaurants wird unter anderem danach ausgesucht, ob es sich einigermaßen auf englisch verständigen kann. Hier klingt die Aussprache beim ersten Hören etwas fremd, es ist jedoch nur eine Frage der Gewohnheit, bis man etwa hinter dem Zuruf a misju nicht das englische I miss you (ich vermisse dich) vermutet, sondern die französische Anrede »Eh, Monsieur« erkennt. Französisch ist noch heute die bevorzugte Sprache der gehobenen Stände, auch wenn es mehr und mehr durch das Englische verdrängt wird. Wer in Kairo auf sich hält und überdies genügend Geld besitzt, der schickt seine Kinder zunächst auf ein französisches Lycée und anschließend auf die amerikanische Universität der Stadt. Auch Absolventen der beiden deutschen Schulen von Kairo, der Deutschen Evangelischen Oberschule und der Schule der Borromäerinnen, genießen hohes soziales Ansehen. Im großen und ganzen hat Ägypten jedoch mit dem Exodus der Juden, der Armenier, der Griechen der Italiener in den fünfziger und sechziger Jahren viel von seinem internationalen -68-
Nimbus eingebüßt. Noch in den vierziger Jahren konnten ein christlicher armenischer Anwalt aus Mansura im Nildelta und sein jüdischer Klient in Kairo – beides ägyptische Staatsbürger – auf französisch korrespondieren. Heute wäre dies unmöglich. Die schwindenden Fremdsprachenkenntnisse überspielt der Ägypter mit einer unnachahmlichen und wenn auch nicht nachvollziehbaren – gleichwohl bezwingenden Logik. Dazu ein Beispiel. In einer Agenturmeldung, die ins Arabische übersetzt werden sollte, war die Rede von einem deutschen Restaurantbesitzer, der als letzten Schrei für verwöhnte Gourmets Schneckeneier anbot, die noch teurer und exklusiver seien als der beste Kaviar. Der ägyptische Übersetzer indes hatte in der arabischen Version die Schnecke kurzerhand in eine Schildkröte verwandelt. Zur Rede gestellt, verteidigte er sich mit einem Gegenangriff: »Ha, was wißt ihr denn«, rief er empört. »Schnecken legen doch überhaupt keine Eier.« Geduldig darauf hingewiesen, daß er sich vielleicht irren könnte, er jedenfalls fragen und die Schnecke nicht schlicht durch irgendein anderes eierlegendes Lebewesen ersetzen solle, schlug er einen logischen Salto mortale: »So? Und als ich das letzte Mal in Deutschland war, hat mich kein Mensch zu Schneckeneiern eingeladen. Bin ich nicht gut genug?«
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Allahu akbar oder: Gott ist auch im Islam sehr groß Wenn Sie Pech haben, dann liegt Ihr Hotel gleich neben einer Moschee. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gerade gering, da in den letzten Jahren in Ägypten Gebetshäuser oder räume wie die Pilze aus dem Boden schießen. Im Morgengrauen, kurz bevor die Hähne krähen, ist es mit Ihrer Nachtruhe vorbei. Eine blecherne Lautsprecherstimme, die gleichsam direkt neben Ihrem Ohr spricht, wird Ihnen weiszumachen versuchen: »Allahu akbar, Gott ist der Größte, das Gebet ist besser als der Schlaf, steht auf und betet.« Auch wenn Sie persönlich andere Prioritäten setzen würden, für einen frommen Moslem beginnt mit diesem Aufruf zum Morgengebet der neue Tag, dessen Ablauf bis zum Schlafengehen von seiner Religion geregelt ist – so wie sein ganzes Leben: Das erste Wort, das Neugeborenen ins Ohr geflüstert wird, lautet Allah, und Sterbende vernehmen als letztes den Namen Gottes. Vielleicht werden Sie mit gemischten Gefühlen ins islamische Ausland aufbrechen, sind doch unsere Vorstellungen vom Islam allzuoft geprägt von den Bildern tiefverschleierter Frauen, glutäugiger Ayatollahs und mittelalterlicher Körperstrafen wie Steinigung von Ehebrechern und Handabhacken bei Diebstahl. Wenn Ihnen dann tatsächlich auf der Straße die erste Frau in knöchellangem Gewand, mit Handschuhen und Gesichtsschleier begegnet, so werden Sie sich die bange Frage stellen, ob Sie den Cognac vorhin wirklich hätten trinken sollen. Keine Angst, Ihr Glas Bier oder Ihre Flasche Wein beides -70-
übrigens in Ägypten hergestellt und in Maßen durchaus trinkbar – wird Ihnen zumindest in den großen Touristenzentren problemlos zuteil, ohne daß Sie befürchten müssen, wegen eines Verstoßes gegen das vom Propheten Mohammed verhängte Alkoholverbot öffentlich ausgepeitscht zu werden. Ägypten ist weit davon entfernt, zu einer Hochburg radikaler Moslemfanatiker zu werden, und Ausländern begegnet man auch in religiösen Dingen mit großer Toleranz, solange sie nicht vorsätzlich bestimmte moralische Gebote des Islam verletzen. Solche Ge- und Verbote sind jedoch Legion, und über ihre Einhaltung wird schärfer gewacht als im Christentum. Der Groß-Scheich der über tausend Jahre alten Kairoer Al AzharUniversität, der für die 600 Millionen sunnitischen Moslems eine ähnlich hohe Instanz darstellt wie der Papst für die Katholiken, wird nicht müde, den Gläubigen immer wieder die vom Religionsstifter niedergelegten Vorschriften in Erinnerung zu rufen. Von Aids bis Zucht und Ordnung gibt es kein Thema unter der Sonne, zu dem nicht ein religiöses Urteil darüber, was haram (religiös verboten) und was halal (erlaubt) ist, gefällt wurde. Mit besonderer Detailfreude widmen sich die moslemischen Geistlichen dabei stets der Rolle der Frau. Nach altväterlicher Manier etwa urteilte der Groß-Scheich – für alle Gläubigen von Marokko bis Oman verbindlich –, daß ihr Platz »zu Hause bei den Kindern« sei und sie sich züchtig zu kleiden habe: »Allah hat den Frauen befohlen, ihre Körper von Kopf bis Fuß zu verhüllen, sobald sie erwachsen werden.« Vor allem das Haupthaar, dem in der islamischen Welt erotische Bedeutung beigemessen wird, müsse verdeckt sein. -71-
Die Haare gar färben zu lassen, zumal von einem männlichen Coiffeur, gilt als besonders verwerflich: »Zur Hölle fährt diese Frau«, meinte der Groß-Scheich. Auch Lippenstift, Wimperntusche und Rouge sind durch und durch haram: »Das Gesicht soll frei sein von Puder, Aussehen und Stimme der Frau sollen Respekt einflößen.« Nun werden Sie vermutlich verblüfft sein, daß Ihnen in Ägyptens Städten so viele modisch gekleidete Frauen begegnen, die meisterhaft mit Make-up umzugehen verstehen. Sie entnehmen daraus, daß die Ägypter trotz zunehmender Rückbesinnung auf traditionelle religiöse Werte nichts so heiß essen, wie es in der Al Azhar-Moschee gekocht wird. Religiöse Gebote in allen Ehren, doch sollte, bitte schön, die Kirche – pardon, Moschee – im Dorf bleiben. Dennoch gibt es gewisse Einschränkungen, die auch Sie respektieren und berücksichtigen sollten. So wird Ihnen auffallen, daß Männer und Frauen selbst in den tropischen Sommermonaten recht züchtig gekleidet sind. Tatsächlich wird keine Ägypterin, und sei es auch noch so heiß, ein trägerloses Kleid, eine tief ausgeschnittene Bluse anziehen. Auf ihren Büstenhalter würde sie ohnehin nie verzichten. Das islamische Verhüllungsgebot, das Frauen zu wandelnden Vogelscheuchen macht, mag zwar nicht zu hundert Prozent respektiert werden, doch das heißt noch lange nicht, daß man seine körperlichen Reize mehr oder weniger hüllenlos auf offener Straße zur Schau trägt. Um so mehr Anstoß erregen Touristinnen, die nur mit dem Nötigsten bekleidet durch die Straßen spazieren. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn sie von jungen Männern mit eindeutigen -72-
Angeboten bedacht oder gar durch Handgreiflichkeiten belästigt werden. So manche nordische Schönheit, die sich offenherzig ägyptischen Männern präsentiert, erfüllt nach Ansicht ägyptischer Soziologen den Straftatbestand der sexuellen Nötigung. Denn in Ägypten hat es nie so etwas wie eine Sexwelle gegeben. Dafür hat man viel und Falsches von der Lasterwelt Europas und Amerikas gehört – und entsprechend schätzt man blonde Mädchen aus dem goldenen Westen fälschlicherweise als leichte Beute ein. Vor allem, wenn sie sich »aufreizend« kleiden. Über Einhaltung von Anstand und Moral wacht eine unerbittliche religiöse und staatliche Zensur, die schon harmlose Anzeichen westlicher Libertinage in Wort, Schrift und Bild erbarmungslos ausmerzt. Selbst seriöse europäische Magazine landen auf dem Index, wenn irgendwo ein noch so kleiner nackter Busen blitzt. Ausländische Fernsehserien oder Spielfilme wirken manchmal, als seien sie in die Häckselmaschine geraten und anschließend von Blinden wieder zusammengeklebt worden – so konfus erscheint die Handlung, nachdem der Zensor sein Werk vollendet hat. Denn alles, was den Anstand untergraben könnte, wird unerbittlich getilgt. Es versteht sich von selbst, daß Pornos nie und nimmer in ägyptischen Medien dargeboten werden. Doch selbst etwas so Unverfängliches wie ein Kuß unterliegt auf Leinwand oder Bildschirm einer rigorosen Kontrolle. Erlaubt sind folgende Küsse: Mädchen küßt Schoßhund auf den Kopf, Vater küßt Töchterlein auf die Stirn, Vater begrüßt Freund mit Wangenkuß und das höchste der Gefühle – Vater küßt Mutter, wobei die Zärtlichkeit im Idealfall schon die Patina vieler Ehejahre angesetzt haben muß. -73-
Wer hier nicht handelt, der ist selber schuld: der Basar
Langärmelig selbst bei der größten Hitze
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Alle anderen Küsse, zumal die Unverheirateter, fallen unbarmherzig der Schere des Zensors zum Opfer. Es kann durchaus geschehen, daß ein Film von der Liebesgeschichte zweier junger Menschen handelt. Ihre Lippen werden sich auf der ägyptischen Leinwand jedoch zum erstenmal vor dem Traualtar berühren. Sie werden verstehen, weshalb amerikanische TV-Serien wie Dallas oder Denver-Clan als »Abgrund unmoralischer Lebensweise« gänzlich vom Bildschirm verbannt sind. Alexis würde die Geräte reihenweise implodieren lassen. Das strenge Auge des Zensors nimmt einheimische Filmproduktionen nicht minder genau unter die Lupe. Ägypten dürfte wohl das einzige Land der Welt sein, in dem Spielfilme für den heutigen Geschmack um so lasziver wirken, je mehr Jahre seit ihrer Entstehung verstrichen sind. Das ist, als würde uns Hildegard Knef in der Sünderin heute schneller den Atem stocken lassen als damals. (Nebenbei: Dieser Film hätte heute keine Chance bei der ägyptischen Zensur.) Vor allem auf Bauchtanzszenen aus Produktionen der fünfziger und sechziger Jahre haben es die Sittenwächter abgesehen. Denn damals durften die fülligen Damen noch unbedeckte Hüften schwingen, heute verhüllt zarte Gaze den Nabel. Nacktes Fleisch wird also nicht einmal in alten Schwarzweißstreifen geduldet. Keine Ausnahmen gibt es für die Nachtclubs, die Sie in Kairo in den internationalen Hotels und in langer Reihe entlang der Pyramidenstraße finden. Die Tänzerinnen bemühen sich redlich, einen Mittelweg zwischen Verhüllungsgebot und traditionellen Tanzkostümen zu finden. Sie dürfen sich unter einem Nachtclub grundsätzlich nicht -75-
dasselbe vorstellen wie ein Ihnen vertrautes Etablissement gleichen Namens zu Hause. Hauptattraktion dieser auch von Familien mit Kleinkind besuchten Einrichtungen sind das üppige Essen und stundenlange musikalische Darbietungen. Höhepunkt des Abends ist der Bauchtanz. Sie müssen schon eine gesunde Konstitution mitbringen, denn das Programm beginnt selten vor 23 Uhr, und die Bauchtänzerin hat erst in den frühen Morgenstunden ihren Auftritt. Ich weiß ja nicht, was Sie erwarten, aber besser nicht zuviel. Denn der neue islamische Puritanismus hat auch die Tänzerinnen mit einem Bannstrahl belegt. Zu lasziv wird keine Hüfte mehr gerollt. Unser Freund von vorhin, der Groß-Scheich von Al Azhar, ließ sich auch zu diesem Thema unzweideutig vernehmen: »Bauchtänzerinnen sind dem Teufel verfallen, auch eine Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten des Islam in Mekka rettet sie nicht, da sie ihr Geld mit Schande verdient haben.« Nagua Fuad, eine der großen Damen des Bauchtanzes, hielt pragmatisch dagegen: »Es war schließlich Gott, der mir dieses Talent geschenkt hat, und wenn ich nach Mekka pilgere, dann kann nur er mir ins Herz sehen und kein Scheich.« Trotzdem hat sich der generell schlechte Ruf der Bauchtänzerinnen verfestigt, wozu wohl die häufigen Eheschließungen einiger prominenter Vertreterinnen dieser Zunft beigetragen haben. Bei Nagua Fuad waren es sieben. Im Schoße der Ehe hingegen soll es nach den Vorstellungen der islamischen Gläubigen ganz anders zugehen. In Ägypten verlangt man von der Ehefrau unverblümt, daß sie »in der Öffentlichkeit eine Nonne, im Bett eine Hure« zu sein habe. Konzentrieren wir uns auf den ersten Teil dieses Gebotes. Sehr -76-
keusch verhalten sich Paare auf der Straße. Zwar wird Ihnen auffallen, daß viele Männer untergehakt oder händchenhaltend durch die Stadt schlendern. Männer und Frauen untereinander begrüßen sich traditionell mit der Akkolade, dem Wangenkuß. Doch bisexuelle Kontakte in der Öffentlichkeit zu paradieren, und seien sie so unverfänglich wie eine freundschaftliche Umarmung, das ist eindeutig haram. Auch Sie sollten sich an die Spielregeln halten, selbst wenn Ihre Hochzeitsreise an den Nil führt. Allzu heftige Zärtlichkeitsbekundungen sollten Sie sich für die Rückkehr ins Hotel aufsparen, wollen Sie anzügliche Bemerkungen oder größere Schwierigkeiten vermeiden. Halten Sie sich einfach an den zweiten Teil des oben erwähnten Gebotes. Die Prüderie führt indes auch zu Problemen und Frustrationen, vor allem bei jungen Männern. Ein Ventil gibt es nicht, die Prostitution wurde in den sechziger Jahren abgeschafft, na ja, zumindest offiziell. Tatsächlich ist ein Liebesverhältnis erst mit Trauschein möglich. Kein Hotel würde einem unverheirateten Paar ein Zimmer überlassen, darüber wacht an jeder Rezeption die Sittenpolizei. (Ausländer und Nichtmoslems genießen größere Freizügigkeit.) Die jungen Leute können einander nirgendwo näherkommen. Bis zur Hochzeit leben Braut und Bräutigam bei ihren Eltern, die jeden Schritt sorgsam überwachen und vor allem die Tugend der jungen Frau beschützen. Eine unbefleckte Jungfräulichkeit gehört zum Wichtigsten, was eine Frau in die Ehe einbringt. Sollte sich in der Hochzeitsnacht das Gegenteil erweisen, so hat der Ehemann das Recht auf sofortige Scheidung. Ägypter müßten indes nicht Ägypter sein, wenn sie nicht auch für solche Fälle eine Lösung gefunden -77-
hätten. Überall in Stadt und Land stellen Hebammen oder Ärzte die zerstörte Unschuld gegen Honorar wieder her. Wahrscheinlich nur in Ägypten gibt es die Einrichtung der »noch nicht vollzogenen Ehe«. Das bedeutet, daß eine Ehe erst dann wirklich gültig ist, wenn die Brautleute ihre eigene Wohnung – mit Schlafzimmer bezogen haben. Dies wird minutiös in den Papieren vermerkt, und aus den Flitterwochen im Doppelzimmer am Strand von Alexandria wird nichts. Die eklatante Wohnungsnot führt dazu, daß sich das Heiratsalter vor allem in Kairo und anderen Städten des Landes ständig erhöht. »Immer wenn ich sie treffe, ist entweder ihr Bruder oder ihre Mutter dabei«, seufzte ein 42jähriger Industriekaufmann, der um die Hand einer Dreißigjährigen anhielt. Keiner von beiden, versteht sich, hatte vorher eine Liaison. Elf Monate im Jahr wird Ihnen die tiefe Religiosität der Ägypter nicht unmittelbar ins Auge springen. Dies ändert sich jedoch im »heiligen Fastenmonat« Ramadan. Da der islamische Kalender, der mit der Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina im Jahr 622 n. Chr. beginnt, nach den Mondphasen berechnet wird, rückt der Ramadan jedes Jahr um dreißig Tage vor, so daß er einmal in den Sommer, einmal in den Winter fallen kann. Einem Moslem ist es in diesem Monat verboten, zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu essen, zu trinken oder zu rauchen. Nur für Kleinkinder, Schwangere und Reisende gibt es Dispens. Als Erkennungsmal für den Einbruch der Nacht empfahl der Prophet die Fadenprobe: Wenn es so dunkel ist, daß man einen weißen von einem schwarzen Faden nicht mehr unterscheiden kann, darf den leiblichen Genüssen wieder zugesprochen -78-
werden. Selbst jene Ägypter, die das ganze Jahr über einen weltlichen Lebenswandel pflegen und sogar Alkohol konsumieren, werden im Ramadan versuchen, sich an die Vorschriften ihrer Religion zu halten. Der Fastenmonat hält im ägyptischen Jahresablauf gleich zwei Rekorde. In keinem Monat gehen so viele Arbeitsstunden verloren, und in keinem anderen Monat wird soviel gegessen. Um genau zu sein: In diesen Tagen verzehren die Ägypter so viel, wie in den restlichen elf Monaten zusammengenommen. Die Regierung stellt sich auf den Ansturm ein und stockt jeweils rechtzeitig vor Beginn des Ramadan die Lebensmittellager auf. Was paradox erscheinen mag, entbehrt nicht einer gewissen inneren Logik. Denn zum Ausgleich für das stundenlange Darben am Tage schwelgen die Ägypter am Abend in erlesenen Leckerbissen. Der Iftar bei Sonnenuntergang, was soviel wie Frühstück und wörtlich Fastenbrechen bedeutet, ist am Nil ein unvergeßliches kulinarisches Ereignis. Die Tische biegen sich, und getafelt wird bis in die frühen Morgenstunden, wenn der Ausrufer mit seiner Trommel durch die Straßen zieht und die Gläubigen daran erinnert, daß wieder die Stunden der Enthaltsamkeit beginnen. Im Ramadan wird buchstäblich die Nacht zum Tage gemacht, und es gibt kein beeindruckenderes Erlebnis als einen Bummel über den Chan el-Chalili an einem Ramadan-Abend. Hunderttausende bevölkern die Cafes und Restaurants der verwinkelten Basarviertel, die mit bunten Glühbirnen geschmückt sind. Sie delektieren sich am ersten Schluck Wasser, am ersten Bissen Fleisch, am ersten Zug aus der Wasserpfeife nach einem langen, entbehrungsreichen Tag. -79-
Der Prophet soll sich im Ramadan noch ausschließlich von Datteln und Kamelmilch ernährt haben, doch die Ägypter mit ihrer um mehrere tausend Jahre älteren Kultur haben diesen Monat der Entbehrung in ein großes Volksfest mit exquisiten Leckereien verwandelt, die es das ganze Jahr über nicht gibt: etwa Konafa, ein zuckriges Gebäck, das an allen Straßenecken auf großen runden Blechen gebacken wird. Oder Ataief, mit süßem Rosinenquark gefüllte Teigtaschen, die jeden Iftar-Tisch zieren. Wer jedoch morgens um vier mit Sodbrennen und vollem Magen ins Bett sinkt, der kann schlechterdings um acht Uhr putzmunter an Schreibtisch oder Werkbank erscheinen. Bringen Sie also in diesem Monat besonders viel Geduld und Nachsicht für Ihren ägyptischen Geschäftspartner auf. Wenn er, meist erst am frühen Nachmittag, an seinem Arbeitsplatz erscheint, dann liegen noch unendlich viele Stunden der Selbstkasteiung vor ihm, bevor er sich wie auf Kommando in sein Auto wirft, um rechtzeitig zum Iftar daheim am vollen Tisch zu sitzen. Nie ist die Millionenmetropole Kairo entvölkerter als kurz vor dem Anbruch des Fastenbrechens am Abend, wenn alt und jung auf den Kanonenschuß von der Zitadelle – übrigens ein preußisches Geschütz aus dem Krieg von 1870/71 warten, der das Signal zum großen Gelage gibt. Verhandlungen oder Geschäftsabschlüsse sollten somit lieber auf einen anderen Monat vertagt werden. Wenn Sie dennoch während des Fastenmonats in Ägypten sein sollten, ist es ratsam, sich auf die besonderen Umstände einzustellen und die religiösen Gefühle der Einheimischen nicht -80-
gedankenlos zu verletzen. Das nächtliche große Fressen mag zwar recht verlockend klingen, andererseits ist es kein Kinderspiel, einen langen heißen Sommertag ohne einen Schluck Wasser auskommen zu müssen oder als Raucher auf das gewohnte Nikotin zu verzichten. Verkneifen Sie es sich deshalb, in diesen Tagen in der Öffentlichkeit eine Zigarette anzustecken oder genüßlich ein kühles Getränk zu schlürfen. Und seien Sie auch nicht ärgerlich, wenn Sie zum Abendessen keinen Wein bekommen. Im Ramadan gibt sich auch das Restaurant mit internationalem Flair islamischer als der Groß-Scheich. In Ägypten werden Ihnen nicht nur Leute mit dem Namen Mohammed (der mit Abstand häufigste Name in der islamischen Welt), Ali, Mahmud oder Salama über den Weg laufen, sondern auch Menschen, die auf Girgis, Butros, Morcos oder Hanna hören. Es sind Angehörige der koptischchristlichen Minderheit, deren prozentualer Anteil an der Gesamtbevölkerung ein ausgesprochenes Politikum darstellt. Die Regierung hat die Zahl der Christen im Land seit Jahren bei sechs Millionen festgeschrieben; die Kopten hingegen reklamieren für sich bis zu 20 Millionen Anhänger in dem Fünfzig-Millionen-Volk. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich – wie so oft – in der Mitte. Die Kopten weisen gerne darauf hin, daß Ägypten vor seiner Eroberung durch die moslemischen Araber die erste vollständig christianisierte Nation der Erde war. Ihr Evangelist ist der Apostel Markus (Morcos). Stolz betonen sie, daß sie die einzig wahren Abkommen der alten Pharaonen sind, da sie sich nie mit fremden Eindringlingen vermischt hätten. Tatsächlich erinnern die Gesichtszüge mancher Kopten an Wandmalereien aus Pharaonengräbern. Einen Girgis (Georg), Butros (Peter) oder -81-
Hanna (Hans) finden Sie meist in internationalen Firmen und Banken in mittlerer, aber entscheidender Position. Die hohen Posten in Staat, Armee und Privatwirtschaft sind – aus politischen Gründen – Moslems vorbehalten. Das war nicht immer so: Bis zur Revolution von 1952 dienten Kopten dem Land sogar als Premierminister. Stolz auf ihre Stellung als größte christliche Minderheit in der islamischen Welt, lassen viele koptische Eltern ihren Kindern ein Kreuz aufs Handgelenk tätowieren, gleich über der Pulsader, wo es ohne Lebensgefahr nicht mehr entfernt werden kann. Ein Rat zum Abschluß: Lassen Sie sich nie auf religiöse Debatten ein, auch wenn Sie wahrscheinlich öfter, als Sie dies von daheim gewohnt sind, nach Ihrer Glaubenszugehörigkeit gefragt werden. Denn die Religiosität, egal ob christlich oder islamisch, durchdringt sehr viel stärker als in Europa alle Bereiche des täglichen Lebens. Deshalb hängen Sie es nicht an die große Glocke, wenn Sie aus der Kirche ausgetreten sein sollten. Kein Moslem, und schon gar nicht ein koptischer Christ, wird begreifen können, daß jemand »an gar nichts glaubt«. Ersparen Sie sich langwierige Erklärungen des Unterschiedes zwischen Protestanten und Katholiken. Für einen Ägypter sind Sie Christ, damit punktum. Christentum und Judentum gehören zu den vom Islam anerkannten monotheistischen Weltreligionen. Sie sind allesamt »Völker des Buches«. Alles weitere ist von zweitrangiger Bedeutung. Ganz entscheidendes Gewicht kommt indes dem Aberglauben zu, der in Ägypten bis in vorgeschichtliche Zeiten zurückreicht und weder von der christlichen Kirche noch von den moslemischen Eroberern verdrängt werden konnte. Von der -82-
Wiege bis zur Bahre ist der Mensch im ägyptischen Volksglauben umringt von Kobolden, Gnomen, Gespenstern, Luftgeistern, Riesen und Monstern, kurz, der ganzen überirdischen Fauna, wie sie sich in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht tummelt, einschließlich Aladins Geist aus der Flasche. Christliche und islamische Religion, der pharaonische Götterglaube und heidnische Gebräuche verschmelzen im Aberglauben. Selbst der Koran anerkennt die Existenz außerirdischer Geister, der Dschinns, Afrits und Ghouls, denn auch sie habe Gott erschaffen, und zwar noch vor dem Menschen. »Wahrlich, wir haben den Menschen aus trockenem, tönernem Lehm erschaffen, aus schwarzem, zu Gestalt gebildetem Schlamm. Und die Dschinn erschufen wir zuvor aus dem Feuer des heißen Windes«, heißt es in der 15. Sure des Koran. Der Glaube an die Dschinns ist ungebrochen. Sie kommen als gute wie als böse Geister vor, schaden dem Menschen, aber helfen ihm auch. Immer wieder berichtet die ägyptische Presse allen Ernstes, daß ein Mann oder eine Frau von einem Dschinn, einem Geist, besessen sei. Gerade in entlegenen ländlichen Gegenden, aber nicht minder in den Slumvierteln der Großstädte Kairo und Alexandria, sind die Leute felsenfest davon überzeugt, daß sich ein Dschinn in einen Menschen verlieben und von ihm Besitz ergreifen kann. Ein Teufelsaustreiber wird gerufen, der mit Gebeten, Beschwörungen und zuweilen drastischeren Methoden den Dschinn zu bannen versucht. Manchmal kosten seine Bemühungen den angeblich Besessenen das Leben. Ghouls sind nach der Überzeugung abergläubischer Ägypter -83-
menschenfressende Riesen, die in fernen Wüstengegenden auf ihre Opfer lauern, um sie zu verspeisen. Aber diese Monstren sind mittlerweile im Volksglauben vom Aussterben bedroht, es gibt kaum noch jemanden, der ernsthaft an ihre Existenz glaubt. Anders dagegen mit den Afrits, wörtlich: kleine Teufel, die dem großen Satan unterstehen. Sie lauern an jeder Ecke, um den Menschen Ungemach zuzufügen. Sie sind vielleicht am besten mit unseren Kobolden zu vergleichen, die Schabernack treiben und böse Streiche spielen. Geht der Kühlschrank kaputt, springt der Motor nicht an, ein Ägypter wird einen kleinen Afrit dahinter vermuten. Allerdings erst in zweiter Linie. Zunächst wird der Ägypter seine lieben Mitmenschen für das Mißgeschick verantwortlich machen, die ihm den »bösen Blick« zugeworfen haben. Das böse Auge oder hassad, wie es im Arabischen genannt wird, ist allgegenwärtig. Es überwindet alle Klassenschranken, ist bei Professoren wie bei Analphabeten gleichermaßen gefürchtet. Auch aufgeklärte, moderne Ägypter, die sich nie als abergläubisch bezeichnen würden, glauben fest daran. Der böse Blick ist auch nicht auf Moslems beschränkt, schließlich wird er auch im Alten und Neuen Testament erwähnt. Das böse Auge schlummert in jedem Menschen, selbst im besten Freund, so wie ein bösartiger Mister Hyde in einem guten Doktor Jekyll steckt. Geweckt wird es durch Neid oder Begierde und beginnt umgehend sein Werk der Zerstörung. Das neue Auto wird in einen Unfall verwickelt? Sicher hat jemand den Wagen neidvoll betrachtet und ihm mit dem bösen Blick Unheil gebracht. Der gute Anzug bleibt an einem Nagel hängen und zerreißt? Keine Frage, jemand will dem Träger übel. Der -84-
Verlobte zieht sich eine schwere Erkältung zu? Klar, die beste Freundin mißgönnt der früheren Schulkameradin die gute Partie. So zahlreich die Möglichkeiten sind, vom bösen Blick getroffen zu werden, so reichhaltig ist die Palette von Schutzmechanismen, die die Ägypter schon in pharaonischer Zeit dagegen entwickelt haben. Bei Ausgrabungen in Luxor und Sakkara wurden mehr als 5000 Jahre alte Tonfigürchen gefunden, die mit Amuletten gegen den bösen Blick verziert waren. Damals wie heute waren das entweder ein mandelförmiges Horus-Auge oder ein türkisfarbenes Schmuckstück. Denn nach der altägyptischen Mythologie verlor der falkenköpfige gute Himmelsgott Horus sein Auge im Kampf gegen die böse Gottheit Seth. Als unser Sohn in Kairo zur Welt kam, begann Omchalil, das alte ägyptische Kindermädchen, fieberhaft mit Vorbereitungen zum Schutz des Neugeborenen. Denn Kinder gelten als besonders hassadgefährdet. Sie streifte dem Jungen zwei blaue Armreifen über die Handgelenke, über dem Bettchen wurde eine kleine ausgestreckte Hand befestigt – ein besonders beliebtes Schutzmotiv, da die Hand den bösen Blick abwehren soll. Am siebten Tag nach der Geburt zelebrierte sie die sogenannte suboa: Sie stieß laute Triller aus, machte mit Mörser und Stößel ohrenbetäubenden Lärm und ließ meine Frau siebenmal über den am Boden liegenden Jungen hin und her steigen. So und nur so, beteuerte sie, könnten die bösen Geister vertrieben werden. Dieser Aberglaube hat paradoxe Konsequenzen: Wer höflich sein will, der sollte sich mit Lob zurückhalten. Äußert sich etwa ein Freund überschwenglich über den wohlgeratenen, gut gedeihenden Nachwuchs, herrscht bei den Eltern höchste -85-
Alarmstufe. Die Lobeshymnen könnten ja ein Ausdruck von Neid sein, und der Säugling liefe Gefahr, krank zu werden. Eltern kämen nie auf die Idee, ihre Sprößlinge über den grünen Klee zu loben, aus Angst, den bösen Blick anzuziehen. Auf dem Land und in ärmeren Vierteln werden Ihnen unsäglich schmutzige Kinder in abgerissenen Kleidern über den Weg laufen: auch dies ein Schutz vor hassad. Denn ein schmuckes, herausgeputztes Kind kann nur Mißgunst hervorrufen. Einen besonders ausgefallenen Schutz gegen den bösen Blick haben sich Ägyptens Taxifahrer einfallen lassen, zusätzlich zu den Horus-Augen und Handsymbolen, die ihre Autos über und über bedecken. Sie befestigen an der hinteren Stoßstange einen Babyschuh. Die Erklärung: Jeder wird sich wundern, warum ein Kinderschühchen von der Stoßstange baumelt – und schon wird der böse Blick vom schönen neuen Auto abgelenkt und unschädlich gemacht.
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Auch Papierkrieg kommt von Papyrus oder: Die Heimat der Bürokratie Es begann botanisch-unschuldig vor mehreren tausend Jahren, als Ägypter entdeckten, daß man aus einer die Nilufer säumenden Schilfpflanze Beschreibstoff herstellen konnte, auf dem nicht zuletzt die Verwalter der Pharaonen ihre Listen und Abrechnungen festhielten. Die Erfindung des Papiers aus der Papyrusstaude war zugleich die Geburtsstunde der ägyptischen Bürokratie. Von zahllosen Generationen am Nil unermüdlich zu einer perfiden Perfektion verfeinert, sucht sie ihresgleichen. Mit einer Aufgeschlossenheit, die sie in Amtsdingen gewiß niemals an den Tag gelegt haben, übernahmen Ägyptens Beamte im Verlauf der Jahrhunderte darüber hinaus dankbar Anregungen der in bürokratischen Dingen ebenfalls nicht unerfahrenen türkischen, französischen und britischen Fremdherrscher. In zähem Fleiß gelang es ihnen, Eigenes und Fremdes zu einem undurchdringlichen Netz aus Anträgen, Verordnungen, Stempeln und Unterschriften zu verweben, aus dem es kein Entrinnen gibt. Von der ägyptischen Bürokratie als einem Staat im Staate zu reden, wäre untertrieben. Die Bürokratie ist der Staat. Wie schon im pharaonischen Reich der Schreiber eine herausragende soziale Stellung innehatte, so gilt es noch heute als erstrebenswert, als moasaf, als Beamter, beim Staat beschäftigt zu sein. Zwar ist der Verdienst nicht hoch, dafür aber sicher. Und ihre Verfügungsgewalt über Stempel und Formulare macht sie buchstäblich zu Herren über Leben und Tod. Als Tourist werden Sie sich kaum in dieses Labyrinth -87-
verirren, doch ausländische Geschäftsleute sind aus der Begegnung mit dem ägyptischen Amtsschimmel wenngleich nicht weiser, so doch sichtlich gealtert hervorgegangen. Wer als Fremder in Ägypten lebt, der schreckt zuweilen nachts aus dem Schlummer bei dem Gedanken etwa an die zollamtliche Deklaration von Umzugsgut. Wie eine uneinnehmbare Festung beherrscht die Gralsburg der Bürokratie das Herz von Kairo: die Mogamma, die für das ganze Land verantwortliche zentrale Verwaltungsbehörde auf dem Tahrir-Platz. Das graue, elfstöckige Gebäude, das schon von außen wie die Spottgeburt eines kafkaesken Alptraums wirkt, ist Tag für Tag Anlaufstelle Tausender Ägypter von Alexandria im Norden bis Assuan im Süden. Es ist wahrlich grotesk, daß Ägypten, das heute jedes Blatt Papier gegen teure Devisen aus dem Ausland einführen muß, alljährlich Tonnen davon mit Zahlen, Namen, Daten und Stempeln bedeckt, archiviert und anschließend in dunklen Kellerräumen stapelt. Und es entbehrt auch nicht einer gewissen Tragikomik, daß in einem Land mit mehr als 60 Prozent Analphabeten jeder Bürger in einen lebenslangen Papierkrieg mit dem Staat verstrickt ist, der für ihn – wenn auch nicht für seine Nachkommen – erst mit dem Tod endet. Wenn Sie nicht in einem Hotel absteigen, so wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben, als sich selbst zur Mogamma zu begeben, um dort die obligate polizeiliche Registrierung vornehmen zu lassen. Die entsprechende Ausländerbehörde befindet sich im vierten Stock und ist bekannt für ihre zügige Abfertigung, denn als Gast genießen Sie gewisse Privilegien.
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Gralsburg der Bürokratie: die Mogamma in Kairo
Streng verboten: Ziegel aus Nilschlamm beim Trocknen
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Nutzen Sie aber Ihren Aufenthalt in der Mogamma und werfen Sie einen Blick auf die langen Schlangen von Antragstellern, die für eine Grundbucheintragung oder die Kopie einer Geburtsurkunde mehr als tausend Kilometer weit in die Hauptstadt gereist sind. Denn da es keine lokalen Einwohnermeldeämter gibt, ist für alles die Mogamma in Kairo zuständig. Sie werden rasch bemerken, daß sich die ägyptische Bürokratie eine eigene Hierarchie mit ihren Satrapen, Handlangern und Helfershelfern geschaffen hat. Vor dem Eingang zur Zentralbehörde, eingeklemmt zwischen dem grauen Gemäuer und dem Busbahnhof, haben sich die Schreiber niedergelassen, die den des Lesens und Schreibens unkundigen Bauern des Niltales beim Ausfüllen der Formulare helfen. Gleich daneben hocken alte Frauen, die amtliche Stempelmarken verkaufen, wie sie auf jedes Dokument geklebt werden müssen. Und mittendrin haben sich die Fotografen postiert, deren vorsintflutlichen Kameras jedem Museum zur Ehre gereichen würden. Der Antragsteller wird auf einem wackligen Hocker zurechtgesetzt, der Fotograf verschwindet unter einem schwarzen Tuch, drückt auf den Auslöser – und fertig ist das Paßbild. Für Bürger Mohammed beginnt der Leidensweg allerdings erst mit dem Betreten des Gebäudes. Es kann ihn manchmal einen ganzen Tag kosten, bis er in dem Maulwurfslabyrinth von Treppenhäusern, Korridoren und Zimmern das für sein Anliegen zuständige Büro ausfindig gemacht hat. Ist er dann – nach stundenlangem Antichambrieren – endlich vor dem zerkratzten Metallschreibtisch des richtigen Beamten gelandet, der vermutlich in ein lebhaftes Telefongespräch mit seiner Gattin über -90-
die Gestaltung des Abendessens vertieft ist, kann er noch nicht aufatmen. Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck wird der Bürovorsteher die demütig dargereichten Papiere in Empfang nehmen und zunächst eingehend daraufhin untersuchen, ob er nicht einen Formfehler entdecke. Findet er alles in Ordnung, so wird sich seiner Brust ein tiefer Seufzer entrinnen angesichts der Tatsache, daß er nun amtstätig werden muß. Halt, halt, nicht so vorschnell, der Amtsvorsteher ist mit seinem Latein noch lange nicht am Ende. Vorwurfsvoll wird er den Antragsteller erneut wegschicken, um eine angeblich fehlende Stempelmarke, ein weiteres Paßfoto oder – schlimmer – ein zusätzliches Dokument aus der Heimatgemeinde beizubringen. Nicht einmal die Beamtenschaft hat Berichten widersprochen, wonach sich Bürger nach solch bitteren Erfahrungen mit völlig zerrütteten Nerven vom obersten Stockwerk der Mogamma in den Tod gestürzt haben. Schließlich ist es ja nicht die Aufgabe des Staatsdieners, den Bürgern das Leben zu erleichtern. Wichtig ist vielmehr, die eigene Bedeutung und Würde zu unterstreichen und die jahrtausendealte Tradition der Bürokratenzunft hochzuhalten, die mit dem Hofsekretär eines Pharao begann, der den stolzen Titel trug: »Herz des Königs, das berechnet, was ist, und zählt, was existiert.« Es wäre geradezu frevelhaft, diesen hehren Kult zu einer wachsweichen, bürgernahen Verwaltung verkommen zu lassen. Das Selbstverständnis der ägyptischen Beamten beschrieb der zeitgenössische ägyptische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Naguib Mahfuz in seinem Roman El-Sayed ElMohtarram (»Sehr geehrter Herr«). Sein Held, der ehrgeizige Staatsdiener Osman Bajumi, legt sich eine quasi religiöse Recht-91-
fertigung für sich und seinesgleichen zurecht. Schon im alten Ägypten, so meint er, sei eine Beamtenstelle »heilig wie die Religion« gewesen: »Der ideale Bürger einer anderen Nation konnte ein Krieger, ein Politiker, ein Händler, ein Handwerker oder ein Seemann sein, aber in Ägypten war es immer ein Staatsbeamter. Selbst die Pharaonen waren doch nichts anderes als Beamte, die von den himmlischen Göttern zur Verwaltung des Niltales eingesetzt wurden.« Glücklich zieht Bajumi die Schlußfolgerung: »Eine Beamtenstelle ist ein Ziegelstein im Gebäude des Staates, und der Staat ist Ausfluß des auf Erden fleischgewordenen göttlichen Geistes.« Sie können mir ruhig glauben, daß Mahfuz ein realistischer Autor ist, der sich nicht in poetischen Übertreibungen verliert. An diesem von keiner falschen Bescheidenheit getrübten Selbstverständnis sind bislang alle Versprechungen ägyptischer Regierungen gescheitert, Verwaltungsvorgänge zu vereinfachen. Als großer Erfolg wurde verbucht, daß es gelang, die Zahl der für die Erteilung einer Importgenehmigung erforderlichen Verwaltungsschritte von über siebzig auf knapp vierzig fast zu halbieren. Wenn Sie also nicht umhinkommen, mit der Bürokratie näheren Kontakt zu halten, so wappnen Sie sich mit einer gehörigen Portion Gelassenheit – und Humor. Statt sich über die Langsamkeit und Unlust der Beamten zu ärgern, sollten Sie lieber stillvergnügt Beobachtungen anstellen. Genießen Sie etwa die wundersame Wandlung eines unansehnlichen Fetzens Papier in ein hochoffizielles Dokument. Ein untergeordneter Staatsdiener wird Ihr Anliegen kalligraphisch perfekt zu Papier bringen und unterschreiben, denn kein -92-
Beamter würde etwas so Vulgäres wie eine Schreibmaschine benutzen. Sie reichen ihm einige Stempelmarken, mit denen Sie sich vorsorglich eingedeckt haben, und Ihr Zettel erhält die ersten bunten Farbkleckse. Nachdem es so mehrere Büros durchlaufen hat, werden Sie das Blättchen nicht wiedererkennen: Über und über mit Stempeln, Unterschriften und Marken verziert, wirkt es wie das Original eines Friedensvertrages aus dem 17. Jahrhundert. Dabei ist es bloß der Antrag auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis. Natürlich gibt es auch einen zügigeren Weg durch dieses Labyrinth. Die Schlüsselwörter heißen Bluff und Bakschisch. Denn die unterbezahlten Beamten sind gerne bereit, fünf gerade sein zu lassen, wenn Ihnen das eine Kleinigkeit wert ist. Halten Sie sich nicht mit subalternen Beamten auf, sondern verlangen Sie gleich den mudir, den Bürovorsteher, zu sprechen. Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Lassen Sie die Namen einflußreicher Regierungsvertreter fallen, erwähnen Sie beiläufig das gemeinsame Golfspiel mit dem Herrn Unterstaatssekretär – auch wenn Sie die Herrschaften nur vom Hörensagen kennen. Sie werden staunen, wie schnell die Mischung aus Furcht vor einem Rüffel durch die angeblich mit Ihnen befreundeten Vorgesetzten und dem Wunsch nach Aufbesserung des mageren Salärs das gewünschte Ergebnis erbringen wird. Ein wohlhabender ägyptischer Geschäftsmann, der eine gut 60.000 Mark teure Luxuslimousine importierte und dafür 100 Prozent Zollgebühren hätte entrichten müssen, brüstete sich öffentlich, nicht mehr als 17.000 Pfund gezahlt zu haben. »Ich brauchte 17 Unterschriften«, erklärte er mit entwaffnendem Lächeln. -93-
Für heiklere Verwaltungsakte empfiehlt es sich, die Dienste eines professionellen Pfadfinders durch die verschlungenen Wege der Bürokratie in Anspruch zu nehmen. Jede größere Firma beschäftigt so einen »Fixer«, ohne den der einfachste Antrag auf Nimmerwiedersehen im Ämtersumpf verschwinden würde. Sie kennen aus jahrelanger Zusammenarbeit Amtsvorsteher, Direktoren und Staatssekretäre. Sie verfolgen ihre Karrieren und halten sie mit kleinen Geschenken und Gefälligkeiten bei Laune. Ein Unternehmen kann eher den Verlust eines Millionenauftrages verkraften als den Tod eines langjährigen, erfahrenen Fixers. Doch zurück in die Mogamma. Die Bedeutung eines mudir können Sie im allgemeinen leicht an der Anzahl der Telefone auf seinem Schreibtisch erkennen. Je einflußreicher er ist, desto mehr Apparate umringen ihn. Meist prangt mitten auf dem Schreibtisch ein in prächtiger Kalligraphie ausgeführtes Holzschild mit seinem Namen und Titel. Unterdrücken Sie um Himmels willen ein spöttisches Lächeln, wenn Ihnen Ihr Gesprächspartner als »Stellvertretender Vize-Unterstaatssekretär für den Fruchtsaftsektor« oder als »Bürovorsteher des Bürochefs im Büro des Ministers« vorgestellt wird. Der Mann mag die höchsten Zinnen der Hierarchie noch nicht erklommen haben, dennoch hat er sich bereits meilenweit über das Heer der namenlosen kleinen Beamten erhoben. Vergessen Sie dabei nie, daß er gleichwohl einen Bruchteil dessen verdient, was ein Automechaniker im Monat erwirtschaftet. Zum Ausgleich schwelgt er im Gefühl seiner eigenen Wichtigkeit, die ihm als Repräsentanten des Staates zusteht. Zeigen Sie ihm, daß Sie ihn als bedeutende Persönlichkeit anerkennen. Stapeln auch Sie -94-
getrost ein wenig hoch. Bescheidenheit gilt dem Ägypter nicht als Zier. Wenn Sie etwa als Großhandelsvertreter an den Nil reisen, so stellen Sie sich ohne mit der Wimper zu zucken als »Generaldirektor der Verkaufsorganisation für Afrika und den Nahen Osten« vor. Die Übertreibung ist fester Bestandteil des beruflichen und privaten Lebens. Ägypter ziehen daher von allen erwähnten Titeln von vornherein die Hälfte ab. Treten Sie womöglich als schlichter Vertreter auf, so wird nach der im Geiste vorgenommenen Subtraktion in seinen Augen nicht mehr als ein Kommis übrigbleiben. Im Gespräch wären diese langen Titel natürlich auf Dauer ein wenig beschwerlich. Doch die Ägypter haben auch dafür Abhilfe geschaffen, indem sie einfach die alten türkischen Adelstitel beibehielten, deren Abschaffung sich die jungen Offiziere um Gamal Abdel Nasser nach ihrer Revolution 1952 fest vorgenommen hatten. Desungeachtet sind die als Überbleibsel der bourgeoisen Monarchie verfemten Paschas, Beys und Effendis am Nil heute lebendiger denn je. Wurden diese Titel früher gleich dem englischen Adelsprädikat Sir vom Sultan in Konstantinopel oder vom König in Kairo auf Lebenszeit verliehen, so erhält man die Auszeichnung heute billiger: Oft hängt es nur von der Höhe des Bakschisch, des Trinkgeldes, ab. Im Grunde genommen hat sich nichts Wesentliches geändert, denn in den letzten Jahren der ägyptischen Monarchie kaufte man sich den Titel bei Hof. In Ägypten, das seit pharaonischen Zeiten eine strikte Hierarchie und feine Rangunterschiede kennt, mußte Nassers Plan fehlschlagen, jeder Mann und jede Frau banal und egalitär mit sayed und sayeda (Herr und Frau) anzusprechen. -95-
Überall ist Platz für einen Imbiß
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Ein Versuch, das revolutionärneutrale moattel (Bürger) einzuführen, verfing schon gar nicht. Mit Bürger Mahmud oder Bürger Ali werden Wehrpflichtige angeredet – bis sie ihren ersten militärischen Rang erhalten. Es bedarf großen Fingerspitzengefühls, um sich durch das Labyrinth der Titel und Anreden zu finden. Der Effendi, einst Ehrentitel eines jeden führenden Regierungsbeamten, ist heute selbst als Alltagsanrede dem ranghöheren Bey gewichen. Trägt der Angesprochene eine Brille, so empfiehlt sich als Anrede ustes (Professor). Der akademisch niedrigere Grad des Doktors steht hingegen in der Konversation über dem Professor. Ältere Menschen, auch wenn sie nur Schuhe putzen, sollten mit der Anrede hag (Pilger) ausgezeichnet werden, obschon sie nie die heiligen Stätten von Mekka und Medina besucht haben. Selbst verwandtschaftliche Bezeichnungen bleiben nicht auf die Auf den Titel allein kommt es jedenfalls nicht an, auch der Ton macht die Musik. Ein ironisches Pascha an die falsche Adresse kann beleidigender sein als ein ibn kalb, ein Hundesohn, das übelste Schimpfwort der arabischen Sprache. Eine Anrede teilt sich die höchste Autorität im Lande mit den niedrigsten Ägyptern: rais, Führer, sind im allgemeinen Kellner in billigen Lokalen (bessere heißen maître), Türsteher und Garagenwächter. Dieser Titel, den einst die Flußlotsen auf dem gefährlichen Oberlauf des Nils stolz trugen, gebührt auch dem Staatspräsidenten, dann allerdings mit ehrfurchtsvollem Unterton in der Stimme. Der republikanische Staatschef steht nicht nur an der Spitze der Beamtenpyramide, in den Augen des Volkes ist er auch an die Stelle des Pharao getreten. Die von Journalisten und -97-
Komponisten zu seinen Ehren verfaßten Lobeshymnen erinnern deshalb, noch 4000 Jahre später, frappant an jene Antwort der Beamtenschaft an einen ägyptischen Gottkönig: »Du gleichst dem (Sonnengott) Re in allem, was du tust, alles, was dein Herz will, geschieht. Welchen Weg kenntest du nicht? Wer hat ihn vollendet wie du? Und wo wäre ein Ort, den du nicht gesehen hättest. Du wirst leben in Ewigkeit, und immer wird man deine Gedanken ausführen und allen deinen Worten gehorchen.« Ganz so dick brauchen Sie heute im Umgang mit ägyptischen Beamten, Ministern oder dem Staatschef selbst nicht mehr aufzutragen. Verstehen Sie die alte hieroglyphische Inschrift eher als grobe Richtschnur.
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Unbekannter Urahn Ramses oder: Have you been to Upper Egypt?
In jeder Konversation in Ägypten wird Ihnen der einheimische Gesprächspartner über kurz oder lang die interessierte Frage stellen: Have you been to Upper Egypt?, waren Sie schon in Oberägypten. Er erwartet von Ihnen bewegte Worte über die Königsgräber von Luxor, die Tempel von Karnak und Abu Simbel, kurz: die Zeugen der pharaonischen Vergangenheit. Begnügen Sie sich mit allgemein gehaltener Begeisterung und versagen Sie sich eine Diskussion über die faszinierende Architektur oder die wunderbaren Wandmalereien. In neun von zehn Fällen wird Ihr Ägypter die steingewordenen Zeugnisse der Vergangenheit seiner Heimat nur aus solchen und ähnlichen Gesprächen kennen. Er selbst war vermutlich das letzte Mal, wenn überhaupt, als gelangweiltes Schulkind in Luxor. Denn was für jeden ausländischen Touristen Höhepunkt seiner Reise an den Nil ist, das klassische Ägypten, könnte für die Nachfahren der Pharaonen von heute genausogut auf einem anderen Stern liegen. Zwar wird immer wieder die vieltausendjährige Geschichte des Landes beschworen – je nach Pathos sind es mal 5000, mal 6000, mal 7000 Jahre –, doch für Ali Normalverbraucher erfüllen Pyramiden, Tempel und Gräber hauptsächlich die Funktion von Devisenbringern. Solange die verrückten Ausländer auch noch Geld dafür bezahlen, eine Ansammlung alter Steine zu besichtigen, sollte man sie nicht daran hindern.
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Tatsächlich waren es Europäer und nicht Ägypter, die erstmals vor knapp zweihundert Jahren darangingen, die pharaonischen Altertümer von Staub, Sand und Schutt zu befreien, zu erforschen und zu enträtseln. Den Auftakt bildete Napoleons ägyptische Expedition 1798 bis 1801. Der große Korse hatte einen Stab von Landvermessern, Technikern, Geschichtsgelehrten und Archäologen mitgebracht, die systematisch damit begannen, dem geheimnisumwobenen Ägypten seine Mysterien zu entreißen. Daß Napoleon dabei den einen oder anderen Obelisken ins Ausland entführte, schmückt zwar heute die Place de la Concorde in Paris, schmerzt aber die Ägypter. Das Ergebnis der Arbeit von Napoleons Fachleuten war ein 35-bändiges Werk, die Description de l'Egypte, die bis zum heutigen Tag umfassendste und detaillierteste Beschreibung des alten Ägypten. Ein Franzose, François Champollion, war es auch, der mit Hilfe des in der ägyptischen Hafenstadt Rosetta gefundenen Dreisprachensteins als erster die Hieroglyphen entzifferte, und selbst die Gründung des Ägyptischen Museums in Kairo mit seiner weltweit unübertroffenen Sammlung altägyptischer Kunst geht auf ausländische Anregungen zurück. Im 19. Jahrhundert gaben sich Ägyptologen und Archäologen aus Deutschland, Frankreich, England und Italien ein Stelldichein am Nil, gefolgt von kunstbeflissenen Bildungstouristen, die sich – auf schwankem Kamelsattel – vor Pyramiden und Sphinx ablichten ließen. Reisende und Gelehrte taten es Napoleon gleich und verfrachteten die schönsten von ihnen entdeckten Stücke in die Heimat. Die von Kairo geforderte Rückgabe etwa der Nofretete-Büste oder des Kinnbartes der Sphinx belasten deshalb bis heute in regelmäßigen Abständen -100-
die Beziehungen zwischen Ägypten auf der einen und der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien auf der anderen Seite. Um einen weiteren Aderlaß wertvollen kulturellen Erbes zu unterbinden, hat die Regierung in Kairo die Ausfuhr antiker Stücke mit harten Strafen bedroht. Dennoch werden Ihnen, vor allem in Luxor, angeblich authentische Stücke aus pharaonischer, griechischer oder römischer Zeit zum Kauf angeboten. Lehnen Sie einen Handel nicht von vornherein ab. Denn solange es sich nicht um Mumien oder Monumentalstatuen handelt, deren Rücktransport Ihnen angesichts der Zwanzig-KilogrammBegrenzung für Fluggepäck sowieso Schwierigkeiten bereiten würde, oder um Gold und andere Edelmetalle, nehmen es die Zöllner nicht so genau. Die Ausbeute der Archäologen an Skarabäen oder kleinen Tonfigürchen ist so reich, daß es niemandem auffällt, wenn die einheimischen Hilfskräfte bei Grabungen das eine oder andere Stück verschwinden lassen. In den meisten Fällen wird man Ihnen Fälschungen zu verkaufen suchen, die oft so gut den Originalen nachgebildet sind, daß man schon ein Experte sein muß, um einen Unterschied festzustellen. Es gilt die Regel: Wenn ihnen das Stück gefällt und Sie sich auf einen akzeptablen Preis einigen, dann greifen Sie ruhig zu. Das Fälscherhandwerk in Luxor hat eine derart lange Tradition, daß hundert Jahre alte Repliken heute als Kunstwerke eigenen Ranges gegen Aufpreis gehandelt werden. Das offizielle Ägypten versteht sich nur als Nachlaßverwalter des antiken Erbes beziehungsweise der Einnahmen aus dem Kulturtourismus. Dies überrascht nicht, wenn man bedenkt, daß -101-
der Geschichtsunterricht an ägyptischen Schulen erst bei der Eroberung des Landes durch die Araber und den Islam unter Amr Ibn al A'as im Jahr 641 nach Christi ansetzt. Seit der Bekehrung Ägyptens zum Islam haben die pharaonische Götterwelt und ihre Gottkönige für die Moslems den Beigeschmack des Heidentums. Die frühen islamischen Herrscher des Niltales vernachlässigten ganz bewußt das klassische Erbe, obschon sich zahlreiche Bräuche und Sitten aus pharaonischer Zeit im Bewußtsein des einfachen Volkes bis in die Gegenwart erhalten haben. Durchaus pragmatisch bedienten sich Herrscher wie Untertanen indes der steinernen Relikte der heidnischen Vorfahren. Der große Saladin etwa ließ zum Bau der Zitadelle von Kairo Steine aus den Pyramiden von Gizeh brechen und heranschleppen. Viele einfache Bauern, die sich eine feste Unterkunft errichten wollten, taten es ihm gleich. Saladins Sohn, Nejm ElDin el Ajjubi, wollte Ende des 12. Jahrhunderts die »gottlosen Bauwerke« gänzlich schleifen lassen. Klugerweise begann er mit der kleinsten, der 62 Meter hohen Mykerinos-Pyramide. Nach achtmonatiger knochenbrecherischer Arbeit zog er seine aus dem ganzen Land herbeigerufenen Arbeiter jedoch unverrichteterdinge ab. Ihre Mühen hatten Form und Aussehen der Pyramide kaum verändert. Dies soll Sie nicht zu der irrigen Annahme verleiten, daß die Ägypter ihre Altertümer kampflos ausländischen Touristen überlassen. Mitnichten. Wenn Sie die Cheops- und ChephrenPyramide, die Totenstadt von Sakkara oder die Ausgrabungen von Luxor besuchen, so müssen Sie zunächst durch ein Spalier malerisch gekleideter Gestalten Spießruten laufen, die Ihnen -102-
alles Erdenkliche unter der Sonne anbieten: Kamelritte, Postkarten, Antiquitäten, Teppiche und Kitsch in jeder Form, Farbe und Gestalt. Alles, was annähernd an Horus, Re und Anubis erinnert, wird verramscht. Das Dörfchen Kerdasa zu Füßen der Sphinx lebt seit Generationen von Gutgläubigkeit und Spendierfreude der Touristen. Und die Einwohner von Gurna auf dem Westufer des Nils gegenüber Luxor stellen seit Jahrzehnten die Dragomane, Taxifahrer, Antikenhändler und Kaleschenkutscher. Es bleibt Ihnen weitgehend selbst überlassen, wie Sie sich des Ansturmes erwehren. Im allgemeinen empfiehlt sich der Besuch von Tempeln mit einer Gruppe. Ihr Führer besitzt genügend Erfahrung und Durchsetzungsvermögen, um die zudringlichen Händler zurückzuweisen. Er erspart Ihnen auch eine Erfahrung, auf die Sie ebenfalls reinen Herzens verzichten können: den graubärtigen Tempelwächter in langer hemdartiger Galabeya, der unaufgefordert seinen Schatz an historischem Wissen vor Ihnen ausbreitet. Seine Kenntnisse erschöpfen sich jedoch meist in erhellenden Hinweisen wie: This old, this very old, this pharaonic. Lassen Sie sich den Aufenthalt in Oberägypten nicht durch solche Zwischenfälle verdrießen. Sehen Sie auch darüber hinweg, daß man Ihnen als Ausländer mehrfach höhere Eintrittspreise abverlangt als Ägyptern. Das ist von Staats wegen so geregelt, angeblich, um auch finanzschwache Ägypter an die Zeugnisse der Vergangenheit heranzuführen. Brechen Sie zeitig am Morgen zu Ihren Besichtigungstouren auf. Zum einen ist die Hitze noch erträglich, zum anderen ruhen die meisten der unerwünschten dienstbaren Geister um diese Stunde in Morpheus' Armen. Nehmen Sie sich eine Felukka, eines jener -103-
seit Jahrhunderten unveränderten flachkieligen Nilboote (nicht ohne vorher den Preis ausgehandelt zu haben), und kreuzen Sie ein paar Stunden auf dem Strom. Sie erhalten einen Eindruck von der Zeitlosigkeit dieses Landes, dessen ununterbrochene Blütezeit bis zur Eroberung durch den griechischen Feldherrn Alexander den Großen dieselbe Spanne umfaßte wie von der Geburt Christi bis in unsere Tage. Nicht zuletzt: Versuchen Sie, vor Ihrer Reise ein paar Hausaufgaben zu machen und sich theoretisch vorzubereiten auf die Wunder, die Sie erwarten. Die Kultur des alten Ägypten ist uns fremd, fremder allemal als die griechische oder die römische. Es wäre schade, wenn Sie verständnislos vor den Monumentalstatuen Ramses des Großen in Abu Simbel stünden und nichts verspürten von der Größe dieses untergegangenen Reiches, das für Jahrtausende die in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht führende Weltmacht war. Vielleicht rührt das Desinteresse der Ägypter an ihrer pharaonischen Vergangenheit auch daher, daß die meisten Überreste dieser Kultur auf dem linken Nilufer, der Sonnenuntergangsseite und somit in der Wüste liegen. Die Wüste ist für den Ägypter, der in 99 von 100 Fällen von Bauern aus dem fruchtbaren Niltal stammt, terra incognita. Nie würde er freiwillig einen Fuß dorthin setzen. Schon ihre pharaonischen Vorfahren betrachteten ihr Land entlang dem mehr als tausend Kilometer langen Lauf des Nils als eine Art langgestreckter Oase, die im Norden vom Mittelmeer, im Osten und Westen von den Sandmeeren der Sahara begrenzt war. Sie hatten nicht einmal ein eigenes Schriftzeichen für Wüste, sondern verwendeten dieselbe Hieroglyphe wie für Ausland. Die Sinai-104-
Halbinsel nannten sie den »Platz der Nasenlosen«. Verbrechern wurden nämlich die Nasen abgeschnitten, bevor sie ans Ende der Welt, auf den Sinai, verbannt wurden. Mit einer Ausdehnung von einer Million Quadratkilometer nimmt Ägypten von der Fläche her in der Weltrangliste den 28. Platz ein. Die Bundesrepublik würde viermal darin Platz finden, Österreich elfmal und die kleine Schweiz gar 22mal. Doch nur vier Prozent der Fläche sind landwirtschaftlich nutzbar, das entspricht der Größe des eidgenössischen Territoriums. Der Rest ist Wüste und in den Augen der Ägypter unnütz. Im Verlauf der Geschichte haben die weiten öden Sandflächen die seßhaften Bauern des fruchtbaren Niltales allerdings immer wieder vor Invasoren geschützt. Feinde hatten nur eine Chance, wenn sie sich mit den Beduinen zusammenschlossen, denen ein Ägypter deshalb bis zum heutigen Tag aus tiefstem Herzen mißtraut. Der in vorgeschichtliche Zeit zurückreichende Konflikt zwischen Nomaden und Bauern ist in Ägypten noch immer aktuell. Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit für die Durchtriebenheit und den politischen Weitblick der Beduinen geben dem alten Mißtrauen neue Nahrung: Als sich im Verlauf der ägyptisch-israelischen Friedensverhandlungen abzeichnete, daß der Sinai an Kairo zurückfallen würde, kauften die Beduinen in dem von Israel besetzten Landstrich spottbillig Autos, die am Nil unerschwinglich teuer waren, und vergruben sie in den Sanddünen. Kaum hatten die Ägypter schließlich wieder von der Halbinsel Besitz ergriffen, da buddelten die Beduinen die Wagen aus und verkauften sie gegen Aufpreis an die neuen Herren. Es dürfte wohl einmalig in der Geschichte sein, daß nicht Schmuggelware über die Grenze, sondern die Grenze über -105-
die Schmuggelware gezogen wurde. Die Seßhaftigkeit der Ägypter und ihre Verwurzelung im dichtbevölkerten Niltal und -delta erweisen sich jedoch als ein von Jahr zu Jahr größeres Problem. Alle zwölf Monate wächst die Bevölkerung um l,4 Millionen Menschen, die auf dem schmalen Grünstreifen beiderseits des Flusses kaum mehr Raum finden. Mit großem propagandistischen Aufwand, doch bescheidenem Erfolg, betreiben verschiedene Regierungen seit Jahren den Plan, in der Wüste nagelneue Trabantenstädte aus dem Boden zu stampfen. Sie sind entweder nach Daten der jüngeren Geschichte benannt, wie 6.-Oktober-Stadt und 15.-Mai-Stadt, oder sie tragen die Namen von Staatspräsidenten. Der Sadat City folgte kürzlich eine Mubarak-Stadt. Die Grundsteinlegung dieser Satellitensiedlungen wird gemeinhin als großes Spektakel inszeniert, bald folgen Straßenzüge und Laternen, die auch pünktlich jeden Nachmittag um vier angeschaltet werden und die Dünen illuminieren. Dann tritt eine Pause ein. Jahre später beginnt man mit dem Bau der ersten Häuser und Industrieanlagen; Interessenten werden mit steuerlichen Erleichterungen und billigen Grundstückspreisen angelockt. Bis die ersten Bewohner eingezogen sind, wirken die Gebäude meist schon abbruchreif. Nach einem unerforschlichen Ratschluß übersehen die Planer nämlich stets, daß Menschen in diesen Städten leben sollen. Es fehlt an Märkten, Cafes, Kinos und Parkanlagen – ja nicht einmal für eine regelmäßige Busverbindung in die nächstgrößere Stadt ist gesorgt. Wer gezwungen ist, sein Geld in einer der Wüstenstädte zu verdienen, der pendelt lieber tagtäglich Dutzende von Kilometern zu seiner Arbeitsstätte. Die meisten -106-
Ägypter denken eben wie der seit mehr als zehn Jahren für Planung und Bau der Trabantenstädte verantwortliche Minister. Niemals würden er und sein Ministerium in eine der neuen Siedlungen umziehen. Er lasse sich doch nicht in die Wüste schicken, parierte er eine diesbezügliche Frage. Zudem sei sein Amt, von ihm persönlich ganz zu schweigen, viel zu wichtig, um irgendwo im Sand zu verkümmern. Sein Platz sei in Kairo. Dennoch gibt die Führung den Kampf um die Herzen und Hirne der Menschen nicht auf. Sporadisch werden Propagandakampagnen entfacht, die das Volk von den Vorzügen des sauberen, unbeschwerten Lebens in den Weiten der Sahara überzeugen sollen. Einmal befragte die regierungsnahe Kairoer Tageszeitung Al Ahram alle in Kairo akkreditierten Botschaften nach ihrer Bereitschaft, in eine neue Trabantenstadt umzuziehen. Nachdem sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatten, erwiderten die meisten Diplomaten schlitzohrig, das Programm zur Besiedlung der Wüste genieße in ihren Augen hohe Wertschätzung und würde von ihren Regierungen mit ganzer Kraft unterstützt. Einem Umzug nach, sagen wir, Sadat City stünde nichts im Wege. Allerdings müßten zunächst die Regierungsstellen, mit denen eine Botschaft ja in ständigem Kontakt stehen müsse, ihre neue Bleibe außerhalb Kairos bezogen haben. Die Interviews wurden nie veröffentlicht. Einen rührenden Versuch unternahm die englischsprachige Tageszeitung Egyptian Gazette. Geradezu melodramatisch beschwor sie die Vorzüge des Lebens in den jungfräulichen Weiten Ägyptens. Das Blatt lobte zunächst überschwenglich die »weichen Schwünge der Sanddünen, die modernen Skulpturen gleichen«, erinnerte dann weniger kunstverständige Leser daran, -107-
daß viele amerikanische Western in der Wüste spielten, und schlug schließlich religiösmetaphysische Töne an: »Durch die Jahrtausende hat sich der Mensch in die Wüste begeben, um spirituelle Einsichten zu erlangen. Viele der großen religiösen Figuren spürten die Notwendigkeit, den Trivialitäten und Zwängen des Alltags zu entfliehen. In der Wüste, umgeben von der Schönheit des von Gott geschaffenen Universums, sahen sie ihren Schöpfer von Angesicht zu Angesicht. Doch auch gewöhnliche Sterbliche werden in einem Spaziergang in der Wüste eine dauerhaftere Kur für die Belastungen des Alltags finden als in einer ganzen Packung Aspirin.« Die Eloge des Kommentators, der die Wüste vermutlich auch nur aus amerikanischen Western kannte, endete mit einer bodenständigeren Note: »Viele Ägypter sind übergewichtig, und ein langer Spaziergang in der Wüste jedes Wochenende würde unseren Körper stärken und uns für die Anstrengungen der Arbeitswoche viel besser wappnen.« Die Ägypter lasen es, schmunzelten – und blieben, wo sie waren, nämlich am Nil. Aus denselben Gründen steckt auch die touristische Erschließung der Wüstengebiete noch in den Kinderschuhen, mit Ausnahme einiger Badeorte am Roten Meer oder auf der Sinai-Halbinsel. Doch selbst dort sehnt das Hotelpersonal, das sich in die unwirtliche Einöde verbannt glaubt und durch höhere Löhne geködert in der Wüstenei ausharrt, den Tag der Rückkehr ins grüne Niltal herbei. Gerade deshalb aber lohnen sich, falls man genügend Zeit mitbringt, Exkursionen in unberührte Wüstengebiete.
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Hochhäuser verdrängen im Zentrum die Slums
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Tiefe Wadis, unberührte Sandstrände und in allen Regenbogenfarben schillernde Bergketten im Sinai, bizarr gestaltete Felsformationen in der sogenannten Westlichen Wüste nahe der Grenze zu Libyen und die in weitem Bogen über die Sahara gelegte Kette der Oasen Siwa, Baharia, Farafra, Dachla und Charga. Mit Ausnahme des Sinai, der relativ gut für den Fremdenverkehr erschlossen ist, sollten Sie nicht ohne ortskundige Begleitung, zumindest aber mit zwei bis drei geländegängigen Fahrzeugen und genügend Wasser, Proviant und Benzin aufbrechen. Ihre ägyptischen Freunde werden Ihr Abenteuer unter jene harmlosen Verrücktheiten einordnen, die man bei Ausländern allzeit zu gewärtigen und zu verzeihen hat. Sie selbst sind in ihren Urlaubszielen konservativer: Wie schon Vater, Großvater und Urgroßvater werden sie sich in den heißen Monaten des Jahres nach Alexandria begeben – dessen Besuch sich für Sie deshalb im Sommer nicht empfiehlt. Die im Jahre 332 v. Chr. von Alexander dem Großen gegründete Stadt beherbergt dann nämlich zusätzlich zu ihren drei Millionen Einwohnern eine Million Kairener, die die Strände entlang der mehr als vierzig Kilometer langen Küstenpromenade bevölkern. Bis zum Sturz der Monarchie 1952 zog der gesamte Hofstaat einschließlich Ministerien, Botschaften, Legationen und der mondänen Welt für die Sommermonate an die kühlere Küste, so wie das oberägyptische Assuan ein bevorzugtes Winterdomizil war. Denn entgegen unseren gängigen Vorstellungen kann es auch in Ägypten im Winter ganz schön kalt werden. Die jährliche durchschnittliche Niederschlagsmenge beträgt zwar nur 25 Millimeter (in Deutschland sind es 676 Millimeter), doch die -110-
Regenfälle häufen sich in den Monaten Dezember und Januar. Da die Kanalisation der Städte auf diese – von Einheimischen Wolkenbrüche genannten – Nieselregen nicht vorbereitet ist, sind die Straßen tagelang knietief überflutet. Wenn Sie nun noch bedenken, daß die Wohnungen keine Heizungen haben und die Temperaturen im Winter nach Einbruch der Dunkelheit auf bis zu zehn Grad (plus) fallen können, so werden Sie verstehen, daß die Mitnahme wärmender Stricksachen für einen Urlaub in jener Jahreszeit angebracht ist.
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Heißgeliebte Ausländer oder: Eine Milchkuh namens chawaga Kaum ein anderes Land hat mehr Erfahrungen mit Ausländern gesammelt als Ägypten, wenn auch nicht immer die besten. Meist kamen sie als Beherrscher, um das fruchtbare Niltal und seine geduldigen, arbeitsamen Bewohner auszubeuten. Gamal Abdel Nasser, der 1952 die von einem albanischen Offizier gegründete Dynastie Mohammed Ali stürzte, war nach mehr als 3000 Jahren der erste reinblütige Ägypter an der Spitze des Landes, zuvor hatten abwechselnd Perser, Griechen, Römer, Araber, Türken, Franzosen und Briten geherrscht. Auch als Touristenziel wurde Ägypten nicht erst gestern in die Prospekte der Reisebüros aufgenommen. Wir haben bereits den griechischen Geschichtsschreiber Herodot erwähnt, der um 460 v. Chr. die Pyramiden von Gizeh besichtigte – damals eines der sieben Weltwunder. Herodot kam übrigens nach seiner Reise zu dem Schluß, daß die Ägypter »alles anders tun als andere Völker«. Auch wenn er in unseren Tagen im Ruf eines unzuverlässigen Berichterstatters steht, auf dieses Urteil können Sie sich verlassen. Ganz spurlos sind die überwiegend negativen Erfahrungen mit den Ausländern indes nicht an den Ägyptern vorbeigegangen. Es blieb ein zwiespältiges Verhältnis, ein gewisser Minderwertigkeitskomplex gegenüber den angeblich fortschrittlichen Fremden, der – wie die Ägypter es nennen – »ChawagaKomplex«. Ägypten ist das einzige arabische Land, in dem der Ausdruck chawaga für Ausländer verwendet wird. Chawaga bedeutete -112-
ursprünglich soviel wie Lehrmeister, und daraus läßt sich bereits ersehen, welche Rolle dem Ausland bei der Entwicklung Ägyptens seit Beginn des 19. Jahrhunderts zufiel. Der bereits erwähnte Mohammed Ali und seine Nachfolger holten europäische Techniker, Handwerker, Ärzte und Lehrer ins Land, um es aus der Rückständigkeit herauszuführen. Europäer bauten die ersten Fabriken und Eisenbahnen, das Telefonnetz und den Suezkanal, aus Europa holte sich das mondäne Ägypten Anregungen für Mode und Lebensstil, Europa beeinflußte die ägyptische Literatur und Malerei, auf europäische Schulen und Universitäten schickte die ägyptische Oberklasse ihre Kinder. Als der spendierfreudige ägyptische Vizekönig Ismail Mitte des letzten Jahrhunderts die Staatsfinanzen vollständig heruntergewirtschaftet hatte (nicht zuletzt, weil er zur Eröffnung des Suezkanals dem versammelten europäischen Hochadel imponieren wollte), entsandten die Gläubigernationen Frankreich und Großbritannien Aufpasser in jedes Ministerium in Kairo, die selbst die geringste Ausgabe genehmigen mußten. All das blieb nicht ohne Folgen. Grundsätzlich wird ein Ägypter alles, was aus dem Ausland kommt, erst einmal unbesehen für besser halten. Er wird gerne doppelt soviel Geld ausgeben, sofern der Kühlschrank nur in Deutschland hergestellt, das Auto »Made in Japan« ist. Qualitativ durchaus vergleichbare und deutlich billigere einheimische Produkte kommen für ihn bestenfalls als zweite Wahl in Frage. Wenn sie aus dem Ausland heimkehren, sind Ägypter mit Elektrogeräten, Teppichen, Geschirr und Porzellan beladen, als hätten sie ihren Hausstand aufgelöst und wollten mit Kind und Kegel umziehen. Ihnen als ausländischem Gast wird man nach Kräften -113-
versuchen, das Leben zu erleichtern. In überfüllten Überlandbussen findet sich immer noch ein Sitzplatz für den chawaga, vor Fahrkartenschaltern räumt man dem Fremden bereitwillig einen Platz ganz vorne in der Schlange ein, und sollten Sie sich einmal verlaufen haben, so werden Sie sofort von mehreren Leuten umringt, die Ihnen mit Händen und Füßen zu erklären versuchen, wie Sie wieder auf den rechten Weg kommen. Der Gast darf keinen schlechten Eindruck von Ägypten mit nach Hause nehmen. Darin sind sich vom Schuhputzer bis zum Staatschef alle einig: Ägyptens Ruf muß unbefleckt bleiben. Diese Bemühungen nehmen manchmal rührend komische Züge an. So gibt es ein oft von Rundfunk und Fernsehen gesendetes populäres Lied mit dem stolzen Refrain: »Wenn ich kein Ägypter wäre, so wäre es mein größter Wunsch, einer zu sein.« Andererseits meint man selbst dort Schwächen verbergen zu müssen, die kein Ausländer als solche bezeichnen würde. Man sieht es zum Beispiel nicht gerne, wenn ein Fremder einen malerischen Gemüsemarkt fotografiert. Denn was uns als wohltuender Kontrast zu unseren steril in Kunststoff eingeschweißten Nahrungsmitteln erscheint, halten Ägypter für rückständig und schmutzig. Berücksichtigen Sie diesen Aspekt bei der Auswahl Ihrer Fotomotive. Armut mag in unseren Augen einen pittoresken Anstrich besitzen, dennoch bleibt es Armut. Denken Sie auch daran, daß der Islam die bildliche Darstellung von Menschen verbietet. Gerade ältere Menschen werden sich aus religiösen Gründen nur ungern fotografieren lassen. Die grundsätzliche Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit erstreckt sich sogar auf Feinde des Landes. Dies mußte die -114-
politische Führung in Kairo zu ihrem Leidwesen erkennen, als sie im Oktoberkrieg 1973 den in Gefangenschaft geratenen israelischen Offizier Assaf Jaguri als Inkarnation des Bösen dem Volk im Fernsehen präsentieren wollte. Die geplante Propagandaserie mußte schon nach der ersten Sendung abgesetzt werden. Die Ägypter waren nämlich nicht in Haßtiraden ausgebrochen, sondern vor Mitleid mit dem jungen Mann übergeflossen. »Mein Gott, der arme junge Mann, seine Mutter muß sich zu Tode grämen«, lautete das übereinstimmende Urteil. Besonders freundlich werden Sie als Deutscher in Ägypten empfangen. Das bemerken Sie schon bei der Antwort auf die jedem Fremden gestellte Frage: »Wo kommen Sie her?« Als Almani, als Deutscher, werden Sie zu Ihrem Entsetzen den Begeisterungsruf vernehmen: »Ah, Almania gut, Hitler gut.« Nicht nur schlichte ägyptische Gemüter glauben, einem Deutschen mit Lobsprüchen über Hitler einen Gefallen zu tun. Ein prominenter Schauspieler gab vor nicht allzulanger Zeit in einem Zeitungsinterview zu Protokoll, am liebsten würde er einmal Hitler spielen. Er wollte ihn »von seiner menschlichen Seite« zeigen. Die offen bekundete Vorliebe der Ägypter – und übrigens auch anderer arabischer Nationen – für den Nationalsozialismus beruht darauf, daß sie den gegen die Juden gerichteten Rassenwahn der Nazis mit den politischen Problemen der Araber gegenüber dem Staat Israel verwechseln. Sie sollten sich indes auf keine fruchtlose Diskussion des Nahostproblems unter besonderer Berücksichtigung des Nationalsozialismus einlassen, quittieren Sie ein forsches »Heil Hitler« lieber mit einem süßsaueren Lächeln und versuchen Sie, das Gespräch auf andere -115-
Merkmale Ihres Landes zu lenken. Dies wird Ihnen nicht schwerfallen, denn die Bewunderung für Almania – Nemsa (Österreich) und Swissra (die Schweiz) werden gern mit einbezogen kennt keine Grenzen. Ganz oben auf der Werteskala rangieren Mercedes, Siemens und Rummenigge, neuerdings auch Steffi Graf und bummbumm Becker, die am Nil einem Tennis-Boom auf die Beine halfen. Sie sind die Symbole für alles, was als typisch deutsch gilt: Zuverlässigkeit, Qualität, Fleiß, Erfolg. Zu unseren Gunsten wirkt sich auch aus, daß Deutschland nie als Kolonialmacht im Nahen Osten präsent war. Die letzten derartigen Erfahrungen reichen in das Jahr 1219 zurück, als ein hauptsächlich von Deutschen gestelltes Kreuzfahrerheer Damietta im Norden des Nildeltas eroberte. Wenn Sie aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz kommen, ist auch Vorsicht beim leichtfertigen Umgang mit Ihrer Muttersprache geboten. Sie ahnen nicht, wie viele Ägypter Deutsch zumindest verstehen. Zwei deutsche Schulen in Kairo, eine in Alexandria, drei Germanistikfakultäten allein an den vier Kairoer Universitäten und unzählige private und geschäftliche Verbindungen nach Europa sorgen für einen engen Kontakt. Darüber hinaus leben mehrere tausend Deutsche in Ägypten, entweder auf Dauer, weil sie mit einem Ägypter verheiratet sind, oder auf Zeit im Auftrag deutscher Firmen. Eine deutsche Zeitung gibt es zwar nicht (dafür werden englische, französische, griechische und sogar armenische Blätter herausgegeben), doch auf Nachrichten und Informationen in Ihrer Muttersprache müssen Sie nicht verzichten. Radio Kairo strahlt täglich mehrere Stunden lang ein Programm in deutscher Sprache aus. Selbst einen deutschen Friedhof gibt es in Kairo, -116-
wo Theodor Bilharz, der Entdecker der nach ihm benannten Wurmkrankheit Bilharziose, begraben ist. Jetzt wird es Sie kaum mehr überraschen, daß ein Kameltreiber an den Pyramiden von Gizeh eines seiner Tiere Bismarck nennt. Für ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft erwarten die Ägypter indes meist eine Gegenleistung in klingender Münze. Vom Kaleschenkutscher bis zur Regierung der Arabischen Republik Ägypten geht jedermann wie selbstverständlich davon aus, daß sich das Ausland soviel Liebenswürdigkeit etwas kosten lassen muß. In den Augen der Ägypter sind die Staaten Europas und Nordamerikas ohnehin veritable Schlaraffenländer, bevölkert von Millionären, die ab und zu an ihre Pflicht erinnert werden müssen, ihren Reichtum mit Ägypten zu teilen. Ein sowjetischer Diplomat formulierte einmal überspitzt, aber treffend: »Die Ägypter erwarten von Freunden und Fremden alles, Geld, gute Worte, Unterstützung in Wort und Tat. Als Gegenleistung gestatten sie ihren Freunden, sie zu lieben.« In der Tat: Ob bei internationalen Verhandlungen auf Regierungsebene über Umschuldungsmodalitäten und Beistandsdarlehen, bei Gesprächen über Exportgeschäfte oder beim Feilschen im Basar, stets gelingt es den Ägyptern mit viel Charme, Schlitzohrigkeit und noch mehr Zähigkeit ihren Vorteil zu wahren. Von Ihnen als Tourist wird man nicht gleich die Gewährung eines Überbrückungskredites in Höhe von ein paar Dutzend Millionen Dollar erwarten. Aber auf eine der tragenden Säulen der ägyptischen Wirtschaft werden Sie, ob Sie es wollen oder nicht, sehr rasch aufmerksam gemacht: das Bakschisch, was mit Trinkgeld nur unzureichend übersetzt ist. Bakschisch ist das -117-
Schmieröl im sandigen Getriebe der ägyptischen Nationalökonomie, Bakschisch ist das Sesam-öffne-dich für verschlossene Türen, Bakschisch ist der Zauberstab, der unüberwindlich erscheinende Hürden verschwinden läßt. Die ersten einschlägigen Erfahrungen haben Sie ja bereits bei Ihrer Ankunft gemacht. Der Gepäckträger verlangte eine kleine Anerkennung, der Taxifahrer harrte einer großzügigen Aufstockung des ausgehandelten Fahrpreises, der Boy, der Ihnen die Koffer aufs Zimmer brachte, streckte in kindlicher Unschuld die Hand aus, bevor Sie die Türe schließen konnten. Für all diese Dienstleistungen würde auch in Europa Trinkgeld eingefordert werden, doch in Ägypten ist das System ausgereifter. Selbst wenn Sie auf den ersten Blick nicht ausmachen können, wofür Sie sich eigentlich erkenntlich zeigen sollten, greifen Sie lieber in die Tasche. Denn oft wird die erste Rate des Bakschisch im voraus entrichtet, quasi als Ansporn. Spätestens nach der Ankunft im Hotel werden Sie vermutlich den Geldwechsler verwünschen, der Ihnen ein Bündel knisternder, druckfrischer Zehn- und Zwanzig-Pfundscheine über den Tresen geschoben hat. Merken Sie sich: Verlassen sie nie ohne einen reichlich bemessenen Schatz an Kleingeld das Haus. Denn Bakschischheischer lauern an jeder Straßenecke, Anlässe dafür gibt es so viele wie Märchen aus Tausendundeiner Nacht, und die Begründungen dafür sind so phantasievoll wie die Erzählungen der Prinzessin Scheherazade. Auf alle Fälle sollten Sie sich zunächst mit der ägyptischen Währung vertraut machen. Das ägyptische Pfund ist unterteilt in hundert Piaster, die ihrerseits wieder in 1000 Millieme aufgeteilt sind. Mit diesem Kleinkram brauchen Sie sich gar nicht erst -118-
abzugeben, da die galoppierende Inflation dem Millieme längst den Garaus gemacht hat. Nur auf manchen Preisschildern wird noch die alte Aufteilung beibehalten. Seien Sie also nicht schockiert, wenn Sie ein Paar Schuhe zu 2100,00 ausgezeichnet finden, gemeint sind 2100 Piaster, mithin 21 Pfund. Kleinste gängige Scheidemünze ist der Piaster, der genaugenommen auch nichts mehr wert ist. Dieses beeindruckend wirkende silbrige Geldstück mit dem Staatswappen gibt es als Zwei-, Fünf- und Zehn-Piastermünze. Um Mißverständnissen von vornherein vorzubeugen: Ihre Bakschischverteilung spielt sich nicht im Hartgeldbereich ab, als Europäer müssen Sie schon zu Scheinen greifen. Kleinste Note ist nach der Abschaffung der Fünf- und ZehnPiasterscheine mit ihren realsozialistischen Darstellungen kämpferischer Fellachen und Soldaten der grüne 25Piasterschein. Vom beigen 50-Piasterschein aufwärts wird Kultur geboten. Alle arabisch und englisch beschrifteten Banknoten sind auf der einen Seite mit einem pharaonischen, auf der anderen mit einem islamischen Motiv verziert, um die Verschmelzung beider Kulturen in Ägypten zu bekunden. Altägyptisch und moslemisch geht es auf den Noten zu einem Pfund (braun), fünf Pfund (rot) und 20 Pfund (grün) zu. Wenn Sie großes Glück haben, fällt Ihnen eine der sehr bunt geratenen 100-Pfundscheine in die Hand. Die Ausgabe dieser Noten wird von der Zentralbank strikt reglementiert, denn in Ägypten herrscht, wie Sie wissen, strenge Geldbewirtschaftung. Genausowenig wie Sie Devisen außer Landes schaffen dürfen, ist es Ihnen gestattet, größere Pfundbeträge mitzuführen. Das ägyptische Finanzministerium macht die pragmatische Rechnung auf, -119-
daß eine Million Pfund in Zwanzigern einen größeren Berg Papier ergeben als in Hundertern. Sollten Sie dennoch größere finanzielle Irregularitäten planen, dann nehmen Sie vorsorglich einen großen Koffer mit. Wird Bakschisch eingefordert, so machen Sie nicht den Fehler nachzufragen, wieviel erwartet wird. Denn entweder wird Ihnen eine atemberaubende Summe genannt oder mit entwaffnendem Lächeln erwidert: »Oh, kein Problem, soviel Sie geben wollen.« Diese aufgesetzte Bescheidenheit ist viel gefährlicher, damit sollen Sie nur in die Defensive und Ihre Hand tiefer in die Tasche gedrängt werden. Die Klasse der Trinkgeldempfänger hat die Welt fein säuberlich in Geizkragen und Spendierfreudige eingeteilt: ganz oben rangieren die Saudis und die anderen Golfaraber, die in den Augen der Ägypter nicht wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen sollen; es folgen die Amerikaner, zu naiv und voller Gewissensbisse angesichts der Armut, die sie umgibt; Westeuropäer liegen auf dem dritten Platz, wobei Deutsche und Franzosen im Ruf größerer Sparsamkeit stehen, ganz unten auf der Skala rangieren Sowjets und andere Osteuropäer, deren Geld noch weniger wert ist als das eigene Pfund. Richtschnur sind 50 Piaster, billiger werden Sie nicht davonkommen. Relativ einfach ist es in Restaurants: Zehn Prozent der Gesamtsumme sind angemessen, auch wenn dieser Betrag schon in der Rechnung erscheint. Noch ein Tip: Falls sie genügend Kleingeld bei sich haben, sollten Sie Ihre Gaben an die Angestellten einzeln verteilen. Der Oberkellner neigt nämlich dazu, den Löwenanteil des gesammelten Trinkgeldes in die eigene Tasche zu stecken. -120-
Alles ganz normal, werden Sie sagen. Nun, in Ägypten müssen Sie sogar dann Kleingeld einstecken, wenn Sie zum Metzger gehen. Fünf Pfund für den Schlachter, damit er Ihnen gutes Fleisch gibt, ein Pfund für den Mann, der die Rechnung zusammenstellt, 25 Piaster für den Jungen, der die Einkäufe zur Kasse trägt, weitere 50 Piaster für die Kassierin und den Packer und schließlich, »Kein Problem, soviel Sie geben wollen«, für den alten Mann, der Ihr Auto bewacht hat. Eine kleine Draufgabe erwartet der Gemüsehändler für seine zuvorkommende Bedienung, shai, »Tee«, wie Bakschisch im Volksmund verschämt genannt wird, bannt die Gefahr eines Strafmandates, beschleunigt den Verwaltungsakt auf der Behörde. Der Staat selbst scheint Bakschisch in seine Budgetberechnungen mit aufgenommen zu haben. Vor einigen Jahren wurde die für Ausländer zuständige Verkehrsbehörde in Kairo auf ein Zollgelände verlegt, für dessen Betreten eine nur unter großen Schwierigkeiten zu erlangende Sondergenehmigung nötig ist. Ein Polizist wacht am Eingang darüber, daß kein Unbefugter sich Zutritt verschafft. Was tun? Für eine zwanzig Minuten beanspruchende Verlängerung der Autozulassung einen zweiwöchigen Kampf mit der Bürokratie um die Zutrittsgenehmigung beginnen? Viel einfacher! Ein kleines Bakschisch, der Wächter drückt beide Augen zu, und alle sind glücklich: nicht zuletzt der Staat, der genau weiß, daß der Polizist von seinem Hungerlohn nicht leben kann und auf Bakschisch angewiesen ist. Es ist ein schwacher Trost, daß auch Ägypter aller Klassen ohne Bakschisch nichts erreichen. Alles und jedes hat seinen Preis, nicht einmal der Tod ist umsonst. Denn natürlich erwarten -121-
der Leichenbestatter, seine Angestellten und der moslemische Geistliche Bakschisch. Ägypter haben allerdings den Vorteil, daß sie in die kunstvollen Bakschischregeln eingeweiht sind. Preis und Empfänger müssen stimmen. Dem falschen Mann die falsche Summe zu geben, kann schlimmere Folgen haben, als gar kein Bakschisch zu zahlen. Unwissende chawagas werden zuweilen höflich auf ihre Unkenntnis aufmerksam gemacht, wie jener Amerikaner, der im Hafen von Alexandria sein Umzugsgut aus den Klauen des Zolls befreien wollte. Durchaus vertraut mit den Landessitten, versteckte er bei jedem neuen bürokratischen Schritt eine Fünf-Pfundnote in den Papieren. Stets kamen die Dokumente ordnungsgemäß unterzeichnet und abgestempelt wieder zurück, ohne den Geldschein. Als er nach einem der zahllosen Umläufe seinen Paß wiedererhielt, fand er darin zwei Pfund Wechselgeld. Die Botschaft war klar: Diese Unterschrift war nur drei Pfund wert.
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Camembert unter dem Ladentisch oder: Die Freuden des Einkaufs
Als Tourist werden Sie während Ihres zehn- bis vierzehntägigen Ägyptenaufenthaltes Graubrot, Camembert oder Rollmöpse leicht entbehren können. Es gibt ja genügend einheimische kulinarische Genüsse, die zu kosten sich lohnt. Doch wer als Ausländer über mehrere Jahre am Nil lebt, wird über kurz oder lang von dem unbezähmbaren Verlangen nach einem duftenden Schweinebraten mit Sauerkraut und Knödeln heimgesucht. Steigern sich die Entzugserscheinungen ins Unerträgliche, so gibt es nur zwei Möglichkeiten: Heimaturlaub zu machen oder umsichtig und gründlich eine Einkaufsexpedition vorzubereiten. Der Erwerb ausländischer Delikatessen erfordert Spürsinn, Geduld, Selbstaufopferung und gute Kontakte. In der Fremdenkolonie werden unter der Hand Geheimtips gehandelt, welcher griechische Gemischtwarenhändler ein paar Kilogramm französischen Brie erhalten hat, der – gegen einen stattlichen Aufpreis klammheimlich, als ginge es um Rauschgift oder Hehlerware –, unter dem Ladentisch den Besitzer wechselt. Als vor einigen Jahren eines der großen Fünf-Sterne-Hotels Kairos eine Tonne Roggenmehl importierte und mit dem Verkauf von deutschem Mischbrot begann, bildeten sich jeden Morgen lange Schlangen von hungrigen Deutschen, die des ägyptischen Fladenbrotes überdrüssig waren. Nach kurzer Zeit mußte die Ausgabe auf einen Laib pro Person rationiert werden. Die Brotfreunde hatten lange genug in Kairo gelebt, um die landestypische Einkaufshaltung zu verinnerlichen, die am besten -123-
mit vorausblickendem Hamstern zu bezeichnen ist. Die Sprunghaftigkeit von Regierungsbeschlüssen, die einmal die Einfuhr eines bestimmten Produktes gestatten, um sie tags darauf zu untersagen, und die Unzulänglichkeiten des ägyptischen Transport- und Zollwesens führen dazu, daß man hinsichtlich der Versorgung etwas zupackender wird. Das Allerheiligste der meisten Ausländerhaushalte in Ägypten ist verständlicherweise die Speisekammer. Dort stapeln sich Dosen mit Sauerkraut und in Folie eingeschweißter Schweinespeck – von lieben Freunden aus der Heimat im Handgepäck an den Nil geschleppt –, aber auch Flaschen mit Speiseöl oder Essig, die man en gros im Supermarkt erstand, weil es sie gerade wieder einmal gab. Bei solchem Einkaufsgebaren, das die wenigen zehntausend Ausländer mit den mehr als 50 Millionen Ägyptern gemein haben, nimmt es nicht wunder, daß manche Engpässe hausgemacht sind. Oft genügt ein Gerücht, und über Nacht sind Tonnen von Butter, Hundertausende Eier aus den Geschäften verschwunden, weil sich jeder überreichlich mit der angeblichen Mangelware eingedeckt hat. Der Einkauf von ägyptischen Gaumen zwar unbekannten, Fremden hingegen unverzichtbar erscheinenden Lebensmitteln erfordert große persönliche Opfer. Einmal pro Woche etwa verkaufen koptische Mönche vor dem Gebäude der Deutschen Evangelischen Oberschule in Kairo leckere Käsesorten, die in dem landwirtschaftlichen Musterbetrieb im Makarios-Kloster hergestellt werden. Da die frommen Brüder einen gottgefälligen Lebenswandel pflegen und zeitig auf den Beinen sind, schälen sich notgedrungen jeden Donnerstag Dutzende von Ausländern morgens um fünf aus den Betten, um noch ein Viertel Kräuter-124-
käse oder ein Stück Gouda zu ergattern. Wundern Sie sich also nicht, wenn Ihnen Ihre in Ägypten lebenden Freunde auf die arglose Frage, was Sie denn mitbringen könnten, eine Einkaufsliste von Aal in Aspik bis Zunge, geräuchert, durchtelefonieren. Höchstwahrscheinlich wird auf diesem Wunschzettel der Posten Zucker auftauchen. Ob Sie es glauben oder nicht, Zucker können Ausländer in Ägypten für alles Geld der Welt nicht offiziell kaufen. Er gehört zu jenem guten Dutzend Grundnahrungsmitteln, die gegen Bezugsscheine zu stark subventionierten Preisen in Genossenschaftsläden abgegeben werden. Da die Zuteilung von anderthalb Kilo Zucker im Monat für jeden erwachsenen Ägypter überaus großzügig ausfällt, ergibt sich die groteske Situation, daß ägyptisches Hauspersonal den reichen Ausländern im Land buchstäblich den Kaffee oder Tee versüßt, indem es einen Teil seiner Ration weiterverkauft. Die Gamaia genannten Genossenschaftsläden, eine soziale Errungenschaft des Revolutionärs Gamal Abdel Nasser, bereiten der Regierung heute immer mehr Kopfzerbrechen. Rund ein Fünftel des gesamten Staatshaushalts muß nämlich aufgewendet werden, um den Preis dieser Grundnahrungsmittel – neben Zucker unter anderem Mehl, Speiseöl, Nudeln, Tee und vor allem Brot –, künstlich niedrig zu halten. Ägypten ist zu mehr als 60 Prozent auf Nahrungsmittelimporte angewiesen, die in knappen und teuren Devisen bezahlt werden müssen. Frühere Versuche, diese Subsidien – die auch Strom, Butangas und Benzin einschließen –, zu reduzieren oder ganz zu streichen, endeten in Volksaufständen der unterprivilegierten Massen.
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Sommer-Frische: Eishändler in Oberägypten
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Mittlerweile ist die Regierung unter dem Druck ausländischer Gläubiger zu einem ausgeklügelten System übergegangen, mal in diesem, mal in jenem Viertel die Auslieferung eines bestimmten Produkts an die Genossenschaftsläden zu unterbinden. Die Bevölkerung wird auf diese Weise umschichtig zumindest für einige Wochen gezwungen, sich auf dem teureren freien Markt einzudecken. Die Ägypter kaufen ohnehin mit Vorliebe auf den Märkten ein, wo es ein größeres und besseres Angebot gibt als in den tristen Staatsgeschäften. Auf dem Markt kann man handeln. Händler und Kunden haben Zeit für ein Schwätzchen. Der Anblick des ausliegenden Obstes und Gemüses wird Ihnen beim Bummel über einen Gemüsemarkt vielleicht Übelkeit bereiten. Die verschrumpelten, angeschimmelten und verfaulten Feldfrüchte wirken ungenießbar. Sie sind eigentlich gar nicht zum Verkauf und Verzehr bestimmt. Der Staat hat nämlich die Preise für Lebensmittel auch auf den privaten Märkten sehr niedrig festgesetzt und läßt die Einhaltung dieser Bestimmung regelmäßig durch Kontrolleure überwachen. Die widersprüchlichen Wünsche, einerseits nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, andererseits gutes Geld aus dem Verkauf ihrer Ware zu erlösen, haben die ägyptischen Markthändler auf verschmitzte Weise miteinander in Einklang gebracht. Wer mit dem angegammelten Blumenkohl zufrieden ist, der soll ihn zum staatlichen Fixpreis haben. Die gute Ware jedoch liegt unter Säcken und Tüten hinter dem Verkaufstresen versteckt – und kostet einiges mehr. Beim Einkauf werden Sie feststellen, daß die kleinste Gewichtseinheit in Ägypten offenbar das Kilogramm ist. -127-
Verlangen Sie bloß ein Pfund Obst, wird man Sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Verachtung abfertigen. Versuchen Sie gar nicht erst, auf Ihren lachhaften Miniaturmengen zu bestehen. Man wird Ihnen so lange noch einen Apfel, noch eine Orange auf die Waagschale werfen, bis mindestens ein Kilo erreicht ist. Was dem Obsthändler recht ist, kann dem Metzger nur billig sein. Zweihundert Gramm Hackfleisch, zwei Steaks? Machen Sie sich nicht lächerlich! Natürlich werden Sie die Hälfte von dem wegwerfen müssen, was man Ihnen aufdrängt, aber Sie können unmöglich vor all den anderen Kunden als arm oder, schlimmer, als geizig dastehen wollen. Noch ein Wort zum Metzger; Schweinefleisch werden Sie vergeblich suchen. Dieses Tier gilt im Islam als unrein, und sein Genuß ist Moslems verboten. Schon auf dem Flug nach Kairo werden Sie interessiert das kleine Kärtchen mit der Abbildung eines durchgestrichenen Borstentieres studiert haben, das die Stewardeß zwischen die Rinderfilets auf Ihrem Teller geklemmt hat und das garantiert, daß das Gericht kein Schweinefleisch enthält. Tatsächlich löst der Gedanke an einen dampfenden Schweinebraten bei einem moslemischen Ägypter ähnlichen Ekel aus wie bei Ihnen vermutlich die Vorstellung eines saftigen Schnitzels aus Pferdefleisch. Es gibt zwar einige Metzgereien, die für Angehörige der koptischen Minderheit Mortadella, Schinken und Schweinekoteletts bereithalten. Wegen des heißen Klimas und weil es keine Fleischbeschau für Schweinernes gibt, empfiehlt es sich allerdings, von einer Kostprobe Abstand zu nehmen. Ein Viertelpfund Aufschnitt als Mitbringsel aus Ägypten würde Ihnen ohnehin nicht in den Sinn kommen, Sie werden -128-
vielmehr nach irgendeinem typischen Souvenir Ausschau halten. Und je nach Veranlagung werden Sie entweder mit gelindem Horror oder mit wacher Vorfreude daran denken, daß im Orient jedem Kauf langes, zähes Feilschen vorangeht. Um es vorwegzunehmen: in den Geschäften der Kairoer Innenstadt und den Ladenpassagen der großen Hotels gelten Festpreise, Rabatte gibt es nicht. Die Hochburg des Handelns ist der Chan elChalili, der verwinkelte, weitläufige Basar der Metropole. Wer hier nicht feilscht, ist nicht nur selber schuld, wenn er übervorteilt wird, er nimmt jedem Geschäft auch die unentbehrliche Würze. Seien Sie indes gewarnt: Bei allem Respekt vor Ihren einschlägigen Kenntnissen in der Kunst des Feilschens, Sie können mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß Sie bei jeder Transaktion den kürzeren ziehen werden. Noch kein ägyptischer Basari hat in der vieltausendjährigen Geschichte des Landes jemals etwas unter Preis verkauft. Das soll Sie durchaus nicht abschrecken. Kein Händler wird Sie spüren lassen, daß er den besseren Schnitt gemacht hat. Ein erfolgreicher Geschäftsabschluß besteht schließlich darin, daß beide Seiten mit dem befriedigenden Gefühl daraus hervorgehen, dem anderen ein Schnippchen geschlagen zu haben. Sinn des Feilschens ist der Spaß an der Sache selbst, und ein Orientale wird lieber etwas mehr bezahlen, solange er das subjektive Gefühl mitnimmt, gut abgeschnitten zu haben, als stumm in einem Selbstbedienungsladen ein Sonderangebot aus dem Regal zu ziehen. Es ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen, wenn der Verkäufer im Verlauf Ihres Handels mehrmals den Abbruch der -129-
Verhandlungen ankündigt und zwischendurch lautstark seinen bevorstehenden Ruin beklagt oder die zahlreichen hungrigen Kindermäuler daheim beschwört. Sie können relativ sicher sein, daß der Mann wohlhabender ist als der Geschäftsführer eines europäischen Großunternehmens, auch wenn weder er noch sein Geschäft diesen Eindruck erwecken. Im Basar machen Sie die aufregendsten Funde in fensterlosen, schmutzstarrenden Höhlen, die in Deutschland als Sperrmülldepot gelten würden. Unterschätzen Sie auch nicht die ausgeprägte Menschenkenntnis der Basaris. Ein Blick genügt ihnen im allgemeinen, um die Finanzkraft des potentiellen Kunden und – wichtiger – seine Ausgabenfreudigkeit zu taxieren. Wenn Sie also nicht mehr als ein paar Mark für Souvenirs ausgeben wollen, dann erwarten Sie nicht, edlen Silberschmuck aus türkischer Zeit vorgelegt zu bekommen. Sollte dies dennoch geschehen, so können Sie davon ausgehen, daß man Ihnen Fälschungen andrehen will. Wie für alles in Ägypten gilt auch für einen Basarbummel: Nehmen Sie sich Zeit. Falls Sie mit einer Gruppe reisen, sollten Sie den Basar mindestens zweimal besuchen. Meist wird der Tour-Guide Sie in Geschäfte schleppen, mit denen er eine Kommissionsvereinbarung ausgehandelt hat. Gehen Sie ruhig mit, um sich in dem Labyrinth verwinkelter Gassen zurechtzufinden. Schlendern Sie das zweite Mal auf eigene Faust durch den Chan el-Chalili, und vielleicht auch ein drittes Mal, nachdem sie sich bei einem Händler Bedenkzeit ausgebeten haben, bevor Sie sich zum Kauf entschließen. Haben Sie ein vielversprechendes Geschäft entdeckt, so treten Sie ein und sehen sich zwanglos um. Man wird Sie zum Sitzen -130-
auffordern (kein Ägypter kann einen Fremden stehen sehen, offenbar vermittelt allein die Art unseres Stehens einen unangenehmen Eindruck von Eile und Drängeln) und Ihnen Tee, Kaffee oder Fruchtsaft anbieten. Sie können die freundliche Offerte unbesorgt annehmen, sie verpflichtet Sie nicht zum Kauf, und die Kosten für die Erfrischungen sind allemal einkalkuliert. Haben Sie »Ihr« Stück entdeckt, dann erkundigen Sie sich so beiläufig wie möglich nach dem Preis. Es wird Ihnen zwar nichts nützen, der Basari wird trotz Ihres geheuchelten Desinteresses sofort Ihren Gefallen an diesem Stück erkennen. Doch er wird Ihren Versuch zu würdigen wissen, professionell und nicht wie ein blutiger Anfänger in den Prozeß des Feilschens eingestiegen zu sein. Beliebt ist als Eröffnungszug auf Ihre Frage nach dem Preis die Antwort: »Ach, das ist ganz egal, ich bin zufrieden mit dem, was Sie mir geben.« Nehmen Sie den Verkäufer nicht beim Wort, er will Sie nur testen. Wenn Sie wirklich keinerlei Vorstellung davon haben, wieviel etwa die Kaffeekanne aus Kupfer kosten darf, dann nennen Sie entweder einen überhöhten Preis, den der Verkäufer beglückt über soviel Unwissenheit noch zu erhöhen suchen wird, oder Sie werfen eine viel zu niedrige Summe in die Diskussion und finden sich plötzlich von einem schlagartig desinteressierten Händler wieder auf die Gasse hinauskomplimentiert – ohne Kaffeekanne. Lassen Sie ihn das erste Angebot machen, und seien Sie versichert, so wie Sie dem potentiellen Betrüger mißtrauen, dem Sie sich gegenüber wähnen, trauen auch ägyptische Händler ausländischen Kunden zunächst einmal prinzipiell jede Schandtat zu. Bieten Sie nun -131-
eine Summe, die 40 bis 50 Prozent unter der genannten liegt. Nach zähem Hin und Her, zahllosen starken türkischen Kaffees, Beschwörungen und Verwünschungen werden Sie schließlich hochbeglückt mit Ihrer Trophäe von dannen ziehen. Grämen Sie sich nicht, wenn sich der Händler hinter Ihrem Rücken die Hände reibt. Sie hatten schließlich beide Vergnügen an der Sache. Kairo und Alexandria sind wahre Schatzkammern alter Möbel, von Galle-Vasen und Jugendstilleuchten. Doch zum einen dürften Ihre Koffer für derartige Mitbringsel zu klein sein, zum anderen bedarf es viel Zeit und Geduld, um die richtigen Händler zu finden oder um die fein geschliffene Karaffe auf einer der regelmäßig stattfindenden Auktionen zu ersteigern. Etwas ausgefallener ist ein Gegenstand zeitgenössischer ägyptischer Kunst. Sie werden vermutlich noch nicht viel von ägyptischen Malern wie Abdel-Fatah Badri oder Hussein Bikar gehört haben, und ihre Werke stellen keine annähernd hohe Wertanlage dar wie ein Dali oder ein Picasso. Doch wer hat schon das Originalwerk eines Künstlers zu Hause hängen, je nach Geschmack entweder abstrakt oder mit Motiven aus dem Niltal. Zuerst in Kairo und Alexandria, mittlerweile auch in kleineren Städten in der Provinz, sind Galerien eröffnet worden, in denen Sie zu annehmbaren Preisen gute Gemälde erstehen können. Dort finden Sie auch Töpferarbeiten, Produkte der Glasbläserkunst oder kleine Statuen, meist mit einem direkten Bezug zu Ägypten oder dem Islam. Oder Sie entscheiden sich für Musik. Zugegeben, europäische Ohren gewöhnen sich nicht gerade leicht an orientalische Musik. Sogar die Darbietungen der größten ägyptischen Sängerin, Umm -132-
Kelthum, klingen für unseren Geschmack monoton. Doch immer mehr ägyptische Künstler kombinieren orientalische und westliche Einflüsse, und das Ergebnis entspricht auch unserem Geschmack. Freunde der Popmusik etwa kommen mit Kassetten von Mohamed Munir auf ihre Kosten, der traditionelle nubische Weisen aus Oberägypten mit modernen Rhythmen versetzt. Ein Tip: Leder. Viele ägyptische Firmen imitieren Schnitte und Vorbilder großer internationaler Firmen, und nur Fachleute vermögen einen Unterschied zum Original festzustellen. Sollten Sie genügend Zeit mitbringen, können Sie sich sogar ein Lederkostüm oder eine Jacke maßschneidern lassen – zu einem Preis, für den Sie daheim nicht einmal ein Paar Schuhe erhielten. Aber auch Handtaschen und Aktenkoffer, Gürtel und Schuhe sind von erstaunlich hoher Qualität und entsprechen in der Regel neuesten amerikanischen und westeuropäischen Modetrends. Um Schwierigkeiten mit dem deutschen Zoll zu vermeiden, sollten Sie sich bei Gegenständen aus Krokodil-, Schlangenoder Echsenleder zurückhalten, die geradezu verführerisch preisgünstig angeboten werden. Seit dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum internationalen Artenschutzabkommen ist die Einfuhr verboten. Freunde edlen Geschmeides, von Gold und Edelsteinen kommen in Ägypten voll auf ihre Kosten. Unter einem Gewicht von 18 Karat kauft kein Ägypter Gold, gängig sind eher 21 Karat, während 14-karätiges Gold so gut wie unbekannt ist. Scheuen Sie nicht vor den Auslagen der Juweliere zurück, in denen es funkelt und glitzert wie in Ali Babas Wunderhöhle. Ägypterinnen bevorzugen nun einmal schweren, über und über -133-
mit Edelsteinen bedeckten großflächigen Schmuck. Die Juweliere führen auch Stücke nach europäischem Geschmack. Doch vor allem unterscheiden sich die Preise wohltuend von jenen in Europa, da in Ägypten die Mehrwert- und die Luxussteuer sowie andere Abgaben entfallen und die Schmuckhändler mit weniger horrenden Gewinnspannen zufrieden sind. Im allgemeinen wird Goldschmuck nach Gewicht verkauft. Vor Ihren Augen wird das wertvolle Stück auf eine Goldwaage gelegt und nach dem täglich neu festgesetzten amtlichen Tageskurs verkauft – mit einem kleinen Aufschlag, denn von irgendwas muß schließlich der Juwelier leben. Auch hier gilt: Lassen Sie sich von dem schmuddeligen Äußeren – und vor allem Inneren – mancher Geschäfte nicht irremachen. Was an Kristallüstern, Perserteppichen und marmornen Verkaufsvitrinen eingespart wird, kann letztlich nicht auf den Preis aufgeschlagen werden. Schmuckhändler unterliegen zudem einer strengen staatlichen Kontrolle und würden rasch ihre Lizenz verlieren, wenn sie Fälschungen verkauften. Zuletzt noch ein Hinweis für Kenner. Bastler werden in Kairo sicherlich den lange gesuchten Transistor, die Kupferspule oder den Schaltkreis finden, der daheim bei aller Mühe nicht aufzutreiben war. Da in Ägypten nichts weggeworfen wird, was noch irgend verwendungsfähig erscheint, sind die Märkte dort eine wahre Fundgrube für technisch Interessierte. Zentrum dieses Handels ist der Ataba-Markt im Herzen der Hauptstadt. Ein Ingenieur aus Hamburg taumelte mit den strahlenden Augen -134-
eines Kindes unterm Weihnachtsbaum über diesen Markt und konnte sich nicht sattsehen.
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Kairo die Siegreiche oder: Die kranke »Mutter der Welt« Wenn Syrer, Sudanesen, Saudis und andere Araber von Kairo reden, dann geraten sie ins Schwärmen. Hier, in der größten Stadt der arabischen Welt, finden sie alles, was sie daheim entbehren müssen: Kinos, Theater, Restaurants, Nachtclubs mit Bauchtanz und Alkohol und nicht zuletzt die Anonymität einer Metropole mit schätzungsweise 15 Millionen Einwohnern. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Kairo, das der arabischen Welt immer wieder kulturelle, politische und gesellschaftliche Impulse gegeben hat, ist für Araber die Weltstadt schlechthin, wie für Europäer New York, Paris oder London. Ohne falsche Bescheidenheit trägt die Stadt den stolzen Beinamen Umm el Dunja, »Mutter der Welt«. Verzückt berichtet ein Reisender in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht: »Wer Kairo nicht gesehen hat, der hat nichts gesehen.« Wenn Sie Kairo zum ersten Mal sehen, werden Sie diese Begeisterung vermutlich nicht teilen können. Was zunächst niederschmettert, sind ohrenbetäubender Lärm, bestialischer Gestank und Berge von Unrat, sind von Fahrzeugen verstopfte Straßen, übervölkerte Gassen. Das Meer ockerfarbener Häuser, über denen ein dichter Sandschleier liegt, wird nur hier und da von einer winzigen Grünanlage unterbrochen. Tatsächlich ist Kairo eine der schmutzigsten Metropolen der Welt. Je nachdem wie der Wind steht, trägt er vom Norden die Ausdünstungen der Schwerindustrie heran, von den Müllhalden im Süden die pestilenzartigen Schwaden verbrannten Abfalls, aus den Wüstengebieten im Westen und im Osten weht feiner Staub -136-
herüber, und bei Windstille stehen die Abgase der rund eine Million zugelassenen Autos in der hitzeflirrenden Luft. Vor allem im späten Frühjahr, wenn die Temperaturen bereits steil ansteigen und die heftigen Chamasin-Winde aus der Wüste Sand und Staub heranbringen, brütet die Stadt unter einer undurchdringlichen Smog-Glocke. Die »Mutter der Welt« ist in die Jahre gekommen, und sie ist in die Breite gegangen. Die um die Jahrhundertwende für eine Million Menschen großzügig angelegte Infrastruktur der Wasserversorgung, Abwasserentsorgung und Stromzufuhr bricht unter dem unkontrollierten Wachstum zusammen. Jeder vierte Ägypter lebt in Kairo, das mit einer Ausdehnung von 214 Quadratkilometern gerade 0,4 Prozent der Gesamtfläche Ägyptens ausmacht. Die mittlere Besiedlungsdichte liegt bei 28.500 Menschen pro Quadratkilometer, doch manche Stadtviertel gehören mit bis zu 115.000 Bewohnern pro Quadratkilometer zu den dichtestbevölkerten Regionen der Welt. Jedem Kairener stehen im Schnitt ein halber Quadratmeter Grün und 30 Zentimeter asphaltierter Straße zur Verfügung. Satellitenaufnahmen zeigen, wie sich die gigantische Stadt einem schwarzen Krebsgeschwür gleich in das grüne Fruchtland des Nildeltas hineinfrißt. Unaufhaltsam drängt die Landbevölkerung in der vagen Hoffnung auf ein besseres Leben in die planlos wachsende Metropole. Mehr als eine Million Menschen wandert jedes Jahr aus den Dörfern und Kleinstädten des Niltales zu, zwei Millionen Pendler, die oft bis zu zweihundert Kilometer entfernt wohnen, finden täglich Lohn und Brot in Kairo, jeden Tag werden tausend Kinder geboren. Weil ihr die Probleme über den Kopf wachsen, erwägt die Stadtverwaltung -137-
seit Jahren, eine totale Zuzugssperre für den Moloch zu verhängen. Ägyptens weltweit berühmtester Architekt, Hassan Fathi, ging noch einen Schritt weiter: »Kairo ist finito, wir brauchen ein neues Kairo.« Nach seinen Vorstellungen soll es in der Wüste östlich der heutigen Metropole angesiedelt werden, wo das Klima besser ist und kein knappes Ackerland verlorengeht. Eine Verlegung der Stadt wäre in der mehr als tausendjährigen Geschichte Kairos kein Novum. Schon früher flüchteten die Bewohner vor ihrem eigenen Gestank, und die Stadt ist immer weiter nach Norden ausgewichen, so daß sie heute mit den Dörfern des Nildeltas verschmilzt. Auch damals wehten die vorherrschenden Winde aus dem Norden, und bliesen die Ausdünstungen der verfallenden alten Niederlassungen nach Süden. Dieses Schicksal widerfuhr der Siedlung Fustat, die 641 n. Chr. von den moslemischen arabischen Eroberern Ägyptens unter Amr Ibn al A'as als erste Hauptstadt außerhalb des christlichen Babylon gegründet wurde. Als der Gestank aus Kloaken und Latrinen und die Rauchschwaden von den offenen Feuerstellen und Badehäusern Fustats unerträglich wurden, baute man weiter nördlich für die Führungsschicht die neue Residenz Al Askar. Heute leben der Staatspräsident und die wohlhabenden Bürger in Heliopolis, einem mondänen Viertel, das vom belgischen Baron Empain Ende des letzten Jahrhunderts weit im Norden des alten Kairo, und inzwischen nahe dem internationalen Flughafen, angelegt worden ist. Es gibt nichts, dem Kairo in seiner Geschichte nicht schon hatte standhalten müssen: Hungersnöten, Feuersbrünsten, Pestepidemien und der Zerstörung durch fremde Heere. -138-
Japanischer Bauherr, maurischer Stil: Kairos Oper
Halbmond und Kreuz: Kairos St. Josephs-Kirche und Alabastermoschee
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Seine Blüte erlebte es unter den Fatimidenherrschern, seine schwärzeste Zeit begann mit der Einnahme durch die osmanischen Türken 1516, als es zu einem verschlafenen Provinznest verkam. Die Gründung des heutigen Kairo – wieder ein Stück weiter nördlich als die Siedlung Al Askar – durch den siegreichen General Jawhar und seinen Fatimidenkalifen Mu'izz im Jahre 969 stand buchstäblich unter einem Unstern. Der Legende nach ließ Mu'izz in der Ebene zwischen dem beherrschenden Mokattam-Hügel und dem Nil ein quadratisches Areal mit einer Seitenlänge von 360 Metern als Kernstück seiner neuen Hauptstadt abstecken. Rings um das Geviert waren Seile gespannt, an denen Glöckchen hingen. Es wurde vereinbart, daß die Astrologen, deren Spruch Mu'izz mehr als allem anderen vertraute, den günstigsten Zeitpunkt für den Baubeginn errechnen und mit einem Zug an den Seilen das Startsignal für die Arbeiten geben sollten. Unglücklicherweise ließ sich jedoch ein Rabe auf einem Seil nieder, und die Glocken begannen zu läuten. Die Astrologen waren fassungslos. Just zu diesem Zeitpunkt war nämlich der Unglücksplanet Mars am Firmament erschienen, der im Arabischen den Beinamen Qahir el Falak, »Bezwinger des Himmels« trägt. Da die Arbeiter weisungsgemäß mit dem Bau begonnen hatten, machte man flugs aus der Not eine Tugend, indem man der neuen Stadt den Namen El Qahira, die Siegreiche, gab, der im Deutschen zu Kairo verballhornt wurde. Sie werden sich vermutlich nach den ersten Spaziergängen von Kairo in die Knie gezwungen fühlen. Was kann schon reizvoll sein an einer Stadt, in der man -140-
keinen Schritt zurücklegen kann, ohne nicht befürchten zu müssen, von einem Bus überfahren zu werden, in einem Kanalschacht zu verschwinden und von eilig hin und her wogenden Menschenmassen erdrückt zu werden. Zumal im Sommer, wenn die Temperatur bis zu 45 Grad und die Luftfeuchtigkeit mehr als 90 Prozent erreichen können, werden Sie Ihr Hotel als rettende Oase liebgewinnen, vor allem deshalb, weil es nirgendwo in der Stadt einladende kleine Straßencafes gibt, in denen man sich zu einem erfrischenden Getränk niederlassen könnte. Die großen Hotels haben sich in der Tat zu gesellschaftlichen Treffpunkten der Europäer und der europäisch geprägten ägyptischen Oberschicht entwickelt, wo man sich trifft, ißt und sogar einkauft. Nach Ihrem ersten Bummel wird Ihnen jegliches Verständnis für den Stolz der Ägypter auf ihre Hauptstadt abgehen, der darin gipfelt, der Metropole auf arabisch den Namen des ganzen Landes zu verleihen: Nach Misr, nach Ägypten, fährt der Bauer aus dem Delta, wenn er in Kairo etwas erledigen muß. Und vom »Ägyptischen Bahnhof« in Alexandria gingen früher die Züge in die Hauptstadt ab. Vielleicht werden Sie Ihrem Reisebüro sogar dankbar sein, das lediglich zwei Tage für die Besichtigung Kairos eingeplant hat, bevor Sie ein Flugzeug ins idyllische, friedliche Oberägypten bringt. Im Geschwindschritt werden die Pyramiden von Gizeh samt Sphinx besucht, das Ägyptische, vielleicht auch noch das Koptische und Islamische Museum abgehakt, die von Saladin hoch über der Stadt erbaute Zitadelle und die AlabasterMosche inspiziert, die wie die Kleinausgabe der Blauen Moschee von Istanbul aussieht. Abgerundet wird der Kairo-141-
Besuch von einem kurzen Abstecher zum Chan el-Chalili, dem Basar. »Wie können Sie hier nur leben?« bekommen in Kairo ansässige Ausländer von Besuchern denn auch immer wieder zu hören. Ihr Erstaunen weicht blankem Entsetzen, wenn sie von den alltäglichen Überraschungen erfahren, die die »Mutter der Welt« mit schöner Regelmäßigkeit für ihre Kinder bereithält. In ganzen Vierteln bleibt stundenlang mal die Strom-, dann wieder die Wasserversorgung unterbrochen. Kein Wunder, wurden die Rohre doch schon 1895 verlegt und sind mittlerweile rostig und brüchig geworden. Rund 30 Prozent aller Haushalte Kairos haben überhaupt kein fließendes Wasser. Überall stehen darum Badezuber und Plastikeimer in großer Zahl parat, um auch längere Trockenzeiten zu überbrücken. Fällt der Strom aus und taut die Tiefkühlkost oder bleibt der Fahrstuhl stecken – malesh, macht nichts. Kerzen und Taschenlampen sind stets greifbar. Jetzt wird Ihnen auch klar, weshalb in Ihrem Hotel Kerze und Streichholzbriefchen griffbereit neben Ihrem Bett liegen. Der Verkehr kann so mörderisch werden, daß die Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt genauso lange dauert wie der Flug von Frankfurt nach Kairo – doch ist sie weniger angenehm. Die Umweltbelastung durch Lärm und Abgase hält internationale Rekorde. Wenn Sie nun noch erfahren, daß sich das Freizeitangebot auf Ausflüge in die Wüste oder die Mitgliedschaft in einem teuren Sportclub beschränkt und daß neue Filme, Theaterstücke oder Bücher im Glücksfall und nur, sofern es der Zensur gefällt, mit mehrjähriger Verspätung am Nil eintreffen, dann werden Sie ratlos jene Frage wiederholen: »Wie können Sie nur in solch einer Stadt leben?« -142-
Man kann. Man kann es sogar sehr gut, wenn man von allzu hochgesteckten Erwartungen Abschied nimmt. Kairo ist keine Stadt, die einem – einmal abgesehen von der in dieser Hinsicht durchaus wirksamen Luftverschmutzung – auf Anhieb den Atem raubt. Der Charme dieser Stadt – lächeln Sie bitte nicht – erschließt sich nicht auf den ersten oder zweiten Blick. Aber bummeln Sie einmal am frühen Abend die Corniche, die Nilufer-Promenade, entlang, wenn die Sonne ihre Kraft verliert und ein zarter blauer Schleier über den Palmen und den mächtigen Baobab-Bäumen mit ihren verschlungenen Luftwurzeln liegt, und beobachten Sie die verschämten Liebespaare, die schüchtern händchenhaltend auf den Bänken sitzen. Oder schlendern Sie über den Ataba-Markt, ein Tollhaus der Händler, Lastenträger, Wasserverkäufer, Ausrufer, streunenden Hunden und Eselskarren, und schnuppern Sie das Aroma aus Tausendundeiner Nacht, das ja nicht allein würzigen Essenzen entströmt, sondern sich ganz vulgär auch aus frischem Fisch, gebratenem Kebab und – neuerdings – Autoabgasen zusammensetzt. Lassen Sie sich treiben in dem Ameisengewimmel der engen, verwinkelten Gassen und verzaubern vom Anblick der wunderbaren alten islamischen Architektur, die aufgrund des ständig steigenden, salzhaltigen Grundwassers und der Luftverschmutzung zunehmend vom Untergang bedroht ist. Nehmen Sie sich Zeit für Kairo. Sie werden feststellen, daß diese Stadt ein Fleckenteppich der verschiedensten Kulturen, Stile und Einflüsse ist. Jeder Herrscher hat seine Spuren hinterlassen: das vorislamische Kairo finden Sie rund um die »Hängende Kirche« der koptischen Christen, die Fatimiden hinterließen unzählige Moscheen und Medressen, Koranschulen, -143-
sowie die mehr als tausend Jahre alte Al Azhar-Universität, die älteste Hochschule der arabischen Welt, und noch heute die höchste und letzte religiöse Instanz für die mehr als 600 Millionen sunnitischen Moslems in aller Welt. Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstand das mondäne, das europäische Kairo, für dessen Gestaltung sich der geltungssüchtige und verschwenderische Vizekönig Ismail bei der Weltausstellung 1867 in Paris die Anregungen holte. Beeindruckt von den prächtigen Boulevards und den Plätzen, von denen sternförmig die breiten Avenuen des Barons Haussman ausstrahlen, lud er europäische Städteplaner nach Ägypten ein. In Kairo entstanden moderne Geschäftsviertel, ein neuer Palast, ein französischer Garten und nicht zuletzt die Oper, für deren Eröffnung Giuseppe Verdi die in pharaonischer Zeit angesiedelte Monumentaloper Aida komponierte. Seither aber sind alle Bemühungen, die Stadt großzügig neu zu konzipieren und zu planen, am unkontrollierten Wachstum der MillionenMetropole gescheitert, mit dem die wirtschaftliche Entfaltung nicht Schritt halten konnte. Eine Reihe ursprünglich sozialer Reformen nach der Revolution von 1952 trug nicht zum Erhalt der Bausubstanz bei. Gamal Abdel Nasser hatte Anfang der fünfziger Jahre einen allgemeinen Mietpreisstopp verfügt. Niemand rechnete mit der Geldentwertung, und so kam es, daß heute palastartige Wohnungen von mehreren hundert Quadratmetern Größe zu Spottpreisen vermietet sind. In einigen Fällen erlösen die Besitzer von Büroblocks im Jahr gerade soviel, um die Wasserrechnung zu bezahlen. Die Frage indes, woher die Eigentümer das Geld für dringend notwendige Reparaturen -144-
nehmen sollen, konnte noch niemand beantworten. So verfallen viele der einst prächtigen Bürgerhäuser aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Skrupellose Hausbesitzer hoffen sogar darauf, daß ihre Gebäude früher oder später einstürzen. Denn dann können sie auf dem Grundstück einen Neubau hochziehen, für den die Mietpreisbindung nicht gilt. Tausende von Gebäuden in Kairo, nach offiziellen Zahlen 40 Prozent, gelten als baufällig. Sie haben, um in den blumigen Worten der Stadtverwaltung zu sprechen, »ihr natürliches Alter erreicht«. Jedes Jahr werden Dutzende von Menschen unter den Trümmern ihrer Häuser begraben. Die hohe Geburtenrate und der unverändert starke Zustrom aus der Provinz haben zu einer beklemmenden Wohnungsnot in der ägyptischen Hauptstadt geführt. Fast jeder zweite Kairener im heiratsfähigen Alter kann mangels einer preisgünstigen Wohnung keine Familie gründen. Das Gouvernorat von Kairo schätzt vorsichtig, daß jedes Jahr mindestens 50.000 neue Unterkünfte gebaut werden müßten, eine angesichts der trostlosen Wirtschaftssituation unlösbare Mammutaufgabe. Hunderttausende haben sich daher illegal am Rande der Stadt niedergelassen, andere hausen in ehemaligen Waschküchen auf den Flachdächern der alten, mehrstöckigen Bürgerhäuser im Herzen der Stadt und blicken nun aus luftiger Höhe auf das lebhafte Treiben hinab. Wieder andere machen in ihrer Not selbst den Toten ihre letzte Ruhestätte streitig. Ende der sechziger Jahre zogen die ersten Zuwanderer vom Land in die prächtigen Mausoleen der Mamlukenherrscher in der ausgedehnten Totenstadt nördlich der -145-
Zitadelle am Fuß des Mokattam. Was illegal begann und jahrelang von den Behörden bekämpft wurde, hat sich heute zu einer festen Siedlung entwickelt. Auch die Stadtverwaltung kapitulierte schließlich vor der Macht des Faktischen und ließ Strom und Wasser in die Totenstadt legen, in der inzwischen mehrere hunderttausend Menschen eine feste Bleibe gefunden haben. Zuvor hatten sie sich den Strom ganz einfach mit abenteuerlichen und potentiell selbstmörderischen Kabelverbindungen geklaut. Wenn Sie diese von Leben strotzende Totenstadt besuchen, in der sich auch einige kunsthistorisch sehenswerte Moscheen und Grabmäler befinden, dann seien Sie bitte vorsichtig bei der Auswahl Ihrer Fotoobjekte. Denn was uns als pittoreskes Motiv erscheint, ist in ägyptischen Augen ein Zeichen von Armut und Rückständigkeit, die man lieber verstecken möchte. Dieselbe Vorsicht ist geboten beim Fotografieren der wackligen, windschiefen Eselskarren, mit denen in Kairo der Müll eingesammelt wird. Diese auf der Welt wohl einzigartige Müllabfuhr ist ausschließlich in privater Hand, nachdem die Stadtverwaltung nach einigen vergeblichen Versuchen, die Müllbeseitigung in eigener Regie zu bewältigen, kapitulierte. Immerhin ist es ihr teilweise gelungen, die Eselskarren durch moderne Müllfahrzeuge zu ersetzen. Die schätzungsweise 40.000 Sabbalin, wie die Müllsammler von Kairo heißen, brechen jeden Morgen von den Müllhalden im Norden und Osten der Stadt, auf denen sie auch leben, in die inneren Bezirke auf, um die schätzungsweise 20.000 Tonnen Abfall, die die Metropole Tag für Tag produziert, einzusammeln. Die Wiederverwertung der leeren Flaschen, der -146-
Speisereste und des Altpapiers ist die Verdienstquelle der Sabbalin, die in verschiedenen Clans mafiaartig organisiert sind. Rund 80 Prozent des Mülls wird wiederverwertet – Recycling, lange bevor wir anfingen, unsere Abfälle zu sortieren. Nach einigen Tagen in Kairo werden Sie im Stadtbild etwas vermissen, ohne genau sagen zu können, was es eigentlich ist. Die Stadt ist eine Metropole der Dritten Welt, nach unseren Begriffen also arm; was Sie jedoch kaum finden werden, sind Bettler. Tatsächlich läßt sich die Zahl der abgerissenen und manchmal gräßlich verstümmelten Gestalten, die um ein Almosen bitten, an den Fingern zweier Hände abzählen. Das hat zwei Gründe: zum einen vertreibt die Polizei erbarmungslos alle Bettler aus Gegenden, die von Touristen frequentiert werden. Zum anderen wird ein Ägypter, und sei er noch so arm, immer versuchen, sich zumindest den Anschein zu geben, eine Dienstleistung für das Almosen zu erbringen. So werden Sie junge Männer, aber auch Kinder sehen, die zwischen den Autos auf der Straße Papiertaschentücher oder Staubwedel feilbieten, andere putzen mit schmutzigen Lappen unaufgefordert Ihre Windschutzscheibe, wieder andere sitzen auf dem Bürgersteig und verhökern Tand – um nur der Schmach des Bettelnmüssens zu entgehen. Der Ruf Ägyptens und der Stolz auf seine Führer dokumentiert sich in den Straßennamen der »Mutter der Welt«. In kaum einer anderen Stadt hat sich die jüngste Geschichte so nachhaltig auf blau emaillierten Straßenschildern niedergeschlagen, wie in Kairo. Aber auch nirgendwo sonst ignoriert die Bevölkerung so hartnäckig den revolutionären Eifer von Nassers Freien -147-
Offizieren, die 1952 Straßen und Plätze vom Erbe der Monarchie befreien wollten. Manch einen Taxifahrer werden Sie unwissentlich zur Verzweiflung treiben, wenn Sie etwa zum Talaat-Harb-Platz wollen, der so auch in Ihrem Stadtplan verzeichnet ist. Talaat Harb, der Gründer der ersten ägyptischen Bank und antibritischer Nationalist der dreißiger Jahre, dessen Denkmal den nach ihm benannten Platz ziert, wird dem Fahrer unbekannt sein. Für ihn wie für die meisten Kairener trägt der Platz noch immer den Namen Soliman Paschas, eines französischen Militärberaters von Mohammed Ali, des Gründers der ägyptischen Dynastie. Auch eine von Nasser nach dem Sturz der Monarchie in Scharia Gomhuria (Straße der Republik) umgetaufte Hauptverkehrsader heißt bis heute im Volksmund nach dem Sohn Mohammed Alis, Scharia Ibrahim Pascha. Sein Reiterstandbild beherrscht den Opernplatz, auf dem – natürlich – keine Oper, sondern ein Parkhaus steht. Das alte Gebäude war 1971 einem Brand zum Opfer gefallen, angeblich, weil eine Katze den Petroleumkocher eines Wächters umgestoßen und in Todesangst brennend durch das Haus gerannt war. Den Wiederaufbau ihrer Oper verdanken die Ägypter Japan, das es sich angelegen sein ließ, »dem ältesten Kulturvolk der Welt« einen angemessenen Musentempel zu finanzieren. Da den Stadtvätern bei aller Liebe zur Kultur ein Parkhaus wichtiger erschien, wurde die neue Oper auf der mondänen Nilinsel Zamalek angesiedelt. Abbrennen wird der moderne Komplex nicht so leicht: In der Kuppel des im islamischen Stil errichteten Gebäudes wurde ein gigantischer Wassertank installiert, der jeden Brand im Keim -148-
ersticken soll. Mit der Ausrufung der Republik griff auch die revolutionäre Vorliebe für Jahreszahlen anstelle von Namen um sich. Die einst eleganteste Straße Kairos, einschließlich der von keinem Geringeren als Gustav Eiffel, dem Konstrukteur des Eiffelturms, gebauten Nilbrücke, wurde in 26. Juli-Straße umbenannt, dem Tag der Abdankung König Faruks im Jahre 1952. Für die Kairener heißt sie jedoch nach wie vor König-Fuad-Straße, nach Faruks Vater. Der Nahostkrieg vom Oktober 1973 wurde zum Taufpaten der modernsten Nilbrücke, der 6. Oktober-Brücke. Da der Waffengang in den islamischen Fastenmonat Ramadan fiel, blieb ein zweites Datum für die Namensgebung einer Trabantenstadt in der Wüste übrig: 10. Ramadan City. Die Führer der Revolution von 1952 gingen bei den Neubenennungen weitgehend leer aus. Sowohl Kairo als auch Alexandria besitzen zwar eine Scharia Gamal Abdel Nasser, die im allgemeinen Sprachgebrauch aber noch immer besser bekannt sind als Scharia el Nil und Scharia Horreia (Straße der Freiheit). Damit erschöpfte sich die aktuelle politische Namensgebung, und auch der lange verfolgte Plan eines NasserDenkmals wurde stillschweigend zu den Akten gelegt. Irritiert reagierte das Gouvernorat von Kairo auf ein Schild am Zaun des Außenministeriums gleich gegenüber dem ehemaligen Gebäude der Arabischen Liga, das einen Anwar el Sadat-Platz ausweist. Nach mehrtägigen Recherchen in den Aktengebirgen der Behörde wurde eine typisch orientalische Erklärung gefunden: Das Schild sei zwar von Amts wegen dort angebracht worden, man wisse indes selbst nicht genau, welcher Teil des weitläufigen Platzes – und ob überhaupt – nach dem -149-
ehemaligen Staatschef benannt werden soll. Bis zu einer endgültigen Regelung gelte parallel der geläufige Name. Man kann es sich aussuchen: Je nachdem, wie weit man in der Geschichte zurückgehen will, bezeichnet man ihn als Midan el Tahrir (Platz der Befreiung), Ismalia-Platz oder Champs des Mars. Zumindest unterirdisch haben es Sadat und sein Vorgänger wie auch sein Nachfolger zu Ehren gebracht. Drei Stationen der Kairoer Untergrundbahn heißen Gamal Abdel Nasser, Anwar Sadat und Husni Mubarak. Unter der Erde, in der U-Bahn, geht es zudem ungleich prächtiger und sauberer zu als oben in der Stadt. Eine eigens für diese Aufgabe geschaffene Polizeitruppe wacht mit Argusaugen darüber, daß in den Stationen und Zügen nicht geraucht wird, daß niemand auch nur ein Stückchen Papier wegwirft. Putzkolonnen wienern und schrubben jeden Tag die Kachelwände und Marmorsäulen. Die Spottlust der Ägypter bemächtigte sich natürlich gleich der neuen Errungenschaft: Ein Fellache aus Oberägypten vergleicht die überfüllten, schmutzigen Straßenzüge und verfallenen Gebäude oben mit der vor Sauberkeit blitzenden U-Bahn und ruft erstaunt aus: »Was, so etwas Schönes versteckt man unter der Erde?«
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Immer nur am Nil entlang oder: Schon wieder Herodot So wenig Sie sich in Kairo verlaufen können, wenn Sie sich stets am Nil orientieren, so übersichtlich ist ganz Ägypten. Auf 1440 Kilometer durchschneidet der Fluß von Süden nach Norden das Land, und alle wichtigen Städte und Sehenswürdigkeiten sind wie Perlen auf einer Schnur an seinen Ufern aufgereiht. Um noch einmal unseren Freund Herodot und eines seiner wohl strapaziertesten Zitate zu bemühen, ohne das kein Beitrag über das Nilland auszukommen scheint: »Ägypten ist ein Geschenk des Nils.« Daß den Ägyptern jene gut 95 Prozent ihres Landes, die öde Wüste sind, herzlich gleichgültig sind, haben Sie ja schon erfahren. Auch Sie werden sich im Verlauf Ihres Aufenthaltes normalerweise nie weit von den Gestaden dieses längsten Stromes der Erde entfernen. Ob Sie ins oberägyptische Assuan oder zu den Tempeln und Königsgräbern von Luxor wollen – Ihr Weg führt Sie immer am Nil entlang. Der im Südwesten des Victoriasees entspringende 6671 Kilometer lange Fluß ist nicht nur Ägyptens Lebensspender, der überhaupt erst die Landwirtschaft und die pharaonische Hochkultur ermöglichte, sondern seit Jahrtausenden auch die wichtigste Verkehrsader des Landes. Die Natur half dabei. Da der Nil nach Norden fließt, die vorherrschenden Winde in Ägypten jedoch meist nach Süden wehen, konnte man den Fluß stets ohne große Muskelkraft leicht in beiden Richtungen befahren – mit Hilfe der Strömung und eines Ruders flußabwärts, mit einem Segel in die umgekehrte Richtung. -151-
Wie eh und je prägen auch heute noch die typischen Nilboote, die Felukkas mit ihren flachen Kielen und großen Dreieckssegeln, das Bild des schlammigbraunen, träge dahinfließenden Stromes. Sie wissen ja, daß Sie in den großen Touristenzentren oder in Kairo eine Felukka stundenweise mieten können. Beliebt unter den Ausländern in der ägyptischen Hauptstadt ist es, auf einer Felukka gemeinsam mit Freunden eine Party zu feiern. Viel Zeit, Ausdauer und ein bißchen Abenteuerlust müssen Sie mitbringen, wenn Sie einen Traum besonderer Art verwirklichen wollen: mit einer Felukka geruhsam und geräuschlos von Kairo den Nil aufwärts bis nach Luxor oder gar ins mehr als tausend Kilometer entfernte Assuan zu segeln. Leider sind nur noch wenige Felukkaführer zu solchen ausgedehnten Ausflügen bereit. Die paradiesische Ruhe an Bord, die Herzlichkeit und Freundlichkeit des rais, wie der Kapitän genannt wird, entschädigt für die spartanische Lebensweise an Bord. Sehr viel komfortabler, aber auch wesentlich teurer sind die Nilfahrten auf einem der großen Hotelschiffe, die in der Saison zwischen Luxor und Assuan hin und her pendeln. Als Reiselektüre empfiehlt sich vielleicht Agatha Christies Tod auf dem Nil, auch wenn das Publikum nicht mehr ganz so nobel und exklusiv ist wie in dem Jahrhundertbestseller der alten Dame der englischen Kriminalliteratur. Der Schaufelraddampfer übrigens, der in der Verfilmung des Romans verwendet wurde, liegt heute manchmal in Kairo an der Corniche, der Nilufer-Promenade, vor Anker. Die modernen weißen Traumschiffe gehören allesamt internationalen Hotelketten. Was sie an Fin-de-siècle-Romantik entbehren, wiegen sie durch Komfort und Luxus wieder auf. Der Reiz der Nilfahrten liegt wohl – abgesehen von der vorüber-152-
gleitenden gleichermaßen pastoralen wie majestätischen Landschaft – im angenehmen Wechsel von himmlischen Ruhetagen auf dem Strom mit Ausflügen zu den Kulturdenkmälern. Einige Zeit wurde die Nilfahrt durch den sinkenden Flußpegel bedroht. Sieben Jahre und mehr hatte es im äthiopischen Hochland nicht ausreichend geregnet. Dort entspringt der wasserreiche Blaue Nil, der sich in der sudanesischen Hauptstadt Khartum mit dem Weißen Nil vereinigt. Mancherorts in Oberägypten, so etwa zwischen den Städten Esna und Edfu, mußten die Passagiere in Busse umsteigen, weil der Wasserstand für die Luxusdampfer nicht mehr ausreichte. Da Ägypten jedoch unter einem Glücksstern zu stehen scheint – Ägypter halten dies übrigens für selbstverständlich –, wurde die Katastrophe abgewendet. In letzter Minute begann es in Äthiopien zu regnen, was zwar den armen sudanesischen Brüdern im Süden verheerende Überflutungen bescherte, Ägypten aber aufatmen ließ. Das Baden im Nil sollten Sie sich allerdings verkneifen. Obwohl der Fluß im Vergleich zu europäischen Strömen kaum industriell verschmutzt ist, können Sie sich – zumal in den langsam fließenden Ufergewässern leicht Bilharziose holen, jene heimtückische und oft tödlich verlaufende Wurmkrankheit, die noch immer zu den Geißeln Ägyptens gehört. Im Nildelta, wo in den beiden Flußarmen und den unzähligen Bewässerungskanälen das Vieh getränkt, die Wäsche gewaschen und die Kinder gebadet werden, ist jeder zweite mit dieser Krankheit infiziert. Zu Ihrer Beruhigung, die Bilharziaschnecke, Wirtstier für den Erreger, ist das einzige lebensbedrohliche Lebewesen in Nil. Selbst das einst gefürchtete Krokodil, das von dem Strom seinen lateinischen Namen crocodllus niloticus erhielt, findet sich in -153-
Ägypten nur mehr in den städtischen Läden und ausschließlich in Gestalt von Handtaschen, Schuhen, Gürteln und Portemonnaies. Das Nilkrokodil, das eine Länge von zehn Metern erreichen kann und Mensch und Tier gleichermaßen gerne verspeist, stellte bis zur Errichtung des Assuan-Hochdammes 1971 eine Bedrohung für Bauern und Fischer in Oberägypten dar. Nun ist es hinter die Staumauer zurückgedrängt und fristet sein Dasein mit den Fischen des künstlichen Nassersees. Nach Nilpferden werden Sie ebenfalls vergeblich Ausschau halten. Sie leben immerhin am Nil, doch im südlichen, im afrikanischen Oberlauf des Stromes, in Uganda und im südlichen Sudan. Der italienische Reisende Prospero Alpini beschrieb zwar in seiner Ende des 16. Jahrhunderts veröffentlichten zweibändigen Naturgeschickte Ägyptens detailliert das Flußpferd und warnte eindringlich vor Verwechslungen mit dem kleineren »Flußschwein«. Selbst gesehen hatte Alpini das Tier jedoch ebensowenig wie jenen Drachen, der nach seiner Schilderung »mannsgroß und mit einem Schädel, groß wie ein Rinderkopf,« Oberägypten unsicher machte. Auch die Bahn bewegt sich immer am Fluß entlang, egal, ob Sie nach Süden oder ins nördlich von Kairo gelegene Alexandria reisen wollen. Ähnlich wie bei der Flußfahrt liegt es bei Ihnen, ob Sie sich für Komfort oder Abenteuer entschließen. Es ist eine Frage des Preises. Alle Züge gehen vom Ramses-Bahnhof in Kairo ab, und Sie haben die Wahl zwischen dem noch immer preiswerten klimatisierten Schlafwagen oder den spottbilligen Holzbänken in der dritten Klasse. Im zweiten Fall haben Sie die Gelegenheit, die Aufgeschlossenheit der Ägypter aus nächster Nähe studieren zu können, sofern es Ihnen nichts ausmacht, das -154-
Abteil mit Ziegen, Hühnern und Gänsen zu teilen. Denn für längere Strecken erfreut sich die Bahn bei den Fellachen nach wie vor größter Beliebtheit. Hungern müssen Sie auch in der dritten Klasse nicht. Sie wissen ja, Ägypter unterliegen dem Trugschluß, die chawagas hätten seit Wochen keine feste Nahrung zu sich genommen, und so werden Sie von Ihren Mitreisenden überreichlich mit Speis und Trank versorgt. Sprachliche Barrieren werden durch ein breites Lächeln und unter Zuhilfenahme beider Hände überwunden. Nicht nur im Zug kann es Ihnen passieren, daß Sie von Wildfremden zum Abendessen eingeladen werden. Prompt regt sich unser europäisches Mißtrauen, hängen wir der nagenden Frage nach, welchen Hintergedanken das nette Gegenüber mit seiner freundlichen Einladung verfolgt. Doch es besteht kein Anlaß zur Sorge: Ihr Gastgeber in spe will Sie weder ausrauben, noch will er Ihnen etwas verkaufen. Er freut sich, Sie kennengelernt zu haben, ist wohl ein bißchen stolz darauf, vor den Nachbarn mit der Bekanntschaft eines Ausländers angeben zu können, und möchte Sie ganz schlicht und einfach bewirten, weil er Sie sympathisch findet und will, daß Sie einen guten Eindruck von seiner Heimat mitnehmen. Wie so eine Essenseinladung abläuft, damit sind Sie inzwischen vertraut. Ägypten ist nicht nur längs des Nils verkehrstechnisch erstaunlich gut erschlossen. Auch in die Oasen, die westliche Wüste, an die Mittelmeerküste, das Rote Meer und zum Sinai verkehren Flugzeuge, manchmal Züge und Busse, oft hypermoderne Fahrzeuge mit Video und Stewardessen an Bord. Natürlich müssen Sie bei Reisen im Land manchmal Abstriche machen; die staatliche Fluggesellschaft Egypt Air fliegt nicht -155-
immer auf die Minute, was sage ich, auf die Stunde genau, und bei Fahrten mit vorsintflutlichen Überlandbussen oder -taxis werden Sie öfter, als Ihnen lieb ist, Zeuge haarsträubender Verkehrssituationen. Aber selbst im entferntesten Weiler wird man Ihnen als Ausländer mit Rat und Tat zur Seite stehen, immer wird man bemüht sein, Ihnen das Warten oder andere Unannehmlichkeiten des Reisens nach Kräften zu erleichtern. Diese Hilfsbereitschaft werden sie besonders schätzen lernen, wenn Sie mit dem eigenen oder einem geliehenen Auto durchs Land fahren. Ein Reifenschaden, eine Panne? Kein Problem. Einen durchorganisierten Rettungsdienst mit einem breit gefächerten Servicenetz gibt es nicht, dafür wird jeder vorbeikommende Autofahrer bereitwillig anhalten, um zu helfen. Man wird den Schaden an Ort und Stelle notdürftig zu beheben suchen (solche Reparaturen halten manchmal besser als die Bemühungen eines deutschen Kfz-Meisters, nur dürfen Sie das Ergebnis nicht dem TÜV zeigen) oder Ihr Auto in halsbrecherischer Manier zur nächsten Werkstatt schleppen. Grundsätzlich können Sie sich mit dem Wagen überall in Ägypten frei bewegen. Einige Straßen allerdings sind für Ausländer gesperrt, so zum Beispiel die Landstraßen durchs Delta (man schämt sich der Armut einiger Dörfer) oder in der Umgebung von Militärstützpunkten (man traut der Satellitenaufklärung gegnerischer Mächte nicht viel zu). Ob die Straße für Sie tatsächlich gesperrt ist oder nicht, hängt wieder einmal von mehreren Unwägbarkeiten, doch letztlich von Ihnen selbst ab. Irgendein Unteroffizier wird hartnäckig auf einer Genehmigung, auf einem Passierschein beharren, den sinnigerweise eine Behörde im meilenweit entfernten Kairo ausstellt. -156-
Trotz Assuandamm: Schöpfräder wie seit Jahrhunderten
Abenteuer und himmlischer Traum: Nilfahrt in Oberägypten
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Bewahren Sie die Ruhe und lächeln Sie. Wer grob oder ungeduldig reagiert, macht sich verdächtig. Nach einem kleinen Schwätzchen wird sich – inshallah – der Schlagbaum vielleicht für Sie heben. Ein Tip: Falls Sie abseits der großen Durchgangsstraßen unterwegs sein sollten, dann decken Sie sich vor der Abfahrt reichlich mit ägyptischen Zeitschriften und Illustrierten ein und verteilen Sie diese an Soldaten und Offiziere. Wer wochenlang abgeschnitten von aller Welt draußen in der Wüste monotonen Dienst tut, ist dankbar für ein bißchen Lesestoff. Zum Abschluß noch ein paar Worte an die allein reisende Frau in Ägypten. Wenn Sie sich an gewisse Spielregeln halten, dann werden Sie weniger belästigt als in einem europäischen Land. Daß Sie sich nicht auffallend, weil in ägyptischen Augen lasziv, kleiden sollten, wurde ja bereits erwähnt. Vermeiden Sie alles, was als Entgegenkommen oder als Bereitschaft zu einem Flirt ausgelegt werden könnte. Seien Sie freundlich, aber bestimmt. Einladungen zum Essen sollten allein reisende Frauen nur dann annehmen, wenn sie von einem Ehepaar ausgesprochen werden. Man kann nämlich grundsätzlich davon ausgehen, daß ein Ägypter nie eine einzelne Europäerin zu sich nach Hause oder auch nur ins Restaurant einladen würde, es sei denn, er verfolgt eindeutig zweideutige Absichten. Denken Sie daran, daß Sie – gerade auf dem Land und in den Dörfern – als Wunder bestaunt werden. Denn eine konservative ägyptische Frau – und dies sind mehr als 90 Prozent aller Ägypterinnen – würde nie alleine aus dem Haus gehen, geschweige denn verreisen. Sollten Sie wirklich einmal belästigt werden, so können Sie sicher sein, daß Passanten für Sie Partei ergreifen und den Übeltäter zur Räson -158-
rufen werden.
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Von Anfang bis zum Ende: Geduld, Geduld und noch mal Geduld
Ich kann es Ihnen nicht verdenken, wenn Sie nach der Lektüre dieser Zeilen Ägypten verwirrter gegenüberstehen als vorher. In bester ägyptischer Tradition lehne ich die Verantwortung ab und reiche den Schwarzen Peter weiter: Schuld ist das Land. Sie werden es vielleicht selbst bemerkt haben: Ägypten läßt sich in keine Schablone pressen, deckt sich mit keinem Klischee. Sobald man glaubt, jetzt habe man es gefunden, das »typische« Ägypten, taucht ein neues Bild auf, das alles wieder über den Haufen wirft. Selbst wer viele Jahre lang am Nil verbracht hat, erlebt jeden Tag neue Überraschungen. Die einzige Konstante in diesem verwirrenden Tohuwabohu ist die Geduld, die bei den Ägyptern irgendwo zwischen jener der Engel und der Esel angesiedelt ist. Wer diese Eigenschaft nicht mitbringt oder sich im Laufe der Zeit aneignet, ist rettungslos verloren. Wenn ich sagen sollte, was die Jahre in Ägypten mich persönlich gelehrt haben, so ist die Antwort einfach: Geduld, Geduld und noch mal Geduld. Jeder ägyptische Fellache weiß, daß die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten nicht die gerade Linie ist. Er kennt nur eine Alternative. Entweder wählt er den vielfach gewundenen, verzweigten Weg, der Hindernissen ausweicht und deshalb im allgemeinen schneller ans Ziel führt. Oder er rührt sich überhaupt nicht von der Stelle und wartet so lange ab, bis die Zeitläufe, die Umstände, die Probleme sich von selbst so weit verändert haben, daß nicht er ans Ziel seiner Wünsche gelangt, sondern umgekehrt. Und wenn -160-
nichts daraus wird? Malesh, es gibt Wichtigeres im Leben. In einem britischen Standardwerk über die Geschichte des Suezkanals werden die Abertausende ägyptischer Zwangsarbeiter, die unter menschenunwürdigen Bedingungen zum Teil mit bloßen Händen die mehr als 170 Kilometer lange Wasserstraße zwischen Rotem Meer und Mittelmeer aushuben, beschrieben als »Männer, die wie Ochsen schufteten, von einer Zwiebel am Tag lebten und ihrem Zorn nur in Liedern Luft machten.« Arbeitsam, genügsam, grundsätzlich friedfertig – diese Eigenschaften kennzeichnen die Ägypter bis heute. Deshalb sind Ausbrüche von Gewalt oder politische Ausschreitungen so selten. Wenn es trotzdem einmal geschieht, dann ist der Schritt zu einem Lachen, zur Versöhnung wieder ebenso schnell getan. Zwar war und ist von der Regierung nie etwas Gutes zu erwarten, doch der Pharao ist weit, und solange der Nil wie seit Jahrtausenden die Felder bewässert und niemand Hunger leidet, fügt man sich in sein Schicksal. Was man vorschnell als Ausdruck von Phlegma, Apathie und Fatalismus abtun könnte, hat im Grunde genommen etwas von jenem Hauch der Ewigkeit Ägyptens, den schon frühe Reisende im Schatten der Pyramiden erahnt haben mögen. Deren Erbauer aber waren ja nicht die Pharaonen, sondern die genügsamen , duldsamen und arbeitsamen Bauern des Niltales. Und Zeit? Daß Zeit Geld sein könnte, hat sich in Ägypten bis heute noch nicht allgemein herumgesprochen. Es mag keinen Zucker geben, kein Wasser, keinen Strom, keine Freiheit – aber Zeit, elhamdullilah, »Gott sei Dank«, die gibt es überreichlich und wird es immer geben, mehr als ein einzelner Mensch je -161-
verbrauchen könnte. Sie tun gut daran, sich auf dieses Zeitverständnis einzustellen. Viele Dinge erledigen sich paradoxerweise wie von selbst, sobald Sie zu erkennen geben, daß Sie es überhaupt nicht eilig haben. Nichts verunsichert einen Ägypter mehr, als ein Ausländer, der nicht die Minuten zählt, sondern sich ruhig zurücklehnt und verkündet, daß es ihm auf ein paar Stunden mehr oder weniger nicht ankommt. Jeder Ägypter wird es angesichts dieses unheimlichen und atypischen Fremden mit der Angst zu tun bekommen und sich mehr als gewöhnlich sputen, um ihn wieder loszuwerden. Es gehört zu den Widersprüchen Ägyptens, daß es sich einerseits nur sehr langsam für Veränderungen aufgeschlossen zeigt und andererseits seit eh und je der Motor für Erneuerungen in der gesamten arabischen Welt ist. Ägypter sind ein Volk von Bauern, die allem Neuen zunächst mit einem gerüttelt Maß an Mißtrauen begegnen. Sobald sie sich von der Richtigkeit von Reformen überzeugt haben, werden sie sie mit ganzem Herzen unterstützen. Darum kannte das Land nie Berührungsängste, wenn es galt, praktische Neuerungen aus dem Ausland zu importieren. Dieses Buch soll Ihnen ein bißchen dabei helfen, in diese Widersprüchlichkeiten einzudringen, und es will Ihnen den um ein paar Takte langsameren Lebensrhythmus schmackhaft machen. Ich werde Ihnen nicht den alten Rat mit auf den Weg geben, wonach derjenige nach Ägypten zurückkehrt, der von den Wassern des Nils getrunken hat. Heute würden Sie sich dabei nur einen Durchfall einhandeln, wenn nicht Schlimmeres. Vielleicht aber haben diese Zeilen Ihre Neugierde geweckt, nicht nur einmal, sondern mehrmals nach Ägypten zu fahren – und sich immer wieder verzaubern und überraschen zu lassen. -162-