DÄMONENKILLER
GEFANGEN IM BLUTTUNNEL
Von Chet Warner Die Urheberrechte am DÄMONENKILLER liegen bei der Pabel-Moewig Verlagsunion, Raststatt. Die Serie erscheint seit 1996 als Buchreihe (Edition DK) im Zaubermond-Verlag, Schwelm (www.zaubermond.de). Die vorliegende Geschichte darf nur unentgeltlich angeboten werden. Ab dem Jahr 2001 erscheinen neue DÄMONENKILLER-Romane des Autors Ralf Schuder (alias Chet Warner) als Hardcover-Bücher im Zaubermond-Verlag. Autorenkontakt:
[email protected].
London, Herbst 1979 Ich schaute die seltsame Frau durch meine geschlossenen Augenlider an. Sie ahnte nicht, dass ich das konnte. »Phillip, ich weiß, dass du wach bist - hör auf, dich schlafend zu stellen!« Auf ihrer ohnehin runzligen Stirn bildeten sich Sorgenfalten. »Ich mache mir solche Mühe mit dem Abendessen, und du rührst nichts an.« An dem mir gegenüberliegendem Fenster sah ich Nebelschwaden vorbeiziehen. Winzige Wassertropfen bedeckten die Scheibe. Die Frau stand mit einem Tablett neben meiner Schlafstätte. Im Halbdunkel erkannte ich, dass ich einen Teller Suppe und ein Glas Milch bekommen sollte. Die Decke hatte ich bis zum Hals hinaufgezogen und lag ganz still da, während mich die Frau mit zusammengekniffenen Augen anstarrte. Mir kam es vor, als ob sie mit zunehmendem Alter immer merkwürdiger wurde. Es fiel mir schwer zu sagen, wie lange ich sie schon kannte. Sie wollte meine Mutter sein, mich nähren und beschützen. Ich redete nur wenig mit ihr, auch mit anderen Leuten sprach ich kaum. Im Gegensatz zu mir leben die übrigen Menschen auf einer groben Ebene, deshalb habe ich Schwierigkeiten, mich mit ihnen zu verständigen. Ich bin ein spirituelles Wesen, verhaftet in der Welt meiner Gefühle. Die seltsame Frau hatte sich an mir sattgesehen. »Wenn dieser Rohling Dorian Hunter im Haus ist, bekommst du immer diesen Spleen!«, keifte sie und drehte sich schwungvoll um. Etwas von der dampfenden Suppe schwappte über den Tellerrand - eine fettige Lache mit Erbsen und Möhren ergoss sich über das Tablett. »Verdammt!«, fluchte die Frau. Ihr rotes Kleid flatterte, als sie eilig den Raum verließ. Die Tür wurde von außen ins Schloss gedrückt. Ich war wieder allein. Meine Augen öffneten sich langsam, mein Blick schweifte durch das Zimmer. Auf dem Nachttisch stand eine goldgerahmte Fotografie meiner Mutter. Ihr schmales, von blonden Haaren umrahmtes Gesicht lächelte mich geheimnisvoll an. Sie war eine schöne Frau
gewesen und viel zu früh gestorben. Schräg über dem Bild hing ein handgroßer, leidvoll blickender Jesus aus Messing an der Wand. Meine Kleider lagen sorgfältig gefaltet auf einem Stuhl. Das Fenster dahinter stand ein wenig offen, der kalte Abendwind bewegte Gardinen und Vorhänge. Es war vollkommen still. Unsere Villa lag in einem wenig belebten Teil der Straße. Nur selten drangen Geräusche wie das Lachen spielender Kinder oder der Lärm eines fahrenden Autos zu mir herein, aber so ruhig wie an diesem Tage war es selten. Außer der Frau und mir waren noch zwei Männer im Haus. Einer von ihnen war ein alter Herr, den anderen Mann nannte ich den Jäger. Die beiden waren in großer Gefahr. Ich wollte ihnen helfen, sie warnen, doch auf merkwürdige Art fühlte ich mich unfähig, irgendetwas zu tun. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Mir war kalt. Bilder der Vergangenheit tauchten vor mir auf. Schon einmal gab es eine Bedrohung für den Jäger und für dieses Haus. Damals ging ich zu den anderen Bewohnern und warnte sie, aber es war zu spät gewesen: Eindringlinge und Gewalt kamen ins Haus. Erst viel später konnte ich helfen. Nun drohte Ähnliches, dennoch konnte ich nur abwarten. Unfähig mich zu bewegen, hörte ich das Läuten an der Haustür. Es war das Signal dafür, dass es begann. Schweiß trat auf meine Stirn. *** Miss Martha Pickford, die alte Haushälterin, stand im Wohnzimmer und blickte Trevor Sullivan ein wenig vorwurfsvoll an. Der schmächtige Mann saß in einem gewaltigen Ohrensessel und blätterte in einem in Leder gebundenen Buch. »Mr. Sullivan, Ihr Tee wartet auf dem Beistelltisch.« »So, tut er das?« Bedächtig steckte Trevor ein Lesezeichen zwischen die Seiten und legte das Buch beiseite »Eigentlich sollte ich am Abend keinen schwarzen Tee mehr trinken, ich habe ohnehin Einschlafprobleme.« Trotzdem wandte er sich dem Beistelltisch zu. Nicht weit von Trevor saß Dorian Hunter. Er hatte ebenfalls auf einem Sessel Platz genommen, die langen Beine weit von sich gestreckt. Ein Glas unverdünnter Bourbon funkelte in seiner Hand. Das Kaminfeuer, in das er starrte, spiegelte sich in seinen grünen Augen. Die lange, vergebliche Suche nach seiner verschwundenen Lebensgefährtin Coco Zamis hatte ihn müde gemacht. »Was ist mit Ihnen, Dorian? Kann ich Ihnen nicht doch etwas bringen?« Martha Pickford sah den großen Mann beinahe mitleidig an. Es schien ihr, als habe er die Hoffnung, seine Partnerin jemals wiederzufinden, aufgegeben. Dorian schaute auf. »Ja..., vielleicht wäre ein Kaffee jetzt das Richtige«. Sie nickte freundlich. »Sofort, Sir! Phillip bekommt sein Abendessen und Sie Ihren Kaffee.« Martha verschwand aus dem Wohnzimmer. Ihr Verhältnis zu Dorian Hunter war in der letzten Zeit besser geworden - normalerweise gingen die beiden nicht gerade freundlich miteinander um. Aber seit Coco Zamis vermisst wurde, ließen Dorian und Martha ihre Streitigkeiten ruhen. Das Glas mit dem Bourbon war wieder leer. Dorian stand auf, um sich an dem kleinen
Getränkewagen neben dem Zimmerfenster Nachschub zu holen. Er war ein schlanker, aber kräftiger Mann. Die dunklen Haare trug er meist schulterlang, doch momentan war der Friseur überfällig. Seinen über die Mundwinkel reichenden Schnurrbart hatte er in letzter Zeit ebenfalls vernachlässigt. Hose und Jackett trug Dorian schon seit mehreren Tagen - er machte keinen gepflegten Eindruck. »Meinst du nicht, dass du genug von dem Bourbon hast? Warte doch auf deinen Kaffee!«, grummelte Trevor Sullivan, der sich wieder sein Buch vorgenommen hatte. Er schaute dahinter hervor und schüttelte verständnislos den Kopf. »Ist wirklich der Letzte für heute«, versprach Dorian und sah aus dem Fenster. Der Mondschein kämpfte sich für einen Moment durch die Nebelschwaden und erhellte den großen Garten. Büsche und Bäume warfen bizarre Schatten. Die hohe Mauer, welche die Villa umgab, lag im bleichen Licht und die merkwürdigen Symbole und hässlichen Fratzen, die eingearbeitet waren, wurden sichtbar. Die Jugendstilvilla war das merkwürdigste Haus in der Baring Road. Die seltsamen Ornamente im Mauerwerk waren magische Banner. Des weiteren verbargen sich im Garten unsichtbare Fallen. Zum Schutz vor unerwünschten Besuchern waren die Fenster vergittert, außerdem waren Villa und Garten mit einer Alarmanlage gesichert. »Die Außenbeleuchtung ist nicht eingeschaltet«, sagte Dorian langsam, seine Zunge war bereits schwer. »Ich weiß, wahrscheinlich ist eine Sicherung im Verteilerkasten defekt. Ich wollte bei dem nasskalten Wetter nicht zum Tor hinaus. Morgen schau ich mir die Sache an«, antwortete Trevor. Dorian sagte nichts weiter. Ihm gefiel die Sache zwar nicht, er wollte seinen alten Freund aber auch nicht kritisieren. »Miss Pickford, so lassen Sie sich doch helfen!«, rief Trevor Sullivan. Die Haushälterin stand mit einem Tablett in der Vorhalle und schickte sich an, die Treppe zum Obergeschoss hinaufzusteigen. Auch Dorian konnte durch die offene Tür in die Halle sehen. Er runzelte die Stirn: Martha war noch gut beisammen, er befürchtete aber, dass sie eines Tages die Treppe herunter fallen würde. »Ich brauche keine Hilfe!«, erwiderte Martha energisch. Sie ließ sich nie helfen, es wäre für sie einer Kapitulation gleichgekommen. Dorian Hunter hatte sie schon einige Male gebeten, sich zur Ruhe zu setzen. Immer hatte sie vehement abgelehnt. Zum einen fühlte sie sich in der Villa wohl, zum anderen hatte sie an ihrem Schützling Phillip einen echten Narren gefressen. Vorsichtig, ihr Tablett balancierend, stieg Miss Pickford die Stufen hinauf. Schließlich verschwand sie aus Dorians Blickfeld. »Was liest du da eigentlich für eine Schwarte, Trevor?«, fragte Dorian. »Wir haben eine Menge probiert, um Cocos Aufenthaltsort heraus-zubekommen. Ich
suche nach weißmagischen Praktiken, die uns helfen könnten, sie zu finden.« »Es ist, als ob uns Mauern den Weg zu Coco versperren«, seufzte Dorian. »Stimmt. Aber vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit - irgendetwas, das wir übersehen haben.« Trotz der vielen Misserfolge bei der bisherigen Suche gab Trevor nicht auf, was Dorian auf gewisse Art rührte. Er selbst ließ sich seit einiger Zeit mehr oder weniger hängen. Sein Blick fiel unwillkürlich auf das leere Glas in seiner Hand. Er stellte es ab. »Ich denke, ich sollte eine kalte Dusche nehmen und mich anschließend hinlegen. Dann bin ich morgen wieder fit.« »Eine gute Idee«, stimmte Trevor zu. Er war von dem Sinneswandel überrascht. Dorian verließ das Wohnzimmer und kam in die Halle, von der aus eine breite Treppe ins Obergeschoss führte. Von hier unten konnte er einige zeitgenössische Gemälde sowie die Hälfte von Phillips Tür sehen. Diese schwang auf und Miss Pickford erschien, in den Händen wieder das Tablett haltend. Ihre Mundwinkel waren weit nach unten gezogen. Mit dem Fuß stieß sie die Tür ins Schloss, ging auf die Treppe zu und stieg viel zu hastig die Stufen hinunter. Die Suppe, die in einem Teller auf dem Tablett hin und her wogte, war bereits reichlich übergeschwappt. Phillip hatte offensichtlich weder Essen noch Milch angerührt. Unten angekommen blieb die Haushälterin schwer atmend stehen. Ihre Miene hatte sich weiter verfinstert und ihr schlohweißes Haar wirkte wirrer als vorhin. »Gut, dass ich Sie noch sehe, Miss Pickford. Sie brauchen mir keinen Kaffee bringen«, sagte Dorian. »Soll ich das Tablett für Sie in die Küche tragen?« »Nein, danke!«, zischte die Haushälterin. »Schauen Sie sich doch nur einmal an! Betrunken wie Sie sind, fällt Ihnen alles aus der Hand. Darauf kann ich liebend gern verzichten.« »Auch recht. Eine gesegnete Nachtruhe wünsche ich.« Dorian ging achtlos an ihr vorbei, um die Treppe hinaufzusteigen. »Eines will ich Ihnen noch sagen, Sir!« Dorian hatte bereits mit der Hand das Treppengeländer berührt, drehte sich aber wieder zu Miss Pickford um. »Ja?« »Phillip weigert sich zu essen. Das macht er nur, wenn Sie im Haus sind. Warum sind Sie wiedergekommen? Was wollen Sie hier noch? Ihr Einfluß auf den armen Jungen....« »Miss Pickford!« Trevor Sullivan war am Übergang zum Wohnzimmer erschienen. »Dieser Junge, wie Sie Phillip nennen, hatte schon immer Eigenheiten und wird sie auch in Zukunft haben. Wie sie wissen, bekommt er ab und zu sogar weibliche Körperformen.«
»Sie können mir glauben, dass Mr. Hunter auch damit nichts zu tun hat.« Martha Pickford hatte eine Widerrede auf der Zunge, doch sie schluckte sie hinunter. Trevor Sullivans scharfe Blicke verfolgten sie, als sie sich ruckartig umdrehte - wobei sie noch mehr Suppe verschüttete - und in Richtung Küche lief. Martha hatte Respekt vor Trevor. Nicht nur, weil er einige Jahre älter war als sie: Mitunter machte ihr der jähzornige Mann mit dem scharfkantigen Gesicht regelrecht Angst. »Danke für die Unterstützung, Trevor. Gute Nacht.« Dorian kannte die Vorwürfe und Beleidigungen der Haushälterin seit Jahren. Sie konnten ihn nicht so leicht aus der Fassung bringen. Der konsumierte Alkohol trug ebenfalls seinen Teil dazu bei, die Äußerungen der Pickford gelassen zu sehen. Jetzt interessierten ihn nur noch Dusche und Bett. Doch beides musste warten, denn es klingelte an der Tür. Trevor ging die wenigen Schritte bis zur Eingangstür, die aus massivem Teakholz bestand und mit einem Metallbeschlag verstärkt war. Er blickte durch ein kleines Fenster, das sich in der Tür befand. Normalerweise konnte man bis zur Straße hinüber sehen. Doch der Wind, von der Nordsee kommend, hatte immer mehr Nebel in die britische Hauptstadt gebracht. Die Baring Road war rasch in eine milchige Suppe getaucht worden. Da Trevor nichts erkennen konnte, benutzte er die Gegensprechanlage. Statt einer Antwort erklang ein monotones Rauschen. Trevor fragte noch einmal - wieder ohne Ergebnis. »Merkwürdig«, sagte Dorian, der lautlos aufgetaucht war. »Wir sollten vorsichtig sein. Es ist schließlich seltsam, dass die Außenbeleuchtung nicht funktioniert.« Er hatte eine kleinkalibrige Waffe aus dem Jackett gezogen und überprüfte etwas umständlich das Magazin - der Bourbon wirkte noch. »Immer mit der Ruhe! Wenn das Licht ausgefallen ist, kann doch auch die Sprechanlage defekt sein«, meinte Trevor, der allerdings auch nicht sonderlich gelassen war. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass man ständig auf der Hut sein sollte. Doch auf den angetrunkenen Dorian Hunter wollte sich Trevor lieber nicht verlassen. Er zog seine eigene Waffe hervor - einen kleinen Trommelrevolver. Er entsicherte ihn und schaute nochmals durch das kleine Fenster. Lediglich einige Steinquader des Weges, der von der Haustür bis zum Tor führte, waren zu erkennen. Abrupt zuckte Trevor zurück: Eine Faust war auf ihn zugerast! Dorian kam herbei. Die Faust trommelte jetzt von außen gegen die Scheibe, immer schneller und heftiger, bis das Glas laut klirrend zerbarst. Scherben und ein Hauch kalter Luft drangen in die Halle ein. »Helfen Sie mir! Bitte lassen Sie mich rein!« Eine tiefe Männerstimme rief durch die Öffnung. »So machen Sie doch auf, ich werde verfolgt!« Jetzt erblickten Trevor und Dorian das Gesicht des Mannes. Er hatte einen runden, unbehaarten Kopf und blickte mit braunen Augen beinahe übertrieben ängstlich in die Halle. »Schnell, irgendetwas ist hinter mir her!« Trevor hatte sich wieder gefasst: »Gehen Sie drei Schritte zurück, dann bleiben Sie ganz ruhig stehen, verstanden!?«
»Ja, Sir! Machen Sie schnell!« Nachdem das Gesicht verschwunden war, näherte sich Trevor dem zerbrochenen Fenster und schaute nach draußen. Der Mann war, wie gefordert, einige Schritte zurückgegangen. Er war von kleiner aber kräftiger Statur und trug einen schwarzen Jogginganzug. »Öffnen Sie, damit ich die Polizei anrufen kann!«, drängte er. »Sieht nach einer Falle aus«, sagte Dorian, der hinter Trevor stand. Die Situation ernüchterte ihn. »Glaub ich nicht«, antwortete Trevor. »Vielleicht braucht der Mann wirklich Hilfe. Er scheint allein und unbewaffnet zu sein. Ich denke, wir können ihn hereinlassen.« Bevor Dorian etwas erwidern konnte, hatte Trevor die Tür aufgezogen. Der glatzköpfige Mann war bereits nähergetreten und stand an der Schwelle. »Wo ist das Telefon?« Er machte Anstalten, das Haus zu betreten. »Moment mal!« Trevor drückte ihm die Pistole in den Bauch. Der Mann schaute verständnislos, wich aber zurück. »Verdammt, was soll das?« »Ich bin erstaunt darüber, dass Sie über unsere Mauer gekommen sind. Die ist mit einer Alarmanlage gesichert. Wie haben Sie das geschafft?«, fragte Sullivan. Der Glatzkopf zuckte mit den Schultern. Trevor war nicht mehr der Jüngste und seine Reflexe nicht mehr die besten. Er konnte nicht ausweichen - die Faust des Fremden traf ihn mit furchtbarer Härte genau auf den Mund. Die Wucht des Schlages stieß Kopf und Körper nach hinten. Trevors dünne Arme wurden in die Höhe gerissen. Er stürzte, seine Pistole flog in hohem Bogen davon. Dorian, der hinter ihm stand, wurde mit zu Boden gestoßen. Um wieder hochzukommen, musste er seinen Freund unsanft zur Seite schieben. Doch bevor Dorian auch nur den Oberkörper heben konnte, war der Glatzkopf zur Stelle. Der Kerl war äußerst drahtig - er kam heran und versuchte den Revolver an sich zu bringen. Dorian zog die Waffe ruckartig nach unten, wodurch sein Gegner das Gleichgewicht verlor und zur Seite fiel. Geistesgegenwärtig stieß der Glatzkopf sich mit den Händen vom Boden ab und kam wieder nach oben. Dorian drehte sich zur Seite und schlug im Schwung mit der Faust in die Magengrube des Angreifers. Nun geriet der Glatzkopf richtig in Rage. Er versuchte mit den Knien auf Dorians Brust zu springen, um ihn so in eine wehrlose Rückenlage zu zwingen. Doch diesmal war Dorian schneller. Er zog blitzschnell die Beine an und stieß dann mit den Schuhen gegen Hals und Kinn seines Gegners. Der Glatzkopf kippte nach hinten weg, schlug mit dem Kopf auf dem harten Parkett auf und blieb gurgelnd auf dem Rücken liegen. Trevor kniete mittlerweile auf dem Boden - sein Blick wirkte benommen. Mund und Nase bluteten. »Mach die Tür zu, schnell! Ich kümmere mich inzwischen um den Mistkerl!«, rief Dorian
ihm zu. Trevor spürte, dass er zu schwach zum Aufstehen war, deshalb kroch er auf allen Vieren zur Tür. Sein Blick fiel dabei auf das Parkett, auf dem Schmutz und sein eigenes Blut verschmiert waren. Erschöpft und schwer atmend erreichte er den Eingang. Er stoppte kurz, um seine Kräfte zu sammeln. Für einen Augenblick glaubte er, draußen eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Und er hatte Recht: Schwarze Stiefel tauchten aus dem wabernden Nebel auf. Trevor konnte die Tür nicht mehr zuschlagen. Ein brutaler Tritt ins Gesicht warf ihn zur Seite. Mit ungläubigem Gesichtsausdruck ging er erneut zu Boden. Sekundenlang blieb er merkwürdig ruhig, dann hustete er. In einem Strom von Blut und Speichel fiel ihm etwas Flaches aus dem Mund. Es war eine zerbrochene Gebissplatte. Benommen blieb Trevor liegen. Dorian, der dabei gewesen war, den Glatzkopf zu fesseln, hatte sich nach seinem Revolver gebückt. Er bekam ihn zu fassen und richtete den Lauf auf den neuen Angreifer einen Mann in einem schwarz-glänzenden Kampfdress. Sein Gesicht war hinter einem wollenen Windschutz, so wie ihn Motorradfahrer benutzen, versteckt. Auf dem Rücken trug der Mann einen kleinen Rucksack. Bevor Dorian abdrücken konnte, sprang der Maskierte wieder ins Freie. Dorian jagte ihm hinterher. Der Nebel war noch immer dicht, die Sicht nicht sonderlich weit. Es schien hoffnungslos, den schwarzgekleideten Mann wiederzufinden. Der Glatzkopf, der bis jetzt besinnungslos auf dem Boden gelegen hatte, stöhnte leise und kam mit dem Oberkörper hoch. Er warf einen kurzen Blick in den Raum, dann zerrte er wild an dem Gürtel, mit dem seine Hände zusammengebunden waren. Miss Pickford hatte die Geschehnisse voller Angst und Schrecken beobachtet. Sie schlich sich nun von hinten an den Glatzkopf heran. Ihre Augen waren weit aufgerissen und blutunterlaufen - die Haushälterin strahlte einen Hauch von Wahnsinn aus. In der Hand hielt sie eine große, gusseiserne Bratpfanne. Der Glatzkopf war weiterhin mit dem Gürtel beschäftigt und bemerkte sie nicht. Martha Pickford riss die Pfanne in die Höhe und schlug zu. Sie traf den Mann mit voller Härte am Schädel. Der Eindringling sackte augenblicklich und ohne einen Schmerzenslaut in sich zusammen. Regungslos blieb er auf dem Boden liegen; die Blutlache, die sich um seinen Kopf bildete, wurde schnell größer. Dorian war um die Villa gelaufen. Wie er vermutet hatte, war keine Spur mehr von dem zweiten Angreifer auszumachen. Er wollte nochmals das Gartentor kontrollieren, als ihn ein Schrei aufschreckte - die helle, kreischende Stimme der Pickford! Dorian rannte zum Haus, um ihr zu Hilfe zu eilen. Plötzlich hörte er ein hohes Pfeifen und spürte im selben Moment einen stechenden Schmerz im Rücken. Irgendetwas war durch Jacke und Hemd gedrungen und steckte jetzt in seinem Fleisch. Er griff nach hinten und hielt nach kurzem Suchen eine Spritze in den Händen. Dorian fluchte. Die Hälfte des Spritzeninhalts war bereits durch einen Gummizug in seinen Körper gepresst worden. Immer noch tropfte eine bläuliche Flüssigkeit aus der Kanüle. Er konnte nur hoffen, dass es kein Gift war. Dorian schleppte sich zurück, seine
Gedanken wurden unklar, seine Bewegungen schwer und unkontrolliert. Der Revolver fiel ihm aus der Hand. Was auch immer ihm injiziert worden war, es wirkte bereits. Er schaffte es zurück bis in die Halle der Jugendstilvilla, dort brach er zusammen. Mit letzter Kraft hob Dorian noch einmal den Kopf. Verschwommen sah er Trevor Sullivan und Martha Pickford, die regungslos am Boden lagen. Phillip stand oben an der Treppe und schaute ins Leere. *** Ich lag noch immer, zu keiner Bewegung fähig, in meinem Bett. Von unten hörte ich Lärm - es klang nach einem Kampf. Langsam ließ die Lähmung nach und es gelang mir, mich zu bewegen. Der Wunsch, dem Jäger zu helfen, beseelte mich. Mit großer Anstrengung hob ich die Beine über den Bettrand und setzte meine Füße auf den weichen Teppich. Beim Aufstehen stützte ich mich am Nachttisch ab und blickte dabei auf das Bildnis meiner Mutter. Es schien, als schaue sie mich jetzt sorgenvoll an. Ich atmete tief durch. Die Kraft kehrte nach und nach zurück. Vorsichtig ging ich bis zur Tür. Leise drückte ich sie auf und schlich in den Gang hinaus. Mein Zimmer befand sich nahe der breiten Treppe, die zur Halle hinunterführte. Ich rannte bis zum Absatz und schaute hinunter. Das, was ich sah, erschreckte mich. Die seltsame Frau - sie war voller Wildheit und Hass - stand neben einem mir unbekannten Mann. Sie hatte etwas in der Hand, das sie oft in der Küche benutzte. Der Mann lag in seinem eigenen Blut. Seine Lebensaura pulsierte nur noch schwach und würde nicht mehr lange beim Körper bleiben können. Der alte Mann, der mit mir in diesem Haus wohnt, lag ebenfalls am Boden. Er war verletzt und bewusstlos, aber er würde sich erholen. Jetzt kam ein weiterer Fremder, ganz in Schwarz gekleidet, ins Haus. Sein Kopf steckte in einer Kapuze, nur stechende Augen waren hinter einem Schlitz zu erkennen. Schnell rannte der Mann auf die Frau zu. Sie schrie und versuchte sich zu wehren. Doch der Fremde war schneller: Er zog ein weißes Tuch hervor und presste es der Frau vor Mund und Nase. Sie wehrte sich verzweifelt, versuchte die Luft anzuhalten und trat um sich. Doch nach einer Weile fiel sie ohnmächtig zu Boden. Der Schwarzgekleidete kümmerte sich nicht mehr um sie, sondern lief in die Küche. Nun erschien der Jäger in der Halle, er war benommen und warf mir einen letzten Blick zu, bevor er bewusstlos wurde. Das Beobachten von Gewalttätigkeiten schmerzte mich. Noch unangenehmer erschien mir aber die Aussicht, selbst in die Auseinandersetzungen eingreifen zu müssen. Dennoch wollte ich versuchen, meinen Freunden zu helfen. Ich fürchtete nur, dass die Ereignisse vorausbestimmt waren und mein Eingreifen nutzlos sein würde. Der Schwarzgekleidete schien sich nun sicher zu fühlen und kam in die Halle zurück. Er betrachtete kurz seinen toten Freund und wandte sich dann dem Jäger zu. Leise stieg ich die Treppe hinunter, auf deren Stufen eine Waffe lag. Für wenige Augenblicke überlegte ich, ob ich den Fremden damit töten sollte. Doch meine Achtung vor jeglichem Leben siegte. »Lass ab! Deine Taten sind sinnlos, dein Ziel nur Illusion!«, sagte ich.
Der Maskierte drehte sich blitzschnell um. Doch er entspannte sich sofort wieder: Ein schmächtiger junger Mann mit goldenen Locken und zarten Gesichtszügen, dazu noch in ein langes Nachtgewand gekleidet, schien ihm keine Bedrohung darzustellen. »Hoppla, wer bist du denn?« Er kam auf mich zu. »Sind noch mehr Leute im Haus?« Ich antwortete nicht. »Hab’ dich was gefragt, Freundchen!«, fauchte der Mann durch seine Maske. Vorsichtig kam er immer näher. Trotz meiner wenig beeindruckenden Statur schien er Respekt vor mir zu haben. Er spürte, dass etwas Außergewöhnliches von mir ausging. Schließlich gab er sich einen Ruck und versuchte meinen Arm zu greifen. Ich war schneller und packte ihn an den Handgelenken. Die Augen hinter den Sehschlitzen wurden groß: Der Fremde hatte mir nicht viel Kraft zugetraut. Die Adern auf seinen Händen, die ich fest umklammert hatte, schwollen bedrohlich an. Der Mann versuchte freizukommen, aber ich gab nicht nach. Abrupt ließ ich los, denn meine Kräfte schwanden unvermittelt. Schwäche und Müdigkeit ergriffen erneut Besitz von mir. Ich wollte mich wegdrehen, doch der Mann in Schwarz hielt mich am Nachthemd fest. »Hey, Kleiner, so haben wir nicht gewettet!« Ahnend, dass mein Widerstand gebrochen war, holte er aus und schlug mir ins Gesicht. Ich machte eine halbe Drehung nach hinten und landete auf dem Boden. Brutal wurde ich wieder hochgezogen. Die Faust des Maskierten traf mich in den Bauch. Die Luft pfiff mir aus dem Mund und ich klappte zusammen. Mit letzter Kraft erhob ich mich wieder. »Du bist zäher als ich dachte.« Der Mann griff über seine Schulter in den Rucksack. Als die Hand wieder hervorkam, hielt sie einen dünnen Strick. »Ich habe kein Chloroform mehr, aber dies hier tut’s auch.« Er kam auf mich zu und begann meine Hände mit dem Band zu umwickeln. »Hinsetzen!«, befahl er und ich gehorchte. Als ich auf dem Boden hockte, zog er das übriggebliebene Band zu den Füßen und fesselte diese ebenfalls. »Das wird dich eine Weile beschäftigen.« Achtlos ging er an dem alten Mann und der Frau vorbei. Vor dem Jäger blieb er stehen. Mit einiger Anstrengung schaffte er es, ihn hochzuheben. Unter der Last schwankend verließ der Maskierte das Haus. Der Nebel und die Dunkelheit würden dafür sorgen, dass er ungesehen blieb. Von der Straße her hörte ich kurz darauf das Anspringen eines Automotors, er heulte auf und dann verklang das Geräusch eines fahrenden Fahrzeugs in der Ferne. Die Aufregung hatte mich viel Kraft gekostet. Müdigkeit übermannte mich. Erschöpft sank ich in tiefen Schlaf. *** Das Geräusch eines fahrenden Autos, aber sehr leise, weit weg.
Die Zunge lag schwer und beinahe unbeweglich in seinem Mund. Der Kopf brummte schlimmer als nach einer durchzechten Nacht. Er blinzelte, das Bild vor seinen Augen war verschwommen und drehte sich. Bewegungen fielen ihm schwer, nur mit Mühe ließen sich die Hände öffnen und schließen. Das Geräusch des Autos wurde lauter Dorians Sinne und Gedanken klarer. Ich werde entführt, dachte er. Er lag zusammen gekauert auf dem Rücksitz eines Wagens und begann, die Beine zu bewegen. Das Motorengeräusch erstarb. Das Quietschen einer Tür. Frische Luft. Dorians Ärmel wurde hochgekrempelt. Ein Einstich - ein Betäubungsmittel. »Nein, bitte nicht....«, stöhnte er. Die Autotür wurde wieder zugeschlagen. Die Schwere und der unangenehme Schlaf kamen zurück. *** Chefinspektor Frank Baxter beobachtete die beiden Angestellten der Gerichtsmedizin. Einer hatte den Toten an den Beinen gegriffen, der andere mühte sich mit dem Oberkörper ab. Mit gemeinsamen Kräften hoben die beiden den Leichnam in den Blechsarg. Routiniert setzten die Männer die Abdeckung auf den Sarg, hoben ihn an und verließen die Jugendstilvilla. »Hier war ja ganz schön was los«, sagte Baxter. »Kann man wohl sagen«, antwortete Henry Morrison, Baxters Assistent, und schaute auf das getrocknete Blut, das auf dem Parkett verteilt war. Morrison bewegte seinen massigen Körper zur Tür und schaute ins Freie. »Verdammt kalt draußen.« Er schlug die Haustür zu und rieb sich die Hände. »Kalt, aber wenigstens trocken. In den letzten Tagen haben sich ja Regen und Nebel die Klinke in die Hand gegeben.« Baxter, der nicht minder korpulent war als sein Assistent, fror nicht, da er sich vor Dienstantritt ein Fläschchen Brandy gegönnt hatte. »Sollen wir die alte Dame mitnehmen, Henry?«, fragte er und kaute dabei ein Pfefferminz, das seine Fahne übertünchen sollte. »Das musst du wissen, Frank, du bist der Chef.« Leider, dachte Morrison. »Wo steckt sie überhaupt?« Baxter vergrub die Hände in den Taschen seines grauen Regenmantels. »Hat sich ins Wohnzimmer zurückgezogen. Sie fühlt sich verständlicherweise nicht besonders gut.« »Na gut, gehen wir uns das alte Mädchen ansehen!«, meinte Baxter. Viel jünger als diese Lady bist du auch nicht, ging es Morrison durch den Kopf. Er drückte die Flügeltür zum Wohnzimmer auf.
Miss Pickford saß blass und mit rot geränderten Augen vor dem längst erloschenen Kamin. Sie trug das rote Kleid vom Vortag - jetzt war es zerknittert. Als die beiden Beamten das Zimmer betraten, blickte sie hoffnungsvoll auf. »Wissen Sie schon, wo Phillip steckt und in welches Krankenhaus man Mr. Sullivan gebracht hat?«, fragte sie mit heiserer Stimme. »Also, Ma’am«, Baxter fasste sich an die Knollennase, die einen Großteil seines roten Trinkergesichts einnahm, »es ist noch früh am Morgen und die Polizei hat allerhand zu tun. Sobald ich weiß, wo Mr. Sullivan und dieser Phillip untergebracht wurden, teile ich es Ihnen mit.« Martha Pickford machte ein enttäuschtes Gesicht. Sie glaubte dem dicken Polizisten kein Wort, wollte aber nichts sagen. Noch nicht. »Wir müssen Ihnen aber noch einige Fragen stellen«, sagte Morrison, der sich an einem der Bücherregale zu schaffen machte. Eigentlich war er nicht ganz bei der Sache. Er überlegte nebenher, wie wahrscheinlich es sei, dass sein Vorgesetzter in nächster Zukunft beim Saufen tot umfiele. Vielleicht würde man ihn auch wegen Trunkenheit im Dienst suspendieren. In beiden Fällen hieße es bald Chefinspektor Henry Morrison. Der Gedanke gefiel ihm gut. »Lassen Sie bitte die Bücher in Ruhe! Mr. Sullivan würde das gar nicht gefallen.« Miss Pickford konnte es nicht leiden, wenn Fremde im Haus herumschnüffelten. Morrison ignorierte die Aufforderung, er pustete den Staub von einem Buch und schlug es auf. Die Haushälterin schaute trotzig. »Warum haben Sie eigentlich noch Fragen? Die beiden Constables haben mich doch bereits verhört.« Baxter zupfte seinen Mantel zurecht. Er hatte sich auf der Couch niedergelassen, das Möbel litt jetzt sichtlich unter seinem Gewicht. »Durch Ihre Hand ist immerhin ein Mensch ums Leben gekommen.« »Es war Notwehr - wie oft soll ich das noch sagen?« Sie verschränkte die Arme und schaute trotzig aus dem Fenster. »Wir glauben Ihnen durchaus. Aber in einer solchen Angelegenheit gibt es Fragen. Fragen, die von meinem Assistenten und mir geklärt werden müssen. Außerdem wollen wir herausfinden, was mit Mr. Hunter passiert ist.« »Der kommt alleine zurecht. Aber Phillip nicht - er braucht meine Hilfe.« »Er ist in guten Händen.« »Sie wissen also doch, wo er ist?« »Ich weiß nur, dass es ihm gut geht«, schlängelte sich Baxter heraus. »Aber lassen Sie uns endlich über andere Dinge sprechen. Gab es Streit zwischen Phillip und Mr. Hunter?» »Wie sollte der arme Phillip sich mit jemandem streiten? Er kann noch nicht einmal
richtig sprechen. Wenn Mr. Hunter im Haus ist, fühlt er sich einfach nicht wohl, ist verwirrt und isst nichts mehr.» Miss Pickfords Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen. Es tat ihr gut, über Dorian herzuziehen. »Lassen wir mal den armen Phillip beiseite.« Henry Morrison machte sich noch immer an den Büchern zu schaffen. »Fällt Ihnen niemand ein, der hinter dem Überfall auf das Haus stecken könnte?« Martha Pickford presste die Lippen zusammen. Natürlich wusste sie von den finsteren Kräften, mit denen Hunter und Sullivan zu tun hatten, doch darüber musste und würde sie schweigen. Da Miss Pickford still blieb, wechselte Morrison das Thema. »Sind Sullivan und Hunter Esoteriker oder Okkultisten? Diese Bücher hier scheinen nur vom Übersinnlichen zu handeln.« »Ich kümmere mich um die Küche und um den pflegebedürftigen Phillip, alles andere geht mich nichts an. Ich stecke meine Nase nicht in die Angelegenheiten anderer.» Die Lüge ging der krankhaft neugierigen Frau gut von den Lippen. »Ich fürchte, Miss Pickford, ich muss Sie bitten, mit uns zu kommen!«, meldete sich Baxter von seiner Couch aus zu Wort. »Heißt das, ich bin verhaftet?«, fragte Martha entsetzt. »Selbstverständlich nicht.« Baxter erhob sich, und die Couch ächzte erleichtert. »Wie gesagt, wir glauben Ihnen, dass Sie in Notwehr gehandelt haben. Mr. Sullivan wird Ihre Aussage sicher bald bestätigen. Ich denke aber, in meinem Büro können wir uns besser unterhalten. Es wird höchstens zwei Stunden dauern. Ziehen Sie sich etwas Warmes über, draußen ist es sehr kalt.» *** »Mr. Sullivan, dieser Inspektor Stanford von der Mordkommission will Sie unbedingt sprechen. Ich kann ihn wirklich nicht mehr lange hinhalten. Irgendwie ist er an Ihr Krankenblatt gekommen und weiß, dass Ihre Verletzungen nicht dramatisch sind«, sagte die Krankenschwester. »Nicht dramatisch? Immerhin leide ich unter einer Gehirnerschütterung und mein Jochbein ist gebrochen. Aber gut, sagen Sie ihm, in zehn Minuten bin ich zu sprechen«, antwortete Trevor Sullivan. Das Sprechen fiel ihm nicht schwer, da er mittlerweile eine Ersatzprothese trug. Er lag in einem kleinen Einzelzimmer des Londoner Westend-Hospitals. An seiner Stirn befand sich ein breites Pflaster, seine Lippen waren aufgeplatzt und geschwollen. »In Ordnung, Sir. Ich denke, damit wird er einverstanden sein.« Die Schwester lächelte ihn an und verließ das Zimmer. Trevor grinste ihr hinterher, während er sich das Telefon vom Beistelltisch auf die auf die
Bettdecke stellte. Dann wählte er eine Geheimnummer. Einige Augenblicke später meldete sich der Secret Service. Trevor nannte ein Passwort und verlangte nach Officer Roger Powell. Kurze Zeit später hatte er ihn am Apparat. »Hör zu, Roger, ich habe nicht viel Zeit! Vor der Tür steht ein Inspektor Stanford von der Mordkommission und wartet darauf, mir Löcher in den Bauch zu fragen. Gestern gab es einen Überfall in der Baring Road. Miss Pickford hat einen Angreifer erschlagen... » »Miss Pickford?«, fragte Powell ungläubig. »...und Dorian ist verschwunden, wahrscheinlich entführt. Kannst du Martha und mir erst Mal die Polizei vom Hals halten?« »Das kann ich hinbiegen«, antwortete Powell. Er ließ sich den Namen des Polizisten geben. »Für eine Weile werde ich euch Luft verschaffen können. Kommt allerdings darauf an, was man der alten Martha vorwirft. Was Dorian betrifft, so sollten wir uns bald treffen. Ich werde mich hier irgendwie freimachen.« »Danke, Roger, auf dich kann man sich verlassen.« Trevor war erleichtert. »Ich weiß«, lachte Roger. »Wo steckst du eigentlich« »Im Westend-Hospital - ich habe gestern auch ein paar Beulen abbekommen.« »Dieser Stanford soll in einer Viertelstunde seine Dienststelle anrufen, man wird eine Nachricht für ihn haben.« *** Die beiden Dicken wurden Baxter und Morrison von den Kollegen im Revier am Regents Park hinter vorgehaltener Hand genannt. Sie waren wirklich ein merkwürdiges Gespann aber vom Erfolg ihrer Arbeit her waren sie guter Durchschnitt. Morrison bildete sich ein, der bessere Kriminalist des Duos zu sein, und dass eigentlich ihm die höhere Position zustände. Der Chefinspektor wiederum wusste nichts von dem Dünkel seines Assistenten - und wenn er etwas geahnt hätte, wäre es ihm wohl egal gewesen. Frank Baxter dachte eher mit Unbehagen an seine Pensionierung, die in weniger als zwei Jahren bevorstand. Er war ohne Anhang und hatte kaum Freunde - sein Beruf war alles in seinem Leben. Die Angst vor einem einsamen, sinnlosen Pensionärsdasein ließ ihn neuerdings immer öfter zum Alkohol greifen. Jetzt hatte Baxter seine einhundertundzwanzig Kilo hinter das Steuer des schwarzen Bentleys geklemmt. Er ließ sich nur selten von seinem Assistenten fahren, er fuhr lieber selber - auch wenn er in letzter Zeit manchmal nicht immer ganz nüchtern war. Henry Morrison saß auf dem Rücksitz neben Martha Pickford, die gedankenverloren aus dem Fenster schaute. Morrison hatte keine Ahnung, warum sein Chef die alte Dame auf das Revier schleppte. Gegen eine betagte Lady, die einen Einbrecher mit einer Bratpfanne erschlagen hatte, würde der Staatsanwalt mit Sicherheit keine Anklage erheben. Über die Eindringlinge schien sie nichts zu wissen und mit dem Verschwinden von Dorian Hunter hatte sie bestimmt auch nichts zu tun. Morrison hielt viele von Baxters Einfällen für
Schnapsideen im wahrsten Sinne des Wortes. Der Regents Park kam gerade in Sicht, als das Autotelefon klingelte. Morrison holte sich den Hörer, meldete sich und hörte eine Weile ruhig zu. »Was ist los?«, fragte Baxter ungeduldig, doch sein Assistent beachtete ihn nicht. Morrison murmelte ein »Ja, Sir« in den Apparat und legte wieder auf. »Nun sag endlich, was gibt es!?« Baxter schaute seinen Kollegen durch den Rückspiegel an. »Fahr zurück, Frank! Anweisung von ganz oben: Wir sollen uns nicht mehr um die Angelegenheit kümmern.« »Verdammt, das ist etwas, was ich ganz besonders liebe!«, fluchte Baxter und schlug mit den Handflächen gegen das Steuerrad. Die Reifen quietschten, als er den Wagen wendete. Miss Pickford im Heck lächelte vor sich hin - sie würde zur Teezeit wieder in der Jugendstilvilla sein. Dieser ausgefuchste Trevor wusste also noch genau, an welchen Rädchen er drehen musste... *** »Mr. Sullivan, Sie reden nur über Dorian Hunter.« Stanfords dunkle Augen schauten den alten Mann eindringlich an. »Er ist mit großer Wahrscheinlichkeit entführt worden, Sie müssen ihn suchen! Lassen Sie bereits die Bahnhöfe und Flughäfen überwachen?« Trevor hatte nicht vor, das Thema zu wechseln. Der junge Inspektor mit den welligen blonden Haaren lehnte sich zurück. »Sie können sicher sein, dass die Polizei die richtigen Schritte unternimmt. Ich möchte nun die Ereignisse des gestrigen Tages rekonstruieren.« »Miss Pickford hat in Notwehr gehandelt«, sagte Trevor knapp. »Das wird sich herausstellen. Es ist an der Zeit, dass Sie mich über die Hintergründe aufklären. Wovon leben Sie und Mr. Hunter eigentlich?» »Ich besitze eine kleine Presseagentur, die Mystery Press. Dorian Hunter ist Journalist. Aber ich denke, das wissen Sie schon längst.« Trevor schaute ungeduldig auf seine Armbanduhr. »Ich weiß sogar noch mehr. Was meinen Sie, wie hoch ist der Betrag, den Sie mit Ihrer Agentur im letzten Jahr eingenommen haben?« Inspektor Stanford wartete keine Antwort ab. »Die Summe ist vielleicht ein besseres Taschengeld - zum Leben reicht es jedenfalls nicht.« »Meine Agentur ist eben nur eine Art Hobby. Ich habe Ersparnisse, außerdem lebe ich
bescheiden.« Trevor ärgerte sich: Nun hatte er sich doch auf ein Gespräch eingelassen. »Ist es bescheiden, in einer Jugendstilvilla zu wohnen?« Trevor schwieg. Stanford ließ sich davon nicht irritieren. »Wie kommt Mr. Hunter zu seinem Geld? Ich konnte nicht feststellen, ob er als Reporter eine feste Anstellung hat. Er arbeitet wohl ausschließlich für Ihre Agentur, Mr. Sullivan?« »Suchen und finden Sie ihn, dann können Sie ihn selber fragen!« »Wie Sie wollen.« Stanford legte seinen Schreibblock beiseite. »Kann es übrigens sein, dass Sie dem Toten die Fesseln entfernten, bevor wir eintrafen?« Der Inspektor beugte sich vor. »Ich bin sicher, dass der Mann gefesselt war, bevor er erschlagen wurde. Sollte die Obduktion das bestätigen, kann von Notwehr keine Rede mehr sein. Wollen Sie mir nicht doch ein wenig mehr erzählen, Mr. Sullivan?« »Sir, Sie sollten nun Ihre Dienststelle anrufen! Ich bin mir sicher, dass man eine Nachricht für Sie hat.« Trevor war froh, dass die Viertelstunde um war, die Roger Powell für seine Aktivitäten benötigt hatte. Stanford schaute überrascht. »Was soll das? Ein Ablenkungsmanöver?« »Nein, Sir. Glauben Sie einem alten Mann und rufen Sie an! Es ist wirklich wichtig.« Für mich wenigstens, dachte Trevor und reichte dem jungen Beamten das Telefon. Stanford wählte die Nummer seiner Dienststelle und blickte sein Gegenüber unterdessen misstrauisch an. Offensichtlich lag eine Nachricht für ihn vor, denn er hörte eine Minute lang zu, legte auf und schaute Trevor wütend an. »Ich soll Sie in Ruhe lassen, Sullivan! Das haben Sie doch so hingedreht. Glauben Sie nicht, dass Sie damit durchkommen!« »Es gibt keinen Grund zur Aufregung, junger Mann. Ich weiß, das sieht für Sie nach einer krummen Sache aus. Es ist aber lediglich so, dass gewisse Angelegenheiten nicht über den üblichen Dienstweg geregelt werden können. Es passiert nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten.« Trevor hatte ein wenig Mitleid mit Inspektor Stanford immerhin nahm der Mann seinen Beruf ernst und war verständlicherweise frustriert. Trotz Sullivans Erklärung schnappte sich Stanford wortlos seinen Mantel und schlug beim Hinausgehen die Tür hinter sich zu. *** Das Ding war eine durchsichtige Röhre, an den Enden mit weißen Kappen verschlossen. Innen befand sich Wasser, in dem goldene Schnipsel schwammen. Wenn ich es senkrecht hielt, sammelte sich der Goldflitter am unteren Ende. Schnell drehte ich das Ding um und die Schnipsel traten eine neue Reise durch die Röhre an. »Na, Phillip, gefällt dir der Zauberstab?«, fragte mich die Frau, die neben mir auf dem
Bett saß. Wie kam sie darauf, dass dieses Ding ein Zauberstab sei? Es besaß keine magische Ausstrahlung. Abgesehen davon gefiel es mir nicht. Während ich überlegte, ob ich antworten sollte, sagte der unfreundliche Mann: »Lassen Sie doch das alberne Spielzeug, Schwester! Mr. Hayward muss jetzt aufstehen und sich an die Messlatte stellen. Könnten Sie ihm behilflich sein?« Auch er war, wie die Frau, ganz in Weiß gekleidet. Der Mann war nicht sehr alt, aber sein Bart war grau und auf seinem Kopf wuchsen nur wenige Haare. »Das haben wir schon hinter uns, Doktor«, antwortete die Frau und streichelte mir über den Kopf. »Ich habe ihn gewogen und gemessen, bevor Sie kamen. Er ist einen Meter siebenundachtzig groß und hundertzehn Pfund schwer.« »Mager, der Knabe - außerdem ist er reichlich blass. Wir sollten ihm Blut abnehmen, vielleicht liegt eine Anämie vor», sagte der Mann. Er schnaufte. »Die Polizei sieht es als selbstverständlich an, dass wir die Protokolle für ihre Kandidaten ausfüllen. Die Augenfarbe muss ich noch eintragen.« Die Frau schaute mir ins Gesicht. »Golden, möchte ich beinahe sagen. Aber das kann ja nicht sein. Vielleicht sollten Sie blass-grün schreiben.« »Meinetwegen. Das Herumgefummle mit diesem Spiel-Zauberstab macht mich ganz nervös! Könnten Sie es ihm bitte abnehmen?« Ich trug eines meiner Nachtgewänder, saß auf einem Bett und hatte die Beine an mich gezogen. Das schmucklose Zimmer hatte ein großes Fenster, aus dem ich schaute, während die Frau den Gegenstand wieder an sich nahm. Draußen wurde es dunkel. Mein Blick fiel auf ein riesiges, flaches Dach. Es war übersät mit winzigen Schornsteinen, die drollige Silberhütchen trugen und fleißig dampften. »Dampf!«, rief ich und zeigte nach draußen. Die Frau sah aus dem Fenster und lächelte. »Ja, so ein großes Krankenhaus wie dieses besitzt ein riesiges Heizungssystem. Wenn die Abluft ins Freie kommt, entsteht Dampf.« Sie sprach wie eine nette Lehrerin. Sie war fast so lieb wie Coco. Meine Gedanken kreisten wieder um den Jäger und um die Hexe. Beide waren verschwunden, und es gelang mir nicht, eine Vorstellung davon zu gewinnen, wo sie waren. Mir liefen Tränen über das Gesicht. Die Frau schaute mich verwirrt an und drehte sich dann zu dem Mann um. »Ich glaube, wir sollten ihn jetzt in Ruhe lassen. Er scheint erschöpft und durcheinander zu sein.« Der Mann nickte und erhob sich. »Was uns die Polizei so alles anbringt, eigentlich gehört so etwas in die Psychiatrie.« Dann verließ er das Zimmer.
»Mach dir nichts daraus, Phillip!« Die Frau tupfte mir mit weichem Papier die Tränen ab. »Willst du noch einmal mit dem Zauberstab spielen?« Da ich nicht gespielt hatte, gab ich keine Antwort. Sie drehte die Röhre herum und hielt sie dicht vor ihr Gesicht. Die Haare der Frau waren blond (das war aber nicht die Farbe, mit der sie eigentlich aus ihrem Kopf wuchsen). Jetzt, wo sie so aufmerksam mit ihren blauen Augen schaute und dabei so hübsch wirkte, erinnerte sie mich sehr an meine Mutter. »Wie viele von diesen Aluminium-Schnipseln wohl in dem Stab schwimmen?« Sie schüttelte das Ding. »Ach, die kann ja doch kein Mensch zählen«, meinte sie schließlich und legte die Röhre beiseite. »Eintausendvierunddreißig«, sagte ich, während ich mich auf den Rücken legte. Die Beine streckte ich aus, obwohl das Bett zu klein für mich war. Die Frau kicherte, während sie mich zudeckte. »Du bist schon ein wenig merkwürdig aber Humor hast du!« »Eintausendvierunddreißig«, lachte sie noch einmal, als sie zur Tür hinausging. Ich wusste nicht, was sie so froh stimmte. Die Zahl, die ich ihr genannt hatte, war korrekt. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel. *** Roger Powell vom Secret Service trat ins Krankenzimmer. Der Ire, ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann, knöpfte seinen Mantel auf. »Mensch, Trevor, was haben sie denn mit dir gemacht?« Er nahm den Hut ab und warf ihn achtlos auf einen Stuhl. Volles, rotes Haar kam zum Vorschein. Sullivan glaubte beinahe, den verstorbenen Steve Powell vor sich zu haben. Wie sein Bruder hatte Roger ein freundliches Jungengesicht, welches das ganze Jahr über mit Sommersprossen bedeckt war. »Die Einbrecher haben nicht schlecht zugelangt. Es hat sie nicht gestört, dass ich ein älterer Jahrgang bin.« Sullivan richtete sich ächzend auf, um seinem Besucher die Hand zu reichen. Verdammt, dachte er, Roger muss jetzt dreißig sein - genau das Alter, in dem Steve war, als es ihn damals in Crulymoe erwischte. »Eine Schande ist das!«, schimpfte Powell. Er setzte sich ans Bettende. »Erzähl mir, was passiert ist!« Trevor gab ihm einen kurzen Bericht von den Ereignissen. Roger hörte mit gerunzelter Stirn zu und versprach, alles in seiner Macht stehende zu tun, um Dorian ausfindig zu machen. »Da ist noch etwas, Trevor. Stanfords Kollegen ließen mich wissen, dass Phillip ebenfalls in einem Krankenhaus untergebracht wurde.« »Aber ihm fehlte doch nichts.« Trevor schüttelte verständnislos den Kopf. »Und ich
dachte, er wäre bei Martha.« »Die Beamten stuften ihn als hilflose Person ein und bewirkten kurzerhand eine Einweisung. Ich bin jetzt jedenfalls bevollmächtigt, ihn abzuholen. Ich fürchte nur, dass er Schwierigkeiten machen wird, wenn er mich sieht. Er kennt mich ja kaum. Meinst du, du bist gesundheitlich in der Lage mitzukommen? Ich würde mich ungern an Miss Pickford wenden.« »Kann ich verstehen.« Trevor Sullivan schwenkte die Beine aus dem Bett. »Selbstverständlich komme ich mit. Hier hält mich ohnehin nichts mehr.« *** Verschwommene Gesichter schauten ihn verschreckt und dennoch fasziniert an. Dorian hatte vorsichtig den Kopf angehoben. Nach und nach konnte er deutlicher sehen. Er blickte auf zwei junge Frauen. Sie taten nichts, saßen auf einer Holzbank und schauten ihn an. Ihre Kleidung war sommerlich; eine war dunkelblond, die andere rothaarig. Dorian war vollkommen nackt. Er lag mit dem Rücken nach oben auf den Drahtfedern eines primitiven Bettgestells, seine Hände und Füße waren mit Plastikschnüren gefesselt. Die feuchte Kälte, die vom Steinboden zu ihm herauf kroch, machte sich unangenehm bemerkbar. Hunger und vor allem Durst quälten ihn. Es kam ihm vor, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu essen und trinken bekommen. Auf seinen Armen hatte er blaue Flecken und Kratzer entdeckt, sein Körper schmerzte. Es fühlte sich an, als sei er während seiner Bewusstlosigkeit geschlagen worden. Er dachte wütend an seine Entführung zurück, bei der er und Sullivan sich wie die Anfänger aufgeführt hatten. Nachdem er in der Villa besinnungslos zusammengebrochen war, war Dorian in einem Auto und ein weiteres Mal in einem Flugzeug zu Bewusstsein gekommen. Seit dem Überfall in der Baring Road hatte er immer wieder Betäubungsinjektionen bekommen. Jetzt befand sich Dorian in einem nicht besonders großen Kellergewölbe, das mit zwei primitiv zusammengezimmerten Schränken, einem Stuhl und einem weiteren Bett - das allerdings mit Matratze und Bettzeug - möbliert war. Am gegenüberliegendem Ende des Raumes befand sich eine kurze Treppe, die zu einer verschlossenen Eisentür hinaufführte. Rechts von ihm befand sich die Holzbank, auf der die jungen Frauen saßen. Die eiserne Kellertür wurde geöffnet. Einige Sonnenstrahlen drängten in das Gewölbe, doch es wurde sofort wieder dunkler, als die Tür zugeworfen wurde. Ein Mann mit blonder Stoppelfrisur stieg die Treppe hinab. Unten angekommen wandte er sich den Frauen zu. »Ich bin spät dran, tut mir Leid.« Er sprach Spanisch. Dorian schätzte den Mann, der eine Leinenhose und ein weißes Hemd trug, auf Mitte Zwanzig. In dem schmalen Gesicht des Blonden grinste ein zu groß geratener Mund. Er drehte sich zu einem der Schränke um, öffnete ihn und holte eine Thermoskanne sowie drei ungewöhnlich aussehende Tassen hervor. »Mate?«, fragte er die Frauen. Beide nickten zustimmend.
Mate, ging es Dorian durch den Kopf. Dieser herbe Tee, aus besonderen Bechern mit einem Strohhalm getrunken, gilt in einigen Ländern Südamerikas als Nationalgetränk. Die Frauen wirkten südländisch und der Mann sprach Spanisch. Es war also nicht unwahrscheinlich, dass Dorian nach Südamerika verschleppt worden war. Beinahe teilnahmslos schaute er zu, wie die Drei ihr gekühltes Getränk zu sich nahmen. »Miguel, was ist mit diesem Mann? Sollte er nicht auch zu trinken bekommen?«, fragte die Frau mit den dunkelblonden Haaren.
Der Mann, der mit Miguel angesprochen worden war, runzelte die Stirn. »Hat er darum
gebeten?«
Die Dunkelblonde blickte unsicher zu der anderen Frau. Doch die dachte nicht daran, ihrer Freundin zuzustimmen. »Miguel weiß, wie er mit diesem Verbrecher umgehen muss. Am besten, du mischt dich nicht ein, Felicitas!« Miguel ging mit seiner Tasse zu Dorian. »Nein, nein, Felicitas hat recht. Wir sollten ihm zu Trinken geben.«
Dorian sog hastig an dem Strohhalm und trank mit wenigen Schlucken die Tasse leer. Es
war viel zu wenig, aber für eine Weile würde der quälende Durst verschwinden.
»Sehr gut«, lobte Miguel. Er sprach wieder Englisch mit Dorian. Miguel zog sich den
Stuhl heran und setzte sich vor das Bettgestell.
»Was soll das alles?« Dorians Hals schmerzte beim Sprechen. »Wo bin ich, was wollt ihr
von mir?«
»Darauf wirst du keine Antwort erhalten« , sagte Miguel.
Dorian schaute zu den Frauen auf der Bank.
»Verständigt die britische Botschaft!«, rief er ihnen auf Spanisch zu. »Ich bin entführt
worden. Mein Name ist ...«
Ein Fausthieb gegen das Kinn ließ ihn verstummen.
»Du sprichst unsere Sprache? Rede nie wieder mit den Mädchen!« Miguel war wütend
aufgesprungen.
»Hast du mich verstanden?« Er riss Dorians Kopf an den Haaren nach hinten.
»Ja, verdammt!«
Dorian wurde losgelassen und sein Kopf schnellte schmerzhaft auf das Drahtgeflecht
zurück.
»Sie würden dir ohnehin nicht helfen.«
»Warum sind die beiden hier?«
»Sie wollen dabei sein, wenn ich dir Schmerzen zufüge.«
»Willst du mich foltern? Geht es um Informationen?« »Foltern, um Informationen zu bekommen?« Miguel schaute abfällig. »Dafür gibt es doch hochwirksame Seren. Nein, für Informationen würde ich mir diese Mühe nicht machen.« War Dorian an einen Verrückten geraten? Aber das würde kaum die Entführung aus England erklären. Er vermutete eher, dass dieser Mann für die Mafia oder einen Geheimdienst arbeitete. Doch mit solchen Organisationen hatte Dorian nichts zu tun. Seine Gegner befanden sich in der Schwarzen Familie, und die kämpfte mit Mitteln der Magie. Dieser Miguel hatte jedoch keine Ausstrahlung, die auf etwas Übersinnliches hindeutete. »Jetzt muss ich mich an die Arbeit machen.« Miguel erhob sich. Er wandte sich erneut dem Schrank zu und holte eine schmale, vierzig Zentimeter lange Eisenspirale hervor, die an einem Ende spitz zulief. Dorian ahnte, was nun kommen sollte. »Informiert die britische Botschaft!«, rief er den Mädchen nochmals auf Spanisch zu. Dann brüllte er vor Schmerz auf. Miguel schlug mit der Spirale auf seinen Rücken ein. Das Metall riss tiefe Wunden in den Rücken des Wehrlosen. »Aufhören!«, rief die Dunkelblonde. Sie war aufgesprungen. Miguel beachtete die junge Frau nicht, die den Raum fluchtartig verließ. Er schlug wieder und wieder zu. Erst als sein Opfer vor Schmerzen die Besinnung verlor, hielt er inne. Eine halbe Stunde später lag Dorian Hunter noch immer gefesselt und unbekleidet auf dem Bettgestell. Er zitterte am ganzen Körper und befand sich am Rande einer Lethargie. Die Rothaarige hatte seine Wunden desinfiziert und verbunden. Jetzt stand sie unschlüssig herum. »Siehst du nicht, wie er zittert? Im Schrank sind Decken!« Miguel hatte die Blutlache aufgewischt, die sich unter dem Bett gesammelt hatte. Der Zustand seines Gefangenen beunruhigte ihn jetzt doch. *** Felicitas war trotz der sengenden Hitze fast den ganzen Weg gerannt. Ihr Atem ging heftig, das Gesicht war rot vor Anstrengung. Sie befand sich noch auf dem Feldweg, der die Mühlenruine, aus der sie kam, und das winzige Dorf Monte Plata verband. Das Dorf, das aus knapp fünfzig armselig wirkenden Häusern bestand, war noch einen halben Kilometer entfernt. Felicitas lief langsamer. Kein Mensch war zu sehen - die Einwohner arbeiteten auf den umliegenden Feldern oder hatten sich vor der sengenden Sonne in die Häuser geflüchtet. Am Ortseingang lag der Kolonialwarenladen der Familie Ruiz. Für die Verhältnisse in Monte Plata waren die Ruiz’ wohlhabende Leute. Die Mutter führte das Geschäft, der Vater war Fahrer der staatlichen Postbuslinie. Der Sohn hatte bis vor kurzem in Santiago studiert. Neben der Taverne war der Kolonialwarenladen das einzige Geschäft in Monte Plata.
Tonto, ein großer Mischlingshund, lag auf seinem schattigen Platz vor dem Laden. Er war nicht mehr der Jüngste und verschlief die meiste Zeit des Tages. Als das zottelige Tier Felicitas kommen sah, hob es mit gemäßigter Neugier den Kopf. Die junge Frau ging durch die offene Tür ins Innere des Geschäfts. Der Hund schaute ihr kurz hinterher, dann legte er seine Schnauze wieder zwischen die Pfoten. Der Verkaufsraum war dunkel und angenehm kühl. Ein Ventilator an der Decke erzeugte einen erfrischenden Luftzug. Es roch nach Parfüm, Gewürzen und nach Waschmitteln. Der Laden war vollgestopft mit verschiedenen Waren. An einer Wandhalterung hingen Zeitschriften und Zeitungen. Ein Tisch mit billigem Spielzeug stand neben einer laut brummenden Kühltruhe. In einer Glasvitrine lagerten allerlei Medikamente, denn der Laden war zugleich die Dorfapotheke. Hinter dem Tresen mit Tabakwaren und Süßigkeiten befand sich eine schmale Wendeltreppe, die nach oben in die Privatwohnung der Familie Ruiz führte. »Vanessa, wo steckst du? Ich muss mit dir sprechen!«, rief Felicitas völlig außer Atem durch das menschenleere Geschäft. »Ich komm ja schon.« Vanessa Ruiz hielt sich oft in der Wohnung auf und kam erst herunter, wenn sie im Laden gebraucht wurde. Hastig stieg die spindeldürre Frau die Wendeltreppe hinab. Unten angekommen schaute sie Felicitas erstaunt an. »Mädchen, du siehst aus, als sei der Teufel hinter dir her! Was ist passiert?« »Er hat den Mann fürchterlich geschlagen«, antwortete Felicitas. Sie war noch immer außer Atem. »Trink erst einmal einen Tequila, anschließend erzählst du mir alles in Ruhe und der Reihe nach!« Vanessa Ruiz wischte sich auf dem Weg zum Tresen die Hände an der Schürze ab. Routiniert schenkte sie dann den weißen Branntwein in ein Glas und gab es Felicitas. »Also, wer hat wen geschlagen?«, fragte sie, während die junge Frau trank. Felicitas hustete. Sie war das scharfe Getränk nicht gewöhnt. »Miguel Gaertner drosch mit einer Eisenstange auf seinen Gefangenen ein.« »Miguel - der schnüffelt doch für die Geheimpolizei! Was hast du mit solch einem Kerl zu schaffen?« »Ramona ist seit einer Weile mit ihm zusammen. Er erzählte ihr, dass er in der alten Mühle einen Kriminellen beaufsichtigen muss. Miguel wollte dem Strolch eine Lektion erteilen.« »Warum musst du dabei sein - das passt doch nicht zu dir!?« Vanessa schüttelte verständnislos den Kopf und schenkte sich selbst einen Tequila ein. »Vielleicht liegt es an der Langeweile in diesem Nest. Außerdem hat mich Ramona mit ihrer Begeisterung angesteckt«, recht-fertigte sich Felicitas.
Vanessa füllte der jungen Frau noch einmal das Glas. »Ich versteh dich trotzdem nicht. Wer weiß, ob das stimmt, was dieser Gaertner über den Mann erzählt hat! Du erinnerst dich doch daran, was sie mit meinem Sohn gemacht haben?« Felicitas nickte verlegen. Vanessas Sohn Rodriguez hatte noch vor einem halben Jahr in Santiago Medizin studiert. Als er eines Tages an einer Demonstration gegen das Militärregime teilnahm, wurde er verhaftet. Rodriguez galt schließlich als Rädelsführer der Proteste und verlor seinen Studienplatz. Auch bekam er nirgends mehr eine Arbeit. Nun lebte er wieder in Monte Plata. Vanessa sah, dass sich Felicitas beruhigt hatte. »Am besten, du gehst jetzt nach Hause. Mach den Fernseher an, das lenkt dich ab!« Felicitas nickte und verließ nachdenklich den Laden. *** Miguel Gaertner wusste, dass er zu weit gegangen war. Er sollte den Mann bewachen, nicht misshandeln. Wenn er dem Engländer lediglich einige Schläge verpasst hätte, wäre von niemandem ein Einwand erhoben worden, denn mit den Menschenrechten nahm es die Militärregierung Chiles nicht so genau. Doch Gaertner wollte den jungen Frauen aus dem Dorf etwas bieten, deshalb hatte er seine Befugnisse übertreten. Er hatte Dorian Hunter ernsthaft verletzt. Gaertner saß am Steuer seines Dienstwagens, einem Isuzu Trooper, und fuhr mit Ramona in Richtung Monte Plata. Der Geländewagen wurde auf dem holperigen Feldweg kräftig durchgeschüttelt. »Ich hoffe, Felicitas wird nicht ausplaudern, was sie heute gesehen hat.« Gaertner trug eine getönte Brille, die Nachmittagssonne schien ihm direkt ins Gesicht Der Isuzu bog in die asphaltierte Straße ein, die direkt durch Monte Plata führte. »Das glaube ich nicht«, meinte Ramona. »Wem sollte sie es auch erzählen? Unser Kaff liegt doch am Ende der Welt.« »Deswegen habe ich diesen Engländer ja zu euch geschafft. Aber manche Sachen verbreiten sich schneller, als man glaubt.« Der Isuzu fuhr durch das Dorf. Vor dem Haus, in dem sich die Taverne befand, bremste Miguel ab. Hier wohnte Ramona. »Denk dran: Kein Wort über das, was du weißt. Auch nicht zu deinen Eltern!« Miguel schaute drohend. »Keine Sorge. Ich werde auch mit Felicitas reden - sie wird den Mund halten.« Die beiden gaben sich einen Kuss und Ramona stieg aus. Miguel legte den Rückwärtsgang ein und fuhr ohne zu wenden bis zum Kolonialwarenladen zurück. Als er den Motor abschaltete, sah er Felicitas aus dem Laden kommen. Sie hatte den Blick zum
Boden gesenkt und ging schnell die Straße entlang. Miguel hatte kein Interesse daran, sie jetzt zur Rede zu stellen. Als er ausstieg, ließ er den Wagenschlüssel stecken - niemand würde es wagen, sein Auto zu stehlen. Miguel ging zur Rückseite des Hauses. Dort lag der Privateingang zur Wohnung der Familie Ruiz. ***
Rodriguez und seine Mutter verrichteten den Abwasch, als es an der Tür klingelte.
Vanessa schüttelte den Kopf, als sie sah, dass ihr Sohn öffnen wollte. »Wahrscheinlich
will jemand eine Kleinigkeit kaufen. Ich gehe mit ihm in den Laden runter.«
Vanessa Ruiz erschrak, als sie öffnete. Gerade hatte sie mit Felicitas und danach mit ihrem Sohn über Miguel Gaertner gesprochen, jetzt tauchte er hier auf. Gaertner schob sich einfach an der mageren Frau vorbei. »Senora, ich würde gerne mit Ihrem Sohn sprechen - unter vier Augen! Haben Sie nicht etwas im Laden zu erledigen?« Er schaute Vanessa kalt an. Sie nickte verschüchtert und verschwand.
»Guten Abend, Senor! Zu Ihnen wollte ich«, sagte Gaertner als er Rodriguez in der Küche
entdeckte.
Rodriguez war einen Moment verblüfft. Er trocknete sich die Hände ab und warf das Geschirrtuch auf den Küchentisch. »Miguel Gaertner, wenn ich mich nicht irre. Was wollen Sie von mir?« »Sie kennen mich?« »Ich glaube, jeder im Dorf weiß, dass Sie sich seit einiger Zeit in der Gegend
herumtreiben. Sie arbeiten doch für die Regierung, oder?«
»Herumtreiben?« Miguel zündete sich eine Zigarette an. » Das trifft wohl eher auf Sie zu.
Aber wie ich sehe, sind Sie mittlerweile als Hausfrau untergekommen.«
Rodriguez legte seine kräftigen Arme ineinander. »Jemand, der Menschen in der
Mühlenruine quält, sollte sich nicht über andere lustig machen!
»Wen habe ich gequält?« Gaertner war für einen Moment verunsichert.
»Einen Mann, vermutlich Engländer.«
Miguel presste die Lippen zusammen. Also hatte Felicitas schon geplaudert. »Es wird viel
erzählt. Ich bin aber tatsächlich wegen des Mannes aus der Ruine hier.«
»Was habe ich damit zu tun?«, fragte Rodriguez abweisend.
»Sie könnten mir helfen, es würde sich für Sie auszahlen.«
»Für die Regierung und deren Helfer würde ich niemals arbeiten! Ihnen dürfte bekannt
sein, warum ich nicht mehr in Santiago bin.«
»Der Mann in der Ruine hat sich verletzt. Sie haben doch Medizin studiert, Sie sollten sich
ihn anschauen.«
»Wenn es so ist, warum rufen Sie keinen zugelassenen Arzt?«
»Es gibt in dieser gottverlassenen Gegend doch weit und breit keinen. Außerdem will ich
die Sache nicht an die große Glocke hängen. Helfen Sie mir - vielleicht können Sie dann
Ihr Studium fortsetzen.«
»So viel Einfluss haben Sie nicht!« Rodriguez beugte sich vor. »Sie haben jemanden
gefoltert und ich soll die Sache ausbügeln.«
»Ich werde nicht zur Verantwortung gezogen, wenn der Mann stirbt«, behauptete Miguel.
»Sie sollten wissen, dass es ihm ziemlich schlecht geht - er braucht Hilfe.«
»Was fehlt ihm?«
»Er hat arge Wunden auf dem Rücken. Inneren Organe sind wohl nicht verletzt, aber der
Blutverlust war ziemlich hoch. Der Mann ist kaum noch ansprechbar und leidet unter
Schüttelfrost. Nun lassen Sie sich nicht lange bitten, Rodriguez! Sie erhalten zweihundert
US-Dollar und um Ihren Studienplatz kümmere ich mich wirklich.«
Rodriguez überlegte. »Ich gebe zu, dass ich das Geld gut gebrauchen kann und nichts
lieber möchte, als weiterstudieren. Wichtiger ist aber, dass diesem Mann geholfen wird.«
»Holen Sie die Sachen, die Sie brauchen! Ich warte inzwischen im Auto.«
Rodriguez stieg über die Wendeltreppe ins Geschäft hinab. Er steckte den Erste-Hilfe-
Kasten, einen Satz Spritzen und Kanülen sowie Medikamente, die er vielleicht brauchen
würde, in eine große Ledertasche. Vanessa, die im Laden gewartet hatte, schaute ihm zu.
»Kümmerst du dich um den Verletzten in der Mühlenruine?«
»Ja, ich hoffe, ich bin bald zurück.«, antwortete Rodriguez.
»Pass auf dich auf, Junge!« Vanessa öffnete ihm die Ladentür und beobachtete, wie ihr
Sohn zu Miguel Gaertner ins Auto stieg. Sie blieb noch eine Weile stehen und schaute
dem Wagen unsicher nach.
***
»Nehmen Sie ihm die Fesseln ab!«, forderte Rodriguez Ruiz.
Gaertner schüttelte den Kopf. »Geht gegen meine Anweisungen.«
»Ihre Anweisungen sind mir egal. Wenn Sie wollen, dass ich den Mann behandle, dann
machen Sie ihn von dem Bett los!«
»Wenn der Engländer verschwindet, bekomme ich Ärger«
»Schauen Sie sich ihn doch an! Wohin sollte er verschwinden?«
Gaertner überlegte einige Augenblicke. Wortlos ging er zum Bettgestell und zog ein
Springmesser hervor. Er ließ die Klinge hervorschnellen und durchschnitt die Fesseln.
Rodriguez sah sich den lethargischen Mann an und kontrollierte zunächst die Temperatur.
Danach legte er die Fingerkuppen an die Halsschlagader des Verletzten.
»Der Puls ist zu niedrig«, bemerkte er.
»Und die Temperatur?«, fragte Ruiz.
»Über 41 Grad! Dagegen sollten wir etwas unternehmen.« Rodriguez schaute besorgt.
»Miguel, kommen Sie her! Legen Sie den Mann in das richtige Bett!«
»Das geht nicht, da schlafe ich!«
»Tragen Sie ihn rüber, verdammt! Er kann unmöglich auf dem Drahtgestell bleiben!«
Widerwillig stand Miguel auf und umfasste Dorian Hunter. Vor Anstrengung ächzend hob
er ihn auf das Feldbett hinüber.
»Lassen Sie ihn mit dem Rücken nach oben liegen, ich muss die Wunden versorgen.«
Rodriguez öffnete die Ledertasche.
»Brauchen Sie nicht. Das hat Ramona schon erledigt.«
Rodriguez sah sich den dilettantisch angebrachten Verband an. »So sieht das auch aus.
Ich muss die Wunden gründlich reinigen und desinfizieren.«
Dorian, der alles wie durch Watte wahrnahm, öffnete die Augen und stöhnte laut auf.
Seine Stirn war schweißnass, sein Atem ging schnell. Ein Zittern durchlief seinen Körper.
»Ich werde ihm jetzt Morphin gegen die Schmerzen injizieren. Danach bekommt er
Antibiotika, da er sich wahrscheinlich eine Blutvergiftung zugezogen hat.«
Vorsichtig nahm Rodriguez den Verband ab. Die blutverkrusteten Einschläge sahen
furchtbar aus. Die Wunden mussten genäht werden.
»Jemand sollte Sie dafür zur Verantwortung ziehen, Gaertner!« Rodriguez schaute zornig.
»Wenn Sie wüssten, was dieser Kerl auf dem Kerbholz hat, würden Sie nicht so reden«,
sagte Miguel Gaertner betreten.
Rodriguez hatte Dorian Hunter das Schmerzmittel verabreicht und war jetzt dabei, die
Spritze mit dem Antibiotikum anzusetzen. »Ich kenne die Lügen der Geheimpolizei,
sparen Sie sich also die Mühe! Holen Sie lieber die Kleidung des Mannes - und bringen
Sie ihm etwas zu trinken!«
Während Miguel im Schrank die Kleidung zusammensuchte, sprach Rodriguez leise mit
Dorian. »Verstehen Sie mich, Senor?«
Dorian nickte. »Gut, ich habe hier zwei Tabletten gegen das Fieber. Werden Sie es schaffen, Sie hinunterzuschlucken?« »Ja«, flüsterte Dorian. Miguel kam heran und warf Dorians Kleidung auf das Bettende. »Hier ist kalter Tee.« Er gab Rodriguez einen Becher. Dorian bekam die Tabletten und spülte sie mit dem Tee hinunter. Ihm war nicht klar, was mit ihm passierte, er wusste nur, dass momentan nicht an Gegenwehr oder Flucht zu denken war. Das Morphin wirkte rasch und das Brennen auf dem Rücken wurde schwächer. Kein Durst, keine Schmerzen. Endlich lag Dorian nicht mehr auf dem Drahtgeflecht, sondern auf einer weichen Matratze. Er war nahezu zufrieden und schlief ein. »Warum ist der Mann so erschöpft? Habt ihr ihm Drogen gegeben?«, fragte Rodriguez. »Nur etwas zum Schlafen. Wir mussten ihn einige Tage ruhig halten. Jetzt kann er sich ja erholen.« »Und später? Was soll aus ihm werden?« »Das hängt auch von Ihnen ab.« »Von mir?« Rodriguez runzelte die Stirn. Gaertner war bereits die Stufen zur Eingangstür hinaufgestiegen. »Dieser Mann ist Engländer. Er weiß nicht, wo er ist und was er hier soll. Wenn das so bleibt, könnten wir ihn vor seiner Botschaft absetzen. Er wäre frei, ich bekomme keinen Ärger und Sie studieren weiter. Wenn Sie hier allerdings den großen Aufklärer spielen, wird nichts daraus. Ich komme morgen früh wieder. Bleiben Sie bei dem Mann - geben Sie ihm etwas zu essen, wenn er wach wird! Was Sie brauchen, finden Sie in den Schränken!« Miguel wartete keine Antwort ab, sondern ging hinaus. Rodriguez schaute ihm verständnislos hinterher. Er schüttelte den Kopf und versorgte Dorians Wunden. Bevor er den Verletzten anzog, kontrollierte er nochmals Puls und Temperatur - beides normalisierte sich. *** »Kreide...«, murmelte der Mann auf Englisch. »Kreide!« sagte er wieder, diesmal sprach er Spanisch und öffnete die blutunterlaufenen Augen. Mit dem Stoppelbart und dem trüben Blick wirkte er wie ein Trinker im Delirium tremens. »Wie meinen Sie, Senor?« Rodriguez, der seit dem Verschwinden Gaertners, das eine Stunde her sein mochte, am Bett des Verletzten gedöst hatte, schreckte auf und beugte
sich vor. »Kreide, ich brauche Kreide.« Der Mann schien aufgeregt zu sein und machte Anstalten aufzustehen. »Die Schwarze Familie hat mich entdeckt.« »Senor, bleiben Sie bitte liegen! Sie sind verletzt und müssen sich ausruhen.« Rodriguez versuchte den Mann zurück auf das Kopfkissen zu drücken. »Soll ich Ihnen zu Trinken holen?« »Bringen Sie lieber Kreide!«, beharrte der Mann. »Es ist ein magisches Auge im Zimmer, wir müssen etwas unternehmen.« Der Verletzte entwickelte für seinen Zustand erstaunliche Kräfte: Er ließ sich nicht in die liegende Haltung zurückdrängen, sondern schaffte es sogar, die Füße auf den kalten Kellerboden zu setzen. »Sagen Sie mir Ihren Namen, Senor!« Rodriguez versuchte, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben, denn der Mann begann offensichtlich zu phantasieren. »Hunter, Dorian Hunter. Hören Sie, wer immer Sie auch sein mögen: Wenn sich hier ein magisches Auge aufhält, ist es nur noch eine Sache von Minuten, bis die Schwarze Familie erscheint. Ich spreche von einer Bedrohung durch Dämonen, verstehen Sie?« Rodriguez verstand. Erst die Folter, dann das Morphin. Kein Wunder, dass dieser Dorian Hunter, wenn er überhaupt so hieß, unter Wahnvorstellungen litt. »Machen Sie sich keine Sorgen, Dorian. Dieser Raum ist dämonensicher - nichts kann Ihnen geschehen«, behauptete Rodriguez. Er hielt es für ratsam, nicht zu widersprechen. »Mein Name ist übrigens Rodriguez Ruiz. Ich möchte Ihnen helfen. Wir sollten die Situation in aller Ruhe besprechen.« Wankend erhob sich Hunter von der Pritsche. »Für Gerede ist keine Zeit.« Er betrachtete Rodriguez für einen Moment, um festzustellen, ob eine dämonische Ausstrahlung von ihm ausging oder ob er unter schwarzmagischer Beeinflussung stand. Nachdem er keines von beiden bemerken konnte, wankte er auf einen der Schränke zu. »Ich weiß, was Sie denken - aber in meinem Kopf ist alles in Ordnung. Gibt es hier nun Kreide oder nicht?« Er riss die Schranktür auf, um im Inhalt zu wühlen. Plastikgeschirr fiel scheppernd zu Boden und Gaertners Wäsche flog durch den Raum. Unter verwaschenen Geschirrtüchern fand Hunter einige Sexmagazine, die er ebenfalls auf den Boden warf. Rodriguez sah mit offenem Mund zu. Die meisten Menschen hätten lange Zeit im Bett liegen müssen, wenn sie ähnliches durchgemacht hätten wie dieser Hunter. Solange der randalierende Mann ihm nicht gefährlich wurde und auch sich selbst nichts antat, war es wahrscheinlich das Beste, ihm seinen Willen zu lassen. »Soweit ich weiß, gibt es hier keine Kreide, aber die Wandecke dort besteht aus Kalkstein. Soll ich Ihnen ein Stück herausschlagen?«
»Ich mach das lieber selber«, antwortete Hunter. »Sie können mir inzwischen erklären, wo ich bin, was das alles soll und was Sie damit zu tun haben.« Rodriguez Ruiz schlug Gaertners Verbot in den Wind und erzählte Hunter in wenigen Worten das, was er selbst wusste. Ungläubig sah er währenddessen zu, wie Hunter, der sich vor kurzer Zeit noch am Rande eines Komas befand, mit der bloßen Faust ein Stück Kalkstein aus der Wand schlug, um damit in Windeseile merkwürdige Zeichnungen und Schriftzeichen auf den Boden zu malen. Hunter ordnete alles kreisförmig an, stellte sich schließlich in die Mitte der obskuren Symbole und betrachtete sein Werk kritisch. »In Chile bin ich also«, stellte Hunter fest. Die Finger, mit denen er gegen die Wand geschlagen hatte, bluteten. »Sind Sie Christ, Rodriguez?« »Mehr oder weniger«, antwortete Rodriguez. Ihm war unwohl. Eigentlich, so dachte er, müsste er sich überlegen fühlen. Schließlich war sein Gegenüber ein kranker, phantasierender Mensch, der Hilfe benötigte. Nur beherrschte jetzt dieser Dorian Hunter die Situation. »Was heißt das? Sind Sie nun Christ oder nicht?«, fragte Hunter ungeduldig. »Nun, ich komme aus einer gläubigen Familie und bin Mitglied der Kirche. Aber ich bin kein praktizierender Katholik, wenn es das ist, was Sie wissen möchten.« Dorian Hunter stieg die Treppe zur Tür hinauf und öffnete sie. Draußen war es bereits dunkel und die lauwarme Nachtluft kam ihm entgegen. Er konnte nichts Verdächtiges feststellen und schloss die Tür wieder. Quietschend fiel sie ins Schloss. »Es reicht eigentlich, wenn Sie ein Gebet sprechen können. Sie kennen doch das Vaterunser?« »Selbstverständlich.« Ruiz verstand nicht, was Hunter von ihm wollte. Er glaubte aber immer weniger, dass dieser Mann wirres Zeug redete; er strahlte eine Überlegenheit und Sicherheit aus, die ihn beeindruckte. »Gut.« Hunter kam die Treppe hinunter. Er lief wieder auf den aus Symbolen gebildeten Kreis zu, den er zuvor mit dem Kalkstein auf den Boden gezeichnet hatte. »Kommen Sie in diesen Bannbereich! Beten Sie, wenn ich es Ihnen sage! Ich bin gleich bei Ihnen.« Für Rodriguez Ruiz war es nun beinahe selbstverständlich, dass er den Anweisungen Hunters folgte. Er verspürte er ein intuitives Vertrauen in diesen Mann, der genau zu wissen schien, was er tat. Dorian zog sich die Schuhe an und streifte sich sein Jackett über, bevor er wieder in den Kreis trat. Er schaute Rodriguez Ruiz fest in die Augen. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich weiß nicht genau was hier vor sich geht. Aber ich hatte ein schwarzmagisches Auge bemerkt, das nun verschwunden ist. Für mich heißt das, dass ein dämonischer Angriff bevorsteht.« Ruiz wusste nicht, was er zu einer solchen Behauptung sagen sollte. »Das alles muss Sie verwirren, Rodriguez, aber ich spüre auch, dass Sie mir vertrauen. Ich muss allerdings zugeben, dass ich keine Ahnung davon habe, was für ein Dämon uns angreifen wird und über welche Fähigkeiten er verfügt. Ich weiß nicht, ob er allein kommt
oder ob er Heerscharen von Helfern mitbringt. Wenn es nötig sein sollte, werde ich versuchen, Ihnen zu helfen. Dennoch kann ich für nichts garantieren.« Er hockte sich im Schneidersitz auf den feuchtkalten Boden. Ruiz Blick haftete an Hunters grünen Augen, die selbst etwas Dämonisches ausstrahlten. Er wusste plötzlich, dass dieser Mann die Wahrheit sprach. Es war, als würde er Dorian Hunter und seinen Kampf gegen das Böse seit Jahren kennen. »Setzen Sie sich auch, Rodriguez! Verlassen Sie den Kreis auf keinen Fall, bevor ich es Ihnen erlaube! Besinnen Sie sich auf Ihre christlichen Werte - nutzen Sie diese zu Ihrer Verteidigung!« »Und Sie, Dorian? Sind Sie Christ?« Auch Rodriguez Ruiz ließ sich nieder. »Oder etwa ein bekehrter Dämon?« Dorian lachte schwach. »Nun, ich war in vielen Religionen und Kulturen zu Hause. Was ich mit den Dämonen zu tun habe, werde ich Ihnen vielleicht ein anderes Mal erzählen. Versprechen Sie mir, diesen Kreis erst zu verlassen, wenn ich es Ihnen erlaube?« Rodriguez nickte. »In Ordnung.« Hunter senkte den Kopf. Er verfiel in eine Art Meditation, murmelte unverständlich Reime und wiegte den Kopf rhythmisch hin und her. Ruiz ließ ihn in Ruhe und sah gebannt zur Tür. Was war ein Dämon? Alle im Dorf waren Katholiken, auch er selbst - doch was es mit den mysteriösen Helfern des Teufels auf sich hatte, dies hatte er niemals erfahren. Dass Dämonen existierten, und dass eines dieser Wesen jetzt durch die Tür kommen würde, daran hatte er keinen Zweifel mehr. Im Raum wurde es warm, sehr warm. Die Hitze ging von der Tür aus. Hunter schien von alledem nichts zu bemerken. Er war vollkommen in seinen leisen, monotonen Singsang versunken. Die Eisentür begann zu glühen. Ruiz tippte Hunter an, doch der rührte sich nicht. Das glühende Eisen wurde blendend hell - die Tür zerfloss regelrecht, löste sich in Nichts auf. Der Blick auf die schwarze, mondlose Nacht war frei. Frische Luft kam herein und kühlte den unerträglich heiß gewordenen Kellerraum ab. Rodriguez war fassungslos. Obwohl er Hunter geglaubt hatte, dass etwas Übernatürliches passieren würde, war er nun, wo es tatsächlich geschah, maßlos überrascht. Da, wo vor wenigen Sekunden noch eine stabile Eisentür gewesen war, befand sich nur noch ein kahler, offener Eingang. Die Birne an der Decke brannte weiter als sei nichts geschehen. Hunter hockte nun stumm da. Er wirkte wie ein Bewusstloser. Rodriguez rüttelte an seiner Schulter. »Dorian, wachen Sie auf! Sollen wir tatenlos hier herumsitzen? Soll ich beten und auf Rettung warten, während Sie schlafen?« Hunter war erstarrt und Ruiz wusste nicht, was er denken sollte. Noch vor wenigen Minuten hatte er ein Urvertrauen in einen Mann entwickelt, den er heute erst kennen gelernt hatte; und jetzt spürte er, wie diese Zuversicht wieder dahin schmolz. »Ja, er hat dein Vertrauen missbraucht. Und er hat viel Schlimmeres getan.« Vanessa Ruiz trat durch den offenen Eingang. Ihre Haare standen wirr vom Kopf, sie trug nur einen Unterrock, der jetzt im Abendwind flatterte. Ihr Gesicht wirkte noch
eingefallener als sonst. »Mutter! Wie kommst du hierher?« Rodriguez stand auf und wollte auf sie zugehen. Doch sein Versprechen kam ihn in den Sinn. Er hatte sich verpflichtet, den Kreis nur mit Hunters Erlaubnis zu verlassen. »Ich weiß, dieser Teufel Hunter verlangt, dass du nicht aus seiner Nähe gehst.« Vanessa Ruiz blickte verständnisvoll. »Ich verlange nicht, dass du dein Versprechen brichst, denn ich will dich nicht in einen Gewissenskonflikt bringen. Erkenne daran, dass deine Mutter auf deiner Seite stehe!« Ihr Gesicht nahm einen schmerzlichen Ausdruck an. »Aber was du tun kannst, das kannst du auch in diesem Kreis tun.« Tränen rannen aus ihren Augen. »Dein Vater, er liegt im Sterben. Ich werde nach ihm sterben, und du nach uns. Dorian Hunter wird uns alle töten. Er ist in diesem Moment dabei, deinem Vater das Leben zu nehmen!« Es war, als ob dichte Schleier vor Rodriguez’ Augen verschwanden. Alles wurde ihm klar. Wie konnte er nur so blind sein? Eine Vision erfüllte sein Bewusstsein und zeigte ihm eine schreckliche Szenerie. Rodriguez’ Vater stand auf der nächtlichen Dorfstraße, das Hemd weit aufgerissen. Eine Hand presste er verzweifelt auf eine große, runde Wunde, die in seiner Brust klaffte. Dunkelrotes Blut sprudelte aus dieser Wunde, lief hinab auf den Boden, um dort auf unheimliche Weise spurlos zu verschwinden. »Das passiert jetzt, in diesem Augenblick!« Vanessas Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. »Hilf deinem Vater, hilf mir, hilf dir!«, schrie sie und zeigte auf Dorian, der immer noch wie schlafend da saß. Erst jetzt wurde Rodriguez klar, was Hunter dort eigentlich trieb: Der Engländer schlief nicht, sondern hatte den Kopf heruntergebeugt, um auf übernatürliche Weise etwas aus dem Boden herauszusaugen. »Nein, das gibt es nicht!« Rodriguez wurde übel, als er sah, welche Ungeheuerlichkeit geschah. Ein dicker Strahl zähflüssigen Blutes kam aus den Steinen hervor und schoss Dorian Hunter in den gierig geöffneten Mund. Hunters Gesicht war zu einer dämonischen Fratze geworden, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. Genüsslich schmatzend sog er den Lebenssaft ein. »Es ist das Blut deines Vaters, das dieser Dämon verschlingt! Töte Dorian Hunter, bevor er deinen Vater tötet!« Vanessa Ruiz schrie wie eine Furie. Ruiz stürzte sich auf Hunter. Er legte seine kräftigen Hände um den Hals des bluttrinkenden Mannes und drückte zu, so fest er konnte. »Du hattest Hunter gefragt, ob er ein Dämon ist. Ja, er ist einer! Töte ihn!«, stachelte Vanessa ihren Sohn weiter an. Dieser Mann war ein Monster, das war Rodriguez Ruiz klar. Deshalb also hatte Hunter ihn doch nicht aufgefordert, das Vaterunser zu beten. Aber nun, während er starb, sollte der blutgierige Dämon dieses Gebet hören. Rodriguez drückte fester zu und betete laut.
»Rede nicht - töte!«, tobte Vanessa. »Bete!«, forderte eine Männerstimme von weit her, leise und heiser. »Töte!« »Bete!« Es wurde lauter. »Töt...!« Vanessa sprach nicht zu Ende. Rodriguez erhielt eine schallende Ohrfeige und von einem Augenblick zum anderen änderte sich alles. Hunter lag plötzlich über ihm und schlug nochmals zu. »Bete weiter!« Hunter löste sich von Rodriguez und sprang ein Stück zurück. Rodriguez Ruiz betete und fühlte sich dabei, als sei er gerade in kaltes Wasser gesprungen. Er schaute sich um. Die Eisentür war wieder da. Kein Blut schoss aus dem Boden. Alles war wie vor dem Zeitpunkt, als die Tür zu glühen begonnen hatte. Das zuvor Erlebte war sehr nah und gleichzeitig weit weg - wie das Erwachen aus einem nächtlichen Alptraum. »Du schliefst plötzlich ein«, sagte Hunter heiser, als Ruiz das Vaterunser beendet hatte. »Ich konnte dich nicht wachbekommen. Plötzlich bist du mir an die Gurgel gegangen.« Er hustete und fasste sich an den Hals. »Während wir kämpften, hast du angefangen zu beten und deine Augen öffneten sich.« Dorian atmete immer noch heftig. »Zum Glück hast du dann von mir abgelassen - ich weiß nicht, ob ich sonst mit dir fertig geworden wäre.« »Eine grausige Vision hat mich heimgesucht. Ich glaubte, meine Mutter zu sehen. Ich wollte dich töten, da du dabei warst, meinen Vater zu ermorden. Ich weiß nicht, was ich sagen soll... ist das jetzt die Realität?« Ruiz war noch verunsichert, aber sein Vertrauen in Hunter kehrte langsam zurück. »Wer kann das schon sagen. Aber ich denke doch, dass wir uns jetzt in der Wirklichkeit befinden. Vergiss dein Gebet nicht, wenn dir in Zukunft etwas merkwürdig erscheint!« Dorian sprach nicht weiter. Die Eisentür flog mit ohrenbetäubendem Lärm auf. Vier Irrwische - winzige Elementargeister - zischten aus der Dunkelheit herein und rasten auf Dorian und Rodriguez zu. Doch der magische Kreis, in dem sich die beiden befanden, war wie eine Feuerwand für sie. Brennend stürzten die vier Geistwesen ab und verendeten elend. Aus der Schwärze der Nacht tauchten keinen Augenblick später zwei glühend rote Augen auf. Dorian spürte die Ausstrahlung eines mächtigen Dämons. Die Kreatur wollte sich offensichtlich bedeckt halten, denn der Rest des Körpers blieb unsichtbar. Die Augen schwebten in den Raum und kamen auf den magischen Kreis zu. Rodriguez hatte geistesgegenwärtig angefangen zu beten - ein angewidertes Zischen kam aus der Richtung des teuflischen Wesens. Dorian malte mit den Händen ein weißmagisches Zeichen in die Luft und sprach einen Bannspruch.
»Fürwahr, Dorian Hunter - du hast einen mächtigen Kreis gezeichnet, den nicht einmal ich zu übertreten vermag.« Die Stimme war wie ein Donnergrollen und kam aus allen Richtungen. »Dennoch kannst du dich nicht ewig vor mir verstecken. Meine Helfer werden dich bewachen.« Ein Dutzend Irrwische kam wie auf Kommando in den Keller geflogen und blieb drohend in der Luft stehen. »Verlasst ihr den Kreis, werdet ihr von meinen Dienern getötet.« Die Augen schwebten wieder aus dem Raum. »Und dennoch, seid nicht so sicher, dass ich euch nicht doch aus eurem feigen Versteck holen kann!« Die Augen und die grollende Stimme waren fort. Dorian blickte schweigend auf die lauernden Irrwische. *** Miguel Gaertner war in Santiago angekommen und befand sich jetzt in einem Dienstgebäude der Geheimpolizei. Er saß hinter dem Schreibtisch von Professor Martinez. Der Raum, in dem sich die Männer befanden, war groß und unübersichtlich. Das von der Deckenbeleuchtung stammende Licht reichte nicht, um das Zimmer ausreichend zu erhellen. Papiere stapelten sich in überfüllten Regalen, selbst an den freien Wänden waren Aktenordner übereinander geschichtet. Viele Blätter lagen einfach auf dem Boden. Gaertner war durch die lange Fahrt von Monte Plata nach Santiago entnervt. Die über dreistündige Tour auf schlechten Straßen und das anschließende Verkehrschaos in der chilenischen Hauptstadt hatten ihn müde gemacht. Professor Martinez hielt sich ein Papiertaschentuch an die lange Nase und schnäuzte sich. Vor ihm auf dem Schreibtisch verteilten sich ausländische Zeitschriften zum Thema Okkultismus und Parapsychologie. Seine Ellenbogen waren auf einen Aktenordner gestützt, den er mit Materialien über Dorian Hunter und dessen Umfeld vollgestopft hatte. Martinez war ein schmächtiger Mann. Nur wenige rot-graue Haare wuchsen auf seinem eiförmigen Kopf, sie fielen in Strähnen bis auf die schmalen Schultern. Er war Mitte Fünfzig und hatte sich dem Übersinnlichem verschrieben. Die »Aktion Dorian Hunter« war sein bislang größter Coup. »Schade«, sagte er, »die Sache, die ich ins Rollen gebracht habe, zeigt noch keine Ergebnisse.« Gaertner sah den Professor kalt an. »Außer unseren eigenen Aktivitäten hat sich nichts getan - keine der von Ihnen erhofften Reaktionen ist eingetreten. Statt dessen haben wir einen guten Mann in London verloren. Ich habe von Anfang an gesagt, dass es ein Fehler war, Hunter zu entführen.« »Nein, mein lieber Gaertner, Sie irren sich. Es sind erst drei Tage seit Hunters Gefangennahme vergangen. Vierzehn Tage wollten wir auf Reaktionen warten - wir haben also noch allerhand Zeit.« »Haben wir nicht! Er ist krank geworden, wir müssen ihn loswerden!«
»Krank? Wie konnte das passieren?« Martinez’ Stimme klang noch heller als sonst. »Er ist Europäer und unserem Klima nicht gewachsen. Die vielen Schlafmittel während der Reise haben ihn geschwächt - er hat sich eine Infektion zugezogen. Ein Arzt kümmert sich bereits um ihn. Ich werde dem Commodore morgen vorschlagen, dass wir ihn laufen lassen. Damit wären wir den unnötigen Ärger los.« Für Gaertner war dies eine gute Lösung. Er würde den Engländer selbst fortbringen. Mit etwas Glück könnte er die Misshandlung so vertuschen. »Kommt nicht in Frage!« Martinez verschränkte trotzig die Arme. Gaertner blieb gelassen. »Das bestimmt der Commodore, er trifft die Entscheidungen in dieser Angelegenheit.« »Ich werde dem Commodore erklären, wie wichtig dieser Dorian Hunter für unser Land ist.« »Professor Martinez, Sie haben bisher keinen einzigen Beweis für die Existenz übernatürlicher Phänomene geliefert! Weil Sie Freunde in hoher Position haben, mussten wir Hunter aus London entführen. Würde ein anderer als Sie behaupten, dass Geister und Dämonen Chile vor dem Kommunismus retten können, so käme er in eine Nervenklinik.« Martinez errötete. Nervös fingerte er ein Blatt aus einem Ordner hervor. »Hier!« Er hielt Gaertner den Zettel vors Gesicht. »Sind das etwa Hirngespinste aus dem Irrenhaus? Das haben Sie selbst geschrieben!« Gaertner schob die Hand mit dem Papier beiseite. »Ich weiß selbst, was ich geschrieben habe. In meinem Bericht findet sich kein Wort über okkulte Phänomene.« Martinez lehnte sich zurück. »Lassen Sie mich zitieren: ...Dorian Hunter war 1973 beim britischen Secret Service beschäftigt. Auffallend sind Bezeichnungen wie ‘Inquisitions abteilung’ und ‘Dämonenkiller’.« Gaertner winkte ab. »Das sind übliche Tarnnamen. Desinformationen der Geheimdienste. Die wirkliche Tätigkeit wird mit abstrusen Begriffen verschleiert. Wo sehen Sie da Beweise für Übernatürliches?« Als Martinez sah, dass Gaertner sich anschickte zu gehen, stand er ebenfalls auf. »Miguel«, sagte er aufgebracht, »es gibt magische Wesen, ich weiß es! Und diese Dämonen wollen Dorian Hunter unbedingt in die Finger bekommen. Wir liefern Hunter aus und sie befreien uns im Gegenzug von den linken Kräften, die unser Land bedrohen.« Gaertner lachte mitleidig. »Sie sind als Kurier ein kleines Licht in unserer Organisation«, fuhr Martinez unbeirrt fort, »aber wenn mein Plan aufgeht, steht Ihnen eine glänzende Karriere offen!« Gaertner schaute Martinez belustigt an. »Sie sind ein kleines Licht und im Gegensatz zu mir haben Sie keine Karriere vor sich. Ich glaube, Sie sind vollkommen verrückt. Morgen
werde ich mit dem Commodore sprechen. Ich schätze, wir werden diesen Dorian Hunter sehr bald abschieben.« »Warten Sie!«, bettelte Martinez. »So hören Sie doch!« Doch Gaertner schlug bereits die Tür hinter sich zu. Entmutigt ließ Martinez die Schultern hängen und setzte sich wieder. Er vergrub das Gesicht in den Händen. Wie viel Mühe hatte es gekostet, den Commodore davon zu überzeugen, dass Dorian Hunter eine Schlüsselfigur für die magische Welt war, und damit ein nicht zu unterschätzendes Pfand? Wie viele Freunde in gehobenen Positionen waren von ihm überredet worden, den Entführungsplan zu unterstützen? All die Mühe wäre umsonst gewesen, gelänge es Miguel Gaertner die Freilassung durchzusetzen! Ein eisiger Windstoß, der durch das geöffnete Fenster herein jagte, riss Martinez aus seinen Gedanken. Heute konnte er nichts mehr erreichen; es wurde Zeit zu gehen. Während er seine Jacke überzog, ging er zum Fenster und sah hinaus. Martinez’ Büro befand sich in der fünften Etage. Unter ihm lag im fahlen Licht einiger Gaslaternen eine Grünanlage, in der sich zu dieser Stunde niemand mehr aufhielt. Umschlossen wurde der kleine Park von den wuchtigen Gebäuden der Polizeibehörde. Die umliegenden Fenster waren dunkel - in keinem der Büros wurde mehr gearbeitet. Es war absolut still und der Himmel rabenschwarz. Der Gedanke, der einzige Mensch in diesem großen, alten Haus zu sein, bereitete Martinez Unbehagen. Was ihn aber wirklich ängstigte war der kalte Windstoß, der ihn hatte frösteln lassen: Draußen war es warm, nahezu heiß! Schnell schloss er das Fenster und nahm seine schäbige Aktentasche an sich. Er fingerte eine Weile nervös darin herum, bis er endlich seinen Schlüssel fand. Martinez trat in den Gang hinaus und schloss das Büro ab. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie düster und verlassen es hier nach Büroschluss wirkte. Nur wenige Leuchtstoffröhren erhellten die Szenerie, so dass die vielen Türen links und rechts im Halbdunkel lagen. Jeder Schrittes, den Martinez tat, hallte überlaut von den hohen Wänden zurück. Eine der altersschwachen Neonröhren an der Decke begann zu flackern und erlosch wenige Sekunden später ganz. Weit entfernt quietschte eine Tür, um dann laut ins Schloss zu fallen. Für kurze Zeit war es ruhig, dann hörte Martinez ein düsteres Lachen. »Ist da jemand?« Martinez erhielt keine Antwort. Ihm trat der Schweiß auf die Stirn. Trieb Miguel Gaertner dumme Scherze mit ihm? Doch daran glaubte er nicht wirklich. Eilig lief er auf den nicht weit entfernten Fahrstuhl zu. Vor der Schiebetür des Lifts angekommen, öffnete er seine Aktentasche und holte etwas Silbernes hervor. Es war eine Kette, an der sich ein großes Messingkreuz befand. Martinez hatte das Kreuz vor einigen Tagen weihen lassen, denn er wollte nicht ungeschützt sein, wenn unheimliche Mächte mit ihm Kontakt aufnahmen. Hastig hängte er sich das Kreuz um und zitierte einen Bannspruch. Quietschend öffnete sich die Schiebetür des Lifts. Hatte er bereits den Rufknopf betätigt? Martinez konnte sich nicht erinnern. Verunsichert stieg er in den Fahrstuhl und drückte den Knopf zum Erdgeschoss. Die Tür wurde wieder geschlossen und die Kabine setzte sich in Bewegung. Martinez lehnte sich gegen die Wand und atmete tief durch, um sich
zu beruhigen. Er fragte sich, ob er nicht überängstlich war. Vielleicht beschäftigte er sich zu viel mit dem Okkulten. Martinez sah zur Anzeigetafel. Der Fahrstuhl hatte die erste Etage passiert und fuhr weiter nach unten. Es vibrierte und das Rasseln der Seilwinde war zu hören. Endlich kam die Kabine im Erdgeschoss zum Stillstand. Martinez war erleichtert. Er würde das Gebäude nun schleunigst verlassen und sich in einer belebten Kneipe einen kräftigen Schluck zur Beruhigung gönnen. Doch daraus wurde nichts. Ein lautes Summen ertönte, als die Hydraulik vergeblich versuchte, die Schiebetür zu öffnen. Sie klemmte. Martinez griff mit seinen dürren Fingern in die Türspalte und versuchte so, den Fahrstuhl aufzubekommen. Doch das war ein aussichtsloses Unterfangen - die Tür gab keinen Millimeter nach. Das Summen verstummte abrupt und gleichzeitig erlosch das Licht. Von weit her ertönte wieder das Lachen. Dieses Mal klang es gemeiner, spöttischer. Dann war es wieder still. Carlos Martinez spürte, wie sein Magen sich vor Angst zusammenzog. Er tastete in der Finsternis nach dem Schalter der den Alarm beim Pförtner auslösen würde. Er fand die Bedienungsleiste und drückte aufgeregt alle Knöpfe, die er zu fassen bekam. Doch das Klingeln des Alarmsignals blieb aus. Ich darf nicht hysterisch werden, versuchte Martinez sich zu beruhigen. Er überlegte. Wenn er laut um Hilfe schrie, würde der Pförtner ihn hören? Unwahrscheinlich, die Portiersloge war zu weit entfernt. Der fußballverrückte Pförtner saß ohnehin meistens vor seinem kleinen Fernseher und sah sich, mit weit aufgedrehtem Ton, Sportberichte an. Martinez blickte nach oben. Könnte er das Fahrstuhldach abnehmen und hinausklettern? Nein, aus dem Alter war er heraus. Außerdem: Was sollte er auf der Kabine? Martinez war sich sicher, dass die diabolischen Mächte, die er heraufbeschwören wollte, ihr Spiel mit ihm trieben. Unverhofft ging das Licht wieder an, doch die Tür blieb geschlossen. Wieder drückte Martinez den Alarmknopf, aber auch jetzt passierte nichts. Wütend trat er gegen die Tür, was ein ohrenbetäubendes Scheppern verursachte. Nachdem der Lärm verhallt war, ging ein Ruck durch die Fahrstuhlkabine. Langsam setzte sich der Lift wieder in Bewegung. Es ging in den Keller. Martinez war noch nie dort unten gewesen. Was befand sich dort? Die Heizungsanlage, vielleicht auch einige Räume mit uralten Aktenordnern. Martinez holte ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Gedanke im Keller aussteigen zu müssen, erschreckte ihn. Ohne Hoffnung, dass es etwas nutzen würde, drückte er die NotStopp-Taste. Wie er befürchtet hatte, geschah nichts. Unbeirrt fuhr die Kabine dem Keller entgegen, bis sie rumpelnd stehen blieb. Wie in Zeitlupe öffnete sich die Schiebetür und gab den Blick auf eine absolute Finsternis frei. Ganz leise kam ein unverständliches Flüstern aus der Dunkelheit. Sekunden später, kaum hörbar, lachte erneut die Männerstimme. Wieder Stille. Martinez wich zurück. Niemals würde er hier freiwillig aussteigen! Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig: er schrie aus voller Kehle um Hilfe. Seine Stimme klang schauerlich und hallte mehrfach nach. Jäh verstummte sein Schrei.
In der vor ihm liegenden Dunkelheit tauchte ein Licht auf.. Zuerst war es winzig klein, ein weiß leuchtender Punkt, und wurde dann rasch größer. Martinez erkannte ein tennisballgroßes, von innen heraus leuchtendes Etwas. Dieses Ding schwebte in der Luft und kam nun rasend schnell auf den Fahrstuhl zu. Nur noch wenige Zentimeter trennten Martinez von dieser fliegenden Kugel. Martinez besann sich auf einen Bannspruch und begann ihn zu rezitieren. Seine Worte endeten in einem unverständlichen Krächzen. Der leuchtende Ball war herangekommen und in seinem Mund eingedrungen. Gurgelnd fiel der schmächtige Mann zu Boden, verlor seine Aktentasche und fasste sich ins Gesicht. Eine weiche, klebrige Masse verstopfte seinen Mund, machte sich selbständig und zog Ober- und Unterkiefer zusammen. Die Lippen wurden von innen versiegelt, so dass Martinez sich nicht von dem Fremdkörper befreien konnte. Seine Zunge wurde zusammen gepresst und die Luftröhre blockiert. Martinez verspürte einen schlimmen Würgereiz und kämpfte gegen ein Erbrechen an. Er schlug wild um sich und riss dabei unfreiwillig die Kette mit dem Kreuz von seinem Hals. Der Anhänger verschwand rasselnd im Bodenspalt an der Schiebetür. Das Ding in seinem Mund schien zu leben. Es dehnte sich aus, so dass Martinez’ Zähne und die Lippen wieder auseinander geschoben wurden. Zähflüssige, gleißend helle Materie trat hervor und formatierte sich wieder zu einem Ball. So schnell wie diese leuchtende Masse gekommen war, so schnell verschwand sie auch wieder. Nach wenigen Augenblicken war nichts mehr von dem Spuk zu sehen. Professor Martinez wälzte sich auf dem Boden. Er hustete und rang nach Luft. Nach einer Weile konnte er wieder ungehindert atmen. Röchelnd erhob er sich. Aber noch bevor er einen neuen Gedanken fassen konnte, hatte er das Gefühl, in einen gewaltigen Sog zu geraten. Merkwürdigerweise ließen seine Haare und Kleidung keine Anzeichen einer Luftbewegung erkennen. Doch die Kraft des Soges war da und zog ihn in die Höhe. Martinez’ Füße hoben vom Fahrstuhlboden ab, und langsam drehte sich sein gesamter Körper in die Waagerechte. Erstarrt schwebte der schmächtige Mann schließlich, mit dem Rücken nach unten, einen Meter in der Höhe. Die Beine ragten bereits durch die Fahrstuhltür nach draußen, sie waren nicht mehr zu sehen. Es war, als hätte die Dunkelheit einen Teil von Carlos Martinez verschluckt. Er schwebte aus dem Fahrstuhl heraus, hinein in die Schwärze. Statt eines Schrei des Entsetzens brachte er nur ein Wimmern hervor. Schon wurde sein Oberkörper von der unheimlichen Schwärze absorbiert. Carlos Martinez starrte noch einen Augenblick in die Finsternis, bevor er völlig in ihr verschwand. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er sich nun in den Händen der Kräfte befand, die sich für Dorian Hunter interessierten. Martinez war von völliger Schwärze umgeben. Er hatte nie genaue Vorstellungen davon gehabt, wie die Kontaktaufnahme mit den geheimnisvollen magischen Wesen aussehen würde. Aber mit einer solchen Bedrohung hatte Martinez nicht gerechnet. Er war sich sicher, dass man ihn töten wollte. Panik und Furcht vor dem Sterben erfüllten ihn. Die Kräfte, die ihn in der Luft gehalten hatten, ließen plötzlich nach und Martinez stürzte unsanft auf einen harten, feuchten Untergrund. Er war höchstens einen Meter gefallen, aber durch den Knöchel des linken Fußes jagte ein stechender Schmerz. »Puta Caracho!« fluchte Martinez.
Die Schwärze, die ihn umgab, wich einem diffusen bläulichen Licht. Martinez rappelte sich auf und blickte sich um. Er stand in einer Höhle aus rauem Fels - eine Lichtquelle war nicht auszumachen. Die kreisförmige Grotte war ungefähr fünf Meter hoch und mochte einen Durchmesser von zwanzig Metern haben. Aus den Wänden stachen spitze Felsvorsprünge hervor, an denen kleine Wasser-Rinnsale entlang liefen. Der Boden war von Rissen durchzogen, in denen die Flüssigkeit wieder versickerte. Martinez war verwirrt. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befinden mochte. Der Keller des Polizeigebäudes war das mit Sicherheit nicht. Humpelnd drehte er sich im Kreis. Er stöhnte auf, sein Fuß tat höllisch weh. Martinez vergaß den Schmerz, als er die Silhouette einer merkwürdigen Gestalt wahrnahm. Das Wesen kam auf ihn zu. Es schien mit gleichmäßiger Geschwindigkeit knapp über dem felsigen Untergrund zu schweben. Noch konnte Martinez die Gestalt nur als schwarzen Schemen wahrnehmen: Ein schmächtiger Torso, aus dem dünne Arme und Beine herausragten. Auf dem spitz zulaufenden Kopf zeichneten sich, inmitten weniger Haare, zwei Hörner ab. Martinez zuckte zusammen, als er dort, wo die Augen des Wesens zu erwarten gewesen wären, zwei rote Punkte entdeckte - sie leuchteten wie glühende Kohlen. Dutzende, hämisch klingende Stimmen begannen ein Flüstern, das aus allen Richtungen zu kommen schien. Martinez blickte sich um, aber außer ihm und diesem Wesen war niemand zu sehen. Das blaue Licht, in das jetzt alles getaucht war, wurde stärker und Martinez konnte das merkwürdige Wesen besser erkennen. Es besass Augen, Mund und Nase, war aber dennoch keineswegs als menschlich zu bezeichnen. Das Gesicht wirkte fremdartig, erschreckend kalt und grausam. Die dünnen Armen der Kreatur machten eine ausholende Bewegung - das Flüstern verstummte augenblicklich. Eine finstere Stimme hallte durch die Grotte. »Dorian Hunter ist in deiner Gewalt. Warum?« Die schmalen Lippen des Wesens blieben ohne Bewegung, aber die rot glühenden Augen sahen Martinez durchdringend an. Der Professor war vom Anblick der grauenhaften Gestalt gebannt. Die unheimliche Erscheinung bewegte sich jetzt auf eigenen Beinen. Das Wesen war fast unbekleidet, es trug lediglich ein Cape, das nach vorne hin offen war. Die Haut der Kreatur war so dünn, dass sich dahinter Adern und innere Organe erkennen ließen. In Kopfhöhe des Wesens, das zweifellos ein Dämon war, schwebte der leuchtende Ball, mit dem Martinez schon Bekanntschaft gemacht hatte. »Du lässt mich warten? Das wird dir Leid tun!« Von einer Sekunde zur anderen raste der Ball auf Carlos Martinez zu und prallte mit großer Wucht gegen dessen Unterleib. Anschließend kehrte er blitzschnell zu seinem Herrn und Meister zurück. Martinez sah Sterne vor seinen Augen, während er versuchte, sich auf den Beinen zu halten. »Sprich endlich!«, brüllte der Dämon nochmals. Trotz seiner Schmerzen nahm Martinez sich zusammen. Er wusste, dass er unbedingt antworten musste. »Es geht um Chile«, sagte er mit schwacher Stimme. »Mein Vaterland steht am Abgrund.«
Das Wesen kam weiter auf Martinez zu. Einem Meter vor ihm blieb es stehen. »Was hat das mit Dorian Hunter zu tun?« Martinez wurde übel, denn aus dem Mund des Unheimlichen entwich der Gestank von Fäkalien. Er hustete kurz und beeilte sich zu antworten. »Ich habe ihn für Euch gefangen nehmen lassen. Als Anerkennung erhoffte ich Hilfe für meine Heimat.« Zum ersten Mal zeigte sich eine Regung in der Fratze des Dämons. Er zog seine geschwungenen Augenbrauen nach oben und öffnete seine schmalen Lippen. Zwei Reihen langer, spitzer Zähne wurden sichtbar. Ein heiseres Lachen hallte durch die Grotte. Martinez wusste jetzt, das er von diesem Wesen keine Unterstützung zu erwarten hatte. Er würde froh sein können, wenn dieses Ungetüm ihn am Leben ließ. Das Lachen erstarb. »Warum hast du Hunter nicht an uns ausgeliefert?« Der Dämon sprach wieder, ohne die Lippen zu bewegen. »Ich habe mich mit schwarzer Magie beschäftigt, meine Beschwörungen wurden aber nicht erhört.« Der Dämon hob eine Hand. Die Finger hatten lange, gekrümmte Nägel, und Martinez stellte mit Abscheu fest, dass auf ihnen unzählige winzige Käfer krabbelten. Mit der rasiermesserscharfen Kralle seines Zeigefingers streifte der Dämon über Martinez’ linken Ärmel. Der Stoff von Jacke und Hemd fiel auseinander. Martinez wagte es nicht, zurückzuweichen, denn die weiße Kugel schwebte drohend über ihm. Blitzschnell stieß der Dämon zu und seine schwarzen Fingernägel drangen millimetertief in den Arm von Carlos Martinez ein. Ein halbes Dutzend der schwarz-glänzenden Käfer, die sich auf den Klauen des Dämons befanden, setzte sich in Bewegung. Vor Entsetzen gelähmt beobachtete Martinez, wie die Insekten in ihn eindrangen. Deutlich sichtbar wölbte sich die Haut an den Stellen, unter denen sie entlang krabbelten. Der Dämon zog seine Hand zurück und schwebte, begleitet von dem weißen Ball, wieder zum Ausgang der Höhle. »Fühle dich geehrt: Du bist auserwählt, Zakum einen Dienst zu erweisen!« »Nein! Nimm sie weg! Nimm die Viecher weg, du verdammtes Monster!« Martinez hatte sich von der Starre befreit, und in seiner Panik wagte er es, dem Dämon fluchend hinterher zu schreien. Die Käfer setzten ihren Weg unter Martinez’ Haut indessen unbeirrt fort. Sie krochen hinauf zur Schulter, um dort weiter ins Fleisch einzudringen und schließlich in den Tiefen des Körpers zu verschwinden. »Vollbringe für mich die letzte Tat deines Lebens - und dann fahr zur Hölle!«, lachte Zakum und verließ die Höhle. *** Roger Powell, Trevor Sullivan, Martha Pickford und Phillip Hayward standen in der Halle der Jugendstilvilla. Es war bereits spät am Abend.
»Mr. Powell, legen Sie doch ab und kommen Sie herein!« Martha Pickford wies mit der
Hand zum Wohnzimmer. »Ich serviere Ihnen einen Brandy.«
»Danke, Ma’am, aber ich habe leider wirklich keine Zeit mehr.« Roger Powell setzte sich
seinen Hut bereits wieder auf.
»Trevor erzählte mir am Telefon, was Sie für uns getan haben. Ich lasse Sie nur unter Protest gehen!« Miss Pickford faltete die Hände ineinander. Sie hatte Tränen in den Augen. »Wenn Sie einverstanden sind, komme ich ein anderes Mal auf die Einladung zurück.» Er
schaute in die Runde. «Passt gut auf euch auf!»
»Versprochen«, sagte Sullivan. »Und du vergisst Coco und Dorian nicht?«
»Natürlich nicht«, antwortete Roger. »Der Service tut alles, um die beiden zu finden.«
Dann verließ er die Jugendstilvilla.
Martha Pickford wandte sich Trevor zu. »Aber Sie, Sir, Sie möchten bestimmt etwas
trinken?«
Trevor antwortete nicht. Er beobachtete Phillip, der mit entrückt wirkendem Gesicht seinen Mantel zu Boden fallen ließ und sich ins Wohnzimmer begab. Ohne zu Zögern ging er auf eines der Bücherregale zu und nahm sich einen Atlanten heraus. Es war ein großes, in Leder gebundenes Buch. Trevor und Martha, die Phillip gefolgt waren, sahen, wie er mit leerem Blick in dem Werk blätterte. Mit einem Ruck riss Phillip plötzlich eine Seite heraus, hielt sie sich vor das Gesicht und lächelte verklärt. Den Atlanten ließ er fallen. »Das schöne Buch!«, war das einzige, was Miss Pickford dazu einfiel.
Im Zimmer roch es auf einmal nach Ozon und um Phillip herum flimmerte die Luft.
Es zischte und das Papier in Phillips Hand stand in Flammen. Das Feuer spiegelte sich in
seinen goldenen Augen.
Miss Pickford wollte sich auf Phillip stürzen, doch Trevor Sullivan hielt sie zurück: »Lassen
Sie ihn! Er weiß genau, was er tut!«
»Aber er wird sich die Hand verbrennen!« Martha Pickford war aufgebracht.
»Ich sagte Ihnen doch: Er weiß was er tut! Ihm wird nichts passieren.«
Die Asche sank zu Boden. Phillip öffnete seine bleiche Faust. Ein schwarz umrandetes
Stück Papier kam zum Vorschein.
»Sehen Sie, es ist, wie ich gesagt habe: Seine Hände sind unversehrt!« Trevor nahm ihm
das übrig gebliebene Papier aus der Hand.
Miss Pickford runzelte die Stirn. »Das wird ein Hinweis sein.«
»Sehr scharfsinnig.« Trevor Sullivan schaute sich den Überrest genauer an. »Hier ist Santiago eingezeichnet, die Hauptstadt Chiles.« »Hinfahren«, flüsterte Phillip. »Hättest du uns das nicht weniger dramatisch mitteilen können?«, fragte Miss Pickford vorwurfsvoll. Sie blickte auf die Asche am Boden und verschwand, um den Staubsauger zu holen. Phillip setzte sich auf die Couch und schloss die Augen. »Die eine putzt, der andere meditiert«, stellte Sullivan fest. »Und ich kann zusehen, wie wir nach Südamerika kommen.« Er nahm sich das Telefon, um das Notwendige in die Wege zu leiten. *** Schon in den Morgenstunden lag eine Dunstglocke aus Autoabgasen über der chilenischen Hauptstadt. Durch die Straßen quälte sich der zähflüssige Berufsverkehr, auf dem Prachtboulevard La Alamada war kaum ein Durchkommen. Im Restaurant Bueno Vista, das sich im fünfzehnten Stock eines Hochhauses befand, war der Straßenlärm nur gedämpft zu hören. Miguel Gaertner schaute mit dunkel umschatteten Augen aus einem großen Panoramafenster, während der Kellner ihm ein Mineralwasser servierte. Normalerweise reichte der Blick bis zu den Gebirgsketten der Anden, doch heute mussten sich die Besucher des Bueno Vista mit der Sicht auf die Nachbarhäuser und dem unter ihnen liegenden Verkehrschaos begnügen. »Sie sehen müde aus, Miguel! Sind Sie überarbeitet oder haben Sie einfach nur schlecht geschlafen?» Der grobschlächtige Mann, mit dem sich Gaertner den Tisch teilte, verzehrte bereits zum Frühstück ein riesiges Steak. Er drückte mit der Gabel auf das Fleisch, bis aus den Seiten das Blut hervorquoll, schnitt sich ein großes Stück ab und stopfte es sich in den Mund. »Professor Martinez wollte mich gestern Abend sprechen. Ich bin spät ins Bett gekommen«, antwortete Miguel Gaertner. Er aß nichts, sondern hatte nur das Mineralwasser bestellt. Sein Gegenüber legte das Besteck beiseite und lehnte sich zurück. »Wissen Sie, Miguel, ich habe diese leidige Entführung, die Professor Martinez durchgesetzt hat, von Anfang an für Unfug gehalten.« Gaertner räusperte sich. »Commodore, ich hatte bereits am Telefon angedeutet, dass es zu gewissen Problemen gekommen ist...« »...und deswegen haben wir uns hier getroffen. Also erzählen Sie!« Der Commodore bestrich sein Steak mit Chimichuri-Sauce und aß weiter. »Hunter war gesundheitlich angegriffen. Die vielen Narkotika machten ihm zu schaffen.« »Weiter!« Der Commodore sah seinen Untergebenen nicht an, sondern beschäftige sich
mit dem Steak. »Er bekam hohes Fieber, sein Gesamtzustand wirkte bedrohlich«, fuhr Gaertner fort. »Ich habe einen angehenden Mediziner in Monte Plata ausfindig gemacht - sein Name ist Rodriguez Ruiz. Es gelang ihm, den Gesundheitszustand unseres Gefangenen zu stabilisieren. Hunter ist aber noch sehr schwach. Ich habe diesen Ruiz deshalb bei ihm gelassen.« »Es sollten keine Außenstehenden in die Sache einbezogen werden!« Der Commodore klang nicht wütend, aber bestimmt. »Es blieb mir nichts anderes übrig, ich musste eine schnelle Entscheidung treffen. Oder hätte ich ihn sterben lassen sollen?» Der Commodore hob die Schultern. »Dieser Hunter ist ein merkwürdiger Zeitgenosse. Wahrscheinlich würden sich nicht einmal seine Freunde wundern, wenn er plötzlich verschwindet. Allerdings ist er Brite. Chiles Ruf wird nicht besser, wenn es in den Verdacht kommt, den Tod eines Engländers verschuldet zu haben. Ihre Entscheidung war also nicht verkehrt.« Er hatte seine Mahlzeit beendet und wandte sich nun einem Bier zu. »Was ist mit diesem Ruiz - wie viel weiß er?« »Eigentlich nichts. Ich habe ihm auch untersagt, mit Hunter zu sprechen.« »Gut. Was schlagen Sie nun vor?«, fragte der Commodore. »Ich gebe Hunter eine Injektion, die ihn sehr müde aber nicht bewusstlos machen wird. Dann bringe ich ihn nach Santiago und lasse ihn in einer unbelebten Straße frei.« Der Commodore nickte. »Sobald er wieder klarer im Kopf ist, kann er sich an seine Botschaft wenden und Chile verlassen. Ich glaube kaum, dass er uns danach Schwierigkeiten machen wird.» »Ein Problem gibt es aber noch. Professor Martinez und seine politischen Freunde. Sie werden es nicht so einfach hinnehmen, dass wir ihre Pläne durchkreuzen.« Der Commodore winkte ab. »Mit denen werde ich fertig. Diese Phantasten wollen das Ende der Junta aufhalten, indem sie Schreckgespenster herbeirufen. Auf solche Verrücktheiten dürfen wir uns nicht mehr einlassen.« Er erhob sich. »Miguel, schaffen Sie uns Dorian Hunter vom Hals!« *** Ich saß in einer großen Flugmaschine und blickte aus einem kreisrunden Fenster. Die Sonne schien gleißend hell herein, blendete mich aber nicht. Fasziniert betrachtete ich die gewaltigen Wolken, die unter mir vorbei zogen. »Du wirst dir die Augen verderben, wenn du dauernd in die Sonne blickst, Phillip!« Der alte Mann zog einen Vorhang vor das Fenster und lehnte sich wieder in seinen Sitz zurück. »Versuche ein wenig auszuruhen, bevor wir landen!«
Ich schloss die Augen und dachte an die Ereignisse der letzten Zeit. Bis gestern war es mir unmöglich gewesen, meine geistigen Sinne auf den Jäger zu richten. Doch dann hatte ich gespürt, dass sich ein Hinweis auf ihn in einem Buch verbarg. Ich fand dieses Buch, aber die Seiten waren bunt und verwirrend, sie sagten mir nichts. Plötzlich ergriff eine starke Hitze Besitz von mir - die Seite, die ich vor mir hatte, war die Richtige! Ich riss sie heraus, die Hitze übertrug sich auf das Blatt, und ohne mein Zutun fing es Feuer. Nur ein kleines Stück Papier, das ich mit meiner Hand geschützt hatte, war übrig geblieben. Der alte Mann wusste daraufhin, was zu tun war. Er bereitete für uns beide eine Reise vor. Die seltsame Frau hatte mich zum Abschied gedrückt und geküsst. Ich ließ alles über mich ergehen. Seit Stunden saß ich nun in dieser Flugmaschine. Da mir der alte Mann den Blick aus dem Fenster verwehrt hatte, steigerte ich meine Aufmerksamkeit, um sonst unsichtbare Geschehnisse und Wahrheiten meiner Umgebung wahrzunehmen. Die Stimmen, Gedanken und Gefühle der Zweihundertsechsundvierzig Menschen um mich herum drangen in meinen Geist. Ich wurde aus meinen Betrachtungen geweckt, als eine Frau erschien und mich fragte, was ich trinken wolle. Mein Blick fiel sofort auf ihren Unterleib - etwas stimmte dort ganz und gar nicht. In der Frau wuchs etwas Bösartiges, etwas Krankes. Es war noch nicht sehr lange dort, aber es vergrößerte sich sehr, sehr schnell und bildete laufend Ableger. Ich hatte nie zuvor eine Geschwulst mit einer so bösen Ausstrahlung gespürt. In nicht allzu ferner Zeit würde die Frau daran sterben. Ich konzentrierte mich auf die gesamte heilsame Kraft, die ich aufbringen konnte. Ich bündelte sie und leitete sie in meine rechte Hand. Mir wurde schwindlig und mein Herz schlug schwächer, aber die Energie wurde stark genug, um das bösartige Geschwür für immer zu beseitigen. Ich beugte mich an dem schlafenden alten Mann vorbei, schob das Kleid der Frau nach oben und wollte ihre Haut berühren. Doch die Frau schrie auf und schlug mir ins Gesicht. Sie machte einen Schritt nach hinten, so dass ich keinen Körperkontakt herstellen konnte. Die Kraft in meiner Hand verlor sich teils im Raum, teils floss sie wieder in meinen Körper. »Vielleicht gelingt es nie wieder«, sagte ich traurig. »Nein! Das wird Ihnen nie, nie wieder gelingen. Außerdem werde ich Anzeige erstatten!« Die Frau rannte wütend davon. *** Der Klima-Unterschied zwischen London und Santiago de Chile bereitete Trevor Sullivan einige Schwierigkeiten; er war völlig durchgeschwitzt und atmete schwer. Zum Glück war es erst Vormittag und noch nicht zu warm. Sullivan hatte nur eine kleine Reisetasche mitgenommen, so dass auch das Gepäck keine besondere Belastung darstellte. Während der Pass- und Zollkontrolle hatte sich Phillip ruhig verhalten, jetzt stand er neben Trevor in der Flughafenhalle und blickte sich aufmerksam um. Den Zwischenfall mit der Stewardess konnte sich Trevor nicht erklären. Seines Wissens hatte Phillip bisher keine sexuellen Bedürfnisse gezeigt, abgesehen davon war er ein äußerst einfühlsames Wesen, das nicht mit Gewalt versuchen würde, Kontakt zu einer Frau zu bekommen.
Sicher hatte ein Missverständnis vorgelegen. Die Stewardess hatte auf eine Anzeige verzichtet, da Trevor behauptet hatte, dass Phillip geistig verwirrt sei. Sullivan war froh, das es keinen weiteren Ärger gab. Trevor und Phillip setzten sich in das Flughafenrestaurant. Trevor bestellte ein kleines Frühstück, und während sie aßen, schauten die beiden durch ein Panoramafenster. In ihrem Blickfeld lag auch ein Hangar, vor dem mehrere große und kleine Flugzeuge gecheckt oder aufgetankt wurden. Trevor wusste noch nicht, wie es weitergehen sollte. Er hatte alles auf die Trumpfkarte Phillip gesetzt, und der hatte ihn nach Südamerika geführt. Phillip war hungrig und nahm sich ein zweites Croissant. Neugierig betrachtete er beim Essen die Geschehnisse auf dem Flugplatz. Seine Augenbrauen hoben sich - er hatte am Hangar etwas Interessantes entdeckt. »Da!«, flüsterte er. Vor Aufregung ließ er das Croissant auf den Teller zurückfallen. »Mitfliegen! Da!« Phillips Hand zeigte auf ein knallbunt gestrichenes Propellerflugzeug, das gerade aufgetankt wurde. Trevor blickte auf die kleine Maschine und sah sich dann im Restaurant um. Am Nebentisch saß ein Mann in Kapitänsuniform, der sich angeregt mit einer Stewardess unterhielt. »Entschuldigung, Sir, können Sie mir sagen, wem dieses bunte Privatflugzeug gehört?« Er sprach den Uniformierten an und wies zum Fenster. Der Mann blickte hinaus. »Si, Senor! Der Besitzer heißt Pepe Mancini. Er ist ein wenig verrückt, aber ein zuverlässiger Pilot. Wollen Sie mit ihm fliegen?« »Ja, wir wollen!«, sagte Trevor. »Nennen Sie Mancinis Namen am Hauptschalter! Dort wird man Ihnen weiterhelfen. Guten Flug, Senores!« Wenig später standen Trevor und Phillip neben dem bunten Luftgefährt. »Sie wissen nicht genau, wohin Sie wollen? Gefällt mir! Wird trotzdem nicht billig.« Pepe, ein Mittfünfziger mit aufgequollenem Tequilagesicht, Stoppelbart und Halbglatze, grinste. Sein Englisch war nur bei genauem Hinhören zu verstehen. »Wir sind gerade aus London angekommen. Während des Fluges werden Sie schon erfahren, wohin wir wollen«, sagte Trevor. »Aus England kommen Sie? Vierhundert Pfund müssen Sie schon hinlegen, damit ich mich auf so eine Sache einlasse.« Pepe zeigte sich als hartnäckiger Verhandlungspartner. Trevor, der zusammenhalten wollte, gelang es aber, den Chilenen herunterzuhandeln.
das
Geld
Schließlich saßen die Drei in dem Flugzeug und warteten auf die Starterlaubnis. »Wer von euch verrät mir, wohin es geht?«, fragte Pepe. »Ich«, antwortete Phillip. Während des Fluges zeigte sich, dass er genau wusste, was er
wollte. *** Als Professor Carlos Martinez erwachte, war seine Zunge wie ausgetrocknet. Eine halbe Flasche Mineralwasser, die neben seinem Bett stand, trank er in einem Zug leer. Als er aufstand, jagte ein stechender Schmerz durch seinen rechten Fuß. Stöhnend besah er sich die Stelle - die Haut war blaurot angelaufen. Mit dem gesunden Bein hüpfte Martinez zum Fenster und öffnete es. Frische Morgenluft kam herein. Unten sah er den siebzigjährigen Jose Montalban, der dabei war, die Rollläden seines Zeitungsladens hochzukurbeln. Jose schaute zu Martinez auf und entbot ihm lachend einen militärischen Gruß. »Alter Schwachkopf!«, schimpfte Martinez, ohne den Gruß zu erwidern. Er humpelte ins Badezimmer und setzte sich auf die Toilette. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, dass es kurz nach Sieben war. Er hatte es zwar nicht nötig, zu einer bestimmten Zeit zum Dienst zu erscheinen, doch er plante, möglichst früh beim Commodore vorzusprechen. Martinez hatte Schwierigkeiten, den Blick von seiner Uhr abzuwenden. Die Zeiger schienen plötzlich zu kreisen, gleichzeitig zu verschwimmen, um schließlich klar und deutlich bei drei Uhr stehenzubleiben. Gaertner und der Commodore waren auf einmal unwichtig. Die Uhrzeit, die Martinez vor sich hatte, war wichtig. »Bis um drei Uhr mittags muss alles erledigt sein«, flüsterte Martinez. Er nickte mit dem Kopf und lächelte leicht, so als hätte er eine Anordnung bekommen, die er bestätigte. Er zog den Klöppel der Wasserspülung. Vorsichtig, das schmerzende Bein möglichst wenig belastend, ging er zum Handwaschbecken. Im Spiegel besah er sein übernächtigt wirkendes Gesicht. Die Augen waren geschwollen und zudem blutunterlaufen. Er drehte den Hahn auf und erfrischte sich. Drei Uhr. Während er sich das Gesicht abtrocknete, dachte er nochmals an diese Zeit. Schon konnte er sich nicht mehr entsinnen, was es damit auf sich hatte. Ein Termin? Ihm fiel einfach nicht ein, was er bis drei Uhr erledigen wollte. Er zog sich an und bereitete in der Küche einen Kaffee zu. Hoffentlich bringt der mein Gedächtnis in Schwung, dachte er. Was war überhaupt los mit seinem Erinnerungsvermögen? Gestern war er im Fahrstuhl des Polizeigebäudes aufgewacht. Offensichtlich war er in dem Lift ohnmächtig geworden. Doch er hatte keine Ahnung, wie er dort hineingekommen war. Das Letzte, an das er sich erinnerte, war sein unbefriedigendes Gespräch mit Miguel Gaertner. Aber was war bis zu seinem Erwachen im Fahrstuhl passiert? Martinez fühlte sich, als wäre ein Teil seines Gedächtnisses entnommen worden, als fehle ein Stück seines Gehirns. Vielleicht fällt es mir ja wieder ein, versuchte er sich zu beruhigen. Hauptsache, bis drei Uhr ist alles erledigt.
*** Zakum saß im verdunkelten Wohnzimmer des Munante-Hauses, das sich in einem vornehmen Villenviertel am Rande Santiagos befand. Er hatte die schweren, weinroten Vorhänge vor die Fenster gezogen. Nur durch einen engen Spalt fiel etwas Sonnenlicht in den verstaubten Raum. Das Pendel der großen Wanduhr schwang fast lautlos hin und her, die Geräusche der Straße drangen nur gedämpft in das Zimmer. Der Dämon empfand die düstere, ruhige Atmosphäre als angenehm. Er hatte es sich im Sessel einer wuchtigen Ledergarnitur gemütlich gemacht. Der Blick seiner leuchtenden Augen richtete sich auf eine Kristallkugel, die vor ihm auf dem breiten Marmortisch stand. Darin war Carlos Martinez zu erkennen. Zakum beobachtete, wie der von ihm Beeinflusste einen Revolver einsteckte und die Wohnung verließ. Das magische Auge, welches bei Martinez weilte und das Bild zu Zakums Kugel übermittelte, setzte sich wie selbstverständlich in Bewegung, um den Menschen, auf den es angesetzt war, zu verfolgen. Zakum interessierte das weitere Geschehen zunächst nicht - er machte eine Handbewegung und das Bild in der Kristallkugel erlosch. Zufrieden erhob sich der Stellvertreter des Fürsten der Finsternis. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Martinez den dämonischen Befehl zufriedenstellend ausführen würde. Zakum sah sich in dem altmodisch eingerichteten Wohnzimmer um. Sämtliche Bücher hatte er aus den Regalen geworfen, alle Schränke und Schubladen durchsucht. Als Archivar der Schwarzen Familie war es Zakums Recht und sogar seine Pflicht zu überprüfen, ob es etwas im Nachlass der Munantes gab, das der Familie zum Vorteil gereichen könnte. Die Munantes waren immerhin die mächtigste Dämonensippe in Südamerika gewesen. Doch vor einiger Zeit ließen sie sich von Dorian Hunter und dessen Erfüllungsgehilfen übertölpeln und umbringen. Nun würde Hunter bezahlen. Nicht, dass die Munantes Zakum etwas bedeutet hätten. Es waren die ständigen Angriffe des Dämonenkillers auf die Schwarze Familie, die ein Ende finden mussten. Im Vorraum blieb der Dunkle Archivar vor einer schweren Eichentür stehen. Er öffnete sie, ohne sie zu berühren. Vor ihm lag eine steinerne Treppe, die zu einer Grotte hinab führte. Zakum stieg hinunter und blieb im Dämmerlicht der Höhle stehen. Genüsslich sog er die modrige Luft ein. Er hatte tatsächlich etwas Ungewöhnliches in der Munante-Villa entdeckt: Hier unten, versteckt unter den Steinplatten des Höhlenbodens, hatte er eine Schriftrolle gefunden. In der alten Sprache der Dämonen wurden darin Beschwörungen beschrieben, von denen selbst Zakum nie zuvor gehört hatte. Die Mehrzahl der Rituale erforderten Unmengen menschlichen Blutes. Solche Mengen ließen sich nicht kurzfristig beschaffen, ohne Aufsehen zu erregen. Doch eine Beschwörung hatte Zakum am Vortag erfolgreich durchgeführt: Das Ritual des Bluttunnels. Es war ihm durch diese Magie gelungen, Carlos Martinez auf magische Weise zu sich zu holen. Martinez war dabei vor Zakums Augen aus einer schwarzen Fläche aufgetaucht. Durch diese Beschwörung würde es sich auch problemlos bewerkstelligen lassen, Dorian
Hunter in das Munante-Haus zu holen. Momentan verschanzte sich Hunter in einem weißmagischen Kreis und war für Zakum nicht fassbar. Aber heute noch würde Carlos Martinez die Mühlenruine aufsuchen, um ihn aus dem Kreis zu vertreiben. Was Zakum mit magischen Mitteln nicht zu verrichten mochte, würde Martinez mit roher Gewalt gelingen. Dem Transport durch den Bluttunnel würde dann nichts mehr im Wege stehen. Hier in dieser Höhle würde Dorian Hunter erscheinen um sogleich vernichtet zu werden. Der sogenannte Dämonenkiller wird vor Zeugen durch meine Hand sterben, freute sich Zakum. Er stieg die Treppe hinauf und begab sich wieder zur Kristallkugel. Mit seinen spindeldürren Fingern malte er einige Zeichen in die Luft. Die Kugel begann von innen heraus zu leuchten. Verzerrte Fratzen, von Nebel umhüllt, erschienen und verschwanden wieder. Dann zeigte die Kugel nur noch ein Gesicht: Das von Saltus, dem menschlichen Diener des Dämons. »Womit kann ich Euch dienen, Herr?« »Bestelle für heute Vertreter der wichtigsten Sippen in die Munante-Villa! Sie sollen um Punkt drei Uhr hiesiger Zeit erscheinen. Ich werde das Dämonentor aktivieren.« »Wie Ihr wünscht«, antwortete Saltus. Das Gesicht verschwand wieder. Zakum war zufrieden. Sein Ansehen in der Schwarzen Familie würde durch Hunters Tod erheblich steigen. Der weiße Ball, der am Tag zuvor Professor Carlos Martinez angegriffen hatte, und der sich bis jetzt in einem dunklen Winkel des Zimmer verborgen hatte, schoss heran. Er umkreiste Zakum in offensichtlicher Freude. Es war ein Helfer aus belebtem Plasma, den sich der Dämon vor einiger Zeit erschaffen hatte. »Weißt du, mein Freund«, sagte Zakum zu ihm, »vielleicht wird man sogar zu der Ansicht kommen, dass ich der Fürst der Finsternis sein sollte!« *** Carlos Martinez saß unbequem auf dem abgenutzten Fahrersitz seines alten VW-Käfers. Der Wagen war eigentlich nicht mehr verkehrssicher. Diese Tour würde den Zustand des Fahrzeugs auch nicht verbessern, denn die Straße in Richtung Monte Plata war uneben, die Schlaglöcher dicht gesät. Achsen und Federung des Autos wurden bis auf das Äußerste in Anspruch genommen. Es war ein heißer Tag. Obwohl die Fenster heruntergekurbelt waren, kletterte das Innenthermometer auf über dreißig Grad. Das schwache Frischluftgebläse brachte nur wenig Abkühlung für Martinez, dessen Haare in nassen Strähnen herunterhingen. Vor der Abfahrt hatte er zwei starke Schmerztabletten eingenommen, sein verletzter Fuß pochte nur noch dumpf. Seitdem Martinez im Auto saß, versuchte er vergeblich, seine Gedächtnislücke vom Vortag zu schließen. Ihm war nicht klar, warum er diese anstrengende Fahrt nach Monte Plata auf sich nahm. Sein »Projekt Dorian Hunter« war gescheitert, das konnte er nicht mehr ändern.. Doch Martinez wollte sich den Engländer
jetzt selbst ansehen - vielleicht konnte er noch etwas aus dem Mann herausbekommen. Er zweifelte jedoch ein wenig daran, dass dies der wirkliche Grund für die Fahrt war. Trieb ihn nicht etwas anderes an? Martinez hatte das Gefühl, unter Zeitdruck zu stehen: Drei Uhr mittags, dann musste alles erledigt sein! Aber was? Er würde es zur rechten Zeit wissen. Dieser Gedanke beruhigte Martinez und er drückte das Gaspedal durch. Nach und nach wurde der VW schneller. Hinten klapperte die Motorhaube, die sich seit einiger Zeit nicht mehr richtig schließen ließ und deshalb mit einem Stück Draht gesichert war. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Es war kaum etwas zu erkennen, denn der VW zog einen gewaltigen Schweif aus Staub hinter sich her. Martinez nahm sich eine Getränkedose aus der Sporttasche, die auf dem Beifahrersitz stand. Das Mineralwasser war bereits warm, löschte aber den Durst. Plötzlich wurde der Wagen in voller Härte von einem Schlagloch erwischt. Die Dose fiel Martinez aus der Hand und landete auf den Boden, wo sie langsam auslief. Der Motor ratterte noch für einige Sekunden, setzte kurz aus, um dann ganz abzusterben. Martinez schaltete in den Leerlauf und ließ den Wagen ausrollen. Als das Fahrzeug zum Stillstand gekommen war, drehte er den Zündschlüssel mehrmals hin und her, aber der Motor sprang nicht mehr an. Fluchend stieg Martinez aus, wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß aus dem Gesicht und öffnete die Motorhaube. Mit Engelsgeduld prüfte er die Teile, von denen er halbwegs etwas verstand. Doch nach einer Viertelstunde gestand er sich ein, dass der Wagen nur in einer Werkstatt wieder zum Laufen gebracht werden konnte. Bohrender Kopfschmerzen erinnerten ihn an Monte Plata, an Dorian Hunter. Die Zeit wurde knapp. Ein Blick auf den Kilometerzähler zeigte, dass es bis zur Ruine noch mindestens zehn Kilometer sein würden. Für einen Mann mit verletztem Fuß und bei diesem Wetter eine ganz schöne Zumutung. Er überprüfte den Inhalt seiner kleinen Sporttasche: Schlüssel, Papiere, Dienstrevolver, eine letzte Dose Mineralwasser. Er hängte sich die Tasche um und machte sich auf den Weg. *** Eine halbe Stunde lief er auf der einsamen Landstraße entlang, ohne einem Menschen oder Auto zu begegnen. Links und rechts des Weges lagen ausgedehnte, brachliegende Felder. Die Sonne brannte gnadenlos auf den humpelnden Martinez nieder. Es schien ihm schon eine Gewissheit zu sein, dass er sein Ziel nicht mehr rechtzeitig erreichen würde, bis er doch noch Motorenlärm hörte. In der flimmernden Hitze ließen sich die Umrisse eines großen Omnibusses erkennen. Das Fahrzeug kam näher, wurde langsamer und blieb mit offener Fahrertür neben Martinez stehen. »Ich habe vor einigen Kilometern ein Auto am Straßenrand gesehen. War wohl Ihres? Wollen Sie mit nach Monte Plata?« Der Fahrer, der kein anderer war als Alfonso Ruiz, der Vater von Rodriguez, grinste breit und freundlich. Ohne zu antworten stieg Martinez in den Bus und legte eine Banknote auf die Kasse. »Im Dorf wohnt ein Mann namens Diego Lopez«, sagte Alfonso und wechselte den Geldschein. »Er kennt sich mit Autos aus. Vielleicht kann er Ihren Wagen reparieren oder wenigstens abschleppen.« Kommentarlos steckte Martinez das Wechselgeld ein und blickte auf die Sitzreihen. Im
Bus befanden sich nur vier Passagiere. In der Mitte saß eine junge Frau, auf ihrem Schoß schlief ein Kleinkind. Dahinter hatte ein alter grauhaariger Mann Platz genommen, zu seinen Füßen stand ein Korb mit apathischen Hühnerküken. In der Nähe des Fahrers saß ein junger Spund, vielleicht siebzehn Jahre alt, der den Zugestiegenen mit stechenden Augen fixierte. Martinez ignorierte die Blicke, stellte seine Tasche ab und setzte sich. »Undankbarer Hund!«, flüsterte Alfonso Ruiz, verärgert darüber, keine Antwort erhalten zu haben, und ließ den Bus wieder anfahren. Die Wirkung der Tabletten, die Martinez am Morgen genommen hatte, ließ immer mehr nach. Die Verletzung an seinem Fuß machte sich nun äußerst unangenehm bemerkbar. *** Zakum sah auf seine Kristallkugel. Er hatte Martinez’ Autopanne und Einstieg in den Bus verfolgt. Es lief nicht wie geplant, aber der Handlanger würde rechtzeitig bei Dorian Hunter sein, dafür war gesorgt. Das Bild in der Kugel erlosch. Für Zakum war es an der Zeit, sich in die Grotte unterhalb des Hauses zu begeben, in der das Dämonentor bereits aktiviert war. Auf der Welt gab es Dutzende solcher Tore, die von den Mitgliedern der Schwarzen Familie zur schnelleren Fortbewegung genutzt wurden. Bald würden die eingeladenen Dämonen im Munante-Haus erscheinen. Zakum hatte vor, ihnen die Beschwörung des Bluttunnels vorführen. Er hielt diese Magie für so beeindruckend, dass er sich des Beifalls seiner Artgenossen sicher war. Zwar gab es mit den Dämonentoren bereits die Möglichkeit, Raum und Zeit zu überwinden, aber Ausgangsort und Ziel musste in langwierigen Ritualen festgelegt werden. Durch den Bluttunnel jedoch war es kein Problem, jedes beliebige Wesen, auf das man sich konzentrierte, zu sich kommen zu lassen. Damit hatte die Schwarze Familie gegenüber Feinden einen unschätzbaren Vorteil: Jedes Wesen konnte, ohne sich dagegen wehren zu können, in die tödlichen Fänge der Dämonen gebracht werden. Hinter Zakum raschelte es. Der Dämon drehte sich um. Auf der Treppe erschien Saltus, sein Lakai. Der hochgewachsene, bleiche Mann schleppte einen merkwürdigen Behälter. »Die Blutfässer! Sehr gut!«, lobte der Dunkle Archivar sein Faktotum. »Ohne den Lebenssaft von Sterblichen würde es heute keine Vorstellung geben.« Saltus nahm das Lob seines Herrn und Meisters dankbar auf. Er setzte seine Last auf vor einer höher gelegenen Felsplatte ab, die offensichtlich als Podium für die Vorstellung dienen sollte. Zakum schwebte herbei. »Schon oft haben Dummköpfe aus der Familie versucht, den sogenannten Dämonenkiller zu vernichten. Weil sie aber ein großes Aufheben daraus machten, konnte er stets Gelegenheiten zur Flucht finden. Heute jedoch wird es kein pompöses Drumherum geben. Ich werde Hunter durch den Bluttunnel kommen lassen und ihn sofort töten!« Saltus verließ die Grotte, um weitere Fässer herbeizuholen. Das Dämonentor begann zu knistern. Die ersten Gäste trafen ein.
*** Miguel Gaertner steuerte den Isuzu-Trooper über die unwegsame Straße nach Monte Plata. Wie er hoffte, zum letzten Mal. Er konnte sich vorstellen, dass der Commodore ihm bald andere, wichtigere Aufträge erteilen würde. Er dachte über das Gespräch im Bueno Vista nach und grinste. Es war ihm gelungen, die Misshandlung Dorian Hunters zu verbergen und er hatte sich gegenüber Professor Martinez durchgesetzt. Ein schöner Erfolg. Er bremste den Isuzu ab. Rund hundert Meter vor ihm stand am Straßenrand ein VWKäfer. Gaertner stieg aus, um sich das abgestellte Auto genauer anzuschauen. Der Wagen hatte offensichtlich eine Panne gehabt und der Fahrer hatte ihn unverschlossen zurückgelassen. Miguel öffnete das Fahrzeug und durchsuchte das Handschuhfach. »Ich wusste doch, dass ich die alte Kiste schon einmal gesehen habe«, sagte er zu sich selbst. In den Händen hielt er eine zerfledderte Versicherungskarte, die auf Carlos Martinez ausgestellt war. Das Papier warf er achtlos beiseite und ging um den Wagen herum. Er stellte fest, dass der Motor noch heiß war. Weit konnte Professor Martinez also noch nicht sein. Miguel schwang sich wieder in seinen Jeep. Er konnte sich denken, dass Martinez auf dem Weg zur Mühlenruine war - zu Hunter. Was wollte er von dem Engländer? Gaertner startete den Isuzu und gab Gas. Er wollte sich von Martinez nicht die Pläne durchkreuzen lassen. *** Der Linienbus hatte Monte Plata erreicht. Zischend schoben sich die automatischen Türen auf. Alfonso Ruiz wollte sich erheben, doch Carlos Martinez baute sich vor ihm auf. Ruiz erschrak, als er den Mann vor sich sah. Martinez grinste dümmlich, während ihm schmale Rinnsale hellroten Blutes aus der Nase liefen. Mehr noch erschrak Ruiz, als er den Revolver erblickte. Martinez zielte auf ihn. »Mach die Türen wieder zu!« »Kein Problem, Senor!« Dicke Schweißtropfen standen auf Alfonso Ruiz’ Stirn. Er hatte erkannt, dass der Mann vor ihm offensichtlich durchgedreht und zu allem fähig war. Alfonso betätigte einen Knopf und die Türen schlossen sich wieder. Martinez spürte die Verletzung in seinem Fuß immer heftiger, aber die Schmerzen störten ihn jetzt nicht mehr. Im Gegenteil, er unterdrückte ein Lachen, denn in seiner Nase und in seinem Kopf kitzelte es gewaltig. Dieses Kribbeln erinnerte ihn daran, was er um drei Uhr zu tun hatte. Schlagartig war ihm sein Auftrag klar geworden. In der Mühlenruine würde er seine Waffe auf Hunters Beine richten und abdrücken. Der Engländer würde blutend und schreiend am Boden liegen. Martinez traten bei dieser Vorstellung Tränen der Erheiterung in die Augen. »Ich ziehe ihn aus dem Kreis und Zakum wird sich Hunter holen«, sagte er zufrieden. »Damit ist meine Aufgabe erledigt.«
»Ich verstehe kein Wort!« Alfonso Ruiz umklammerte das Lenkrad des Busses. »Was wollen Sie eigentlich?« Martinez blickte für wenige Augenblicke ins Leere. Er war mit den Gedanken bei Zakum, der ihm neue Befehle erteilte. »Fahr zur Mühlenruine!«, forderte Martinez. Das Kribbeln in seinem Kopf wurde noch stärker. »Mühlenruine?« Alfonso Ruiz schaute zu seinen Passagieren.. Die beiden Männer und die Frau sahen gebannt nach vorne, das Kind schlief noch. »Du weißt genau, was ich meine!« Martinez entsicherte den Revolver. »OK, ich fahre Sie. Aber lassen Sie die Leute aussteigen!«, forderte Ruiz. Martinez leckte sich das Blut von der Oberlippe, das weiterhin unaufhörlich aus seiner Nase rann. »Nein, die brauche ich vielleicht noch. Los jetzt!« Ächzend setzte sich der Bus wieder in Bewegung. Hinten drückte die Frau ihr Kind fest an sich und der grauhaarige Mann umklammerte den Korb mit den Küken. Martinez setzte sich wieder. Das Kitzeln im Kopf wurde schmerzhaft und vor seinen Augen begann es sich langsam zu drehen. Der Blutstrom aus der Nase wurde stärker, vermischte sich jetzt mit einem weißlichen Schleim. Martinez wusste nicht, dass er innerlich zerfressen wurde, dass sein Gehirn sich auflöste und aus seiner Nase rann. Der Bus verließ die Dorfstraße. Alfonso Ruiz lenkte ihn auf den Feldweg, der zur Mühlenruine führte. Es war eigentlich schon ein Wunder, dass das Fahrzeug die Strecke nach Santiago stets so gut überstand. Dieser Weg jedoch würde den Omnibus über das Zumutbare hinaus beanspruchen. Dem alten Mann fiel der Korb aus der Hand, den halbtoten Küken entfuhren einige Piepser. Die Frau drückte ihr Kind verzweifelt an sich. Nach kurzer Zeit auf dem holprigen Weg gab der Bus ein metallisches Knirschen von sich. Martinez, der alles nur noch verschwommen wahrnahm, befürchtete den Bruch einer Achse, aber das Fahrzeug setzte seinen Weg fort. Immer wieder gelang es Alfonso Ruiz, sein Fahrzeug aus den tiefen Schlaglöchern freizufahren. In einer Wolke von Staub und umher schießenden Steinen wühlte sich das Gefährt seinem Ziel entgegen. Martinez machte den Eindruck eines stark Betrunkenen, er klammerte sich mit einer Hand an einen Sitz, mit der anderen hielt er den Revolver und zielte auf den Fahrer. Der junge Mann wartete lauernd auf eine Gelegenheit, die Waffe an sich zu bringen. Mit einem lauten Knall brach schließlich die Vorderachse, das Fahrzeug stellte sich quer und kam zum Stehen. Der alte Mann, die Frau und das Kind wurden kräftig durchgeschüttelt, konnten sich aber auf ihren Sitzen halten. Alfonso Ruiz und den jungen Mann riss es jedoch aus den Sitzen: Ruiz fiel die Treppe zur Vordertür hinunter, der junge Mann blieb rücklings auf dem Mittelgang liegen. Das Kind, das während des Unfalls vor Angst geschrien hatte, weinte jetzt, da es von der Mutter getröstet wurde, nur noch leise.
Carlos Martinez war mit dem Hinterkopf gegen eine Scheibe gestürzt. Das Glas wies an der Aufschlagstelle einen Sprung und einen kreisförmigen Blutfleck auf. Doch Martinez hatte mittlerweile einen Geisteszustand erreicht, bei dem er auch diesen Vorfall nur als Belustigung empfinden konnte. Er gluckste merkwürdig, während ihm weiterhin zähflüssige Gehirnmasse aus der Nase tropfte. Zakums Käfer vollendeten ihr zerstörerisches Werk schneller als der Dämon angenommen hatte. Draußen senkte sich der Staub und Martinez erkannte die Mühlenruine, die nicht mehr weit entfernt war. Er hatte das Gefühl, als sei er bereits viele Male an diesem Ort gewesen. Sein Auftrag kam ihm wieder in den Sinn und er wollte den Bus verlassen. Doch die Türen waren verschlossen. Martinez drehte sich zum Armaturenbrett um, konnte aber den richtigen Schalter nicht finden. Alfonso Ruiz, der vom Sturz noch benommen war, erhob sich wankend. Martinez richtete erneut die Waffe auf ihn. »Tür auf!«, befahl er und machte einen Schritt zur Seite, damit Alfonso Ruiz wieder hinter dem Lenkrad Platz nehmen konnte. Die Sonne schien unbarmherzig in das Innere des Busses. Jetzt, wo kein Fahrtwind mehr Kühlung brachte, war die Hitze kaum noch zu ertragen. Ein großer Schatten huschte über die Sitzreihen. Carlos Martinez sah aus dem Fenster. Er nahm etwas Buntes wahr: Eine kleine Propellermaschine flog vorbei. Der Pilot hatte offenbar vor, in der Nähe zu landen. Martinez’ Blick verharrte auf der Szenerie, er war unaufmerksam und übersah, dass sich blitzschnell jemand hinter ihm aufrichtete. Es war der junge Mann, der die ganze Zeit auf eine Gelegenheit zum Angriff gewartet hatte. Noch bevor sich Martinez rühren konnte, wurde seine Hand mitsamt der Waffe nach unten gedrückt. Gleichzeitig sprang Alfonso Ruiz von seinem Sitz auf und schlug Martinez die Faust ins Gesicht. Es knirschte, als die Nase des Professors brach. Die Frau mit ihrem Kind und der alte Mann verschanzten sich hinter den Sitzen. Der junge Mann umklammerte Martinez’ Oberkörper, während Alfonso die Waffe zu bekommen. Martinez machte große Augen und lachte irre Revolver weiter fest in der Hand. Nach kurzem Kampf stürzten die Drei Der entsicherte Revolver entlud sich. Der Knall war ohrenbetäubend. herrschte Stille, dann begann das Kind laut zu weinen.
Ruiz versuchte, - hielt aber den auf den Boden. Einen Moment
Der junge Mann atmete heftig. Entsetzt sah er Carlos Martinez und Alfonso Ruiz an, beide waren tot. Im Kampf hatte Martinez die Waffe nach oben gerissen und abgedrückt. Die Kugel hatte den Fahrer in den Hals getroffen. Martinez selbst war durch die Parasiten gestorben, die in seinem Körper wüteten. Schweigend stieg der junge Mann über die beiden Leichen und öffnete die vordere Bustür mit Gewalt. Blut floss die Stufen hinab, die er hinunterstieg, um ins Freie zu gelangen. Die Frau, sie hielt das schluchzende Kind in ihren Armen, und der alte Mann folgten ihm. Die vier verstörte Menschen standen in der sengenden Mittagssonne und sahen drei Männer auf sich zulaufen.
*** Zweihundert Meter vom Bus entfernt hatte Pepe Mancini eine filmreife Landung auf einer unebenem Wiese hingelegt. Das Rattern des Propellers wurde langsamer und setzte schließlich ganz aus. Pepe, Phillip und Trevor sprangen aus dem Flugzeug und rannten auf den verunglückten Bus zu. »Heilige Maria!«, rief Pepe. Er war als Erster angekommen und bekreuzigte sich, als er das Blut sah, dass von der Treppe des Busses aus auf den staubigen Boden tropfte. »Da drinnen sind zwei Männer - sie sind tot!«, sagte der junge Mann. »Nicht wichtig!«, rief Phillip, der neben Pepe aufgetaucht war. Er wies zur Mühlenruine. »Wichtig!« Der Mann aus dem Bus verstand die englischen Worte. »Mein Gott, wie können Sie so kaltschnäuzig sein? Wissen Sie, was wir durchgemacht haben?« Trevor kam als Letzter an die Unglücksstelle. Er war außer Atem und es fiel ihm schwer zu sprechen. »Sie verstehen meinen Begleiter falsch«, sagte er in Richtung des jungen Mannes. »Er meint, dass wir hier nichts mehr tun können, aber dringend in der Ruine gebraucht werden.« Trevor wandte sich an Pepe. »Ich werde mit Phillip die Ruine untersuchen. Können Sie sich um die Leute kümmern?« »Natürlich. Ich bringe sie in das Dorf, das wir aus der Luft gesehen haben - dürfte ziemlich nahe sein«, sagte Pepe. Schweigend machte sich die Gruppe auf den Weg nach Monte Plata. Phillip und Trevor liefen währenddessen auf die Ruine zu. *** Dorian Hunter hasste es, untätig zu warten, aber er saß in einer perfekten Falle. Dutzende Male hatte er bereits versucht, die Irrwische mit Bann- und Zaubersprüchen auszuschalten. Dabei war es ihm gelungen, etwas Unruhe in die Reihen der Elementargeister zu bringen. Doch als Erfolg konnte man dies nicht bezeichnen, da Rodriguez und er den weißmagischen Kreis weiterhin nicht verlassen konnten. Seit einem Tag waren sie in ihm gefangen. Als Rodriguez die Irrwische einmal mit seiner Jacke bewarf, zeigten die Geistwesen auf eindrucksvolle Weise ihre Macht: Sie stürzten sich blitzschnell auf das Kleidungsstück und ließen es in Flammen aufgehen. Danach stellten sie sich wieder in die Luft und nahmen ihre Lauerhaltung ein. Durch die Übermüdung war Dorian in der Nacht für einen Augenblick unachtsam gewesen und hatte den Kreis um wenige Millimeter übertreten. Sofort schossen die Aufpasser mit irrwitziger Geschwindigkeit heran. Wahrscheinlich hätte der Kontakt mit den Irrwischen genügt, um Dorian zu töten. Zakum hatte seine Helfer gut instruiert. Die Gefangenen waren neugierig darauf, was passieren würde, wenn Miguel Gaertner wieder in der Ruine
auftauchte. Doch der Geheimdienstmann ließ sich Zeit. Dorian und Rodriguez blieb nichts weiter übrig, als zu warten. Die Stunden und Minuten vergingen scheinbar unendlich langsam, und Dorian schlief gegen Vormittag ein. »Dorian, wachen Sie auf! Hören Sie das?« Rodriguez rüttelte aufgeregt an seiner Schulter. Tatsächlich war draußen war etwas im Gange! In einiger Entfernung röhrte ein Motor, dann waren deutliche Flugzeuggeräusche zu hören und schließlich wurde geschossen. Für eine kurze Weile blieb es ruhig. Die Irrwische schienen nicht beeindruckt zu sein und standen weiterhin drohend in der Luft. Plötzlich wurde die Tür der Mühlenruine geöffnet. *** Die Flugmaschine, in der ich jetzt saß, war wesentlich kleiner als die, in der ich mich zuvor befunden hatte, sie flog auch nicht so hoch und so schnell. Ich zeigte dem Mann, der die Maschine steuerte, mit dem Finger die Richtung, in die er fliegen sollte. Ihm gefiel das nicht sonderlich, aber er brachte mich und den alten Mann immer näher an den richtigen Ort. Nach einer Weile erfüllte mich eine starke Unruhe, denn ich spürte, dass ich dem Jäger sehr nahe war. Der alte Mann bemerkte, dass ich etwas entdeckt hatte: »Phillip, alles in Ordnung?« »Jägerversteck«, antwortete ich und zeigte nach unten. Er sah aus dem Fenster. »Da ist ein verfallenes Gebäude! Du meinst, dass Dorian dort ist?« Ich nickte. »Mr. Mancini, können Sie in der Nähe landen?«, fragte der alte Mann. »Zwischen den Plantagen liegt eine schmale Wiese, dort könnte ich aufsetzen. Hoffen wir, dass es nicht zu holperig wird.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum ich mich darauf einlasse.« Dann flog er einmal im Kreis, um anschließend zur Landung anzusetzen. Die Maschine flog immer tiefer und berührte den Boden. Wir wurden kräftig durchgerüttelt und es lärmte, als ob alles auseinander brechen würde. Endlich kamen wir zum Stehen, ohne das wir Schaden genommen hatten. »Diese Landung hätte mein Flugzeug ruinieren können! Wie soll ich hier jemals wieder starten?« Der Mann, der uns hergebracht hatte, fluchte noch eine Weile ausgiebig in seiner Sprache. Schließlich beruhigte er sich und verließ mit uns die Flugmaschine. Wir liefen auf eine kleine Gruppe von Menschen zu, die vor einem großen Auto stand. Ich spürte, dass ich nicht bei ihnen verweilen durfte. Mein Blick fiel auf das alte Gemäuer, dort war der Jäger verborgen. Eilig machte ich mich mit dem alten Mann auf den Weg dorthin.
*** Miguel Gaertner, der auf dem Weg zur Mühlenruine war, stoppte seinen Isuzu. »Das darf doch nicht wahr sein!« Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Gaertner hatte gehofft, die Abschiebung Hunters in aller Ruhe erledigen zu können, jetzt liefen mehrere Menschen auf seinen Jeep zu. Der Linienbus, der sonst zwischen Santiago und Monte Plata verkehrte, stand quer auf dem Feldweg. Auf einer nahen Wiese war ein buntes Kleinflugzeug gelandet. »Was ist hier los?« Er kurbelte das Fenster herunter. »Ein Mann hat den Bus überfallen und entführt. Bevor er starb, erschoss er Alfonso Ruiz«, antwortete der junge Mann. »Und das Flugzeug da?« Gaertner zeigte auf die Maschine. Pepe Mancini kniff die Lippen zusammen. Miguel Gaertner kam ihm nicht geheuer vor. »Zwei Ausländer sind gelandet - sie sind zur Ruine gelaufen«, antwortete der junge Mann knapp und ging weiter. »Verdammt!«, fluchte Gaertner. Er fuhr ein Stück auf die Plantage, da der Bus den Weg versperrte und er ihn umfahren musste. *** Ich bedeutete dem alten Mann, dass er draußen warten solle. Er nickte. Danach zog ich die Tür auf. Vor mir lag ein kellerartiges Gewölbe. Ich erblickte den Jäger und einen anderen Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Die beiden schauten mich erstaunt an. Winzige magische Lebewesen schwebten drohend in der Luft. Der Jäger hatte sich zu schützen gewusst, so dass sie ihm und dem anderen Mann nichts anhaben konnten. Die fliegenden Wesen waren im Grunde genommen nicht feindselig, sie wurden von Dämonen zu ihrem Tun gezwungen. Es waren einfache Kreaturen, leicht zu beeinflussen dem Bösen hatten sie nichts entgegenzusetzen. Es waren insgesamt zwölf von ihnen im Raum. Als sie mich entdeckten, kam ihr Anführer auf mich zugeschossen. Er wollte mich mit einem Feuerzauber vernichten, doch seine Magie konnte bei mir nicht wirken. Ich fing das Wesen mit der Hand und sah es mir genauer an. Es bestand aus einem von einer dünnen Haut umgebenen Lichtkörper, der in den unterschiedlichsten Farben leuchtete. Im Inneren des kleinen Wesens befand sich auch ein unheimlicher schwarzer Schatten, den ein mächtiger Dämon hinterlassen hatte. Dieser Schatten verlieh dem eigentlich harmlosen Wesen die ungewöhnliche Kraft und vermittelte ihm bösartige Befehle. Ich brauchte nichts zu unternehmen. Der Schatten löste sich allein durch meine Anwesenheit auf, nicht nur bei der Kreatur in meiner Hand, sondern bei all den fliegenden Wesen, die sich im Raum befanden. Sie waren frei! ***
Rodriguez und Dorian hatten erstaunt zugesehen, wie Phillip einen der Irrwische mit der Hand eingefangen hatte. Er nahm den Elementargeist vor das Gesicht und betrachtete ihn ausgiebig. Nach einigen Augenblicken ließ er ihn los und wie auf Kommando stoben sämtliche Irrwische auseinander. Manche zischten aus der Tür, andere verschwanden mit lauten Pfeifen in Wände und Boden. Danach herrschte Ruhe. Phillip schloss die Augen und rührte sich nicht. Trevor Sullivan lugte vorsichtig hinter der Tür hervor und kam dann in den Keller. »Dorian! Alles in Ordnung?«, rief er, als er die Männer erblickte. Dorian lächelte schwach und kam aus dem Kreis. »Alles in Ordnung? Na ja, das kann man momentan sagen. Schön dich zu sehen!« Er reichte Trevor die Hand und klopfte Phillip auf die Schulter: »Hallo, du Teufelskerl!« Phillip sah ihn teilnahmslos an und wandte sich dann zur Eingangstür. Draußen heulte ein Automotor auf und verstummte wieder. Schritte näherten sich dem Ruinenkeller. *** Es war zu spät. Die Grotte unter der Munante-Villa war gefüllt mit Dämonen gefüllt - sie vertraten einige der wichtigsten Sippen der Schwarzen Familie. Zakum stand unter Zugzwang: Er würde erklären müssen, warum er sie hierher zitiert hatte. Und es musste ein verdammt guter Grund sein. Der Dunkle Archivar saß in einem verdeckten Winkel der Grotte und gab Saltus die Kristallkugel zurück. »Bringe sie nach oben, ich benötige sie nicht mehr!« Saltus verbeugte sich und ging davon. Zakum hatte sich davon überzeugen wollen, dass Carlos Martinez den verhassten Dorian Hunter bereits aus dem weißmagischen Kreis getrieben hatte. Doch das, was die Kugel zeigte, war fatal: Martinez lag tot im Bus gestorben, bevor er seinen Auftrag erledigen konnte. Zakum hatte sich anschließend auf die Irrwische in der Ruine konzentriert. Auch dies war ergebnislos verlaufen - die Elementargeister waren nicht mehr erreichbar. Der Dämon ballte wütend die Hände. In der Grotte wurden Unmutsäußerungen der anwesenden Dämonen laut. Sie warteten ungeduldig auf die angekündigte Darbietung. Der Dunkle Archivar bemühte sich, ruhig und selbstbewusst zu wirken. Er hatte seinen Plan etwas geändert: Den Bluttunnel zur Mühlenruine wollte er auf jeden Fall beschwören. Sollte sich Hunter nicht mehr dort befinden oder sich weiterhin im weißmagischen Kreis verschanzen, so würde Zakum den Tunnel auf ein Ausweichziel richten, um andere menschliche Opfer zur Belustigung der Anwesenden herbeizuschaffen. Zakum würde damit sein Gesicht vor den Artgenossen nicht verlieren. Er schwebte zum Podium. Die anwesenden Dämonen raunten, einige applaudierten schwach. »Dämonen! Ich will nicht lange reden, sondern sogleich mit der angekündigten Beschwörung beginnen. Es handelt sich um eine Magie, die uns unbesiegbar machen wird!«
»Na endlich, du hast unsere Zeit lange genug verschwendet. Zeige uns dein Kunststück!«, forderte eine Kreatur, die aus einer durchsichtigen Masse bestand, die ständig ihre Form änderte. Zwei Vampire und ein Werwolf, die ohnehin ständig miteinander tuschelten, lachten hämisch über dieses respektlose Verhalten. Zakum ignorierte die Bemerkung. »Saltus, bring mir das Blut!«, befahl er seinem Diener. Saltus schleppte daraufhin eines der seltsamen Gefäße heran und setzte es auf dem Podium ab. Zakum öffnete das Fass. Es war randvoll mit Blut gefüllt. Die Vampire unter den Gästen bekamen große Augen. Der Dunkle Archivar las den langen, komplizierten Text der Bluttunnel-Beschwörung flüsternd von der Schriftrolle ab. Ein Windstoß fegte durch die Grotte und das Blut im Fass begann zu brodeln. In dünnen Fäden erhob sich der Lebenssaft in die Luft, um anschließend spur- und geräuschlos in den Höhlenwänden zu verschwinden. Zakum las schneller und schneller, für die Anwesenden klang es wie ein sinnloses Gewisper. Der Bluttunnel begann sich zu manifestieren: In der Luft bildete sich eine tiefschwarze Fläche, erst handtellergroß, dann wuchs sie zu einem Kreis von fünf Metern Durchmesser. Schwitzend legte Zakum die Rolle auf den Steinboden und wandte sich seinen Gästen zu. »Das Blut ist aufgebraucht - die Beschwörung gelungen!« »Wenn wir für jedes einzelne Ritual so viel Blut benötigen, kommen die Menschen uns bald auf die Schliche«, mäkelte der durchsichtige Dämon. »Ich würde das Blut lieber trinken«, meinte eine Vampirin. »Du hast sehr schnell und sehr leise gesprochen Zakum! Willst du die Beschwörungsformel vor uns geheim halten?« Ein Dämon, der das Aussehen eines Geschäftsmanns angenommen hatte, funkelte boshaft mit den Augen. »Ich habe getan, was das Ritual verlangt«, antwortete der Dunkle Archivar. »Dann gib uns die Formel!«, verlangte ein Dämon, der die Wiener Lexas-Sippe vertrat. »Die Formel allein würde euch nichts nützen«, sagte Zakum abweisend. »Ohne die Schriftrolle, die ich hier im Munante-Haus fand, kann die Beschwörung nicht gelingen.« Mehrere Dämonen raunten untereinander und Zakum hörte sie die Wörter »Lüge« und »Betrug« zischeln. Doch der Dunkle Archivar, der die Wahrheit gesprochen hatte, hörte nicht auf das Gerede - seine Gedanken waren woanders. Er musste unbedingt einen Menschen durch den Bluttunnel transportieren, um vor seinen Artgenossen zu bestehen. *** Miguel Gaertner kam mit gezogenem Revolver in die Mühlenruine und stieg die Treppe hinunter. Er blickte Rodriguez an. »Was wollen diese Männer hier?«, fragte er, obwohl er es sich denken konnte. »Nehmen Sie die Waffe runter, Gaertner!«, verlangte Dorian. »Ihr merkwürdiges Spiel ist
zu Ende.« »Ich denke nicht daran«, antwortete Gaertner. »Die Hände hoch, alle! Rodriguez, Sie gehen zu meinem Wagen und holen das Seil, das auf dem Rücksitz liegt. Sie werden es herbringen und die Leute fesseln. Kommen Sie nicht auf die Idee, zu verschwinden - es würde Ihnen nichts nützen.« Widerwillig verließ Rodriguez die Ruine. Klappernd fiel die Tür hinter ihm zu. Phillip, der ganz in Gaertners Nähe stand, war der Aufforderung, die Hände zu heben, nicht gefolgt. Statt dessen ging er auf Miguel Gaertner zu und wies mit den Fingern auf ihn. »Leid und Unheil brachtest du über unser Haus. Dein Weg auf dieser Welt ist nun zu Ende.« »Du erkennst mich wieder?«, fragte Gaertner erstaunt. Trevor Sullivan, der immer noch von den Ereignissen in der Jugendstilvilla gezeichnet war, wurde einiges klar. »Sie sind derjenige, der uns überfallen hat? Sie haben mich niedergeschlagen?« »Na und? Sie können froh darüber sein, dass ich Sie nicht getötet habe!«, gab Gaertner kaltschnäuzig zurück. Phillip streckte die Hände nach der Waffe aus. Gaertner fühlte sich bedroht und entsicherte den Revolver. Er achtete nicht auf Trevor Sullivan, der diesmal blitzschnell handelte: Der alte Mann sprang heran und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Dorian kam Trevor zur Hilfe. Seine Faust traf Gaertner hart zwischen Nasenrücken und Auge, so dass er taumelnd zu Boden fiel. Um zu verhindern, dass er nochmals nach dem Revolver griff, sprang Trevor auf Gaertners ausgestreckte Hand. Wimmernd, mit zwei gebrochenen Fingern, blieb Gaertner liegen. Vorsichtshalber stieß Dorian den Revolver mit dem Fuß außer Reichweite. Phillip hatte etwas entdeckt. »Da ist es ja!«, rief er. Er zeigte auf eine Scheibe, die sich im Raum zu manifestieren begann. Sie leuchtete schwarz und pulsierte rhythmisch. Gleichzeitig breitete sich ein merkwürdiger Kraftstrom im Gewölbe aus. Miguel Gaertner wurde von der unsichtbaren Kraft waagerecht in die Höhe gehoben und schwebte langsam auf den mittlerweile mannshohen Kreis zu. Auch Trevor und Dorian bekamen die seltsame Kraft zu spüren - ihre Füße verloren den Kontakt zum Boden. Die Beiden ruderten mit den Armen und strampelten mit den Beinen, konnten aber nichts ausrichten. Gaertner wurde in die Schwärze gezogen. Er verschwand vollständig in dem Kreis, der inzwischen einen Durchmesser von fünf Metern erreicht hatte. Dorian und Trevor schwebten in Rückenlage über den Boden. Dorian Hunter kämpfte verzweifelt gegen die unbekannte Macht an. Hilfesuchend sah er zu Phillip. »Steh doch nicht untätig da! Unternimm etwas!«
Phillip, der als einziger der Kraft nicht ausgesetzt war, lächelte unergründlich. Er sah zu, wie seine beiden Freunde von der Schwärze aufgesogen wurden. Nachdem sie verschwunden waren, verkleinerte sich der Durchmesser des Kreises wieder. Bedenkenlos, und als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, sprang Phillip in die schrumpfende Schwärze hinein. Auch er verschwand einfach. Nach wenigen Sekunden war auch der schwarze Kreis nicht mehr da. Als Rodriguez Ruiz zurückkehrte, fand er die Mühlenruine menschenleer vor. *** Enttäuscht blickte Zakum auf Miguel Gaertner, der wimmernd vor ihm auf den Boden lag. Gerade war er durch die Magie des Bluttunnels in der Munante-Villa erschienen. »Sind die Menschen immer verletzt, wenn sie durch deinen Tunnel kommen?«, fragte der vorlaute Dämon. Hohn lag in seiner Stimme. »Ich dachte, wir sollen das Vergnügen haben, ihnen etwas anzutun!« »Er war schon vorher verletzt!«, fauchte Zakum. Dieser freche Dämon provozierte ihn mehr und mehr. Vor Wut packte Zakum den wehrlosen Gaertner am Hals und warf ihn zurück in die Schwärze. Kurz darauf schoben sich erneut menschliche Beine aus dem Bluttunnel. Der Dunkle Archivar umklammerte sie, zog Trevor Sullivan hervor und stellte ihn auf die Füße. »Ich kenne diesen Mann!« Der dämonische Geschäftsmann kam nach vorne. »Er ist ein Freund und Mitarbeiter von Dorian Hunter!« Die Augen des Dämons begannen vor Zorn rot aufzuleuchten. »Los, Zakum - töte ihn!« Zakum, überrascht von diesem geglücktem Fang, riss den verschreckten Trevor Sullivan in die Höhe und schüttelte ihn wie eine Strohpuppe. In seinem Triumph bemerkte der er nicht, dass Dorian Hunter aus dem bereits kleiner werdenden Bluttunnel heraus schwebte. »Der Dämonenkiller!« Ein gelber Wicht, der weiter hinten stand, schrie wie eine Furie. »Ich werde ihn zerreißen!« Dorian war auf die Füße gekommen und stand jetzt neben Zakum. Der Wicht sprang blitzschnell heran. Dorian machte geistesgegenwärtig einen Schritt zur Seite - der kleine Dämon schoss an ihm vorbei, lief geradewegs in den Bluttunnel und verschwand darin. Unter den Dämonen in der Grotte entstand ein Tumult, sie erhoben sich und veranstalteten ein unglaubliches Gebrüll. Jeder wollte den Dämonenkiller töten. Zakum aber war der Ansicht, dass dies sein Privileg sei. Er ließ den unglücklichen Trevor Sullivan einfach fallen, stieß einige herannahende Dämonen zurück und kam drohend auf Dorian zu. Er wollte die Kehle des Dämonenkillers eigenhändig zerfetzen. Dorian sah keine andere Möglichkeit mehr, als in den Bluttunnel zurückzuspringen. Vielleicht würde er wieder in die Mühlenruine gelangen. Eile war geboten, denn der schwarze Kreis hatte mittlerweile nur noch den Durchmesser von einem Meter. In diesem Moment kam Phillip aus der Schwärze des Bluttunnels. Unter den Dämonen brach das Chaos aus.
*** Phillip stand auf dem Felspodium der Grotte. Neben ihm schloss schwarzleuchtende Kreis - das noch offene Ende des Bluttunnels - für immer.
sich
der
Zakum und auch keine andere schwarzblütige Kreatur verschwendete mehr einen Gedanken daran, Trevor oder Dorian zu töten. Was das Wasser für das Feuer ist, das ist Phillip für das Böse. Mehr noch - er brauchte die Mitglieder der Schwarzen Familie nicht einmal zu berühren, seine körperliche Anwesenheit genügte, um die Dämonen in absolute Panik zu versetzen. Wild stoben sie auseinander. Zakum wurde schwarz vor Augen. Stolpernd verließ er das Podium, um sich zum Dämonentor, das auf der anderen Seite der Höhle lag, zu retten. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, Dorian beugte sich zu Trevor herunter, der etwas verwirrt wirkte. »Ich glaube, verletzt bin ich nicht, aber der Schreck sitzt mir in den Knochen«, antwortete Sullivan. »Jetzt, wo Phillip hier ist, kann uns die Familie nichts mehr anhaben«, sagte Dorian und sprang auf. Vielleicht ließ sich noch verhindern, dass sich Zakum und einige der anderen Dämonen aus dem Staub machten. Dorian wollte versuchen, sie in Phillips Nähe zu treiben. Mangels irgendwelcher Waffen schnappte er sich das leere Blutfass und rannte in Richtung Dämonentor, in das sich gerade vier grotesk aussehende Kreaturen retteten sie hatten sich damit Phillips Ausstrahlung entzogen. Dorian warf Zakum das Fass mit aller Kraft gegen den Rücken. Der Dunkle Archivar kam kurz aus dem Gleichgewicht, setzte seinen Weg aber unbeirrt fort. Mit einem großen Sprung verschwand er im Dämonentor. Eine Vampirin stürzte auf Dorian zu. Sie wollte ihn mit in das Tor zerren. Der Dämonenkiller packte sie am Arm und riss sie in die andere Richtung. Er nutzte den Schwung, um die Blutsaugerin mit dem Kopf voran gegen die Felswand zu stoßen. *** Ein Königreich für einen Holzpflock, wünschte Dorian. Doch den brauchte er nicht. Die Vampirin torkelte und kam dabei zu sehr in Phillips Nähe. Sie brach zusammen und begann sich aufzulösen. Mit einem Wimmern beendete sie ihr unseliges Leben. Der durchsichtige Dämon, der Zakum durch seine frechen Bemerkungen provoziert hatte, schaffte es nicht, seinen gallertartigen Körper in Form zu halten. Er zerlief zu einer klebrigen Flüssigkeit, die nicht mehr lebensfähig war. Zwei weitere Vampire betrachteten die Szenerie mit Schrecken. Sie hatten keine Chance, an Phillip vorbei zum Dämonentor zu kommen. »Dort ist ein Ausgang!«, rief einer der Vampire.
Zusammen mit seinem Artgenossen lief er zur Treppe. Die beiden hasteten die Stufen hinauf und öffneten die Tür am oberen Ende. Sie blickten in die Vorhalle der MunanteVilla. Ein großes Fenster vor ihnen gab den Blick auf den verwilderten Garten frei. Und die helle Nachmittagssonne schien den Vampiren ins Gesicht. Schaurig hallten die Todesschreie der Blutsauger nach unten. Im gleichen Moment ließ in der Grotte die magische Beleuchtung nach. Das Geschrei und das Durcheinander war vorbei. Die Dämonen waren entweder tot oder geflüchtet. Und dort, wo das Dämonentor gewesen war, befand sich nur noch eine Felswand. Vom Treppenaufgang her erhellte das Sonnenlicht die Grotte. Phillip stand vor dem toten Dämon, der sich als Geschäftsmann ausgegeben hatte. Auch dieses Wesen hatte die Anwesenheit Phillips nicht überlebt. Im Sterben hatte der Dämon seine wahre Gestalt angenommen: riesige Glubschaugen beherrschten den unförmigen Schädel, die Haut hatte sich in einen roten Schuppenpanzer verwandelt. Trevor Sullivan stellte sich neben Phillip. »Dieser Teufel hatte sicherlich unzählige Menschenleben auf dem Gewissen.« Phillip regierte nicht, sondern ging kraftlos zum Felspodium. Er hob die Schriftrolle auf, die Zakum dort liegengelassen hatte: Die Beschwörungen, durch die der Bluttunnel möglich geworden war! Er umfasste die Rolle mit beiden Händen. Das Papier fing Feuer, es verbrannte lichterloh und restlos. Phillip weinte glücklich und ließ sich von seinen Freunden aus dem Gewölbe bringen. Dorian war nur mäßig überrascht, sich in der Munante-Villa wiederzufinden. Er kannte das Haus gut. Zusammen mit Trevor durchsuchte er kurz die Räume. Alles war verlassen - auch vom Dämonendiener Saltus fehlte jede Spur (er war längst untergetaucht und hatte Zakums Kristallkugel sowie das belebte Plasma an einem sicheren Ort versteckt). Die Drei verließen Villa. Einige Straßen weiter winkte Dorian ein Taxi herbei. Da Trevor Scheckkarten, Geld und Papiere sicher in seiner Gürteltasche getragen hatte, konnte er seine Freunde und sich problemlos in einem Hotel unterbringen. Während Dorian sich satt aß und trank, rief Trevor Miss Pickford in London an, die sich bereits große Sorgen um Phillip machte. Die Haushälterin versprach, Dorians Papiere herauszusuchen und mit Eilpost nach Santiago zu schicken. Zwei Tage später saßen Trevor, Phillip und ein frisch eingekleideter Dorian Hunter in einer Non-Stop-Maschine nach London-Heathrow. *** Mein Ziel stand mir klar vor den Augen. Meine Aufgabe war es, eine alte Schriftrolle zu vernichten, die einst ein mächtiger Dämon verfasst hatte. Trotz seiner Bosheit war diesem Dämon bewusst gewesen, dass der Zauber, den er entwickelt hatte, zu mächtig für sich und seine Artgenossen war. Die Beschwörungen und Rituale, die er die Blutmetaphern nannte, waren so stark, dass sie die Kräfte der Finsternis zu ihrem endgültigen Sieg über die Welt führen konnten. Doch die Welt lebt durch das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Der Dämon verwarf die Blutmetaphern nicht endgültig, er verbarg sie. Seine Nachkommen setzten diese Tradition fort. Aber dann geriet die Schriftrolle durch eine unglückliche Fügung in die Hände des Dämons, der sich Zakum nannte.
All die schrecklichen Dinge, die geschehen waren, führten mich letztendlich in eine Grotte, in der das Geheimnis der Blutmetaphern vor den Dämonen enthüllt werden sollte. Nach der Vernichtung der Schriftrolle konnte Zakum von der mächtigen Magie keinen Gebrauch machen. Die Gefahr war endgültig vorbei und unendliche Erleichterung erfüllte mich. Ich hatte wieder Zeit, mich meiner inneren Welt zuzuwenden. *** Miguel Gaertner saß auf giftgrünem Boden. Die Decke, die Wände, alles war grün. Es gab keine Lampen, keine Möbel, keine Fenster - nur eine Tür. Er verspürte weder Schmerz, noch Hunger, noch Durst. Gaertners Bewusstsein war vollkommen klar, er konnte sich an alles erinnern. Nur: es ließ ihn kalt. Er empfand seine Teilnahmslosigkeit weder als gut noch als schlecht. Ihm war jedoch bewusst, dass er nicht ewig in diesem Zimmer, das ihm wie das Innere eines Würfels vorkam, bleiben konnte. Wie lange war er schon hier? Stunden? Tage? Die Tür des Zimmers war nicht verschlossen. Gaertner hatte sie schon mehrmals geöffnet. Was dahinter lag, war fast zu monumental, um es zu beschreiben. Eine Höhle war es. Tiefe und Höhe ließen sich jedoch kaum bestimmen, denn sie war gewaltiger als alles, was er je zuvor gesehen hatte. Das beunruhigte Miguel nicht. Er stand auf und betrat die Höhle. Die Luft war kühl und angenehm, der Felsboden trocken und gut begehbar. Es war nicht dunkel, obwohl es keine Lichtquelle gab. Er drehte sich um. Der Eingang zum Zimmer war verschwunden. Statt dessen brauner, rauer Fels - die Höhlenwand. Miguel war von Anfang an klar gewesen, dass der grüne Raum für immer fort sein würde, sobald er ihn verließ. Er tastete sich an das Ende des Felsvorsprunges heran und schaute hinunter. Es waren fünfzig, vielleicht sogar einhundert Kilometer bis nach unten. Ein dünner Strich glänzte silbern in der Tiefe. Vielleicht ein Fluss. Die Sicht nach oben entsprach derselben Entfernung. Der steinerne Himmel der Höhle hatte Ausmaße, für die Miguel keine Zahlen fand. Die gegenüberliegende Wand war nur schemenhaft zu erkennen, sie war zu weit entfernt. Er lief lange. In einer Felsspalte fand er ein kleines, gelbes Lebewesen, offensichtlich tot. Er machte sich keine Gedanken darüber und ging weiter. Keine Müdigkeit, kein Gefühl der Anstrengung hielt ihn auf. Er konnte problemlos Felswände hinaufsteigen, in die Tiefe hinabklettern oder in gleicher Höhe weiterwandern. Die Höhle machte ihm niemals Schwierigkeiten. Irgendwann traf er auf eine Gruppe sonderbarer Gestalten. Sie trugen Kapuzen und ähnelten Bettelmönchen. Ihre Gesichter waren nicht zu erkennen. Lautlos zogen sie durch die scheinbar endlose Steinlandschaft. Für einen Moment flammte Gaertners Interesse auf. »Wohin geht ihr?« »Wir wissen es nicht«, antwortete die Gruppe im Choral. »Wir wissen es nicht.« Miguel war auf seltsame Art angenehm berührt und zutiefst dankbar für diese Begegnung. Er schloss sich der Gruppe an. Zufrieden zog er sich die Kapuze der
Mönchtracht, die er nun wie selbstverständlich trug, über den Kopf. Er hatte das Gefühl, Freunde gefunden zu haben. Freunde für die Ewigkeit. *** Martha Pickford machte in London das übliche Getue um Phillip, aber auch Trevor und Dorian begrüßte sie überschwänglich. Nach einem Abenteuer, wie dem in Santiago, war dem Dämonenkiller-Team stets einige Tage bange - denn mitunter gab es ein Nachspiel seitens der Behörden, insbesondere der Polizei. Doch weder aus Chile noch aus London gab es unangenehme Nachrichten. Sogar das Verfahren gegen Martha Pickford wurde eingestellt. Mit Sicherheit jedoch wurde innerhalb der Schwarzen Familie etwas ausgebrütet.
Die Dämonen würden das Debakel in der Munante-Villa sicher nicht ohne weiteres
hinnehmen. Dorian sah das gelassen. Er trank seinen Bourbon, kurierte seine Wunden
aus und nahm sich vor, zusammen mit Phillip nach Coco Zamis zu suchen.
***
Zwei Monate nach dem Chile-Abenteuer gab es einen Besuch in der Baring Road, den
beinahe niemand erwartet hätte.
Als Dorian öffnete, stand eine Frau an der Haustür. Ihr Gesicht war kreidebleich, nur unter
den Augen zeichneten sich tiefe Ringe ab. Eine Mütze verbarg die Folgen einer
Chemotherapie. Sie war todkrank.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«, fragte er.
»Ich habe von diesem Haus geträumt.« Sie schien sehr bewegt zu sein.
»In diesem Traum - ich weiß, es klingt verrückt - wurde ich eingeladen.«
Phillip schob sich an Dorian vorbei und streichelte die Schulter der Frau.
Als sie Phillip sah, begann sie zu weinen.
»Ich muss Sie um Entschuldigung bitten!«, sagte sie zu ihm.
Und leiser: »Und um Ihre Hilfe.«
Trevor kam ebenfalls an die Tür.
»Ich kenne Sie - aus dem Flugzeug. Sie waren die Stewardess!«
»Ja, mein Name ist Brenda Finnegan.«
»Kommen Sie herein, Brenda! Schließlich hat Phillip Sie eingeladen«, sagte Trevor
freundlich.
Trevor und Martha begleiteten Miss Finnegan ins Wohnzimmer.
Dorian schloss die Tür und hielt Phillip noch einen Moment in der Vorhalle auf.
»Du bist ihr im Traum erschienen?«
Phillip antwortete nicht.
»Wirst du sie heilen?« fragte Dorian weiter.
Phillip lächelte.
»Was ist das Phillip?« Dorian schaute ihn ernst an. »Woher hast du all diese Kräfte?«
»Alles was ich sehe...«,
Phillip hielt inne.
»Alles was ich sehe, ist das Licht in mir.«
Dann ging er zu Brenda.
Ende