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ATLAN - Intrawelt 4 Gefangen im Himmelsnetz Autor: Wim Vandemaan In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht. Atlan, der relativ unsterbliche Arkonide, hält sich jedoch nicht in seiner Heimatgalaxis auf, sondern in Dwingeloo. Dort kämpft er auf scheinbar verlorenem Posten gegen die mysteriösen Lordrichter und deren Heerscharen. Jüngst jedoch gelang ihm der Kontakt zu einer Widerstandsorganisation, und von dieser wurde Atlan um Hilfe gebeten: Als eines der wenigen Wesen, die jemals .hinter den Materiequellen. waren, sei es ihm als Einzigem möglich, in die die geheimnisvolle Intrawelt einzudringen und von dort den Flammenstaub zu besorgen. Atlan verschafft sich Zutritt in die gigantische Hohlwelt. Dort gerät er überraschend an Peonu, einem Diener der Chaotarchen, der ihm einen Teil der Seele raubt. Der Arkonide ist ihm seitdem auf merkwürdige – und unangenehme – Art und Weise verpflichtet. Gemeinsam mit dem Echsenwesen Jolo und Albia, der Hohen Frau, ist Atlan nunmehr unterwegs zu einer Gondelstation, der einzigen Möglichkeit, die Intrawelt schnell zu durchreisen: Dort allerdings wird er wahrscheinlich GEFANGEN
Wim Vandemaan
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Gefangen im Himmelsnetz
Karaporum nicht, wo die Savanne in der 1. Mittagssonne glühte. Abwärts 467 Tage zu früh sterben, dachte Abertack. Während er stürzte, erwachte eine Abertack stürzte in den Tod. Emotion, die er vorher sehr selten erlebt Es war der 8533. Tag nach seiner hatte. Er ertappte sich dabei, wie er den Erweckung, also würde er lange vor jenem Aufschlag vorwegnahm, sich seinen Tod Tag 9000 sterben, an dem seine vorstellte und wie ihm darüber unbehaglich biologische Uhr angehalten wurde. wurde. 467 Tage früher, um genau zu sein. Sogar unwohler als an solchen Tagen, an Ein vorzeitiger, überflüssiger Tod. denen die Grün-Nomaden überfällig waren Zumal er sich Hoffnung gemacht hatte, in und Abertack sich um den Nachschub an die Flachstation GEM-45 befördert zu Rohspeise sorgte. werden. Eine Rangerhöhung, die mit einer Der Metabolismus eines Maulspindlers erheblichen Verlängerung seiner war zwar bestens darauf eingerichtet, die biologisch bewussten Existenz verbunden Basismasse in Seil-Substanz umzudauen, wäre. aber er hatte weder Zeit noch Möglichkeit, Leben als Gratifikation. sich den Sand und die Mineralmischung Viele Kilometer unter selbst zu beschaffen. Die Hauptpersonen des Romans: sich erkannte er den Die Nomaden fütterten ihn, Rundkegel in seinem Atlan – Der Arkonide sucht Zugang zum und er hatte sich schon oft System der Maulspindler mattroten Energiemantel gefragt, in wessen Auftrag. und auf dem Gipfel die Albia – Die »Hohe Frau« spielt nach eigenen Er fiel so schnell, dass die Regeln Gondelstation, die er als Luft um ihn herum ein zuständiger Maulspindler Jolo – Das Echsenwesen bleibt nicht einmal Pfeifen erzeugte, in dem das sich selbst treu wartete. Am Fuß des leise, unaufhörliche Tafelberges sah er den Abertack – Ein Maulspindler in der Bredouille Summen und Surren des Hain der Duum-Bäume Dunkelhein – Ein Bahnhofsdirektor hat Pech Seiles unterging. mit seinen Gästen als winzigen 467 Tage zu früh - was für roten Flecken. Er hatte es Foda – Die Baronin will eine alte Rechnung eine Verschwendung! immer genossen, in ihrem begleichen Er stellte sich vor, wie sein Schatten zu pausieren, wenn er trank und Leib auftreffen würde, wie die sechs die Sand- und Mineralienmischung Laufarme brachen, absprangen, wie sein verdaute, die er von den Grün-Nomaden Leib aufplatzen, sein Kopf von der Wucht erhielt. Die Bäume, deren glühende des Aufpralls in den Rumpf gestoßen Früchte ihm die Mischung noch würde, wie seine Spindel dabei in Stücke bekömmlicher werden ließen. riss. Er stellte sich all dies vor und nährte Er stürzte, und da er viele Kilometer leeren damit diese befremdliche Emotion, bis sie Raum unter sich hatte, schaute er sich um. in voller Blüte stand. Er sah alles. Und er erkannte: Das, was er bei dieser Unter ihm lag die Parzelle Karaporum. Vorstellung empfand, war Angst! Weit in der Ferne zeichneten sich blass die Todesangst. Grenzgebiete der Parzellen Echthnis und Dieses Gefühl stand gar nicht in seinem Dariae ab. Deutlicher konnte er die genetischen Programm. Denn seine Randzonen der Nachbarparzellen Falva Erwecker hatten es weder für ihn noch für und Poricium ausmachen. Der übliche die anderen seiner in vitro gezeugten Art graue Schleier von Regenwolken stand an vorgesehen. Dennoch wusste Abertack aus der Grenze zwischen Poricium und Gesprächen mit anderen Maulspindlern, Karaporum. Poricium wurde mit Regen dass vielen von ihnen diese Emotion nicht getränkt. Unerklärlicherweise überfuhren fremd war. die tiefgrauen Wolken die Grenze zu Wozu aber diente Angst vor dem Tod?
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Wim Vandemaan Wie hieß es doch in dem alten Lied, das Hortorok, der Lehrer, ihm und den anderen Maulspindlern seiner Produktionsreihe in der Frühphaseninstruktion immer wieder vorgesungen hatte? »Leben ist eine kurze Passage, ewig ist nur das Netz.« Das dreidimensionale Netz, das den Himmelsraum dieser endlosen Hohlwelt ausfüllte, die eine ganze Lichtsekunde durchmaß. Das Netz und sein Gondelsystem, das Hunderte und Tausende Kilometer hoch über der Bodenschale die einzige Schnellverbindung von Parzelle zu Parzelle der Intrawelt ermöglichte. Das Netz, aus dem Abertack vor einigen Minuten gestürzt war... * Stunden zuvor ... Abertack startete an diesem Morgen früh von seiner Gondelstation XACK331. Er stieg auf den Mast, hängte die zweigeteilte Spule, die oben aus seinem Schädel wuchs, nah bei der Endlosschlaufe in den Gondelfaden ein. Der Faden schmeckte frisch und schadlos. Das Fadenlager in seinem Leib war bis an den Rand gefüllt, Abertack hatte die Mineralmischung des letzten Abends gut verdaut und die Masse in Gondelfaden umgewandelt. Nun hatte er etwa einen Fünfundzwanzigsteltag Zeit, bis der Faden zäh wurde und sich verfestigte. Aber eigentlich drängte ihn nichts, denn er hätte den gehärteten Stoff wieder aufweichen können, genau wie die Fadenstücke, die er bereits vor Taghunderten eingesetzt hatte. Er musste sie dazu erneut durch seine Spindel laufen lassen und dort mit einem Sekret seiner Spulenschleimhaut tränken. Kein anderer als der Maulspindler selbst vermochte, einen einmal ausgespindelten Faden wieder aufzuweichen. Nachdem er sich eingeklinkt hatte, kletterte er mit seinen sechs Laufarmen den Faden in einem Tempo hinauf, das anderen Völkern der Intrawelt irrwitzig vorgekommen wäre.
Gefangen im Himmelsnetz Aber der Maulspindler hatte das Seil mit den zweigeteilten Klauen seiner Laufarme fest und sicher im Griff und berauschte sich an der Geschwindigkeit seines Aufstiegs. Er passierte den in mattem Rot glimmenden Schirm. Kilometer um Kilometer brachte er zwischen sich und den Boden der Weltenschale und tastete das Seil lückenlos auf mikroskopisch kleine Läsionen ab. In etwa 80 Kilometern Höhe wurde er fündig. Es war ein Schaden, wie er ihn in den letzten Tagtausenden einige Male, wenn auch nur selten vorgefunden hatte. Das Seil schmeckte mürbe und zerlassen, es musste vom Kot der Trijzinen getroffen worden sein, Flugschlangen aus der Parzelle Falva, die von Zeit zu Zeit im Luftraum über Karaporum Wilderten. Die Trijzinen setzten den Kot meist als Waffe ein, um unter ihnen fliegende Beutetiere zu schlagen, denn er war ätzend und mit einer betäubenden. Substanz durchsetzt. Der Kot war der einzige Abertack bekannte Stoff, der dem Faden zusetzen konnte. Manchmal, wenn ihre Heliumkissen sich erschöpft hatten, klammerten sich die Trijzinen an den Seilen des Gondelsystems fest und erleichterten sich so lange, bis sie genug Ballast abgeworfen hatten, um weiterzufliegen. Abertack löste das angegriffene Stück großzügig heraus und spann synchron ein frisches ein. Er verabscheute es, wenn sein Abschnitt besudelt wurde, und auch die Spannen vor und hinter dem Schadstück schmeckten ihm unrein. Danach kletterte er noch einige Kilometer höher, fand aber keinen weiteren erneuerungsbedürftigen Abschnitt. Abertack hatte sich einen Arbeitsplan zugelegt, den er peinlich genau beachtete. Die übrigen Regionen des Seils hatte er in den vorigen Tagen inspiziert. Für heute war die Arbeit getan. Er machte sich an den Abstieg. Er klemmte den Faden zwischen die Spulen, dann ließen seine Klauen los. Und abwärts ging's.
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Wim Vandemaan Seine Spulen speichelten Öl aus. Das Öl absorbierte die Reibungshitze der rasenden Fahrt und schützte so die empfindliche Spindel. Abertack genoss die Fahrt und jauchzte, wie er auf die im hellen Licht liegende Parzelle Karaporum zuschoss. Wie hatte Hortorok, sein Lehrer, immer gesagt? »Das Leben ist nur eine kurze Passage ...« Oh, Hortorok, das Leben mochte eine Passage sein, aber was für eine! Es war ein Kopfsprung, ein Salto in die Ewigkeit und Abertack gab sich einen Schwung zur Seite und begann, während der Fahrt um die Achse des Seiles zu kreisen. Es fühlte sich an wie Überschläge im freien Fall, Er jagte in Spiralen dahin und schrie seine Lebenslust, seinen Triumph hinaus. Und um der Sache noch einen besonderen Kitzel zu geben, um noch mehr Rasanz zu gewinnen, lockerte er den Griff seiner Spulen ein wenig. In diesem Moment fegte eine heftige Böe über ihn hin und pflückte ihn, der nicht mehr schnell genug wieder fest zupacken konnte, ein ganzes Stück vom Seil. Abertack streckte die Laufarme nach dem rettenden Faden aus, aber die Klauen klackten ins Leere. Und sein Sturz begann. * Der Luftstrom wirbelte die Millionen bunter Härchen durcheinander, die aus seinem hornhautbedeckten Unterleib wuchsen. Unterhalb der Hornhaut befand sich ein klauendicker Hohlraum, der von Knochenplatten in einzelne Würfel unterteilt war. In diesen Kuben schwamm als teilkristallisierte Gallerte der Otholit, das Gleichgewichtsorgan des Maulspindlers. Das innere Organ hielt über die unzähligen verschiedenfarbigen Härchen Kontakt zur Außenwelt. Es war ein Präzisionsinstrument, ein Meisterstück des Biodesigns seiner Erwecker. Aber auch der Otholit konnte ihm nicht zurück ans Seil helfen, obwohl es in greifbarer Nähe neben ihm zu hängen schien.
Gefangen im Himmelsnetz Je näher der Boden kam, desto größer wurde dieses exotische Gefühl in ihm, die Todesangst, die ihm nicht zustand. 467 Tage zu früh. »Rechne die Tage nicht, nähre das Netz!«, hörte er Hortorok. »Denn das Leben ist nur eine Passage, das Netz aber ist ewig!« Vielleicht, dachte er, wird mein Leib nicht nur in zwei, drei Teile zerbrechen, sondern es zersprengt ihn in unzählige Fragmente, sodass ich spurenlos sterben werde. Das Einzige, was von ihm bleiben würde, wären einige Stücke Faden, winzige Elemente des dreidimensionalen Gondelnetzes. Das Netz hatte ewigen Bestand, sein Tod würde es nicht beeinträchtigen. Insofern würde er, was auch immer geschah, doch nicht restlos vergehen, sein Werk bliebe. Was ihn andererseits kaum tröstete. Plötzlich spürte Abertack ein leichtes Ziehen; sein Dhedeen löste sich von ihm. Das Vogelwesen, der Symbiont, der auf unbegreifliche Art als Universaldolmetscher in der Intrawelt fungierte, hatte seinen transparenten Schnabel aus Abertacks Leib zurückgezogen und flatterte von ihm fort. Ein schlechtes Zeichen. Tief unter ihm tauchte ein Schwarm Trijzinen auf. Sie kreisten über einem Teilstück der Parzelle; vielleicht hatten sie einen jungen Lonbal erspäht, der sich von seinem Muttertier getrennt hatte. Dann würden sie in ihrer Angriffsformation auf ihn hinabstoßen, die schweren Tiere zuerst, ihn mit ihrem Kot betäuben, die Schneider des Schwarms würden das wehrlose Tier in Stücke reißen, die leichten Trägertiere die Fleischportionen in ihren Gemeinschaftshorst in Falva fliegen. Abertack war nur noch wenige hundert Meter über dem kreisenden Schwarm und konnte schon das Knattern ihrer Stimmen hören. Sie sprechen sich hier oben ab, dachte er erstaunt. Aus irgendeinem Grund hatte der Trijzinen-Schwarm den Gondelfaden zum Mittelpunkt seines Kreises gemacht.
Wim Vandemaan Abertack bebte zwar nun vor Angst, aber er witterte seine Chance. Er spreizte alle Laufarme so weit wie möglich. Eine der Trijzinen schaute hoch und eräugte ihn. Das Tier kreischte einen knatternden Warnruf. Die übrigen Flugschlangen brauchten einen Moment, um zu verstehen, dass die Gefahr von oben kam normalerweise jagte kein Tier auch nur annähernd so hoch wie die Trijzinen, geschweige denn über ihnen. Dieser Moment genügte Abertack. Er prallte auf eine junge Trijzine, die nur wenig größer war als er selbst. Das Tier kippte ab und wurde mit in die Tiefe gerissen. Abertack krallte sich mit allen Klauen in ihrem Leib fest. Eine Klaue riss den linken Heliumsack des Tieres auf, das Gas entwich zischend, die Trijzine schrie auf. »Halt mich fest, ich hab dich, ich lass dich nicht los!«, brüllte Abertack. Er kletterte auf den Rücken des Tieres, das in Panik versuchte, die anderen Heliumkissen aufzublasen. Gleichzeitig warf die Flugschlange unkontrolliert Kot ab. »Lass das sein, lass!«, rief Abertack und schlug die. Trijzine mit einer Klaue, als handelte es sich um ein Reittier, das durchging und das man zur Vernunft bringen musste. Sein Sturz verlangsamte sich deutlich. Die Schlange wand sich, biss nach ihm, schüttelte sich. Abertacks Klauen konnten unbezwinglich festhalten, und für einige Augenblicke dachte er, er würde die Flugschlange in den Griff bekommen, es würde irgendwie gut ge hen. Hortorok, hilf!, flehte er inständig. Doch statt Hortorok kam eine andere Trijzine zu Hilfe - aber nicht ihm, sondern seinem »Reittier«. Sie fuhr von oben auf ihn herab, und versuchte, ihn vom Rücken zu stoßen. Immer noch ließ Abertack nicht los und riss, als er unter den Maulstößen und Bissen der anderen Trijzine abzurutschen begann, ganze Fleischbrocken aus dem Schlangenleib. Und dann war es vorbei. Die blutenden Fetzen in der Klaue, stürzte er weiter. Aber jetzt war der Boden schon
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Gefangen im Himmelsnetz sehr nah, überschattet von den Kronen der Duum-Bäume. Und in die stürzte er in diesem Moment. Verzweifelt schlug er mit den Laufarmen um sich, um mit den Klauen etwas zu fassen, festzuhalten. Die Äste brachen und splitterten. Abertack traf auf einen wuchtigen Querstamm, der unter seinem Gewicht quietschte und sich bog, aber standhielt. Der Aufprall presste Abertack die Luft aus dem Leib; halb betäubt rutschte er seitwärts vom Stamm ab, während die Klauen ziellos umherschnappten. Wieder war kein Halt mehr. Für einen Moment wimmerte Abertack. Endlich schlug er auf den Boden auf. Bevor er irgendeinen Schmerz empfand, hörte er einen dumpfen Schlag wie aus der Ferne, gefolgt von einem Knistern, das sich anhörte wie Glas, das jemand unter dem Fuß zermahlte. Wahrscheinlich war er eine Weile bewusstlos. Danach erhob er sich, sehr mühsam, denn irgendwie klebte er am Boden fest. Er tat einige Schritte, aber der Boden entzog sich ihm, fiel zur Seite ab, schwankte. Eines seiner Beine knickte weg. Was ist denn mit mir los?, fragte sich Abertack. Er war einige Meter aus der Trümmerlandschaft aus zerbrochenen und zersplitterten Ästen fort, als der bislang verschwommene Blick seiner hinteren Facettenaugen klar wurde. An der Aufschlagstelle machte er kleine, glitzernde Pfützen aus. Jetzt kam der Schmerz. Sein Unterleib fühlte sich zerrissen und zerstückelt an. Abertack begriff, was geschehen war. Der Aufprall hatte die Hornschicht an seinem Unterleib aufplatzen lassen, hatte offenbar auch ganze Stücke aus der Hornplatte gerissen. Aus den offen gelegten Kammern war die. Otholitgallerte ausgeflossen. . Etwas flatterte vor seinen. Augen, schien zu torkeln und ließ sich dann auf der Oberseite seines Körpers nieder. Abertack verspürte den Stich, mit dem der Dhedeen sich wieder mit ihm in eine körperliche
Wim Vandemaan Verbindung setzte. Sofort begann das Tier, etwas Blut aus dem Maulspindler zu saugen - der Flug schien den orangefarbenen Vogel erschöpft zu haben. »Großer Fall, großer Fall«, formten sich die Gedanken des Dhedeens in seinem Kopf. Mühsam kam Abertack voran. Er stieg auf den Rundkegel. Nie war ihm der Weg so weit erschienen. Immer wieder schrie er auf vor Schmerz und auch vor Scham Abertack, der Abgestürzte! Öl plätscherte ungehindert aus seinen Maulspulen und rann ihm in kleinen Bächen in die Hautfalten des Halsansatzes. Abertack weinte. Unter Schmerzen humpelnd erreichte er endlich das Wärterhäuschen neben der Plattform seiner Station. Von der Endlosschlaufe aus erstreckte sich der Gondelfaden hoch in den Himmel, sein Faden. Abertack folgte dem Seil mit den Blicken, und ihm wurde vom bloßen Schauen übel. Die Vorstellung, mit seinem beschädigten Gleichgewichtssinn auf den Faden zu steigen, entsetzte ihn und ließ das Öl noch stärker rinnen. Die Höhe, die ihm früher Lust bereitet hatte, versetzte ihn nun in Furcht und Schrecken. Hortorok, hilf!, flehte er. Er, der Maulspindler, hatte sich die absurdeste aller Phobien zugezogen. Ich bin höhenkrank!, dachte er voller Panik! Ich bin ein Krüppel. 2. Man muss auch mal ein Spiel verlieren können »Küsse mich, beglücke mich«, wandte sich Albia, die Hohe Frau, in ihrem Singsang an Jolo. Sie beugte ihren Kopf zu dem klein gewachsenen Echsenabkömmling hinab und spitzte ihre Froschlippen. Jolo bog seinen Leib flexibel zur Seite, legte sein Gesicht vor lauter Ratlosigkeit in Falten und quiekte konsterniert: »Wozu sollte ich das tun?« »Mein Tag war bislang so freudlos«, verkündete Albia und ließ ihre blanken Zahnschneiden sehen. »Und außerdem«, ihre Fühler pendelten dicht über Jolos
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Gefangen im Himmelsnetz warzige Schnauze, »außerdem riechst du so Phantasie anregend!« »Ich kann und will deine Eizellen - oder worin du dein Genmaterial verwahrst nicht befruchten.« »Wer sagt denn, dass ich dich zur Vervielfältigung meiner Erbinformation brauche? Ein Kuss«, hauchte sie, »entfaltet doch einen ganz anderen Zauber! Komm schon, zier dich nicht, du Echsenmann!« »Atlan!« Jolo setzte das Gesicht eines Kindes auf, dem ein junger Flegel im Sandkasten gerade die Schaufel geraubt hatte und das sich nun um Schutz und Beistand an den Vater wendete: »Sag ihr, dass dieser Flirt völlig fruchtlos ist!« »Dieser Flirt ist völlig fruchtlos«, informierte ich Albia. Verdammter Jolo, verdammte Intrawelt, verdammter Flammenstaub!, dachte ich. Du hast vergessen, den Schuldigen an deiner misslichen Lage zu benennen, wisperte der Extrasinn. Denk nicht einmal den Namen!, gab ich scharf zurück und hatte das Gefühl, in eine entsetzliche schwarze Leere zu stürzen. Sei nicht so zimperlich. Logisch betrachtet fehlt dir nichts. Was wusste der Logiksektor schon? Er war zwar ein Teil von mir, aber das, was gemeinhin »Seele« genannt wird, war kein Teil von ihm. Er war der Verstand, der kalte, klare, mitunter spöttische Verstand, aber das Herz, die Emotion, das war etwas ganz anderes. Ich bin befleckt, gab ich zurück. Missbraucht, gedemütigt, beraubt und unheilbar verletzt. »Ach, ihr Männer«, erwiderte Albia zischelnd, richtete den vorderen Teil ihres Schneckenleibes auf und trippelte schneller. Eigentlich hätte ich über die Szene lachen sollen, und möglicherweise war sie mir sogar vorgespielt worden, um mich zu belustigen. Albia war eine Spielerin, und professionelle Spieler sind meist gute Psychologen. Vielleicht wollte sie die gedrückte Stimmung in unserer Gruppe heben. Aber nach Lachen war mir nicht zumute. Ich war übellaunig und gereizt.
Wim Vandemaan 16,3 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernt und gestrandet in einer Hohlkugel, deren Dimension jede Vorstellungskraft sprengte: der Intrawelt. Der planetenförmige Körper hatte keinen natürlichen Ursprung, sondern war ein Artefakt, ein stellares Bauwerk. Und wer immer diese Welt in der Galaxis Dwingeloo erbaut hatte, der gebot über eine so weit fortgeschrittene Technologie, dass arkonidisch-terranische Großtaten wie die Errichtung des Planetendreiecks um die Sonne Arkon oder die Konstruktion eines Riesenroboters wie OLD MAN dagegen als Basteleien erschienen. Aber das war nicht der Grund für meine Verstimmung. Sondern Peonu!, dachte ich. Bravo, Spross alten Arkon-Adels, gratulierte der Logiksektor. Du musst dich deiner Angst endlich stellen. Ich will es nur vergessen, gab ich zurück. Ist dir überhaupt nicht klar, was dieser Bastard mir angetan hat? Mentales Schweigen. Dann: Sag es, sprich es aus. Bei allen Sternengöttern! Ich marschierte hinter Albia her, gefolgt von Jolo, und dachte an die Begegnung mit dem »Eremiten« zurück, der ... »Wie lange noch?«, erkundigte ich mich bei meinen Begleitern. »Nicht mehr lange«, gab Albia vergnügt zurück. »Lange genug, um mehrmals zu verhungern«, zischte Jolo mit Leichenbittermiene. »Und zu verdursten.« Vor drei Tagen hatten wir unseren Marsch durch die Savanne von Karaporum wieder aufgenommen. Karaporum war im Vergleich zum regnerischen Poricium eine trockene Landschaft. Eine Durststrecke. Die Münder trockneten immer wieder rasch aus; der Schweiß zog einen Film über die Haut. Meiner Rechnung nach mussten wir, wenn ... Peonu uns nicht in die Irre geführt hatte, noch etwa einen Tagesmarsch von der Gondelstation XACK-331 entfernt sein. Ohne Zugang zum Gondelsystem würde ich eine Ewigkeit brauchen, um die Intrawelt zu durchqueren und - hoffentlich-
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Gefangen im Himmelsnetz letztlich den Flammenstaub zu finden. Und eine Ewigkeit hatte ich trotz Zellaktivator nicht, denn er wurde »draußen« benötigt, im Kampf gegen die Lordrichter. Er hat mich seelisch vergewaltigt, mir einen Teil meiner Identität genommen. Ich brauchte nur daran zu denken und fühlte mich wieder in die Hütte zurückversetzt, in der es geschehen war. Wir waren gekommen, um Beistand zu suchen, und ... ich war ... Du bist in eine Falle gelaufen, die dir Peonu mit Hilfe Jolos gestellt hatte. Jolo, der ebenfalls von dem Chaosknecht seelisch beraubt wurde. Sei ehrlich mit dir selbst: Nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit war so etwas schon lange fällig. Du kämpfst seit vielen Lebensaltern als Normalsterblicher an vorderster Front und bist immer heil davongekommen. Ich fühlte, wie meine Wangen vor Scham brannten. Das ist etwas anderes. Ich... Du hast dich durch deinen Zellaktivator und deine Aura als Ritter der Tiefe immer ziemlich sicher gefühlt. Alle Kosmokratendiener erkannten sie an dir und halfen dir - oder schadeten dir zumindest nicht. Nahezu alle Kampfmittel, die andere Lebewesen umbringen würden, werden von deinem Zellaktivator rasch unschädlich gemacht oder geheilt, vor Klingen und anderem bringt dich deine Fitness in Sicherheit ... Du hast vergessen, dass es nicht nur die Kosmokraten und nicht nur die normalen Geschöpfe des Universums gibt. Ich schnaubte, was Jolo zu einem scheelen Blick verleitete. Trotzdem. Stell dich nicht so an. Deine Wunde ist nicht sichtbar, sie ist immateriell, und sie schadet dir nicht. Ich kann sie nicht einmal richtig wahrnehmen. Und trotzdem ist sie da. Du verstehst das nicht. Ich verstehe vielleicht mehr als du ahnst. Aber gib dich deinen Gefühlen nicht hin. Schließ sie weg, und eines Tages werden wir Mittel und Wege, finden, dich zu heilen und Peonu zu bestrafen. Bestimmt hat auch
Wim Vandemaan er vergessen, dass es noch andere, mächtigere Wesen gibt als ihn. »Kann sein«, antwortete ich und bemühte mich, das Bild aus meinem Kopf zu bekommen, das Peonu zeigte und das mein Denken besudelte. »Sprichst du wieder mit deinem Cueromb?«, erkundigte sich Jolo neugierig. Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Was? Oh, nein.« »Gut so«, lobte mich das Echsenwesen, »schließlich verstehst du es so wenig wie wir.« Er lächelte oder grimmassierte zumindest so, als wäre das seine Absicht. Der Cueromb ... dieses mysteriöse Multifunktionswerkzeug mit Hammer, Kelle, Schaufeln in verschiedenen Größen, Handbohrer und der sonderbaren Eigenschaft, vor sich hin zu flüstern ... Hielt man den Cueromb etwa bis auf Unterarmlänge ans Ohr, vernahm man ein leises, fernes Rufen wie aus einem abgrundtiefen Schacht. Die Sprache klang schön und vage vertraut, sodass man glaubte, sie verstehen zu müssen. Aber mein Dhedeen übersetzte mir nichts. Hielt man den Cueromb unmittelbar ans Ohr, verklang die Stimme. Ich trug das Gerät, das sehr leicht war und sich ungemein praktisch anfühlte, an den Arm gebunden. »Du hast nicht zufällig noch etwas zu essen?«, sprach Jolo nach kurzem Atemholen weiter. »Mich hungert ganz und gar.« »Schau nicht so!«, befahl ich ihm. »Wo nichts ist, ist auch nichts zu holen.« Mit Jolo musste man hart sein, denn sonst konnte er einen zu praktisch allem überreden. Der Echsenähnliche, der mir bis knapp über die Hüfte reich=te, besaß ein erstaunlich ausdrucksstar kes Gesicht, um es milde auszudrücken. Dieses Gefühlschamäleon war in der Lage, Mimiken anderer Lebewesen, ja sogar anderer Arten so täuschend echt nachzustellen, dass sie im Gegenüber echte Emotionen auslösten: Angst, Ekel, grenzenloses Vertrauen oder auch den dringenden Wunsch, ihm zu helfen. Ich nahm mir immer wieder vor aufzupassen,
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Gefangen im Himmelsnetz dass er mich mit dieser Gabe nicht manipulierte. Ich rieb die blauen Flecken an meinen Unterarmen. Es waren Andenken an Jolos Saugnäpfe, die sich in meine Haut gepresst hatten, während ich ihn aus dem Wasser des Grenzflusses Zanf rettete. Weil er mich: so flehentlich angeschaut hatte. Am Fluss hatte ich auch Albia, die Hohe Frau, kennen gelernt, zusammen mit der wohlgeformten Vischgret und mit Ritz Toyd. Der armen Vischgret, die an warme Mahlzeiten glaubte, saubere Unterkünfte und komfortable Schuhe. Dem armen, redseligen, großspurigen Blubbler Ritz Toyd, den Peonu ohne jede Regung hatte aufspießen und abschlachten lassen - nur, weil er mir zu Hilfe geeilt war. Schon wieder Peonu ... Fort aus meinen Gedanken! Ich glaubte ein mentales Seufzen zu hören. Genau das ist es, was du leisten musst nicht er. Er hat einen Teil meiner Seele als Geisel, protestierte ich. Dann tu, was ich dir rate: Blocke ihn ab, soweit du kannst. Du darfst nicht den Fehler vieler Geiseln machen und damit beginnen, dich deinem Geiselnehmer verpflichtet zu fühlen. Oh, keine Sorge. Ich werde mich niemals mit ihm identifizieren, wenn es das ist, worauf du hinauswillst. »Vorsicht«, warnte Albia und riss mich aus unseren gemeinsamen Gedanken. Ihre beiden Fühler bebten: »Lonbals! Wir hielten an und duckten uns noch tiefer in das übermannshohe, messerscharfe Gras. Die Spitzen der gelben und violetten, lanzettförmigen Blätter wogten in der Brise. Lonbals waren drei Meter lange Jagdechsen, die an der Spitze der Nahrungskette von Karaporum standen, und so benahmen sie sich auch: selbstsicher und völlig furchtlos. Echsenkönige der Savannenwelt. Sie genossen die Hitze des Tages, die sie besonders gewandt machte, während die gleich warmen, säugetierähnlichen Lebewesen der Savanne ermatteten.
Wim Vandemaan In der kühlen Nacht hingen die. Lonbals starr auf Baumstämmen. Aber in diesen Stunden waren auch wir mit Rücksicht auf Jolo nicht allzu beweglich. Oder ich hätte seinen kältesteifen Körper tragen müssen. Jolo und ich hielten die Buschmesser ausgestreckt vor uns. Lonbals waren, bis sie wirklich angriffen, so gut wie unsichtbar, getarnt von ihrem wechselfarbigen Panzer, der sich der Umgebung anpasste. Albia stand ruhig da, ihre drei Armpärchen hielten still, die Fühler bewegten sich, sie witterte. Sie konnte die Tiere riechen. »Vorüber«, verkündete Albia nach einer Weile. Also schlugen wir mit den Messern ins Gras und mähten uns einen Weg. Albia folgte uns, auf den Tausenden Beinchen ihres hinteren Schneckenleibes trippelnd. Der vordere Teil war hoch aufgerichtet und überragte mit seinen etwa 1,30 Metern Jolo um einen Kopf. Und um was für einen Kopf! Ihre Augen glupschten groß in die Welt, ihr Froschmaul war in ständiger Bewegung. Denn wenn sie auch vom Äußeren einer Riesenschnecke glich, gehörte sie von ihrem Metabolismus her zu den Wiederkäuern. Mit einem hörbaren, von weit her ertönenden Knacks erlosch die künstliche Sonne der Intrawelt. Jetzt würde die Dämmerstunde beginnen und die Intrawelt in ihren rötlichen Schimmer tauchen. »Suchen wir uns ein Nachtlager«, schlug ich vor. Ich streckte einen Arm in Richtung Jolo aus, er verstand, ergriff den Arm und schlängelte sich hoch auf meine Schulter. Von dort konnte er über die Wipfel des gelb-violetten Grasmeeres schauen. In den Kältestunden machten sich die Dropits auf ihre Beutezüge, ameisenähnliche Wesen, die alles fraßen, was ihnen vor die Mandibeln kam. Sie mieden die Hitze des Tages - und sie fürchteten Feuer. Jolo machte einen geeigneten Platz aus. In einer Senke standen sechs, sieben Bäume beieinander. Die Kronen leuchteten in einem tiefen Rot; von einigen Ästen hingen Früchte herab, die die Form eines
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Gefangen im Himmelsnetz mehr oder weniger gleichschenkligen Dreiecks hatten und leicht von innen heraus glühten. Biolumineszenz lockt an, erinnerte mich mein Extrasinn, und zwar Geschlechtspartner oder Beute. Albia war meinen Blicken gefolgt und sagte: »Das sind Duum-Bäume. Recht häufig hier. Ihre Früchte sind essbar, sehr nahrhaft.« Jolo schmatzte gierig. Ich schlug mit dem Buschmesser einige der Leuchtfrüchte ab. Selbst wenn sie einige für mich unverträgliche Stoffe enthalten sollten - mein Zellaktivator würde damit fertig werden. Albia und Jolo griffen zu. Albia schien sich am besten mit den Früchten auszukennen; sie schälte sie mit ihren sechs Händen ab. Die Leuchtstoffe saßen in der Schale; das Fruchtfleisch selbst sah hellgelb, fast durchsichtig aus. Sie reichte mir etwas, und ich biss hinein. Die Frucht war saftig und schmeckte ein wenig nach süßem Pfefferminz, mit einem leicht bitteren Beigeschmack. Jolo aß, wie immer, Unmengen. Ich war schnell satt und kümmerte mich um Feuer. Ich hatte noch nicht herausgefunden, ob das Universalwerkzeug, das ich Peonu abgenommen hatte, auch über ein Feuerzeug verfügte. Aber ich kam mit den Feuersteinen gut zurecht. Jahrtausendealte Übung. Sternenpfadfinder, witzelte mein Extrasinn. Bald brannten ein paar Zweige, die trocken unter dem Duum-Baum gelegen hatten. Ich legte nach. Albia ließ sich am Feuer nieder. Jolo erkletterte einen der Duum-Bäume. Sein Knorpelskelett erlaubte ihm groteske Windungen und Verrenkungen, er schlängelte sich förmlich ins Geäst hinauf und spähte von dort aus ins Land. Es war der erste Aussichtspunkt seit Tagen. Die Dämmerung vertiefte sich. Jolo kam wieder herabgeklettert. Sein biegsames Gesicht verzog sich, bis er auf mich wirkte wie ein Kind, das sich über einen gelungenen Streich klammheimlich freute.
Wim Vandemaan Also wurde ich neugierig. »Nun sag schon«, forderte ich ihn auf. »Ich habe den Rundkegel entdeckt. Die Gondelstation«, verriet er. »Bist du sicher?« »Einziger Rundkegel in Sichtweite.« »Wie weit von hier?« »Morgen Mittag sind wir da«, schätzte Jolo. »Gut gemacht«, lobte ich widerwillig. Jolo sah gierig auf die Reste der Früchte. »Iss nur.« Jolo griff zu und schlang das Obst hinunter. »Machen wir ein Spielchen?«, fragte Albia. Sie kramte mit einem ihrer Ärmchen etwas aus ihrem Bauchbeutel hervor - ein kleines Paket aus Papiersternen. Sie mischte die Papierstücke mit allen sechs Händen. Es sah aus wie eine JongleurNummer. Dann verteilte sie. Jolo lehnte ab und blieb bei seinem Obst. »Ich kenne das Spiel nicht«, wandte ich ein. »Einfaches Spiel, eindrückliches Spiel, du wirst verstehen«, sang die Hohe Frau; dann fragte sie: »Worum spielen wir?« Ich zuckte die Achseln. »Ich habe nichts von Wert dabei.« »Wir spielen um einen Gefallen«, entschied Albia. »Es wird dir gefallen!« . Ich nickte. Wir nahmen unsere Papiersterne auf. Den nicht verteilten Rest packte Albia in die Mitte. Sie begann, die Papiersterne auszulegen und gegen solche vom Stapel auszutauschen. Die Regeln hatte sie immer noch nicht verraten. Die Hohe Frau schaute mich mit ihren Augen an, die wegen der fehlenden Lider nackt und etwas starr wirkten. Belauerte sie mich? Ich hielt meine Sternkarten in der Hand und betrachtete sie. Die Papiere waren voller mir unbekannter Symbole. Plötzlich entzündeten sich zwei oder drei der Spielkarten. Ich schrie überrascht auf und warf sie von mir. Albia kicherte: »Schneller denken, schneller legen!« Sie hatte mittlerweile ihre Karten abgelegt und fügte die Sternzacken wie bei einem Puzzle ineinander. Die vollendete Kartenreihe
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Gefangen im Himmelsnetz leuchtete in allen Farben des Regenbogens auf. »Gewonnen«, sagte Albia mit einer geschäftsmäßigen Stimme. »Du schuldest mir einen Gefallen.« * Es war dunkel geworden. Jolo starrte in den Himmel. Hinten - oder oben -, unendlich weit von hier, flackerte ein kleiner Punkt. »Das muss Mehira Azuman sein, die Feuerparzelle. Ich habe gehört, dort brennt es immerzu. Schön, nicht wahr?« »Du findest Feuer schön?«, fragte ich. Der Echsische antwortete nicht sofort. »Es erinnert mich an Flammenstelen zu Hause. Manchmal loderten die StelenParks ganze Wochen, und wir konnten die Nacht außerhalb unserer Tiefbauten verbringen, ohne in Kältestarre zu fallen.« »Aber hier«, warf ich ein, »erträgst du die Nachtkälte ganz gut, nicht wahr?« Jolo starrte mich an. »Ganz gut? Ich ertrage sie nur, wenn ich mich mäste.« Er isst so viel, um sein Verdauungssystem auf Hochtouren zu bringen. Je mehr Energie er sich zuführt, desto schneller kann er sich bewegen. Bewegung setzt Wärme frei. Auf diese Weise erhöht er seine Körpertemperatur - hier und in anderen Parzellen, deren Klima kühler ist als das seiner Heimatparzelle, schloss mein Extrasinn. Ich nickte. Jolo sah mich wieder forschend an. Die Nacht verlief ereignislos. Am anderen Morgen weckte mich ein Schrei: »Feuer, Feuer!« Ich fuhr hoch. Die Sonne war bereits eingeschaltet, hatte aber noch nicht wieder die volle Leuchtkraft erreicht. Am Rand des Duum-Hains loderten Flammen auf. »Was hast du getan?«, rief ich Jolo zu, der dort vor den Flammen auf und ab hüpfte und »Feuer!« schrie. Ich lief hin. Jolo setzte ein so unschuldiges Gesicht auf, dass man ihn auch dann für harmlos und unbeteiligt gehalten hätte, wenn er mit
Wim Vandemaan zwei rauchenden Pistolen auf einer Leiche gestanden hätte. Als ich näher kam, sah ich im Feuer ein ganzes Knäuel von wurmähnlichen, fingerlangen Wesen sich krümmen. »Brätst du dir ein Frühstück?« Jolos vollständige Unschuld verdoppelte sich noch einmal. ' Albia kam herbeigetrippelt und sah in die Flammen. »Das sind Homrim, Feuerwürmer«, erklärte sie. »Sie brauchen das Feuer, um sich zu erneuern, um sich zu paaren.« Und die Savanne braucht das Feuer, damit der Boden fruchtbar bleibt, erläuterte mein Logiksektor. Alles ist fein aufeinander abgestimmt hier. Ja, dachte ich, aber wer hat es abgestimmt? Wer hat diese Miniaturwelten eingerichtet? Wer hat ihr Klima programmiert, wer hält sie in Gang? Auf Terra spielen Kinder mit Miniaturraumhäfen, und sie können einstellen, ob ihre Raumschiffe auf Sauerstoffplaneten landen, auf Gasriesen, Gravohöllen, auf Hitzeplaneten mit Bleiseen ., gab mein Extrasinn zu bedenken. Du meinst, das alles sind Modellwelten? Spielplätze? Biologisch-klimatologische Museen. Zuchtlandschaften. Laboratorien, setzte der Logiksektor die Reihe der Denkmöglichkeiten fort. Eine Brise kam auf und fachte das Feuer an. Die Würmer wurden durchscheinend und glitten ineinander. »Wir sollten los, bevor das Feuer sich ausbreitet und uns einschließt«, drängte Albia und wedelte unruhig mit den Ärmchen. Wie auf ihren Befehl hin loderte das Feuer auf, kletterte zu den Spitzen der Gräser und flammte darüber hinaus. Wir eilten zurück zu unserem Lagerplatz, sammelten hastig unsere Habseligkeiten ein und folgten Jolo, der die Richtung vorgab. Der Savannenbrand verfolgte uns, die Flammenfront knatterte laut, und wir mussten immer wieder rennen, um zumindest einen leichten Vorsprung zu halten. Das Feuer stob auch in die Breite.
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Gefangen im Himmelsnetz Einmal entdeckte ich weit links von uns eine Gruppe unwirklich anmutender, großer Tiere, einige gelb-violett gezeichnet wie das Savannengras, andere grün-blau gefleckt. Lonbals, schloss mein Logiksektor. Sie jagen normalerweise wohl in ihrer Tarnzeichnung, aber an der Feuerfront können sie ihre Tarnung aufgeben: Die kleineren Savannentiere fliehen vor dem Feuer - die Lonbals brauchen sie nur noch ... ... zu ernten, ergänzte ich in Gedanken. Und offenbar hatte das Feuer die Tafel reich gedeckt, denn die Jagdechsen verschwendeten keinerlei Aufmerksamkeit an uns. Plötzlich erhob sich hinter uns ein Geknister und Prasseln, als zerknülle jemand Plastikfolien. Ich blickte mich um. Aus den brennenden Lanzettenhalmen sprühten Funken - wie ich zunächst dachte. Doch die Myriaden von winzigen Partikeln stoben nicht in die Luft, sondern fielen rasch zu Boden. Das Gras profitiert vom Brand, kommentierte der Logiksektor. Die Flammen verbrennen alle Pflanzen, und das Gras streut noch in den Brand seinen Samen in die fruchtbare Erde. Die Samenkörner stecken wahrscheinlich in hitzebeständigen Hüllen. Auf der ganzen Front ging nun ein Feuerwerk von Samenkörnern los. Aber ich konnte das Naturschauspiel nur einen Augenblick lang bestaunen, dann wurde ich von der Feuerwalze weitergetrieben und schloss zu Albia und Jolo auf. Als wir von unserer Flucht nahezu erschöpft waren - angestrengt von den ewigen Spurts, ausgelaugt von der Hitze, die sich vor dem Feuer herwälzte -, schlug der Wind zu unserem Glück um und trieb das Feuer zurück. Wir blieben unbehelligt. Und ungeröstet. Am späten Vormittag stießen wir auf die Reste einer der Stangen, mit denen irgendjemand die wichtigsten Handelswege der Parzelle markiert hatte. Die Flagge war abgerissen, die Stange zerbrochen. »Wenn das nicht für sorgfältige Pflege spricht ...« , murmelte ich.
Wim Vandemaan Mittlerweile konnten wir den Tafelberg gut sehen, den Rundkegel, auf dessen Gipfel die Gondelstation XACK331 liegen sollte. Laut Peonu. An den zu denken mir Übelkeit bereitete. Der mich irgendwie unter seiner geistigen Beobachtung oder sogar Kontrolle hatte, indem er mich mit sich verbunden hatte. Am Mittag erreichten wir den Rundkegel. Ich beschirmte meine Augen mit der Hand und sah hinauf. Vierzig oder fünfzig Meter über uns machte ich eine Art Mast oder Türmchen aus. Von ihm aus lief ein dünnes Seil in den Himmel hoch. Dass es sich bewegte, merkte man an seinem leisen, kaum hörbaren Singen. Daneben zeigten sich die Umrisse eines größeren, elliptischen Körpers, der aussah wie eine Zigarre für Titanen. Oder wie ein Zeppelin. Das musste die Gondel sein. Das nähere Gelände der Station war durch einen Maschendrahtzaun abgesperrt. Das Zaunmaterial leuchtete rötlich. Ich bückte mich und hob ein Stück Holz auf, das ein früherer Sturm hierhin geweht hatte. Das Scheit war ausgetrocknet und wog kaum etwas. Ich warf es gegen den Zaun. Das Holzstück traf auf und verglühte geräuschlos in einer bläulichen Flamme. Gondelstation? Endstation! 3. Reisende aus der Gegenrichtung Schuon fühlte sich offenbar prächtig. Er scherzte mit Drogg, der biomechanischen Lok, und lachte laut über seine eigenen Witze. Drogg nuschelte hin und wieder kurze Antworten, an denen jeder Dhedeen verzweifelte. Vielleicht, dachte Euphloden, war Drogg einfach zu erschöpft, um sich deutlich zu äußern. Schließlich fuhren sie die Tage und Nächte durch. Kurz vor Tagesmitte schlug Drogg eine neue Richtung ein. Schuon ließ ihn gewähren und erklärte Euphloden: »Drogg hat ein Wasserloch gefunden.« Tatsächlich kam nach etwa einer Stunde ein Gehölz in Sicht, auf das Drogg zuhielt.
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Gefangen im Himmelsnetz Es ging nun. schneller voran, Drogg schnaufte und grunzte. Dann sah Euphloden den silbrigen Spiegel des Wassers durch die Äste einiger verkrüppelt aussehender Sträucher schimmern. Drogg verlangsamte sein Tempo kurz vor dem Gehölz und brach sich gemütlich, aber unwiderstehlich Bahn. Am Ufer des Gewässers fuhr er seinen Stirnrüssel aus und saugte das Wasser hektoliterweise ein, füllte sich Magen und Retroblase. Schuon rollte aus dem Tender. Sein Leib war kugelrund, soweit sich das unter den fetten Hauttüchern erkennen ließ, die vom Halsansatz aus einander überlappten und bis zum Boden reichten. Euphloden hatte bislang nicht herausgefunden, ob unter diesen Hautvorhängen Beine liefen oder Schuon sich auf andere Weise fortbewegte. Schuon schaukelte auf das Wasserloch zu, tätschelte im Vorüberschaukeln Drogg und platschte dann selbst ins Nass. Auch Euphloden stieg aus. Er rutschte und schlängelte sich zunächst über den Boden, aber die Erde war rau, uneben, steinig, sodass er endlich Blut in seine Laufarme pumpte, sie versteifte und dadurch lauffähig machte. So stakste er zum Wasserloch. Das Wasser wirkte verdreckt, trüb, unappetitlich; Euphloden scheute zurück. Seufzend erinnerte er sich an die Zisternen voll reinen, klaren Rinnwassers in den Kronen der Edemen-Wälder und an die durchsichtigen Fluten der Regenwüste von Krynné. Aber in ganz Krynné gab es keine intakte Bodenstation der Maulspindler und damit keinen Zugang zum Himmelsnetz, weswegen Euphloden dem Rat seines Meta-Vaters Knoodt gefolgt war und sich auf den Weg nach Karaporum gemacht hatte. Schuon rollte durchs Wasserloch, spritzte mit den gewaltigen Armen, prustete, lachte und schwankte dabei an der Oberfläche hin und her. Entweder war der Tümpel nicht sehr tief, oder Schuon war dank seiner Fettmassen unsinkbar. Euphloden stand einige Meter von Drogg entfernt am Ufer und sah dem doppelten
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Wim Vandemaan Schauspiel - der saufenden Lok und dem badenden Schuon - zu, als es passierte. * Die Echse tauchte ohne Vorwarnung aus dem gelb-violetten Grasmeer auf. Mit fließenden, ineinander übergehenden Bewegungen, mit großer Anmut, wie Euphloden voll widerwilliger Bewunderung anerkannte, sprang sie in Richtung Tümpel. Euphloden dachte: Ich sollte fliehen!, aber durch den Blutmangel im Kopf, den er durch die Versteifung seiner Beine herbeigeführt hatte, war er beduselt, träge geworden. Als Schuon die Echse endlich auch bemerkte, schrie er Drogg eine Warnung zu. Aber die biomechanische Lok war ins Trinken vertieft. Die Schuppen der über drei Meter langen Echse verfärbten sich. Zu Beginn ihres Angriffs hatte sie eine gelbviolette Zeichnung getragen, wie das umliegende Savannenland. Nun, noch im Sprung, nahm sie die aschgraue Färbung des Gehölzes an. Euphloden sah dem Schauspiel fasziniert, aber wie unbeteiligt zu. Die Echse sprang Drogg an und schlug ihre Zähne tief in die schwarze, lederne Haut, glitt aber an einigen metallischen Verhärtungen wieder ab, rutschte auf den Boden und knarrte zornig, schüttelte den Kopf einige Male hin und her und setzte wieder an. Diesmal musste sie eine weichere, nachgiebigere Fläche aus rein biologischem Material erwischt haben, denn sie konnte sich verbeißen. Überrascht sah Euphloden, wie Schuon sich aus dem geöffneten Seitenfenster des Tenders herauslehnte. Wie war er dort hineingekommen - er hatte doch eben noch im Wasser geschaukelt?! Euphloden fuhr seine Augenstiele aus. Schuon hielt in den Händen seiner Arme, die ihm aus dem langen, biegsamen Muskelhals hervorwuchsen, einen Schießprügel, einen zugleich wuchtig und doch schlank wirkenden Stock mit einer
Gefangen im Himmelsnetz Verdickung am hinteren Ende und einer Öffnung in dem vorderen, spitzen Teil. Schuon legte mit dem Gerät in aller Ruhe auf die Echse an, während Drogg wie am Spieß schrie. Es gab einen kleinen Blitz direkt am Gerät und gleichzeitig einen erstaunlich lauten Donner, eine dicke Rauchwolke erhob sich aus dem Gerät, und die Echse schrie hoch und spitz auf. Schuon hantierte mit dem Schießprügel und einigen kleineren Utensilien. Kurz darauf folgte ein zweiter Donner- und Blitzschlag. Die Echse ließ von Drogg ab und wandte sich zur Flucht. Euphloden stelzte auf Drogg zu und kletterte in den Tender. Er griff nach einer Schlaufe, die aus dem Dach der Tenderkabine herauswuchs, hängte sich kopfunter daran auf und ließ das Blut zurückfließen, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Schuon lachte schon wieder und hielt das Kleinstgewitter-Gerät Euphloden triumphierend vor die ausgefahrenen Augen: »Ein Schießprügel. Er war nicht ganz billig, aber ich habe mir gleich gedacht: Was soll der Geiz? Und siehe da es war eine gute Investition!« Drogg blutete aus einer Wunde. Es war dickes rotes Blut, das offenbar Eisen als Sauerstoffträger enthielt und nicht Kupfer wie in grünem Euphloden-Blut. Schuon behandelte die Wunde, wobei er Drogg ab und an beruhigend zugrunzte. * Die folgenden Tage saß Euphloden apathisch hinter Schuon im Tender. Die öde, fast baumlose Savannenlandschaft setzte ihm zu. Die Lauf- und Kuppelachsen von Droggs Holzwalze stampften, der aus verholzten Fasern und Pechflechten bestehende Kesselleib ächzte, sein Pflug bahnte sich einen Weg durch die Lanzetthalme der Savanne. Schuon lachte, und wieder einmal hatte Euphloden den Witz nicht begriffen. Sein Leib schüttelte sich geradezu vor Heiterkeit. Das Gesicht wies zwei Augen über dem Mund auf, war aber nicht stabil.
Wim Vandemaan Es wirkte wie ein Tuch, das entweder spannungslos herabhing oder von einem inneren Wind wie ein Segel aufgebläht wurde. Drogg ächzte und stöhnte. Wenn Euphloden es richtig verstand, dann hatte Schuon die Lok, die aus biologischen wie aus mechanischen Komponenten bestand, bei einem seiner dubiosen Geschäfte in einer fernen Parzelle erworben - einer Parzelle hinter der Sonne, wie Schuon prahlte, als wäre er bereits einmal auf der gegenüberliegenden Seite der Intrawelt gewesen. Also genau dort, wo Euphloden hin wollte. Wohin er musste, wenn er das Universale Rezept bekommen wollte für seinen Brudersohn, seine Lieblingsknospe, sein Ein und Alles, das seit dem Ereignis im Koma lag. Er wusste nichts Sicheres über das Universale Rezept, nur, dass es das letzte Mittel bei hoffnungslosen Fällen sein sollte. Und dass es in einer Parzelle namens Opalo Panca ausgestellt würde irgendwo in der transsolaren Schalenhälfte der Intrawelt. Natürlich planten weder er noch Schuon, mit Drogg dorthin zu gelangen. Das hätte sie viele Jahre ihres Lebens gekostet. Deswegen hofften beide, Zugang zum Gondelsystem der Maulspindler zu erhalten und so auf die lange Reise zu gehen. Wenn man ihre Reisegründe denn akzeptierte. Schuon plagten keine Zweifel - schließlich trieben ihn seine unbezweifelbar wichtigen Geschäfte, die für jedermann von enormer Bedeutung waren. Jedenfalls laut Schuon. Euphloden konnte nur hoffen, dass man seinen Grund anerkannte - letzte Rettung zu suchen für seinen Brudersohn, seine Lieblingsknospe. Drogg kam mit lautem Knurren zum Stehen und murmelte etwas. Euphlodens Dhedeen konnte keine Übersetzung liefern, aber Schuon dolmetschte: »Er will etwas äsen.« »Gut«, stimmte Euphloden zu, obwohl es ihn drängte. Was hätte er auch sagen
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Gefangen im Himmelsnetz sollen. Schließlich war er auf Schuons Wohlwollen angewiesen - ohne die biomechanische Lok wäre die Reise ins Innere von Karaporum für Euphloden eine Qual gewesen. Zwar besaß er als Kopffüßler sechs Beine, aber die waren überwiegend auf das Leben in den Kronen der EdemenWälder von Krynné angepasst, wo Euphloden und die anderen Umen sich von Ast zu Ast schwangen und beträchtliche Entfernungen im Sprung zurücklegen konnten. Auf ebener Erde tat sich Euphloden schwer. Er konnte die Beine für kurze Zeit durch maximale Blutzufuhr versteifen, aber, nach einigen Minuten fühlte er sich schlapp und unkonzentriert. Sein Instinkt trieb ihn dann zurück in die Wipfel einer Edeme, wo er sich kopfunter hängte und sein Hirn wieder mit Blut auftankte. Aber in Karaporum gab es keine EdenrenWälder. Schuon wuchtete und rollte inzwischen aus dem Tender. »Halt das«, wies er Euphloden an und reichte ihm seinen Schießprügel, den er seit dem Überfall am Wasserloch nicht mehr aus der Hand gelegt hatte. Euphloden nahm den Schießprügel und legte ihn vorsichtig auf dem Boden des Tenders ab. Seit jeher war ihm jede Gewalt zuwider, besonders aber seit dem Vorfall, der seinen Brudersohn getroffen hatte. Schuon rumorte jetzt auf dem Dach des Tenders, den Drogg als Anhänger hinter sich herzog, wobei dicke, lederne Riemen Drogg und den Tender verbanden - eine Mischung aus Zügel, Geschirr und Kupplung. Euphloden fuhr seine Stielaugen aus und versuchte, aus der Öffnung in der Seitenwand des Tenders nach oben zu blicken, konnte aber Schuon nicht entdecken. Schuon polterte an der Seitenwand herunter und wuchtete sich wieder in den Tender. Er verkündete: »Ich habe sie gesehen, hierdurch.« Dabei hielt er ein hölzernes Rohr hoch, das an beiden Enden mit einer transparenten Haut verschlossen war. Drinnen schwappte es leise. »Ein Fernsicht-Drogg«, erläuterte Schuon.
Wim Vandemaan Euphloden hatte Drogg bislang für einen Eigennamen gehalten. Nun überlegte er, ob es eine Bezeichnung für all die fremdartigen biomechanischen Gerätschaften war, über die Schuon anscheinend verfügte. »Wen hast du gesehen?«, fragte Euphloden. »Wen?« Schuons Gesicht blähte sich auf. »Werd wach, du humorloser Hirnfisch die Gondelstation natürlich! Nur noch ein paar Stündchen, und wir sind am Ziel. Und dann - dann, mein Lieber, gehen wir auf die ganz, ganz große Geschäftsreise!« Seit jenem verhängnisvollen Tag lebte Abertack in einem Zwiespalt: Einerseits scheute er den Aufstieg zur Flachstation GEM-45 so, wie der Übelmeinende Kuzmuzz das Gerechte Licht der Erwecker mied. Andererseits bereitete ihm der Gedanke Unbehagen, seinen Abschnitt des Netzes sich selbst zu überlassen. Wer sollte die Schäden beheben, wie sie beispielsweise durch den Kot der Trijzinen entstehen konnten? Denn das Netz sollte ewig sein, und er wollte teilhaben an dieser Ewigkeit. Also raffte er sich fünf Tage nach seinem Absturz auf: »Das Netz braucht Wartung, das Netz braucht Wartung«, hämmerte er sich ein. Er erhob sich unter Schmerzen von seinem Ruhepolster und schleppte sich ins Freie. Da lag die Gondel, ausgekuppelt. Und da war das Gondelseil, das leer durchlief. Abertack klemmte das Seil zwischen die Spulen und griff mit den Klauen zu. Schon das Recken der Beine verursachte einen neuen, ziehenden Schmerz. Er zog sich hoch, wie unter Zeitlupe, langsamer als je zuvor. Der Otholit pochte, und er glaubte, den Mangel an Gallerte zu spüren - ein hohles, betäubendes Gefühl. Aber er kämpfte sich hoch. Meter um Meter. Etwa zwei Kilometer über Grund fiel ihn die Panik an wie ein wildes Tier und schüttelte ihn durch. Er glaubte zugleich in die Tiefe und in die Höhe zu stürzen. Unverdaute Mineralmasse trat, mit Magensäure versetzt, aus dem Mund und verklebte die Spulen. Er knickte seine
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Gefangen im Himmelsnetz Beine dreifach, wickelte sie förmlich ums Seil und klammerte sich mit den Klauen fest. So hing er bebend vor Angst und Schmerz am Seil, das leicht vibrierte, und wimmerte: »Hortorok, hilf!« Erst nach Minuten löste sich der Krampf ein wenig, und Abertack ließ sich abwärts gleiten. Das Erbrochene an den Spindeln behinderte den Ölfilm, sodass die Spulen am Ende wund waren. Die nächsten drei Tage verbrachte Abertack erschöpft und ausgelaugt auf dem Ruhepolster. Selbst der Gang hinab zu den Duum-Bäumen war ihm unmöglich. Erst am vierten Tag trieb ihn der Hunger den Berg hinab. Seitdem unterzog er sich nur hin und wieder der Mühe des Aufstiegs, auch wenn jede Wartungsbesteigung neue Panikattacken in ihm auslöste und er oft genug wie ein Kind um Hortoroks Beistand wimmerte. Den Aufstieg bis zur Flachstation hatte er fast gänzlich gemieden. Nur ein einziges Mal hatte er einem Reisewilligen die Legitimation nicht absprechen können, hatte die Gondel eingekuppelt und den Gast die endlos hohe Strecke in den Himmel hinein gefahren. Es waren die schlimmsten viereinhalb Stunden seiner gesamten Tagtausende gewesen. Abgesehen von der Fahrt zurück, die noch einmal schlimmer war, weil sie der Form nach etwas wie ein Sturz war - wenn auch ein Sturz in extremer Verlangsamung. Außerdem hatte er während der Gondelfahrt das furchtbare Gefühl, anders als beim Aufstieg zu Fuß die Sache nicht in den eigenen Klauen zu haben. Auch wusste er nicht, wie die Flachwächter seinen Körperschaden aufnehmen würden. Der erhabene Dunkelhein entschied als Befehlshaber des Gondelbahnhofes maßgeblich über seine dienstliche Beurteilung; er galt als Perfektionist. Und was immer Abertack noch war - perfekt war er nicht mehr. Hätte er sich in die medizinische Versorgung der Station begeben, dann hätte er den Sturz einräumen müssen und
Wim Vandemaan zugeben, dass er ihn durch seinen Übermut mit verursacht hatte - und das wäre seine endgültige Disqualifikation. Er hatte die Verletzungen seiner Hornplatte also vorsichtshalber mit Stofftüchern verhängt und den Schmerz verbissen. Denn immer noch war ihm ein Rest Hoffnung verblieben, am Ende seiner 9000 Tage zu den Flachwächtern erhoben zu werden, sodass seine biologische Uhr weiter und weiter laufen durfte. Für die Instandhaltung der Bodenwege zu seiner Station allerdings hatte er keine Sorge mehr getragen, ja, er hatte den GrünNomaden, die ihn mit Faden-Rohstoff versorgten, angedeutet, dass er die Entfernung von Wegmarken für einen wunderbaren Scherz halten würde. Und er hoffte, dass die Nomaden den Wink verstanden hatten. Wirklich waren seit Dutzenden von Tagen keine Reisewilligen mehr eingetroffen. Auch gestern hatte niemand vorgesprochen. Der Maulspindler war deswegen nur kurz in den Duum-Hain gegangen, um einen Beutel überreife Früchte vom Boden aufzulesen und sie auf den Gipfel und in sein Wärterhäuschen zu tragen. Sie schmeckten zwar wie gewohnt bittersüß, aber auch leicht angefault. Er hätte, obwohl das Strecken ihm noch Schmerzen bereitete, doch einige frische Glutfrüchte pflücken, statt nur das Fallobst aufsammeln sollen. Nun, er würde es morgen versuchen. 4. An den Feuern der Intrawelt Gondelstation? Endstation! Natürlich sind Anlagen von zentraler Bedeutung bestens gesichert, wies mich mein Extrasinn zurecht. So verfahren die meisten Zivilisationen, warum sollte es gerade in der Intrawelt anders sein? Gib doch nicht gleich auf! Sieh dich um! Finde einen Weg! Jolo sammelte noch ein paar Steine auf und warf nun einen nach dem anderen in die Hochenergiebarriere, als würde das das Ergebnis verändern. Alle vergingen lautlos
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Gefangen im Himmelsnetz in einer blauen Stichflamme. Der rötliche Energiezaun reichte etwa 30 Meter in die Höhe, seine Ränder bogen sich aufeinander zu. Damit war das Gelände auch vor einem unbefugten Betreten von oben, aus der Luft, geschützt. Lediglich das Seil blieb von der hochenergetischen Sicherheitsmaßnahme unberührt. »Wer baut solche Schutzwälle?«, fragte ich laut und erbost, als sei der Zaun zu meiner persönlichen Belästigung eingerichtet worden.. Nehmen wir uns da nicht ein bisschen zu wichtig?, schalt mich mein Extrasinn denn auch sofort. »Das ist ja mörderisch! Eine Mauer mit Dorndraht hätte gereicht«, stimmte Albia zu. Aber das war es nicht, worauf ich hinauswollte. »Gehen wir die Tür suchen? Ich meine: So was muss es hier doch geben, nicht wahr?« Da hatte die Hohe Frau zweifellos Recht, doch mich beschäftigte eine andere Frage: Wer, wenn nicht die Schöpfer der Intrawelt, konnte an diesem Ort solche Hindernisse aufbauen? Schließlich mussten alle »Besucher« jegliches technische Gerät zurücklassen. Ich betrachtete das Gerät, das ich mir um den Arm gebunden hatte. Jegliches? Vielleicht, erwog der Logiksektor, war der Zugang früher anders reglementiert. Großzügiger, sodass die Mitnahme von Hightechgerät erlaubt war Oder gewisse Besucher erhielten Ausrüstung, sobald sie eingetroffen waren. »Hallo? Bist du noch da?«, Jolo zupfte mich an der Hand. »Sollen wir uns nicht ein bisschen umsehen?« Wir wanderten um das Gelände, das vom Hochenergiezaun abgesperrt war. Nach einiger Zeit hörte ich eine Stimme murmeln; aber wir waren noch zu weit, als dass der Dhedeen hätte verstehen und übersetzen können. Endlich fanden wir ziemlich genau auf der anderen Seite einen Torrahmen im Zaun, etwa zwei Meter groß. Der Rahmen glühte gelb, der umrahmte Raum war durchsichtig. Jolo warf den obligatorischen Stein. Er verglühte im scheinbaren Nichts.
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Wim Vandemaan Aber genau von dort ertönte auch die Stimme. Sie klang für meine Ohren weich, weiblich, freundlich und zugleich geschäftsmäßig - das Timbre einer Stewardess aus den personalintensiven frühen Tagen der kommerziellen Raumfahrt. Von hier aus hatte ich keine Schwierigkeiten mehr, zu verstehen, was die Stimme flüsterte: »Legitimation ist im Morgengrauen möglich. Legitimation ist im Morgengrauen möglich. Legitimation« * In der Nähe des Torrahmens befand sich eine kleine Gruppe von Duum-Bäumen. Wir schlugen unser Lager in ihrem Schatten auf und verbrachten den Tag wartend oder, was Jolo angeht, ununterbrochen essend. Ab und an verschlang er die Früchte, ohne sie geschält zu haben. »Du wirst noch von innen heraus zu leuchten anfangen, mein Lieber!«, warnte ich ihn. »So wird mein Leuchtkörper ein wenig Licht in dein düsteres Leben bringen«, erwiderte er und futterte weiter. Gegen Abend hatte er sich wieder überfressen. Seine Eingeweide produzierten eine wenig appetitliche Geräuschkulisse. Er kochte etwas Wasser in einer Tasse auf und zerbröselte einige graublaue Brocken fester Substanz darin. Kurz darauf stieg ein penetranter Geruch nach saurer Erde aus der Tasse auf. Jolo schlürfte und schmatzte. »Muss das sein?«, fragte ich genervt. »Es dient meiner Gesundheit«, rechtfertigte er sich. Ich fühlte mich immer noch unwohl; irgendetwas stimmte nicht, aber ich wusste nicht, was. Vielleicht war meine üble Laune ansteckend, denn auch Albia, die Hohe Frau, wirkte auf mich unruhiger, ungeduldiger als sonst. Sie hatte begonnen, sich zu kratzen, als plage sie ein großer Juckreiz.
Gefangen im Himmelsnetz Als sie uns eines ihrer Spiele vorführte, eine Mischung aus Jongleurkunststück und Hütchenspiel, entglitt ihr eines der Elemente, eine blassblaue Kugel, die auf dem Boden in tausend Splitter zersprang. So ungeschickt hatte ich sie noch nie gesehen. Kurz nachdem sich die Sonne der Intrawelt ausgeschaltet hatte, begann Jolo einen Verdauungsspaziergang, in dessen Verlauf er sich offenbar auch ein wenig Erleichterung verschaffen wollte. Jedenfalls kam er nach wenigen Augenblicken zurückgelaufen und winkte mit beiden Handtatzen. »Wir bekommen Besuch«, rief er. * Ich darf behaupten, dass ich im Laufe meines nicht eben kurzen Lebens etliche absonderliche Fahr- und Flugzeuge gesehen und oft auch benutzt habe. Aber was in dieser roten Stunde auf uns zukam, würde in meinem fotografischen Gedächtnis einen Ehrenplatz erhalten: Vor uns pflügte eine Art Lokomotive durchs Hochgras. Wie eine prähistorische Dampfmaschine stieß sie durch zwei oder drei kleine Schornsteine Wölkchen in die Luft. Das ganze Ding schien einerseits wie aus Holz gefertigt, geschreinert, gedrechselt und anschließend mit metallischen Teilen beschlagen zu sein; andererseits wirkte es auf unbestimmte Art organisch. Die Räder waren breit, eigentlich schon Walzen, und hatten die elfenbeinerne Farbe von frei liegenden Knochen. Das Ding besaß etwas wie ein Gesicht mit einem richtigen Mund, aus dem es verhalten ächzte und stöhnte wie unter einer schweren Last; und an den Achsen wölbten sich hin und wieder enorme Muskelpakete. Schweiß rann dem Ding in Bächen von den Seiten, wurde in kupfernen Gefäßen aufgefangen und über ein Pumpoder Adernsystem dem Kreislauf wieder zugeführt. Diese lebende Lok zog einen Anhänger oder Tender hinter sich her. Als das ganze Gebilde kurz vor dem DuumWäldchen zum Stehen kam und der Passagier
Wim Vandemaan ausstieg, während die Lok hörbar verschnaufte, wurde mir klar, warum die Reise so anstrengend gewesen sein musste: Aus dem Tender stieg - oder besser: rollte eine ungeheuer fettleibige Gestalt. Ich glaubte zunächst, dass das Wesen sich über und über mit Teppichen behängt hatte, sah dann aber, dass die herabwallenden Bahnen, die da übereinander lagen, aus Haut und Fettmasse bestanden. Bekleidet war es nur mit einigen Schnüren und Bändern, die seine imposante Erscheinung in wirren Mustern umspannten. Auf dem kugelrunden Leib, der sich schwankend auf uns zubewegte, saß ein enormer Hals, der mit zwei Armen bewehrt war. Und auf dem Hals thronte ein Kopf, dessen Gesicht eigenartig unstet war, mal eingedrückt, mal flach, mal ausgestülpt wirkte. »Ich grüße euch, Mitbewerber!«, rief uns das Wesen zu. »Ich darf mich vorstellen: Mein Name ist Schuon Pezzanpal, Edelhändler von Aflar, Ehrenkonsul der Handelskammer Unserer Dreizehn Wohlhabenheiten und DroggAlleinvertreter in den Parzellen Krynné, Falva, Echthnis, Dariae, Honnuran und selbstverständlich Karaporum. Immer im Interesse der Kundschaft unterwegs und wenn es sein muss - auch überwegs, wie man sagt!« Er wies mit einem seiner Halsarme auf den Gondelfaden und lachte schallend. »Ich darf mich ans Feuer setzen, liebe Konkurrenten, ja?« Er rollte, indem er sich zwischen uns hindurchzwängte, auf unser Lagerfeuer zu wie ein riesenhaftes Stehaufmännchen, drehte sich, ohne die Laufrichtung zu ändern, einmal um die Körperachse und rief nach hinten: »Nun komm schon, Trockenfischchen!« Für einen Moment staunte ich, wie man das vor sich hin schnaufende und - wenn man dem Duft glauben konnte - seine Verdauungswinde ablassende lebende Fahrzeug Trockenfischchen nennen konnte, als ich sah, dass sich noch ein anderer Passagier aus dem Tender wand. Dieser zweite Fahrgast sah aus wie ein Kopffüßler mit sechs oder sieben Tentakeln. Zunächst glitt das Wesen auf diesen Körperanhängen die Außenwand
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Gefangen im Himmelsnetz des Tenders herab und einige Meter über den Boden, dann zögerte es einen Moment und schien sich zu konzentrieren. Kurz darauf schwollen die Tentakel an und streckten sich, und das Wesen erhob sich wie auf Stelzen. So kam es etwas ungelenk auf uns zu, hielt kurz inne und verbeugte sich unmerklich. Es fuhr seine beiden Augen auf Stielen aus und starrte zunächst zu Jolo herab, blickte dann Albia an und schließlich mich. Seine Augen waren auffallend menschenähnlich und von strahlendem Blau. Schließlich sprach er mich an: »Ich grüße euch im Namen der ganzen Brutgemeinschaft der schwebenden Nester von Krynné!« »Trockenfisch, komm! Wir machen es uns gemütlich«, ertönte wie ein Donnergrollen die Stimme des ebenso wuchtigen wie weitgereisten Kaufmannes. * Lagerfeuer machen seit Urzeiten gesprächig - ohne unbedingt die Wahrheit ans Licht zu fördern. Ich möchte nicht wissen, wie viele Raumschlachten gewonnen, Frauen, Männer und Mischwesen geliebt, Schätze entdeckt und wieder verloren, Sternenreiche gegründet und zerstört worden sind nur in den Erzählungen an diesen phantastischen Feuern. Deswegen war ich mir auch unsicher, wie viel von dem, was an unserem Feuer erzählt wurde, glaubwürdig war. Zumal es in der Regel Schuon war, der Anekdoten aus seinem ereignisreichen Leben zum Besten gab. Meist mit einer Pointe, die ihn zu einem gewaltigen Gelächter hinriss, , die außer ihm aber niemand verstand. »Ihr seht noch recht jung aus«, sprach er mich zwischendurch an. »Aber vielleicht habt auch Ihr schon etwas erlebt, Atlan, mein Junge?« »Nichts, was der Rede wert wäre«, gab ich zurück. Immerhin erfuhren wir, dass Schuon in Sachen Drogg handelte - ohne dass mir
Wim Vandemaan trotz mehrmaligen Nachfragens klar wurde, was Drogg eigentlich bezeichnete: einen Gegenstand, eine Art von Gegenständen, ein bestimmtes Bauprinzip oder vielleicht einfach eine Herkunft. »Ein interessantes Schmuckstück - oder Werkzeug - oder beides habt Ihr da am Arm«. Schuon beugte seinen Hals in Richtung Cueromb und streckte seine Hand danach aus. »Ihr wärt bereit, es gegen einen guten Drogg zu tauschen?« »Leider ein Familienerbstück«, gab ich zurück, »das in der Familie bleiben muss.« »Ein jedes Ding gehört dem, der es am meisten begehrt, sagt man in der Handelskammer Unserer Dreizehn Wohlhabenheiten.« »Es ist absolut unverkäuflich«, bekräftigte ich. »Was Ihr nicht sagt«, murmelte Schuon und lehnte sich wieder zurück. Jolo grummelte der übervolle Magen, trotzdem verlangte er noch nach Früchten. Selbst aufzustehen und welche abzupflücken, sah er sich aber außerstande. »Ich gehe«, bot sich der Kopffüßler an, dessen Name, wie ich gehört hatte, Euphloden war. Euphloden versteifte seine Beine und erhob sich dann. Er musste meinen erstaunten Blick bemerkt haben und fragte: »Das sieht für Knochenläufer immer wunderlich aus, nicht wahr? Wir festigen unsere Extremitäten, indem wir Blut in sie hineinpumpen.« »Das Prinzip ist mir vertraut«, erwiderte ich. »Du tust das auch, mit deinen Gliedern?« »Nicht mit allen«, erklärte ich ihm. »Die meisten meiner Glieder haben ja Knochen.« »Ja«, sagte Euphloden, und es klang ein wenig mitleidig. »Eine sehr unflexible Einrichtung eurer Evolution. Und wann schreitet ihr zur Versteifung des nicht knochenhaltigen Gliedes?« »Nur bei besonderen Gelegenheiten«, wich ich aus. »Zu Familienfeiern?«, fragte Euphloden nach. »Ja«, sagte ich, »etwas in der Art.«
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Gefangen im Himmelsnetz * Euphloden kam mit dem Obst zurück, ließ seine Beine erschlaffen und setzte sich. »Ich gebe zu, dass ich besorgt bin«, begann er leise. »Das Gondelsystem ist meine letzte Hoffnung, nach Opalo Panca zu gelangen.« Er verstummte und sah mich an. Ich nickte ihm aufmunternd zu, und er schien diese Geste zu verstehen. »Aber dafür muss ich erst einmal die Erlaubnis des Maulspindlers dieser Bodenstation erhalten, zur Flachstation auffahren zu dürfen. Erst dort kann ich ins weite Himmelsnetz umsteigen, einen Weg nach Opalo Panca finden... « Er gab ein Geräusch von sich, das wie Seufzen klang. Dann fragte er in die Runde: »Wie schätzt ihr eure Chancen ein, zum Gondelsystem zugelassen zu werden?«. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlich. »Wovon hängt die Legitimation eurer Meinung nach ab?« »Man sagt«, begann Schuon, »dass es von Vorteil sei, ein bestimmtes Ziel angeben zu können. Lustreisen sind ausgeschlossen. Und erkaufen kann man sich den Zugang nicht«, was er hörbar bedauerte. »Es heißt, es soll gut sein, wenn die Reise in sich sinnvoll ist oder wenn sie in gewisser Weise notwendig oder unumgänglich ist«, fuhr Euphloden fort. »Und der Reisende sollte«, ergänzte Schuon, »gewisse Kenntnisse aufweisen, mathematisch-ökonomischer Natur. Und außerdem« - er begann dröhnend zu lachen - »kann natürlich Charme nicht schaden!« »Sagt man auch, dass es hilft, schon einmal hinter den Materiequellen gewesen zu sein oder die Aura eines Ritters der Tiefe zu haben?«, fragte ich. Für einen Moment schwiegen alle. »Ritter welcher Tiefe?«, fragte Schuon nach. »War nur so eine Idee«, sagte ich, wickelte mich in meine Decke und drehte mich vom Feuer fort. Ich fühlte mich immer noch zerschlagen, fehlerhaft. »Was denn für Materiequallen?«, hörte ich Schuon noch grummeln. Dann musste ich eingeschlafen sein.
Wim Vandemaan 5. Eine ganz besondere Diät Eine unbestimmte Unruhe weckte mich. Peonu!, fuhr mir zusammenhanglos durch den Kopf. Ich setzte mich mit einem leisen Ächzen auf. Es war finster, obwohl die Nacht meinem Gefühl nach längst hätte enden müssen. Ich fror. Das Feuer war erloschen. Jolo, du elender Nichtsnutz, dachte ich wütend. An seiner Stelle hätte ich auch einen Sack Reis zur Nachtwache einteilen können. Oder ein totes Pferd. Allerdings war beides gerade nicht vorrätig. Von den Duum-Bäumen trieb ein schwaches, bitter-süßes Aroma herüber. Das rötliche Glimmern ihrer Früchte ließ sie geisterhaft aus der Nacht hervortreten, doch reichte es nicht, ihre Umgebung mehr als schattenhaft zu erhellen. Ich zog die Beine an, legte die Arme darum und lauschte in die Dunkelheit. Von dort, wo Schuon sein abstruses Fahrzeug geparkt hatte, erklang ein sonores Schnurren, Schnarchen oder Schmatzen - wahrscheinlich träumt es vom Grasen, dachte ich. Aber da war noch etwas ... »Albia?«, rief ich leise. »Zu geringer Einsatz, meine Herren, da spiel ich nicht mit ...« , murmelte sie im Schlaf. »Jolo?« Keine Antwort. Euphloden, der etwas melancholisch wirkende Kopffüßler, hatte sich zum Schlaf kopfunter in einen der DuumBäume gehängt. Eigentümlicherweise hatte er keine Angst, weder vor den Lonbals noch vor den Dropits, und wollte nicht beim Feuer bleiben. Scheinbar vermittelten die Baumkronen ihm mehr Geborgenheit. Womit er Recht hat, stellte mein Extrasinn fest und mahnte: Aber Vorsicht auch mit Euphloden - vielleicht lullt er dich nur ein. Hier ist nichts, was es scheint, und er muss nicht so harmlos sein, wie du meinst, du Narr! Ich hielt nach Schuon Ausschau, der eigentlich beim Feuer hätte liegen sollen,
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Gefangen im Himmelsnetz aber ich konnte in diesem roten Schattenlicht keinerlei Umrisse ausmachen. Der, die oder das Drogg schnaufte auf, schmatzte. Und wieder dieses andere Geräusch, wie ein erstickter Ruf aus der Ferne. Ich stand auf, griff vorsichtshalber nach dem Buschmesser und ging behutsam fort von den Duum-Bäumen in Richtung lebende Lok. Erst in diesem Moment fühlte ich, dass ich den Cueromb nicht mehr am Arm trug. Ich stutzte - ich hatte das Artefakt auf keinen Fall abgeschnallt! Erbost beschleunigte ich meine Schritte. Ich war beraubt worden, und ich konnte mir denken, von wem: Ein jedes Ding gehört dem, der es am meisten begehrt. Als ich der Lok schon sehr nahe sein musste, hörte ich, dass in ihr noch eine zweite Stimme etwas vor sich hin grummelte, murmelte - oder rufen wollte. Es klang dumpf, wie durch einen Knebel, aber ich erkannte es doch. Jolo? Jolo! « In diesem Moment sprang mich etwas an und überrollte mich förmlich. Das Buschmesser wurde mir von der Wucht des Aufpralls aus der Hand geschlagen, obwohl ich es wirklich nicht nachlässig gehalten hatte. Muskulöse Arme umschlangen meine Brust und pressten die Knochenplatte zusammen, dass mir die Luft aus der Lunge pfiff. Ich versuchte einige DhagorGriffe, aber sie führten entweder ins Leere oder prallten von seiner überwältigenden Fleischmasse ab. Drogg hat mich überfahren!, dachte ich entsetzt. Drogg steht still und verdaut, korrigierte mich der Logiksektor. Dem Gewicht nach ist es Schuon. Ich schlug mit der Stirn in die Fleischmassen, ohne Effekt. Dann biss ich zu. Ich bekam einen der Hautlappen Schuons zu fassen und schlug meine Zähne mit aller Kraft meines Kiefers hinein. Schuon heulte auf. Sein Griff lockerte sich. Ich schmeckte Eisen zwischen den Zähnen. Obwohl ich mein Ziel nicht sehen konnte, schlug und trat ich blindwütig zu. Mit einem Klack sprang in diesem Moment die
Wim Vandemaan Kunstsonne an. Unmittelbar darauf wurden die Dinge sichtbar. Schuon lag vor mir auf dem Boden und schaukelte wie ein umgeworfenes Stehaufmännchen. Aber so wie ein Stehaufmännchen erhob er sich gleich auch wieder. Ich wirbelte herum und trat ihm mit hochgerecktem Bein ins Gesicht. Schuon schrie auf. Das Gesichtssegel war über die Länge eines Fingers aufgeplatzt. Weißer, zäher Dampf entwich der Platzwunde, Schuon schrie immer weiter. Vorsicht! Hinter dir!, mahnte der Extrasinn. Ich fuhr herum. Lautlos hatte sich Drogg genähert und hinter mir aufgebaut. Die vordere der beinernen Walzen kam mit unvermuteter Geschwindigkeit auf mich zu; ich sprang zur Seite. Drogg, der nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, drehte zwar ab, erwischte aber den hinter mir hin und her pendelnden Schuon an der Schulter. Ich hatte nur einen kurzen Blick auf das Maul der biomechanischen Lok werfen können. Das Maul war dreieckig, wie bei einem überdimensionalen Insekt und halb geöffnet. Und aus dem halb offenen Maul hingen zwei strampelnde, mir wohl bekannte Beine. »Jolo«, rief ich, »was bei den Göttern der Intrawelt tust du dort drinnen?« Woher diese lokalinhärente Religiosität?, erkundigte sich mein Extrasinn interessiert. Weil ich nicht glauben kann, dass einer der seriösen Götter Arkons sich für diesen Schwachkopf einsetzen würde, gab ich zurück. Ich setzte Drogg nach, der etwas desorientiert im Kreis fuhr. Das biomechanische Ding schien auf einen Befehl seines Herrn zu warten. Ich überholte Drogg und starrte auf das Beinpaar. Von innen klangen dumpfe Rufe. »Jolo«, rief ich wieder, »was tust du da drin?« »Was ich hier tue?«, verstand ich die entgeisterte Antwort. »Was schon? Ich lasse mich fressen!«
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Gefangen im Himmelsnetz Voller Zorn und Wut - Wut auf Jolo, Wut auf Schuon, Wut auf diese ganze verdrehte, wahnwitzige Intrawelt trommelte ich mit den Fäusten auf Drogg ein. Drogg stieß mit dem Pflug nach mir. Oberhalb des Mauls entdeckte ich eine blassrosa Stelle von der Größe einer Kinderstirn. Hier war die Haut nicht borken- oder lederartig starr wie sonst alles an Droggs Leib, sondern fast durchscheinend. Ein dichtes Aderngeflecht, das langsam pulsierte, durchzog dieses Areal. An dieser Stelle könnte Drogg sensibel sein - vielleicht sogar schmerzempfindlich!, riet der Logiksektor. Also zielte ich dorthin. Zunächst schlug ich mit der Faust hinein, dann drehte ich mich leicht ab und stieß mit dem Ellenbogen zu. Drogg seufzte tief und machte einen Satz nach vorne, ich entwich mit einem Sprung und landete im Savannengras. Eine der scharfen Halmkanten schnitt in meinen Handrücken. Ich zerrte ein Stück Stoff von meiner Jacke und umwickelte so schnell wie möglich eine Hand damit. So geschützt, umfasste ich einige der übermannshohen Halme, brach sie und riss sie an der Bruchstelle ab. Neu bewaffnet stürzte ich mich auf Drogg und fuhr ihm damit über die empfindliche Stelle. Das Wesen fuhr aus der Stirn einen dürren Rüssel aus und versuchte sich damit zu verteidigen. Aber wozu dieser Rüssel auch immer diente, zur Abwehr taugte er nicht. Ziellos schlug er durch die Luft. Ich traf die sensible Stelle wieder und wieder. Sofort zeigten sich kleine Schnitte. Ein jammernder Laut entfuhr dem Maul, und es klappte auf. Ich warf die Halme zur Seite und zog Jolo heraus, dessen Arme mit einer Schnur auf den Rücken gefesselt waren. Als ich ihm die Fessel lösen wollte, biss eines ihrer Enden zu. Überrascht hielt ich mir den Handrücken. Die Bissstelle juckte entsetzlich. Ich ignorierte das Jucken und griff Jolo beim Gürtel seiner Hose, sodass ich ihn besser tragen konnte. Ich warf Jolo neben dem Buschmesser auf den Boden, drehte ihn auf den Bauch, griff
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Wim Vandemaan das Messer und setzte es an der lebenden Fessel an. »Tu das nicht!«, hörte ich eine weinerliche Stimme rufen. Ich schaute mich um. Schuon stand hinter mir. * Abertack erwachte mit dem Klacken der Sonne. Fast augenblicklich setzte der Unterleibsschmerz wieder ein, der ihn seit seinem Sturz vor 419 Tagen peinigte. Sein Geheimnis, von dem er niemandem erzählen durfte, weil er damit seine Invalidität offenbart und damit jede Chance verspielt hätte, doch noch in den Kreis der Flachwächter aufgenommen zu werden. Sein verschwiegener Schmerz, sein einziger Vertrauter. Er erhob sich vom Ruhekissen, löste den Nachtverband von seinem Leib und sah voller Missmut, dass trotz des Verbandes wieder Gallerte auf das Polster getropft war. Die Wunde wollte und wollte sich nicht endgültig schließen. Der Gallerteflecken roch leicht säuerlich. Abertack reinigte sich und legte dann neue Stoffbänder an, um die Wunde zu verhüllen. Er hatte die Stoffbahnen mit kleinen Motiven aus seiner Jugend bestickt, damit die Flachwächter, die er hin und wieder zu Gesicht bekam, den Verband für ein Kleidungsstück oder für Schmuck hielten. Er war sich nicht sicher, ob Dunkelhein seine Maskerade nicht längst durchschaut hatte. Nur einmal war Abertack ihm nach seinem Absturz auf der Flachstation begegnet; Dunkelhein war grußlos an ihm vorübergegangen. Abertack hatte sich bei Wiestein, seinem Kontaktier, möglichst unauffällig erkundigt, ob Dunkelhein sich negativ über ihn geäußert hätte. »Dunkelhein? Oh, mach dir keinen Kummer, der hat zurzeit alle Klauen voll zu tun. Wir haben Teloracs auf der Station. Sie sorgen für Unruhe, wie du dir denken kannst«, hatte Wiestein erklärt und Abertack dabei mit kalter Neugier betrachtet. Und das wohl nicht aus
Gefangen im Himmelsnetz kunstsinnigem Interesse an Abertacks Stickereiei:. Die Stickereien zeigten die Lebensfabrik, aus deren In-vitro-Matrizen Abertack mit den anderen seiner Baureihe gestiegen war. Sie zeigten das vergleichsweise winzige Trainingsnetz, in dem Abertack unter Aufsicht Hortoroks geübt hatte, und es zeigte - wenn auch nicht sehr gut getroffen - den alten Hortorok selbst. Gereinigt und angekleidet trat Abertack ans Fenster seines Häuschens. Er faltete die sechs Arme über seinem Kopf zusammen und brummte ehrfürchtig das Morgenlied aller Maulspindler, wie Hortorok es ihm zuerst vorgesungen hatte: »Sei dir bewusst, dass dein Bewusstsein vergeht. Spinne dich ein in das Netz, denn nur das Netz besteht.« Dann trat er vor das Wärterhäuschen und machte sich an den Abstieg. Wahrscheinlich, beruhigte er sich, würde auch heute niemand die Legitimation begehren. Er würde nur ein paar DuumFrüchte pflücken, sonst nichts. Keine Gäste, keine Anfrage, keine Legitimation, kein Aufstieg. Vielleicht würde es ein ruhiger Tag werden. * »Tu das bitte nicht!«, wiederholte Schuon. »Warum nicht?«, wollte ich wissen. »Drogg würde sterben«, erklärte Schuon. »Sterben? Dieses bissige - Ding? Warum übrigens nicht? Warum sollte ich es nicht umbringen? Hier - es hat mich gebissen!« »Es ist Drogg«, erläuterte mir Schuon fassungslos, »es ist doch Drogg!« Inzwischen war - vom Lärm, vom Licht oder von beidem - Albia erwacht und hatte sich unserer kleinen Privat-Arena genähert. Offenbar hatte sie einiges mitbekommen, denn sie teilte Schuon mit: »Wenn du etwas von uns willst, mein lieber Konkurrent, musst du es bezahlen.« Dann setzte sie hinzu: »Wir sind Profis!« Es war mir zwar unbegreiflich, was das für ein Argument sein sollte, Schuon aber leuchtete es offenbar ein.
Wim Vandemaan »Gut«, sagte er, »ich zahle.« Er zog ein handspannengroßes hölzernes Rohr unter einem seiner Hautlappen hervor, dessen Oberfläche teils aus Borke zu bestehen schien, teils 'aus polierten Messingaufschlägen. Wenn man näher hinsah, zeigten sich dünne blaue Äderchen, die die Messingplättchen verbanden und leicht pulsierten. »Was ist das?«, fragte ich. »Das ist ein Fernsicht-Drogg. Ein äußerst seltenes Stück. Sehr wertvoll«, behauptete er und hielt es mir hin. Ich nahm es in die Hand. Es fühlte sich warm an, die Borke rau, die messingähnlichen Elemente waren glatt und deutlich kühler. Ich hatte das Gefühl, dass in dem Rohr eine Flüssigkeit leicht hin und her- schwappte. An beiden Enden war es mit einer transparenten Membran verschlossen. Ich hob das Gerät ans Auge und schaute hindurch. Es vergrößerte tatsächlich - und zwar beträchtlich. »Gut«, stimmte ich zu. »Binde ihn frei, gib mir den Cueromb zurück. Du und deine Lok, ihr verschwindet, und wir sind quitt.« Ich verstaute den Drogg in einer meiner Taschen. Schuon beugte sich zu Jolo hinab, pfiff, und die Fessel löste sich. Sie schlängelte sich von Jolos Handgelenken fort und kroch heim unter einen von Schuons Hautlappen. Unter einem anderen Lappen zog er den Cueromb hervor und gab ihn mir zurück. »Interessantes Gerät, deine . kleine Plaudertasche ...«, murmelte Schuon. Ich hob den Cueromb probehalber an mein Ohr. Er raunte wie eh und je. Jolo erhob sich. Sein Magen knurrte, sonst gab er keinen Kommentar. »Nur aus Neugierde«, fragte ich: »Das mit dem Cueromb verstehe ich ja - aber was sollte das ganze Manöver eigentlich?« »Drogg«, sagte Schuon, indem er auf die biomechanische Lok zeigte, »hat seit Tagen nur Savannengras und Wasser gegessen. Das ist auf die Dauer nicht gesund. Manchmal braucht er etwas Zufütterung, eine besondere Diät.«
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Gefangen im Himmelsnetz »Aha«, sagte ich und schaute auf die besondere Diät, die sich immer noch die Handgelenke mit den Tatzen rieb. Schuon versorgte Droggs Wunden; über seine eigene Platzwunde hatte er eine Art Augenklappe geklebt. Er war schon wieder guter Dinge. Vorsicht, wiederholte sich mein Logiksektor, hier ist nichts, wie es scheint. Schuon wuchtete sich in den Tender, schaute aus einem Seitenfenster und rief: »Nichts für ungut, liebe Konkurrenten, alles in allem war es doch ein großer Spaß. Hier, ich habe sogar noch ein Souvenir für euch - Augenblick, wo hab ich's nur ...« »Guten Morgen allerseits - suchst du vielleicht das hier, Schuon?«, meldete sich in diesem Augenblick Euphloden. Er stand auf seinen aufgepumpten Beinen und hielt etwas in der Hand, was wie eine primitive, aber durchaus funktionstüchtige Muskete aussah. »Nicht böse sein. Ich mag zwar keine Waffen, aber ich habe mir erlaubt, den Schießprügel über Nacht mit in die Baumkrone zu nehmen. Karaporum ist voller Geschöpfe, die nicht ganz geheuer sind.« Wie wahr, dachte ich und schaute Schuon an. Der Edelhändler von Aflar und Ehrenkonsul der Handelskammer Seiner Dreizehn Wohlbeleibtheiten fluchte und tauchte ganz im Tender unter. Euphloden trat an mich heran und überreichte mir die Waffe. Ich untersuchte das gute Stück. Es ähnelte einem alten Perkussionsgewehr, wie man es auf Terra im frühen 19. Jahrhundert benutzte: Der Hahn schlägt auf ein Zündhütchen, das mit Knallquecksilber gefüllt ist. Der Feuerstrahl entzündet die Pulverladung. Pulver hatte das Gewehr keines mehr auf der Pfanne, und die Zündhütchen fehlten auch. Aber vielleicht könnte ich mir bei Bedarf das Nötige zusammenmischen. »Leichtes Spiel, leichter Gewinn!«, befand Albia. Zu leichter Gewinn, unkte mein Extrasinn. Ich sichtete die Blessuren, die ich mir während der Auseinandersetzung zugezogen hatte, und dachte: Leicht? Das kann man so oder so sehen.
Wim Vandemaan Als alles schwieg, kam mir die Stimme wieder zum Bewusstsein, die seit dem Sonnenangang aus dem honiggelben Glühen des Torrahmens ins Nichts - oder zu uns allen - gesprochen hatte: »Legitimation ist im Morgengrauen möglich. Legitimation ist im Morgengrauen möglich ...« Ich drehte mich zum Torbogen um. Das honigfarbene Glühen war erloschen. Und da stand etwas im offenen Tor. Etwas - oder jemand? 6. Welchen Sinn hat deine Reise? Abertack erschrak, als er die Unmenge von Bewerbern sah, die sich an diesem Morgen eingefunden hatten. Schon nach wenigen Schritten hatte er diesen Haufen ausgemacht, wenn auch nur undeutlich und durch die Maschen des Zaunes verwischt. Er machte eine große, unförmige Gestalt aus, die sich allerdings nicht bewegte, und vier kleinere. Die Gestalten waren in heftiger Bewegung und bildeten immer neue Konstellationen - sie kämpfen miteinander, begriff Abertack allmählich. Offenbar meinten die Bewerber, sie müssten sich ihre Zugangsberechtigung erstreiten - vielleicht, weil sie glaubten, dass die Legitimationen zahlenmäßig begrenzt waren. Gute Idee, dachte Abertack erfreut. Und vielleicht blieben so auch die meisten Bewerber schon auf der Strecke. Oder missdeutete er die Situation? Aus dem einen groß gebauten Wesen löste sich ein zweites, kleineres - war er Zeuge eines Geburtsvorganges? Vermehrten sich die Aspiranten jetzt auch noch während der Wartezeit? Als Abertack das Tor erreichte, hatte sich der Tumult wieder gelegt. Er löschte das Sperrfeld und verharrte. Ein Bipede stand ganz in der Nähe, ein Zweibeiner, aus dessen Kopf unzählige weiße Fäden hingen - vielleicht ein Artverwandter, dachte Abertack, obwohl die Zweibeinigkeit nicht unbedingt dafür sprach. Wenn Abertack sich aufrichtete, überragte er den Fadenträger um einige
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Gefangen im Himmelsnetz Klauenbreiten. Waren die Beine aber in Ruheposition geknickt, musste Abertack zu ihm aufschauen. Jetzt traten auch die übrigen Gestalten näher: Da war ein kleinerer Bipede, haarlos vielleicht das Junge des Großgewachsenen? Ein weiterer Bewerber ähnelte einem Gastropoden, der mit sechs Armpärchen unruhig in der Gegend herumfuchtelte, offenbar voller Nervosität vor der Aufnahmeprüfung für das Gondelsystem. Schließlich kroch da noch ein Wesen über den Boden, das irgendwie gestrandet wirkte: Es lag auf dem Boden, hatte fünf oder sechs Tentakel von sich gestreckt und starrte Abertack aus zwei hellblauen Augen an, die auf Teleskopstäben schwankten - wie Blüten auf einem Blumenstiel. Nur das ganz große, kolossale Ding im Hintergrund hielt still. Abertack wurde gewahr, dass es sich um ein hybrides Geschöpf handelte, um eine biologischtechnische Chimäre. Abertack begab sich auf die Projektionsfläche für das Periphere Büro und aktivierte es. Während sich die energetischen Strukturen aufbauten und entfalteten, warf Abertack einen Blick auf die wartende Gesellschaft. Als wäre der Haufen von vier Bewerbern noch nicht schlimm genug, entstand wieder Bewegung, und zwar bei diesem Koloss, der im Hintergrund ruhte. Eine fünfte Gestalt, drall, aber voller Elan, entstieg dem hinteren Teil der Chimäre und schwankte und wankte mit unbegreiflichem Tempo auf die ganze Gesellschaft zu. So viel zum Thema »ruhiger Tag«, dachte Abertack voller Pein. * Ich versuchte, das Wesen, das aus dem Torrahmen auf uns zustolzierte, mit etwas mir Bekanntem zu vergleichen, denn irgendwie kam mir das Ganze - oder doch ein Detail an ihm - seltsam vertraut vor. »Guten Tag!«, rief ich ihm zu. Ohne zurückzugrüßen oder auch nur ein Zeichen
Wim Vandemaan zu geben, dass es uns wahrgenommen hatte, schritt das Geschöpf auf sechs Beinen an unserer Gruppe vorbei. Die Beine waren vielleicht einen halben Meter lang, behaart und an drei Gelenken knickbar, was seinem Gang etwas Taumelnd-Tänzelndes verlieh. Hinter ihm aktivierte sich das Sperrfeld wieder, aber die Stewardessen-Stimme blieb stumm. Der - oder die - Fremde ähnelte grob einem Weberknecht oder einer Spinne, allerdings waren die sechs Beine für diesen Vergleich unverhältnismäßig kurz und kräftig. Sein Leib glich einem ovalen bis runden Sitzkissen von gut einem halben Meter Dicke; er durchmaß sicher mehr als eineinhalb Meter. Auf dem Körperkissen befand sich ein Kopf, dessen vier Facettenaugen ihm einen völligen Rundumblick gewährten. Oben auf dem Kopf saß etwas wie eine kleine, organische Krone mit zwei festen, stumpfen Zacken oder Zapfen. Vielleicht war das Wesen für akustische Reize nicht empfänglich. Ich begann, ihm zu winken, aber auch darauf reagierte es nicht. Wütend kratzte ich die juckende Stelle an der Hand. Wenige Meter von der Barriere aktivierte sich plötzlich etwas: Unter einem Summton entstand ein kastenförmiges Gebilde,_ das nur vage sichtbar war und in der Luft zu schwimmen schien. Eine Fata Morgana, dachte ich zunächst. Ein Energiefeld. Ein Feld aus Formenergie!, verbesserte mich der Logiksektor. Formenergie in einer Low-TechUmgebung - das wird ja immer besser!, dachte ich. Wir kommen dem fern der Sache näher. Das Gebilde stabilisierte sich: ein etwa drei Meter hoher, sechs bis sieben Meter langer Kasten aus purer Energie, der bläulich leuchtete, aber weitgehend transparent war. Innerhalb des Containers bildeten sich nun weitere Strukturen heraus: Ich bemerkte etwas wie ein Polster oder einen Hocker die Form wandelte sich noch, als schwanke sie, welche Sitzgelegenheiten für welche Körperbauform sie darstellen sollte.
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Gefangen im Himmelsnetz »Die Sprechstunde hat begonnen«, schrillte uns das Wesen plötzlich mit einer unglaublich hohen, durchdringenden Stimme an, die klang, als hätte der Stationswärter zu viel Helium genascht. »Mein Name ist Abertack, der für XACK331 zuständige Maulspindler. Wer eine Legitimation für die Beförderung durch das Gondelsystem begehrt, spricht bei mir vor. Man tritt einzeln ein!« Dann begab er sich zur Seite des durchsichtigen Kastens. Es machte Zweibeinern wie mir zwar immer wieder Probleme, mich in den Bewegungsablauf von Vielbeinern hineinzudenken, dennoch schien mir, dass der Gang dieses Maulspindlers etwas Irritierendes hatte. Einen Defekt. Er hinkt, analysierte mein Logiksektor. Ich machte einen Schritt voran. Genau in diesem Moment wurde ich von hinten angerempelt und zur Seite gestoßen, und Schuon rollte an mir vorbei. Beiläufig versetzte er mir noch einen so heftigen Schlag gegen die Brustplatte, dass mir die Luft wegblieb. Ich hatte ihn nicht kommen hören, so leichtfüßig - hatte er Füße? - war er herangeglitten. »Unaufschiebbare Termingeschäfte«, dröhnte er wie zur Entschuldigung, lachte laut und steuerte, als würde er von ihm magnetisch angezogen, auf den Container zu. Und dann folgte er dem Wesen, das sich Maulspindler Abertack nannte, hinein. * Abertack ließ sich auf das energetische Polster sinken. Wie immer glaubte er, die Härchen seines Unterleibsfelles gestreichelt zu fühlen - selbst dort, wo die Bandagen die Wunden verdeckten. Dann fuhr er die Sicherheitsschranke hoch, die einen Moment lang leise knisterte. Für den ersten Gast formte der BüroService eine Mulde. »Welchen Sinn hat deine Reise?«, stellte Abertack die rituelle Eröffnungsfrage. Der Bewerber nannte eine langatmige, geschwätzige Selbstbezeichnung. Danach ließ er einen unartikulierten Donner hören
Wim Vandemaan - eine Geräuschfolge, die Abertacks Dhedeen mit lustig, lustig übersetzte -, und sprach dann: »Was sollen wir lange drum herumreden, mein Herr Gondelbeamter. Es geht ja allein um die Legitimation zur Reise hinauf zur Flachstation. Dort erst beginnt die große Fahrt. Hier beginnt nur die kleine. Dennoch ist mir an Eurem Wohlwollen gelegen, und Eure Zustimmung für die kurze Passage würde ich zu schätzen wissen. Hoch zu schätzen, wie Sie sehen.« Damit legte er drei Säckchen auf die lichtdurchlässige, aber tragfähige Tischplatte zwischen sich und Abertack. Abertack verharrte reglos. Die Säckchen wurden geöffnet. Aus dem ersten Beutel schüttete der Applikant ein grünlich glitzerndes Pulver, aus dem zweiten rollten einige reine Diamanten, aus dem dritten packte er vorsichtig etwas aus, was wie ein winziges Modell der biomechanischen Chimäre draußen aussah. »Na, such dir schon eines davon aus!«, forderte er Abertack mit einem neuen Donnergrollen auf. Abertack betrachtete das Modell. Ihm ging durchaus ein gewisser Kunstverstand nicht ab. Schließlich hatte er selbst die kleinen Szenen gestickt, die seine Bandagen zierten - oder tarnten. Aber dieses Ding war einfach ebenso hässlich wie das Original. Was, bei Hortorok, sollte er damit? Schuon bemerkte, worauf sich Abertacks Aufmerksamkeit richtete. »Drogg ist noch sehr, sehr jung. Ich würde es dir mit der derzeit aktuellsten Pflege- und AusbauAnleitung überlassen. Und in wenigen tausend Tagen kannst du dich damit frei über sämtliche Ebenen von Karaporum bewegen! « In einigen tausend Tagen?, dachte Abertack voller Verzweifelung. Aber er sagte bloß: »Warum sollte ich über sämtliche Ebenen ...« »Nun, dann das Glimmer-Pulver«, unterbrach Schuon ihn. »Es ist lupenrein, absolut unverschnitten. Und es sorgt für Ekstasen, Ekstasen, wie du sie ... Oh, mein Herr Gondelbeamter, du wirst glauben, du fliegst!«
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Gefangen im Himmelsnetz Beglückende Vorstellung, dachte Abertack, und ihm wurde bei der bloßen Vorstellung übel. Plötzlich erkannte er, was der Bewerber beabsichtigte. Hätte Schuon in den Facetten eines Maulspindlers lesen können, so wäre er vor der Entgeisterung, die mit einem Mal darin stand, zurückgeschreckt. »Das ist ein Bestechungsversuch, nicht wahr?«, fragte er. »Be-stech-ungs-versuch?«, fragte Schuon und sah seinen Dhedeen ratlos an. »Was immer das sein soll - nein. Ich möchte mir schlicht die Passage kaufen. Kaufen, verstehst du? Ich bin Kauf-Mann, kein Bestech-ungs-versuchsMann! « Abertack, sprachlos angesichts dieser Infamie, desaktivierte die Energiewand und griff nach einem der Diamanten. Er führte ihn an seine Spulen. Der hochverdichtete Kohlenstoff schmeckte kräftig, scharf, unverdorben. Wie konnte ein Kauf-Mann es wagen, Dinge von solcher Reinheit in die Klauen zu nehmen? »Exzellente Ware«, pries Schuon an und schob Abertack die übrigen Diamanten behutsam zu. Abertack stieß sie zurück und baute die Energiewand wieder auf. »Begehren abgelehnt«, verkündete er. * Schuon kam mit knatterndem Gesichtssegel auf uns zu. Man musste nicht Kosmospsychologie studiert haben um zu verstehen, dass er mit seinem Anliegen nicht durchgedrungen war. »Könntet Ihr mir bitte für einen Augenblick meinen Schießprügel vermieten, junger Mann?«, fragte er mich barsch. Ich lehnte ab und sagte: »Dann trennen sich unsere Wege wohl.« »Wieso? Weil dieser geschäftsuntüchtige Abersack Euch den Zugang gewähren sollte? Vergesst es! Er ist taub selbst für die stärksten Argumente.« Dann drehte er sich um die eigene Achse zum Container und rief in Richtung Maulspindler: »Irgendwann wird dir jemand mächtig ...«
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Wim Vandemaan Schuon drehte ab. Ich schaute nach vorne. Euphloden schob sich gerade in das blaue Büro des Maulspindlers. * Für den nächsten Kunden baute der Service einen Bogen, an dem sich der Gast mit einigen seiner Tentakel unter Geräuschen aufhängte, die Abertacks Dhedeen mit dankbar, dankbar übersetzte. »Welchen Sinn hat deine Reise?« Euphloden erzählte. Abertack hörte zu. Die Rede war von Euphlodens Jungem, seinem Brudersohn; von einem unbeschwerten Leben in den schwebenden Nestern von Krynné. »Wir hatten ein Nest im Zentrum der Krone, wir hatten sogar schon eine eigene Melodie! «, erklärte Euphloden. Er pfiff einige Töne, lachte dann ein seltsam papierenes Lachen und erzählte weiter. Von einem verheerenden Ereignis, das Hekatomben von Umen das Leben gekostet hatte, das näher zu bezeichnen aber ein frommer Eid ihn hinderte; von der Suche verzweifelter Umen nach ihren Knospen, von Leichen, Leichenteilen, verbranntem Fleisch; davon, wie er seinen Brudersohn am Boden gefunden hatte, in einer grünen Lache Blut, die Augen ausgefahren, die Stiele starr, noch am Leben, aber unansprechbar. Wie dieser Brudersohn im Koma lag. Wie die Heiler ihn an die Alt-Stöcke angepflanzt hatten, ohne dass sich sein Zustand aufgehellt hatte. Wie nichts ihn hatte wecken können. Wie er, Euphloden, sich endlich entschlossen hatte, Hilfe in der fernen Parzelle Opalo Panca zu suchen, das Universale Rezept, das das letzte Mittel bei hoffnungslosen Fällen sein sollte. Und dass diese Parzelle irgendwo auf der transsolaren Seite der Intrawelt läge, und das hieß: außer Reichweite, wenn man nicht das legendäre Gondelsystem benutze, das den Himmel der Intrawelt durchspann. Das Himmelsnetz, wie Euphloden es nannte. Abertack dachte nach, dann fragte er: »Ist der Brudersohn mit dir identisch?«
Gefangen im Himmelsnetz »Ja - und nein«, erwiderte Euphloden. »Er ist zwar mein Gen-Identikat, aber natürlich auch ein ganz eigenes Lebewesen.« »Sinn der Reise wäre es also bloß, ein Leben zu retten, das dazu noch gar nicht endgültig aufgehört hat? Und zwar ein fremdes Leben?« »Ja«, gab Euphloden zu. Abertack richtete sich leicht auf und beugte sich näher zum Kunden, wobei er die energetische Barriere fast berührte. »Kein Leben, zumal kein fremdes, sollte uns so viel wert sein. Du musst noch viel lernen, Bewerber Euphloden. Leben ist eine kurze Passage, ewig ist nur das Netz.« Dann beendete er - wenn auch mit einem Hauch von Zweifel, wie ihm zu seiner eigenen Verwunderung auffiel - die Audienz: »Begehren abgelehnt!«. * Die nächsten beiden Ansucher fertigte Abertack in aller Kürze ab. Der Echsenhafte versuchte ihm glaubhaft zu machen, dass er der medizinischpsychiatrische Betreuer eines Verrückten sei, des Bipeden mit den weißen Fäden, der offenbar unter einer vollständigen Desorientierung litte. Dabei schnitt der Echsische ständig Gesichter, die Abertack als Maulspindler aber nicht zu deuten wusste. »Begehren abgelehnt!« Danach krabbelte das gastropodische Wesen hinein, stellte sich als Hohe Frau vor, erzählte irgendwelches Brimborium von einer Großen Staatsund Klassenlotterie in den Glückshäusern der Parzelle Badabam, welche ohne die Anwesenheit höchstselbiger Schnecke die rechte Glorie vermissen lassen würde. Abertack vermochte dem Geplärr der Hohen Frau kaum zu folgen. Nicht nur ihr Vortrag wirkte fahrig, verwirrt, auch sie selbst schwankte und bebte auf undefinierbare Weise. Sie flehte, verlangte, heischte und begehrte, bettelte, pochte auf den Tisch, forderte mit frecher Stimme, voller Zorn, hielt inne, wie erschrocken von ihrem eigenen Auftritt.
Wim Vandemaan Mit ihr stimmt etwas nicht, dachte Abertack. So jemanden konnte er unter keinen Umständen ins Netz lassen. Die Ablehnung ihres Gesuches war zwingend. Die vierte Ablehnung übrigens. Langsam kam seine Verwaltung in Schwung. Vielleicht würde es also doch noch ein guter Tag. Er würde sich zurückziehen, der Flachstation per Funk eine Leermeldung durchgeben, die Gondel reinigen. In 48 Tagen endete seine Dienstzeit hier unten. Wer könnte ihm einen Fehler oder auch nur Nachlässigkeiten vorwerfen? Er hatte sich gut gehalten. Auch Hortorok könnte alles in allem mit ihm zufrieden sein. Genügte das nicht, ihn in die Flachstation zu erheben? Dort hätte er die Möglichkeit, sich auf die Gondelwartung, das Routieren durch die Intrawelt oder die Betreuung von Gondelpassagieren zu spezialisieren. Idealerweise ließe sich eine vollständige Freistellung vom Seildienst erreichen. Der Fadenträger riss ihn aus seinen Träumen. Er war lautlos eingetreten und hatte sich vor Abertack aufgebaut. Der Service bildete aus dem Boden einen Hocker herauf. Aber der Fadenträger blieb stehen und schaute sich in aller Ruhe im Peripheren Büro um. »Welchen Sinn hat deine Reise?«, brach Abertack das Schweigen., »Ich bin unterwegs zu den Erbauern des Gondelsystems«, sagte der Fadenträger. Hortorok, dachte Abertack im ersten Augenblick und legte schockiert alle sechs Glieder über seiner Spindel zusammen. Der Echsenartige hatte Recht: ein Wahnsinniger! 7. Wahrscheinlichkeitsrechnungen Während die Kandidaten ihre Bewerbungen im energetischen Container vortrugen, beobachtete ich Abertack, meist mit dem bloßen Auge, hin und wieder mit dem Fernsicht-Drogg. Das Ding funktionierte ausgezeichnet. Wenn ich es an die Augen hob, veränderte sich irgendetwas im Inneren der Röhre - die
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Gefangen im Himmelsnetz Flüssigkeit schwappte, auch wenn ich die Hand ganz still hielt. Dehnte sie sich aus, zog sie sich zusammen, kristallisierte sie vielleicht? Wie auch immer: Das Bild, das mir die biomechanische Gerätschaft lieferte, war erstaunlich klar und präzise. Der Maulspindler hatte auf der entfernteren Seite hinter einer Art Tisch Platz genommen. Sein Leib war mit Bändern umwickelt, auf denen winzige, bunte Szenen aufgemalt waren. Waren es Kleidungsstücke? Rangabzeichen? Schärpen? Bandagen?, ergänzte mein Extrasinn. Denk an den möglichen Schaden hm Bewegungsapparat! Alle Bewerber wurden abgewiesen obwohl sie doch kaum dieselben oder auch nur ähnliche Reisezwecke vortrugen. Wenn sie dennoch erfolglos blieben, dann, weil der Maulspindler gar keine Gäste will!, zog der Logiksektor den naheliegenden Schluss. Jolo kam zurück. Der Misserfolg stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Nun«, fragte ich, »hast du nicht die richtigen Fratzen geschnitten?« »Dieser angebliche Maulspindler hat überhaupt kein Mienenspiel!«, zischte Jolo beleidigt. »Aber wenn du es besser kannst ...« Bald trippelte Albia aus dem Container hervor. Sie schien regelrecht erschüttert, wankte ein wenig. Oder schauspielerte die Gute? Und nun, war ich an der Reihe. * Als Atlan in die Gondel stieg, machte Schuon Drogg reisefertig. Albia trippelte zu ihm hinüber. Auch Euphloden hielt sich bei der biomechanischen Lok auf. »Alsdann«, sagte Euphloden, »ich wünsche euch noch eine gute Fahrt.« »Du kommst nicht mit?«, fragte Schuon erstaunt. »Willst du zu Fuß in deine Apotheken-Parzelle?« »Vor allem möchte ich nicht als Notration für Drogg mitfahren«, erklärte Euphloden.
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Wim Vandemaan Schuon grummelte etwas. Während Euphloden langsam fortrutschte, setzte der Kaufmann seine Reisevorbereitungen fort. »Sind wir sehr in Eile, haben wir große Hast?«, fragte Albia beiläufig. »Wir haben alle Zeit der Welt«, antwortete Schuon. »Die wirklich großen Geschäfte warten auf den wirklich großen Geschäftsmann.« »Zeit für ein Partiechen Jayrah?« »Du spielst das sakrale Spiel der Kaufmannsgilde von Honnuran?« »Nun, ich habe mehr davon gehört, als dass ich es wirklich spiele. Ich beherrsche vielleicht einige Grundregeln. Aber ich würde gerne noch die eine oder andere Finesse lernen ...« »Worum spielen wir?«, fragte Schuon. »Oh, um nutzlose Kleinigkeiten. Wichtig ist nur das Spiel, nicht der Gewinn. Vielleicht - um die Munition für das Gewehr?« ' »Damit du sie diesem gewalttätigen Echsenfreund aushändigst?« Albia produzierte das, was sie für ein glockenhelles Lachen hielt. »Dem Echsenfreund? Der Echsenfreund ist nicht Albias Freund. Ich garantiere dir, dass er nichts, aber auch gar nichts von meinem Gewinn erfahren wird!« Schuon lachte lauthals. »Du glaubst, du könntest gegen mich gewinnen? « »Nichts ist unmöglich in der Intrawelt«, hauchte Albia demütig. * Wenn man störrische Subalterne vor sich hat, gibt es einen uralten Trick. Man herrscht sie an: »Kann ich bitte mal Ihren Chef sprechen?« - und fixiert sie dabei so, dass sie merken, nach dieser Unterredung wird es ihnen an den Kragen gehen oder an das entsprechende Teil ihrer Landestracht. Ich trat in den Container und schaute mich herausfordernd um, ich inspizierte das Gebilde geradezu. Zwischen der Seite des Maulspindlers und dem Rest des Raumes stand ein Energieschirm, der ab und an leise knisterte. Nach jedem Knistern roch die Luft brenzlig. Jeder Besucher tat gut
Gefangen im Himmelsnetz daran, nicht über den Tisch und auf die Seite des Maulspindlers zu fassen. Die Bilder auf den Stoffbahnen, die den Leib des Maulspindlers umhüllten, waren nicht gemalt, wie ich sah, sondern mit bunten Garnen aufgestickt. Sehr kunstfertig ... »Welchen Sinn hat deine Reise?«, brach Abertack das Schweigen. Ich spannte ihn für einige Augenblicke auf die Folter - effektvoll, wie ich hoffte. Dann sagte ich: »Ich bin unterwegs zu den Erbauern des Gondelsystems! « Abertack faltete die sechs Glieder über seinem Kopf zusammen - betete er? »Dazu - kann ich dich in keinem Fall legitimieren! « Ich lachte. »Ich brauche keine zusätzliche Legitimation. Ich bin bereits legitimiert.« »Wodurch?« »Durch meinen Auftrag. Ich habe die Erbauer über einen geplanten Anschlag auf das System zu informieren, ein Attentat auf das komplette Gondelsystem! « Der Maulspindler schwieg. »Abertack - begreifst du überhaupt, was ich sage?«, herrschte ich ihn an. Dann folgte ich meiner Intuition und fragte: »Oder ist etwas nicht in Ordnung mit dir? Bist du nicht entscheidungsfähig? Fehlt dir irgendetwas?« Er richtete sich auf. »Fehlen?« »Abertack, es geht um das Netz. Das komplette Netz könnte zerstört werden! « »Lüge! Das Netz ist ewig!«, schrillte Abertack voller Inbrunst. »Also bin ich ein Lügner?«, setzte ich nach. »Abertack, bin ich ein Lügner?« »Ja! Ja, ja, ja! Nichts als ein Lügner.« »Warum sollte ich lügen?« »Weil du die Legitimation willst!« »Natürlich, die Legitimation. Und du bist ganz sicher - nur das? Abertack, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich lüge? 100 Prozent? 1,01 Prozent? Oder doch ein wenig weniger? 99,9 Prozent? 99,8? Und wie hoch ist also die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Anschlag, zu einem verheerenden Anschlag auf das Netz kommt, Maulspindler? Ist die Wahrscheinlichkeit wirklich null, Abertack? Ganz und gar null? Oder könnte
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Wim Vandemaan es in der Intrawelt in Zukunft heißen: >Das Netz würde heute noch funktionieren, es wäre immer noch ewig, hätte dieser Maulspindler Abertack damals nicht geglaubt, die Drohung einer Sabotage wäre ein Scherz gewesen! Komme ich dir sehr witzig vor, Abertack? Dann lach doch, Abertack! Warum lachst du nicht?« Ich hatte mich in Zorn geredet. Ich atmete schwer, meine Augen waren von Tränen der Aufregung geradezu geflutet. Hätte es in der Intrawelt einen Lügendetektor gegeben - oder einen Lügen-Drogg -, ich hätte mich, ohne zu zögern, darauf gesetzt und den Detektor von meiner absoluten Aufrichtigkeit überzeugt. »Ich weiß nicht«, wimmerte Abertack. »Ich bin doch nur ...« »Du bist nur? Dann solltest du mich mit jemandem sprechen lassen, der es weiß und der mehr ist als nur! Abertack«, beschwor ich ihn, »es geht um das Netz, dein Netz, Abertack!« * Der Maulspindler rutschte ein wenig zur Seite und betätigte ein Sensorfeld in der Energie-Platte des Tisches. Eine schlanke, blassrote Säule schraubte sich eine Handbreit aus der Platte hoch. Abertack beugte sich vor und sprach leise hinein. Ich verstand ihn bruchstückhaft: »... nein, ich muss mit Dunkelhein selbst ... Das verstehe ich, dennoch ... Gut, ich warte ...! Abertack ... ich habe hier ... einen Anschlag ... Sabotage ... keine Beweise, nein ... unbekannte Spezies, nicht identifiziert, in der Datenbank fehlt ... Selbstverständlich.« Die Säule wurde wieder eingefahren, Abertack nahm seine alte Position ein. Nervös kratzte ich die juckende Stelle an der Hand. »Legitimation für die Auffahrt ist gewährt«, sagte der Maulspindler schließlich. »Ich bringe dich zur Gondel, dann fahren wir hinauf.« »Mich und meine Begleiter selbstverständlich.« Abertack zögerte. Ich wies mit der Hand auf den Tisch, legte so viel Verachtung wie
Gefangen im Himmelsnetz möglich in meine Stimme und spottete: »Ein Anruf genügt, und du bekommst deine Anweisungen von kompetenter Seite.« Der Maulspindler setzte sich wieder in Bewegung. Plötzlich knickte er mit einem Bein ein. Abertack ächzte auf. Seine Schärpe war ein wenig verrutscht. Zwei, drei zähe Tropfen klatschten hörbar auf den Boden. Ein schwacher Geruch wie von Essig verbreitete sich. Abertack rückte die Bandage zurecht und setzte seinen Weg fort. »Informiere deine Begleiter, dass man mitgenommen wird«, forderte mich der Maulspindler auf. Gut gemacht!, lobte mein Extrasinn. Findest du? Ich musste schlucken. Dann folgte ich dieser geschundenen Kreatur. 8. Eine terranische Fabel Ich sammelte Albia und Jolo ein. Schuon und sein hungriges Fahrzeug waren längst außer Sicht, eine breite Schneise führte ins gelb-violette Grasmeer. Nur Euphloden verabschiedete sich von uns. Er hatte sich feierlich auf seine versteiften Beine erhoben und winkte uns mit einem starren Tentakel zu. »Wenn ihr je nach Opalo Panca kommt...« Endlich stiegen wir auf den Tafelberg. Wir wären ohne Abertack, der sich nach oben schleppte, sicher schneller vorangekommen, ich ließ ihm jedoch den Vortritt. Mit seinen beiden rückwärtigen Facettenaugen hielt er uns im Blick. Gesprochen wurde nicht. Nach etwa einer Viertelstunde erreichten wirr den Gipfel. Ich sah eine einfache Plattform, die von einer Art Zeppelin in Kleinformat beherrscht wurde. Das Gebilde war etwa dreimal so hoch wie ich, also ungefähr fünfeinhalb Meter, und ebenso breit. Der Länge nach maß es mindestens 15 Meter. Das musste die Gondel sein. Hinter der Gondel ragte ein mittelalterlich anmutender Baukran hervor.
Wim Vandemaan Abertack. kümmerte sich nicht um uns, sondern begab sich zur Rückseite der Gondel. Das Fahrzeug bestand aus einem kobaltblauen Material. Seine Außenseiten wiesen zwei übereinander liegende Reihen von Fenstern auf. Die Fenster der unteren Seiten waren kleinere Bullaugen, die obere Reihe dagegen konnte man als großzügige Panorama-Galerie bezeichnen. Ich trat an die Gondel heran. Am Bug stand eine Tür offen. Ich klopfte mit dem Knöchel an das Material. Es hallte überraschend lange nach, als hätte ich an eine Glocke gerührt. Dabei war der Stoff äußerst dünn, eine bloße Folie oder ein Blech. Glitt man mit dem Finger darüber, fühlte es sich fugenlos glatt, kühl und auf unerklärliche Art gewichtslos an. Abertack war auf den Kran gestiegen und von da auf das Dach der Gondel. Dort erhoben sich zwei Bündel von Greifern, eines am Bug, eines am Heck. Alle Greifarme - die vier vorne und die vier hinten - waren viergliedrig und liefen in gezackten Klauen aus. Wären sie nicht aus demselben kobaltblauen Material gewesen wie der Rest der Gondel, hätten sie so organisch gewirkt wie die Beine Abertacks, denen sie nachempfunden schienen. Im Zentrum der Plattform befand sich ein filigran anmutendes Türmchen, vielleicht sechs oder sieben Meter hoch. Kurz vor seiner Spitze buchtete sich das Türmchen rundum aus, so dass es einem maurischen Minarett glich. Ein Seil kam aus dem Himmel, lief über die Ausbuchtung des Turmes und lief von dort wieder in die Höhe zurück. Ich beschirmte die Augen mit der Hand. Aber da das Seil steil anstieg und die Sonne der Intrawelt immer im Zenit stand, schien es genau in ihr grelles Licht zu streben, und ich musste die Augen bald abwenden. Obwohl das Seil lief, war es aufs Äußerste gespannt wie die Saite eines Instrumentes. Und tatsächlich glaubte ich, einen Ton zu wahrzunehmen, ein hohes Singen am Rande der Hörbarkeit. Ich schaute, um meine Augen vom schmerzhaften Gleißen der Sonne zu
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Gefangen im Himmelsnetz erholen, auf den Boden. Dort lag neben der Gondel ein Knäuel des Seilfadens. Während Abertack oben auf dem MiniZeppelin mit den Greif armen hantierte, hob ich das Knäuel auf. Der silberblaue Stoff war federleicht. Ich wickelte ein Stück des Fadens ab. Er war dünn, allenfalls fünf Millimeter im Durchmesser. Ich nahm ihn zwischen beide Hände und zerrte an ihm, band ihn mir zusätzlich um die Handgelenke und zog mit aller Kraft, aber er dehnte sich nicht, sondern schnitt nur tief ins Fleisch. Heimlich zog ich das Seil über die Schneide meines Buschmessers. Der Faden blieb völlig intakt, er kerbte sich nicht einmal ein. Die terranische Nano-Industrie stellt superdünne Röhren-Seile aus gewickelten Graphitfolien her, hundertfach reißfester als Stahl, erinnerte mich mein Logiksektor. Schon, gab ich zu. Aber hinter diesen Werken steht die Technologie eines ganzen Sternenreiches. Wer stellt derartige Materialien hier in der Intrawelt her? Sieh dir Abertack noch einmal genauer an - besonders die Kopfregion! Ich schaute hoch und betrachtete den Kopf des Stationswartes und Gondelführers. Plötzlich erkannte ich den Zusammenhang zwischen dem Seil und dem ungewöhnlichen Organ, das aus Abertacks Kopf wuchs. Das war kein Geweih, kein zusätzliches Sinnesorgan und kein Körperschmuck. Und mir wurde klar, woran mich Abertack intuitiv erinnerte: Das Organ diente als Spule zur Herstellung des Gondelfadens - der Stationswärter war ein lebendes Spinnrad! * Die Greifarmquartette hoben sich zum Seil, das Seil kam wie durch eine stumme Übereinkunft zum Stillstand. Vorn und hinten griffen die Klauen hinauf und schlossen sich um das Seil. Dann hoben sie den zylindrischen Gondelkörper eine Handbreit an. Die Gondel schaukelte leicht. Ein hinterer Greifarm zog sich zusammen, der vordere streckte sich, die Gondel
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Wim Vandemaan wurde ausbalanciert, bis sie genau waagerecht lag. Ich war verblüfft darüber, wie genau die Geräte den Greifklauen eines Maul spindlers nachgebildet waren - oder seine Greifklauen dem mechanischen Gerät, gab der Extrasinn zu bedenken. Abertack kletterte das Gestell herunter und kam auf uns zu. »Man folgt mir in die Gondel«, wies er uns an. Nachdem wir eingestiegen waren, verschloss die Tür mit einem schmatzenden Geräusch die Öffnung fugenlos. Das Kabineninnere roch gepflegt, aber auf eine Weise, wie Museumsstücke riechen: konserviert, abgestanden, außer Betrieb. Der Gondelinnenraum war mit Mulden, Hockern, Bänken und anderen Ruhemöglichkeiten ausgerüstet. Eine Treppe führte in das obere Geschoss. Der Raum ist zu niedrig, der Boden setzt zu hoch an, informierte mich mein Extrasinn. Wahrscheinlich befindet sich darunter ein nicht unbeträchtlicher Hohlraum. Für Gepäck?, überlegte ich. Nicht unbedingt. Maschinen ...? Ich schaute mich ungeniert um. Es gab eine Multifunktions-Nasszelle, die zugleich als Toilette und Hygieneraum für Geschöpfe jeder Bauart taugte. Jolo fläzte sich auf einem Diwan, Albia trippelte von Bullauge zu Bullauge. Abertack hatte sich in den vorderen Bereich der Gondel begeben. Dort hing ein kurzes Stück Gondelseil zwischen zwei Zapfen tief von der Decke. Der Maulspindler ließ sich in eine darunter liegende Mulde nieder, griff mit dem zweigeteilten Kopforgan nach dem Seilstück und schloss seine Doppelspule darum. Er zog am Seil, und die Fahrt begann. * Die Plattform sackte unter uns weg, als würde sie durch eine plötzlich geöffnete Falltür stürzen. Für einen Moment taumelte ich, nicht so sehr wegen der Beschleunigung selbst wie aus Uberraschung. Ich suchte mir einen
Gefangen im Himmelsnetz Sitzplatz und fand ein weiches, plüschiges Kissen mit genoppter Rückenlehne, die mich, wenn ich mich anlehnte, sanft massierte. Siehe da - ganz komfortlos war die Reise nicht. Ich hatte mit Gondel und Zeppelin eher geruhsame Bewegung assoziiert. Einmal, in den ersten Jahrhunderten meiner Freundschaft zu Perry Rhodan, hatte mich dieser auf einen Ausflug nach Europa eingeladen, einem Kontinent, der mir dank meiner vielen Aufenthalte dort während meiner Wachepochen sehr viel vertrauter war als ihm selbst. In Europa hatte man damals einige präantigravitationelle Gondelsysteme konserviert. Zu meinem Glück übrigens: Perry hatte darauf bestanden, einen Berg zu Fuß zu besteigen. Es war mir ein Rätsel, wozu dieses Martyrium dienen sollte, und ich hatte seine Klettertortur anfangs für eine Art religiöses Exerzitium gehalten. Während er mühsam über die steinigen Pfade kraxelte, schwebte ich über ihm in einer Gondel dahin. Ich lehnte mich zurück, trank eine kühle Apfelschorle und genoss die wundervolle Aussicht: rings um mich die Felsenwelt, ein Adler über mir und Perry unter mir, triefend von Schweiß. Die Gondel damals war mit etwa dreieinhalb Metern pro Sekunde idyllisch dahingefahren. Das machte ungefähr zwölfeinhalb Kilometer pro Stunde. Hier und jetzt - es war nicht ganz leicht, die Geschwindigkeit zu schätzen, aber ich war oft genug in Flugzeugen aller Art hoch über Land geflogen, um mir ziemlich sicher zu sein: Hier raste die Gondel mit gut 100 Kilometern pro Stunde fast senkrecht in den Himmel, den Kernraum der Intrawelt. Ich sah hinab. Erst von oben erblickte ich einen niedrigen Koben am Rand der Plattform, wahrscheinlich die Unterkunft des Maulspindlers. »Wie lange werden wir unterwegs sein?«, fragte ich den Maulspindler. Abertack hielt sich am Steuerseil fest. Seine Arme bebten beinahe unmerklich. Sollte er unter FlugAngst leiden?
Wim Vandemaan Endlich antwortete er: »Ein Tagsechstel«, also das Äquivalent für vier oder viereinhalb terranische Stunden. »Was?«, empörte sich Jolo. »Aber doch nicht die ganze Zeit im kollektiven Zwangsfasten, oder?« Ich stand auf und ging in der Gondel umher. Über die Wendeltreppe gelangte ich auf das Oberdeck. Hier liefen die Fenster rundum, von keinem Rahmen unterbrochen. Für einen Moment glaubte ich im Freien zu stehen. Dann zückte ich den Fernsicht-Drogg und schaute mich um. Die Leistung des biomechanischen Gerätes war erstaunlich. Es passte sich ohne jede Manipulation durch mich den optischen Möglichkeiten meiner Augen an und präsentierte mir weit entfernte Gegenden hautnah. Und es schien zu spüren, was ich genauer sehen wollte. Unter mir entfaltete sich ein kosmisches Dorado - eine Welt wie in einer gigantischen Schale, deren Ränder endlos bis in blaue Ferne und noch hoch über uns hinausreichten. Eine Welt wie ein Gral. Was ich sah, war dies: eine glatte graue Ebene, die wie poliertes Glas schimmerte. Eine Herde von riesigen Wohn-Kugeln rollte darüber hin, haushohe Bälle mit Türund Fensteröffnungen und Balkonen, auf denen Kanonen standen und Harpunen auf Riesenquallen schossen, die von einem Außenskelett gepanzert waren. Welche Dramen spielten sich dort unter mir ab? Eine andere Parzelle bestand aus einem einzigen bronzefarbenen Meer, auf dem muschelförmige Städte trieben, künstliche Inseln aus Kalkstein - oder waren sie so gewachsen? An ihren Stränden beobachtete ich Wellenund Gezeitenkraftwerke, vielleicht Entsalzungsanlagen. Gezüchtete Inseln, gezüchtete Städte - welche ungeahnten Möglichkeiten wohl noch in der Verbindung von Biologie und Ingenieurwissenschaften schlummerten? Eiswüsten. Landschaften aus Bernstein. Kilometerhohe Wälder, aus deren Wipfeln Schwärme vergilbter Sterne aufstiegen. Gottverlassene, menschenleere Parzellen.
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Gefangen im Himmelsnetz Dort ein kontinentgroßes Kraterfeld hatten hier Meteoriten eingeschlagen, bevor die Kugelschale der Intrawelt geschlossen werden konnte, war es zu einem Betriebsunfall während einer früheren Bauphase der künstlichen Hohlwelt gekommen? Erinnere dich: Die Intrawelt ist noch im Bau, die Schale weist immer noch Lücken auf!, gab mein Logiksektor zu bedenken. Ich wusste es nicht. Wie auch immer ... Einmal glaubte ich, schräg unter uns, aber hoch über jedem Land Würmer in der Luft fliegen zu sehen. Ich hielt den FernsichtDrogg in diese Richtung. Würmer, wie ich zuerst gedacht hatte, waren das wohl kaum. Natürlich konnte ich mir über die wirklichen Größenverhältnisse nicht sicher sein, da in der Luft alle Vergleichspunkte fehlten, aber hierbei handelte es sich eher um gewaltige fliegende Schlangen. Ich hätte mir diese bizarre Lebensform gerne näher angesehen, aber die Tiere blieben bei unserem Aufstiegstempo bald in der Tiefe zurück. Nach etwa einer Stunde sichtete ich in der Ferne ein weiteres Gondelseil, und an diesem Seil bewegte sich ein Maulspindler abwärts. Das Wesen glitt mit einem unglaublichen Tempo in die Tiefe. Ich schätzte seine Geschwindigkeit auf 200 Kilometer in der Stunde - wenn nicht sogar mehr. Wenn Maulspindler etwas wie den Rausch der Geschwindigkeit kennen, dachte ich, dann muss dieser da gerade in Glückshormonen baden. Du könntest auch mal wieder eine Endorphindusche vertragen, klagte mein Extrasinn. Ich kann mich ja mal aus der Gondel stürzen, blaffte ich gedanklich zurück. Je höher wir kamen, desto mehr Seile machte ich aus; hin und wieder erblickte ich sogar eine Gondel, die parallel zu uns durch die Lüfte schoss oder in entgegengesetzter Richtung davoneilte. Wie funktionierte dieses ganze System? Was hielt das Netz in der Luft? Es musste sich über Millionen und Abermillionen Kilometer erstrecken - warum brach es nicht unter seinem eigenen Gewicht
Wim Vandemaan zusammen? Von Trägern war jedenfalls keine Spur. Es trug sich selbst - aber wie? Welche Kraft straffte es und hielt es gespannt? Wie widerstand es den Stürmen, den Luftströmungen in den Höhen? Was bewirkte die ruhige Fahrt der Gondel inmitten dieser zweifellos vorhandenen Jetstreams und Böen? Es musste versteckte Stabilisatoren geben, Sicherheitsvorrichtungen - vielleicht im Hohlraum unter dem Gondeldeck? Diese ganze Intrawelt wirkt mehr und mehr wie die Spielwiese einer genialen Intelligenz. Eines leicht verrückten Demiurgen..., dachte ich. ... mit einem Hang zum Größenwahn, ergänzte mein Extrasinn. Das Gondelsystem war von filigraner Monumentalität, genauso funktionell wie schön. Es wirkte schwerelos und doch unzerstörbar, zeitlos und auf geheimnisvolle Weise jung. Eine Meisterleistung von Architekten und von Ingenieuren und zugleich ein atemberaubendes Kunstwerk. »Gibt es nichts zu essen hier?«, beschwerte sich Jolo lautstark von unten und kam zu mir emporgeklettert. »Meinst du nicht, du wirkst gefräßig?«, rief ich Jolo zu. »Du hasst mich, nicht wahr?«, fragte Jolo. Dazu setzte er sein koboldhaftes Habmich-lieb-Gesicht auf. »Wenn du Trost suchst, Echsenmann, so ...«, mischte sich Albia von unten ein. Jolo rülpste gekonnt an ihre Adresse und sagte: »Danke, aber bei näherer Betrachtung bin ich doch noch satt.« Abertack zog sich wieder zurück. Die Gondel raste weiter in den Himmel der Kunstwelt hinein, und ich konnte mich ihrer Faszination nicht entziehen. Ich fühlte mich beschwingt, den Niederungen und Schrecken der Parzellen entkommen. Und zugleich von der Gondel geborgen, in Sicherheit. »Endlich daheim«, sprach vor ihrem Loch die Maus, kurz bevor sie der Habicht packte, zitierte mein Extrasinn. Lass mich mit terranischen Fabeln in Ruhe, knurrte ich und widmete mich wieder der Aussicht.
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Gefangen im Himmelsnetz Täuschte ich mich, oder verlangsamte sich die Fahrt? Ich schaute hinauf in den Himmel. Über mir schwebte ein riesiger Scheibenkörper. »Man erreicht nunmehr Flachstation GEM45«, hörte ich Abertacks Stimme aus dem Untergeschoss schrillen. * Abertack verbrachte die Auffahrt im Korsett seiner Panik. Da seine Augen keine Lider hatten, konnte er sie nicht vor dem Abgrund verschließen. Seine Blicke fielen aus den Panoramafenstern. Er sah XACK331 kleiner und kleiner werden und schließlich im gelbvioletten Gras-Ozean versinken. Je mehr sie an Höhe gewannen, desto mehr wurde von Karaporum sichtbar. Jenseits seiner Grenzen erstreckten sich die Parzellen Falva und Poricium, Echthnis, Dariae und immer so weiter. Parzelle reihte sich an Parzelle, stieg höher in der Wölbung der Intrawelt. Immer blauer wurden sie mit wachsender Entfernung. Sie reichten bis ins Unsichtbare hinauf, die eine der Himmel der anderen. Und hoch zwischen allen Parzellen hing das große Netz im unendlichen Luftraum der Intrawelt, das Himmelsnetz, das alles verbindet, das sich hält und erhält, das ewig ist und zu dem er einen Teil beigetragen hatte, so dass er selbst ein Teil davon war. Und trotz all seiner Übelkeit hier in dieser Höhe, trotz seiner Schmerzen im Unterleibsorgan, trotz der Angst, die alle Fasern seines Wesens durchtränkte, dachte Abertack: Welche eine Wunderwelt, oh ihr Erwecker! Hiersein ist herrlich! 9. Der Bahnhof im Himmel Unmittelbar nach Abertacks Meldung zog sich Dunkelhein in seine MeditationsKapelle zurück, um den Kreisel der Weisung zu befragen. Es gab Zeiten, da brauchte er diesen höheren Ratschluss. Eigentlich erforderten die Teloracs bereits seine volle Aufmerksamkeit, diese streitlüsternen Wesen mit ihren
Wim Vandemaan archaischen Verhaltensmustern, in denen etwas als höchstes Gut erschien, was sein Dhedeen mit Ehre, Heilighaltung der eigenen Psyche übersetzte. Es war Dunkelhein unbegreiflich, wie man etwas derart Irrationales zum Leitbild seiner Existenz machen konnte. Die Teloracs hatten schon für einige Zwischenfälle gesorgt, sodass Dunkelhein sich zu der Entscheidung durchgerungen hatte, ihnen eine ständige Aufsicht abzustellen. Eine Eskorte, um es der eitlen Baronin schmackhaft zu machen. Am liebsten hätte er die drei Teloracs aus der Station werfen lassen, aber leider verfügten sie über die Legitimation. Warum auch immer. Dunkelhein legte den Kreisel der Weisung in Position und peitschte ihn dann. Der hölzerne Kreisel kam in Schwung, die bunt bemalten Kristallscheiben, die in seine Oberfläche eingelegt waren, verwischten zu einem Wirbel. Dunkelhein sah dem Farbenspiel eine Weile wie in Trance zu. Dann kam das Orakel so zu liegen, dass die Intarsien-Fläche Etranto - der Dieb und sein Wirt zuoberst erschien. Die Unterschrift zur Etranto-Szene lautete: »Der gute Wirt füllt dem Dieb die Klauen mit Speise.« Traditionelle Exegeten deuteten die Szene so, dass man ein Hunger leidendes Geschöpf, das aus schierer Not zum Gesetzesbrecher zu werden droht, dadurch von seinem Verbrechen abhält, dass man ihm zu essen gibt und so den Antrieb seines kriminellen Impulses abstellt. Dunkelhein kannte noch eine andere, etwas unorthodoxe Interpretation: Halte den Mann, der dich hintergehen will, unter Kontrolle - und sei es, indem du ihn dir zum Gast machst. Wie auch immer, die Botschaft war klar genug: Seine intuitive Entscheidung, den Wesen, die unten bei Abertack die Zugangsberechtigung zum Gondelsystem begehrten, die AuffahrtErlaubnis zu seinem Bahnhof zu erteilen, wurde von dem Kreisel der Weisung gutgeheißen. Dennoch. Dunkelhein bestellte Tronmon zu sich, den Leiter der Sicherheitsabteilung.
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Gefangen im Himmelsnetz »Ich benötige eine Sekuritätsstaffel. Rüste einen deiner Leute mit der weißen Waffe aus.« Dunkelhein war selbst nicht wohl bei diesem Gedanken. Er hielt die Waffe, die der Legende nach aus Fanis G'Tho stammen sollte, der Irrealen Parzelle, für einen Gegenstand aus dem Jenseits. Weder zu seinen Lebzeiten noch in der Ära seines Vorgängers Wesburc war die Waffe bislang in Aktion getreten; und Dunkelhein wünschte, dass es so bliebe. Tronmon kannte die Bedenken seines Chefs und versprach: »Ich werde sie selbst tragen. Wo sollen wir uns einfinden?« »Kommt ins Depot 331.« Tronmon legte überrascht seinen Hals in Falten. »Man erhält Besuch aus Abertacks Revier? Seltene Gäste ...« »Ja«, gab Dunkelhein kurz angebunden zurück. Wenn ich mit der Schätzung unserer Fahrgeschwindigkeit nicht ganz falsch lag, musste sich diese Station etwa 400 oder 450 Kilometer über dem Boden befinden. Das war ungefähr die Höhe, in der die ersten primitiven Raumstationen im Orbit über Terra gekreist hatten. Immer noch atmete ich mühelos. War die Gondel mit einem Luftversorgungsund Druckausgleichssystem ausgerüstet, oder gab es hier oben tatsächlich eine dichte und atembare Atmosphäre? Planetare Sauerstoffatmosphären waren wie Ozeane - aber nur in Bodennähe dicht und lebenspendend: Schon in einer Höhe von zehn oder zwölf Kilometern dünnte die Luft so aus, dass kein durchschnittlicher Sauerstoffatmer länger als wenige Minuten dort überleben konnte. War die Atemluft in der Intrawelt wie in einem Luftballon annähernd gleichmäßig verteilt? Was spräche dagegen?, fragte mein Logiksektor. Wie ist es in Sonnennähe?, fragte ich zurück. Unter natürlichen Umständen müsste die Luft im Umfeld dieses Glutballs ... »Unter natürlichen Umständen« heißt: unter Umständen, die wir hier nicht haben, rief mich der Extrasinn zur Ordnung: Wir
Wim Vandemaan befinden uns in einer Kunstwelt, hier ist nichts natürlich! Während wir uns der riesigen Gondelscheibe näherten, registrierte ich Einzelheiten. Unser Seil strebte auf eine dunkle Öffnung am Rand der Scheibe zu, die hier gut 100 Meter hoch sein musste. Aus allen Richtungen liefen weitere Seile auf diesen Knotenpunkt im Himmel zu. Schwer zu erkennen, weil die Sonne blendete und der Winkel ungünstig war, entdeckte ich außerdem ein Seil, das von der Oberfläche der Gondelstation wieder senkrecht nach oben führte - hinauf in eine ganz andere Sphäre. Wir fuhren ein. Die Gondel senkte sich und setzte auf. Die Tür schwenkte zur Seite. Wir stiegen aus. Unsere Gondel ruhte in einer Vertiefung. Langsam schob sich ein Schott vor die Öffnung in der Stationsaußenwand. Ein Druckausgleich fand nicht statt. Auch in dieser Sphäre war die Luft also dicht und atembar. In einem Halbkreis von mehr als 50 Metern Durchmesser stand unser Empfangskomitee: Ein Kordon von sieben oder acht Maulspindlern hatte gegen die Gondel Front bezogen - ohne jeden Zweifel Sicherheitstruppen der Flachstation. Einige der Maulspindler klapperten laut und bedrohlich mit ihren Klauen; das Geräusch erinnerte mich an die Pest-Rasseln, die ich im terranischen Mittelalter gehört hatte, als ich in Deutschland als Wunderheiler im Auftrag... Konzentriere dich auf die Gegenwart!, mahnte mein Extrasinn. Andere Maulspindler trugen Waffen in den vorderen Klauen, Armbrüste, auf denen Pfeile mit verdickten Spitzen lagen. Vorsicht - vermutlich Explosivgeschosse!, warnte mein Extrasinn. In der Mitte des Halbkreises, den die Maulspindler um unsere Gondel gezogen hatten, befand sich ein unbewaffnetes Exemplar der Netzbetreiber, kleiner als die übrigen, aber in einen blauen Umhang gehüllt. Ein Gewand aus Seilstoff, mutmaßte mein Logiksektor. An seiner Seite stand hoch aufgerichtet ein Maulspindler, der etwas wie ein
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Gefangen im Himmelsnetz überschlankes, fragil wirkendes Gewehr von beinahe glühendem Weiß hielt. Das weiße Gewehr war nicht auf uns gerichtet, dennoch flößte es mir instinktiv mehr Respekt ein als die komplette übrige Bewaffnung. Was meinen Blick aber noch mehr gefangen nahm als die Gruppe der Maulspindler war das Plakat, das im Hintergrund an der Wand hing und sie vom Boden bis zur Decke überspannte. Es zeigte ein überlebensgroßes Gesicht, eine Fratze von abartiger Bösartigkeit. Die Haut wirkte, als hätte sie ein ungeschickter Schneider aus rostroten und schwarzen Stoffresten zusammengeflickt; die Augen waren völlig lichtlos; die Lippen wulstig und zu einem sardonischen Grinsen verzerrt. Zwei Hauer ragten über die Oberlippe hinaus; sie tropften von Blut oder Fett. Das Porträt war kein Hologramm, nicht einmal eine Fotografie, sondern auf altertümliche Weise gemalt. Ein Dämon?, überlegte ich. Manche Völker bilden metaphysische Schreckensfiguren ab, um sie auf diese Weise zu bannen. Es könnte ein Abwehrzauber sein, kommentierte mein Logiksektor. Wollte man uns auf diese abergläubische Weise unschädlich machen? Unter der diabolischen Visage verlief ein Schriftzug, den ich jedoch nicht entziffern konnte. »Ist das ein Teufel«, fragte ich Jolo, der von dem Antlitz ebenso gebannt wirkte wie ich, »oder ein gesuchter Verbrecher?« »Aber nein - eine Art Heiliger!« Jolo war sichtbar irritiert. »Was steht dort?«, fragte ich. Jolo las mir vor: »Reisender, der du Hunger leidest, kehr ein bei Onkel Droszdat! Beste und einzige Cantina mit Sitzplätzen auf GEM-45. Komplette Mahlzeiten für alle Metabolismen ohne Pause verfügbar; Spezialitäten aus den Parzellen Karaporum, Poricium, Falva, Echthnis und Dariae. In der Roten Stunde alles zum halben Preis! Kein Ruhetag, keine Kredite!« *
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Wim Vandemaan Dunkelhein betrachtete die aussteigenden Kreaturen. Ein hochgewachsener Bipede, der lange weiße Fäden auf dem Haupt trug, ging der Gruppe voran. Dunkelhein überlegte für einen Moment, ob es sich um eine SpindlerMutation handeln könnte, verwarf den Gedanken aber wieder und tippte, was die Faden-Tracht anging, auf Reste eines Körperfells. Wahrscheinlich ein Eingeborener aus einer PermafrostParzelle wie Mäylim. Für einen Augenblick verweilte Dunkelhein bei Abertack. Er hatte den Verwalter von XACK-331 länger nicht gesehen. Jetzt fiel ihm auf, dass der Maulspindler sich einige Schärpen zugelegt hatte. Und dass er offenbar beschädigt war. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Fremden zu. Er hatte ein ungutes Gefühl. Erst vor wenigen Minuten hatte ihn die Telorac-Baronin mit der Nachricht beglückt, GEM-45 mit ihrem Team verlassen zu wollen. Nun tauchten diese ominösen Gestalten hier auf. Tauschte er nur ein Übel gegen das andere, womöglich größere? Gerade als Dunkelhein auf die Gruppe zugehen wollte, ergriff der Fadenträger die Initiative. Er trat einen Schritt nach vorn und sagte mit einer Stimme, die für das Gehör des Maulspindlers tiefer und grollend klang: »Mein Name ist Atlan.« * »Du hast Informationen über einen Anschlag auf das Netz?«, fragte Dunkelhein. »Ich habe gelogen«, sagte ich. »Also hat man es mit einem Betrüger zu tun, mit einem Hochstapler?« Ich hob abwehrend die Arme und überlegte mir eine überzeugende Antwort, als mein Extrasinn etwas wahrnahm: Achtung, bleib so stehen! Der Maulspindler ist auf deine Bewegung hin förmlich erstarrt. Denk nach: Was hast du getan?
Gefangen im Himmelsnetz Dunkelhein wies mit einer Klaue auf den Arm, um den ich den Cueromb gebunden hatte. »Ist die Reliquie echt - oder eine Attrappe?« »Was meinst du?«, fragte ich zurück. Dunkelhein kam langsam und bedächtig auf mich zu - oder ehrerbietig? Ich hob den Cueromb langsam an, bis ich sein Wispern vernahm. Nun stand Dunkelhein bei mir. Er richtete sich so hoch wie möglich auf und legte seinen Hals in tiefe Falten, bis sich sein Kopf dem Cueromb zuneigte. Er lauschte eine Weile, dann rief er etwas, das mein Dhedeen nicht zu übersetzen vermochte. »Alte Sprache, alte Worte, schwer ist solches zu verstehen«, hörte ich den Dolmetsch-Vogel in meinen Gedanken. Die anderen Maulspindler hatten, wie sich zeigte, keine Verständnisschwierigkeiten. Simultan knickten sie ihr vorderes Beinpaar doppelt ein und legten ihre Waffen aus den Klauen. Sie knien, kommentierte der Logiksektor. Dann hörte ich einen leisen Singsang aus ihren Mündern aufsteigen, der mich, obwohl mir Melodie und Rhythmus unsäglich fremd waren, mit seiner kastratenhaften Schönheit ergriff. Sie beten. Dunkelhein erhob sich langsam und trat einen Schritt von mir zurück. »Man unterredet sich im Raum der ruhigen Gespräche, du und ich. Diesen« - er wies auf Jolo und Albia - »wird ein Quartier angewiesen, du« - er zeigte mit einer Klaue auf Abertack - »sprichst mit Wiestein im Raum der Mitteilungen.« Abertack wurde von einem anderen Maulspindler aus dem Raum geleitet. Dann wandte sich Dunkelhein wieder mir zu. »Man folgt mir ohne Waffen.« Ich übergab mein Buschmesser Jolo und das ohnehin nutzlose Perkussionsgewehr an Albia. Um meinen guten Willen zu zeigen, händigte ich der Hohen Frau auch noch demonstrativ das bionische Teleskop aus.
Wim Vandemaan Dann winkte mir Dunkelhein mit einem Laufarm, ihm zu folgen. Ich setzte mich in Bewegung. Hinter mir schlossen sich zwei Maulspindler an. Einer der beiden trug die weiße Waffe. Unser Ehrengeleit, spöttelte mein Extrasinn. Oder unsere Bewachung, gab ich skeptisch zurück. 10. Eine ebenso freudige wie unverhoffte Begegnung Wir verließen das Depot und betraten einen Gang. Der Boden war mit einer Art Linoleum ausgelegt, meine Schuhe quietschten leise. ' Wir passierten eine größere, gut dreißig Meter durchmessende Halle, in der es von Lebewesen wimmelte - ein wahres Potpourri von Intraweltlern. Vier oder fünf humanoide Gestalten überragten die Menge. Die Fremden waren in ihren Konturen durchaus menschenähnlich, aber ihre hoch aufgeschossenen, schlanken Leiber sahen elfenbeinfarben und papieren aus und wirkten kantig zusammengefaltet wie Origami-Figuren. Am Rand der Halle glaubte ich eine vertraute Gestalt zu entdecken: einen aufrecht gehenden, albinotischen Hirschhornkäfer - vielleicht ein Hyrkt? Ich hatte ein solches Geschöpf als ArmadaFlößer der Endlosen Armada kennen gelernt. Sollte das heißen, dass die Endlose Armada vor Urzeiten auf ihrer Suche nach dem verschollenen Frostrubin diesen Raumsektor passiert hatte? Ich hätte das Wesen gerne angesprochen. Mein Armadaslang hätte für ein kurzes Gespräch sicher ausgereicht, aber Dunkelhein eilte weiter. Und hinter mir drängte meine Ehrenwache. Der Gang setzte sich fort. Wir laufen Richtung Zentrum, informierte mich mein Logiksektor. Wir passierten eine Kuppelhalle, die verlassen wirkte. Das Licht war schwach; am Rand der Halle lag eine ausrangierte Gondel auf der Seite wie ein gestrandeter Wal.
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Gefangen im Himmelsnetz Der Gang führte zu einem Tor, das von einem Maulspindler bewacht wurde. Der Wächter trug eine Hellebarde zwischen seinen vorderen Extremitäten. Als er Dunkelhein erkannte, trat er zur Seite. Wir mussten uns meinem Zeitgefühl zufolge etwa zweihundert Meter tief in die Station bewegt haben. Dunkelhein winkte mich zu sich. Ich trat an das Tor, schaute hindurch und hielt mich unwillkürlich an der Wand fest. Unter mir gähnte ein vierzig oder fünfzig Meter tiefer Abgrund. Das Zentrum der Station bildete ein gewaltiger Hohlraum, in dem man gut und gerne ein kleines Raumschiff hätte parken können. Ich schätzte den Durchmesser der Kaverne auf etwa einhundert Meter. Der Raum war von einem diffusen blauen Licht erfüllt. Die Quelle des Lichtes war ein unglaubliches Gebilde: In der Mitte des kugelförmigen Hohlraumes hing etwas wie eine himmelhohe Sanduhr. Die beiden aufeinander stehenden Kegelstümpfe verjüngten sich dort, wo sie aufeinander zuliefen. Beide Hälften rotierten in sinnverwirrender Weise in sich selbst. Erst langsam wurde mir deutlich, warum: Die jeweils etwa vierzig Meter hohen Kegelstümpfe waren in Segmente unterteilt; unter- und übereinander liegende Abschnitte drehten sich teils in die gleiche, teils in gegenläufige Richtung und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. In jedes Segment trat ein Gondelseil ein oder trat aus ihm aus - eine zweigeteilte Riesenspindel, die die gesamte Netzumgebung antrieb und steuerte. Aus der Spitze des oberen Kegels trat ein Seil aus, das besonders intensiv zu leuchten schien und von der Spindel durchs Dach führte - ich hatte dieses vertikal hinaufführende Seil schon beim Anflug auf die Gondelstation bemerkt. Wo sich die beiden Spindelhälften trafen, stand ein kristallin wirkender Ring inmitten der knäuelartigen Bewegung still, ein vielleicht zehn oder fünfzehn Meter hohes Glasgebäude - die Steuerzentrale, soufflierte mir der Extrasinn.
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Wim Vandemaan Jetzt erst bemerkte ich, dass über meinem Kopf ein Laufrad in der Wand hing, über das ein Gondelseil lief. Und tatsächlich näherte sich uns auf diesem Seil ein Fahrzeug. Allerdings keine Gondel: Das Ding erinnerte an einen umgekehrten Schirm, dessen klauenförmiger Knauf sich" am Seil festhielt. Der Schirm prallte leicht an die Wand und pendelte noch einen Moment. Dunkelhein sprang mit einem kleinen Satz in den Bauch des Schirms und knickte mit den Beinen ein. Im Sitzen schauten nur seine Facetten über den aufgewölbten Schirmrand. Er gab mir ein Zeichen, es ihm nachzutun. Ich trat in den Schirm, blieb aber stehen und hielt mich am Stiel fest. Die beiden Maulspindler folgten. Wir standen so eng, dass ich den mild-zitronigen Körpergeruch der Maulspindler einatmete. Dann ruckte das Seil an und surrte durch den leeren Raum auf die Steuerzentrale zu. * »Imbiss, Imbiss«, bettelte Jolo und stampfte vor einer kleinen Bucht in der Wand des Ganges mit einem Fuß auf. Vor der Ausbuchtung waren einige Tische aus Aluminium aufgestellt. In der Einbuchtung betrieb ein Wesen von undefinierbarem, sackförmigem Äußeren einen Stand für Schnellgerichte. »Zeit drängt, Zeit zwingt«, gab Albia in ihrem singenden Tonfall zurück und versuchte, Jolo mit sich zu ziehen. »Man hat Eile«, äußerte einer der beiden Maulspindler ihrer Eskorte. Es war nicht klar, ob er damit Albia zustimmte oder ihr Verhalten deuten wollte. »Albia, komm schon, süße Schnecke, auf ein Häppchen, ja? Betrachte dich als eingeladen - falls du mir etwas Geld borgen kannst. Kannst du?« Albia zog an Jolo, aber dieser saugte sich mit beiden Tatzen an der Theke der StehImbissbude fest. »Was gibt es denn Leckeres?«, rief, er dem Koch zu. »Jolo, Jolo, wir müssen uns eilen, wir müssen uns sehr eilen!« Albia klang
Gefangen im Himmelsnetz aufgeregt. Hatte sie Angst vor den schubsenden Maulspindlern? »Geht vor«, bot Jolo an, »ich werde euch schon finden. Ein satter und zufriedener Jolo wird euch...« »Man bleibt in der Gruppe!«, kommandierte ein Maulspindler und zupfte an Jolo. Der andere hielt Albia fest, die vorwärts stürmen wollte. In diesem Moment rollten drei hüfthohe Wagen um die Biegung des Ganges. Die vier Speichenräder der Fahrzeuge waren hüfthoch. Auf jedem Wagen lag eine Gestalt, die wie aus zwei verschiedenen Bausteinen zusammengesetzt wirkte: Der lange, silbern-metallisch glänzende Hinterleib war konisch geformt und verjüngte sich zum Ende; ein Geschirr aus Gurten hielt ihn auf den Wagen geschnallt. Der Kopf ragte ein ganzes Stück über das Wagengestell hinaus. In ihren Gesichtern mit der hochgewölbten Stirn befanden sich unterhalb der beiden ausdrucksstarken Augen drei Rüssel. Der untere war kurz und dick und endete in einem Vogelschnabel, die beiden oberen, nebeneinander liegenden waren lang, elastisch und liefen in vier oder fünf Greiflappen aus, die links und rechts in die Speichen der Vorderräder griffen und so den Wagen antrieben. Und die beim Anblick von Jolo und Albia bremsten. Keinem Betrachter konnte ohne weiteres klar sein, ob es sich bei dem metallisch schimmernden Hinterleib um einen natürlichen gewachsenen Panzer oder um eine künstlich angefertigte Rüstung handelte. Jedenfalls musste dieser Teil magnetisch sein, denn ohne dass sie von irgendeiner Vorrichtung gehalten würden, hafteten Dolche, Degen, eiserne Bumerangs und Säbel daran. Hinter den drei Wagen erschienen drei Maulspindler, die die Gruppe offenbar begleiteten oder bewachten. Albia stöhnte leise auf. »Keine Sorge«, versuchte Jolo sie - oder sich selbst? - zu beruhigen, »was wie Krieger aussieht, muss nicht wirklich kriegerisch sein.«
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Wim Vandemaan In diesem Moment wieherte der mittlere der drei Wagenfahrer - »Fröhlich, fröhlich, fröhlich«, übersetzte Albias Dhedeen. »Albia«, rief er, immer noch lachend, »welch ein Geschenk der Primären Herrlichkeit!« Ein semitransparentes, spinnenhaftes Wesen, das sich bis jetzt in einem Korb im unteren Teil des Wägelchens aufgehalten hatte, kletterte nach oben. Sein Leib bestand überwiegend aus Maul; in zweien seiner Beine hielt es einen Kanister und überschüttete daraus den Kopf des Wagenfahrers mit Wasser. Albia starrte auf die drei Rubine, die vom Rückenschild des Wesens her strahlten und es als führendes Mitglied des KraschkaClans der Teloracs auswiesen. Aber es hätte dieses Ausweises nicht bedurft, Albia hätte ihr Gegenüber auch ohnedies erkannt. Sie sagte leise: »Baronin Foda! Was für eine ebenso unverhoffte wie Freude erregende Überraschung!« »Albia!«, gab die Angesprochene lautstark zurück, und Albia glaubte, die Augen der Baronin zitronengelb aufleuchten zu sehen. »Albia! Ich hatte schon jede Hoffnung aufgegeben, deinen stinkenden Schneckenleib noch einmal vor die Rüssel zu bekommen. Jetzt, da die Primäre Herrlichkeit dich in Reichweite meiner Schlitzer geführt hat, werde ich dich für unsere Hoddrazzin in mundgerechte Häppchen säbeln! Da der Ehrenkodex der Teloracs es gebietet, dass jedes Schlachtvieh weiß, von wessen Schlitzern es zerlegt wird, ist es mir ein Vergnügen, dir die Assistentinnen meiner Rache vorzustellen: Waffenmeisterin Dorom 67 und mein Wesir Kekt 112. Und nun, da die Formalitäten erledigt sind ...« Die Kreatur, die Albia mit Baronin Foda tituliert hatte, griff an ihren Hinterleib, zog mit einem schmatzenden Geräusch einen Dolch von ihrem silberweißen Leib und schleuderte ihn in Richtung der Hohen Frau. * Das Gespräch Abertacks mit Wiestein war kurz.
Gefangen im Himmelsnetz Wiestein, ein alter Maulspindler mit schmalen Leibschalen, ging etwas schief. Im Raum der Mitteilungen bot er Abertack einen Platz in der Sitzmulde an. Abertack dachte: Das ist also die Stunde der Entscheidung. Habe ich mir etwas vorzuwerfen? Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Wiestein legte einen schmalen Informationsstab auf den Tisch und sagte: »Das Dossier.« Mein Dossier, dachte Abertack und bemühte sich, Gelassenheit auszustrahlen. »Das Dossier Strondolack«, setzte Wiestein hinzu. »Aber nein, entschuldige, mein Name ist Abertack!« Erkannte Wiestein ihn nicht? Beschädigte der Alterungsprozess das Erinnerungsvermögen des Flachwächters? »Aber sicher ist dein Name Abertack, Abertack«, sagte Wiestein amüsiert. »Es ist Strondolacks Dossier. Die Grunddaten seiner Ausbildung, seine Stärken und bisherigen Leistungsdefizite und das Trainingsprogramm, das du bitte mit ihm bis zu deinem Ablauftag absolvierst.« »Wer ist Strondolack?«, fragte Abertack irritiert. »Abertack - worüber beim ewigen Netz reden wir deiner Meinung nach hier? Strondolack ist selbstverständlich dein Nachfolger.« »Ja, selbstverständlich«, sagte Abertack mit unnatürlich tiefer, panikerfüllter Stimme. »Nur sicherheitshalber: Ich werde also nicht zu den Flachwächtern bestellt?« »Aber nein.« Wiestein war spürbar verblüfft. »Auch dein Vorgänger Mgorack wurde nicht erhoben. Und man erwartet die Erhebung auch nicht für Strondolack.« »Natürlich nicht«, sagte Abertack überflüssigerweise. Er stand auf und nahm den Informationsstab an sich. Dann ging er zur Tür und öffnete sie. Als er den Raum fast schon verlassen hatte, rief Wiestein: »Abertack!« Wider jede Vernunft loderte die Hoffnung in ihm auf; er dachte: Es war ein Test. Hortorok! Sie wollten sehen, wie ich mit einer solchen Nachricht fertig werde. Und ich war souverän!
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Wim Vandemaan Er wandte Wiestein die höfliche Augenseite zu und fragte: »Ja?« »Abertack - XACK-331 gebiert einfach keine Helden.« »Nein«, gab der Maulspindler zu und glaubte, ein zweites Mal nach jenem Tag in den Abgrund zu stürzen. Und diesmal kreisten keine Trijzinen unter ihm. Wiestein musste die Enttäuschung Abertacks gespürt haben, denn er sagte leise zum Trost: »Das sind sehr anmutige Stickereien auf deiner Bandage.« * Die Schirmgondel brauchte nur wenige Dutzend Meter zu überbrücken, um in die Steuerzentrale zu gelangen, und erreichte ihr Ziel in ein paar Sekunden. Das im freien Raum hängende interne Seilbahnsystem verhinderte, dass jemand zu Fuß zur Zentrale gelangen konnte, und sicherte das Herzstück der Station auf diese Weise wirksam gegen unbefugten Zutritt ab. Findest du?, fragte mein Extrasinn. Die Gondel passierte ein ovales Portal und hielt an, etwa eineinhalb Meter über Bodenniveau. Die Maulspindler richteten sich auf und sprangen ab. Ich folgte und schaute mich um. Die Decke wölbte sich in etwa fünfzehn Metern Höhe über uns. Der Boden vibrierte leicht, und ein unterschwelliges Summen lag in der Luft, als arbeiteten hier mächtige Maschinen. Und vielleicht war es tatsächlich so, denn überall im Raum zeichneten sich unter bläulichen Tüchern große, massive Blöcke ab. Hier und da war ein Tuch leicht angehoben, und eine Konsole mit Regelschiebern, Sensorfeldern, handlichen Rädern, Monitoren und Anzeigetafeln wurde sichtbar, ein Armaturenbrett, das von jeweils einem oder zwei Maulspindlern bedient wurde. Der Blickfang des Raumes aber war ein annähernd fünf Meter hohes Rad, das sich in der exakten Mitte der Zentrale auf einer Achse rasend drehte. Die Achse war an
Gefangen im Himmelsnetz beiden Enden mit einem erhabenen Motorblock verzahnt. Über das Antriebsrad lief ein Seil auf die Decke zu und durch sie hindurch - der Faden, der in Richtung Himmelszentrum führte. Mit mehr als 1000 Kilometern die Stunde, kalkulierte der Logiksektor die Geschwindigkeit nach Maßgabe des Radumschwungs. Dunkelhein bemerkte meinen Blick. »Du willst zu einer Hochstation?« Zustimmen!, riet mein Extrasinn. »Selbstverständlich«, sagte ich, »dorthin und noch weit darüber hinaus.« Einer meiner beiden Bewacher hinter mir zischte aufgebracht: »Nur Maulspindler dürfen den Ultrafaden befahren! « ... den es also gibt - siehe da!, dachte ich befriedigt. Dunkelhein warf seinem geschwätzigen Kollegen einen bösen Facettenblick zu. Das Gondelsystem ist also in vier Sphären gegliedert, systematisierte mein Logiksektor die vorliegenden Informationen: Bodenstation, Flachstation, Hochstation Ultrastation. Ein weltumspannendes, dreidimensionales Netz. Wenn der sphärischen Gliederung eine soziale und entscheidungspolitische Hierarchie entspricht, solltest du Kontakt zu den Wärtern der Ultrastation suchen! »Wann war zuletzt ein Wärter der Ultrastation hier?«, fragte ich Dunkelhein. »Ein Ultrastationierter bei uns?«, entfuhr es dem Maulspindler. »Sie bleiben unter sich.«. »Informiere mich: Wie viele Hochstationen existieren, wie hoch - oder wie tief - im Himmel liegen sie?« Dunkelhein überlegte einen Moment, dann sagte er: »Das ist kein Geheimnis. Es gibt kaum Hochstationen, knapp 2000; sie arbeiten in einer Höhe von 20.000 Kilometern! Ich traue dir nicht«, flüsterte Dunkelhein mir zu und dann, noch leiser: »Vielleicht sollte ich den Kreisel der Weisung befragen...« »Vielleicht«, unterbrach ich seine Meditation, »solltest du das hier befragen«, und ich streckte ihm den Arm mit dem Cueromb hin.
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Wim Vandemaan * Albia wich dem Wurfdolch trotz ihrer Masse geschmeidig aus. »Was habe ich Euch getan, Baronin?«, kreischte sie und ließ sich hinter einem Tisch in Deckung fallen. Mit einer Welle ihrer Beinchen stieß sie einen Tisch um, der vor der Imbiss-Bucht stand,, und sorgte dafür, dass die Tischplatte ihr zusätzlichen Schutz verlieh. Die Maulspindler-Eskorte warf sich zwischen die Parteien und wedelte mit ihren vorderen Armen. »Was du mir getan hast? Ist das deine Frage, ja? Ich werde dir die Antwort mit Akfak-Speichel in deinen Schneckenleib ätzen.« Aber da diesem Vorhaben zurzeit noch die Maulspindler im Weg standen, rief sie Albia zu: »Erinnerst du dich wirklich nicht mehr an unser Spiel Y'Jabolac?« »Natürlich erinnere ich mich«, schrie Albia über die Meute Maulspindler zurück. Wie peinlich, wie unendlich peinlich, dachte sie dabei. Wozu hält diese hysterische Schachtel mich auf? Ich muss doch in mein Quartier! Ich muss... »Nicht nur hast du mich in den ersten zwei Stufen Y'Jabolac geschlagen - ein NichtTelorac schlägt mich, die Baronin!«, fuhr sie fort. »Aber die Gipfelsequenz, Baronin, die Gipfelsequenz habt Ihr gewonnen, wenn ich mich recht entsinne!« »Gewonnen?« höhnte Foda. »Nein, ich habe sie nicht gewonnen, du hast mich gewinnen lassen. Vor den Augen der ganzen Baronie, vor den Kameras aller Televisionssender der . Parzelle hast du mich gewinnen lassen. Jedes verfluchte Stück Jungbrut hat gesehen, dass du nur Wa'Traschokk hättest ziehen müssen - und du ziehst Y'Gemman! Y'Gemman wie eine verdammte Anfängerin! Du hast mich öffentlich blamiert! Entehrt in aller Öffentlichkeit!« Wieder pflückte sie eine Waffe, diesmal einen geschliffenen Bumerang, von ihrem
Gefangen im Himmelsnetz gepanzerten Hinterleib und zielte auf Albia. Habe ich?, fragte sich Albia verwundert. Ich weiß es nicht mehr. Mag sein. Ich erinnere mich, ich hatte gewettet - am Ende über einen Mittelsmann sogar gegen mich selbst - und dank der Toren gut verloren. Aber das ist doch alles vorbei, und ich muss nun in mein Quartier. Es ist so peinlich. Es ist so unendlich peinlich ... Auch die Begleiterinnen der Baronin hatten Waffen gezückt und fuchtelten damit den Maulspindlern vor allen Augen herum. Die Maulspindler tanzten zwischen den Parteien. Foda warf, der Bumerang raste sirrend um Haaresbreite an Albias Kopf vorbei und bohrte sich mit einem Schlag in das Aluminium des Tisches. Jolo hechtete hinter die Imbisstheke. Der sackförmige Koch grunzte erbost. Albia schaute um den Tisch, betrachtete den noch zitternden Bumerang in der Platte, schrie wütend auf und ging wieder in Deckung. Hinter dem umgestürzten Tisch zog sie mit einem ihrer Ärmchen das Gewehr von der Schulter. Mit zwei anderen Armen griff sie in ihren Beutel und holte die Zündhütchen, das Pulver und einige Kugeln hervor, die sie Schuon bei dem Jayrah-Quickie am Fuß der Bodenstation abgewonnen hatte. Mitten im Gewirr und Geschrei machte sie das Perkussionsgewehr mit einem Geschick schussbereit, das einige Übung verriet. Sie füllte Pulver aus der Pulverflasche ein, legte die Bleikugel nach, löste den Stock, der mit ledernen Riemchen an den Gewehrlauf gebunden war, und stieß damit die Kugel fest, setzte das winzige Zündhütchen ein, spannte den Hahn, legte an und schoss. Der Hammer schlug zu, die Stichflamme zündete. Es blitzte und knallte, dann stank es nach Schwefel. Der Telorac, den Foda als ihren Wesir vorgestellt hatte, wurde exakt zwischen seinen drei Kopfrüsseln getroffen, bäumte sich in seinem Geschirr auf und riss den Wagen um. Hellblaues Blut spritzte aus der Wunde und ergoss sich auf den Boden.
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Wim Vandemaan Die beiden Maulspindler, die Dunkelhein für die Begleitung Albias und Jolos abgestellt hatte, warfen sich auf Albia; die Eskorte der Teloracs sprang vor die Wagen der tobenden Baronin und ihrer Waffenmeisterin und klemmte sich an den Rädern fest. Aus den Kopfspindeln der Maulspindler schossen Fäden, vorerst noch ziellos in die Luft, aber es war klar, dass sie die Kontrahenten zu fesseln beabsichtigten. Albia prügelte mit dem Gewehr auf die Maulspindler ein. Sie erwischte ihre Kopfspulen, offenbar höchst schmerzempfindliche Regionen, denn die Maulspindler zogen sich wimmernd aus ihrer Reichweite zurück. Zeit genug für Albia, das Gewehr wieder zu laden. Sie schoss, traf aber nicht die Baronin, sondern einen der Maulspindler in ihrer Nähe. Zur selben Zeit hieben die beiden Teloracs auf ihre Widersacher ein und verletzten sie. Ein schwach säuerlicher Geruch breitete sich aus und mischte sich mit dem süßlichen Aroma des Telorac-Blutes. Albia gelang es, das Gewehr ein drittes Mal zu laden. Der zweite Maulspindler sprang sie an, packte den Lauf, der Schuss löste sich und ging in die Decke, prallte ab und jaulte durch den Gang. Dann entriss er ihr das Gewehr und zerbrach es in seinen Klauen. Albia zog mit einem freien Arm den Fernsicht-Drogg aus der Tasche und schleuderte ihn auf Foda. Die Baronin traf mit ihrem Säbel das Gerät im Flug und zerteilte es. Bruchstücke fielen zu Boden, wimmerten und rannen aus. Die Teloracs brüllten Verwünschungen, die Maulspindler schrien: »Man beruhigt sich, man beruhigt sich!« Einer von ihnen griff in eine schmale Öffnung in der Wand und drehte an einem Zapfen. Im gleichen Moment ertönte ein durchdringend brummendes, an- und abschwellendes Geräusch - Alarm! Und all diesen Lärm übertönte Albia, deren Stimme immer durchdringender, voluminöser klang:»Haltet mich nicht fest! Ich bleibe nicht ich! Haltet nicht fest!« *
Gefangen im Himmelsnetz Dieses Mal wich Dunkelhein vor dem Cueromb zurück. »Man folgt mir! «, befahl er mir - oder war es eine endgültige Kapitulation? Wir durchquerten die Halle und hielten vor einer Art Tischspringbrunnen, einem zerbrechlich wirkenden Gerät, das in Augenhöhe des Maulspindlers zwei künstliche Spulen aufwies. Aus dieser Doppelspule sprudelten Fetzen von silbrig blauen Fäden. Dunkelhein nahm die Fäden in sein Maul, kaute, speichelte, schied auch eine Menge eigenen Fadenstoffes aus, vermischte alles und verspann es zu einem unterarmlangen Fadenstück, das er in seine Klaue nahm und hochhielt. »Das ist deine Legitimation. Sie trägt meinen Biss, sie trägt meine Färbung und meinen Geschmack.« Der Faden war dicker als das Gondelseil, aber genauso silbrig blau und mit einem Muster roter Flecken gezeichnet, die wie Umrisse ferner Länder aussahen. Dunkelhein reichte mir den fertigen Faden. Ich nahm ihn mit einem Hauch von Ekel entgegen - immerhin bestand der Stoff der Legitimation überwiegend aus Stoffwechselprodukten und Körperausscheidungen. Aber mein Widerwille schwand mit der Berührung: Der Faden fühlte sich warm und lebendig an, wie eine Schlange. »Ich brauche noch zwei weitere Legitimationsfäden«, verlangte ich. Dunkelhein wendete sich wieder dem Fadenbrunnen zu. Plötzlich erklang ein hohes, schrilles Wimmern. • Alarm!, identifizierte mein Logiksektor das Geräusch. Alarm - das Hintergrundgeräusch meines Lebens. Die Tore zur Zentrale schlossen sich synchron mit dumpfen Schlägen. 11. Nichts kommt, wie man es wünscht Niemand darf Zeuge sein! Albia, die Hohe Frau, wechselte ihr Geschlecht.
Wim Vandemaan Es fühlte sich an, als würden erst Dutzende, dann Hunderte mikroskopisch kleine Hormon-Kraftwerke ihre Arbeit aufnehmen. Testosterone überfluteten den Leib. Östrogene und Progesterone dagegen wurden von speziellen Blutzellen eingefangen, verankert und außer Funktion gestellt. Thyroxin, Somatotropin und andere Wachstumshormone ergossen sich aus Hormontresoren lawinenartig in die sechs Extremitäten. Wie im Zeitraffer durchliefen die Körperzellen der Arme Zellteilung auf Zellteilung. Aus körperinneren Hohlräumen wurde Wasser zugeleitet, Salze und Proteine aus organischen Speichern freigesetzt und zu Zytoplasma verbunden. Albia konnte das rapide Wachstum mit bloßem Auge verfolgen. Schauer von Adrenalin durchrieselten ihren Körper und Geist. Schlafende Muskelzellen erwachten und saugten Energie aus übervollen Fettlagern. Sie fühlte sich zugleich ausgelaugt und übersättigt. Das explosionsartige Zellwachstum verursachte krampfartige Schmerzen. Albia versuchte verzweifelt, an die PigaWurzeln in ihrem Beutel zu gelangen, deren bittersüße Wirkstoffe Schmerzen betäubten. Aber der Griff der Maulspindler verhinderte es. Wäre alles so verlaufen, wie es sollte, hätte Albia nicht einmal die Droge nötig gehabt, sondern sich abgeschieden von äußeren Einflüssen in Trance meditiert und weitgehend schmerzunempfindlich gemacht. Das Gehirn reorganisierte seine Zuständigkeiten, Erinnerungen und Emotionen verblassten und sanken ins tiefste Unterbewusste der Psyche. Instinktive Sicherheitsprogramme sprangen an und sondierten die Umgebung. Albias verwirrtes Bewusstsein nahm wahr, dass die Situation auf Schrecken erregende Weise unziemlich war: Buchstäblich nichts war, wie es sein sollte. Wo standen die Palisaden, die sie vor unbefugten Blicken schützen sollten? Sie trug nicht einmal den rituellen SchamMantel, um die schlimmste Not zu lindern.
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Gefangen im Himmelsnetz Denn das war das Grauenvollste von allem: Die ganze Metamorphose vollzog sich vor Zeugen. Vor Voyeuren. Das, was eben noch die Hohe Frau gewesen war, wand sich im Griff der Maulspindler. Die Voyeure wollten offenbar verhindern, dass es sich ihren Blicken entzog. Für einen Moment erstarrte es in den Klauen seiner Demütiger vor Scham. Dann sammelte er seine neuen Kräfte. Seine Wut und sein Zorn brachen sich Bahn und sprengten alle Fesseln. Zwei Impulse überlagerten einander in Albias getrübtem Bewusstsein: Der Impuls, sich zu verbergen, wurde gespeist von der Scham, so gesehen zu werden, so nackt, so entblößt, wie es für ein Geschöpf ihrer Art überhaupt nur denkbar war; den anderen Impuls hatte Peonu ihr eingepflanzt: Atlan unbedingt zu folgen. Und das neue Wesen, das von sich als Albion dachte, ließ seine nun beinahe zwei Meter langen, muskulösen Arme wirbeln, peitschte die Maulspindler zur Seite, drehte sich von der heulenden Meute Teloracs ab und rannte in die Richtung, in die man Atlan gebracht hatte: auf die Zentrale zu. Im letzten Augenblick kam Jolo hinter der Theke hervor. Er setzte Albia nach, sprang ihr auf den Rücken und hielt sich fest. Es war ein wilder Ritt. Der Hoddrazz des tödlich getroffenen Teloracs goss aus seinem Kanister dem sterbenden Geschöpf sinnlos Wasser über den zerstörten Schädel und jammerte laut. Die Hoddrazzin der Baronin und ihrer Waffenmeisterin griffen die Maulspindler an, bissen immer wieder zu, bis die drei Maulspindler die Wagenräder losließen. Während sich die Maulspindler und ihre spinnenartigen, halb durchsichtigen Gegner bekämpften, jagten die beiden Teloracs Albia - oder neuerdings: Albion hinterher. * Nach dem Gespräch mit Wiestein im Raum der Mitteilungen lief Abertack wie in Trance durch die Gänge der Station GEM-45.
Wim Vandemaan Es war ein Abschied. Er würde in den letzten Tagen kaum noch einmal hinauffahren. Alles, was er in dieser kurzen Frist noch zur Erziehung Strondolacks beitragen konnte, ließ sich vom Boden aus erledigen. Er überlegte, ob er in Depot 9 nach der Gondel Domdocks schauen sollte, ein wunderbares Stück, das der Maulspindler in tagtausendelanger Arbeit mit hölzernen Aufsätzen verziert hatte. Die Holzapplikationen zeigten geschnitzte Szenen aus der legendären Heroischen Epoche der Netzpioniere. Aber er wusste nicht, ob die Gondel an Bord war, und entschied sich dagegen. Er ließ sich treiben. Manchmal summte er vor sich hin: »Sei dir bewusst, dass dein Bewusstsein vergeht. Spinne dich ein in das Netz, denn nur das Netz besteht.« Ja, das war die Wahrheit. Er war ja ein Stück des Netzes, und so war ihm seine Portion Ewigkeit garantiert. Strondolack und alle seine Nachfolger würden das Netz bewahren und also auch ihn. Es würde schließlich eine ganz und gar schmerzlose Existenz sein, anders als sein Leben als Invalide hier. Etwas explodierte. Der Knall war laut und hart. Abertack blickte sich suchend um. Es vergingen nur wenige Augenblicke, dann erklang eine zweite Explosion, wieder nah und heftig. Jetzt erst vernahm er den Lärm, das vielstimmige Gebrüll weit vor ihm auf dem Gang, das ihm im Zustand seiner Entrücktheit bislang nicht bewusst geworden war. Und noch eine Explosion. Stationsalarm wummerte auf. Abertack stand zitternd und bebend im Gang. Der Fadenträger hatte doch nicht gelogen. Jemand versuchte, die GEM-45 zu sabotieren. Und er, Aber , tack, hatte richtig entschieden. Er orientierte sich. Der Gang führte einerseits zu den Quartieren für Gondelpassagiere, andererseits - wie in
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Gefangen im Himmelsnetz letzter Konsequenz jeder Gang dieser Station - zur Steuerzentrale. Abertacks Gedanken überschlugen sich: Wenn die Saboteure die Steuerzentrale erreichten oder von den Ausgängen des Ganges her unter Feuer nahmen und beschädigten, wenn es infolge der Sabotage auch nur zu einer einzigen falschen Befehlsfolge für das Gondelsystem kam, könnte das bedeuten, dass die komplette Station sicherheitshalber aus dem Netzverbund des Gondelsystems ausgeklinkt würde. GEM-45 und der sie umgebende Netzabschnitt würden eingekapselt, die Station und ihre Netzsphäre würden zum toten Fadenende des Himmelsnetzes werden. Und die todgeweihten Fäden würden ermatten, schal werden und endlich sterben. Und mit den Fäden der letzte Rest von ihm. Abertack schrie auf und raste in sechsbeinigem Galopp dem Tumult nach, der sich in Richtung Steuerzentrale bewegte. * Der Maulspindler mit der weißen Waffe legte auf mich an. Ich wandte mich von ihm ab. Erneut fühlte ich mich nicht mehr wie ein Passagier, sondern wie ein Gefangener des Netzes. »Was geht hier vor, Dunkelhein?«, fragte ich. »Das fragst du? Du fragst mich, was hier vorgeht?« Dunkelhein starrte mich voll ehrlicher Überraschung an. Die sieben oder acht Maulspindler, die in der Steuerzentrale arbeiteten, zogen und zerrten die Verdeckungen über ihre Konsolen. Der Maulspindler mit dem weißen Gewehr ließ von mir ab und begann, mit der Waffe im Raum herumzuzeigen, als sei das Gerät die Nadel eines Kompasses für Gefahr. »Was für eine Waffe ist das?«, fragte ich Dunkelhein. »Wie wirkt sie?« »Ich weiß es nicht.« »Du weißt es nicht?«, fragte ich ungläubig.
Wim Vandemaan »Niemand weiß es. Die Waffe entscheidet selbst bei jedem Schuss neu, wie sie wirkt.« 12. Sechs neugeborene Soldaten Albion stürmte durch den Gang. Die neuen Arme hielt er vor sich ausgestreckt - sechs mächtige, starke, sich windende Organe, die sich wie selbständige Lebewesen gebärdeten: seine körpereigenen Soldaten. Er wusste selbst nicht, was ihn leitete: Instinkt, eine Witterung oder Peonus Anweisung, auf Atlans Spuren zu bleiben. Aber was auch immer ihm die Richtung wies: Es war zielführend. Am Ende des Ganges stand ein Maulspindler Wache. Als er Albion gewahrte, streckte er die Hellebarde dem heranrasenden Ungetüm entgegen. Albion riss ihm im Bruchteil einer Sekunde die Waffe aus den Händen, wischte den Maulspindler an die Wand und sprang aus dem Gang ins Leere. Jolo, der auf seinem Rücken ritt, schrie. Mit dreien seiner Arme bekam Albion das Seil zu fassen, griff zu und hangelte sich noch im Schwung des Sprunges vorwärts. Es tat nichts, dass das Seil in Gegenrichtung von der Zentralstation fort und zum Gang hin lief - Albion war weitaus schneller. Den entgegenkommenden Gondelschirm schlug Albion so heftig zur Seite, dass er sich einmal um die Achse des Seiles drehte, und schon war er unter ihm und an ihm vorbei. Das Portal kam in Sicht. Albion warf alle sechs Arme nach vorne, packte das Seil noch einmal und schleuderte sich in die Steuerzentrale hinein. Er stürzte nicht einmal beim Aufprall. Die sechs Arme wie die Teleskop-Landestützen eines Raumschiffes von sich gestreckt, fing er die Wucht des Fluges ab. Er blickte sich forschend um und entdeckte Atlan auf der gegenüberliegenden Seite der Steuerzentrale. Und dann rannte er auf ihn los.
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Gefangen im Himmelsnetz Für einen bizarren Augenblick dachte ich, ich sähe eine Zirkusnummer - die irrsinnig lächerliche Parodie einer Dressur. Albia kam wie aus einer Kanone geschossen durch das gegenüberliegende Portal geflogen. Sternförmig standen sechs monströse Tentakel aus ihrem Vorderleib ab. Auf ihrem Rücken ritt Jolo, er kreischte und schrie. Albia starrte mit ihren großen Augen im Raum umher. Ihr Blick ging auch einige Male über mich hin, aber sie schien mich nicht zu' erkennen. Dann klarten ihre Augen auf, und sofort setzte sich ihr ungewohnt massiv wirkender Leib in Bewegung. Sie kam in Fahrt. Zwei, drei Maulspindler stellten sich ihr in den Weg, dann immer mehr, aber die ungeheuren Extremitäten, die an die Stelle ihrer dürren Ärmchen getreten waren, schleuderten alle zur Seite. Einer meiner beiden Bewacher hetzte Albia entgegen; auch er landete nach einem Schlag bewusstlos am Boden. Der andere Maulspindler neben mir legte mit der weißen Waffe auf Albia an. Albia stutzte und bremste ab. Sie schlang ihre Arme um einen verhüllten Maschinenblock, riss ihn mit kolossalen Kräften aus der Verankerung und hielt das unförmige Teil wie einen Schild vor sich. Wie ein Haluter in der Drangwäsche, fiel mir ein. Haluter waren nahezu unbesiegbare Geschöpfe, vierarmige Riesen mit der Fähigkeit, ihre Körpersubstanz im Kampfeinsatz in ein unzerstörbares Material umzuwandeln. Mein Volk hatte in den Methan-Kriegen leidvolle Erfahrungen mit ihnen gesammelt. Das verbindende Element ist die körperliche Modulation, erkannte mein Logiksektor. Nun gingen mir die Augen auf: Das war natürlich nicht mehr die Albia, die so ausufernd feminin gewesen war, dass sie mit Jolo einen Flirt gesucht hatte. Aus Albia war etwas anderes geworden, ein testosteronstrotzendes, hyperaggressives Individuum. Die Hohe Frau hatte sich in einen Mann verwandelt. Sie, er oder es hatte sich also
Wim Vandemaan nicht etwa verkleidet, sondern war ein echter Geschlechtswandler. Am furchterregendsten waren die maßlos gewachsenen Arme, sechs Körperteile, die unabhängig voneinander in der Luft herumschwenkten, als führten sie ein Eigenleben. Nun balancierte sie - er! - mit nur zwei dieser Arme den schweren Block vor sich, um Deckung vor dem Maulspindler zu haben. »Tronmon!«, rief Dunkelhein warnend. »Nicht schießen - die Maschine!« Der zögerte mit dem Schuss und senkte die Waffe ein wenig. In diesem Moment geschah zweierlei. Jolo sprang von Albias Rücken ab und eilte mit einem flehenden Gesicht Schutz suchend auf mich zu. Und es fuhr aus dem Portal ein Gondelschirm in die Steuerzentrale ein. Im Bauch des Schirms lagen zwei Gebilde völlig verkantet, eine Art Fuhrwerk mit hochragenden Rädern und mit jeweils einem wunderlichen Passagier. Ich sah zunächst die Köpfe, gewölbt und wuchtig, von einem gelben Augenpaar und einem Drillingsrüssel beherrscht. Die beiden oberen Rüssel hielten überlange Säbel in der Hand und hieben damit die Brüstung des Schirms in Fetzen. Als sie ihren Wagen den Weg freigehauen hatten, rollten sie über die Trümmer der Umrandung auf den Boden der Steuerzentrale. »Teloracs!«, schrien die Maulspindler entsetzt auf. Die Wagen machten einen primitiven Eindruck, sie verfügten, wie es schien, über keinen elektrischen oder sonst wie künstlichen Eigenantrieb. Beide Gestalten legten einen ihrer beiden Säbel an den hinteren Teil des Körpers an, einen konisch sich verjüngenden, metallisch glänzenden Rumpf. Lebende Torpedos!, dachte ich. Die Säbel hafteten ohne sichtbare Hilfsmittel am Metallrumpf. Die Wesen griffen mit dem frei gewordenen Rüssel in die Speichen eines der hohen Räder und drehten sie. Nach wenigen Metern hatten sie ein erhebliches Tempo aufgenommen
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Gefangen im Himmelsnetz und rasten mit geschwungenem Säbel auf Albia zu. Albia heulte auf, lief los, wieder in unsere Richtung. Die Teloracs führten während ihrer Fahrt rücksichtslos. Streiche nach jeder Richtung. Sie trafen Maulspindler, die sich ihnen entgegenwarfen, ebenso wie verhüllte Aggregate und Konsolen. Es musste Verletzte, wenn nicht Tote geben. Und das gab für Tronmon den Ausschlag. Er schwenkte die weiße Waffe von Albia, der brüllend heranstürmte, aber offenbar unbewaffnet war, auf einen der Teloracs, und er schoss. Ein tiefschwarzer Blitz zuckte lautlos aus der Waffe und schlug in den Leib des linken Teloracs ein. Für einen Augenblick stand das Wesen still, wie aus der Wirklichkeit gehoben. Dann ging es in schwarzen Flammen auf. Vielleicht dauerte der Brand eine, vielleicht auch nur eine halbe Sekunde. Als er schlagartig erlosch, lagen der Wagen und sein Fahrer zu einer schwarzgrauen Masse verklumpt und eingeschrumpft auf dem Boden. Tronmon schaute ungläubig auf die weiße Waffe und streckte sie ein Stück weit von sich. Und dann war Albia da. Er entriss Tronmon die Waffe mit zwei Armen, ergriff ihn mit einem dritten Arm und schleuderte ihn mit übermenschlicher Wucht auf eine der verhüllten Steuerkonsolen. Mit dem untersten Armpaar hob er Dunkelhein vom Boden und katapultierte ihn über seinen Rücken in die Tiefe der Zentrale. Ich hörte ihn schreien. Albia legte mit der weißen Waffe auf mich an. Seine Augen wirkten verschleiert, er röchelte: »Keine Zeugen!« Obwohl sein Blick abwesend wirkte, war ich mir sicher, dass er mich genau im Visier hatte. Aus den Augenwinkeln nahm ich Jolo wahr, der mit nie gesehenem Tempo angerannt kam, zum Sprung ansetzte und hechtete. Albia schoss im selben Sekundenbruchteil, als Jolo den Lauf der Waffe im Sprung packte. Ich sah einen grellblauen Blitz.
Wim Vandemaan Der Schuss ging dank Jolo fehl und schlug in eine der Steuerkonsolen hinter meinem Rücken ein. Eine infernalisch laute Explosion krachte durch den Raum. Ich ging von der folgenden Druckwelle, die mich im Rücken traf, in die Knie. Hätte der Schuss mich auch nur gestreift, ich hätte ihn kaum überlebt. Albia war inmitten der Druckwelle stehen geblieben wie ein Fels. Er hatte die Waffe hochgerissen, Jolo hing noch daran, wie eine Frucht am Ast, mit beiden Tatzen an ihrem Lauf festgeklammert und festgesaugt. Albia schüttelte den Lauf, rüttelte ihn hin und her. Jolo hielt fest. Nun versetze Albia die Waffe in eine kreisende Bewegung, und Jolo wirbelte um den. Stab wie ein Turner, der am Reck Riesenfelgen schlug, immer rasender. Er hatte den Mund geöffnet, wahrscheinlich kreischte er. Ich hörte nichts. Meine Ohren waren vom Getöse des Einschlags noch betäubt. Endlich wurde.. Jolo zur Seite geschleudert. Er prallte in Hüfthöhe gegen die Wand, rutschte zu Boden und blieb liegen. Ich kam wieder auf die Beine und setzte an, um mich auf Albia zu werfen, als ein Maulspindler mit Wucht auf mir landete und mich zu Boden drückte. Ich spannte alle Muskeln an und stemmte mich vom Grund hoch. Der Maulspindler kippte zur Seite und nahm mich mit. Ich versuchte mich loszureißen, aber der Maulspindler hielt mich mit seinen sechs Beinen eisern umarmt. Wir rollten über den Boden der Zentrale. »Albia!«, hörte ich eines der Wesen, das Dunkelhein Teloracs genannt hatte, wie durch Watte schreien. Dann folgte ein Wortschwall, den mein Dhedeen mit Hass, Hass, Hass wiedergab. Ich rammte dem Maulspindler meine Ellenbogen wieder und wieder in den behaarten Unterleib, bis sich sein Griff endlich löste. Ich trat ihn mit beiden Beinen von mir weg und sprang auf. Albia stand immer noch auf seinem Platz. Er zielte mit der weißen Waffe auf den Wagen des Teloracs, der in hoher Geschwindigkeit auf sie zurollte. Der
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Gefangen im Himmelsnetz Telorac, der auf dieses Gestell geschirrt war, hielt wieder in jedem seiner beiden hochgereckten Gesichtsrüssel einen überlangen, schlanken Krummsäbel. Rüssel und Säbel standen ihm wie ein Geweih vom Kopf ab. Albia schoss. Diesmal trat kein Lichtblitz aus der Waffe. Stattdessen bildete die Luft Kreise, als wäre sie plötzlich zähflüssig geworden und ein Riese hätte einen Stein hineingeworfen. Die Luftwellen liefen beinahe träge auf den Telorac zu, der ihnen völlig erstarrt entgegensah. Sie umhüllten ihn, warfen ihn aus der Bahn, hoben ihn hoch und schleuderten ihn durch die Luft. Sein Wagen sprang in Scherben, noch bevor er wieder auf den Boden schlug. Der Körper des Teloracs verschob sich auf unbeschreibliche Art, wurde zugleich zerdehnt und gestaucht, bog sich durch, wölbte sich, stülpte sich ein, zerbrach. Die beiden Krummsäbel wirbelten in Salti durch die Luft und klirrten am anderen Ende der Station gegen die Wand Was, bei allen Kriegsgöttern Arkons, ist das für eine Waffe?, dachte ich. Auch der Telorac hatte seinen Sturz beendet. Sein Hinterleib war aufgeplatzt, und eine hellblaue Flüssigkeit breitete sich rasch zu einer Lache aus. Die Wunde verströmte ein Aroma wie von überreifen Bananen. Süßeren Tod stirbt der Held in den Feuern, kamen mir die verlogenen Verse einer altarkonidischen Flottenhymne in den Sinn. Der Tod ist niemals süß. Die Gesichtsrüssel des Teloracs wanden sich, als suchten sie etwas. Seine Augen standen offen. Sie waren gelb wie Bernstein und schauten verwundert ins Leere. ` Es ist noch nicht vorbei - Albia!, mahnte mein Extrasinn. Albia hatte die Waffe für einen Moment gesenkt, nun hob er sie wieder. Ich war in drei, vier Sätzen bei ihm, sprang seinen hoch aufgerichteten Vorderleib von der Seite an und versuchte, an die weiße Waffe zu kommen. Albia stürzte unter meinem Aufprall zur Seite. Ich hämmerte auf die
Wim Vandemaan Arme ein. Ihr Fleisch fühlte sich an wie Beton. Aber endlich ließ er den weißen Stab doch los. »Keine Zeugen, keine Zeugen!«, schrie er immer wieder. Ich trat die Waffe im Liegen außer Reichweite. Albias Arme hatten nichts - nun, Albiahaftes mehr an sich. Noch während er auf der Seite lag, überragten mich drei Arme um Haupteslänge. Wie drei aufgerichtete riesige Würgeschlangen pendelten sie nebeneinander im Raum, die früher feingliedrigen Hände zu riesenwüchsigen Pranken entstellt - eine kleine, schlagkräftige Armee. Nun stemmten die drei Arme der anderen Seite den ganzen Körper hoch. Für einen Augenblick balancierte der Schneckenleib förmlich auf seinen drei Armsäulen, dann setzten die Arme ihren Leib ab. Albia holte mit allen sechs Armen nach mir aus. Ich sprang zurück - einmal, zweimal, versuchte, einen Haken zu schlagen, aber dann trafen mich die Arme wie Hämmer und holten mich von den Beinen. Halb betäubt rollte ich mich noch einmal zur Seite - direkt auf die weiße Waffe zu, die wenige Meter vor mir lag. Albia stieß ein dunkles, überraschtes Grollen aus, dann setzte er mir nach. Ich kam auf alle viere, kroch voran, aber einer der wuchtigen Arme krachte auf mein Rückgrat und presste mich am Boden fest. Aus!, dachte ich. Denn im nächsten Schritt, mit dem nächsten Griff ihrer überlangen Arme würde Albia bei der Waffe sein. Und dann ... ... kam Abertack angeflogen. Ich erkannte den Maulspindler an seinen Bandagen. Ich weiß nicht, wie und wann er in die Steuerzentrale gelangt war. Und es war mir 'auch vollständig egal. Er musste gesprungen sein. Der Aufprall warf Albia nicht um. Doch das hatte Abertack wohl auch gar nicht bezweckt. Er umfing den aufgerichteten Teil von Albias Körper mit fünf seiner sechs Beine; das letzte hielt er abgespreizt. Er übergoss Albias Rumpf und die sechs titanischen Arme förmlich mit Seil-Masse.
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Gefangen im Himmelsnetz Die Fäden schossen kreuz und quer, wickelten sich um Albia. Albia knurrte zunächst nur unwillig, brüllte dann aber immer lauter, als er merkte, dass die Fadenführung des Maulspindlers einem Plan folgte, der aufging. Immer mehr ins Netz verstrickt, erlahmten seine gewaltigen Extremitäten endlich. Einige Fäden banden die zahllosen Unterbeine zu Bündeln. Albia schwankte. Warum haben ihn nicht die anderen Maulspindler gebunden?, fragte ich mich. Weil sie mit ihren Spindelorganen nicht nah genug an Albia herankamen, erläuterte der Logiksektor. Albia stand noch eine Weile aufrecht, während Abertack seine Arbeit vollbrachte. Am Ende aber war Albia wie in einen Kokon gehüllt, verlor das Gleichgewicht und stürzte seitlich und mit einem dumpfen Klatschen zu Boden. Ich hörte ein unheilvolles Knistern und Brodeln und drehte mich um. Dort stand das Wrack des Aggregates, das Albia mit dem weißen Gewehr getroffen hatte. Die Verschalung der übermannshohen Maschine hing in Fetzen, ich glaubte, in das Innere eines verwundeten Körpers zu sehen. Die Organe waren pulsierende Elemente aus Formenergie; sie schimmerten in hellen Pastelltönen: rosa, türkis, lindgrün und babyblau. Hier und da waren die formenergetischen Module beschädigt, aufgeplatzt, und die Energie floss wie glitzerndes, Licht sprühendes Blut heraus, wurde von Schirmfeldern aufgefangen, dehnte und beulte die Felder aus. Trotz ihrer sanften Farben spürte ich die wesenlose Gewalt, die von diesen Kräften ausging und die alle Hüllen zu sprengen drohte. Sah ich in kaum noch gebändigte Plasmaströme? In fünfdimensionale Energien? Flieh!, riet mein Logiksektor. Wohin? Wenn dieses Aggregat explodiert, sprengt es die Zentrale, die Station... Ich sah die weiße Waffe neben mir, bückte mich und hob sie auf. Nachdenklich legte ich auf die brodelnde Maschine an. Plötzlich spürte ich, wie sich mein Arm verlängerte, wie mein Gesichtssinn in die
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Wim Vandemaan Waffe hineingesogen wurde, wie ich aus der Mündung in die schönen, tobenden Energien sah. Ich erstarrte. Bis heute weiß ich nicht, an wen sich mein folgender Gedanke richtete: an mich selbst, um den Bann zu lösen; oder verrückterweise an das Gewehr, das sich an mich angeschlossen hatte. Oder mich an sich. Jedenfalls dachte ich: Wenn du nicht sterben willst ... schieß! »Nein! Atlan, nein!«, hörte ich Dunkelhein von weitem schreien. Ich schoss. Ein milchiges Licht fuhr in die leuchtenden Trümmer, bildete in ihrer Mitte einen schwarzen Trichter und schlürfte alle Energie förmlich auf. Zurück blieb etwas, das aussah wie ein Geflecht blass rauchender, verbogener und geschmolzener Drähte. Die Waffe wurde schwer wie Gold. Ich legte sie aus der Hand. Geschwächt beugte ich mich vor und stützte meine Hände auf die Schenkel. Ich sah mich um. Langsam löste sich Abertack von dem gefällten Gegner. Er trat drei, vier Schritte zur Seite, knickte die Beine dann ein und ließ sich erschöpft nieder. Seine Bandagen waren verrutscht, und aus Bruchstellen in seinem Hornpanzer sickerte eine zähe Flüssigkeit. In diesem Augenblick trat Dunkelhein, der sich von dem Schlag erholt hatte, an ihn heran. Behutsam und mit einer Zärtlichkeit, die ich Maulspindlerklauen nicht zugetraut hätte, bedeckte er Abertacks Wunden mit dem Verband und glättete die Bandagen. Währenddessen murmelte Dunkelhein ihm etwas zu, und ich brauchte diesmal keinen Dhedeen, um ihn zu verstehen. * Ich folgte Dunkelhein, als er nach einiger Zeit zu dem zweiten Telorac ging. Ich spürte jeden Knochen und musste von Blutergüssen übersät sein.
Gefangen im Himmelsnetz Dunkelhein beugte sich über den Telorac und sprach ihn leise an: »Baronin ...« Ein weibliches Wesen also. Die Baronin wieherte kraftlos. Sie holte tief Luft. Das Blut an ihrem Schnabel bildete himmelblaue Bläschen: »Alt wollte ich werden und beladen mit Ehre in die Tiefe der Primären Herrlichkeit sinken. Stattdessen ... so fern der Baronie ...« Damit erlosch ihre Stimme, und ihre bernsteinfarbenen Augen brachen. Neben der Telorac lag ein weiteres Wesen tot am Boden, sein durchschimmernder Leib wirkte wie von einer Riesenfaust zerquetscht. Ich betrachtete das ganze Spektakel der Zerstörung. Einige Maulspindler erhoben sich wankend. Andere regten sich nicht mehr. Die verwandelte Albia lag reglos in Abertacks Fesseln. Vor Schmerzen stöhnend ging ich auf ihn zu. Seine lidlosen Augen standen weit offen und schauten mich forschend an. »Ich sollte dich aus der Station werfen, Albia, ohne Netz und ohne Seil«, flüsterte ich ihm zu. Ich musste mich beherrschen, um nicht gleich daranzugehen, meine Drohung in die Tat umzusetzen. »Tu mir den Gefallen, lass es sein. Und nenne mich Albion, den Breiten Mann«, brummte die verwandelte Albia - oder Albion. »Warum sollte ich dich leben' lassen?«, fuhr ich ihn an. »Weil du mir diesen Gefallen schuldest. Ich habe ihn mir redlich erspielt!« Kopfschüttelnd wandte ich mich ab. »Außerdem bin ich wieder bei mir!«, rief er mir nach. »Es war nicht meine Schuld nicht meine Schuld, hörst du? Mein Wechseltag hätte ganz anders verlaufen sollen! Aber die Teloracs - diese erbärmlich schlechten Verlierer Gewinner ...« Er redete wirr. Einige Maulspindler eilten herbei. Ich sah, dass sie Albion an mehreren Stellen seines Leibes Injektionsnadeln setzten. Albion rief immer noch: »Man hat mich geschändet, hörst du? Das wirst du doch
Wim Vandemaan verstehen, oder? Gerade du musst es verstehen! Geschändet!« Sie spielt auf Peonu an, erklärte mein Extrasinn überflüssigerweise. Jolo lehnte immer noch an der Wand. Ich ging zu ihm. Der Echsenhafte rappelte sich auf, bog und reckte sein Knorpelskelett, als hätte er Hunderte von Knochen wieder einzurenken. Dann stand er vor mir, in der Schulterregion noch etwas schief und außer Form. »Bist du in Ordnung, Jolo? Deine Schultern ...« Er winkte mit seiner rechten Tatze ab und ächzte: »Ich war schon in frühester Jugend vom Alter gramgebeugt«. Ich lächelte ihn an. »Kleiner, du hast etwas gut bei mir.« Jolo überlegte nicht lange: »Gut. Dann koche bitte einmal für mich. Wurmmus. Oder Schweinshaxe mit Semmelkraut.« Ich musste lachen. »Ich lade dich lieber zu einem Abendessen bei Onkel Droszdat ein. Das dürfte das kleinere kulinarische Übel sein.« 13. Zu Tisch bei Onkel Droszdat Jolo und ich begleiteten den Transport Albions in die Krankenstation. Dort wurden auch meine Wunden behandelt, und mit einer gelben Paste gelang es dem Sanitäts-Maulspindler sogar, den elenden Juckreiz zu stillen, der mich seit dem Biss der Fessel gequält hatte. Der Breite Mann sah in seinen Fesseln erschöpft aus - von der Metamorphose, vom Kampf oder von den Medikamenten, die ihm von den Maulspindlern verabreicht worden waren. Ich war mir sicher, dass die Maulspindler ihn auch weiterhin unter Kontrolle halten, ihn nötigenfalls mit Psychopharmaka ruhig stellen würden. Das Wechselwesen stellte auch für mich ein Problem dar, um das ich mich bei nächster Gelegenheit kümmern musste: Durch Albion stand ich unter Peonus Aufsicht. Und allein schon der neuerliche Gedanke an Peonu schlug mir etwas wie ein Leck ins Bewusstsein.
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Gefangen im Himmelsnetz Ich überzeugte mich davon, dass Albion bestens verwahrt war, und bat Jolo, ihm noch ein wenig Gesellschaft zu leisten. »Du denkst an das versprochene Belohnungsmahl?«, fragte er mich. »Ich denke an nichts anderes«, versicherte ich ihn. Dann begab ich mich in einen Korridor und ging ihn bis ans Ende, wo sich das Tor zum internen Gondelsystem öffnete. Die Facetten des zuständigen Maulspindlers glitzerten gereizt, als er mich sah, aber er ließ mich ohne Frage passieren. Ich stieg in den Transportschirm. Wieder näherte ich mich dem Zentralen Steuerkegel voller Faszination. Das Gewirr der Seile wirkte wie eine kunstvolle Komposition, über der der steil nach oben und durchs Stationsdach führende Hochfaden wie ein leuchtendes Ausrufezeichen stand. Ich glitt durch das Portal der Außenwand in die Zentrale, sprang ab und sah mich nach Dunkelhein um. Der Maulspindler beaufsichtigte die bereits angelaufenen Reparaturarbeiten. »Man hat die Station GEM-45 gefährdet und damit den Netzsektor, den sie betreut. Man sollte auf die Legitimation verzichten, um weiteren Schaden auszuschließen«, klagte der Flachwächter an. ,»Man hat aber auch eine Gruppe destruktiver Gäste davon abgehalten, weitere Zerstörungen anzurichten«, gab ich zurück. Dunkelhein schwieg. »Dunkelhein«, sprach ich ihn an, »ich bin nicht dein Feind. Und wenn ich meine Ziele erreiche, wird das nicht zum Schaden des Netzes sein.« »Deine Ziele? Kennst du deine Ziele?«, fragte der Maulspindler. »Kannst du wirklich für den Bestand des Netzes garantieren?« »Nein. Aber das ist auch nicht meine Aufgabe. Du bist der Garant, du und das Volk der Maulspindler«, schmeichelte ich ihm. »Lass mich noch einmal den Cueromb hören«, bat er. Ich hielt ihm das Universalwerkzeug in Reichweite. Er neigte seinen Kopf und raunte dann: »Kein
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Wim Vandemaan Zweifel, kein Zweifel«, als wollte er sich selbst überzeugen. Dann fragte er: »Wann planst du weiterzureisen?« »Du meinst: mit der Gondel - weiter ins Netz?« »Ja.« Ich atmete auf. »Die Nacht würde ich gerne noch auf der Station verbringen und mich ein wenig ausruhen, wenn das gestattet ist«, bat ich Dunkelhein. Dunkelhein überlegte einen Moment, bevor er zustimmte. Dann wandte er sich wortlos ab, um den Reparaturteams Anweisungen zu geben. Ich nahm es als Zustimmung, die allerdings frei von jeder Begeisterung war. »In meinem Volk«, rief ich ihm nach, »schließen wir Frieden, indem wir miteinander essen.« Dunkelhein hielt an und betrachtete mich mit seinen rückwärtigen Augen. »Ich glaube nicht, dass wir denselben Geschmack haben.« »Wir müssten nicht von einem Teller essen«, sagte ich, »es genügt ein gemeinsamer Tisch.« Dunkelhein zögerte erneut. Aber dann sagte er: »Wie man weiß, haben wir hier oben ein recht gutes Restaurant ...« * Kurz bevor Abertack seine Gondel bestieg, um zur Bodenstation zurückzukehren, bat Dunkelhein ihn zu einem persönlichen Gespräch in seine Kapelle. Als Abertack eintraf, sah er, dass Dunkelhein einige Tupfer goldgelber Trauerschminke zwischen den Augen aufgetragen hatte. »Das Massaker hätte noch schlimmer werden können«, begann Dunkelhein umstandslos. »Und ich weiß sehr wohl, was GEM-45 dir zu verdanken hat.« »Danke«, sagte Abertack. »Ich habe unverzüglich einen Bericht abgefasst und dich ausdrücklich belobigt.« Abertack klackte dankbar mit seinen Klauen. »Man hat sehr schnell reagiert.« Abertack spannte seinen Körper an. »Eine Miliz-
Gefangen im Himmelsnetz Gondel ist bereits unterwegs mit Ersatz für die getöteten Kollegen. Außerdem hat man entschieden ...« Dunkelhein machte eine kurze Pause und setzte mit etwas festerer Stimme neu ein: »Außerdem hat man entschieden, fortan ein umfangreicheres Kampftraining in das Ausbildungsprogramm aufzunehmen.« Abertacks Stimme klang rau, als er sagte: »Das ist sehr klug.« »Allerdings wollte man dich nicht, wie ich es befürwortet habe, in den Flachstationsdienst berufen. Die Verzahnung der Ereignisse sollte nicht mehr aufgehoben werden. Es tut mir Leid.« »Danke«, sagte Abertack. Dunkelhein sog die Luft lange und hörbar ein, dann versprach er: »In der Stunde, in der deine biologische Uhr angehalten wird, werden wir deiner gedenken.« »Danke«, sagte Abertack. * Wir saßen in der roten Stunde bei Onkel Droszdat: Jolo, Dunkelhein und ich. Jolo stopfte sich mit den kulinarischen Sensationen aus Onkel Droszdats Küche voll und grummelte hin und wieder etwas, das mein Dhedeen stereotyp mit »lecker, lecker« übersetzte. Auch ich aß etwas. Mein Gericht sah aus wie eine Pyramide aus zu klein geratenen roten Gurken. Es schmeckte überraschend gut, nach etwas zu stark gepfeffertem, medium gebratenem Steak. »Magst du kosten?«, bot ich Jolo an. Zu meiner Überraschung lehnte er ab. »Warum nicht?« »Ich esse alles, nur keine Parasiten.« Aus Neugier oder weil Dunkelhein, der Kommandant des Gondelbahnhofs, bei uns saß, kam der Onkel selbst kurz an unseren Tisch und erkundigte sich nach unserer Zufriedenheit. Droszdat wirkte wie ein schwarzer Schneemann aus drei Bällen, die aufeinander balancierten. Die oberste der drei ledernen Kugeln diente als Kopf; das rotschwarz-fleckige Gesicht übertraf an Hässlichkeit sein Abbild auf dem
Wim Vandemaan Werbeposter bei weitem. Das mittlere Segment wies zwei Arme auf, die aus Plastik gefertigt waren - Prothesen, die quietschend auf und ab fuhren. Die unterste Kugel sorgte auf mysteriöse Weise für Fortbewegung. Die Kopfkugel rutschte ein wenig zu mir herunter. »Sollten nach dem Mahl noch körperliche Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, würde sich jede meiner zahlreichen schönen und aus etlichen Völkern zusammengekauften Töchter freuen, euch geeignete Gesellschaft zu leisten«, flötete der Onkel mit zuckersüßer Stimme. Jolo sah nicht einmal auf; ich lehnte höflich ab. Onkel Droszdat überlegte einen Moment und lockte dann: »Einige meiner Töchter sind auch Söhne.« »Gilt für deine Töchter, Söhne, Zwitter oder Zwitterrinnen auch: keine Kredite?«, fragte ich. »Keine Kredite!«, bekräftigte Droszdat. »Wie schade«, seufzte ich, worauf sich der dunkle Oheim wieder aufbaute und von dannen rollte. Wir aßen auf. Am Ende schulterte Jolo den Proviantbeutel, den Onkel Droszdat ihm mit Leckerbissen gefüllt hatte. Ich stand auf. Auch Dunkelhein erhob sich von seinem Polster. »Übrigens, Dunkelhein«, sagte ich. »Diese weiße Waffe ...« »Man hat sie von meinem Vorgänger Wesburc übergeben bekommen, und dieser will sie von seinem Vorgänger haben. Sie ist etwas wie ein Erbstück der Station.« »Du willst sagen: Sie wird nicht ausgeliehen und ist auch nicht verkäuflich, nicht wahr?« »Du willst sagen: Du hättest sie gerne, nicht wahr?« »Vielleicht wäre sie bei mir am besten aufgehoben.« »Wenn du das glaubst, ist sie es vielleicht nicht.« Ich musste lächeln und sagte: »Ja, vielleicht.«
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Gefangen im Himmelsnetz »Ich werde sie im Statischen Schrein einlagern«, schloss Dunkelhein das Thema ab. »Sie hat genug Unheil angerichtet.« »Eines noch, nur aus Neugierde: Warum hast du nicht darauf bestanden, mir die Legitimation wieder abzunehmen?« Dunkelhein schlürfte Wasser aus einer Holzschale und führte danach einige Löffel zerstoßener Mineralien zum Mund. »Ich habe in der Zentrale gesehen, wozu du in der Lage bist. Wenn man jemanden wie dich aus dem Netz wirft, findest du einen Weg, zurückzukehren. Manche Geschöpfe haben etwas Unabwendbares an sich. Auf gewisse Weise« - er knickte einen Laufarm in meine Richtung ab und wies mit der Klaue auf meine langen weißen Haare »auf gewisse Weise bist du selbst eine weiße Waffe.« Ich lächelte und verneigte mich. Als ich mich eben zum Gehen wenden wollte, trat ein Maulspindler an den Tisch und flüsterte Dunkelhein etwas zu. Obwohl er leise sprach, konnte mein Dhedeen es übersetzen. Merkwürdigerweise hatte es offenbar auch jeder andere Gast im Restaurant verstanden, denn plötzlich erfüllte eine körperlich spürbare Spannung den Raum. Dabei hatte die Nachricht eher lapidar geklungen: »Man kündigt aus der Hochstation BAN-6 den Besuch von Luck, dem Proporzen an.« 14. Aufwärts Spät am Abend stieg Abertack gegen seine Gewohnheit noch einmal' hinab, trat durch das Tor in der Hochenergiebarriere und dann auf den Vorplatz. Sofort roch er den scharfen, beißenden Duft. Er ging dem Gestank nach. Ungefähr dort, wo im aufgebauten Zustand die Vorderwand seines energetischen Beratungskäfigs den Boden berührte, stieß er auf einen Haufen Kot mit kleinen, hölzernen, technisch anmutenden Relikten, Schrauben und Muttern darin und metallisch funkelnden Bruchstücken. Schuons biomechanische Lok hatte ihre Stoffwechselendprodukte hier abgelagert,
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Wim Vandemaan und Abertack zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sie dies auf Geheiß von Schuon getan hatte. Grünblau schillernde Kerbtiere machten sich bereits an dem Auswurf zu schaffen. Abertack seufzte, ging einige Schritte und setzte sich auf den Boden. Nachdem das Tor sich hinter ihm geschlossen hatte, ertönte auch die Stimme wieder, die für Abertacks Gehörsinn tief und sonor klang: »Legitimation ist im Morgengrauen möglich. Legitimation ...« Aber das war nicht alles, was er hörte. Selbst hier unten vernahm er das Seil. Er lauschte dem entfernten Singen hoch oben in der Luft. Bald würde er diesen Gesang nicht mehr vernehmen. Ob er ihn vermissen würde? Wie sollte etwas, das nicht mehr da ist, etwas vermissen?, fragte er sich. Oder würde er nicht ganz verschwinden, würde er an einen Ort geraten, wo er den Gesang des Seiles endlich verstehen würde? Er lauschte, und fast schien es ihm, als würde er bereits jetzt etwas von dem erfassen, was das Seil ihm zu sagen hatte. Aber da war noch etwas. Eine Tonfolge, die sich in das Sirren und Wispern einmischte. Ein fremder, aber kein abstoßender Klang. Abertack erhob sich und ging dem Geräusch nach. Es war eine leise, seinem Eindruck nach wehmütige Melodie, die sich anhörte wie auf einer Flöte gespielt. Abertack hielt vor dem Duum-Baum, unter dem immer noch ein paar hölzerne Trümmerstücke vor sich hin moderten, Äste, die sein Sturz abgebrochen hatte. Er schaute in die goldrote Krone hoch. Die Duum-Früchte glühten, ihr bittersüßer Duft erschien ihm heute Abend besonders intensiv.
Gefangen im Himmelsnetz An einem der stärkeren, noch bodennahen Äste hing Euphloden kopfunter; seine Tentakel hatten sich ums Holz geschlungen. Er hielt seine Augen eingefahren und geschlossen. Die grün fluoreszierenden Lippen waren gespitzt; er pfiff. Abertack lauschte den melancholischen Tönen eine Weile, dann rief er: »Warum bist du noch hier?« Euphloden beendete die Melodie, fuhr ein Auge aus, öffnete es und fragte: »Wo soll ich hin?« »Nach Hause!«, schlug Abertack vor. »In die schwebenden Nester von Krynné.« Euphloden lachte sein papierenes Lachen. »Mit leeren Griffen? Ohne jedes Rezept?« »Ist dir dieses fremde Leben wirklich so viel wert?«, erkundigte sich Abertack. Euphloden ließ fünf weitere Tentakel los und pendelte an der letzten Gliedmaße eine Laufarmlänge hoch über dem Boden. Er hatte jetzt beide Stiele ausgefahren. Die blauen Augen blickten Abertack an. »Ja«, bestätigte er. »So viel.« Abertack schaute dem Gondelfaden nach in schwindelerregende Höhe, so weit, bis ihm wieder übel wurde. »Dann«, sagte er zu Euphloden, »sollten wir keine Zeit mehr vergeuden.« Abertack ging los. Nach einigen Schritten hielt er an. Euphloden pendelte immer noch an dem einen Tentakel. »Worauf wartest du?«, rief Abertack. »Nun komm! Ich fahre dich hinauf!« Euphloden ließ sich ins Gras fallen, pumpte seine Tentakel auf und lief mit mächtigen, raumgreifenden Stelzschritten auf den Maulspindler zu. Das alte Lied irrt, dachte Abertack. Leben ist mehr als eine kurze Passage. Und es ist jeder Angst und jeder Sorge wert.
ENDE Letztlich konnte Atlan sich gegenüber den Maulspindlern zur Benutzung ihres Transportsystems legitimieren. Ohne Plan, wo er den Flammenstaub finden, geschweige denn wie er ihn sich beschaffen kann, nutzt ihm dies jedoch nur eingeschränkt. Was er also zunächst benötigt, sind Informationen. Und die beste Gelegenheit, diese zu erhalten, bietet sich auf dem
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