Hans-Georg Gadalller
Hans-Georg Gadalller
Gesammelte Werke
Hermeneutik im Rückblick ECNULIB
Band 10
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Hans-Georg Gadalller
Hans-Georg Gadalller
Gesammelte Werke
Hermeneutik im Rückblick ECNULIB
Band 10
11~~~~~~~I~IIIII~I~IIIII~~~I~~1 10109811404349
B516.59
G123q 1995
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1995
Vorwort
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. - Tübingen: Mohr NE: Gadamer, Hans-Georg: [Sammlung] Bd. 10. Hermeneutik im Rückblick. -1995 ISBN 3-16-146084-7
© 1995
Die nun abgeschlossene Sammlung meiner Schriften, die keine Gesamtausgabe sein will, enthält nur das, wovon der Verfasser glaubt, es könnte für die Forschung nützlich bleiben. Dieser letzte Band schließt sich besonders eng an den dritten Band an, in dem - nach Hegel - Husserl und Heidegger das Thema waren. Das erste Kapitel des 10. Bandes setzt nochmals mit dem Thema Heidegger ein, nachdem inzwischen die Freiburger Vorlesungen und Manuskripte zugänglich geworden sind. Darauf folgen einige Nachträge zu Husserl und zu der Diskussion, die sich an den Fortgang beider Ausgaben anschließt. Die zentralen Kapitel des Bandes behandeln dann in neueren Arbeiten die Wendung zur Hermeneutik und insbesondere zur praktischen Philosophie. Die beiden letzten Kapitel bringen einige ausgewählte Materialien zur Lebensgeschichte des Verfassers, soweit dieselbe einen philosophischen Leser interessieren kann. Dazu gehören auch unter dem Titel >Philosophische Begegnungen< einige Aufsätze, die dem autobiographischen Band >Philosophische Lehrjahre< entnommen sind und in den siebziger Jahren geschrieben waren (veröffentlicht bei Klostermann 1977). Diese Reihe von Aufsätzen wurde inzwischen ün Fortgang vermehrt. Auch werden im Zusammenhang nleiner eigenen Arbeiten andere Begegnungen charakterisiert, so mit Nicolai Hartmann, Edmund Husserl, Martin Heidegger, Eugen Fink, Karl Reinhardt, Wolfgallg Schadewaldt, Helmut Kuhn (siehe die bibliographischen Nachweise auf S.446). Am Schluß steht das Gesamt-Inhaltsverzeichnis der zehn Bände mit alphabetischen Registern der Titel.
J. C. B. Mohr (paul Siebeck), Tübingen.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigllngen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Gebr. Buhl in Ettlingen gedruckt und von der Großbuchbinderei Heinr. Koch in Tübingen gebunden.
HGG
Inhalt 1. Heidegger im Rückblick 1. Erinnerungen an Heideggers Anfänge (1986)
3
2. Heidegger und die Sprache (1990)
14
3. Heidegger und die Griechen (1990)
31
4. Heidegger und die Soziologie: Bourdieu und Habermas (1979/85)
46
5. Hermeneutik und ontologische Differenz (1989)
58
6. Die Kehre des Weges (1985)
71
7. Denken und Dichten bei Heidegger und Hölderlin (1988)
76
11. Die hermeneutische Wende 8. Subjektivität und Intersubjektivität, Subjekt und Person (1975) 9. Phänomenologie, Hermeneutik, Metaphysik (1983) 10. >Das Sein und das Nichts<
G.P.
Sartre) (1989)
87 100 110
11. Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus (1987)
125
12. Dekonstruktion und Hermeneutik (1988)
138
13. Hermeneutik auf der Spur (1994)
148
14. Die Grenzen der historischen Vernunft (1949)
175
15. Vom Wandel in den Geisteswissenschaften (1985)
179
VIII
Inhalt
Inhalt
16. Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule (1991)
185
17. Geschichte des Universums und Geschichtlichkeit des Menschen (1988)
206
111. Hermeneutik und die praktische Philosophie 18. Bürger zweier Welten (1985)
225
19. Die Idee der praktischen Philosophie (1983)
238
20. Geschichtlichkeit und Wahrheit (1991)
247
21. Vernunft und praktische Philosophie (1986)
259
22. Europa und die Oikoumene (1993)
267
IV: Die Stellung der Philosophie in der Gesellschaft 23. Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft (1947)
287
24. Zum 300. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz (1946/90)
295
25. Die Stellung der Philosophie in der heutigen Gesellschaft (1967)
308
26. Welt ohne Geschichte? (1972)
317
27. Historik und Sprache (1987)
324
28. Von Lehrenden und Lernenden (1986)
331
29. Die Universität Heidelberg und die Geburt der modernen Wissenschaft (1986)
336
30. Mit der Sprache denken (1990)
346
31. Schreiben und Reden (1983)
354
32. Die deutsche Philosophie zwischen den beiden Weltkriegen (1987)
356
v:
IX
Philosophische Begegnungen
Paul Natorp 375 - Max Scheler 380 - Rudolf Bultmann 387 - Kar! Jaspers 392 - Hans Lipps 400 - Paul Friedländer 403 - Erich Frank 405 - Gerhard Krüger 412 - Kar! Löwith 418 - Thrasyboulos Georgiades 423 - Fritz Kaufmann 426 - Emilio Betti 432 - Bruno Sne1l437
Bibliographische Nachweise
441
Namenregister
447
Verzeichnis der Gesammelten Werke Band 1-10
453
Register der Texte
463
Index of English translations
472
Index des traductions fran~aises
475
Indice delle traduzioni italiane
477
J. Heidegger im Rückblick
1. Erinnerungen an Heideggers Anfänge (1986)
Ein erneutes Interesse wendet sich der vor-Marburger Epoche, den frühen Freiburger Jahren I\1artin Heideggers zu, in denen er als Theologe und als Denker noch ganz auf der Suche war. Das Signal dazu gab die Veröffentlichung einer frühen Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 durch Walter Bröcker und seine Gattin. Daneben verdanken wir insbesondere den Arbeiten von Thomas Sheehan genauere Kenntnis über die Anfänge Heideggers. Durch die Vermittlung von Ernst Tugendhat hat er die Nachschriften von Helene Weiß einsehen können, die Heideggers Vorlesung über )Phänomenologie der Religion< wiedergeben, und hat auch andere Materialien aus Heideggers Frühzeit aufgespürt. Sie alle ergänzen das Bild des jungen Theologen Heidegger, den sein Bestehen auf Lebensklarheit und auf Gedankenklarheit auf den Weg gewiesen hat, auf dem er zu einem der größten Denker des 20. Jahrhunderts werden sollte. Insbesondere verdanken wir den Berichten über die Vorlesung )Phänomenologie der Religion< einen wichtigen Hinweis darauf, wie und unter welcher Motivation der junge Heidegger in seinen frühen FreiburgerJahren von dem Problem der Zeit in Atem gehalten warl. Ich selber bin erst imJahre 1923, nachdem ich die schwere Erkrankung an Polio überwunden hatte, mit Heidegger in Freiburg in persönliche Berührung gekommen. Aber schon vorher hatte uns in Marburg in mannigfacher Form das Gerücht,· der )Rumor<, um den jungen revolutionären Philosophen, der bei Husserl den Assistenten spielte, erreicht. Das erste Mal, daß ich den· Namen hörte, war wohl in meinem Sommersemester 1921 in München. Dort hielt in einem von Moritz Geiger abgehaltenen Seminar ein älterer Student seltsame Reden, und ich fragte Geiger nachher, was das denn gewesen sei. Er antwortete mit der selbstverständlichsten Miene: »Ach, der ist verheideggert. « Das gab es also bereits. Ich erinnere mich aus dem gleichen Sommersemester 1921 in München, daß mir im Flur ein ernster. dunkeläugiger, graziler Student mit einem großen Kopfauffiel. Später sollte 1 Darüber habe ich in meinem Aufsatz >Die religiöse Dimension< Getzt in Ges. Werke Bd. 3, S. 308ff.) einiges gesagt.
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Heidegger im Rückblick
ich in Marburg seine Bekanntschaft machen.. Es war Karl Löwith, der damals seine allzuwenig phänomenologisch-orthodoxe Nietzsche-Interpretation auf Anraten von Heidegger in München als Dissertation einreichte. Das zweite Mal, daß ich den Namen Heidegger hörte, geschah durch den Bericht eines Marburger Studenten, der ebenso verworrene wie tiefsinnig klingende Dinge zu erzählen wußte und ein Semester in Freiburg zugebracht hatte. Beides hat mich damals noch nicht gerade aufgeregt. Aber dann gab mir imJahre 1922 mein eigener Lehrer Paul Natorp ein Manuskript zu lesen, das Heidegger ihm geschickt hatte, eine Einleitung in Aristoteles-Interpretationen. Die Lektüre dieses Manuskriptes (das Original ist leider den Kriegszerstörungen in Leipzig zum Opfer gefallen, doch ist inzwischen eine Teilabschrift im JY1arbacher Archiv aufgefunden und nach der Auffindung einer anderen Kopie veröffentlicht worden) berührte mich wie ein elektrischer Schlag. Da war von Aristoteles nicht allzuviel die Rede, wohl aber vom jungen Luther, von Gabriel Biel, von Augustin, von Paulus und dem Alten Testament. Aber in welcher Sprache! Was für eine eigentümliche, für uns damals völlig neuartige Benutzung ausdrucksstarker deutscher Worte und Wendungen zu Begriffszwecken! Selbst das schon damals Zugängliche, Heideggers Buch über des sogenannten Duns Scotus >Grammatica speculativa<, von 1917, hatte davon noch gar nichts. Ich beschloß, sofort nach meinem Doktorat nach Freiburg zu gehen, insbesondere da ich selber nlich unter der Förderung durch Nicolai Hartmann dem Aristoteles-Studium zugewandt hatte. Meine erste Begegnung mit Heidegger in Freiburg verlief höchst sonderbar. Ich kam zu seinem Sprechzimmer und hörte, wie darin Stimmen waren, also zog ich mich zurück und wartete im Flur. Da öffuete sich die Tür und jemand wurde herausgebracht, von einem sehr kleinen schwarzäugigen Manne. Ich sagte mir: schade, da ist noch jemand drin, und wartete geduldig weiter. Erst nach einer geraumen Zeit horchte ich erneut an der Tür und hörte keine Stimmen mehr, klopfte an und trat ein. Der kleine schwarze Mann, der so gar nicht meinen Erwartungen entsprach, war Martin Heidegger. Freilich, als ich mit ihm ins Gespräch kam und sein Auge sah, begriffich ohne jeden Kommentar, daß Phänomenologie etwas mit Sehen zu tun hat. In diesem Auge war nicht nur durchdringende Klugheit, sondern vor allem auch Phantasie und Anschauungskraft. Es sollte lange dauern, bis ich in den Grenzen meiner Möglichkeiten diese heute fast unbekannt gewordene phänomenologische Anschauungskraft in mir entwickeln lernte. - Natürlich besuchte ich Heideggers einstündige Vorlesung über Ontologie und die. von Heidegger angebotenen Proseminare über Aristoteles und über die >Logischen Untersuchungen<, sowie das Hauptseminar über das 6. Buch der Nikomachischen Ethik und ein mitJulius Ebbinghaus gemeinsam veranstaltetes Sonnabendseminar über Kants Religionsschrift. Alle fünf Veranstal-
Erinnerungen an Beideggers Anfänge
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tungen waren für mich prägend und unvergeßlich. In seiner Vorlesung trug Heidegger unter dem, so schien es mir, wahrlich unangemessenen Titel >Ontologie< die später durch >Sein und Zeit< bekanntgewordene Umweltanalyse vor. Völlig neue Töne für mich, der ich in der Sprache der >Allgemeinen Logik< der Marburger Schule erzogen war. Ich spürte gewiß sofort, daß auch innerhalb der Freiburger phänomenologischen Schule diese Töne die eigenen Töne Martin Heideggers waren. - Was ich damals nicht wußte, war, wie sehr hier indirekte Einwirkungen einerseits Nietzsches, andererseits des amerikanischen Pragmatismus hineinspielten. Das ist erst eine neuere Einsicht, die ich gewonnen habe, daß möglicherweise Heidegger durch den amerikanischen Pragmatismus auf indirektem Wege angeregt v"orden war. Wir wissen seit einiger Zeit, daß Emil Lask, dessen gesammelte Werke auch von Heidegger öfters mit besonderem Respekt genannt wurden, ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der ihn dahinraffte, eine Abkehr von seinem Heidelberger Neukantianismus vollzogen hat, indem er amerikanischen Pragmatismus rezipierte. Es scheint so, daß die Vorlesung, die Lask darüber gehalten hat, nicht nur bei Georg von Lukacs ihre Spuren hinterlassen hat. Gott weiß, auf welchem Wege, auch bei dem jungen Heidegger. Aber wie auch sonst fruchtbar werdende Anregungen in Wahrheit >in der Luft liegen< und das Wesentliche in dem liegt, was einer aus ihnen macht, ist es auch hier. Und wahrlich war die Eigenständigkeit und die gesammelte Kraft dieses jungen Lehrers einzigartig, der meist mit einem schrägen Blick zum Fenster hinaus seine wuchtigen, in sich überzeugenden Sätze abschloß. Aus ihm sprach ein ebenso gewaltiges wie berechtigtes Selbstbewußtsein, das sich in mancher bösen Polemik entlud. Besonders Max Scheler wurde manchmal arg zerzaust, einmal sogar in einer auf amüsante Weise irrigen Form. Heidegger bezog sich auf eine Schrift Schelers, in der als Anmerkung eine Schrift des Aristoteles angegeben war: I>Aristoteles de partibus animae. Nun meine Herren, eine solche Schrift des Aristoteles existiert nicht.« Vor der nächsten Stunde hatte ich Gelegenheit, Heidegger darauf aufmerksam zu machen, daß dieses Fehlzitat nichts weiter als ein Druckfehler war und daß der gemeinte Text IDe partibus animalium< war (das >I<, mit dem üblicherweise die Zitation abgeschlossen wird, war in le< verdruckt). Heidegger berichtigte in der Vorlesung: Er sei darauf aufmerksam gemacht worden und teile das mit, damit nicht jemand auf den wahnsinnigen Gedanken komme, er wolle etwa Max Scheler mit Hilfe eines Druckfehlers widerlegen. In dem Proseminar, das Heidegger im Auftrage von Husserl hielt, waren die >Logischen Untersuchungen< der Gegenstand. Auch hier zeigte derjunge Dozent bereits eine souveräne Meisterschaft in der Leitung eines ziemlich großen Auditoriums. Einer Frage erinnere ich mich noch im besonderen und ihrer Beantwortung durch ihn selbst. Heidegger fragte, was denn der
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Heidegger im Rückblick
intentionale Gegenstand eigentlich sei - und alle Antworten, die aus dem Auditorium kamen, wies er zurück, um seinerseits zu sagen: »Meine Herren, das ist das Sein.« Offenbar meinte Heidegger das im Sinne der Tradition der Metaphysik: Der intentionale Gegenstand habe bei Husserl etwa die Rolle, die das ti en einai, das Was-Sein der aristotelischen Metaphysik, besaß, die in ihrem Eidos gesammelte Wesenheit. Im Zusammenhang dieser Antwort über das Sein machte Heidegger klar, daß das Sein nicht eine allgemeinste und oberste Gattung sei. Und wieder stellt er eine Frage: Wer hat diese aristotelische Erkenntnis, daß das Sein nicht Gattung ist, zuerst wiedererkannt? Es gab alle möglichen Antworten. Ich selber in meiner Vorwitzigkeit versuchte auch eine, indem ich im Blick auf den Monaden-Begriff Leibniz vorschlug, erhielt aber als Antwort: »Der wäre froh gewesen, wenn er das begriffen hätte. Nein, es war Husserl!« (Heidegger verwies dann auf die sechste Logische Untersuchung.) Nun, ich verstand den Hintergrund dieser herausfordernden Antworten durchaus noch nicht. Heute würde ich sagen, hier kann man beobachten, wie Heidegger an Husserl anzuknüpfen wußte und wie er mit großem diplomatischem Geschick bei Husserl erreicht hatte, daß er, trotz Husserls Drängen und Wunsch, in seinen Übungen nie die 1913 erschienenen >Ideen< behandelte, die Heidegger für einen Rückfall in den neukantianischen transzendentalen Idealismus hielt, sondern die >Logischen Untersuchungen<. Er erreichte das bei Husserl (wie er mir selbst erzählt hat), indem er sagte: »Herr Geheimrat, die Studenten müssen erst durch die Phase der >Logischen Untersuchungen< hindurchgehen. Sie sind noch nicht reif für den jetzigen Stand Ihrer phänomenologischen Einsichten.« In Wahrheit bedeutete dies natürlich eine kritische Stellungnahme, daß nämlich Heidegger die spätere Wendung Husserls zum transzendentalen Idealismus nicht mitmachte - wenn er sich auch nicht auf den platten Rückfall in einen phänomenologischen Realismus im Stile Schelers oder der Münchner Schule einließ. Gerade das war für mich wichtig, insbesondere für mein Eindringen in Aristoteles, daß Heidegger mir klarzumachen wußte, daß Aristoteles nicht der >Realist< gegenüber dem >Idealisten< Plato war. Das begriffich vor allem, als Heidegger, großzügig genug, mich einige Abende zu einer privaten Lektüre der sogenannten Substanzbücher der aristotelischen >Metaphysik< einlud. Ebenso faszinierte mich Heideggers Einführung in die aristotelische Ethik. Hier brachte er das ganze Pathos seiner »Hermeneutik der Faktizität« fur die Aristoteles-Interpretation ins Spiel. Hermeneutik der Faktizität, das lernen wir gerade auch aus der neuesten Veröffentlichung der Vorlesung von 1921/22, bedeutete eine Auslegung des menschlichen Daseins, die der Selbstauslegung dieses Daseins in der Konkretion seiner Lebenswelt folgt. Dafür konnte in der Tat die aristotelische Ethik in gewissem Sinne als Entsprechung dienen.
Erinnerungen an Heideggers Anfänge
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Überhaupt war die Wiederentdeckung des Aristoteles durch die Phänomenologie nicht ganz so verwunderlich, wie sie einem in Marburg erzogenen Neukantianer erscheinen mußte. Über der Marburger Szene schwebte der despotische Geist Hermann Cohens, auch noch nach seinem Tode - und in der Reaktion auf ihn. Cohen liebte zu sagen, Aristoteles war ein >Apotheker<. Er meinte damit natürlich den klassifIkatorischen Ordnungsgeist des Aristoteles und war offenkundig für den spekulativen Gehalt in dieser allseitigen Empirie blind - anders als Hegel! Natorp und vor allen Dingen der sich von der Marburger Schule ablösende Nicolai Hartmann sahen in Aristoteles weit mehr. Gleichwohl war es für mich wie eine Offenbarung, als ich lernen konnte, daß Logos und Legomena und Kategorien und im Grunde das Ganze der Begriffstradition der Metaphysik auf die lebensweltlichen Erfahrungen des Sprechens und der Sprache zurückwiesen. Das galt selbst für die Metaphysik - wieviel mehr noch für die Analyse der praktischen Vernunft, wenn man sich so kantisch ausdrücken darf, die Heidegger mit überzeugender Gewalt in der aristotelischen >Phronesis< wiedererkannte. Dies »Auge der Seele« (wie der Text es in metaphorischem Gebrauche einmal nennt) war offenkundig der eigentliche Anknüpfungspunkt für das Existenzpathos, das damals in Heideggers Auftreten die Präsenz Kierkegaards anzeigte. - Dafür gab es in diesem Seminar eine andere charakteristische Szene, die mir in Erinnerung geblieben ist. Bei der Unterscheidung von Techne und Phronesis, dem Wissen, das das Herstellen von etwas leitet, und dem Wissen, das den handelnden und politischen, also gesellschaftlichen Menschen orientiert, findet sich bei Aristoteles als Unterscheidung formuliert: was man im Handwerkswissen lernen könne, könne man auch verlernen, von der Phronesis dagegen gebe es keine Lethe, kein Vergessen. Heidegger fragte: Was ist damit gemeint? Und da gerade das Kling~lzeichen das Ende der Sitzung markierte, erhob er sich und sagte: »Meine Herren, das ist das Gewissen« - und ging hinaus. Dramatisch und gewaltsam, gewiß. Es wäreja über den Unterschied zwischen dem Begriffdes Gewissens und dem aristotelischen Begriff der Phronesis manches zu sagen. Gleichwohl, man wurde durch diese herausfordernde These unausweichlich vor die eigenen Fragen genötigt - auch wenn man schließlich lernen sollte, allzu gewalttätige Wiedererkennu.ngen des eigenen Fragens zu kontrollieren und Differenzierungen vorzunehmen. In eine vollends unbekannte Dimension, die in meiner philosophischen Ausbildung noch ganz fehlte, führte das mit Ebbinghaus gemeinsam geleitete, in Wahrheit aber von dem jungen Heidegger ganz beherrschte Seminar über die Religionsschrift von Kant. Da hätte ich Gelegenheit gehabt, was ich damals noch nicht vermochte, die innere Dringlichkeit des Problems der Religion und der Theologie im Denken Heideggers zu gewahren. Wenn Heidegger auf mancherlei Wegen die Kantische Religionslehre stärker von
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Heidegger im Rückblick
Luther abrückte und aufThomas hin bezog, hätte ich darin wohl schon das metaphysikkritische Element und damit auch das aristoteleskritische Element in Heideggers denkerischen Antrieben gewahren können. Aber das sollte mir erst Jahre später bewußt werden. Der unglaubliche Eindruck, den diese ersten Begegnungen mit Heidegger auf mich machten, hatte noch einen anderen Hintergrund, der in einer anderen Richtung lag. Das, was ich in meiner Marburger neukantianischen Ausbildung vermißt hatte und was ich auch nicht durch gelegentliche Studien, etwa von Werken Diltheys oder Max Webers oder Ernst Troeltschs auszufüllen vermochte, trat mir in dem jungen Heidegger leibhaftig entgegen. Es ging nicht mehr um die Wissenschaft allein und ihre erkenntnistheoretische Rechtfertigung, auch nicht um die meisterhafte Ausdehnung der aprioristischen Analysen auf die Lebenswelt, die Husserl gebracht hatte. Es ging wesentlich um die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, um die Lösung des Problems des historischen Relativismus - besser, um die Hinterfragung der Problemstellung, in der sich der historische Relativismus als unlösbar erweist. Dafür war Dilthey in Wahrheit die symbolische Figur. Wenn Heidegger selber in ähnlicher Weise, wie ich als junger Dachs, der formalistischen Dürftigkeit des neukantianischen Systemgedankens zu entweichen suchte und insbesondere auch der transzendental-idealistischen Wendung des Husserlschen Phänomenologieprogramms widerstrebte, dann war ihm von früh an das bei aller begrifflichen Schwäche und Blässe doch ungeheuer reiche und anregende Spätwerk Wilhelm Diltheys eine wesentliche Hilfe. Man irrt sich, wenn man aufgrund des Zitates in >Sein und Zeit< an einen Einfluß Diltheys auf die Entwicklung des Heideggerschen Denkens in der Mitte der zwanzigerJahre schließen möchte. Da kommt man viel zu spät. Heideggers verständnisvolle Deutung und Bezugnahme auf Diltheys Werk, wie sie sich in >Sein und Zeit< findet, kann das am Ende über allen Zweifel erheben. Es war nicht erst die im Jahre 1924 erscheinende bedeutende und von Heidegger gerühmte Einleitung von Misch in den fünften Band der sich der Vollendung nähernden Dilthey-Ausgabe, ja, es war auch nicht der in seiner Weise epochemachende Augenblick, in dem der Briefwechsel zwischen Graf Yorck von Wartenburg und seinem Freunde Wilhelm Dilthey erschien. Diesen Augenblick habe ich bei Heidegger aus nächster Nähe erlebt, als ich als sein Gast die stürmischen Inflationswochen des Herbstes 1923 auf seiner Hütte verlebte. Damals war es ganz deutlich, wie Heidegger in diesen Briefen mit einer tiefen inneren Befriedigung, ja fast mit Schadenfreude, die Überlegenheit des Grafen Yorck gegenüber dem berühmten Gelehrten Dilthey entdeckte. Gewiß war, um das zu spüren, vorausgesetzt, was für Heidegger epen zutraf: eine genaue Vertrautheit mit der Spätproduktion Wilhelm Diltheys. Heidegger hat mir selbst geschildert, wie lästig es gewe-
Erinnerungen an Heideggers Anfange
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sen sei, immer die schweren Bände der Berliner Akademie-Veröffentlichungen, in denen sich die späten Arbeiten Diltheys befanden, nach Hause zu schleppen - und wieder zurück, wenn irgend jemand nicht etwa Diltheysche Abhandlungen, sondern etwas anderes in den dickleibigen Bänden bei der Freiburger Universitätsbibliothek bestellt hatte. (Erst mit Band 5, erst 1924 begann die Reihe der Bände, die Diltheys theoretische Beiträge sammelten.) Diese Dilthey-Studien, ebenso natürlich das Spätwerk von Georg Simmel und wer weiß, welch manches andere, sicherlich auch bereits das Werk Kierkegaards, der damals durch die Diederichs-Ausgabe zur Wirkung kam: all das war sozusagen die Gegenrüstung, mit der Heidegger schon 1919, unmittelbar nach dem Krieg, die Letztbegründung im transzendentalen Ego, die Husserl lehrte, unerbittlich bekämpfte. Was ihn 1923 an dem Grafen Yorck so überzeugte - und was uns alle damals in seinen Bann schlug-, war, daß hier die Idee und der Methodenglaube der modernen kritisch-historischen Wissenschaft der ästhetischen Oberflächlichkeit geziehen und mit Distanz betrachtet wurde. Heidegger hat in )Sein und Zeit< einige der massivsten Angriffe gegen die Okularität der historischen Schule zitiert, die GrafYorck in seinen Briefen formuliert. Er hat in >Sein und Zeit< nicht ebenso klargemacht, daß diese Kritik in Wahrheit und in letzter Konsequenz auf Dilthey selber ebenfalls zutraf. Die berühmte Wendung, »im Geiste des Grafen Yorck « dem Werke Diltheys dienen zu wollen, mochte wie eine Unterordnung des Grafen Yorck unter Diltheys gelehrtes Werk klingen, meinte aber in Wahrheit das Gegenteil. Ein typischer HeideggerSatz, sofern er implizit zum Ausdruck bringt, daß, wer nicht in den Ideen des Grafen Yorck lebend an das Werk Diltheys herangeht, das Wesentliche der Sache überhaupt verfehlt. Dies Wesentliche war ganz offenkundig, daß Graf Yorck die Überfremdung der Philosophie und der Geisteswissenschaften durch den Methodenzwang des englischen Empirismus und des erkenntnistheoretisch-abgeflachten Neukantianismus klar erkannte. Das Subjekt-Objekt-Schema lebte in der wissenschaftstheoretischen Selbstauffassung Diltheys noch unbezweifelt und unerschüttert fort. Für den Grafen Yorck dagegen war es keine Schranke. Er hatte ohne professionelle Verhärtung das Erbe der deutschen Romantik und des Lebensbegriffs, der sich mit dem spekulativen Idealismus verschmolzen hatte, ständig im Blick, und was das hieß, war in seinem Traditionsbewußtsein und in dessen lutherischem Hintergrund leibhaft gegenwärtig. Das hat Heidegger offenkundig in seinem eigenen tiefsten Anliegen bestätigt, und das hat die Bedeutung Diltheys für ihn zweifellos herabgesetzt. Er erkannte die Schwäche des Kulturliberalismus Diltheys und die Stärke der religiösen und bodenständigen Gestalt des Grafen Yorck. . Hier fragt man sich, ob nicht in dieser Begegnung und sich radikalisierenden Auseinandersetzung mit Dilthey die größere Figur Hegels als Hinter-
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Heidegger im Rückblick
Erinnerungen an Heideggers Anfänge
grund zu erkennen ist. Das lag damals im sich auflösenden Neukantianismus
war, die er manchmal schon in der jugendlichen inneren Auseinandersetzung mit Husserl antizipiert hat. So erinnere ich immer wieder daran, daß der junge Heidegger bereits 1920 vom Katheder den Ausdruck gebraucht hat »es weitet«. Von hier aus klärt sich auch mehr, was uns in der Marburger Zeit am meisten herausgefordert hat. Ich meine die in unseren Augen seltsame und irgendwie unglaubhafte Art, mit der Heidegger seine bitterböse Beschreibung des Verfallens, des Man, des Geredes, der» Tollheit auf die Nähe« und was so alles im Tone der Kapuzinerpredigt vorkam, immer mit dem Zusatz zu beenden pflegte: »Das alles ohne abschätzige Bedeutung.« Gerade die neu bekanntgewordene Vorlesung von 1921/22 zeigt mit voller Klarheit, was damit eigentlich gemeint war2 • Das eigentliche Motiv von Heideggers Denken lag schon damals nicht in solchen dramatischen Zuspitzungen appellativen Charakters, sondern in der unauflösbaren Zweideutigkeit, die das Wesen der Lebensbewegung als solche ausmacht. In der Vorlesung von 1921/22 fmdet sich bereits damals unter dem Titel >Grundkategorien des Lebens< beides in seiner Untrennbarkeit entwickelt, auf der einen Seite das, was Heidegger damals »die Neigung« nannte und dem das spätere »Eigentlichkeit« entspricht, und auf der anderen Seite die »Ruinanz«, was später die Verfallensgeneigtheit des Daseins hieß. Das Leben selbst hat diese Zweideutigkeit an sich. Ebenso ist auch Heideggers Suche nach der ursprünglichen >Aletheia< überhaupt nur verständlich, wenn man sie in ihrer vollen Zweideutigkeit sieht. Zunächst einmal hängt damit zusammen, daß Heidegger immer mit Nachdruck behauptete, >Aletheia< und >alethes< liegen nicht im Satze, sondern im Sein selbst, und er beriefsich dafür auf Aristoteles - freilich nur mit halbem Recht. Ohne Zweifel hatte er damit im Auge, daß es das Sein selbst ist, das sich zeigt - und sich verbirgt. So ist auch die durch Bröcker bekanntgewordene Wendung aus früher Zeit zu verstehen: »Das Leben ist diesig, es nebelt sich selbst immer wieder ein.« Der wesentliche Punkt ist die innere Zusammengehörigkeit von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen, von Aufschwung zur Eigentlichkeit und Verfall, die in dem Begriff der >Aletheia< von Heidegger gedacht ist. Die im Sein selbst gelegene essentielle Zweideutigkeit ist es, die ihn zum Hinterfragen der Metaphysik führt. Es wäre lächerlich zu behaupten, daß die Metaphysik nicht nach dem Sein gefragt hätte, wenn Heidegger unter »Sein« dasselbe verstünde, das Sein des Seienden, wie es Aristoteles auf den Begriff gebracht hat. Heideggers Hinterfragen der Metaphysik war nach einer vormetaphysischen, anfänglichen Seinserfahrung auf der Suche, und so ging er später auf die Vorsokratiker zurück. Seine Studien zu Anaximander, zu Parmenides und zu Heraklit sollten die
ge~adezu in der Luft. Man braucht nur an die Namen Georg Simmel,
Wllhelm Windelband und seinen ganzen Schülerkreis zu erinnern, dem ebensosehr Georg Lukacs und Ernst Bloch wieJulius Ebbinghaus, Richard Kroner und viele andere >Neuhegelianer< angehörten. Oder auch an die bedeutsame Fortsetzung von Ernst Cassirers >Geschichte des Erkenntnisproblems< durch den dritten Band, der ganz Hegel gewidmet war. So wird man nicht erstaunt sein, daß schon der junge Heidegger 1917 mit Nachdruck und in die Zukunft weisend auf Hegel hinweist. Zwar war das Methodenprinzip der Dialektik in der phänomenologischen Schule Husserls verpönt, und Heidegger hat bis zum Schluß seines Lebens in der Dialektik die eigentliche, eine schwindelhafte Gefahr für phänomenologisch-solide Arbeit gesehen. Aber daß Hegel, seine Themen und Aufgabenstellungen, und ebenso die begriffliche Meisterschaft, die in Hegels >Phänomenologie des Geistes< und in seiner >Logik< steckte, auch für Heidegger eine beständige Bezugsfigur darstellte, liegt auf der Hand. Hier erinnere ich mich eines Gespräches. Es war wohl 1924. Heidegger wohnte damals noch, wie ich aus der Topographie des >Heimweges< rekonstruiere, in der Schwanallee 23, und noch nicht oben in der Barfüßerstraße. Damals habe ich Heidegger gefragt, ob sein Versuch, den Subjektivismus des modernen Denkens zu überwinden, nicht eigentlich schon von Hegel unternommen worden sei. Heidegger antwortete: »Gewiß gingen seine Anstrengungen nach dieser Richtung, aber ihm fehlte die begriffliche Möglichkeit, sich von der inneren Zwangsläufigkeit des griechisch-cartesianischen Subjektsbegriffs bzw. Bewußtseinsbegriffs zu lösen. « Wie mir scheint, gilt das für viele der Heideggersehen kritischen Aussagen über die großen Denker der Tradition, daß er in ihnen das gleiche Anliegen, den gleichen Denkauftrag, wohl erkannt hat, aber die begrifflichen Möglichkeiten vermißte, dabei durchzukommen. Insbesondere versteht sich von da aus der Einfluß, den Kierkegaard auf ihn hatte, und das spätere Verblassen dieses Einflusses. Das eigene, eigentliche Zauberwort, das in den MarburgerJahren vor der Abfassung von >Sein und Zeit< in Heideggers Sprachgebrauch förmlich geisterte, war »die ontologische Differenz«. Auch hier erinnere ich mich aus ganz früher Zeit, etwa 1924, eines Gespräches mit Heidegger. Gerhard Krüger war dabei. Wir fragten Heidegger nach der ontologischen Differenz, der Unterscheidung von Sein und Seiendem, und wollten irgendwie wissen, wann, wo und wie diese Unterscheidung eigentlich gemacht werde. Da war Heideggers fast erstaunte Antwort, die uns hätte zu denken geben sollen: »Die ontologische Differenz ist doch nicht etwas, was wir machen. Das ist doch nicht unser Unterscheiden zwischen·Sein und Seiendem. {( Die Geschichte lehrt, was mir in den letzten Jahrzehnten zunehmend klarer wird, daß Heideggers sogenannte» Kehre« eigentlich nur die Rückkehr zu seiner eigentlichen Intention
2
Gesamtausgabe Bd. 61 (Frankfurt 1985), S. 79ff.
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Heidegger im Rückblick
volle Ursprünglichkeit der Erfahrung von Sein sichtbar machen, der diese ersten Schritte des griechischen Denkens noch nahe waren. All diese unermüdlichen Versuche, die Vorsokratiker als Zeugen anzurufen, konnten aber Heidegger aufdie Dauer nicht darüber täuschen, daß ein wirkliches Denken der ~letheia, das heißt der Dimension, in der sich Sein entbirgt und die damIt auch, die Dimension ist, in der es sich entzieht, im griechischen ~enken nirg~nds greifbar wird. Im Satz des Anaximander kann man gewiß dIe Temporahtät des Seins, >die Weile<, wie in einem siegelhaften Ausdruck erkennen. Das Lehrgedicht des Parmenides spricht nicht nur von dem schlaglosen Herz der >Aletheia<, sondern auch von dem Abwesen des Seins. yollen~s in den ~ätselsprüchen des Heraklit scheint das Ereignis des Seins Intend~ert, das wI.e der Bli~z alles steuert. Dennoch liegt in dem Leitbegriff des SeIns, der bel Parmenldes erstmals im Singular >das Seiende< und bei Heraklit erstm~ls im. S.ingular >das Eine< anklingt, von der temporalen Struktur des SeIns ledlghch Gegenwart, Gegenwärtigkeit, Anwesenheit. Im Grund sind es überhaupt nicht die Aussagen dieser frühen Denker, nicht die Sä~ze, die in ihren Texten begegnen, die das Ereignis des Seins zu Begriff zu bnngen vermöchten. Es sind vielmehr die rein semantischen Befunde, die Bedeutungskreise, die den griechischen Grundworten zukommen - >Logos<, >Physis<, >to on< und >to hen< -, die dem den Schritt zurück versuchenden heutig~n .Denker den Blick in älteste Erfahrungen gewähren, die noch allem ~eg~Iffhc?en Den~en vorausliegen. Es ist die Urgeschichte der Sprache, dIe sIch dIesem Bhck bedeutungsvoll aufschließt. Das wahre Genie Heide~gers liegt, wie diese Deutungsversuche zeigen, weniger in der InterpretatIon von Texten als in der Ausmessung ganzer Wortfelder und im Verfolgen der geheimen Adern im Urgestein der Sprache. So wenig wie ein Anfang vor aller Metaphysik ist in diesen Denkversuch:n ~ie Oberwin?ung .der Metaphysik erreicht. Ja, es ist überhaupt keine mogliche PerspektIve, dIe Metaphysik einfach hinter sich zu lassen, als ob sie dem Denkenden, auch wenn er ein noch so neues Denken versuchte nichts me~r z~ sagen hät~e . .!-Ieide?ger hat das später selber ausdrücklich eingescharft, Indem er dIe Uberwlndung der Metaphysik als ihre» Verwindung« verstand. In der Tat mag fur uns heute, die wir am Ende des Zeitalters der Metaphysik stehen, in der geheimnisvollen Weisheit der Worte ein dunkler Aufschluß liegen, und es mag die innere Untrennbarkeit von Entbergen, Verbergen und Bergen wie von >Lethe< und >Aletheia< und wie die Einheit hinter all den Heraklitischen Wortspielen fuhlbar sein. Sie bis zur begrifflichen Ausdrücklichkeit zu erheben, dazu bedarf es aber des ganzen Denkweges der abendländischen Metaphysik und seines Neuvollzuges. Mehr noch a~s das. ~s bedarf auch ~och der Kraft, die universale Synthese dieses Weges hInter sIch zu lassen, dIe Hegel der griechischen Begrifflichkeit und ihrer christlich-mystischen Beseelung durch seine dialektische Kunst abgewon-
Erinnerungen an Heideggers Anfänge
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nen hat. Was der aristotelische Schluß von Hege1s >Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften( wie sein letztes Wort zum Ausdruck zu bringen sucht, ist ganz etwas anderes als die Vision, der Heideggers Suchen nachgeht. Hier ist Sein im Blick auf den sich selbst gegenwärtigen Gott als die volle Durchsichtigkeit von Sein und Geist verstanden. Man begreift die lebenslange Herausforderung, die Hegel für Heidegger bedeutet. Dieser »letzte Grieche« brachte die griechische Seinserfahrung im >Logos( mit denl christlichen Denken von Leben und Geist zu einer spekulativen Vereinigung in der Selbstgegenwart des absoluten Geistes. Eine solche dialektische Versöhnung mußte dem umgetriebenen Heidegger wie eine Verschleierung erscheinen, und Denkhilfen dagegen vermochte der junge Heidegger noch nicht zu finden. Daß hinter Kierkegaards religiös-engagierter Hegel-Kritik der theosophische Tiefblick eines Schelling stand und im Unterschied von Grund und Existenz seinen Ausdruck findet, wurde Heidegger wohl erst in der Marburger Zeit klar. Doch hatte ihn schon längst die christliche Mystik angezogen. Daß in Nietzsches genialem Dilettantenturn die Grenze der Metaphysik sich abzeichnet, wenn dem Werden der Stempel des Seins aufgedrückt werden soll, nahm Heidegger erst in seinen späten Freiburger Jahren auf. Seitdem steht Nietzsche wie eine Verkörperung der Seinserfahrung der Zweideutigkeit und als die Schicksalsfigur des Übergangs zu einem anderen Denken im Zentrum des späten Heidegger. Noch in dieser letzten Zuspitzung bleiben seine eigenen Denkversuche im beständigen Gespräch mit der Metaphysik, hinter die sie zurückzugehen suchen.
Heidegger ~d die Sprache
2. Heidegger und die Sprache (1990)
Wenn man die Bedeutung der Philosophie Martin Heideggers zur Diskussion stellen will, kann man gar nicht anders, als von der Grunderfahrung auszugehen, die sein Auftreten in der akademischen Szene der Philosophie in Deutschland vermittelte und die sich auf die Dauer nicht nur auf den deutschen Sprachraum beschränkte, sondern sich der ganzen Welt mitgeteilt hat. Es ist eine neue Erfahrung von der Sprache der Philosophie. Sie mag vielleicht der Erfahrung vergleichbar sein, die man seinerzeit an den deutschen Predigten Meister Eckharts machen konnte - und gewiß auch an der Sprache Martin Luthers, dessen Bibelübersetzung dem Deutschen eine neue Unmittelbarkeit verlieh. Wir stehen damit vor einer Tatsache, die in gewissem Sinne ungeheuerlich ist. Von einem Manne, der sich von sich aus über die Nichteignung der französischen, der englischen, der italienischen, der spanischen Sprache für die Philosophie in provokatorischer Weise geäußert hat, hallt nun die ganze Welt wider, in dieser oder jener Form der Antwort, in dieser oder jener Sprache. Was ist es für eine Erfahrung, die dergestalt über das Philosophieren gekommen ist? Was ist es, was einen an Heidegger diese doch wohl einzigartige Erfahrung machen läßt, die man allenfalls mit Wittgensteins Einwirkung aufdie anglo-amerikanische Philosophie vergleichen mag? Ich erinnere mich, als mir etwaimJahre 1920 zum erstenmal ein Student aufgrund von Nachschriftauszügen über eine Freiburger Vorlesung des jungen Heidegger berichtete. Das schien mir kraftvoll, gewiß - aber doch kaum etwas anderes als eine Art von Chinesisch. Erst später, als ich Heidegger selbst und seiner eigenen Stimme begegnete und der einzigartigen Anschauungskraft, die Heideggers Sprache ausstrahlte, begann ich etwas von der Nähe der Sprache zu der Sache der Philosophie zu ahnen. Es ist kaum möglich, all die weiteren Problemhorizonte auch nur anzudeuten, die mit dieser Ahnung sich auftaten. Man erinnert sich gewiß sofort des uralten Kampfes um die]ugenderziehung, der in Griechenland zwischen Rhetorik und Philosophie ausgefochten wurde. Man erinnert sich gewiß auch, wie der platonische Sokrates die große Wendung der attischen Philo-
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sophie brachte, als er dem >Logos< die zentrale Zugangsbedeutung zur Wahrheit zusprach. Bei Aristoteles wird das vollends klar, wenn er in seiner Logik den Logos ganz auf die eine Leistung hin stilisiert, begriffliche Aussage, >Apophansis<, zu sein. Das war der später viel wiederholte Ausdruck, den Aristoteles einführte, um das theoretische Aufzeigen gegen all die anderen Möglichkeiten des Sprechens abzugrenzen und auszuzeichnen. Was Aristoteles dergestalt auf die Logik des Urteils, auf die Logik des Schlusses und auf die Logik des Begriffes begründet hat, bestimmt seither, was man in Europa Philosophie nennt. Der spätere Heidegger hat seine eigene Sprache geradezu auf diesen Anfang zurückgeführt, der noch immer als die Sprache der Metaphysik in allen unseren Denkversuchen bestimmend ist. Seine eigenen Anfänge zeigen ihn deutlich auf der Suche nach einer Ablösung von dieser Begriffstradition. Martin Heidegger war im schwäbisch-alemannischen Grenzraum aufgewachsen und empfing von da eine unüberhörbare sprachliche Mitgift, die ihn wie Schiller, Hölderlin, Schelling und Hege! begleitete. Die lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die der geniale junge Theologe während seiner Ausbildung gemacht hat, drücken sich schließlich in dem Übergang des Privatdozenten Heidegger von der theologischen zur philosophischen Fakultät aus. Dank der neueren Veröffentlichung der frühen Freiburger Vorlesungen und den Arbeiten von Wilhelm Anz, Karl Lehmann, Hugo Ott, OttoPöggeler u. a. wurde inzwischen klarer, wie Heideggers Denkversuche sich schon lange an dem dogmatischen Rahmen der damaligen katholischen Theologie, in der er ausgebildet wurde, stoßen mußten. Man kann von da aus ermessen, was es bedeutete, als er 1923 in das Marburger Klima versetzt wurde, in dem seit alters die protestantische Theologie gepflegt wurde. Es würde weit über meine Kompetenzen hinausgehen, wenn ich die geistigen Spannungen wirklich behandeln wollte, unter denen die theologische Erziehung des jungen Studenten und sein Heranreifen zum Dozenten in den Freiburger Jahren stand, bevor er nach Marburg ging. Da liegen noch wichtige Forschungsaufgaben. Wie immer ist es auch in diesem Falle so, daß das, wovon man sich abkehrt, ins Dunkel zurückfällt und umgekehrt das, dem man sich zuwendet, vielleicht in ein zu helles Licht gerät. Auch revolutionäre Umbrüche haben in Wahrheit eine lange Vorgeschichte. So war es sicherlich auch hier. Eines ist aber bei der Begegnung Heidego-ers mit der Marburger Theologie klar: Die begriffliche Darstellung der Glaubensinhalte und der Glaubensüberlieferung des Christentums, wie es sich in der Heiligen Schrift und in der Tradition der Kirche herausgeformt hat, war die vorherrschende Form, in der der junge katholische Theologe Heidegger geschult worden war. Längst hatte er sich dagegen in Paulus und Johannes vertieft. In dem protestantischen Milieu Marburgs nahm erst
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recht die Exegese den ersten Platz ein. Das Schwergewicht lag ganz auf dem neuen Lesen der biblischen Texte. Es war zwar auf die Fortschritte historischen Wissens und der Bibelkritik gegründet, aber vertiefte sich damals in suggestiven und intensiven Diskussionen mit Rudolf Bultmann. Dieser ebenso gelehrte wie scharfsinnige Theologe nahm die Provokation durch die dialektische Theologie Karl Barths und Gogartens positiv auf und suchte das Ganze seines historisch-kritischen, exegetischen Könnens damit in Einklang zu bringen. Darein wurde auch Heidegger ohne Zweifel hineingezogen, zumal ihn seine eigenen Wege des Denkens immer wieder dazu führten, an der Geschichte des philosophischen Gedankens seine eigenen Gedanken zu klären und zu bewähren. Erst recht galt das angesichts der Gegenwart und Vergangenheit der christlichen Botschaft, daß es der Kunst des philosophischen Gedankens bedarf, wenn einer sich im Zeitalter der Aufklärung und der Wissenschaft zurechtfinden soll. So stellte Marburg für den jungen Heidegger eine Fortsetzung seiner Seelengeschichte dar, gerade dank der Nachbarschaft der protestantischen Exegese. Im damaligen Marburg war freilich auch Rudolf Otto, der große Theologe, den man den »heiligen Otto« nannte, nicht etwa, weil er ein Heiliger war, sondern weil er ein Buch mit dem Titel >Das Heilige< geschrieben hatte, das allbekannt war. Es war eine Art phänomenologischer Annäherung an das Geheimnis des Göttlichen, was unter dem Titel »das ganz Andere« bezeichnet wurde. Nun ging der Marburger Student der Theologie von Rudolf Otto zu Rudolf Bultmann, und bei Bultmann bekam man gesagt, daß die ganze dogmatische Systematik, auch die der protestantischen Theologie, gegenüber der unmittelbaren Sprache des Neuen Testaments nicht standhalte. Das hat Bultmann auf seine Weise auch in der Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten und der dialektischen Theologie vernehmbar zu machen gewußt. Mit Heideggers Eintreffen in Marburg begann aber auch für das philosophische Denken eine neue Epoche. Wir sind jetzt in der Lage, dank den Veröffentlichungen innerhalb der Heidegger-Gesamtausgabe, die Schritte, die der junge Heidegger seit seinen frühen 20erJahren in Freiburg getan hat, Schritt tur Schritt zu verfolgen. Es wäre eine Sonderaufgabe, zu zeigen, wie sich damals Heideggers Sprache und die gebrauchte Terminologie durch neue begrimiche Wagnisse in Heideggers eigener Begriffsbildung bereicherte und sich in beständiger Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Neukantianismus steigerte. So zog die wachsende Präsenz des Begriffs des »Lebens« schon in den frühen Freiburger Jahren Heideggers eine unübersehbare Spur. Als Heidegger nach Marburg kam, sah er sich vollends dem ganzen Schwergewicht der neuzeitlichen Aufklärung ausgesetzt, die ihn in seinem eigenen Wissenschaftspathos bestätigte, aber auch forderte. All das bedeutete natürlich im Falle Heideggers, daß seine Herkunft und
Abkunft, seine nie ganz verlassene Bindung an die Botschaft des Christentums, sein Denken in Atem hielt. Fragen wir uns, wie das in der ungewöhnlichen und ungewöhnlich kraftvollen Sprache des jungen Heidegger in Erscheinung trat. Da spürten wir vor allem den Einfluß von Kierkegaard. Dabei war es insbesondere ein Anliegen Kierkegaards, das Heidegger schon damals aus der KierkegaardLektüre für sich aufgenommen hatte. Das eigentliche Pathos von Kierkegaard warja, daß es darauf ankomme, nicht »auf Abstand« zu verstehen, so wie in Kierkegaards Augen die damalige Kirche in Dänemark ihre Aufgabe verfeWt habe. Dort wurde die Geschichte von der ErlösungstatJesu Christi vor 2000 Jahren wie eine Geschichte erzählt, während es darauf ankäme, diese Botschaft in ihrer Gleichzeitigkeit mit uns wirksam zu machen. Das wurde das Zielwort jeder echten Exegese des Neuen Testaments in der damaligen Marburger Theologie. Das entsprach ganz dem Heideggerschen Bemühen, im Gespräch mit der Geschichte der Philosophie gleichzeitig zu werden. War das nicht schon längst die Aufgabe, vor die sich der junge Heidegger in seinen Denkversuchen gestellt sah? Was war dafür zu tun? Die Heideggersche Antwort hieß »Destruktion«. Hier muß ich immer wieder ein weit verbreitetes Mißverständnis ausräumen, das die europäischen Sprachen nahegelegt haben und das an der Fehlaufnahme Heideggers in der Welt mitschuldig war. »Destruktion« hieß für das deutsche SprachgefüW jener Jahre durchaus nicht Zerstörung, sondern bedeutete zielsicheren Abbau, Abbau von übergelagerten Schichten, bis man aufdie ursprünglichen Denkerfahrungen zurückkomme, die am Endedamals wie heute - nirgends anderswo als in der wirklich gesprochenen Sprache begegnen. Es ging also mit anderen Worten um die Aufgabe, die Begriffssprache der gesamten Denkgeschichte des Abendlandes, die von den Griechen über das Latein der Antike und des christlichen Mittelalters und über das Fortleben dieser Begrifflichkeit zu der Formierung des neuzeitlichen Denkens und seiner Nationalsprachen führt, neu anzueignen oder abzubauen. Es ging also darum, die traditionelle Terminologie destruktiv zu behandeln, um sie auf ursprüngliche Erfahrungen zurückzuführen. Heidegger benutzte für dieses Ziel anfangs mit Vorliebe den Ausdruck ,)formale Anzeige«, offenbar im AnscWuß an Kierkegaards christliches Selbstverständnis, das darin bestand, ein religiöser Schriftsteller ohne Autorität zu sein. Es geht also nicht nur darum, die überlieferte Begriffssprache möglichst zu vermeiden, deren festes Begriffsgerüst duch die Tradition vermittelt war. Vielmehr ging es darum, so zu sprechen, wie wenn man etwas zeigen will. So war es eben bei einer formalen Anzeige, die nur in die Richtung weist, in die man selber blicken soll. Wenn man das erfaßt, erkennt man darin das Pathos der Phänomenologie wieder. Das hat Husserl mit wahrer Meisterschaft subtilster Beschreibungskunst an einfachen Phänome-
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nen vorexerziert. Woraufes ankam, nannte sich in der phänomenologischen Sprache die »Erftilltheit der Intention durch Anschauung«. Man sprach daher von der Anschauung als der »gebenden« Anschauung. Die formale Anzeige weist also auflebensweltliche Denkerfahrungen zurück, die in der Sprache niedergelegt sind und die ursprünglich auch der Begrifflichkeit der Tradition zugrunde lagen und die das griechische Denken entwickelt hatte. Das griechische Altertum, das lateinische Mittelalter und die Neuzeit gehen auf diese in ihrer Begriffsbildung zurück. Es handelt sich also nicht so sehr um einen Rückgang auf die Philosophie des Aristoteles als um einen Durchgang durch Aristoteles. Heidegger hatte es verstanden, Husserl zu überzeugen, daß der erste Phänomenologe vor Husserl Aristoteles gewesen sei. Seit seinen theologischen Studienjahren war Heidegger natürlich längst mit Aristoteles vertraut, aber der Aristoteles, den er sich damals aufeinem gewiß hohen Niveau angeeignet hatte, war durch Thomas von Aquin geprägt. Nun las er mit einer neuen inneren Spannung, wie sie ihm seine Zweifel an der Theologie und seine religiöse Bedrängtheit abverlangten. Aber er las nun auch einen anderen Aristoteles. Er las die >Rhetorik<, und damit erschloß sich ihm die Daseinsbedeutung der Affektenlehre. Im zweiten Buch der aristotelischen )Rhetorik< wird nämlich dargelegt, wie die Rede den Andern durch Erregung seiner Affekte erreicht. Das hatte Aristoteles im Anschluß an die Wegweisung durch den platonischen >Phaidros< zu einer ganzen Anthropologie entwickelt. Aber etwas kam zu kurz und wurde für Heidegger wichtig, der wußte, was Angst war _ Lebensangst, Todesangst, Gewissensangst. Das war nach diesem ersten Zugang zu Aristoteles der zweite Zugang, der über die Ethik. Es ist wichtig, zu sehen, daß es nicht sofort die Metaphysik war, die rur ihn zu stark von Thomas vorgeprägt war. Die Bedeutung der aristotelischen Ethik habe ich selber in meinen Arbeiten vielfach ausgearbeitet, und vor allem den Begriff der )Phronesis<, diese sittliche Vernünftigkeit und Besonnenheit, diese Wachsamkeit und Achtsamkeit, die offenbar die eigentliche Auszeichnung des Menschen ist, die es ihm möglich macht, sein Leben zu >führen<. Von diesen beiden Ausgangspunkten, die der lebendigen Rede und der Denkübung im praktischen Leben nahestehen, hat sich dann Heidegger der Metaphysik. zugewandt. Seit wenigen Wochen besitzen wir jenes kostbare Dokument, das von Heidegger wie eine Programmschrift am Ende des Jahres 1922 nach Marburg an meinen Lehrer Paul Natorp geschickt worden war. Ihr war eine Einleitung unter dem Titel >Anzeige der hermeneutischen Situation< vorausgeschickt. Sie stellte eine Einleitung zu seinen AristotelesStudien dar. Dieses Dokument, das in meinem Besitz war - Natorp hatte es mir geschenkt -, war dann im Laufe des Krieges in Verlust geraten. Inzwischen ist es (oder in einer anderen Kopie) wieder aufgetaucht, mit all seinen
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handschriftlichen Zusätzen Heideggers, die ich kannte, und nur um wenige Seiten verstümmelt. Aber dann ist plötzlich das ganze Typoskript - ein nochmaliger Fund, den wir Ulrich Lessing verdanken - in einer anderen Kopie aufgefunden worden. Es enthält außer der Einleitung auah noch eine Skizze (also ein Programm) der für das )Phänomenologische Jahrbuch< geplanten Publikation seiner Aristoteles-Studien. Dieser ganze Fund ist inzwischen mit einer kleinen Einleitung von mir im Dilthey-Jahrbuch 1989 erschienen. Was ich an dieser Sache so bedeutend finde, das ist, wie Heidegger den Zugang zu dem Phänomenologen in Aristoteles gefunden hat. Das ist ein Aristoteles, der unmittelbar aus seinen eigenen Denkerfahrungen heraus spricht und dessen Sprache daher nicht wie ein Satz von Lettern und Begriffsmarken hin- und hergeschoben werden darf, sondern als formale Anzeige befolgt werden will. Heidegger war sich schon damals völlig darüber im klaren, daß wir unter den Voraussetzungen der vom Christentum geprägten Epoche die griechische Seinserfahrung inhaltlich nicht erne~ern oder gar übernehmen konnten. Die Einleitung in seine Aristoteles-Studlen, die Heidegger damals verfaßt hat, war auch fur Heidegger selbst durchaus noch nicht ein fester Boden, von dem sich seine eigenen eigensten Fragen sicher beantworten ließen. Es galt für ihn jetzt nur, die griechische Erfahrung in ihrem ursprünglichen Sinne freizulegen und sie durch die And~rs heit gleichsam als eine Art Herausforderung sichtbar zu machen. DIese Herausforderung richtete sich sowohl gegen das christliche Bewußtsein unserer eigenen Vergangenheit wie gegen die Moderne und das historische Bewußtsein, d. h. gegen die reflexionsbewußte Auffassung unserer Vergangenheit in differenzierten Begriffsformen unseres eigenen Gewesenseins. Was Heidegger unternahm, war also, Aristoteles wie zu einem Gegenbild seiner eigenen Fragen aufzubauen, um seine eigenen Fragen in den Griff zu bekommen. Ich zeige es an einem Beispiel, das es anschaulich machen kann. Wir lernten, was an und für sich nichts absolut Neues war aber es war eben neu, daß man es zu lernen hatte und was man daraus lernen konnte. Das Beispiel ist der griechische Ausdruck für » Sein«. Das griechische Wort ist >Ousia<, bei Plato wie bei Aristoteles. Wenn man dieses griechische Begriffswort verstehen will, dann muß man vor allem den Sprachgebrauch heraushören, wie er außerhalb der begrifflichen B~ mühungen des Denkens schon da ist. Das hat Heidegger getan. Und damIt gewinnt man einen ersten Hinweis, die Vielfaltigkei~ der Be~eutungen w:d des Sprachgebrauchs zu verstehen, die Aristoteles 1m Begnff der >OUSla< unterscheidet, so auch in dem berühmten Begriffskatalog (Buch Delta der aristotelischen )Metaphysik<). Die gewöhnliche Wortbedeutung ist »das Vermögen, der Besitzstand« usw. - also das, worüber man verfügt, und
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Heidegger im Rückblick Heidegger und die Sprache
wenn es sich um Bauern handelt, ist es das Gut, das »Anwesen«, das, was der Bauer als das Seine bebaut und pflegt, wovon er lebt und wo er wohnt. Wer Heideggers Denkweg auch nur von Ferne gefolgt ist, wird an diesem Beispiel sofort sehen, wie hier die deutsche Sprache ins Spiel kommt. Sie bietet etwas an, das auch für das griechische Ohr und seine entsprechenden Ausdrücke irgendwie gegenwärtig war: >Ousia< heißt Anwesen. Sein ist Anwesenheit. Die verbale Kraft des deutschen Wortes» Wesen« kennen wir seit Meister Eckhart - und seit Martin Heidegger. Auch Hegel hat im zweiten Band seiner >Logik<, der Logik der Reflexion oder der >Logik des Wesens<, »Wesen« als Begrifffür »Sein« eingeführt und damit die Wendung der platonisch-aristotelischen Philosophie und ihre Überwindung der vorsokratischen Mythologie des »Seienden im Ganzen« auf den Begriff gebracht. Hier sieht man am Beispiel, was das bedeutet. >Ousia< ist nicht mehr »Substanz«. Das war die lateinische Übersetzung von >Hypokeimenon( als formalem Ausdruck für das Zugrundeliegende. Dieser Ausdruck· konnte den Sinn von Sein bezeichnen. »Sein« ist das» Vorliegende«. Doch hat Aristoteles - neben diesem formalen Ausdruck - Sein auch als >Energeia< begriffen, und das kommt dem Begriffdes Wesens näher als der lateinische, in der Scholastik herrschende Begriff der >essentia< (die wir als» Essenz« für einen unverdünnten pflanzlichen Auszug kennen). Später wurde es eine der merkwürdigsten Erfahrungen, die die alten Schüler Heideggers bei Heidegger machten, zu denen aus den Freiburger Jahren außer mir etwa Oskar Becker, Walter Bröcker u. a. gehörten. Als Heidegger anläßlich des Freiburger Universitätsjubiläums für seine altgewordenen Schüler ein Seminar im alten Stile gab, wurde der erste Satz des zweiten Bandes der >Logik<: »Die Wahrheit des Seins ist das Wesen ... « von ihm an die Tafel geschrieben. Und nun bestand Heidegger mit präziser Sorgfalt darauf: daß dieser Satz ganz von der modern gedachten Metaphysik aus verstanden werden müsse. »Sein« meine hier Vorliegen im Sinne von Vorgestelltheit. Wahrheit sei Selbstvergewisserung, also >certitudo<. Nichts anderes als die Gewißheit des Vorgestellten sollten wir in dem Satz über das Wesen sehen. So sehr war Heidegger auf die Aufgabe fixiert, die auch ihm gewiß nicht verborgenen Anklänge an den verbalen Sinn von »Wesen«, die Hegel sehr wohl aus der deutschen Sprache herausgehört hatte, ganz zurückzudrängen. Das war der späte Heidegger, der seine Denkwege vor allem dagegen zu sichern suchte, daß sie sich wieder im landläufigsten Sinne der Metaphysik verliefen, in der er die »Seinsvergessenheit« sah. Dagegen hat er oft, um die Geschichte der Metaphysik so sehen zu können, in seinen Anfängen sogar in Hegel, und dann später in Aristoteles, Meister Eckhart, Leibniz, den verbalen Sinn von »Sein« und »Wesen« betont. Als ich im Jahre 1923 nach Freiburg kam, erhielt ich die Auszeichnung,
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daß mich Heidegger einlud, jede Woche einmal mit ihm Aristoteles zu le~en. Seine Kinder turnten manchmal als Nackedeis dazwischen, und er zeIgte mir, wie man Aristoteles lesen müsse. Er begann: »)To on legetai(, das Seiende wird ... « - Wie ich es in Marburg ehedem gelernt hatte, war es klar, daß man hier übersetzte: »Das Sein wird verstanden oder begriffen oder wird gedacht. « Bei Heidegger hieß es: »Es .vvird gespr?chen«, d. h., »so redet man davon.« Es wird also das )legesthal<, das )legern<, )t.a le~omena~, und damit all das, was aus Plato und seinem Sokrates als Flucht In ~Ie )Logol< gefolgt ist, ernst genommen. Es meint Sprache und d~s~ was .dle Sprache sagt. Mit einem Schlage wandelt sich die L~gik der ~radI~Ion, dIe noch .dem deutschen Idealismus zugrunde lag, in dIe LebendIgkeIt lebenswelthcher Wirklichkeit. Sie begegnet als Sprache. Ich erinnere mich ~einer.Verblüfft heit und auch der Verblüfftheit von Nicolai Hartmann, mIt .dem Ich dam.als in Marburg sehr befreundet war, als ihm Heidegger auch emmal solch eme Privatstunde gab. ;l . So wurde Aristoteles plötzlich gleichzeitig. Was war da ges~hehen. E~n bloßer Funktionsbegriffwie »Sein« war zum Leben erwac~t, WI~ er eben In der Lebenswelt der Sprechenden und ihrer sprachlichen ArtIkulatIon begegnete. Heidegger hat schon in ganz jungen Jahren im ~ac.hdenken über de? Begriff des Lebens, der damals modisch wurde, über dIe Innere ~ewegthelt des Lebens nachgedacht und hat zugleich gesehen, daß ~as Leben Immer auf Erstarrung zugeht. Das gilt auch für die Sprache und dIe Worte. Da werden Sinnträger zu Funktionszeichen herabgedrückt und Sätz~ zu l.eeren Dogmen. Die Orientierung am lebendigen Sprachgebrauch, dIe Anstoteles ~e sonders pflegt, öffnete jetzt einen neuen Zugang.zu der Frage »Was heIßt Sein?«, die in der Begriffssprache der MetaphYSIk als fraglose Selbstverständlichkeit umjeden Sinn gekommen schien. Im vorgeführten Falle war es ftir uns anschaulich, daß man besser versteht, was das Wesen des Seins ist, wenn man an das Anwese~ denkt, und das hatten Heideggers Schüler gelernt, in der »Seinsfrage« eIne echte Frage wiederzuerkennen. Das stellt natürlich eine allgemeine Aufgabe dar, daß man das Leben in allen seinen vielen Richtungen sprachlicher Selbstauslegung und Erfahrung denken lernt. Dazu gehört die Erfahrung der T~anszen denz die Erfahrung der Dichtung, der Kunst, des Kultes, des Ritus, des Rechts - all dies gilt es neu zu denken. Das war das Anliegen Heideggers. Er hat auf diesem Wege immer wieder neu angesetzt. Wir dürfen uns fragen, -«ras unser Denken in unserer durch die Wissenschaft geprägten ~ultur :on diesen Erfahrungen zu lernen hat. Ich meine, es gilt ein neues GleIchgeWIcht zu gewinnen, so daß unser Denken sich nicht nur in der Bewältigung (und Ausbeutung) der Natur erschöpft, das heißt in der Verftigbarmachung von allem - mit Einschluß auch unser selbst. Heidegger hat das ~päter das »kalkulierende Denken« genannt. Wie es zu der Vorherrschaft dIeses Den-
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kens kam, läßt sich an der »Destruktion« der Begriffssprache der Metaphysik ablesen. Gewiß müßte man zunächst die Latinisierung in ihrer Bedeutung erfassen. Die übernahme des griechischen Denkens - der griechischen Denkwelt - in die lateinische Sprache ist ein Vorgang, der sich über die ganze Spätantike erstreckt hat, während man im Rom Plotins, am kaiserlichen Hofe des 2.13. Jahrhunderts, griechisch sprach. Um so mehr fragt man sich: Was bedeutet demgegenüber die Latinisierung? Dilthey ist es gewesen, der die Wendung von der »römischen Willensstellung« eingeführt hat. Ein genialer Ausdruck von genialer Treffsicherheit. Was heißt eigentlich» Wille« auf lateinisch? Nun - das weiß jeder: voluntas und velle. Was heißt das aber auf griechisch? Das weiß keiner. Da redet man von boulesthai. Aber jeder, der nur etwas Griechisch kann, weiß, daß das eigentlich »mit sich zu Rate gehen« heißt. Die >Boule< ist die Ratsversammlung. Das griechische Wort meint also das »Sich-Beraten«, nicht den blinden Drang des Wollens oder gar den Willen zur Macht. Oder es heißt ethelein. Was dieses Wort eigentlich meint, ist nicht ganz leicht zu sagen. Aber man hört doch heraus, und der Sprachgebrauch bestätigt es, daß es nicht so sehr Beratung angesichts offener Möglichkeiten meint, als den Abschluß einer solchen, ein Entschiedensein - oder noch besser: ein Entschlossensein (>Entschluß< ist eine neuzeitliche Variante zu >Beschluß<). Im platonischen >Gorgias< (522 c 5) heißt es einmal: »Ei de boule, ethelo« -» Wenn du dich so beraten und entschieden hast, bin ich bereit und entschlossen.« Beide griechischen Ausdrücke umfassen erst das Ganze, während im lateinischen >velle< und >voluntas< und im deutschen Wort» Willen« die Bedeutung von»Wahl« und »Beratung«, die etwa in >Boule< ursprünglich liegt, zugunsten des Beschlossenen, Gewollten, Gewünschten zurücktritt: »Sit pro ratione voluntas.« In Kants >Grundlegung zur Metaphysik der Sitten< ist der Wille eine Gestalt der (praktischen) Vernunft. Erst nach Kant, vor allem seit Schelling und Schopenhauer, tritt der blinde Wille auf. In einem frühen Brief hat Heidegger einmal die Wendung von der »Teufelei des Wollens« gebraucht. Jeder Kenner des späten Heidegger weiß, welche ausgezeichnete Stellung damals der Begriff der »Gelassenheit« in seinem Denken gewonnen hatte. Das meint kein bloßes Lassen, sondern ein »Ansichhalten«, so daß man läßt und freiläßt, im Unterschied zu dem entschlossenen Nachjagen hinter beschlossenen Willenszielen, die uns ständig alles andere verdecken, was offen sein könnte. Man muß sich dessen bewußt sein, daß die Gelehrtensprache der modernen Wissenschaft auf das Lateinische zurückgeht und damit auf die römische Willensstellung. Erst recht gilt das für die Nationalsprachen, die sich selber aus dem Latein ausdifferenziert haben. Für das Deutsche gab es auch Eigenes, so durch die deutsche Mystik und Meister Eckhart und Martin Luther. Aber rür die deutsche Philosophensprache des 17. und 18. Jahrhunderts war
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es noch die Aufgabe, sich vom Lateinischen zu lösen. Es war die gewaltige Leistung Kants und mancher seiner Vorgänger in der deutschen Aufklärung, wie Thomasius und Christian Wolff, die Sprache der Schulmetaphysik des 18. Jahrhunderts aus dem Latein in ein elegantes, biegsames und fein ziseliertes Deutsch umzuformen. Dagegen fand die volkstümliche Sprache Luthers und der deutschen Predigt erst später in dem Sprachgenie Hamanns und Herders ihre riesige und alles befruchtende Auswirkung.. In der Goethezeit und in der Kantnachfolge ging schließlich das alles in der gewaltigen Begriffskraft eines Hegel zusammen. Er vermochte es sogar, das vorsokratische Denken in die deutsche Sprache hereinzuholen, indem er mit »Sein«, »Nichts« und» Werden« die ersten Schritte des Begriffs bezeichnete, die die Logik des Seins vollzog und die zu der Logik des Wesens und des Begriffs führt. Fragen wir uns jetzt, was mit solcher Destruktion, mit dem Abbau und mit der Freilegung der Herkunft unserer Begrifflichkeit, gewonnen ist. Meine Antwort ist: Der Rückgang auf das ursprünglich Griechische macht das »Eigene« bewußt. Das kann etwa das Beispiel des aristotelischen Begriffs .der >Energeia< lehren. Wir kennen das Wort. Als »Energie« hat es Heimatrecht in der deutschen Sprache. Aber das griechische Wort selber hat eine ganz andere Bedeutung. >Energeia< ist »am Werke sein«, »im Vollzug sein«. Wir Deutsche hören in »Energie« die explosive Geladenheit der gestauten Kraft. Unser heutiger Begriff von Energie ist aus dem griechischen, aristotelischen Begriff der >Energeia< seit der Renaissance und der beginnenden Neuzeit hervorgegangen, der seine einwohnende Dynamik freigesetzt hat. Etwas davon war jedoch in >Energeia< auch für den Griechen zu hören. Denn »Sein« ist nicht nur das substantielle Sein, das unveränderlich Vorliegende, das allen wechselnden Eigenschaften zugrunde liegt. >Energeia< ist vielmehr die Seinsweise dessen, was nicht durch uns Hergestelltes (>Ergon<) ist, sondern was »von Natur« ist, wie die »einfachen« Körper, die Elemente, und alle Lebewesen. Insbesondere diese sind nicht nur in Bewegung, sondern besitzen »Selbstbewegung« . Alles, was in Bewegung ist, hat »Sein« im Sinne der Bewegtheit, und dafür hat Aristoteles den Kunstausdruck der >Energeia< eingeführt. Das war bereits eine der wichtigsten Einsichten desjungen Heidegger. Er hat vom Begriffder >Energeia< aus die aristotelische Physik neu aufgeschlossen. Natürlich war das nicht Physik im Sinne des Galilei, dessen Siegeszug durch die ganze moderne Wissenschaftswelt geht. Die aristotelische Frage galt dem Sein des Seienden in seiner Bewegtheit. Galileis grundlegende Entwicklung der modernen Mechanik beruht dagegen auf dem Grundbegriff der Bewegung a~s meßbarer. Das meint nicht ein »Seiendes in Bewegung«, sondern den Vorgang der Bewegung als solchen, der sich etwa im freien Fall so vollzieht, daß die Bettfeder und die Bleiplatte im Vakuum sozusagen gleich schnell fallen.
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Dieser gewaltige Schritt der Abstraktion, der erst später durch Experimente bestätigt wurdet hat die Dimension geöffnet, in der sich die moderne Wissenschaft auf den Weg gemacht hat, die Welt von Grund auf umzuformen und damit das Zeitalter der Technik heraufzuführen. In )Ousia< und )Energeia< wie in »Anwesenheit« und »Bewegtheit« klingt etwas von der griechischen Spracherfahrung nach. Selbst in den Worten »Anwesen« und »Anwesenheit« ist» Wesen« und damit fur unser Ohr etwas von »Bewegtheit« hörbar. Das tritt eindeutig in dem Sinn von» Verwesen« hervor, diesem Zerfall in die Ungestalt des Unlebendigen. »Anwesen« und »Verwesen« sind in diesem Sinne einander ganz nahe und lassen die griechische Urerfahrung des »Seins« auch für uns zur Sprache kommen. Dagegen hat der Durchgang durch das Lateinische mit Begriffen wie )substantia<, )subiectum<, )essentia< und )actus< in der Tradition der Metaphysik ein ganz anderes Seinsverständnis vorbereitet, das mit Begriffen wie »Subjektivität« und» Objektivität« das Zeitalter der neuzeitlichen Wissenschaft einleitet. Wenn Heidegger gelegentlich vom Griechischen und dem Deutschen als den Sprachen der Philosophie geredet hat, so war das nicht ein lächerlicher Chauvinismus. An einem solchen leiden eher diejenigen, die sich durch ein solches Diktum Heideggers gekränkt fühlen. Es sagt, was ist, nämlich daß vom griechischen Anfang an bis in unser eigenes Innesein dieser Anfange Philosophie und Wissenschaft das Abendland geprägt haben. Der deutsche Beitrag unterscheidet sich seinerseits nur dadurch, daß für uns der griechische Anfang über Kant und Hegel neues Leben gewann. Denken ist in Wahrheit immer mit der wirklich gesprochenen Sprache im Bunde. Sie bietet uns unsere Denkerfahrungen an. Das gilt in Wahrheit für alle gesprochenen Sprachen. Das zeigt sich etwa auch in Heideggers besonderenl Interesse am Japanischen und Chinesischen, weil auch sie als gesprochene Sprachen ihre eigenen Möglichkeiten zu begrifflicher Artikulation gefunden haben und ,;,ielleicht uns bevorstehende Denkerfahrungen ahnen lassen. Die deutsche Philosophie ist von dem griechischen Ansatz aus, sowie durch die Umsetzung ins Lateinische und in die Wissenschaftssprachen unserer Wissenschaftskultur, so bestimmt, daß sich unserem Denken insgesamt die Aufgabe der Destruktion stellt. Sie besteht nicht in einem lächerlichen Purismus, der etwa überall die deutschen Worte und Vokabeln für anderes einsetzen will, sondern vielmehr darin, daß man die Problematik unserer uns überlieferten Begriffssprache aus den Anschauungskräften der gesprochenen Sprache belebt. Das läßt sich vielleicht am deutlichsten an der zentralen Stellung erkennen, die in der deutschen Philosophie der Begriffdes »Bewußtseins« gewonnen hat, dem sich das Griechische so gut wie das Lateinische im Grunde versagen. Nun wird man sagen: Dazu brauchte esja nun nicht Heidegger zu geben, um das Problematische und Verdeckende im Begriff des »Bewußt-
seins« sichtbar zu machen. Schopenhauer und Nietzsche und Freud und andere habenja nicht umsonst gelebt. Wir wissen alle, daß Bewußtsein einen höchst oberflächenhaften Aspekt bietet, hinter dem sich viel verbirgt. Wie sagt Nietzsche: »Auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend.« Aber es war die Auszeichnung Heideggers, daß er diese im eigensten Begriffsfelde der Philosophie wirkende Verdeckung zu destruieren vermochte. Die De-
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struktion des Begriffes »Bewußtsein« ist in Wahrheit die Wiedergewinnung der Frage nach dem Sein. Das macht das Revolutionäre in dem Unternehmen
Heideggers aus, daß er hinter das Bewußtsein nicht in dem Sinne zurückfragt, in dem die Tiefenpsychologie und die Ideologiekritik das auf ihre Weise getan haben t sondern daß er die radikale Frage stellte, was man überhaupt unter »Sein« zu verstehen hat und daß das nicht zugänglich wird, wenn man sich nur auf die angebliche Authentizität des Bewußtseins und Selbstbewußtseins zurückzieht. So hat Heidegger die Wiederaufnahme der platonisch-aristotelischen Frage nach dem »Sein« zum Durchbruch gebracht u~d damit in Wahrheit das Ganze der neueren Philosophie, das sich ja nicht umsonst eben seit dem deutschen Idealismus und vor allem seit dem Neukantianismus auf den cartesianischen Begriff des cogito stützte, in ein weit radikaleres Unternehmen verwandelt. Jetzt stehen wir in der Auseinandersetzung mit dem griechischen Anfang des Abendlandes. Das stand hinter )Sein und Zeit<. Das stand hinter der Frage » Was ist Metaphysik?«, und diese Frage verschärfte sich zu der Frage nach der Überwindung der Metaphysik oder gar nach dem Ende der Philosophie im Abendland. Die Sprache der Philosophie und ihre Begrifflichkeit gehören überall in den Lebenszusammenhang der jeweils gesprochenen Sprache. So hat sie teil an der Rolle, die Sprache überhaupt als Weltzugang spielt. Aber was ist das Wesen der Sprache, die diesen Zugang darstellt? Es wird einem jeden sofort klar sein, daß diese Frage außerordentlich schwierig ist. Sprache ist als Sprache verborgen, weil sie jeweils etwas meint. Die Griechen hatten nicht einmal ein Wort für Sprache, sowenig wie für Bewußtsein, sowenig wie für Wollen. Die Griechen sagten für Sprache entweder )Logos<, das waren die ausgesagten Sachen und Sachverhalte, oder sie hatten einen Ausdruck für die Zunge, die )Glotta<, mit der man die Sprachlaute hervorbringt. Die Sprache selbst ist auch für uns bis zum heutigen Tage etwas Geheimnisvolles - es sei denn, daß man sie nur zum Berechnen und zum Beherrschen braucht und dann am besten durch künstliche Symbolismen verbessert. Sprache ist in Wahrheit, wo Gespräch ist, also im Miteinandersein, und es ist in der Tat geheimnisvoll, wie sie da am Werke ist. Warum kann ein falsches Wort im falschen Augenblick so unheilvoll sein, ja geradezu tödlich sein? Und warum kann umgekehrt das richtige Wort im richtigen Augenblick Gemeinsamkeiten aufdecken und Spannungen auflösen? Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Miteinandersein ist unsere Lebenssituation, und im
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Miteinandersein sich zu verständigen, ist die Aufgabe, die einem jeden gestellt ist.
der Rede handelt, so ist dies alles im Grunde die Explikation eines Monologs, auch dann, wenn Heidegger sich dessen bewußt ist und es unterstreicht, daß Rede sich an jemanden richtet. Daß erst das Gespräch Sprache ist und seine eigene Helligkeit ausstrahlt, bleibt am Rande. Anders ist es beim späten Heidegger. Bei dem Versuch, aus der Enge der Wissenschaftskultur des Abendlandes auszubrechen und auf andere Wege und Hintergründe des Menschseins zurückzukommen, hat er geradezu gewalttätige Versuche unternommen, um in den Vorsokratikern die Stimme des Seins zu hören, die sich noch nicht in den Fesseln der Logik gebunden fände. Die ersten Texte, die wir besitzen, Parmenides und He1aklit, können seine Versuche nicht bestätigen. Sie öffnen lediglich den Blick in eine sprachliche Vorzeit. Heidegger war sich bewußt, immer nur unterwegs zur Sprache zu sein - und das meint natürlich nicht unterwegs zur Sprache, sondern im Denken über Sprache. Oder doch auch unterwegs zur Sprache als dem gesuchten Wort? Es läßt sich vielleicht am besten an Heideggers Interpretation von >Aletheia< zeigen. Heidegger übersetzt >Aletheia< als die» Unverborgenheit«. Vielleicht wäre es korrekter, vom griechischen Sprachgebrauch her, mit Humboldt und anderen zu sagen: » Unverhohlenheit«. >Aletheia< begegnet in der Tat zumeist und zunächst im Zusammenhang des Sagens: Sagen der Wahrheit oder auch eben Täuschen. Odysseus war der bewunderte Held der Lüge, an dem sich selbst die Götter noch freuen. Aber hinter dem funkelnden Scheinglanz der Lüge liegt Verbergung im Dunkeln. Dieser dunkle Grund liegt hinter allem Sagen und Sehen. Seinen begrifflichen Ausdruck hat dem der griechische Begriffdes >Pseudos< noch nicht gegeben, und unter diesem Aspekt ist in der Tat »Entbergung« der treffendere Ausdruck für >Aletheia<. Sprache »entreißt« der» Verborgenheit«, holt in die Unverborgenheit heraus, in das Wort und in das Wagnis des Denkens. Das Sein und der Schein - und nicht Aufrichtigkeit und Lüge - sind das große neue Thema des abendländischen Denkens seit Parmenides. Aber was man so entdeckt, was man so entbirgt, das verborgen war, ist zugleich auch als das Geborgene verwahrt, indem es in das Wort zurückkehrt. Dies ist die ontologische Dimension in >Aletheia<. Sie ist mit dem Begriffdes Bewußtseins und seiner Dominanz im modernen Denken vollends verborgen, auch wenn es den Begriff des Seins zum Thema macht. »Sein« wird da zum Gegenstand. Gegenstand ist Widerstand. Gegenstand ist von vornherein von der Energie her gesehen, mit der das Wollen den Widerstand zu überwinden strebt. Es ist Herrschaftswille, der sich im Begriff von >Gegenstand< bekennt. Deswegen hat Heidegger, wie den Begriff des Bewußtseins, auch den Begriff des Gegenstandes vermieden. Er wußte, daß wir in der Haltung des methodisch gesicherten Beherrschens der objektivierten Gegenständlichkeiten immer nur an Grenzerfahrungen unseres Herrschaftssystems herankommen kön-
Gewiß hat das Phänomen der Sprache auch das griechische Denken auf sich gezogen und insbesondere bereits in der stoischen Philosophie wesentliche Grun~lagen rur die gesamte spätere Tradition der Sprachphilosophie gelegt. Gleichwohl hat das Aufkommen der modernen, auf Mathematik gestützten Naturwissenschaften und ihrer künstlichen Symbolismen eine Gegen~ewegung ausgelöst, die dem Phänomen der Sprache neue Impulse gab. Die Sprache der Metaphysik, wie sie von Aristoteles herrührte, beherrscht die Tradition und hat auch noch die Auseinandersetzung mit der modernen Wissenschaft grundlegend bestimmt, die sich vor allem in Kants >Kritik der reinen Vernunft< und ihren Folgen vollzog. Selbst Herders Sprachgenie konnte sich in der Philosophie nicht durchsetzen, zumal seine unglückliche Kritik an Kants Lehre von Raum und Zeit, die sich auf die S?rache und ihren lebendigen Gebrauch stützte, gegen Kants Überlegenheit nicht aufkam. Selbst so sprachrnächtige Denker wie Fichte und Hegel haben der Rolle der Sprache als der eigentlichen, fruchtbaren »Tiefe der Erfahrung« keinen wirklichen Platz eingeräumt. Schellings genialer Dilettantismus hat die Herrschaft des Logos und der Logik zwar eingeengt und hat von Kunst und Poesie her die Philosophie begleitet. Aber erst Wilhelm von Humboldts romantische Einflihlsamkeit hat dann in der Nachbarschaft des deutschen Idealismus die Sprache· in der ganzen Breite ihrer vielfältigen Erscheinungsformen ins Auge gefaßt und damit die Sprachwissenschaften inspiriert. Von da aus hat sich später, in der Wiederaufnahme Humboldtscher Einsichten, ein Sprachrelativismus entwickelt, von dem ich glaube, daß e~ das ~esen der S~rache verfehlt. Sprache selbst bleibt gerade wegen der Vielfalt ihrer Erschemungen zutiefst verborgen. Selbst so geniale Ansätze wie di~ von Chomsky werden der Vielfalt der Sprachenwelt nicht gerecht. Heldegger hat auch erst langsam das Mysterium der Sprache zum Vorzugsgegenstand seiner Meditationen erhoben - wenngleich sein Denken sich läng~t im Ele~ent der Sprache bewegte. Von der Sprachkraft Heideggers war Ja schon dIe Rede. Es ist gewiß nicht immer angenehm, durch den diktatori~chen Denkerwillen eines Heidegger gezwungen zu sein, die Sprache zu mißhandeln. Das sei ganz unbestritten. Aber wir müssen uns ohnehin eine gewaltige Versetzung von Versteinerungen zumuten, wenn wir die le~endigen Visi~nen des Denkens in die starren Sprachregeln und Sprachgebrauche und dIe Stereotypen der Meinungsbildung verstrickt sehen. Da bedarf es der hermeneutischen Anstrengung, das herauszubringen, was wir sagen wollten, wenn wir miteinander sprechen, und was wir dem anderen zeigen wollten - um selber zu lernen, wenn wir miteinander sprechen. Heidegger hat in >Sein und Zeit< bereits die daseinsanalytische Bedeutung der Sprache gewürdigt. Aber wenn er von der Bedeutung der Sprache und
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nen. In solchem »Herrschaftswissen« werden wir nicht nur Heilswissen, sondern auch all die anderen Weisen des Wissens zu denken verlernen, wenn wir nicht umlernen. .. Ich brauche kaum zu sagen, wie leicht sich von hier aus für Heidegger der Ubergang zum »Wohnen« ergab. Denn »Wohnen« ist ja auch das Wort dafür, daß man nicht den Gegenständen gegenübersteht, um sie zu beherrschen. Wir wohnen in dem Gewohnten. Das ist auch die Sprache, etwas, worin man lebt und wohnt und zu Hause ist. Das Wort ist nicht wie ein Zeichen, das man setzt, und wenn es seinen Dienst getan hat, wegnimmt, als ob man es auf Vorrat bereit hätte. Wort und Sprache sind das, womit wir miteinander umgehen und mit der Welt umgehen, in der wir zu Hause sinddieses Wohnen, von dem Hegel schon gewußt hat, wenn er den schönen Ausdruck ~es »Sich-Einhausens« für die menschliche Lebensaufgabe gebrauchte. Ähnlich hat Heidegger am Wohnen gezeigt, daß das Wort nicht einen Kreis des Beherrschten um sich hat, sondern des Vertrauten. Das ist ein eigener Raum, der sich da öffnet - und einer, in dem man nie allein ist. Nicht nur, weil man da so oft mit anderen Menschen ist. Man ist vor allem immer von den Spuren des eigenen Lebens umgeben und von dem Ganzen unserer Erinnerungen und Hoffnungen erfüllt. Das Geheimnis der Sprache ist ihre Offenheit. Für nie kalkulierbare Situationen und unvoraussehbare Augenblicke vermag einer das rechte Wort zu finden. Um das deutlich zu machen, habe ich versucht, an die christliche Tradition des Begriffs verbum anzuknüpfen, dessen heilsbringende Kraft auch in säkularisierten Bezirken nicht ganz unkenntlich wird. Der Entbergung entspricht die Bergung. In Worten ist etwas geborgen. Das hat nichts mit romantischen und poetischen Neigungen zu tun, wenn auch gewiß Romantik und Poesie etwas mit Sprache zu tun haben. Man muß aber sehen, daß Worte mehr sein können und nicht immer nur eine bezeichnende Funktion ausüben. Das istja damit gesagt, daß wir im Worte wohnen und in einer Sprache zu Hause sind. Dann reicht das Wort immer weit über die jeweilige Begriffsfunktion hinaus, die ihren Sinn in Aussagen erschöpft. Wir sind näher an der Sprache, wenn wir an das Gespräch denken. Damit ein Gespräch gelingt, muß alles stimmen. Wenn der Partner des Gesprächs nicht mitgegangen und nicht über seine Antwort hinausgegangen ist, sondern etwa nur darauf aus ist, mit welchen Mitteln der Gegenargumentation man das Gesagte begrenzen oder gar mit welchen logischen Argumentationen widerlegen kann - ein fruchtbares Gespräch ist eins, in dem Geben und Nehmen, Nehmen und Geben schließlich zu etwas führen, was eine gelneinsame Wohnstatt ist, mit der man vertraut ist und in der man sich miteinander bewegen kann. Wir sagen's auch im Deutschen: »Mit dem habe ich mich gut verstanden. « Worin versteht man sich denn da eigentlich? Antwort: In allem. So zeigt sich an dieser Redensart, die eine Erfahrung ausdrückt, daß
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sich in der Tat im Gespräch ein echtes Universum auftut. Es ist nicht unmittelbar das, was Sokrates gegenüber der naiven kosmologischen Spekulation des ältesten Denkens mit der »Flucht in die >Logoi(<< vornimmt. Aber am Ende ist es doch wohl ein Aspekt desselben - nur daß es in einen weiteren Rahmen von Dialog und Dialektik gestellt werden müßte. Es wäre unnatürlich und künstlich, in diesem Zusammenhang nicht von Nietzsche zu sprechen. Gerade unsere französischen Nachbarn haben versucht, im Hinausgehen über Heidegger auf die Radikalität Nietzsches zurückzukommen, der in der Tat Wahrheit und Lüge - im außermoralischen Sinne - als Werte des Lebens betrachtet und am Ende beides als bloße Masken des Willens zur Macht ansieht. Eine solche radikale Bezweiflung von Wahrheit gehört gewiß zur ursprünglichen Erfahrungsmöglichkeit des Menscnen. Ohne dessen innezusein, würde es nicht gelingen, je so etwas wie Fiktionen des Bewußtseins und Selbstbewußtseins und der eingepflanzten Ideologie zu durchschauen. Wie hat Heidegger seinen von den 30er Jahren an geführten Denkkampf mit Nietzsche geführt? Es ist ein wenig provinziell, diese Frage dadurch beantworten zu wollen, daß man die Distanzierungen aufrechnet, die von Heidegger in diesen entscheidenden Jahren gegenüber den biologisch-rassistischen Lehren in Nazideutschland bezeugt sind. Im Denkkampfmit Nietzsche geht es um mehr. Der Hinterfragung des Begriffs der Wahrheit von der Urkategorie des» Willens zur Macht« aus hat Heidegger den Begriff des »Andenkens« entgegengestellt. Ich wage nicht zu sagen, daß Heidegger diesen Kampf siegreich bestanden hat. Aber ganz gewiß war er sich dessen bewußt, daß er im Kampf mit der Radikalität von Nietzsches Nihilismus stand und hinter die Radikalität dieses Denkens nicht zurückfallen durfte. Ja, er hätte seinen Kampf nicht so durchstehen können, und wir mögen darin die Grenze - aber auch die Größe - seines Genies sehen, wenn er nicht in Hölderlin einen Partner gefunden und mit denkerischer Gewalt an sich gerissen hätte. Er sah in Hölderlins Sprachnot seine eigene Sprachnot und -bedürftigkeit. Er sah in ihm den Dichter, dessen visionäre Kraft ohne besondere theologische und geschichtliche Kenntnisse die Häresie des Joachim de Fiore erneuert hatte, der lehrte, daß immer wieder von Gott oder vom Göttlichen ein Mittler gesandt wird, das erlöschende Feuer unter den Menschen wieder zu beleben, damit sich so das Göttliche in der Abfolge solcher Mittlergestalten zeige, die die Epochen ablösen. Im Islam gibt es ähnliche Überzeugungen. So ist Hölderlins Dichtung für Heidegger eine theologische Denkhilfe gewesen - und mehr als das. Er teilte nicht nur die Sprachnot, die er in Hölderlins Dichtertum erkannte. Er sah in seinen dichterischen Schöpfungen einen Maßstab für alles Kommende. Wenn Hölderlin die Götterferne »in dürftiger Zeit« beschwor, so war diese Sprachnot, die er beklagt, zugleich ihre dichterische Legitimation. Heidegger hat sich
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darin erkannt und es aufseine Art so streng aufdogmatische Konsequenz hin ausgelegt, wie seit jeher das Neue Testament auch ausgelegt worden ist. Er hat versucht, seine eigene Vision eines neuen Denkens und wohnlichen Seins des Menschen, ein neues Miteinander, wie ein Heiles aus der Poesie und der Rhetorik Hölderlins auf den Begriffzu bringen. Wenn wir uns nun zum Schluß fragen, was unser aller Aufgabe bleibt: Da kommt es mir immer wieder ein wenig blind vor, wenn man mich fragt, was wir denn von Heidegger überhaupt noch zu lernen haben? Wenn wir es nur lernen könnten! Es geht nicht um Lernen, sondern um ein Können. Jedenfalls sollten wir es versuchen, in unserem Denken wie er aufursprüngliche Erfahrungen des eigenen Lebens zurückzugehen und uns den Forderungen des gesellschaftlichen und politischen Lebens zu stellen und in all dem den Akademismus fertig verfaßter Wertungen und Meinungen mit der Freiheit des geistigen Urteils zu durchbrechen - auch auf die Gefahr des eigenen Irrtums. Ich glaube nicht an die Universalsprache der Menschheit, so wenig wie an ein künstlich erzeugtes Wetter für alle Erdbewohner. Aber ich glaube, daß die Menschheit aus ihren eigenen Erfahrungen lernen kann. Ursprungliche Erfahrungen gibt es für die Menschen in allen Sprachen. Sie alle, die miteinander oder auch mit uns sprechen, wissen von der Verehrung des Höheren - wie von Achtsamkeit und Mitverantwortung für das, was die gemeinsame Zukunft verhüllt.
3. Heidegger und die Griechen (1990)
Das Thema )I-Ieidegger und die Griechen< hat mich seit langem und immer wieder beschäftigt. Wenn ich es vor einem Kreise von Fachgenossen, die ihre Studien zu einem guten Teile in anderen Ländern betrieben haben und als Gäste dann auch mit uns in Deutschland und an den deutschen Universitäten lebten, wähle, gewinnt das Thema einen ganz besonderen Akzent. Es drängt sich unmittelbar als besonderer Gesichtspunkt auf: Was ist es eigentlich an Heidegger, was ihn zu einem so bevorzugten Studiengegenstand in der großen philosophischen Weltöffentlichkeit erhoben hat - und das trotz allen Einreden gegen Heideggers politische Verwicklung in das unheilvolle Geschehen des Dritten Reiches, die gerade neuerdings die Weltöffentlichkeit beschäftigt, und trotz den Widerständen andersartiger \yissenschaftssprachen? Bei allem Eifer und aller Einsicht in die N ~t wendigkeit von Übersetzungen dürften wir uns dO,ch wohl unter uns 1m klaren sein, daß man nicht auf dem Wege von Übersetzungen in einen wirklichen philosophischen Austausch eintreten kann. Es ist bekanntlich mindestens seit Plato umstritten, ob man Philosophie überhaupt auf schriftlichem Wege übermitteln kann, und jedenfalls ist es unbestritten, daß man auf der Basis von Übersetzungen zu keinem echten Austausch zu gelangen vermag, wenn es sich um philosophische Gespräche handeln soll. Ein Gespräch möchte ich aber zu führen versuchen. Ein solches Zusammentreffen so vieler hat sein eigentliches Leben ja immer in den Wandelgängen und im Garten oder sonstwo, wo man sich zu Einzelgesprächen absondern kann. Erst dann können die Anregungen und die Streitpunkte, um die es sich handeln mag, zum wirklichen Austausch führen. Ich bilde mir auch nicht ein, daß die Worte, die ich zu sagen habe, eine echte Gesprächssituation herbeizaubern können, wie etwa der große Dialogdichter Plato sokratische Gespräche herbeizuzaubern verstand. Aber das Thema )Heidegger und die Griechen< erneut zu behandeln, das ich zuletzt noch 1986 in der Festschrift für Dieter Henrich im Bezug auf Plato erörtert
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habei, ist nicht nur wegen der besonderen Gelegenheit, um die es sich hier handelt, sondern auch aus einem neuen Anlaß von mir gewählt worden. Unsere Kenntnis und unsere Zugänge zu diesem Thema haben sich in jüngster Zeit auf dramatische Weise verändert. Wir können das Thema >Heidegger und die Griechen< jetzt auf einer breiteren Basis erörtern denn je - und auf der Grundlage von authentischen Texten Heideggers selber. So hoffe ich, daß man auch mir anmerken wird, daß ich angesichts dieser veränderten Sachlage selber einiges in ein anderes Licht zu setzen vermag. Die Veränderung der Lage beruht zunächst auf der dankenswerten Tatsache, daß wir jetzt den jungen Heidegger aus den zwanziger Jahren, also die Anfange des reifenden jungen Dozenten, in zwei Bänden der Gesamtausgabe lesen können. Zu diesem Text gehört auch die Vorlesung, die ich selber, natürlich mit unzureichendem Verständnis, als erste im Jahre 1923 in Freiburg gehört habe und die den verblüffenden Titel trug: »Ontologie. Hermeneutik der Faktizität«. Nun sind inzwischen ziemlich gleichzeitig zwei neue Dinge aufgefunden worden. Es hat sich unter dem Titel »Anzeige der hermeneutischen ~ituation« als »Einleitung in phänomenologische Aristoteles-Interpretatlonen« das Originaltyposkript des jungen Heidegger von 1922 wiedergefunden, das obendrein mit einer größeren Anzahl sehr wichtiger handschriftlicher Ergänzungen bedeckt ist. Diesen Text kannte ich bereits seit dem Anfan,g des Jahres 1923, und er war für mich damals der Anlaß, nach Freiburg zu gehen, wo Heideggerals junger Privatdozent und Assistent von Husserl lehrte. Ich selbst hatte gerade meine Promotion zum Doktor der Philosophie abgeschlossen, noch sehr jung, im Jahre 1922. Dazu darf ich bemerken, daß nach dem Ersten Weltkrieg die Anforderungen bei Doktordissertationen sehr viel bescheidener waren, so daß auch meine eigene Dissertation eigentlich mehr als eine erste Probearbeit, sagen wir eine gute Magisterarbeit, angesehen werden könnte. (Sie war ehrenvoll im Mausoleum der Vergessenheit verschwunden, bis sie inzwischen in der Münchener Staatsbibliothek neu ausgegraben worden ist.) In diesem Jahre 1922 auf 23 hatte mir mein Lehrer Paul Natorp, der bedeutende Gelehrte und Denker der Marburger Schule des Neukantianismus, eines Tages dieses Typoskript von Heidegger zum Lesen gegeben. Ich kann es kaum beschreiben, wie dieser Text auf mich wirkte, als ich ihn erstmals las. Wir lebten in Marburg ja alle noch in einer neukantianischen und transzendentalphilosophischen Begriffssprache. Ich selber stand als junger Student mit Nicolai Hartmann in engster freundschaftlicher Beziehung 1 Jetzt unter dem Titel >Auf dem Rückgang zum Anfang( in Ges. Werke Bd. 3 (Nr.27).
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und hatte vieles von ihm gelernt. Das betraf die Problemgeschichte des Neukantianismus und die Ablösung vom Systemgedanken des Neukantianismus, die sich in den damaligen ersten Arbeiten Nicolai Hartmanns nach dem Ersten Weltkriege vollzog. In dieser Verfassung und Lage las ich damals Heideggers Typoskript. Das war so anders! Wie anders es für mich war, konnte ich bei der jetzigen Wiederlektüre überhaupt kaum noch in meiner Erinnerung ganz lebendig machen. Ich fand es heute in seinem sprachlichen Duktus, in seinen Neubildungen und in seinen pointierten provokatorischen Äußerungen eigentlic~ recht zurückhaltend und eher sparsam - im Vergleich zu der Gewaltsamkelt von Heideggers späterem Stil. All das hatte ich in meinem Gedächtnis w~hl verwahrt, und doch klang es mir jetzt in manchem anders, auch wenn Ich viele Stellen dieses Manuskriptes wörtlich wiedererkannte. Nun ist ganz neuerdings durch Ulrich Lessing bei Arbeiten am Dilthey-Nachlaß dieser 2 Text wiedergefunden worden - und nun erst in seinem vollen Wortlaut • Bisher fehlten nicht nur die letzten sieben Seiten an »meiner« Kopie, die ich selber wohl ehedem noch gelesen habe. Jetzt enthält es obendrein ein ganzes Programm der Aristoteles-Interpretationen, die Heidegger damals (1922) vorbereitete. Das Manuskript war auf Ersuchen von N atorp entstanden, der Heideggers Aristoteles-Arbeiten kennenlernen wollte, und in der Tat wur~e aufgrund dieses Manuskriptes Heidegger in Marburg Professor. Ich bIn noch heute voll von Bewunderung, daß N atorp an diesem Text das Genie desjungen Denkers erkannte. Für ihn muß das alles noch viel neuartiger und fremdartiger gewesen sein als für mich jugendlichen, neugierigen und aufnahmebereitenjungen Studenten. N atorp lebte doch ganz in seiner eigenen, neukantianischen Sprachwelt und hatte auch Aristoteles von da aus studiert. Ffeilich las er Aristoteles nicht in thomistis~h-schol~sti~cher.Art,. eher im Stile der modernen Philologie. Nun fand er hier auffunfzlg Selten emen von Heidegger offenbar sehr eilig geschriebenen Vorbericht zu Aristoteles-Interpretationen, den er Natorp vorlegte. Diesen Vorbericht habe ich jet~t zum ersten Male wieder gelesen. In Wahrheit bin ich inzwischen selbst eIn anderer und obendrein auf das reiche Material mitgestützt, das Heidegger in seinen späteren Vorlesungen und Arbeiten zu Aristoteles mitgeteilt hat. Seine damals vorbereiteten Aristoteles-Interpretationen sind bisher noch nicht wieder bekannt geworden. Das dürfte wohl erst in der Gesamtausgabe in den Grenzen, in denen die Manuskripte das erlauben, vorgelegt werden. Was war nun das eigentlich Umstürzende an diesen frühen HeideggerTexten, die wir jetzt kennen? Für mich damals, das kann ich gar nicht energisch genug sagen, war alles neu, aber vor allem die Sprache. Das war 2 Veröffentlicht mit einer Einleitung von mir unter dem Titel )Heideggers »theologische«Jugendschrift< im Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), S. 228ff. bzw. S. 235ff.
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ein Denker, der sich bemüht, von der gesprochenen lebendigen Sprache aus die Eigenbewegung des Gedankens am griechischen Text vollziehbar zu machen. Den neuartigen Stil Heideggerscher Darlegungen kennt man inzwischen als ein viel zu viel wiederholtes Heidegger-Deutsch. In seinen damaligen Anfängen war Heidegger noch im übergang, wie es in einer handschriftlichen Vorbemerkung Heideggers auf dem Manuskript heißt; es versucht, »eine mittlere Linie zu halten«. Damit meint Heidegger: zwischen der uns vertrauten Begriffssprache der Metaphysik und der Sprache der Faktizität. Das Wort »Faktizität« ist selber schon ein wichtiges Zeugnis. Es ist ein Wort, das offenkundig ein Gegenwort sein will, ein Wort gegen alles das, was im deutschen Idealismus etwa als Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Geist oder auch als das transzendentale Ego Husserls im Schwange war. Man spürt in diesem Ausdruck» Faktizität« sofort den neuen Einfluß Kierkegaards, der seit dem Ersten Weltkrieg das zeitgenössische Denken erschütterte, und indirekt auch den Einfluß Wilhelm Diltheys mit seiner ständigen Mahnfrage des Historismus, die er an den Apriorismus der neukantianischen Transzendentalphilosophie richtete. Insofern ist es kein schlechter Zufall, sondern wirkungsgeschichtlich wohl begründet, wenn der vollständige Text der Jugendschrift jetzt in Arbeiten am Dilthey-Nachlaß gefunden worden ist. Der Weg, den Husserl und Heidegger und die phänomenologische Bewegung in ihrer eigensten Entwicklung genommen hat, von den >Logischen Untersuchungen< bis zur Krisisabhandlung Husserls und von >Sein und Zeit< zu dem späten Heidegger nach der »Kehre«, wird jetzt in den entscheidenden zwanziger Jahren deutlicher. Diese Entwicklung der Phänomenologie wurde ohne Frage durch die Herausforderung des Historismus vorangetrieben, vor allem seit Heidegger an ihr teilnahm. Es ging um die Frage: ~Tie kann überhaupt innerhalb des strömenden Wandels des Geschichtlichen so etwas wie bleibende philosophische Wahrheit gedacht werden? Das Heideggersche Manuskript ist von vornherein durch den Ton mitbestimmt, der mit dem Wort »Faktizität« angeschlagen ist. Die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins zeigt sich in derJeweiligkeit, und dieses jeweilige menschliche Dasein steht ständig vor der Aufgabe, sich selbst in seiner Faktizität zur Erhel1ung zu bringen. Klaus Held hat in seinem Vortrag3 nachgezeichnet, wie eine der Grundkategorien des späten Heidegger der Entzug ist, ein Motiv, das wir mehr oder minder aus Schelling kennen. Dieses Sich-Zurückhalten der Realität ist es, das erst ein Hervorgehen in die Existenz und 3 Professor HELD hatte auf dem Symposium den Festvortrag mit dem Thema )Die gegenwärtige Lage der Philosophie - Heideggers Phänomenologie der Grundstimmung< gehalten. Siehe dazu die Veröffentlichung unter dem Titel >Grundbestimmung und Zeitkritik bei Heidegger< in: D. PAPENFUSS/O. PÖGGELER (Hrsg.), Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Bd. 1: Philosophie und Politik. Frankfurt 1991, S.31-56.
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Offenbarkeit sinnvoll und möglich macht. Das ist die eigentliche Pointe der Hermeneutik der Faktizität - so merkwürdig es auch klingt -, daß in dem Faktum des Daseins Verstehen liegen soll und daß das Dasein selber hermeneutisch ist. Ursprünglich war »Faktum« und »Faktizität« ein Gegenw~rt ~u allen verites de raison und bezeichnete, wie das Vernunft-Faktum der FreIheIt, all das was man nicht erklären kann und nur hinzunehmen hat. Und wenn ich ga; an den theologischen Sprachgebrauch denk~ un~ seinen ~nkl~g an den Osterglauben, so zeigt sich erst recht, daß es SIch hIer u~ e~n~ unube~ steigbare Grenze aller historischen Feststellbarkeit und Objekuvlerbarkelt handelt. .. h 'fi Ich möchte nun diese Hermeneutik der Faktizität, die zweite Ubersc n t der Vorlesung von 1923, etwas erläutern, indem ich zeige.' wie das Denken dieses jungen genialen Heidegger bereits unt~rwegs war, sl:h aus der Vo.rgeschichte seines eigenen Bildungs- und StudIenweges zu los~n~ und WIe .er eine ebenso allgemeine wie radikale Frage zu stellen .wußte, dIeJeden ~nmlt telbar angehen muß, der sich überhaupt dem reflektIerenden Denk~n offnet. Doch bevor ich diesen Punkt zur Diskussion stelle, möchte Ich etwas vorausschicken. Es ist mir in dieser Stunde besonders wichtig (und h~t meinen Entschluß, hierher zu kommen, bestärkt), daß wir hier nicht nur mIt Vertretern des philosophischen Gedankens in der europäischen Kulturwelt zusammenkommen, sondern daß gerade auch Partne:. anderer Kulturwelten unter uns sind, die nicht der griechisch-christlichen Uberlieferu?g Europ~s angehören und die doch als mit uns verbunden an unserer Welt t~l1haben: S~e bringen zweifellos ihre eigenen geschi~ht~ichen, gesellsch.~ftl~chen,.sItthchen und religiösen Erfahrungen mit. SIe SInd also selber sta~dlg auf Ihrem eigenen Wege, wie wir auf unserem Wege sind, wenn WI~ a~s unserer eigenen Überlieferung unsere Faktizitä~ zu b~wußt~r und begnffllCher.Klarkeit zu erheben streben. Ich meine, es 1st Zelt. In dIeser Gesellschaft, In der wir heute leben, und angesichts ihrer planetarischen Maßstäbe und global~n Probleme muß auch das Denken und müssen alle unsere Gespräche über dIe engeren Traditionsgrenzen hinwegftihren und weltweiten AJstausch suchen. . hd 1 Heidegger meinte mit »Hermeneutik der ~ak.tizität«, wie er Sl~ ama s ausdrückt, Erhellung. Er meint, daß das DaseIn SIch erhellt, hell WIrd. So hat er etwa auch den aristotelischen Begriffder Phronesis gelegentlich charakterisiert. Darüber werden wir noch zu reden haben. Freilich, wo anfangen, wo enden? Eins könnte vielleicht vorweg gesagt werden: Was ist hi~r Anfang, was ist hier Ende? Sind sie nicht am Ende dasselbe? Denn, was hIer Anfang heißt, meintja gewiß nicht den Anfang unserer Welt im Sinne ~er modernen Kosmologie, sondern es meint den Anfang unseres menschlIchen Fr~gens und Nachdenkens über den Sinn des Lebens und über unsere Geschichte, über den Anfang, ihre ersten Probleme und ihre tiefsten Erfahrungen - und
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gerade auch über die Engpässe, in die uns all das geführt hat. Denn wir wissen noch nicht, wie wir damit zurechtkommen und ob wir etwa den ökologischen Engpaß werden meistern lernen. Hier ist so vieles geschehen, was wir als unser Schicksal hinzunehmen haben, wie jedes Faktum. So fragte sich Heidegger: Was bedeutet dieser erste Anfang und wie sieht er aus? Davon ist im besonderen in dem neuen Band der >Beiträge< die Rede, einer Schrift aus den dreißiger Jahren, zwischen 1936 und 1938, in denen Heidegger nach dem Rückzug von seinem politischen Engagement eine Art Programm seines neuen Denkens, das Programm eines anderen Anfangs, zu skizzieren versucht hat. Selbstverständlich verband sich das mit dem Wissen, daß ein Anfang nicht etwas Fernes und uns kaum noch Angehendes ist. Hier darf ich Heidegger selber zitieren: »Ein Anfang ist immer schon über uns hinweggegangen.« Ich habe sogar Zweifel, ob die etwa von Held gebrauchte Wendung angemessen ist, man könne einen Anfang setzen. Darin bin ich vielleicht noch mehr Platoniker und meine, daß die Anamnesis, das erinnernde Heraufkomme~ aus einem Urwissen, die einzige Form ist, in dem Denkeri anfängt. Indem Denken sich erinnert, erinnert es sich an das, was in einer langen Sitten-, Lebens-, Leidens- und Denkgeschichte der Menschheit in vielen Formen sprachlichen Ausdrucks in Worten und Sagen, Gesängen und bildnerischen Gestaltungen seinen Niederschlag gefunden hat. Nun wird jedes Denken, auch wenn einer nicht des Griechischen oder des durch eine gute humanistische Bildung Erlernten kundig ist, aus der eigenen sprachlichen Überlieferung ErheIlung und begriffliche Klarheit gewinnen können. Dies scheint mir eine große Möglichkeit, und unter diesem Gesichtspunkt möchte ich auf die Griechen zugehen, um zu zeigen, wie der junge Heidegger versucht hat, aus der Hermeneutik der Faktizität, d. h. aus der Erfahrung seines eigenen Lebens und in der Wiedererkennung der Erfahrungen des eigenen Lebens an den Erfahrungen der Griechen, seine radikalen Fragen zu entwickeln. Das war ein kühnes und weitreichendes Unternehmen - und doch geht es darin um unser aller eigene Welt. Das ist vielleicht heute deutlicher, als es dem jungen Heidegger im Jahre 1922 sein konnte. Mindestens seit seinem Aufsatz über >Die Zeit des Weltbildes< aus demjahre 1938, den er damals nicht mehr veröffentlichen konnte4 hat Heidegger Probleme, die >Sein und Zeit< hinterlassen hatte, wiederauf~ genommen und vertieft. Als >Sein und Zeit< erschien (1927), gab es für mich einige Punkte, in denen ich Heidegger nicht folgen konnte. So konnte ich z. B. niemals seine Etymologien ohne Widerstand hinnehmen. Das war wohl der Philologe in mir, der zu gut wußte, daß eine Etymologie meist eine
sehr kurze Lebensdauer von vielleicht höchstens 30 Jahren hat. Dann ist sie bereits veraltet und von der Wissenschaft verworfen. Das schien mir eine unzureichende Basis, Heideggers so radikale Fragen zu einer Beantwortung zu führen. Heidegger hat mir auch zugegeben, daß Etymologien niemals etwas beweisen sollen, aber für ihn inspirierend und illustrativ seien. Doch lassen wir die Etymologie beiseite; knüpfen wir lieber an das an, was Klaus Held in seinem Beitrag uns vorgeführt hat, an die Rolle der Befindlichkeit, wie in Angst, Schrecken, Langeweile das Nichts zur Erfahrung kommt. Heidegger hat am Anfang seiner späteren Freiburger Zeit ausdrücklich diese Sprache des» Nichts« zum Sprechen gebracht. Held hat, in seinem Zusammenhang mit Recht, auch auf das Staunen hingewiesen, auf dieses Stehen und Staunen. Ich zitiere ein Versstück aus Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien. Da zeigt sich nämlich, daß das Staunen immer ein Komparativ ist. Wer staunt, steht immer »staunender«. So spricht Rilke von dem Töpfer am Nil, dessen uraltes ererbtes meisterliches Können man immer mehr bestaunt. Staunend stehen ist immer staunender stehen. Das konnte Heidegger am Ende auch im thaumazein des Plato und Aristoteles wiederfin-
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4 Erschienen in >Holzwege< (Frankfurt 1950), jetzt in der Gesamtausgabe Bd. 5 (Frankfurt 1977).
den. Im Jahre 1921 begann Heidegger seine Aristoteles-Studien intensiv zu erneuern. Er begann damals nicht nur, die großen Hauptwerke des Aristoteles neu zu lesen. Er hat vor allem mit der )Rhetorik< begonnen, in der die Befindlichkeit, in dem bekannten Zusammenhang des zweiten Buches, Thema wird, weil die Redner die Affekte erregen sollen - ein altes Lehrstück griechischer rhetorischer Theorie. Das ist dann bei Plato im )Phaidros< angetönt und in den Rhetorik-Vorlesungen von Aristoteles ausgearbeitet worden. Aus den Befmdlichkeiten erhebt sich die Selbsterhellung des Daseins. Nun ist das freilich nur die eine Weise von Selbsterhellung des Daseins, die sich in der theoretischen Erkenntnis vollzieht. Man kann mit Klaus Held sagen, daß die Kontingenz unser abendländisches Schicksal geworden ist, die man nicht aus den menschlichen Geschichten und Geschicken ausschließen könne. Ich stimme zu und ergänze es nur, wenn ich sage: Was damals aufkam, war die Mathematik, war die Fähigkeit des Denkens, die sich im Beweisen vollendet. Das ist der eigentliche Anfang von Wissenschaft bei den Griechen. Das hat insbesondere van der Waerden in dem schönen Buche über >Erwachende Wissenschaft< gezeigt, wie die Entwicklung der Beweislogik das Entscheidende ist. Auf der anderen Seite werden wir jedoch gut tun, von der Selbsterhellung auszugehen, die aus der Praxis des Lebens in ihrer ganzen Breite erwächst und die später in der praktischen Philosophie des Aristoteles zum Thema wird. Aristoteles hat diese praktische Philosophie sorgsam gegenüber der theoretischen Philosophie abgegrenzt - und doch sehen wir, wie die beiden ineinander verwickelt sind, wie der prakti-
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sche Antrieb allem zugrunde liegt, da:; .:\ussein auf das Gute, und wie das Verlangen nach Wissen uns treibt. Das sind die ersten Sätze der Nikomachischen Ethik und der >Metaphysik<: Alle Menschen verlangen nach Wissen, und alle Praxis und Methodos ist aufdas Gute aus. Die praktische Grundlage ist also tUr beides nicht eine theoretische. Es geht um die Selbsterhellung des faktischen Daseins, die Hermeneutik der Faktizität. Diese Beziehung zwischen theoretischem Wissen und praktischem Wissen hat Heidegger in seinem jugendlichen Typoskript bereits entworfen. Er hat drei Kapitel in dem Entwurf für Natorp angekündigt. Das wird sich künftig wohl aus seinen Manuskripten belegen lassen. Drei Dinge sind es vor allem gewesen: Das eine ist die Rolle des praktischen Wissens. Das ist ein Punkt, an dem ich besonders angeknüpft habe, indem ich den Begriffder Phronesis tUr die philosophischen Dimensionen der Hermeneutik wiedererweckt habe. Die Phronesis hat Heidegger in seinem Programm zunächst nur als die Bedingung für das mögliche Hinsehen, tUr alles theoretische Interesse angeführt. Da hat er vor allem die zwei Anfangskapitel der >Metaphysik< behandelt. Hier ist das Zeugnis von Leo Strauss erinnerungswürdig. Dieser bedeutende politische Denker war von der damaligen Freiburger Vorlesung Heideggers so hingerissen, daß er sofort zu seinem Freund und Mentor Franz Rosenzweig fuhr, um ihm zu sagen, jetzt habe er etwas erlebt, das gab es bisher noch nicht auf den deutschen Kathedern. Dagegen sei Max Weber selbst der reine » Waisenknabe«. Max Weber war bekanntlich ein gewaltiges Phänomen. Wenn er einmal in Heidelberg, wo er längst wegen seines neurotischen Leidens keine Vorlesungen mehr halten konnte, als Zuhörer in einen Vortrag kam, schwante dem Vortragenden schon nichts Gutes, und er begann fast zu zittern. Denn nach seinem eigenen Vortrag stand Max Weber auf und hielt einen sehr viel besseren, brillanten Vortrag über das gleiche Thema aus dem Handgelenk. Dieser» Waisenknabe« Max Weber war wahrlich nicht so ohne, und ähnlich ging es mit Wemer Jaeger in Berlin, daß in den Augen von Leo Strauss beiJaeger alles nur Papier war - im Vergleich mit Heidegger. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist im griechischen Denken von höchst komplizierter Struktur und muß ganz aus dem modernen Sprachgebrauch und dem Trivialproblem der Anwendung von Theorie auf die PraxIS abgelöst werden. Jedenfalls war es ein Irrtum, wenn man etwa aus den Schlußkapiteln der aristotelischen Nikomachischen Ethik schloß, hier habe Aristoteles sich, seinem sonst bekannten pragmatischen und politischen Interesse zum Trotz, zu einer Konzession an die Akademie und an seinen Lehrer Plato bereitgefunden, indem er das theoretische Lebensideal über das praktische gestellt habe. Wenn man den Schluß der Ethik einmal wirklich genau interpretiert, dann zeigt sich vielmehr, daß das theoretische Leben als höchste Lebensform ein Leben der Götter ist und daß es für den Menschen I
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nur ein auf Praxis gegründetes Leben gibt, in dem dann die Erhebung zum theoretischen Leben wie eine Art von Erhöhung möglich wird. Die Trennbarkeit von Theorie und Praxis kann es also überhaupt nicht geben. Das ist der Grund, warum Aristoteles sagen kann: »Alle Menschen streben von Natur nach Wissen. « Das Streben ist hier ein erstes, und daraus entwickelt sich erst das reine Hinsehen. Das hat der junge Heidegger damals gesehen. Gleichwohl hat man zu beachten, wie Heidegger - gerade auch der junge Heidegger - zwar die Grundlage der Faktizität zum Thema macht und damit des Aristoteles Einführung in die Metaphysik aufdie grundlegende Rolle der Praxis gründet, aber eben doch auf das reine Hinsehen und am Ende auf das den Akzent legt, was er später die Seinsfrage nannte. Indessen sollte man auch dies nicht falsch verstehen. Vermutlich hat bereits der junge Heidegger, der von seinen Fragen des christlichen Glaubens umgetrieben war, in dieser Wendung zum reinen Hinsehen damals schon die Grenze des Griechischen gesehen. Jedenfalls hat er, wenn er auch bei den Griechen den Anfang unserer Geschichte suchte, dies nicht als ein Humanist getan, nicht als ein Philologe oder Historiker, der seiner Tradition fraglos folgt. Er gehorchte vielmehr seinem kritischen Bedürfnis angesichts seiner eigenen Daseinsnot. Es sieht so aus, als hätte er das Geschick des Abendlandes im ganzen damals bereits geahnt, wie er es in >Die Zeit des Weltbildes< zuerst theoretisch und provokatorisch formuliert, um schließlich die allgemeinen Perspektiven auszuarbeiten, die den bloßen Rückweg zu den Griechen in ein grelles Licht der Kritik stellen. Der Schritt zur Metaphysik war der erste Schritt auf dem Wege, auf deIn sich die Geschichte des Abendlandes auf ihre gegenwärtige Zuspitzung zubewegte. Heidegger hat sie als Seinsvergessenheit und Seinsverlassenheit beschrieben und hat in dem Primat des konstruktiven Handlungswissens, mit dem wir die Kräfte der Natur nutzen, um unser eigenes Leben zu ermöglichen, zugleich unser Schicksal erkannt. - Doch liegt darin zugleich die andere Forderung, die wir gegenüber dieser schicksalhaften Richtung der Menschheitszivilisation heute auf den Begriff des Haushaltens und die Tugenden des Haushaltens zu gründen fordern. Das sind Dinge, die wir alle aus unserem praktischen Leben gut kennen und was wir alle wissen, daß man mit dem, was man an Ressourcen hat, haushalten lernen muß. Da gibt es Grenzen. Es sind die ökologischen Grenzen, die heute im allgemeinen Bewußtsein erwachen und die wir zu verteidigen haben. Professor eho hat in einer interessanten Arbeit über Heidegger dies kürzlich herausgestellt5 . Je klarer Heidegger diesen Anfang bei den Griechen in seiner unser aller Schicksal bestimmenden Bedeutung erfaßt hat, mußte Heidegger auch die Auseinandersetzung mit Nietzsche, dem radikalsten Kritiker des Schrittes 5
K. K.
CHO,
Bewußtsein und Natursein. West-Ost-Divan. Freiburg/München 1987.
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des abendländischen Denkens zur Metaphysik, in den Vordergrund stellen. So hat Nietzsche die spätere Phase von Heideggers Denken als Herausforderung begleitet. Der erste Schritt führte vom griechischen Anfang zu der Metaphysik des Aristoteles.' Daran schloß sich in der Folge die Wendung, die das Christentum brachte, als es von den Griechen her seine eigene Glaubenslehre formte. Sowohl die Schöpfungstheologie der jüdischen Überlieferung wie die Erlösungsbotschaft des Christentums wurden aus dem Griechischen in die lateinischen Begriffe übertragen. Diese Umprägung des griechischen Anfangs durch die Dogmatik der römischen Kirche steht dann hinter der weiteren schicksalhaften Wendung des Abendlandes, die von der »Kirche« zur modernen Wissenschaft führt. Klarerweise geht es damit nicht um die Wissenschaft als solche. Es geht vielmehr darum, daß eine Denkweise, die der wissenschaftlichen Forschung Auszeichnung ist, nicht die einzige ist und nicht die vorherrschende im geistigen Haushalt der Menschheit sein kann. Ohne Frage waren auch die Griechen eine Handwerkernation ersten Ranges, groß im Erfinden, groß im Entwerfen und groß im Vollenden. Wir können nicht einmal den Unterschied zwischen dem sogenannten Handwerker und dem sogenannten freien Künstler im griechischen Sprachgebrauch ausdrücken. Es handelt sich bei beidem um das Genie der >Techne(, ob man nun Archimedes einen genialen Forscher nennt oder einen großartigen Handwerker. Nun ist meine These, daß wir alle als Philosophierende im Zeitalter der Wissenschaft in den Griechen eine Art Vorbild sehen dürfen. Ihr Denken ist nicht im ganzen von der gleichen konstruktiven Aggressivität geprägt, mit der die moderne Wissenschaft vorgeht. So steht ihre denkende Weltorientierung nicht unter dem Druck des Methodenbegriffs der Neuzeit, ihres Gewißheitspathos und ihres Beweisideals, die die moderne Wissenschaft beseelen. Gewiß haben die Griechen diese Antriebe auch gekannt. Aber sie haben ihre Weltorientierung am Leitfaden einer Sprache entwickelt, die noch aus ursprünglicher Lebenspraxis aufstieg, noch nicht in andere Sprachen und Erfahrungswelten umgeformt war wie das Latein des römischen Imperiijms und der christlichen Kirche. Sie war noch nicht durch die abstrakte Wissenschaftskultur der Neuzeit geprägt. Das aber ist genau der Punkt, an dem Heidegger für uns bahnbrechend geworden ist. Er hat Worte unserer Sprache mit Begriffsfunktionen aufgeladen und hat das Leben der Sprache des Gedankens neu aufgefrischt, so daß in ihrem Gebrauch aus der Spracherfahrung der Menschen vieles zu sprechen beginnt, was uns anschaulich macht, was ein Begriff sagen will. Ich gebe Beispiele. Es war für mich wie eine Offenbarung, als ich von Heidegger lernte, daß das griechische Wort für »Sein«, >Ousia(, das Plato und Aristoteles gebrauchen, eigentlich die Habe des Bauern meint, sein Anwesen, alles
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das, was für den Bauern bei seiner Arbeit und in seiner Wirtschaft verfügbar ist. Nun ist das nicht etwa eine Entdeckung Heideggers gewesen, daß >Ousia( diese ursprüngliche Bedeutung hat. Das steht bereits bei Aristoteles, dem Meister derer, die da wissen. Ähnliches findet sich z. B. in dem Begriffskatalog von >Metaphysik( Buch Delta. Aber was für Aristoteles noch selbstverständlich war, hat Heidegger erstmals wieder begriffen, nämlich daß unsere Begriffe aus Worten unserer Sprache entwickelt werden und daher die Geburtsstunde menschlicher Lebenserfahrung wie ein Mal an der Stirne tragen. So haben wir durch Heidegger sehen gelernt, daß >Ousia< Anwesenheit meint und einen temporalen Sinn einschließt. In Wahrheit ist es in anderen Sprachen, und vor allem in den Sprachen, die nicht dem europäischen Kulturkreis angehören, erst recht so, daß der natürliche Sprachgebrauch im Aussagenbereich von Dichtung und Meditation immer mitspricht. Wir haben hier in einer interessanten Diskussion etwa die Tatsache behandelt, daß im Chinesischen >Tao( eigentlich» Weg« heißt. Da sind wir auf einmal nicht durch einen Kontinent und durch Jahrhunderte oder Jahrtausende vom heutigen China entfernt, wenn die Griechen dafür >Methodos( sagten - was den Weg meint, den man nachzugehen hat. Dies griechische Wort ist freilich bei den Griechen nicht der neuzeitliche Begriff der Wissenschaftstheorie. Heidegger sagte lieber »Wege« statt »Werke«. Nun ist Heidegger gewiß nicht überall für seinen sprachlichen Stil des Denkens in Ansehen. Er wird da oft verhöhnt, verspottet oder mindestens kritisiert. Als die Nachricht von Heideggers Tode nach Oxford kam, hat ein führenaer englischer Gelehrter gesagt: »Ist der Narr endlich weg!« Und dennoch hat Heideggers Denkstil weltgeschichtliche Resonanz gefunden, wie wir alle durch unsere Anwesenheit bezeugten. Selbst solch Widerstand gegen sein Sprachgebaren zeugt davon. Umgekehrt erregen einstweilen bei uns manche aus dem Ausland kommende Arbeiten unseren Widerstand, wenn dort mit Begriffen wie >Realismus( und >Idealismus( gearbeitet wird, als gäbe es nur die Welt der modernen Wissenschaft und die ihr zugehörige Erkenntnistheorie, ob sie sich nun als Nominalismus und am Ende als Positivismus oder als die auf das »Faktum der Wissenschaft« gegründete Transzendentalphilosophie verstehen mag. Auch viele der Begriffsworte, in denen sich die Tradition der Philosophie ausspricht, sind ihrem griechischen Ursprung zum Trotz zunächst in lateinischer Umsetzung überliefert worden. Das erforderte einen neuen großen Schritt, den Kant getan hat. Er war der erste, der ein großes philosophisches Werk in deutscher Sprache geschaffen hat und nicht mehr im Latein des Mittelalters. Das hat Epoche gemacht. Was es bedeutet, fühlt man besonders etwa bei Hegel, der trotz aller Künstlichkeit seiner Begriffssprache und Denkweise von seltener Sprachkraft ist. Solche Kraft der Sprache teilt er selbst noch mit Heidegger, und nicht nur wegen ihres gemeinsamen schwä-
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Heidegger un.d die Griechen
bischen Untertons. Gerade das bringt ihm wie Heidegger etwas Kraftvolles
Ausmaße öffnet als >voluntas< und» Wille«. Darin liegt >Boule<, d. h. »Rat«, sich beraten, beratschlagen, sich zusammensetzen und sich Gedanken machen, was wohl das Beste, das Tunliche wäre. Das ist das, was man dann »will «. Ich besitze einen Brief von Heidegger, in dem er geradezu von der »Teufelei des Wollens« spricht. Darin steckt das Ganze der vorwärtstreibenden Energie, die uns groß gemacht, aber auch an die Grenzen geftihrt hat, an denen wir uns um das Gleichgewicht mit den anderen Kräften des menschlichen Lebens sorgen müssen. Wenn ich auf das Gemeinsame blicke, das in Theorie, dem reinen Hinsehen, und in Praxis, dem praktischen Leben, besteht, dann wage ich meinerseits die Sprachkraft eines Wortes aufzurufen. Ich u1.eine das Wort »Wachsamkeit«. Wachsamkeit ist ganz gewiß dort wirksam, wo wir das reine Hinsehen der Theorie anstreben. Aber es ist ebenso wirksam in der Wachsamkeit, mit der wir das Gute herauszufinden suchen, das immer das Bessere oder Beste sein soll. Diese Wachsamkeit hat Aristoteles >Phronesis( genannt. Ohne Zweifel sind Theorie und Praxis in diesem Urfeld griechischen Sprachgebrauchs etwas ganz anderes als das, was wir in der modernen Diskussion des Verhältnisses von Theorie und Praxis meinen, in der »Praxis« nur noch zur Anwendung von theoretischem Wissen absinkt. Da kommt mir die Erinnerung an die Abschiedsfeier, die der junge Heidegger 1923 oben im Schwarzwald vor seinem Weggang nach Marburg für seine Freiburger Schüler hielt, an einem lodernden Holzstoß, oben auf dem Stübenwasen. Seine Abschiedsrede begann: »Wachsein am Feuer der Nacht. Den Griechen ... « Die Worte sind mir noch im Ohr, und ich erinnere mich an den Fortgang, in dem von Feuer und Licht, von Helle und Dunkel die Rede war unq dem Auftrag des Menschen, zwischen dieser Entbergung des Seins und seinem Entzug zu stehen. Das war ein griechischer Einsatz von Heideggers jugendbewegter Rede. Was ist Wachsein ? Aristoteles kennzeichnet in der >Metaphysik< das göttliche Sein, das höchste Sein, durch seine beständige Wachsamkeit und Gegenwärtigkeit. Das zeichnet das Göttliche aus. Wir kennen alle den letzten Paragraphen der HegeIschen Enzyklopädie, der diese Stelle zitiert, um zu sagen, wa~ »Geist« ist. »Geist« ist nun gewiß kein griechisches Wort. Aber das ist eben ein Beispiel, wie wir mit der Sprache der Griechen denken lernen. So hat Heidegger uns sehen gelehrt, daß das Sein des Göttlichen Bewegtheit ist. »Bewegtheit« ist nicht Bewegung. Ihr ist nicht Stillstand entgegengesetzt. Bewegtheit ist das Sein des Bewegten. Wenn Plato im >Sophistes< (und auch sonst) gern den ausschließlichen Gegensatz von Stasis und Kinesis, von Stillstand und Bewegung, ausspielt, dann kommt am Ende etwas ganz anderes heraus, was das Sein ist - nämlich, daß es die innere Verflechtung von beidem ist. Das Genie des Aristoteles hat dafür das griechische Wort gefunden. Er hat in seiner >Physik< das Seiende in seiner Bewegtheit zum Thema gemacht und
in die Begriffsbildung. Ich erinnere an den bekannten Aufbau der Hegelschen >Logik<. Sie behandelt in ihrem zweiten Teil die Lehre vom Wesen. Da muß man die Ohren schärfen, damit man merkt, daß das nicht einfach >essentia< ist, die lateinische übersetzung von >Ousia<. Das lehrt uns auch der erste Anfang der Hegelschen >Logik<, daß da etwas anderes mitspricht. Hegel hat als erster in die Seinsfrage der Metaphysik die Lehren der Vorsokratiker eingeholt und das Denken mit dem Sein, derp Nichts und dem Werden beginnen lassen. Das weist schon darauf, was» Wesen« eigentlich ist. Es ist eine temporale Kategorie. Wir reden heute zwar nur von Verwesen, aber doch auch von Anwesen und auch davon, daß einer sein Wesen treibt und daß etwas ein wahres Unwesen ist. In dem Wort »Wesen« liegt, wie in allen seinen Ableitungen, die immer alles durchdringende Anwesenheit, ein fast unmerkliches Etwas: »Da ist etwas da.« Heidegger hat in seiner Hegel-Interpretation seinen Kampfmit der Tradition der Metaphysik geführt und Hegel immer auf seine metaphysische Tradition reduziert. Aber er hat, glaube ich, damit manchmal gegen Hegel an Hegel selbst vorbeigehört. Nun bin ich weit davon entfernt, zu meinen, daß es hier nur um die Sprachkraft des Deutschen geht und daß nur auf diesem Wege der Zugang zum Griechischen zu finden sei. Die Lage ist für diejenigen, die aus anderen Kulturkreisen und anderen Sprachwelten zu uns kommen, um mit uns Philosophie zu treiben, gar nicht so anders. Auch sie müssen die Botschaft Heideggers selber in sich aufnehmen. Es genügt nicht, zu sehen, an Kant oder Hegel oder Heidegger, wie wir das gemacht haben oder wie sie es uns vorgemacht haben. Es geht wahrlich nicht darum, Heideggers Sprache zu wiederholen. Dagegen hat sich Heidegger immer mit Entschiedenheit gewehrt. Anfangs war er sich der Gefahren solcher Wiederholung so sehr bewußt, daß er das Wesen philosophischer Aussagen geradezu »formale Anzeige« nannte. Damit wollte er sagen, man könne im Denken höchstens in die Richtung zeigen. Man müsse selber die Augen aufmachen. Dann erst werde man die Sprache finden, die das sagt, was man »sieht«. Heidegger hat sich selber vor allem durch den Rückgang auf die griechische Sprache inspiriert und in seiner provozierenden Art sogar gelegentlich das Griechische und das Deutsche die einzigen Sprachen genannt, in denen man philosophieren kann. Damit hat er im Grunde die gewaltige Aufgabe gemeint, die Latinisierung der griechischen Begriffe im Philosophieren nach Möglichkeit rückgängig zu machen. Das ist keine Kleinigkeit. Ein Beispiel lehrt es. Im Griechischen gibt es keine Entsprechung zum Begriff des Willens, der >voluntas<. Was man im Griechischen dafür sagen kann, wäre etwa >boulesthai< oder ähnliches, was ein Bedeutungsfeld gänzlich anderer
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nach dem Sein dieses Seienden gefragt. Dafür hat er den unvergleichlich treffenden Ausdruck >Energeia< gefunden, d. h. wörtlich »am Werke sein«. Das Wort bezeichnet also ein Tätigsein, das nicht erst auf das Werk zuläuft, bis das Werk selber da ist, als das Fertige, als das >Telos<. So sieht es in der Natur nicht aus. Das von Natur Bewegte ist immer von Natur zu Natur unterwegs. Ob es Same ist oder Keim, ob die Blüte oder die faulende Frucht, all das ist da »am Werke«. Was ist mit uns geschehen, daß >Energeia< Ausdruck für Energie wurde? Ich ziehe Konsequenzen. Was man an den Griechen lernen kann, ist gewiß nicht Antwort auf all das, was uns umtreibt. Man denke allein an das Problem des Todes, das im Christentum seine eigene zentrale Stellung gefunden hat. Auch andere Religionen haben auf die Frage nach dem Tod ihre Antwort gegeben. Die Griechen taten es mit ihrem Wissen vom Hades und von der Insel der Seligen, und welche unendliche Abschiedstraurigkeit streift uns vor den herrlichen griechischen Grabstelen, die aus platonischer Zeit stammen und uns ständig neu anrühren. Auch das ist eine Todeserfahrung, aber sie ist nicht die unserer eigenen Geschichte. Novalis hat sie in den >Hymnen an die Nacht< der christlichen Verkündigung eindrucksvoll gegenübergestellt. Indessen, jede Sprache ist eine Selbstauslegung des menschlichen Lebens. Das hatte Heidegger mit seinem Entwurf einer »Hermeneutik der Faktizität« von früh an im Auge. Solche Erhellung wird jeweils dem sich selbst ausweichenden Dasein abgewonnen, das wir sind, und das geschieht in allen Sprachen. Insofern haben wir alle die gleiche Ausgangssituation im Denken. Wenn etwa in manchen Ländern Afrikas die französische Sprache die einzige Möglichkeit darstellt, an die dort lebenden Menschen die von der europäischen Philosophie entwickelten Gedanken heranzubringen, so hat das Probleme. Die Sprache der dortigen Menschen, in der sie ihre eigene Welterfahrung aufarbeiten, hat nicht - hat noch nicht? - die Möglichkeit, sich in das Französische umzusetzen. Die technologischen Prozesse werden sich eines Tages vielleicht überall einer einheitlichen Verkehrssprache mehr oder minder angleichen. Das wird aber nicht viel helfen. Philosophie ist kein bloßes Verkehrssystem. Sie beginnt erst dort, wo man über das nur Formelhafte von Zeichen, Symbolen und Konventionen hinauskommt. Das gilt ja auch für uns selber, im Herzen Europas, daß wir über den formelhaften Gebrauch unserer Begriffsworte hinauskommen müssen, wenn wir unsere eigene Welterfahrung in den Begriff erheben wollen. Aus solcher Einsicht heraus habe ich seinerzeit zusammen rnitJoachim Ritter das >Archiv für Begriffsgeschichte< gegründet. Das will nicht unsere Gelehrsamkeit anreichern, sondern den Sinn für die Töne und Obertöne schärfen, die in unseren Begriffsworten mitklingen, wenn sie sprechend werden. In meinen Augen war Heidegger darin am größten, daß er Worte auf ihre
geheime Herkunft und verborgene Gegenwart abzuhören verstand. Wenn er Texte zu interpretieren hatte, so hatte ich dagegen oft Schwierigkeiten, weil er sich mit Gewalt Texte auf seine eigenen Intentionen zurechtbog und dabei das Hintergrundwissen der Worte zum Sprechen brachte. Daß er überhaupt die Vielstelligkeit von Worten und die innere Gravitationskraft lebendigen Wortgebrauchs und seiner Begriffsimplikationen freizulegen und unseren Sinn dafür zu schärfen wußte, das scheint mir jedoch das bleibende Erbe, das er uns hinterließ und das uns hier alle eint. Das war der positive Sinn von »Destruktion«, in dem nichts von Zerstörung mitklang. Es spürt das ein jeder - auch wenn er das Deutsche nur mühsam gelernt hat oder das Griechische nur unvollkommen beherrscht. Es geht hier nicht um Übernahme eines Vokabulars oder um eine Befolgung von Regeln, sondern um eine ständige Horizontbildung und um eine Öffnung nach dem Andern hin, die jede Sprache vermag, in der wir uns jeweils zu verständigen suchen. Darin hat Heidegger wahrhaft bahnbrechend gewirkt, Denkvermögen und Sprachphantasie in eins zu beleben. Das entschädigt in meinen Augen für alle Schwächen, angesichts derer sich Philologen Heidegger gegenüber oft überlegen fühlen. Da hat man an einer Heideggerschen Übersetzung eines griechischen Chorlieds zwei Dutzend Übersetzungsfehler festgestellt. Trotzdem haben diese Fehler, die gewiß wirkliche Verzerrungen in den Texten bewirken, für das Verständnis des gesamten Textes mehr erbracht als je die zünftige Forschung. So ist es mir sogar bei Heideggers Hölderlin-Interpretationen gegangen. Da mußte ich das eine oder andere unannehmbar finden. Aber die Nähe, die Dichtigkeit, die Unmittelbarkeit, in der diese Verse Hölderlins von Heidegger zunl Sprechen gebracht wurden - daraus hat man zu lernen. Nicht etwa, um es nachzumachen, sondern um so mit Sprache umzugehen, daß sie ihre Weisheit ausspricht. Ich gebe ein Beispiel. Es i'st ein Gedicht von Stefan George, das er an den befreundeten holländischen Dichter Albert Verwey gerichtet hat. Das Gedicht rühmt die friesische Landschaft und spricht von dem »Geräusch der ungeheuren See«. Hatjemand, Deutscher oder Nicht-Deutscher, je gespürt, daß »Geräusch« von »Rauschen« kommt? Es ist das Rauschen der Wellen, das der Dichter hier so in den Vers bannte, daß es uns umrauscht. Auf seine Weise hat auch das Denken stets nach dem Wort zu suchen, das uns so ausspricht, und gewiß wird einjeder im Ausgang von seiner eigenen Muttersprache immer wieder die Öffnung zur Welt durchmessen müssen, aus der ihm das rechte Wort für ihn kommt, in dem ihm das Gemeinte aufgehtin welchen Sprachen der Begriffe es immer ist. Denken ist in Wort und Begriff wie das Dichten in Wort und Bild. Da wird nichts wie ein bloßes Werkzeug gebraucht. Da wird etwas in die Helle gehoben, in der »es weltet« - um mit einem Wort Heideggers zu schließen.
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Heidegger und die Soziologie
4. Heidegger und die Soziologie Bourdieu und Habermas (1979/85)
Die politische Ontologie Martin Heideggers 1 Um das vorliegende Buch beurteilen zu können, müßte man eigentlich Soziologe sein. Wer selber dem akademischen Felde der Philosophie angehört, ist dafür alles andere als legitimiert. Denn das eigentliche Ziel der Untersuchung Bourdieus ist eben die soziologische Analyse und Demaskierung dessen, was auf dem Felde der Philosophie vor sich geht. Ein philosophischer Leser kann seinerseits nur mit Staunen oder mit Bestürzung zur Kenntnis nehmen, daß all das, was er selber rür Erkenntnisfragen und rür Wahrheitsfragen hält und um dessentwillen er in seinem akademischen Felde tätig ist, in den Augen dieses Soziologen überhaupt keinen eigenen Inhalt und Gegenstand und damit auch keine mögliche Wahrheit hat. In Bourdieus Augen scheint Philosophie eine Art geistiger Hochstapelei darzustellen, die sich selber wie eine ehrsame gesellschaftliche Einrichtung etabliert hat. Das gilt auch vom >Fall Heidegger<. Daß Heideggers Philosophie in Frankreich zeitweilig Erfolg haben konnte, stellt dem Verfasser die Aufgabe einer soziologisch-historischen Aufklärung des Phänomens >Heidegger< im ganzen - im Lichte der Kritik an >Philosophie< überhaupt. Bei dieser Lage der Dinge erscheint es sinnlos, dem Verfasser vorzudemonstrieren, was er nicht nur selber weiß, sondern woraufer sich auch noch etwas zugute tut, daß seine Darstellung der Dinge auf dem speziellen philosophischen Felde, insbesondere sofern sein Hauptthema Heidegger in Frage kommt, in den Augen eines solchen philosophischen Lesers oft wie eine Karikatur klingt. Dabei macht es sich der Verfasser nicht etwa besonders leicht. Im Gegenteil, er kritisiert selber die kurzschlüssige Verrechnung des Heideggerschen Denkens und seiner Redeweise auf eine angebliche soziale und politische Ideologie, die sich darin ausspreche. Er sieht darin einen Kurzschluß, »der die gesamte Soziologie kultureller Werke charakterisiert, nicht allein die Adomos« (76). Er möchte vielmehr am Falle >Heidegger< die 1
Zum gleichnamigen Buch von PIERRE BOURDIEu, Frankfurt/M. 1975.
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philosophische Sublimierung als solche studieren, die, wie er schreibt, aus den Eigentümlichkeiten des philosophischen Produktionsfeldes hervorgeht, und möchte dann erst, auf dieser Basis, die politischen Prinzipi~ aufdecken, die darin ihren Ausdruck finden, und die philosophische Alchemie demaskieren, die dabei praktiziert wird. Schon diese Redeweise ist beredt genug. Der Soziologe studiert ein Produktionsfeld, aber eins von besonderer Art. Daß es sich um nichts als um Alchemie handelt, steht ihm fest. Das will sagen, in seinen Augen wird hier nicht etwa politisches Wollen und Denken in das echte Gold der Philosophie übersetzt, sondern die Leichtgläubigkeit der Gesellschaft wird ausgebeutet. Eine solche soziologische Fragestellung erhebt notwendig einen allgemeineren Geltungsanspruch, der nicht nur gegenüber der Erscheinung des Heideggerschen Denkens gelten soll. Man darfihn wohl nicht einmal aufden Bereich der Philosophie einschränken, denn er gilt, wenn ich recht sehe, in einem viel umfassenderen Sinne von allen Formen von Rede, die im Felde des Gelehrtenturns und des literarischen Schaffens begegnen. Wie man von Freud her weiß, besteht da immer eine Spannung zwischen dem Ausdrucksinteresse und einer Zensur, die vom sozialen Felde her geübt wird. Sie führt stets zu einer Kompromißbildung, die der Verfasser einen Akt der Forschung nennt. (Ich gebrauche im folgenden stets die deutschen Ausdrücke, die in der Übersetzung des französischen Originals verwendet sind, und möch~e die ganz ungewöhnliche Lesbarkeit der von Bernd Schwibs stammenden Ubersetzung besonders hervorheben.) Dem Verfasser schwebt offenbar eine ganz allgemeine Aufgabe vor. Er möchte im Bereich der kulturellen Rede überall die Euphemisierungsstrategien aufdecken, die die wirklichen politischen Antriebe verhüllen. Außer der Philosophie hat er dabei ebensosehr die Politologie im Auge. Mit solchen Euphemisierungsstrategien ist natürlich nicht gemeint, daß es sich um bewußte Irreführung des Lesers oder um willentlich kalkulierte strategische Berechnung handelt. Im Gegenteil: »Die Zensur ist niemals perfekter und unsichtbarer, als dann, wenn jeder Agent nichts anderes zu sagen hat als das, was zu sagen er objektiv autorisiert ist. In diesem Fall braucht er nicht einmal sein eigener Zensor zu sein. « Der Verfasser würde wohl kaum abstreiten, daß diese allgemeine Fragestellung auch aufihn selbst anwendbar ist2 . Die kommerzielle Redeweise, die er selber liebt, unterliegt offenbar ebenfalls solchen Bedingungen der» Formgebung«, so daß sie im besten Falle dem eben charakterisierten Idealfall besonders nahekommt, wo man nicht mehr sein eigener Zensor zu sein braucht. 2 Die vorliegende Schrift macht in dieser Richtung keine Andeutung. Aber die Methodenreflexion in seinem )EntwurfeinerTheorie der Praxis aufder ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft< (deutsch bei Suhrkamp 1976) übt eine prinzipielle Kritik an der Naivität des )Objektivismus<, die m. E. zu dieser Konsequenz nötigt.
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Offenbrr handelt es sich um ein allgemeines Prinzip aller Rede. Mit seiner Funktionsweise kann man auch vertraut sein, wenn man sich weder in der Psychoanalyse noch in der Ideologiekritik als Fachmann fühlt. Denn es geht um nichts als die Wirkungsweise der Rhetorik, und diese ist von ihren früheren Tagen an wohlbekannt, insbesondere durch die theoretische Analyse, die ihr Plato und Aristoteles haben angedeihen lassen. Allerdings hat die antike Theorie der Rhetorik am Ende nicht den Anspruch erhoben, daß sie durch ihre theoretische Analyse der Funktionsweise der öffentlichen Rede mitbehaupte, daß solche Rede oder solches Denken überhaupt kein Wahrheitsverhältnis mehr beanspruchen könne. Seit Platos >Phaidros< ist es vielmehr klar, daß die Anpassung der Argumente an den Adressaten und die Abzielung aufdessen Emotionen, die in aller öffentlichen Rede vorliegt, von ihrem Erkenntnis- oder Wahrheitsbezug unterschieden werden muß. Vielleicht würde der Verfasser bereit sein, sofern es sich nicht um Heideggers Philosophie handelt, dem zuzustimmen? Unter diesen Umständen darf man zunächst einmal die Frage auf sich beruhen lassen, ob die Philosophie Heideggers wirklich die reinste Hochstapelei ist, und die Bourdieusche Untersuchung als die Anwendung einer allgemeinen Fragestellung soziologischer Art lesen. Jede Rede besitzt ihre soziale Funktion und ihr Moment der Euphemisierung. Das gilt unabhängig von der Frage, ob die Inhalte der Rede der Kritik standhalten oder nicht. In diesem Sinne ist das Kapitel, das die Überschrift trägt: »Die reine Philosophie und der Zeitgeist«, eine interessante sozialgeschichtliche Lektüre, in der vieles Überzeugende zur Sprache kommt. Es wäre ja auch wirklich absurd, wenn ein Denker von der Wirkungsgröße, die auch der erbittertste Gegner Heidegger wird zusprechen müssen, nicht ein besonders repräsentativer Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Lage und Zeitstimmung gewesen wäre, deren Zensur er an sich erfuhr. Die Analogien, die zwischen Heidegger und den literarischen Vertretern der konservativen Revolution bestehen, sind überdies offenkundig und werden von dem Verfasser überzeugend herausgearbeitet. Im Falle von Ernst Jünger hat Heidegger dem wiederholt selber Ausdruck gegeben. Aber schon der Riesenerfolg von Oswald Spenglers >Untergang des Abendlandes< redet eine deutliche Sprache. Es ist ganz richtig, was Bourdieu ausführt, daß der Erfolg dieses Buches die akademische Wissenschaft in ungewöhnlichem Maße beunruhigte und erstaunliche Reaktionen zeitigte. Da war nicht nur die von Bourdieu erwähnte Rezension (in der DLZ) von Eduard Meyer, einem der großen Mandarine, um mich der beim Verfasser beliebten Ausdrucksweise zu bedienen, sondern etwa auch das Sonderheft des >Logos<, das eine volle Breitseite auf Spengler abfeuerte. Insofern hat Spengler einen besonderen Symptomwert. Nun verquickt der Verfasser die Analyse der konservativen Revolution,
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die er gibt, mit der Antipathie, die er offenbar gegen die damalige akade~i sehe Universitätsstruktur Deutschlands hegt. Das führt dazu, daß er nicht immer das Richtige zu treffen vermag. Es stimmt zwar, daß das deutsche Universitätssystem eine besondere Exklusivität und monopolistische Stellung besaß. Andere Wege zum literarischen Erfolg, wie es sie in Frankreich etwa gab, spielten auf dem Felde der Wissenschaft innerhalb Deutschlands kaum eine Rolle. Aber der Ausdruck »akademisches Proletariat« wird von dem Verfasser allzu unscharf verwendet. Für das 19.Jahrhundert bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges ist er nicht nur schief, sondern geradezu sinnlos. Es fällt auf, daß der Verfasser hier auf merkwürdige Weise zurückdatiert und überhaupt die ökonomischen Ursachen ganz unerwähnt läßt, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zur Proletarisierung des bürgerlichen Mittelstandes führten und so etwas wie ein akademisches Proletariat überhaupt erst möglich machten. Sein Interesse ist offenbar ein anderes. Er möchte die gemeinsamen Wurzeln der völkischen, elitären, reaktionären Ideen aufspüren und so früh wie möglich die Vorbereitung der konservativen Revolution in ihnen erkennen. Das ist lehrreich genug, und was er aus dem Buch von Ringer, >The Decline ofthe German Mandarins< (Cambridge/Mass. 1969) sowie George Mosse, >The Crisis ofHuman Ideology< (New York 1974) schöpft, ist im großen und ganzen überzeugend. Aber etwa der Fall Spengler wird von ihm aus dem angegebenen Grunde doch zu einer rechten Karikatur verzeichnet. Das klingt da nach einem armen Mathematiklehrer in Hamburg, den die akademische Inzucht an der Universität nicht hochkommen ließ. Das sollen die Gründe für Spenglers Lebensweg abseits von der Universität gewesen sein? Man mag die überdimensionierte Phantasie und die synthetische Energie des Außenseiters Spengler noch so hoch einschätzen - das alles war doch mit einem ihm eingeborenen evidenten Mangel an Kritik und Selbstk~ntroll.eve~~~nden. ; Ich will nicht ausschließen, daß er bei dem Versuch, die Unlversltatslaufbahn einzuschlagen, aus solchen Gründen gescheitert wäre. Seine Dissertation über Heraklit muß wirklich einen sehr toleranten Doktorvater gehabt haben. Aber das verfehlt doch den entscheidenden Punkt - nämlich daß er den akademischen Weg von sich aus verachtete und voll von Selbstbewußtsein es vorzog, seine geistige Unabhängigkeit durch das Berufshand,:erk eines Schulmeisters zu erkaufen. Weder er noch die anderen konservativen Revolutionäre, die hier zu nennen sind, fühlten sich in Wahrheit als verhinderte Professoren. Ihr Selbstbewußtsein hätte das weit von sich gewiesen. Auch die Art, wie der Verfasser die faschistische Ideologie aus der exklusiven Haltung der konservativen deutschen Universität herzuleiten sucht, hat etwas Schiefes. Gewiß wird die konservative Grundstimmung des deutschen Universitätslebens von ihm zutreffend gezeichnet. Aber eben deshalb gehören die Wortführer und die akademischen Anhänger des beginnenden
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Nationalsozialismus in einen völlig anderen Zusammenhang. Sie haben mit dem akademischen Proletariat der Nachkriegsära, das sich an den Universitäten und in den Redaktionsstuben durchhwlgerte, wenig zu schaffen. Das zeigt sich schon an ihrem enragierten AntÜDtellektualismus und an der hohnvollen Verachtung der reinen Wissenschaft, die diese Wortführer zur Schau tragen. Der Verfasser läßt das zwar nicht unerwähnt, aber sieht es meines Erachtens nicht in dem richtigen Zusammenhang. Die Tragödie der Weimarer Republik und der »legalen« Machtergreifung Hitlers beruhte gerade darauf, daß die konservative Ideologie vom entschlossenen Nihilismus zu ihren Zwecken gebraucht wurde. Von Art und Umfang dieser konservativen Ideologie gibt der Verfasser im übrigen ein sehr anschauliches Bild, das außer durch Spengler vor allem durch Ernst Jünger dokumentiert ist. Es ist selbstverständlich richtig, daß sich auch der junge Heidegger, als er sich aus der katholisch-jesuitischen Jugenderziehung, die er erhalten hatte, löste, von diesen »Wortführern des Zeitgeistes« vielfach angesprochen fühlte. Das fUhrt der Verfasser richtig aus. Sodann unterzieht der Verfasser Heidegger einer soziologischen Analyse, indem er ihn als einen Intellektuellen der ersten Generation schildert. Der handgreifliche antiurbane Affekt, der Heideggers Gehabe und Verhalten durchzieht, ist einer solchen verallgemeinernden soziologischen und stilistischen Analyse an sich zugänglich. Man erkennt ohne Frage vieles in solcher Analyse wieder. Und doch erscheint das alles auch wieder in grotesker Verzerrung. Sie hängt offenbar mit den methodischen Prämissen der ganzen Betrachtungsweise zusammen, und nur zum kleinsten Teil mit besonderen Voreingenommenheiten des Verfassers, zum Beispiel mit dem oben erwähnten Affekt gegen das deutsche Universitätssystem von ehedem oder mit der Inkompetenz, die er dort beweist, wo von Philosophie die Rede ist. Aber vielleicht sind selbst diese spezifischen Voreingenommenheiten so spezifisch nicht, wenn man sich die Frage stellt, was unter seinen methodischen Prämissen von der Universitätsphilosophie überhaupt übrigbleiben kann. Er sieht in ihr nichts als das Resultat hochgetriebener Euphemisierungsstrategien, und es kommt ihm nicht der leiseste Zweifel, daß man Philosophie überhaupt nicht anders ansehen darf als mit den Augen eines Sozialwissenschaftlers, der ihre Euphemisierungstendenzen und ihre Formgebung auf die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse reduziert. Darüber ist kaum noch zu streiten. Es mag den Leser aber doch verblüffen, zu welchen voreingenommenen Akzentuierungen der Verfasser gelangt. Da ist etwa ein Beispiel, das er besonders aufführt, wenn Heidegger in >Sein und Zeit< über »Fürsorge« spricht. Nicht nur, daß er die Ausbreitung des ganzen Wortfeldes von» Sorge« für pure Alchemie hält. Er geht so weit,
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allen Ernstes zu meinen, daß Heidegger den sozialen Institutionscharakter von Fürsorge, der in Bourdieus Augen offenbar der einzig legitime ist, auf kunstvolle Weise neutralisiert und wegdiskutiert. In Bourdieus Augen ist Fürsorge primär eine Institution! In der zweiten Auflage seiner Schrift, durch die ich erstmals den französischen Text zu lesen bekomme, berührt Bourdieu meine Beobachtung am Sinn von »Fürsorge«. Daraus geht hervor, daß er tatsächlich den institutionellen Sinn des Wortes für den »gewöhnlichen« (ordinaire) hält und dagegen die uns natürliche Rede, also auch die in der berühmten Heideggerschen Wendung »freigebende Fürsorge«, der Alchemie der Worte zuordnet. (Daß die letztere Wendung Heideggers für mich einen sehr ironischen Klang hat, gebe ich gern zu, wenn ich an das »Heidegger-Gegacker« der vielen Studenten denke, die an Heidegger in Wahrheit ihre Freiheit verloren hatten.) Für mich ist die Idee, daß ein solches Wort wie »Fürsorge« primär eine Institution bezeichnen soll, allerdings nur ein Zeugnis für »soziologische Formgebung«. Ein anderes Beispiel: Man mag allenfalls noch verstehen, daß der Verfasser dem seinerzeit üblichen Mißverständnis erliegt und die in )Sein und Zeit( getroffene Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins mit positivem bzw. negativem Wertakzent versteht. Daran ist Heidegger selbst gewiß nicht unschuldig. Aber der Verfasser verwechselt hier die Dimensionen. Er hält sich ganz an die rhetorische Inszenierung, mit der Heidegger seine philosophische Fragestellung versah, ist aber gegen diese Fragestellung selber völlig blind. Das wird zum Greifen deutlich, wenn es sich etwa um die Unterscheidung von Ontisch und Ontologisch handelt, also um die sogenannte ontologische Differenz. Was daraus bei Bourdieu wird, ist einfach erheiternd. Hier setzt das, was in seinen Augen die Euphemisierungsstrategie Heideggers ist, offenbar schon bei Aristoteles ein. Es wäre konsequenter gewesen, wenn er zu dieser These sich ausdrücklich bekennen würde. Auch seine Herleitung der Heideggerschen Strategie aus der Durchsetzungstendenz gegenüber dem Neukantianismus hat etwas sehr Dilettantisches. Wie er sich das wohl vorstellt? Natürlich gab es diese Durchsetzungstendenz gegenüber dem Neukantianismus in der Nachkriegsära, und Heidegger teilte sie mit gar manchen anderen. Man denke nur an die Auflösung der Marburger Schule oder die Hinwendung der südwestdeutschen Schule zu Hege!. Aber was der Verfasser nicht sieht und womit er den Rang seines Gegenstandes gründlich verfehlt, ist, daß Heidegger nur dadurch Heidegger wurde, daß er im Unterschied zu allen anderen Zeitgenossen imstande war, die gesamte Problematik des Neukantianismus, sowohl die von Rickert wie die von Natorp und Husserl, auf den Hintergrund der aristotelischen Metaphysik zu beziehen. Dabei war es Heideggers große Chance gewesen, die Bourdieu überhaupt nicht erwähnt, daß er in dem Augenblick, als er sich aus
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der katholischen Tradition seiner philosophischen Herkunft gerade löste, in die Nähe von Husserl geriet. Dort waren die Probleme des Neukantianismus auf einem analytischen Niveau durchgearbeitet, das es im klassischen Neukantianismus nicht gegeben hatte. So konnte Husserl für den jungen Heidegger als ein beinahe ebenbürtiges Gegenstück zu dem analytischen Genie des Aristoteles gelten. Jedenfalls erreichte Heidegger ein Niveau begrifflichen Könnens und phänomenologischer Anschauungskraft, das man in dem epigonalen Akademismus, der die Katheder seit langem beherrschte, vergeblich suchte. Demgegenüber war es ganz sekundär, daß Heidegger, bevor er seine transzendentale Selbstinterpretation aufgab, sich mit der neukantianischen Kant-Interpretation kritisch auseinandersetzte. Übrigens sollte man bei dieser Gelegenheit auch vermerken, wie sehr sich Frau Cassirer geirrt hat, wenn sie meinte, daß Heidegger besonders gegen Cohen eingenommen gewesen sei. Außer dem jungen Emil Lask und Georg Simmel war Hermann Cohen zweifellos derjenige unter den neukantianischen Philosophen, vor dem Heidegger den meisten Respekt hatte und den er niemals mit dem akademischen Epigonenturn verwechselte, gegen das er anging. Noch die Begegnung mit Cassirer in Davos bewahrt etwas davon, auch wenn die Konfrontation mit Cassirer im übrigen den von dem Verfasser beschriebenen Unterschied des Intellektuellen der ersten und der zweiten Generation treffend illustriert. Was Bourdieu da sagt, stimmt gewiß nicht nur für das ungeschickte Auftreten Heideggers in Gesellschaft, sondern gewiß auch für die Eigentümlichkeiten seines Stils, der - an den Maßstäben eines urbanisierten Geschmacks gemessen - etwas Bäurisches, Schwerfälliges und Unelegantes hat. Aber freilich klingt es wiederum einfach komisch, wenn der Verfasser diesem Intellektuellen der ersten Generation nachsagt, er sei-im intellektuellen Bereich nicht so ganz sicher zu Hause gewesen. Die unglaubliche Frische, mit der Heidegger an die alten Fragen heranging und die ihn gewiß oft zu Gewalts~mkeiten fortriß, war, um es gelinde zu sagen, das produktive Gegenstück zu solcher »Unsicherheit«. Der Verfasser würde darin wohl wiederum nur Beispiele erfolgreicher Formgebung sehen. Für ihn ist das alles Pose - und muß es wohl auch sein. Das folgt aus seinen Voraussetzungen, über die er vorzieht, keine Rechenschaft zu geben. Wenn er uns damit aufwartet, wie sehr Heidegger Ausdrücke vom Typus »ursprünglich« und »radikal« häuft, bedeutet das für ihn nicht den Ausdruck einer echten Denkanstrengung, die sich selbst anspornt, sondern pure Mystifikation. Adorno hatte den Jargon der Eigentlichkeit noch auf die N achahmer Heideggers beschränkt. Der Verfasser ist von solcher Zurückhaltung frei. Er hat vorentschieden und müßte dazu stehen, daß es überall nur Jargon ist, womit sich Philosophie umkleidet - doch wohl mindestens seit Aristoteles. Gleichwohl will ich betonen, daß das gesamte Unternehmen Bourdieus in
mancher Hinsicht fruchtbar geworden ist. Heideggers politische» Verirrung« kündigt sich in der Tat, wie er zeigt, in vielen stilistischen Untertönen beim frühen Heidegger und über diesen hinaus in Heideggers Stilgebung an. Das ist Bourdieus methodisches Verfahren, das gewiß mit Philosophie nichts zu tun hat, aber einen eigenen Erkenntnisgewinn zeitigt. Doch wiederhole ich, daß man diese Methode, an der Philosophie vorbei zu kommen, auch auf Aristoteles anwenden könnte, wenn uns nur das geschichtliche Wissen zur Verfügung stünde, um dessen »Formgebung« durchschauen zu können. Dann müßte ich am Ende sogar noch seine »Auffassung« der ontologischen Differenz als sozialwissenschaftlich konsequent anerkennen. Das wird mir deutlich, wenn ich in der zweiten Auflage lese, das für Heidegger philosophisch Wesentliche sei in Wahrheit »L'essentiel impense social«. Das darf ich wohl, ohne Widerspruch zu fmden, als die »Euphemisierung« des Sozialwissenschaftlers verstehen, rür den »das Sein« ein leeres Wort bleiben muß. Welche erstaunliche Übereinstimmung mit Heideggers These von der »Seinsvergessenheit«.
Heidegger im Denken der Moderne3 In seinen Frankfurter Vorlesungen, die er in Buchform unter dem Titel >Der philosophische Diskurs der Moderne< vorgelegt hat, hat Jürgen Habermas sein Verhältnis zur Moderne und seine Kritik an der Kulturkritik anderer, vor allem der Neokonservativen, ausführlich durch eine kritische Diskussion führender Denkergestalten der Epoche zu begründen unternommen. Wenn man diese Diskussion mit der· seinerzeitigen Darstellung von >Erkenntnis und Interesse< vergleicht, so drängt sich als erstes die Beobachtung auf, daß jetzt - nach Hegel - in ganz anderem Grade Nietzsche als ein Wendepunkt der Moderne dargestellt wird. Er erscheint geradezu als derjenige, der in die Postmoderne einleitet und sie gleichsam einläutet. Selbst der Beginn von >Der philosophische Diskurs der Moderne< zeigt das. Das Buch beginnt zwar mit Hegel als dem ersten, der die Selbstvergewisserung der Moderne zum zentralen Motiv seines Denkens erhoben hat. Das ist wohlbegründet. Die spätere Aufspaltung der Hegelschen Schule in Rechte und Linke zeigt, wie sehr Hegel als der erste Philosoph seiner Epoche gelten durfte, dessen universalistischer Anspruch durch seine Zweideutigkeit geradezu einlud, politisch Partei zu nehmen. Wenn man auch bei Aristoteles von einer Rechten und Linken gesprochen hat, wie Ernst Bloch, so ist das doch mehr eine indirekte Bestätigung für den ausgezeichneten Fall Hegels. Nun erscheint in dem neuen Buch Nietzsche als ein zweiter. Die Kapitelüber3 Niederschrift nach erster Lektüre des Buches von J. HABERMAS, Der philosophische Diskurs der Modeme. ZwölfVorlesungen. Frankfurt 1985.
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schrift im folgenden Kapitel heißt sogar )Eintritt in die Postmoderne: Nietz-
Diskurs der Moderne, sondern am Diskurs der Antike zu messen gelernt hat, sieht ihn mehr im Zusammenhang der globalen Entwicklung der europäischen Zivilisation, die mit dem griechischen Denken und nicht erst mit der modernen Aufklärung anhebt. Das erscheint einem dann fast so, wie wenn man etwa die philosophische Leistung von Kants >Kritik der Urteilskraft< an Kants eigenem Kunstgeschmack und kunstkritischen Urteil messen wollte. Kant bleibt gleichwohl für die philosophische Ästhetik bahnbrechend. Für das Genie des Denkens ist es oft bezeichnend, daß eine bescheidene, ja eine unzureichende Erfahrung mit der wirklichen Welt!geniale Einsichten erlaubt. So hat auch Heidegger, wie mir scheint, von der Industriewelt der Gegenwart im Grunde mehr begriffen als die meisten, die ein ganz anderes Ausmaß von Erfahrung und Kenntnis von der Welt der Technik besitzen. Man kann sich auch fragen, ob Heidegger nicht das Wesen der Technik besser begriffen hat als die Wortführer des Fortschritts. Ich jedenfalls lese mit Staunen bei Habermas, daß Heideggers Vorstellungen von Kunst von seiner Vorliebe für die Klassik bestimmt seien, und das, obwohl man doch sein entschlossenes Interesse an van Gogh, Franz Mare, Paul Klee, Giacometti, Paul Celan und Rene Char kennt. So kommt mir die philosophische Einordnung Heideggers, die Habermas vornimmt, höchst sonderbar vor. Es ist mir seit langem bekannt, daß Habermas auf das Reizwort »ontologisch« neuralgisch reagiert und dessen phänomenologischen Sinn einfach ignoriert. So passiert es ihm, daß er Scheler und Nicolai Hartmann, die scholastische Reprise des Thomismus, und Christian Wolff als »ontologisch« zusammensieht. Heideggers Gebrauch von »ontologisch« ist darauf völlig unanwendbar. Bei Heidegger bedeutet es in Wahrheit durchaus nicht, daß er die Ontologie der Griechen erneuern will. Das stellt die Dinge auf den Kopf. Hier scheint ein Wortzwang über Habermas Gewalt zu haben. Habermas hat selber sich mit dem Bewußtseinsbegriff von >Sein und Zeit< gründlich befaßt. Da hätte ihm eigentlich die sogenannte »Kehre« aus den inneren Schwierigkeiten der transzendentalen Selbstauffassung des jüngeren Heidegger einleuchten müssen. Statt dessen will er den Faschismus für die Rede vom Seinsgeschick verantwortlich machen! Da kommt er allzu spät. Eher ließe sich hören, wenn man Heideggers philosophisch-religiöse Erfahrungen ins Auge faßt, seine Abkehr vom Imperialismus der katholischen Kirche und seine Kritik an dem akademischen Bildungsbürgertum, das ihm beim Eintritt in das Universitätsleben begegnete. Jedenfalls darf man Heideggers denkerische Entwicklung nicht so kurzatmig aufZeitereignisse beziehen und die Aufgabe nicht so unterschätzen, die ihm mit der Ablösung von seiner christlichen ]ugendprägung und dann von seiner transzendentalen Selbstinterpretation gestellt war, die er in >Sein und Zeit< noch festhält. >Sein und Zeit< ist, wie ich oft betone, eine bloße Station auf den1
sehe als Drehseheibe«(. Darin darf man wohl vor allem den Reflex der französischen Nietzsche-Rezeption sehen und kann es begrüßen, daß als führende Denker Derrida und Foucault behandelt werden. Diese Denker haben in der Tat ein neues Kapitel der Wirkungsgeschichte Nietzsches in unserer Zeit eröffnet. Neben diesen französischen Fortführern Nietzsches ordnet nun Habermas auch Heidegger in diese Perspektive ein. Auch das ist von Heideggers späteren Schriften und seiner Lehrwirkung aus gesehen durchaus gerechtfertigt, zumal angesichts des indirekten Einflusses, den Heidegger selber gerade auf die französische Szene ausgeübt hat. Freilich scheint mir die Auffassungsform, unter der Habermas philosophische Fragen dem schrägen Blick des Soziologen aussetzt, in einem seltsamen Widerspruch zu der dauerhaften Wirkung Nietzsches und Heideggers zu stehen. Wer von dem Ende der Philosophie ausgeht und bestenfalls ihrer vergehenden Erscheinungsform im »Diskurs der Moderne« nachgeht, legt damit einen Maßstab fest, der nicht nur Hegel, sondern gerade auch Heidegger wesentlich verkürzen muß. Gewiß kann man, etwa mit Derrida, Heideggers Einordnung Nietzsches in die Geschichte der Metaphysik und in den Anfang ihrer »Verwindung« als einen zum Scheitern verurteilten Versuch sehen - um doch nochmals nach Hegel der Philosophie (statt der Kunst oder dem Mythos) das letzte Wort zu lassen. Aber es sollte nachdenklich stimmen, daß ein halbesjahrhundert lang Heidegger - und erst recht natürlich Nietzsehe - durch ihre philosophische Potenz Gegenwart besitzen. Dabei war jedenfalls Heidegger nicht gerade von dem Zeitgeist, weder vom Faschismus noch von dem Postfaschismus, begünstigt, und jedenfalls ist es nicht seine sogenannte Seinsmystik oder seine sogenannte Kulturkritik, die das bewirkt, und auch nicht erst Heideggers zweideutig-vieldeutige Umsetzung Nietzsches in seinem Spätwerk. So scheint mir in der Tat Habermas das Pferd vom Schwanze aufzuzäumen, wenn er Heidegger auf die Töne der Kulturkritik oder auf den Utopismus seiner messianischen Eschatologie abhören will und am Ende diesen Tendenzen seine eigentliche philosophische Leistung (der Habermas übrigens genaue und ernsthafte Analysen gewidmet hat) unterordnet. Für den Kenner der Dinge ist es eine volle Umkehrung, daß Habermas in der Konsequenz dieser seiner Interessenrichtung die späte Wendung Heideggers auf die Wirkung Nietzsches zurückführt und seine Kehre mit Nietzsches Umstülpung des Platonismus in Parallele setzt - statt umgekehrt aus Heidegger und seinen eigenen Denkwendungen das Interesse an Nietzsehe zu verstehen. Dabei kommt Heidegger natürlich bei Habermas schlecht weg. Es steht mir nicht zu, und ich finde es auch nicht eben neu - nach Bourdieu - oder förderlich, die gesellschaftspolitischen Aspekte und zeitgeschichtlichen Selbstinszenierungen Heideggers hier zu erörtern. Wer Heidegger nicht am
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Denkweg Heideggers 4 • Wir kennen ja überhaupt nur die einieitenden Teile von )Sein und Zeit<, die am Ende zu dem gescheiterten Versuch führen sollten, in )Zeit und Sein< zu gipfeln und damit in der radikalen Temporalisierung von »Sein« und »Wahrheit«. Für die Alfresco-Malerei von >Sein und Zeit<, das heißt für den Grundriß dieses Riesengemäldes, hat er freilich eine Husserlsche Vorzeichnung benutzt. Sie hat ihm erlaubt, einige seiner Arbeitsergebnisse geschlossen darzustellen, und das schlug durch und hält sich bis heute. Man versteht durchaus, daß ein gesellschaftskritisch interessierter Beobachter des Zeitkolorits von >Sein und Zeit< Heideggers massives Pathos heute anders sieht als seine Zeitgenossen und Hörer. Selbst Heidegger ging es zeitwei5e nicht anders, etwa als er den Gebrauch sah, den die protestantische Theologie von )Sein und Zeit< machte. Oder wie der Rilke der Duineser Elegien anfangs interpretiert wurde. Daran sieht man, was ein solches Kolorit ausmacht. Für den späteren Beobachter ist es wahrhaft erstaunlich. So ist es auch mit der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins, deren Anfänge bis auf1920 zurückreichen und keinen moralischen Appell darstellen V'.rill. Aber um das zu sehen, muß man eben auf anderes den Blick richten, wenn es sich um Philosophie handelt. Da geht einer wie Heidegger lange an Nietzsche vorbei, weil er sich an der konventionellen metaphy~ischen Begrift1ichkeit stößt, und sogar an Hegel, der doch immerhin auch schon den subjektiven Idealismus überwinden wollte. Weder Nietzsche noch Hegel konnten eben dem religiös umgetriebenen Heidegger in seinen denkerischen Nöten wirklich helfen.' Da mußte er sich vielmehr auf seinen eigenen Denkversuch einlassen, die griechische Ontologie zu überwinden. Das läßt sich nicht von dem Geist der Zeit und der modischen Kulturkritik ableiten. Dafür muß man den Diskurs der Moderne im Zuge der gesamten Tradition der Metaphysik sehen, die zu überwinden Hegel wie Nietzsche und so auch Heidegger als die eigentliche Aufgabe sahen. Seinerzeit hat Bourdieu bereits versucht - und darin richtiger als Habermas -, die Herkunft der Heideggerschen Vorprägungen aus dem Ganzen der deutschen akademischen Kultur verständlich zu machen und ihn als den Intellektuellen der ersten Generation zu sehen, in seinen Schwächen, aber auch in seinen Stärken. Bourdieu läßt in diesem Falle die Grenzen seiner eigenen Betrachtungsweise besser erkennen als Habermas, weil er überhaupt nur Instrumentierungen und Euphemisierungen in der philosophischen Fragestellung zu sehen vermag. Auf diese Weise läßt er die philosophischen Intentionen Heideggers ganz beiseite, ob man sie nun religiös motiviert oder philosophisch gewagt fmden mag. Die sozialwissenschaftliche Abweisung aller Philosophie durch Bourdieu ist ausdrücklich; der soziologische Einschlag von Habermas ist es nicht.
Bei beiden erklären sich so polemische Schlagworte wie Seinsmystik oder Alchemie der Worte, die von Heideggers philosophischen Antrieben gleich weit entfernt bleiben. Kritik an der damaligen katholischen Theologie und an dem matten Formalismus der neukantianischen Transzendentalphilosophie, das war wahrlich nicht die Lebensaufgabe, vor die sich der junge Heidegger in seinen Denkversuchen gestellt sah. Was ihm dafür bei aller Kritik zu Hilfe kam, war Husserls phänomenologische Beschreibungskunst und die geschichtliche Grundorientierung Diltheys. Wie konnte er aber selbst Hand anlegen? Heideggers Antwort hieß »Destruktion«. Ich muß erneut betonen, weil das Mißverständnis von den anderen Sprachwelten her überall Wurzeln gefaßt hat: Destruktion hieß für das deutsche Sprachgefühl jenerJahre nicht Zerstörung, sondern entschlossenen Abbau der überlagernden Schichten, damit man von der herrschenden Terminologie aufdie ursprünglichen Denkerfahrungen zurückkommt. Solche begegnen aber nirgendwo anders als in wirklich gesprochener Sprache. So sah er sich auf den Anfang und die griechische Sprache zurückverwiesen, die über das Latein der Antike, des christlichen Mittelalters und sein Fortleben als Formierung des neuzeitlichen Denkens in den Nationalsprachen fortwirkt. So galt es, aufdie ursprünglichen Denkerfahrungen zurückzuführen, wie er sie in der griechischen Philosophie zu erkennen suchte. Mit Vorliebe bediente er sich selbst damals gegenüber allen Ansprüchen auf eigene Begrifflichkeit des Ausdrucks »formale Anzeige«. Damit folgte er Kierkegaards Selbstverständnis, ein religiöser Schriftsteller ohne Autorität zu sein. Man sollte auch den späteren Heidegger, wenn er die Sprache Nietzsches oder Hölderlins spricht, in diesem Zeichen lesen. Sonst landet man bei der Seinsmystik.
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Siehe dazu etwa >Der eine Weg Martin Heideggers< in Ges. Werke Bd. 3 (Nt. 28).
Hermeneutik und ontologische Differenz
5. Hermeneutik und ontologische Differenz (1989)
Wenn ich mich an die ersten Vorlesungen Heideggers t die ich selber 1923 in Freiburg und 1924 in Marburg gehört habe t erinnere, so war damals das Wort »ontologische Differenz« wie ein Zauberwort. Es kam immer wieder mit dem ganzen Nachdruck vor, mit dem ein konzentrierter Denker, auch ohne im einzelnen die Bezüge und die Bedeutung dessen, was er sagen wollte, wirklich in Worte zu fassen t es spüren ließt daß hier etwas ganz Entscheidendes anvisiert wird. So war es mit diesem Sprachgebrauch des jungen Heidegger. Er war fast wie eine andere gewöhnliche Redensart, mit der wir sehr oft abgespeist wurden t wenn wir im Seminar unsere eigenen Denkversuche und kleinen Beiträge vorzubringen suchten. Heidegger sagte dann: »Ja, ja - aber das ist ontisch, nicht ontologisch.« Wir wollen uns zu verständigen suchen t was dieser Unterschied »ontisch« - »ontologisch« eigentlich meint. Den Ausdruck »ontologische Differenz« hat Heidegger wie einen symbolhaltigen Terminus immer wieder gebraucht. Man sprach jedoch niemals von »theologischer« Differenz. Dafür war die Erstprägung des neuen Heideggerschen Terminus zu stark und zu exklusiv. Der Sache nach bleibt es aber richtig, beides zu fragent was meint >das Sein< und was das Göttliche und was Gott ist. Für die theologische Wendung hatte damals Rudolf Otto die berühmte Formulierung »das ganz Andere« vorgeschlagen. In diesem Ausdruck liegt offenkundig ein Bezug auf Differenz. Das Differente, das Andere, heißt auf griechisch to heteron, und das >Heteron< ist immer ein heteron tou heterou, ein anderes des Anderen. Mit Rudolf Ottos Ausdruck besteht der Theologe auf der absoluten Differenz, die der Christ als den Unterschied zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen kennt. Da versteht man das Andere wahrlich nicht im logischen Sinne des Wortes heteron. Ich möchte noch ein anderes Wort anführen, das mir aus diesen ersten Zeiten bei Heidegger haften geblieben ist. Wenn man lernt, haftet anfangs immer ein halbverstandenes Wort. Man sollte nicht unterschätzen, wieviel man dabei aufnimmt - gewiß mehr, als man sich selber bewußt ist, und mehr, als man wirklich wiedererkennt, wenn man zu verstehen beginnt. Ein solches anderes Wort, über das ich bis heute nachdenke und das alle Kenner
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des Werkes Heideggers sofort wiedererkennen, ist die Wendung »das Seiende im Ganzen«. Da habe ich anderen Heidegger-Kennern nichts voraus, und doch gehöre ich zu den wenigen t die diesen Ausdruck damals zunl ersten Male als ebenso vieldeutig wie bedeutsam erfahren haben. Der junge Heidegger gebrauchte diesen Ausdruck fast ebenso wie die »ontologische Differenz«. Es ist eine sehr vage Formulierung. Sie deutet an t wie ich heute erläutern würde, daß Heidegger damit eine allzu herausfordernde terminologische Zuspitzung vermied und nicht eindeutig Sein und Seiendes unterscheiden wollte, wie es der spätere Heidegger mit einem wahren Vergnügen tat, und am Ende das Sein nicht nur von dem Seienden und der Seiendheit unterschied, sondern sogar das Sein von dem mit >y< geschriebenen »das Seyn«. In der Terminologie des späteren Heidegger artikulierten alle diese Ausdrücke das t was er damals »das Seiende im Ganzen« nannte. Die Wendung wird einem anl ehesten klar, wenn man an die ersten Anfänge des griechischen Denkens zurückdenkt. Das hatte Heidegger wohl im Auge, wenn er mit einem gewissen terminologischen Schliffnicht »das Sein« sagte, sondern »das Seiende im Ganzen«. Ich sehe heute darin die beste Formulierung für die Intention, die das Lehrgedicht des Parmenides in Verse gefaßt hat. Da ist von dem Sein die Rede, und dafür heißt es auf griechisch: >das Seiende< (to on). Was an diesem Wort auffällt t ist der Singular. Das war ja die Auszeichnung des Parmenideischen Denkens, daß da einer aufstand, der das Nicht-Sein und das Viele verbannte - und das tat er angesichts des gewaltigen Ausbruchs von kosmologischem, astronomischem, geographischem Weltwissen, Himmelswissen, Sternenwissen t Erdwissen, der sich in Milet ereignet hatte. Milet war eines der großen Zentren der Kolonialzeit, in der die Griechen den ganzen Mittelmeerraum zivilisatorisch für sich erschlossen. Heideggers Wendung »das Seiende im Ganzen« beschreibt auftreffende Weise genau das, was das Lehrgedicht des Parmenides vorführt. Da fragt man nicht nach all dem vielen Seienden, was es im Grunde ist, ob Wasser oder Luft oder was immer, und wie all das einander das Gleichgewicht hält. Es geht nicht mehr um das Entstehen und Vergehen, das einander gegenseitig begrenzt, wie der Wechsel von Tag und Nacht, von Wasser und Land und all dem, was einer seefahrenden Nation wie den Griechen bei solchen Beschreibungen sofort im Blick war. Jetzt heißt es bei Pannenides )das Seiende< und )das Eine<, das alles Seiende umfaßt. Dieses Neutrum, dieser Singular )das Seiende<, ist ein erster Schritt zum Begrifr. Heidegger hiel t sich damals gegenüber der späteren Formulierung »das Sein« bewußt zurück - vielleicht gar schon, damit das Sein nicht als das Sein des Seienden, das Was-Sein im Sinne der Metaphysik, mißverstanden werde. Parmenides hat 1 Siehe dazu auch lParmenides oder das Diesseits des Seins< in Ges. Werke Bd.7 (Nr.l).
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Hermeneutik und ontologische Differenz
in der Tat »das Sein« als dieses Seiende im Ganzen beschrieben, wie es überall gleichmäßig wie ein einziger riesiger Ball alles erfüllt. Nirgends ist nichts. Wenn Heidegger später von der »ontologischen Differenz« spricht, meint er das in dieser ersten Formel noch Unausgedrückte. Er zielt damit auf den Unterschied des Seins von allem Seienden. Was das heißen soll, ist dunkel genug. Kein Mensch weiß im Grunde, was der Begriff »das Sein« meint, und trotzdem haben wir alle ein erstes Vorverständnis, wenn wir das hören, und wir verstehen, daß hier das Sein, das allem Seienden zukommt, nunmehr zum Begriff erhoben wird. Damit ist es von allem Seienden unterschieden. Das meint zunächst »die ontologische Differenz«. Der junge Heidegger hat schon immer gewußt, daß es ein wahres Rätsel ist, daß wir zwar vieles Seiende erfahren und benennen, aber daß wir auch das Sein des Seienden benennen und bedenken. Um das Rätselhafte dieser Unterscheidung zu illustrieren, erzähle ich eine Geschichte. Es war in Marburg. Ich begleitete mit meinem Freunde Gerhard Krüger Heidegger nach der Vorlesung nach Hause. Es muß noch in der Schwanallee gewesen sein, deswegen kann ich es genau datieren - es muß im Frühjahr 1924 gewesen sein. Damals waren wir also schon tüchtig mit der ontologischen Differenz traktiert worden, und so fragten wir Heidegger, wie man das eigentlich mache, wie man dazu komme, diese ontologische Unterscheidung zu machen. Vermutlich wollten wir auf den Begriff der Reflexion hinaus, der im deutschen Idealismus den Anfang des Denkens bildete. Heidegger sah uns aber ganz überlegen an und sagte: »Aber nein, diese Unterscheidung wird doch nicht von uns gemacht.« Das war 1924lange vor der sogenannten »Kehre«. Die Kenner des späteren Heidegger wissen das längst, daß der Unterschied nicht etwas ist, was jemand macht, sondern daß wir in diesen Unterschied gestellt sind, in diese Differenz. )Sein< zeigt sich )im< Seienden, und darin liegt bereits die Frage, was es heißt, daß es Seiendes )gibt<. Einleitend ließe sich also sagen, wie es Heidegger in dem späten Nietzsche-Werk formuliert hat, unser Denken befinde sich von Anbeginn an auf dem Weg zur Unterscheidung des Seienden vom Sein. Bekanntlich hat sich der französische Heideggerianismus oder Nietzscheanismus an diesen Sinn von Differenz angeschlossen und im Anschluß an Heidegger, von ihm inspiriert, das Wort )Difference< absichtsvoll falsch geschrieben und statt dessen )Differance<. Offenbar will diese Änderung den lateinischen Doppelsinn bewußtmachen, der in )differre< liegt, nämlich Aufschub oder Unterschied. Der Unterschied ist dann also nicht etwas, was man macht, sondern etwas, was sich da tut, sich auftut wie ein Abgrund. Etwas tritt auseinander. Ein Aufgehen findet statt. Beim späten Heidegger heißt das »die Öffnung des Seins«, das Ereignis, das der spätere Heidegger in zahlreichen Denkversuchen auf den Begriffund
zur Anschauung zu bringen versucht hat. Unter diesen Umständen mußte der Rückgang auf die ersten Schritte des griechischen Denkens rür Heidegger naheliegen. Das war ein altes Thema Heideggers, )der Anfang der abendländischen Philosophie<, was jetzt in das Zentrum trat. Die Titellinie klingt heute wahrscheinlich schon recht altmodisch. Man muß sich dieser Jahre erinnern, in denen einer der größten Bucherfolge der Zeit, Spenglers Buch )Der Untergang des Abendlandes< hieß. All das hörte man mit, wenn der junge Heidegger über den Anfang der abendländischen Philosophie las. Man hörte immer schon etwas von einem Ende mit, das zu diesem Anfang gehört - und in der Tat, welcher Anfang ist denn überhaupt ein Anfang, der nicht Anfang eines Endes ist? Wir könnenja überhaupt nur von einem Ende her so etwas wie Anfang denken. So reicht der Leitbegriff »ontologische Differenz« von den ersten Anfängen Heideggers bis zu den spätesten Formulierungen seines Denkens. Man kann bei Heidegger noch in spätester Zeit die unvorgreifliche Wendung »das Seiende im Ganzen« gelegentlich finden. Der zweite Leitbegriff, den ich ebenso einleitend besprechen möchte, ist der Ausdruck »Hermeneutik«. Das ist kein im Bereich der Philosophie üblicher Ausdruck. DerJurist wußte, 'was das war, aber er nahm es - damals - nicht gerade wichtig. Der Theologe ebenso. Selbst bei Schleiermacher, dem.Großvater der modernen Hermeneutik, ist Hermeneutik noch fast wie eine Hilfsdisziplin und jedenfalls der Dialektik untergeordnet. In seiner Nachfolge ist bei Dilthey Hermeneutik der Psychologie eingeordnet. Es war erst die Wendung, die Heidegger der Husserlschen Phänomenologie gab und die zugleich die Rezeption des Diltheyschen Werkes durch die Phänomenologie bedeutete, die der Hermeneutik erstmals eine grundlegende philosophische Bedeutung gegeben hat. Die erste Vorlesung, die ich bei Heidegger hörte, im Jahre 1923, hatte den Titel )Ontologie. Hermeneutik der Faktizität<. Die ganze Spannweite unseres Themas ist in dieser Titellinie der Vorlesung offenkundig. Wie akademische Ankündigungen sind, hat auch diese hier eine akademische Vorgeschichte. Ich glaube zu wissen, daß Heidegger damals im letzten Augenblick von einem geplanten Titel abgehen mußte, weil ein älterer Fachgenosse etwas ähnliches vorhatte. Vermutlich hat er sich geholfen, indem er »Ontologie« durch »Hermeneutik« einschränkte. Jedenfalls ist es ein recht spannungsreicher Titel, der so herauskam. Was bedeutet hier »Ontologie« -und was ist »Hermeneutik«? Heidegger konnte in seinen einleitenden Vorlesungen oft ziemlich pedantisch sein. Später spürte man als erfahrener akademischer Lehrer, der man selber inzwischen geworden war, wie der junge Heidegger seinen enormen Ideenreichtum und die Dichtigkeit seiner Gedanken immer wieder vor sich herschob, wie in der Sorge, ob das wohl rur das ganze Semester reichen wird. So macht es ein junger Anfänger in der Philosophie - besonders, wenn er etwas zu
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sagen hat. Das war bei Heidegger auch nicht anders - nur, daß er sehr viel zu sagen hatte. So entlud sich bei ihm meist in der letzten Vorlesungswoche geradezu ein stürmisches Gewitter, in dem a11 das aufblitzte, was ihm vorschwebte und was er noch nicht zur Sprache bringen konnte. Aber was ist »Hermeneutik der Faktizität«? Gewiß, man kann auf den alten Hermeneutikbegriff zurückgreifen. Danach ist die Hermeneutik die Lehre vom Verstehen und die Kunst der Auslegung des so Verstandenen. Das hat Heidegger auch in der Einleitungsvorlesung von 1923, die jetzt gedruckt vorliegt2 , seinen Studenten umständlich vorgetragen. Dann aber, nach dieser Vorbereitung, faßte er die gegenwärtige Problemlage der Philosophie zusammen. Dieses Kapitel ist zwar noch nicht von so erleuchteter Klarheit wie bei dem späteren Heidegger zumeist. Aber man kann an diesem Kapitel sehen, wie der junge Heidegger damals die Lage der Philosophie ansah. Da sind zwei Dinge. Das eine ist der Historismus. Das war vor allem die große Figur Diltheys, seine Schule und seine Nachfolge. Durch sein >historisches Bewußtsein< war uns allen ein neues methodisches Selbstbewußtsein abgenötigt. Wie der deutsche Idealismus vom Absoluten zu reden, ging nicht mehr an. Wir haben uns ständig mit der Frage auseinanderzusetzen, wie man angesichts des Aufgangs des geschichtlichen Bewußtseins von einem philosophischen Gedankenwerk überhaupt noch Wahrheitsgeltung in Anspruch nehmen dürfe. Dieser Historismus war die Herausforderung, unter der das Philosophieren in meinerJugend stand. Es war das Problem des historischen Relativismus, vor den man sich gestellt sah. Es gibt Leute, die mich heute auch für einen Relativisten halten. Heidegger hat aber gezeigt, daß das nur vom fiktiven Standpunkt eines absoluten Zusehens aus gelten konnte, in dem man sich begnügt, mit Objektivität festzustellen und zur Kenntnis zu nehmen, was in den verschiedenen Zeiten der Denkgeschichte des Abendlandes gedacht worden ist. Dem stellte nun Heidegger eine andere extreme Möglichkeit entgegen. Es klingt bei dem damaligen Heidegger sehr taktvoll - aber wer weiß, ob es nicht vielleicht herausfordernd gemeint ist, wenn es taktvoll klingt. Ich würde doch sagen, daß injedem Falle der Angeklagte das System der Philosophie ist. Man hört förmlich Rickert. Heidegger beschreibt so ein Ordnungsdenken, das letzten Endes das Zeitliche ins Ewige einzuordnen sucht. Das ist eine schöne und interessante Formulierung. Danach stünde dem Relativismus eine Philosophie entgegen, die das Absolute in systematischer Form umgreift und alle Probleme der Geschichte der Philosophie in einen großen Zusammenhang einordnet. Heideggers Gegenthese war nun: in diesen beiden Formen ist das Wesentliche der Philosophie versäumt und verdeckt. Worauf es wesentlich ankommt, sei vielmehr, die 2
Gesamtausgabe Bd. 63 (Frankfurt 1988). S. 9ff.
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VerTNurzelung des philosophischen Fragens im faktischen menschlichen Dasein zu finden. Faktizität meint also das Dasein des Menschen. Der Sache nach meint es noch mehr als das. Ich habe mir über die Wortbildung Gedanken gemacht, woher »Faktizität« eigentlich herrührt. »Faktum« ist doch eigentlich gerade genug. Nun war im Neukantianismus die letzte Grundlage des Apriorismus das Faktum der Wissenschaft. Das soll gerade nicht mehr genügen. Wortgeschichtlich gesehen dürfte es sich bei dem Wort »Faktizität« anfangs um das theologische Problem handeln, das auf Hegels Synthese von Glauben und Wissen gestellt war. Die christliche Kirche mußte ihm gegenüber auf dem Osterglauben, d. h. auf dem Faktum der Auferstehung, beharren. Faktizität unterstreicht die Tatsächlichkeit der Tatsache. So wird es zu einer herausfordernden Formulierung für alles Verstehenwollen, etwa so, wie wenn in )Sein und Zeit< von der Geworfenheit des Daseins die Rede ist. Zum menschlichen Dasein gehört, daß man, ohne gefragt zu' sein, auf die Welt kommt und abgerufen wird, ohne gefragt zu werden. In aller seiner »Geworfenheit« lebt einer auf seine Zukunft hin, auf die er sich entwirft. Hermeneutik konzentriert sich damit auf etwas Unverständliches. Das gilt indes für Hermeneutik irgendwie immer. Hermeneutik wird durch das Unverstandene oder Unverständliche herausgefordert, dadurch auf den Weg des Fragens gebracht und zum Verstehen genötigt. Darin liegt durchaus kein vorgreifliches Herrsein über alles Sinnhafre. Vielmehr ist es ein Antworten auf die sich immer erneuernde Herausforderung, etwas nicht zu Verstehendes, überraschend Anderes, Fremdes, Dunkles - und vielleicht Tiefes, das wir verstehen müßten. Indessen, auch das verharmlost noch das Paradox, das in der Hermeneutik der Faktizität liegt. Nicht dies oder jenes Unverstandene, sondern das schlechthin Unverständliche, das Faktum, da zu sein, und noch mehr die Unverständlichkeit, nicht zu sein, wird auf Sinn hin entworfen. Hier kommen wir an Einsichten des jungen Heidegger, die ihn zu einem Zeitgenossen der Wirkung Nietzsches und der Lebensphilosophie gemacht haben. Es ist die Einsicht, daß das Leben nicht nur erwacht und aufgeht wie ein Samenkorn und sozusagen offen ist für alles Seiende, wie der Same aufgeht bis zu Blüte und Frucht. So hat die Metaphysik mit Aristoteles den Nous und Hegel das absolute Wissen gedacht. Das Leben ist dagegen so, daß es ständig Verdeckungen schafft und um sich aufrichtet. Es gibt ein Wort °Heideggers, an dem manche unglückliche Heidegger-Übersetzer gescheitert sind - und einige schwache Interpreten auch: »Das Leben ist diesig.« Man muß etwas vom Segeln verstehen und vom Meer wissen, um dieses Wort richtig zu verstehen. Es hat nichts mit dem deutschen Wort »dies hier« zu tun. Diesig heißt nebelig. Der Fortgang des Heideggerwortes zeigt es deutlich, den die Interpreten offenbar erst recht nicht verstanden haben. Es heißt nämlich vom Leben weiter: »Es nebelt sich ständig selber
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wieder ein.« Gewiß, das wache Leben ist Helle und Offenheit für alles, was ist - und dann ist auf einmal wieder alles verdeckt und verborgen. So kommen wir immer wieder an eine Grenze aller Offenheit, die immer wieder weiter zurückweicht. Als Philosoph hat Schelling solche Grenze mit dem Ausdruck »das Unvordenkliche« bezeichnet. Das ist ein sehr schönes deutsches Wort. Sein Zauber beruht darauf, daß in ihm ein wirklicher Hauch von dieser Vorausbewegung spürbar ist, die immer vordenken und vorausdenken will und doch immer wieder an etwas kommt, wo man nicht mehr durch Vorstellen oder Vorausdenken dahinterkommen kann. Das ist das Unvordenkliche. Jeder Mensch kennt etwas davon. Der Theologe würde noch mehr davon zu sagen wissen als ich. Ich erinnere hier nur etwa an die Unvordenklichkeit der Heimat. Das ist etwas, was man niemandem vermitteln kann, was sie für einen ist. Besitz? Verlust? Wiedersehen? Gedächtnis und Rückkehr zur Erinnerung? All das sind Unvordenklichkeiten, welche sich im menschlichen Leben versammeln. Sie mögen die Anstrengung unseres Verstehens herausfordern. Man möchte freilegen, was da noch so im Dunkeln liegt. Und doch erfährt man, wie es sich ständig entzieht und gerade darum immer da ist. Eben davon weiß die Hermeneutik der Faktizität. Solche Hermeneutik folgt offenkundig nicht der ordnungssüchtigen Neugier, mit der das System der Philosophie aufKathedern gelehrt wird. Es handelt sich auf seine Weise um ein anderes Verstehen -- um das, was das Leben selber zu verstehen gibt. Hermeneutik der Faktizität steht vor dem Rätsel, daß das ins Da geworfene Dasein sich selber auslegt, sich selber ständig auf Möglichkeiten entwirft, auf Kommendes, das einem begegnet. Heidegger hat dies »als« als das hermeneutische »als« thematisch gemacht. In Wahrheit handelt es sich dabei um eine Übersetzung aus dem Griechischen - und mit einem Sprung sind wir gleich wieder bei unseren Anfängen. Aus der Begründung der Metaphysik durch Aristoteles kennen wir dies »als«: das >Seiende als Seiendes< (on he on). Das meint nicht das Seiende, sondern das Sein, das es ist, und daß es ist, abgelöst von allem, was ihm bald dies, bald jenes - zukommen mag. Später hat sich das Sein, das so von allen möglichen Prädikationen oder Akzidenzen unabhängig und abgelöst ist, in dem neuplatonischen Begriffswort »das Absolute« formuliert. Heidegger hat schon früh in Aristoteles Hilfe für das, was Sein eigentlich ist, gesucht. In einer seiner frühen Vorlesungsnotizen findet sich der Satz: » Von der Hermeneutik der Faktizität zurück zu A.« Das meint natürlich Aristoteles. Wenn man von der hermeneutischen Faktizität, d. h. der Selbstauslegung des Daseins, ausgeht, dann zeigt sich, daß sich das Dasein immer auf seine Zukunft entwirft und dabei zugleich seiner Endlichkeit inne ist. Das hat Heidegger in der bekannten Wendung vom» Vorlaufen zum Tode« als die Eigentlichkeit des Daseins ausgezeichnet. Das Sein im Da ist so Dasein zwischen zwei Dunkelheiten, der Zukunft und der flerkunft. Das lehrt uns
die Hermeneutik der Faktizität. Sie zielt auf den radikalen Gegenbegriff zu Hegels absolutem Geist und seiner Selbstdurchsichtigkeit. Was >Sein< eigentlich heißt, ist aber trotz aller Erfahrungsdichte einem jeden, der im Denken des Abendlandes und in seinem religiösen Horizont erzogen ist, dunkel. Was ist >es ist da Es ist das Geheimnis des Da, nicht dessen, was da ist, sondern daß >da< ist. Das meint nicht Dasein der Menschen, wie in der Wendung vom >Kampf ums Dasein<, sondern daß im Menschen das Da aufgeht und in aller Offenheit zugleich verborgen bleibt. Beides hat Heidegger in wohlbekannten Auseinandersetzungen über den Begriff der >Aletheia< als Unverborgenheit und als Verdeckung zum Thema gemacht. Es ist die Verdeckungstendenz des Daseins, die die Aufgabe der Hermeneutik insbesondere stellt. Sie muß das abdecken und das freilegen, woran immer das Verstehenwollen sich stößt. Das heißt >Destruktion< und meint im Sprachgebrauch der zwanziger Jahre nicht, was unsere englischen und französischen Übersetzer dabei im Sinn haben, nämlich, daß das destruktiv ist, Zerstörung und Nihilismus beweise. Es ist Abbau zur Freilegung 3 . Es geht gegen Verdeckung und unternimmt die Freilegung dessen, was zugedeckt war. Verdecken geschieht aber in aller Selbstauslegung des Daseins. Jedes Dasein versteht sich aus seiner Umwelt und seinem täglichen Leben, und artikuliert sich in der sprachlichen Form, in der es sich bewegt. Insofern gibt es Verdeckung immer und überall- und immer auch Destruktion von Verdeckungen. Wir gelangen so aber auch zu einem engeren technischen Sinn von Destruktion, der Heideggers philosophische Anfänge in weitem Umfang bestimmt hat. Er hat uns gezeigt, wie Destruktion an den Begriffen geübt werden muß, in denen die zeitgenössische Philosophie zu denken pflegte. Auch das war Destruktion, und auch das geschah um einer Freilegung willen. Was ist >Bewußtsein< überhaupt? Das fuhrt von Hegel und Kant zu Leibniz und Descartes, zur Spätscholastik, zum christlichen Neuplatonismus und zum heidnischen Platonismus und am Ende zu Aristoteles, zu Plato und zu Parmenides. Wenn Heidegger in diesem Zusammenhang von Destruktion spricht, hat er vor allem Aristoteles im Auge, und vor allem den thomistisch interpretierten Aristoteles im Blick, in dem er erzogen war. Aberjetzt, Anfang der 20erJahre, hat sich das Genie seines eigenen Denkens ins Freie gearbeitet, und so kehrt er nun zu neuen Aristoteles-Studien zurück. Da entdeckt er, daß auch in Aristoteles ursprüngliche Selbstausgelegtheit des menschlichen Daseins zu finden ist, wenn auch nicht sofort in seiner >Physik< und >Metaphysik< kenntlich, die beide für die Geschichte der Metaphysik natürlich zentrale Bedeutung haben. Heidegger meint das of3 Dazu ausführlicher >Destruktion und Dekonstruktionc in Ges. Werke Bd. 2 (Ne. 25) und in diesem Band, S. 17 u. Ö.
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fenbar in der zitierten Notiz »zurück zu Aristoteles«, daß er von der Selbst-
Fallens als solchen, sondern vor allem das Sein der >vis motrix< des lebendigen Seienden. Das hat Heidegger zu sehr tiefsinnigen Analysen benutzt, die man in seinem Aufsatz von 1939 über das zweite Buch der >Physik< kennt4 . Im Grunde geht es dort bereits um den Zusammenhang von Zeit und Sein. So 'war in gewissem Sinne die aristotelische >Physik< das wichtigste Buch des Aristoteles. Da wird im Grundcharakter der reinen Bewegtheit das Da des Seins sichtbar - und eben dadurch verdeckt. In dem rätselhaften Wunder des geistigen Wachseins liegt, daß Etwas-Sehen und Etwas-Denken nicht Bewegung ist, die von etwas zu seinem Ende fuhrt. Vielmehr, wer etwas erblickt, der sieht es nun erst recht, und wenn sich Denken auf etwas richtet, dann denkt man erst recht darüber nach. So ist Bewegtheit Sich-im-SeinHalten, und durch diese Bewegtheit des menschlichen Wachseins weht der ganze Atem von Lebendigkeit, der einen immer wieder für neues Vernehmen offen sein läßt. Das sind Grundzüge des »Da«, die sich an den Kategorien und Begriffen zeigen lassen, mit denen Aristoteles zuerst in der >Physik< gearbeitet hat. Zu diesen Begriffen gehört der Begriff der Energeia, das Ander-Arbeit-Sein (bzw. ein Werkstück in Arbeit). Das Fertige heißt dann das Telos, und in der Tat ist es die höchste Auszeichnung der lebendigen Natur, daß es Bewegtheit in sich selber hat (schon ganz lebendig ist, sein telos hat). Für die kunstfertigen Griechen und ihre Fertigkeiten war nur das wahrhaft da, was vollkommen fertig ist, so ganz da wie all das, was immer ist oder so seiend sich ständig verfertigt. So führt die aristotelische >Physik< zur Ontotheologie. Als Heidegger seine Entwürfe zur Metaphysik des Aristoteles plante, war er offenkundig ganz davon durchdrungen, daß >Sein< - ob Lebendiges oder nicht - seinem eigenen Sinne nach Bewegtheit, in Bewegung ist, d. h. Energeia des dynamei on ist. Aristote1es hatte im Denken seiner Vorgänger die begrifflichen Mittel erarbeitet, die zu sagen vermögen, was Sein heißt, dem beständigen Anderssein zum Trotz, das in Bewegung ist. Als,Heidegger sich diese Dinge erarbeitete, hatte er es offenkundig in einer letzten Abzweckung auf theologische Kritik getan. So habe ich in meinem Einleitungsaufsatz zu den frühen Papieren Heideggers den Titel gewählt: >Heideggers »theologische« Jugendschrift<s. Das spielt an Hegels theologische Jugendschriften an, von denen die Gelehrten mit großem Rechte behaupten, es sei doch eigentlich wenig Theologie darin und es sei weit mehr ein politischer Traktat. Auch im Falle von Heideggers »theologischer« Jugendschrift handelt es sich dem Anschein nach nicht um Theologie, sonclern es geht um Aristoteles. Und doch war es im Grunde eine theologische Kritik, auf die Heidegger
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auslegung des Daseins, die er in Aristoteles fand, und von der großartigen Denkdisziplin des Aristoteles lernen wollte. So begann er mit der >Rhetorik<, Da wurde ihm das zweite Buch der >Rhetorik< für die Daseinsbedeutung der Befindlichkeiten wichtig. Daran schloß sich das 6. Buch der Nikomachischen Ethik, die Lehre von der Phronesis, aus der ich später selber soviel Kapital geschlagen habe. Heidegger sah in dem frühen Programm auch die Erhelltheit des Daseins und suchte von hier aus den Zugang zur Metaphysik, und unternahm es, diese aus ihrer scholastischen Ferne ins Leben zurückzubringen. So hat es Heidegger selber gesehen, und so kam es, daß er das on he on, das Seiende als Seiendes, die» Seinsfrage« , mit aristotelischen Augen zu sehen versucht hat, und das heißt in einer Gegenstellung zu Plato, die vielleicht auf einer fragwürdigen Konstruktion beruht. Aber in der Sache ist es richtig; Was immer >Sein< ist, muß Bewegtheit sein, die zum Sein gehört. Niemand kann doch bezweifeln, daß wir in unserer Umwelt bewegtes Seiendes in seiner Bewegtheit sehen. So hat Heidegger bereits in den ersten Entwürfen von 1922/23 mit Aristoteles versucht, das höchste Sein als Bewegtheit zu denken und damit einen Gottesbegriffanzuzielen, dessen Wesen Bewegtheit ist und was alles Seiende anwesend sein läßt. Man versteht von da aus, daß im Zeichen des Aristoteles in der Geschichte der christlichen Kirche die pantheistische Häresie immer wieder eine Rolle gespielt hat. Weniger angesichts der aristotelischen Beschreibung des Gottes als der erste unbewegte Beweger als daß dessen Göttlichkeit sich in der Bewegtheit des ständigen Vernehmens von allem, was ist (d. h. was anwesend ist), hält, ist das kein Wunder. So hat sich Heidegger auch besonders für Siger von Brabant interessiert, und als er nach Marburg kam, hat er als erstes Mandonnets >Les philosophes belges< zugleich mit der >Summa< des Thomas von Aquin anschaffen lassen. Nun müssen wir aber einen Schritt weitergehen, um zu sehen, wie sich der griechische Anfang in einer langen Denkgeschichte zu einem prägenden Grundschema der Ontologie transformiert hat und von Aristoteles' >Physik< aus Metaphysik genannt wurde. Was hier Physik meint, ist nicht, daß etV\~as in Bewegung ist, sondern daß etwas so ist, daß es in sich selbst im Zustand der Bewegtheit ist (aufgrund der >Arche< der Kinesis). Wir müssen uns dafür völlig von dem Bewegungsbegriff unserer Physik trennen. Diese sieht ganz davon ab, was sich da jeweils bewegt, und sie gewinnt auf diese Weise die Grundsätze der Mechanik aus dem Verhältnis von Ort, Zeit und Geschwindigkeit, die der Bewegung als solcher zukommen. Die galileische Physik abstrahiert also ganz von dem, was sich dajeweils bewegt. Man erinnere sich seiner Schulerfahrung. Das hat man im Physikunterricht gesehen, daß eine Bettfeder in annäherndem Vakuum fast genauso schnell fällt wie eine Bleiplatte. Bewegtheit meint dagegen nicht nur so etwas wie diesen Vorgang des
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als der christlich bedrängte Denker zielt. Aus diesem Interesse hat er den Aristoteles so stark gemacht und ihn aus den Grundantrieben des menschlichen Daseins zu verstehen gesucht, wie Aristoteles in seiner >Rhetorik( und .seiner praktischen Philosophie das Menschsein verstand. Heidegger wollte prüfen, ob die aristotelische Metaphysik und ihre Frage nach dem Sein dem genügte, was er selbst suchte. Es ist doch offenkundig nicht das, was wir suchen, wenn wir als christlich Erzogene mit dem U rgedanken der Inkarnation konfrontiert werden - etwas, das absolut nicht mit der >Parousia( verwechselt werden darf, in der bei den Griechen Götter den Menschen erschienen. Wie soll man mit dem Mysterium der Trinität zu Rande kommen, dem sich selbst Augustin nur mit vorsichtigen Analogien zu nähern gewagt hat? Das sind ganz anders geheimnisvolle Dinge, denen wir als Denkende nicht gewachsen sind und die wir nicht mit den Kategorien der aristotelischen Physik und Metaphysik und noch weniger"mit der neuzeitlichen Wissenschaft begreifen können. Insofern ist der Abendmahlsstreit zwischen Luther und den anderen Reformatoren ein symbolkräftigerAusdruck für die begriffliche Schwierigkeit, die Heilsbotschaft der christlichen Kirche denkend zu bewältigen. Heideggers Rückgang auf die aristotelische Metaphysik ist als ein Rückgang in theologiekritischer Absicht zu verstehen. Das ist beinahe ebenso herausfordernd, wie das handschriftliche Motto herausfordernd ist, das am Anfang seines Programms stand. Dort heißt es, mit ihrer Aufnahme des Aristoteles habe die christliche Theologie lediglich eine Begrifflichkeit geborgt - und zwar eine, die nicht geeignet ist, das auszudrücken, woraufes im Christusglauben ankomme. Nun geht es darum, sich klarzumachen, daß wir alle nicht mehr in den griechischen Anfängen leben. Die Wiederbegegnung mit Aristoteles und mit dem ganzen griechischen Denken, das Jahrhunderte der abendländischen Geschichte beherrscht hat, ändert nichts daran, daß wir von unserer eigenen abendländischen Erbschaft unwiderruflich geprägt sind. Gewiß tritt jetzt heraus, daß diese Denktraditionen den ursprünglichen Anfängen gegenüber Verdeckungen sind. Aber auch jede Verdeckung hat ihre Lebensfunktion. Das wissen wir alle. Was wäre Leben ohne Vergessen? Und doch stehen wir vor der Aufgabe, in unserem Denken Verdeckungen abzutragen, auf ursprüngliche Erfahrungen zurückzugehen und diese in den Begriff zu erheben. Dafür bleibt uns das griechische Denken ein Muster. Die ursprünglichen Erfahrungen des griechischen Denkens sind - angeeignet und doch unbedacht - in die Wissenschaftskultur unserer Gegenwart eingegangen. Es bedurfte der raffinierten Denkkunst eines Hege1, um zwischen moderner Aufklärung und christlicher Botschaft eine gewisse Versöhnung ztlstandezubringen. Gerade deshalb war Hegel für Heidegger eine ständige Herausforderung. Heidegger hat in Hegel den letzten Griechen gesehen. Was kann aber uns in unserer Auseinandersetzung mit der modernen Aufklärung eine
bloße dialektische Vermittlung helfen? Das hat Heidegger in seinen letzten Lebensjahren ständig im Blick gehabt, und gewiß auch bei jener Griechenlandfahrt in der Ägäis, als ihm aus dem Morgennebel eine Insel auftauchte. Da schrieb er mir: »Wir denken die Griechen noch immer nicht griechisch genug. « Was war für die Griechen >Sein - Sein ist >Erscheinung<. Was hat er damit sagen wollen? Daß wir unsere Ferne von ihnen immer wieder vergessen? Oder daß wir, indem wir ihrer innebleiben, auf unserem eigenen Wege vorankommen? Andenken an Hölderlins Erfahrung des Göttlichen in Natur und Geschichte? So mag Heidegger es gemeint haben. In seinerJugend hatte er wohl noch nicht gedacht, daß auch ihm die rechte Begrifflichkeit für seine Lebensaufgabe bis zu seinem Ende fehlen würde. Er sprach es später selbst aus, wenn er von der Überwindung der Metaphysik oder von der Sprache der Metaphysik redete und vom Übergang, in dem wir uns befänden. Die Sprache der Metaphysik war für ihn etwas, worein wir immer wieder zurückfallen - auch er. Heidegger hat das immer wieder in seinen Schriften bekannt und erst recht uns anderen fühlbar gemacht, gerade auch durch seine eigenen Sprachkühnheiten. Er wußte doch, daß die Sprache uns wie ein Element trägt. Und doch hat er sie oft mit Ge\valt genötigt, sich gegen sich selbst zu kehren. In der Tat: Was ist die Sprache der Metaphysik? Was heißt hier »Sprache«? Ich habe Heideggers Sprachgewaltsamkeiten wie seinen gewaltsamen Interpretationen oft nicht folgen können und mich bemüht, den hermeneutischen Anstoß, den ich von Heidegger erhalten hatte, gleichwohl weiter zu entwikkeln. Ich habe nicht die Denkschritte des Abendlandes wie einen gerichteten Weg abzuschreiten versucht, sondern alle hermeneutische Anstrengung aufgeboten, mit Plato und Plotin, Augustin oder Thomas oder wo immer ins Gespräch zu kommen, um an unserem Bestreben, die rechte Sprache fur das Gesuchte zu finden, teilzugewinnen. Gewiß, wir stehen alle in der ontologischen Differenz und werden von ihr aus niemals die theologische Differenz zwischen Göttlichem und Kreatürlichem denkend überwinden können oder wollen - einer solchen gnostischen Versuchung hat sich Hege! kühn ausgesetzt, ohne ihr ganz zu erliegen. Es war nicht Hegels Weg, den Heidegger verfolgte. Er hatte an Hölderlins dichterischer Aussagekraft seine Orientierung genommen - obwohl er die Nähe zum dichterischen Wort nicht für sich in Anspruch nehmen durfte, aber die begriffliche dialektische Sprache nicht zur Versuchung werden ließ. Ich ha be der Wegweisung durch Heidegger zu folgen gesucht. Was ich an den alten Texten verstand, habe ich mir immer gegenwärtig gehalten, gewiß nicht in deren Worten, sondern in unseren Worten, auch wenn das nur in der Annäherung gelingt. Aber hier geht es noch um etwas anderes. Wir erinnern uns nochmals an Heideggers tiefste Einsichten, die ihn etwa mit Hamsun als zeitgenössischem Dichter verbanden und vor allem mit Nietzsehe ständig
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konfrontierten. Es geht nicht nur darum, daß sich im Bewußtsein immer zugleich auch Verdrängung betätigt. Gewiß ist Bewußtes in die Helligkeit gestellt, und anderes ist dadurch niedergehalten. Aber das, was niedergehalten wird, ist nicht einfach nicht mehr da. Das Traumthema der Psychoanalyse ist wohlbekannt und ist doch nur ein schwacher Zeuge fur die Gewalt der Triebstruktur, kraft deren wir ständig zu leben haben. Unser Denken wie unsere Voreingenommenheit sind ständig davon bedroht, dem desir zu erliegen. So können wir uns nicht verbergen, wie schwer es ist und wie unentbehrlich es ist, daß wir im Gespräch leben. Wir suchen das Gespräch nicht nur, um den Anderen besser zu verstehen. Vielmehr sind wir selber von der Erstarrung unserer Begriffe bedroht, wenn wir etwas sagen wollen und der Andere uns aufnehmen soll. Meine eigenen Denkversuche sind noch von einer anderen Evidenz geleitet. Nicht das ist es, daß wir den Anderen nicht verstehen, sondern daß wir uns nicht verstehen. Gerade wenn wir den Anderen zu verstehen suchen, machen wir die hermeneutisch~ Erfahrung, daß wir einen Widerstand in uns brechen müssen, wenn wir den Anderen als den Anderen hören wollen. Das ist nun wirklich eine radikale Grundbestimmung alles menschlichen Daseins und beherrscht auch noch unser sogenanntes Selbstverständnis. Was wir im 18.Jahrhundert »Selbstliebe« nannten, dafür sagen wir heute wohl »Narzißmus«. Wie man aber auch moderne Ansichten mit älteren Einsichten in Verbindung bringen mag - eins ist jedenfalls deutlich, daß die Sprache selber eine Form des Lebens ist und wie das Leben diesig ist und auch sie sich immer wieder einnebelt. So bewegen wir uns immer wi~der nur für eine Weile in einem sich lichtenden Nebel, der uns wieder einhüllt, wenn wir das rechte Wort suchen. Es lebt sich leichter, wenn alles nach den eigenen Wünschen geht, und doch verlangt die Dialektik der Anerkennung, daß es keine billigen Lorbeeren sein dürfen. Das erfahren wir an dem Widerstand, den wir empfinden, wenn wir den Anderen gegen uns gelten lassen sollen. Uns dessen bewußt zu sein, mag uns am ehesten helfen, über unsere Voreingenommenheiten an die Sachen selbst heranzukommen und am Ende sich selbst in Frage gestellt zu sehen - und von woher am besten, wenn nicht von dem Anderen, der auf sich besteht? So möchte ich mit einem kleinen Kierkegaard-Wort schließen, das diesen Punkt besonders deutlich macht und auch den tieferen Sinn meines Bestehens auf dem Gespräch rechtfertigen mag, in dem allein Sprache lebendig ist. Es ist der Titel einer Rede, die Kierkegaard einmal geschrieben hat: »Über das Erbauliche in dem Gedanken, gegen Gott allzeit Unrecht zu haben«.
6. Die Kehre des Weges (1985)
Gewiß hat es etwas Einleuchtendes, daß sich der Denkweg Martin Heideggers als einer darstellt, auch wenn es darin noch so viele Windungen und Wendungen gegeben hat. Man kann doch wohl von Anbeginn an die Zielrichtung dieses Denkens im Auge behalten, und das ist die Überwindung der Subjektivität des modernen Denkens. Ich zweifle nicht daran, daß diese Komponente der Moderne gerade auch in Heideggers religiösen Zweifeln und in der Art, wie der Modernismus in der katholischen Dogmatik seiner Zeit sich eingenistet hatte, für ihn eine besondere Aktualität besaß. Man soll gewiß nicht unterschätzen, was die damalige katholische dogmatische Erziehung, vor allem die Einführung in die Dogrnengeschichte der christlichen Kirche, für die Ausbildung von Martin Heidegger Gedeutet hat. Aber wie sich die zeitgenössische katholische Dogmatik mit den Problemen der modernen Wissenschaft befaßte, vor allem mit der herrschenden Erkenntnistheorie, und sich mit der Moderne zu versöhnen suchte, konnte ihn gewiß nicht überzeugen. So versteht man, daß die Situation gegenüber dem Neukantianismus, insbesondere in der damals doch recht disziplinierten und konzentrierten Form, in der der junge Rickert in Freiburg den südwestdeutschen Neukantianismus repräsentierte, eine Versuchung war. Und so hat er ja auch bei Rickert begonnen. Aber dann glaubte er, und das noch vor Husserls Eintreffen in Freiburg, in den )Logischen Untersuchungen< Husserls und seiner Parole »ZU den Sachen selbst«, also in der Phänomenologie, einen Weg ins Freie zu finden. Das erwies sich freilich bei der näheren Begegnung nur zum Teil als richtig. Die Förderung, die Heidegger alsdann durch den Freiburger Husserl und die Überlassung von dessen frühen Manuskripten erfahren hat, sollte man freilich nicht unterschätzen. In der gediegenen Arbeitsweise des jungen Husserl sah er sein wahres Vorbild l . Aber ganz sicher war Husserls Wendung zu den )Ideen<, das heißt seine transzendentale Selbstinterpretation itn Bündnis mit dem Marburger Neu1 Wie sich Heideggers »Kehre« als eine Einlösung frühen Widerstandes gegen die transzendentale Selbstauffassung Husserls und somit als eine Rückkehr zu seinem eigentlichen Auftrag verstehen läßt, habe ich schon längst in Ges. Werke Bd.3, S. 271 ff. dargelegt.
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Heidegger im Rückblick
Die Kehre des Weges
kantianismus, insbesondere mit N atorp, für Heidegger eine Art Herausforderung. Es ist ja bekannt, daß selbst als Assistent Heidegger Husserls >Logische Untersuchungen< ausschließlich zum Lehrgegenstand gemacht hat und nicht die >Ideen<. Eine weitere Rolle mag in dieser Periode, die Pöggeler in den Grundzügen schon richtig gezeichnet hat, der Einfluß von Schleiermacher, von Dilthey und von Kierkegaard gespielt haben, um ihn im entscheidenden Augenblick dafür freizumachen, Aristoteles als Phänomenologen zu erkennen. Man kann freilich bei dieser neuen Wendung seines Weges, dessen Schritte ja in >Sein und Zeit< unverkennbar sind, nicht etwa annehmen, daß dies als solches eine weitere Abwendung von seiner katholischen Herkunft bedeutet hätte. Das theologische Problem - oder besser: der lange antitheologische Affekt in Heidegger - hat ohne Zweifel seine ganze Entwicklung bestimmt. Zuerst hat es ihm in der Tat die Distanzierung vom Thomismus erleichtert und vor der unkritischen Aneignung der aristotelischen Metaphysik bewahrt. Dazu war ihm wohl auch der Anstoß durch Kierkegaard hilfreich. Das zeigte sich vor allem in dem für mich so entscheidend gewordenen Kapitel der Phronesis in der Nikomachischen Ethik. Die Konkretisierung des Lebensbegriffs, den er an die Stelle der Subjektivität zu setzen suchte, brachte dann die >Rhetorik< des Aristoteles, insbesondere die Affektenlehre des zweiten Buches der >Rhetorik<. Das sind ja bekannte Dinge. Ich erwähne sie nur, um zu zeigen, was für eine Tendenz schon in diesen frühen Orientierungen lag, sich von dem Subjektivitätsbegrifffreizumachen. Für den Weg von der Faktizität und der Sorge des Lebens aus, den wir heute genauer nachzeichnen können, seit die frühen Vorlesungen bekannt sind, stellte gleichwohl die transzendentale Fragestellung eine begreifliche Versuchung dar, nachdem sich auch die Annäherung an Luther und seine Marburger Entsprechung (in Bultmann und in dessen KierkegaardNähe) nicht als wirkliche Öffnung erwiesen hatte. Es blieb ihm sozusagen kein anderer Weg, als sich in den Rahmen der transzendentalen Phänomenologie Husserls erst einmal einzufügen, wenn auch vielleicht schon immer und weiterhin Konkretisierung und Radikalismus zu versuchen und Init dem Hintergedanken, seinen eigenen Weg später in größerer Freiheit in Freiburg fortsetzen zu können. Erst im Scheitern seines Rahmenprogramms an dem geplanten dritten Teil von >Sein und Zeit< hat sich für ihn Entscheidendes vollzogen. Die Rückkehr von Marburg nach Freiburg und damit in die von der katholischen Theologie machtvoll bestimmte Universität bedeutete für Heidegger ohne Zweifel eine Verschärfung und Radikalisierung seiner Kritik an der metaphysischen Tradition und damit auch Kritik an dem letzten Stadium der neueren Transzendentalphilosophie, das Husserl darstellte. Aber daß dieses in seinen Augen die Verdeckung der wahren Seinsfrage fortsetzte, mochte ihm an Plato vollends aufgeleuchtet sein, wie das Motto von >Sein
und Zeit< zeigt. In Aristoteles glaubte er Vorbereitendes für die neue Stellung der Seinsfrage wiederzuerkennen. Aber wie das in dieser Abwehrstellung durchführen? Ob man zu der Vorbereitung der Seinsfrage wirklich die Orientierung an den physei onta mit Aristoteles durchführen konnte? Oder an Kant und am »Da-Sein im Menschen«? Dann mögen die Zeitereignisse, die zuspitzende Krisis der Weltwirtschaft und die Radikalisierung des Arbeitslosenheeres, vage Erwartungen in bezug aufdas vom Osten her Mögliche geweckt haben. Jedenfalls scheint der Radikalismus wagenden Denkens damals erstmals bei ihm durchgeschlagen zu sein. Die zwei Fassungen der Schrift >Vom Wesen der Wahrheit< und das Verhältnis zwischen >Freiheit< und der Verborgenheit des Seins sind durch die neueren Darstellungen ja oft genug und mit Erfolg geltend gemacht worden. Statt vom Dasein und seiner Öffnung des Horizonts aus nun von der Offenständigkeit des Seins zu sprechen, enthielt eine wichtige, freilich in ihrer begrifflichen Analyse noch ganz ungeleistete Aufgabe. In dieser Lage hat, wie mir scheint, der nahe und enge Anschluß Heideggers an die mythologisch-dichterische Sprechweise Hölderlins Epoche gemacht, als die nationalsozialistische »Erhebung« verpuffte. Man sollte es sich aber nicht so bequem machen, nun zu meinen, diese Wendung Heideggers wäre ein Abfall von seiner bisherigen inneren Konsequenz: sein wahres Ziel hätte sein sollen, aus der transzendentalen Analytik des Daseins eine endliche Metaphysik zu machen oder wie immer man sich von der Antrittsvorlesung in Freiburg aus die Zukunftsperspektive vorstellen mag, die er damals skizziert hatte. Jedenfalls ist keine Rede davon, daß er durch die Zuflucht zu dichterischen Begriffen seitdem sozusagen die Anstrengung des Begriffs verleugnet hätte. Ich erinnere mich selbst meines fast schockhaften Eindrucks, als ich in Frankfurt seine Kunstwerkvorträge hörte und dort nun die »Erde« dem sonstigen Grundbegriffder Transzendenz und statt des »Seienden im Ganzen« entgegengestellt sah. Das ließ sich zwar weder an Aristoteles noch an Hegel anschließen, wenn Heidegger von nun an die Rede von »Sein« ausdrücklich an der Dichtung Hölderlins exponierte. Aber es hieß nicht, daß er den Weg der Begriffe zugunsten der >Lyrik< verlassen hätte. Gewiß hatte er uns gelehrt, daß das gerade die Metaphysik war, die Frage nach dem Sein und die Frage nach dem höchsten Seienden seit Aristoteles zusammenzudenken. Aber daß »Sein« kein Seiendes ist, war doch immer wahr gewesen und blieb wahr. Seit Heidegger das Sein ohne Seiendes und getrennt von allem Seienden zu denken unternahm, war das kaum bloßer Rückfall in eine verblaßte negative Theo!ogie, wie es in den heutigen gängigen Darstellungen, etwa der von Habermas, als selbstverständlich ausgeführt wird. Statt dessen sollte man die imponierende Vielfältigkeit der Holzwege, die Heidegger seitdem durchschritten hat, als Denkversuche anerkennen und damit der »Kehre« einen besseren Sinn leihen.
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Heidegger im Rückblick
»Holzwege« suggerieren, daß sie zu keinem Ziele hinführen und daß man auf ihnen umkehren muß. Ist der Weg des Denkens, den Heidegger versucht, wirklich immer nur solches Umkehren und Rückgang? Folgt dem nicht immer neuer Versuch zum Aufbruch? Daß das Dasein nicht so sehr ein Seiendes ist als der Ort, in dem das Da wie ein Ereignis sich zeigt und damit zugleich als die Seinsgeschichte und Seinsverdeckung ? Man sollte sich doch eine andere Perspektive für den wahren Denkweg Heideggers zurechtlegen - bei aller Anerkennung der wechselnden Anwendungen des Begriffs der Kehre, die von der Forschung herausgearbeitet worden sind. Es bleibt am Ende überzeugend, daß Heideggers Vision davon ausgeht, daß das Leben - und nicht das Subjekt, nicht das denkende Ich - seine Tendenzen auslebt, entdeckend und auch immer wieder verhüllend, wie das eben die Grunderfahrung des Lebens ist, die Heidegger in seiner Frühzeit gemacht und immer festzuhalten suchte: ))Das Leben ist diesig.« In dem Begriff der ))Kehre« liegt: es ist der Weg, den das Denken führt und in seine Kehre führt. Der Weg kehrt sich um, den man weitergeht, um das eigentliche Ziel der Höhe zu erreichen. Es ist nicht gezwungen, wenn ich aufgrund dieser Überlegungen, die zweifellos auch im Sprachgebrauch Heideggers ganz lebendig waren, zu der Einsicht gelangte, die Kehre Heideggers ist in Wahrheit eine Rückkehr. Er hat damals die transzendentale Selbstinterpretation endgültig aufgegeben und immer neue Wege in die Höhe gesucht. Wir wissen, daß dies in seinen eigenen Augen nicht zu einem bleibenden Werk geworden ist: )) Wege, nicht Werke«; aber es vermag vielleicht doch auf das Offene zu weisen. Ich will damit nicht bestreiten, daß Heidegger selbst den vieldeutigen Ausdruck )) die Kehre« in mehrfachem Sinn gebraucht. Man muß sich nur hüten, sich gegen Heideggers eigene Intention zu einem falschen Nominalismus verführen zu lassen, als ob man über verschiedene Begriffe von ))Kehre« verfüge. Gewiß konnte Heidegger öfters genau darauf abheben, daß die Kehre eine Umkehrung der Richtung bedeutet. Aber in Wahrheit sucht Heidegger damit immer nur das eine zu sagen, was einem geschieht, wenn einer dem eigenen Weg seines Denkens folgt und die Erfahrung macht, daß der Weg sich kehrt. Schon 1930 schrieb mir Heidegger nach seinem neuen Beginn in Freiburg: ))Es kommt alles ins Rutschen.« Im Unterschied zu Holzwegen handelt es sich eben nicht um Umkehr auf einem Wege. Eine solche hat es bei Heidegger gewiß ständig gegeben, und so konnte er seine Denkwege ))Holzwege« nennen. Aber gerade das bringt zum Ausdruck, daß er beharrlich das eigene Denken in die Richtung führt, auf die es ankommt. Weil ich die Dinge so sehe, habe ich mich selber nie auf ein yersuchen eingelassen, verschiedene Begriffe von ))Kehre« bei Heidegger zu unterscheiden. Es gilt, die Kehre zu erfahren, in actu exercito, und das heißt im Vollzug des Denkens - und das heißt: in Worten, die uns die Sprache dafür bietet. So komme ich selber immer wieder auf meine eigene
Die Kehre ,des Weges
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Orientierung zurück, die bis in die Konzeption meines eigenen Buches zu spüren ist, das ich ehedem statt mit dem Titel )Wahrheit und Methode< anfänglich mit dem Titel )Verstehen und Geschehen< zu exponieren geplant hatte. Es ist eben nicht unser Tun so sehr, als das, was mit uns geschieht, wenn uns das Denken den Weg des Denkens führt. Ich darf daraufhinweisen, daß außer den frühen Zeugnissen, die ich in meiner Meßkircher Rede 2 erwähnte, für Heideggers ))vorontologische« Kehre ein Zeugnis in )Sein und Zeit< liegt - und das ist Heideggers eigener Sprachgebrauch. Darüber werden wir vielleicht eine Studie von Kathleen Wright über die sprachlichen Vorzeichen der Kehre in >Sein und Zeit< lesen können, die sie auf meine Anregung unternommen hat. Die Kehre gehört aber nicht zu den Sachen, über die man redet. Der Weg kehrt sich im Denken und Reden. Daraufallein kommt es an, auch für meine eigenen Beiträge, ob sie dieser Wegrichtung des Denkens, die Heidegger gewiesen hat, hilfreich sein können oder ob sie auf Abvv·ege führen, sei es zu einem )liberalen< Hegelianismus, sei es sonstwie zu Nachgestalten der Metaphysik. Das ist nicht mehr in meiner Kompetenz, darüber ein Urteil haben zu können 3 •
Vgl. )Der eine Weg Martin Heideggers< in Ges. Werke Bd. 3 (Ne. 28). Inzwischen ist in der Veröffentlichung zum Heidegger-Symposium der Alexander von Humboldt-Stiftung 1989 in Bonn-Bad Godesberg ein sehr wichtiger Aufsatz von ALBERTO ROSALES zu diesem Thema zu lesen ()Heideggers Kehre im Lichte ihrer Interpretationen< in: D. PAPENFUSS/O. PÖGGELER [Hrsg.], Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Bd. 1: Philosophie und Politik. Frankfurt 1991, S. 118-140), der in gediegener Weise einleuchtende und fruchtbare Beiträge zum Thema der Kehre neu durchdacht und dargestellt hat. Es sind Arbeiten wie die von WALTER SCHULZ vor allem (> Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers< in: Philos. Rundschau 1 [1953/54], S. 65-93 u. 211-232) und von DIETER SINN ()Heideggers Spätphilosophie< in: Philos. Rundschau 14 [1967], S.81-182), die damals beide gewisse Anstöße meines eigenen Heidegger-Verständnisses aufgegriffen haben, aber auch die Beiträge, die inzwischen durch die Arbeiten von OTTO PÖGGELER und F.-W. VON HERRMANN geleistet worden sind. Das eigene Ergebnis dieser Studie von RosALEs kann ich durchaus akzeptieren, ohne doch meine Aufgabe darin zu sehen, mich auf diese Art Unterscheidung des Begriffs »Kehre« bei Heidegger einzulassen. 2
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Denken und Dichten bei Heidegger und Hölderlin
7. Denken und Dichten bei Heidegger und Hölderlin (1988)
In das Thema ist das Schicksal des Abendlandes unverkennbar eingezeichnet. Wie s,ollen wir wohl die große literarische Überlieferung anderer Hochkulturen bezeichnen wollen? Sollen wir das ein Dichten nennen oder lieber ein Denken, wenn ein Buddha redet oder ein chinesischer Weiser mit seinem Schüler ein paar einfache und doch tiefsinnige Worte tauscht? Es ist der Weg des Abendlandes und der Weg zur Wissenschaft, der uns die Trennung und die nie ganz auflösbare Einheit von Dichten und Denken auferlegt hat. Heidegger hat wiederholt mit Hölderlin von den »getrenntesten Bergen« gesprochen, auf denen sich das Dichten und das Denken gegenüberstehen. Es ist etwas daran, daß solche Ferne gerade auch Nähe stiftet. Jedenfalls ist es auch von Jugend an mein eigenes Lebensthema gewesen, das hier zur Diskussion steht. Mein Studiengang hatte mich durch die Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft und durch die klassische Philologie wie am Anfang so am Ende zur Philosophie geführt. Wenn ich auch in den entscheidenden Dingen das meiste von Heidegger gelernt habe, so war doch etwa der Augenblick, in dem ich (1935) Heidegger über den >Ursprung des Kunstwerks< zum ersten Male in Frankfurt sprechen hörte, mehr eine Bestätigung dessen, was ich selber seit langem in der Philosophie suchte. So wird uns das Thema >Dichten und Denken< in die Mitte der Fragen führen, die uns alle bewegen. Dabei kann ich nur versuchen, die Richtung anzudeuten, in der jüngere Generationen weiterzuarbeiten haben. Für meinen eigenen Beitrag hatte ich einerseits wohl die Begegnung Heideggers mit Hölderlin im Auge, aber auch die allgemeinere Frage, ob man Wahrheit vom>Wort< erwarten kann. Daß ein Wort Wahrheit haben kann, meint natürlich nicht, daß das einzelne Wort als solches, das Wort neben anderen Wörtern, Wahrheit haben kann. >Das Wort< meint vielmehr immer schon eine größere, vielfältigere Einheit, die in dem Begriff des >verbum interius< der Tradition seit langem bekannt ist. Es lebt auch ganz selbstverständlich in unserer Alltagssprache weiter, wenn man zum Beispiel sagt: »Ich möchte mit dir ein Wort reden.« Da meint man nicht, daß man jemandem nur ein einziges Wort sagen will. Wenn wir von hier ausgehend so etwas wie >Wahrheit des Wortes< in
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Anspruch nehmen, dann kennzeichnen wir vor allem den Anspruch des Dichters •. Denn das ist Dichten, daß das Wort der Dichtung sich selbst beglaubigt und durch nichts anderes beglaubigt werden kann. So ist es gewiß irrig, wenn es auch viel geschieht, daß man von außen her an das Wort der Dichtung herankommen will, indem man etwa, um die Entstehung eines dichterischen Werkes zu verstehen, Wirklichkeitsbezüge aufsucht; oder gar seine Aussage an dem Wissen der Wissenschaft messen will, die mit dem Worte der Dichtung Gemeintes als wahr auszeichnet. Das ist gewiß fast immer der Fall, daß sich in der Dichtung Wirklichkeit spiegelt, die auch Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein kann. Aber daß das Wort sich selbst beglaubigt und nicht einer Erfüllung von anderswoher bedarf, ja, solche nicht einmal zuläßt, das macht >Aletheia< aus (was Heidegger nüt »Unverborgenheit« übersetzt hat), was mehr ist, als wenn diese oder jene Erkenntnis als richtig bezeichnet werden soll. Das Wort kann vielmehr auch ein solches sein, das einem gesagt wird - und es ist ein solches Wort, wenn es als dichterisches begegnet. Gewiß, das Wort, das einem gesagt wird, ist nicht ein einziges Wort. Wenn es einen trifft, etwa im Schimpfwort oder auch etwa als ein Ehrenname - zum Beispiel: ein Meister zu sein -, dann erkennen wir plötzlich auch durch das eine Wort, daß eine Benennung wie eine Aussage wahr sein kann. Worte sind ja nicht dadurch da, daß sie einfach von jemandem vorgeschlagen werden, der sie einführen will. Sie führen sich selbst ein, oder wie Hölderlin so schön gesagt hat, daß »Worte wie Blumen entstehen«. Sie haben eine eigene Vertrautheit und Selbstverständlichkeit, die es bewirkt, daß sie wie Namen etwas herbeirufen. Das ist freilich die Lage des Dichters in dürftiger Zeit gerade nicht. Wenn ich so von der Nennkraft des Wortes ausgehe, so rühren wir damit, wie jeder spürt, an das Eigenste des Denkers Martin Heidegger. Wenn etwas den Denker Heidegger innerhalb der Denker unseres Jahrhunderts unverkennbar ausgezeichnet hat, so ist es sein Sinn für die Nennkraft des Wortes. Sie in seine Denkbewegung eingelassen zu haben und von der Sprache aus seine Wegrichtung immer wieder empfangen und geprüft zu haben, gab seinem Denken die eigenste Stoßkraft. Was ist Nennen? Was ist ein Name? Wir werden uns mit Heidegger sogleich des griechischen Ursprungs unseres De.nkens erinnern und fragen, was >Onoma<, das griechische Wort für >Name<, eigentlich meint. Wo und wie begegnet es in unserer Überlieferung und in den ersten Denkversuchen unserer abendländischen Denkgeschichte? Das Wort >Onoma< scheint kaum geeignet, die Nennkraft des Wortes zu beleuchten - eher seine Kraftlosig1 Siehe zum folgenden in Ges. Werke Bd. 8 u. a. die Beiträge)Von der Wahrheit des Wortes< (Nr. 5) sowie >Der >eminente< Text und seine Wahrheit! (Nr. 25).
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keit. Es wird in unserer frühen Überlieferung zumeist für den Namen gebraucht, den man einer Person gibt oder den eine Person, ein Mensch oder ein Gott, trägt. In solchem Gebrauch ist der Name das, auf den einer hört. Dagegen beruht die Entstehung des grammatischen Begriffs )Onoma< im Sinne von >nomen< schon auf einer Ablösung vom )Rufen< und auf der semantischen oder syntaktischen Funktion, die ein Wort in der Rede oder in einem Text erhält und ausübt. Insofern drängt sich notwendig der Begriff des )Logos<, der Rede, hier vor. In diesem Begriff ist ja stets »Zusammenlegung« von mehrerem gemeint. Rechnung, Rechenschaft, Verhältnis, Begründung klingen an. Wenn wir hier von der Wahrheit des Wortes reden, ist auch im weitesten Sinne >Logos< gemeint, nicht der logische Begriff des Urteils, aUch nicht einmal der grammatische Begriff des Satzes. Der >Logos apophantikos<, auf den Aristoteles die Logik beschränkte und der nicht einmal den Fragesatz mit einscWoß, bedeutete eine Verengung der Themenstellung. Wenn man über die Nähe und die Feme von Dichten und Denken nachdenken will, muß man in eine tiefere Dimension hinuntergehen, in der das Wort noch eine unbeschränkte Sagkraft zeigt. (Hier muß man sich daran erinnern, daß für die antike Welt-:- ob Dichtung oder Denkwerk - Lesen immer lautes Sprechen war.) So ist es am Ende nicht abwegig, sie in der Nennkraft zu suchen und damit auf den Namen zurückzukommen, der jemanden ruft oder der etwas heraufruft. Dabei sollte man gerade auch beachten, was es bedeutet, daß der ursprüngliche Gebrauch von >Onoma< nur für Personen, für Götter und Menschen, üblich war und daß es so etwas wie die Ehre des Namens gibt. Der ehrliche Name hat seine eigene Geltung. In solchem Gebrauch liegt schon etwas von >Aletheia<, nämlich, daß man nichts zu verbergen hat oder zu verstecken sucht, weil keine Schande an dem Namen haftet. Von da her hat der Name etwas Unantastbares. Scherze, die man mit einem Namen treibt, sind scWechte, schändliche Scherze, und wenn einer wie der verzweifelte Ajax, der aus seinem Wahnsinn erwacht, selber mit seinem Namen spielt, so kommt das einer furchtbaren Selbstaufgabe gleich. Sogar der Rufname hat in unserer gesellschaftlichen Welt noch etwas von der Intimität und der Würde der Person an sich. Wenn in vergangenen Zeiten es üblich war, in einem gutbürgerlichen Hause, eine der Dienstboten, wie sie wechselte, immer wieder »Marie« zu nennen, weil das der Herrschaft bequemer war, so kommt das rur unser heutiges Empfinden bereits einer Antastung der Würde der Person gleich. Eigennamen, und erst recht die Rufnamen, sind ganz auf die Nennungsfunktion gegründet. Sie besitzen zumeist überhaupt keine Eigenbedeutung; jedenfalls spielt dieselbe bei ihrer Funktion keine Rolle, wohl aber, wenn \\rir etwa an den Gesichtspunkt der Namengebung bei der Taufe oder an die NamenwaW eines neuantretenden Papstes denken - oder an Tristram Shan-
dy. D~rin können Hoffnungen oder Versprechungen liegen, es kann auch ein böses Omen sein. Aber der Eigenname selbst und sein Gebrauch enthält keine Eigenbedeutung. Insofern sind Eigennamen keine Worte. Was wir in der lateinischen Grammatik )nomen< nennen und was dem griechischen Wort für >Name< entspricht, ist ein Wort mit einer Bedeutung, und Worte üben ihre Bedeutungsfunktion aus, wenn sie in einem Satz begegnen, oder vielleicht gar, wenn sie-wie in den beschriebenen Fällen des Schimpfwortes oder der Anrede - selber wie ein Satz sind. Man kann aber auch fragen, was ein Wort als >Vokabel< bedeuten kann. Worte, die eine Bedeutung oder vielleicht gar eine Vielfalt von Bedeutungen haben, sindjedenfalls mehr als nur getrennte Bausteine von Sätzen. Einjedes Wort steht für ein ganzes Sinnfeld, das sich in ihm öffnet. Alle Aussagen, in denen es begegnen mag, stellen immer nur .einen Teilaspekt dieses Sinnbereiches dar, und diese Darstellung muß durchaus nicht den Charakter eines Aussagesatzes.haben. Immer aber ist es ein pragmatischer Zusammenhang, in dem Worte ihre Bedeutung ausüben. Ob es ein solcher der Rede oder des Gespräches ist oder eines Textes, was immer - ein Wort muß, um seine Bedeutung auszuüben, verstanden werden können; und wenn es im Zusammenhang der Rede begegnet, dient es einer Verständigung über etwas, das nicht selber nur das eine Wort sagt. Da können einem die rechten Worte fehlen, und man wird da.s rechte Wort suchen, und wenn man es getroffen hat, dann kommt das Gemeinte, die Sache, heraus. Es hat Sinn, da von» Unverborgenheit« zu reden. Gewiß ist eine Redeweise wie »die Wahrheit sagen« zweideutig, und im allgemeinen wird man zunächst bei dieser Wendung, genau wie die Griechen es taten, an die Möglichkeit der Lüge denken. Man wird allenfalls und mit einiger Mühe auch die Richtigkeit der Aussage, ihr Zutreffen auf die Sache, in der Wendung »die Wahrheit sagen« wiedererkennen können. So ist der Sprachgebrauch des griechischen >Aletheia< diesen Weg gegangen: von der UnverhoWenheit, mit der einer das, was er denkt, einem anderen sagt und es nicht etwa durch Lüge, Verschweigen oder Beschönigen usw. verdeckt. Ist es ein Wort, in dem die Sache in die Gemeinsamkeit der Verständigung heraufgerufen und hervorgerufen wurde, dann ist es im Wort zugleich geborgen und zugleich durch das Wort entborgen; und nun kann selbst der flüchtige Augenblick des Sich-Kreuzens von Frage und Antwort in der Erinnerung zurückgerufen werden oder gar festgelegt sein. Die Wahrheit des Gesagten ist also nicht, was das Wort meinte, sondern die Unverborgenheit dessen, was ist und was in Rede steht. Aber was heißt hier: was ist? Sicherlich nicht: was der Fall ist! Weder die dichterische noch die philosophische Rede hat mit solchem, was der Fall ist, zu tun. Beide haben dagegen mit etwas zu tun, was >da< ist. Wenn Aristoteles das Wesen des Logos im orzAoiiv sieht, so meint er Zeigen und Vor-Augen-
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Legen, so daß etwas >da< ist, wenn davon geredet wird. Im Zusammenhang der >Politik< (A 2) unterschied Aristoteles die Verständigungsweisen der Tiere von dem in der Wortsprache liegenden Aufbau einer gemeinsamen Welt, in dem Zusammenleben herrscht und sich ordnet, und das gipfelt im >Dikaion<, in dem gerechten Anteil aller an den Gütern, der gewahrt wird. Hier rührt Aristoteles, dem Zusammenhang entsprechend, an die U rmacht der Sprache und des Wortes. Es ist nicht nur, daß das Wort dieses oder jenes Seiende namhaft macht, und auch nicht, daß das Wort als Baustein zu dieser oder jener Aussage dient. Das eigentlich Geheimnisvolle der Sprache ist, sehen zu lassen, so daß etwas da ist. Das rückt an das heran, was ich die >Wahrheit des Wortes< nannte. Es scheint mir im griechischen Denken zuerst bei Parmenides zu begegnen2 • Er gebraucht dafür den Ausdruck >Noein< und >Nous< und erläutert von da die >Aletheia<, die eigentliche Unverborgenheit. >Noein< heißt Vernehmen: da ist etwas. Die Wortgruppe, die Parmenides dafür in Anspruch nimmt, um diese Gegenwärtigkeit zu bezeichnen, nimmt ihren Ursprung wohl in der Witterung, die das Wild hat. (>Nous< hat etwas mit Nase zu tun.) Es geht um die Unmittelbarkeit des Da, aber auch um die Unbestimmtheit des >Da ist etwas<. Wenn man an diesen Punkt zurückgeht, an dem im >Sein< (und in nichts sonst) das Vernehmen von >da< bewußt wird, dann handelt es sich bei der>Wahrheit des Wortes< nicht um die U nverborgenheit des Gesagten im Sinne eines Seienden, diesem oder jenem, was etwas ist, sondern daß das >Da< ist und nicht >nichts<. Der Schritt zu dem, was Heidegger als das metaphysische Denken unter der Herrschaft des Logozentrismus charakterisiert und zu überwinden sucht, ist also noch gar nicht bei Parmenides gemeint. Es geht nicht um das Denken von Seiendem im Sinne der Abweisung des Falschen, sondern um die Abweisung des Nichts. Das ist der »ganz unbetretbare Weg«. Es geht also um >Sein<. Nur im Sein des Da ist Denken. In dem >ist< ist es ausgesprochen, ist Gedachtsein da. Das hat Parmenides im Auge. - Nicht ganz anders scheint es auch bei Heraklit zu sein, der ja ausdrücklich von dem >Einen Weisen< spricht (ev lO oorpov). Und vielleicht stimmt es sogar noch für Platos >das Gute selbst< (av7:o 7:0 ara8ov). Die Frage, die hier zur Diskussion steht, ist gar nicht die Entstehung der Metaphysik, sondern die ihr vorausliegende Frage, die den gemeinsamen Grund von Mythos und Logos, die >Aletheia< des Wortes betrifft, ob es das Wort ist, das man einem sagt, oder das Wort, das im Gedicht einem etwas sagt, oder das Da, das das Wort sagt und nicht nichts sagt. Ich möchte die Frage des Mythos 3 und die narrative Sprachform, die das
Epos hat, oder die dramatische Gestaltung, die das Drama vollzieht, hier beiseite lassen. Denn offenbar ist es das lyrische Gedicht, an dem die beunruhigende Frage der Nähe und der Ferne des Dichtens und des Denkens am deutlichsten zur Sprache kommt und sich in den Werken Hölderlins und den Wegen Heideggers zu begegnen scheint. Erst in dieser Entsprechung bekommt der Parmenideische Satz seine klare Evidenz. Auslegung und Darlegung dieser Untrennbarkeit von >Denken< und >Sein< erlaubt nicht die begriffliche Scheidung von Sein und Seiendem. Die dichterische Rede des Denkers Parmenides fließt in die Richtung des logischen Denkens über, als ob es vom seienden >Sein< Prädikate aussprechen will. Und nicht anders ist es bei dem Heraklitischen >Einen<, das sich nur im Umschlag des einen in das andere als das Eine, das das Weise ist, denken läßt - und vielleicht gilt das sogar noch für Plato und das Gute selbst, aVlO lO aya86v, für dieses piyunot' l',C/(}rzJla, das, was man am nötigsten lernen möchte, und das man doch nicht lernen kann wie la älla JlalJr,pa7:a. Das sagt der 7. Brief. In Wahrheit ist in dem >Da< des Seins, der Aletheia, nichts anderes ausgesprochen, als daß Nichts nichts ist - und nicht, daß es dieses ist und nicht jenes. Insofern ist es ganz konsequent, wenn Zeno und die eleatische Schule das Viele nicht gelten lassen, sondern nur das Eine. Ebenso gilt es für das Denken, das an das Sein denkt, daß seine sogenannten Prädikate nur Wegzeichen sind - und wie alle Wege des Denkens Umwege zu dem Einen. Im gleichen Sinne wird verständlich, daß auch der Dichter, der das Bleibende stiftet, das auf vielen Wegen und Umwegen Erinnerte im Andenken stiftet. Ich spiele damit aufHölderlins Gedicht >Andenken< an. Im Mittelpunkt steht für Heideggers Denken stets Hölderlin. In welchem Grade und durch welche Umstände das dichterische Werk Hölderlins in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts für uns alle zeitgenössisch geworden war, bedarf kaum der Erinnerung. Von der neuen Zugänglichkeit des Spätwerkes Hölderlins, die N orbert von Hellingrath zu verdanken war, ging ein wahrer StoB aus, der insbesondere zur Distanznahme von der Bildungsreligion der deutschen Klassik und ihrem verblassenden Fortleben ftihrte. Das läßt sich etwa an den folgenden zwei Beispielen zeigen. Das eine war das Hölderlin-Buch von Romano Guardini4, der ein feiner Interpret von Dichtung wa.r. Die Fragestellung, unter der er sein Thema einführte, verdient Beachtung. Hölderlin sei der einzige unter den großen deutschen Dichtern gewesen, dem man seine Götter glauben muß. Guardini spricht hier offenkundig aus der Abkehr von der klassischen Bildungsreligion Schillers oder auch der barocken Spielweisheit des zweiten >Faust<. In Hölderlin scheint ihm ein neuer Ernst in die Frage nach dem Göttlichen gekommen. Ähnliches läßt sich von dem klassischen Philologen Walter F.
2 Vgl. dazu auch die Parmenides-Beiträge in Ges. Werke Bd. 6, S.30ff. und in Bd. 7 >Parmenides oder das Diesseits des Seins< (Nr. 1). 3 Zum Begriff des Mythos siehe die in Ges. Werke Bd.8 unter der Rubrik >Die Transzendenz des Schönen< gesammelten Beiträge (Nr. 11-16).
4
ROMANO GUARDINI, Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit. Leipzig 1939.
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Otto sagen, der in einer merkwürdigen Selbstentäußerung an Dionysos oder an Apollo >glaubte<. Sicher stand da ein protestantisches Pfarrhaus im Hintergrund seines Glaubensbedürfnisses. Den Philologen gegenüber aber war Otto doch ein ganzes Stück klüger. Er hatte seinen Schelling gelesen und verstanden, daß Schelling das Christentum >das zurechtgestellte Heidentum< nannte; nur hieß das, daß. die griechischen Götter nicht, wie die Väter der Kirche lehrten, Gespenster, Geister, Dämonen und Teufel waren oder bloßer Aberglauben. Sie stellen vielmehr eine religiöse Erfahrung dar, an deren Realität nicht zu zweifeln war, wenn auch die heidnische Kultur und die mythische Ausdeutung durch die christliche Verkündigung von der Menschwerdung Gottes und seinem Sterben zurechtgerückt wurde. Für den Denker Heidegger bedeutete aber Hölderlin einen noch weiteren Schritt. »Er stellt in die Entscheidung«, hat Heidegger von ihm gesagt - und das ist offenbar die Entscheidung gegen Schelling und Hegel und für Hölderlin, gegen den Begriffund die Logik des Begriffs und fur die Kunde vom Göttlichen gewesen. So stellte sich für Heidegger die Alternative: äußerste Seinsverlassenheit im technischen Wahn - oder die Ahnung: »Nur ein Gott kann uns retten. « Heidegger konnte deshalb in Hölderlin nicht den Angehörigen des Zeitalters des Idealismus sehen, sondern den Angehörigen einer Zukunft, die die Überwindung der Seinsvergessenheit bringen könnte. Die Folge war die Abkehr von dem, was man inzwischen >Logozentrismus< zu nennen gelernt hat und was Heidegger später unter der Parole der überwindung der Metaphysik entwickelte. Sie zwang ihn, eine Sprachnot in Kauf zu nehmen, die innerhalb der philosophischen Tradition des Abendlandes nur in ganz extremen Fällen ähnlich erfahren worden ist, etwa bei Meister Eckhart oder bei Hegel. Sprachnot aber war es auch, was Heidegger in Hölderlin begegnete und was ihn anzog. Ich hob schon hervor, daß Hölderlins Werk erst in Heideggers Lebenszeit und auch in meiner eigenen Lebenszeit - und mehr oder minder auch noch in Lebenszeiten der heute Jüngeren - in seinem Rang erkannt und ganz zur Präsenz gekommen ist. Was ist das Besondere, das ihn zu einer so verspäteten Entdeckung gelangen ließ? Was spricht sich in Hölderlins Strophen oder Hymnen so einzigartig aus? Meine These ist: Es ist Sprachnot. In Heideggers Denken, insbesondere in seinem Spätwerk, erkennen wir das wieder. Sprachnot ist freilich nicht ein bloßer Mangel- oder gar ein Versagen des Denkens oder des Dichtens. Sie gibt beidem vielmehr seine eigentliche Inständigkeit. So ist es auch im Falle Hölderlins nicht ein Mangel seines Dichtens. Die Sprachnot gibt vielmehr seinem Werk seine unverkennbare Intensität und Einzigkeit. Das rechte Wort zu treffen für das,
geformtes vorliest. Da \vird dem Zuhörer gleichsam eine zusätzliche Aufgabe gestellt. Er muß, was gar nicht mehr gesucht ist und auch nicht eben erst gefunden klingt, doch als das, was es einmal war, als das gesuchte und gefundene Wort, wieder freisetzen. So verdient freie Rede immer ein wenig Nachsicht. Ihre Ungenauigkeit wird dadurch ausgeglichen, daß das Suchen des Wortes sich aufden Hörenden überträgt - und leichter überträgt als jedes noch so gut vorbereitete Wort.
was man sagen will oder was man einem sagen will, bleibt immer ein zu
treffendes Ziel- und im Falle des Gelingens ein Glück. So ist das Suchen des Wortes erst eigentlich Sprechen. Wir bemerken sofort, wenn jemand Vor-
11. Die hermeneutische Wende
8. Subjektivität und Intersubjektivität, Subjekt und Person (1975)
Der Begriff der Intersubjektivität ist als ein Problemaspekt des großen Hussedschen Programms einer transzendentalen Phänomenologie üblich geworden. In Husserls späterem Denken spielt er fast so etwas wie die Rolle eines experimentum crucis. Nicht nur, daß die Masse seiner Manuskripte über dieses Thema inzwischen in drei stattlichen Bänden veröffentlicht sind. Wichtiger ist noch, daß es gerade dieser Problemaspekt war, der unter dem Stichwort >Phänomenologie der Lebenswelt< inzwischen tatsächlich neue Entwicklungen ausgelöst hat. Das begann bereits Ende der vierziger Jahre, als Aton Gurwitsch und Alfred Schütz in dem Begriff der Lebenswelt eine Abkehr von dem Prinzip der transzendentalen Subjektivität und einen verheißungsvollen Ansatz zu neueren Entwicklungen sahen. Sie selber suchten den Begriff der Lebenswelt für eine Grundlegung der Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen, der in der amerikanischen Sozialphilosophie vielfach Aufnahme gefunden hat. So ist es wohlbegründet, daß wir dem Thema der Intersubjektivität eine besondere Aufmerksamkeit schenken. Es gibt jedoch gute Gründe, zwar das Husserlsche Programm einer transzendentalen Phänomenologie um seiner Konsistenz und seiner Radikalität willen anzuerkennen. Aber der Gebrauch, den Husserl selber mit der Problemstellung der Intersubjektivität für die Phänomenologie der Lebenswelt gemacht hat, nötigt doch zur Kritik l . Auch läßt sich am Ende nicht verkennen, daß bei Husserl später nie von einer Abkehr vom transzendentalen Idealismus die Rede war. Er sah vielmehr die eigentliche Leistung der Phänomenologie in der transzendentalphilosophischen Letztl1egründung. Gegenüber der führenden Schule des Neukantianismus, der Marburger Schule, bestand er freilich mit hohem Selbstbewußtsein darauf, daß erst seine phänomenologische Einzelarbeit eine wirkliche Grundlegung des transzendentalen Systemgedankens erbracht habe. Nun ist uns heute viel deutlicher bewußt, daß der Neukantianismus, seinem eigenen Selbstverständnis zum Trotz, in Wahrheit nie eine wirkliche 1 Man vergleiche hier und im folgenden den in Ges. Werke Bd. 3 enthaltenen Beitrag >Die phänomenologische Bewegung< (Nr. 6), vor allem die Teile II und UI.
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Die hermeneutische Wende
Subjektivität und Intersubjektivität, Subjekt und Person
Rückkehr zu Kant gewesen ist. Das wurde an der inneren Fortbildung und der Auflösung des Neukantianismus inzwischen deutlich. Der Neukantianismus war viel eher eine Rückwendung zu Fichte gewesen, und so konnte seine Fortbildung am Ende zu Hegel führen und in der Universitätsphilosophie und Philosophiegeschichte den Begriff )System der Philosophie< heimisch machen - bis es am Anfang des 20. Jahrhunderts zu der neuen kritischen Wendung gegen den Systembegriffkam. Das läßt sich an dem Problem der Intersubjektivität sehr gut verifizieren. Man denke an die Anfänge. Da war um diejahrhundertwende vor allem die Rezeption Kierkegaards, die der herrschenden Transzendentalphilosophie ebenso entschieden auf den Leib rückte, wie Kierkegaard seinerzeit Hegel und seiner Schule auf den Leib gerückt war. Der erste Anfang lag wohl in Spanien, wo Unamuno eine ganze junge Generation inspirierte. Mit dem Fortschreiten der Schrempfschen Diederichs-Ausgabe tat Kierkegaard auch in Deutschland immer stärkere Wirkung, selbst unter katholischen Autoren, wie Theodor Haecker, Ferdinand Ebner, aber auch bei Martin Buber, bei Viktor von Weizsäcker und anderen. Nicht zuletzt spielte dabei das »Referat Kierkegaards« eine wichtige Rolle, das Karl Jaspers in seiner )Psychologie der Weltanschauungen< (1919) vorgelegt hatte. Freilich faßte man es noch nicht unter dem Begriff der Intersubjektivität. Aber nlit dem Begriff )Systern der Philosophie< ging es im Zeichen der »Existenzphilosophie« zu Ende. Nun befolge ich schon seit langem den methodischen Grundsatz, nichts ohne begriffsgeschichtliche Rechenschaftsgabe zu unternehmen. Man muß der Vorgreiflichkeit unserer Sprache für unser Philosophieren Rechnung tragen, indem man über die Implikation der Begriffsworte Aufklärung sucht, mit denen die Philosophie umgeht. Da steht nun hinter dem Begriff Intersubjektivität unzweideutig der Begriff Subjektivität. Man wird sogar sagen dürfen, daß der Begriff Intersubjektivität überhaupt erst verständlich wird, wenn wir zuvor den Begriff der Subjektivität und des Subjektes und seine Rolle in der phänomenologischen Philosophie zur Sprache bringen. Was dem Wort )subiectum< und dem Begriff der Subjektivität die Prägung gegeben hat, die uns allen selbstverständlich schien, war, daß »Subjekt« so etwas wie Selbstbezug, Reflexivität, Ichheit meint. Dem griechischen Wort, dessen Übersetzung es ist, )Hypokeimenon<, sieht man das überhaupt nicht an. Das Wort bedeutet »das, was zugrunde liegt«. So begegnet es in der aristotelischen Physik und Metaphysik und hat in solchen Zusammenhängen eine lange lateinische Nachgeschichte, als )substantia< oder als )subiecturn<. Beide sind lateinische Übersetzungen von )Hypokeimenon<, das ist das und meint das, was unveränderlich dem Wechsel aller Veränderungen zugrunde liegt. Aristoteles führt diesen Begriff im Hinblick auf die Natur ein. Er unterscheidet das, was in der Natur vorgeht als das, was bald so bald
so an einer Sache vorkommt, von der Sache selber, an der es so oder so vorkommt. Diese aristotelische Unterscheidung besitzt aber schon bei Plato ihre Vorbereitung, wenn Plato das» Was«, das )Ti<, von dem »Quale«, dem )Poion<, unterscheidet. Die aristotelische Wendung auf die Physik rückte nun diesen auch grammatisch-logischen Begriffdes Subjekts in die Nähe zur )Hyle<, als Begrifffür die Materie, und zu der Begriffsbildung der aristotelischen Substanzmetaphysik. So fragt man sich, wie von dieser Grundorientierung aus der neuzeitliche Begriff des Subjektes und der Subjektivität die ihm eigene besondere Wendung nehmen konnte. Die Antwort ist klar. Es kam durch die cartesianische Auszeichnung des )cogito me cogitare<, die durchJohn Locke Weltgeltung erhielt. Ihr wird der Erkenntnisprimat zugesprochen, als das unerschütterliche Fundament, das allen Zweifelhaftigkeiten gegenüber Bestand hat, )quamdiu cogito<, so lange als ich denke - was auch immer ich denke. Es ist gleichsam die Substanz aller unserer Vorstellungen. Von da aus hat sich der Begriff der Subjektivität entwickelt. Kant hat dann das Wort und den Begriff zum Siege gefiihrt, als er die Funktion der Subjektivität in der transzendentalen Synthesis der Apperzeption erkannte, die alle unsere Vorstellungen muß begleiten können und ihnen Einheit verleiht. So wie in der Natur die wechselnden Zustände oder Vorgänge an unveränderlich Bleibendem vorkommen, so beruht eben auch der Wechsel der Vorstellungen darauf, daß sie einem bleibenden Ich zugehören. Das ist der begriffsgeschichtliche Rahmen, in dem sich der Übergang von der Substanz zum Subjekt vollzogen hat. Damit rückt die Struktur der Reflexivität ins Zentrum der Philosophie. Von der Wortbildung her ist Reflexion und Reflexivität von dem lateinischen Ausdruck der )reflexio< abgeleitet, der aus der Optik und der Spiegelung bekannt ist. Er hat sich nicht vor der Entstehung der scholastischen Wissenschaft zu dem neuen Begriffssinn entwickeln können, der uns natürlich ist. Ursprünglich hat er nur die Auszeichnung des Lichtes dargestellt, daß erst das, was im Lichte steht, das Licht selber sichtbar macht. Das konnte als das entscheidende Merkmal der Selbstbezüglichkeit und der Selbstheit gelten, die als Selbstbewegung dem Leben als solchem zukommt und für die Grieche!l den Begriff der Seele, der Psyche, ausmacht. Daß solche Struktur dem Leben als solchem zukommt, ist für Menschen und Tiere ohne weiteres einleuchtend. Aber selbst die Pflanze bildet sich durch die Assimilation zur organischen Einheit und erhält sich in ihr. Das hat die aristotelische Tradition die )anima vegetativa< genannt. In dieser Grundstruktur des Organismus stecken Probleme, die schon in platonischer Zeit diskutiert worden sind. Wie kann es überhaupt Selbstbewegung geben, wenn doch zu allem, was in Bewegung ist, ein Bewegendes gehört? Wie soll das Bewegte selber Bewegendes sein können? Die ganze Problematik des )heauto kinoun<, die Aristoteles im 8. Buch der )Physik< diskutiert, stellt sich hier ein und fmdet
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ihre Ausprägung im Begriff des Nous. Wir erkennen darin den Begriff des Geistes wieder, und so hat Hege! sein System der philosophischen Wissenschaften, das er >Enzyklopädie< nannte, mit einem Aristoteles-Zitat wie mit einem letzten Wort geschlossen. Das höchste Seiende ist der Nous, der als >Noesis noeseos<, als Denken des Denkens, die Struktur der Reflexivität darstellt. Das sich selbst Gegenwärtige, das die Struktur der Reflexivität hat, bietet die höchste Erfiillung von Sein als Gegenwart. Hier hat sich das griechische Denken vollendet, aber nicht, ohne sich selbst den Einwand zu machen, daß Reflexivität gegenüber der unmittelbaren Hinwendung zu etwas immer ein Sekundärphänomen sei. Denken sei doch zunächst Denken von etwas - und nur dann auch Denken des Denkens. Aristoteles hat das Problem mit voller Klarheit gesehen. Die Zurückwendung auf das eigene Denkendsein ist immer nur >nebenbei< (iv napEpYlfJ). So sah sich Aristoteles in dem ontotheologischen Bereich der Metaphysik genötigt, das Universum als die Bewegungsordnung des All aufein oberstes Sein zurückzufiihren, das durch Selbstbezug ausgezeichnet ist. Wie anders stellt sich für uns die apodiktische Evidenz des Selbstbewußtseins in die Mitte der Philosophie! Der transzendentale Idealismus verleiht der Subjektivität den Vorrang des Absoluten. Erst in der Wiederaufnahme des Aristoteles hat Franz Brentano in der Mitte des 19. Jahrhunderts den Primat des Selbstbewußtseins erstmals wieder angefochten. Ihm ist dann Max Scheler gefolgt, der auf dem Primat der Sachgegebenheit gegenüber dem Selbstbewußtsein bestanden hat. Was im neuzeitlichen Denken den Vorrang des Selbstbewußtseins gegenüber dem Sachbewußtsein motiviert, ist der Primat der Gewißheit gegenüber der Wahrheit, der durch den Methodengedanken der modernen Wissenschaft begründet worden ist. Im Unterschied zum klassischen Begriffder Methode wird seit Descartes Methode als Weg der Vergewisserung verstanden, und in diesem Sinne ist bei aller Vielheit der Methoden die Methode eine. Hier entspringt mit der Entstehung der modernen Wissenschaften für die Philosophie die Daueraufgabe, zwischen der Tradition der Metaphysik und der modemen Wissenschaft zu vermitteln. Es ist die Aufgabe, so Unvereinbares wie den Erfahrungsweg der Wissenschaft und die ewigen Wahrheiten der Metaphysik zu vereinigen. So erklärt sich, daß in der Neuzeit der antike Begriffdes Systems erstmals auf die Philosophie Anwendung gefunden hat. Im älteren Sprachgebrauch des Griechischen spielt )System( in der Astronomie und in der Musik allein eine Rolle, das heißt überall dort, wie am Sternenhimmel, wo sich die Aufgabe stellte, die Kreisbewegung des gestirnten Himmels mit der Unregelmäßigkeit der Planetenbewegung in Übereinstimmung zu bringen oder die >Tonarten< auszuzeichnen. Die Übertragung des Systembegriffs auf die Philosophie weist jetzt der Philosophie die gleiche Aufgabe zu, die ständig fortschreitende Forschung der
Wissenschaft mit dem Wahrheitsanspruch der Philosophie zu vermitteln. Bei Leibniz dringt der Ausdruck >System( sogar in die Titel-Riege ein. Die letzte Synthese, die als Systemkonstruktion in der Philosophie die größte Wirkung gehabt hat, war aber zweifellos die des deudchen Idealismus. So erklärt sich, daß die Nachfolger Kants die Begründung alles Wissens aufden ersten obersten Grundsatz des Selbstbewußtseins zurückgeführt haben. Das bedeutete in der Tat, wie Kant es genannt hat, geradezu eine »kopernikanische Wendung«. Daß der formale Begriff des Selbstbewußtseins sich mit Inhalt füllte, war dann die Arbeit der Nachfolger Kants. Schelling entwarf seine Naturphilosophie, die den >physikalischen Beweis des Idealismus< erbringen sollte, sofern im Aufbau der Potenzen die Natur ihre höchste Potenz erreicht, wenn der Blitzschlag aus dem Absoluten das Selbstbewußtsein zeitigt. Hegel hat dann über Schelling hinausgehend den ganzen Inhalt der geschichtlichen Erfahrung in den Begriff des Idealismus hineingeholt und von der Dialektik des Lebensbegriffs aus zu dem Begriff des Se1bstbewußtseins übergeleitet. So hat sich die Rolle vorbereitet, die der Begriff des Lebens in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts spielen sollte. Der entscheidende Übergang liegt in Hegels >Phänomenologie<, in dem ebenso bekannten wie mißverstandenen Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft, das die Bedeutung der Arbeit darstellt2 . Das wahre Selbstbewußtsein begründet sich auf der Arbeit. Indem dem Anderen die durch die Arbeit erarbeitete Form aufgeprägt wird, vollzieht sich die Aneignung des Fremden. Das ist das erste höhere Selbstbewußtsein, von dem der Weg zu dem höchsten Selbstbewußtsein des Geistes hinaufführt. Auf diesem Wege liegt die Kritik am Selbstbewußtsein, wie sie Marx und heute die Ideologiekritik ausüben, und bis heute beherrscht diese Kritik seit Nietzsche das philosophische Denken. In einer bekannten Formulierung hat Nietzsche das idealistische Prinzip des Selbstbewußtseins geradezu angefochten, indem er aufDescartes zurückblickend sagte: »Es muß gründlicher gezweifelt werden. « Die Aussagen des Selbstbewußtseins für Gegebenheiten zu nehmen erscheint uns seither als naiv. Schon Nietzsche bezieht sich etwa auf die Traumfunktion, die Freud später in den Vordergrund gestellt hat, wenn er als Beispiel anführt, wie ein fester Schläfer das Klingeln des Weckers in einen Kanonenschuß uminterpretiert und eine ganze Schlacht dazuträumt, nur um selber nicht aufzuwachen. Das Gemeinsame von Marx, Nietzsche, Freud ist gewiß dieses, daß man das Gegebene des Selbstbewußtseins nicht gutgläubig als eine Gegebenheit hinnehmen kann. Hier entspringt auch die neue Rolle, die der Begriff der Interpretation erhält. Man denke an Nietzsches bekanntes Wort: »Ich kenne keine moralischen Phänomene. Ich kenne nur eine moralische Interpretation der Phänomene. « Nietz2
Siehe dazu auch den Hegel-Beitrag in Ges. Werke Bd. 3, S. 47ff.
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sches Sprachgebrauch von »Interpretation« ist an sich nur die Übernahme eines Wortes aus der Berufssprache des Philologen. Aber gewiß ist es von höchster Aussagekraft, daß dieser Sprachgebrauch von »Interpretation « weit über allen philologischen Sprachgebrauch hinaus zu einer Grundkategorie der modernen Philosophie geworden ist. Auch Heideggers Aufnahme des Begriffs markiert mit seiner Aufnahme zugleich die kritische Fortbildung des Phänomenbegriffs der Husserlschen Phänomenologie. Wie nimmt sich nun die Problematik der Subjektivität im Lichte Heideggers und seiner an Husserl geübten Kritik aus? Bekanntlich hat Heidegger schon in >Sein und Zeit< den Husserlschen Sprachgebrauch von »Phänomen« insofern umgebogen, als er die Freilegung des Phänomens als die eigentliche Aufgabe der Phänomenologie ansah und durch die bloße Parole »zu den Sachen selbst«, die Husserl aufgestellt hatte, nicht genügend bedacht fand. Damit etwas sich zeigt, verlangt das eine Aufdeckung des Verdeckten, damit es zum Sichzeigen kommen kann. Das Wort» Phänomenologie« heißt also nicht allein »Beschreibung dessen, was gegeben ist«, sondern schließt die Abdeckung des Verdeckenden ein, das nicht nur in falschen theoretischen Konstruktionen zu bestehen braucht. So nämlich sah anfänglich in gewissem Umfang die phänomenologische Beschreibungskunst aus, daß man mit der Abdeckung dogmatischer Verdeckungen, z. B. mechanistischer Theorien in der Lehre von der Wahrnehmung, begann, oder auch in der Abdeckung einer hedonistischen Trieblehre. Das konnte man als einen Hauptantrieb der Wendung zur Phänomenologie etwa bei Pfänder und in der Schule von Theodor Lipps als auch bei dem jungen Max Scheler alU Werke sehen. Husserl selber redet zwar auch von sensualistischen Elementen im Phänomen der Wahrnehmung und nannte sie die »hyletischen Daten«, aber das geschah zwecks Herausarbeitung der bestimmenden Formcharaktere, die in der Wahrnehmung wirksam sind und die leibhafte Gegebenheit des Wahrnehmungsgegenstandes zustande bringen. Heideggers Kritik war radikaler. Sie traf selbst den Begriff des Phänomens und. der leibhaften Gegebenheit des Wahrnehmungsgegenstandes, weil sich diese letzten Endes bei Husserl auf die apodiktische Gewißheit des Selbstbewußtseins zurückbezieht. Heidegger hat durch Einführung des Begriffes» Vorhandenheit« und seine Hinterfragung in Richtung auf »Zuhandenheit« und »Dasein« den Horizont der Zeit und damit auch das Zeitbewußtsein, wie es Husserl meisterhaft beschrieben hatte, kritisch überschritten. Er hat gezeigt, daß diese angebliche Gegebenheit im Banne der griechischen Seinserfahrung bleibt. Das gilt für alles, was in dem Begriff des transzendentalen Ego und seiner apodiktischen Evidenz liegt, in dem sich die Phänomene »konstituieren«. Schon Augustin hat die Aporie des Zeitbewußtseins ausgearbeitet, wonach das Jetzt eigentlich überhaupt nicht »ist«, da es sich ja schon in seiner
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Identifizierung als das Vergangene aufgehoben hat. Husserl sah nun auch noch das Wesen des Selbstbewußtseins darin, daß es sich bei dem Versuch, sein eigenes Sein vor sich selbst zu bringen, in die Aporie der Zeitlichkeit verstrickt. Das reflektierende Selbst verfällt in einen unabschließbaren Iterationsprozeß, sofern die Reflexion immer wieder aufdas reflektierende Selbst nochmals reflektieren kann. So folgt aus der Struktur der Reflexivität selber, daß sie sich in leerer Iteration verfängt. Das ist Husserls Begriff einer transzendentalen Subjektivität, daß sie diesen unabschließbaren Leerlauf der Iteration miteinschließt. Heideggers Schritt bestand nun darin, daß er selbst noch in diesem Begriff des Selbstbewußtseins die geheime Nachwirkung der griechischen Ontologie aufdeckte und damit dem Begriff des Bewußtseins und seiner tragenden Funktion für den transzendentalen Idealismus seine Geltung entzog. >Sein< ist nicht nur als das zu verstehen, dessen ich bewußt bin, daß es da ist - oder wie der spätere Heidegger interpretiert: anwesend ist. Husserl hatte mit dem Begriff der Selbstpräsenz, das heißt mit der Selbsterscheinung des Bewußtseinsstroms, das Wesen des Zeitbewußtseins zu fassen gemeint. Heideggers Kritik geht auf die Enge einer solchen Auffassung von Sein. Er zeigt, daß die primäre Grundverfassung des menschlichen Daseins damit verkannt ist. Das Dasein besteht nicht in dem immer nachträglichen Versuch, sich im Bewußtwerden seiner selbst sich vor sich selbst zu bringen. Es ist vielmehr Weggegebenheit, und zwar nicht allein an seine Vorstellungen, sondern vor allem an die Nicht-Gegebenheit der Zukunft. Das macht das menschliche Dasein aus, wie etwa auch Hermann Cohen betont hat. Ob man das »Prinzip Hoffnung« nennen mag oder wie immer man auch den futurischen Charakter des menschlichen Daseins betonen mag, Heidegger hat gezeigt, daß in all dem und in dem Begriffder Subjektivität ein ontologisches Vorurteil unerkannt weitergeistert, auch wenn man Subjektivität nicht mehr als Substantialität oder als Vorhandenheit denkt. Aus dieser Kritik am Bewußtseinsbegriff, die Heidegger später radikali~iert hat, bekommt es ein besonderes Gewicht, daß Heidegger schon vor >Sein und Zeit< den Ausdruck »Hermeneutik der Faktizität« eingeführt hat, um seine eigene Fragestellung dem Bewußtseinsidealismus entgegenzusetzen. Faktizität ist ja offenkundig das Unaufhellbare, das allem Versuch der Durchsichtigkeit des Verstehens widersteht. Von hier aus wird klar, daß in allem Sinnverstehen etwas Unaufklärbares bleibt und daß man daher auf das Motivierende bei allem Verstehen zurückfragen muß. Damit wandelt sich der ganze Begriffvon Interpretation und nähert sich der Radikalität, die wir oben in dem berühmten Nietzsche-Wort fanden. Meine eigenen Arbeiten sind in der Richtung fortgegangen, was Interpretation dann eigentlich ist, wenn man so weit ginge, das Ideal der Selbstdurchsichtigkeit der Subjektivität grundsätzlich zu bestreiten. Nicht das allein ist ja gemeint, daß man de
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facto immer alles Sinnverstehen begrenzt finden wird, sondern dies, daß ein unbegrenztes Sinnverstehen den Sinn von Verstehen selber verkürzen, ja im Grunde aufheben würde, so wie eine alles umfassende Perspektive den Sinn von Perspektive aufhöbe. Das greift weit in das Problemfeld der sogenannten Intersubjektivität hinein, wie sich zeigen wird. Zunächst sieht es in >Sein und Zeit< freilich so aus, als ob die Intersubjektivität nur eine Randerscheinung in der eigentlichen Seinsweise des Daseins darstelle und unter das Verdikt der Uneigentlichkeit, des Geredes, des Man fällt, d. h. aber, in der Verfallenstendenz des Daseins seinen Ort hat. Den Begriff der Subjektivität habe ich zum Gegenstand einer begriffsgeschichtlichen Überlegung gewählt, um der Problematik der Intersubjektivität einen neuen Horizont zu öffnen. Daß die transzendentale Subjektivität im Husserlschen Aufbau der Phänomenologie die beständige Grundlage bildet, haben wir eingangs betont. Auch der Begriff ))Intersubjektivität« ist ein Wortgebrauch, der auf Husserls eigene Begriffsnöte und eine ganze Problemdimension hinweist. Was wir vielleicht mit Hegel »objektiven Geist« nennen würden, oder was wir mit Marx und in der Nachwirkung der Hegelschen Rechtsphilosophie »die Gesellschaft« nennen würden, fällt bei Husserl unter den Begriff der Intersubjektivität. Die Orientierung an der Subjektivität ist so sehr bestimmend, daß selbst die Themenstellung Husserl nur von da aus formulieren konnte. Auch andere Begriffe, die Husserl in der Analyse der Probleme der Intersubjektivität herangezogen hat, drücken das sehr deutlich aus. So ist es vielsagend, daß Husserl den Leibnizschen Begriff der Monade und den monadologischen Aspekt aufgreift, der ja doch selbst bei Leibniz das schier unlösbare Problem der Koexistenz der Monaden in sich birgt, für das Leibniz die Existenz Gottes zu beweisen meinte. Husserl hat die Bedeutung der Intersubjektivität seinerseits für die Konstitution der Welt in Anspruch genommen. Erst durch die gemeinsame Welthabe läßt sich die Koexistenz und die Vermittlung der Monaden miteinander denken, also auf der Basis des welthabenden Bewußtseins. Auch wenn man sich nicht in die semantische Seite des Problems einlassen will, gibt jedoch die phänomenologische Begriffsbildung Husserls zu denken. Angesichts der Form, in der der deutsche Idealismus hier und später in den zwanziger Jahren und schon vorher zur Diskussion gestellt worden ist, war das wie eine Art stockenden Atems. Da war auf einmal die Rede von dem »Ich-Du-Problem«. »Das Ich«, »das Du« zu sagen scheint uns mindestens seit Wittgenstein nicht mehr recht erlaubt. Aber auch Heidegger weist in dieselbe Richtung, daß schon in solchen Redewendungen eine m ystifizierende Substantialisierung steckt und der Zugang zu den wirklichen Problemen eben damit verbaut ist. Wir sahen, daß solche Kritik an dem Subjektivitätsbegriff des Idealismus auf Kierkegaard zurückgeht; dessen Einfluß
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war es, der insbesondere den Kreis der >Kreatur<, Martin Buher, Franz Rosenzweig, Theodor Haecker, Ferdinand Ebner und Friedrich Gogarten inspiriert hatte. Das »Du-Verhältnis« erscheint hier als Gegeninstanz gegen den zeitgenössischen Kantianismus und den Primat des transzendentalen Ego, dem sich selbst Husserl auf Dauer nicht hatte entziehen können. Es scheint mir eine wichtige Modifikation, wenn man inzwischen nicht nur nicht »das Du« sagt und auch nicht einfach wie bei Fichte von dem »NichtIch« spricht, das wie ein Widerstand, wie eine Beschränkung klingt, wogegen man sich durchzusetzen hat oder wie immer zu übermächtigen hat. Man spricht von dem Anderen. Daß man hier »der Andere« sagt, verändert die Perspektive. Sogleich ist ein Wechselverhältnis in die Verfassung von Ich und Du eingedrungen. Jeder Andere ist ja zugleich der Andere des Anderen, wie man aus Michael Theunissens Buch lernen kann. Ich selber habe an der antiken Freundschaftslehre meinerseits Maß genommen. Nun zeigt sich in den unendlich reichhaltigen Analysen Husserls an diesem Punkte ein erstaunlicher Dogmatismus des Phänomenologen. Im Ausgang von der transzendentalen Subjektivität besteht Husserl darauf, daß der Ande're zunächst als ein Wahrnehmungsding intendiert sei, mit all den spezifischen Formqualitäten der Wahrnehmung, die Husserl in seiner Lehre von der Abschattung vorgetragen hat. Erst in einem zweiten, sozusagen aufgestuften Akt werde dem Wahrnehmungsding Beseelung verliehen. Husserl nennt das »transzendentale Einfühlung«, offenbar in bewußter Anlehnung und Ablehnung der psychologischen Theorie von Einfühlung und Sympathie, die ehedem durch Theodor Lipps, den Münchner Psychologen, entwickelt worden war und dessen Schule Pfänder, Geiger, Gallinger, Hildebrand und andere angehörten, bevor dieselbe durch Schelers Vermittlung in der sogenannten» Umkippung« der Lipps-Schule und damit in die phänomenologische Bewegung einmündete. In Wahrheit ist diese zweistufige Einfühlung eine sehr künstliche Konstruktion. Im Lebensbezug von Leben auf Leben ist die sinnliche Gegebenheit eines Wahrnehmungsdings ein sehr sekundäres Konstrukt. Offenbar bewegt sich hier Husserl selber im Zeichen eines Abbaus dogmatischer Verdeckungen und nicht im Zeichen der primären Gegebenheit der Sache. Das aber war die große Parole der Phänomenologie gewesen, zu den Sachen selber zurückzukehren. Jedenfalls hat Husserl unter dem Druck wissenschaftstheoretischer Motive darauf bestanden, daß der Andere zunächst nur als Wahrnehmungsding gegeben sein kann und nicht in der Lebendigkeit, in der leibhaften Gegebenheit. An diesem Punkte setzt Heideggers ontologische Kritik an Husserls Phänomenologie an, dem Punkte ihrer stärksten Evidenz. Es sieht ganz so aus, als ob ein allzu enger Vorbegriff von Gegebenheit - der wissenschaftstheoretische Begriff der Meßbarkeit - den Genius der Beschreibung, der Husserl im Grunde war, hier verdunkelt hat. Das ist vielfältig kritisiert worden. Aber nur Heidegger
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hat die ontologische Konsequenz gezogen, in solcher Fehlbeschreibung das Vorurteil der fortwirkenden griechischen Ontologie und das Meßbarkeitspostulat der neuen Wissenschaft wirksam zu sehen. Heidegger ging es darum, das Subjektivitätsdenken einzugrenzen und das ontologische Vorurteil der Phänomenologie und philosophischen Forschung aufzudecken, das hinter demselben steht. Grundsätzlich verfuhr er meines Erachtens richtig, wenn er zu dIesem Zwecke in einer Epoche, in der sich alle Traditionen auflösen und unbestrittene Gemeinsamkeit nicht mehr besteht, keine andere Solidarität vorauszusetzen wußte, als eine solche, in der sich alle Menschen selbstverständlich vereint finden - und das ist die Grenzsituation der Jemeinigkeit des Sterbens und des Todes. Auch das mag, wie wir uns bewußt sein dürfen, eine auf den christlichen Kulturkreis beschränkte Voraussetzung sein. In der Tat ist Heideggers Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit auf diese eingeschränkt. Das soll nicht etwa eine grundsätzliche Abwertung der sozialen Welt sein. Es soll vielmehr ins Bewußtsein heben, daß all das gar keine gemeinsame Welt ist, was sich nur in der Form des Geredes, des »Man« usw. darstellt, sondern vielmehr eine Art von Verfallenheit, mit der man sich die radikale Vereinzelung des Sterbens und die darin aufleuchtende Gemeinsamkeit verdeckt hält. Das hat Heidegger dann als die Endlichkeit des Daseins betont und nur in der einzigen Absicht expliziert, die Seinsfrage vorzubereiten. Es geht hier also überhaupt noch nicht darum, ob der Andere und damit das Problem der Intersubjektivität bei Heidegger genügend im Blick gestanden hat. Das ist nicht der Punkt, um den es sich hier für Heidegger handelt. Er hat bekanntlich sehr wohl gewußt, daß Dasein auch Mitsein ist, und hat in >Sein und Zeit< das »Mitsein« als eine gleichursprüngliche Verfassung des Daseins ausgezeichnet. Das Dasein ist ebenso ursprünglich Mitsein, wie es Dasein ist. Aber da~ so im Horizont der Seinsfrage Gesehene schließt in Heideggers Ansatz den Primat der Subjektivität so radikal aus, daß der Andere überhaupt nicht zum Problem werden kann. »Dasein« ist freilich nicht Subjektivität. So hat Heidegger in seinem Ansatz den Begriffder Subjektivität durch den Begriff der Sorge ersetzt. An dieser Stelle wird es jedoch deutlich, daß der Andere damit nur am Rande und in einer einseitigen· Perspektive im Blick steht. So spricht Heidegger von Sorge und auch von Fürsorge. Fürsorge gewinnt aber bei ihm den speziellen Akzent, mit dem er die eigentliche Fürsorge »freigebende Fürsorge« nannte. Das Wort deutet an, worauf es ihm ankommt. Die wahre Fürsorge ist nicht, für den Anderen zu sorgen, sondern vielmehr den Anderen in sein eigenes Selbstsein freizugeben - im Gegensatz zu einer Versorgung des Anderen, die ihm die Daseinssorge abnehmen möchte. Es handelt sich also überhaupt nicht um die sozialpoliti-
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sche »Fürsorge«, wie der Soziologe Bourdieu gemeint hat 3 . Auch hier zielt Heidegger ganz nur auf die Vorbereitung der Seinsfrage, die sich jenseits aller Metaphysik erst stellen läßt. Die Formel von der freigebenden Fürsorge ist offenkundig als eine Freigabe für das gemeint, worin die Eigentlichkeit des Daseins besteht und woran >Sein und Zeit< die.Seinsfrage der Metaphysik in einem neuen Sinne aufzurollen strebte. Man kann sich nun freilich fragen, wieweit dieser Ansatz von >Sein und Zeit< selber den Anderen überhaupt angemessen in den Blick bekommen konnte. Da mag eine eigene Erinnerung bezeichnend sein. Es war im Jahre 1943, als ich in einer Arbeit, die später als erstes Stück meiner >Kleinen Schriften< veröffentlicht wurde4 , in Abgrenzung von Heidegger zu zeigen versuchte, wie das Verstehen des Anderen eine grundsätzliche Bedeutung besitze. Wie Heidegger in der Vorbereitung der Seinsfrage es entwickelt hatte und wie er damit das Verstehen als die eigentlichste Existenzialstruktur des Daseins herausgearbeitet hatte, konnte der Andere sich in seiner eigenen Existenz nur als eine Begrenzung zeigen. Am Ende, so meinte ich, wird aber gerade das Starkmachen des Anderen gegen mich selbst mir erst die eigentliche Möglichkeit des Verstehens aufschließen. Den Anderen gegen sich selbst gelten zu lassen - und von da aus sind alle meine hermeneutischen Arbeiten langsam herausgewachsen - heißt nicht nur, die Begrenztheit des eigenen Entwurfs im Prinzip anerkennen, sondern verlangt geradezu im dialogischen, kommunikativen, hermeneutischen Prozeß über die eigenen Möglichkeiten hinauszukommen. Als ich das damals Heidegger vortrug, nickte er zwar ganz beifällig, aber dann sagte er: »Ja, und was ist es mit der Geworfenheit?« Offenbar meinte Heidegger, daß das, was ich da geltend machte, bei ihm doch alles in der Tatsache stecke, daß Existieren des Daseins nicht nur Entwurf, sondern auch Geworfenheit ist; das heiße doch, daß Dasein sich in einer nie ganz durchdringbaren Weise selbst zu übernehmen hat. In der Tat, das Wort »Geworfenheit« stellt ein semantisches Feld dar, in dem recht Verschiedenes anklingt. Im normalen Sprachgebrauch kennen wir es eigentlich nur von der Wendung, daß die Katze geworfen hat. Ihre Jungen, das ist ein Wurf. Das ist Geworfenheit. Zweifellos hat Heidegger mit dieser semantischen Konnotation das für ihn Wesentliche im Auge. Man hat ja wirklich nicht die freie Wahl, zu existieren. Man wird ins >Da< ebenso geworfen wie die Jungen von der Katze. Damit ist eine prinzipielle Begrenzung des Entwurfcharakters des eigentlichen Daseins gegeben. Wir sind in einem solchen Wurf ja nicht einmal dieser einzelne, und wir wissen gar nicht, wer >wir< sind, zum Beispiel wir, >diese Generation<. In dem Ausdruck 3 4
Siehe dazu auch im vorhergehenden, S. SOff. Jetzt in Ges. Werke Bd. 2 (Nr. 2).
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»Geworfenheit« steckt aber noch ein anderer Anklang, der von mehr geschichtlicher Herkunft ist. Es ist die gnostische Komponente. In der Gnosis finden wir eine Anthropologie, die von Hans Jonas damals mit Heideggerschen Mitteln rekonstruiert worden ist. Dort meinte »Geworfenheit« das Geworfensein der Seele in die Welt, eine Grundbestimmung, von der die gnostische Meditation ihren Ausgangspunkt nimmt und zu der Wiedervereinigung mit dem Einen meditativ aufzusteigen sucht. Injedem Falle schien mir Heideggers Antwort zu wenig für das Phänomen, um das es mir geht. Es ist nicht dies allein, daß einjeder prinzipiell ein Begrenzter ist. Es geht mir darum, warum ich meine Begrenztheit an der Entgegnung des Anderen erfahren und immer wieder neu zu erfahren lernen muß, wenn ich nur überhaupt in die Lage kommen soll, meine Grenzen zu überschreiten. Hier drängt sich eine ganz andere neue Begriffstradition auf, und man wird sich fragen, wieweit dieselbe weiterhilft. Ich meine all das, was mit dem Begriff der Person zusammenhängt. Bekanntlich ist der Ausdruck wie seine griechische Parallele prosopon ein Ausdruck für die Maske des Schauspielers und damit auch für die Rolle, die der Schauspieler im attischen Theater - und ebenso ein jeder im Welttheater - spielt. Das gleiche gilt für sein lateinisches Äquivalent (persona). Von da aus ist der Personbegriff dann in die Rechtssprache eingedrungen. Man kann es verstehen, daß im Rechtswesen nicht die Individualität als solche interessiert und gemeint ist, sondern die auf die Rechtsdimension reduzierte Rolle, die einer in dem Rechtsfall gespielt hat. - Nun ist die Geschichte des Personbegriffs überaus lehrreich. Ihre erste Prägung hat sie bei Boethius gefunden. Danach ist die Person >naturae rationalis individua substantia<. Man sieht daran, wie die griechische Metaphysik in späthellenistischer Epoche in das lateinische Sprachdenken eingedrungen ist, und sie ist bis in die Scholastik hinein wirksam geblieben. Daneben steht nun auch eine höchst bedeutsame andere christliche Lehre, und das ist die Anwendung auf die Trinität. Da geht esja um die drei Personen Gottes, die als eine Einheit und zugleich als eine Dreiheit verstanden wird, als der Schöpfer und Vater, als der Erlöser und Sohn und als die Ausbreitung des Heiligen Geistes. Daß zur Bildung des Personbegriffs im heutigen Denken nicht nur die Begriffsgeschichte bestimmend gewesen ist, die wir eben skizziert haben, sondern vor allem auch die langsame Ausbildung neuer Gesellschaftsformen von Stadt und Staat in der sich konsolidierenden Zeit der Völkerwanderung, liegt auf der Hand. So hat insbesondere im späten Mittelalter das englische Vorbild der »Free Bill« die soziale Dimension des Personbegriffs verstärkt. Auch Luther hat in diese Richtung gewirkt. Er hat den Personbegriff aufs engste mit der >Fides<, dem Glaubensgebot, verknüpft und damit zugleich mit der Rolle des Gewissens. aber durchaus nicht mit dem Begriff des theoretischen Selbstbewußtseins.
Das hat Ebeling in seinen Lutherstudien gezeigt5 • Um so bemerkenswerter ist es aber, daß in der philosophischen Begriffssprache der von uns geschilderte Begriffswechsel von der Substanz zu dem neuzeitlichen Begriff der Subjektivität die Oberhand gewinnt. Sowohl bei Descartes wie bei Leibniz undJohn Locke wird der Begriffder Person durch den Reflexionsbegriffdes Selbstbewußtseins definiert, ohne daß der Andere dabei überhaupt in den Blick rückt. Hier hat erst im Zeitalter der Französischen Revolution die Philosophie Kants neue Wege geöffnet, indem Kant über die Subjektivität des Selbstbewußtseins die Freiheit der Persönlichkeit und ihre Zurechnungsfähigkeit gestellt hat. Hier erst kommt es zu dem politisthen Begriff von Subjekt als» Untertan«. Das hat dann auch auf die theologische Debatte zurückgewirkt. Der Personbegriff erhielt sowohl in der lutherischen Tradition durch Schleiermacher wie auch durch die Wiederaufnahme der thomistischen Tradition in der katholischen Philosophie unseres Jahrhunderts neue Aufnahme. Schleiermacher hat geradezu das Kampfwort des »Personalismus« geprägt, durch das er alle pantheistischen Tendenzen in der Theologie der Trinität auszuschalten suchte. Gleiches gilt von der Aufnahme des Personalismus in der katholischen Philosophie unseres Jahrhunderts, insbesondere durch den Einfluß von Max Scheler und die fruchtbare Unterscheidung zwischen der Intimsphäre der Person und ihrer Sozialfunktion, die er in die philosophische Analyse eingebracht hat. Daß sich von da aus der christliche Liebesbegriff in beiden Konfessionen neu interpretieren ließ und insbesondere die dritte Person -, liegt ja auf der Hand. Heidegger hat später, nach der Preisgabe der transzendentalen Selbstauffassung, an der er in >Sein und Zeit< festgehalten hatte, die Dimension der Subjektivität noch gründlicher verlassen und auch die Sorgestruktur des Daseins, ja sogar den Begriff des Verstehens und den der Hermeneutik aus seinen Denkversuchen nach der »Kehre« ausgeschaltet. In diese Richtung haben meine eigenen Arbeiten eingesetzt, die am Thema der Sprache und dem Primat des Gesprächs orientiert sind und in der Problemskizze des dritten Teils von>Wahrheit und Methode< ihre erste Vorzeichnung gefunden haben. Wer >Sprache< denkt, bewegt sich schon immer in einem Jenseits der Subjektivität.
5 G. EBELING, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik [1942]. Nachdr. Darmstadt 1962.
Phänomenologie, Hermeneutlk, MetaphYSIk
9. Phänomenologie, Hermeneutik, Metaphysik (1983)
Die Phänomenologie ist unbestrittenermaßen eine der wesentlichen Strömungen in der Philosophie unseres Jahrhunderts. Neben dem Empirizismus der angelsächsischen Tradition und seiner Umbildung durch den Wiener Kreis, neben Neopositivismus, Neomarxismus, >Kritischer Theorie< und dem sog. kritischen Rationalismus behauptet sie sich als die lebenskräftigste Spielart des Apriorismus und gewinnt inzwischen sogar, insbesondere auf dem Felde der $ozialphilosophie im Anschluß an Aron Gurwitsch und Alfred Schütz, zunehmende Beachtung selbst in Ländern, in denen ein strikter Positivismus der empirischen Sozialforschung das Feld beherrschte. Das ist nicht von ungefähr. Husserl, der Begründer der phänomenologischen Bewegung, hatte dem klassischen Apriorismus der idealistischen Tradition erneut zum Siege verholfen, als er der Überfremdung der Philosophie durch die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie Einhalt gebot. In einer vernichtenden Kritik zeigte er in seinen >Logischen Untersuchungen< (um die Jahrhundertwende) auf, daß die Sachverhalte der Logikebenso wie die Gegenstände der Mathematik, Zahlen oder geometrische Figuren - keine Erfahrungstatsachen sind und ihres eigentlichen Geltungssinnes beraubt werden, wenn man sie als solche mißversteht. Husserl folgte damit der Kritik, die von Gottlob Frege gegen seine eigene >Philosophie der Arithmetik< gerichtet worden war. Der Satz des Widerspruches ist ein »logischer« Satz, dessen Geltung logisch evident ist und nicht durch Erfahrung begründet wird - etwa die schlechte Erfahrung, die man macht, wenn das Denken Widersprüche begeht. Es ist nicht nur praktisch ratsam unter dem Gesichtspunkt der Denkökonomie. Es erspart Irrtümer - und Widersprüche zu vermeiden, das hat seine eigene Evidenz in sich selber, wie schon Aristoteles erkannt hat, wenn er den Satz des Widerspruchs das sicherste Prinzip überhaupt nannte. Mit der Wiederherstellung des »idealen« Geltungssinns der Logik, z. B. auch der idealen Einheit der Bedeutung von Worten im Unterschied zu seelischen Ausdrucksphänomenen, hat Husserl das - im Anschluß an Plato - die »eidetische Reduktion« genannt, die alle Tatsachenfragen einklammert (Epoche). Damit hatte Husserl einen bedeutenden Beitrag zur Rechtfertigung des Apriorismus in der Philosophie gelei-
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stet. Er kam dadurch in die Nähe zum herrschenden Neukantianismus, der gegen die Übermacht des Empirismus das apriorische Element gerade auch in den Erfahrungswissenschaften - mit Kant - verteidigte. Die bedeutendsten Schulen des Neukantianismus, die Marburger und die südwestdeutsche Schule, stimmten aber darin überein, daß sie die Probleme der Philosophie auf die Erkenntnistheorie - und das hieß: auf die Erkenntnis der Wissenschaft - reduzierten. Im Anschluß an Kants >Prolegomena< sahen sie im »Faktum der Wissenschaft« die letzte Ausweisung aller Erkenntnis. Das >Ding an sich<, diesen metaphysischen Rest der Kantischen MetaphysikKritik, deutete die Marburger Schule zu der »unendlichen Aufgabe« der Bestimmung des Gegenstandes durch die forschende Wissenschaft um. Das war eine bemerkenswerte Verengung dessen, was Erfahrung im menschlichen Leben bedeutet. Mochte es im Zeitalter des großen Aufschwungs der physikalischen und chemischen Forschung für die Naturwissenschaften noch einleuchten - für die Geistes- oder Kulturwissenschaften war es wenig überzeugend, wenn Hermann Cohen in den Rechtswissenschaften die wissenschaftliche Anwendung der praktischen Vernunft sah oder wenn Windelband und Rickert die Bedeutung der Geschichte an der Konstitution der in der Geschichtswissenschaft anerkannten geschichtlichen » Tatsache« festmachten und diese durch ihren Bezug auf das System der Werte begründeten. Weder die >Logik< und die Problemgeschichte der Marburger Schule noch die Werttheorie des südwestdeutschen Neukantianismus, die Hermann Lotzes Gedanken ausgearbeitet hat, konnten der Konkretion der Lebenserfahrung und des geschichtlichen Lebens gerecht werden. Auch Wilhelm Dilthey, diesem Universalgenie der geschichtlichen Erfahrung, gelang die Aufgabe seines Lebens nicht, die ganze Konkretion der geschichtlichen Welt in einer Kritik der historischen Vernunft wissenschaftlich zu begründen, und er begnügte sich mit einer psychologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, die zu einer bloßen Typologie der Weltanschauungen führte. Es machte das Genie Husserls aus, daß er, obwoW von Hause aus nichts als ein Mathematiker - Assistent des berühmten Mathematikers Weierstraß -, die Enge des auf die Wissenschaften reduzierten Erfahrungsbegriffs sprengte und die »Lebenswelt«, die wirklich gelebte Welterfahrung, zum universalen Thema der philosophischen Besinnung erhob. Der von ihm gefundene Ausdruck »Lebenswelt« - die Neuschöpfung eines Philosophen, die inzwischen Eingang in alle Kultursprachen gefunden hat l - tritt zwar erst später auf, aber Husserls Leitspruch »zu den Sachen selbst« wies bereits in ~iese Weite. und in der Tat erwies sich als das klassische Feld Husserlscher I Ausführlicher zu diesem Begriff )Die Wissenschaft von der Lebenswelc< in Ges. Werke Bd. 3 (Nr. 7).
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Die hermeneutische Wende
Phänomenologie, Hermeneutik, Metaphysik
Deskriptionskunst - anstelle des Machsehen Mechanismus der Empfindungen - die Phänomenologie der Wahrnehmung. Daß es hier apriorische Strukturen anzuerkennen gilt, die ihre eigene Evidenz besitzen t hat Husserl in unermüdlicher Kleinarbeit nachgewiesen, etwa, daß ein visuelles Objekt immer nur von seiner jeweiligen Vorderseite aus >erscheint< und alle anderen Aspekte verschattet sind. Für solche Wesenswahrheiten nahm Husserl Evidenz in Anspruch und nannte solche Wesensgestalt des Gegenstandes den intentionalen Gegenstand t d. h. das vom Bewußtsein und seinem intentionalen Akt Gemeinte als solche. Phänomene sind solche»Wesensgegebenheiten«t deren Deskription von der Intentionalität des Bewußtseins aus zugleich ihre einzig mögliche Rechtfertigung ist. Husserl glaubte auf diese W~ise das phänomenologisch Haltbare in den großen Denk.leist~ngen der Geschichte der Philosophie ausmachen zu können. So sah er in dem Kontinuum der Abschattungen t in denen ein Wahmehmungsgegenstand >erscheint<, den phänomenologischen Sinn des >Dings an sich<. Nun war die Berufung auf solche »Evidenz«, in der sich eine Intention »erfüllt«t freilich selber >evidenten( Einwendungen ausgesetzt t sofern es eben Evidenztäuschungen gibt. Husserl konnte diesen Einwendungen von seiten der Psychologie am Ende nur begegnen t indem er mit dem Neukantianismus auf die apodiktische Evidenz des Selbstbewußtseins rekurriertet das Descartes in seiner berühmten Zweifelsbetrachtung als unerschütterliches Fundament aller Gewißheit ausgezeichnet hatte. So gelangte Husserl zu dem riesigen Programm einer phänomenologischen Konstitution aller und jeder Geltung aus der Apodiktizität des transzendentalen Ego und glaubte, nur so könne man ein »ehrlicher Philosoph« sein und die Parole »ZU den Sachen selbst« erfüllen - ein mit hohem moralischem Pathos erfülltes Bekenntnis zu absoluter Rationalität, dessen Durchführung die Unermüdlichkeit seines ganzen Lebens galt und dessen bewundernswerten Umfang wir in den letzten 30 Jahren durch die in Löwen geleistete Arbeit mit Staunen erkennen. Aber war ihm in Einlösung seiner Parole »zu den Sachen selbst« auf diesem Wege eine Letztbegründung wirklich gelungen? Blieb nicht die Selbstkonstitution des Selbstbewußtseins und seiner Zeitlichkeit - die Urpräsenz - in die gleichen Aporien verstrickt t die schon Augustins Zeitanalyse hin- und hergewendet hatte? Und wie war es mit den konkreten phänomenologischen Forschungsfeldern? Da haben wir Husserls Lieblingsthema t die Phänomenologie der reinen Wahrnehmung. Was ist das? Gibt es die »reine« Wahrnehmung überhaupt? Ist sie nicht die bloße Konstruktion eines Grenzfalles, der in den »Sachen selbst« niemals begegnet? Scheler und später Heidegger haben - je in verschiedener Weise - Entscheidendes dagegen geltend gemacht. Scheler zeigte, daß die reine Wahrnehmung der äußerste Grenzfall der ernüchterten Triebphantasie ist, die am Ende das Gegebene
adäquat aufzunehmen gelernt hat. Er fand so den rechtfertigenden Anschluß an die Wissenschaft und an die Rolle, die experimentelle Messung in ihr spielt. Heidegger vollends sah im sogenannten Wahrnehmen den defizienten Modus eines ursprünglicheren Zutunhabens mit den Sachen. Er nannte die Vorhandenheit insofern ein sekundäres >Sein< gegenüber der Zuhandenheit. Beides weise aber auf das sdn Sein besorgende Dasein zurück. Ähnlich war es mit dem, was Husserl »Intersubjektivität« genannt hat und in drei Bänden seines Nachlaßwerkes vorliegt. Da sieht es so aus t daß die Erfahrung des Anderen eine auf die reine Wahrnehmung des ausgedehnten Etwas aufgestufte sekundäre Leistung beseelender Auffassung ist. Sagen das die Sachen selbst? Ist da erst etwas Ausgedehntes, Wahrnehmbares und dann erst >wird< es eine Person? Sehen so »die Sachen selbst« aus? Schelers »Sympathiegefühle«, Heideggers »Mitsein«, Sartres klassische Beschreibung der sich begegnenden Blicke und Merleau-Pontys Analyse der Perspektivität sind eine einzige Kritik dieses der Destruktion bedürftigen Ansatzes 2 . Ähnliches ließe sich für die Erfahrung unserer Leiblichkeit sagen. Zwar sind gerade die Husserlschen Analysen zur kinaesthetischen Konstitution unserer Leiblichkeit von ausgesuchter Feinheit. Aber ist es nicht das eigentliche Mysterium unserer Leiblichkeit t daß das eigentliche Sein des Leibes nicht Gegenstand des Bewußtseins ist? Unsere leibliche Wirklichkeit ist nicht das, was einer von seinem Leibe bemerkt und empfindet, weil er sich nicht wohl fühlt. Sie besteht doch weit mehr in der vollen Hingegebenheit unser selbst an das >DaEnergeia( und >Entelecheiader Sachen selbst« unternahm, wird niemand verkennen. Es bedurfte einer andersartigen Kritik, die nicht die Beschreibungskunst des Phänomenologen, sondern den Begründungszwang, dem er unterlag, und die als selbstverständlich in Geltung befindliche Begrifflichkeit, die demselben zugrunde lag, zu kritischer Prüfung erhob. Es war das Verdienst desjungen Heidegger, dafür ein reiches Arsenal begrifflicher Arbeit aufzubieten und sich die methodischen Mittel zu erarbeiten, die ihm erlaubten, die dogmatischen Züge im Begriff des Bewußt2
Siehe dazu auch meinen eigenen Beitrag im vorhergehenden, S. 95 ff.
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Phänomenologie, Hermeneutik, Metaphysik
seins selbst aufzudecken. Er ging bei Aristoteles in die Schule, bei dem es in der Tat weder Selbstbewußtsein als das >eigentliche< Bewußtsein noch Subjekt als Subjektivität, noch das Ego der transzendentalen Subjektivität gibt. Im Rückgang auf einen einzigartig aktualisierten Aristoteles gelang es Heidegger, vor allem am Leitfaden der Rhetorik und der Ethik, in Aristoteles selbst Ansätze aufzuspüren, die über dessen eigene )Erste Philosophie<, seine begriffliche Fassung des Seins als Anwesenheit, Substanz, Wesen hinauswiesen, und die Einseitigkeit des dogmatischen Erbes der Griechen sichtbar zu machen, das im Primat des Selbstbewußtseins in der Neuzeit gipfelt. Um diese >ontologische< Kritik an einem einzigen Beispiel zu illustrieren: Ist Angst wirklich die Erwartung eines zukünftigen Übels? Oder: Ist Hoffnung die Erwartung eines zukünftigen Guten? Ist hier nicht gerade auch » die Sache selbst~~ verfehlt, die innere Zeitstruktur unseres Daseins, das selber nicht >Vorhandenes< ist und auch nicht nur im >Haben< von Vorhandenem Bewußtsein, sondern sich auf Kommendes, auf seine Möglichkeiten hin versteht und sich dabei von der eigenen Vergangenheit und dem Gewordensein dessen, was man ist, geformt weiß? Natürlich war »der Meister derer, die da wissen«, wie gerade seine Begründung der Ethik auf das gewordene und erworbene Sein des Ethos lehrt, dagegen durchaus nicht blind. Aber das die Griechen leitende Verständnis von >Sein< erlaubte ihm nicht, diese ursprüngliche Zukünftigkeit und Gewesenheit, die dem menschlichen Dasein eigen ist, auch ontologisch zur Geltung zu bringen. Gewiß ist die Auszeichnung des Menschen sein» Sinn für Zeit«. Aber was Heidegger als das Sichselber-Voraussein erkannte, erscheint bei Aristoteles nur als Vorausnahme von Gegenwart, >Prohairesis<, die sogenannte Vorzugswahl. Das Ungenügen dieser ontologischen Verhaftung an die Präsenz des Seienden 'wurde für Heidegger zur Inspiration und führte ihn zur Erneuerung der Seinsfrage im Horizont der Zeit, durch die er mit einem Schlage zugleich die zeitgenössische Historismusproblematik entzauberte. Es ist wohlbezeugt, daß der junge Heidegger in den frühen Freiburger Jahren die damals nur in den dickleibigen Bänden der Berliner Akademie zugänglichen Arbeiten Wilhe1m Diltheys eifrig studiert hat. Das verstand sich im Einflußbereich eines Rickert und Husserl keineswegs von selbst und bedeutet mehr als bloßes Interesse an der zeitgenössischen Historismusdiskussion als solcher. Es bezeugt vor allem sein Eindringen in die geschichtliche Welt und in die des christlichen Glaubens und Denkens, die ihm durch seine theologischen Lehrer (Braig, Finke) aufgeschlossen worden war und in der sich das Rätsel der Endzeit stellt. Nur von einem dogmatischen Seinsbegriff aus, der Sein als reine Anwesenheit - und diese für ein >Bewußtsein< denkt, ist die Endlichkeit und Geschichtlichkeit unseres Daseins ein bloßer Mangel, der vor dem wahren Sein, dem Ewigen, dem sich in sich selbst zeitlosen Sein nicht zu bestehen vermag. So ist unter der Herrschaft dieses
griechischen Seinsbegriffs die Begrenztheit und Bedingtheit unseres Wissenkönnens, sobald sie als solche als das »historische Bewußtsein« bewußt wurde, der tödlichen Bedrohung des Relativismus verfallen. Das wurde der Leitgedanke von >Sein und Zeit<, die »hermeneutische« Struktur des Daseins aufzuhellen, d. h. nicht einfach die Hermeneutik des >Geistes< und seiner Schöpfungen, die wir >Kultur< nennen, fortzusetzen, sondern eine »Hermeneutik der Faktizität« zu unternehmen. Der Sache nach bedeutete das, daß die Seinsverfassung des Daseins nicht im >Selbstbewußtsein< sich vollendet, sondern sich als endliches Sein auf sein In-der-Welt-Sein versteht und daß von da aus die Leitfrage der Metaphysik zu erneuern hieß: >Logos< ist nicht mehr als Offenbarmachen von Gegenwärtigem, >Sein< nicht mehr als ein höchstes oder minderes Gegenwärtiges und sich selbst Gegenwärtiges zu denken. Vielmehr ist Sein überhaupt nichts Seiendes, >no-thing<. Und es ist doch nicht >nothing<, dies >Nichts<, das als das Sein sich zeigt und das jeglichem Seienden, auch dem sich endlich-geschichtlich wissenden Dasein, als Zukunft zukommt. Das schließt ein, daß dann>Welt< nicht die Totalität alles Seienden ist. Es ist bezeichnend, daß der junge Heidegger statt dessen »das Seiende im Ganzen« zu sagen pflegte, ein vager Hinweis auf ein umfassendes Sein, das nicht Seiendes ist. Menschliches Dasein ist nicht länger als ein privatives Sein zu denken, obwohl es dem Tode verfallen und in seinem >Da<, d. h. in seinem >Denken<, durch Schlaf und Tod begrenzt ist. Vielmehr ist es ein sich selbst vorweggeworfener Entwurf, Sein als Zeit. Das wollte nicht eine philosophische Anthropologie sein - obwohl >Sein und Zeit<, wie Heidegger selbst sagte, wesentliche anthropologische Einsichten enthält -, sondern ein neuer Weg zur Metaphysik. Trotz dem Einsatz mit dem Seinsverständnis des menschlichen Daseins zielt )Sein und Zeit< gerade nicht auf einen neuen »Humanismus«. >Sein und Zeit< ließ über der transzendentalen Einführung des Ganzen die eigene Intention nicht klar herauskommen. Der späte Heidegger sollte daher zu seinen frühesten Ahnungen zurückkehren. 1920 hatte er als junger Dozent vom Katheder aus zu sagen gewagt: »Es weltet.« Er meinte damit: >Sein< geht auf (wie die Sonne am Morgen). Als der Denker seiner Reife hätte er ähnlich sagen können: »Es wortet.« Denn erst mit der Sprache geht Welt auf, geht uns die Welt auf, in der unbegrenzten Differenziertheit und Differenzierung ihres Sichzeigens. Die Virtualität des Wortes ist zugleich das >Da< des Seins. Sprachlichkeit ist das Element, in dem wir leben, und daher ist Sprache nicht so sehr Gegenstand - von welcher natürlichen oder wissenschaftlichen Bewandtnis immer - als vielmehr der Vollzug unseres Da, des >Da<, das wir sind. Nach der »Kehre« hat Heidegg.er geradezu von der »Lichtung« gesprochen, in der >Sein< sich zeigt und >da< ist, als »Ereignis«. Hier, an diese Vision des späten Heidegger, habe ich selber meinen eigenen Beitrag zur Philosophie angeknüpft. Freilich bin ich ihm nicht in
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seinem unabi.ässigen und immer w~~ö~r scheiternden Bemühen gefolgt, di~ Sprache der traditionellen Metaphysik, ihre Begrifflichkeit und ihre Rede von Wesenserkenntnis, zu umgehen und in Hölderlin die Evokationskraft des dichterischen Wortes dem Denken nutzbar zu machen. Das scheint mir nicht nötig - und am Ende nicht möglich. Zwar gebe ich zu, das dichterische Wort ist das absolut neue Wort, das noch nie gesagte. Es ist wie eine neue Geburt von Sprache, so daß die Rede von der Metapher als einem Mittel der Dichtung unangemessen ist. Die Metapher ist in Wahrheit nur ein Mittel der Rhetorik. Aber auch für die Philosophie ist die Sprache niemals die alte, die veraltete, die schon abgebrauchte - und sofern sie es ist, bedarf sie der Destruktion, und zwar von den ursprünglichen Erfahrungen des Daseins aus. Wenn Sprache als Vollzug des Da nicht )feiert<, sondern >arbeitet<, sagt sie niemals schon Gesagtes. Sie ist stets aufs neue Antwort. Dafür haben wir eine ursprüngliche Evidenz. Es ist die Einseitigkeit aller Wissenschaft von der Sprache, ob sie Linguistik, vergleichende Sprachwissenschaft oder Sprachphilosophie heißen mag, daß sie »die Sprache« für sich, d. h. aber das Symbol- und Regelsystem der )langue<, zum Gegenstand macht und nicht ihr wirkliches Sein und Geschehen, >la parole<. Als wirkliche Sprache ist sie nicht trennbar von dem, was sie sagt, und von dem, worüber sie redet, und von dem, zu dem sie redet und woraufsie antwortet. Sprache ist Teilgabe, Teilnahme, Teilhabe, in der nicht ein Subjekt einer Welt der Objekte gegenübersteht (wobei sie dann in pseudoplatonischen Aporien der Methexis verstrickt bliebe). Wo wir miteinander reden, füreinander und für uns selbst die Worte suchen, die Worte versuchen, die zu einer gemeinsamen Sprache hinführen und eine solche ausbilden, bemühen wir uns selbst - und das heißt immer: alles, Welt und Mensch - zu verstehen, mag sein, daß wir uns gar nicht recht miteinander verstehen. All das gilt gewiß im Vollzug der Lebenspraxis. Es muß nicht in Worten geschehen. Das Miteinander, das unser >Auf-der-Welt-Sein< ist, beginnt ohnehin weit früher als unser Hineinwachsen in den Gebrauch der Muttersprache - und natürlich erst recht in den Gebrauch anderer Sprachen, in denen wir uns mit Anderssprachlichen zu verständigen suchen. Aber selbst wenn es eine Verständigung ohne Worte ist, kann das Aussprechen zum Beispiel einer Bitte um Verzeihung oder das Aussprechen der Vergebung selber weniger sein als das jeweils Wortlose. Wie auch immer, es muß ein Vollzug des Miteinander sein, das sich erst im Einander erfüllt. Das ist es, was den Umgang der Menschen ausmacht. In besonderem Sinne vollendet sich derselbe in einem Gespräch, das nichts anderes will und nichts anderes sucht, als die eigene Ansicht mit dem Anderen zu teilen oder an der Ansicht des Anderen zu messen und an der Antwort des Anderen auf die Probe ·zu stellen. Solches >Gespräch< muß sich nicht nur, wie alle Verständigung, die sich in
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Worten vollzieht, in den Herrschaftsbereich der jeweiligen Sprache und ihrer Regelungen fugen. Es ist vielmehr so, daß die Antwort selber ins Wort drängt - so wie wenn Heidegger sagt: )Die Sprache spricht. « Selbst ein Dialog, wenn Plato den Sokrates vorführen läßt, wie der Gesprächspartner nur der Geführte scheint, bleibt dennoch ein Gespräch. Der Partner ist ja mitgegangen und bezeugt es in seinem Nichtwissen am Ende, daß er zu einem wahren Partner, eines wahren Gesprächs fähig geworden ist. Das offene Spiel von Frage und Antwort spielt ja nicht zwischen Wissenden, sondern zwischen Fragenden. Sokrates scheint das wahrhaft zu bestätigen, daß einer ein Gespräch führen kann. Aber die wahre Kunst, ein Gespräch zu führen, ist ein solches, bei dem die Partner beide geführt werden. Das ist dann ein wahres Gespräch, das dann zu etwas führt. Um diese wahre Wirklichkeit der Sprache im Gespräch, bei dem etwas herauskommt, das wir die Sache selbst nennen, von allen Subjektivismen unserer abendländischen Begriffstradition freizuhalten, habe ich den Begriff des Spiels gebraucht - gewiß nicht, ohne durch Nietzsche uhd dann ohne durch Wittgenstein inspiriert zu sein. Wittgenstein war, seinen eigenen Evidenzen folgend und gewiß sehr andersartige, metaphysikkritische Ziele verfolgend, zu Ähnlichem gelangt. Der Prozeß der Verständigung ist jedenfalls nicht als ein methodisches Verfahren anzusehen, das der eine gegen den anderen einschlägt, sondern vollzieht sich als die nach beiden Seiten offene Dialektik von Frage und Antwort, die zwischen beiden Partnern spielt. Das ist ein Prozeß, der nie mit Null anhebt und nie mit der vollen Summe endet. - Auch der Text, und vor allem derjenige Text, der ein >Werk< ist, d. h. ein sprachliches Kunstwerk, das abgelöst von seinem )Schöpfer< vor uns steht, ist wie einer, der unermüdlich auf ein nie ausschöpfbares Bemühen des auslegenden Verstehens antwortet, und ist wie ein Fragender, der einem stets um die Antwort Verlegenen entgegensteht. Das habe ich in Studien zur Ästhetik und Poetik darzulegen versucht. Die hermeneutische Wendung weitet sich so über das Ganze der neuzeitlichen Wissenschaft, die vom Methodenideal beherrscht ist, aus. So deckt sie die Kehrseite zu der unsere Zivilisation bestimmenden Wissenschaftskultur auf und tritt als die Kultur der >humaniora<, die man in Deutschland auch Geisteswissenschaften oder Kulturwissenschaften nennt, neben die Naturwissenschaften und umfaßt in Wahrheit das Ganze unserer menschlichen Lebensgestaltung. Sie dient einer Aufgabe, die uns allen gestellt ist, nämlich, zwischen der Macht des Herrschaftswissens und der sokratischen Weisheit des Nichtwissens um das Gute das rechte Gleichgewicht zu finden. Die sokratische U rerfahrung, die Philosophie zur Dialektik werden ließ (und vielleicht schon vor Sokrates, ohne es zu wissen, Dialektik war, d. h. Dialog der Seele mit sich selber), scheint mir weniger die Metaphysik, die >Erste Wissenschaft<, vorzubereiten, als die Naturanlage des Menschen zur
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Philosophie bewußt zu machen. Der Mensch >hat< nicht nur Sprache, Logos, Vernunft - er ist ins Offene gestellt, dem Fragenkönnen und Fragenmüssen ständig ausgesetzt, über alle erreichbare Antwort hinaus. Das heißt Da-Sein. Hier tritt die Trias Kunst-Religion-Philosophie neu in ihre alten Rechte ein. Das Abendland hat den Weg zur Wissenschaft eingeschlagen und damit die Lebensformen der Menschheit einer Umgestaltung unterworfen, deren Folgen noch immer nicht abzusehen sind. Damit hat die >Philosophie< eine enge Beziehung zur Wissenschaft gewonnen - und umgekehrt von Kunst und von Religion eine Trennung in Kauf genommen, wie keine der anderen Hochkulturen des Altertums oder der außereuropäischen Kulturkreise. Wir leben im Zeitalter der Wissenschaft. Das Ende der Metaphysik scheint damit gekommen. Auch das Ende der Religion? Auch das Ende der Kunst? Solange wir so fragen, solange wir überhaupt fragen, bleibt alles offen. Selbst die Möglichkeit der Metaphysik. Metaphysik ist vielleicht nicht nur - und selbst bei Aristoteles nicht nur - jene Ontotheologie, die am höchsten Seienden auszumachen sucht, was Sein ist. Sie bedeutet vielmehr die Öffnung in eine Dimension, die, endlos wie die Zeit selbst und fließende Gegenwart wie die Zeit selbst, all unser Fragen, Sagen und unser Hoffen umschließt. Um es auf aristotelisch zu sagen: Aristoteles hat das höchste Seiende als das sich selber immer Gegenwärtige ausgezeichnet, als Energeia, >actus purus<, und hat dieses Göttliche von höchsten Möglichkeiten des Menschen aus charakterisiert, als Wachsein, als Sehen und denkendes Schauen dessen, was ist. Das ist ein Seinsaspekt, der gewiß Wahrheit hat. Sein ist Gegenwart, und alles gegenwärtige Bewußtsein meint Sein. Die Objektivität der Wissenschaft ist die reinste - freilich auch die abstrakteste - Erfüllung dieser Erfahrung von Sein. Das Sein des >Da< ist aber mehr. Es ist nicht nur das zwischen deIn Nichtsein des Vorbei und dem Nichtsein des Nochnicht Gegenwärtige, und es ist auch nicht nur das Sich-Gegenwärtige, das wir >Selbstbewußtsein< nennen. Es ist auch das Erwachen, in dem »es weltet« wie anjedem Morgen. Es ist das Fragen, das über alles Gegenwärtige hinaus fragt und sich für das Mögliche öffnet, das Sagen, das für das Unsagbare seine Worte sucht, bis »es wortet« und wie »Antwort« ist, und ist immer wieder das Hoffen, das des N ochnicht inne ist und nicht voll Erwartung ist - um mit Heraklit zu reden: Nur der wird für sein Hoffen Erfüllung finden können, der des Unverhofften und Nicht-zu-Erhoffenden gewärtig ist. Ein Gewärtigen ist auch, was jedes Gespräch erst zur Sprache werden läßt. Alles Sprechen, das an den Anderen - den anwesenden, abwesenden, bestimmten oder unbestimmtengerichtet ist, ob als Frage oder als Antwort, ist sich doch dessen bewußt, daß es das nicht gesagt hat, was es eigentlich sagen wollte. Erst in den glücklichen Fällen, in denen ein Gespräch wahrhaft gelingt, wo der Andere entgegenkommt und wirklich ent-spricht, wandelt sich aller Versuch aus dem Versagen ins Gelingen. Das gilt ebenso für das Gespräch der Seele mit sich
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selbst, das Plato )Denken< genannt hat, und für jeden Umgang mit einem Text, sei es Gedicht, sei es Gedanke. Phänomenologie, Hermeneutik und Metaphysik sind nicht drei verschiedene philosophische Standpunkte, sondern Philosophieren selber. .
>Das Sein und das Nichts<
10. >Das Sein und das Nichts<
o. P. Sartre)
(1989)
Ich habe Jean-Paul Sartre ein einziges Mal in meinem Leben gesehen, an einem Abend in Siena. Wir waren spät angekommen. Ich war nächtlich noch durch die Straßen gestreift und kam auf die berühmte Piazza del Campo, wo die Restaurants sich wie in einem Amphitheater nach dem Platz zu herunterneigen, und da saß ein einziger einsamer Mann, Jean-Paul Sartre. Ich hatte immerhin gelernt, daß man einen Einsamen niemals anreden darf. Meine Autorisation durch Jean-Paul Sartre ist also gleich Null. Wenn ich gleichwohl zu sprechen wage, so geschieht es aus einem über meine persönlichen Erfahrungen hinausgehenden Motiv. Ich möchte zeigen, wie schwer es von der deutschen Tradition aus ist, französisches philosophisches Denken zu verstehen, und wie schwer es umgekehrt auch ist - davon redet man aus Bescheidenheit weniger. Daher möchte ich berichten, wie das damals war, als ich Sartre las. Ich habe später die Erstausgabe von )L'etre et le neant< bekommen. Es war ein Geschenk von Martin Heidegger an mich. Er hatte aus diesem Bande vierzig Seiten aufgeschnitten; weiter war er mit der Lektüre nicht gekommen, und das ist gar nicht so verwunderlich. Man muß zunächst einmal sagen, daß dieses Buch unglaublich schwer zu lesen ist, ~n der Übersetzung noch schwerer als im Original, wie das mit übersetzungen immer ist. Jetzt habe ich die Probe gemacht: Nach ziemlich genau vierzig Jahren habe ich das Buch in der deutschen übersetzung noch eimal gelesen, um mich selbst zu prüfen, und will nun einige Eindrücke in bezug aufmeine damalige Auffassung der Dinge und in bezug auf das, was vielleicht dokumentarisch interessieren kann, wiedergeben. Ich weiß, daß ich nicht aufdem Niveau heutiger Fragestellungen diese Dinge diskutieren kann, eher vielleicht auf dem Niveau unvergänglicher Fragen. Ich darf zunächst daran erinnern, daß Sartre doch wohl seit Bergson der erste groBe französische Denker ist, der auch in Deutschland einen echten Widerhall gehabt hat. Sein Name hat sich sehr bald mit dem Namen von Merleau-Ponty verknüpft, dem Begründer der Zeitschrift )Les Temps Modernes<, dessen Anknüpfung an Husserl unser öffentliches Bewußtsein der vierziger Jahre gleichzeitig erreichte. Aber es war doch kein Zweifel, daB der erste Anstoß unseres Aufmerkens von Sartre herkam.
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Für mich war es eine besondere Herausforderung und stellte ein hermeneutisches Problem dar, daß die französischen Philosophen, auch so geniale Männer wie dieser große SchriftstellerJean-Paul Sartre, drei deutsche Philosophen gleichzeitig und wie eigene Zeitgenossen in sich aufgenommen haben. Diese drei deutschen Denker heißen Hegel, Husserl und Heidegger. Sie sind die drei großen H, wie ich manchmal zu sagen pflege, und es ist für uns eine fast unlösbare Aufgabe, diese für uns so verschiedenartigen Denker und die Motive, die von dort aus in das Denken Sartres eingeflossen sind, zu unterscheiden und ihre gemeinsame Aussage zu erfassen. Sicherlich war die Konstellation bedeutsam. Das Buch ist 1943 erschienen, während der deutschen Besetzung von Paris, und war zum Teil in deutscher Kriegsgefangenschaft geschrieben worden. Jedenfalls war es ein Buch, dessen Breitenwirkung in dem Felde der Philosophie sicherlich nicht mit der Breitenwirkung des Romanciers vergleichbar ist - von )La nausee< - oder mit der des Theaterdichters und schließlich auch des Autors eines Textbuches zu einem so unendlich traurigen und schönen Film wie )Les jeux sont faits<. Wenn ich heute von der Philosophie Jean-Paul Sartres und meinem Bemühen, sie zu verstehen und fruchtbar zu machen, sprechen soll, so muß man im Bewußtsein behalten: Hier hat ein großer Schriftsteller sozusagen seine noch halb-akademischen Anfänge formuliert. Die theoretischen Veröffentlichungen vor )Das Sein und das Nichts< sind selbstverständlich Bausteine und vorbereitende Schritte zu diesem Werke, das von der französischen Universitätstradition manche Vorprägung erhalten haben mochte. Sein Wert und seine Wirkung kann aber vielleicht gerade von jemandem gewurdigt werden, der in bezug auf die akademischen Aktualitäten von heute wie von damals so ahnungslos ist wie ich. Denn hier sind Probleme der Philosophie in ihrer allgemeinsten und gewagtesten Form von einem jungen Denker in den Mittelpunkt gerückt worden, in denen wir in der Tat viel von unseren eigenen Bemühungen wiedererkennen können. Urn das klarzumachen, muß ich zunächst den )Kairos<, den Geist der Stunde, schildern, in dem dieses Werk entstand und zur Wirkung kam. Selbstverständlich, Sartre hat auch in -Berlin studiert. Man weiß, daß er deutsch lesen konnte und von dem berühmten Seminar von Alexandre Kojeve berührt worden ist (wenigstens durch Bekannte), in dem fast die ganze Generation von französischen Namen, die heute im Bewußtsein der französischen Öffentlichkeit sind, mit Hegel neu konfrontiert worden ist. Alexandre Kojeve, den ich persönlich gut gekannt habe, war ein russischer Emigrant, der auf der Suche nach einer tieferen Einsicht in die Gründe der blutigen Form, in der die marxistische Revolution in Rußland verlief, zuerst in Deutschland und später in Frankreich das Studium von Hegel betrieben hat. Iring Fetscher hat schon recht früh wenigstens einen Auszug von Kojeves damaligen Kursen veröffentlicht und das zeitgeschichtliche und
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lebensgeschichtliche Interesse des jungen Kojeve mit Recht hervorgehoben. Ich habe selbst von Kojeve gehört, daß er als junger Mann nicht begreifen konnte, daß sein Vater, der in seinen Latifundien wie ein Patriarch, als ein geliebter, alter Vater des Ganzen, verehrt wurde, von der hochbrandenden revolutionären Welle genauso rücksichtslos und brutal vernichtet wurde wie all die anderen, von denen mancher gewiß nicht in einem so guten Klima mit seinen Bauern gelebt hatte. Das hat der junge Kojeve begreifen wollen. Deshalb hat er Marx und natürlich Hegel studiert. Gefunden hat er gewiß nicht, was er suchte. Wie sollen wir auch all die Rätsel der menschlichen Seele begreifen wollen, sind wir uns doch alle selbst ein Rätsel. So kam Sartre mit der deutschen Philosophie in Kontakt. Insbesondere ist er von der Phänomenologie in Deutschland angeweht worden. Er ist damals nicht in Freiburg gewesen, wo man das wirklich lernen konnte, sondern nur in Berlin, wo man es nicht lernen konnte. Aber er ist gewiß ein sehr eifriger Leser der Dinge geworden, die zu lesen waren, und man findet in seinem Werk ein für einen deutschen Philosophen geradezu unentwirrbares Knäuel von philosophischen Gedankenverwebungen, die uns unsere eigenen Denker in einem neuen Lichte und unter einem neuen Gesichtspunkt erscheinen ließen.. Nun, zu einem >Kairos< gehört, daß zwei sich begegnen. Hier ist die Rede von Sartre und uns in denJahren nach 1945. Was war unsere Lage? Was war die philosophische Tendenz des damaligen Augenblicks? Wie nicht anders zu erwarten, nachdem diese öffentlichen Schalmeien und Tiraden verklungen waren, besann sich die Öffentlichkeit zurück auf das, was uns selber gerade auch während des Dritten Reiches im akademischen Unterricht beschäftigt hatte. Ich war Professor in Leipzig und habe damals wie über Hegel und Heidegger auch Übungen über Husserl abgehalten, der als Jude verpönt war, ohne daß jemand daran Anstoß nahm. Der akademische Unterricht an den Universitäten war erheblich weniger gestört oder verzerrt, als die Öffentlichkeit sich das heute vorstellt. Die Intellektuellen wurden von den Nazis viel zu sehr verachtet, als daß diese sich um unsere wissenschaftliche Arbeit gekümmert hätten. In der Situation nach Kriegsende mußte dagegen für das öffentliche Bewußtsein das Verpönte wie neu wirken. So erklärt sich die Wirkung der Husserl-Ausgabe, die in Löwen zu erscheinen begann. Plötzlich war Husserl, der aus der Öffentlichkeit - wenn auch nicht aus unseren philosophischen Seminaren - verschwunden war, mit seinen Arbeiten wieder da und griff in die Diskussion auch in Deutschland ein. Gleichzeitig erfuhr die Öffentlichkeit noch eine andere gewaltige Überraschung. Auch Heidegger, der in den letzten Jahren nicht gerade vom NaziRegime begünstigt worden war - er konnte seine Sachen nicht mehr drukken - und nach 1945 in der Öffentlichkeit durchaus diskreditiert war, beherrschte auf einmal die Szene. Ich habe Heidegger einmal, Ende der
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fünfziger Jahre war es wohl, in Heidelberg zu einem Vortrag eingeladen. Da mußten wir in der sehr großen Aula mit Programmen, die man für eine Mark kaufen mußte, arbeiten. Erst so war es möglich, daß Heidegger überhaupt in den Saal konnte, in dem er zu sprechen hatte. Daß es so war, braucht niemand schön zu finden. Ich will nur schildern, was war und unter welchen Voraussetzungen wir - also etwa ich - Sartre gelesen haben. Als Schüler Heideggers war ich gewiß kein von ihm anerkannter Foiger seiner Gedanken. Ich habe sehr viel von ihm gelernt und viel von ihm aufgenommen, aber er pflegte später öfters zu sagen: Sie mit Ihrem Lehrer Natorp! Das war das Haupt der Marburger Schule, bei dem ich 1922 als unreifer Bengel meinen Doktor gemacht hatte, und so meinte Heidegger, ich sei meinen Lehrer N atorp nie ganz losgeworden. Ich sage das nicht, um mich zu diskreditieren, oder gar, um mir Kredit zu verschaffen, sondern nur, um nochmals zu schildern, wie wir uns damals in einer bestimmten, prägenden Situation befanden. So ging es nicht mir allein, daß ich in wesentlichen gedanklichen Schritten sowohl von Husserl wie von Heidegger gelenkt worden war. So ging es Landgrebe, so ging es Eugen Fink, so ging es Gurwitsch und Biemel, so ging es allen möglichen Leuten, die nicht in Deutschland, sondern in der Emigration oder halben Emigration, wenn man Löwen dazu rechnen darf, die Nazizeit überhaupt oder die Kriegsjahre überlebt hatten. Sie alle versuchten, das Gemeinsame zwischen Husserl und Heidegger möglichst stark herauszuarbeiten und den Gegensatz, den man aus politischen Gründen furchtbar gern gesehen hätte, als solchen nicht für haltbar zu befmden. Und wie sie das taten! Nicht etwa indem sie zeigten, daß Heidegger ganz auf Husserl fuße, sondern umgekehrt, daß Husserls philosophische Gedanken in seinen späteren Jahren doch ganz nah an Heidegger herangekommen seien. Es gibt einen Aufsatz von Ludwig Landgrebe, den ich noch selber in der )Philosophischen Rundschau< gedruckt habe, der den Titel trägt: »Abschied vom Cartesianismus«. Da wollte Landgrebe zeigen, daß Husserl in Wahrheit die cartesianische Ausgangsposition, die er immer wieder durch seinen Rückgang auf das transzendentale Ich betont hatte, am Ende, in der Konsequenz seines eigenen Denkens über Zeit und Zeitbewußtsein, verlassen habe und in die gleiche Richtung des Denkens gegangen sei wie Heidegger. Das schildert anschaulich die philosophische Situation, in der ich an die Lektüre Sartres heranging. Es ist klar, ich las das französische Original. Übersetzungen philosophischer Texte sind sehr nötig und geben eine gewisse Vermittlung, können aber doch nur eine gewisse Annäherung an das Original leisten, das sie nicht ersetzen können. Es ist ein grundsätzliches Problem von Übersetzungen, über das man in diesem Zusammenhang auch sprechen müßte. Im Augenblick genügt mir zu betonen, daß im Gesamtwerk von Jean-Paul Sartre >Das Sein und das Nichts< zwar das bedeutendste theoretisch-philo-
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sophische Buch ist, aber keineswegs das Ganze seines intellektuellen Kosmos umschreibt. Doch obwohl Sartre ein großer Schriftsteller ist, den man selbst in einer Übersetzung noch als solchen erkennen kann, ist es schwer, sich mit ihm und damit mit der von ihm reprisentierten französischen Denktradition einigermaßen zu verständigen. Das war die Erwartung, mit der ich mein Studium von Sartre aufnahm, und die Erfahrung hat sie auch bestätigt. Das cartesianische Ideal der clarle, die trübe Tiefe deutscher romantischer Tradition von Hamann über Herder und Hegel bis zu Heidegger gehen nicht so ganz leicht zusammen. Die Frage ist immerhin, ob es richtig ist, wenn die eine Seite von der anderen keine Kenntnis nimmt, und ob es nicht Zeit ist zu versuchen, das Gespräch ohne die Einseitigkeiten und die Voreingenommenheit der Stilideale, die in den verschiedenen Kulturkreisen gepflegt werden, zu einem besseren Fortgang zu führen. Das jedenfalls ist der Grund, warum ich hier stehe. Versuchen wir nun, uns klarzumachen, wie Sartre unter dem dreifachen Einfluß von Husserl, Hegel und Heidegger die Adaptation dieser Denker vollzogen hat. Ich sagte schon, die Verschmelzung der drei in eins ist das eigentliche Rätsel und der eigentliche Reiz dieses Denkens. Da fängt er als Phänomenologe an. Heidegger hat genau die Paragraphen gelesen, in denen Sartre über Phänomenologie schreibt, und hat einige Anstreichungen gemacht. Als er mir das Buch schenkte, war das darin. Da stand einmal: »Husserl oder Heidegger würden sagen ... «. Das »oder« hat Heidegger sofort unterstrichen und am Rande ein Fragezeichen gemacht. Entweder Husserl oder Heidegger, aber nicht beide auf einmal. Das sind so die Dinge, in denen wir uns alle zu profIlieren suchen. Wir müssen versuchen, die bescheidenen Schritte eigenen Denkens, die wir tun, abzuheben, damit sie überhaupt sichtbar werden. Im Falle Heideggers war in Wahrheit Grund genug, aufdem Unterschied zu bestehen. Die Ausgangspunkte, die Heidegger bei Husserl gefunden hatte, hat er mit einer unglaublichen Kühnheit am Ende abgestoßen, um vielleicht noch tiefere Motive seines eigenen Philosophierens dadurch freizulegen. Man kennt diesen Abstoß im allgemeinen als »die Kehre«, in der die transzendentale Fragestellung im Stile Husserls abgestoßen wurde. Ich glaube, daß diese Kehre eine Rückkehr ist und nicht eine Umkehr: Rückkehr zu den ursprünglichen, halb-religiösen Motiven, unter denen Heidegger sich ins Denken verstrickt hatte. So wenigstens sah ich die Situation, in der ich mich befand, als ich Sartre las. Auf der anderen Seite muß man sich bewußt machen, daß wir hier lediglich die akademischen Anfänge Sartres studieren und daß sein übriges, vor allem sein dichterisches Werk in gewissem Sinne die Wirkung seines philosophischen Werkes zugedeckt hat. Es ist eine ganz andere ScWagkraft und Faßlichkeit, die diese anderen genera dicendi besitzen, auch wenn >Das Sein und das Nichts< einen großen Einschlag dessen besitzt, was wir in
)Das Sein und das N~chts<
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Deutschland den Stil des Moralisten nennen und was etwas grundsätzlich anderes ist als das, was in der deutschen Philosophie unserer Tage bei Husserl wie bei Heidegger und bei solchen, die von Heidegger zu lernen versucht hatten, im Gang ist. Wenn wir uns nun fragen, was sich Sartre bei der Begegnung mit der deutschen Philosophie angeeignet hat, so ist zunächst anzuerkennen, daß er ein echtes phänomenologisches Motiv aufgenommen hat. Es ist das, was er, ein bißchen cartesianisch verfärbt, das »präreflexive Cogito« nennt. Es ist damit gemeint, daß Reflexion in Wahrheit ein sehr sekundärer Akt ist und damit auch Selbstbewußtsein ein sekundäres Phänomen gegenüber dem Weltbewußtsein. Das hat Aristoteles schon gewußt. Er spricht davon im Buch Lambda der >Metaphysik<, daß wir unser selbst, unseres eigenen Denkens, immer nur im Seitenblick mit gewahr werden, wenn wir eine Sache wirklich im Auge haben. Solches Gewahrhaben ist Selbstbewußtsein in einem Sinne, der nicht Reflexion auf den Akt des Denkens ist. Es ist ein das Etwas-Denken begleitendes Bewußtsein. Das wird erstmals in )De anima< von Aristoteles entwickelt. Das hat Franz Brentano, der Urahn der phänomenologischen Schule, in seiner >Psychologie vom empirischen Standpunkt< mit Nachdruck geltend gemacht. Wenn ich etwas sehe, dann weiß ich doch, daß ich es sehe. Heißt das, daß ich mein Sehen dessen zum Gegenstand mache, wenn ich das weiß? Nein, es heißt, daß solches Bewußtsein mitgeht, sozusagen beseelend in den Akten unseres Weltbewußtseins, unserer Zuwendung zum Anderen, zu anderen Menschen oder zu den Dingen der Welt, mit dabei ist. Das hat Sartre aufgenommen. Sein erster Ausgangspunkt ist das präreflexive Cogito. So nennt er »Bewußtsein«. Bewußtsein meint hier also, wenn ich es einmal ganz scharf sagen darf, eine llr-Qualität menschlicher Lebendigkeit in allen ihren Lebensstrukturen und Verhaltensweisen. Und >Das Sein und das Nichts< ist zum guten Teile der Aufgabe gewidmet zu zeigen, daß es eben nicht nur jenes >cogito me cogitare< gibt, jene Reflexion des Selbstbewußtseins, die Descartes entwickelt hat und die dann im deutschen Idealismus, bei Fichte und später bei Husserl, ganz ins Zentrum gerückt worden ist. Husserl hat freilich auch etwas gewußt von dieser anderen Art Bewußtheit, die mit dem Bewußtsein von etwas mitgeht. Die ganze Analyse des Zeitbewußtseins ist getränkt davon, zu zeigen, daß Retention, das heißt das Noch-im-Bewußtsein-Behalten von etwas, was nicht mehr ist, aber eben war, kein Akt der Reflexion ist, sondern, wie das Wort sehr schön sagt, »Retention«, das heißt ein Zurückhalten von etwas ist, das absinken will und ständig absinkt. Insofern ist es gutes altes phänomenologisches Erbe, was Sartre aufnimmt. Was in diese Ahnenreihe von Sartre hier freilich nicht paßt, ist Hegel. Denn das ist klar, Hege! ist in diesem Punkte Fichteaner - und das heißt Cartesianer - gewesen. Immer hat Hege! die Reflexion geradezu als die Veränderung des unmittel-
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baren Meinens oder Erfahrens beschrieben, die durch die Vergegenständlichung eines Aktes eintritt. Das ist das Geheimnis der Erfahrung des Bewußtseins, die seine >Phänomenologie des Geistes< beschreibt. Soweit lautet unsere erste Feststellung: Es gibt hier ein großes phänomenologisches Erbe, das im Falle Hegels eigentümlich fehlt und das vielleicht gerade deswegen die Affmität zwischen Sartre und der deutschen Phänomenologie gestärkt hat. Dann aber kam Heidegger - für ihn natürlich gleichzeitig -, und Kojeve stand immer schon mit Hegel im Hintergrunde. Heidegger stellte erneut die Frage nach dem Sein. Plötzlich wird das ein zentrales Thema. Was bei Husserl bescheidene Hinweise auf formale Ontologie und auf materiale Ontologien der Leibwelt oder der Mathematik, v/as immer es sein mag, waren, wird auf einmal die zentrale Frage: Was heißt eigentlich Sein? Hat so nicht die Metaphysik gefragt? Aber hat die Tradition der Metaphysik, von Aristoteles an, diese Frage in ihrer wirklichen Tiefe erfaßt, oder hat sie sie am Ende mehr verstellt als geöffnet? Das ist die wohlbekannte Destruktion der griechischen Ontologie, die Heideggers Radikalität in der Kritik an der Bewußtseinsphilosophie auszeichnet. Wie konnte nun Sartre von diesem Heideggerschen, radikalisierten Ausgangspunkt der Phänomenologie aus ein Hegelsches Motiv zur Geltung bringen? Und das hat Sartre in der Tat getan. Zunächst folgt er guter phänomenologischer Tradition und denkt Bewußtsein als Intentionalität. Das war die endliche Befreiung von den lächerlichen Vorstellungen von einem Bewußtseinskasten, in dem unsere Vorstellungen eingeschlossen sind, so daß wir vor der prekären Frage stehen, wie man denn von da zur Wirklichkeit herauskommt. Diese Bewußtseinstheorie ist in der Tat durch eine Verfeinerung der Brentanoschen und der Sache nach also durch eine Rückkehr zur griechischen Auffassung der Dinge ersetzt worden. Bewußtsein ist immer schon Bewußtsein von etwas. Ich erinnere mich an einen Vortrag von Heidegger in der Darmstädter Halle Anfang der fünfziger Jahre, in dem er sagte, es sei ein Irrtum zu sagen: »Ich sehe, dort ist die Tür. « »Ich« bin »dort«, wenn ich die Tür sehe. Was Scheler die »Ekstatik« des Bewußtseins genannt hat, das völlige Außer-sieh-Sein, tritt auch bei Sartre vollständig in sein Recht. Aber nun kommt etwas hinzu. Sartre hat begriffen, was es bedeutet, wenn Husserl fragt: Was ist ein Wahrnehmungsgegenstand? Also dieses Glas zum Beispiel kann ich nur von meiner Seite sehen und Sie nur von Ihrer Seite. Ich kann es drehen, dann sehe ich wieder nur von meiner Seite - und nicht die Rückseite - und Sie genauso. Das nannte Husserl die »Abschattung« des Wahrnehmungsgegenstandes , er schattet sich kontinuierlich ab. Husserl behauptete nun, daß dies der einzig haltbare Sinn der Kantischen Lehre von dem Ding an sich sei, das in diesem Kontinuum der Abschattungen erscheint. Wenn sich dieses Kontinuum der Aspekte so als ein Kontinuum darstellt, heißt das nämlich, diese Erscheinung ist das
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Glas selbst - und nicht irgendein Wesen, ein >Nournenon< oder sonst etwas aus der Hinterwelt. Mein Lehrer Natorp sagte ähnlich, das Ding an sich sei nichts anderes als die unendliche Aufgabe des Bestimmens des Gegenstandes der Erkenntnis. Aus diesem neukantianisch-phänomenologischen Gedanken hat Sartre gefolgert: Das entscheidende an der Phänomenologie ist, ein Phänonlen ist eil). Erscheinen, ohne daß etwas anderes dahinter ist. Das Sein ist das Sein der E~scheinung selber. Das sei es, was wir befragen müßten, wenn wir mit Heidegger nach dem Sein fragen. In Wahrheit ist das sehr Hegelianisch. Hegel unterscheidet bekanntlich in der >Wissenschaft der Logik< erst die Logik des Seins und dann die Logik des Wesens. Da ist das Wesen die Wahrheit des Seins - und nicht etwas dahinter. Und wenn er über dem Wesen den Begriff ansetzt, den >Inbegriff<, so ist dieser die Einheit von Sein und Wesen und erst recht nichts dahinter. Diesen Schritt hat Sartre auf seine Weise auch vollzogen, ohne ihn in Hegel zu erkennen. Nicht die Metaphysik im Sinne einer Hinterwelt >hinter< der Erscheinungswelt wird damit beschworen, sondern das Sein sdber ist in seinem Erscheinen sozusagen da. Nach meiner Überzeugung ist es übrigens das, was Plato selbst gemeint hat, während Heidegger Plato nur auf dem Wege zur Metaphysik als Ontotheologie sah. Hier hat Sartre also bei Hegel etwas wiedererkannt, nämlich daß das Allgemeine nichts als die Totalität des Konkreten ist. So kennt man es aus der Terminologie Hegels als das An-und-für-sich-Sein. Sartre hat es ganz gut aus der Analyse des Phänomens selber herausgeholt. Wie habe ich Sartre nun weiter gelesen? Da hatten wir Husserl, da hatten wir Hegel, und da hatten wir Heideggers Frage nach dem Sein; und nun lese ich >Das Sein und das Nichts< weiter und sage: Was ist denn das? Ist Sartre ein Eleat? Das ist ja das Sein des Parmenides, das Sartre hier schildert, das ist bis in den Wortlaut hinein Parmenides. Ich weiß nicht, ob es Sartre ganz bewußt war, aber wahrscheinlich wohl. Er redet von dem einen vollen Sein, in dem sozusagen kein Riß und kein Spalt ist und kein Nicht. Was ist, von dem kann man nur sagen, es ist. Das ist Sein. Diese homogene Kugel des Seins oder dieser Ball des Seins, wie es im Parmenideischen Lehrgedicht heißt, erscheint bei Sartre als das An-sieh-Sein, das etre-en-soi. Französisch klingt das genauso schlecht wie deutsch. Aber Sartre reflektiert auch über dieses Ansieh. Er meine das eigentlich nicht. Ein »sich« gebe es hier nicht. Das Sein ist nicht reflexiv auf sich selbst bezogen. Sartre nimmt hier also einen HegeIschen Ausdruck auf. Mit diesem An-sich ist, wie er es definiert, die Anwesenheit von Sein beim Seienden gemeint. Es hat es so »an sich«, ohne dessen bewußt zu sein. Sehr schön unbestimmt - so unbestimmt, wie wenn Plato sagt, die Dinge haben an der Idee teil entweder durch Nachahmung oder durch Darstellung oder durch Gemeinschaft, durch Vermischung oder durch Verflechtung oder sonst irgendwie. Darauf kommt es bei Plato gar
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>Das Sein und das Nichts( O. P. Sartre)
nicht an. Es kommt nur darauf an, daß iilan keine verdinglichenden, substantialisierenden 'Vorstellungen VOll >Idee< hat. So auch >Sein< bei Sartre. Sartre hat hier versucht, ein hegelianisches Motiv auf dem Wege über Heidegger in die Husserlsche Phänomenologie hineinzubringen. Nun geht es ganz eleatisch weiter. Man weiß von Parmenides, daß er gesagt hat: Aber vom Wege des Nichts oder des Nicht halte dich zurück, das ist ein unbetretbarer Weg. Eine großartige Vision, mit der Parmenides, wie ich meine, den entscheidenden Schritt der abendländischen Denkgeschichte getan hat. Er hat die Frage gestellt: Was denkt ihr euch eigentlich, ihr großen weisen Männer von Milet, wenn ihr sagt: Am Anfang war alles Wasser. Was war davor? Das Nichts? Vor diesem Wege des Denkens warne ich euch. - Sartre fragt gewiß nicht als ein Eleat, sondern als einer, der die eleatische Seinsvorstellung aus eigenem noch einmal vollzieht und den griechischen Anfang der ontologischen Frage nochmals bestätigt. Dabei kann es aber nicht bleiben. Irgendwann kommt etwas hinein in diese geschlossene Elfenbeinkugel des Seins, ein Riß, ein kleines Häutchen »Nicht«. Das ist ein Ausdruck VQn Sartre. Wenn es poetisch wird, ist es meistens Sartre, und nicht ich. Ein kleines Häutchen »Nicht« kommt da ins Sein. Woher denn? Wie denn? Sartre hat da etwas gesehen. Gewiß, er ist ein großer Schriftsteller, und so ist seine Denkweise rhetorisch geprägt - freilich durch eine andere Form von Rhetorik als unsere brave akademische Rhetorik in Deutschland, das versteht sich von selber. Aber er hat etwas Richtiges gesehen, meine ich, nämlich daß wir als Denkende in unsere eigenste Erfahrung das Nicht einbringen. Das hat Manfred Frank wohl im Auge, wenn er zwischen Sartre und mir Beziehungen sieht. Sicherlich handelt es sich nicht um direkte Beeinflussungen, sondern um die gleiche Thematisierung des Fragens. Das Rätsel der Frage ist ja dies, daß mit der Erhebung der Frage plötzlich alles in die Schwebe gerät. Ist es so oder nicht so, so nicht und dann so? Diese »Aufhebung« des in sich seienden Seins ins bloß Mögliche, die in jeder Frage liegt, heißt bei Sartre im Anschluß an Hegel »Negativität«. Verneinung ist Eindringen des »Nicht«. Das eine Sein ist nicht mehr eines. Dies da ist nicht das da. Ich kann leider nicht denken, ohne mich immer an die alten Bestände griechischen Fragens zurückzuorientieren. Und so sehe ich auch hier wieder: Es gibt schon bei Plato den schönen Scherz, als er Parmenides in einem Dialog auftreten läßt, in dem sein Schüler Zeno mit vierzig Beweisen zeigt, daß es >Vieles( nicht gibt, sondern nur )Eines<. Plato hat das bereits genau gesehen, und schon Zeno hat wohl die Ansätze dazu gemacht, daß dieses Verneinen des Nicht und des Neins selber bereits ein Fragen nach etwas und damit eine Nichtigkeit, eine Nichtung, enthält. Auf Französisch macht sich das nun wunderbar. Wenn Heidegger so glücklich gewesen wäre, seine Gedanken über das nichtende Nichts auf Französisch zu denken, dann hätte Carnap sein Spiel verloren. Man stelle sich einmal vor, wie
Carnap sich bitter beklagt, man könne das Nichts und das Nicht nicht an die Tafel schreiben. Die französische Sprache kann das. Sie unterscheidet zwischen rien und neant- undjeder, der Sprachgefühl hat im Französischen, hört in neant das »Nichten«. Die adverbiale Endung in niant evoziert im Vergleich zu rien das neantisant. Das Nicht ist das neant neantisant. Es kommt jetzt darauf an, daß die Erfahrung des Nicht und die Erfahrung des Nichts nicht nur auftreten - wie das bei der Carnapschen Symbolisierung folgerichtig gemeint ist - als ein semantischer Charakter eines Urteils. Da macht man einen Strich oder irgendein verabredetes Symbol und kann sagen, dieser Satz, diese Setzung ist damit verneint, und Verneinung als etwas, was als solches noch ein Symbol braucht, ist gar nicht nötig, es gibt nur dieses Verneinen. Oder geht es hier noch um anderes als )Propositionen<, als apophantische Logik, als Stimmigkeit und Unwidersprechlichkeit von Satzfolgen und Argumentationsfolgen? Das hat Sartre, vielleicht durch Heidegger inspiriert, in bewundernswerter Reichhaltigkeit vor uns ausgebreitet - er ist ja im Grunde ein großer Anthropologe und Gesellschaftspsychologe gewesen. Das Nichtende ist im Dasein und nicht nur in der Frage und der Antwort impliziert. Ich erinnere mich, daß ich von meiner frühesten Jugend an, leider nicht mit dem nötigen begrifflichen Können, darüber nachgedacht habe, was es eigentlich heißt, wenn etwas kaputtgeht, wenn etwas zerbricht. So und so oft geht es beinahe kaputt - dann ist gar nichts passiert; und einmal geht es kaputt - und dann ist es endgültig. Man muß das metaphysische Problem darin sehen können, dieses völlig Unverständliche, daß plötzlich keine Umkehrbarkeit mehr möglich ist. In unserer Wegwerfgesellschaft verliert sich das langsam; aber ich war zu Hause noch ziemlich streng erzogen und habe versucht, möglichst wenig zu zerschlagen. Jedenfalls ist das Beispiel der Zerbrechlichkeit jetzt nicht nur ich, sondern auch Sartre. Ich bitte um Entschuldigung, wenn es so klingt, als ob ich es wäre. Nein, es war Sartre, der die Zerbrechlichkeit unter anderem als ein Beispiel dieser force neantisante, dieser »nichtenden« Macht, ausgezeichnet hat. Soweit könnten wir sagen: Das gehtja wunderbar, jetzt sind wir gleich bei )Was ist Metaphysik?< von Heidegger, und alles ist in bester Ordnung. So schnell geht es aber nicht. Denn Sartre bleibt Cartesianer. Zwar will er gewiß nicht die Enge eines Reflexionsbegriffs erneuern, der von Descartes und letzten Endes von der spätscholastischen Logik in das modeme Denken eingeflossen ist. Sartre hat sich in der Tat gefragt, wie dieser Zusammenhang von Sein und Nichts eigentlich aussieht. Ist dieses Nichten nicht doch immer ein Nein-Sagen, wenn auch kein wirkliches Sagen, sondern NeinTun gegenüber dem Sein? Ist es also nicht eigentlich doch wie das Bewußtsein, dieser Haarriß im Sein, von dem aus sich die ebenmäßige Kugel des Seins aufeinmal als splitterig erweist? Möglicherweise zerspringt sie, mögli-
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cherweise geht sie in nichts auf. Diese Fähigkeit des Für-sieh-Seins, diese Reflexivität des Bewußtseins, das sich meint und alle seine Meinungen meint, seine Vorstellungen und Gedanken meint, ist ja wie eine Art Gegenwelt zum An-sich der elfenbeinernen Kugel des Seins. Müssen wir nicht ernst nehmen, daß das die Lage des Menschen ist angesichts der ständigen, unerreichbaren Festigkeit des An-sieh-Seins? Das Sein kann man nicht verneinen, sagt Sartre, das ist voll und rund. Aber in unserem Für-sieh-Sein des An-sieh-Seins, in unserem Aufnehmen des Seins, sind nicht nur Haarrisse da sind Abgründe, in denen sich das Denken verirrt und verliert. Wenn wir uns mit Sartre diese Frage stellen, dann kommen wir zu der These, daß in Wahrheit in diesem Für-sieh-Sein die Zweideutigkeit des Bewußtseins alles überzieht. Nichts bleibt davon verschont. Sartre gibt Beispiele. Er schildert die Angst. Bezeichnenderweise zieht er den Heideggersehen Begriff oder die Heideggersche Illustration der Angst als dieses Vernichtende heran, aber in einem ganz anderen Sinn. Er beschreibt sehr anschaulich, wie ich Angst habe, auf einem steilen Bergpfad schwindelig zu werden. Wie ich mir vornehme, möglichst von den Abgrundtiefen wegzusehen. Er hat nicht gut geschildert~ wie verlockend es ist, in den Abgrund zu sehen, und das ist ja die eigentliche Dämonie des Schwindels. Man wird ja dadurch schwindelig, daß einen das, worin man keinen Halt mehr findet, so unwiderstehlich anzieht. Aber diese Besonderheit war sicherlich dem großen Psychologen Sartre - nur in anderem Zusammenhang - bewußt. Ich "'-Till ihn hier keineswegs belehren, sondern nur zeigen, daß er Angst einseitig beschrieben hat und ebenso Unaufrichtigkeit. »Echtheit« und» Unechtheit« sagen wir dafür, im Französischen heißt es mauvaisefoi. Das entspricht nicht unserer» Verlogenheit«, sondern ist die fatale Ununterscheidbarkeit, in der sich menschliches Dahinschleichen an den Rändern der Wahrheit zwischen aufrichtig und unaufrichtig zu bewegen pflegt. Das Zeitproblem wird auch in einem langen Artikel bei Sartre behandelt. Es würde eine eigene Analyse verlangen, zu zeigen, wie Sartre Husserlsche und Heideggersche und Hegelsche - auch Schellingsche - Motive in seinem Kapitel über Zeitlichkeit verarbeitet hat. Dochjetzt müssen wir eingestehen, daß wir eine Zäsur erreicht haben. Von hier an, wenn ich mich so ausdrükken darf, beginnt der eigentliche Sartre. Alles Bisherige, dieser Eleatismus und seine subtile Aufsplitterung durch den modernen Begriff der Reflexion und des Bewußtseins, hat mich damals fasziniert. Aber der eigentliche Sartre ist, wie sein Lebenswerk zeigt, natürlich der, der dort anhebt, wo es sich nicht mehr um das Für-sieh-Sein handelt, sondern um das Für-andere-Sein. Da kommt der Moralist großen Stils zum Sprechen. Sartre hat auch hier seine Erzväter erst einmal kritisch geprüft, um ihr Ungenügen festzustellen. Leider war er für mein Gefühl sehr ungerecht gegen Hegel, den er wohl mit Marx-Augen gelesen hat. Das berühmte Kapitel über die Dialektik der
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Anerkennung in der >Phänomenologie des Geistes< hat er in seiner Bedeutung völlig verkannt. Er beschuldigt Hegel nämlich, er falle am Ende in den formalen Idealismus des »Ich gleich Ich« zurück. Das steht zwar bei Hegelaber um widerlegt zu werden. Was steht nicht bei Hegel, um widerlegt zu werden? So steht es auch bei Sartre. Was steht nicht bei Sartre, um nicht widerlegt zu werden? Auch hier liegt die Sache in Wahrheit anders. Diese Dialektik der Anerkennung, die Dialektik des Selbstbewußtseins, war einmal Thema einer Arbeit, die ich geschrieben habe l , und ich glaube, daß sie wirklich stimmt. Die Dialektik des Selbstbewußtseins zeigt, daß der, der arbeitet, das höhere Selbstbewußtsein hat gegenüber dem Herrn, und nicht das niedrigere. Das ist die ganz klare Funktion des Kapitels im Zusammenhang der >Phänomenologie des Geistes<. Sartre hat das überhaupt nicht begriffen. In diesem Falle ist er seiner wohlmotivierten Ablehnung des formalen Idealismus gefolgt und hat nicht gesehen, daß Hegel gerade diese Überwindung selber vollzogen hat. Das Selbstbewußtsein fängt nicht mit diesen Tricks des formalen Idealismus ala Fichte an: »Ich ist gleich Ich« und » Ich bin, der Ich bin « oder so etwas, sondern mit der Begierde, mit diesem vitalen Selbstgefühl des Hungernden und Sichsättigenden, diesem herrlichen Augenblick der Selbsterftillung im Befriedigen der Begierde. Freilich, wer auf ein solches Selbstgefühl sein Leben, sein Selbstbewußtsein gründen zu können meint, verkennt, daß man auf eine andere Bestätigung angewiesen ist als die stets nur flüchtige durch das Sattwerden. Und das ist die Anerkennung durch den Andern, die nur der Freie einem wirklich geben kann, während Sklaven nichts wagen können und deswegen ergeben sind. Man muß schon sehr primitiv sein, wenn man aus denen, die von einem abhängen, Selbstbewußtsein zieht. Nur wen der Freie und Gleiche anerkennt, erfährt echte Bestätigung. Hegel hat gerade das versucht zu zeigen, daß das wirkliche Selbstbewußtsein des Idealismus aus dieser konkreten Erfahrung des lebendigen Bewußtseins und seines Selbstaufbaus in der Dialektik des Selbstbewußtseins hervorwächst, und nicht aus formalen Spielereien. Husserl können wir hier vielleicht übergehen, denn die Intersubjektivitätstheorie von Husserl ist einer seiner Engpässe2 • Das ist wirklich einer der Punkte, in dem Husserl es immer schwer gehabt hat, von seinem monadologisehen Ausgangspunkt her mit den Phänomenen fertig zu werden, obwohl er selbst überzeugt war, daß hier kein Mangel seines Denkens lag. Aber wenn ich höre, wie Husserl das beschreibt: Ich sehe da ein ausgedehntes Etwas, weiß und ein bißehen rosa und ein bißehen braun, dann leihe ich dem meine beseelende Auffassung und sage: Das ist der Mann da. Erst sehe ich 1
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Jetzt in Ges. Werke, Bd. 3 (Nr. 3). Siehe dazu auch im vorhergehenden. S. 94ff.
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angeblich, daß da so etwas Weißes sei, und dann erkenne ich darin einen meiner Zuhörer. Nein, ich sehe wirklich die Zuhörer und nicht das Weiße. Das heißt aber, ich bin in Wahrheit aufder Linie von Sartre. Jedermann weiß so viel von Sartre, daß er das Phänomen des Blicks in einer wirklich genialen Weise bis in alle Einzelheiten hinein beschrieben hat: was im Tausch der Blicke vor sich geht und was geschieht, wenn man sich beobachtet fühlt, sozusagen zu einem Objekt erniedrigt wird und nicht der Partner im Tausch von Ich und Du ist. Auch die Analysen über die Körperlichkeit, die in diesem Zusammenhang stehen, vor allem in der erotischen Sphäre, haben mit demselben Motiv zu tun, den Andern zum Objekt zu machen oder sich vor dem Andem zum Objekt zu machen, sich ihm gegenüber auszulöschen. Diese Dialektik hat Sartre wunderbar beschrieben. Das sind die Dinge, um derentwillen man Sartre liest, auch wenn man wenig von Philosophie wissen will oder weiß. Aber noch ein Wort über Heidegger und- das »Mitsein«. Man glaubt kaum, wie verschieden das in der Literatur nach Heidegger behandelt worden ist. Ich hätte hier vielleicht noch mich selber einschalten sollen. Ich wollte längst darauf hinweisen, daß der Tausch der Blicke und der Tausch der Worte etwas Gemeinsames haben. Und daß ich vielleicht einen Schritt weiter gekommen bin als Sartre, wenn ich zeige, was sich im Tausch der Worte aufbaut: Im Gespräch ist noch etwas mehr, als was sich im Tausch der Blicke für einen Augenblick realisiert, so lange nämlich, als man sich nicht als der Beobachtete fühlt und in Entfremdung und Verfremdung verfällt. Es ist bezeichnend, daß Sartre in seiner Analyse des Für-sieh-Seins dem Wir einen ziemlich gequälten Paragraphen schenkt. Er gibt zu: Unter Umständen sagt man wirklich »wir«. Aber meistens meinen wir »uns« nicht wirklich. Wir reden nur so mit, als Funktionäre der Gesellschaft oder als Repräsentanten der Meinung. Das sei noch nicht der wahre Kampf zwischen mir und dir, um das Für-sieh-Sein und das Für-andere-Sein. Mit dem »Wir« ist Sartre nicht sehr gerecht verfahren, scheint mir. Und Heidegger? Das ist wirklich interessant. Alle wissen, das Kapitel in >Sein und Zeit< über das Mitsein wird, nicht zu Unrecht, als ein spärlicher Exkurs oder beiläufiger Paragraph bezeichnet. In >Das Sein und das Nichts< sind von 750 Seiten 400 Seiten dem Für-andere-Sein und allem, was damit zusammenhängt, gewidmet, und 350 Seiten dem, worüber ich bisher gesprochen habe. Wenn es bei Sartre so sichtlich anders ist, kann man sagen, es sei doch wohl das große Erbe Hegels, das er weiterführt. Aber gerade hier hat Sartre das eigentliche große Erbe Hegels förmlich ausgeschlagen - wie vielleicht Heidegger auch -, indem er ignorierte, wieviel objektiver Geist in dem Ganzen der Erfah~ rung des Andem und des Lebens mit anderen steckt. Man kritisiert im allgemeinen, und vielleicht ist das anthropologisch gesehen richtig, daß Heidegger seine Seinsfrage zu sehr an der extremen
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Erfahrung des Nichts als Seienden, der Angst, orientiert, in der nichts standhält und wo deswegen das >Da< des Seienden vor seinem Nichts in reiner Glorie erstrahlt. Sartre seinerseits sieht nun in dem Wir, dem Mitsein Heideggers, etwas überraschend anderes. Nicht, wie man im allgemeinen liest, den schwachen Punkt von Heidegger. Man kritisiert, er habe die Institutionen nicht gesehen, er habe den objektiven Geist nicht gewürdigt, er habe beiseite geschoben, wieviel an positivem Leben der Gesellschaft und echter Kreativität in all diesen Erfahrungen des» Wir« steckt. Bei Sartre lesen wir umgekehrt, das Mitsein bei Heidegger sei nicht echtes Wirz das sei mehr so wie eine Mannschaft. In solch einem kollektiven Unbewußten, in dem alle dasselbe reden, sei keiner eigentlich er selbst. Gewiß hat Heidegger so das »Man« beschrieben, aber mit »Mitsein« meint er das authentische Selbstsein und nicht die andere Seite unserer verfallenden Existenz. Auch in der Beschreibung des Mitseins bei Sartre sind treffende Dinge; aber wie verschieden man diese Paragraphen Heideggers lesen kann, bleibt doch merkwürdig. Die meisten sehen darin ein Ausweichen Heideggers gegenüber den echten Solidaritäten. Sartre sieht darin das Versagen gegenüber der echten Authentizität des Selbstseins. Mitsein erscheint als eine Art Mitläuferturn des Daseins. Hier hat Sartre doch wohl die Analyse der Alltäglichkeit mit der Eigentlichkeit des Daseins fälscWich durchmischt. Wenn man Sartres Anthropologie liest, so ist das ein Kampf des einen mit dem anderen, für den Andern oder auch gegen den Andern, für sich selbst oder auch gegen sich selbst. Er hat geradezu die sexuellen Ausdrücke» Masochismus« und» Sadismus« gebraucht, um die beiden Extreme im Verhältnis zum Andern darzustellen. Jedenfalls ist es ein Kampf, und Sartre setzt das der Pseudo-Solidarität einer Mannschaft entgegen. Weiß Gott, warum das Heidegger sagen soll. Weil er das faschistische Massentreiben unterstützte? Man kann sofort begreifen, daß Sartre gegenüber dieser Heideggerschen Auflösung des Sich-selbst-vorweg-Seins, dieser Bewegtheit des Sichverstehens auf sein Sein, die Selbstgewißheit des Bewußtseins verteidigt. Er zitiert einen Satz von Heidegger: »Das Dasein ist dasjenige Seiende, dem es um sein Sein geht«, und sagt, hier müßte man nur statt »Dasein« »Bewußtsein« sagen. Das Bewußtsein ist dasjenige, dem es um sein Sein geht, indem es alles andere zur Vorstellung macht, also negiert. So schlägt das cartesische Cogito am Ende wieder durch, nicht in der Weise, in der es etwa in der Wissenschaftstheorie üblich ist, indem man Objektivität und Gewißheit und Kriterien und all diese schönen Dinge bemüht, sondern in dem Sinne, daßwie für Descartes - in den Augen von Sartre das die einzige Basis ist, von der aus man die Überschreitung der Selbstheit und damit die Möglichkeit einer freiheitlichen Existenz wirklich gewährleisten kann. Wer gewährleistet hier was? Mir scheint, daß in beiden Fällen, sowohl der Sartreschen Gegen-Analyse der Körperlichkeit wie der des Anderen, die
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Evidenz stärker aufder Seite dessen ist, dem ich in vielen Dingen gefolgt bin. Das Wunder des Bewußtseins ist kein Letztes, kein Erstes. Es ist, wie Heidegger gezeigt hat, ein sehr spätes, viel Irrtümliches suggerierendes Wort, als ob das so ein Etwas wäre. Die Griechen waren viel klüger, wenn sie sagten: Das Bewußtsein ist der Ort, in dem sich all die Ideen sammeln. Es ist für uns alle einsichtig, daß dieses Universum des Wachseins zugleich die Vereinigung aller unserer Vorstellungen enthält. Der cartesianische Ausgangspunkt des Cogito kann vielleicht doch nicht das eigentliche Rätsel des menschlichen Daseins erkennen, das eben in diesem )Da< besteht, in dieser unausdenkbaren Auszeichnung des Menschseins, daß Welt für den Menschen )da< ist. Dieses Mysterium ist nicht in irgendeiner angemessenen Begrifflichkeit beschreibbar, wird aber wohl immer wieder am Negativen ausweisbar: Welt versinkt, wenn wir in Schlaf sinken; Welt versinkt, wenn wir die Augen endgültig schließen.
11. Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus (1987)
über Dekonstruktion und Destruktion, über das Verhältnis von Derrida und de Man zur Hermeneutik, wie ich sie als philosophische Theorie entwickelt habe, zu sprechen, ist nicht ganz einfach. De Man kannte ich schon länger, als er in Zürich tätig war, und damals war er der Hermeneutik recht wohlgesinnt. Wir haben uns auch inzwischen freundschaftlich wiedergesehen, aber er hat sich dann offenbar der poststrukturalistischen Wendung Derridas angeschlossen und seine Auffassung der Hermeneutik von da aus verändert. Derridas Werk habe ich seit Jahrzehnten verfolgt. Er war innerhalb der gesamten französischen Szene offenbar derjenige, der mit mir die meisten Ausgangspunkte teilte. Auch er kam von Heidegger her. Im Unterschied zu fast allen anderen hat er wirklich mit Aristoteles angefangen und nicht mit Heidegger allein, um Heidegger zu verstehen. Das aber ist eine der Grundbedingungen, ohne die man überhaupt kein Gespräch über Heidegger ernst nehmen kann. So habe ich im Laufe derJahrzehnte, angefangen mit >La voix et le phenomene< (1967) und >Ousia et gramme< (1968), versucht, mich in Derridas Gedankenwelt einzuarbeiten. Ein gemeinsamer Ausgangspunkt hat stets auch seinen Konfliktpunkt. Hier liegt er in der Nietzsche-Interpretation Heideggers. Das ist offenkundig der Punkt, an dem sich Derrida von dem frühen Einfluß Heideggers, den er schon über Beaufret erfahren hatte und den er in gewissem Sinne in Abgrenzung von Husserl stets festzuhalten sucht, zu emanzipieren meint. Ausgerechnet im Punkte der Nietzsche-Interpretation ist nun meine eigene Überzeugung die, daß Heidegger, dieser Großmeister gewaltsamer Interpretationen, in diesem Falle eine außerordentlich tiefblickende und zugleich angemessene Interpretation vorgelegt hat. So habe ich in den Augen von Derrida sozusagen das Schlechteste an Heidegger auch noch unterstützt. Dieses Schlechteste heißt bei Derrida »Logozentrismus«. Schon das Wort, das er damit auf Heidegger anwendet, befremdet. Man muß doch zugeben, daß bereits in >Sein und Zeit< die Kritik an der Aussagenlogik und an ihrem ontologischen Äquivalent ganz unzweideutig geübt wird. Dort lautet das Stichwort» Vorhandenheit«, eine Bezeichnung, die mich nie ganz befriedigt hat, weil Heidegger darunter so heterogene Dinge vereinigte wie die grie-
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Die hermeneutische Wende
chische Seinsauffassung des Anwesens, an dem man in der Theorie teilge-
winnt, und den modernen Objektivitätsbegriff, der durch Methode definiert ist. Heidegger hat später, vor allem in dem Aufsatz über >Die Zeit des Weltbildes<, diesen Punkt selber differenziert. Daß es etwas anderes ist, was die Griechen mit ihrem Seinsverständnis verbanden, als die Feststellbarkeit von Tatsachen, ist ja offenkundig genug und hat meine eigenen griechischen Studien ständig geleitet. So gibt es hier offene Fragen - aber jedenfalls kann man weder Heidcgger noch überhaupt der hermeneutischen Wendung der Phänomenologie im Sinne der Husserl-Kritik Derridas »Logozentrismus« nachsagen. Nun stützt sich Derrida in der Tat vor allem auf seine kritische Lektüre Husserls. Durch Husserl wird bei der Analyse des Zeitbewußtseins in größter Ausdrücklichkeit die presence ausgezeichnet, und vollends wird in der ersten Logischen Untersuchung eine Kongruenz zwischen Ausdruck und Bedeutung etabliert. Der Ausdruck ist kein Anzeichen, sondern hat eine ideale Bedeutung. Nun sei aberjedes Zeichen immer Zeichen für Abwesendes, und grundsätzlich widerlege das ve.rgangene Jetzt der Retention die Identität mit dem gegenwärtigen Jetzt. Das ist gewiß überzeugend, daß das Zeichen, auch wenn es >ideal< ist, d. h. ein Wort sein soll, als solches >gedeutet< sein muß. Aber läßt sich Sprache von einem solchen Teilelement wie Wort und Bedeutung aus erfassen? Und läßt sich Zeit vomjetzt, das vergangen, und Jetzt, das gegenwärtig ist, her denken? Liegt die Vieldeutigkeit wirklich im Zeichen als Faktischem und nicht vielmehr in der Sinnkonstitution durch die Faktizität von Wort und Antwort? Heideggers Auffassung des Begriffs der Metaphysik und seine Parole der Überwindung der Metaphysik oder der »Verwindung der Metaphysik« sind gewiß nicht ohne weiteres mit meinen eigenen Versuchen gleichzusetzen. Zwar hat Heidegger uns junge Leute üb~rzeugt, wie die Frage nach dem höchsten Seienden und die Frage nach dem Sein als solchem in Aristoteles untrennbar seien und damit Metaphysik als Ontotheologie darstellen. Doch geriet ich bald in Schwierigkeiten. Ich war klassischer Philologe geworden, und da konnte mich Heideggers Plato-Deutung nicht überzeugen. Kann man Plato als eine notwendige Stufe zur Ontotheologie des Aristoteles ansehen? Kann man den Begriff >Metaphysik< überhaupt auf Plato anwenden? Wenn man schon seine Position zur >Physik< beschreiben will, müßte man sie eher Metamathematik nennen. Das hat Sinn und trifft die pythagoreische Komponente, die sich in Plato durchhält und die nur in mythischer Form über die Entstehung des Universums und den Aufbau der Natur zu sprechen erlaubt. So ist die eigentliche Wirklichkeit das >Rationale<, das sich in Symmetrien und in Zahlenverhältnissen, vor allem in der Musik und in den Sternen, darstellt. Nun mag man in einem weiteren Sinne nicht nur Aristoteles, sondern
Frühromantik,
Hermene~tik, Dekonstruktivismus
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auch Plato mit Derrida dem Logozentrismus zurechnen und ihrer impliziten Ontologie den temporalen Charakter der Präsenz zusprechen. Aber wieso die temporale Kritik, die Heidegger an dieser griechischen Ontologie vorträgt, erlauben soll, »Logozentrismus« auf ihn selbst anzuwenden, versteht man nicht. Von Anbeginn an war Heidegger darauf aus, als ein Mensch der Moderne, der Nachaufklärung, seinen Willen zum christlichen Glauben zu verstehen. Die aristotelische Metaphysik in ihrem Seinsverständnis und gar in ihrer thomistisch sanktionierten theologischen Deutung war ihm nicht annehmbar. Aus diesem religiösen Antrieb heraus hat ihn die temporale Kritik am griechischen Seinsbegriff von Anfang an geleitet. Dafür gibt es inzwischen eine Dokumentation. In einer Vorlesung, die Heidegger damals in Freiburg gehalten hat und die den Titel >Phänomenologie der Religion< trug, sprach er, wie man ihn kennt, ein halbes Semester lang über alle möglichen Auffassungen - richtige und falsche - von Phänomenologie. Von Religion kam kein Sterbenswörtchen vor. Da haben sich Studenten beim Dekan darüber beklagt, sie hätten doch als Theologen die Vorlesung belegt ... Darauf hat Heidegger nach Weihnachten die Vorlesung umgestellt und mit einer Exegese des Thessalonicherbriefes begonnen. In diesem Brief, dem ältesten Dokument des Neuen Testaments, das wir überhaupt besitzen, schreibt Paulus nach der ersten Gründung einer Gemeinde in Thessaloniki an diese von Athen aus, sie sollten nicht immerfort fragen, wann der Erlöser zurückkäme. Er werde kommen wie der Dieb in der Nacht. - Heute erkennen wir unschwer, daß sich hier in Heidegger eine erste Antizipation seiner späteren Kritik am »kalkulierenden« Denken zeigte. Es geht eine einheitliche Linie durch. So ist die gesamte Daseinsanalyse von >Sein und Zeit< auf die Zukünftigkeit des Daseins gestellt. Es ist Zukunft und nicht Präsenz, was das Sein des Daseins auszeichnet. Das kommt nicht erst in )Sein und Zeit<, sondern auch in den vielen Vorarbeiten, die wir inzwischen kennen, deutlich heraus. Zu ihnen tritt - eine der bedeutendsten Publikationen der neuen großen Heidegger-Gesamtausgabe (Bd.61) - der als Buch vorbereitete Text der Vorlesung von 1921/22, die sich >Einführung zu Aristoteles< nennt. Bis zu Aristoteles ist Heidegger dort allerdings überhaupt nicht gekommen. In diesem Text erkennen wir sogleich das frühere Kierkegaard-Stadium Heideggers. Ich meine damit den unmittelbaren Versuch, das, was Kierkegaard als religiöser Schriftsteller und als Ankläger der christlichen Kirche seiner Zeit getan hatte, in philosophischem Sinne zu wiederholen. Daß der Kreuzestod Christi nicht ein Ereignis von vor 40 Generationen sei, das weit zurückliege, sondern eines, mit dem wir gleichzeitig sein müßten, wenn wir der Botschaft des Evangeliums folgen wollten, war der Sinn von Kierkegaards Insistenz. Heidegger hat das ganz offenkundig in seine philosophische Selbstauffassung aufgenommen. Auch im Philosophieren müsse
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Die hermeneutische Wende
man sich davon freimachen, nur »auf Abstand« zu verstehen. Hier liegt Heideggers Einsatz gegen den Logos im Sinne der Logik klar zutage. Der Augenblick der Wahl, von dem Kierkegaard zu sprechen wußte, meint nicht das Jetzt der Aristotelisch-Augustinisch-Husserlschen Zeitanalyse, auch wenn Kier1Gegaard nur die Sprache der Hegelschen Dialektik zu sprechen vermochte. Nun liegt im Wesen des Logos gewiß auch so etwas wie Abstand. Aristoteles hat mit Recht gezeigt, daß darin Sinn für Zeit gelegen ist, Abstandnahme von der unmittelbaren Reaktion auf das Gegenwärtige. Aber wenn er an der gleichen Stelle der >Politik< (A2, 1253a14) fortfährt, daß darin der Sinn für das Beiträgliche und damit auch für das Gerechte und Ungerechte gelegen sei, so weist das hier implizierte Zeitverständnis entschieden über denjenigen Sinn von Logos hinaus, der in der aristotelischen >Physik< zu der harten Konsequenz der physikalischen Zeitanalyse führt. So war es mir selbst möglich, den zuerst von Kierkegaard und dann von Heidegger empfangenen Impuls gerade auch von der praktischen Philo- . sophie des Aristoteles aus weiterzuentwickeln und das Wesen der Sprache im Gespräch zu sehen. Das stellt insoweit eine überlegene Erfahrung dar, als es die von Heideggers Daseinsanalyse entwickelte »Jemeinigkeit« des Daseins und seine Verfallenheit an die Welt überschreitet. Es gibt kein subjektives Bewußtsein, weder das des Sprechers noch das des Angeredeten, das das im Gespräch Zutagetretende zu umfassen weiß. Diese Erinnerung soll deutlich machen, welche Herausforderung es für mich bedeutete, wenn Derrida in >Die Stimme und das Phänomen< die Hermeneutik nicht nur als Logozentrismus, sondern gar noch als Schlimmeres, als »Phonozentrismus« an den Pranger stellt. Nun frage ich mich freilich, wo in hermeneutischer Orientierung die Ontologie der presence liegen soll. Die Lehre von der Einheit von Ausdruck und Bedeutung, an der sich Derridas Kritik entzündet hat, lag schon längst hinter uns, ja schon hinter dem Husserl von 1910. Wer hört denn etwa auf das Wort, das ertönt, wenn er versteht? Wer hört denn auf seine eigene Stimme, wenn er etwas sagt? Wer im Sprechen noch seine Stimme hört, der wird mitten im Wort steckenbleiben, und wer auf die Stimme achtet, wenn er einer Rede zuhört, wird nicht mehr das Gemeinte verstehen. Es ist ein falscher Logozentrism~s, es ist Metaphysik der presence, was hier Derridas Ausgangspunkt bei der Zeichentheorie verzerrt. Gespräch definiert sich gerade dadurch, daß nicht im vouloir-dire, das das Wort sein soll, sondern in dem, was über alle gefundenen oder gesuchten Worte hinaus gesagt sein will, das Wesen des Verstehens und der Verständigung besteht. Diese wesenhafte »Differenz«, aufder Derrida mit Recht besteht, erkenne ich durchaus. Aber dazu bedarfes in meinen Augen keines Rückgangs auf die ecriture. Mir ist die lecture zweideutig genug, in der Schriftliches unterwegs zur Sprache ist. Auch das Wort» Verstehen« kann uns hier hilfreich sein. Sein Ort in der
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deutschen Geistesgeschichte fmdet freilich in anderen Sprachen nicht so leicht eine Entsprechung. Was heißt eigentlich Verstehen? Verstehen ist >für jemanden stehen<. Das Wort wird dem ursprünglichen Sinn nach von dem gesagt, der Fürsteher vor Gericht ist, der Advokat. Er ist der, der seine Partei >versteht<, so wie wir im heutigen Sprachgebrauch dafür »vertreten« sagen. Er vertritt seinen Klienten, er steht für ihn: Er wiederholt nicht etwa, was dieser ihm vorgesagt oder diktiert hat, sondern er spricht für ihn. Das heißt aber, er redet von sich aus als ein anderer und wendet sich an die anderen difference ist hier selbstverständlich impliziert. Ich selbst habe bereits 1960 in >Wahrheit und Methode< geschrieben: »Wer versteht, muß anders verstehen, wenn er überhaupt verstehen will. «1 Wenn Derrida auf der Vieldeutigkeit des Zeichens besteht und deshalb ecriture wie eine innere Stimme sprechen lassen will, dann sollten wir doch nicht vergessen, daß Schrift gelesen sein will. Es ist also nicht die Vieldeutigkeit eines Schriftbildes oder Zeichenbestandes, sondern die des damit Bezeichneten, die, wenn einer liest, aktualisiert wird. Man kann Schrift nicht lesen, ohne zu >verstehen<, d. h. ohne zu artikulieren und damit eine einmalige Intonation und Modulation vorzunehmen, die den Sinn des Ganzen antizipiert. So erst kann Schrift zum Sprechen zurückkehren (was keineswegs >lautes Lesen< zu sein braucht). Die Aktualisierung von Schrift verlangt jedenfalls immer SChOll Interpretation im Sinne des deutenden Verstehens, wie die des Wortes, das einem gesagt wird. Angesichts dieser Sachlage scheint es mir ein reines Mißverständnis, wenn Derrida hier Metaphysik der presence am Werke sieht. Der platonisch-statische Sinn der ideal-einen Bedeutung, von dem Derrida ausgeht, hat ihn, wie mir scheint, in dieses Mißverständnis verwickelt. Das ist nicht die Kunst der Hermeneutik, jemanden aufetwas festzunageln, was er gesagt hat. Sie ist die Kunst, das, was er hat eigentlich sagen wollen, aufzunehmen. Daß ich mich mit der dialogischen Wendung der Hermeneutik in der Nähe der frühen Romantik befinde, ist mir natürlich klar gewesen. Gelegentliche Bezugnahmen darauf fmden sich in meinen Schriften. Ich habe aber mit Interesse wahrgenommen, daß es noch mehr Vorwegnahmen dieser Perspektiven bei Friedrich Schlegel gibt, als ich damals kannte. Auch noch in einem anderen wortgeschichtlichen Vorgang der deutschen Sprache spiegelt sich das Motiv der difference, das Derrida in den Vordergrund spielt. Ich meine in dem Ausdruck »Selbstverständnis«. Ein relativ 2 neues Wort, das in der Theologie der zwanziger Jahre langsam aufkam sicherlich nicht ohne den philosophischen Beitrag Heideggers, zumal ein prozessuales Moment in dieser Wortbildung liegt. Wenn ich mich frage, was 1
2
>Wahrheit und Methode( (Ges. Werke Bd. 1), S. 302. Siehe dazu auch meinen Beitrag in Ges. Werke Bd. 2 (Nr. 9).
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Selbstverständnis heißt, so scheinen sofort alte Schichten des religiösen Sprachgebrauchs dahinter auf, die bei Schlegel dann wieder hochkommen, aber sicherlich auf den Pietismus zurückgehen. »Ich verstehe mich selbst nicht« ist eine religiöse Urerfahrung des Christen. Zwar geht es dem menschlichen Leben um die Kontinuität des eigenen Selbstverständnisses, aber diese Kontinuität besteht in einem beständigen' Sich-in-Frage-Stellen, wie ein beständiges Anderssein. Eben deshaIb kann einer nie zu einem Selbstbewußtsein im Sinne einer vollen Identifizierung mit sich selbst gelangen3 • Der Einwand Derridas meint nun, daß Verstehen immer wieder zur Aneignung wird und damit Verdeckung der Andersheit einschließt - ein auch von Levinas gewiß stark gewertetes Argument und eine durchaus nicht abweisbare Erfahrung. Doch scheint mir die Voraussetzung einer solchen Identifikation, die im Verstehen geschehe, in Wahrheit eine idealistische, logozentrische Position zu verraten, von der wir nach dem Ersten Weltkrieg in der Wiederaufnahme und Kritik am Idealismus, die durch die Kierkegaard-Übersetzung des schwäbischen Pfarrers Schrempfbefördert war, uns schon getrennt hatten. Theologen wie Karl Barth, Rudolf Bultmann, aber auch die jüdische Idealismuskritik von Franz Rosenzweig, Martin Buber sowie katholische Schriftsteller wie Theodor Haecker und Ferdinand Ebner bestimmten die Atmosphäre, in der sich unsere Gedanken damals bewegten. Wenn ich in meinen eigenen Arbeiten von der Notwendigkeit spreche, daß in allem Verstehen der Horizont des einen mit dem Horizont des anderen sich verschmilzt, so meint auch dies wahrlich kein bleibendes und identifizierbares Eines, sondern geschieht in dem weitergehenden Gespräch. Darin sehe ich mich auch durch den Bubnerschen Beitrag über das Verhältnis der Ironie bei Schlegel zur Dialektik Hegels bestätigt4. Das hat mir durchaus eingeleuchtet und mir einmal mehr klargemacht, daß die Kierkegaardsche Wende zu Sokrates nicht ganz so falsch ist, wie wir als klassische Philologen sie zu sehen gewohnt sind. Natürlich hat die romantische Ironie nichts von jenem gesellschaftlichen und pädagogischen Zug der sokratischen. In dem, was wir bei Sokrates finden, ist jedoch ein Punkt, von dem man ausgehen muß und von dem ich auch ausgegangen bin, wenn ich mich mit Derrida zu verständigen suchte. Man muß den Andern zu verstehen suchen - und das heißt, daß man darauf gefaßt sein muß, daß man selber im Unrecht ist. Erst dann fuhrt Verstehen weiter. So habe ich es auch mit Derrida gehalten, bis mir die gemeinsamen Ausgangspunkte und die gemeinsamen Ziele mehr 3 .So scheinen mir auch die Analysen, die HENRICH und seine Schüler in Heide1berg betneben haben, durchaus nicht fern, sofern sie zeigen, daß es auch bei Kant noch um
mehr als bloße Identifikation ging.
~ R. BUBNER, Z~r dialek?schen Bedeutung romantischer Ironie. In: E. BEHLER/j HÖRISCH (Hrsg.), DIe AktualItät der Frühromantik. München/Paderborn 1987, S. 85-95.
Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus
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und mehr deutlich wurden, über die Grenzen unserer Aufzeigungsweisen hinweg. Als Philologen kennen wir alle die Erfahrung, daß man seine eigenen Evidenzen erst dann wirklich verteidigen darf, wenn einem alle Anstrengungen mißlungen sind, an ihnen zu zweifeln. Das gehört zum moralischen Aspekt der sogenannten Objektivität der Forschung. Als eine Tugend ist sie eine unabdingbare moralische Leistung und besteht nicht in der bloßen Ausschaltung alles Subjektiven, durch die man die Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnis mit Hilfe von angemessenem Methodengebrauch zu sichern sucht. Das Selbstverständnis, zu dem das Verstehen beiträgt, steht ganz wie Derridas »Dekonstruktion« jenseits von Husserls erster Logischer Untersuchung und dem sogenannten Platonismus der Phänomenologie. Entsprechungen zwischen der Frühromantik und unserer eigenen philosophischen Entwicklung im 20. Jahrhundert beruhen nicht nur auf der Wiederaufnahme des Denkens des romantischen Spätlings Kierkegaard durch die Epoche vor und nach dem Ersten Weltkrieg und stellen sich nicht nur darin dar. Es gibt viele andere überzeugende Entsprechungen. Da ist vor allem die beherrschende Stellung, die Fichte damals in jenen Jahren der Frühromantik gewann und die in manchem derjenigen von Heidegger in unserem Jahrhundert ähnelt. Manfred Frank hat in subtiler Weise die Fichtesche Setzungstheorie und ihre Anstößigkeit für das historische Bewußtsein der Frühromantik geschilderts. Ich sehe das durchaus ebenso, wenn ich auch darauf bestehen muß, daß man Fichte damals sehr verkürzt sah, weil man den zweiten Teil der >Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre< kaum noch zur Kenntnis nahm und ebensowenig die Vorverweisungen, die vom Fichte der Frühzeit aufden Fichte der Spätzeit hinüberlaufen. Hegels Schema des subjektiven, objektiven und absoluten Idealismus ist eine kunstvolle Konstruktion. Selbstverständlich war Fichte bereits ein absoluter Idealist. Und dies meint, daß die Wendung, die in den späten>Wissenschaftslehren< Fichtes deutlich zutage tritt, nicht wie eine Art »Kehre« gedacht werden darf, sondern vielmehr als die Ausarbeitung von Motiven, die von Anfang an in Fichtes Wissenschaftslehre steckten. So ist es eigentümlich, wie ähnlich das Selbstverständnis bei Denkern wie Fichte und Heidegger aussieht. Auch Fichte hat immer gesagt, daß die >Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre< die wirkliche Grundlage für alles Spätere sei. Und ebenso hat sich Heidegger, auch von seinen späteren Arbeiten aus, bis zu seinem Tode immer gegenüber >Sein und Zeit< verhalten, trotz aller »Kehre«. In seinem Falle war es so, daß die protestantische S
M.
FRANK,
>Intellektuelle Anschauung<. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungs-
versuch von Se1bstbewußtsein: Kant, Fichte, Hölderlin/Novalis. In: BEHLER/HöRISCH (Hrsg.) [so Anm. 4J, S. 96-126.
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Theologie den Appell zur Eigentlichkeit und überhaupt das Pathos von >Sein und Zeit< gegen Heideggers spätere Selbstauffassung festzuhalten suchte. Auch das gehört offenbar zum Wesen solcher Wirkungsgeschichte. Ähnlich hat ja die Romantik sich ihren kritischen Gegner gleichsam selbst aufgebaut, wenn sie die Setzungslehre des ersten Teils der >Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre< für das Ganze nahm. Darin schien mir Franks Darstellung ganz überzeugend. Mit diesen Gegenüberstellungen will ich gewiß nicht behaupten, daß die spätere Entfaltung Heideggers an seine ersten Anfänge und seine Position von >Sein und Zeit< genau im selben Sinne anschließt, in dem der späte Fichte an einen früheren Fichte anschließt. Dennoch kann man, wie mir scheint, tieferliegende Übereinstimmungen und Motive hier sehen. Es scheint mir durchaus zu rechtfertigen, wenn man mit den Mitteln der idealistischen Begriffsbildung die Wendungen des Gedankens in unserem Jahrhundert auszusprechen sucht, wie ich das in meinen Arbeiten tat. So habe ich im Grunde keinen Einwand, wenn man meinen eigenen Beitrag eine »dialektische Hermeneutik« nennt. In der Tat habe ich etwa vom »wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein« in dialektischen Formulierungen gesprochen, wenn ich von ihm sagte, daß es mehr Sein als Bewußtsein sei. Die Auseinandersetzung, in die ich mich dabei mit Heidegger verwickelt habe, beruht auf seiner Auffassung der Sprache der Metaphysik, in die man immer wieder verfalle. Ich halte das für eine ungute und undifferenzierte Redeweise. Es gibt keine Sprache der Metaphysik6 • Es gibt immer nur die eigene Sprache, in der die Begriffsbildung der metaphysischen Tradition in mannigfaltigen Umwandlungen und Überlagerungen weiterlebt. So hat der deutsche Idealismus in gewissem Umfange die latinisierte griechische Begriffssprache weitergesprochen. Zugleich haben die deutschen Idealisten große Neuerungen in die philosophische Sprache eingeführt, vor allem auf der Basis der lutherischen Bibel und der Sprache der Mystik. Was soll »Sprache der Metaphysik« eigentlich sein? Wirklich eine Sprache? Wohl versteht man, was es heißt, daß ein Begriff durch seine metaphysische Prägung vorbelastet sei. Hier scheint mir ganz entscheidend, daß »Destruktion«, wie sie der junge Heidegger uns als die große Botschaft gebracht hat, für den, detr die deutsche Sprache dieser Jahre wirklich im Ohr hat, niemals den negativen Klang von »Zerstörung« hatte, wie er dem Gebrauch des Wortes in anderen Sprachen anhaftet. Destruktion ist für uns Abbau, Abbau von Verdeckung. Wenn wir Zerstörung meinen, sagen wir nicht »Destruktion«, sondern: Zerstörung. So ist das Wort »Destruktion« in den zwanziger Jahren von Heidegger eingeführt worden, und ich nehme an, daß Derrida mit diesem Sprachgebrauch nicht wirklich vertraut war und deshalb eine für 6
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Vgl. hierzu u. a. den Beitrag in Ges. Werke Bd. 3, S. 229ff.
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mein Sprachgefühl sonderbare und redundante Wortkonstruktion wählte doch wohl, weil er in »Destruktion« nur »Zerstörung« hörte? Nun, Worte sind nicht so wichtig. Aber die Sache ist wichtig. Es geht darum, Begriffe und Begriffsausdrücke wieder zum Sprechen zu bringen, sie aus dem leeren Funktionszusammenhang, in dem man sie als eine überformende Terminologie benutzt, auf ihren ursprünglichen Sprachcharakter zurückzubringen. Das war das große Verdienst Heideggers, die Destruktion der Schulsprache der Metaphysik. Er hat gezeigt, daß die griechischen Begriffsprägungen Worte der lebendigen Sprache waren und in aller begrifflichen Präzisierung eine Vielfältigkeit oder - um mich mit der modernen Poetologie auszudrücken - eine>Vielstelligkeit< von Bedeutungselementen festhalten, die immer noch hintergrundartig mitsprechen. So hat Aristoteles in seinem berühmten Begriffskatalog (Met. L\) nicht nur Begriffsunterscheidungen getroffen, sondern auch Begriffszusammenhänge sichtbar gemacht, etwa in der für Heidegger zweifellos wichtigen Notiz, daß >Ousia< zunächst das >Anwesen< meint, die Farm, das Gut, das der Bauer bestellt und das ihm gehört und zu dem er gehört. All das ist immer rür ihn da. Unser deutsches Wort »Anwesen« kommt tatsächlich dem temporalen Sinn von Anwesenheit entgegen, den Heidegger thematisiert hat. Heideggers Einsicht in den temporalen Charakter von Sein kann sich darauf berufen, daß im Deutschen das Äquivalent von >Ousia< im gleichen Bedeutungsbereich zu Hause ist, wenn es das >Anwesen< meint. So wurde Aristoteles durch die Heideggersche Interpretation ein sehr konkreter Aristoteles. Das hat uns lange darüber getäuscht, daß es eigentlich Metaphysikkritik war, was Heidegger im Auge hatte, und ganz gewiß war es nicht »Präsenz«, wie das ja auch in >Sein und Zeit< ganz deutlich ist, wenn Vorhandensein als ein abgeleiteter Modus eines ursprünglichen Verstehens des >Da< des Seins entwickelt wird. Es war also nicht nur die Thematisierung der Begrifflichkeit, in der sich Denken ausspricht, was die neue Wendung in die Phänomenologie gebracht hat, sondern daß die Beziehung zwischen Begriff und Begriffswort und damit zwischen Denken und Sprache zum Leben erweckt wurde. Wenn man Phänomenologie als eine Forschungsweise ernst nimmt, dann muß man, wie ich meine, anerkennen, daß durch Heideggers Wendung der Husserlschen Phänomenologie, die gewiß nicht ohne den Einfluß von Dilthey und Kierkegaard möglich war, auf dem europäischen Kontinent die Sprache ins Zentrum des philosophischen Fragens rückte - ungefähr gleichzeitig mit dem >linguistic turn<. Das soll die Unterschiede nicht verwischen. Die angelsächsische Tradition, der in diesem Punkte auch Derrida folgt, geht von dem Zeichenbegriff aus, der rür diese Betrachtungsweise in seiner Vieldeutigkeit das Urphänomen ist. Das gilt auch noch für Husserl. Nicht 7
Siehe dazu auch )Destruktion und Dekonstruktion< in Ges. Werke Bd. 2 (Nr. 25).
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umsonst konnte Derrida an der Zeichetltheorie Husserls seine produktive Kritik ansetzen. Die hermeneutische Wendung der Phänomenologie dagegen öffnet sich in erster Linie dem durch Sprache Vermittelten, und deswegen habe ich den Gesprächscharakter der Sprache in den Vordergrund gerückt. In einem Gespräch kommt etwas zur Sprache, und nicht der eine und der andere Sprecher. Hier drängt sich abermals die Nähe der hermeneutischen Wendung der Phänomenologie zur Frühromantik auf. Das war mir nicht überraschend. Habe ich mich doch selbst gelegentlich sowohl auf Schleiermacher wie auf Schlegel positiv zurückbeziehen können. Aber die Teilnahme an dieser Aussprache hat mir gezeigt, daß die Übereinstimmungen viel weiter gehen. So hat mich der Vortrag von Alexander von Bormann8 belehrt, daß die kritische Analyse von Bewußtsein und Bewußtheit in der romantischen Ära schon in der Richtang einer temporalen Interpretation des >Nous< entwickelt worden ist, der wie der Blitz ist. In Heideggers Hütte im Schwarzwald stand über der Tür auf einer großen Borke das Wort des Heraklit: » Der Blitz .steuert alles.« Auch das will temporal verstanden werden. Im Zucken des Blitzes ist einen Augenblick lang alles klar und hell - dann sinkt es in die tiefere Nacht. Daß Heraklit und Plato ähnliches im Auge hatten wie dieser >Nous< der Bewußtheit und des Lebendigseins, läßt sich auf mancherlei Weise überzeugend machen 9 . Auch in der Frage, die mich seit langem besonders beschäftigt, der Frage der >intentio auctoris<, befmde ich mich offenbar in größerer Nähe zu Schlegel, als mir bewußt war. Das hängt vor allem an dem Nachdruck, den auch Friedrich Schlegel auf den Begriff des Werkes legt. Hier verteidige ich mich seit langem erbittert gegen den Zeitgeist,· der den hermeneutischen Sinn des Werkbegriffs abstreiten will. Dabei kann uns begriffsgeschichtliche Sensibilität helfen. » Werk« meint nichts anderes als >Ergon< und ist genau wiejedes andere >Ergon< dadurch charakterisiert, daß es von dem Produzenten und seiner Produktion losgelöst ist. Es ist ein uraltes platonisches Problem, daß die Formgestaltung von etwas nicht von dem abhängt, der es macht, sondern von dem, der es gebrauchen soll. Das gilt von allem, was Werk ist, und erst recht von dem Werk der Kunst. Zwar ist es nicht zu einem bestimmten Gebrauch gemacht, wie die Handwerksstücke. Aber es ist ins Offene dargestellt und damit ausgesetzt. Es steht sozusagen allein für sich und in sich. Das ist für die Frage entscheidend, die uns bei der >intentio auctoris< beschäftigt. Wo wir es mit einem Kunstwerk zu tun haben, ist die >intentio< sozusagen in das Werk ganz eingegangen und kann hinter ihm oder 8 A. V. BORMANN, Der Töne Licht: Zum frühromantischen Programm der Wortmusik. In: BEHLERlHöRISCH (Hrsg.) [so Anm. 4], S. 191-207. 9 Siehe dazu u. a. meine >Heraklit-Studien< in Ges. Werke Bd. 7 (Nr. 3).
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vor ihm nicht mehr gesucht werden. Dadurch beschränkt sich der Wert aller biographischen und entstehungsgeschichtlichen Einsichten in bezug auf Werke der Kunst. Werke der Kunst sind abgelöst von ihrer Entstehung und beginnen erst dadurch zu sprechen, vielleicht gar zur überraschung ihres Schöpfers. Das ist der Punkt, in dem etwa die Rezeptionsästhetik vonJauß ansetzt. Er will meiner Kritik des ästhetischen Bewußtseins nicht folgen, weil er in dem Benutzer, dem Genießer, dem Rezipienten den eigentlichen Boden zu besitzen meint, der ihn gegen die Genieästhetik immunisiert. Indessen, das Werk steht in sich. Ich habe zu zeigen versucht, daß das Wort, der Satz, der Diskurs, wie Inan wohl heute sagt, dort, wo es sich um Kunst des Wortes, also um Dichtung handelt, nicht aufden Autor und dessen Intention zurückverweist. Vielmehr liegen die Dinge umgekehrt. Jeder Leser sieht sich dem Diktat des Gedichtes und des Textes unterworfen. Daß >Dichtung< Diktat heißt, scheint mir für die phänomenologische Umschichtung zu sprechen, derzufolge ein Werk in seiner eigenen Intention, in dem, was es wirklich sagt, uns etwas zu sagen hat. Das Werk >steht< da. Wenn seine Wirkungsgeschichte die seine ist, so besteht dieselbe nicht in jedem Gebrauch und Mißbrauch, der mit ihm getrieben wird. Sehr deutlich wurde mir auch, wie meine eigene Anwaltschaft für die »schlechte Unendlichkeit« sich mit den Intentionen Fichtes und Schlegels berührt. Wie das Gespräch sozusagen aus der Gesprächssituation heraus zu seinen Erhellungen gelangt, so gilt für alles Denken ein solches situatives Moment. Von Hegel ist das durch seine Stilisierung der Gegensatzdialektik zu einem Methodenschein hochgesteigert worden, der viel falschen Zwang ausübt. Doch bleibt es richtig, daß jede Aussage als Antwort auf eine Frage verstanden werden muß, wenn sie überhaupt verstanden werden soll. Das gilt auch für eine Aussage der Kunst. Ich versuche zum Abschluß nun die Beziehung zwischen meinem Versuch und dem Derridas und unsere gemeinsame Beziehung zu der hermeneutischen Wendung der Phänomenologie zu klären. Wenn Derrida auf den Begriff der ecriture zurückgeht, um das eigentliche Wesen des Zeichens in den Griff zu bekommen, so verstehe ich wohl, daß er damit auf seine Weise der Vielstelligkeit der Sprache gerecht werden will und die triviale Fixierung von Wort und Bedeutung, von Redeabsicht und Redesinn, zu überwinden strebt. Aber ob er dabei an der wirklich entscheidenden Stelle ansetzt, erscheint mir fraglich. Hier scheint er mir zu sehr von dem Zeichenbegriff abhängig, der sowohl bei Husserl wie bei de Saussure, Peirce, Morris u. a. den unbefragten Ausgangspunkt darstellt, wie übrigens schon längst in der Tradition der Semantik und Semiotik. Ich verstehe gut, daß man mit dem Begriff der ecriture hinter alle falsche Eindeutigkeit und alle falsche Vielheit von Deutungen zurückzugehen sucht. Das heißt in der Tradition das >ver-
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bum interius<, das Wort, das noch nicht in die Vielfältigkeit der verschiedenen Sprachen und ihrer Ausdrucksfülle eingekörpert ist. Es scheint mir notwendig, wie ich es selbst versucht habe, den Begriff des Wortes von seinem grammatischen Sinn abzulösen lO . Das Wort ist das, was etwas sagt, jenseits der Unterscheidung von Sätzen, Satzgliedern, Wörtern, Silben usw. Daß man auf diesen Sinn von Wort zurückgeworfen wird, scheint mir gerade auch vom Begriff der ecriture aus einsichtig. Schrift ist, in all ihrer Geistigkeit, nur als gelesene Schrift >da<, so wie die Wörter und Worte nur als gesprochene Rede das sind, was sie sind. Damit wird die hermeneutische Wendung unausweicWich, die im Hinausgehen über das >Präsente< besteht. Sie drängt sich dadurch auf, daß offenbar keine Verlautbarung oder Verstimmlichung die Sinn- und Klangintention eines dichterischen Textes ganz erfüllen kann. Ich spreche in dem Zusammenhang von dem »inneren OhrDifferenz< stehen und wenn sie sich auf die Identität hin richten. - Das führt uns mit Notwendigkeit auf den Werkbegriffin seiner eigensten hermeneutischen Autonomie und Substanzialität zurück. Hier darf man sich an Hegel erinnern. Die einzige Form, in der das Gemeinsame, das sich sonst nur im beständigen Austausch des Gesprächs aktualisiert, immer schon da ist, ist das Werk der Kunst, das sich uns wie ein Diktat aufnötigt. Hegel hat es als eine Gestalt des >absoluten< Geistes benannt. In der Tat ist es >abgelöst< von allen Bedingungen, etwa denen der zeitgenössischen >Welt<. Ägyptische Kunst ist nicht nur für Ägypter. Es ist auch abgelöst von dem, was im Geist seines Schöpfers vor sich ging. Darin besteht die kommunikative Kraft des Werkes, daß sich das Gemeinsame in ihm allein konstituiert. Subjektives
und Objektives sind eins. Das macht das Gedicht zum Diktat. Derrida hat in gewissem Sinne den gleichen Weg von Heidegger aus eingeschlagen wie ich. Aber mir scheint, daß er ihn mit einer ontologisch ungeklärten Abhängigkeit von dem semantischen Ausgangspunkt der Sprachbetrachtung maskiert hat. Die Hermeneutik hält eine Erfahrung fest und ist keine Methode, den >richtigen< Sinn festzustellen, als ob dieser so je erreichbar wäre. Das ist das Thema meiner Auseinandersetzung mit Derrida. Die Differenz ist in der Identität, sonst wäre die Identität keine Identität. Das Denken enthält Aufschub und Abstand, sonst wäre das Denken kein Denken.
Siehe >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 409ff. Ausführlicher dazu die in Ges. Werke Bd. 8 (S. 240ff.) unter der Rubrik >Die Kunst des Wortes< versammelten Beiträge. 10
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Dekonstruktion und Hermeneutik
12. Dekonstruktion und Hermeneutik (1988)
Das Gespräch zwischen selbständigen Fortführern Heideggerscher Anstöße, das meine Pariser Begegnung mit Derrida vor einigenJahren sein wollte, hatte es mit besonderen Erschwerungen zu tun. Da ist vor allem die Sprachbarriere. Sie wird immer dann groß, wenn Denken oder Dichten Traditionsformen zu verlassen strebt und aus der eigenen Muttersprache neue Weisungen herauszuhören trachtet. Das ist im Gefolge Heideggers in hohem Grade der Fall, und es gilt offenkundig auch noch für die Pariser Begegnung. Die deutsche Publikation derselben, die unter dem Titel>Text und Interpretation< (im Fink-Verlag, München 1985) erschien, krankt geradezu daran, daß die französischen Beiträge auf deutsch erscheinen. Derridas Stil der Dekonstruktion büßt dabei seine Geschmeidigkeit ein. (In der Umkehrung würde unser akademisches Buchstabieren wohl etwas von seiner Biederkeit verlieren.) In Wahrheit hilft auch Nietzsches Sprachkunst nicht, einen gemeinsamen Boden zu gewinnen. Denn gerade darum geht es, daß man Nietzsche grundverschieden lesen kann: Die einen sehen auf das wirbelnde Maskenspiel von Versuchen und Versuchungen und deuten dies als Ende nicht nur der Metaphysik, sondern der Philosophie überhaupt. Damit verlieren auf der anderen Seite alle Versuche, Nietzsche einheitlich zu verstehen, ihren Boden. So opponiert Derrida dem Versuch, den Heideggers NietzscheDeutung darstellt, von Grund auf. Er sieht in jeder einheitlichen Deutung von Nietzsches Werk Befangenheit im Logozentrismus der Metaphysik. Heidegger sei es nicht gelungen, aus dem Bannkreis der Metaphysik auszubrechen. Mich selber vollends bot ich geradezu als williges Opfer an, wenn ich all den Gewaltsamkeiten, mit denen Heidegger sein Gespräch mit philosophischen oder dichterischen Texten zu führen pflegt, zum Trotz im Falle Nietzsches sein Zusammendenken des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr als völlig überzeugend und durchschlagend anzusehen bekannte. Es ist wahr - ich folge Heidegger, wenn ich in Nietzsche Selbstauflösung der Metaphysik sehe und in Heideggers eigenem Denken den Versuch zum C:berg:mg in eine neue Sprache, in ein anderes Denken (das vielleicht gar nIcht eIn so ganz anderes sein kann). Nun mag man sich fragen: Hat diesen
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letzten Satz vielleicht Derrida geschrieben? Und hätte er im besonderen den eingeklammerten Nachsatz nur ins Französische zu übersetzen? Es sieht so aus, als ob zwischen Heidegger und Derrida mindestens die Z wiegesichtigkeit, die Nietzsche selber besitzt, so etwas wie einen gemeinsamen Boden bietet. Dann bliebe höchstens ich selber mit meinem eigenen Aufgreifen und Fortführen der Hermeneutik als Philosophie das in die verdorrenden Gefilde der Metaphysik verirrte Schaf. Ganz will mir diese Selbstcharakteristik freilich nicht gefallen. Habe ich mich wirklich nur verlaufen, wenn ich mir einbilde, Heideggers Rede von der Überwindung oder der Verwindung der Metaphysik auf meine Weise zu folgen? Ge,Niß habe ich den Begriff der >Hermeneutik<, den Heidegger ins Zentrum seiner Ontologie des Daseins gerückt hatte, gegen seine eigene spätere Entscheidung festgehalten. Aber ich meinte damit keineswegs, seine transzendental gedachte Fundamentalontologie ebenfalls festzuhalten. Gerade die neuen Blickbahnen des späten Heidegger, welche die Themen des Kunstwerks, des Dings, der Sprache in die hermeneutische Dimension einbezogen, haben mich vielmehr auf meinem eigenen Wege bestätigt. Ich vermag nicht einzusehen, daß ich damit der Metaphysik im Sinne jener Ontotheologie verfallen bin, in deren Überwindung und Verwindung Heidegger seine eigene Denkaufgabe sah. In Heideggers eigener Sicht ist Metaphysik »Logozentrismus«, sofern über der Frage nach dem »Was-sein des Seienden« die Frage nach dem >Da< des Seins verdunkelt wird. Wenn Heidegger in der >Aletheia< der Vorsokratiker die Frage nach dem >Da<, die Frage nach dem >Sein< (statt der Washeit des Seienden) vergeblich wiederzufinden suchte, so bestätigt das in meinen Augen, daß er das griechische Denken immer schon auf dem Wege zur Metaphysik sah. Sie hat sich schließlich als » Ontotheologie« vollendet, in der sich die Frage nach dem Sein mit der nach dem höchsten Seienden unlösbar verschränkt. Das ist offenkundig jene Metaphysik, deren Figur durch die christliche Theologie angeeignet wurde und die Folgezeit beherrschte. Mit der nominalistischen Wendung dieser Tradition wurde im Zeitalter der Wissenschaft die Frage nach dem Sein überhaupt unverständlich. Das ist es, was Heidegger mit seiner Analyse der Vorhandenheit aufzudecken meinte und was man in der christlichen Metaphysik als den Bezug des >intellectus infinitus< zur Wesensordnung der Schöpfung zu denken gewöhnt war. Diese >Ontologie der Vorhandenheit< ist es doch wohl auch, was Derrida meint, wenn er von der Metaphysik der Präsenz spricht, deren Gewalt Augustins wie Husserls Zeitanalyse offensichtlich beherrscht. Über einen solchen Begriff von Sein war aber >Sein und Zeit< bereits hinaus. Das lag geradezu in der hermeneutischen Struktur von >Existenz<, nicht Vorhandenheit, sondern Zukünftigkeit zu sein. Wenn ich meinerseits davon ausgehe, dem Existenzial der Rede das Gespräch als das wahre >Un-
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terwegs zur Sprache< zur Seite zu stellen, und wenn ich damit das Licht, das einem an 'dem Anderen aufgehen kann und das, wie ich sagen möchte, die Eigentlichkeit des Mitseins ausmacht, in den Vordergrund stelle, setze ich den Akzent gewiß nicht auf die »Eigentlichkeit« des Daseins. Doch halte ich mich methodisch an die Ausgangsposition von )Sein und Zeit<, nämlich das sich auf sein Sein verstehende Dasein. Der Sache nach ist dieses Selbstverständnis in allen seinen Formen das äußerste Gegenteil von Selbstbewußtsein und Selbstbesitz. Es ist ein sich immer wieder in Frage stellendes Verstehen, das nicht nur auf die Jemeinigkeit gegründet ist, die angesichts des Todes offenbar wird, .sondern gerade auch die Selbstbegrenzung durch den Anderen umfaßt, die sich im Gespräch der Sprache ereignet. Daß ein Gespräch überall dort ist, wo immer und worüber immer und mit wem immer etwas zur Sprache kommt, ob dies nun ein Anderer ist oder ein Ding, ein Wort, ein Flammenzeichen (Gottfried Benn) - das macht die Universalität der hermeneutischen Erfahrung aus. Es ist keine Inkonsequenz gegenüber dem Anspruch des Verstehens darin, daß diese Erfahrung im Verstehen selber die Erfahrung der eigenen Grenzen in sich schließt. Im Gegenteil. Die Universalität der hermeneutischen Erfahrung geht mit der tatsächlichen Begrenztheit aller menschlichen Erfahrung und mit den Grenzen, die unserer sprachlichen Kommunikation und Möglichkeit der Artikulation gesetzt sind, bestens zusammen. So beruht das Leben des Gesprächs, wie schon Humboldt gezeigt hat, auf schwankenden Wortbedeutungen, und alle Verständigung darauf, daß in allem Verstehen auch Mißverstehen ist und daß man )übereinkommt<, wie in jedem Vertragsabschluß, indem beide Teile Zugeständnisse machen, um einen gerechten )Tausch< zuwege zu bringen. Alles Zusammenleben ist solches Gespräch. Vollends aber ist das unausschöpfbare Gespräch als Lesen (und zwar das verstehende) dadurch ausgezeichnet, daß der )Text< zu einem spricht - im Falle des Gedichts, das Diktat ist, nicht auf den )Autor< und seine Stimme zurückverweist, sondern auf Sinn und Klang vorwärts deutet, die der Leser heraushört. Hier scheint es mir daher folgerichtig, daß das Gespräch, das wir sind, ein nie endendes Gespräch ist. Kein Wort ist ein letztes, so wie es kein erstes Wort gibt. Jedes Wort ist selbst immer schon Anwort und bedeutet selbst immer schon Stellen einer neuen Frage. Ich kann Derrida darin nicht folgen, daß die hermeneutische Erfahrung etwas mit Metaphysik der Präsenz zu tun haben soll- und gar, daß dies ganz besonders auf das lebendige Gespräch zutreffe. Mit voller kritischer Deutlichkeit hat Heidegger von der»Oberflächlichkeit der Griechen« im Blick auf ihre Okularität, ihr Eidos-Denken, ihre Einebnung des Logos auf die Logik der Apophansis gesprochen. Das konnte man gewiß »Logozentrismus« nennen - und sich bei dieser kritischen Bezeichnung mit Kierkegaard, mit Luther und mit dem Alten Testament im Bunde flihlen, angesichts der Tatsache, daß die jüdisch-christliche
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Glaubenserfahrung sich im Hören auf die Stimme Gottes bestimmte. Aber nun von dieser Kritik am Logozentrismus selber als von einem Logozentrismus reden ist in meinen Augen ein Mißverständnis dessen, was das Geheimnis des Wortes ist. Es ist das Wort, das einer sagt und das ein anderer versteht. Wieso soll das Präsenz einschließen? Wer hört denn aufseine eigene Stimme? Und wer versteht, wenn er nur hört? Hier hat sich Derrida, wie mir scheint, durch seine an sich richtige Kritik (in seinem schönen Buch >La voix et le phenomene<) an dem Husserl der ersten Logischen Untersuchung und an dem Begriff der Kundgabe, der dort entwickelt wird, zu einer falschen Unterstellung verleiten lassen. Sie scheint mir für seinen Zugang zu Heidegger und zur Hermeneutik verhängnisvoll. Ich verkenne die innere Nähe von Rede und Schrift nicht, die in der Schriftfähigkeit von Sprache liegt. Auch ich betrachte jede Wortsprache immer schon als )Unterwegs zur Schrift< (wie ich eine kleine Abhandlung vom Jahre 1983 betitelt habei). Aber was ist Schrift, wenn sie nicht gelesen wird? Gewiß teile ich mit Derrida die Überzeugung, daß ein Text nicht mehr von seinem Autor und dessen Meinen abhängt. Wenn >gelesen< wird, suche ich nicht den vertrauten Klang der Stimme des Andern in mir zu erlauschen. Wir kennen im Gegenteil alle die Erfahrung, wie ein uns vertrauter Text durch die Stimme des Autors, der seinen eigenen Text vorträgt, geradezu verfremdet werden kann. Wohl aber lese ich einen Text nur dann mit Verständnis, \venn die Schriftzeichen nicht nur entziffert und in Laute umgesetzt werden, sondern wenn der Text zum Sprechen gebracht wird, und das heißt, daß er moduliert und artikuliert, formgerecht und sinnbetont gelesen wird. Die Kunst des Schreibens besteht - das brauche ich einem Schriftsteller vom Range Derridas wirklich nicht erst zu sagen - darin, daß der Schriftsteller jene Zeichenwelt, die die Texte bildet, so beherrscht, daß die Rückkehr des Textes in Sprache gelingt. Das ist in der Neuzeit zUlneist lautlose Sprache, aber auch sie spricht - dank dem wunderbaren Zusammenspiel von Sinn und Klang, das gut geschriebene Bücher und erst recht alle Dichtung als )Literatur< auszeichnet. Ich mächte wirklich wissen, was Verstehen und (was ja doch offenkundig impliziert ist) Mit-Verstand-Lesen mit Metaphysik zu tun hat. Auch ich sage, Verstehen ist immer Anders-Verstehen2 . Was sich da aufschiebt, was sich verschiebt, wenn mein Wort einen anderen erreicht oder gar, wenn ein Text seinen Leser erreicht -, läßt sich niemals in einer starren Identität fixieren. Wo Verstehen sein soll, ist nicht nur Identität. Verstehen meint vielmehr, daß einer fähig ist, an die Stelle des anderen zu treten, um zu sagen, was er da verstand und was er dazu zu sagen hat. Das 1
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Jetzt in Ges. Werke Bd. 7 (Nr. 8). Vgl. >Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 302ff.
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meint gerade nicht, ihm nachzureden. Verstehen im wörtlichsten Sinne heißt nämlich, eines anderen Sache vor Gericht - oder vor wem immer _ ganz zu vertreten, rur ihn zu stehen. Nun wird Derrida gewiß einwenden, daß ich Nietzsche nicht ernst genug nehme - und das heißt: das Ende der Metaphysik, den Bruch, der seither alle Identität und Kontinuität mit sich selbst und mit anderen illusorisch mache. Das seien eben die Illusionen des Logozentrismus, denen selbst Heidegger nicht entronnen sei, wie seine Nietzsche-Auslegung beweise. Im letzten Betracht bleibe das alles Hegel, und das heißt eben: Metaphysik. Es war Hegels Anspruch, den Bruch der Andersheit, und zwar jeder Andersheit, dialektisch zu versöhnen, Selbsterkenntnis im Anderssein zu gewinnen. Gerade das aber bedeute die letzte Vollendung der Metaphysik und sei seit Nietzsche obsolet geworden. Alle Rede von Sinn und Kontinuität von Sinn sei ein metaphysisches Relikt. - So müsse auch meine hermeneutische Anstrengung, die Erfahrung der Kunst in die Kontinuität des eigenen Selbstverständnisses zu integrieren, Zum Rückfall in den Idealismus führen. Die Identität des Selbst sei in Wahrheit eine Illusion. Hier liegt, wie mir scheint, eine falsche Auffassung von Selbstverständnis zugrunde. »Selbstverständnis« ist vielleicht ein irreführender Ausdruck, den ich gebraucht habe und den ich im Anschluß an die moderne protestantische Theologie - wohl aber auch an die Sprachtradition Heideggers - natürlich fand. Das neue Wort deutet in Wahrheit an, daß es sich da gerade nicht um die unerschütterliche Gewißheit des Selbstbewußtseins handelt3 . Das Wort »Selbstverständnis« hat vielmehr einen pietistischen Unterton und läßt anklingen, daß es dem Menschen eben nicht gelingt, sich selber zu verstehen, und daß über diesem Scheitern seines Selbstverständnisses und seiner Selbstgewißheit der Weg zum Glauben führen soll. Das gilt für den hermeneutischen Gebrauch des Wortes mutatis mutandis ebenfalls. Für Menschen ist Selbstverständnis etwas Unvollendbares, ein immer neues Unternehmen und ein immer neues Unterliegen. Der Mensch, der sich auf sein Sein verstehen will, sieht sich vor dem schlechthin Unverständlichen des Todes. Aber nun frage ich: Ist das der Weg der Metaphysik? Ist das Logozentrismus ? Wir stoßen damit auf das Kernproblem, das in aller hermeneutischen Anstrengung mitschwingt und das wohl auch Derridas Unbehagen gegenüber meinen Denkversuchen zugrundeliegt: Wird nicht in der Hermeneutik bei allem Bemühen, die Andersheit als Andersheit, den Anderen als Anderen, das Kunstwerk als einen Stoß, den Bruch als Bruch, Unverständliches als unverständlich anzuerkennen, der Verständigung und dem Einverständnis zu viel eingeräumt? Diesen Einwand hatte ehedem schon Habermas
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Vgl. >Zur Problematik des Selbstverständnisses< in Ges. Werke Bd. 2 (Nr. 9).
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gegen mich erhoben 4 , wenn er mir die verzerrte Verständigung entgegenhielt, die Einverständnis zum bloßen Schein, ja zum Manipuliertwerden macht. Seine Einwendung zielte gewiß in eine andere, politisch motivierte Richtung, und nicht darauf, ob darin nicht ein Rückfall in die Metaph~sik der Präsenz liege. Aber die Sache bleibt die gleiche. Man kann von LeVInas lernen, wie ernst diese Einrede ist, auch für den, der keine politische Option vollzieht, sondern nur sich denkend Rechenschaft zu geben sucht und sagen will, was ist. Ich bin mir dessen durchaus bewußt, daß in der Anstrengung des Verstehens die ständige Verführung droht, dem Entweder-Oder auszuweichen, vor das wir als Handelnde so gut wie als miteinander Lebende . ! gestellt smd. Nicht ohne Absicht spiele ich hier auf Kierkegaard an. Ich gestehe, daß eine meiner Erstprägungen Kierkegaards Gegenüberstellung des ethischen und des ästhetischen Stadiums war. Sie liegt noch meiner hermeneutischen Option für die Kontinuität zugrunde, die ja in der Figur d~s Assesso~s Wilhelm in >Entweder-Oder< gezeichnet ist. In ihm wird die ethische KontInuität der ästhetischen Unmittelbarkeit entgegengestellt und dem ästhetischen Genuß die Selbstkritik des Gewissenhaben-Wollens. Daß darin die »unendliche Mediation« Hegelscher Reflexion lauert, habe ich als Neunzehnjähriger, als der ich das zuerst in mich aufnahm, gewiß nicht realisiert. Aber ich sollte das ein Leben lang nachholen lernen. So kann ich es verstehen, daß man meinen eigenen hermeneutischen Versuch >dialektische< Hermeneutik nennen möchte. Es ist wahr, daß nicht nur Plato, sondern auch Hegel mir eine ständige Denkhilfe anbietet - Hegel freilich so daß ich seiner »unendlichen Mediation« zu widerstehen suche. Man wird daher mit Derrida die Metaphysik der Präsenz auch bei mir wittern, sofern ich doch immer die »Sprache der Metaphysik« spreche- und ist das nicht die Sprache der Dialektik? Das scheint mir der Punkt, den Derrida auch an Heidegger kritisiert, wenn er meint, daß Heidegger in die Sprache der Metaphysik zurückfalle. Und sagt es nicht Heideg?er se~?st, daß wir immer davon bedroht sind, in die Sprache der Metaphysik zuruckzufallen? Gewiß sagt er es insbesondere gegen meine eigene Aufnahme und Fortführung seines >hermeneutischen< Anstoßes. Ich frage dagegen: was soll »Sprache der Metaphysik« eigentlich heißen? Gibt es das überhaupt? Was ich von dem gewaltigen Impetus des jungen Heidegger in mich aufgenommen habe, bestand ebe.n dar~, .daß ich nach Jahren naiven, unkritischen Umgangs mit der B.egnf~stra~It~on d~s Neukantianismus - und es war im Grunde Hegels >LogIk<, dIe Wle eIn SteInbruch das Material für Trendelenburg, Cohen, Natorp, Cassirer, Nicolai Hart4 Siehe dazu >Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik( in Ges. Werke Bd. 2, S. 232ff.
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mann lieferte - von Heidegger lernte, was>Begrifflichkeit( ist und was sie für das Denken bedeutet. Vor allem: wieviel Selbstentfremdung in der Begriffstradition des neuzeitlichen Denkens steckt. Daher bin ich, als ich Heidegger begegnete, dem Pathos der Destruktion sogleich gefolgt. Es entsprach einem Verlangen, das mich bei meinen ersten Denkversuchen, die vor allem im Blick auf das dichterische Wort erfolgten, ständig begleitete. Darüber hinaus habe ich in ausgedehnten philologischen Studien begriffsgeschichtli-ehe Konsolidierung dieser Denkversuche gesucht. Weder Heidegger noch sonst wem habe ich aber folgen können, wenn sie von der »Sprache der Metaphysik« oder der »richtigen Sprache« der Philosophie und dergleichen sprechen. Sprache ist immer nur die eine, die wir mit anderen und zu anderen sprechen. Wenn wir in einer anderen Sprache sprechen als der unsrigen, so ist es wiederum die eine, die mit dem Andern gesprochen wird und in der ich auf den Andern zu hören habe. Jedermann kennt die Erfahrung, wie schwer es ist, ein Gespräch zu führen, bei dem der eine die eine Sprache, der andere die andere Sprache gebraucht, auch wenn sie einander einigermaßen verstehen. Wenn man von der Sprache der Philosophie redet, kann man nur solche Begriffe meinen, die in der Erfahrung des Denkens eine Rolle spielen, das sich zur Sprache gebracht hat. Es ist wahr, daß in der Wissenschaft Begriffe wie Zeichen oder Symbole gewählt und definiert werden. Sie haben eine rein kommunikative Funktion, die sich daran bewähren muß, daß die Erfahrung durch sie möglichst eindeutig bezeichnet und damit kontrollierbar gemacht wird. Es ist die wiederholbare Erfahrung, die hier eindeutige Identifikation und damit eindeutige Symbolisation erlaubt. Die Künstlichkeit dieser Begriffssymbolik der Erfahrungswissenschaften scheint mir ihren extremen Ausdruck dort zu finden, wo dieses Verfahren auf konkretkomplexe Erfahrungsbestände ausgedehnt wird, die selber nicht, wie im naturwissenschaftlichen Experiment, künstlich erzeugt werden und wiederholbar sind. Das ist im besonderen der Fall der Sozialwissenschaften, und dem entspricht, daß dort eine lingua internazionale dominiert. Schon Max Webers enzyklopädischer Scharfblick war mit einem wahrhaften Exzeß des Definierens gepaart. Man kann anerkennen, daß das seinen guten Sinn hat, wo es nur gilt, Erfahrungsbestände zu ordnen. Wo es sich um Philosophie handelt, verrät aber Lust des Definierens den Dilettanten. Philosophie muß aufältere Weisheit lauschen, die in lebendiger Sprache spricht. Plato verglich das - nicht sehr romantisch - mit einem guten Koch, der das Fleisch des Wildbrets in den Gelenken zu zerlegen weiß, ohne die Knochen durchsägen zu müssen (>Phaidros( 265e). Philosophie im abendländischen Sinne hat sich in Griechenland entwikkelt, und das besagt, daß sie die >Begriffe< aus ihrer Sprache entwickelt hat. Sprache aber ist immer die Sprache des Gesprächs. Wer kann verkennen, daß
die Sprache, die die Menschen sprechen, von jeher ihrem eigenen Denken schon Vorarbeit geleistet hat? Aristoteles' Begriffskatalog in Buch Delta der >Metaphysik< ist eine ausgezeichnete Illustration für die Entwicklung von Begriffen aus dem Sprachgebrauch. Die Analyse der verschiedenen WortbedArche< oder was immer es sei, zurückzuweisen. Das ist ein fatales Mißverständnis, das man vor allem gegen den späten Heidegger geltend zu machen pflegt. Was die besondere Leistung betrifft, die Heideggers Destruktion des Subjektbegriffes durch seinen Rückgang auf den Substanzbegriff und damit auf das griechische Verständnis von Sein als Vorhandenheit darstellt, so muß man sehen, daß Heidegger durch diese Destruktion einer metaphysischen Begrifflichkeit den Weg zu einem besseren Verständnis heutiger Existenz- und Seinserfahrung gebahnt hat. Die Parole der Destruktion kann in sehr verschiedener Absicht und zu verschiedenen Zielen befolgt werden. Immer wird sie Kritik an nicht mehr sprechenden Begriffen sein. So hat die Destruktion des Subjektbegriffs durch Heidegger, indem er auf d~ griechische >Hypokeimenon< zurückweist, ihre spezifische Absicht. Aber auch bei ihm erstrebt sie keineswegs eine Berichtigung des Sprachgebrauches. Das scheint mir eine Verkennung des Wesens philosophischer Begriffe, zu erwarten, daß ein thematischer Gebrauch eines wohldefinierten Wortes dem Sprachgebrauch, den eine philosophische Rede führt oder in einem philosophischen Text fixiert hat, eine wirkliche Fessel auferlegt. Noch heute ist mir im Ohr, wie mir als Anfänger von meinen akademischen Lehrern mit einem geradezu heiligen Katheder-Pathos versichert wurde, daß die Verwechslung von »transzendent« und »transzendental« den philosophischen Dilettanten verrate. Kant habe ein für alle Mal dieser Verwechslung einen Riegel vorgeschoben. Heute wage ich zu sagen: dann war Kant selbst ein philosophischer Dilettant. Selbstverständlich gebraucht er nicht selten, wie alle Menschen, das Wort »transzendental« auch im Sinne von »transzendent«. - Gleiches gilt im Griechischen etwa fur den Begriff der )Phronesis<. Seiner aristotelischen
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Begriffszuspitzung steht der freie Gebrauch des Wortes gegenüber, an dem
Hegels spekulativer Erneuerung und Wiederholung des Aristoteles einige Schritte weit zu folgen suche, darin kann ich keinen Rückfall in den Logozentrismus der griechischen Metaphysik sehen. So hat auch Plato schon (ja schon Parmenides, wie sich Heidegger spät genug eingestand) den >Logoi< Folge geleistet, obwohl er um ihre unaufhebbare Schwäche wußte. Auch hat er sich nicht an sie verloren. Sein rastloses dialektisches und dialogisches Bemühen hielt vielmehr etwas von dem überlegenen Geheimnis des Gesprächs fest, dessen Fortgang uns nicht bloß verwandelt, sondern immer auch auf uns selbst zurückwirft, mit uns selbst zusammenschließt. Daß Platos dichterische Kraft das, was er selber tat, jedem Leser zu steter neuer Gegenwart zu bringen vermag, bedeutet, daß er die Destruktion erstarrender Worte - und in manchen seiner Mythen sogar die Dekonstruktion unverbindlich gewordener »Geschichten« - selber vollbracht hat, die Denken freisetzt. Damit sei gewiß nicht geleugnet, daß auch ihn das »nie alternde Pathos der Logoi« auf die Wege der logisch-dialektischen Argumentati~n genötigt und der Geschichte der abendländischen Rationalität vorgearbeitet hat. Daß wir als Kinder des Abendlandes die Sprache des Begriffs zu sprechen genötigt sind, so daß selbst Heidegger, trotz seinen poetisierenden Versuchen, mit Hölderlin das Dichten und das Denken »auf getrenntesten Bergen« zu sehen meinte6 , stellt unser geschichtliches Schicksal dar. Es hat seine eigene Würde. Wir sollten nicht vergessen: Diese Trennung des Denkens vom Dichten hat Wissenschaft möglich gemacht und mit ihr Philosophie zu ihrer begrifflichen Aufgabe berufen, so bedenklich dies Unternehmen der Philosophie auch im Zeitalter der Wissenschaft aussehen mag. Daß Dekonstruktion auch nur für Nietzsche, auch nur für Derrida selbst, den Widerruf dieser Geschichte bedeuten kann, vermag ich nicht zu sehen.
auch Aristoteles festhält. Deswegen war es irrig, aus dem Gebrauch des Wortes bei Aristoteles chronologische Schlüsse ziehen zu wollen. Das mußte ich seinerzeit gegen Werner lIeger geltend machen'. Mir sollte man ein Gleiches zubilligen. Wenn ich weiter von »Bewußtsein« spreche, zum Beispiel von »wirkungsgeschichtlichem Bewußtsein«, so ist das kein Bekenntnis, weder zu Aristoteles noch zu Hegel. Woraufes ankommt, ist, zu wissen, daß das Bewußtsein keine >res< ist. Eine Reinigung des Sprachgebrauchs von >mentalen< Begriffen ist dazu nicht nötig. So hat etwa Wittgensteins bekannte Kritik der >mentalen< Begriffe ihre argumentative Funktion in Richtung auf Sprachpragmatik und Entdogmatisierung der Psychologie. Aber Wittgenstein selbst schreibt keine gereinigte Sprache vor. Der Zusammenhang rechtfertigt den Sprachgebrauch. . Der Zweck von Destruktion ist, den Begriff in seiner Verwebung in lebendiger Sprache wieder sprechen zu lassen. Das ist eine hermeneutische Aufgabe. Sie hat nichts zu tun mit einer dunklen Rede vom Ursprung und vom Ursprünglichen. Heidegger hat uns etwa gelehrt, in >Ousia< die Anv~re senheit des Anwesens - den >Oikos< - zu erkennen und damit den Sinn griechischen Seinsdenkens neu zu vollziehen. Darin ist keine Rückkehr zu einem geheimnisvollen Ursprung (wenn auch Heidegger selber manchmal geheimnisvoll von der »Stimme des Seins« reden mag). In Wahrheit hat Heidegger, aus der scholastischen Entfremdung zurückkehrend, durch diesen Einblick in das griechische Denken seine Selbstfmdung erreicht und damit das Thema von >Sein und Zeit< angeschlagen, bis in die letzten extremen Konsequenzen für die Zeitlichkeit des Seins, die er später »Ereignis« nennt. All das ist auf dem Wege solcher Destruktion der in Tradition erstarrten Begrifflichkeit erreicht worden. - Das ist eine ganz andere Frage, was Heidegger zu dieser Aufbrechung einer erstarrten Begrifflichkeit motivierte, in welcher besonderen Bedrängnis er das unternahm. Daß das Z weifel an der christlichen Theologie waren, die ihn bewegten und die er etwa mit Franz Overbeck teilte, ist bekannt. Heidegger hat von Luther gelernt, bei aller Rückkehr zu Aristoteles, man müsse dem Aristoteles abschwören. Daß seine eigenen Wege des Denkens sich später der dichterischen Sprachkraft Hölderlins anvertrauten, war gewiß ein kühnes Wagnis, und Metaphern wie »die Stimme des Seins« lassen sich leicht ins sentimental Nichtige und ins Leere hin parodieren. Indessen, neue Wege des Denkens bedürfen neuer Wegzeichen, damit sie ein Weg werden. Wer solche Wege sucht, sieht sich nach Zeichen um, wo immer er sie findet. Daß ich mich meinerseits an Platos ins Offene gestellte Dialektik wandte und daß ich selbst 5 Siehe >Der aristotelische >Protreptikos< und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der aristotelischen Ethik<, jetzt in Ges. Werke Bd. 5 (Nr. 2).
6 Siehe dazu auch im vorangehenden den Beitrag über >Denken und Dichten bei Heidegger und Hölderlin< (Nr. 7).
Hermeneutikauf der Spur
13. Hermeneutik auf der Spur (1994)
Das Thema der Dekonstruktion fällt gewiß in den Bereich der Hermeneutik. Man darf sich unter Hermeneutik nur keine bestimmte Methode vorstellen, die etwa eine Gruppe von Wissenschaften gegenüber den N aturwissenschaften charakterisiere. Henneneutik beschreibt vielmehr den gesamten Bereich zwischenmenschlicher Verständigung. Bei meinen eigenen Arbeiten ist wahrlich nicht nur von Wissenschaften die Rede. Das gleiche dürfte wohl Derrida von Dekonstruktion sagen, daß er die Einengung durch die Methode gerade überwinden will. Das verbindet uns. Gleichwohl scheint es mir bisher nicht gelungen, uns miteinander zu verständigen. Verständigung schließt durchaus nicht Übereinstimmung ein. Im Gegenteil, wo Übereinstimmung besteht, bedarf es keiner Verständigung. Verständigung wird immer übet etwas Bestimmtes gesucht oder erreicht, worüber keine volle Übereinstimmung besteht. In unseren Begegnungen, in Paris und in Heidelberg, scheint mir noch kein gemeinsamer Boden erreicht zu sein. Das lehrt die Wirkungsgeschichte nach beiden Seiten deutlich. Da wird seitens der Hermeneutiker der Vorwurf erhoben, daß Derrida sich dem Dialog zu entziehen suche, sei es mit strategischem Bewußtsein oder auch mehr oder minder unbewußt. Die Dekonstruktivisten finden umgekehrt, daß meine eigenen Beiträge, auch was ich seinerzeit zu dem Pariser Gespräch beigesteuert hatte und dann in ausführlicher Nacharbeitung für den Druck vorlegte!, überhaupt keinen Beitrag zu einem Gespräch mit Derrida darstellen. Die hermeneutische Philosophie verhalte sich lediglich defensiv und bleibe ganz im Rahmen des metaphysischen Denkens. So bedeute sie für das Anliegen des Dekonstruktivismus im Grunde nichts. So friedlich-schiedlich kann es in der Philosophie aber eigentlich nicht zugehen, als ob es ein berührungsloses Nebeneinander verschiedener Denkrichtungen geben könne. Einjeder beruft sich da auf Erfahrung, die vlir alle machen können. Da müßte man sich doch über abweichende Meinungen durch prüfende Frage und geprüfte Antwort - mit anderen Worten: durch kritisches Gespräch - miteinander verständigen können. So wird der Her1
Siehe >Text und Interpretation< in Ges. Werke Bd. 2 (Nr. 24).
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meneutiker gewiß nicht bestreiten, daß auch er von >Dissemination< weiß, und er wird anerkennen, daß eine solche durch Anklänge, Anspielungen und Begleittöne injeder Rede angelegt ist, mit der man es zu tun hat. Er wird nur darauf bestehen, daß injedem Falle damit eine neue Aufgabe an das Denken ge~tellt ist, das zu neuem Verständnis einlädt. Als ich im Jahre 1960 meinen eigenen Entwurf einer hermeneutischen Philosophie vorgelegt hatte und mich wieder in der Welt umzusehen begann, stieß ich neben den Arbeiten des späteren Wittgenstein auf zwei für mich wichtige Dinge. Einerseits lernte ich Paul Celan kennen, in dessen Spätwerk ich mich zu vertiefen begann. Andererseits fiel mir in der Festschrift für Beaufret Derridas Aufsatz >Ousia et Gramme<2 in die Hände und dessen darauffolgende Bücher von 1967, die ich alsbald studierte. Da war es ganz offenkundig, wie im Ausgang von der Husserl-Rezeption die Kritik Heideggers an der Verstellung des Seinsbegriffs durch die Metaphysik bei Derrida zu Wirksamkeit gekommen war. Jedenfalls gilt das für die Ontotheologie des Aristoteles, derzufolge der Sinn von »Sein « am höchsten Seienden gleichsam abgelesen werden könne. Freilich machte es mir in der Folge Schwierigkeiten, wie sich diese Kritik Heideggers am griechischen Seinsbegriffbei Derrida ausnahm und wie die Motive des späteren Heidegger teils in positiver, teils in kritischer Abwandlung bei Derrida von der Destruktion zur Dekonstruktion führten. Insbesondere beunruhigte mich, wie Derrida sein Denken nicht nur auf metaphysische Konstruktionen. sondern auch aufdie Literatur anwandte, zumal ich selber den gemeinsamen Lebensgrund von Philosophie und Dichtung ständig im Auge behalte. Auch in Heidegger selber konnte ich oft nur schwer das wiedererkennen, was mir Kunst und Literatur zu sagen hatte, wenn ich auch seine Heranziehung solcher>Texte< immer sehr bedeutsam fand. Beide, Derrida und Heidegger, interpretieren eige~tlich sich selber und nicht das, was siejeweils zu interpretieren meinen. Man sollte das deshalb nicht gering achten. Heidegger nimmt die Aussage der Kunst so erns~, daß er gewaltsame Anpassung an den eigenen Denkweg wagt, und bleibt jedenfalls nicht im Vorhof ästhetischer Neutralität stecken. Ähnliches gilt von der Art, wie Heidegger Nietzsche, aber auch, wie Derrida Nietzsche für sich in Anspruch nimmt. Was Heidegger in >Sein und Zeit< durch die Unterscheidung von Vorhandenheit, Zuhandenheit und Dasein zur Kritik des Seinsverständnisses der Metaphysik e~twickelt hatte, spitzte sich mit der Zeit zu einer Parole der» Überwindung der Metaphysik« zu. So geriet Heidegger in Auseinandersetzung mit Nietzsche, den er nun als eine Art letzte, radikale Konsequenz der Metaphysik verstand. Demgegenüber versuchte Heidegger in seinen späteren Beiträgen 2 Jetzt auch in: JACQUES DERRIDA, Marges de la philosophie. Paris 1972, S.31-78. (Mittlerweile auch dt.)
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Hermeneutik, auf der Spur
Die hermeneutische Wende
ein neues Seinsverständnis vorzubereiten. Auf der anderen Seite berief sich Derrida auch auf Nietzsche. Aber er sah in seiner >fröhlichen Wissenschaft< den alleinigen Weg ins Freie und wandte seine ganze Anstrengung darauf, von der Riesenaufgabe der Dekonstruktion nicht abzulassen. Dabei sind sich beide, Heidegger wie Derrida, dessen wohl bewußt, daß Philosophie sich von ihrer geschichtlichen Herkunft in der abendländischen Metaphysik nie ganz und gar werde lösen können. So führte Heidegger die schwächere Formel »Verwindung der Metaphysik« ein, und Derrida begründet eben damit die Unermüdlichkeit seiner dekonstruktiven Anstrengung. Auch das sind deutliche Gemeinsamkeiten, die zu denken geben. So habe ich selber das Verhältnis von Destruktion und Dekonstruktion von meinen eigenen hermeneutischen Bemühungen aus immer wieder aufs neue zu bedenken3 . Im Grunde kann ich nur in der Frageform versuchen, den gemeinsamen Boden zu ermitteln, der uns - vielleicht - alle trägt. Was hat es eigentlich mit dem Begriff der >Presence< auf sich, um dessen Hinterfragung es bei Derridas Begriff der Metaphysik geht? Die Bestimm ung des Seins als Präsenz gilt Derrida geradezu als die Matrix der Geschichte der Metaphysik. »Man könnte zeigen«, schreibt Derrida, »daß alle Namen für Begründung, Prinzip oder >Centre< immer nur die Invariante einer Präsenz (Eidos, Arche, Telos, Energeia, Ousia - Essenz, Existenz, Substanz, Subjekt, Aletheia, Transzendentalität, Bewußtsein, Gott, Mensch usw.) bezeichnet haben.« Das alles wird von Derrida offenbar zum Logozentrismus vereinheitlicht. Das ist aber gerade die Frage, ob es sich hier um Präsenz im wahren Sinne von >Logos< handelt. Geht es hier etwa nur um die Satzwahrheit? Dann könnte man am ehesten darin das wiedererkennen was der Gegenstand der Heideggerschen Destruktion war. Nun hat ja auch wirklich Derrida den Terminus »Logozentrismus« unter dem Eindruck dessen eingeführt, was Heidegger mit der an Husserl geübten Kritik meinte. Es stimmt dazu auch, wie nahe das der eigensten Aufgabe des jungen Heidegger kam, sich aus der Befangenheit in die Urteilslogik des Neukantianismus zu lösen. Als Heidegger seine Kierkegaard- und Aristoteles-Studien begann und als er die Metaphysik des Aristoteles im Auge hatte, hieß das damals wohl wirklich, daß »Sein« am höchsten Seienden, am Göttlic?en, in seiner Seinsheit offenbar werde. So habe auch ich damals MetaphySI~ verst:mden. Es paßt dazu, daß Heidegger, wie er das noch im Anhang seInes Nletzsche-Werkes getan hat, in Plato die Vorbereitung zu der aristotelischen Stellung der Frage nach dem Sein als Sein gesehen hat. Das ist allerdings, meine ich heute, für Plato selber nicht zwingend, wenn man sieht, wie er geradezu »jenseits des Seins« den Aufstieg der Dialektik zum ~. Siehe u. a. >Destruktion und Dekonstruktion( in Ges. Werke Bd. 2 (Nr.25) und die belden vorangehenden Beiträge in diesem Band.
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Guten selbst, zum Schönen selbst oder zum Einen selbst gesucht hat. Für Aristoteles trifft es insofern eher zu, als er auf der Grundlage seiner Physik die Lehre von dem Beweger-Gott errichtet hat - wenn auch Heidegger selbst, wie seine spätere Aristoteles-Int~'rpretation von >Physik< B 1 zeigt, schon immer dem »Ereignis« des »Da« auf der Spur war. Jedenfalls aber hat die spätere Kirchenlehre die Metaphysik des Aristoteles in christlicher Umdeutung als Theologia rationalis in ihre Dogmatik aufgenommen, während Plato im christlichen Mittelalter immer leicht an die Grenze der Häresie streifte. Nun ist es offensichtlich, daß das Ganze der Denkbewegung der Griechen durchaus nicht in der aristotelischen Lehre vom ersten Beweger aufgeht. Vielmehr ist es vielsagend, daß Heideggers neue Aneignung des Aristoteles nicht an der Metaphysik des Aristoteles einsetzte, sondern an der Rhetorik wie an der Ethik. Insbesondere gewann die Lehre vom praktischen Wissen für Heideggers eigenen Weg grundlegende Bedeutung, und ich bin gerade in diesem Punkt weitgehend von ihm auf den Weg gebracht worden. Er hätte wohl noch besser getan, wenn er Platos ausdrückliche Kritik an dem Logozentrismus der Metaphysik herangezogen hätte, und das ist in dem Exkurs des 7. Briefes. Dort findet sich die bekannte kritische Betrachtung aus Anlaß einer Schrift über Platos Lehren, die am Hofe des Tyrannen Dionys vorgetragen worden war. Aus diesem Anlaß hat Plato offenkundig eine genau ausgearbeitete Verlautbarung über die Frage verfaßt, wie die Mitteilung von Gedanken an andere überhaupt möglich sei und wie man Denken lehren könne4. Da wird ausdrücklich auch die logische Defmition aufgeführt. Sie sei ebenso ungenügend wie die Benennung der Sache oder die bloße Veranschaulichung. Ja selbst noch das, was auf diesen Wegen vermittelt wird und was in allem Denken wirksam und freilich nie angemessen aussagbar wird, bildet sich in der Seele zu Wissen und zu richtiger Meinung und schließlich zur Teilgewinnung am >Nous<. All dies sind noch Vermittlungen der Sache selbst, um die es geht, und bleiben der Lebendigkeit des Gespräches eingefügt und untergeordnet. Das ist der entscheidende Punkt: Nicht über schriftliche Mittel allein, sondern überhaupt nur im Gespräch kann es gelingen, daß der Funke überspringt. So ist es kein Zufall, daß Plato im Blick auf die Lebendigkeit des Gesprächs den Weg seines eigenen Denkens »Dialektik« nennt. In der >Politeia<, im Ausbildungsplan der künftigen Regierenden, wird als Schritt über die Mathematik hinaus ausdrücklich die Dialektik gefordert. Sie ist es, die sich auch in dem Gedankenspiel der Platonischen Dialoge darstellt. Sie will keine bloße kritische Überwindung von Argumenten sein und soll nicht in 4
Ausflihrlicher dazu >Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen Brief( in Ges.
Werke Bd. 6 (Nr. 6).
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einer bloßen Argumentationskunst bestehen. Sie führt vielmehr den Anderen, den Partner des Gespräches, zum Eingeständnis seines Nichtwissens und bringt ihn so zu eigenem Denken. Insofern hat die Dialektik eine bloß pr.opädeutische Funktion, wie etwa ·auch die im platonischen ParmenidesDialog so verwirrend vorgeführte Kunst. Man kann das schwerlich alles unter den gemeinsamen Begriff»metaphysisches Denken« einordnen. Wohl aber konnte, wenn von der aristotelischen Physik her die Hinwendung zu den Prinzipien (Archai) , der Überschritt über den Logos, vollzogen wird, nämlich zum )Nous<, diese neue Dimension ein Schritt zur Metaphysik genannt werden. Sofern nun in dieser Metaphysik die oberste Arche als der erste Beweger »das Göttliche« heißt und derselbe als reine Entelechie begriffen wird, erhält dieser Schritt eine neue Zugänglichkeit. Das konnte man von der Volksreligion aus als das Göttliche verstehen, wie zu ihm über die Physik hinausgeschritten wird. Was kann aber eigentlich bei Plato »Metaphysik« heißen? Der Überschritt, den Plato meint (Rep. 509 b 9) und der seinen Ausdruck in der Transzendenz hat, heißt ausdrücklich ein Schritt über das Sein hinaus, zum »Jenseits des Seins«. Vielleicht sollte Derrida, was er das metaphysische Denken nennt, mehr von dieser Transzendenz her sehen als von den begrifflichen Feststellungen des Aristoteles aus, welche als »Substanz« oder als »Essentia« festgeschrieben sind.
1. Kehrt man von dieser begriffsgeschichtlichen Klärung dessen, was Metaphysik eigentlich ist und wie sie der griechischen Dialektik durch die Logik abgerungen wird, zu Derrida zurück, kommt man dem näher, was Derrida selber mit der Kunstbildung von >Differance< im Auge hat. Er geht von dem Begriff des Zeichens aus und wie sich von da aus in jedem Zeichen ein Überschritt vollzieht. Kein Zeichen zeigt ja auf sich selbst allein. Man wird sich nun fragen müssen, wie Derrida von diesem Ausgangspunkt aus glaubt, den Logozentrismus vermeiden zu sollen. Man wird erwarten können, daß die Rolle des Strukturalismus im Denken der französischen Philosophie und daß der auf amerikanische Wurzeln zurückgehende Zeichenbegriff, und vollends, was Derrida als Phonozentrismus im Auge hat, dem Seinsbegriff der Metaphysik seine bestimmende Rolle beläßt. So frage ich mich, ob wir hier nicht auf eine Grenze der Gemeinsamkeit stoßen, die man »Phänomenologie« nennen möchte und die als Phänomenologie gegen alle Konstruktion kritisch gerichtet ist. Diesen Anstoß hatte Heidegger schon von Husserl empfangen und hat ihn an uns weitergegeben, um genau gegen das anzudenken, was Derrida »Logozentrismus« nennt. Man muß nur die wahre Zielrichtung Derridas verstehen, gegen die sich seine Kritik an Husserl richtet,
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wenn er die Herrschaft der Präsenz nicht nur im Logos, sondern ~ogar durc? die »Kundgabe« in der Stimme zu erkennen meint. Am Ende WIrd man mIt Derrida einsehen, daß die Stimme hier eine voix pensee, eine gedachte Stimme ist, wie die >Ecriture< auch nur gedachte Schrift ist. . Ich ziehe daraus die Konsequenz: Beides ist in WahrheIt vom L~sen untrennbar. Was wäre Schrift ohne Lesen, was wäre Lesen ohne Schn~t und ohne - vielleicht lautlose - Intonation und Artikulation? Man darf SIch nur nicht dadurch beirren lassen, wie Husserl im Kampf gegen den Psyc~o logismus die ideale Einheit der Bedeutung herausarbeitet. Man sollte hl~r lieber mit französischen Ohren hören. Dort übersetzt man )Bedeutung< I.n der Regel durch »)sagen wollen<(( (vouloir dire). Das ist eine Wendung,. dIe scheinbar der Identität der Bedeutung den Boden entzieht. In der T~t klIngt in » Sagen-wollen« an, daß wir nie ganz. sagen kö~en, was WIr ~a~en wollten. Es sind starke Vorprägungen, dIe uns alle Im Sprechen ",:e Im Denken vorgängig geformt haben. Wir sind ~it de~ ersten Wort m das ganze Spiel der Sprache verwickelt. Insofern weIst Heldegger .~~f unser aller Erfahrung, wenn er sagt: »Die Sprache spricht.« In der fr~~zoslschen Wendung ist das noch viel deutlicher. Sie drückt bloße Annaheru~g ~us und lediglich Nähe zum Sinn - was ist »Sinn« anderes als. ~as, was dIe Rlchtu~g angibt und insofern bestimmend ist? Heideggers Kntlk an der M~taph~sIk so gut wie Derridas Programm der Deko~struktion m~ssen SIch dI~se Differenz und Differance, die im vouloir-dire hegt, selber emgest.ehen: NIemand kann sich aus seiner Denkungsart, in die er eingeformt 1st, eInfach herausreflektieren. Auch wenn wir mehr und mehr mit anderen ~ultursp.ra chen und Kulturwelten in Berührung kommen, ist das vor allem eIn GeWInn für uns selbst. Wir sind unsere Herkunft, und wir sind in unserer Muttersprache zu Hause, die mit uns denkt. . . Als Heidegger seine Lehrtätigkeit als Nachfolger Hus~erls. I~ FreIburg begann, hat seine Antrittsvorlesung die Fr~ge gestellt, dIe Wl~ Je~e ech~e Frage etwas offen läßt: »Was ist MetaphYSIk?« Das sollte ge~ß nIcht eIn neues Bekenntnis zur Metaphysik sein. Eher möchte man dIe Frage so verstehen: Was ist Metaphysik eigentlich - im Unterschied zu dem, w~s Metaphysik von sich meint, daß sie es sei? Wenn die Frage ?ac~ dem SeIn fragt, so stellt sie das Ganze des Seienden vo: und verstell.t vlelleIch~ ge~ade dadurch das Denken des Seins - eben das SeIn, wonac~ SIe fragt .. VIelleIcht muß man deshalb sagen, und dies ist auch im HinblIck auf dIe ander~n Kulturwelten zu bedenken, daß es »Philosophie« nie ohne Metap~ysIk geben kann. Philosophie ist vielleicht ~rst .dann ~hil~sophie, ~enn SIe das metaphysische Denken und die SatzlogIk hmter SIch laßt. Auf dIesem W~ge sind wir immer unterwegs, von der Anamnesis Platos bis zu Hegels LogIk. Sie durchläuft, im Singular von »Begriff« und »Kategorie«, das ?anze der sich fortbestimmenden und beständig zu sich zurückkehrenden Ennnerung.
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Heidegger spricht von dem bloßen Vorbereiten der Seinsfrage, weil er in Sprache und Denken die Dominanz des Verständnisses von Sein als Anwesenheit und Präsenz immer wieder erfährt. Das gilt selbst noch fur Nietzsche, wie in dem langen LebenskampfHeideggers mit Nietzsche machtvoll zutage tritt. Auch Heideggers Fundamentalontologie, wie man >Sein und Zeit< nennen kann, sollte gewiß nicht sein letztes Wort sein. ·Sehr bald hat er nicht nur seine eigene transzendentale Selbstinterpretation hinter sich gelassen. Es folgte eine ganze Reihe von Wegen und Holzwegen, und gerade die eigene Entwicklung Heideggers lehrt, wie seine Denkversuche von mehr und mehr steigender Sprachnot belastet sind. Damit ist freilich nicht gesagt, daß Heidegger nun auch den Weg des Dekonstruktivismus als ein letztes Ziel hätte anerkennen wollen.· Gibt es wirklich keine anderen Wege, die aristotelische Substanzmetaphysik oder auch ihre letzte Vollendung in dem absoluten Wissen Hegels zu überwinden, als durch den Verzicht auf alles begriffliche Denken oder den Logos überhaupt? Freilich, was ist Logos? Man soll gewiß nicht unterschätzen, daß bereits die sokratisch-platonische Flucht in die Logoi eine Wendung darstellt, die die Metaphysik, die Logik der Begriffsdefinition und des Beweisens, vorbereitet hat. Aber ist Logos nicht noch etwas anderes? Was meint Logos bei Heraklit, was im sokratischen Nichtwissen, was in Platos Dialektik? Was meint der Logos spermatikos der Stoa und gar der Logos des]ohannesevangeliums? Da hat >Logos< ganz andere Dimensionen, und diese haben dem neutestamentlichen Inkarnationsgedanken besser vorgearbeitet, als die Erneuerung des Aristoteles durch die spätmittelalterliche Metaphysik - ganz zu schweigen von ihrem neuzeitlichen, nachkantischen Todeskampf. So konnte sich Heidegger (und wer immer ihm folgte), um das traditionelle Seinsverständnis der Logik und Metaphysik zu destruieren, geradezu an der Tradition der Metaphysik kritisch orientieren. Da nun frage ich mich: Muß das nicht allgemein gelten, daß Denken sich immer zu fragen hat, ob nicht Worte und Begriffe, in denen es sich bewegt, in aller Vielfalt ihrer Ausstreuung sich immer wieder zu Sinnzusammenhängen fügen? Auf diese Frage würde Derrida - wenn vielleicht auch zögernd - sagen, das sei wieder der Logozentrismus unserer herrschenden metaphysischen Tradition. Versteht er aber nicht selber die ontologische Differenz Heideggers als Bruch, als . Öffnung, als Differance? Ich meine, daß auch für Derrida das Aufdecken von Brüchen ein Weiterdenken einschließt. Seine Dekonstruktion kann zwar nirgends als Interpretation eines Textes gelten. Er wäre der Erste, der darin ein völliges Mißverständnis sähe. Aber gerade die Gewaltsamkeit der Brüche weist am Ende auf ein inneres Gefüge. Gewiß nicht wie aus Satzwahrheiten, und nicht wie ein System der Philosophie. Gewaltsamer Umgang mit Texten rechtfertigt sich
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vielmehr in solchen Fällen nur, wenn sich daraus ein Blick aufneue Horizonte öffnet - und das geschieht doch gewiß fur den Denkenden. Es ist schwer, in einer fremden Sprachwelt - nicht nur in der deutschen, sondern auch in der Heideggerschen Sprachwelt - mitzudenken und weiterzudenken. Man spürt bei Derrida, vor allem in seinen frühen Schriften, die Forcwirkung Husserls, aber auch die Objektivierungstendenz des Strukturalismus. Da wird ein philosophischer Untergrund angeleuchtet. Im Strukturalismus ist es die Logik der mythischen Welt. Diese Logik hat kein Griechejemals gemeint oder auch nur geahnt. Sie schimmert dennoch durch die fremdeste Überlieferung durch, bei Levi-Strauss oder bei Foucault oder gar schon in der Sprachtheorie von de Saussure. Und so ist es wie ein Schritt aufeine neue Aufklärung zu. Zweifellos hat auch Derrida den Weg Husserls weitergehen wollen und ihn damit radikalisiert. Er hat aber dann im späten Heidegger und dessen Auseinandersetzung mit Nietzsche Konsequenzen zu seinem eigenen Weg wahrgenommen. Bei Derrida wie bei Heidegger bleibt indessen aufihren Wegen die Metaphysik kaumje eine wirklich ganz einlösbare Entgegensetzung. Man kann gar nicht anders reden, als wie es in einem denkt. Auch mir geht es so, wenn ich jetzt etwa in der Derridaschen Begriffsbildung, wie >Dissemination< und >Differance<, das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein oder die Horizontverschmelzung wiederzuerkennen meine. An meinem Gebrauch des Wortes »Bewußtsein« hat Heidegger gewiß besonderen Anstoß genommen. In Wahrheit ist »wirkungsgeschichtliches Bewußtsein« nur ein Notausdruck, der die Temporalität des Seins betonen will. Deutlicher ist das Gemeinte, wenn ich von der » Sprachlichkeit« spreche, worin die christliche Tradition des )verbum interius< durchschirnmert. Auch da handelt es sich um eine Art quasi-transzendentaler Bedingung der Möglichkeit, die mehr eine Bedingung der Unmöglichkeit ist, wie die Inkarnation für den menschlichen Verstand eine solche darstellt. Ich suche nun Heideggers »Verwindung« der Metaphysik in phänomenologischem Stile fortzuführen und an der Dialektik von Frage und Antwort zu bewähren. Das aber heißt, daß man im Gespräch den Ausgang nimmt. Da vollzieht sich die Differance, durch die in Frage und Antwort die Alterität des Wahren ausgetragen wird. In dieser Dialektik von Frage und Antwort geschieht ein ständiger Überschritt. Es mag in der Frage wie in der Antwort Ungesagtes mitsprechen und dekonstruktiv aufdeckbar sein. Aber es spricht nicht erst dadurch mit, daß es aufgedeckt wird. Ja, vielleicht spricht es dann gerade nicht mehr. Im Gespräch ist es ja auch kein Bruch, wenn sich immer neue Gesichtspunkte melden, immer neue Fragen und Antworten sich stellen, die immer wieder alles verschieben. Man kommt sich trotzdem näher. Man beginnt zu verstehen, auch wenn man nicht weiß, wohin es führt. Gewiß hat es einen guten Grund, wo es sich um Philosophie handelt, von der Begriffssprache der Metaphysik zu sagen, daß man immer wieder in sie
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zurückfalle. Man sollte sich das nur nicht so vorstellen, als ob die philosophischen Begriffe wie in einem Speicher bereit lägen und einfach herausgeholt würden. Beim Denken in Begriffen ist es vielmehr nicht anders wie sonst beim Sprachgebrauch. Da gibt es auch nicht jemanden, der einen Sprachgebrauch einführen kann. Der Sprachgebrauch führt sich vielmehr selber ein, bildet sich im Leben der Sprache, bis er festen Stand gewonnen hat. Begriffliches Denken bleibt immer mit unscharfen Rändern, wie Wittgenstein gesagt hat. So sollte man dem Bedeutungsleben der Sprache folgen - und das heißt: daraufzurückgehen, wie aus dem Sprechen selber, aus dem »Sitz im Leben«, der Begriff aufsteigt. Das geschieht etwa in Heideggers Destruktion, dieser Freilegung. Ganz so weit davon entfernt ist auch Dekonstruktion nicht. Da tritt ja die Konstruktion ausdrücklich in der Benennung auf. Auch sie betreibt den Bruch mit konstruktiven Zwängen, nlit denen die Sprache das Denken gängelt. Das gemeinsame Ziel ist immer, Konventionen der Rede und des Denkens zu brechen und neue Horizonte aufzureißett· So war die Parole der Phänomenologie: »Zu den Sachen selbst!« Das kann auf sehr drastische Weise geschehen. Da springt etwa ein einzelnes Wort in eine ganz andere Bedeutung um. Damit stürzt das Gewohnte ein - und eben dadurch werden neue Zusammenhänge sichtbar. Am Ende ist es beijedem guten Einfall so, daß er in das Unterwegs des Denkens einfällt, so daß die ganze Richtung sich ändert. Eben deshalb scheint sich mir im Denken, wenn auch noch so vage, immer ein neues Ziel abzuzeichnen. Jedenfalls würde man sich auf Heideggers Freilegung des griechischen Seinsverständnisses nicht berufen, wenn es ihm nur um das eine ginge, die lateinischen Äquivalente der griechischen Philosophie, die als Begriffe in Gebrauch genommen werden, wie etwa Essentia, Subjekt oder Substanz, abzutragen. Das ist nur ein erster notwendiger Schritt. Das Wichtige ist vielmehr, daß der sprachnahe Sinn der griechischen Begriffe und aller sprechenden und treffenden Begriffe der Philosophie sich anreichert. So etwa kann auch in der eigenen Muttersprache ein erstarrter Begriff sich anreichern, zum Beispiel, wenn Heidegger Sein als Anwesen versteht und damit »Sein« als Zeitwort freilegt (oder gar »Seyn« dafür schreibt). Der Rückgriff auf Sprache beruht eben darauf, daß im Wortgebrauch eine wortlose Erfahrung steckt, die jeweils ins Denken des Wortes eingelassen wird. Gewiß kann sich Denken dabei auch in Aporien verstricken, wie Kant in seiner transzendentalen Dialektik zeigt. Es kann aber auch so sein, daß, wie im griechischen Weltverständnis, wortlose Erfahrung von selber in den Begriff drängt. Dann wird einem am griechischen Denken in der Plötzlichkeit eines Bruches oder eines Blitzes Wahrheit wie eine Gegenwelt aufgehen. Wenn so ein neues Wort zu einem neuen Denken drängt, ist das wie ein Ereignis, und das tut die Sprache oft mühelos, wenn sie ihre Worte findet. Wird dem Denken ein wirklicher Bruch zugemutet, geht dagegen alles wie in einem
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Zusammenbruch unter, wenn etwa Heidegger den Titel »Was heißt denken?« umkehrt zu »Was gebietet uns zu denken? «. In solcher Umkehr versinkt etwas und geht etwas Neues auf. So bestehen zwischen dem Dekonstruktivismus und der Hermeneutik als Philosophie Übereinstimmungen, die uns weiterleiten sollten. Schließlich war es ein gemeinsamer Ausgangspunkt für beides, nämlich die durch Heidegger eröffnete Kritik an dem vergessenen Fortleben der griechischen Ontologie. Wie der spätere Heidegger in >Die Zeit des Weltbildes< gezeigt hat, schließt diese philosoppische Kritik auch die neuzeitliche Wissenschaft ein, die aufden Begriffder Methode und der Objektivität gegründet ist. Der parallele Klang von Heideggers Parole der Destruktion und von Derridas Parole der Dekonstruktion ist unüberhörbar. Freilich bedarf der Begriff der Metaphysik, mit dem Derrida arbeitet, wie ich zu zeigen sucht~, einer vorsichtigen Umgrenzung. Im Grunde ist für Derrida »MetaphYSIk« gar nichts Griechisches. Für ihn ist es das, was sich seit Kants >Kritik der reinen Vernunft<' mit dem Worte verbindet. So hat auch Derrida in seinen dekonstruktiven Ansätzen von Dialektik immer nur das im Sinne, was man im Neukantianismus »dogmatische Metaphysik« genannt hat. Auch an Derridas Sprache läßt sich beobachten, wie sich seine Theorie der Zeichen in die Sprache der Metaphysik eindrängt, zum Beispiel, wenn zwischen den Zeichen als sensibler und intelligibler Zeichenwelt unterschieden wird. Aber hier ist es der entscheidende Punkt, daß für Kant die Kritik an der Metaphysik der »reinen« Begriffe von seiten der praktischen Vernunft eine bestimmende Einschränkung erfährt. Die >Kritik der reinen Vernunft< will nicht etwa Freiheit beweisen oder als Metaphysik sich gar auf die Physik stützen. Vielmehr gilt es, auf dem Vernunftfaktum der Freiheit aufzubauen. Nur als moralische Metaphysik ist Metaphysik möglich - »aufder Grenze der reinen Vernunft«, wie Natorp zu sagen liebte. Wir sind hier weit von der ursprünglichen Erfahrung entfernt, die seit Parmenides, Plato und Aristoteles und der Wiederaufnahme des griechischen Denkens im beginnenden Christentum die Begriffssprache der Philosophie geprägt und mit dem Nominalismus der Neuzeit den Begriff der Wissenschaft festgelegt hat. Die Arbeiten Derridas bereiten dem Verständnis dadurch besondere Schwierigkeiten, daß er den Abbau aller Konstruktion auch auf sich selber anwendet. Daraus folgt, daß selbst, wenn Derrida den Versuch unternähme, seine theoretischen Arbeiten sozusagen auf eine Linie zu bringen, ihm damit wiederum ein Rückfall in metaphysisches Denken zu drohen scheint. Und doch kann er es nicht vermeiden, er selber zu sein, der das eine wie das andere vertritt. So ist man nicht nur berechtigt, sondern geradezu genötigt, den Autor von seiner Identität zu überzeugen, damit er überhaupt Partner eines Gesprächs werden kann. Die Identität, die der Partner eines Gespräches hat,
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istja gar keine festgestellte Identität und als solche gar nicht ausdrücklich. Es ist einfach dies, daß er mit einem im Gespräche mitgeht. Wir werden immer am Ende darauf bestehen müssen, daß Logos nicht Monolog ist und daß jedes Denken ein Dialog mit sich selbst ist und mit dem Anderen. Eine besondere Schwierigkeit schien mir die Kritik an Husserl zu enthalten, die Derrida unter dem Titel >Die Stimme und das Phänomen< vorgelegt hat. Das klang erstaunlich. So hatten wir ehedem, als junge Leute und Studenten Heideggers, lange vor >Sein und Zeit(, an Husserl Kritik versucht. Wir fühlten uns damals Wilhelm von Humboldt und seinen Anfängen der Spra~hphilosophie weit näher als der Husserlsc·hen Bedeutungstheorie der >LogIschen Untersuchungen(. Freilich hatten wir damals aus unserem Befremden noch nichts Rechtes machen können. Noch heute stellen sich m~ine~ Verständnis ~m Rückblick auf Derridas Husserl-Kritik SchwierigkeIten m den Weg. DIe Rolle, die die Stimme in Derridas Kritik an Husserl zugewiesen bekommt, erscheint mir immer noch recht seltsam. Husserl war doch weit mehr ein Mathematiker, der den Seinssinn des idealen Seins, wie es die Mathematik zum Gegenstand hat, in seine Bedeutungstheorie übertrug. Das hat uns ehedem veranlaßt, gegen Husserl die Sprachphilosophie Humboldts aufzubieten. Jetzt glauben wir plötzlich in Derridas Kritik an Husserl Heideggers Kritik wiederzuerkennen. Heidegger hatte das Meisterstück Husserlscher phänomenologischer Analyse, seine Abhandlung über das Zeitbewußtsein, zum Ausgangspunkt seiner Kritik genommen. Im Ausgang von dem Begriffdes Daseins, der Faktizität und der Zukünftigkeit entzog die ontologische Wucht von Heideggers Basis dem Begriff des Bewußtseins seinen eigentlichen Boden. Wie sollte man von da aus zu Derridas Wendung zu den Begriffen von Zeichen und Spur hinfinden? Stärker als unsere idealistische und phänomenologische Tradition, an der Derrida teilhat, scheint in den Arbeiten von Derrida der französische Stil literaturkritischer Arbeit wesentlich. Man darf Derrida nicht nur von Husserl und Heidegger her verstehen wollen. Man muß ihn auch von seiner Auseinandersetzung mit der Zeichentheorie und mit dem Strukturalismus her sehen. Auch das ist eine kritische Auseinandersetzung. Aber, wie ich schon andeutete, wirkt doch das Kritisierte wie eine uneingestandene Voraussetzung in dem Kritiker nach. Derrida spricht, als ob er ein distanzierter Beobachter wäre, von dem unendlichen Netz aller Zeichen und aller Verwei~ungen auf a~de~es. Das ist wahrlich die Sprache der Metaphysik auf der BaSIS des NomInalIsmus. Das kann man sich an moderner Wissenschaft verdeutlichen, wenn man etwa an das riesige Aufgabenfeld denkt vor dem sich die Molekularchemie findet, wenn sie in ihrer Forschung na~h Verbindungen sucht, für welche sich angesichts einer unübersehbaren Vielheit ~öglicher Verbindungen im Experiment Bestätigung findet. Aber sind wir Je Erforscher der universalen Zeichenwelt, von der Derrida da spricht? Wir
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stehen doch schon mitten darin. Ohne das Ganze zu überschauen, müssen wir der einen oder anderen Spur nachgehen. Da wissen wir noch lange nicht, ohwir auf dem Wege sind, an dem ein Ziel aufuns wartet, oder ob wir auf falsche Wege geraten sind. Wo sollen wir da auf Antwort hoffen? Man denke nur, wohin Wegspuren, Schriftspuren, Orakelsprüche, Phantasiespiele oder dichterische Eingebungen führen mögen. Paul Celan nennt die poetische Sprache »vielstellig« und läßt viele Wege offen. Gleichwohl verlangt er von dem Leser seiner Gedichte das »richtige« Verständnis, und dafür rät er: »Nur immer wieder lesen! « Wenn Orakelsprüche zweideutig sind, spielt der Gott mit dem Menschen. Wenn Dichter ihre hermetisch verschlungenen Verse schreiben, vertrauen sie auf die Unantastbarkeit ihres Gewebes aus Klang und Sinn, das sich selber durch den Vollzug, den es so vorschreibt, aussagt.
H. Man versteht, warum Derrida, von seiner Ausgangssituation aus, der Schrift und der Schriftlichkeit eine Vorzugsstellung einräumen will. Der Atem der Einsamkeit weht um alles Schriftliche. Auch uns ist es seit langem vertraut, daß man das Verhältnis von Sprache und Schrift nicht als eine primäre und eine sekundäre Gegebenheit verstehen darf. Es leuchtet durchaus ein: Die Schrift ist nicht die Abbildung der Stimme. Umgekehrt setzt die Schrift voraus, daß man dem Gelesenen Stimme leiht. Die Scpriftfähigkeit der Sprache ist eben nicht ein sekundäres Phänomen, und insofern ist es auch bedeutsam und zugleich natürlich, daß es keine wirklich phonetische Schrift gibt. Die tiefere Gemeinsamkeit liegt am Ende schon im Begriff des Logos freilich nicht in der Logik des Satzes. ·Die Urbedeutung von >Logos< ist, wie ja Heidegger unterstrichen hat, das Lesen, das Zusammenlegen der »Lese«. So habe ich meinerseits meine hermeneutischen Versuche an den Begriff des Lesens angeschlossen 5 • Dabei habe ich bei Derrida die Erkenntnis vermißt, daß Schrift im Lesen ebenso stimmlich ist wie die wirklich gesprochene Sprache. So meine ich, daß hier vieles auf Sprachlichkeit als solche hinweist. Wie die Stimme sich zur sprechenden Stilnme artikuliert - vielleicht auch, wenn einer ohne jeden Laut nur liest -, so ist die Schriftlichkeit, und gar die des Alphabets, gewiß eine Artikulation von hohem Komplikationsgrad. Freilich erreicht die Stimme, die der Schreiber oder Leser »hört«, einen noch weit höheren Grad der Artikulation als alle Schriftlichkeit. Es gibt eben noch viele andere Zeichen, Gesten, Winke und Spuren. Gewiß kann man sogar sagen, daß alles, was sich zeigt, Zeichen ist - so wie Goethe den Begriff des 5 Siehe dazu die einschlägigen Arbeiten in Ges. Werke Bd. 8: )Stimme und Sprache< (Nr. 22), )Hören - Sehen - Lesen< (Nr. 23), )Lesen ist wie Übersetzen< (Nr. 24) u. a.
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Symbolis~hen ~ns Allgemeine gewendet hat. Ein jedes, was sich zeigt,
u~tersch~Idet sIch notwendig von anderem Seienden, das sich zeigt. Es ghedert sIch vom anderen aus, wie es sich eben damit auf es bezieht. Das ist ge.wiß richtig. Solche Allseitigkeit ist aber dem metaphysischen Gottesbegnff vorbehalten. Für uns gibt es nur Vielstelligkeit und Mehrdeutigkeit. In der ~at war es richtig, wenn Derrida am Ende den Zeichenbegriff durch den Begnffder Spur ersetzt. Celan hat einmal gesagt: »Die Mehrdeutigkeit trägt dem Umstand Rechnung, daß wir an jedem Ding Schliffflächen beobachten, die das Ding von mehreren Sichtwinkeln zeigen, in mehreren >Brechungen< und >Zerlegungen<, die keineswegs nur >Schein< sind. Ich trachte sprachlich we~gst~ns A.u.ss~hnitte aus der Spektral-Analyse der Dinge wiederzugebe~, SIe glelch~eltlg In mehreren Aspekten und Durchdringungen mit anderen .~Inge~ zu zeIgen: mit nachbarlichen, nächstfolgenden, gegenteiligen. WeIl Ich leIder außerstande bin, die Dinge allseitig zu zeigen. «6 . Man versteht das ironische Bedauern von Celan, und man begreift auch, warum Derrida den Begriff »Spur« bevorzugt. Er befreit sich damit von aller mathematischen Kombinatorik und auf der anderen Seite von aller Einschränku~g aufden intentionalen Zeichenbegriff. Spuren sindja nicht als ~olche g~melnt und gewollt, sondern hinterlassen. Das steigert gleichsam Ihren Seinswert. Man steht nicht vor einer beliebigen UtfÜbersehbarkeit. Wen~ ~an eine Spur findet, sieht man sich in die Richtung gewiesen _ und damIt 1St man auch gebunden, wie das von der Hinterlassenschaft schriftlicher Dokumente gilt. Wieso ist aber eine Spur mehr als das, was ein Zeichen ist? Die Antwort
~cheint mir einfach: Eine jede Spur verweist in eine Richtung, und zwar für Jemanden, der schon unterwegs ist und seinen Weg sucht. Ob ich damit Derridas Begriffsgebrauch von »Spur« in seinem Sinne aufnehme ist mir ~reilich nicht sicher. Man kann auch ganz andere Seiten am Begriff der Spur Ins Auge fassen. So hat Levinas am Begriffder Spur vielmehr betont, daß die S.pur vergehende S~ur ist, wie ein Verschwinden ins Leere, und gleichsam eIn stummes Ze~gnIs der Verlassenheit darstellt. Es ist so, wie die Züge von Sch~erz und LeIden, als Spuren gelebten Lebens, in ein Antlitz eingezeichnet s~nd. Sol~h: Spuren wollen nicht irgend etwas zurückrufen. Das istja das Anthtz, daß In Ihm der Andere begegnet, und das ist für uns immer das ganz Andere, so .daß ~nser Verstehen zu schweigen hat. Das meint die Spur des Anderen bel ~evInas. Das Beispiel zeigt, wie vielstellig ein Wort ist und wie seh~ es vo.n seme~ Z~sammenhang her die Bedeutung trägt. Hier haben wir es nlc.ht ~ln~al mIt eInem krassen Gegensatz in der Wortbedeutung zu tun. Spur 1st In belden Fällen Hinterlassenschaft. Und doch weist die Begegnung 6
W.
Siehe HUGO HUPPERT, MENNINGHAUS (Hrsg.),
>Spirituell<. Ein Gespräch mit Paul Celan. In: W. Paul Celan. Frankfurt 1988, S. 321.
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mit dem Antlitz in eine ganz andere Richtung als der Zusammenhang von Rede und Schrift, der bei Derrida im Blick steht. Bei Derrida klingt es zuweilen so, als ob die Spur (trace) wie eine gewaltsame Einschreibung ist, wie das Engramm, das im Gedächtnis versinkt und doch bleibt. Oft verschiebt sich die Spur auf den Zeichengebrauch hin. Dann ist nur darauf gesehen, daß Zeichen verstanden werden wollen. . Wer eine Spur findet, weiß ja gewiß auch, daß da etwas gewesen ist und daß da gleichsam etwas hinterlassen ist. Aber man stellt das nicht einfach fest. Man beginnt von da aus zu suchen und sich zu fragen, worauf die Spur hinführt. Nur wer unterwegs ist und nach dem rechten Weg sucht, für den steht die Spur im Zusammenhang des Suchens und Spurens, das mit dem Aufnehmen der Spur seinen Anfang nimmt. Damit gewinnt man eine erste Richtung, und es schließt sich etwas auf. Noch ist es offen, wohin die Spur führen wird. Man läßt sich führen. Man bemüht sich, die Spur nicht zu verlieren und Richtung zu halten. Wenn man die Spur verliert, verliert man den Weg. Dann hat man sich verlaufen und weiß nicht weiter. So muß man die Spur neu suchen und wieder aufnehmen. Am Ende bildet sich in der Spur, wenn sie an die Stelle von Zeichen tritt, ein Handlungsfeld von ganz eigener Art. Die Spur bildet sich gleichsam aus. Wenn sie öfter begangen wird, so wird sie zum Weg. Freilich, wohin der Weg führt, kann durchaus ungewiß sein. Wer den Weg sucht und schließlich einen Weg versucht, so kann das falsch sein. Man kommt nicht dorthin, wo man eigentlich hin v:.,ollte. Es sei denn, man ist auf den rechten Weg >geraten<. Nun ist es klar, daß bei Derrida für die Rolle, die die Spur spielt, es die Bcriture sein wird, die Schrift. Die einzelnen Zeichen, die die Schrift bilden, sind von Konventionen bestimmt. Wenn die Schrift lesbar ist, dann ist es ein Text, der so zustandekommt - und das ist wie ein sinnverleihendes Ereignis. Die Schriftzeichen als solche haben so wenig wie die einzelnen)Vokabeln< als solche überhaupt Sinn. Der Sinn kommt erst heraus, wenn der Sinn einem aufgeht, erst wenn einer das Ganze der Schrift mit Verständnis liest. Dann wird er die rechte Betonung finden, wenn er überhaupt mit Verständnis weiterlesen will. Wir kennen es alle, wie sich die Evidenz des richtig verstandenen Sinnes aufbaut. Das geht durch viele Stationen, durch das Entziffern der einzelnen Buchstaben, die rechte Artikulation der Wortbildung und am Ende wie ein Einsammeln des Ganzen, in dem die Vielheit der Zeichen zusammengegriffen und begriffen ist. Dann vertieft man sich in die Lektüre. Man nennt das mit Recht »Konzentration«. Man ist wahrlich auf eine Mitte gerichtet, von der aus sich das Ganze zu einem sinnhaften Gefüge aufgliedert. Man sagt dann auch, daß man durch die Lektüre gefesselt ist. Man kann sich gar nicht davon ablösen, jedenfalls solange es alles Sinn macht. Man weigert sich abzuschweifen. Denn man ist wirklich dabei, im Verstehen mitzugehen.
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Man erkennt an dieser Beschreibung die allgemeinere Beschreibung wieder, die in dem Verfolgenjeder Spur liegt. Auch der Leser ist unterwegs. Da mag ihm vieles beim Lesen einfallen, ja, es wird einem gar nachhängen, und doch folgt er am Ende dem Weg, den ihm der Text vorschreibt. Es ist wie beim Gespräch mit einem Anderen. Der Text begegnet ja wie ein Anderer, und man sucht ihm näherzukommen. Man versucht es mit dem oder mit dem. Man hat neue Einfälle. So geht es einem im Gespräch oft: Das Gespräch lebt geradezu von den unvorhergesehenen Einfällen, die dem Gesp~äch eine neue Richtung geben. Ein Gespräch ist ja keine wohlprogrammIerte Abhandlung. Und doch sucht man dem Gespräch eine Richtung zu geben. Man stellt eine Frage. Man versteht vielleicht an der Antwort, was der Andere verstanden oder gemeint hat. Wenn man soweit ihn verstanden hat, kann man überhaupt erst antworten. Sonst redet man aneinander vorbei. So ist ein wirkliches Gespräch nur dort, wo es beständig ins Offene möglichen Fortgangs führt. Die Antwort des Anderen kann eine überraschende sein. Das stellt uns vor neue Offenheit, in der sich Fragliches darstellt. Mögliche Antworten sind zahlreich. Das Gespräch geht voran, und man hat das Gefühl, auf dem rechten Wege zu sein und daß man sich näherkommt. Es ist auch wirklich wie bei dem Spurensuchen. Man kann auf etwas zurückkommen. Man nimmt die Spur wieder auf, wenn man sie wiedergefunden hat. Auch für den, der seinen Weg verloren hat, gibt es ja nicht nur die eine Spur, der man nachgehen kann. Spuren können sich kreuzen, Spuren können vergehen und enden, die in eine Ferne weisen, für die man ohne Führung bleibt. Das kennen wir ebenso im Gespräch bei sinnlosen Antworten oder im gelesenen Text bei unverständlichem Fortgang. Man verliert die Führung und gibt es auf. Hier zeigt sich das rätselhafte Wesen der Frage. Fragen drängen sich auf Man muß sie stellen, weil die Fragen sich stellen und der Fortgang der Verständigung ins Stocken geraten ist. Das Geheimnis der Frage ist in Wahrheit das Wunder des Denkens. Daß Denken Unterscheiden ist, weiß man. Das heißt eben, das eine und das andere vor Augen zu haben. Es geschieht im Fragen. Die Frage stellt vor die Entscheidung zwischen Möglichkeiten. Aber selbst wie man die Frage stellt, schließt bereits angesichts der Fülle aller Unterscheidbarkeiten Entscheidung ein. Es ist daher nicht etwa leicht, Fragen zu stellen. Das ist ein altes urplatonisches Motiv, daß der Gefragte, wenn er nicht mehr zu antworten weiß, selber der Fragende sein möchte - und dann zeigt sich: Fragen ist noch schwerer. Der Antwortende wird dadurch, daß er gefragt wurde, wenigstens geführt. Wer selber fragen s~ll, muß dagegen die Spur selbst finden und auf der Spur bleiben. Er hat nIcht nur dem Weg eines anderen zu folgen. Deshalb ist Fragen schwerer als Antworten. Es ist klar, daß hier nicht Informationsfragen gemeint sind. Es muß eine
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offene Frage sein, aber so, daß das Stellen der Frage eine fruchtbare Frage ist. Ein alter Spruch sagt: »In der Wissenschaft entscheidet die Fragestellung. « Man erkennt den rechten Weg durchaus nicht nur daran, daß er zu einer Antwort führt. Das Gegenteil kann der Fall sein. Wer auf dem rechten Weg des Fragens ist, ist nicht einer, dem die Antworten leicht werden. Umgekehrt, wem die Antwort schwer wird, der lernt neue Fragen sehen. Auch wenn es Abwege und Irrwege sind - das ist der Weg der Forschung. Wege der Forschung bilden in der Wissenschaft Wege des Fragens ab. Anders sind die Bedingungen im wirklichen Gespräch, weil sich da Verstehen sofort bestätigt und Mißverstehen berichtigt. Im Gespräch soll man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen und sorgsam alle möglichen Bedeutungsverschiebungen oder Mißverständlichkeiten ausschalten. Wenn man jemandem etwas zu sagen versucht, müssen es in Wahrheit die rechten Worte sein, die den Anderen erreichen. Man ist ja immer schon auf der Spur und befindet sich nie in dem Abstand, in dem die unabsehbare Zeichenwelt ausgebreitet vor einem liegt. Man sieht sich geführt. Von da aus versteht man, wie schwer das Schreiben ist, mit dem manja einen Unbekannten, den Leser, zu erreichen sucht. Auch hat Schriftliches etwas erschreckend Unwiderrufliches an sich. Die Schrift, das sind vorgegebene Zeichen: Sie sind gleichsam eingeschrieben - und damit sind sie wie vorgeschrieben. Sie bilden Texte. Darin liegt, daß beide, Spur und Zeichen, nicht selber für den Bedeutungssinn des einzelnen Wortes stehen. Dasselbe Schriftbild kann Worte ganz verschiedener Bedeutung darstellen. Die jeweilige Bedeutung bestimmt sich erst aus dem Zusammenhang. Das erst nennen wir Texte, die gelesen und wiedergelesen werden. Ein Text ist die Einheit eines Gewebes und stellt sich in seiner Textur als Ganzes dar - und nicht in den Schriftzeichen, ja selbst nicht in den grammatischen Einheiten der Satzbildung. All das macht noch keinen Text, es sei denn, wenn es ein ganzer »Schriftsatz« ist, wie wir das klüglich nennen. Im Grunde versteht man nur, wenn man ganz versteht und das Ganze verstanden hat. Wer nur halb versteht, kann ganz mißverstanden haben - und dann weiß man nicht, ob man einverstanden ist oder wie man sonst antworten soll. Daher muß man erneut fragen, bis man verstanden hat. Aber auch das heißt nicht, daß man mit dem Anderen einverstanden ist. Ähnlich wie der Schriftgebrauch ist auch die schriftliche Notierung von Musik. Es gibt ja auch den Fall, daß sprachliche Texte vertont werden, und vollends gibt es dies, daß man im Falle der absoluten Musik eine Komposition nicht >verstanden< hat. Beim sprachlichen Text wie bei der Musik heißt das nicht nur, daß man die Wortfolge oder die Tonfolge nicht apperzipiert hat, sondern dies, daß ein vielfältig Unterschiedenes sich nicht als ein einheitliches Ganzes darstellt. Schriftsätze, die gewiß aus Buchstaben, Silben, Wörtern und Sätzen den Text bilden, werden zur Anweisung, das Ganze zu
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verstehen. Ebenso stellt die Notenschrift ein solches Ganzes dar, das man nicht nur liest, sondern als eine Anweisung zum Handeln befolgt. Daher ist es schwierig und fragwürdig, >vom Blatt< zu spielen. Wer Musik verstehen will, muß mit dem Ganzen vertraut sein oder mitgehen. Wenn einer mitgegangen ist, weiß er dann auch, wenn die Musik zu Ende ist. Doch das ist ein VorgriffaufWerke der Kunst, die in einem eminenten Sinne ein Ganzes sind und die ich daher >eminente< Texte nenne. Texte, die nicht Werke der Kunst sind, lassen die Frage offen, ob ein Text je zu Ende ist oder nur abbricht, wie eben ein Gespräch endet oder wie das Leben. Vielrleicht gibt es noch andere eminente Texte, die einen wirklichen Schluß setzen, etwa wie das Urteil, das vor Gericht ergeht, oder wie die Botschaft, die wie eine Verheißung verkündet wird, wie das Amen in der Kirche. Es gibt ja auch eine I{unst des bloßen Schreibens und der Rede, die gleichsam den Punkt setzt. Interpunktion ist erst eine späte Erfindung gewesen. Injedem Fall bleibt es immer klar, daß jeder solche Text in einem Kontext steht. Die Verweisungsbedeutung eines Zeichens.hängt von dem ab, auf das es verweist. So ist auch ein Text, wenn er noch so sehr eine Sinneinheit darstellt, immer noch von einem Kontext abhängig, der oft erst die vielstellige Bedeutung eindeutig bestimmt. Das ist eine uralte hermeneutische Regel, die alles Verstehen von Texten betrifft. Man kennt es wenn sich das Umfeld, das den Kontext bildet, neu ordnet, wie damit d~r Text einen neuen Sinn empfängt. Man muß sich dessen bewußt sein, daß schon die Worteinheit sich aus der Satzeinheit und daß die Satzeinheit sich selbst wieder aus größeren Textzusammenhängen bestimmt. So geht es einem auch beim Lesen. Wer buchstabieren muß, kann nicht lesen und kann auch noch nicht verstehen. Ebenso gilt: Wenn man ein einzelnes Textteil aus seinem Zusammenhang heraushebt, verstummt es. Es fehlt dann die überlegene Sinnkraft. Das ist der Pferdefuß bei allem Verstehen von Zitaten und vollends der heikle Grenzgang, den die Intertextualitätstheorie in Kaufnimmt. Jeder Satz ist nicht selbst eine Einheit, sondern er gehört in eine Sinneinheit, die dem Ganzen des Textes seine innere Spannung und seinen eigenen Ton verleiht. Wir wissen alle, wie im Sprechen der Ton die Musik macht, und wir wissen daher auch, wie schwierig und verantwortlich es ist, etwas zu Protokoll zu geben, wenn man kein klares Gegenüber hat, für das man den rechten Ton zu treffen hat. Ton und Betonung ergeben sich eben aus einer ungreifbaren Bewegung, die zwischen einander in dem Miteinander spielt. Man denke daran, wie ungreifbar Ironie ist und wie sehr Ironie dort, wo sie v~m Anderen verstanden wird, mit ihm verbindet, und wie ulngekehrt das Unverständnis trennend wirkt. Der Sonderfall erinnert daran, wie sehr sich erst im Miteinander die Sinneinheit eines Textes oder eines Gespräches aufbaut. .
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Hier öffnet sich ein ganz neues Problemfeld, das noch ganz andere Umfänge umfaßt als der sogenannte Logozentrismus. Es ist doch so, daß nicht alle beliebigen Anknüpfungen und Abwandlungen, auch nicht alle sich aufdrängenden Anspielungen und Anklänge sich ausdrücklich machen lassen, ohne das Miteinander der Verständigung zu stören. Auch wenn ich anerkenne, was Derrida Dissemination nennt, kann darin doch nicht das letzte Wort liegen. Es ist damit nur eine Voraussetzung benannt, aufgrund deren ein neues Sinnverständnis seine Forderung erheben kann. Ich erkenne gern an: Die Macht der Konventionen - oder mit Heidegger zu reden: die Allmacht des Geredes -, aber auch die Forderungen der Logik oder die Überzeugungsgewalt tief eingeprägter Vorurteile sind als solche gewiß keine Legitimation. Umgekehrt dürfen es aber auch nicht beliebige Einfälle sein; denen man folgt. Es kann auch bei sehr gewählten Fügungen, sowohl im rhetorischen wie im dichterischen Sprachgebrauch, so sein, daß manche Sinnfügungen nur mitspielen. Es können aber auch solche sein, die das Spiel bestimmen. So wäre es üi. meinen Augen eine falsche These, die Intertextualität allem Textverständnis zugrunde zu legen, weil das in Wahrheit nur einem bestimmten Zeitstil entspricht. Nicht immer begründet er einen Anspruch aufthematische Behandlung. Vielmehr muß man wissen: Anspielungen müssen oft vage bleiben, und die Erkenntnis der Anspielung wird schwerlich ein Beitrag zur Interpretation sein. Gerade in der Ni'chtabhebung, in der Diskretion der Anspielung, liegt die Aussage der Kunst - und in ihrem Zusammenklang. »Ars latet arte.sua. « Wenn es sich um Sprache und Sprachkunst handelt, sollte man nicht versäumen, den Begriff der Sprache recht weit zu fassen. Musik stellt sich von selbst ein. Aber überhaupt ist es so, daß die Kunst - und insbesondere im Blick auf den Zeitstil- in den verschiedensten Künsten sich deutlich einheitlich ausprägt. Man denke etwa an die heute dominierende Rolle der Ikonographie in der Kunstwissenschaft, die gewiß eine wichtige historische Dimension darstellt, aber den übergang in die » Verwandlung ins Gebilde«( zumeist schuldig bleibt. Das heißt aber, daß sie den Bereich der Kunst überhaupt nicht erreicht. Oder man denke an den zeitgenössischen Baustil, in dem heute das Zitieren eine große Rolle spielt. Da ist meist nur eine vage Bekanntheitsqualität spürbar, und gerade in dieser Vagheit stellt sie einen möglichen Beitrag zur >Aussage( des Baues dar. Wenn man ein solches Zitat zum alleinigen Gegenstand werden läßt oder macht, dann hört man an derselben geradezu vorbei. Das kennen wir im besonderen aus den historisierenden Stilen des 19.Jahrhunderts. Da haben wir neugotische Kirchen, da haben wir romanische Bahnhöfe, da haben wir neoklassizistische Warenhäuser - und kennen auch die Antwort des Kunstschaffens des Jahrhunderts der industriellen Revolution, die am Ende zum Kahlschlag aller historisierenden Tendenzen
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in Kunst und Literatur geführt hat. Nun muß man sich nur klarmachen, daß ohnehin in der Erfahrung der Kunst ständig mit dem vagen Stilgedächtnis vergangener Epochen gespielt wird und daß man das Spiel verdirbt, wenn man präzise Ableitungen einmengt. Was im Wandel des Geschmacks und der Moden wie beim Spiel der Wellen herauskommen kann, ahnt man etwa an der Umbewertung des Barock und selbst der des Jugendstils, die geradezu Wiederentdeckungen möglich machten. So wird es wohl auch mit Intertextualität sein, die dem literarischen Zitierstil des Zeitgeschmacks allzu gut entspricht. Auch bei reinster Entsprechung, die vielleicht von historischem Interesse ist, wird es erst recht darauf ankommen, daß man bei der Begegnung mit dem Text die Einheit der Aussage nicht verdeckt. Es soll da nicht etwa geleugnet werden, daß zeitgenössische Geschmackstendenzen etwas sind, dem sich ein Künstler kaum ganz entziehen kann, und deswegen werden immer hochwertige künstlerische Gestaltungen neben peinlichen modischen Nachahmungen einhergehen. Aber der Grundsatz der Intertextualität darf die entscheidenden Gestaltungsaufgaben nicht verdunkeln. Was da droht, ist aus der bildenden Kunst wohlbekannt. Die Unaufdringlichkeit der Anspielung, die das bildnerische Gebot in der Gestaltung der Kunst ist, wird es gewiß nicht leichthaben, sich gegen das Repräsentationsbedürfnis der Zeitgenossen durchzusetzen, die gar nicht die Kunst meinen. So kann man etwa bei der Porträtkunst kaum erwarten, daß der Auftraggeber je mit dem Maler im Resultat zufrieden ist. Aber auch sonst können der Geschmackswandel der Epochen oder auch der Fortgang der Geschichte unter der Diktatur der Abbildorientierung der Ikonographie selbst die größten Meisterwerke der bildenden Kunst vor der Verbannung in die Magazine oder vor der brutalsten Zurechtstutzung nicht bewahren. Man denke an den Schulfall von Rembrandt, etwa an die sogenannte >Nachtwache<, deren Seitenverstümmelung bei der neugewonnenen Tageshelle schmerzhaft deutlich wird, oder an die wunderbare Errettung der >Verschwörung des Auricius< aus dem Amsterdamer Keller, die sich nach Stockholm geflüchtet hat. Die Nähe von Spur und Schrift und das der Schrift folgende Lesen ergibt angesichts der Vielbezüglichkeit der gesamten Zeichenwelt und insbesondere der Sprachwelt, die sich als Schrift artikuliert, eine unendliche Vielfalt möglicher Bezüge, und einjeder Bezug mag neue Perspektiven öffnen. Aber ob es gangbare Wege sind? Abschweifungen, sich zeigende Nebenwege, wechselnde Aussichten können vom rechten Wege abführen. Da kann es bei einem schriftlichen Text so sein, daß sich Begleittöne zur Geltung bringen, die gar nicht gemeint sind. Woran soll man überhaupt unterscheiden, ob etwas in den Fortgang des Gedankens gehört oder nicht? Was taucht nicht alles unter und was taucht nicht alles auf, was im Gedächtnis eingeschrieben ist und was bei der Wiedererkennung im Text vielleicht gar nicht gemeint
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war! Gibt es wirklich keine Kriterien, angesichts dieser Vielheit aller Wortbezüge und Sachbezüge? Was heißt da der richtige Weg? Führt da der logische Fortgang nur in die Irre?
IH. Es wird gut sein, an konkreten Versuchen dekonstruktiver Neustiftung die Probe zu machen, was da richtig heißen kann und was irreführend heißen muß. Ich wähle dazu die höchst lesenswerte Erörterung von >Chora<, die Derrida in einer neueren Arbeit vorgelegt hat. Damit ist keine Vokabel gemeint, sondern der Begriff der Chora, wie er dem Platoniker aus Platos >Timaios< bekannt ist. Da wird der Mythos von dem Demiurgen erzählt, der das Weltall nach Zahl und Maß erbaut, die himmlischen Sphären so gut wie die irdische Welt, die aus den vier Elementen besteht. In diesem Zusammenhang begegnet etwas als das, ohne welches das ganze Ordnungsgeschehen der Welt und der Austausch ihrer vier Elemente überhaupt nicht Platz finden könnte. Das ist das Raumgebende, das hier Chora heißt. Nun kann man sich natürlich fragen, was >Chora< eigentlich heißt. Man kann vom Sprachgebrauch des Wortes aus vielleicht auf ganz andere Zusammenhänge geraten, in denen >Chora< etwa ein zu verwaltendes Herrschaftsgebiet bezeichnet. Aber im Zusammenhang unserer Erzählung über den Weltenbau bildet das Wort einen begrifflichen Rahmen, den Rahmen von Urbild und Abbild, in dem sich die Erzählung anfänglich bewegt hatte und der alles umgreift. Jetzt tritt dieses Raumgebende wie etwas Neues auf, das bisher überhaupt nicht vorkam. Was ist nun dieses Dritte? Man kann die Perspektive, in der sich dieses Dritte öffnet, von der Sprache der Metaphysik aus anzeigen, deren sich die Erzählung bedient. Es sei weder ein Geistiges noch ein Materielles. Es ist sozusagen eine dritte Gattung, von der gilt, daß sie weder das eine noch das andere ist. Was erfahren wir nun über diese Chora? Die weitausgespannte Darstellung des Timaios läßt einen ziemlich ratlos, wenn wir sagen sollen, was diese dritte Gattung des Seins eigentlich ist. Da ist (Süaff.) vom Gold die Rede, das vielerlei Goldenes sein kann, und dann sogar von der Grundsubstanz, aus der man wegen ihrer Geruchlosigkeit Parfum herstellt. Beides läßt weit eher an den Begriff der Materie, an die >Hyle< des Aristoteles, denken, an diese letzte Materie, die überhaupt keine Formbestimmung mehr hat und nicht an den Platz machenden Raum. Gewiß, die Chora, die hier alles aufnimmt, wie es heißt (Süd), wird ausdrücklich »gestaltlos« genannt, wie der gestaltlose Teig, aus dem der Bäcker oder der Töpfer etwas machen will. Dann wieder soll diese Chora wie die Mutter, wie die Amme sein, die erst das sich gestaltende Lebewesen tragen und nähren - wieder eine ganz andere Vorstellungswelt.
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Immerhin aber erfolgt die Einführung dieser Chora im >Tirnaios< in Gestalt einer überraschenden Unterbrechung der Erzählung, in der bisher die vom Demiurgen mit Nous hergestellte Welt als treffliches Abbild des Urbildes von Welt geschildert war. Nun heißt es auf einmal, man müsse auch das aus Notwendigkeit Geschehende dem Logos zur Seite setzen. Die Entstehung der Welt sei aus >Nous< und >Ananke< gemischt, aus Vernunft und Notwendigkeit. Die Vernunft überredet die Notwendigkeit, daß sie soweit entgegenkommt, daß doch am Ende Gutes werden kann. Das ist die rätselhafte Einführung jenes dritten Genos zwischen Sein und Werden, Idee und Erscheinung, Urbild und Abbild. Offenbar sollen all die mythischen Anklänge und Anspielungen und wechselnden Gestalten uns ratlos lassen, damit das mit >Chora< Gemeinte wie ein ganz neuer Anfang sein soll. Es wird zwar angekündigt, aber in einer so allgemeinen Form, daß es schwer ist, sich diese neue, ganz eigene Gattung überhaupt verständlich zu machen. In ihr ist beides: Sein und Werden, das Unveränderbare des Seins und das Gestaltlose, das sich wegen seiner Veränderlichkeit allem leichten Begreifen entzieht. Letzteres wird geradezu als die »Gestaltursache des Schwankenden« eingeführt. Wir folgen dem hermeneutischen Grundsatz, nach dem größeren Zusammenhang zu fragen? Was lehrt uns der Kontext über den Text? Nach der Ankündigung des ganz neuen Anfanges wird das immerhin sehr deutlich gemacht, daß es sich um die zuvor schon behandelten und für Plato sozusagen vorgegebenen vier Elemente handelt und das, was mit ihnen geschieht (48bS Pathe). Wenn man genauer zusieht, erkennt man, daß all diese vielfältigen Beschreibungen dessen, was als das Aufnehmende die dritte Gattung sein soll, schließlich darin münden, daß das Wesen der dritten Gattung ausdrücklich mit der Bezeichnung als >Chora< eingeführt wird (52a f.). Und am Ende, in der Zusammenfassung, wird Chora in die Mitte zwischen Sein und Werden postiert und als das Vermittelnde vorgestellt (52d). Um das zu erklären, sollen die vier Elemente, die nach griechischer Auffassung in platonischer Zeit (seit Empedokles) die Bestandteile von allem sind, nun mit Hilfe der Mathematik und ihrer Notwendigkeit konstruiert werden. Ihr vielgestaltiges Erscheinungsbild soll fur alles Seiende die unveränderlichen Bausteine der Wirklichkeit bilden - für den Augenschein nicht gerade überzeugend. Das Feuer ist für griechisches Denken überall dort, wo Wärme ist, also nicht nur in der lodernden Flamme, sondern auch in der Lebenswärme, und das Wasser ist nicht nur diese große Unendlichkeit des Ozeans, der Seep und der Flüsse, sondern ebenso das Eis in seiner steinernen Härte. Die Luft ist auch nicht bloß der blaue Azur, sondern ebenso Wind und Wolken, Nebel
und Sturm. Unveränderlich? - Der Erzähler hatte, als er die Elemente einführte, selber hervorgehoben, wie wenig diese Elemente in ihrer Erscheinung dem Ordnungsgedanken entsprechen. Keines dieser Elemente sei ganz und gar und unveränderlich dieses. Das Feuer sei nicht immer reines Feuer, sondern höchstens Feuriges, und ebenso sei es mit Wasser, Luft und Erde, daß sie in ganz wechselnden Erscheinungsweisen die Bestandteile allen Seins sein sollen. Gleichwohl gilt es, sie als das Beständige, woraus alles sein Sein hat, zu erweisen. Das zu erklären, wird nun die Mathematik und insbesondere die Geometrie des Dreiecks aufgeboten. Das war das große Vorbild von Wissen, Erkenntnis und Beweis, das in Gestalt der euklidischen Geometrie damals im Aufbau war. Die Dreiecke, als Bauelemente, sollen den Elementen ihre Beständigkeit geben, und dieser Aufgabe soll die damals erkannte mathematische Wahrheit der Stereometrie genügen, daß es nur funfreguläre Körper geben kann. Man nennt sie geradezu die platonischen Körper. Wie diese fünf Körper den Elementen zugewiesen werden, ist gewiß nicht ohne Witz. Da steht die Pyramide fur die steile Flamme. Da steht der Würfel für die feste Erde, da steht das eckenreichste Vieleck, das Ikosaeder, fur das in Dampf und Nebel zerstiebende Wasser. Das ist alles sehr hübsch, wenn auch etwas mühsam. Nur ist da eine Schwierigkeit. Es sind doch nur vier Elemente und fLinf reguläre mathematische Körper. So erhält das Dodekaeder, um der Verlegenheit auszuweichen, eine Sonderaufgabe, nämlich die eines Baugerüstes fur die Weltkugel! Platos zeitgenössische Leser haben gewiß nicht angenommen, daß Plato all das wirklich so gemeint hat. Spielfreude ist in den Erzählungen des Timaios in jedem Wort zu spüren. Wenn Aristoteles das Ganze trotzdem wörtlich nimmt und daran Kritik übt, so ficht er, wie an manchen anderen Platonischen Dialogspielen, mit seiner Kritik seine eigene Sache durch, und das ist, den Vorrang der Natur gegenüber dem Sekundärcharakter der Mathematik zu verteidigen. Man muß sich insgesamt den >Tirnaios< als ein Spiel Platos vorstellen. Die Notwendigkeit, von der jetzt nach dem neuerJ. Einsatz in diesem Spiele die Rede ist, ist aber wahrlich kein Spiel, und daß die bisherige Schilderung, die auf der Zweiheit von Urbild und Abbild, von Sein und Werden gegründet war, nicht genügt, ist Platos voller Ernst. Was man auch über Aristoteles' Mißdeutung des Platonismus als eine Zweiweltenlehre sagen mag, man sollte sich eingestehen, das Plato das längst im ParmenidesDialog, im >Sophistes< und im >Philebos< vorweggenommen hat, und nun bringt es Plato ganz ausdrücklich im >Tirnaios< zur Sprache, und zwar als den »zweiten Anfang« (48b) in dem demiurgischen Weltmärchen. Derrida hat das offenbar erkannt. Dadurch hat ihn diese dritte Gattung sofort angezogen, weil hier ausdrücklich die Unterscheidung von Sein und Werden als unzureichend erklärt wird. Die Chora des >Tirnaios< läßt tatsächlich an die auf Mathematik gegründete neuere Naturwissenschaft denken, der die te-
7 Ausführlicher dazu mein Beitrag >Idee und Wirklichkeit in Platos >Timaios« in Ges. Werke Bd. 6 (Nr. 15).
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leologische Physik des Aristoteles im Wege stand, die für ein Jahrtausend gegolten hatte. Was ist nun die Textgrundlage, von der aus Derrida seine dekonstruktive Hinterfragung gegen das richtet, was er Metaphysik nennt? Offenbar ist es die Zweiweltenlehre, die Derrida als Metaphysik seinem interessanten und phantasievollen Essay zugrundelegt. Was geben einem die Texte? Da wird von Derrida Platos >Politeia< zitiert. Die Chora werde hier als einJenseits des Seins betrachtet. Zwar kommt der Ausdruck >Chora< in der >Politeia< nicht vor. Da aber bei der Chora des >Tirnaios< es auch um etwas gehe wie ein Jenseits, das weder sinnlich noch geistig ist, glaubt Derrida in der Chora des >Tirnaios< dasselbe Jenseits wiederzuerkennen, das die >Politeia< als das Jenseits des Seins einführt. Damit verknüpft nun Derrida den späten Platonismus des frühchristlichen Zeitalters. Bei Dionysios Areopagita wird in der Tat bei der Schilderung des Einen und Göttlichen von Chora gesprochen, dem ausgezeichneten Platz des Einen. Nun glaubt Derrida alle drei Zeugnisse für den gleichen antimetaphysischen Sinn in Anspruch nehmen zu dürfen und einer dreifachen Spur nachzugehen. In allen drei Richtungen zeige sich etwas Ungreifbares: das Jenseits des Seins des Guten, das Jenseits des einzuräumenden Raumes oder Platzes und das Jenseits des göttlichen Einen. In seinen Augen bilden sie ein vielstell~ges Ensemble. Ich habe meine Zweifel. Zwar habe ich das Feuerwerk von aufblitzenden Anspielungen, das Derrida bei Abhörung der Einleitungsszenen des >Timaios< veranstaltet, sehr bewundert. Ich verkenne auch durchaus nicht, daß Plato hier alles aufbietet, um die Zusammengehörigkeit des Weltenbaus mit dem Bau vom Staat und dem Bau der Seele nicht vergessen zu lassen. Er bewährt sich hier gewiß in seinem großen Dialogschauspiel als ein perfekter Dekonstruktivist. Nun fühle ich mich zwar mit Heidegger, Derrida und mit Vemant (dem ich vor Jahren schon einmal mit Zustimmung zugehört habe) darin verbunden, daß die konventionelle Aufklärungsformel »Vom Mythos zum Logos« schief ist und hier beidem Gewalt antut. Und doch scheint mir der Kontext, in dem Chora im >Timaios< eingeführt wird, etwas ganz anderes zu meinen und eine Spur zu sein, die ganz woanders hinführt als zu demJenseits des Einen oder des Göttlichen. Es führt aufeine Notwendigkeit - und es kann kein Zweifel sein, von welcher Notwendigkeit hier die Rede ist: Es ist die Notwendigkeit der Mathematik. Etwas Wunderbares und Erstaunliches ist es gewiß, der ganze Aufbau der euklidischen Geometrie, und ebenso, daß die Mathematiker platonischer Zeit erkannt und bewiesen hatten, daß es nur fünf reguläre Körper geben kann, die sich in die Kugel einschreiben lassen. Was ist das für eine rätselhafte Rationalität der dritten Dimension, daß das Raumgebende von sich aus nur diese fünf vollkomme~en Körper erlaubt, die alle der vollkommenen Kugel des Seins eingepaßt sInd? Welche Grenze zeigt sich hier und zugleich welches Entgegenkom-
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men, das hier die Notwendigkeit beweist, wenn sie nur diesen fünf regulären Körpern etwas von der Vollkommenheit der Kugel gewährt? Daran kann selbst der Demiurg nichts ändern, so sehr ist darin Notwendigkeit. Ich behandle das Thema >Chora< um der grundsätzlichen Frage willen, ob Verweisungen, auch wenn sie nach verschiedenen Richtungen gehen, einfach hinzunehmen sind- oder ob man sich entscheiden muß, in welchem Zusammenhang man Verweisungen folgen darf. Spuren haben ihre Vorbestimmtheit und sind nicht beliebig. Während ich das Jenseits der Idee des Guten zu verstehen glaube, denke ich wahrlich nicht an das Diesseits der Elemente und an die regulären Körper. Wenn man dieJenseitigkeit des Einen im Auge hat, wie sie bei dem Areopagiten und in ihrer christlichen Nachwirkung erscheint, so wird man eher bei demJenseits des Seins an Platos >Politeia< denken. Aber man wird doch ·nur darin sehen dürfen, wie wir hier in der neuplatonischen Wirkungsgeschichte der aristotelischen Metaphysik stehen, von der wir für das jenseitige Göttliche wie für jedes Seiende den es aufnehmenden Raum denken lernten. Das danken wir der Physik des Aristoteles, die den Gott als den ersten Beweger eingeführt hat. Wenn wir dagegen das Ideal von Symmetrie und mathematischer Ordnung in den fünf Annäherungen der» schönen « Körper an die Kugelform des Universums denken und an ihre Konstruktion aus Dreiecken, so dientda >Chora< einer Veranschaulichung mathematischer Notwendigkeit, die uns verstehen läßt, warum die Elemente trotz ihren wechselnden Erscheinungsweisen als Sein zu verstehen sind. Aber besonders überzeugend ist das nicht, wie der Erzähler zugibt. Es sind souveräne Spiele, die Plato hier, wie auch sonst gern, mit der Mathematik spielt. Die Mathematik selbst aber ist desyvegen kein Spiel. Nur, daß man Platonische Dialoge als Spiel lesen muß, mag man sich arn Schluß des 7. Buches der >Politeia< anschaulich machen. Da wird die Möglichkeit der idealen Stadt durch eine patente Lösung mit spielender Leichtigkeit gefunden: Man müsse nur alle Einwohner, die schon zehnJahre alt sind, aus der Stadt vertreiben. Dann werde das Paradies wohldressierter Kinder wirklich werden. In solchen Spielen kann man aufernste Probleme hinweisen, und wahrlich hat sich in den Utopien Platos der Niedergang der großen Kultur Athens und der Blütezeit der griechischen Demokratie gespiegeltB. Dagegen hat die mathematische Konstruktion des >Tirnaios< aufdie Physik der Neuzeit und vor allem in unserem Jahrhundert eine gewaltige Faszination ausgeübt. Das Weltspiel des >Tirnaios< hat in der Tat über diejahrhunderte hinweg über Kepler und über die romantische Naturphilosophie Schellings bis heute fortgewirkt. Wie sich mathematische Verhältnisse der Wirklichkeit annähern können, bleibt ein aktuelles Problem, wie es uns die Quantenphysik lehrt. Doch das ist ein weites Feld. 8
Siehe dazu >Platos Denken in Utopien( in Ges. Werke Bd. 7 (Nr. 9).
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Die Platonische Dialogdichtung vermeidet mit Fleiß starre Festlegungen und will der Weiterführung des Gedankens dienen. So ist das Spiegelbild, das der attischen Demokratie vorgehalten wird, auch für uns voll von kritischer Aussagekraft. Die Platonische Gedankenführung wahrt etwas von dem Geheimnis der Sprache und der menschlichen Verständigung mit Sprache, die wir alltäglich praktizieren. Wir haben oben Platos einzige authentische Worte, die Plato im 7. Brief dazu gesagt hat, ~itiert. Dialektik muß immer wieder zum Dialog werden, und Denken muß sich immer im Miteinander des Gesprächs bewähren. Wenn auch bei Plato gewiß viele Spuren voll Stolz auf die Logik und die zeitgenössische Mathematik hineinspielen, vermag ich doch darin überhaupt keinen Logozentrismus zu erkennen. Eher würde ich gelten lassen, wenn die Metaphysik, die seit Aristoteles schulbildend wurde, unter den Bedingungen der Lesekultur der Neuzeit »Monologozentrismus« genannt würde. Was Aristoteles selbst betrifft, so sollte man immer daran denken, daß wir als Werke des Aristoteles nur das kennen, was bloße Diktate sind, die ihm als Unterlagen für Lehre und Gespräch zu dienen hatten. Es würde einer eigenen Darlegung anhand der fleißigen Kommentatoren des Aristoteles bedürfen, wie wenig das methodische Ideal der Beweislogik dem philosophischen Gedankengang des Aristoteles entspricht, so daß es in den Kommentaren geradezu schulmäßig aufgenötigt wirkt. Wie Forschung nach den Prinzipien (Archai) in Wahrheit verfährt, darüber findet sich die beste Auskunft in dem Anhang zu den zweiten Analytiken (B 19). Dieses Kapitel des Aristoteles sollte man ebenso wichtig nehmen wie den Exkurs aus Platos 7. Brief. Auch hier wird gezeigt, wie sich Begriffe bilden und wie die Sprache und das gemeinsame Wissen, das in ihr lebt, dabei ihre Leistungen vollbringt. Aristoteles hat nicht mit Unrecht die Beweiskraft der platonischen Dialektik am Begriff der Dihairesis kritisiert. Er hat gewiß recht, daß die im lebendigen Gespräch und ebenso auch in Platonischer Dialogdichtung vorgenommenen Unterscheidungen überhaupt nicht den Charakter logischer Beweisnotwendigkeit besitzen. Aber hat Plato das je unterstellt? Er hat das Gespräch im Auge - und wer weiß da nicht, daß zwischen Menschen nur selten durch strenge logische Beweisführung Verständigung erreichbar ist. Wir sind uns der Vorzüge logisch gesicherter Beweisführung in der Wissenschaft durchaus bewußt. Wir kennen aber auch die menschlichen Freiheitsräume im Handeln - und vollends die Arbeit der schöpferischen Phantasie in der Forschung selber, und ebenso all das, was der Sprache der Dichtung eingeräumt wird. All dem muß man sein Recht werden lassen. Man kann nicht alles zum Gegenstand des Wissens machen. Da gibt es andere Erfahrungen als die der Wissenschaft, sei es atemlos im Zuschauerraum des Theaters, sei es nachdenklich angesichts der ganzen Komödie und Tragödie des Lebens, sei es als Zeuge von aufregenden Ereignissen oder im gebannten Verfolgen spannender
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Erzählungen. Was von der dichterischen Sprache der Lyrik besonders gilt, ist gewiß nicht nur für sie gültig: daß sie nicht Gegenstand der Wissenschaft sein will, sondern wie alle Erfahrung von Kunst unser Mitgehen und Teilnehmen verlangt. Deswegen scheint mir hier die Aufgabe der Dekonstrukdon, die sonst neue Horizonte öffnen kann, gar nicht gestellt. Interpretation ist immer eine heikle Sache. Das liegt schon darin, daß sie ihrem Wesen nach (und dem Worte nach) »Zwischenrede« ist. Sie unterbricht den Vollzug des Mitgehens. Wir kennen das alle etwa bei dichterischen Texten. Solche Unterbrechung ist deswegen nicht etwa überflüssig. Wo wir auf Unverständliches stoßen, gehört dazu die Hilfe der Interpretation. Sie erfüllt ihren wahren Zweck aber nur, wenn sie zu dem Vollzug Beihilfe leistet, der sonst durch Unverständlichkeit gehemmt wäre. Das ist ein weites Problemfeld, vor dem wir in Wahrheit ständig stehen, wenn wir es mit Kunst zu tun haben. Denn - wo sind da scharfe Grenzen? Überdies erstreckt sich das Feld der Sprache weiter als nur über dichterische Texte. Es schließt auch die denkende Meditation ein - und danüt den Begriffsgebrauch, auf dem die Prosa des Gedankens beruht. All das kommt in seinem Vollzug zum Sprechen. Am Ende gilt das sogar in gewissem Umfang von jeder Interpretation selber. Sie mag Zwischenrede sein - aber was sie sein soll, ist nur, wenn sie sich selbst unterbricht, damit das denkende Gespräch sich daran anschließt. Man nehme sich zum Vorbild, wie das Buch Delta der >Metaphysik< des Aristoteles sich als bloßes Hilfsmittel anbietet. Das sollte überhaupt vorbildlich sein. Es gilt nicht nur für Dichtung. Es gilt für alles Lesen. Nicht ohne Überlegung habe ich unter den Texten, denen gegenüber Derrida den Anspruch der Dekonstruktion erhebt, von dem gesprochen, was ich den eminenten Text nenne9 • Dazu würde ich im weitesten Sinne die Erfahrung aller Kunst zählen. Sie umfaßt mehr, als was sich reimt. Texte und Werke der Kunst sind von der Art, daß man sie nicht einfach zur Kenntnis nimmt. Lyrik möchte man am liebsten auswendig können, damit man mit ihr das Gespräch pflegen kann, und Werke der Kunst sind alle von der Art, daß das Gespräch mit ihnen sich nicht erschöpft, sondern sich immer wieder zu neuem Vollzug anbietet. Philosophische Texte sind gewiß nicht im selben Sinne eminente Texte. Sie sind, wenn sie nicht gerade wie die Platonischen Dialoge sind, nur Zwischenreden in dem unendlichen Gespräch des Denkens. Gewiß, man zieht sie immer wieder zu Rate, denn wir leben alle im Fortgang unserer Erfahrungen. Philosophische Texte lesen wir gewiß nicht wie ein Gedicht, das alles weiß. Einen philosophischen Text studieren wir eher wie einen, der es auch nicht wissen wird, aber dessen Verfasser schon länger sich gefragt und nachgedacht hat - und dabei nicht so leicht vom Aktuellen und von unwillkürlichen Anpassungen 9
Siehe dazu >Der >eminente< Text und seine Wahrheit< in Ges. Werke Bd. 8 (Nr. 25).
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der eigenen Zeit abgelenkt wird. So ist er wie ein Gespräch mit einem Anderen. »Es ist nicht mein Wort, was iInmer ich auch sage. « Doch zurück zu Sprache und Schrift. An dem gesamten Problemkreis schließt sich die wahrhaft uferlose Frage an, die mich seit langem beschäftigt: Was muß der Leser wissen? Da kann man keine eindeutige Antwort erwarten. Vielleicht sollte man die Frage anders stellen: Was darf der Leser wissen w?llen 1~? Vielleicht hat das Sokrates gemeint, wenn er in seinem Gespräch mIt Phcudros zum Schluß ein Gebet an Pan und die anderen Götter richtet. Da hat er wohl ein Gebet, das auch den Wunsch nach Reichtum enthielt, im sokratischen Sinne umgedeutet, wenn er sagt: »Für reich möchte ich den Weisen halten und einen Schatz von solchem Gold besitzen, wie ein anderer als der Besonnene gar nicht tragen oder mit sich f1ihren könnte. «
10 Vgl. dazu den Abschnitt >Was muß der Leser wissen?< im Rahmen der CelanInterpretation in Ges. Werke Bd. 9, S. 443ff
14. Die Grenzen der historischen Vernunft (1949)
Die Frage nach dem Sinn der Geschichte sieht hoffnungslos aus, wenn ein Ziel der Geschichte, in dem sie endet, - sei es ein durch göttliche Vorsehung gesetztes, sei es ein durch menschliche Vollendung erreichbares - nicht mehr gedacht wird. Das aber ist das Wesen des )Historismus<, daß ein solches Ziel undenkbar erscheint. Es gibt kein Ziel, das der Geschichte ein Ende setzte, sondern immer nur endliche Ziele der Menschen, die in der Geschichte stehen. Das ist die Wahrheit, die das historische Bewußtsein verkündet. Was aber ist das historische Bewußtsein, dieser neue sechste Sinn des Menschen? Es bringt dem Menschen eine großartige Erweiterung seiner Welt - um all die gewesenen Welten, die er versteht. Oder bedeutet es vielmehr gerade den Verlust der)Welt<, wenn es den Menschen mit hundert Augen zugleich auf die Welt blicken lehrt? Und die Welt der Geschichte selbst, die ihm in einer neuen, unendlichen Vielfalt aufgeht, was ist sie für ihn, der sich selbst endlich und geschichtlich weiß? Keine der modernen Wissenschaften, auch diejenigen nicht, die unsere Beherrschung der Natur und unsere technische Einrichtung in der Welt so mächtig gefordert haben, kommt der Ausbildung des historischen Sinnes durch das historische Bewußtsein an revolutionärer menschlicher Bedeutung gleich. Sich selbst geschichtlich wissen, mit Bewußtsein ein Bedingtes sein, diese Wahrheit des historischen Relativismus ist von einem unmittelbaren und furchtbaren Lebensernst, wenn sie nicht nur akademisch gedacht, sondern politisch praktiziert wird. Sie spannt die geschichtliche Existenz der Menschheit bis zum Zerreißen. Was die Wissenschaften, und seien ihre Errungenschaften noch so beispiellos, für das Schicksal des Menschen auf diesem Planeten bedeuten, hängt nicht von ihrem eigenen Fortschritt ab, sondern von dem Ausgang dieseG historischen Revolution, in der wir stehen. Die entscheidende Frage ist, ob eine Gegenwart ihr eigenes Recht mit Vernunft wahrzunehmen vermag, auch wenn sie selbst nur eine Perspektive aufdie Wahrheit gewährt und darum weiß. Oder wird sich die Vernunft mit solchem Wissen selber fremd - so fremd, wie sie all den anderen Perspektiven ist, in denen sie sich bewegt, wenn sie geschichtlich versteht, d. h. fremde Perspektiven nachvollzieht?
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Nietzsche hat diese Frage bejaht. Der radikale Perspektivismus des)Willens zur Macht< impliziert die Selbstentfremdung der Vernunft. Es scheint freilich einfach, die Lehre Nietzsches zu widerlegen, indem man in das Arsenal der idealistischen Reflexionsphilosophie greift. Widerlegt sich nicht eine Lehre selbst, die alle Wahrheit als Perspektive des auf seine Machtsteigerung bedachten Lebens versteht, weil sie selbst doch die Perspektivität aller Perspektiven einzusehen beansprucht? Widerlegt sie damit nicht, was sie selber lehrt? Aber dieser Einwand ist zu billig. Er verkennt, daß Nietzsches Lehre den Widerspruch, den sie einschließt, will und erträgt - und daß es gerade der Zusammenbruch des idealistischen Vernunftglaubens ist, aufdem sie sich aufbaut. Diese Lehre mag keine vernünftige, keine widerspruchsfreie Theorie sein, aber sie ist die Lehre eines, der »mit dem Hammer philosophiert«, und sie betätigt ihre Herrschaft. Ihr praktischer Unglaube an die Vernunft ist nicht minder wirklich, als es der praktische Vernunftglaube des Idealismus war. N eben dem weltgeschichtlichen Ereignis, das Nietzsches Philosophie darstellt, verblassen die akademischen Formen, in denen das philosophische Problem des Historismus gedacht worden ist. Gleichwohl ist die konsequente Unermüdlichkeit, mit der sich Wilhelm Dilthey mitten in der Epoche des erkenntnistheoretischen Idealismus diesem Problem gestellt hat, förderlich geworden. Auch Dilthey hat keinen anderen Ausweg aus der Aporie des Historismus gewußt, als den Rückgang auf das »Leben«. Aber das Leben selbst sei auf Besinnung angelegt. Zwar gelte es, vom Erkennen durch Begriffe sich frei zu machen und alle philosophische Metaphysik auf die gedankenbildende Arbeit des Lebens selbst zurückzuführen. Aber die antinomische Struktur der Weltanschauungen gebe doch der Vielseitigkeit des Lebens wahren Ausdruck. Die historische Vernunft, die die Beschränkung des Zeithorizonts und damit alle Ansprüche auf absolute Geltung auflöst, bleibt doch Vernunft. Sie heilt die Wunden, die sie schlägt, indem sie von der Befangenheit in die geschichtliche Partikularität durch Geschichte befreit. Es ist das Ideal der historischen Aufklärung, die souverän gewordene historische Vernunft, die sich in der Universalität des historischen Verstehens vollendet. Dieser Glaube an die historische Aufklärung weiß sich zu begründen. Es leuchtet ein, daß die Bewegung der Bewußtwerdung einen unendlichen und unumkehrbaren Prozeß darstellt. Schon Kant und der Idealismus waren davon ausgegangen: Jedes erreichte Wissen von sich selbst vermag wieder Gegenstand eines neuen Wissens zu werden. Wenn ich weiß, so kann ich stets auch wissen, daß ich weiß. Diese Bewegung der Reflexion ist unendlich. Für das historische Selbstbewußtsein bedeutet das aber, daß der geschichtliche Mensch, der sein Selbstbewußtsein sucht, eben damit sein Sein ständig verwandelt. Indem er sich begreift, ist er immer schon ein anderer geworden als der, den er zu begreifen suchte. Wenn sich jemand des Zornes, der ihn
erfüllt, bewußt wird, so ist dieses erreichte Selbstbewußtsein immer schon eine Verwandlung, wenn nicht gar eine Verwindung des eigenen Zornes. Es war Hegel, der in seiner )Phänomenologie des Geistes< diese Bewegung des Selbstbewußtseins zu sich selbst beschrieben hat. Hegel freilich sah im philosophischen Selbstbewußtsein der absoluten Vernunft das absolute Ende dieser Bewegung. Darin kann ihm die historische Weltanschauung, deren Fazit Dilthey zieht, nicht folgen. Es gibt kein Bewußtsein, in dessen Gegenwärtigkeit die Geschichte aufgehoben und begriffen wäre. In aller unendlichen Erweiterung des eigenen Lebens durch das Verstehen von Geschichte bleibt es selbst ein endlich-geschichtliches. Was bedeutet dann aber das Ideal der historischen Aufklärung? Macht sie mit ihrer eigenen Geschichtlichkeit wirklich ernst? Denkt sie ihre eigene endliche Vernunft nicht am Ende doch unter der Optik Gottes, d. h. als die Allgegenwärtigkeit der Geschichte inl Verstehen? Gewiß weicht sie der Konsequenz Hegels aus und will nicht die Geschichte »begreifen«. Aber in dem Ideal des Verstehens, dem sie folgt, entwirft sie sich selbst auf eine Allgegenwart, die ihre eigene geschichtliche Endlichkeit zwar nicht bestreitet, aber vergißt. Ist die Unendlichkeit des Verstehens, auf die sie sich verlegt, nicht eine Illusion? In der Tat hat hier Nietzsche schärfer gesehen, wenn er in seiner zweiten )Unzeitgemäßen Betrachtung<, >über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben<, eine Grenzsetzung gegenüber der historischen Aufklärung vollzieht. Es ist eine »historische Krankheit«, die den Deutschen befallen habe, eine Gewöhnung, mit wechselnden fremden MJ.ßstäben und an immer wieder anderen Werttafeln zu messen. Das aber zerstöre die plastische Kraft, durch die eine Kultur allein lebensfähig sei. Jede Kultur bedürfe eines von Mythen umstellten Horizonts. Wenn die historische Vernunft sich nicht gegen das Leben wenden soll, dann muß sie in der rechten Weise Historie treiben, nicht losgelöst von dem tragenden Lebenshorizont einer Kultur. Nietzsche bleibt freilich bei dieser unzeitgemäßen Forderung in der Folge nicht stehen. Er erkannte die Unausweichlichkeit der Heraufkunft des europäischen Nihilismus aus seinen Vorzeichen und stellte ihm den verzweifelten Versuch entgegen, neue Werte zu setzen. Der Versuch einer Auslegung allen Geschehens aus dem Prinzip des Willens zur Macht überholt die Illusionen der Vernunft, indem er alle Vernunft als Illusion verstehen will. In Wahrheit ist die Vernunft des Menschen eine endlich-geschichtliche, von Illusionen gefährdet, aber nicht selber nur Illusion. Hält man freilich an dem klassischen Vernunftbegriff der Tradition in der Weise fest, daß man die historische Vernunft als das Vermögen versteht, alles Seiende, wie es war, gegenwärtig sein zu lassen, dann ist die Vernunft des Menschen wahrlich nur eine »kleine Vernunft«, »auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend«.
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Aber ist es richtig, so zu denken? Hier liegt der Punkt, auf dem die philosophische Forschung heute auf neue Wege gewiesen ist. Martin Heidegger hat in seinem epochemachenden Buche )Sein und Zeit< die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins so radikal in die Mitte des Philosophierens gestellt, daß mit den Illusionen der historischen Vernunft (Dilthey) zugleich auch ihre verzweifelte Desillusionierung durch Nietzsche hinfällig wird. Das Sein des menschlichen Daseins ist ein geschichtliches. Das bedeuete nicht, daß es vorhanden ist wie das Dasein der Natur, nur hinfälliger und wandelbarer als sie. Es bedeutet auch nicht, daß es sich als geschichtlich weiß, ein historisches Bewußtsein besitzt. Vielmehr besitzt es ein solches nur, weil es geschichtlich ist. Es ist seine Zukunft, aus der es sich in seinen Möglichkeiten zeitigt. Seine Zukunft ist aber nicht sein freier Entwurf, sondern ein geworfener Entwurf. Was es sein kann, ist, was es geworden ist. Das Ideal des universalen historischen Verstehens ist eine falsche Abstraktion, die die Geschichtlichkeit vergißt. Insofern hat Nietzsche recht: Nur wenn wir in einem uns bestimmenden Horizont stehen, können wir sehen. Nietzsche nennt solchen Horizont einen von Mythen umstellten. Auch damit hat er recht, wenn >Mythos< meint, daß etwas von schlechthin verbindlicher Sagkraft uns bestimmt. Nur ein Dasein, das Traditionen gehorcht, seinen eigenen, d. h. solchen, denen es selbst zu eigen ist, weiß und kann Entscheidungen treffen, die Geschichte machen. Auch der Einzelne kann sich nicht selber verstehen, der sich nicht vor dem Du, von dem er sich etwas sagen läßt, erfährt. Daraus folgt aber: Die historische Vernunft ist nicht das Vermögen, die eigene geschichtliche Vergangenheit in der absoluten Gegenwärtigkeit des Wissens >aufzuheben<. Das historische Bewußtsein ist selbst geschichtlich. Es erfährt so gut wie das geschichtlich handelnde Dasein eine ständige Stromversetzung, weil es nicht im Abstand der Distanz, >ästhetisch<, sondern im Strom der Geschichte steht. Zwar gehört zu ihm, daß es - sich besinnend - sich über seinen geschichtlichen Augenblick erhebt. Wir nennen das: es hat ein EpochenbeWußtsein. >Epoche< bedeutet Anhalt. Es setzt ein »idealisches« Halt inmitten des Stromes des Geschehens, von dem aus die geschichtliche Gegenwart - und in ihm entspringend auch die Vergangenheit - zu einem Geschichtsbild, d. h. zu einer Einheit von bleibendem Sinn wird. Aber als selbst geschichtliches löst es den Anhalt, den es gibt, notwendig wieder auf. Mag es sich als Verfall einer Welt verstehen oder als Geburt einer neuen, als Verfall etwa der bürgerlichen Epoche des Abendlandes oder als Beginn einer neuen planetarischen Weltordnung - als geschichtliches ist es Werden und Vergehen in eins. Von ihm gilt, auch wenn es sich primär stets als Auflösung des Alten versteht, das Wort Hölderlins: »Diese ideale Auflösung ist furchtlos. «
15. Vom Wandel in den Geisteswissenschaften (1985)
Gibt es das eigentlich? Schon wenn man es in andere Sprachen übersetzen will hat man mit dem Ausdruck »Geisteswissenschaften« Probleme. >Moral scie~ces<, das war der von lohn Stuart Mill gebrauchte Ausdruck, den der Übersetzer Schiel 1854 mit »Geisteswissenschaften« wiedergab. In Frankreich sagt man eher )lettres<, und nachdem die »richtigen « sciences, die Naturwissenschaften, ihre Vorherrschaft im öffentlichen Bewußtsein antraten, hat auch der original-englische Ausdruck >moral sciences< weichen müssen. Man sagt dann >humanities<, und allenfalls, in der toleranten Atmosphäre Nordamerikas, >human sciences<, dem in der östlichen Welt »die Wissenschaften vom Menschen« entspricht. Wörter sind furchtbar geschwätzig. Allerhand zeigt sich an solchem Wortgebrauch. Die >belleslettres< haben im romanischen Kulturkreis ein so hohes Ansehen bewahrt, daß das Auszeichnende von >sciences< von ihnen verschmäht werden konnte. >Moral sciences< wurde ähnlich rasch ungemütlich. Was war es schon mit der Wissenschaftlichkeit der Moral oder der Wissenschaft von der Moral! Nietzsche ante portas. Daß der Osten den idealistischen Ton von »Geisteswissenschaften« nicht akzeptieren kann, ist ohnehin klar. In der Tat, das romantische Erbe der Geisteswissenschaften, das Nachleben Hegels (und Schleiermachers) über Dilthey bis in unser Jahrhundert hinein, ist im Ausdruck unüberhörbar. Selbst der vom südwestdeutschen Neukantianismus bevorzugte Ausdruck »Kulturwissenschaften«, der mit dem Gegensatz von Natur und Kultur spielt und die >Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung< (so hieß ein weltweit bekanntes Buch von Heinrich Rickert) mit der Begründung der Wertphilosophie verband, wie Windelband sie zuerst eingeführt hatte, konnte gegen das romantische Erbe in der philosophischen Kultur Deutschlands nicht aufkommen. Gewiß war der Hegelsche Nachlaß von der historischen Schule ausgeschlagen worden; sie schrak vor der Konstruktion der Hegelschen Begriffsschematik zurück, als sie ihren Kampfum Gleichberechtigung mit den Erfahrungswissenschaften und der >Induktiven Logik( führen mußte. Vom Schatten der Naturphilosophie Schellings und Hege1s, diesem Prügelknaben des siegreichen Fortschritts der Forschung, hieß es
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sich frei machen. Und doch, daß »Geist« immer vom Geiste Hegels war, ließ sich auf die Dauer nicht verleugnen. Als Dilthey im Kampf gegen die naturwissenschaftlich orientierte Mißgeburt der damaligen Psychologie das hermeneutische Erbe antrat, das in der Nachfolge Friedrich Schleiermachers auf ihn gekommen war, und als er die Wendung zu Hegel vollzog, die vor allem in seiner >Jugendgeschichte Hegels< zu Worte kam, schlug die Stunde einer abermaligen» deutschen Bewegung«. Das ist ein Ausdruck, der von Dilthey und der Dilthey-Schule für die Entwicklung der Epoche>Von Kant zu Hegel< gebraucht worden ist. So hieß auch das erfolgreiche Buch von Richard Kroner, das nach dem Ersten Weltkrieg zur Wirkung kam. Gleichzeitig konnte Rothacker in seiner >Einleitung in die Geisteswissenschaften< selbst die historische Schule der Tatsache überführen, daß sie ganz und gar in der Wirkungsgeschichte Hegels stand. Das Wirken Hegels zeichnete sich überall ab. Cassirers >Geschichte des Erkenntnisproblems< behandelte in einem dritten Band Hegel mit erstaunlicher Liberalität. Georg von Lukacs, Ernst Bloch und viele andere, die bei Windelband in Heidelberg studierten, waren ganz in das Hegeische Erbe eingetreten. Der objektive Geist, der Geist der Sittlichkeit, der Geist, der in Familie, Gesellschaft, Staat herrscht, der Geist, der den einzelnen Kämpfer und die Truppe beseelt oder das ganze öffentliche Leben beherrscht, das sind Weisungen unserer Sprache aufein Objektives hin, das Geist ist. Dem mußte auch das historische Denken folgen. Freilich, was war solch objektiver Geist? Das unbestimmte Fluidum, das die Menschen und die Einrichtungen beleben kann oder aus ihnen geschwunden ist - ist das ein objektiver Tatbestand, den die Wissenschaft mit ihrer Methodenstrenge, ihrem Selb~tbe wußtsein und ihrem Bestehen aufSelbstvergewisserung >feststellen< kann?Ja, kann überhaupt ein Beobachter von außen dergleichen erkennen, ohne von ihm ergriffen zu sein? Es war die »Philosophie des Lebens«, Dilthey und Nietzsche, Bergson und die deutsche Neuromantik, was man nun in den philologisch-historischen Wissenschaften als etwas N eues wirksam erkannte. Das mußte zum Konflikt mit dem herrschenden Neukantianismus führen und damit wurde das historische Bewußtsein, diese große Errungenschaft de~ 19.Jahrhunderts, zum radikalen Historismus zugespitzt. Schon Dilthey sprach von dem unergründlichen Antlitz des Lebens und suchte das »Gespenst des Relativismus« durch seine Typenlehre der Weltanschauungen zu vermeiden. Sie entsprächen der Mehrseitigkeit des Lebens; der Relativismus sei nicht ein Mangel unserer Wissenschaftlichkeit, sondern der Aspektreichtum des Lebens selbst. Das war keine Lösung. Auch Ernst Troeltsch verfiel in seinen großartigen geschichtlichen Studien zum Problem des Historismus diesem selbst und hatte keine Lösung anzubieten. Lediglich Husserls Manifest für >Philosophie als strenge Wissenschaft<, jener berühmte Aufsatz vomjahre 1910, der den Konflikt mit Dilthey heraufbeschwor, glaubte die Gefahr des
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Relativismus und Skeptizismus, die hier drohte, zu bannen - ein letzter, ein Pyrrhus-Sieg des Neukantianismus, zu dem sich Husserl damals ganz zu bekennen schien. War das noch möglich? Erwartete man von der Phänomenologie, die Husserls Lehre wie eine neue Heilsbotschaft verkündet hatte, nicht etwas aI1deres, etwas von der neuen Unmittelbarkeit, Konkretion und Fülle des Lebens? Und überdies, hier war - nach Marx, nach Nietzsche, nach Freudwieder die apriorische Evidenz des Selbstbewußtseins, wie sie in Descartes' »hyperbolischer Zweifelsmeditation« als Basis letzter Gewißheit erwiesen worden war, das >fundamenturn inconcussum< aller Gewißheit - war das wiederholbar? Und welches andere Maß der Wahrheit sollte es geben, als diese Gewißheit? Der Zusammenbruch des Idealismus konnte nicht ausbleiben. Die Zeiterfahrungen taten das ihrige. Der Wahnsinn der Materialschlachten des Ersten Weltkrieges, die dem Krieg als solchem seine letzte Ehre genommen hatten, die Erschütterung des liberalen Fortschrittsglaubens angesichts des selbstmörderischen Nationalismus dieses Krieges, die Wiedererweckung neuer religiöser Bewegungen und die Wiederentdeckung alter religiöser Eideshelfer, wie Kierkegaard einer war, der das Pathos der Existenz in sich verkörperte - all das hatte auch in den Wissenschaften seine Entsprechung. Es war die Zeit der Grundlagenkrisen in den Wissenschaften: Da war die Grundlagenkrise in der Theologie, die durch Karl Barths Römerbrief-Kommentar zur Formation der dialektischen Theologie führte, die Krisis in der Ökonomie, die durch die gewaltigen weltwirtschaftlichen Veränderungen der Kriegs- und Nachkriegszeit heraufzog, die Krisis in der Mathematik, die mit dem Intuitionismus eines Brouwer heraufzog, und die Krisis der Physik durch Einsteins Relativitätstheorie - die allgemeine Verwirrung der Geister mußte vergeblich der Heilsbotschaft der Phänomenologie Husserlscher Observanz lauschen. Die Wellen der Lebensphilosophie überschlugen sich in der allzu starken Strömung. Das mußte in den Geisteswissenschaften mit besonderer Stärke hervortreten. Bezeichnend war, wie damals die unnahbare akademische Autorität Wilhelm Diltheys Breitenwirkung gewann. Seine >Einleitung in die Geisteswissenschaften< von 1883 hatte die Legitimation der Geisteswissenschaften zwar schon betrieben, die das nachhegelsche Zeitalter verlangte. Aber das war ganz im Rahmen wissenschaftstheoretischer Esoterik geblieben. Jetzt, in der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, fand der Name Wilhelm Diltheys durch ein neu ediertes Buch, das auf weit ältere Studien zurückging, >Das Erlebnis und die Dichtung<, eine überraschende Verbreitung. Hier schien in der Geistigkeit des Verstehens von Dichtung die Unmittelbarkeit des Lebens endlich erreicht. Ebenso brachten die Gestaltbiographien des Georgekreises einen neuen
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Ton, den man nicht überhören konnte .... ",,"enn auch die esoterische Haltung des Eingeweihten manchen Widerstand wecken mochte. So gab es manche Gegenbewegung, so die Gründung der Zeitschrift >Die Antike< durch Werner Jaeger, den Nachfolger von Wilamowitz auf dem Berliner Philologenthron, und sein Eintreten für einen neuen Humanismus. Ich erinnere an den Darmstädter Kreis der »Schule der Weisheit«, an den Grafen Keyserling. Vor allem aber kam es an den Universitäten selbst, in Theologie und Philosophie, zu neuen Aufbrüchen. Die dialektische Theologie, die der historischen Bibelwissenschaft scharf zusetzte, und ebenso die Philosophie wirkten auf die Geisteswissenschaften in neuer Weise ein, sei es durch das enzyklopädische Genie von Max Scheler, sei es durch die Ausgabe der gesammelten Schriften von Dilthey, die erst seine ganze Potenz zur Wirkung brachten. Die Fortsetzung dieser Ausgabe in den letzten Jahren hat sozusagen eine zweite, eine Nachblüte dieses ersten großen Impulses gebracht, der von Wilhelm Diltheys gesammelten Werken und hinterlassenen Manuskripten ausging und ausgeht. In erster Linie aber war es das Pathos der Existenz, das in der Aufnahme Kierkegaardscher Anstöße in den Geisteswissenschaften der zwanzigerjahre seine Wirkung tat. Es waren vor allem KarlJaspers und Martin Heidegger, in denen sich viele Antriebe der Husserlschen Phänomenologie und des Diltheyschen Geschichtsdenkens vereinigten. Jaspers -war ein geschulter Psychiater, dem die Riesenfigur des großen Soziologen Max Weber eine dauerhafte Prägung gegeben hat, sofern für sein moralistisches Engagement die beispielhafte Wucht Max Weberscher Forschungsgröße eine beständige Mahnung blieb. Auf der anderen Seite war es Martin Heidegger, der als katholischer Theologe begann, durch Husserl in die phänomenologische Deskriptionskunst eingeweiht wurde und der inmitten des herrschenden neukantianischen Apriorismus die Impulse Diltheys von früh an auf eigene Faust in sich aufnahm. Seine spekulative Kühnheit forderte zwar die Arbeit der Wissenschaft oft heraus, aber der Impuls, der von ihm ausging, war mächtig. Als das Jahr 1933 mit seinen verheerenden Folgen den Stand der geisteswissenschaftlichen Forschung traf, war das noch viel tiefgreifender in seiner Wirkung, als es in den Naturwissenschaften der Fall war. Zwar mußten auch dort international höchst qualifizierte jüdische Forscher Deutschland verlassen, aber immerhin ermöglichten die unbestechlichen Maßstäbe der naturwissenschaftlichen Forschung die Verteidigung eines festen Niveaus. Dagegen war es klar, daß einem Geisteswissenschaftler nur eine reduzierte Pflege der großen Tradition der historischen Geisteswissenschaften möglich blieb. Zahllose Geisteswissenschaftler von Rang verließen Deutschland. Viele von ihnen haben etwas von der romantischen Tradition der deutschen Geisteswissenschaften in den neuen Kontinent hinübergebracht. Wer in Deutsch-
land zurückblieb, mußte ebenso wie die nachrückende jüngere Generation sich in seinen Arbeitsvorhaben vorsichtig arrangieren, wenn er vermeiden wollte, sich gleichzuschalten und sich damit wissenschaftlich zu kompromittieren. Ganze Disziplinen, vor allem in den Sozialwissenschaften, lagen damieder. Das einzige Element, das die Geisteswissenschaften trug, war die Bildungsreligion d.es Bürgertums. Aber gewiß wurde das nicht gerade gefördert. Dazu kam die zunehmende Isolierung, die der N ationalsozialismus für die Wissenschaft brachte. Beim Wiederaufbau nach dem Kriege mußte das seine Folgen zeigen. Wie alle Wissenschaften sind auch die Geisteswissenschaften auf Kontinuität angewiesen. 1933 bedeutete einen Bruch, der erst inJahrzehnten zu überwinden war. Die philologisch-historischen Wissenschaften waren innerhalb der Geisteswissenschaften die einzigen, die, nach Reinigung von allen Deformationen, an eine fortlebende Tradition anknüpfen konnten. Alles andere fehlte. So kam es, daß sich mit dem Voranschreiten der industriellen Revolution, das die Nachkriegswelt kennzeichnet, zugleich ein Stilwechse1 in den Geisteswissenschaften vollzog. Es war ein enormer Nachholbedarf, der hier das Gleichgewicht veränderte. In den Sozialwissenschaften war es einerseits das Erbe Max Webers, das wirksam wurde, und auf der anderen Seite die politisch-instrumentierte Wiedererweckung des Marxismus, die neue Fragestellungen in die Geisteswissenschaften einführte. Sozial- und Kulturgeschichte lösten die Dominanz der politischen Geschichte ab. Ähnlich war es mit der Psychoanalyse. Sie war aus dem öffentlichen Bewußtsein so sehr verschwunden gewesen, daß ihre Rückkehr in weiten Bereichen der Geisteswissenschaften eine wahre Überresonanz haben mußte. So kamen aus all den Ländern, in denen die europäische Aufklärungsbewegung nie eine so starke Aufklärungskritik erfahren hatte, wie die deutsche Romantik es war, neue Antriebe, die das Gesicht der Geisteswissenschaften mehr und mehr verändern. Mit den neuen Fragestellungen führten sich ganz neue Sprechweisen ein. Englische und französische Ausdrücke fanden Aufnahme und gehören heute zum selbstverständlichen Sprachgebrauch fast aller Autoren. So redet man etwa von Sozialisation oder von Diskurs, als ob das deutsch wäre. Man fragt sich, ob das breite Spektrum der neuen, sozialwissenschaftlich orientierten Forschung nicht am Ende auch den Ausdruck »Geisteswissenschaften« verdrängen wird. Auch die Entfaltung der Wissenschaftstheorie aller Schattierungen, die an den Naturwissenschaften maßzunehmen gewohnt war, trug zu dieser Veränderung bei. Ja, der ein Jahrhundert lang ständig diskutierte Gegensatz von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ist in den Augen vieler moderner Theoretiker nicht mehr existent. Insbesondere die Fortschritte der Physik und der Astrophysik haben in unseren Jahrzehnten inAdie naturwissenschaftliche Forschung eine Zeitdünension eingeführt, die auch dem Na-
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turforscher nahelegte, von >Geschichte< zu sprechen: Geschichte der Erde, Geschichte des Lebens, Geschichte des Weltalls 1 . Vollends unter dem Maßstab der Evolution des Universums erscheinen die paar Jahrtausende geschichtlicher Überlieferung, die den traditionellen Gegenstand der Geisteswissenschaften ausmachen, als eine fast belanglose Winzigkeit, im Vergleich zu den Räumen und Zeiten unserer Evolution. Sind die Geisteswissenschaften vielleicht nur ein untergeordnetes Anwendungsgebiet der Evolutionstheorie? Auch in den historischen Wissenschaften sind die Einflüsse einer technologisch geprägten Denkweise unverkennbar. Wir wollen der Diskussion nicht vorgreifen. Jedenfalls hat sich das Gesicht der Geisteswissenschaften in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert. Es wird die Aufgabe unserer Tage sein, im Kräftespiel der verschieden gewichteten Forschungstendenzen ein neues Zusammenspiel, ein neues Gleichgewicht und am Ende doch neue Einsichten des Menschen in sich selbst heraufzuführen, die dem Namen }> Geisteswissenschaften « Ehre machen.
1 Siehe dazu im folgenden den Beitrag >Geschichte des Universums und Geschichtlichkeit des Menschen< (Nr. 18).
16. Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule (1991)
Es ist die Dilthey-Schule, die in Göttingen bis zum heutigen Tage als eine lebendige geistige Tradition fortbesteht, aus der der Autor FrithjofRodi, ein Schüler von Otto Friedrich Bollnow, stammt. Georg Misch, der auch einmal kurze Zeit in Marburg Professor gewesen ist, war der Schwiegersohn von Dilthey, der mit Paul Natorp in Marburg und mit Edmund Hu~serl in Kontakt war. Er hat nach dem Ersten Weltkrieg dann in Göttingen eine fortdauernde Wirkung entfaltet. Rodi knüpft an diese Tradition heute von Bochum aus an. Ihm verdanken wir die tatkräftige Fortführung der Ausgabe des noch immer nicht ausgeschöpften Nachlasses von Wilhelm Dilthey. Auch dem Umfange des Nachlasses nach war Dilthey einer der letzten großen Repräsentanten einer vergangenen Form von Gelehrsamkeit, von unermüdlicher Arbeitskraft und von ungebrochener Zuversicht in den Fortschritt der wissenschaftlichen Kultur. Das vorliegende Buch1 von Rodi ist jedoch nicht nur der Dilthey-Schule und dem DiltheyschenVermächtnis gewidmet, sondern im besonderen der Frage, welche Bedeutung der Anteil Diltheys und seiner Schule für die heutige Hermeneutik besitzt. Es geht also um die Auseinandersetzung mit den Impulsen, die von Heidegger aus auf die spätere Dilthey-Rezeption seit den 20er Jahren ausgegangen sind. Auch diese Form der Dilthey-Rezeption ist auf das engste mit dem Namen Georg Misch verbunden. Schon seine Einleitung zu dem 5. Band der Dilthey-Ausgabe hat auf Heidegger einen starken Einfluß ausgeübt. Schließlich stellt Mischs Buch >Lebensphilosophie und Phänomenologie<, am Anfang der 30erJahre, die wohl einzige bleibende Antwort auf das große Ereignis der Veröffentlichung von Heideggers >Sein und Zeit< dar. Misch hat in diesem Buch eine vorsichtig abwägende und besinnliche Analyse der phänomenologischen Denkweise gegeben, die durch Edmund Husserl begründet war und durch das neue Buch von Heidegger eine hermeneutische Wendung genommen hatte. Die Phänomenologie rückte damit auf überzeugende Weise in die Nähe des Diltheyschen 1 FRITHJOF RaDI, Die Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20.Jahrhunderts. Frankfurt 1990.
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Lebenswerkes. Außer Heideggers ausdrücklichem Bekenntnis in )Sein und Zeit<, das der gesamten Lebensarbeit Diltheys gilt, spielte dabei auch der schon imJahre 1923 erschienene Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Yorck von Wartenburg eine wichtige Rolle. Wie wir alle, die jungen Leute von damals, aufdiesen Briefwechsel mit Bewunderung flir den gräflichen Freund Diltheys reagierten, so war gewiß Heidegger der erste, der das mit einer entschiedenen, ja geradezu mit einer schroffen Option für den Part tat, den GrafYorck in diesem Briefwechsel spielte. Graf Yorck von Wartenburg war ein hochgebildeter und sehr gelehrter Mann. Als schlesischer Gutsherr war er aufKlein-Öls ansässig. Er besaß einen Grad von Souveränität und Unabhängigkeit, wie ihn auf Gebieten gelehrter und philosophischer Diskussion ein Mann der akademischen Welt, ein Universitätsprofessor, wie Wilhelm Dilthey es war, gewiß nicht in demselben Grade besitzen konnte. Der Briefwechsel ist alsbald unter dem Einfluß von Heidegger auch von manchem seiner Schüler, von Fritz Kaufmann, von Ludwig Landgrebe u. a. in seinem philosophischen Ertrag gewürdigt worden. Er stellte eine nicht überhörbare Stimme dar, die der Lutheraner Graf Yorck, tiefverwurzelt in seiner religiösen Berufsauffassung und preußischen Grundgesinnung, zur Geltung brachte. Er übte in diesem Briefwechsel eine wahrhaft vernichtende Kritik an dem Wissenschaftsbegriff, in dem sich die historische Schule verstand. Auch ihr großer Begründer, Leopold von Ranke, der in allgemeinem und beherrschendem Ansehen stand, wurde von ihm nicht geschont. Die überzeugte und überzeugende Kritik, die GrafYorck da geltend machte, hat sowohl durch die Schärfe ihrer Argumente wie durch den Hintergrund religiöser Grundgesinnung und durch den souveränen Lebensstil des Verfassers aufDilthey einen unauslöschlichen Eindruck gemacht. Es war die innere Sicherheit und Freiheit des Geistes, die Dilthey an diesem ihm geistig ebenbürtigen Partner bewunderte. Eine solche Erscheinung, wi~ sie dieser GrafYorck darstellte, fand in den kritischen Jahren nach dem Sturz des deutschen Kaiserreiches eine enorme Resonanz. Sie galt vor allem den kritischen Aspekten, die sich hier gegenüber der Wissenschaftsgesinnung des 19. Jahrhunderts und in den Geisteswissenschaften bekannten. Auch der junge Heidegger hat damals auf ähnliche Weise, wie wir inzwischen immer deutlicher sehen, ein steigendes Ungenügen an der Universitätsphilosophie und ebenso an der christlichen Theologie der Zeit empfunden. Wir sahen alle in dem Grafen einen tief skeptischen Beobachter der ganzen akademischen Welt und insofern ein wahres Vorbild flir uns selber. Dilthey selbst sah sich dagegen mehr als den Liberalen, dem es zwar nicht an Bewunderung für die religiöse Überlieferung des Christentums und insbesondere für Luther fehlte; indessen war er doch von der Wissenschaftsgesinnung des 19. Jahrhunderts weit stärker ergriffen als der unabhängige Gutsherr von Klein-Öls.
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Auf uns Studenten der Philosophie mußte dieser Briefwechsel wie ein Aufruf und wie eine Befreiung wirken, die wir damals ganz in der Kathederphilosophie des neukantianischen Apriorismus und der transzendentalen Phänomenologie erzogen waren. So habe auch ich von früh an in meinen eigenen Arbeiten meinen Beitrag zu der Forschungsrichtung zu geben versucht, die Dilthey ausgelöst hatte und die Heidegger mit Wucht und mit Kritik aufnahm. Das tritt in einigen Kapiteln meines Buches von 1960 deutlich zutage, und später habe ich nochmals unter dem Titel >Zwischen Romantik und Positivismus< (1984) den wissenschaftstheoretischen Ort Diltheys von 'den philosophischen Fragestellungen der Hermeneutikaus zu bestimmen gesucht2 • Das kleine neue Buch von Rodi ist dieser Auseinanderseq;ung gewidnIet. Hier werden mit großer Sorgfalt und Kenntnis die auch von mir behandelten Figuren eines Schleiermacher, Droysen, Boeckh - und schließlich Dilthey selbst - durch neue. differenzierte und genaue Beiträge beleuchtet. Die Absicht des Verfassers ist freilich nicht nur, hier eine gelehrte Nacharbeit zu meiner eigenen Behandlung der Vorgeschichte der Hermeneutik hinzuzufügen. Es geht um eine kritische Auseinandersetzung im Namen des Erbes Diltheys. Das Buch nimmt zum kritischen Leitmotiv die _problematische Unterschei~ung einer traditionellen Hermeneutik von einer philosophischen Hermeneutik, wie sie von mir vorgenommen worden ist. Das -bedarf in der Tat einer genaueren Bestimmung. Der von mir gebrauchte Ausdruck »traditionelle Hermeneutik« ist für die romantische und spätere Hermeneutik nur soweit richtig, als es sich um eine Weiterentwicklung der älteren traditionellen Methodenlehre handelt. Diese Hermeneutik war insofern traditionell, als sie vor allem Methodenlehre sein wollte und als solche in der Jurisprudenz, der Theologie und der Philologie ihren wissenschaftstheoretischen Ort hatte. Schleiermacher und Schlegel, bis hin zu Dilthey und Heidegger, die in meiner eigenen Analyse eine Rolle spielen, gehören alle nicht zu der älteren Methodenlehre, die nirgends den Anspruch erhob, den von ihnen betriebenen Wissenschaften eine neue Begründung und eine Rechtfertigung ihres Wissenschaftscharakters zu geben. Den Druck der Erkenntnistheorie gab es ja noch nicht. Schleiermacher war der erste, der, vom Geiste der Romantik zutiefst erfüllt, dem Problemzusammenhang des Verstehens den weitesten Raum geöffnet hat. Ihm verdanken wir auch die Betonung des Gesprächs als der lebendigen Urform aller Verständigung und allen Verstehens. Zusammen mit Friedrich Schlegel hat er bekanntlich die Bedeutung der Dialogform im Plato2 Siehe dazu >Das Problem Diltheys. Zwischen Romantik und Positivismus< in Ges. Werke Bd. 4 (Nr. 28). Vgl. auch die folgenden Aufsätze dort, S. 425ff.
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nischen Werk in ihrer Tragweite und in ihren Hintergründen erfaßt und durch seine Übersetzung erschlossen. Gleichwohl wirkte auch bei Schleiermacher die ältere, im engeren Sinne traditionelle Hermeneutik noch weiter. Selbst er behandelt die Hermeneutik im Nebeneinander mit der >Kritik<, einer alten philologischen Methodendisziplin, und läßt erst in Abgrenzung von ihr die >Dialektik< folgen. Ich habe selbst bekennen müssen, daß die innere Nähe und Untrennbarkeit der Schleiermacherschen Dialektik von den philosophischen Problemen der Hermeneutik in meiner Darstellung nicht genügend gewürdigt war. Indessen, noch Dilthey, der selbst in seiner berühmten Abhandlung vom Jahre 1900 die Entstehung der Hermeneutik von ihren Anfangen an dargestellt hat, hält bis in seine letzten Arbeiten daran fest, daß der begriffliche ~ahmen, innerhalb dessen er die Geisteswissenschaften zu begründen unternahm, Psychologie hieß und nicht etwa Hermeneutik. Nur innerhalb der Psychologie haben für ihn die hermeneutischen Probleme ihren Platz. So zeichnet es sich bis in den Wortbestand hinein ab, wie das an der in den zwanzigerjahren vollendeten achtbändigen Ausgabe von Diltheys Werken deutlich ist, daß sich die fundamentale Stellung der Hermeneutik erst langsam in ihrer grundsätzlichen Tragweite durchgesetzt hat. Es geschah im Grunde erst durch Diltheys spätere Wirkung und vor allem durch seine Schule. Hier kommt Georg Misch das entscheidende Verdienst zu. Ihm verdankt man, daß seine Aufnahme der neuen Heideggerschen Anstöße zum Anlaß wurde, Diltheys »Lebensphilosophie« im ganzen darzustellen. Dabei rückte er die hermeneutischen Probleme in den Mittelpunkt und grenzte Dilthey gegen die Phänomenologie, gegen Husserl wie gegen Heidegger, ab. Auch die >Dilthey-Fibel<, wie Bollnow sein verdienstvolles frühes Buch genannt hat, ist ihm darin gefolgt. Für die Ausbildung meiner eigenen philosophischen Ideen gilt ebenfalls, daß der Anstoß durch Heidegger zur Aneignung der Ideen Diltheys führte. Ich kann heute kaum noch ermessen, was in diesen vorbereitendenJahren, in denen meine eigene hermeneutische Philosophie, wenn man das so ausdrücken darf, ihre ersten Keime zeigte, die Aussaat mitbewirkt hat, die Misch in seinem großen kritischen Buch ausgestreut hatte. Auch H. Lipps' >Hermeneutische Logik< hat in der Folge auf mich eingewirkt. So las ich den zweiten Band von Bollnows >Studien zur Hermeneutik<3 im ganzen wie eine Wiederbegegnung mit meinen eigenen vorbereitenden Jahren. Mittlerweile ist die lang erwartete Ausgabe der Vorlesung von Misch, über die Bollnow berichtet, zugänglich geworden4 •
Inzwischen haben die Bände 19 und 20 der von Rodi weitergeführten Dilthey-Ausgabe Unveröffentlichtes aus Diltheys Nachlaß vorgelegt 5 . Das könnte neues Licht darauf werfen, wieweit sich die hermeneutische Wende bei Dilthey selbst vorbereitet, welche auch Misch und Bollnow aufihn selbst zurückführen. Jedenfalls hat sich wohl, wie im Falle Heideggers und seiner Schüler, auch im Falle Diltheys die hermeneutische Wende vor langer Hand vorbereitet. Schon damals, als der 4. und 5. Band der Dilthey-Ausgabe erschien, haben wir Jüngeren in einer Richtung weitergedacht, die gewiß durch Heidegger angeregt, aber noch keineswegs durch Heideggers eigene Veröffentlichungen zu belegen war. Das gleiche dürfte wohl auch für die letzte Generation der Dilthey-Schule gelten, zu der Misch und Nohl zählten. Da hatte der alte Dilthey wohl schon manchem zur Entwicklung verholfen, wovon wirjetzt die ersten Anregungen im Diltheyschen Nachlaß wiederfinden. Immerhin sollte zu dieser Frage hier ein Zeugnis erwähnt werden: Ein Dilthey so verbundener Mann wie B. Groethuysen hat in den frühen dreißiger Jahren mir gegenüber sein Erstaunen geäußert, daß wir inzwischen in Dilthey nicht nur den Historiker sahen, sondern auch an seiner Philosophie Interesse nahmen. Dem entspricht, daß die damalige schnelle Ausbreitung der Typologie - etwa bei Troeltsch, Spranger, Rothacker, Freyer - offenbar eine Spätwirkung Diltheys war. Ganz unzweifelhaft dürfte es aber im Falle Mischs zutreffen, daß er Dilthey in Richtung auf Dilthey wirklich weitergedacht hat. Das wird insbesondere an der steigenden Bedeutung sichtbar, die die Poetik und die Lebensphilosophie in den späten Jahren Diltheys erkennen läßt. >Das Erlebnis und die Dichtung< hat durch seinen überraschenden Erfolg eigentlich erst die volle Gegenwart Diltheys für die damalige Jugend herbeigeführt. So mag, wie die neuen Nachlaßbände dartun, . .:. auch in der jetzt publizierten Vorlesung von Georg Misch - vieles ein Weiterdenken Diltheys gewesen sein6 • So geht aus allem hervor, daß mit der bloßen Gegenüberstellung oder Verhältnisbestimmung zwischen dem, was ich später in >Wahrheit und Methode< » traditionelle Hermeneutik « nannte und von einer philosophischen Hermeneutik unterschied, in Wahrheit eine gemeinsame Aufgabe gestellt ist. Sie hat eine lange Vorgeschichte. Es ist kein Zweifel, daß erst
3 Orro FRIEDRICH BOLLNow, Studien zur Hermeneutik. Bd.2: Zur hermeneutischen Logik von Georg Misch und Hans Lipps. Freiburg/München 1983. 4 GEORG MISCH, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens. Hrsg. von G. KOHNE-BERTRAM und F. RODI. Freiburg/München 1994.
5 WILHELM DILTHEY, Gesammelte Schriften. Bd.20: Logik und System der philosophischen Wissenschaften. Vorlesung zur erkenntnistheoretischen Logik und Methodologie (1864-1903). Hrsg. von H.-V. LESSING und F. RODI. Göttingen 1990. 6 Der neue Band 20 hat seine besondere Bedeutung darin. daß er die bruchstückhafte Überlieferung von Diltheys unvollendeten Arbeiten. die Band 19 vorlegte. nun aus den Vorlesungsnachschriften ergänzt und die systematische Kohärenz des Ganzen deutlicher macht. Der Herausgeber weist ferner mit Recht auf den späten Entwurf der Baseler )Logik( hin, wo der §27 über »Intuition« auffällt und bereits den großen Arbeitsplan ankündigt. dem Dilthey seine ganze Lebensarbeit gewidmet hat.
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durch das Ende der Metaphysik in dem griechisch-mittelalterlichen und i.rn Schulsinne der Neuzeit, also erst mit Kants Kritik der »dogmatischen Metaphysik«, und schließlich mit Hegels Wiederaufnahme der Metaphysik in seiner dialektischen Logik, die sogenannten Geisteswissenschaften ihre philosophische Funktion erhielten. Sie hatten die Auseinandersetzung mit der konstruktiven Schematik der Hegeischen Dialektik zu bestehen. Es ist der Aufgang des historischen Bewußtseins im Zeitalter der Romantik, der den philosophischen Aspekten der historisch-philologischen Wissenschaften ihr philosophisches Gewicht gibt. Insofern entspricht es durchaus der Sachlage, daß die kritische Auseinandersetzung mit meinen eigenen philosophischen Versuchen vor allem aufdie Romantik zurückgegangen ist. Manfred Frank u. a. haben durchaus mit Recht betont, daß der Aspekt der Wissenschaftstheorie und die Problematik der Wissenschaft innerhalb der romantischen Wendung des europäischen Geistes noch gar nicht den eigentlichen Gegenpol darstellen konnten. Die Worte sprechen hier eine unmißverständliche Sprache. Erst in dem heute üblichen Begriff der »Geisteswissenschaften« hört man mit Notwendigkeit den Gegenbegriff der Naturwissenschaften mit. Darüber hinaus klingt in dem »Geist« der Geisteswissenschaften das Erbe des deutschen Idealismus noch nach, und insbesondere das Erbe Hegels. Das zeigt sich vor allem in den Konnotationen, die dem Begriff »Geist« einwohnen, und dem entspricht auch die Tatsache, daß es im Grunde die Psychologie war, die, als nach Hegels Tod die neue Wendung zu den Erfahrungswissenschaften auf die Philosophie übergriff, zur Erbin der Hegelschen Synthese berufen wurde. Man denke nur an die Wirkung Herbarts und Lotzes. Das prägt sich in dem philosophischen Werk Diltheys unverkennbar aus. Als ich jedoch die Zwischenstellung Diltheys, wie ich es nannte, 1984 noch einmal erörterte, habe ich mit Bedacht nicht »zwischen Hermeneutik und Positivismus« gesagt, sondern »zwischen Romantik und Positivismus«. Das sollte zum Ausdruck bringen, daß ich in Dilthey das reiche Erbe der Romantik, das auch die Dilthey-Schule pflegt, anerkenne. Es lebt in den Theorien und den Begriffsbildungen eines August Boeckh, Droysen oder eben in Dilthey und Misch und in vielen anderen fort. Wir stehen alle in diesem Erbgange. So ist es wahrlich keine Überraschung, wenn bei Rodi in der Reihe der philosophischen Beiträge zur Hermeneutik Schleiermacher und Schlegel begegnen7 . Aber auch Meister der philologischen Arbeit, die Rodi behandelt, wie August Boeckh, lassen sich gewiß nicht auf die methodologischen Ansprüche, mit denen er sich präsentiert, beschränken, auch wenn es sich um eine für reine Philologen gehaltene und jahrzehntelang wiederholte 7 Letzteren beginnen wir ja erst wirklich durch die Ausgabe wieder zu seiner vollen Präsenz zu bringen.
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verdankte neue
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Vorlesung handelt, die als solche - und nicht als »Hermeneutik« - schließlich herausgegeben wurde. Wenn Rodi den Titel seines kleinen Buches )Die Erkenntnis des Erkannten< aus Boeckh entnimmt, so hat er gleichwohl der Sache nach durchaus recht, wenn er den Begriff des »Erkannten« wie einen Generalindex interpretiert, in dem sich die ganze Weite, ja die Universalität der Hermeneutik zu Worte meldet. Radi weist darauf hin, daß die Formel »Erkenntnis des Erkannten« im Grunde auf das griechische Wort für das Lesen, anagignoskein, zurückweist. Lesen ist eben vor allem Wiedererkennung, und Erkenntnis ist, wie ich selbst zu zeigen versucht habe, immer Wiedererkenntnis. Damit nähern wir uns dem eigentlich kritischen Punkt. Es geht um den Wissenschaftsbegriff und um die der neuzeitlichen Wissenschaft eigenen Begriffe von »Methode« und »Objektivität«. »Methode« klingt zwar schön griechisch, aber als modernes Fremdwort meint es etwas anderes, nämlich ein Instrument für jegliche Erkenntnis, wie Descartes seinen )Discours de la Methode< genannt hat. Als griechischer Ausdruck meint das Wort die Vielfalt, mit der man in Sachgebiete eindringt, zum Beispiel als Mathematiker oder als Baumeister oder als über Ethik Philosophierender. Auch »Objektivität« klingt sehr ehrwürdig, hat aber ebenfalls eine etwas andere Bedeutung. Es meint durchaus nicht das Reale, nicht das Ziel von allem, sondern das jeweils zum Gegenstand Gemachte, das )obiectum<. Noch in dem ständigen Sprachgebrauch von »Gegenstand« spricht sich die Rolle dieses Wissenschaftsbegriffs und sein Hintergrund aus, die neuzeitliche Willensstellung der europäischen Kultur. Die neuzeitliche Wissenschaft ist eine mächtige Wirklichkeit, mit der sich am Ende auch das romantische Denken ständig konfrontiert sieht und die im Grunde die Kultur der Aufklärung auf der ganzen Welt beherrscht. In dem Briefwechsel Yorck/Dilthey ist die Mächtigkeit dieser Wirklichkeit auf Schritt und Tritt spürbar, nicht nur in dem leisen, aber bestimmten Widerstand, den der Graf öfters gegen Diltheys akademische Urteile vorbringt. Ich möchte die vielen Zeugnisse in Diltheys Lebensverständnis, die von der Macht der Wissenschaft mit Emphase sprechen, nicht wiederholen. Sie sind im Grunde allen Dilthey-Kennern wohlbekannt. (Ich habe ihre Wirksamkeit bis in Druckfehler hinein zeigen können.) Es geht also in der Gegenüberstellung, die ich von traditioneller Hermeneutik und philosophischer Hermeneutik vornahm, nicht darum, daß ich dem großen Erbe der Romantik seine philoc;ophische Relevanz abstreite, sondern daß die Späteren durch die Ansprüche der Erfahrungswissenschaften herausgefordert waren und daher ihr wissenschaftliches Selbstverständnis ihrerseits durch Methode und Objektivität rechtfertigen mußten - und freilich an einem einseitigen Methodenbegriff und Objektivitätsbegriff die Kritik schuldig blieben. Es geht noch weniger darum, daß etwa die Unergründlichkeit des Lebens - eine für
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Dilthey tragende Überzeugung - durch das Objektivitätsstreben der Wissenschaft und die relative Festigkeit ihrer Ergebnisse hinfällig würde. Auch wenn man den pantheistischen Sinn dieses Diltheyschen Lebensbegriffs mithört, bleibt es doch eine sehr privative Charakteristik des »dunklen Antlitzes des Lebens« und ist VOn der Wissenschaft her und angesichts ihrer Begrenztheit gedacht.
getäuscht. Rodi spricht von einer »vorübergehenden Annäherung« im Denken von Georg MischB • Rodi verschärft die Verengung, die darin liegt, noch dadurch, daß er eine Vorstufe von Heideggers )Sein und Zeit<, die inzwischen bekanntgewordenen Kasseler Vorträge Heideggers über Dilthey (vom Jahre 1924) heranzieht. Darin nimmt Heidegger bereits auf die große Einleitung Bezug, die Misch dem Band 5 von Diltheys Schriften vorausgeschickt hat. Rodis Behandlung dieses Fundes der Kasseler Vorlesungen ist sicherlich dankenswert. Es ist ein wichtiges Kapitel von Heideggers Dilthey-Rezeption, die bisher nur aus )Sein und Zeit< bekannt war. Aber Rodis geplante Auseinandersetzung darf sich nicht auf )Sein und Zeit< und seine Vorstufen beschränken. Es ist bekannt, daß Heidegger später den Ausdluck »Hermeneutik« kaum noch gebraucht. Offenbar will er die eigene Richtung auf die Seinsfrage, die sein Denken leitet, vor dem Mißverständnis bewahren, als ob es sich inder Seinsfrage um unser eigenes Fragen handelte und nicht vielmehr um unser Gefragtsein 9 • Aber das steht bereits auf einem anderen Blatt, auf das die Dilthey-Rezeption nicht mehr gehört. Zuerst müssen wir uns fragen, wie die Dinge von der Weiterbildung der Diltheyschen Ideen aus sich ausnehmen. Rodi widmet dieser Frage die zentralen Kapitel des Buches und behandelt darin zunächst Mischs Abgrenzung gegen »Husserls und Heideggers gemeinsame Position«. Rodi möchte damit »einige vor über fünfzig Jahren an die Phänomenologie gestellte Fragen in Erinnerung rufen« (Rodi 127). Damals, 1931, stellte die von Georg Misch unter dem Titel )Lebensphilosophie und Phänomenologie< veröffentlichte Arbeit in der Tat beides dar, eine kritische Rezeption sowohl von )Sein und Zeit< als auch von der fast gleichzeitigen Husserlschen Abhandlung >Formale und transzendentale Logik<. Beides ist für Misch Phänomenologie. Misch stellt nun die philosophische Grundlegung in Frage, die in Husserls Anspruch gelegen ist, daß die Phänomenologie den »letzten Urteilsboden, auf denjede radikale Philosophie zu begründen ist« (Rodi 130), erreicht hat, und Misch verteidigt Dilthey gegen die bekannte Husserlsche Beschuldigung, daß sein Ausgangspunkt vom geschichtlichen Leben zu Relativismus und Skeptizismus führe. Er besteht darauf, daß das Darinnensein im Leben anzuerkennen ist, und wenn er so die rein theoretische Erkenntnishaltung
So wirkt sich der von mir hervorgehobene Druck des Wissenschaftsbegriffs des Zeitalters im Blick auf die Grenzen, die mit aller Objektivierbarkeit gesetzt sind, dahin aus, daß die tieferen Intentionen Diltheys bei ihm selbst nicht immer deutlich bleiben. Es war die Aufgabe, die sich offenbar Georg Misch gesetzt hatte, diese tieferen Intentionen auszuloten. Er verscJ:iebt etwas das Gewicht, wenn er von der Betonung der UnergründlichkeIt des Lebens aus die »logische Energie« der aus dem Leben aufsteigenden ~estaltungskräfte betont. Das geht über das von Dilthey selber Gesagte hInaus, auch wenn man die neueren Materialien von Band 18 und 19 der Dilthey-Ausgabe mit heranzieht. Wenn m~n der Rodischen Darstellung folgt und die spekulativaufgehöhte »Er~en~tnIsde~ Erkannten« gelten läßt, muß man sich mit Rodi fragen, ob d~mlt nIcht mIndestens die Fortentwicklung, die Georg Misch über die Dl1theysche Position hinaus vornimmt, indem er sie zu einer universalen Hermeneutik erweitert, die Unterscheidung von der heutigen hermeneutischen Bewegung ganz hinfallig macht. Eine gewisse Klarheit kann hier bringen, die Lehre vom herm~neutischenZirkel noch einmal zu erörtern. Diesen alten Wahrspruch der Rhetorik, die Me1anchthon ins Hermeneutische gewendet hat, kann man gewiß auf die Hermeneutik ausdehnen, aber man kann das in einem engeren wie in einem weiteren Sinne verstehen. Die zirkuläre Bewegung des Verstehens, die von den Teilen eines Ganzen und zum Ganzen hin und her geht, wird von Boeckh, dem auf eine Methodenle~re zielenden Philologen, von dem zu verstehenden Text oder sonstige~ Uberlieferungsgut aus gesagt. Eine zirkuläre BeweguIigläuft aber auch zWIschen dem Interpreten und seinem Text. Der Interpret steht nicht außerhalb, sondern »darinnen im Leben« (Rodi 128). Er ist nicht der theoretische Betrachter allein, sondern gehört der Lebenstotalität zu, an der er »teilnimmt«. In diesem letzteren Sinne denkt nun in der Tat auch Misch weiter und
über~chreit~t m~t Bewußtsein .die »rein theoretische Erkenntnishaltung« .
DamIt schemt SIch vollends dIe Konvergenz von Heideggers Vereinnahmung der Hermeneutik für die Phänomenologie mit den tieferen Intentio~en Dilthe!s z~ ergeben. A~ch .Misch ~nd Rodi haben das gesehen, glauben SIch aber In dIesen vermelnthchen Ubereinstimmungen am Ende doch
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8 Wenn ich diese Ausfühmngen bei Rodi lese, so erscheint mir das Heidegger-Bild und die Auffassung von Hermeneutik, die sich aus ihm ableiten läßt, bei der Schülergene~ation von Dilthey und Misch am Ende auf unangemessene Weise verkürzt. Wer Dllth~y weiterdenkt müßte doch wohl auch )Sein und Zeit< weiterzudenken versuchen, und die Jüngere:1 hä~ten es heute damit entschieden leichter, als es Misch hatte. Inzwischen li~gt die Weiterentwicklung Heideggers (wie auch meine eigenen Versuche) längst öffentltch vor. So darf es sich nicht mehr nur um >Sein und Zeit< handeln. 9 Vgl. )Unterwegs zur Sprache( (Pfullingen 1959). S. 95fT., S. 120.
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liegt es auf der Hand, daß sich damit die Lebensphilosophie gegen die transzendentale Subjektivität Husserls und gegen dessen idealistische Interpretation der Phänomenologie wenden muß. ~o?i gibt hier eine sehr aufklärende Analyse des Begriffs der »Bedeutung« bel Dilthey und Husserl. In der Tat hat Dilthey Husserls >Logische Untersuchungen< und den zentralen Begriff der Bedeutung mißverstanden - und eben dadurch rur sich fruchtbar gemacht. Die geschichtliche Bedeutung oder be~ser Bedeutsamkeit, die für Diltheys Forschung die Grundkategorie war, zeIgt, daß es da um etwas anderes ging als bei Husserl. Das ist jedem Leser des damaligen Dilthey wohlvertraut. Daß aber nun Misch keine Bedenken hat, auch Heidegger in diese Husserlsche Position der >Logischen Untersuchungen< zurückzudrängen, bleibt verwunderlich. >Sein und Zeit< redet doch als Ganzes eine klare Sprache. Man kann sich zwar vorstellen daß Heideggers Einpassung der hermeneutischen Dimension in das große 'Forschungsprogramm der Phänomenologie einige Handhaben für eine solche Verkürzung He~deggers bot. Man denke nur an die bekannte Anmerkung Oskar Beckers In der Husserl-Festschrift, die die Einordnung und Unterordn~ng d~r He~eneutikin die transzendentale Phänomenologie geradezu auf die SpItze treIbt. Aber das Studium von >Sein und Zeit< konnte einen gewiß eines Besseren belehren. Das zeigt schon die Umstilisierung des Phänomenbegriffs, die Heidegger vornimmt, und der ganze Zug der Gedankenb~wegun~vo~ >Sein.und Zeit< beweist eindeutig, daß die apophantische LogIk und dIe Semswelse der Vorhandenheit Heidegger wahrlich nicht »i~ Rücken..blieb« (Rodi 135). Es ist vielmehr das eigentliche Ziel von Heldeggers Uberwindung der Metaphysik. Etwas anderes war es mit Husserls Ausweitung seiner >Logischen Untersuchunge~< au.fdie vorprädikative Logik. Da kann man Misch gewiß folgen, wenn er dIe Dtltheysche Lebensphilosophie nicht in dem »leistenden Leben« von Husserls >Formaler und transzendentaler Logik< wiedererkennen wollt~. Heide~gers~adikale Kritik an der Urteilslogik, die entschiedene pragmatIsche ArtikulatIon des Weltbegriffs und die Abzielung auf die Hermeneutik des Daseins, läßt jedoch nicht übersehen, daß Heidegger über den Ansatz Husserls mit Einschluß der Forderung einer Letztbegründung hinauszielte. Er sah darin ausdrücklich eine Vorbereitung der Seinsfrage. Offenbar stellt der Begriff des Seins für Misch die Crux dar. So verfehlt er das Problem wenn er Heidegger den »Begriff der ursprünglichen Einheit der Idee de~ Seins« zuschreibt. Das klingt mehr nach der Identitätsphilosophie des deutschen Idealismus und seines Nachhalls. Die Vorbereitung der Seinsfrage durch >Sein und Zeit< ist mit solcher Formulierung völlig unvereinbar. Gewiß ist das Operieren mit dem Seinsbegriff bei Heidegger nicht belanglos. Das sagt Misch mit Recht. Aber daß das nicht der aristotelische Seinsbegriff sein konnte, auf den das hinauslief, wußte Misch doch schon aus dem
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1922 geschriebenen Heideggerschen Typoskript, das er schon damals von Heidegger zugeschickt erhalten hatte. .... Diese »theologische Jugendschrift« Heideggers, dIe Jet~t 1m. DIlthey10 Jahrbuch 1989 erstmalig allgemein zugänglich ist , läßt ~Igenthch kaum verstehen, daß jemand darin einen dogmatischen metaphysls~henRe~t vo~ aristotelischer Herkunft gespiegelt sah. Oder hat auch MIsch, W1~ WIr jungen Leute von damals, unter der Suggest~onskraftphänom~nologlscher Sachinterpretation, die Heidegger dort an Anstoteles ~~ndet, nlc~t er~annt, daß es Heideggers Ziel war, in Aristoteles und damIt In. dem gnechl~chen Seinsbegriffseinen Gegner stark zu machen? - Und wahrl:ch mußte H~ldeg ger das tun wenn er sich nicht nur vom Thomismus seIner theologIschen Ausbildun~, sondern ebenso auch von dem Pseudohegelianism~s~einer philosophischen Schulung freimach~n wol1~e, der sich Neukant1arusm~s nannte. Gerade die Befreiung von emem epIgonalen und pseudomodernlsierten Thomismus - und ebenso von der Universalsynthese des Neuhegelianismus - verlangte einen langen Weg der Ans~rengung des Be~riffs, für den das Typoskript Heideggers von 1922 nur ~Ine erste ~egwelsung darstellt. Heidegger nahm in Kauf, daß dieser Weg SIch oft als ~In Holzweg herausstellte. Das war eine jahrzehntelange Auseinandersetzung. Wegen der unseligen Verwirrungen, Trennungen und Verstrickungen, die die dreißiger und vierziger]ahre über Deutschland brachten, war es Geor? Misch, der erst nach dem Ende des Dritten Reichs zurückkehrte, wohl nIcht erlaubt, dieser Wegrichtung zu folgen. Er hat offenbar nicht realisiert, was Heideggers »Kehre« eigentlich war, nämlich die Ablö~ung von der A.npassun g ~n Husserls phänomenologischen Transzendentahsmus, den >Sem u~d Zelt< noch nicht ganz abgestreift hatte. Später wurde das all~s.eher deuthc~, zum Beispiel, wenn Heidegger »Sein« als Zeitwort z~ signahsI~rensuchte,..lnd~m er es mit Fichte »Seyn« schrieb, oder wenn er Immer WIeder ausdruckh~h sagte, daß Sein nicht das Sein des ~eien~en sei, al~o ~icht ~~n :Vesensbeg:lff der Essentia meinte. Doch auch In )Seln und Zelt( Ist es ubngens deuthch genug, daß die Frage nach dem Sein nicht irgendeine höchste I~ee meinte. Die hermeneutische Struktur des Daseins darf nicht derart alleIn von dem Entwurfcharakter aus gedacht werden, sondern steht im Zwischen von Entwurf und Geworfenheit. Hier deutet sich in der Auffassung der Grundstruktur des Lebens eine Differenz an, auf die wir noch werden zurückzukommen haben. . . Gewiß waren es die besonderen Zeitumstände, die MIsch verhIndert haben einen philosophischen Austrag der Differenzen und Konver~enzen von diesem gemeinsamen Boden des Lebens aus durchzuführen. InZWIschen 10 Siehe dazu auch meine einleitenden Bemerkungen >Heideggers »theologische« Jugendschrift< in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 6 (1989), S. 228-234.
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ist ja die Publikation von Mischs einflußreicher Göttinger Vorlesung >Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens<, aus der das Buch von 1931, >Lebensphilosophie und Phänomenologie<, herausgewachsen ist, erfolgt. Auf der anderen Seite sind inzwischen Heideggers frühe Freiburger Vorlesungen zugänglich geworden, die den mit Dilthey gemeinsamen Ausgangspunkt des .Denkens »vom Leben aus« und damit die Einwirkung Diltheys do~umentle~en. Erst recht hätten die späteren Publikationen Heideggers für Misch deuthch gemacht, wievieles er mit seiner eigenen Intention auf Ausweitung der Logik mit Heidegger teilte. Gewiß hatte Mischs Weiterdenken Diltheys nicht die Heideggersche Gestalt der' kritischen Destruktion der Begrifflichkeit der Sprache der Metaphysik. Die Tendenz der Überschreitung der diskursiven zur evokativen Sprache, die Misch damals schon vertrat, hätte sich jedoch durch Heideggers Sprachgebaren bestätigt sehen können, und das ist in Mischs Buch von 1931 deutlich genug. Auf der anderen Seite wäre aber später die Differenz mit aller Klarheit hervorgetreten, die von dem gemeinsamen Ausgangspunkt des Denkens »:om Leb~n aus« sich auftat. Heideggers Intention ging von Anfang an über dIe platonIsch-pythagoreische Polarität von Peras und Apeiron hinaus, auf die Misch gerichtet war und in der er sich als Platoniker bekannte. Misch geht auch über Dilthey hinaus, wenn er der Unergründlichkeit des Lebens d~e Fest~gkeit de.r Gestaltung zuordnet - dies allerdings in dem ganz weiten SInne eIner Logik des Lebens selber, das sich auch in Kunst und Religion, und nicht nur in der Wissenschaft, schöpferisch entfaltet. Heidegger sieht sich dagegen von früh an der Ambivalenz des Lebens gegenüber, das sich immer wieder in seiner Sorge an die Welt verliert. Schon in den frühen Vorlesungen spricht er von der »Ruinanz« des Lebens, und wenn er die Seinsfrage vorbereitet und das Sein des Daseins als hermeneutisch herausarbeitet, ist er nicht wie auf eine Ziellinie gerichtet. Das fiel an Heidegger schon immer auf: daß, wenn in >Sein und Zeit< die Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bzw. das Verfallen des Daseins formuliert wird, Hei~egge~ stets .die Gleichursprünglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigenthchkelt versIcherte. In seinen gleichzeitigen Vorlesungen machte das oft einen überraschenden Effekt, wenn er etwa die ingrimmige Analyse des »Man« und des »Geredes« mit der Versicherung abschloß: »Dies alles ohne jede abschätzige Bedeutung.« Die »moralische« Interpretation von )Sein und Zei~<, die sich theologisch im Sinne der protestantischen Eschatologie nutzen heß und so genutzt wurde, entsprach nicht seiner Intention. Wahrlich klang die Gleichursprünglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins wie eine Herausforderung. Oder war es ein Bekenntnis zu Luther? All das drängt am Ende-auf das »Zeitwort« des Seins. Nur so konnte dem Einwand der feste Boden entzogen werden, den Husser! gegen den Historis-
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mus unter den Füßen zu haben meinte. Er hat ja die Bodengeltung des griechischen Seinsbegriffs selber nie in Frage gestellt. Diesen Boden zu erschüttern aber war das Ziel, dem Heideggers Vorbereitung der Seinsfrage galt. Er hat sogar den unglücklichen Versuch unternommen, im griechischen Denken, und zwar bereits in dessen Anfängen, eine Hilfe für die Lockerung des Bodens zu fmden. Er suchte Zeugnisse dafür, daß schon die Griechen das Urwort der )Aletheia( so verstanden hätten, daß damit nicht nur die Unverborgenheit, sondern auch die Verbergung und die Bergung mitgedacht waren. Diesen Versuch hat Heidegger später, insbesondere auch seine Berufung auf Parmenides, aufgegeben. In jedem Falle ist es aber ein Irrtum, das Sein, nach dem Heidegger fragt, im Sinne eines obersten Prinzips zu verstehen und dann gar noch an dessen Unbestimmtheit Anstoß zu nehmen. Die Intention Heideggers ging eben auf etwas, wofür die Sprache der Metaphysik keine Begriffe anzubieten hatte. Noch in )Sein und Zeit< hatte Heidegger durch die Rede von der Eigentlichkeit des Daseins theologische Mißverständnisse verursacht. Er meinte das Sein des »Da«, des »DaSeins im Menschen«, wie es im Kant-Buch heißt. »Sein« meint eben nicht ein Seiendes, auch nicht das Eigentliche oder Göttliche, sondern ist eher wie ein Ereignis, ein >Pathos<, das den Raum öffnet, in welchem Hermeneutik ohne Letztbegründung - zum neuen Universale wird. Dieser Raum ist die Dimension der Sprache. Das Wort »Da« ist gewiß das unbestimmteste aller Worte, die je ein Seiendes meinen könnten, das da ist. So ist es das allen Worten Gemeinsame, das eigentliche »Vor-Wort« aller anderen Worte und ihrer Bedeutungskraft. Es ist jedoch kein oberstes Prinzip und schon g~r nicht ein fester Boden. Sofern es allen Worten zukommt, in diesem Aufgehen des Da zu stehen, ist das Wort der Sprache zugleich seiner Er~tarrung und Entleerung ausgesetzt. »Das Leben ist diesig. Es nebelt sich selbst immer wieder ein. « So bedarf es des Denkens. Man darfsich hier an Platos )Phaidros< erinnern. Dort wird im Zusammenhang mit der Kritik an der Schriftlichkeit dem lebendigen Worte nachgesagt, daß es nicht ohne Hilfeleistung bleibe, damit es richtig verstanden wird. Solche Hilfeleistung ist die durch den Anderen. Freilich steht auch da Wort und Antwort stets auf der scharfen Scheide von Gespräch und Gerede. Misch verkennt seinerseits diese Verfallenstendenz des Wortes nicht, und auch er betont, wie die Außerungen im Vollzuge interpretiert werden müssen - wie wir es ja alle beim Lesen tun und wie es beim »Musikmachen« geschieht. Das hat Misch mit seiner Tendenz auf die Lokkerung der Logik offenbar im Auge. Auf eine solche hat schon 1918 Georg Simmel hingedeutet, und diese »metaphysischen Kapitel« des dem Tode geweihten Georg Simmel haben auch Heidegger die Richtung gewiesen. Heideggers Bewunderung für Simmel ist mir noch von den ersten Gesprächen her im Ohr, die ich 1923 oben in Todtnauberg mit ihm fuhrte. Weder
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bei Simmel noch bei Misch ist jedoch die Frage gestellt, was »Sein« d~nn noch heißt. Es bedurfte dazu erst der logischen Energie und der destruktiven Denkkraft, die Heidegger an die traditionelle Begriillichkeit der Philosophie wandte. Mit dieser Zurückftihrung auf den Seinsbegriff der Griechen und seiner Kritik öffnete sich erst die neue Sicht. Nun will ich nicht sagen, daß ich selber in allem bei Heideggers Thesen in >Sein und Zeit< stehengeblieben bin. Von Anbeginn an hatte ich manche Schwierigkeiten damit - vor allem darin, in der» Vorhandenheit« gleichzeitig das griechische Seinsverständnis und den Begriff der Objektivität der. neuzeitlichen Wissenschaft zu erkennen. Ähnlich ging es mir mit der Analyse der »Rede« in Heideggers Hermeneutik des Daseins. Da fehlte mir von früh an die Erfahrung, die man an dem Anderen macht, an seinem Widerstand, an seinem Widerspruch und an der wegweisenden Kraft, die davon ausgeht. So erinnere ich mich eines Gesprächs mit Heidegger. Ich war noch auf der Suche nach meinen eigenen Wegen und las Heidegger eines Tages einen Aufsatz vor, in dem ich diesen Punkt, die Erfahrung am Anderen, in den Mittelpunkt stellte. Heidegger hielt mir freundlich-zustimmend entgegen: »Und wo bleibt" die Geworfenheit?« Er meinte offenbar, daß im Begriff der Geworfenheit das »Gegen« schon liege, das jedem Entwurf entgegensteht. Das hat mich damals verblüfft, da ich bei dem Anderen, der mir im Gespräch gegenübertritt, nicht gerade an »Geworfenheit« denken konnte. Ich hätte mich vielleicht daran erinnern sollen, daß gewiß auch Heidegger, wie Dilthey selber, in dem Grafen Yorck von Wartenburg und in dessen »Geworfenheit« die Prägung erkannte, die Diltheys unabhängigem Freunde seine eigentümliche Freiheit und Größe gegeben (und gewiß auch seine Grenzen gesetzt) hat. Aber daß der Andere im Gespräch nicht nur Adressat ist, sondern auch Partner des Gesprächs, wollte ich meinerseits festhalten. Ich wußte aus dem >Phaidros< und auch sonst, daß Plato sogar die Rhetorik auf die Gesprächssituation bezogen und damit die Dialektik vorbereitet hat. So habe ich auch den hermeneutischen Zirkel und den Gebrauch, den Heidegger davon machte, in der Richtung auf die Gesprächsbewegung hin zu öffnen gesucht. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Verfahren, das einer an einem gegebenen Text vornimmt, sondern um eine Existenzbewegung, die noch allem Verfahren vorausliegt. In dieser hermeneutischen Verwicklung weiß man sich noch nicht in jener »freien Ferne zu sich selbst«, durch die Dilthey und Misch die Haltung charakterisierten, in der sich die Dinge zeigen können, wie sie sind. Man ist vielmehr zur Antwort gefordert, und das verlangt die hermeneutische Anstrengung, in der sich erst die Sicht öffuet und weitet. Henneneutik meint vor allem daß etwas mich a?spricht un~ mich in Frage stellt, indem es mir eine Frage stellt. Daher 1st Sprache Immer nur im Gespräch, was sie sein kann, weil sie im
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Spiel von Frage und Antwort eine Sicht öffnet, die sich weder in meiner noch in des Anderen Perspektive bot. Meine Anknüpfung an Heidegger ging also in diese Richtung. Das kann nicht überraschen. Es ist ja in )Wahrheit und Methode< deutlich genug geworden, welche zentrale Stellung in meinen Gedanken zur Hermeneutik die Phronesis einnimmt, die Tugend des sittlichen Wissens. Auch hat mich von früh an das große Gewicht interessiert, das in der praktischen Philosophie des Aristoteles die Freundschaft besitzt. Auf der anderen Seite war mir nicht minder gegenwärtig, was die imperativische Ethik Kants zu lehren hatte. Da muß man vor allem an die Kantische Wiederherstellung der praktischen Vernunft denken, die in dem Begriff der »Achtung« gründet. Achtung ist etwas, das der Selbstliebe zugemutet wird, aber sie ist zugleich das worin ich und du einander erkennen und anerkennen können. Wenn ma~ von jemandem sagt, daß man mit ihm reden könne, so ist damit wahrlich nicht das »Gerede« gemeint, sondern daß mit ihm ein Gespräch gelingen kann. Es wäre ein eigenes Thema, zu verfolgen, wie dieses Miteinander allen Religionsgemeinschaften zugrunde liegt und etwa auch dem christlichen Liebesgebot, in dem Gott und der Nächste füreinander stehen. So ist es auch in der Begegnung mit der Kunst, daß sie einen in ein Gespräch verwickelt und daß darin Denken geschieht. Das war das Motiv, warum ich in )Wahrheit und Methode<, noch bevor ich das Problem der Geschichtlichkeit anging, mit der Erfahrung der Kunst einsetzte. Denn vor jedem Kunstwerk stehen wir vor einem Diktat, gegen das wir mit aller Einrede immer schon unrecht haben. Das ist viel. In meinen Studien zur griechischen Philosophie hat mich gerade der Primat des Ethos vor dem Logos beschäftigt, und ich suchte zu zeigen, daß gegen allen doxographischen Anschein die sokratische Frage nicht die Definition meint, sondern das Gespräch, das sich mit ihr eröffnet. Indem ich meine eigenen Versuche des Weiterdenkens erwähne, möchte ich selbst - mit Rodi - von der Fragwürdigkeit der Unterscheidung sprechen, die ich zwischen der romantischen und der philosophischen Hermeneutik behauptet hatte - und die freilich auch, trotz aller Konvergenz, die Differenz der philosophischen Aspekte einschließt. Ich beginne zu verstehen, warum Heidegger mir gegenüber meine eigenen Denkversuche nicht als philosophische Hermeneutik bezeichnet hat, sondern stets als hermeneutische Philosophie. Meinerseits war mein Sprachgebrauch nicht eine Verkennung des romantischen Erbes, das in meinem Weiterdenken wirksam war. Ich wagte nur nicht, das anspruchsvolle Wort »Philosophie« für mich zu gebrauchen, und versuchte es nur attributiv zu verwenden. Im ganzen würde ich anerkennen, daß ich, wie im Falle Schleiermachers, auch im Falle Diltheys der Profilierung meiner eigenen Ideen zuliebe Einseitigkeiten be-
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gangen habe. In späteren Arbeiten habe ich mich dann auch den radikalen Problemen nähern müssen, die Heidegger zur Auseinandersetzang mit Nietzsche genötigt haben. So wurde ich selbst in das Gespräch mit den Freunden des Dekonstruktivismus verwickelt. Doch hier scheint mir noch alles offen. Eine vorzügliche Erörterung des Gesprächs, das 1981 zwischen Derrida und mir in Paris geführt wurde, hat Ernst Behler seinem kleinen Buch >Derrida-Nietzsche, Nietzsche-DerridaZeit und Sein< (1962) von der Seinsfrage las, daß sie die abgründige Gabe des »es gibt« sei. Das ist in der Tat für den späteren Heidegger nach der Kehre immer wieder zu fmden, daß es nur »An-denken« des Seins gibt und wohl auch nur das »Anspielen«, das im Spiel der Kunst sich zeitigt. Ich kann darin durchaus Elemente von Derridas Dekonstruktion und der >Dissemination< wiedererkennen, die sich der deduktiven Systematik des Gedankens grundsätzlich entzieht. Auch in meinen Augen muß man die Evidenz gelten lassen, die sich in der Näherung der spekulativen Sprache des Begriffs, an die dichtende Sprache der Kunst zeigt. Dann geht es aber am Ende um die Frage, wie sich die Hinterfragung des besitzergreifenden Logos, der alle sprachliche Außerung stigmatisiert, selber motiviert und vollzieht. Derrida hat dafür den Ausdruck» Dekonstruk-
tion« geprägt, um die Affirmation, die Bejahung, geltend zu machen, die mit der Zerstörung der metaphysischen Begriffe von Sein, Sinn und Wahrheit verbunden sein soll. Derrida unternimmt diese Destruktion immer wieder, in unzähligen Brechungen und Zerstörungen und Wortspielen, die den Redesinn auf den Kopf stellen. Ähnliches hat gewiß auch Heidegger immer wieder unternommen, wenn er etwa fragt: »Was heißt Denken?« und wenn sich der Sinn dieser Frage in der Weise umkehren soll, daß sie meint: »Was gebietet Denken?« Damit will er andeuten, daß das kalkulierende Denken kein wahres Denken sei. Weder Heidegger noch Derrida - noch auch eine hermeneutische Philosophie, die das kritische Potential von Kunst und Geschichte in den Gedanken einbringt - werden sich aber verbergen können, daß es Verständigungsprozesse sind, die allem besitzergreifenden Willen zur Macht zum Trotz Fragen aufbrechen und sinnvolle Antworten suchen. Noch Friedrich Schlegels Plädoyer für die Unverständlichkeit, wie alles Spiel mit Vieldeutigkeiten, Brüchen und Kehren und mit dem Ganzen unserer Welterfahrung, wenn sie sich in der Kunst spiegelt, sind von der Art, daß wir an Fäden spinnen. Es ist ein durchgehendes Motiv, das sich in meinen eigenen Versuchen des Weiterdenkens Heideggers durchhält. Von jeher bin ich seiner Kritik am Bewußtseinsbegriff und an der LetztbegrÜlldung im Selbstbewußtsein gefolgt. Meine Studien zur griechischen Philosophie entsprechen dem - und vollends, je mehr ich in Plato und Aristoteles, und zwar in beiden, die sokratische Frage wiedererkennen lernte und damit den Primat des Ethos vor dem Logos. Das führte mich auf den Vollzugssinn des Gesprächs. Es war schon damals, daß mir Plato, und insbesondere der Exkurs des 7. Briefes, die entscheidende Richtung wies. Weder Heidegger, dessen Anstößen ich nach meinen Kräften zu folgen suchte, noch Dilthey haben mir die gleiche Hilfe zuteil werden lassen. Heideggers Hinterfragung der Apophansis und die Aufweitung der hermeneutischen Struktur des Daseins gab zwar der Sprache ihr Recht. Aber der Andere war doch die bloße Adresse, nicht der Partner des Gesprächs. Was ein Gespräch in Wahrheit ist, hat Heidegger selber nur im Stil der Gesprächsform, die er in >Unterwegs zur Sprache< wählte, anzudeuten gewagt. Ein Gleiches gilt auch für den von Misch weitergedachten Dilthey, wenn die Diskursivität (und ihre Überschreitung auf das Evokative hin) mit dem Satz einsetzt, dessen Einheit und Vielheit die Sprache mache, und nicht mit der Antwort, die noch jedem Wort voraus-
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11 ERNST BEHLER, Derrida-Nietzsche, Nietzsche-Derrida. Paderborn/München 1988, S. 138ff. und das Nachwort >Dekonstruktion und Hermeneutik<, S. 147ff.
liegt. Ich meine, daß jedes Wort Antwort ist und daß das Fragen einen grundsätzlichen Primat besitzt. Dafür habe ich mich in )Wahrheit und Methode< auf Collingwood berufen - und mehr noch aufPlato. Denn das sokratisc~e Gespräch, das dort als kunstvolle Überwindung von Sophistik und Rhetonk geführt wird, bleibt selbst noch gegenüber allen ihren Antworten auf den
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überlegenen Primat des Fragens gegründet. Es schließt das Gemeinsame ein, das zwischen beiden Partnern besteht. So hat Plato sogar im >Phaidros< die Rhetorik mit der Dialektik verschmelzen können. Das ist nicht die bekannte Ich-Du-Problematik, wie überhaupt die Rede von »dem Ich« und »dem Du« mir als eine semantische Vergewaltigung erscheint. Die eigentliche Vollzugswahrheit des Gesprächs bleibt so verdeckt. Das wird nicht dadurch gebessert, daß man etwa eine Wir-Problematik darüberstülpt. Auch Husserls Begriff der Intersubjektivität bezeugt in meinen Augen einen Rest von ontologischer Dogmatik. Dagegen haben die Aufnahme des physikalischen Feldbegriffs bei Whitehead und die Frage nach dem Sein, das nicht ein Wesensbegriff ist, sondern das selber »wesen« meint, richtungsweisende Bedeutung. Das war mir noch gar nicht voll bewußt, als ich meinerseits Begriffe wie Spiel, wie Praxis, wie das Sein des Schönen und den Vollzugssinn von Wort und Begriff im Horizont der Zeit zu erörtern unternahm. Vielleicht haben hier frühe Anregungen Natorps und dessen Ausgang vom >fieri< bei mir eine späte Nachwirkung gezeitigt. Der lebensweltliche Rahmen der Hermeneutik umfaßt am Ende alle Erfahrung, auch die Geisteswissenschaften, die man die hermeneutischen Wissenschaften nennen kann. Sie haben ein Großteil des philosophischen Erbes der Romantik zu verwalten. So gehören sie nicht minder als die neuzeitlichen Naturwissenschaften zu unserer Herkunft und zu unserer noch verhüllten Zukunft.
>Sein und Zeit< lediglich die Ausarbeitung einer Konstitutionsschicht - die der Geschichtlichkeit - im Rahmen der transzendentalen Phänomenologie Husserls ansiedeln wollte, bedeutete Heideggers Wendung zur Sprachlichkeit eine Abkehr von der Grundlegung der Phänomenologie im transzendentalen Ego und grundsätzlich von dem methodischen Primat des Selbstbewußtseins gegenüber dem »Bewußtsein von etwas«. Das ging mit der Entfaltung der Lebensphilosophie, die Nietzsche anführte, Hand in Hand, und mit seinem radikalen Extremismus. Heidegger erst legte den ontologischen Vorgriff offen, der auch noch in der Auffassung der Phänomenologie fortwirkte, die mit den begrifflichen Mitteln der griechischen Metaphysik arbeitete. So hatte Heidegger eben diese Begrifflichkeit zu destruieren. Damit wurde der klassische hermeneutische Zirkel nicht mehr eine metaphysische Beschreibung der Methode, des Verfahrens, durch das Sinnvollzug zum Verständnis gebracht wird, wie seit alters in der Rhetorik gelehrt wurde. Die Zirkularität des Verstehens war gewiß immer schon im Gegensatz zu den logischen Beweisbegriffen der Wissenschaft und konnte in den nachfolgenden Epochen als eine angemessene Beschreibung für das Methodenideal der Geisteswissenschaften gelten. Mit der Heideggerschen Rückkehr zu den Griechen geht es nicht mehr um Methode 12 • Der Interpret, der das Sinngebilde zu verstehen sucht, ist nicht mehr der bloße Vollbringer einer Rekonstruktion - so wie wir etwa eine lateinische Periode des Cicero zu konstruieren lernen. Der Interpret ist nicht länger ein bloßer hinzutretender Forschender, sondern er ist selber Hörer oder Leser und damit als ein teilnehmendes Sinnglied einbezogen. Die Sinnantwort, die ein Sinngebilde gibt, ist jetzt als eine Antwort auf eine Frage erkannt, und diese Frage wiederum selbst als eine Antwort, und so ist da kein erster Anfang überhaupt und keine letztgültige Ausschaltung des sogenannten Subjektes zugunsten der Objektivität der Wissenschaft. Wir kennen das in Wahrheit aus der Art, wie wir alle sprechen lernen und wie wir aus sprachlicher Mitteilung und im Austausch des Gesprächs Welterfahrung erwerben. Da ist kein erstes Wort. Denn kein Wort kann für sich etwas bedeuten. Selbst der Name, der jemanden oder etwas bezeichnet, kann das nur sein, weil es kein anderer ist und nichts anderes, meint also den, dessen Name man kennt. Ebenso artikuliert sich der vage schwimmende Weltblick des seine Sinne übenden und seine Reize ordnenden Kleinkindes. Das ist gewiß nicht eine bewußte Einsammlung von Eindrücken. Mit dem Erwachen des Bewußtseins und des sprachlich artikulierten Mit-Bewußtseins setzt sich der seit langem schon im Gange befindliche Bildungsprozeß von Wunscherfüllungen und Enttäuschungen fort. All das ist ein unendli-
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Nachschrift In meinen Arbeiten habe ich Dilthey in seiner Zwischenstellung zwischen der Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften und der Erbschaft der romantisch-idealistischen Philosophie dargestellt, die die Näherung von Leben und Geist enthielt. Dieses idealistische Thema erfuhr in unserem Jahrhundert eine erneute Aufnahme und zugleich ihre Umwendung durch die Thematisierung der »Lebenswelt«. Das war die folgenreiche Wortfügung Husserls, die die Überwindung der -Schranken bedeutete, die der Wissenschaft durch ihren Begriff der Objektivität gezogen schienen. Die Lebenswelt ist ihrem Wesen nach eine Vielfalt von Horizonten und damit ein höchst differenziertes Gefiige, in dem gewiß auch objektive Geltung ihren Platz hat, aber keine Monopolstellung mehr besitzt. Als eine der Weisen, wie sich die Vielfalt der Lebenswelten artikuliert, beginnt sich mehr und mehr die Vielfalt der menschlichen Sprachen zu erweisen. Das kam durch Heideggers Radikalisierung der hermeneutischen Struktur des menschlichen Daseins mehr und mehr zum Tragen. Während Oskar Becker noch in Heideggers
12 Das habe ich in meinem Aufsatz)Vom Zirkel des Verstehens< bereits 1959 dargelegt (jetzt in Ges. Werke Bd. 2, S. 57-65).
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ches Gespräch, das immer wieder neu anhebt und immer wieder verstummt und kein Ende je erreicht. Es ist das wahre Fundament des >linguistic turn<, der so beschrieben ist. Es war bereits eine Wendung zur Sprache hin, als Männer wie Wittgenstein und Austin das logische Ideal einer formalen und eindeutigen Sprach~ in die Wendung zur wirklich gesprochenen Sprache umkehrten und diese von ihrem logischen Zwangsdruck befreiten, indem sie sie in den Handlungszusammenhang integrierten. Es hat gewiß ein hohes Interesse, wie lebendige Mitteilung und in welchen Formen sie sich verlautet. Ob ich Sätze kritisch als richtig anerkenne, oder ob ich lobe, tadle, preise, bewundere, verehre, verwerfe oder bestreite - all dies sind Formen der Weltantwort, in denen sich etwas von der praktischen Vernunft abbildet. Indessen bleibt eine solche Formenlehre sehr am Rande dessen, was durch Sprache und Gespräch vermittelt wird. Als Aristoteles das Wesen des Menschen als Zoon logon echon bestimmte, brauchte es lange Zeit, in Wahrheit bis Heidegger, daß man damit Ernst machte, daß hier der Mensch nicht als >animal rationale< definiert wurde, sondern als das Wesen, das Sprache hat, im Unterschied etwa zu den Lock- und Warnrufen der Vögel. Durch Sprache werden Sachverhalte präsent gemacht, wenn auch nicht immer >wirkliche<. Das schH.eßt aber ein, daß das Lebewesen Mensch nicht durch feste Instinktbahnen in seinem Verhalten gesteuert wird, wie etwa Vögel genötigt werden, bei frühwinterlichen Kälteeinbrüchen dem Wandertrieb gehorchen zu müssen und ihreJungen, die sie mit aufopfernder Unennüdlichkeit im Nest gefüttert hatten, verhungern zu lassen. Die Menschen müssen dagegen im beständigen Gesprächsaustausch mit den anderen eine gemeinsame Welt aufbauen. Das kann man >Konvention< nennen (Syntheke). Aber das ist nicht eine Konvention, die geschlossen wird, sondern eine, die sich bildet und mit Bewußtsein eingehalten und eingefordert werden kann. Nicht was wir da etwa aussagen und mitteilen, sondern was wir da auszusagen und mitzuteilen haben, ist das, was »gegeben« ist-und das ist der ganze Reichtum der gemeinsam geteilten Welt und der im Gespräch ausgetauschten Welterfahrung. Aber was heißt da eigentlich >gegeben Das >Ausgesagte Die >ganze Wahrheit< der Aussage, bei der wir vor Gericht angehalten werden, nichts zu verschweigen und nichts hinzuzusetzen? Oder ist es das Gemeinte? Oder ist es das Verdrängte? Oder ist es das Ungesagte und Unsagbare? Gewiß, etwas von der Unerbittlichkeit und Verantwortlichkeit liegt in dem Ganzen der auf die Wissenschaft und ihre Objektivität gegründeten Kultur. Aber selbst noch die Zeugenaussage vor Gericht ist noch immer ein sittlicher Appell, der über die bloße Objektivität hinausweist, der die Wissenschaft zustrebt, und selbst in der Wissenschaft kreuzt sich solches Streben ständig mit den Tendenzen der Lebenswelt, in denen wir ein gemeinsames und gemeinschaftliches Leben zu leben haben - und das ist das uns Gegebene.
Also noch einmal: Was ist das Gegebene? Nur wer daraufnicht antwortet: was man messen kann, und sich diesen Fragen offenhält, wird wissen, was hermeneutische Philosophie ist.
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Geschichte des Universums
17. Geschichte des Universums und Geschichtlichkeit des Menschen (1988)
Ein ganzesJahrhundert lang hat man die Geisteswissenschaften in der Abhebung von den Naturwissenschaften aus zu bestimmen gesucht, indem man sie an dem Wissenschaftscharakter dieser Wissenschaftsgruppe maß, ob-. wohl es klar war, daß sie nicht mit der Methodenstrenge und damit auch nicht mit dem gleichen Begriff von Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis den Anspruch auf ebenbürtige Wissenschaftlichkeit erfüllen können. In der Perspektive der nachromantischen Periode, in der die Naturwissenschaften ihren Siegeslauf nahmen, hießen die Geisteswissenschaften geradezu die ungenauen Wissenschaften. Nun meinen heutige Forscher, die beiden Wissenschaftsgruppen könnten en~ich ~eder zusammenkommen, aber nicht etwa, weil die sogenannten GeIstesWlssenschaften inzwischen genauer geworden seien, sondern weil die Naturwissenschaften sich selber gewandelt hätten. Denn sie hätten ebenfalls die Zeitdimension in sich aufgenommen. Man habe die Geschichte des Unive~sums als einen einzigen großen Evolutionsprozeß sehen gelernt, der von semem ersten Beginn an bis zu unserem heutigen Sonnensystem führe und die Geschichte der Erde umfasse - und damit auch alle Geschichte. So sei der Gegensatz zwischen den Naturwissenschaften und den geschichtlichen Geisteswissenschaften seiner Aktualität beraubt, und wir näherten uns einer neuen Einheitswissenschaft, eben der Wissenschaft von der Geschichte des Universums, die in dem Riesenpanorama eines einzigen großen Entwicklungsprozesses alles - die Natur, das Geistige, die Natur des Menschen und alle S~hi.cksale der ~enschheit - in sich schließe. So etwa ist die Erwartung, d~ dIe In sol~hen RIesenmaßstäben gesehene Geschichte der Welt zugleich die Weltgeschichte sei. Wird ein mit der Arbeit der Geisteswissenschaften Vertrauter eine solche
Erwa~tung teile~ köm:en, oder wird er auf der so offenkundigen VerschiedenheIt der ArbeItsweIse in den beiden großen Wissenschaftsgruppen bestehen müssen? Kann man sich von einer solchen Einheitswissenschaft etwas versprechen, die sich auf die Einheit der Geschichte in der einen Zeit grün-
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det, die das Ganze der Wirklichkeit durchläuft? Wenn ich mein Thema in >Geschichte< und >Geschichtlichkeit< unterschied, sollte für den, der ein Ohr dafür hat, schon anklingen, daß ich hier eine gefährliche Äquivokation wahrzunehmen glaube. Das Wort >Geschichtlichkeit< meint etwas anderes als das, was die Wissenschaft von der noch so umfassend gedachten Geschichte des Universums zum Gegenstande hat. Erinnern wir uns zunächst an den Stand der Diskussion. Die erkenntnistheoretische Debatte des 19. Jahrhunderts versuchte zu zeigen, wie sich zwei verschiedene Methodenideale und damit auch zwei verschiedene Begriffe von wissenschaftlicher Erkenntnis hier gegenüberstehen. Wilhelm Windelband hat in einer berühmten Rede gezeigt, daß die nomothetischen Wissenschaften Gesetzesforschung treiben, während auf der anderen Seite die ideographischen Wissenschaften das Individuelle, das geschichtlich Einmalige und Unwiederholbare, zum Ziele ihrer Erkenntnisbemühungen nehmen. Darin ist etwas Einleuchtendes. Von da aus kann man verstehen, wie es zu der Erwartung kommt, der methodische Gegensatz zwischen diesen heiden Wissenschaftsgruppen sei gegenstandslos geworden. Denn man macht ja jetzt wirklich auch in der Naturwissenschaft etwas Einmaliges, eben den Prozeß des Universums, zum Gegenstand - so wie die geschichtlichen Wissenschaften etwas Einmaliges in >ideographischem( Interesse zu erforschen suchen. Nun hören wir von der Geschichte des Universums, daß sie mit dem Urknall, dem Big Bang begann, also mit einem einmaligen Ereignis. Freilich, da fragen wir dummen Geisteswissenschaftler: Und was war vorher, vor diesem einmaligen Ereignis? - und schon bricht die neue Einheit auseinander. Wir rufen bei der anderen Seite nur ein leichtes Lächeln hervor, und sie schieben höchstens mit einem solchen Lächeln auch noch die spekulativen Versuche beiseite, die damit spielen, sich rhythmische Modelle auszudenken, die den ganzen Prozeß der Evolution nach dem U rlrnall als einen Pulsschlag im wiederkehrenden Rhythmus des Naturgeschehens verständlich machen sollen. Bei solcher Spekulation bliebe es dann aber kein einmaliges Ereignis mehr, und es wäre nicht mehr der Anfang des Universums. Solche Spekulationen sindjedenfalls weit von dem entfernt, was die Wissenschaft unter Wissenschaftlichkeit versteht. Es bleibt also dabei, daß wir im Gespräch mit dem Naturforscher wirklich einen einmaligen Vorgang annehmen sollen und einen universalen Prozeß, den wir >Evolution< nennen und dessen Geheimnisse die Forschung in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr aufzuklären vermag. Wir leugnen gewiß nicht, daß diese Evolution auch die besonderen Bedingungen umfaßt, unter denen sich auf diesem Planeten Leben entwickelt hat und am Ende gar so etwas wie die Entstehung der Menschenrasse - das heißt: solcher Wesen, welche Geschichte treiben oder geschichtliches Gedächtnis pflegen. . Eine solche Evolutionstheorie ist wahrhaft umfassend. Aber man wud
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sogar sagen müssen, daß sie über alle Geschichtserfahrung in die Zukunft hinausgreift. Wenn es schon eine solche Evolution ist, die durch das ganze Universum geht, so folgt in Wahrheit doch, daß diese Evolution immer weiter drängt und irgendwie die Zukunft des Ganzen in unsere Spekulation mit hineinzieht. Man denke an Foucault. Das mag unsere Erkenntnismöglichkeit übersteigen, aber es ist >wissenschaftlich< gedacht und verspräche grundsätzlich ein >Savoir pour prevoir<. Ganz anders ist es aber in der Geschichte, wie das berühmte Wort von Jacob Burckhardt über die Geschichte zeigt. Burckhardts Wort lautete nämlich: der Gewinn der Geschichte bestehe nicht darin, klüger zu werden für das nächste Mal, sondern weise für immer. Das muß in den Augen eines Naturforschers merkwürdig klingen. Erstens erwartet er von seiner Art Wissenschaft primär durchaus nicht irgendeinen Gewinn, außer dem Gewinn an Erkenntnis. Wenn er nun sein Wissenwollen auf die Geschichte des Universums soweit ausdehnt, daß er auch seine Zukunft dabei mit meint, so sucht er abermals allenfalls Erkenntnis, aber weder um weise noch um klug zu werden. Aber wo sind wir da hingekommen? Da fragt man sich doch, was für ein Zusammenhang zwischen der Geschichte des Universums und der Geschichte, die die Menschen miteinander und aneinander erfahren, überhaupt bestehen soll. Man braucht sich nur klarzumachen, wie wenig von der von der Wissenschaft erschlossenen riesigen Geschichte des Universums mit der überschaubaren Geschichte zusammenfällt, seit die Spezies Mensch auf unserem Planeten existiert. Vollends gilt es, wenn wir die Geschichte der Menschheit in dem Sinne meinen, in dem die Geisteswissenschaften von Geschichte reden - da wird einem geradezu schwindlig, was dann dieser Zusammenhang heißen soll. Was soll es für einen Sinn haben, diesen winzigen Abschnitt einer durch überlieferungshelle erleuchteten Zeitspanne in das Ganze des Evolutionsgeschehens des Universums einzufügen? Hier drängt sich doch für uns auf, wenn es um Erweiterung der geschichtlichen Horizonte geht, überhaupt nicht an jenen riesigen Rahmen zu denken, in dem das bißchen menschlicher Geschicke, das wir die Weltgeschichte nennen, fast verschwindet. Dagegen hat sich in unserem Jahrhundert der weltgeschichtliche Horizont, in dem wir unsere eigene Geschichte sehen, bedeutsam ausgeweitet. Als ich zur Schule ging, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg,' und die ersten Geschichtstabellen in die Hand bekam, fing noch alles mit der biblischen Geschichte an - nicht gerade mit der Schöpfung selber und der Sintflut. Es war die Geschichte des israelitischen Volkes, die man mit der ägyptischen Geschichte korrelieren konnte. Sie war die einzige, mit der man durch den Auszug der Kinder Israel aus Ägypten einen geschichtlichen Zusammenhang hatte. So stellte sich damals die biblische Überlieferung dar, und so klingt es ja noch heute mit unserer Zeitrechnung, in der wir die
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] ahrhunderte oder die Jahrtausende (oder schließlich auch die]ahrmillionen der Geschichte des Universums) durch »vor Christi Geburt« und »nach Christi Geburt« unterscheiden. Das sieht heute ganz anders aus. Unser Geschichtsdenken hat größere Ausmaße gewonnen. Auf die biblische Geschichte folgt nicht mehr unmittelbar Homer und die Geschichte Griechenlands und Roms. In meinen Studentenjahren las ich einmal über das zweite Jahrtausend vor Christus ein großartiges Gemälde historischer Phantasie, das der g.eniale I?i~ettant O~ wald Spengler geschildert hat. Seine Darstellung hat mich faszIDlert. Inz.WIschen bin ich diesem Jahrtausend in meiner eigenen Forschung zur GeschlChte der griechischen Philosophie und Wissenschaft öfters begegn~t, ~n~ das hat mir die Frage nahegebracht, wie es eigentlich dazu kam, daß die einzigartige Geschichte Europas mit dem Griechentum und de~ Christentu~ begonnen hat. Wieso konnte die Wissenschaft in unserer eigenen Geschichte des Abendlandes der Grundzug einer Hochkultur werden? Es gab doch Hochkulturen von höchstem Rang, wie wir längst schon wußten, wo auch allerhand wissenschaftliche Erkenntnisse erarbeitet worden waren, die in unseren Augen wichtige Beiträge, vor allem zur Geometrie und zur Astronomie, enthalten. Aber das war trotzdem etwas anderes. Was heute uns zu denken gibt, ist doch, daß wir in einer Kultur leben, in der. sich die .Wissenschaft seit Jahrhunderten zu einem bestimmenden Faktor rocht nur. In Europa, sondern in der ganzen Welt entwickelt hat. Die Erfolge und die Folgen unserer Wissenschaftskultur sind zu einem globalen Problem geworden, einem Problem der Menschheit, gerade auch im Bezug auf die für uns verhüllte Zukunft. Wir beginnen, für das ökologische Problem hellhörig zu werden. Zwar wissen wir, wie viele Ungewißheiten eingeschlossen sind, wenn es sich um den Haushalt der Menschheit auf der Erde handelt und um den Haushalt der Natur, von dessen Fortbestand und Gleichgewicht wir alle in unkalkulierbarer Weise abhängen. Da kann man viele Rechnungen anstellen wenn auch nicht in bestimmten Größen. Aber da das Irreversible ge~sser Prozesse zu Situationen der Erschöpfung fUhren muß,. kö~en wir es kaum unterlassen, an eine Grenzsituation zu denken. Da WIrd einem so recht handgreiflich, wie es zu dem riesigen Evolutionsproze~ de~ Universums quer steht, daß hier, aufdiesem einen Himmelskörp~r, WIe.WIr.noch so schön altmodisch zu der Erde sagen, denkende Wesen Sind, die die Frage nach dem Woher und nach dem Wohin ständig in sich tragen. So nimmt sich am Ende die Horizontausweitung, die Weltgeschichte des Menschen, die wir im 18. Jahrhundert Universalgeschichte zu nennen pflegten doch recht sonderbar bescheiden aus. Zwar wissen wir, daß ohne Äg~pten und Babyion kein Thales und kein griechisc~erW~iser de~ Frühzeit auch nur denkbar gewesen wäre. Auf der anderen Seite WIssen WIr ebenso, daß in keiner dieser anderen Kulturen der Vorzeit, trotz ihren großen
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Geschichte des Universums
Leistungen, In der Geometrie oder in der Algebra, sich etwas wie der Methodengedanke der Wissenschaft im abendländischen Stile entwickelt hat. Wie soll man eigentlich das Verhältnis zwischen der Geschichte des Universums und dem, was wir Weltgeschichte nennen, denken? Wenn auf der einen Seite die Geschichte des Universums steht und auf der anderen Seite die Geschichtlichkeit des Menschen, so werden wir es als ein verkehrtes Argument ansehen müssen, daß die Geschichte des Universums auch die Geschichte des Menschen umfaßt. Im Sinne mathematisch-physikalischer Hochrechnung der zeitlichen Ausdehnung gewiß. Wenn wir aber nach unseren geschichtlichen Anfängen fragen, wird das plötzlich bedeutungsleer. Wenden wir uns erneut zu dieser echten historischen Fragestellung, wie aus dem dunklen Hintergrund unserer Unwissenheit das beginnende Europa langsam in unseren Horizont tritt. Da erkennen wir etwa die Bedeutung, die die Erfmdung der Buchstabenschrift für unsere Zivilisation gehabt hat. Es war zwar keine europäische Erfindung, aber doch etwas, was zu dem großen Schicksalsweg des Abendlandes ganz wesentlich gehört. Da trat neben andere Schriftmöglichkeiten diese unendlich abstrakte Formung unserer Buchstabenschrift und dehnte sich sehr rasch über Griechenland aus und schließlich über unsere ganze abendländische Kultur. Ohne die Erfindung der Schrift und die Ausbreitung unseres Alphabets wüßten wir sehr vi~l we~ger über die geschichtlichen Anfänge, nach denen wir fragen. Aber Vvle welt kommen wir damit eigentlich zurück, durch Horner oder das Alte Test~ment, oder durch die von der modernen Wissenschaft erst ermöglichte EntZIfferung der ägyptischen Keilschrift? Das sind doch allzu bescheidene Fortschritte, die Frühgeschichte der Menschheit der Geschichte des Universums zu nähern. .Oder nehmen wir ein anderes faszinierendes Beispiel: In der Zeit des Hitlerschen ~assenwahns. wurde u. a. ein fataler Mißbrauch damit getrieben, Ergebrusse der prähistorischen Forschung für die Rassenlehre einzuspannen. Das Wort >dilettantisch< ist ein milder Ausdruck dafür. Aber ~zwi~chen hat die e~sthafte Forschung einige Handhaben gewonnen, prähistonsche ErkenntnIsse und archäologisches Wissen, das am Ende auch durch literarische Überlieferung gestützt wird, zusammenzuschließen. Mein verstorbener Freund Vladimir Milojcic hat auf dem Balkan Bahnbrechendes geleistet, wenn er auch leider die volle Ernte seiner Forschung nicht me~r selbst hat mitteilen können. Er hat - dort erstmalig - die Kette zW1sc~en prä~st~rischer und archäologischer überlieferung geschlossen. So WIrd es VIelleIcht auch in anderen Fällen möglich werden, durch die Spatenforschung näher an die überlieferungsgrenze heranzukommen. Wir würden n.ic~t me~ mit Hegel zu sagen wagen, daß die Weltgeschichte mit der sprachlIchen Überlieferung und mit Texten beginnt. Zwar, daß die
Sprachlichkeit und Schriftlichkeit etwas ganz Entscheidendes für unsere Kunde von Vergangenheit bedeutet, werden wir festhalten. Trotzdem werden wir zögern, alles Wissen von der Vergangenheit auf die Sprache und auf die Schrift zu beschränken. Das war am Ende die große Revolution der neueren Geschichtsforschung des beginnenden 19. und ihre Fortsetzung ins 20. Jahrhundert, daß man sich von den bloßen Geschichtserzählungen der griechisch-römischen oder sonstigen literarischen Überlieferung trennte und die unmittelbaren Dokumente geschichtlichen Lebens zu erschließen suchte. Es war schon etwas, daß man sich nicht mehr mit Herodot oder Thukydides oder Livius, d. h. mit der Historiographie, begnügte, sondern die Archive erforschte und dann vor allem durch Grabungsforschung Zeugnisse geschichtlicher Vergangenheit in die Geschichtsforschung einholte. So hat Collingwood, der große Erforscher des Limes auf der britischen Insel, durch seine spekulative Begabung und zugleich als Ausgräber Weltru~m erlangt. Er hat in dem Beginn der Spatenforschung geradezu eine neue Ara unseres Wissens von der Vergangenheit gepriesen. Alle diese Beispiele einer Ausweitung geschichtlichen Ged~.chtnisseskreisen um das Faktum der Überlieferung. Was ist eigentlich Uberlieferung? Was wird überliefert? Was heißt da Tradiertwerden? Eine Kunde? Es handelt sich offenbar nicht um bloßes Weitersagen einer Kunde von etwas Gewesenem oder Auffindungseiner Spuren aufGrund von überresten, sondern um Denkmale. Denkmal ist etwas, wobei man sich etwas zu denken hat - und woran man denken soll. Es ist nicht nur einfach etwas übriggeblieben oder im Gedächtnis geblieben. Hier deutet sich an, daß die Einheit der Geschichte des Universums etwas anderes ist als die Einheit geschichtlichen Gedächtnisses und seiner Bewahrung. Wenn wir aus geschichtlicher Erinnerung oder vager Ahnung, wie die Denkmale sie in uns wecken, zurückblicken, denken wir da etwa daran, was in der einen Geschichte des Universums das Auftreten des Homo sapiens bedeutet? - Gewiß gehört zur Geschichte des Universums auch, wann zuerst die Menschheit auf diesem Planeten, den wir die Erde nennen, aufgetreten ist und wie sich die MenschengauiIng entwikkelt hat - und vielleicht auch, ob und wann das Aussterben dieser Spezies zu erwarten ist. Der Mensch würde sich dann wie ein Leitfossil in einen Abschnitt der Geschichte des Universums einzeichnen. Aber die geschichtliche Vergangenheit, die wir aus Denkmalen und Überlieferung ahnend erwecken, meint etwas anderes. Die >Weltgeschichte< ist nicht eine Phase in der Geschichte des Universums, sondern meint ein eigenes Ganzes. Von der Geschichte, die wir die Weltgeschichte nennen, wissen wir nicht in erster Linie durch sogenannte >facts<, die man in objektiver Forschung mit naturwissenschaftlichen Methoden feststellen kann. Nichts gegen all das, was objektive Forschung - auch in der Geschichtsforschung - mit allen. ihren Methoden und mit allem Bedacht und aller Vorsicht als Tatsachen zu SIchern
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sucht. Insoweit gibt es methodische Verfahren auch in den Geisteswissenschaften, und sie sind dort genauso unentbehrlich. Wenn wir die reiche Phantasie eines Herodot hätten oder in einer überquellenden Fülle von Sagenströmen lebten, wie die epischen Dichter Griechenlands, würden Sage und Geschichte ineinanderfließen. Nach dem Bruch und der Neubildung so vieler Traditionen, wie sie in unserem geschichtlichen Bewußtsein noch leben, werden immer wieder neue Tatsachen unser Interesse wecken. Aber woher kommt unser Interesse an diesen Tatsachen? Was ist es für eine Fragestellung, auf die eine Tatsache für uns eine Antwort sein soll? Ich möchte in ganz weitem Sinne sagen: Wir wissen alles aus mythischer Erinnerung. Damit meine ich zunächst nur das, was das Wesen alles Mythischen ist, nämlich daß es nicht auf seine Richtigkeit geprüft und verifiziert wird. Es widerspricht geradezu dem Sinne des Mythischen, wenn man das verlangt. Es ist auch nicht beweisbar. Hier sollte man sich eines Wortes des Aristoteles erinnern, der gesagt hat: Es ist Sache des Gebildeten, zu wissen, wovon man Beweise verlangen soll und wovon nicht. So ist es auch mit der mythischen Überlieferung. >Mythos< heißt ja nichts anderes als Erzählung, aber eine Erzählung, die sich selbst beglaubigt, d. h., die man nicht zu beglaubigen und zu bestätigen sucht. So haben wir es freilich in unserem Wissenschaftsdrang des 19. Jahrhunderts trotzdem gehalten, daß etwa Schliemann die Ausgrabungen um Troja begann, um endlich zu beweisen, daß Homer nicht phantasiert hat. Inzwischen wissen wir, wie sehr er phantasiert hat und wie großartig das ist, daß er phantasiert hat. Das Verlangen nach Beglaubigungen und Bestätigungen entspricht zwar einem begreiflichen Wissensantrieb der Menschheit und hat sein Recht. Dennoch kann es sein, daß man über solchem Verlangen an dem vorbeisieht, was einem in Wahrheit wichtiger ist als Steine, Knochen, Gräber und ihre Weihgaben. Gewiß, alle solche Funde können Denkmäler sein, undjedes Denkmal zeigt auf etwas, woran man zu denken hat, und ist nicht nur etwas wie eine Tatsache, die man zu erkennen hat. Es bedarf einer langen und tieferen Besinnung, wenn man angesichts des überwältigenden Vorbilds der naturwissenschaftlichen Forschung sich der Fragwürdigkeit bewußt werden soll, die in der Übertragung der Selbstauffassung der modernen Wissenschaft auf unser geschichtliches Selbstverständnis liegt und wie darin Mißverständnisse ur: d ~elbstverkennungen drohen. Wenn Aristoteles sagen konnte, die PoeSIe seI wahrer, d. h. sie sei »philosophischer« und schließe mehr Erkenntnis ein als die >Historie<, dann ist das vom Wissenschaftsbegriff der Neuzeit aus aufs ers~e kaum begreiflich, und doch sagt dies ein Grieche im Zeitalter der beginnenden Aufklärung und der großen Entfaltung der griechischen Mathematik und der hellenistischen Wissenschaft. Damals wurde Wissensc?aft entwickelt, die in mancher Hinsicht noch immer dem entspricht, was WIr heute so nennen. So wurde damals die euklidische Geometrie und die
Beweislogik mit allen ihren Verfeinerungen musterhaft entwickelt. Noch heute ist die in unseren mittleren Schulklassen unterrichtete Mathematik die euklidische. Wenn es also auch wahr ist, daß es eine griechische Wissenschaft gab - und ebenso gab es Philologie -, so bestand daneben eine weithin beherrschende Präsenz der mythischen Erinnerung, die den ganzen Welthorizont aller damals Lebenden und Denkenden prägte. Wir sehen heute, daß etwa ein Dichter wie Homer kein Theologe war und daß es eine eigentümliche Verkennung der Dinge ist, wenn wir von einer »homerischen Theologie« reden. So hat man im 19. Jahrhundert mit diesem Titel ganze Bücher gefüllt, die die homerische Theologie behandelten. Man hat es da manchmal etwas schwierig gehabt, etwa, wenn da erzählt wird, daß Zeus alle die anderen Götter, als sie sich seinem Willen nicht fügten, an einer Kette aus dem Olymp heraushängte, bis sie wieder klein beigaben. Das sind schöne Geschichten, die uns da Homer erzählt, aber sie haben nicht den Wert von Tatsachen, auch nicht, wie die christliche Theologie, den von Wahrheiten. Es ist verständlich, daß sich die religionsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert angesichts dieser epischen Mythologie lieber auf die sogenannte Kultforschung versteift hat. Da kann man wirklich »Tatsachen« finden. Bruchstücke von Plastiken und Töpfen oder Inschriften oder einen Bericht, der sich bis in späte Zeiten erhalten hat und uns über die Kultsitten in früher Zeit berichtet. Das sind doch noch Tatsachen, auf die man bauen kann. Dagegen wurde von einem protestantischen Gelehrten wie Wilamowitz die homerische Mythologie und überhaupt die griechische Sagenwelt als Verfall echten religiösen Lebens interpretiert. Trotzdem würde ich empfehlen, Homer selbst zu lesen. Was er da erzählt, ergreift uns noch heute durch seine Menschlichkeit. Ich erinnere mich an meine eigenen Gymnasiastenerfahrungen, als man entweder für Achilles Partei ergriffoder für Hektor, und unsere Spiele spiegelten selbst in diesem militärfreudigen Deutschland vor dem Ersten Weltkriege unsere kindliche Sympathie mit dem unterliegenden großen Hektor. Was uns an diesen Gedichten immer wieder anzieht und was an ihnen immer wieder uns nahe bleibt - es ist alles so menschlich. Da wird am Beginn der Ilias in einer großartigen Szene geschildert: Agamemnon muß eine Sklavin, eine Kriegsgefangene, die ihm zugesprochen worden war, wieder abgeben, weil sie aufgrund eines Orakelspruches frei werden mußte, und nun verlangt der >König< Agamemnon eine entsprechende Kriegsgefangene von Achilles. So entsteht der unheilvolle Zwist vor Troja. Da wird nun geschildert, wie Achilies das Schwert im Zorn aus der Scheide zieht. Aber im letzten Moment erscheint ihm das gewaltige Haupt der Athene, und sie warnt ihn. Und dann fährt der Text fort: Und im letzten Moment schiebt er das Schwert in die Scheide und gewinnt seine Selbstkontrolle wieder. Zwei Deutungen desselben Vorgangs, die Warnung durch die
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Göttin und die Gewinnung der Selbstbeherrschung. So geht die >Aufklärung< mit der mythischen Welt mit, und das ist in der Tat das große Lebensgesetz des antiken Wissenwollens. Immer geht die Sagen- und Mythenüberlieferung mit der Aufkl~rung mit. Was man damals >Historia< nannte, meinte ein Wissen, das auf Erkundung durch einen Augenzeugen oder dessen Bericht beruht. Solche Form von Erkenntnis nannten die Griechen nicht Wissenschaft. Das bezeugen auf schöne Weise die Skeptiker, so Sextus Empiricus. Er hat alle damaligen Wissenschaften - und das war die Philosophie und die Mathematik - in ihrer Unzuverlässigkeit zum Gegenstand seiner skeptischen Kritik gemacht. Die geschichtlichen>Wissenschaften< kommen dabei so wenig vor wie die epische Überlieferung. Das war nicht Wissenschaft. Die Historiographie war eine Weise, Geschichten zu erzählen, so wie die Reisenden Geschichten erzählen. Man denke an das wundervolle Schifferlatein, das Homer seinem Odysseus in großartiger dichterischer Gestaltung in den Mund legt. Gleichwohl erwuchs in dieser Tradition griechischer Geschichtserzählung das Muster aller modemen kritischen Historie: Thukydides. Die Erinnerung zeigt, wie die großartige Weltorientierung des frühen abendländischen Beginns der Wissenschaftskultur in Griechenland zu gleichen Teilen auf Mythos und Historie, d. h. auf Erkundung gestellt war, aber jedenfalls nicht auf Beweislogik, wie die Mathematik oder die mathematisch instrumentierte Erfahrung. So etwas brachte erstmals die große Wendung zum Wissenschaftsbegriff der Neuzeit, die im 17. Jahrhundert einsetzte. Eine berühmte Schrift Galileis, der >Dialog über die beiden Weltsysteme<, kann als das Grundbuch einer verständlichen, d. h. für geisteswissenschaftliche Laien verständlichen Physik angesehen werden. Galilei war ein gebildeter Mann. Sein Gespräch wurde mit einem Partner geführt, der den schönen Namen Simplizio hat. Das ist ein sprechender Name, man braucht nur an Sancta Simplicitas zu denken. Auf Einfältigkeit geht natürlich die Anspielung in dieser Namengebung. Eine zweite Anspielung besteht nun darin, daß ein gewisser Simplicius, ein gelehrter Kommentator des Aristoteles, der Mann war, dem man bis in die beginnende Neuzeit hinein das Verständnis der aristotelischen Physik verdankte. Die Auseinandersetzung zwischen Galilei und seinem Partner Simplizio ist also im Grunde die Auseinandersetzung zwischen moderner Wissenschaftsgesinnung und aristotelischer Physik. Aristoteles erschien als der Repräsentant aller Vorurteile. Sein Gesprächspartner Simplizio weigert sich, durch das Fernrohr zu sehen oder das Mikroskop zu gebrauchen, das ihm Galilei anbietet - ähnlich wie Goethe, der ja auch so etwas nicht liebte, z. B. keine Menschen mit Brillen. Eine Grundgegebenheit unseres In-der-Welt-Seins schien ihm gestört, wenn nicht das naturhaft ausgestattete Sinnenwesen den Erscheinungen, die sich in der Natur darbieten, unvermittelt begegnet. Bei dem unglücklichen Kampf Goethes gegen
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Newton fand Goethe bekanntlich die Unterstützung der großen deutschen Denker seiner Epoche, Schellings, Hegels und Schopenhauers. 'So mächtig war die große Tradition des griechischen Kulturerbes, in dem uns ein einheitliches Weltbild vermacht war, das die Natur und die menschlichen Geschicke einheitlich umgriff. Das war g~iechische Erbschaft, daß die Erfahrung einer sich selbst festhaltenden und immer wieder erneuernden Ordnung an der Natur gemacht wurde, am Himmel wie an den >Meteora<, d. h. an den irdischen Naturerscheinungen, die allerdings nicht die wunderbare Regelmäßigkeit der Sternbewegungen erreichen. Der griechische Ausdruck für ~iese Ordnungserfahrung ist uns allen wohl vertraut. Es ist der Begriff des Kosmos, der ebenso das Ordnungsgefüge meint wie den Schmuck, die Schönheit dieser Ordnung. Auch sie ist im Worte >Kosmos< festgehalten - nicht nur in der abgeleiteten Form der »Kosmetik«. Ein so umfassender Ordnungsgedanke war nun in der griechischen Weltsicht das allgültige Vorbild auch für die menschliche Seele - und für das Leben der Menschen in der Gesellschaft. Die politische Einheit des griechischen Lebens war die Polis, die Stadt und der Stadtstaat (wenn man so sagen darf), und in ihr bedeutet Ordnung vor allem Rechtsordnung. So waren eS Rechtsbegriffe, unter denen sich die Griechen die Ausgleichsordnung des Universums denken konnten (Anaximander), und am Ende ist noch der Begriffdes Gesetzes, der freilich erst in der Spätantike die besondere Tönung von »Naturgesetz« erhielt, etwas, was in der modernen Wissenschaft weiterlebt. Dieser gesetzhafte Ordnungsgedanke spiegelt sich schon in der mythologischen Überlieferung der Griechen mit dem Antritt der Herrschaft des Zeus. Bei Hesiod wird deutlich, wie die Rechtsordnung sich damit begründet, die zugleich alle Dinge im Naturgeschehen bedingt. Die regelmäßige Ordnung von Tag und Nacht, die Folge der Jahreszeiten, ja selbst trotz aller Turbulenz die wechselnden Wetterbedingungen, all das trägt unser Vertrauen auf die Wied~rkehr unseres In-der-Welt-Seins. Hier hat sich eine Denkform im griechischen Denken zum Begriff erhoben, die die Stadt und die menschliche Seele, all ihren Leidenschaften und Verwirrungen zum Trotz, nach der Ordnung des Universums denkt und die wir in unseren menschlichen Beziehungen und in der Verfassung des Gemeinwesens aufzubauen bestrebt sind. An einer denkwürdigen Stelle des Dialogs >Phaidon< läßt Plato den Sokrates, als er die Fluchtangebote aus dem Gefängnis, die er erhielt, abgelehnt hatte und am letzten Tage seines Lebens, bevor er den Schierlingsbecher trinken mußte, in langen Gesprächen berichten, wie ihn die Wissenschaft seiner Zeit enttäuscht habe und was er von der Wissenschaft erwarten würde: so zu verstehen, warum die Erde das feste Zentrum alles Weltgeschehens sei, wie er »verstünde« - und das heißt, es für gut und richtig halte -, daß er im Gefängnis verharre und das ungerechte Urteil an sich vollstrecken
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lasse. So müßte auch die Natur erkannt und verstanden sein, daß sie so sei, weil es so gut sei. Was hier gefordert wird, fand in der aristotelischen Physik und in der teleologischen Denkweise Erfüllung, die in Metaphysik und Physik für viele Jahrhunderte ihren mächtigen gedanklichen Ausdruck gefunden hat. Das war der Gegner, gegen den sich die neue Wissenschaft der Neuzeit durchzusetzen hatte. Ihr Aufkommen war eine wahrhafte Revolution, deren Vorläufer wir freilich inzwischen immer deutlicher erkennen und die sich im 17. Jahrhundert voll durchsetzte. Damals zersprang die homogene Einheit des antiken Weltdenkens, an die wir noch heute wie mit einer Art Wehmut zurückdenken und die selbst einen Goethe immer wieder fasziniert hat. Die Einheit des Naturblickes, des Gesellschaftsblickes und des Seelenblickes ist etwas, was am antiken Denken immer wieder bewegt, weil uns das fehlt. Da soll gewiß nicht etwa heißen, daß es eine Rückkehr zu einem solchen System der Endzwecke gäbe, gegen das sich der ganze große sieghafte Aufbruch der modernen Wissenschaft orientiert hat. Aber der Verlust an Einheit, den das bedeutet, ist unser Schicksal geworden. Das hat sich auch im Wort »Philosophie« selber niedergeschlagen. Ursprünglich bedeutete dieses Wort nichts anderes als theoretische Erkenntnis überhaupt, die alles umfaßte. Selbst die moderne Naturforschung hat in einem ihrer klassischen Hauptwerke diese Bedeutung von »Philosophie« noch festgehalten. Newtons Werk hieß >Philosophiae naturalis principia mathematica<. Physik war für ihn noch Philosophie. Das war natürlich im 18. Jahrhundert kaum mehr als ein letztes Wetterleuchten am Horizont. Doch war es ein großer Schritt zur Einheit gewesen, als Newton die Himmelsphysik und die Erdphysik als ein und dieselbe Physik erkannte und damit eine neue mechanisch-dynamische Einheit des Naturgeschehens in ihrer Universalität begründen konnte. Was bedeutete das aber für das Denkgeschick der Neuzeit? Wenn die Naturordnung nur mehr ein Spiel von Kräften und Energien war, was war es dann mit den Ordnungen, die. die Menschen sich im gesellschaftlichen Leben gaben? Sie blieben ohne das Vorbild, das die alles Irdische umfassende Himmelsordnung gab. Ein eigentümlicher Riß war damit eingetreten - und ein neues Rechtfertigungsbedürfnis. Es war ein neuer Wissenschaftsbegriff, der sich im 17. Jahrhundert durchsetzte. Gegründet auf das Experiment und auf die Mathematik, war es eine neue Maßgesinnung, die in beständigem Fortschritt und dauernder Selbstüberholung Wissenschaft schließlich zur Forschung umbildete. Das versetzte das ganze große Erbe geistiger Tradition der abendländischen Kultur, das ebenso humanistischer wie christlicher Herkunft war, in einen neuen Rechtfertigungszwang. Wie kann diese Tradition neben dem Universalitätsanspruch der methodischen Wissenschaft noch ihre eigene Legitimität erweisen? Das zu leisten wurde die Aufgabe der neuzeitlichen
Philosophie, und ihr sichtbarer Ausdruck ist das Aufkommen des Begriffes »System der Philosophie«. Der Ausdruck »System« ist ursprünglich ein astronomischer und musikalischer Ausdruck, der sichjetzt für etwas anderes anbot. Damals, im Altertum, ging es darum, die zyklische Bewegung des Fixsternhimmels und die davon so sichtbar abweichende Bewegung der Irrsterne, die wir mit dem griechischen Ausdruck die »Planeten« nennen, einheitlich zu begreifen. Das leistete der Begriff des »Systems«, den Zusammenstand von unvereinbar Scheinendem zu erklären. Im 18. Jahrhundert begann dieser Ausdruck sich auch für die neue Aufgabe der Philosophie einzubürgern, das große Kulturerbe menschlichen Wissens mit dem Universalitätsanspruch der neuen Erfahrungswissenschaften zu vereinbaren. Zum letzten Male ist es der deutsche Idealismus gewesen, der einen solchen großen Versöhnungsversuch unternahm - und ein solcher ist bis auf die akademischen Epigonenerscheinungen des 19. und 20. Jahrhunderts nicht wiederholt worden. Zwar ist es eine unabweisbare Forderung der Vernunft, Einheit der Erkenntnis zu suchen oder zu erreichen. Aber wenn aufder einen Seite das Kulturerbe der europäischen Welterfahrung griechisch-christlicher Herkunft steht und auf der anderen Seite ein unaufhaltsamer Fortschritt in der Erkenntnis und Beherrschung der Natur, dann gibt es keine Einfügung der Wissenschaft in das Begriffsganze apriorischer Wahrheit. Die Idee einer alle Wahrheiten umfassenden Universalwissenschaft, wie sie die Philosophie ehedem einmal war, ist offenbar unversöhnbar mit dem Standpunkt der Erfahrung, deren unabschließbarer Fortgang jede erreichte Wahrheit weiter differenziert und überholt. Eine spekulative Physik, die apriori weiß und nicht auf den methodischen Linien der Forschung fortschreitet, konnte keine dauerhafte Versöhnung mit den Erfahrungswissenschaften erreichen (Schelling). Das hat im 18. Jahrhundert Kant erkannt und die kritische Beschränkung der Erfahrungstatsachen auf die Erscheinungen gelehrt. Zugleich hat er einen anderen Sinn von Tatsachen gerechtfertigt, der durch das »Vernunftfaktum« der menschlichen Freiheit gebildet ist. Das war eine grundlegende Einsicht der >Kritik<, die von der Philosophie im Zeitalter der Wissenschaft nur negativ verstanden wurde und als Kritik am Ideal einer dogmatischen Metaphysik überhaupt Epoche gemacht hat. Ich war genau achtzehn Jahre alt, als ich in meiner Heimatstadt Breslau noch während des Ersten Weltkrieges die erste Vorlesung eines Professors der Philosophie hörte, der die dogmatische Metaphysik im Sinne Kants verwarf. Das durchzuckte einen bis in die Zehenspitzen, wie das Wort» dogmatische Metaphysik« erklang. Hier war Kant als der Alleszermalmer gesehen, wie ihn Mendelssohn schon als Zeitgenosse Kants gekennzeichnet hatte. Die Philosophie schien damit auf die Begründung und Rechtfertigung der Erfahrungswissenschaften und ihrer mathematischen Grundlagen beschränkt. Damit hatte sich eine totale Umkehrung vollendet. Ehedem im Mittelalter
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war die Philosophie und Metaphysik >ancilla theologiae< gewesen. Jetzt wurde sie die >ancilla scientiarurn<, die Magd der Wissenschaften, und wurde mit dem feierlichen Namen »Erkenntnistheorie« in Dienst genommen. Aber war das das Ganze, was ehedem das Nachdenken der Menschheit in ihrem Lebensgang aus Erfahrung und Einsicht gesammelt hat? Kants wahres Verdienst, das erst in unserem Jahrhundert zu vollem philosophischem Selbstbewußtsein erwachte, war, daß der Universalitätsanspruch der Wissenschaft eine Grenze hat und daß die menschliche Freiheit niemals eine Erfahrungstatsache im Sinne der Erfahrungswissenschaften sein kann. Sie ist allein ein Faktum für den Menschen, der handelt. Ein ganzes Jenseits dieses methodisch defInierten Erfahrungsbegriffs verlangte nach Rechtfertigung, die nicht mehr hinter der Physik als Meta-Physik folgen konnte, sondern auf der Grundlage der menscWichen Freiheit beruht, die keine Naturtatsache ist. Das aber ist das große Vermächtnis, das die Geisteswis':' senschaften verwalten und in der dauernden Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsideal der Naturwissenschaften zu verteidigen haben. Man fragte sich: Sind die Geisteswissenschaften wirklich nur die ungenauen Wissenschaften? Sie haben nicht die »Erscheinungen« zum Gegenstand, als die Kant den Gegenstand theoretischer Wissenschaft defmiert hat. So hat man versucht, ihren »Gegenstand« denlgegenüber anders zu definieren, indem man den Begriff der Werte einführte. Sie sind Gegebenheiten, wonach man sich richt~n muß, die also eine normative Qualität besitzen und daher freilich nicht durch den Methodenbegriff der »wertfreien« Forschung erfaßbar sind. So galt es, die Geisteswissenschaften aus der direkten Abhängigkeit von dem Methodenideal der Naturwissenschaften zu lösen, um sie auf ein anderes Ideal zu verpflichten. Dies Ideal kann sich gewiß nicht mit der kontrollierbaren Sicherheit einer Tatsachenwissenschaft messen. Gerade deshalb gehen die Geisteswissenschaften auf der andem Seite auf etwas, was eine ganz andersartige Einsichtigkeit und Verständlichkeit erfordert. Worauf ich damit hindeute, ist alles andere als etwas Neues. Es ist vielmehr das Umgekehrte wahr: Der Aufbruch der tleuen Wissenschaftsgesinnung, Forschungsgesinnung, Meßgesinnung hat die Neuzeit im Zeichen der modernen Wissenschaft heraufgeführt. Ihre Erkenntnisse finden sich in keinen größeren Ordnungszusammenhang eingefügt, der jedermann einleuchtet. Fragen, auf die das menscWiche Wissenwollen von jeher gerichtet bleibt, gehen weit über das hinaus, was unter den Prinzipien moderner Wissenschaftlichkeit verantwortbare Antworten finden läßt, ja auch nur gefragt werden kann. Das sind nicht etwa Grenzen, die wir der Wissenschaft setzten. Es sind Grenzen, die die Natur selbst gesetzt hat, indem sie in dem großen Prozeß der Evolution des Universulns Wesen hat entstehen lassen, eben die Menschen, die von der Natur so ausgestattet sind, daß sie nicht nur
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ihre Naturbestimmung erfüllen, sondern wissen wollen. Die moderne Wissenschaft ist selber eines der großen triumphalen Erzeugnisse dieser Freiheit und Kühnheit, mit der die Menschen sich die Ordnung ihres Lebens innerhalb der Natur selbst zu gestalten haben. $0 kam es zur Geburt der Wissenschaft bei den Griechen und ebenso zu der neuen Gestalt der modernen Wissenschaftlichkeit. Es ist die Vorgegebenheit der menschlichen Natur in ihrer Fragelust und ihrer Wissensfähigkeit, die der modemen Wissenschaftsgesinnung ebenso zugrunde liegt wie den religiösen Vorstellungen, Rechtsordnungen, Sittenordnungen, Wirtschaftsformen und sogar Kriegsordnungen und Friedensordnungen, die die Menschen entwickelt haben. All das gehört zu der Wirklichkeitsgestaltung, die die Natur dem Menschen überlassen hat und in der der Mensch überall an Grenzen stößt. Auch die modemen Erfahrungswissenschaften haben ihre Grenzen. Sie reichen nur so weit, als ihre erfahrungswissenschaftlichen Methoden es erlauben. Das heißt nicht, daß nicht anjeder Gestaltungsform der menschlichen Kultur auch die methodische Selbstdisziplin moderner Wissenschaftlichkeit sich zu bewähren vermag. Aber unsere menschliche Aufgabe wird immer bleiben, die Fortschritte unseres menscWichen Wissens und unseres Könnens in die Vorgegebenheiten der Natur und der Kultur, innerhalb deren wir leben, einzuordnen. Da stehen wir heute vor ungeheuren Aufgaben. Es sind ungeahnte Fortschritte im Informationswesen, zu denen die moderne Technik geführt hat. In immer zunehmendem Maße nehmen auch die Wissenschaften, die wir die Geisteswissenschaften nennen, an den Fortschritten dieser technischen Entwicklung von Erkenntnismitteln und Informationsmitteln teil. Wie vollständig ist doch etwa ein heutiger Index, den uns der Computer erstellt! Wie prompt ist die Bedienung der Bibliotheksbenutzer durch den Computer. Jedes Buch ist rasch erhältlich. Aber ist das wirklich nur ein Fortschritt? Ich habe immer wieder Zweifel. Wenn alle Informationen, die man braucht, sogleich erhältlich sind - ob es nicht besser ist, wenn ich etwas vergessen habe und es wieder suchen muß und dabei dann vielleicht noch etwas anderes finde als das, was ich suchte? Das nennt man nämlich erst wahrhaft Forschen: Fragen stellen, die immer noch weiter zu Fragen führen, die man nicht voraussah. Wir stehen heute vor ganz neuen Möglichkeiten, unser Gedächtnis zu entlasten, und das schließt ein, daß wir die eigene Besinnung zwecks Wiedererweckung aus dem Vergessen nicht mehr brauchen - und Sicherinnern nicht mehr pflegen. Was das bedeuten wird, was da für Änderungen im menschlichen Zusammenleben auf die Menschheit zukommen werden, wissen wir noch gar nicht - und auch nicht, wie wir mit so vielen anderen Möglichkeiten, die uns neu in die Hand gegeben sind, in der Ordnung unseres Lebenshaushaltes fertig werden. Es sieht so aus, als müßten wir die Fortschritte im Informationswesen in den Geisteswissenschaften
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durch Einbußen in der Ausbildung der produktiven Kräfte, der Phantasie und der Gestaltung, bezahlen. Ganz unterschiedlich kann das auch in den Naturwissenschaften nicht sein. Doch ist da, wo es sich um Messen und Datenverarbeitung handelt, die Lage anders. Was in den Naturwissenschaften durch diese Fortschritte möglich wird, ist unabsehbar. Auf vielen Gebieten sind wir durch diese neuen Fortschritte so weit gekommen, daß Forschungen, die früher 20 Jahre lang gebraucht haben, heute im Computer innerhalb von einigen Minuten zu Resultaten geführt werden. Das sind unzweifelhafte Gewinne, die hier erzielt sind, aber auch Aufgaben, die sich für die vernünftige Anwendung unseres Könnens immer schwerer gestalten. Denken wir allein an das heilsame Wunder des Vergessens und die verklärende Zaubermacht des Erinnerns. Das Abrufen von Daten aus den Datenbanken wird uns von solchem Glück nichts bescheren. Da steht uns in einer riesigen Flächenbreite neue Präsenz zur Verfügung. Aber mit neuen Augen auf das Alte und Überlieferte blicken und neue Fragen stellen, lernen wir dadurch nicht leichter, und das bleibt nach wie vor das eigentliche Leben des geschichtlichen Denkens. Ich erinnere mich meiner Kindheit. Mein Vater war Naturforscher und bedauerte zeit seines Lebens, daß ich zu den Schwätzprofessoren ging. Da hörte man immer wieder, die Fragestellung entscheide in der Wissenschaft. Das ist weiß Gott ein wahres Wort und gilt für alle Wissenschaften. Darin gibt es keinen Unterschied. Die Phantasie der fruchtbaren Fragestellung muß gewiß immer von Selbstkontrolle geleitet sein, die auf fundiertem Wissen beruht. Aber wenn eine lähmende Masse von Informationsfluten uns bis an den Hals steht, dann drängt sich das Weitergehen auf vorgeplanten Wegen in den Vordergrund. Gleichwohl bleibt das Suchen und Finden neuer Wege die eigentliche Aufgabe von Forschung. Technische Beherrschung, kontrollierbare Systeme sind nicht alles in der Wissenschaft. Erst recht gibt es in der Praxis des Lebens immer wieder Situationen, die uns vor Unbekanntes stellen und angesichts deren wir uns niemals einbilden werden, daß irgendeine )(.ybernetik oder auch eine regeltreue Hermeneutik dazu helfen, das Neue, das Andere - oder den Anderen, mit dem wir es zu tun habenoder auch nur uns selbst besser zu verstehen. Rufen. wir eigene Lebenserfahrung auf Wie ist das, wenn man einem anderen, der sich aussprechen will, ins Wort fällt: ich hab' schon verstanden. Das ist nicht nur nicht gerade ermunternd für den Anderen zumal wenn er seine eigene Sache mit Eifer vertreten möchte. Den Andere~ verstehen ist in Wahr.heit .eine schwere Kunst - und dazu eine menschliche Aufgabe. Was uns dle.Wlssen~chaftdabei zu helfen vermag, ist fragwürdig. Der Bereich, in dem WIr uns hier bewegen, ist der Bereich von Praxis. Praxis aber ist nicht Anwendung von,Wissenschaft, sondern umgekehrt eine eigene Quelle von Erfahrung und EInsicht. Die Fähigkeit, um die es dabei geht, ist eben nicht
die bloße Anwendung von Regeln. Die Praxis des Lebens stellt immer wieder vor Entscheidungssituationen, in denen wir nicht den Experten fragen können und in denen der Experte uns auch gar nicht helfen kann. So müssen wir selber entscheiden - und wir wollen uns doch richtig entscheiden. Aber was ist da das Richtige? Welcher Evidenz folgen wir da? Sicherlich nicht einer Evidenz, die durch die Anwendung von Kriterien oder durch das Zwingende von Beweisen erzielt wird. Es spielt offenbar eine andere Voraussetzung hinein, die dem eigentlichen Namen für praktische Philosophie beigeordnet ist. Es ist das Wort >Ethik<. Dieses Wort hängt zusammen mit >Ethos< und am Ende mit der Gewohnheit, die man angenommen hat und die zum gedankenlosen Weitermachen führt. Das ist oft nichts, was wir nach Regeln rekonstruieren und kontrollieren können, sondern wir folgen früh einsetzenden Anpassungsprozessen, die man heute >Sozialisation< nennt. Da mögen Sitten, Ordnungen und Herkommen noch so zerfallen, vieldeutig und fragwürdig geworden sein, so daß manche sogar so naiv sein mögen, nach einer neuen Ethik zu rufen, als ob das die Aufgabe von Professoren der Philosophie wäre. Das wäre freilich praktisch. Es gibt ein schönes antikes Gedicht: »Ja, wenn das so einfach wäre, Tugend in die menschliche Seele einzupflanzen, wie es möglich ist, durch die rechte Medizin eine Krankheit zu heilen, dann würde dieser Mann noch weit mehr als Gott gefeiert werden, mehr noch als Askulap. « Einen solchen Expertengott darstellen zu wollen, wird wohl kaum ein vernünftiger Mensch versuchen, der sich nicht in göttlichem Auftrag versteht. Man weiß, daß es dafür keinen Experten gibt und daß man sich von der eigenen Verantwortung, auch für seine Fehler, nicht entlasten kann, indem man sich auf eine andere Instanz beruft. Wir wissen, daß wir für unsere Entscheidungen einzustehen, Rede zu stehen haben, wenn auch vielleicht vor allem vor uns selber. Im: praktischen Leben kann es nicht unser Ideal sein, alles Subjektive sozusagen äus der Überlegung und rationalen Prüfung auszuschließen, wie es gewiß die Aufgabe des Experten - wie des Forschers - ist, und aufgrund eines anonym gewordenen Wissens Ratschläge und Weisungen zu geben. Dort, wo es um unsere eigensten Angelegenheiten geht, folgen wir nicht blindlings den eingeprägten Mustern der Gesittung, die uns geprägt hat, sondern stehen dafür ein, und diese Verantwortung gehört offenbar so wesentlich zu der Person, daß keine Regel und Rechtsordnung bis in diese letzte Entscheidungsinstanz des Gewissens hineinreicht. Nun ist gewiß die Begegnung mit den Formen menschlicher Kultur, den Fragen der Religion, des Rechtes, der Sitten, des Handeins, die in der Wissenschaft stattfindet, nicht das gleiche wie die eigene- Entscheidung des Handelnden in der Konkretion seiner Lebenssituation. Und doch ist gerade das das Besondere, was die sogenannten Geisteswissenschaften in das Ganze unseres wissenschaftlichen Tuns einbringen, daß alle ihre Begegnungen und
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sogenannten »Gegenstände« nicht einer erklärenden Wissenschaft unterworfen werden, wie sie die Ordnungen der Natur sonst als höchstes Erkenntnisziel verfolgen und alles als Fälle von Gesetzen erkennen läßt. Sie gehören vielmehr Ordnungen an, die sich durch unsere eigene konkrete Teilhabe an ihnen ständig bilden und umbilden und die damit zu unserem Wissen um menschliche Möglichkeiten und um die normativen Gemeinsamkeiten, die uns selbst betreffen, beitragen. So bringen sie uns vor uns selber. Das aber schließt immer den Blick fur die eigenen Grenzen ein. Hier gibt es keine Gewißheiten von der Art der theoretischen, »wissenschaftlichen « Garantien, und hier bedarf es immer des Blicks auch für die andere Seite - nicht nur für das, was einem selber vorschwebt, sondern auch, was andere denken. Der Andere umfaßt aber in unserer pluralistischen Welt auch fremde Kulturen und feme Mitbewohner dieser Erde. All das werden wir in Zukunft mehr und mehr zu lernen haben. Unser menschliches Ziel kann ja nicht sein, durch eine technische Zivilisation alles zu erdrücken, was uns oder was anderen überkommen ist und was uns alle in unserer gesamten Lebensgestaltung geprägt hat. Nur wenn wir die Fähigkeiten des Verstehens und gegenseitigen Geltenlassens in die neuen Aufgaben einbringen, die unsere Welt ins Gleichgewicht bringen und im Gleichgewicht halten, werden wir neue Ordnungen schaffen. Diese Fähigkeiten zu pflegen, dazu tragen unter allen Wissenschaften am meisten die sogenannten Geisteswissenschaften bei. Sie konfrontieren uns beständig mit der ganzen reichen Skala des Menschlichen - und des Allzumenschlichen.
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18. Bürger zweier Welten (1985)
Wo es um Wissenschaft geht, bedarf es einer Besinnung auf Europa, auf die Einheit Europas und auf seine Rolle in dem Weltgespräch, in das wir eintreten. Wie immer man Wissenschaft genauer beschreiben will und was der besondere Charakter der Wissenschaft vom Menschen immer sein m~g - daß es die in Griechenland entwickelte Wissenschaft ist, die den unterscheidenden Charakter der von Europa ausgegangenen Weltkultur darstellt, ist ganz unleugbar. Zwar muß man zugeben - und das erkennen wir immer mehr -, daß auch die Griechen schon aus anderen Kulturen zu lernen vermochten und daß etwa die Babyionier wesentliche Leistungen auf dem Gebiete der Mathematik und der Astronomie vollbracht haben, und ähnlich die Ägypter, wie den Griechen im besonderen bewußt war. Mehr noch ist es die gedankliche Gestaltung der verschiedensten religiösen überlieferungen, durch die die großen Hochkulturen des Altertums das griechische Denken befruchtet haben. Trotzdem bleibt es wahr, daß die Gestalt der Wissenschaft - in dem möglichst weiten Umfang des Wortes - in Griechenland ihre eigentliche Prägung erfahren hat, und dies in einem Sinne, der noch nicht den besonderen Sinn der modernen Erfahrungswissenschaft einschließt, durch den Europa heute die Welt verändert. Wir müssen das in seiner ganzen Bedeutung realisieren. Durch den wissenschaftlichen Zug, der in das geistige Werden Europas eingegangen ist, hat eine Differenzierung von Aussageformen und Gedankenformen ihre Entstehung gefunden, wie sie es sonst nirgendwo im Kulturleben der Menschheit gegeben hat. Ich meine die Tatsache, daß Wissenschaft und Philosophie eine selbständige Figur des Geistes bilden, die sich von Religion und Poesie abhebt. Ja, sie hat auch noch Religion und Poesie voneinander geschieden und der Kunst eine eigene, wenn auch noch so prekäre Wahrheitsgestaltung zugewiesen. Das Faktum als solches ist allbekannt. Wir finden uns völlig hilflos, wenn wir in unsere klassifizierenden Begriffe von Philosophie, Wissenschaft, Religion, Kunst und Dichtung etwa die Weisheit Ostasiens einordnen sollen. Es ist unleugbar, in Griechenland hat der Weltgeist zuerst die Wendung genommen, die zu diesen Unterscheidungen geführt hat. Wir können das, was da geschah
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und die Geschichte des Abendlandes gestaltet hat, in einem sehr weiten Sinne >Aufklärung< nennen, Aufklärung durch Wissenschaft. Was heißt hier Wissenschaft? Vielleicht wird sich erweisen, daß der Aufbruch der Wissenschaft in Griechenland auf der einen Seite und die Entstehung der Wissenschaftskultur der Neuzeit auf der anderen Seite trotz aller Kontinuität der abendländischen Geschichte einen so tiefen Unterschied aufweisen, daß auch der Begriff der Aufklärung in seiner Sinneinheit davon betroffen wird. Mit dieser Frage wird heute ein offenes und kontroverses Thema unseres eigenen Selbstverständnisses angeschlagen. Das hat, wenn ich nicht irre, seine Folge auch rur die philosophischen Implikationen, die Levinas aus dem Begriff des savoir entwickelt hat. Wenn das savoir von Levinas der Transzendenz des Anderen entgegengesetzt wird, hat er eine ganz andersartige Grenzziehung zum Thema gemacht als die innerhalb der Wissenschaftsgeschichte des Abendlandes aufgekommene. Ja, es will mir scheinen, als ob gerade in den Formungen und Umformungen von Wissenschaft, die sich in der abendländischen Geschichte vollzogen haben, die Transzendenz des Anderen eine bestimmende Rolle gespielt hat und nicht nur ein »Jenseits« von aller »Wissenschaft« und ihrer »Immanenz« darstellt. Das» ganz Andere« Gottes, das Andere der Anderen, Nächsten, jenes Andere der in sich verschlossenen Natur - sie alle überantworten sich nicht unserem savoir. Das kündigt sich bereits in der Tatsache an, daß der Begriff der Philosophie und sein Verhältnis zum Begriff der Wissenschaft eine eigene Geschichte durchlaufen hat. Er deckt sich ursprünglich durchaus nicht mit dem Wortsinn, den wir heute mit dem Begriff von Philosophie verbinden. Bekanntlich hat das griechische Wort >Philosophia< den Inbegriff aller theoretischen Leidenschaft, aller Hingabe an reine Erkenntnis ohne Blick auf den Nutzen oder den Gewinn, der daraus zu ziehen ist, bedeutet. Erst Plato hat dem Wort einen neuen Akzent verliehen. Philosophia bedeutet fur ihn nicht »Wissen«, sondern das Verlangen nach Wissen, das Streben nach der >Sophia<, der Weisheit, dem nur den Göttern vorbehaltenen Besitz der Wahrheit.. Im Geg~nsatz menschlichen und göttlichen Wissens liegt ein Motiv, das In der WIssenschaftsgeschichte der Neuzeit zu neuer, bestimmender Bedeutung aufgestiegen ist. Das deutet auf den problematischen Charakter der Wissenschaftlichkeit der Philosophie hin. Im Sprachgebrauch des Altertums und seinem Fortleben ist die platonische Prägung, daß >Philosophia< bl?ßes Streben nach der Wahrheit sei, nicht wirklich durchgedrungen. Erst mIt dem Entstehen der modemen Erfahrungswissenschaften wurde diese platonische Umprägung der Bedeutung des Wortes neu virulent. Sie hat damit freilich zugleich eine Sinnverschiebung erfahren. Es wurde ebenso s.chwieri~ wie notwendig, das Recht der Philosophie gegenüber der neuzeitlIchen WIssenschaft zu definieren, wie es gegenüber dem Wissensanspruch
der griechischen >Sophistik< notwendig gewesen war. Die wechselseitigen Beziehungen von Philosophie und Wissenschaft sind seitdem ein immer wieder neu zu bedenkendes Problem der Philosophie selber. Aus diesen wortgeschichtlichen Beobachtungen können wir bereits die Lehre ziehen, daß der Sprache und ihrer Artikulation der Welterfahrung fur unsere Frage nach Einheit und Differenz von» Wissenschaft« und Philosophie eine ganz zentrale Rolle zufällt. Für die Griechen ist Sprache in erster Linie das in ihr Gesagte, >Logos< als la ky0J.lEva. Sprache ist in diesem Betracht nicht jenes System von Zeichen, das unsere Linguistik studiert oder das unsere Philosophie der Sprache als Problemfeld diskutiert. Der Begriff des Logos ist vielmehr der Inbegriff der in der Sprache niedergeschlagenen und in sprachlicher Form weitergereichten Einsichten der Menschen, und es ist dieser Begriff des Logos, der auch den griechischen Begriff von Wissenschaft von Grund auf bestimmt. Rede stehen können, Rechenschaft geben können, Begründen und Beweisen - all das ist in der >Logik< und >Dialektik< der Griechen impliziert. Es gehört dazu, daß der leitende Ausdruck für die Wissenschaften, den die Griechen benutzten, >Mathematik< (la flaBftflma) war: das, was man lehren und lernen kann, und das schließt ein, daß einem Erfahrung dabei weder hilfreich noch gar unentbehrlich wäre. In diesem Sinne ist die Mathematik fur die Griechen die vorbildliche Figur von »Wissenschaft«, und das in einem Sinne, der von der Rolle, die die Mathematik für den Wissenschaftsbegriff der modernen Naturforschung spielt, wesentlich verschieden ist. Die Vorbildlichkeit der Mathematik im griechischen Wissen meint nicht zuletzt das Ideal der genauen Übermittlung - und damit, daß Lehrbarkeit und Lernbarkeit mit Erkenntnis unzertrennlich verknüpft sind. Wir nähern uns mit solchem Achten aufdie Sprache der uns beschäftigenden Frage. Es ist eine faszinierende Geschichte, die die Naturerkenntnis in unserem Kulturkreis durchlaufen hat, und gewiß hat dabei die Sprache für unsere gesamte innere Denkgeschichte fundamentale Bedeutung. Es war im Anschluß an die Sonderstruktur der indoeuropäischen Sprachen, daß sich im griechischen Denken aufeinem langen Wege der Aufklärung ein Begriffvon »Substanz« entwickelt hat und aufihn bezogen ein Begriffdessen, was alles der Substanz zukommt. Die prädikative Struktur des Urteils beschreibt offenkundig nicht nur die logische Form des Satzes, sondern auch die begreifende Artikulation der Wirklichkeit. Das ist nicht selbstverständlich. Im Wesen der Sprache liegt zunächst das rätselhafte Wunder des Nennens und der Bedeutung des Namens. Das dürfte noch aller Sonderstruktur von Sprachen und Sprachfamilien vorausliegen und stellt bis heute ein Element unseres sprachlichen Selbstverständnisses dar. Wort und Sache scheinen aufs erste unablösbar miteinander vereint. Für jeden Sprecher sind fremde Sprachen, in denen dasselbe anders heißt und lautet, beunruhigend und fürs erste
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schier unglaublich. Eine Sprachfamilie wie die unsrige, die in ihrer eigenen Grammatik so auf den Bezug des Zeitwortes auf das Hauptwort, des Prädikats auf das Subjekt gestellt ist, war nun zu der Auflösung solcher Einheit von Wort und Sache - und damit zur »Wissenschaft« - gleichsam prädisponiert. Daß das >Onoma< nur der Name ist, den man einer Sache oder Person »gibt«, ist eine revolutionäre Einsicht, die wir zuerst bei Parmenides finden: »Darum wird alles bloßer Name sein, was die Sterblichen in ihrer Sprache festgesetzt haben, überzeugt, es sei wahr.« 1 Daß ein Seiendes wechselnde Namen habe, daß dieselbe Sache wechselnde Prädikationen erfahren darf, schließt ein Seinsverständnis ein, auf das hin die Griechen ihre großen Erkenntnisleistungen selber interpretiert haben. Es ist gleichsam der überdruck dieses Begriffs des >subiectum< als der bleibenden Grundlage wechselnder Prädikationen und Aussageinhalte, was den Begriffder Wissenschaft im griechischen Denken geprägt hat. Diese Prägung schließt gegenüber der wechselnden Erfahrung einen Wahrheitsanspruch ein, der diese vom eigentlichen Wissen ausschließt. Nur von dem, was immer ist, wie es ist, und von dem man daher wissen kann, ohne zu sehen und neu zu erfahren, kann es im eigentlichen Sinne Wissenschaft geben. Die bloßen Regelhaftigkeiten, die man in den Veränderlichkeiten der Erfahrung ausmachen kann, sind nur in einem abgeschwächten Sinne erkennbar, und das einmalig Konkrete kann nie in demselben Sinne »gewußt« sein wie die mathematischen oder die logischen Wahrheiten. So hat Plato der Kontingenz des Wirklichen nur in mythischer Form Ausdruck gegeben, und Aristoteles hat die Umsetzung dieser Metaphorik in >Physik< nur als eine Formenlehre des Wirklichen ausgeführt, Seine >Physik< ist Morphologie. Wenn man das im Auge behält, ist der Aufbruch der modernen Erfah, rungswissenschaften im 17. Jahrhundert ein Ereignis, von dem her sich der gesamte Begriff von Wissen neu bestimmt, und damit sieht sich auch die Stellung der Philosophie und ihr alles umfassender Anspruch in eine neue Fragwürdigkeit versetzt. Das neue Ideal der Methode und der durch sie garantierten Objektivität der Erkenntnis hat Wissen gleichsam aus dem Lehr- und Lebenszusammenhang des sprachlich-gesellschaftlich geteilten Wissens herausgedreht und damit eine neue Spannung in das hineingetragen, was menschliches Wissen und was menschliche Erfahrung meint. Die Mathematik ist von nun an nicht so sehr das Vorbild der Wissenschaften, wie sie es bei den Griechen war, als der wahre Gehalt unseres Wissens von der erfahrbaren Welt selbst. Für die Griechen ist es selbstverständlich, daß »Erfahrung« nicht »Wissen« ist - mag es immer Erfahrung sein, auf Grund deren sich die >Logoi< und >Doxai< bilden, die sich als Wissen bewähren, und
mag Erfahrung für die praktische Anwendung von Wissen unentbehrlich sein. - Dagegen ist es für das neuzeitliche Denken selbstverständlich, daß sich Wissen und Wissenschaft an den Erfahrungstatsachen zu bewähren hat. Erkenntnis, die wirklich» Wissen« ist, kann nur aus der Anwendung von Mathematik auf die Erfahrung gewonnen werden und muß sich vor den durch sprachliche Konvention suggerierten Vorstellungen, den Idola fori, hüten. Und doch gibt es ein reiches Erbe menschheitlichen Wissens, das aus unserer geschichtlichen Vergangenheit uns überkommen ist und - gleichsam die andere Hälfte der Wahrheit - als das im Laufder Geschichte Bewährte, Geglaubte, Gehoffte zu uns spricht und für uns gilt. Die Einheit unserer Kultur vermag ich daher nur unter dem Gesichtspunkt zu sehen, daß der Aufbruch der modemen Erfahrungswissenschaften im 17. Jahrhundert das Ereignis ist, mit dem sich die bisherige Gestalt von Gesamtwissen, von Philosophie oder )Philosophia< im umfassenden Sinne des Wortes, aufzulösen begann. Die Philosophie ist selbst ein problematisches Unternehmen geworden. Was nach dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft und ihrer enzyklopädischen Verarbeitung im 17. und 18. Jahrhundert Philosophie neben den Wissenschaften überhaupt noch sein kang., ist die Frage, vor der alles neuzeitliche Philosophieren steht. Ich habe in meinen Arbeiten wiederholt darauf hingewiesen, wie der Begriff des »Systems« aus dieser prekären Lage heraus in die Sprechweise der Philosophie eingedrungen ist. Das Wort ist natürlich älter und gutes Griechisch. Es bedeutet jede Art von Gefüge im Sinne des Zusammenbestandes von Verschiedenem. Aber als Begriff verschärfte es sich zur Formulierung der Aufgabe, das Inkompatible, das miteinander Unverträgliche in einen einheitlichen Denkzusammenhang zu bringen. So ist der astronomische Begriff der Weltsysteme entstanden, seit die antike Astronomie vor die platonische Forderung gestellt war, von der Voraussetzung der Zirkularität der Himmelsbewegungen aus die Unregelmäßigkeit der Planetenbahnen zu erklären. In der Neuzeit ist es nun, um im Bilde zu bleiben, das Planetensystem der modernen Erfahrungswissenschaften, das auf die zentrale Mitte, auf das überlieferte Gesamtwissen, das >Philosophia< hieß, in immer neuen Ausgleichsversuchen bezogen werden mußte. So ist das Wort »System« im späteren 17. Jahrhundert in den Sprachgebrauch der Philosophie eingegangen, um die Vermittlung der neuen Wissenschaft mit der älteren Metaphysik zu bezeichnen. Den letzten großen Versuch solcher Vermittlung, der ernst zu nehmen war, stellte der Versuch des deutschen Idealismus dar, die Erfahrungswissenschaften in das Erbe der Metaphysik von dem neuen Standpunkt der Transzendentalphilosophie aus zu integrieren - eine letzte und nur kurzfristig gültige Unternehmung angesichts einer unlösbaren Aufgabe. Wenn das so ist, dann bedeutet die Prägung der europäischen Zivilisation
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durch die Wissenschaft nicht nur eine Au~zeichnung. Sie hat zugleich eine tiefgreifende Spannung in die moderne Welt gebracht. Auf der einen Seite war es die Überlieferung unserer Kultur, die uns geformt hat, und diese Formung bestimmt in ihrer sprachlich-begrifflichen Gestalt, die auf die griechische Dialektik und Metaphysik zurückgeht, unser Selbstverständnis. Aufder anderen Seite haben die modernen Erfahrungswissenschaften unsere Welt und unser ganzes Weltverständnis umgestaltet. Beides steht nebeneinander. In der Tat war es die epochale Bedeutung Kants, daß er beides neu begründet hat. Er hat die Grenzen der reinen Vernunft erkannt, ihre Beschränkung auf mögliche Erfahrung nachgewiesen, und zugleich damit hat er die Autonomie der praktischen Vernunft gerechtfertigt. Die Beschränkung des Kategoriengebrauchs, und damit vor allem der Kausalität, auf die in der Erfahrung begegnenden Erscheinungen bedeutet auf der einen Seite die völlige Rechtfertigung der wissenschaftlichen Erforschung der Erscheinungen - selbst wenn es sich um Leben oder um die gesellschaftlich-geschichtliche Welt handelt. Auf der anderen Seite aber ist die Beschränkung der Kausalität aufdie Erfahrung zugleich die Rechtfertigung der praktischen Vernunft, sofern ihre »Kausalität aus Freiheit« der theoretischen Vernunft nicht widerspricht. Die Leistung Kants, den Primat der praktischen Vernunft begründet zu haben, wurde dann vom deutschen Idealismus so weit ausgebaut, daß er dem Begriffdes Geistes und all seinen Objektivierungen in Wirtschaft und Gesellschaft, Recht und Staat ihren Status verleiht. Diese Objektivierungen sind nicht nur Erscheinungen und damit »Objekt« der Wissenschaft, sondern immer zugleich intelligible Fakten der Freiheit, und das heißt: an ihrer Wahrheit gilt es auf andere Weise teilzugewinnen. Das schließt sich zwar an eine Tradition an, die als Unterscheidung der theoretischen und der praktischen Philosophie bis auf Aristoteles zurückgeht, hat aber mit dem Aufkommen der neuzeitlichen Wissenschaft einen anderen Charakter erhalten. Die Kantische Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft führte zu einer wissenschaftstheoretischen Konsequenz, zur Unterscheidung von »Naturbegriffen« und »Freiheitsbegriffen«. Sie wurde im deutschen Sprachraum als der Dualismus von Naturund Geisteswissenschaft bekannt. Das hat in anderen Ländern insofern keine genaue Entsprechung, als dort Begriffe wie lettres oder wie literary criticism gewisse.Teile der Geisteswissenschaften dem Wissenschaftsbegriff gar nicht unterstellten. Es war die »erkenntnistheoretische« Wendung des Neukantianismus, die in Deutschland im Anschluß an Hegels Begriff des Geistes und in Abkehr von seinem universalen Apriorismus den Begriff der Erfahrung und der Erfahrungswissenschaften auf die historisch-philologischen Wissenschaften ausdehnte. Das gipfelte etwa in der Werttheorie des südwestdeutschen Neukantianismus, die dann auch den Sozialwissenschaften als
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Grundlage diente. In solcher Ausdehnung auf die »Kulturwissenschaften« blieb es das Faktum der Wissenschaft, in dem der »Gegenstand der Erkenntnis« seine volle und einzige Bestimmung fand. ,In unserem Jahrhundert hat nun die Philosophie begonnen, hinter das Faktum der Wissenschaften und seine erkenntnistheoretische Begründung zurückzufragen. Dieser Schritt wurde in Deutschland durch die phänomenologische Bewegung vollzogen. Mit ihrer Wendung »zu den Sachen selbst«, die durch Husserl eingeleitet wurde, war es nicht mehr allein die Erkenntnis der Wissenschaft, deren apriorische Voraussetzungen die Philosophie zu erweisen hatte, sondern es ging um die Phänomene der» Lebenswelt« . So hat Husserl später die vorwissenschaftliche Erfahrungsdimension benannt, von der seine phänomenologische Wesensforschung ihren deskriptiven Ausgang nahm2 • Als sich Husserl später der Problematik der »Lebenswelt« so weit öffnete, daß er die Vielheit der Lebenswelten erkannte, deren tiefliegende Strukturen all.unsere Auffassungsformen der Wirklichkeit bedingen, war freilich sein eigenes Interesse das neukantisch-erkenntnistheoretische, eine einwandfreie Letztbegründung gegen die Einrede der Relativität dieser Lebenswelten zu rechtfertigen. Die Letztbegründung besteht darin, daß das transzendentale Ego, dieser Nullpunkt der Subjektivität, alle »objektive« Geltung begründen muß - also auch die lebensweltliche Relativität, die im »Eidos« Lebenswelt selbst gelegen ist. Nun ist es aber die Paradoxie der lebensweltlichen Relativität, daß man sich derselben - und damit der Grenzen der eigenen Lebenswelt - zwar bewußt werden kann, sie dadurch aber keineswegs überschreitet. Es sind uneinholbare Vorzeichnungen möglicher Erkenntnis, die unsere Geschichtlichkeit ausmachen. Aller »Objektivität« des Erkennens oder Verhaltens sind sie vorgegeben - und das schließt ein, daß hier die Rede vom reinen Subjekt, und sei es noch so sehr der bloße Ich-Pol des transzendentalen Ego, jeden Sinn verliert. Die Relativität der Lebenswelt bedeutet also nicht eigentlich eine Grenze der Objektivierbarkeit als vielmehr eine positive Bedingung für die Art von Objektivität, die im Horizont der Lebenswelt erreichbar ist. Ob und wie sich der Anspruch der Philosophie, strenge Wissenschaft zu sein, insofern rechtfertigen läßt, als das »Eidos« Lebenswelt, das HorizontApriori, die eidetische Dimension darstellt und so seine Funktion durch die apodiktische Evidenz des transzendentalen Ego» begründet« wird, ist eines der offenen Probleme, die Husserl der phänonlenologischen Forschung hinterlassen hat. Heideggers radikale Fragestellung nach dem Sinn von Sein, den er im Horizont der Zeit suchte, hat hier eingesetzt, und ich selber habe 2 Siehe dazu >Die Wissenschaft von der Lebenswelt< in Ges. Werke Bd. 3 (Nr. 7) und in diesem Band die Beiträge Nr. 8 und 9.
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die hermeneutische Grundverfassung der »Lebenswelt« im Ausgang von Heidegger ein Stück weit aufzuklären gesucht. Daß die Zugehörigkeit des » Interpreten« zu dem Sinnzusammenhang, den er zu verstehen sucht, den Sinn von Objektivität anders zu denken nötigt, als das in den Naturwissenschaften der Fall ist, scheint mir evident. So kann es mir nicht einleuchten, hier eine Entsprechung zur Physik zu sehen. Daß die Atomphysik unseres Jahrhunderts an Grenzen gestoßen ist, seit sich gezeigt hat, daß die Idee eines »absoluten Beobachters« unhaltbar ist, weil der Meßvorgang im atomaren Bereich stets einen verändernden Eingriffin das System bedeutet, hat gewiß die Grundbegriffe der klassischen Physik modifiziert. Aber das tangiert den Sinn objektiver Erkenntnis und Wissenschaft überhaupt nicht. Die Wissenschaft hat diese Zugehörigkeit des Beobachters zum Beobachteten selber in der mathematischen Exaktheit von Gleichungen festzustellen gewußt. Die moderne Physik unseres Jahrhunderts scheint mir von da aus die konsequente Fortsetzung der auf Mathematik gegründeten, Messungen mathematisch verarbeitenden Physik Galileis. Die erkannten Grenzen der Objektivierbarkeit sind in Wahrheit neue objektive Befunde, die zu erreichen den Anstrengungen der modernen Forschung gelungen ist. Daß damit gewisse Voraussetzungen der klassischen Physik als fragwürdige »lebensweltliche« Anleihen aufgegeben werden mußten, z. B. die »Anschaulichkeit« und die Determiniertheit aller »Folgezustände« durch vorgängige Zustände, ändert daran nichts, daß es die gleiche mathematische Physik ist. Ähnlich scheint es mir mit den Konsequenzen zu stehen, die heute von der Evolutionstheorie aus für die Erkenntnistheorie gezogen werden. Es kann für die philosophische Fragestellung an sich nichts Überraschendes sein, daß in der großen Fernsicht, in der die allgemeine Evolutionslehre die »Geschichte« unseres Universums beschreibt, auch die Wissenschaft und ihre Ausbildung ihren Platz erhalten3 • Die Zugehörigkeit des Menschen zu seiner Welt kann von beiden Seiten her als Resultat der Evolution verstanden werden, eine den neuesten kosmologischen Erkenntnissen entsprechende Neuauflage der Lehre von den »angeborenen Ideen«. Ihre »objektive Realität«, die der Gegenstand der Kantischen Frage war, ist gleichsam im voraus gelöst. Indessen hat auch die phänomenologische Forschung, insbesondere in der Lehre von der Intentionalität des Bewußtseins, die Künstlichkeit der Zwei-Substanzen-Lehre des Cartesianismus überwunden. Von hier aus hat bereits Scheler den Vorrang des Selbstbewußtseins und die Trennung von Subjekt und Objekt als ein metaphysisches Restproblem gekennzeichnet, und Heidegger hat darin die Folgelast der griechischen Ontologie des » Vor-
handenen« aufgewiesen, deren Begriffe das philosophische Selbstverständnis der modernen Wissenschaft bestimmen. Insofern ist die Evolutionstheorie so etwas wie ein neuer »physikalischer« Beweis für den Idealismus, allerdings ein empirisch besser fundierter als der durch die Schellingsche Naturphilosophie gebotene. Im Prinzip bleibt aber auch der evolutionstheoretische Versuch, wie alle »Versöhnungs«-Versuche zwischen den Naturwissenschaften und den »moralischen Wissenschaften«, eine zutiefst fragwürdige Sache, die mir nicht minder bedenklich scheint als seinerzeit die spekulative Physik des deutschen Idealismus. Weder die Ausweitungen des Kantischen Apriorismus über die Grenzen der »reinen Naturwissenschaft« durch die Neukantianer, noch solche Umdeutung von den modernen Erfahrungswissenschaften aus können Kants Grundeinsicht aufheben: Wir sind Bürger zweier Welten. Wir sind nicht nur auf den sinnlichen, wir sind ebenso auf den »übersinnlichen Standpunkt« der Freiheit gestellt - auch wenn diese Begriffe der metaphysischen Tradition nur die Aufgabenstellung bezeichnen, nicht die Lösung der mit dem Primat der praktischen Vernunft gestellten Aufgabe bringen können. Während man das Faktum der Freiheit mit Kant als ein Vernunftfaktum denken muß, bleibt die Evolutionstheorie in dem Bereich der »theoretischen« Vernunft und der Erfahrungswissenschaften. Freiheit dagegen ist nicht Gegenstand der Erfahrung, sondern die Voraussetzung der praktischen Vernunft. Nun mag man einwenden, die Pluralität und Relativität der Lebenswelten, die als solche Gegenstand der Erfahrung sind und mit der Auszeichnung der menschlichen Natur zusammenhängen, Vernunftwesen zu sein, müßten das »Gespenst des Relativismus« heraufrufen. Aber der Bedingtheit aller menschlichen Lebenswelt ist nicht zu entkommen. Unsere Aufgabe bleibt, die theoretischen Erkenntnisse und die technischen Möglichkeiten des Menschen seiner )Praxis< ein- und unterzuordnen, und besteht keineswegs darin, die eigene Lebenswelt, die eben die Welt der Praxis ist, in ein theoretisch begründetes technisches Konstrukt umzuformen. So fragt es sich, ob wir nicht gerade aus dem griechischen Erbe unseres Denkens etwas zu lernen haben, das uns zwar die» Wissenschaft« hinterlassen hat - aber eine Wissenschaft, die den Bedingungen der menschlichen Lebenswelt und dem Leitbegriff ihres Denkens, der >Physis(, eingeordnet blieb. Hier scheint mir Platos Dialektik eine neue Vorbildlichkeit zu gewinnen. In unserem Denken das zu wecken, was in unserer lebensweltlichen Erfahrung und ihrer sprachlichen Aufspeicherung in Wahrheit schon liegt, hat Plato als die Aufgabe der Philosophie begriffen und deshalb alle Erkenntnis Wiedererkenntnis genannt. Wiedererkenntnis ist eben nicht bloß Wiederholung einer Erkenntnis, sondern im wahrsten Sinne des Wortes »Erfahrung<<: Fahrt, an deren Ziel sich Bekanntes mit neuer Erkenntnis zu bleibendenl
3 Siehe dazu auch den vorangehenden Aufsatz >Geschichte des Universums und Geschichtlichkeit des Menschen< (Nr. 17).
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Wissen vereinigt. Um das in seiner Tragweite zu ermessen, müssen wir auf die Idee der praktischen Philosophie und den Begriffder Praxis zurückgreifen, wie sie sich ausbildeten, bevor sie in die Abhängigkeit von einer theoretischen Wissenschaft und ihrer Anwendung gerieten, die wir heute als angewandte Wissenschaft kennen. Wir müssen also erneut fragen: Was ist Praxis, was heißt >Praxis Hier ist von Aristoteles zu lernen. Nicht gegen die >Theoria<, sondern gegen den »Kunstgeist« des Herstellens formiert sich der Begriff der Praxis bei Aristoteles, der den Unterschied zwischen >Techne~, dem Wissen, das ein Machenkönnen leitet, und >Phronesis<, dem Wissen, das die Praxis leitet, ausgearbeitet hat. Die Unterscheidung bedeutet ja nicht eine Trennung, sondern eine Ordnung, nämlich Einordnung und Unterordnung der Techne und ihres Könnens unter die Phronesis und ihre Praxis. Da scheint es mir nun freilich gefährlich, wenn man im modernen Stil die praktische Philosophie auf die Handlungstheorien zuspitzt. Gewiß ist Handlung als Tätigkeit, die aufgrund einer sittlichen Entscheidung, einer Prohairesis, eingeleitet wird, ein Bestandteil von Praxis. Aber man sollte mindestens bei »Handlung« an die Vielheit der Hände denken, das heißt an das ganze verwickelte System von Handlung und Gegenhandlung, von Tun und Leiden. Nur dann entgeht man den Vorurteilen des modernen Subjektivismus und verstrickt sich nicht in die - gewiß geniale - Synthese, durch die Hegel aus der Philosophie des Selbstbewußtseins und der Subjektivität einen Ausweg entwickelt hat. Was die Lehre vom objektiven Geist und dem absoluten Geist betrifft, so bleibt dies ein wichtiger Schritt über die Enge der Kantischen Grundlegung der Moralphilosophie im Begriff der Pflicht und des Sollens hinaus. Aber leistet sie den Schritt zurück, den sie wirklich tun müßte, den Schritt zurück zur griechischen Frage nach dem Guten und der praktischen Philosophie, die sich auf die Erfahrung der menschlichen Praxis und ihrer >Aretai<, ihrer »Bestheiten«, aufbaut? Praktische Philosophie ist nicht Anwendung von Theorie auf Praxis, wie wir sie selbstverständlich im Bereich alles praktischen Tuns ständig vornehmen, sondern erhebt sich aus der Erfahrung der Praxis selbst, kraft der in ihr gelegenen Vernunft und Vernünftigkeit. >Praxis< meint eben nicht das Handeln nach Regeln und das Anwenden von Wissen, sondern meint die ganz ursprüngliche Situiertheit des Menschen in seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt. Wer in Griechenland einen Briefbeendete, gebrauchte die Formel EV nplJrrEw, was wir übersetzen können mit »Laß es dir gutgehen«. In manchen Gegenden Deutschlands sagt man dafür auch »Mach's gut«. Auch dieses Machen ist nicht das Machen von etwas, sondern betrifft die gesamte Lebenssituation dessen, dem dieser freundliche Wunsch zugewandt wird. In solch einem Blick auf Praxis liegt eine primäre Zusammengehörigkeit aller, die miteinander leben. Was kann nun diese Rückerinnerung an den breiten Sinn von >Praxis<, wie
ihn das griechische Nachdenken entwickelt hat, für uns bedeuten? Niemand bezweifelt, daß die Unmittelbarkeit des Zutunhabens-miteinander, die in dem griechischen Stadtstaat die Basis der politischen Tätigkeit aller Bürger war, in der heutigen Zivilisationswelt, und insbesondere angesichts der AllKommunikation durch technische Vermittlung, in sehr anderen Maßen und Formen besteht und damit auch neue Aufgaben und Probleme in sich enthält. Trotzdem scheint es mir nicht eine romantische Rückwendung, sondern eine Erinnerung an Bestehendes, was einem vom griechischen Denken her angeboten wird. Denn das Verhältnis von Machenkönnen und Für-gut-Halten, daß man es macht, ist kein neues Faktum der modernen technischen Zivilisationswelt. Vor genau dem gleichen Problem stand die griechische Welt, und genau in diese Situation zielt die sokratische Frage. Sie bescheinigt allem Sachverstand in seinen Grenzen sein Recht und deckt zugleich seine Inkompetenz in bezug auf das auf, was das wahrhaft Gute ist. Man sage nicht, daß das andere Zeiten waren, daß dagegen in der modernen, auf die Wissenschaft gegründeten technischen Zivilisation der Automatismus der Mittel über die menschliche Entscheidungsfreiheit und Fähigkeit, das Gute zu wählen,· endgültig Herr geworden sei und daß daher alles von dem aufWissenschaft gegründeten Können abhänge. Das macht eine -falsche Voraussetzung. Als ob es jemals im Zusammenhang kalkulierender Möglichkeiten des Könnens eine leichte Sache gewesen wäre, sich den durch die Politik und politische Vernunft gesetzten Zwecken unterzuordnen. Ebenso ist es auch in der antiken Welt keine leichte Aufgabe gewesen, den Mißbrauch der Macht, den die politisch Maßgebenden zu begehen getrieben werden, durch vernünftige staatliche Einrichtungen einzudämmen. Darüber vermag uns Platos Staatsutopie zu belehren, aber ebenso die Erfahrung unserer modernen Massendemokratie, die immerhin das Prinzip der Gewaltenteilung als die wirksamste Form der Kontrolle von Macht erkannt hat und praktiziert. Die >Natur< des Menschen ändert sich nicht. Mißbrauch von Macht ist das Urproblem des menschlichen Zusammenlebens überhaupt und völlige Verhinderung dieses Mißbrauchs nur in Utopia möglich. Plato hat das wohl gewußt und hat deshalb seinen -»Staat der Erziehung« dem Staat der Staatskunst entgegengestellt4 • Hier erscheint die letzte Gemeinsamkeit der Menschen miteinander, die Staats- und Stadtleben möglich macht, in der Utopie einer alles Eigensein aufgebenden Ordnung. Daß der moderne Staat dem antiken Stadtstaat und seinen Lebensformen nur schlecht entsprechen kann, ist dabei offenkundig. Und doch beruhen beide auf der gleichen, unveränderten Grundvoraussetzung. Ich möchte sie die Voraussetzung der Solidarität nennen. Ich meine jene selbstverständliche Gemeinsamkeit, von der aus sich allein im Bereich des sittlichen, gesell4
Vgl. dazu >Platos Denken in Utopien(,jetzt in Ges. Werke Bd. 7 (Nr. 9).
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schaftlichen und politischen Lebens Entscheidungen, die jeder für gut hält, als gemeinsame treffen lassen. Für die Griechen war diese Einsicht auf undiskutierte Weise selbstverständlich und schlug sich bis in den Sprachgebrauch nieder. Es ist der griechische Begrifffür den Freund, der das gesamte Leben der Gesellschaft artikuliertes. Von Freunden galt, das war das alte pythagoreische Erbe im griechischen Denken, daß unter ihnen alles gemeinsam ist. Hier ist im Extrem des Ideals die stillschweigende Voraussetzung bezeichnet, unter der es überhaupt nur so etwas wie eine gewaltfreie Regelung des Zusammenlebens der Menschen, eine gesetzliche Ordnung, geben kann. Die Effizienz moderner Rechtsordnungen hängt noch immer von der gleichen Voraussetzung ab, wie sich zeigen ließe. Niemand wird eine romantische Vorstellung von Freundschaft und allgemeiner Nächstenliebe als die tragende Basis - weder für die antike Polis noch für den modernen technischen Großstaat - hegen. Doch scheint mir, daß die entscheidenden Voraussetzungen für die Bewältigung der Lebensprobleme der modernen Welt keine anderen geworden sind als die in der griechischen Denkerfahrung formulierten. Jedenfalls wird der Fortschritt der Wissenschaft und ihrer rationalen Anwendung auf das gesellschaftliche Leben keine so total andere Situation sCfhaffen, daß es der »Freundschaft« nicht bedürfte, das heißt einer tragenden Solidarität, die das Ordnungsgefüge des menschlichen Zusammenlebens allein möglich macht. Es wäre gewiß ein Mißverständnis, wenn man glaubte, daß in einer veränderten Welt ein vergangenes Denken als solches erneuert werden könnte. Worum es geht, ist vielmehr, es als Korrektiv zu nutzen und die Engpässe des modernen Subjektivitätsdenkens und des modernen Voluntarismus zu erkennen. Es sind Beirrungen - nicht des Menschen, nicht der Wissenschaft und nicht durch die Wissenschaft, sondern solche, die sich durch den Wissenschaftsaberglauben in der modernen Zivilisation etabliert haben. In diesem Sinne glaube ich, daß der große M~nolog, den die Wissenschaften selbst in ihrer idealen Vollendung darstellen könnten, immer noch in die kommunikative Gemeinsamkeit zurückgebettet bleiben muß, in der wir als Menschen stehen. So scheint mir für die Wissenschaft vom Menschen zu gelten, daß der moderne Begriff von methodischer Wissenschaft mit der ganzen Strenge seiner Forderungen bestehen bleibt, daß wir aber seine Grenzen erkennen und lernen müssen, unser wissendes Können in ein besonnenes Wissen zurückzunehmen, das sich aus der kulturellen Überlieferung der Menschheit speist. Das sollte man gerade bei der Förderung der Wissenschaften vom Menschen ständig im Auge behalten. Auch am Anderen und am Andersartigen kann sich eine Art Selbstbegeg-
nung vollziehen. Dringender denn je ist aber die Aufgabe geworden, im Anderen und in der Andersheit das Gemeinsame erkennen zu lernen. In unserer eng zusammenrückenden Welt begegnen sich zutiefst verschiedene Kulturen, Religionen, Sitten, Wertschätzungen. Es wäre eine Illusion, zu meinen, daß nur ein rationales System der Nützlichkeit, sozusagen eine Art Religion der Weltwirtschaft, das menschliche Zusammenleben auf diesem immer enger werdenden Planeten regulieren könnte. Die Wissenschaft vom Menschen weiß, daß vom Menschen mehr und mehr eine politische Tugend verlangt wird, so wie die Wissenschaft von jeher menschliche Tugend gefordert hat. Das gleiche gilt angesichts der Vielheit der Sprachen. Auch da sind wir im Bereich des denkenden Vollzugs unserer Existenz mit der Vielheit anderer Sprachen konfrontiert und sollten nicht glauben, daß es t1nsere Aufgabe und unser Privileg wäre, die Fragestellungen, die aus unserer Lebenserfahrung erwachsen und in unserer Spracherfahrung niedergelegt sind, anderen aufzunötigen. Auch da werden wir bis in das Denken in Begriffen hinein das Gespräch zwischen den Sprachen und zwischen den Möglichkeiten der Verständigung, die in allen Sprachen angelegt sind, in unsere Obhut nehmen müssen. Die Wissenschaft vom Menschen in seiner ganzen Vielfalt wird zu einer sittlichen und philosophischen Aufgabe für uns alle.
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5 Ausführlicher zur Rolle der Freundschaft in der griechischen Ethik >Freundschaft und Selbsterkenntnisdn Ges. Werke Bd. 7 (Nr. 16).
Die Idee der prakt~schen Philosophie
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nennt das >Wissen im allgemeinen< (teM, 'jJi()OÖO{) mit dem konkreten Wissen des Guten (npä(u;, npoaipEou;) in einem Atem (opoiux;). Der Gedankengang dieser Einleitung ordnet dann den ganzen Bereich der ftXVm in den Bereich der nOAznmi ein, und was so vorgeführt wird, ist sozusagen ein System der praktischen Wissenschaften (ai npa'Klt1Cai z&v tnzOl"lpiJv 1094b4). Es heißt dann zwar, die Frage des einzelnen und sein Wissen des Guten sei etwas, womit man notfalls zufrieden sein muß. Schöner aber sei es, das Gute für das (ganze) Volk (e()vEz) und (alle) Städte (n6kozv) zu wissen. Aber es ist schon aus dem Plural n6kozv klar, daß es sich damit um die Frage des >Wissens im allgemeinen< handelt und hier lediglich die Individualethik Thema sein wird3 • Im Folgenden steht tatsächlich, freilich ohnejedes Eingehen auf diesen Unterschied von Individualethik und Politik, lediglich der methodische Charakter der praktischen Philosophie überhaupt zur Diskussion, als eine wissenschaftstheoretische Frage. Was wir eigentlich wissen möchten, ist aber noch etwas anderes, nämlich wie sich diese praktische Wissenschaft4 - Ethik oder Politik - zu dem praktischen Wissen verhält, das der einzelne hic et nunc betätigt. Das haben wir ja inzwischen aus dem Fortgang der Nikomachischen Ethik (Buch Z) gelernt, daß >Praxis< nicht >Poiesis< und >Phronesis< nicht >Techne< ist, und wir erinnern uns auch, daß Aristoteles ausdrücklich von rppoV1JOZ{ nOAzn1C~, der Vernünftigk~it des Staatsmannes und Politikers, spricht und sich ganz darüber im klaren war, daß eine solche nicht durch den erfolgreichen Besuch seiner Vorlesung über >Politik< erworben wird. Es kann sich nicht um ein Verhältnis von Theorie und »technischer« Anwendung handeln, wenn praktische Philosophie sich selbst richtig versteht. Nun gibt die Methodendiskussion des ersten Buches immerhin eine indirekte Antwort auf unsere Frage - im Sinne einer vorsichtigen Beschränkung des Lehrbaren im Felde der praktischen Philosophie. Diese setzt bei dem Lernenden (so gut wie bei dem Lehrenden) Erziehung, d. h. Einübung und gereifte Ausbildung von Verhaltensweisen (itßO{), bereits voraus 5 , und wie wir in der Folge lernen, gibt es kein >Ethos< ohne >Logos<. Das ist ja die Pointe des ganzen Aufbaus der Nikomachischen Ethik, daß die ethischen Tugenden von der dianoetischen Tugend der >Phronesis< untrennbar sind. (Wir werden später sehen, daß Untrennbarkeit von der >Phronesis< sogar für
19. Die Idee der praktischen Philosophie (1983)
Die Idee der praktischen Philosophie wurde von Aristoteles bekanntlich im Gegenzug gegen Platos teleologische Mathematik des Guten entwickelt, die durch die mythische Erzählung des >Tirnaios< wie durch die Sokratik des >Philebos< hindurchschimmertl. Sie entspricht im Felde der menschlichen Dinge (des av()pwnzvov ara()ov bzw. des npmaovara()ov) dem, was Aristoteles im Felde der Naturdinge (der rpVOEZ öVla) der platonischen Meta-Mathematik als Meta-Physik entgegengestellt hat, als eine Ontologie der 1Czvoitp,Eva und ihres Gipfels im 'KZVoVv 6'KiV1JIOV. Trotzdem hat auch die praktische Philosophie ihre metaphysische Basis. Es ist die metaphysische Auszeichnung des Menschen, >Logos< zu haben, wählen zu können und wählen zu müssen und deshalb >das Gute< -jeweils in der konkreten Situation - wissen oder finden zu müssen. Der aristotelische Ausdruck dafür ist: der Mensch - als freier Bürger - hat >Prohairesis<. Nun unterscheidet Aristoteles zwei Formen, in denen solches Wissen des Guten seine Perfektion hat, >Techne< und >Phronesis<, die auf dem Unterschied von >Poiesis< und >Praxis< beruhen. Das zu unterscheiden gehört selbst zum Inhalt der praktischen Philosophie und ist im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik geschehen. Kennen der Mittel zu vorgegebenen Zwecken und Bescheidwissen um die Mittel ist ein Wissen des Guten, nämlich als des Nützlichen (o'lJ]lrpepov). Aber wenn es auch eine e(u; 'jlEIG AOrOV, eben>Techne< ist, so ist doch das Gute selbst dabei vorausgesetzt und steht nicht selber in Frage. Kein Fachmann fragt danach, ob sein Wissen und Können für die Allgemeinheit (als 1COZvfj O1fj.lrpepov, als öi1Cawv 1Cat ara()cSv) gut ist2 • Das ist vielmehr eine Frage der eigenen und der politischen Praxis, die das>Wissen des Guten< einschließt, das sie bei ihren Entscheidungen leiten muß. Was ist das aber für ein Wissen? Wenn man die Einführung des Themas >praktische Philosophie< am Anfang der Nikomachischen Ethik studiert, gewinnt man keine klare Antwort auf diese Frage. Gleich der erste Satz 1 Ober die parallele Funktion, die der )Timaios< und der )Philebos< im Spätwerk Platos ausüben, vgl. )Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles<, jetzt in Ges. Werke Bd.7 (Nr. 6). 2 So argumentiert Aristoteles selber gegen Plato: EN A4, 1097a3ff.; EE A8, 1218b u. ö.
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3 Immerhin ist ein positives Verhältnis zur Praxis damit auch hier vorausgesetzt, wenn es von dem aya{)ov in der Polis nicht nur heißt, daß es wichtiger sei, es zu erfassen ().aßEiv), sondern auch, es zu bewahren (arfX,ezv) - was doch kaum auf ein bloßes theoretisches »Erfassen« und »im Sinn Behalten« eingeschränkt werden kann, wenn es als das göttlichere ausgezeichnet wird. 4 EN Z8, 1141b23 f. 5 0"'0 &i wie; f{)eolv ia{)m Ka).~ rov ru:pi Ka).Wv Kai OlKaiuw Kai ö).ux; nW no).mKWl' irKovooJUvov iKav&:1e; (EN A2, 1095b4 ).
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Hermeneutik und die praktische Philosophie
Die Idee der praktischen Philosophie
die andere dianoetische Tugend, die >Sophia<, gilt.) Das alles ist in concreto vorausgesetzt, wenn eine npm\!'l'K'ft piOoooc; überhaupt Sinn haben soll. Anfang und Prinzip (apyj,J ist hier das >Daß<, das ön6 . Alle begrifflich-allgemeine >Philosophia< kann dem einzelnen das Treffen des Zieles höchstens erleichtern (wie eine am Ziel angebrachte Marke, axonoc;, ein Zweck, eine >Zwecke< - älteres Deutsch: ein Zwack - dem Bogenschützen das Treffen des Zieles erleichtert, so daß er ins »Schwarze« der Zielscheibe trifft) 7 . Man wird vielleicht immer noch fragen: Wieso kann praktische Philosophie, die doch Theorie ist, das erleichtern? Braucht Moralität (mit Kant zu reden: das Pflichtgefühl - mit den Engländern zu reden: der moral sense) überhaupt Philosophie? Seit Kant bekannt hat, daß Rousseau ihn zurechtgebracht habe, ist klar, daß das eine Kernfrage der Ethik ist. Aristoteles stellt zwar nicht, wie Kant am Schluß des ersten Abschnittes seiner >Grundlegung zur Metaphysik der Sitten<, diese Frage ausdrücklich. Aber am Ende ist auch in seiner >praktischen Philosophie< eine Antwort auf diese Frage impliziert. Man muß sich nur von dem Vorurteil frei machen, als hätte Aristoteles mit seiner Lehre von den zwei dianoetischen Tugenden8 und seiner Einstufung des theoretischen Lebens (K7) vor dem an zweiter Stelle placierten praktischen Leben (K8) wirklich eine Alternative zur Wahl gestellt. Wir sind nicht vor die Wahl gestellt, ob wir Götter oder Menschen sein wollen. Das Verhältnis zwischen theoretischer und praktischer Vernünftigkeit, >Sophia< und >Phronesis<, ist vielmehr das einer Wechselbedingtheit. Das wird im 13. Kapitel des 6. Buches der Nikomachischen Ethik deutlich gemacht, und von da aus gilt es, die Ausführungen am Schluß der Ethik, die das Ideal des theoretischen Lebens feiern, zu verstehen. Da wir Menschen sind und keine Götter, ist auch das »zweitbeste Leben« der Praxis nichts, das ein der Theorie Lebender ignorieren dürfte. Aber auch umgekehrt gibt es keinen Praktiker, der nicht auch theoretisiert (nur meistens schlecht). Die begriffliche Unterscheidung von >Sophia< als nur theoretischer und >Phronesis< als nur praktischer Tugend ist künstlich und wird von Aristoteles nur um der begrifflichen Klärung willen getroffen. Sie hat im Sprachgebrauch der Zeit keine Stütze, wie der Sprachgebrauch des Aristoteles selbst bestätigt9 • Für die Methode der praktisch~n Philosophie bedeutet das, daß man bei den >Legomena< - den allgemeinen >Doxai< über das Gute, die Eudaimonie und die >Aretai< - anzusetzen hat. Jeder hat darüber seine Ansichten, wenn auch oft nur so, daß er die Ansichten anderer übernimmt. Selbst dann gilt
noch: Er beansprucht ein allgemeines >Wissenpraktischen Philosophie<. Freilich setzt alle theoretische Belehrung über Praktisches die >Arete< schon voraus, deren >Typos< im Begriff erfaßt wird. Hier stimme ich Kurt von Fritz durchaus zu - es handelt sich nicht um ungenaue Begriffe, sondern um Begriffe von seinem Wesen nach Ungenauem. Bekanntlich hat Aristoteles im Praktischen wiederholt vor der Schein-Schärfe von Argumenten gewarnt, die dem ön nicht gerecht werden. Es kommt auf den oi'KElo( ..toyO( allein an l l . Nur wer selbst einen Ort »in der Gesellschaft« - und das heißt: in seiner Polis - hat, ist imstande, sachfremde Argumentationen in ihrer Haltlosigkeit zu durchschauen. Nur er kann das lernen und ein nEnatOEvpivO( werden und die anatoEvaia vermeiden, d. h., er kann »kritisch« sein (xpivElv xa..tw(). Aristoteles geht so weit, daß er das ausdrücklich auch für die )Politik< geltend macht. Wer nicht als Bürger einer Stadt seine politische Vernünftigkeit ausgebildet hat, kann nicht das Wissen des Allgemeinen, z. B. das Ideal einer Staatsverfassung oder eine breite Sammlung politischer Verfassungsformen, vernünftig anwenden. Aristoteles sagt das in scharfer Abwehr berufsmäßiger (>sophistischer<) Staatstheoretiker an betonter Stelle, am Ende der Nikomachischen Ethik, bevor er zu seiner )Politik< übergeht (EN KlO). Ich kann hier die schwierige Frage dieses Übergangs nicht erörtern. Die unter dem Titel >Politik< zusammengefaßte Schriftenmasse gibt selber mannigfache kompositorische Probleme auf, erfüllt auch nicht die Ankündigung, die am Schluß der Nikomachischen Ethik zu lesen ist. Aber es kann kein Zweifel sein, daß die restriktiven Bedingungen, die Aristoteles dort für die Kunst der Gesetzgebung erörtert,· auch für die >Politik< Geltung haben. Für die moderne Wissenschaftstheorie sind das harte Zumutungen. Das soll »Wissen« sein, was )Ethos< und >Logos< des hier und jetzt gelebten Lebens zur Voraussetzung hat? Welch schrecklicher Subjektivismus, Relati-
EN A2, l095b 6 ; A7, 1098b2 . EN Al, l094a2.3. 8 Daß es nur zwei dianoetische Tugenden gibt, jeweils die )Arete< des theoretischen und des praktischen Logos, sollte dem aufmerksamen Leser von Buch Z der Nikomachischen Ethik nicht entgehen. 9 EN A9, 1098b24 , das den EE entspricht. 6
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10 Vgl. etwa öwrpopav Kai n.tawzv 1094b tS , trp,rpwfJrlrovo'tV 1095a2of., noUO! .\OYOl npoc; aiJra KarafJtfJ).'lvral 1096a9 und die ausdrücklic?e Bezu~nahm.e auf die ky01Uva l098b 6 • E~ A2,
1214b6 sagt es ausdrücklich, daß alle, die nach Ihrer eigenen Wahl zu leben vermogen, einen OKOnOC; rov Ka~ ~~v verfolgen, wenn sie nicht etwa ohne Sinn und Verstand dahinleben (arppoovV1'/,). Was in diesem Zusammenhang überaus deutlich wird, ist, daß »Philosophieren« bei allen Leuten vorkommt, selbst wenn sie wiefJoo1dz'JUlT:a ~eben. Etwa der Grabspruch der Sardanapal ist selbst Ausdruck eines beanspruchten »Wissens«. Besonders aufschlußreich 1095a2.3 ff.: Die nolloi verstehen anders die Eudaimonie, allOl 0' Wo, selbst jeder Mensch Verschiedenes je nach Umständen - wenn er kra~ ist, Gesun~ heit, wenn arm, Reichtum. Aber da sie ihrer Unwissenheit sich bewußt smd, folgen SIe denen, die piya n Kai vmp aiJrovc; lehren, den oorpo{. 11 Vgl. EE A6, 1216b4Qff.
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vismus, Historismus droht hier! Und doch, wie sieht es denn in den sogenannten Geisteswissenschaften, den >hulnaniora<, in Wahrheit aus? Wenn wir den von den Naturwissenschaften abstrahierten Wissenschaftsbegriff mit Strenge auf die historischen Wissenschaften anwenden würden, bliebe von ihnen nicht viel übrig. Das hat der·,» Wiener« Viktor Krafft gut illustriert, indtm er ohne Rücksicht auf Verluste der Geschichtswissenschaft höchstens 100/0 Wissens~haft1ichkeit zumaß. Die modemen Sozialwissenschaften würden nicht anders denken, wenn sie ihr eigenes Wissenschaftsideal nur selber besser zu erfüllen vermöchten und nicht aus guten Gründen auf dem allgemeinen Niveau wissenschaftlicher Prognostik stünden, das etwa die langfristige Wettervorhersage in der Meteorologie besitzt. Hier wie dort sind eben die Randbedingungen für die Anwendung allgemeiner Gesetzlichkeit viel zu zahlreich. Die Gegenrechnung kann auf die Dauer nicht ausbleiben, und mir scheint die praktische Philosophie des Aristoteles das einzige Modell, das uns dafür zu Gebote steht. Zwar haben sich die humanistischen Studien gegenüber dem neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff, der von Galilei, Huygens, Kepler, Newton entwickelt und von Descartes begrifflich formuliert worden war, auf die Tradition der Rhetorik und ihr Arsenal der Topik, der plausiblen Argumente, gestützt (Vico). Später trat die Psychologie (Spinoza, Schleiermacher, Dilthey) an deren Stelle. Aber ich glaube, wir haben gut getan, wenn wir diese Anpassungen der historischen Methodenlehre an die Methodik der Naturwissenschaften in ihrer Geltung begrenzt haben und der Tradition, in der wir stehen, der Tradition, in der ein jeder Denkende steht, welche immer es sei, ihr erkenntnistheoretisches Recht zurückerstatten. Für die Tradition der Rhetorik war das Stehen in der Tradition selbstverständlich. Es machte den Sinn der Topik, des Gebrauchs von )loci communes<, aus. Wir dagegen müssen das durch ausdrückliche hermeneutische Analyse rechtfertigen. Wir werden dabei der kritischen Rationalität, die allen Wissenschaften und allem vernünftigen Weltverhalten des Menschen gemeinsam ist, ihr volles Recht lassen. Aber wir werden die Theoretiker dieses kritischen Rationalismus so gut wie die Logiker, Sprachanalytiker und Informationstheoretiker daran erinnern müssen, daß ihr rationales Verfahren und erst recht das methodische Instrumentarium, an dem sie feilen und das sie mehr und mehr verfeinern, nur eine sekundäre Funktion auszuüben vermag und nicht dazu hilft, die Fragen, die uns als sterbliche Menschen, als Träger von Kulturen, als Repräsentanten von Traditionen bewegen, überhaupt zu stellen - geschweige denn, denselben die Legitimation zu bestreiten, sie zu eliminieren oder zu reduzieren. Dazu kommen sie zu spät. Die hermeneutische Dimension, innerhalb derer das Gespräch der Menschheit seit ihren geschichtlichen Anfängen vor sich geht und heute in dem Weltmaßstab unserer zusammenwachsenden Menschheitskultur eröffnet
wird, ist all dem vorgeordnet, und dies Gespräch konfrontiert uns alle beständig mit Anderem, Andersartigem, Fremdem und Neuem. Und gerade, weil wir selber nicht irgendwer und irgendwo sind, sondern selbst sind, wer wir sind, macht das uns selbst erst recht bewußt, wer wir sind und was aus uns allen werden kann. Aristoteles scheint mir nicht nur in dem allgemeineren Sinne in dieses große Menschheitsgespräch zu gehören, der für die großen Klassiker des Gedankens insgesamt gilt. Gerade auch seine )praktische Philosophie<, das Meisterstück dieses Genies der Vernünftigkeit, weist uns ins Offene. Er hat die praktische Philosophie von der theoretischen bewußt geschieden, aber er hat eben dadurch theoretische Perspektiven eröffnet, denen wir heute neue Aufmerksamkeit schenken sollten - heute, d. h. in der kritischen Lage unserer zu maßloser Anwendung unseres wissenschaftlichen und technischen Könnens verleiteten Menschheitskultur. Daß das )Daß< (ro örz) Anfang (Prinzip) sein kann, neben jenen anderen Anfängen höchster Allgemeinheit, den Prinzipien der Logik und Metaphysik, bindet das Menschenwesen, das sich den Wagnissen des Wissenwollens und Machenkönnens ausgesetzt sieht, an die Lebensordnungen zurück, die es sich als gesellschaftliches und staatsbildendes Wesen geschaffen hat und ständig neu schafft - auf rationale Weise. Denn der Mensch ist ein vernünftiges, wenn auch oft unvernünftiges Wesen. Aber als vernünftiges Wesen weiß er zu wählen, d. h. aber, er gebraucht sein kritisches Vermögen im Kleinen wie im Großen und bewirkt so eine beständige Umgestaltung der Ordnungen seines Lebens. Es ist nicht nur Ethos, was ihn bestimmt - es ist auch Logos, und das heißt: sein Wissen und Denken. Aristoteles hat nach beiden Richtungen hin - den höchsten Allgemein1:leiten wie den letzten Konkretionen - dem >Nous( das letzte Wort gelassen. Es sind beides Formen des Logos, das höchste Wissenwollen und das vernünftige Wählenmüssen, in denen >Nous( waltet. Auch die praktische Vernünftigkeit ist eine Form von Rationalität, wie Aristoteles zeigt, indem er die praktische überlegung nach dem logischen Vorbild des Syllogismus beschreibt, und wie Chaim Perelman, den wir heute vermissen, in seinen Arbeiten zur >vernünftigen Argumentation< auch von heutigen Erfahrungen des Rechtswesens her zur Evidenz erhoben hat. Er hat dafür den französischen Sprachgebrauch zu Hilfe nehmen können, der zwischen rationalite und raisonnabilite zu unterscheiden weiß. Auch in unserem deutschen Sprachgebrauch klingt für das uns Wichtige etwas Ähnliches an, was ich mit » Vernünftigkeit« un1schrieb. Hier zeigt sich die Weisheit der gesprochenen Sprache, indem sie sich nicht auf die von einseitigen Vorurteilen geprägte Alternative von »rational« und »irrational« einengen läßt. Um der griechischen Leistung gerecht zu werden, muß man sich aber vor allen1 anschaulich vorstellen, in welcher begrifflichen Notlage sich die an-
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fangende Philosophie befand, wenn sie aus der gesprochenen Sprache die angemessenen Begriffe für das theoretische und für das praktische Wissen und in beiden Bereichen für das Verhältnis von >Nous< und >Logos< gewinnen wollte. Gewiß hatten die Griechen nicht, wie wir, mit dem durch den Methodenbegriff verengten Begriff von Rationalität zu kämpfen, der die neuzeitliche Wissenschaft und Philosophie beherrscht. Für die Griechen war es aber eine weit gewaltigere Aufgabe. Da ging es um die Urbarmachung eines bisher nie betretenen Sprachbodens. Das hat Kurt von Fritz am Begriff des N ous durch sorgfältige wortgeschichtliche und begriffsgeschichtliche Arbeit deutlich gemacht, die bis an die klassische Philosophie heranführt 12 . Damals, mit der Bekämpfung der Sophistik durch Plato und mit der Wend~ng zu den Logoi, setzte die philosophische Begriffsbildung erst eigentlich eIn. Im >Phaidon< wird Sokrates so dargestellt, daß er die Erwartung hegt, die Anaxagoras' »Einführung des Begriffs des Nous« für ihn dargestellt habe, und diese Erwartung sei nach Plato enttäuscht worden. Damit wird Plato gewißlich nicht dem Anaxagoras gerecht - und das will er auch gar nicht. In Wirklichkeit kann man nicht zweifeln, daß Anaxagoras selber wohl wußte, was seine Rede vom Nous einschloß. Sie bezeichnet eine begriffsanalytische Aufgabe. Dieselbe klingt in den Platonischen Dialogen dann auch wirklich öfters an, gelangt aber erst in den Lehrschriften des Aristoteles zu wirklicher und sehr mühevoller Entfaltung, und zwar gerade an dem Begriff des Nous. Dieses Wort war im allgemeinen Sprachgebrauch längst heimisch, aber für das philosophische Denken waren da wahre Abgründe zu überbrücken und vollends für uns. Gewiß war die eleatische Philosophie und ihre Verwendung des Wortes >Nous< seit Plato allgegenwärtig. Indessen, auf dem Wege über die Latinisierung der griechischen Begriffssprache führte der Weg schließlich zu dem blassen Begriff des >Denkens<. .pas cartesianische. >Cogito< wurde dann durch die Identitätsphilosophie des deutschen Idealismus ins Zentrum gestellt und leitete als das Prinzip des Se1bstbewuBtseins mit seinem GewiBheitsmon~pol.dieid~alistische Systembildung ein. So ist es für uns doppelt sc~wer, dIe .anstotehsche Begriffsbildung und die unermüdliche Aporetik, mIt der Anstoteles arbeitet, in ihren wahren Horizonten zu sehen und produktiv auszulegen. Aber wir müssen schon auf Anaxagoras zurückgehen. Zum Glück haben wir im Falle des Anaxagoras, dank dem Fleiß von Simplicius, recht ausführliche Zitate, die uns mit der Schrift des Anaxagoras bekanntmachen, die im >Phaidon< erwähnt wird. Sie lassen erkennen, daß 12 .K. v. FRITZ, Die Rolle des vov~. Abgedr. in: H.-G. GADAMER (Hrsg.), Um die Begnffswelt der Vorsokratiker. Darmstadt 1968, S. 246-363.
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der platonische Sokrates der geheimen Teleologie nicht gerecht geworden ist, die in dem Text des Anaxagoras greifbar wird. Da wird der Nous als das einzige »reine und ungemischte« Sein und als bewegender Anstoß der Weltwerdung eingeführt. Es wird geschildert, wie es durch ihn in dem gestaltlosen Urbrei zu aller Abscheidung und UnterscheIdung kommt und wie sich damit die Ordnung der Welt in all der Mannigfaltigkeit ihrer Gestalten (iotaz) bildet. Die vom Nous ausgelöste Bewegung führt also zu einem Scheiden des Unterscheidbaren und damit am Ende doch zu so etwas wie einem Unterscheiden. Gerade das liegt unverkennbar für das SprachgefUhl der Griechen in dem Worte >Nous<. So war Nous das Herauskommen des »Da«, das das Wort von Anbeginn an meinte und das sich im eleatischen Denken bestätigt. Von da aus gelangt dann Plato zu der Abhebung der >noetischen< Dimension der Zahlen und Figuren und zu den Ideen und zu >dem Guten selbst<. Aristoteles entfaltet nun die begrifflichen Implikationen. Die >Psyche<, das heißt die Lebendigkeit der Lebewesen, ist durch Scheiden (KpivEll') und Bewegen (KlW:iv) ausgezeichnet. Damit geht »Scheiden« bereits in » Unterscheiden« über. Darin liegt ein Problem, das im Grunde ungelöst und im aristotelischen Denken stets gegenwärtig bleibt. Es geht um den Übergang von der Physik zur Metaphysik, die im Sinn von >Nous< zu Worte kommt: Der Nous kommt von außen »zur Tür herein« (8Vpa{)Ev) und verbreitet sich darin wie das Licht, so daß alle Unterschiede in der Welt sichtbar werden. Das wird von Aristoteles sowohl in der Schrift über die Entstehung der Lebewesen wie in der Anthropologie von >De anima< als der ewige und unsterbliche Teil der Seele ausgezeichnet und weist damit auf die Göttlichkeit der Unsterblichen l3 . Damit soll aber nicht gesagt sein, daß es solche späte religiöse Anpassungen waren, die Aristoteles zur Metaphysik genötigt hätten. Es ist vielmehr offenkundig umgekehrt. Die Physik setzt bereits in dem doch wohl frühen >Protreptikos< den Gegensatz von >Dynamis< und >Energeia< als einen ganz geläufigen Begriff voraus: als einen Begriff der >Energeia<, der ~ew.egtheit ohne Bewegung meint. Das ist eine zur Physik gehörige Begrlffsbl1dun~, die dann im Buch Lambda der >Metaphysik< zur Ontotheologie fuhrt und In den Ethiken grundlegend ist. Man muß hier beobachten, wie Aristoteles noch in >De anima< keine andere kategoriale Möglichkeit hat, als durch das Begriffspaar nouiv und naoxew - das heißt >Wirken< und >Bewirktwerden< die Rolle des Nous im Menschen zu charakterisieren. Genau dasselbe bemerken wir aber an einer charakteristischen Stelle des platonischen >Sophistes<, der die Unangemessenheit von >Wirken< und >Erleiden< für das Erkennen 13
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Hermeneutik und die praktische Philosophie
zwar bemerkt, aber nur ein rhetorisches Argument für seine Vermeidung einsetzen kann (Soph. 248 dff.). Was hier anfängt, setzt sich schließlich in der Latinisierung als >actus purus< fort und hat christliche Dogmengeschichte geschrieben. Damit will ich nicht eine aristotelische Entwicklung oder seine Einordnung in einen modernistischen Systembau anzielen. Ich bezweifle, ob sich die aristotelischen Lehrschriften, und vor allem die >Metaphysik<, überhaupt so vollenden lassen, wie die Schulphilosophie des späteren Mittelalters und wie vollends der gegenreformatorische Einsatz des Systembegriffs suggerieren. Auf dem Hintergrund dieser Überzeugung finde ich auch an dem Schluß der Nikomachischen Ethik kein besonderes Problem. Es ist klar, daß die Höchstschätzung des theoretischen Lebensideals ganz selbstverständlich in den Zusammenhang der praktischen Lehre von der Eudaimonie· gehört, mit der die Ethik-Vorlesung des Aristoteles und seine Lehre von den Lebensidealen einsetzt. Auch hier wird, wie in der >Metaphysik<, von dem menschlichen Leben aus und von der begeisternden Erfahrung, die der Mensch an rein theoretischem Erkenntnisgewinn hat, eine Gotteslehre entworfen, die mit dem Volksglauben und dem öffentlichen Götterkult vereinbar bleibt. Und wenn Aristoteles um der Klarheit der Begriffe willen beides, Sophia und Phronesis, als Tugenden der Theorie und der Praxis voneinander geschieden hat, so werden wir der verborgenen Einheit beider erst recht nachdenken dürfen, die der Genius der griechischen Sprache für uns verwahrt hat. Die»Weisheit« zeigt sich im theoretischen wie im praktischen Bereich und besteht am Ende in der Einheit von Theorie und Praxis. Das Wort >Sophia< sagt das. Dann aber wird Aristoteles privilegierter Partner unseres Gesprächs bleiben - er, der gegenüber dem Ideal der Moderne einer durch Wissen und Können beherrschbaren Welt das Ideal der Vernunft für uns darstellt, das Ideal einer vernünftig geordneten, verständlichen Welt, in der wir zu leben haben.
20. Geschichtlichkeit und Wahrheit (1991)
Es waren zwei Probleme, die uns, als ich selbst in den frühen zwanziger Jahren in die Diskussionssituation der Philosophie unseres Jahrhunderts eintrat, am meisten bewegt haben. Auf der einen Seite war es das Problem des historischen Bewußtseins angesichts der Allgemeingültigkeit und Allverbindlichkeit von Wahrheit. Auf der anderen Seite war es die Frage, auf welche angemessene Weise der Philosoph vom Göttlichen zu reden vermag - und vielleicht reden muß. Das erste dieser Motive lag auf der Hand, seit Hegels Vorherrschaft (nach Hegels Tod) in Aufweichung verfallen war und in Abkehr von Hegel seitens der historischen Schule zur Entwicklung des historischen Sinns und seiner wissenschaftstheoretischen Legitimation geführt hat. Das war eine der großen Konsequenzen der Neuzeit, die mit der Radikalität der neuzeitlichen Aufklärung aufs engste verbunden ist! . Wenn wir von dieser ersten Wurzel, Hegel, ausgehen, führt der Weg über die historische Schule vor allem zu Dilthey, dem repräsentativen Theoretiker der historischen Schule, und von ihm her zu der Dilthey-Schule und dann auf Nachwirkungen bei Troeltsch, bei'Max Weber. Das versetzt uns in die Diskussionssituation, in deren Nöte ich selbst schon als junger Zögling der Marburger Schule des Neukantianismus geriet. In Wahrheit war es die philosophische Grundfrage des sogenannten Historismus. Sie bestand in der Frage, wie es überhaupt noch möglich sein soll, als Denkender Wahrheitsansprüche zu stellen, wenn man sich der eigenen historischen Bedingtheitjedes Denkversuches bewußt ist. Wie kann man als Denkender auf diese Frage antworten und ins klare kommen? Ich hoffe, zeigen zu können, daß dies nicht ein besonderes Problem des 19. und 20. Jahrhunderts ist, sondern von den Tagen Platos an die gesamte Tradition der Metaphysik, mithin unser ganzes Denken beherrscht. 1 Das wäre ein Thema für sich. Bei der Festwoche meiner Heidelberger Universität habe ich über den Zusammenhang VOll Aufklärung und Romantik, von moderner Wissensehaftsgesinnung und dem historischen Sinn, einige Ausführungen gemacht. Siehe dazu jetzt in diesem Band >Die Universität Heide1berg und die Geburt der modernen Wissenschaft< (Nr. 29).
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Hermeneutik und die praktische Philosophie
Geschichtlichkeit und Wahrheit
Für diese Fragestellung bin ich im besonderen Heidegger verpflichtet, der mir damals zum ersten Mal ein Rüstzeug anbot. In der Marburger Schule redete man zwar auch von Geschichte, aber doch mehr in dem Sinne, daß dies der Bereich des Kontingenten ist, dem man sich erst zuwendete, seit man mit den großen philosophischen Denkaufgaben nicht mehr recht weiterkam und sich in »Problemgeschichte« verbreitete. Es war für mich tatsächlich eine Befreiung, wie der junge Heidegger in den frühen zwanziger Jahren auf der einen Seite durch Husserl die neukantianisch gestimmte Phänomenologie mit Distanz in sich aufnahm und zugleich auf der anderen Seite aufDilthey zurückging. Wie mir Heidegger selbst erzählt hat, schleppte er - es war noch, bevor die Dilthey-Ausgabe überhaupt erschienen wardie schweren Bände der Berliner Akademie der Wissenschaften, in denen Dilthey seine grundlegenden Arbeiten zu verstecken liebte, nach Hause, um nach drei Tagen bereits eine Rückforderung zu erfahren, weil jemand anderes in diesen dicken Bänden lesen wollte - freilich nicht Dilthey, sondern, sagen wir einmal, um irgendeines Fortschritts in der Elektrophysik oder dergleichen willen. Solche biographischen Details werfen manchmal doch ein gewisses Licht auf die wirkliche Problemlage. Wer war denn dieser junge Heidegger? Wir wissen inzwischen sehr viel mehr von den dunklenJahren, in denen Heidegger seine akademische Initiationsleistung schon hinter sich hatte. So nenne ich ganz generell Dissertationen, die wir schreiben. Die meine ist im Mausoleum der Vergessenheit am rechten Orte, und es sind bloß Oracula ex eventu, wenn man inzwischen fmdet, daß selbst darin schon etwas Vernünftiges stand. Selbst Heidegger war, bevor er in Mar~urg und dann mit >Sein und Zeit< hervortrat, in seinem philosophischen Werdegang und in den wahren Antrieben seines Denkens noch wenig bekannt. Wenn man sein sogenanntes >Duns Scotus<-Buch von 1917 ansieht, so sind darin brillante logisch-phänomenologische Analysen. Aber die eigene Motivierung, die dahintersteckte, wurde von dem leisen Durchschimmern der Figur Hegels eher verdunkelt als erhellt. Inzwischen ist die Lage anders. In den letzten Jahren ist ein Band der monumentalen und umstrittenen Riesenausgabe von Heideggers Vorlesungen und Schriften erschienen 2 , eine Vorlesung aus dem Jahre 1921 auf 22, durch Walter Bröcker und seine Frau so trefflich ediert, daß niemand daran etwas· auszusetzen fmden kann. Diese Bände und mehr noch die neueste Veröffentlichung im Dilthey-:Jahrbuch 1989, die ich unter dem Titel >Heideggers »theologische« Jugendschrift< eingeleitet habe, lehren eines mit absoluter Klarheit: Nämlich daß es dem jungen Heidegger um denkerische
Rechtfertigung seines christlichen Glaubens ging. Darüber kann überhaupt kein Streit sein, daß es dieses religiöse Problem war. Heidegger hatte damals Schleiermacher entdeckt, er hat - wie auch Husserl selbst - Rudolf Otto eine Zeitlang mit größtem Interesse gelesen. Das erinnert mich daran, wie ich in mdnenjungenjahren durch die Vermittlung des befreundeten E. R. Curtius Max Scheler kennenlernte. Max Scheler fragte mich zu meiner Verblüffung nicht über meine verehrten Meister in Marburg, Natorp und Nicolai Hartmann, sondern fragte nach Rudolf Otto. So war in der damaligen Diskussion um 1920 herum das Problem der Religionsphilosophie in phänomenologischer Fassung da. Noch deutlicher wird das, wenn man sich klarmacht, daß gleichzeitig Barths )Römerbrief< und Gogartens erste Schriften, in denen er sich als Kierkegaard-Leser dokumentierte, den suchendenjungen Heidegger erreichten. Daftir haben \vir nun ein Zeugnis ersten Ranges, und das ist die Tatsache, daß Heidegger im jahre 1920 eine Vorlesung über Phänomenologie der Religion gehalten hat. Da hat er - das wird Kenner seiner jungen jahre nicht überraschen - in seiner Vorlesung zunächst einmal endlos über den wahren Begriffder Phänomenologie gesprochen. Schließlich haben sich die Studenten beschwert: Da wäre ja nie von Religion die Rede, sondern immer nur von Phänomenologie. Heidegger wurde zum Dekan gebeten. Der Dekan, höflich, wie man damals längst schon war - die OrdinarienUniversität ist in unseren bescheidenen Bereichen der philosophischen Lehre, diesem Stiefkind der Wissenschaften, nicht gerade exemplarisch, und es ist schwer vorzustellen, daß N atorp, mein Ordinarius, oder Husserl oder so jemand irgend etwas von einem Mandarin gehabt haben sollten - jedenfalls, der Dekan sagte zu Heidegger: .>Ich möchte als erstes sagen: Selbstverständlich haben Sie jede Freiheit, vom Katheder zu sagen, was Sie mit Ihrem wissenschaftlichen Gewissen verantworten können. Da rede ich Ihnen nicht herein. Aber wenn Sie eine Vorlesung über Phänomenologie der Religion ankündigen, müßte auch von Religion die Rede sein.« Was tat der junge Heidegger? Er warf den bisherigen Plan seiner Argumentation um und begann mit dem Thessalonicher-Brief. Das heißt, er begann mit der berühmten Einleitung des ältesten Dokuments der Christenheit, dem Brief, den Paulus an die Thessalonicher schrieb, unter denen er eine christliche Gemeinde gegründet hatte. In diesem Brief schreibt er an seine dortige Gemeinde, sie solle nicht immerfort ungeduldig darauf warten daß der Erlöser wiederkehre: »Er wird kommen wie der Dieb in der N a~ht.« So stand Heideggers Konfrontation mit dem Problem der Zeit unter dem Gesichtspunkt der christlichen Erwartung und Verheißung. Wenn man mit den Begriffen des späten Heidegger spricht, war das bereits eine erste Zurückweisung des kalkulatorischen Denkens, des Berechnens und Messens, das die Fragen des eigenen Existenzverständnisses und seiner Endlichkeit als Sein zum Tode verdeckt und niederhält.
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2 Gesamtausgabe Bd. 61: >Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in di1phänomenologische Forschung< (Frankfurt 1985).
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Wenn wir uns nun fragen, wie die beiden Anekdoten von dem DiltheyBände schleppenden Heidegger und dem von Kierkegaard Inspirierten und durch die christliche Verkündigung zum Denken Gezwungenen zusammenhängen, müssen wir davon ausgehen, daß es um die Möglichkeit der Metaphysik im Zeitalter der Aufklärung und der Wissenschaft geht. Heidegger entdeckte unter diesem Problemdruck einen »neuen« Aristoteles. Ich erinnere mich sehr gut, wie uns damals eine erste zwingende Einsicht, wie es uns schien, von Heidegger in bezug auf die griechische Metaphysik vermittelt wurde, nämlich die Einsicht, wie jene allgemeine Frage nach dem Sinn von Sein mit der Frage nach dem höchsten Seienden, dem Göttlichen, notwendig zusammenhänge. Man kann sagen, daß das Buch Lambda der )Metaphysik< die Geburtsurkunde der Ontotheologie darstellt. Ich unterstreiche aber meinerseits das Wort Physik. Denn die aristotelische Frage nach dem »Sein« oder die Frage nach der Ersten Philosophie ist aufdie Physik gegründet, und das eigentliche metaphysische Buch der Antike ist die >Physik<. Die sogenannte )Metaphysik< des Aristoteles ist vielleicht nichts anderes als eine Sammlung von Fragen und Analysen, die sich aus der Physik des Aristoteles ergaben - und die das alles sozusagen zusammenfaßt, was an Grundsatzfragen hinter der Grundlegung einer teleologischen Physik steht. Wenn Heidegger das mit Feuerbach »Ontotheologie« genannt hat, so trifft dies gewiß eine Seite in dem Aristotelischen Entwurf, vor allen Dingen, wie er sich im berühmten Buch Lambda der )Metaphysik< darstellt. Besser würden wir sagen, der Entwurf überbrückt eine Unklarheit im Buche Lambda der )Metaphysik<. Sie besteht zwischen dem analogischen Denken auf der einen Seite und dem Denken npO( sv auf den höchsten Beweger hin auf der anderen Seite. Das sind schwierige Dinge und wirklich offene Fragen. Ich kann nicht anders von diesem Thema sprechen als von den Fragen aus, die mich selbst bewegen. Es war noch eine weitere Motivation, die mich immerfort in späteren Jahren begleitete, und das war meine Begegnung, meine freundschaftliche Nähe und zugleich meine geistige Distanz zu Leo Strauss 3 • Dieser in Amerika tätig gewordene, aber aus unserer hessischen Heimat kommende politische Philosoph hat in seiner ersten Arbeit bereits ein Thema angeschlagen, das in gewissem Sinne auch mein eigenes Lebensthema geblieben ist. Es ist das Thema der »querelle des anciens et des modernes«. Im 18. Jahrhundert wurden im glanzvollen Paris Ludwigs XIV. die Literaten und die Dichter durch eine Debatte in Atem gehalten. Die Frage war: Ist es überhaupt möglich, über die Vorbildlichkeit der klassischen griechisch-lateinischen Literatur hinauszukommen? Haben wir überhaupt eine Chance, wenn wir 3 Siehe dazu Ges. Werke Bd. 2, S. 414ff. sowie den im >IndependentJoumal ofPhilosophy( 2 (1978), S. 5-12 veröffentlichten Briefwechsel mit Leo Strauss.
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als die »modernes« mit den »anciens« in einen solchen Wettbewerb treten?' Diese Frage hat zunächst auf literarischem Gebiet ihre Debatten ausgelöst und dann noch lange auf die ganze Diskussion in der deutschen Aufklärung eingewirkt. Man findet sie bei Garve, bei GelIert, bei Spalding und allen möglichen popularphilosophischen Autoren des späten 18. Jahrhunderts. Da ist es eine ganz selbstverständliche Fragestellung, wieweit die Modeme den Wettbewerb mit der Antike überhaupt antreten könne. NunistmeineTheseund es ist keine allzu kühne These -, daß das historische Bewußtsein die Lösung dieser Streitfrage gebracht hat. Das historische Bewußtsein hat die innere Unmöglichkeit aller bloßen Nachahmung von Vergangenheit ins Bewußtsein gehoben -in der berühmten Wendung Goethes formuliert:Jeder sei aufseine Weise ein Grieche, aber er sei es. Damit will Goethe ausdrücklich sagen, daß man nicht die Griechen nachahmen dürfe und daß es kein »Zurück« geben kann. Goethes Wort ist aufdie Einsicht begründet, nicht fur die »Alten« optieren zu können - und doch ist es etwas, wozu man stets aufblicken muß: zu der Dringlichkeit der sokratischen Frage und zu der Helligkeit des Gedankens, zu der sie aufruft. Beides gilt es zu leisten. Meine Gespräche mit Leo Strauss gingen immer um diese Frage. Auch die inzwischen veröffentlichte Korrespondenz behandelt dasselbe. Strauss konnte nicht einsehen, daß eine Reflexion über die Zeitlichkeit unseres Verstehens und die Geschichtlichkeit unserer Existenz nicht immer schon im Spiele ist. Angesichts der Tatsache, daß Plato und Aristoteles, die großen Denker der Antike, die Frage nach deIn Guten ohnejede Relativierung gestellt hätten, meinte Strauss, man dürfte von der antiken Unrnittelbarkeit der Frage nach dem Guten nicht abweichen. Der nächste Schritt in unserer Besinnung muß die Behauptung verifizieren, dieichan den Anfang stellte, daß die moderne Historismusproblematik nichts gänzlich Modernes ist, sondern nur eine spezifisch moderne Form darstellt, aber einem viel älteren und die Geschichte der abendländischen Philosophie durchziehenden Probleminteresse entspricht. Das läßt sich, wie ich glaube, recht gut zeigen. Zunächst ist es klar, daß die christliche Botschaft dem menschlichen Denken eine völlig neuartige Fragestellung aufgenötigt hat. Die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes, und die Auferstehung vom Tode sind von den griechischen Begriffen her einfach nicht zu denken. Die große Geschichte des christlichen Abendlandes besteht in dem beständigen Versuch, mit der einzigen Begriffssprache, die die beginnende christliche Kultur vorfand, nämlich mit der griechischen und ihrer lateinischen Variante, dem Paradox der christlichen Botschaft gerecht zu werden. Es geht um das Problem, das wir dann in Kierkegaards Kritik an der Dialektik Hegels nochmals hochkommen sehen und das in der echten Gleichzeitigkeit des christlichen Opfertodes mit der Glaubenszumutung an den Menschen gipfelt.
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In dieser Situation tritt ein ganz neues Problem auf, und das ist das, was wir mit scholastischen Begriffen das Problem der Kontingenz nennen würden. Das heißt, daß jetzt nicht, wie in dem großen Weltblick griechischer Spekulation, nur die Ordnungen in ihrer Regularität und in ihrer Formungskraft auf die von uns erfahrene Welt hinauswirken und nur so zum Gegenstand des denkenden Erkennens werden. Jetzt geht es gerade um das Unbegreifliche des Einmaligen. Das spiegelt sich etwa in einem wohlvertrauten Sprachgebrauch der Gegenwart, \venn man das Wort »Faktizität« gebraucht. Das ist ein Wort, dem man etwas anhört, wenn man sein Ohr geschult hat - und man muß, wenn man philosophieren will, auf Worte horchen lernen. Das Wort »Faktizität« begegnet, soweit meine semantischen Studien Ergebnisse hatten, zuerst innerhalb der Hegelschen dialektischen Vermittlung der Inkarnation mit dem dritten Artikel, und das heißt zwischen dem Osterglauben, der Faktizität der Auferstehung, und der Ausgießung des Heiligen Geistes und damit der ständigen Erneuerung des Pfingstwunders im Glaubenden. Eine solche extreme Auflösung der Einmaligkeit begegnet in Hegels Philosophie. Dagegen wurde von seiten der Theologie auf der Einnlaligkeit des Geschehnisses, dem Faktum als Faktum, bestanden, und so bildete sich der neue Begriff der Faktizität, um dem Faktum als Faktum einen eigenen begrifflichen Wert zu geben. Es ist wohl nicht schwierig zu sehen, wie damit auch das Zeitproblem in einem neuen Lichte erscheint. Dieses »Jetzt« stellt nicht nur einen Stellenpunkt in dem Kontinuum der einander abfolgenden Jetzte dar, sondern ist einjetzt, das seine Vergangenheit und seine Zukunft in sich enthält und mehr ist als der Januskopf des Vergehens und Verschwindens, die die eleatische und Hegelsche Dialektik darin allein gelten ließen. Nun, meine Frage ist: Was bedeutet diese Problematik der Zeitlichkeit für die Rechtfertigung oder denkerische Bewältigung der Möglichkeit des Glaubens? Mehr wird dem Philosophen sicherlich nie gestattet sein. Und ich glaube, daß wir da, insbesondere durch die hermeneutische Wendung der Phänomenologie, einen Zugang gewonnen haben - diese hermeneutische Wendung, die ja auf den Heidegger von >Sein und Zeit<, dem in diesem Punkte Dilthey folgenden, zurückgeht und die zu zeigen versucht hat, daß es keinen angemessenen Begriffvom menschlichen Dasein gibt, der nicht ganz auf dies Wunder und Rätsel des» Da« im Dasein gerichtet ist. Im Jahre 1929 veröffentlichte Heidegger sein zweites Buch, das KantBuch, in dem zu unserem Erstaunen plötzlich» Dasein« nicht mehr in einem Wort geschrieben war, sondern »Da-Sein« (mit Bindestrich und großgeschriebenem SeiJ?). Da-Sein also war das Sein als das Sein des Da und nicht als ein Daseiendes gedacht. Wie kann dieses Sein des Da gedacht werden? Welche Struktur von Zeitlichkeit, welche Struktur von Gegenwärtigkeit, von Dasein im landläufigen Sinne, kann »Da« haben? Wenn man dieser
Frage nähertreten will, muß man sowohl die Tradition der platonischen und der christlichen Philosophie als auch die aristotelische und spätantike Philosophie neu durchdenken. Wir dürfen aber - und da sind gerade auch unsere philologischen Freunde nicht ohne Verdienst - das aristotelische Werk nicht mit den Augen der gegenreformatorischen Systematik lesen, also nicht als ein System konstruieren, sondern müssen Aristote1es als eine sich weit differenzierende und tentative Entwicklung eines Denkens lesen, das noch ganz von der antiken Wirklichkeit des dialogischen Miteinanderredens getragen ist. Dies ist in meinen Augen der solide Ausgangspunkt der hermeneutischen Fragestellung, daß Sprache ihr eigentliches Wesen im Gespräch hat. Das heißt, daß wir uns der allem subjektiven Bewußtsein überlegenen Führung durch die Sprache anvertrauen, in die wir sozusagen hineingewoben sind und die uns, ohne es zu wissen, von lang her durch ihre Artikulation und Modulation vorgearbeitet hat und uns inspiriert. Rhetorik ist das wohlbekannte Beispiel dafür, daß einem die Sprache ständig vorweg- und davonzulaufen droht und sich nur mühsam wieder an ihre eigentliche Aufgabe des Sagens des Gemeinten zurückbringen läßt. Wenn wir so von der Eigentlichkeit der Sprache, Gespräch zu sein, ausgehen, dann lernt man, das Gespräch mit den Griechen nicht als eine antiquarische Leistung unserer historischen Wissenschaft anzusehen - und auch nicht als eine Verlegenheitsauskunft angesichts einer ihres metaphysischen Hintergrunds beraubten Erkenntnistheorie oder Wissenschaftstheorie der Gegenwart. Vielmehr müssen wir wieder mit den Griechen ins Gespräch zu kommen lernen. Das habe ich ursprünglich an Heidegger begriffen. Andere mögen es an anderen gelernt haben. Der Logos ist ja allen gemeinsam. Was ist hier das Problem, das Plato dem Aristoteles ständig stellt? Es ist kein Zweifel, daß die Basis, von der menschliches Denken über das Göttliche immer getragen ist, das Bewußtsein unserer Endlichkeit, das Bewußtsein dessen, daß wir uns zu bescheiden haben, darstellt. Das ist die klassische Wendung des rvr;,Oz oEav~6v des Delphischen Orakels, deren eigentlicher Sinn darin besteht, kein Gott sein zu wollen, und das heißt fur uns auch: nicht in der Illusion zu leben, alles machen zu sollen, was unsere technologisch vorwärtsgetriebene Zivilisation zu machen vermag. Auf der anderen Seite liegt darin die Einsicht, daß wir eine gemeinsame Basis haben. » Soweit als möglich unsterblich zu werden « ist eine berühmte griechische Wendung. Man müßte das Wort einmal so im Ohre haben, wie die Griechen es aussprachen. Ich weiß das nicht. Wir Deutschen haben ja unser eigenes Griechisch. Aber wer al)avari~Gtv hört, für den ist doch wohl die Vokalisation des Wortklangs unüberhörbar: Es ist ein erstaunliches Aufw~rts in der Lautfolge al)avalUEW, wie ein Aufklang in
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lJitvarO(;. Die Heroisierung und damit da~ alJavari(Ew, das Unsterblichwerden, ist rur den griechischen Paganismus kein unmöglicher Gedanke gewesen. Wenn wir von der Voraussetzung der Endlichkeit ausgehen. dann ist die philosophische Frage, wie wir dieser fundamental~n Grundstruktur unseres Daseins begrifflich angemessen Rechnung tragen. Gerade auch Luther und die Reformation waren in diesem Punkte Kritiker des Aristoteles, weil der Begriffvon Sein in einem höchsten Seienden als dem immerseienden Göttlichen gipfelte und das ganze Denken beherrschte. Wir sind uns inzwischen dessen bewußt geworden, daß selbst der Begriff »Ewigkeit« nicht im Neuen Testament zu finden ist. Hier sind christliche Evidenzen unausgeschöpft geblieben. Sicherlich ist es mit gutem Grunde geschehen, daß griechische Metaphysik und christliche Dogmatik zu einer Wirkungseinheit zusammengeführt worden sind. Aber auch das hat zu keiner monolithischen Einheit geführt. Durch die Arbeit von de Muralt4 habe ich gelernt, welche Kämpfe zwischen Scotisten und Thomisten im hohen Mittelalter die Schicksalswege der modemen Wissenschaft vorbestimmt haben. Wenn der Scotismus ein höchstes Prinzip des Seins kannte, hat er indirekt auf das Prinzipiendenken der beginnenden Neuzeit hinübergewirkt. Descartes ist ja schließlich aus einerJesuitenschule hervorgegangen. Mir ist aufgrund meiner Plato-Studien seit langem kla.r, daß die aristotelische >Metaphysik< Physik ist, die über sich selbst noch hinausgeht. Jedenfalls ist es eine Gedankenlosigkeit, wenn wir von einer platonischen Metaphysik reden. Eine platonische >Physik< hat es eben nicht gegeben. Plato folgt dem Ordnungsblick der pythagoreischen Inspiration und schaut die Ordnung der Sphären, die Ordnung der Stände in der idealen Polis und die Ordnung der Kräfte in der menschlichen Seele in einem großen Blick zusammen. Das war ein Denken, in dem sich, wie ich es schon betonte, das Problem der Kontingenz als solches nicht legitim stellen konnte. Wenn wir es genau nehmen, heißt das, daß Plato vom Göttlichen immer im Neutrum gesprochen hat: -';0 8Eiov- das Göttliche. Gewiß hat Plato die mythische Vergangenheit, die mythische Überlieferung des Griechentums, geehrt und seinerseits mannigfaltig, ironisch-spielerisch und reflexiv-gebrochen, seine eigenen Erfindungen auf eine unvergeßliche Weise in seine Dialoge eingearbeitet. Immer wieder hat er auch die alten Leitbilder der Zeus-Religion und des Olymp in sein kritisches Denken eingeschmolzen. Aber er hat die Götterwelt als menscWiche Erfindung angesehen, etwa in dem berühmten Mythos des >Phaidros<. Das Göttliche selbst ist zwar keine menscWiche Erfindung, wohl aber die Formen, in denen wir uns dieses Göttliche als Seiendes, als die Götter und ihr Handeln am Menschen, vorstellen. All das gehört bereits in 4
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ANDRE DE MURALT, La metaphysique du phenomene. Paris 1990, S. 105-207.
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den Bereich der griechischen Aufklärung, die von sich weiß - 'was schon Herodot betont hat und was jeder, der mit heutigen Augen Homer liest, 'nur bestätigen kann. Da ist schon ein Hauch von Aufklärung, ein Hauch von spielender Freiheit, die sich das Dichten und Denken der frühen Griechen gegenüber der herrschenden kultischen übung nimmt und die auch Plato noch durch die Meisterschaft seines Denkens und Dichtens gepflegt hats . Demgegenüber führt der Weg des Aristoteles über die Physik und von da zu einem unbewegten Beweger, und das heißt zu einem höchsten Daseienden, zum Gott - zu dem Gott oder den Göttern, wie immer: jedenfalls zu Seiendem. Die Argumentation beruht auf dem Gedanken des ersten Bewegers und auf der Selbstgegenwart des Bewegergottes - freilich, wie Theophrast gezeigt hat, setzt sie eine liebende, strebende Seele voraus. Fragen wir uns, was das fur den Zeitcharakter des Ganzen bedeutet. Zunächst eine allgemeine Bemerkung über das Neutrum. Das Neutrum ist einer der Vorzüge der griechischen und deutschen Sprache. Das Neutrum hat etwas von einer nie lokalisierbaren Gegenwart, und daher rührt sein besonderer dichterischer Zauber, wenn wir etwa bei Goethe, bei Hölderlin, bei Rilke oder Trakl solche Nomina wie »das« Heitere - oder was immer es ist -lesen; in dem neutralen »das« ist die reine Anwesenheit und Allgegenwart eines allesumschließenden und allesumhüllenden )Da<. Das ist die große Macht des Neutrums, daß es Präsenz gerade dadurch ausübt, daß es sich nicht lokalisieren läßt, sondern irgendwie überall >da< sein kann. Es ist durchaus nicht notwendig mit der Denkform des Pantheismus verknüpft, wenn auch gerade diese Seite am Begriff »des Göttlichen« in der Geschichte, vor allem in der christlichen Mystik, immer wieder als Häresie angegriffen worden ist. Auch der junge Heidegger begann damals - es lag überhaupt in der Luft -, sich an Meister Eckhart zu orientieren, um die Frage nach dem »Sein« stellen zu lernen, wo er im >Opus tripartitum<, das 1924 herauskam, las: »Deus est suum esse.« Es scheint mir bemerkenswert, daß ein großer Denker und Kirchenfürst wie Nicolaus Cusanus sein philosophisches Werk der Aufgabe gewidmet hat, zu zeigen, daß Meister Eckhart durchaus kein A Häretiker war. Aber nicht nur die Seinsfrage, auch das Problem der Zeit, das uns doch besonders angeht, lohnt den Rückgang auf Plato6 . In dem platonischen Parmenides-Dialog gibt es einen sehr sonderbaren Exkurs (oder was immer es ist), in dem die Dialektik von Sein und Eines-Sein, Eins und Sein, entwickelt und dann gezeigt wird, daß es zum Sein gehört, daß da auch Werden ist - und nun fragt man sich, wann eigentlich der Übergang von In5 Siehe dazu auch> Über das Göttliche im frühen Denken der Griechen< in Ges. Werke Bd. 6 (Nr. 9). 6 Zum folgenden vgl. )Der platonische >Parmenides< und seine Nachwirkung<, jetzt in Ges. Werke Bd. 7 (Nr. 11).
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Bewegung-Sein zum In-Ruhe-Sein ist. Dafür zitiert der platonische >Parmenides< das sonderbare Wesen des t~aiMC;, die griechische Bezeichnung für das Plötzliche, dasjähe. Es ist etwas Rätselvolles. Was ist es? Ein letztes Sein? Ein erstes Werden? Oder umgekehrt? Die Dialektik des Plötzlichen scheint ein Heraklitisches Motiv, das Plato aufgegriffen hat, und er hat damit eine menschliche Grunderfahrung beschrieben. Ich denke zum Beispiel an das Mysterium des Schlafens und das Rätsel des Erwachens. Plötzlich ist man wach. Es ist übergangslos. Man kann es in Heraklitischen Sätzen sehen, wie sehr das Mysterium des Schlafes mit dem Mysterium des Todes engstens verknüpft ist. Wir alle kennen die Redensart »Er schläft wie ein Toter«. Das Rätsel dieser Absenz in der Präsenz und dieser Rückkehr zur Präsenz beim Erwachen: es ist kein allmählicher Übergang, so wenig wie das Verlieren des Bewußtseins. Es ist etwas, was wir nur als übergangslos beschreiben können. Diese Dinge sind, wie mir scheint, von den Griechen schon früh mit vollem Bewußtsein gedacht worden, und das steht selbst bei Aristoteles dahinter, wenn der Gott im Sinne der aristotelischen Theologie, der sich selbst denkende und sich selbst sich gegenwärtighaltende Gott, durch Kontinuität ausgezeichnet ist, während uns Menschen Wachsein und Wahrnehmung nie ohne Unterbrechung zuteil ist. 'Darin liegt Diskontinuität, dies rätselhaft Plötzliche und Übergangslose, das unser Denken herausfordert und Zeit erfahren läßt. Gleichwohl hat diese Stelle des Parmenides-Dialogs erstaunlicherweise in der ganzen Geschichte der abendländischen Philosophie der Antike und der Folgezeit keine Rolle gespielt. Es gibt ein einziges Zeugnis, das bei PseudoDionys auftritt und nicht wesentlich ist, weil es in der üblichen spätantiken Manier mit etymologischen Spielereien einsetzt: » Was aus dem Unsichtbaren hereinbricht« - so wird da das Plötzliche gedeutet. Ein zweites Zeugnis ist eine spielerische Tischunterhaltung bei Aulus Gellius. Der erste, der die Plato-Stelle im Ernst aufgegriffen hat, ist Kierkegaard. Im >Begriff der Angst< hat er eine lange Anmerkung diesem erstaunlichen Phänomen des Plötzlichen, des Augenblicks, gewidmet. Das ist die Zeitproblematik, die durch die immer beunruhigenden und stimulierenden Versuche des späteren Heidegger hindurchscheint. Was ist das für ein Zeitcharakter, wenn das nicht >in< der Zeit ist? Ich habe selbst ein paar Versuche gemache, und seit ~ergson, der auf Schelling und die Romantik zurückgreift, liegt das Thema In der Luft, Der junge Heidegger und der junge Tillich haben sich dabei insbesondere an den griechischen Begriff des >Kairos< angelehnt. Es ist klar, daß die Zeit nicht nur mit Aristoteles im Sinne der ununterbrochenen Kontinuität der Jetztfolge und der Dauer gedacht werden darf und überhaupt nicht als die gemessene Zeit. Die Zeitlichkeit muß vielmehr im 7
Siehe dazu die Arbeiten in Teil II von Ges. Werke Bd. 4, S. 119ff.
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erfüllten Augenblick erscheinen oder in der>Weile<, die hinter jedem >weil<Sagen steht. So hat Heidegger später versucht, so~ar b~i den Vorsokr~t.ikern die>Weile< aus Anaximander herauszulesen, um seIne eIgenen DenkvISIonen wiederzufinden. Ich glaube nun, daß das Problem des Historis~us, ~n dem sich das methodische Selbstbewußtsein der modernen, an dIe WIssenschaft angelehnten Erkenntnistheorie und Methodenlehre vergeblich abarbeitet, nur durch den Rückgang auf die ältesten Fragen nach dem Sein und der Zeit aufgelöst werden kann. Wie erscheint es in den historischen Geisteswissenschaften? Man bekommt dann, etwa vom Wiener Kreis, zu hören, in den Geisteswissenschaften seien höchstens zehn Prozent Wissenschaft, und für den Begriff von Wissenschaftlichkeit, der im Wiener Kreis entwickelt worden ist, ist das wahrscheinlich noch etwas zu freundlich formuliert. Jedenfalls sind es die anderen neunzig Prozent, auf die wir für unser gemeinsames L~ben ~nd die menschliche Solidarität bauen. Sie eröffnen uns Gesprächsmöghchkelten auf die Wahrheit hin, die der uns allen gemeinsame Logos ist, auch wenn nur zehn Prozent den Normen der Wissenschaftlichkeit genügen. Objektivität bedeutet Vergegenständlichung und bedeutet überall dort ein verengendes Vorurteil wo es in Wahrheit nicht um die Brechung eines Widerstandes und um Behe;rschung geht, sondern um ein Miteinander und um ein Teilhaben an dem hermeneutischen Universum, in dem wir miteinander leben. Ich könnte unter diesem Aspekt zeigen, wie sich immer wieder der Platonismus neben dem Aristotelismus in der Ausdeutung des christlichen Mysteriums geltend macht, und vollends, wie im Zeitalter der A~fklärungdi~ ~~ssag~n der Kunst über alle historischen Distanzen und DIfferenzen WIe uber dIe praktischen und politischen Entscheidungen im Leben des einzelnen und der Völker hinwegreichen. . . Es waren zwei Probleme, die dergestalt zum Rückgang aufdIe platonIsche Denkhilfe veranlassen: Das Problem des historischen Relativismus einerseits und andererseits die Fragwürdigkeit alles Redens von Gott und über Gott, als ob er ein Gegenstand wäre, der unserem Wissen Widerstand leistet. In beiden Problemen wirkt sich die gleiche Voraussetzung aus, die von ungenügender Kritik am Wissenschaftsbegriff der Neuz.eit un.d falscher An~en dung desselben herrührt. Daß ein anonymes Subjekt SIch Gott zu einenl Gegenstand mache, den man durch Wissen beherrschen l~.rnt., verfehlt ~en Sinn der Gottesfrage. Das suchte ich mit der Rede vom GottlIchen deutlIch zu machen, die Plato noch vor aller Metaphysik führt. An Plato trat heraus, wie die Frage nach dem Göttlichen in die Erfahrung des. Mens~hen un.d seiner Endlichkeit gestellt bleibt. Mit Aristoteles zu reden, 1st e~ eIn pra.ktlsches Wissen, und er nennt es sogar eine höchste Form von PraXIS, das SIC~ Halten des Menschen im >Da< des Seins, das nicht so sehr Wissen als eIn
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~ahre~ Dabeisein ist, wie das der Teilnahme an einer Festgesandtschaft, das dIe Gnechen I Theoria< nannten. Hier ~tellt si~h überh~upt nicht das Relativismusproblem. Ihm liegt der Wahrheltsbe~nffder WIssenschaft und die Vergegenständlichung aller Forschungsberelche zugrunde. Das ist aber kein partnerschaftliches Verhältnis und ein solches ist uns durch die Bedingungen unserer Zeitlichkeit und unserer Geschichtlichkeit auferlegt. Dafür war Plato hilfreich, der die Grenz:~. des ari~totelischen Zeitbegriffs und allen Messens zeigt, das den ObjektiVltatsbegnffder modernen Wissenschaft prägt. Doch ~ft uns s~lbst. Aristoteles, wenn er das praktische Wissen zur Geltung bnngt, das m seIner Untrennbarkeit vom Ethos alle Rechenschaftsgabe über das bestimmt, woran wir teilhaben, ohne daß wir es beherrschen.
21. Vernunft und praktische Philosophie (1986)
Zwar ist die Begründung einer philosophischen Ethik ein Sonderproblem, das den wahren Umfang der metaphysischen Spannung zwischen Vernunft und Kontingenz nicht voll ausfüllt. Gleichwohl steht das Thema der Ethik vor einer besonderen Fragwürdigkeit, wenn es sich um den Anspruch der Philosophie, Allgemeingültiges zu sagen, handelt. Die Mannigfaltigkeit der menschlichen Lebensformen und Lebensziele ist gar zu offenkundig und unterscheidet die Menschenwe1t fundamental von allen anderen Formen des Lebens, durch die unser Planet ausgezeichnet ist. Man versteht von da, daß der Zweifel an der universellen Herrschaft der Vernunft, wenn es um die Frage nach dem Guten geht, immer wieder Nahrung empfangt. Schon die Griechen wußten es: das Gute ist ein buntfarbiges Etwas. Der Streit um es ist so tief eingewurzelt, daß die Begrenzung der Vernunft durch das Kontingente, auf das man stößt und das man nicht denkend vorwegnehmen und ableiten kann, geradezu allgegenwärtig ist. Auch ist der Begriffder Kontingenz nicht durch Zufall erst von der christlichen Schöpfungsphilosophie aus geformt worden, die die universale Geltung einer heilsgeschichtlichen Bestimmung des Menschen einschloß. Was kann Begründung einer Ethik als Aufgabe der Philosophie überhaupt meinen? Ist der ethische Pluralismus am Ende das einzig Allgemeine, das Denken hier ergründen kann? Es möchte so aussehen, wenn man die erstaunliche Konvergenz bedenkt, die sich in den höchst verschiedenartigen Beiträgen dieses Kolloquiums zum Thema der Vielfaltigkeit von Rationalität kundtut - ob es sich da nun um Foucault oder um Mannheim, um Husserl, um Levinas oder um Heidegger handelte. Das trat nicht nur etwa in der Diskussion zwischen Waldenfels und Peperzak, sondern in fast allen Beiträgen zutage. Vielleicht verdanken wir diese Konvergenz dem Umstand, daß wir es alle mit der Phänomenologie ernst meinen. Denn was ist phänomenologisches Denken anders als eine Schulung im Anti-Dogmatismus? Auf diesem Grunde kommen wir vielleicht wirklich ein paar Schritte weiter. Freilich sollten wir auch unsere großen Vorbilder, Plato und Aristoteles und Kant, im gleichen Geiste eines solchen Anti-Dogmatismus lesen, wenn es sich um das Thema der Ethik handelt. Das eigentliche Problem scheint mir: Was heißt Begründung der
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Ethik? So hkt Peperzak mit Recht gesagt, daß es nicht selbstverständlich ist, daß es eine solche Begründung überhaupt gibt, da jedenfalls eine Begründung, welche sich auf etwas Außerirdisches, Außermoralisches stützt, immer der Einrede ausgesetzt ist, daß das gegen den Sinn der Ethik selber sei, voti solchen Bedingungen abhängig zu sein. So möchte ich davon ausgehen, daß alles, was etwa an sogenannter Metaphysik in der Theorie der Selbstverwirklichung des Menschen bei Aristoteles steckt, oder in der Kantischen Theorie von dem Überschritt der Moralphilosophie in das Reich der Metaphysik, der durch die sittliche Erfahrung selbst erzwungen werde, keineswegs eine Begründung der Sittlichkeit bedeuten will. Es scheint mir gegen Kant ungerecht, wenn man seine Idee der postulatorischen Metaphysik als eine Lohnrechnung für die Tugend ansehen wollte. Das hat Kant nie gemeint. Was er gemeint hat, ist lediglich, daß wir auch angesichts der wirklichen Erfahrung noch verstehen können, in welchem Sinne die Botschaft des Christentums uns so etwas wie Glückseligkeit versprechen kann. Jedenfalls, wer das Gute um der Glückseligkeit willen tut, der handelt nicht im Sinne der Kantischen Grundlegung. Ich hatte während unserer Diskussion öfters den Eindruck, daß man ein gutes Wort für Kant einzulegen hätte. Das hängt nicht etwa an meiner Zugehörigkeit zu einer älteren Generation, die noch die Herrschaft des Neukantianismus auf den philosophischen Lehrstühlen Deutschlands selber erfahren hat. Zwar las ich mit etwa achtzehn Jahren die >Kritik der reinen Vernunft<, aber ich verstand davon gewiß nur das, was die Breslauer Neukantianer daraus machten. Eine erste eigene Prägung erfuhr ich vielmehr von dem, was damals als ein neues Denken in den herrschenden Neukantianismus einbrach, insbesondere durch die Lektüre Kierkegaards. Heute glaube ich, daß ich damals eigentlich nicht so sehr Kierkegaard verstanden habe, als durch Kierkegaard hindurch und mit ihm zugleich einige unverlierbare Einsichten Hegels. Immerhin wurde das Grundmotiv Kierkegaards, seine Kritik und die Polemik gegen die universale Vermittlung, die dem >Entweder-Oder< des ethischen Stadiums seine Schärfe nimmt, für mich bestimmend. Als ich später Heidegger begegnete, war ich daher für vieles vorbereitet. Es lag überhaupt in der Luft. Die aus dem Kriege Zurückkehrenden brachten eine Erfahrung mit, die dem Einspruch Kierkegaards gegen Hegel damals eine neue Aktualität verlieh. Daß ich selber Heidegger begegnete, war für mich eine besonders glückliche Fügung. War er doch selber von der Schärfe der Kritik Kierkegaards am Idealismus inspiriert, und war zugleich selber ein Meister des Denkens und ein Meister des Lehrens, der imstande war, einen zu anderen Meistern des Denkens zu fuhren. Das wurde mir bei dieser Tagung in Trier erneut bewußt. Die Fragen, die wir miteinander diskutiert haben, gehen v'on Grundvoraussetzungen aus, die Aristoteles namhaft gemacht hat. Das meine ich nur in dem Sinne, in dem etwa Levinas den Begriffdes le dire feststellt:
daß man nicht die konkreten Inhalte und nicht die Zeitatmosphäre, in die eine begriffliche Darstellung eingehüllt ist, als solche erneuern kann, sondern daß man die Intention aufnimmt, die in dem Gesagten liegt. Aristoteles war aus mehreren Gründen ein besonders geeigneter Leitfaden. Schließlich beginnt, was wir alle festhalten sollten, die philosophische Ethik mit der platonisch-aristotelischen Antwort auf die sokratische Frage. Die sokratische Frage aber schloß in Wahrheit eine geradezu unglaublich herausfordernde Unterstellung ein, nämlich daß niemand wisse, was das Gute sei. Das konnte keiner im Ernste zugeben, daß er nicht weiß, was das Gute ist. Und eben das ist die Grundlage und Voraussetzung der ganzen sokratisch-platonischen Dialektik. Jeder beansprucht, das zu wissen. Daher muß man es aus jedem herausholen können, indem durch Widerlegung seiner Meinungen verkehrte und voreilige Dogmatisierungen und Vorgeblichkeiten entlarvt werden. Das ist ein Akt der Erweckung von Erinnerung, Anamnesis, was sich im Gespräch vollzieht. Dem kann sich keiner entziehen - Metaphysik hin, Metaphysik her. Nun ist gewiß im platonischen )Phaidon< auch so etwas wie Metaphysik programmiert. Ich denke vor allem an die berühmte Wendung, in der Sokrates sagt: Wenn mirjemand erklären würde, daß die Erde deswegen im Mittelpunkt steht und die Gestirne um sie kreisen, weil es besser ist, daß es so ist - wenn ich das so verstünde, wie ich verstehe, warum ich hier im Gefängnis sitze und alle Angebote der Flucht abgewiesen habe, dann wäre das für mich Wissen. Die )Physik< des Aristoteles, auf die sich die )Metaphysik< aufbaut, ist wirklich die Ausführung dieses Programms. Aber heißt das nicht am Ende, daß die Priorität nicht bei der Metaphysik liegt, sondern bei der sokratischen Frage und der sokratischen Lebens- und Sterbensantwort auf diese Frage? Das möchte ich allen unseren Überlegungen über das metaphysische Denken vorausschicken. Vielleicht hat MacIntyre sogar recht, obwohl mich die Durchfuhrung nicht befriedigt, wenn er daran erinnert, daß diese Frage nicht schon im tragischen Zeitalter der Griechen, sondern erst nach der Geburt der Tragödie aufgekommen ist. Es war der große Aufbruch der griechischen Tragödie, daß Eleos und Phobos, Jammer und Entsetzen, die sie ergriffen, den Menschen zur erschütternden Erfahrung brachten, daß sie Menschen sind, Sterbliche und nicht Götter. Danach erst hat sich die sokratische Frage daran entzündet, daß diese menschliche Grunderfahrung von einem neuen Scheinbildungswissen, einer neuen Paideia, verdeckt und entstellt worden war. Ich beginne also meine Überlegungen mit der These, daß alle wirklichen Denker, die auf dem Gebiet der Ethik uns etwas zu sagen haben und deren Wort wir in ein dire verwandeln können, ihre Autonomie und damit Unabhängigkeit von der Metaphysik vorausgesetzt haben. Im Falle des Aristoteles ist das ganz unzweideutig. Wieweit diese Autonomie der Ethik im Zeitalter der Metaphysik stets gewahrt
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,,:orden i~t, ma~ man sich fragen, aber daß sie nicht, auch nicht als MetaphysIk der SItten, ihre Grundlegung anderswo suchen kann als in der von uns allen gelebten Selbstauslegung des Lebens, scheint mir unleugbar. Hier möchte ich eine autobiographische Geschichte erzählen. Als ich von der Kierkegaard-Lektüre inspiriert zu Heidegger kam, lernte ich die Nikom~c~sche ~~ wi~ einen wiedererstandenen Kierkegaard lesen. Sie ist ja WIrkhch Kntik an emem dogmatischen Begriff des allgemeinen Guten und eines metaphysischen Systems, in dem sich in den Augen des Aristoteles das Gute bei Plato durch Mathematik und Kosmologie vermittelt, so wie das in den Augen Kierkegaards im Hegelschen Denken geschehen ist. Wenn wir hier einsetzen, heißt das, daß die praktische Philosophie, die Aristoteles en.twickelt hat, sich geradezu gegenüber der theoretischen Philosophie formIert hat. Damit soll gewiß nicht geleugnet sein, daß die metaphysische Teleologie bei Aristoteles alles, was ist, einschließt, und so auch Leben und Wirken des Menschen. Wenn Aristoteles das Gute im menschlichen Leben beschreibt, so hat das gewiß die allgemeine Struktur des» Worum-willen« die a~ch s~ine )Physik< (in Ausführung des Programms des )Phaidon<) trägt ~ so WIe bel Plato der Mythos des )Timaios< die ideale Stadt der )Politeia< umschließt. Aber nicht, um dem All ähnlich zu werden, gründen die Menschen Verfassung und Gesellschaftsordnung. Und doch heißt das nicht etwa, daß es sich um eine konventionalistische Begründung der Ethik handelt, die einen Naturzustand beendet. Vielmehr ist es der Logos und sein Abstand zum »Gegenstand«, der überhaupt erst Konventionen möglich macht und der den Sinn für das Nützliche, das Zweckrationale - wie für das Recht - in sich schließt. Wie sehr auch Aristoteles noch, mit Plato, an die sokratische Frage nach dem Guten anknüpft, läßt sich schön zeigen, wenn man die Argumentation prüft, die Aristoteles an der berühmten )Politik<-Stelle (A2) vornimmt, die den Menschen als das Lebewesen, das Sprache auszeichnet, bestimmt. Da begegnet nämlich ein seltsam schneller Übergang. Es leuchtet ein, daß »Sprache-Haben« Abstand einschließt und damit auch Sinn für Zeit und so den Sinn für das Nützliche, für das, das zu etwas beiträgt, ohne selbst schon als solches angenehm zu sein. Aber nun fährt Aristoteles fort: » ••• und für das Gerechte und Ungerechte.« Diesen Übergang vom Nützlichen zum Rechten wirklich zu vollziehen und als unausweichlich sichtbar zu machen hat die aristotelische Ethik zu zeigen versucht. Man darf also nicht alles auf die)Phronesis< im Sinne der Zweckrationalität schieben. Die Lehre von der Phronesis steht in der )Ethik<, und die Ethik ist Lehre vom )Ethos<, und das Ethos ist eine )Hexis<, und die Hexis ist die Haltung, die gegenüber den )Pathe< standhält. Das ist die anthropologische Basis der aristotelischen Ethik. In meinen Augen ist sie nichts anderes als eine Entmythologisierung und begriffliche Ausarbeitung der Platonischen Staatsutopie. Dort folgen
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bekanntlich alle dem Logos, weil die Einrichtung des Ganzen so weise ist, daß niemand etwas Falsches machen kann. In Wahrheit hat Plato damit gezeigt, daß )Ethos< die Basis ist, von der aus wir in unserer menschlichen Existenz überhaupt nur den Sinn für Rationalität entwickeln können. Das gleiche gilt für Aristoteles. Selbst das der Theorie gewidmete Leben und seine höchste Vollendung, die >Sophia<, hängt daran. Das 6. Buch der Nikomachischen Ethik ist vollends, wie Aristoteles ausdrücklich sagt, nichts anderes als die Interpretation dessen, was es eigentlich heißt, daß wir als menschliche Gesellschaft in einem Ethos, d. h. in einer verbindlichen Übereinkunft leben. Wenn es sich um Unterscheidung von )Ethos< und )Dianoia< oder, anders gesprochen, um emotional Bestimmtes oder rational Durchhelltes handelt, dann sind das zwei Aspekte des Gleichen, die aufs engste zusammenhängen und untrennbar sind. Ob man sie dianoia orektike oder orexis dianoetike nennt, gilt nach Aristoteles gleich viel. Es handelt sich also bei der )Phronesis< nicht um rationale Regelbefolgung. Auch die Regel von der goldenen Mitte und ihre Begründung ist eine reine Beschreibung dessen, was der Mensch tut, der das Gute zu wählen hat. Und eben das ist es, worum es dabei geht - daß das Gute unser Handeln nicht in einer rationalen Vorgegebenheit bestimmen kann, sondern nur in dieser unlösbaren Einheit von Ethos und Dianoia seine Konkretion erfährt. Darin ist aber eingeschlossen, daß der Pluralismus von Ethosformen und Ethosgestalten in der Tat zum Wesen der menschlichen Grundverfassung gehört. Das ist nicht erst eine Folge des modernen Relativismus, Historismus, Fragmentarismus - oder wie immer wir die unleugbaren Grundzüge unserer eigenen Weltsituation charakterisieren mögen. Das Thema der Vielfältigkeit der Konkretion des Guten und gerade auch der Gemeinsamkeiten, die sich als Sitten aus dieser Aufgabe, das Gute zu wählen, ergeben, wird bereits in der theoretischen Grundlegung dessen, was praktische Philosophie allein sein kann, von den Griechen gedacht. Nimmt man diese Dinge ernst, dann muß man die übliche Rede vom Intellektualismus der griechischen Ethik mindestens bei Aristoteles einschränken. Ja, man wird auch die Lehre von den Seelenteilen, die Plato entwickelt hat, in einem anderen Lichte sehen. Daß Aristoteles die Rede von den Teilen der Seele in seiner Schrift )De anima< ausdrücklich modifiziert (bzw. den Unterschied zwischen körperlichen Teilen und Seelenteilen bis an die Grenze der Selbstaufhebung des Begriffs des Teiles durchführt), muß auch auf unser Verständnis Platos seine Rückwirkung haben, wie ich zu zeigen unternahm 1. Es handelt sich eben um die beständige ,Aufgabe, die antiken Denker trotz der Unentwickeltheit ihrer sprachlichen und begriffli1 Vgl. dazu >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles<. jetzt in Ges. Werke Bd. 7 (Nr. 6).
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chen Mittel auf ihren wahren Sachbezug hin zu interpretieren, d. h. sie nicht dogmatisch zu lesen. Gewiß hat sich die Argumentationslage im Lichte des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs und Beweisbegriffs verändert. Doch scheint mir bei Kant das Mißverständnis mancher Interpreten greifbar, die den moralischen Affekt der Achtung in seiner Bedeutung unterschätzen und den kategorischen Charakter des Sittengesetzes fälscWich mit dem Begriff der Zweckrationalität in Verbindung bringen2 . Das hat seine Folgen auch für die schwierige Frage, in welchem Sinne praktische Philosophie die beiden Aspekte des Theoretischen und des Praktischen zu einer echten Verbindung zu bringen vermag. Daß Aristoteles sich der Sonderbedingungen voll bewußt ist, die bei theoretischer Reflexion auf die Bedingungen praktischer Ve.rnünftigkeit ins Spiel kommen, hat mich vonjeher angezogen3 • Es geht hier offenbar um ein eigentümliches Verhältnis, das man als den Übergang praktischer Rationalität in eine allgemeine Reflexionsform derselben beschreiben kann. Das heißt gewiß nicht, daß die Philosophie, die es mit der Praxis zu tun hat, selber schon praktische Vernünftigkeit wäre und selber als >Phronesis< verstanden werden dürfte. Wohl aber heißt es, daß sich die Möglichkeit einer Philosophie der Praxis aus der in der Praxis selber schon eingeschlossenen Vernünftigkeit begründet. In diesem Sinne kann Aristoteles sagen: der Ausgangspunkt, die >Arche(, das Prinzip der praktischen Philosophie ist das hoti, das »Daß« - und dieses »Daß« meint nicht nur das Handeln selber, sondern gerade auch die innere Helligkeit, die zu allem auf >Prohairesis<, auf Entscheidungswahl, beruhenden Handeln gehört. Es ist also immer schon eine Selbstauslegung des Lebens, an die sich die verallgemeinernde, schematisierende, typisierende Begriffsbildung der praktischen Philosophie anschließt und auf der sie aufbaut. Das mag bereits in der antiken Wiederaufnahme des aristotelischen Denkens zu dogmatischen Verhärtungen geführt haben, je mehr die Schulform der Metap~ysik und der Philosophie überhaupt sich ausbreitete. Vollends aber gilt es natürlich, seit die neue Spannung in die Philosophie eingedrungen ist, die mit der Entstehung der »Erfahrungswissenschaften« und eines ihnen entsprechenden philosophischen Bewußtseins verbunden ist. Das hat vor allem den Sinn von Theorie insofern reduziert, als» Theorie« antithetisch und restriktiv auf das konstruktive Ideal des Machens bezogen ist. Praxis wird lediglich als Anwendung von Theorie verstanden. Das rückt auch die Aufgabe einer philosophischen Ethik in eine neue Zweideutigkeit. Aristoteles konnte noch die reine Theorie als eine höchste Praxis begreifen 2 Das gilt selbst noch für das Buch von A. MAcINTYRE. Vgl. meine Kritik in: Philos. ' Rundschau 32 (1985). S. 1-7. jetzt auch in Ges. Werke Bd. 3. S. 350-356. • 3 Siehe dazu u. a. die Beiträge >Praktisches Wissen< in Ges. Werke Bd. 5 (Nr. 5) und >über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik< in Ges. Werke Bd. 4 (Nr. 11).
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(Pol. H 3, 1325b 1s ff.). Dageg~n muß sich die Rechtfertigung der Rationalität der Sittlichkeit, wenn sie sich gegenüber einem Aufklärungsbegriff von Rationalität in ihrer Eigenständigkeit behaupten will, in einen ganz anderen Diskussionszusammenhang einlassen. Sie wird zur Kritik jeder dogmatischen Moralphilosophie, die sich in das sittliche Bewußtsein und in die philosophische Rechtfertigung der Sittlichkeit eindrängt. Daher rührt die wohlbekannte Spannung zwischen Vernunft und Vernünftelei sowie zwischen sittlichem und technischem Bewußtsein, auf die sich die Kantische >Grundlegung zur Metaphysik der Sitten< hat besinnen müssen. So sehr Kant selber auf dem Boden der Aufklärung steht, so hat er doch in diesem für die Ethik entscheidenden Punkte die Kritik der Aufklärung geleistet. Es erstaunt mich immer, daß man diese Leistung nicht in ihrem wahren und gültigen Ausmaße in der heutigen Diskussion wahrzunehmen vermag. Es war das späte 18.Jahrhundert, das noch vor allen nationalstaatlichen Partikularisierungen, die das 19.Jahrhundert gebracht hat, ein Gefuhl für die Menschheit in ihrem fundamentalen Recht erkannt hat, und in diesem Punkte scheint mir ein Hinausgehen über Kant geradezu unverständlich. Freilich bedarf es klärender Überlegungen, was die Vielfalt von Ausformungen des Ethos im Felde der praktischen Philosophie bedeutet. Ich kann mich nicht davon überzeugen, daß das Aufkommen des historischen Bewußtseins, das sich als die größte zersetzende Kraft für die Tradition der Metaphysik erwiesen hat, für das sittliche Bewußtsein und die Berechtigung der praktischen Philosophie eine entsprechende Bedeutung besitzt. Auf diesem Felde ist vielmehr die Vielfalt der Ausformungen des Ethos von vornherein im Blick, wie ich schon eingangs in der Diskussion des Begriffs des Guten in der griechischen Philosophie anzudeuten versucht habe. Zwar hat Aristoteles selbst nur gelegentlich, insbesondere in der Frage nach dem Naturrecht, dem physei dikaion, Erwägungen über die Andersartigkeit von Rechtsordnungen und Rechtlichkeit angestellt (beides ist im Begriff des dikaion beisammen). Der Sache nach aber kann es kein Zweifel sein, daß seine Beschreibung des Wesens des Ethos zwar seine eigene Welt, in der er lebt, als umschließenden Horizont um sich weiß, daß aber jede Möglichkeit der praktischen Philosophie auf einer solchen vorgängigen Raumschaffung des philosophischen Gedankens beruht, die auf die Existenz von Ethos, von Solidarität, von fragloser und begründungsunbedürftiger Gemeinsamkeit gegründet ist. In diesem Sinne schien mir auch unsere Diskussion des fragmentarischen Charakters aller Sprachspiele und Diskurse nur Ausweitung einer Erfahrung, die im Wesen der praktischen Philosophie schon immer ihre Berücksichtigung gefunden hat und die sich des falschen Absolutheitsanspruchs erwehren tnuß, der mit dem Begriff der Wissenschaft im neuzeitlichen Sinne verknüpft ist. Die Rationalität der menscWichen Praxis und die Rationalität der praktischen Philosophie stoßen nicht auf das Kon-
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ti~gente als aufein anderes ihrer selbst. Sie sind auf die Faktizität der Praxis, die ~sere Le~en~wirk~ichkeit ist, gegründet - und nicht auf die Ableitung aus eInem PnnZIp, WIe es dem logischen Beweisideal der Wissenschaft entspräche.
22. Europa und die Oikoumene (1993)
Das Wort >Oikoumene<, das hier gebraucht wird, ist ein griechischer Ausdruck für die bewohnte Welt. Wir kennen die Ausdehnung dessen, was für die Griechen in aristotelischer Zeit als bewohnte Welt war, aus den Alexanderzügen. Alexander der Große hatte es unternommen, die bewohnte Welt nach allen Richtungen bis an die Ränder zu durchmessen. So ist er bis an den Indus vorgedrungen und bis an den Kaukasus, auf die Nordküste von Afrika und nach Spanien, und er glaubte überall jeweils die Grenzen der bewohnten Welt erreicht zu haben. Wenn wir heute den Ausdruck gebrauchen und mit Europa in Verbindung bringen, dann ist damit angedeutet, daß sich die Ausdehnung der bewohnten Welt für uns und damit die Stellung Europas in der bewohnten Welt verschoben hat. So muß man sich fragen, was für Gewichtsverschiebungen damit etwa auch im Bereich des Denkens in Gang gekommen sind, seit sich die bewohnte Welt über den ganzen Planeten erstreckt und obendrein durch den Weltverkehr und die Vervollkommnung des Nachrichtenwesens im Grunde alle Völker und Kulturen näher aneinander herangeführt worden sind. Muß das nicht auch für die Philosophie Folgen haben? Nun ist es gewiß richtig, daß die Philosophie, in deren Zeichen wir hier zusammen sind, ganz und gar in Europa entstanden ist. Zwar gab es die Ägypter, deren Bedeutung für das griechische Denken wir immer deutlicher erkennen, und ebenso ist es mit den Babyloniern, die mit den griechischen Anfängen der Oikoumene nachbarlich verbunden waren. Der Begriff der bewohnten Welt ist für uns aber noch ein anderer. Dazu gehört auch die Neue Welt, Nord- und Südamerika, wie ein riesiges philosophisches Hinterland des europäischen Denkens, vor allem, da die christliche Seelengeschichte, der römischen Kirche wie des Protestantismus, die beiden Erdteile der Neuen Welt entwickelt hat. Anders ist es mit Ostasien und Indien. Das sind wahrhaft andere Welten, die es gerade auch für den Philosophen sein müssen. Die religiöse Prägung dieser alten Hochkulturen ist eine ganz eigene. Zwar hat die Weisheit des Fernen Ostens schon im 18.Jahrhundert durch die europäische Philosophie eine gewisse Aufnahme gefunden als die >sapientia sinica<, und seit der Romantik und im 19. Jahrhundert setzte eine
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Art Einbeziehung indischer Weisheit in das idealistische Denken Mitteleuropas ein. All das hat jedoch keine Verlagerung von Schwerpunkten bewirkt. Dagegen hat die europäische Wissenschaft als solche am Ende eine internationale und interkontinentale Verbreitung gefunden, so daß sie überall in der Welt die eine ist. Der Begriff der Philosophie ist gleichwohl noch nicht auf die großen Antworten anwendbar, die die Hochkulturen Ostasiens und Indiens auf die Menschheitsfragen, wie sie in Europa durch die Philosophie immer wieder gefragt werden, gegeben haben. Es ist im Grunde völlige Willkür, ob wir das Gespräch eines chinesischen Weisen mit seinem Schüler Philosophie nennen oder Religion oder Dichtung, und ebenso, ob wir die indische epische Tradition als eine dichterische überlieferung ansehen oder als eine philosophische Einsicht in das Wesen des Göttlichen und das Wesen der Welt, die in dichterischer Form die religiöse überlieferung weitergibt. Wie seinerzeit Hegel in seiner weltgeschichtlichen Perspektive die chinesische und die indische Welt dem griechischen Anfang vorangestellt hat t blieb das in Wahrheit eine Eingliederung in die europäische Geschichte der Philosophie. Anders ist esjetzt in unseremjahrhundert, seit radikale Fragen an das Ganze des europäischen Kulturzusammenhanges und damit auch an den Begriff der Philosophie gerichtet worden sind. Heidegger ist ja am Ende seines Lebens so weit gegangen, das Wort »Philosophie« überhaupt nicht mehr zu gebrauchen, weil es ihm eine unlösbare Aufgabe schien, die von den Griechen begründete Metaphysik, die durch Plato und Aristoteles begründete Form des begrifflichen Denkens, auf neue Zukunftshorizonte hin fortzuführen. Innerhalb der Problematik unseres Jahrhunderts bildet sich dieses Problem darin ab, daß Husserls berühmter Aufsatz >Philosophie als strenge Wissenschaft< von 1911 heute wie eine Herausforderung an das ganze Jahrhundert erscheint. Nicht zufallig hat Husserl später in der Abgrenzung gegen Heidegger und andere seine >Cartesianische Meditationen< verfaßt. Der Vorrang der »Gewißheit« vor der» Wahrheit« wurde damit ausdrücklich auf das transzendentale Ego gegründet und verteidigt. Dagegen hat Heidegger hinter Descartes zurückgehend die griechische Ontologie neu in den Blick genommen und sie vor die Frage genötigt, wieweit die Wahrheit der christlichen Botschaft im Denken des Abendlandes überhaupt je ihre angemessene Form gefunden hat und finden konnte. Man begreift, daß angesichts dieser Tatsache Heidegger schon sehr früh an der Weisheit Asiens Interesse nahm. Er hat bekanntlich später einmal sogar ein Gespräch mit einem Japaner in dialogischer Form veröffentlicht, in dem er sich mit Interesse nach japanischen Ausdrücken erkundigte, die etwa unseren Begriffen entsprechen mochten. Aus dem Gespräch spricht ein klares Bewußtsein dessen, was fur eine bedenkliche Vorgreiflichkeit in unserer Rede vom Begriff und im Gebrauch unserer Begriffe liegt, und wie das Problem der
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Sprache dahinter auftaucht. Was ist eigentlich ein Begriff? Als Heidegger in seinem letzten Lebensjahrzehnt an meinen Plato-Forschungen besonderen Anteil nahm, hat er mich immer fast neugierig gefragt: ))Ich bin gespannt, wie Sie das machen wollen. Ein übliches Buch im Sinne der Plato-Bücher wird es doch nicht sein?« Er hatte als Gegenbeispiel offenbar mein CelanBüchlein 1 im Auge. Schließlich habe ich mir nur so zu helfen gewußt, daß ich unter dem Titel >Plato im Dialog<2 etwas vorlegte, was wohl kaum ein übliches Plato-Buch ist. Wenden wir uns nun dem Thema zu, was Philosophie im abendländischen Sinne ist und ob sie in dem Zeitalter der neuen Oikoumene, die sich immer deutlicher abzeichnet, sich ändern wird und wie sie sich überhaupt gestalten soll. Die Lage ist doch fundamental anders. Noch nie zuvor war die Menschheit im Besitz von Mitteln, durch die sie ihre eigene Existenz auf diesem Planeten unmöglich machen kann - nicht nur durch die Verstärkung der technischen Waffenkunst. Die gesamte technische und industrielle Entwicklung hat inzwischen ein solches Ausmaß erreicht, daß nun die ökologische Krisis allgemein bewußt geworden ist, und wir wissen bisher überhaupt noch nicht, ob sie von der Menschheit wird gemeistert werden können. Im Gespräch mit einem bedeutenden Naturforscher habe ich einmal gesagt, es sei doch nun wirklich fünf Minuten vor zwölf. Er sah mich ernst an und antwortete: »Nein, es ist halb eins.« Vielleicht liegt in dieser Antwort eine Selbstüberschätzung unserer Wissenschaft - kann sie wissen, daß alles zu Ende ist, bevor es zu Ende ist? Wer weiß? Immerhin sehen wir, wie die auf die Wissenschaft gegründete Weltkultur von heute sich über den ganzen Erdball erstreckt. Die Aufklärungsbewegung, die in der griechischen Antike einsetzte und dann mit dem 17. J ahrhundert zur bestimmenden Realität wurde, betreibt mit unausweichlicher Folgerichtigkeit die Umarbeitung der Natur in eine technische Produktionsstätte. Was daraus werden wird, weiß niemand. Wir kennen die unglaubliche Fähigkeit etwa Japans, W·irtschaftsformen und technische Leistungen zu entwickeln, die der protestantisch-amerikanischen Welt ebenbürtig ist. Aber wie tief sitzt das? Diese Frage geht an alle außereuropäischen Länder, die auf einem ganz verschiedenen Hintergrund religiöser, sittlicher und geschichtlicher Art ihre Prägung empfangen haben. Hier wird die Aufklärungsbewegung des Abendlandes in ein neues Kraftfeld versetzt. Wir wissen nicht, was da im Werden ist. Gerade die Radikalität, mit der Martin Heidegger die abendländische Denk- und Seelengeschichte neu in Frage gestellt hat, verstärkt jedoch unser 1 Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Paul Celans Gedichtfolge >Atemkristalk Frankfurt/M. 1973 (revidierte u. ergänzte Ausg. 1986). Jetzt in Ges. Werke Bd. 9, S.383-451. 2 Ges. Werke Bd. 7. Tübingen 1991.
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Bewußtsein neuer Denkaufgaben. Die angelsächsische Welt hat sich lange spröde gezeigt, den Denkanstoß Heideggers überhaupt aufzunehmen, und so bleibt es dort immer nur eine sehr beschränkte Ausweitung der abendländischen Denktradition, wenn wir von den Griechen oder der Phänomenologie oder der Hermeneutik aus die Aufgabe des Denkens in Angriffnehmen. Auch ist die Philosophie Europas in Wahrheit etwas, dem die ganze Welt ausgesetzt ist. Ich möchte erörtern, welche leitenden Problemkreise es sind, die dabei im Vordergrund stehen. Das erste ist ohne Zweifel, daß die Sprache, die gesprochene Sprache, und damit, um einen berühmten Husserlschen Ausdruck zu gebrauchen, die »Lebenswelt« - und nicht wie im Neukantianismus das »Faktum der Wissenschaft« - der Rahmen ist, innerhalb dessen sich unsere Fragen stellen. Welche Rolle spielt Sprache und damit Zeitlichkeit l.md Geschichtlichkeit, im Unterschied zu den wohlbewährten Begriffen der Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie, in unserem Denken? Als ich selbst in das Studium eintrat, wurde ich, bevor ich Heidegger begegnete, durch den Neukantianismus erzogen. Durch Husserl, Scheler und Nicolai Hartmann hatte ich zwar zur Kritik am Neukantianismus Anstöße empfangen, und wir versuchten phänomenologische Beschreibung, ohne die Begriffssprache des Neukantianismus weiterzusprechen. Aber dann kam Heidegger, als wir uns darüber Gedanken machten, was es mit der Sprache ist. Heidegger machte es uns vor, daß von der gesprochenen Sprache des Lebens aus die philosophische >Anstrengung des Begriffs< eine neue Wendung nahm und eine neue Sachnähe erreichte. Seitdem empfmde ich, selbst bei bewährten Forschern, etwa auf dem Gebiet der griechischen Philosophie, der ich mich aus begreiflichen Gründen besonders zugewandt hatte, daß im Ausland eine Begriffssprache weitergesprochen wird, die mir altmodisch und vollkommen sachfern vorkommt. Da ist von >Realismus< un.d >Idealismus< die Rede oder auch von >objektiv< und >subjektiv< - als ob nicht solche Begriffe der Metaphysikgeschichte im Zeitalter der neuzeitlichen Wissenschaft ihren Sinn völlig verändert haben und unsere Denkbedürfnisse überhaupt nicht mehr erreichen. Es hat Sprache zu sein, worin das Denken sich vollziehen muß und mitteilt, und es ist kaum noch Sprache, wenn das Denken hinter überwundenen Vorgriffen sich verbirgt und sich verstrickt. Die wirklich miteinander gesprochene Sprache ist wirkliche Sprache. Es gibt nun eine unüberschaubare Vielfalt von Sprachen, aber in jeder Sprache ist Denken möglich. Man kann in jeder Sprache alles sagen, wenn auch nicht immer in einem einzigen Satz oder einem einzigen Wort; aber man kann für das, was man denken will, die Worte suchen - und fmden. Dann ist es Sprechen. Von einer Einheitssprache sind wir weit entfernt, wie von einer Einheitlichkeit unserer Sitten. In der Vielfalt der Sprachenwelt, die die Menschheit entwikkelt hat, liegt eine eigentümliche Distanzierung und Abschottung jeder
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Sprache. Eine jede Sprachgemeinschaft pflegt offenkundig mit ihrem Vollzug ihre eigene Weltsicht - obwohl die »Sprache« der mathematischen Symbolik und Logik einem allgemeinen Bedürfnis 'entspricht. Die Vielfalt der Sprachen scheint jedenfalls eher in Vermehrung begriffen als in ihrer Verringerung. Man pflegt wieder Rätoromanisch oder Baskisch; man schützt sprachliche Minoritäten in den verschiedensten Ländern. Ein seltsamer Kontrast: auf der einen Seite steht Zentralismus der Wirtschaft und der Verkehrssprache und auf der anderen Seite die Beharrlichkeit differenzierter Lebenswelten. Wir müssen lernen, ökumenisch zu denken. Es ist eben nicht nur die Vielfalt Europas, die sich vielleicht zu einer Einheit zusammenschließen will. Es ist die Menschheit aufdiesem Globus, die es tun muß, um miteinander leben zu lernen und so vielleicht auch die Selbstvernichtung hinauszuschieben oder gar durch eine kontrollfähige Weltverfassung zu vermeiden. Offenbar gehört dazu nicht nur der Besitz einer Verkehrssprache oder konvertibler Währungen. Es ist wohl kein Zufall, daß sich die Dinge zwischen den Völkern vielfach sogar noch zuspitzen. Zwar ~iegen die Religionskriege weit hinter uns, soweit sie im christlichen Europa ausgetragen wurden; und wenn wir nach dem Ende der Türkenkriege heute wieder innerhalb der islamischen Völkerwelt religiöse Energien erwachen sahen, so war das eine Überraschung. Wenn vor fünfzig oder vierzig Jahren vom Islam die Rede war, haben die besten Kenner des Islam immer gesagt, das werde nie ein wirkliches politisches Problem werden, da sie sich nie untereinander einigen werden. Nun hat sich die Lage in der Zwischenzeit verändert, und wir sehen die Folgen. Da war und ist die Gründung des durch und durch europäischen Staates Israel mitten im Lebensbereich des Islam. Da ist der neue wirtschaftliche Schwerpunkt, durch das in diesen Ländern geförderte Erdöl, und damit die Bildung einer europäisch geschulten intellektuellen Oberschicht und ihre Wirkungen. Das sind Veränderungen, die am Ende überall bevorstehen. Überall ist es so, daß die industrielle Revolution in andere Kulturwelten eindringt und unvorhergesehene Folgen zeitigt. Der Ausbreitung der europäischen Rationalität zum Trotz - und gerade in ihrer Folge - entsteht überall neuer Nationalismus und Regionalismus, und es häuft sich neuer Konfliktstoff an. So wird die Koexistenz grundverschiedener Kuituren und die ihr entsprechende Sprachenvielfalt, die mit der Gleichmachung wächs't, zu einer Lebensfrage der Menschheit3 . Ich versuche oft, mir über diese Vielfalt und die Möglichkeiten Gedanken zu machen. Das kann man ja Hermeneutik nennen. Schon in frühen Jahren habe ich für das Sprachproblem Augustin studiert, und ich habe es sehr begrüßt, alsJean Grondin dieses Kapitel aus >Wahrheit und Methode< neu ins 3
Vgl. dazu auch Ges. Werke Bd. 8, S. 339ff.
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Licht gerückt hat4 . Bei Augustin handelt es sich um Beiträge zur Trinitätslehre. Was können uns die Analogien lehren, unter denen das Mysterium des Christentums, die Dreieinigkeit, vorstellbar wird? Das Christentum lehrt auf eine wunderbare, geheimnisvolle Weise aus Gott dem Vater ein Hervorgehen seines Sohnes und die Ausbreitung des Heiligen Geistes. Ähnlich rätselhaft ist doch wohl auch das Hervorgehen, wenn etwas zur Sprache kommt, und wir mit einem solchen Wort, das da gesprochen wird, uns miteinander verständigen können. Ja, daß wir sogar verschiedene solche Sprachen lernen und verstehen und sprechen können - wie kann das sein? Schon in der Stoa hat man da von dem >Logos prophorikos< und >endiathetos<, dem sogenannten »inneren Wort«, in lateinischer Wendung >verbum interius<, gesprochen. Was ist das für ein Wort? Wieso ist es ein Wort, wenn es nicht ausgesprochen wird? Heißt das, daß wir es schon vorher in Gedanken haben, unser Denken sozusagen für uns schon in Worte fassen - und dann sprechen wir sie aus? Wenn das so wäre, dann gäbe es zwischen mir und meinen Zuhörern kein wirkliches Mitgehen im Denken. Es muß vielmehr so sein, daß ich die Worte selber suche und finde, indem ich denke. Zuhörer können den Gedanken eines anderen erst dann verstehen, wenn sie dem Zuge des Gedankens folgen, der seine Worte sucht. Wie geschieht das? Gibt es da eine Grammatik des inneren Wortes? Sicherlich nicht. Gibt es eine Syntax? Auch nicht. Ein bloßes Nebeneinander von Vorstellungen, die überhaupt nicht als eine Aussage laut werden, ist es aber auch nicht. Wir mii,ssen offenbar anfangen, ganz ähnlich schwierige Gedanken zu denken, wie sie Augustin denken mußte, um das Geheimnis der Trinität ein wenig begreiflicher zu machen. Er hat nie beansprucht, mit seinen Analogien mehr als das zu tun. Nun war Augustin offenbar nicht nur ein Mann der freien Rede. Er war auch ein großer Schriftsteller, dessen Stil sich zuweilen zu hinreißender Musikalität erhebt. Doch sollte man nie vergessen, daß Lesen damals immer ein lautes Sich-Vorsprechen des gelesenen Textes einschloß. So ist - ob schriftlich oder mündlich - die Aktivität des Lesens, Sprechens und Hörens auf alle Weise im Spiele, und das heißt zugleich d~s Mitgehen mit dem gesuchten Wort und das Mitgehen mit d~m geme~ten Gedanken. Was wir seit alters »Vorlesung « nennen, ist, w~e das antike Lesen selber, eine Mischform. Ein schriftlich fixierter Text WIrd ~urch de~ Lehrer oder Redner in Rede umgesetzt. So verschmilzt die UnmIttelbarkeIt der freien Rede mit der Genauigkeit der kunstvollen Stilgebung - mit allen Graden der Annäherung an dieses Ideal einer Ver-
schmelzung, wie ich es selber in den Vorlesungen Martin Heideggers erlebt zu haben meine und wie es wohl in deutscher Sprache zuletzt Fichte vermocht
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4. Vgl. ~' .. GRaNDlN, Gadamer und Augustin. Zum Ursprung des hermeneutischen Umversahtatsanspruchs. In: Verstehen und Geschehen. Symposium aus Anlaß d 90 Geburtstages von H.-G. Gadamer (= ]ahresgabe der Martin-Heidegger-Gesel1s~haf~ 1990), S.46-62.
hat. Wenn wir all das bedenken, müssen wir uns fragen, was Sprachlichkeit eigentlich ist. Ich benutze dieses Wort, weil es vermeidet, von Sprache so zu reden, als ob es eine Vielheit von Sprachen einfach gebe. Der Turmbau zu Babel kann uns daran erinnern. Für alle Ausbildung von Sprachen gibt es einen Drang zum Wort, der in jeder möglichen Sprache schon rege ist. Ich rede mit Absicht nicht mit Wilhelm von Humboldt von »Sprachfähigkeit«. Ich meine nicht eine qualitas occulta, eine Gabe, sondern die Grundlage des Sprechens selber, die alles Sprechen trägt und die offenbar für alle mögliche Versprachlichung etwas Gemeinsames darstellt. Hier glaube ich, etwas wie eine terra ferma zu spüren. Man gewinnt festen Boden unter den Füßen. Unser menschliches Denken ist überall in Symbolschaffung tätig und weiß sich auch wortsprachlich zu artikulieren. Wenn das so ist, dann kann das innere Wort nicht die Vorschematisierung dieser oder einer anderen menschlichen Sprache sein. Augustin spricht von der >distentio animi<. Das heißt, es ist wie bei einer gespannten Saite, die alle Töne in sich hat, zu denen sie in Schwingung gesetzt wird. Diese Saite liegtjeder gesprochenen Sprache noch voraus und ist injeder erklingend. Sprache ist ein und ~ieselbe Sinnbewegung, die überall sammelt und zusammenruft, wenn eIn Wort erschallt. Es war auf Bühler Höhe, als Heidegger zum Gedenken an meinen verstorbenen Freund Max Kommerell mit einer schönen und packenden Metapher die Sprache das Läuten der Stille nannte. Da hat ein kluger Zuhörer dieses Vortrages gesagt: »Das war eine neue Theorie der Vernunft.« In der Tat, Vernunft ist als die geheime Vorstrukturierung von Gedanken bereits in der Perspektive auf die Verwortung in Sprache gedacht. .' Wenn das so ist, .dann ist es aber mit dem Wort und dem Begnff, mIt der Sprache und mit dem Denken eine eigene Sache. Man steht bekanntlich vor der Frage, wie man im Griechischen >Logos< manchmal übersetzen soll, o~ als »Vernunft« oder als »Sprache«. Nun, jedenfalls ist klar, daß >Logos< nIcht >Onoma< ist, das heißt, nicht nur einfach die Nennkraft des Wortes ausübt, das in sich selbst seine Bedeutung hat. Es gewinnt seine eigenste Bedeutung überhaupt erst im Zusammenhang. So erst ist Logos, als ein Verhältnis von Begriffen oder als eine Rede, die etwas von etwas aussagt. Wir beachten, da.ß wir damit schon auf dem Wege zur Schrift sind und zu so etwas WIe Grammatik. »Grammatik« heißtja wörtlich »Schriftkunst« und meint offenbar eine Artikulation, die das Sprechen selber annimmt - und das ist im Klangleben der Stimme und ist kein rationales Schematisieren, ~as wir als Grammatik und Syntax einer Sprache lernen. Dessen bedarf es mcht, wenn wir denken und unsere Worte suchen. Wir denken nicht Sätze. Wir denken über jeden möglichen Satz hinaus.
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Oberster Grundsatz der philosophischen Hermeneutik ist, wie ich sie mir denke (und deshalb ist sie eine hermeneutische Philosophie), daß wir nie das ganz sagen können, was wir sagen möchten. Immer sind wir etwas dahinter zurückgeblieben, haben das nicht ganz sagen können, was wir eigentlich wollten. Was wollten wir denn eigentlich? Nun, offenbar wollten wir von dem Anderen verstanden werden - und vielleicht noch etwas mehr. Wir wollten mit dem Anderen zusammenkommen, bei ihm Zustimmung finden oder wenigstens ein Eingehen auf das Gesagte, auch wenn es ein Widersprechen oder Widerstreben ist. Mit einem Wort, wir möchten eine gemeinsame Sprache finden. Das nennt man ein Gespräch. Als ich eines der letzten Male in Freiburg-Zähringen war, hatte sich Heidegger offenbar auf ein Gespräch vorbereitet. Er hatte mich eigens eingeladen, w.eil er ja nicht mehr reisen konnte, und wollte von meinen Plato-Studien hören. Da begann er das Gespräch und sagte: »Sprache ist also Gespräch, sagen Sie.« Ich sagte: »Ja. «Wir sind nicht sehr weit gekommen mit unserem Gespräch. Wir haben nie miteinander erfolgreiche Gespräche geführt. Heidegger hatte eine so suggestive Art, seine Frage zu verfolgen und seine Fragerichtung festzuhalten, daß ich fiir meine mitgehenden Gedanken nicht die rechte Anknüpfung finden konnte. Heidegger war gewiß ein meisterhafter Zuhörer, aber im Austausch und im Gespräch mit mir kein solcher Meister. Mich hat er am meisten angeregt, wenn er zu einer Sache eine ganz kurze Benlerkung machte oder Frage stellte. Die Kunst des Verstehens ist sicher vor allen Dingen die Kunst des Zuhörens. Dazu gehört aber auch noch, daß man offenläßt, ob nicht der Andere recht haben könnte. Wenn man das nicht beiderseits spürt, ist der Andere jeweils immer schon in einer bösen Lage. Heidegger hat einmal in einer schönen Formulierung die »Frömmigkeit des Denkens« gepriesen. Ich möchte hinzufügen, daß es auch die Frömmigkeit des Fragens sein muß. Es ist das Besondere an dieser Frömmigkeit des Fragens, daß man nur nach etwas fragen kann, was man nicht selber weiß. Die sogenannte pädagogische Frage oder die Examensfrage ist eine jämmerliche Imitation. Das kennen wir alle, die wir Prüfungen zu bestehen oder abzunehmen haben. Da ist es so, daß wir eigentlich bei keiner Prüfung genau wissen, wer sie bestanden hat, der Geprüfte oder der Prüfende. In meinen Augen ist eine verantwortbare Prüfung, wenn es sich um Philosophie handelt, nur so möglich, daß man das Gespräch so weit führt, bis man schließlich an eine Frage gerät, auf die man selber die Antwort nicht weiß. Dann kann man den Anderen auf seine Fähigkeit des Denkens hin kennenlernen. Diese Situation trifft nun allerdings sehr oft ein, wenn wir es mit Philosophie zu tun haben. Da geht es einem immer so, daß man die Antwort selber nicht weiß, wenn man wirklich zu denken wagt und nicht etwa nur Wissensvorräte abfragt, beim Anderen oder bei sich selber. Beides kann der Computer besser als wir.
Von dieser Sachlage ausgehend, frage ich mich: Was ist ein Gespräch? Wie bildet sich im Gespräch Sprache? Ich kann es nicht anders sagen, als daß sich Sprache in jedem Gespräch neu bildet. Was man in der Schule als Grammatik lernt oder als Rechtschreibung, ist bloße Konvention. Was wir unseren Kindern in ihrem genialen Alter von zwei bis drei Jahren austreiben, all diese schönen Sprachfehler, in denen sie so erfinderisch sind, genau das bezeugt das Leben der Sprache. Da ist etwas, was über die bloße Befolgung von Vorschriften hinaustreibt und über jedes Nachsprechen von Vorgesagtem. Es kommt mir deswegen geradezu komisch vor, wenn man vom Sprechen sagt, es sei Regelbefolgung. Eher noch verstünde ich, wenn man sagte, es sei Regelverletzung und Freiheit zur Ausnahme. Im Sprechen nur Regelbefolgung zu sehen, scheint mir ein Kurzschluß. Man sieht dann gar nicht, worauf das Miteinandersein der Menschen eigentlich beruht, nämlich daß es Teilnahme aneinander ist. Solche Anteilnahme kennen wir aus dem Denken der Griechen, bei Plato als >Methexis< (parti~ipatio) oder als >Koinonia< oder als >Mixis<. Diese Ausdrücke erinnern uns daran, daß wir im Miteinandersein nicht von jemandem Besitz ergreifen und auch nicht im Denken eine Sache in Besitz haben. Wir dürfen uns auch nicht an unsere Worte wie an feste Begriffe halten, wenn wir an den Anderen Fragen richten und es uns zum Austausch des Fragens und Antwortens drängt. Wenn man einen Text verstehen will, ist es auch so. Da muß man sich als erstes klarmachen, daß Worte eigentlich immer Antworten sind. Wann immer es gelingen soll, einen anderen zu verstehen oder eine Sache zu verstehen, müssen wir uns fragen, was die Frage ist, auf die diese oder jene sprachliche Aussage Antwort wäre. Eher habe ich überhaupt nichts verstanden. Alle Voraussetzungen, alle Wahrheitsbedingungen aufsammeln zu wollen, so daß wir am Ende die Sache ein für alle Male begriffen haben, das geht überhaupt nicht. Jedenfalls wüßte man dann nichts mehr zu fragen. Wir kennen das aus der Logik der Definition. Der Laie ist im allgemeinen überzeugt, ein Philosoph müßte vor allen Dingen Begriffe definieren. Wenn das nur so einfach wäre! Da müßten wir ja Gattung und Art des gefragten Begriffs kennen. In der Philosophie geht es aber immer um solche Sachen, wo es kein Bessergewußtes gibt, von dem aus wir das besondere Gemeinte bestimmen könnten. Es war die großartige Leistung der aristotelischen Logik, die Beweisstruktur analysiert zu haben, und gewiß ist die Beweislogik ein wichtiger Aspekt der mathematischen Wissenschaft. Da gibt es ja oft den Fall, daß man Sätze hat, die man als richtig ansieht. Aber nun kommt es darauf an, diese Sätze zu beweisen. Man vergesse nicht, daß das Grundbuch der Beweislogik, die Analytiken des Aristoteles, als erstes ausspricht, daß alles Wissen von Gewußtem ausgeht und daß die Richtigkeit der Vordersätze vorausgesetzt ist, wenn der Schluß
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richtig sein soll. Wie soll man aber solches wissen, wo es ausdrücklich um Unableitbares, um Erstes, >Arche< und Prinzip geht? Die antiken Kommentatoren des Aristoteles haben mit ihrer Schulweisheit die Lage nur verunklärt, wenn sie in den Traktaten des Aristoteles die Schlußfiguren aufsuchen. Daß in jeder Argumentation logische Folgerichtigkeit angestrebt ist, versteht sich. Aristoteles war sich in seinen Traktaten durchaus darüber klar, daß er >Arche<-Forschung betreibt, und er hat in >Analytica posteriora< (B 19) beschrieben, wie man sich nur in Erfahrung und sprachlicher Annäherung den >Archai< zuwenden kann. - In diesem Sinne hat das Wort >Idea< einen wichtigen Beiklang, den man nicht aus den Augen lassen sollte. Man kann bemerken, daß Plato nie von dem >Eidos< des Guten redet. >Das Gute< hat kein so festes Profil und genaue Gestalt. Es gibt nur die >Idea< des Guten, sozusagen die Richtungsweisung des Fragens und Meinens. Daß der Sprachgebrauch beider Ausdrücke, >Eidos< und >Idea<, bei Plato im allgemeinen durcheinandergeht, ist kein Einwand, wohl aber des Nachdenkens wert. Wenn es sich um >das Gute< handelt, dann versteht man nämlich leicht, warum Plato da nicht, wie sonst oft genug, das Wort >Eidos< bevorzugt und sogar dem Nichtsein ein >Eidos< zuspricht. Dabei ist dieser Begriff des >Heteron< oder Nichtseins doch auch ein wahrhaft transzendentaler Begriff, bei dem keine Spezifizierung des Allgemeinen, des >Genos< in seine >Eide<, möglich ist. Beim Guten ist es jedenfalls besonders einsichtig und auch, warum Aristoteles in seiner Plato-Kritik überhaupt immer von den Ideen spricht und nicht von den >Eide<. Bei der Idee des Guten hat das denselben Sinn wie Kants ethischer Formalismus. Es leuchtet eben sofort ein, daß >das Gute< nicht etwas sein kann, was man wirklich begreifen und so umgreifen kann, daß wir es wissen und so wissen, daß wir von da eine Differenzierung in Besonderungen einsehen können. überdies ist ja die Dihairesis, wie Aristoteles richtig bemerkt, kein Beweisverfahren. Sie beruht auf Anamnesis. So ist es mit den obersten Prinzipien, von denen wir hören (und besonders viel in Tübingen), der Eins und der Zwei, daß sie voneinander untrennbar sind. Man mißversteht Plato gründlich, wenn man nicht in der Zweiheit des Einen das Viele sieht und in dem Einen die Vielfalt des Guten. Wenn man es mit dem Wissenschaftsaufbau der Mathematik zu tun hat ist das formale Prinzip der >Differenz< die Grundlage eines Systems de; wirklichen Ableitung, wie Konrad Gaiser überzeugend gezeigt hat. Dagegen ist die Extrapolation dieses mathematischen Ableitungsideals auf alle Art von Wissen, wie das Fortleben des pythagoreisch-platonischen Apeiron und der aristotelischen Hyle zeigt, überhaupt nicht griechisch. In Wahrheit gehört ein solcher Systembegriffin das 18. Jahrhundert und ihre >ars calculatoria< und allenfalls in das 20. Jahrhundert. Die platonische Dialektik der Dihairesis scheint mir dagegen nicht so sehr auf eine universale Wissenschaft
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zu zielen als auf den Wahrheitsweg des Dialogs, dessen Vollzugsweise immer mit Anamnesis und damit mit der Sprache zu tun hat. Das ist die Sprache des Gesprächs, Überzeugungen zu wecken und ein ständiges über sich Hinausgreifen, das niemals erlaubt, die Sache ganz zu begreifen. Wenn wir an die nloderne Wissenschaft denken, klingt das wie eine Herausforderung. Denn sie lebt doch ganz und gar von der Symbolsprache der Mathematik und ihrem Formalismus, der universale Verwendbarkeit für die Naturforschung und Naturbeherrschung erlaubt - und vielleicht auch für die Gesellschaftsbeherrschung. Dabei ist es klar, daß durch diese Art von Symbolik instrumentale Leistungen vollbracht werden, ohne die die moderne Menschheit gar nicht leben könnte. Nicht umsonst hat sich das Wort »Apparat« überall eingedrängt: Daseinsapparat, Verdauungsapparat, Verwaltungsapparat, Parteiapparat. In dem Wort liegt, im klaren Unterschied zum lebendigen Organismus, daß die Teile eines Apparates auswechselbare Teile sind. In solchen Anwendungen, wie ich sie hier im Auge habe, ist die Mathematik nicht eigentlich eine Sprache, sondern ein Instrumentarium das aufDaten - der Natur, der Wirtschaft, der Gesellschaft - angewendet ~ird. Sie ordnet die Meßwerte. Mit meinem verstorbenen Freunde, dem Physiker Jensen, bin ich nie ganz ins klare gekommen, weil er immer zu verteidigen suchte, für die Physik sei die Mathematik nichts anderes als eine Sprache. Aber Sprache ist Gespräch und hat es nicht mit Daten zu tun. Die Nähe von Gespräch und Sprache zeigt sich am Hintergrund der Anamnesis, in der Einsichten und Evidenzen aufsteigen. Das ist wie mit dem Sklaven des Menon und überhaupt in der Mathematik und in all den Zahlenspielen unseres Rechnens. Da ist es der gleiche Hintergrund. Mit Heisenberg hatte ich auch öfters Gespräche über die Sprache, und er sah die Bedeutung der Muttersprache gerade auch in der physikalischen Theoriebildung wirksam. Damals machten einige hervorragende chinesische Forscher mit ein paar aufregenden Experimenten von sich reden, und Heisenberg meinte dazu, daß es für uns wegen des Baues der europäischen Sprachen schwerer sei als für die Chinesen, die gewohnt seien, sich ganz in Relationen zu bewegen. Die europäischen Sprachen beruhen ja auf der Grammatik von Subjekt und Prädikat und entsprechen damit der Metaphysik der Substanz und ihrer Eigenschaften. Kürzlich fand ich Gelegenheit, das Gemeinte noch anders zu illustrieren. Ein verantwortlicher Mann in den neu hinzugekommenen Bundesländern wurde gefragt, was für Sprachen man e:igentlich seiner Meinung nach in den neu hinzugekommenen Bundesländern in den Schulen lernen sollte. Seine Antwort war: »Ganz einfach - die Computersprache!« Das ist sicher richtig, daß wir dort die Computersprache brauchen. Aber die Computersprache ist keine Sprache. Es ist ein Bezeichnungssystenl, durch dessen Gebrauch man nicht auf Ideen kommt und mit Ideen arbeitet. Man gibt Meßergebnisse ein
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und kann sie damit ordnen. Daß man fremde Sprachen lernt, war del"'..'1 Befragten im Grunde ganz uninteressant. Das begreift man für die moderne Industriewelt des Handels und Verkehrs, fur die nichts anderes Wert haben soll als das, was sich unmittelbar auszahlt. Dagegen ist wahres Miteinandersein Sprachgemeinschaft, und das gilt auch für die Berührung mit anderen Völkern, Sitten und Zeiten. Was dem Ökonomen etwas ganz Unbrauchbares scheint, ist in Wahrheit das Aufgehen einer neuen Freiheit und ein Gewinn für alle. Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt. Aristoteles hatte noch den Begriff der Phronesis als eine »andere Art von Erkenntnis« neben der Episteme, der »idealen« Erkenntnisweise der Mathematik, ausgezeichnet. Über der Erfahrungswissenschaft der Neuzeit und ihrer mathematischen Struktur hat diese ganz andere Art der Erkenntnis, die Phronesis, ihre Legitimation verloren. Das ist doch keine Wissenschaft! In der Tat, diese andere Art der Erkenntnis ist Urteilskraft. Das Wort ist dem heutigen Sprachgebrauch kaum noch vertraut. Es ist ein Ausdruck des 18.Jahrhunderts, ein Wort, das durch Kant berühmt geworden ist, weil es einer philosophischen Analyse zugrundeliegt, die den Zusammenhang von Natur und Kunst sowie den Unterschied von ästhetischer Urteilskraft und teleologischer Urteilskraft impliziert. Das sind zwei sehr besondere Anwendungen des Begriffs Urteilskraft, die Kant behandelt, weil er in Analogie zu den apriorischen Grundlagen der Naturwissenschaft auch Apriorisches in der Urteilskraft in den Bereichen von Natur und Kunst als wirksam erkannt hat. Die weit größere Verbreitung des Wortes» Urteilskraft« und der Gebrauch der Urteilskraft ist in der Lebenspraxis und in aller Erfahrung - nämlich überall, wo es sich um die vernünftige Anwendung von Regeln handelt. Dafiir die Augen zu öffnen, ist die Hauptaufgabe der hermeneutischen Philosophie. Wir brauchen eine neue Legitimation der Urteilskraft. Wenn wir nun auf das heutige Erziehungssystem und unsere gesellschaftliche Wirklichkeit blicken, dann kann einem angst und bange werden, so sehr ist Regelung, Regelerlernung und Regeleinübung beherrschend geworden. Man lernt, wie man etwas macht und wie man es zu machen hat, und es sieht dann schnell so aus, als ob man alles machen könne. In Wahrheit ist es ein nachdenkliches Problem, wie man in einer Gesellschaft, deren Kommunikationssystem in künstlichen Symbolsprachen sich immer mehr vervollkommnet, überhaupt Urteilskraft fördern und pflegen kann. Wir kennen einige kritische Erfahrungen aus neuester Zeit unter der Parole der» Deregulation«, die insbesondere im Verkehrswesen die Übertreibung der Regelung kritisiert. Ein anderes ist die Verwaltung. Max Weber hat bekanntlich die Bürokratie als das unvermeidliche Schicksal der Industriegesellschaft bezeichnet. Bisher scheint er nicht unrecht zu bekommen. So wesentlich auch Regelung der Sprache und Regelung überhaupt für die gesamte Lebenspra-
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xis geworden ist, so ist doch Sprache nicht nur das Nachsprechen und das Nachmachen, und so ist auch Praxis nicht nur Anwendung von Theorie und Bedienung von Apparaten. Ich ging davon aus, daß die Sprache im Gespräch besteht. Sie ist eine Form des Miteinander sowohl im Bewahren des Alten wie im Erneuern. Man denke daran, daß man in einem Gespräch nicht nur einander informiert, sondern einander näher kommt. Wo ein Gespräch wirklich gelingt, da sind die Partner des Gesprächs, wenn sie voneinander scheiden, nicht mehr ganz die gleichen. Sie sind einander näher. Sprechen ist Miteinander-Sprechen, und das stiftet Gemeinsames. So üben wir alle miteinander und aneinander unsere Urteilskraft. Kant hat recht, daß man Urteilskraft nicht lernen, sondern nur üben kann. Jeder muß sie in sich üben. Wir haben das alle erfahren. Denn es gibt eben eine große Schule, diejeder durcWaufen hat: Wir haben sprechen gelernt. Man lernt ja nicht nur die Wörter, sondern auch, wie man sie anwendet, wie man sie gebraucht und wie man sie versteht. Sprechen ist Miteinander-Sprechen - und damit arbeitet man an der Begriffsbildung und unserer Weltorientierung. Was für ein Potential steckt eigentlich in Worten! Das dreijährige Kind ist im System der Sprache noch unendlich genial. Wir mö~hten es ~era~ezu sprachschöpferisch nennen. Später tut die Schule und dIe rote TInte Ihre Schuldigkeit> die Regeln des richtigen Sprechens einzuprägen, und e?enso tut die Erziehung das Ihrige, das heranwachsende Kind in die KonventIonen der Gesellschaft einzufügen. Aber in Schule und Erziehung geht es um anderes, das wichtiger ist. Da ist Phantasie, Einbildungskraft, EinfüWungsvermögen, Sympathie, Takt im Spiele, wenn Menschen miteinander leben sollen. Da gilt es etwa, den Anderen mit dem richtigen Wort anzusprechen und ihm das zu sagen, was er, in diesem Augenblick, sei es von mir hören will, sei es von mir hören soll. Immer wieder ist es etwas absolut Unwägbares, für das es keine Regeln gibt - und doch weiß einjeder, was es bedeutet, im falschen Augenblick das falsche Wort gesagt zu haben. Auch, was es bedeuten kann, wenn man im richtigen Augenblick das richtige Wort getroffen hat und damit vielleicht eine Weisung gab, an die man selber gar nicht gedacht hat und gar nicht hat denken können. Ich habe neuerdings öfters darauf hingewiesenS, wie Plato im >Politikos< gezeigt hat, daß es zweierlei Sinn von Maß gibt - nicht nur, daß man mit einem Maß an die Dinge herantritt und mit Hilfe dieser Meßwerte sie be~er~schen lernt..Es gibt noch ein anderes Maß, ein gewisses Etwas, zum BeIspIe~. das, was SIch im Wohlbefinden ausspricht, oder warum man etwas schon nennt (das nannte man auf Französisch »je ne sais quoi«). So kommt Plato zur Unter5 Ausführlicher dazu >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles<, jetzt in Ges. Werke Bd. 7, S. 197f. Siehe dazu u. a. auch Ges. Werke Bd. 8, S. 382ff.
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scheidung von zweierlei Maß. Man liest das Ganze heute mit Wehmut. Damals, zu Beginn des Schicksalsweges des Abendlandes, hat man also an beide Arten von Maß gedacht. Beides ist in seinem gleichen Gewicht von Plato beschrieben worden, das Messen und der Sinn für Maß. Beides gehört untrennbar in die Praxis des Lebens. Es hat das Schicksal der Neuzeit gezeichnet, daß nur das Messen, das ein Maß an eine Sache heranträgt und so Wissen vermittelt, als wirkliches Wissen gilt, so daß die neuzeitliche Wissenschaft Herrschaftswissen und - wie Heidegger es genannt hat - kalkulatorisches Denken geworden ist. Nur das heißt Wissen - und nicht der Sinn für Maß und Harmonie, wie es zum Beispiel im Wohlbefinden und im Schönfinden erfahren wird und, wie wir gesehen haben, jeder vernünftigen Anwendung von Regeln zugrundeliegt. So kommen wir zu unserem dritten Punkt. Das ist die Frage, ob die Einseitigkeit dieses Wissens, das in Europa zur Herrschaft gekommen ist, sich mit einem anderen Lebenswissen in ein neues Gleichgewicht bringen läßt - das Messen der Wissenschaft mit dem Sinn für Maß. Das ist in Wahrheit die Lebensaufgabe, die der Menschheit heute für eine bewohnbare Welt, für dIe Oikoumene, gestellt ist, die nicht überallhin Europa exportieren will, sondern ein Miteinandersein entwickelt, das es auf dieser langsam an ihre planetarische Grenze kommenden Menschenwelt zu lernen gilt. Wenn wir unsere Menschheitsaufgabe nicht verfehlen, wird das die Arbeit langer Zeit- und Zukunftsräume sein. Aber wie können wir das lernen? Martin Heidegger hat uns gelehrt, daß die Denkweise, die in Europa inzwischen so einseitig zur Herrschaft gekommen ist, nicht eine sogenannte Abirrung der Neuzeit ist, die dann zu den kritischen Problemen des Kapitalismus oder des Kolonialismus und in die ökologische Krise geführt hat. In Wahrheit ist das der Schicksalsweg des Abendlandes, der seit den Griechen vorgezeichnet ist. Wenn ich an Platos Lehre von den beiden Maßbegriffen erinnerte, so ist zwar die Verschiebung der Sachlage, die zwischen den beiden Begriffen des Wissens spielt, in der Tat erst am Beginn der Neuzeit dramatisch und kritisch geworden. Wir haben aber inzwischen gelernt, daß es die Metaphysik des Abendlandes und damit die Philosophie war, die insgesamt, von ihren ersten Anfängen an, die spätere kritische Situation vorbereitet hat. Heidegger hat das »seinsgeschichtlich« beschrieben: Das metaphysische Denken, das die Frage nach dem Sein als Sein des Seienden versteht, stellt den alles entscheidenden Schritt von Verbergung und von Vergessenheit des Seins dar. Eine radikale und kühne These! Gewiß kann man aus dieser Seinsvergessenheit durch Seinserinne~ungzu erwecken suchen, und das bezeichnet in Wahrheit die Grundlinie, auf der die abendländische Philosophie sich entwickelt hat. Als Platonismus durchzieht sie die Geschichte der Philosophie. So muß man Heidegger insoweit widersprechen, wie ich es mit aller Vorsicht tue, ob man Plato wirklich nur als den
Vorbereiter der aristotelischen »Substanzmetaphysik« sehen darf. Ja, darf man auch Aristoteles selbst nur als Begründer der Metaphysik sehen? Muß man ihn nicht auch als den Begründer der praktischen Philosophie sehen? Nun mag Heidegger im Grunde doch recht haben. Die gesamte Geschichte des Abendlandes ist durch eine lange Reihe von »humanistischen« Renaissancen artikuliert. Das beginnt mit dem Scipionen-Kreis, der die römische Elite zum Studium nach Griechenland sandte, und geht über die silberne Latinität in die Phase der christlichen Rezeption über. Sie fmdet in der Karolingerzeit eine neue Renaissance. Und dann die bekannte Renaissance an der Schwelle der Neuzeit. Stellt das nicht im Grunde nur eine humanistische Bildungswelt dar, die in Nietzsche ihren entschiedensten Kritiker gefunden hat? So zu fragen, war Heideggers Radikalität. Es ist nur folgerichtig, daß Heidegger selbst als Nietzsches Hauptlehren die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen und von dem Willen zur Macht in ihrer Zusammengehörigkeit und als die radikale Endphase des metaphysischen Denkens überhaupt verstanden hat. In ihr sei der Begriffder Wahrheit selber brüchig geworden. Es ist freilich eine offene Frage, ob man Nietzsehe so in seine letzten Folgen und Ziele rühren darf, sozusagen als einen, der Zarathustra überbieten will - und daran scheitert. Es gibt ein wunderbares Gedicht von Nietzsehe mit der Überschrift »Sils-Maria«6:
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Sils-Maria Hier sass ich, wartend, wartend, - doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei- und Zarathustra gieng an mir vorbei ...
Was heißt das? Der tiefe Einklang mit allem, dem alles ganz zum Spiel wird, ist plötzlich gestört. Nietzsehe und Zarathustra sind nicht mehr .>eins«. Aus Eins wird Zwei. Sie sind entzwei. Zarathustra geht seinem Untergang entgegen, als er die Lehre vom Willen zur Macht und die Lehre der ewigen Wiederkehr zu denken und nicht auszusprechen wagt. Es sind die Tiere, die ihm zu seiner Genesung den Sang der Wiederkehr des Gleichen vorsingen. Der Lehrer Zarathustra, der die Befreiung von der Hinterwelt der Metaphysik zu bringen gekommen ist, ist nicht mehr der, der in immer neuen Ansätzen sei es eine Lehre vom Übermenschen und dem Willen zur Macht, sei es eine Lehre von der ewigen Wiederkehr durch Wissenschaft zu bestätigen sucht. Man kann daraus durchaus die in Frankreich gezogene Folgerung 6
F.
COLLI
NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft. In: Kritische Gesamtausgabe, MONTINARI. Bd. V/2. Berlin, NewYork 1973,5.333.
und M.
hrsg. von G.
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ziehen, daß mit Nietzsche und dieser Fragmentarisierung der Wahrheit in
injed'em Gespräch droht-ich meine, etwas vom Willen zur Macht, der sich gegen den Anderen durchsetzen will. Die alte sophistische Parole - und damit ein Aspekt aller Rhetorik - ist ja, jede noch so schwache Sache zur stärkeren machen zu können. Jeder kennt es aus dem menschlichen Umgang, was es bedeutet, wenn jemand in einem Gespräch in übermäßiger Erregung eindringlich wird. Da darf man sich geradezu ermächtigt fühlen, denVerständigungsversuch aufzugeben und den anderen sogar in den Verdacht zu nehmen, daß seine Erregung anzeigt, daß er in der Sache nicht recht hat. Eine solche Erfahrung soll man nicht ableugnen, wo sie sich im Gespräch ergibt. Nun gibt es aber auch sprachliche Rede, die diesen Bedingungen des einander entgegentretenden Willens zur Macht nicht ausgesetzt ist. Das ist, wo Sprache dichterisch ist. Dichtung - ob Epos, Lyrik, Drama - hat ihre eigene Hoheit, die nicht wir in Frage stellen, sondern die uns in Frage stellt. Dic4tung spricht gewiß nicht die Sprache des Begriffs, oder sagen wir lieber, führt keine Rede, die sich begrifflich auszudrücken sucht. Dichterische Sprache ist eine Sprache, die im Miteinander ihre volle Vollzugswirklichkeit hat. Ihre Ausbreitung in der bewohnten Welt ist nun durch die Schranken der Vielfältigkeit menschlicher Sprachen eingeschränkt. Gleichwohl gibt es so etwas - seit dem Zeitalter Goethes - wie die Weltliteratur und pas Herüberwirken der Literatur der Völker aufeinander. Erst recht gilt das für alle Arten Kunst, die nicht durch ihren Sprachcharakter und die Grenze aller Übersetzbarkeit beengt ist, etwa für die bildende Kunst. Noch unvergleichlich mehr und unmittelbar ist aber die Vollzugsform des Miteinander in der Sprache der Musik. Sie ist vielleicht die einzige Sprache der Oikoumene, in der alles Miteinander des Menschseins zu unmittelbarer Teilhabe gelangt und nach unmittelbarer Teilhabe verlangt. Wer Musik macht oder Musik hört, möchte mitmachen oder mitsingen. So hat mir einmal ein Kollege, der in China reiste, erzählt, daß er in einem Eisenbahnabteil, in dem lauter Chinesen saßen. eine Schubert-Melodie vor sich hinsummte, und da fiel das ganze Abteil im deutschen Text in das Lied ein. Das Zarathustra-Gedicht, das ich oben zitierte, mag die Problematik unseres fragmentarischen Daseins verdeutlichen. In allen unseren Bruchstücken können wir kein Bild einer heilen Welt aufbauen. Das hat aber schwerlich die philosophische Bedeutung, daß wir nur noch mit dem Weltspiel mitzuspielen hätten und nicht mehr zu denken brauchten. Wir stoßen hier an Grenzen, aber sie sind Aufgaben für uns - für unsere Vernunft und für unsere Solidarität. Wir stehen in einem Prozeß, in dem sich wohl Integration und Differenzierung hin- und hertauschen. Wir wissen gewiß nicht, in welche Zukunft es weitergehen wird. Denken wir nur an die großen Maßstäbe, unter denen sich die Evolution des Universums oder auch
die Vielfältigkeit des Scheins die Philosophie zu Ende ist und daß Heidegger Nietzsche mit Gewalt in die Linie des metaphysischen Denkens zurückzwingt. Betrachtet man nun aber das Ganze unseres Themas )Europa und die Oikoumene<, dann müssen wir uns wohl eingestehen, daß wir noch immer die neue Dimensionsverschiebung nicht realisiert haben, die mit der bewohnten Welt vor sich gegangen ist. Heidegger hat immer darunter gelitten, daß man auch gegen das metaphysische Denken nicht ohne die Sprache der Metaphysik denken könne - und daß man daher immer wieder in sie zurückfalle. Bekanntlich hat er selber die Mittel der Fragmentarisierung aufgeboten, um solcher Rückfallneigung in sich Einhalt zu gebieten. Solche Mittel waren nicht selten die Etymologie und das Wortspiel, und gerade diese Seite von Heideggers wuchtigem akademischem Stil hat Frankreichs bewährte Meisterschaft in der Stilkunst des Schreibens besonders angezogen. Heideggers Sprachkühnheit ist wahrlich auch nicht ohne Vorläufer gewesen. Was die Sprachgewalt Meister Eckharts und Luthers bedeutet, was Jakob Böhmes verschlossenes Gedankenlabyrinth zuweilen ans Licht läßt oder Franz von Baader, das lebt als eine Unterschicht echter Sprachgewalt auch in Hegels entschlossener Kritik an der Form des Satzes, die »nicht geschickt ist, spekulative Wahrheiten auszusagen«. Die Form des Satzes ist vielleicht wirklich nicht geschickt, spekulative Wahrheiten auszusagen. Es ist doch fast absurd, daß die Zuspitzung des Spekulativen zu sich \vidersprechenden Sätzen sich von Aristoteles bis Hegel )Dialektik< nennt, wo doch schon im Wort das Miteinander des Gespräches gemeint ist. Plato steht an der Wende, in der Dialektik noch beides ist, die Kunst, ein Gespräch zu führen, und die Kunst, den Verführungen der Rede und des Sprechens, und d. h. der Sophistik, entgegenzutreten. Die Sprache Platos besteht in der Tat nicht aus Sätzen, sondern aus Fragen und Antworten. Es ist nötig, das festzuhalten - und daß man diese Erscheinungsform von Platos Werken im Lichte seiner eigenen Aussage versteht: Sie liegt unzweideutig in dem bekannten Exkurs des Siebenten Briefes wie die Summe aus einer langen Rechnung vor Augen. Es geht aus der Aussage hervor, daß es kein Denken und Lehren geben kann, das sich nur auf schriftliche Aufzeichnung stützt, ohne das Miteinander des denkenden Austauschs - und das heißt am Ende: ohne die Gemeinsamkeit des Gespräches. Den Satz, der das ganz aussagt, was einer sagen will, gibt es nicht. Es ist immer noch etwas Ungesagtes dahinter oder darin, sei es, daß es sich verbirgt, sei es, daß es nicht recht herausgekommen ist. Das bedeutet nun keineswegs, daß man alles Gesagte und Geschriebene hinterfragen und hintergehen müßte, etwa im Sinne der Tiefenpsychologie oder der Ideologiekritik, durch die man sich dem eigenen Anspruch des Gesagten entziehen kann. Es mag sein, daß etwas Derartiges
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die Evolution unseres Planeten oder auch nur die Evolution des Lebens auf der Erde und ganz am Ende auch die im Dämmer der Urzeit verhüllte Entwicklung der menschlichen Geschicke vollzogen hat. Wir werden uns daher vor vorschnellen Versuchen hüten, etwa mit unseren Begriffen der idealistischen Philosophie die indische Weisheit oder die chinesische Weisheit so anzueignen, daß sie wie die Wahrheit der Kantianer oder Hegelianer oder gar Heideggerianer scheint. Das sind in unseren Augen heute fast kindische Vorgreiflichkeiten. Aber sie greifen immerhin auf etwas vor, das zwar immer ein falscher Vorgriff sein wird, aber doch auf eine neue Herausforderung unseres Denkens zurücklenkt. So mag es sein, daß wir in einer Welt leben, in der die Anpassung, Regelung und übermäßige Schätzung aller Anpassungsfähigkeit vorherrscht, und doch werden wir uns immer wieder diesem Anpassungsdruck gegenüber zu wehren suchen. Darin liegt dann auch stets die Möglichkeit, sich miteinander zu verständigen. So sollten wir vielleicht nicht von einem Ende der Philosophie sprechen, solange es kein Ende des Fragens gibt. Allerdings, wenn einmal das Fragen aufhört, wird auch das Denken aufgehört haben.
IV. Die Stellung der Philosophie in der Gesellschaft
23. Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft (1947)
Wir alle sind davon erfüllt, daß die Stunde des Wiederbeginns der Arbeit unserer Universität eine der entscheidungsvollsten ihrer Geschichte ist. Wir sind gekommen, diese Stunde festlich zu begehen, und wir wissen dabei, daß die Gestalt unserer Alma mater Lipsiensis eine der gewaltigsten Wandlungen in ihrer langen und ehrwürdigen Geschichte zu erfahren im Begriff ist. Nach 12 Jahren drückender und entstellender Herrschaft größenwahnsinniger und geistfeindlicher Tendenzen, gegen die die Universität Leipzig einen besonders zähen und dennoch oft nicht erfolgreichen Abwehrkampf geführt hat, nach einem Krieg voller Aberwitz und Verbrechen, materiell und geistig aufs grausamste verwüstet,. ist sich die Universität Leipzig mit unserer gesamten Nation dessen bewußt, daß eine Stunde der Bewährung für sie gekommen ist, wie sie schwerer und schicksalsvoller noch nie war. Wir alle sind uns darüber klar, daß inmitten der ungeheuren Veränderung unseres gesellschaftlichen Lebens, die wir heute erleben, die Aufgabe nicht mehr sein kann, das Alte und durch eine ehrwürdige Tradition Geheiligte festzuhalten und vor dem Sturmwind der Weltgeschichte zu schützen. Die Universität kann das so wenig wollen wie unsere Nation als Ganzes. Das gerade macht ja die grauenhafte Lage unseres Volkes aus, daß jene gute und edle Tradition der Kultur und der Humanität, deren feinste Blüte die Universitäten unseres Landes darstellen, in sich fragwürdig, in ihrer Ohnmacht offenbar, in ihrem Lebensrecht ungewiß geworden ist. Wie hätte sonst das Unwesen des Nationalsozialismus in unserem Volke aufkommen, wie hätten sonst die Stätten der freien wissenschaftlichen Forschung und Lehre dem Wüten dieser entfesselten bösen Geister unseres Volkes erliegen können. Haben sich doch nicht nur wir selbst, wir von dem furchtbaren Strudel des Geschehens Fortgerissenen, sondern ebenso die Freunde und Verehrer unseres Volkes in aller Welt gefragt, wie diese Verkehrung dessen, was sie am deutschen Wesen liebten, in solch Unwesen überhaupt möglich war. Wir können uns nicht verbergen, daß diese Frage auf mehr zielt als auf die Geschichte des letzten oder der letzten Jahrzehnte, daß mit dieser Frage die ganze in langer Geschichte gewordene Art unseres Volkes zur Prüfung gestellt, daß das gesamte Bild unserer deutschen Geschichte, das wir über-
Die Stellung der Philosophie in der Gesellschaft
kommen haben, dur,ch diese Frage erschüttert wird. Wie sollte da nicht auch das Wesen der deutschen Universität und das Bild, das wir von ihr hegten, mit in die Frage gestellt sein! Wenn wir das erkennen, wissen wir zugleich, daß wir vor einer ganz neuen Aufgabe stehen: das Lebensgesetz der Universität neu zu bestimmen. Und wir wissen, daß das keine innerakademische Angelegenheit ist, sondern nur aus den fruchtbaren Tiefen des Ganzen unseres gesellschaftlichen Daseins zu klarer Gestalt aufsteigen kann. Es ist uns daher ein wesentliches Bedürfnis gewesen, an dieser Feierstunde unseres Neubeginns mitten unter unser Volk zu treten und alle Kreise der Arbeitenden, insbesondere auch derer, die mit der harten Arbeit ihrer Hände dem Ganzen dienen, an ihr teilnehm~nzu lassen. Es ist mir eine Genugtuung, daß wirklich die weitesten Kreise unserer Stadt und unseres Landes, von den Spitzen der Behörden bis zu den Vertretungen der politischen Parteien, der Gewerkschaften und der Betriebe, unserem Ruf gefolgt sind und mit uns vereint diese Stunde begehen. Nur wer an deutschen Universitätsfeiern des Dritten Reiches teilgenommen hat, wird die Tiefe und das Ausmaß unserer Genugtuung und unseres Dankgefühls ermessen. Denn das, was sich damals als hohe Vertreter von Staat und Partei einfand, was da geredet und wie mit uns umgegangen wurde, das war ein Schimpf und Schande, es war eine ständig erneute Verschärfung des Druckes, der auf uns lag, eine ständig neue Aufweckung der Scham, daß wir das duldeten. Jetzt aber dürfen wir hoffen, daß die wahre Ordnung der Dinge hergestellt werde, seit die Würde der Wissenschaft nicht mehr nur von uns selbst zur Verteidigung beschworen wird, sondern mit einem neuen, echten Ton der Achtung und der Erwartung in uns allen zum Klingen kommt. Daß gerade die Arbeiterschaft in ihrem politischen Aufbru~h diese P~role mitbringt, ist uns eine Freude und eine Verpflichtung. EIne VerpflIchtung, denn wir könnten es nur zu wohl begreifen, wenn gerade die werktätig im industriellen Prozeß stehenden Männer und Frauen unseres Volkes der Wissenschaft ihr Interesse und ihre Teilnahme vorenthielten. Ist doch die Wissenschaft - anders als wohl alle anderen wesentlichen ~erufe - in ihrer Arbeit still und geheim, dem Unverständnis unvergleichhch ausgesetzt, da ihre Wirkungen und Erfolge oft unsichtbar sind und immer erst spät und von dem schöpferischen Vorgang entfernt ans Licht treten. Der Professor im Labor oder gar am Schreibtisch ist nicht von selbst f?r alle ein sprechendes Bild geistigen Arbeiterlebens. Ja, er kann auch von SIch aus um solches Verständnis nicht einmal werben wollen - so streng und schier unnahbar ist das Gesetz, unter dem er steht. Um so größer aber ist u?se~ Dank, daß wir ~ennoch aufso viel bezeugtes und bestätigtes VerständnIS fur unser Tun bel Ihnen allen stoßen durften. Lassen Sie mich unseren Dank dadurch abstatten, daß wir in der Folge mit besonderer Bereitschaft und Fürsorge diejenigen unter uns aufnehmen, die - außerhalb des Weges
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der Vorbildung durch die höhere Schule - durch Begabung und Neigung ausgelesen in unsere Reihe treten, die Arbeiterstudenten. Aber lassen Sie mich auch heute eine Form dieses Dankes wählen, indem ich Ihnen in aller Kürze vom Tun des Mannes der Wissenschaft etwas erzähle. Lassen Sie mich von der Ursprünglichkeit der Wissenschaft sprechen. Wir alle sind uns darüber einig, daß die Wissenschaft die wesentliche Grundlage der neuzeitlichen Kultur überhaupt ist. Beruht doch die moderne Maschinentechnik und damit die ganze moderne Industrie auf den wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen der letzten Jahrhunderte. Noch nie zuvor ist die Beherrschung der Natur durch den Menschen so weit gelungen wie in unserem Zeitalter, und es ist eine gebieterische Forderung der Menschheit, die sie um ihres bloßen Fortbestandes willen stellen muß, daß diese Herrschaft über die Natur künftig nicht mehr zur Zerstörung und Vernichtung, nicht mehr im Dienste partikularer Interessen - des Kapitals, des Militärs, im Dienste der Machtgier und der Selbstvergottung einzelner oder ganzer Völker -, sondern zum sozialen Fortschritt, zur Steigerung der allgemeinen menschlichen Wohlfahrt, zu Werken des Friedens allein ausgeübt werde. Daß jene Beherrschung der Natur sich so furchtbar gegen die menschliche Natur überhaupt auswirken konnte, möchte den Wert der Wissenschaft für die Menschheit fragwürdig machen und als eine Schuld der Wissenschaft erscheinen. Niemand kann jedoch zweifeln, daß die Schuld nicht bei der Wissenschaft und der Technik liegt, wenn sie der Zerstörung dienen, sondern bei den Menschen, die sie dazu benutzen. Die gewaltigen Mittel der modernen Naturbeherrschung sind das folgerichtige Ergebnis des neuzeitlichen Wissenschaftsgedankens. Sie wurzeln in dem neuen Beginn, den die Wissenschaft des 17. Jahrhunderts in der menschlichen Entwicklung darstellt. Dessen philosophischer Ausdruck liegt in dem neuen Methodengedanken, den Descartes entwickelt und metaphysisch begründet hat. Mit diesem Methodengedanken, der seine vorbildliche Erfüllung in der Anwendung mathematischer Mittel' auf die Naturerkenntnis hat, gewann die neuzeitliche Wissenschaft das Schrittgesetz ihres eigensten Wesens, demzufolge ein Weg unaufhaltsamer Ausdehnung und Spezialisierung sie bis auf den heutigen hochdifferenzierten und hochspezialisierten Stand der Naturforschung geführt hat. Als die unvermeidliche Kehrseite dieser stolzen Entwicklung erscheint aber, daß die Anwendung dieser Wissenschaft und damit auch Zwecke und Ziele ihrer Anwendung den Männern der Forschung mehr und mehr entwachsen sind. Ihre Arbeit folgt einer immanenten Zwangsläufigkeit der Wissenschaft und geschieht im vollen Bewußtsein der Freiheit der Forschung, ohne doch dies ungeheure menschliche Machtmittel, das die moderne Wissenschaft darstellt, an einen ursprünglichen Zusammenhang mit den höchsten menschlichen Zielen, den Zielen des menschlichen Fortschritts, gebunden zu halten. Die steigende Angewiesen-
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heit der Forschung auf kostspielige Apparatur und die Rückwirkung ihrer Ergebnisse auf die industrielle Produktion haben hier Formen ungewußter Abhängigkeit der Wissenschaft geschaffen, die ihrem ursprünglichen Wesen entgegengesetzt sind, bis zu dem Extrem ihrer Ausrichtung auf wehrwissenschaftliche und wehrwirtschaftliche Anwendung, wie sie der deutschen Wissenschaft und damit der Menschheit für Hitlers wahnsinnigen Krieg zugemutet worden ist. Was so bei der maß- und methodengebenden Wissenschaft der Neuzeit, der Naturwissenschaft, zu beobachten ist, das gilt in verstärktem Maße von den Wissenschaften von Staat und Gesellschaft, den Geisteswissenschaften. Daß sie - ihnen allen voran die Philosophie - Kind ihrer Zeit sind, ist uns seit Hegel bewußt, und dennoch ist es das Bewußtsein der Freiheit der Forschung, das ihre Träger erfUllt. Nicht die Meinungen und Interessen einer herrschenden Gesellschaft sollen ja von ihr gepflegt oder gerechtfertigt werden, sondern die Wahrheit, wie immer sie erkennbar wird, soll gesagt und gelehrt werden. Aber auch hier ist in Wirklichkeit die wissenschaftliche Forschung von Abhängigkeiten des Zeitgeistes beherrscht, ja, das Ethos der freien Forschung selbst ist am Ende getrübt worden - in der verruchten Anpassung an die Wahnideen und Irrlehren der letzten zwölfJahre, zu der sich auch tüchtige Forscher verleiten ließen. Angesichts dieser Erfahrung ist es wahrlich an der Zeit, sich auf die Ursprünglichkeit der Wissenschaft zurückzubesinnen, um den Söhnen unseres Volkes, von deren harter Arbeit die äußeren Existenzbedingungen der Wissenschaft geschaffen und erhalten yverden, zu sagen, was das eigentlich ist und was es wieder werden muß, wofür sie einstehen und tätig eintreten: die Wissenschaft. Von der Ursprünglichkeit der Wissenschaft erfahren wir am leichtesten, wenn wir sie an ihrem Ursprung aufsuchen, und das ist bei den Griechen, den Schöpfern und Ahnherren der abendländischen Kultur. Die Griechen sind es ja gewesen, die zuerst - in der schicksalsvollen Auseinandersetzung mit dem Geist des vorderen Orients - die Gestalt der europäischen Wissenschaft erzeugten. So wie die Abwehr des Ansturms der persischen Großmacht bei Marathon und Salamis die Rettung des griechischen Eigenlebens war und zugleich die Geburtsstunde Europas genannt werden muß, so ist die Aufnahme und Fortbildung der ägyptischen und babylonischen Mathematik und Naturerkenntnis durch das Genie der Griechen die Geburtsstunde der europäischen Wissenschaft und damit der heutigen Weltkultur geworden. Die Einzigkeit unseres Schicksals in der Geschichte der Menschheit beruht auf diesem Fundament der Wissenschaft, das die Griechen für die Kultur der Welt gelegt haben. Andere große Weltreiche und Kulturen haben in religiösen und künstlerischen Werkschöpfungen allein den Ausdruck ihres Wesens gefunden - einzig die Griechen haben den urmenschlichen
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Drang des Wissenwollens in die objektive Gestalt der Wissenschaft gebracht und damit den Weg der Menschheit gewendet. Was ist diese Wissenschaft? Wir fmden sie vorbildlich in der griechischen Mathematik, die die noch heute in unseren Schulen gelehrte Mathematik ist: ein systematisch abgeleitetes Gefüge von Erkenntnis~~n über Figuren und Zahlen, aufgebaut im herrlich klaren Gang von Defmltlonen und von Lehrsätze~, die in Voraussetzung, Behauptung und Beweis erworben werden. Wir wissen aus der modemen Wissenschaft, welche Anwendungserfolge dieser griechischen Schöpfung in der Beherrschung der Natur abgew~nnen werden können. In ihrem Ursprung aber ist diese Schöpfung der GrIechen auf keine Anwendung bezogen, sondern entspringt einer eigenständigen Verwirklichung des Menschseins. Was ist ihr Wesen? Darüber .kann uns a,m einfachsten das griechische Wort für Wissenschaft belehre~: Eplsteme. E~ 1st von einem griechischen Verbum abgeleitet, das ursprünghch bedeut~~: eI~er Sache oder einer Arbeit vorstehen, etwas können. Es hat also ursprunghch einen praktischen Sinn. Auch das Wort für Wissenschaft, Ep~steme, ~enau wie das lateinische )scientia<, wird zunächst nur für praktIsche Kunste, insbesondere die Kriegskunst gebraucht, bis es schließlich bei den attische,n Philosophen in die Bedeutung von Wissens~haftein~ckte, dort ~lso, w~ dIe griechische Mathematik und Welterkenntrus s~lber Ih:e ~tolze.Ho~e erreIchte. Im Wesen der griechischen· Wissenschaft hegt mIthin, WIe dIe Wortgeschichte lehrt, die Herkunft aus der Praxis und die Entwicklung zu dem, was auch wir mit einem griechischen Ausdruck )Theorie< nennen. Das ist höchst lehrreich. Theoretisches Wissen ist ursprünglich nicht ein Gegensatz zur Praxis, sondern deren höchste Steigerung und Vollendung. So wie der ~er wahre Meister eines Handwerks ist, der in vorherigem Planen und freIer Beherrschung der Sache alle Tücken des Zufalls ausschaltend 1dem ganzen Arbeitsgange mit wahrer Souveränität vorsteht, s~ ist ,der d,er w~hre Ma?n der Wissenschaft, der im bloßen Erkennen der Wlrkhchkelt glelcherweI~e darübersteht. Ein Beispiel mag es verdeutlichen. Wer sich auf MathematIk versteht für den ist es kein Wunder, daß eine Länge, die die Seite eines Quadra;es ausmißt, so klein sie auch immer gewählt werde, niemals die Diagonale desselben Quadrates ohne Rest ausmessen kann.. Es i~t ~~r ,ihn kein Wunder, d. h., er weiß es vorher, vor jeglichem Versuche, mIt volhger Gewißheit - in unserer Sprache: daß V2 eine irrationale Zahl ist. Er st~ht geistig über dem Staunen des Laien, der es immer aufs neue vergeblIch versuchen mag, diese Zahl bis ans Ende auszurechnen. ~enn er ~ersteht etwas von Mathematik, und so steht er über der Sache. DIeses Daruberstehen ist es was die Haltung der Wissenschaft ausmacht. Aber worüber steht man da eigentlich? Doch nicht, wie in der Praxis eines Arbeitsganges, über den Nücken und Tücken des Werkzeugs und des Materials. Was für Zufall oder Unfall kann dort ausgeschaltet werden, wo es nur um Erkennen
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dessen, was ist, geht? Nun, der Unfall der ,Erkenntnis heißt Irrtum. Der Irrtum ist das Ausgeschaltete und all das, wobei Irrtum vorkommen kann, also alle bloße Meinung. ' Damit aber sind wir auf den ursprünglich menschlichen Grundsinn der Wissenschaft gestoßen. Sie ist der Bereich, wo keine Meinungen gelten, sondern nur Gründe. Welch ungeheure Zumutung an die Schwäche der Menschen, die allesamt ihre Meinungen so sehr lieben und das Rechthaben i~ Reden! Daß die 'Yissenschaft bei den Griechen zuerst entstand, begreift sIch nur zu gut angesIchts der Gewalt der Rede und der Streitlust über dieses feurige Volk. Aber auch uns beherrscht das Vorurteil der allgemeinen Meinung und besticht der Schein der Wahrheit und der Glanz des Wirksamen. Wissenschaft aber stellt einen festen Stand dar gegenüber allem Wechsel und S~hillern der Meinungen, sie ist ein Darüberstehen, weil ein Eingehen auf dIe Sache selbst und ihre wahren Gründe. Das ist die ursprüngliche Idee der Wissenschaft. An sie gilt es sich zu erinnern, auf sie gilt es zurückzukommen aus der vielfachen Entfernung des moder~en Wissenschaftsbetriebes. Nicht als ob wir leugnen wollten, daß VormeInungen und Interessen auch unsere Erkenntnismöglichkeiten ständig beeinflussen und beschränken. Aber was in uns Wissenschaft ist das verwandelt die Macht der Vormeinungen über uns in eine lärmende macht. In der Stille unserer forschenden Arbeit sind wir allein mit uns selbst und unseren Zweifeln, und in der Stille dieser Einsamkeit schließt sich dem Forscher Wirkliches auf, das noch kein menschlicher Geist vor ihm sah. D~ese ursprüngliche M~cht der Wissenschaft ist es, die unseren Auftrag s~ltens der Gesellschaft, m der wir leben, darstellt. Sieerz~ugt die Kraft, aus eIgener, selbständiger Entscheidung zu handeln und das Leben zu meistern. Deshalb sind ihr die hohen Schulen geweiht, auf ihr beruht die Eigenart unserer Lebens- und Arbeitsformen, die man so schwer erklären kann und in der wir uns doch gerade im Keise aller Arbeitenden verstanden finden m"öchten. Ich möchte versuchen, zu schildern, wie der Mann der Wissenschaft in dem die Wissenschaft eine wahre Macht ist, aussehen muß. Ich wähle drei Züge aus, von denen hier zu reden mir wesentlich scheint. Erstens: Er muß aufeine Weise geistesabwesend sein können, die nur dem im Angesicht letzter Wahrheitsfragen Stehenden widerfahrt. Eine antike Anekdote erzählt von dem ersten Philosophen der Griechen, Thales von Milet, daß er eines Tages beim Betrachten des Sternenhimmels in einen Brunnen gefallen sei - eine Magd habe ihm herausgeholfen -, und zahllos sind die Anekdoten neuerer Zeit von dem zerstreuten Professor. Es gilt zu verstehen, daß solche Abwesenheit und Zerstreutheit die Kehrseite höchster Konzentration und Versunkenheit in die Sache selbst ist. Sie mag eine Schwäche sein, und wir wollen uns ihrer nicht rühmen. Wo sie zu wirklicher
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Weltfremdheit gesteigert erscheint, ist sie gewiß verwerflich. Aber jeder Stand wie jeder Mensch hat die Laster seiner Tugenden. Die Tugend, die es hier zu sehen gilt, ist das unbedingte Eingehen auf die Sachen - unter Vergessen jeglicher Rücksicht auf die anderen wie auf sich selbst, auf Gott und die Welt. Wäre die Kraft dieser Sachlichkeit in allen Männern der deutschen Wissenschaft groß genug gewesen, die schwächliche Anpassung an das nationalsozialistische Regime wäre für sie keine Versuchung geworden. Zweitens: Der Mann der Wissenschaft geht im Verfolg seiner Arbeit durch Zweifel an sich selbst, die bis zur Verzweiflung anwachsen können. So schwer ist es, nicht seiner Mitwelt, sondern dem inneren Gebot der Wahrheit und der Erkenntnis genugzutun. Was er zu sagen hat, sind Wahrheiten, die erst die Zukunft zu allgemeiner Anerkennung bringen wird. Das ist die Tragödie des Forschertums. Er ist zwar Kind seiner Zeit und Welt und ooch immer schon über sie hinaus in einer neuen, schwer zu ertragenden Einsamkeit. Aber er bringt aus 'ihr zurück, was die stärkste Kraft eines Charakters ist: eigenes Urteil und unbedingte Entschiedenheit für das Erkannte. Wäre die Kraft dieser Entschiedenheit in allen Männern der deutschen Wissenschaft groß genug gewesen, die schwächliche Anpassung an das nationalsozialistische Regime wäre für sie keine Versuchung geworden. Drittens: Der Mann der Wissenschaft muß von echter Bescheidenheit sein. Die Anfechtungen, die er bei seiner Arbeit innerlich erfahrt, lehren ihn eindringlich die Grenzen seines Könnens und die erdrückende Größe seiner Aufgabe. Es gehört zu ihm bereite Anerkennung des Urteils anderer und die Abstreifung jeden Hochmuts des eigenen Standes. Achtung vor jeder redlich getanen Arbeit, welcher Art sie auch sei, muß ihm selbstverständlich sein. So besitzt er eine innere Freiheit von den Vorurteilen seiner gesellschaftlichen Herkunft und ist der natürliche Gefahrte aller fortschrittlichen Kräfte einer Gesellschaft. Wäre die Kraft dieser Bescheidenheit in den Männern der deutschen Wissenschaft groß genug gewesen, die schwächliche Anpassung an das nationalsozialistische Regime wäre für sie keine Versuchung geworden. Ich habe mit wenigen Strichen zu zeichnen versucht, was die Wissenschaft ursprünglich ist und 'was für Lebensformen ihr zugehören. Was ich da zeichnete, ist das Bild einer Aufgabe. Sie verpflichtet den Lehrer der Wissenschaft so gut wie ihren Schüler. So sollte es sein, auch wenn es nicht immer so ist. Im Angesicht dieser Forderung bedarf es nicht mehr der Darlegung, welchen Beitrag die Universität zur demokratischen Erneuerung unseres Volkes zu leisten hat. Wir wissen, daß wir im Bereich der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Erziehung vor den gleichen Aufgaben stehen, vor denen unser Volk als Ganzes steht. Nur darüber kann es Meinungsverschiedenheiten geben, woher die Kraft geschöpft wird, um dieser Aufgabe zu
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genügen. Hier glauben die einen von uns, sie komme letzten Endes aus dert: Unglauben an den Menschen und dem Glauben an Gott, die anderen dagegen stellen sich auf den Glauben an den Menschen allein. Dieser Gegensatz steht noch offen in die Zukunft der Menschheit hinein, aber er gefährdet nicht die Solidarität aller, die eine freiheitliche Entwicklung unseres Volkes und eine friedliche Zukunft der Menschheit anstreben. Denn uns alle vereint das Bewußtsein der Größe unserer Aufgabe. Es gilt zu erkennen, in welchem Grade die Staatsgesinnung unter den Deutschen zerrüttet und verwüstet ist. Wer das erkannt hat, wird ihrer Erneuerung alle Kräfte seines Lebens weihen. Möge unsere Universität, die dieser Aufgabe dient, und ·möge die deutsche Wissenschaft, vom Vertrauen aller zukunftsvollen Kräfte unserer Nation getragen, auf dem Wege einer humanen Kultur vorangehen und den deutschen Namen reinigen und wiederherstellen.
24. Zum 300. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz Festrede an der Universität Leipzig (1946/90)
Heute vor 300Jahren ist es gewesen, daß Leibniz in den Mauern dieser Stadt geboren wurde. Er ist ein Kind Leipzigs und ein Zögling seiner Schulen. Er war Schüler der Nikolai-Schule und ist im Jahre 1661 auf die Universität gegangen, wo er seinerzeit treffliche Lehrer vorfand, die ihn sowohl in den Geist der damaligen philosophischen Fragen als auch in die rechtswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Studien in breitem Umfang einführten. Leibniz war ein frühbegabtes und geniale Anlagen zeigendes Kind. Es ist wohl mehr als eine Legende, daß Leibniz auf eigene Faust dadurch, daß ihm zufällig ein paar Lateinbücher, eine Ausgabe des Livius, als Knabe in die Hand fielen, zum selbständigen Erlernen der lateinischen Sprache gelangte. Es zeigte sich darin zum ersten Male ein fur sein Genie bezeichnender Zug. Leibniz ist wohl das größte Genie der Kombinationskraft, das es je gegeben hat. Wir werden das an Hand seines ganzen wissenschaftlichen Werdeganges und seiner Leistungen immer wieder verfolgen können, und wir werden sehen, daß jene >ars combinatoria<, jene kombinatorische Kunst, zu der er eine gewisse Disziplin der Logik zu entwickeln trachtete, früh in der Anlage seines Geistes bereits präformiert war. Denn dieses Lateinlernen aus eigenem Antrieb und ohne jede Hilfe geschah ja schon aus einem Erspüren der Regelmäßigkeiten und Wiederholungen, die ihm in einem Text, der ihm zunächst unverständlich war, begegneten. Er hat diese lateinischen Autoren entziffert, so wie man eine Geheimschrift entziffert. Wir müssen uns sagen, daß das stärkste Vertrauen auf die eigene Geisteskraft dazu gehört, vor dieser erstaunlichen und befremdlichen Tatsache einer unbekannt scheinenden und doch zweifellos Sinnhaftigkeit bergenden Sprache zu stehen und, ohne die Autorität von Kundigen zu gebrauchen, ihre Geheimnisse aufzuschließen. Diese frühen Beweise von Genie und Originalität haben sich dann in Leibnizens Studium ständig gezeigt. Er ist in sehr frühem Alter bereits Baccalaureus geworden, am 20. März 1663, und ein Jahr darauf, im Januar 1664, Magister. Er hat dann im Zusammenhang mit seinem Jurastudium geplant,
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sich zu habilitieren, und imJahre 1666 erhob er Anspruch darauf, auf Grund seiner ausgezeichneten Arbeiten zum Doktor promoviert zu werden, was damals faktisch die ordentliche Aufnahme in den Lehrkörper der Universität bedeutet hätte. Das ist gescheitert, weil es derartig aufreizend und ungewöhnlich wirkte, daß ein so junger Mann die sehr viel älteren und auch tüchtigen 'Leute, die auf die Würde des Doktorats warteten, überflügeln sollte. Die Zurücksetzung, die Leibniz damit erfuhr, daß er zur Doktorpromotion nicht zugelassen wurde, führte zum Verlassen Leipzigs und zu der
gesuchtes Volk bedrückten, gleichsam den Weg zu Europa wiederfand und den deutschen Namen, die deutsche Intelligenz und die deutsche Arbeitskraft in eindrucksvoller Weise im Konzert der Völker wieder zu Ehren brachte. Allen bekannt ist ja auch, wie seine organisatorische Phantasie ihn von Plan zu Plan, von Gründungsvorschlag zu Gründungsvorschlag führte, wie er überall die Organisation der wissenschaftlichen Arbeit zum Besten der menschlichen Zivilisation ins Leben zu rufen trachtete. Von diesen mannigfachen Plänen ist nicht viel zur Ausführung gekommen, aber die Anregungskraft, die ein großes Genie wie Leibniz damit bewies, ist oft erst nach Jahrhunderten zu ihrer vollen Auswirkung gekommen, so daß von Leibnizens planvollem und weitschauendem Handeln sich die Spuren bis in die Gegenwart hinein an vielen Orten der Kulturwelt finden. Einzig die Gründung der Berliner Akademie der Wissenschaften ist ihm zu seinen Lebzeiten gelungen. Aber wie gesagt, das Werk dieses Mannes bemißt sich nicht nach den unmittelbar sichtbaren Hinterlassenschaften. Das gilt auch im besonderen fur seine literarischen Hinterlassenschaften. Zu Leibniz' Lebzeiten sind eine Fülle kleiner Arbeiten in Gelehrtenzeitschriften erschienen, viele auch in einer in Leipzig herausgegebenen Zeitschrift. Aber eine zusammenfassende Darstellung seines ganzen geistigen Universums hat er in größerem Stil nicht veröffentlicht. Nur wenige Bücher sind zu seinen Lebzeiten überhaupt erschienen, insbesondere die ja zu allgemeiner Bekanntheit gelangte)Theodicee<, jene Schrift, in der er die Gerechtigkeit und Güte Gottes angesichts der Übel dieser Welt zu beweisen unternahm. Die Nachwelt fand die große Aufgabe vor, den unerschöpflich reichen NachlaH, den der Verstorbene hinterlassen hatte und der sich in Hannover, an seinem Wirkungsorte, fand, der Forschung und dem allgemeinen Bewußtsein öffentlich zugänglich zu machen. An dieser Aufgabe haben die Jahrhunderte gearbeitet, ohne sie bis zum heutigen Tage auch nur einigermaßen zu vollenden. Ich glaube, von den großen kulturschöpferischen Genies der Neuzeit ist Leibniz der einzige, dessen Schriften, dessen geistige Leistungen noch heute zum Teil unbekannt in den Archiven ruhen. Das liegt nicht daran, daß man nichts versucht und nichts unternommen hätte, Sammlungen seiner Werke zu veranstalten. Eine von drei epochemachenden Ausgaben ist im Jahre 1839 zuerst erschienen und bezeichnet sich als eine Sammlung seiner sämtlichen philosophischen Werke. Das sind zwei Bände. Eine zweite Ausgabe erschien auf Betreiben der Berliner Akademie der Wissenschaften, die das Gedenken ihres großen Gründers damit zu ehren gedachte, in den Jahren 1875 und folgende, in sieben Bänden. Und schließlich begann im Jahre 1923, wiederum auf Grund der Arbeiten der Berliner Akademie der Wissenschaften, vor allem aber unter Heranziehung eines großen Stabes von Gelehrten aus ganz Deutschland, nochmals eine große Akademie-Ausgabe der Werke von Leibniz, die bisher funf Bände umfaßt
fa.Ktischen EnttxeIndung von deIn Leben dex Universität. ln 'Wahrheit aber
war es wohl eine Wahl des Schicksals und des eigenen Lebens, die ihn dazu führte. Denn an Angeboten, als Professor an eine Universität überzusiedeln hat es Leibniz schon damals nicht gefehlt. Er aber verschmähte die Luft de; Schule und wählte das Leben in der großen Welt. Er ging an Höfe und Z~nt~en des öff~ntlichen und politischen Lebens. Seine ungemein große geIstIge Durchdrmgungskraft ließ ihn überall als Ratgeber, Vermittler, Bote und Anreger erwünscht erscheinen. So ist er in Nürnberg und in Frankfurt/ M. gewesen, dann längere Zeit in Mainz am Hofe des Bischofs und schließlich auf Reisen in Paris, in England und in Wien. Er ist an vielen großen Plätzen Europas aufgetaucht, überall stiftete er Verbindungen mit den fortgeschrittensten und erleuchtetsten Geistern seiner Zeit, Staatsmännern, Gelehrten und Erfindern aller Art. Schließlich, im Jahre 1676, also als ein noch junger, aber durch vielerlei Welterfahrung bereits geprägter Mann, ging er an den Hof von Hannover, wo er als Historiker des Hofes und als politischer und juristischer Berater tätig war. Er wurde damit beauftragt, eine Geschichte des Welfenhauses zu verfassen, und hat dieser langwierigen Aufgabe die lange Mühe seines Lebens gewidmet. Freilich, ein Genie seines Formats war selbst an einem so großen und bedeutenden Hofe seiner Zeit kein bequemer Angehöriger, und deshalb ist die große, Selbständigkeit und Energie, mit der er seine geistigen, politischen und- wie hinzugefügt werden muß - auch theologischen Ziele verfolgte, sehr oft Gegenstand von Reibungen gewesen, die ihn schließlich in eine gewisse Vereinsamung und Verbitterung führten. Ständig gedrängt von dem auftraggebenden Hof, hat er immer mehr Zeit an die titanische Arbeit jener Welfengeschichte wenden müssen, die er zum ersten Male _ auch das ist schier epochemachend gewesen - auf der breiten Grundlage von Archivstudien zu erbauen suchte. Über dieser Arbeit ist er dann im Alter von beinahe 70 Jahren im Jahre 1716 gestorben. Es ist bei dem bewegten Lebensgang, den er durchlaufen hat, unmöglich, zu überschätzen, wie groß der Wirkungskreis seines lebendigen Gesprächs und seiner brieflichen Anregungen gewesen ist. Er jedenfalls ist es gewesen, der nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges und nach der tiefen Erschöpfung, die damals unser von den Leiden des Krieges besonders heim-
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und auf 300 Bände berechnet war. Denn in der Tat, alle bisherigen Sammlungen blieben ganz weit hinter dem unersch~pflichen Reichtum seines Nachlasses zurück. Es ist eine Aufgabe ganz besonderer Art. Sie verlangt nicht nur ein eindringliches Studium für die Entzifferung seiner schwierigen ' Handschrift, sondern es gehört dazu auch, daß man selber ein ähnlich umfassendes Wissen besitzt oder eine Vereinigung von Gelehrten stiftet, die zusammen ein ähnliches Wissen darstellen, wie die eigene Person Leibnizens es besessen hat. Die Aufgabe ist selbst mit den deutschen Kräften der Zeit nach 1923, wie die Erfahrung gelehrt hat, nicht zu bewältigen gewesen. In der Tat ist Leibniz ein Universalgenie, und wenn man auf die Geschichte der Wissenschaften im ganzen sieht, ist er der letzte Polyhistor schöpferischen Stiles gewesen, den die Weltgeschichte kennt - der letzte, der auf allen Gebieten der Wissenschaft nicht nur den Stand der Forschung kannte, sondern ihn produktiv weiterzutreiben wußte. Er ist ein schöpferischer Mathematiker gewesen, was ihm allein schon Weltruhm eingebracht hätte, ist er doch gleichzeitig mit und ganz unabhängig von Newton Begründer der InfInitesimalrechnung gewesen. Er ist als Physiker in der Schaffung der Dynamik schöpferisch und bahnbrechend gewesen. Er hat die biologischen Erkenntnisse seiner Zeit gefördert. Er hat zuerst &prachwissenschaftliche Arbeitsprogramme entwickelt. Er ist als Geschichtsforscher von Amts wegen und aus Leidenschaft tätig gewesen. Er ist einer der unvergessenen Förderer der modernen Logik. Weit umfassend und in die Zukunft der christlichen Religion hinblickend sind seine Bemühungen um eine Vereinigung der christlichen Konfessionen, auch dies aus einem absolut sicheren und schöpferischen Beherrschen der gesamten theologischen Fragenwelt. Er ist schließlich einjurist von größtem Format, ein Mann voller technischer Ideen, organisatorischer und wirtschaftlicher Vorschläge gewesen. Und über all dem und hinter all dem ein Mann, der den letzten Fragen, den Fragen der Philosophie, nicht auswich und auch hierdurch seinen Namen mit unverlierbarem Ruhm in das Gedächtnis der Menschheit eingegraben hat. Obwohl das so ist, besitzt Leibniz dennoch heute noch keinen sicheren Platz im allgemeinen Bewußtsein der Öffentlichkeit, ja auch niCht einmal innerhalb der Geschichte der Philosophie. Man braucht sich nur an das Gegenbeispiel zu erinnern, das ein anderer großer Deutscher darstellt. Ich meine Immanuel Kant, dessen Popularität so groß ist, daß sowohl im öffentlichen Bewußtsein seine große Leistung, die Darstellung des reinen Gedankens moralischer Verbindlichkeit im >kategorischen Imperativ<, allgemein anerkannt ist, der aber auch im Leben der Wissenschaft schlechthin Epoche gemacht hat als der Zerstörer der bisherigen Metaphysik und der Begründer einer kritischen Philosophie. Leibnizens universelles Genie ist dagegen noch heute in gewissem Sinne in seiner Wirkung unvermessen und unausgeschöpft. Seine erste Wirkung in Deutschland vollzog sich nur in
einer einzigen, bestimmten und damit auch einseitigen Richtung, durch seinen großen Schüler Christian Wolff, den Philosophie-Schulmeister des lB.Jahrhunderts, dessen gewaltige Bedeutung für die Bildung des deutschen Bürgertums jener Jahrzehnte nicht unterschätzt werden darf, der aber nur eine Seite von Leibnizens universalem philosophischem und wissenschaftlichem Genie überhaupt aufnahm. Gerade diese Seite, die wir Rationalismus zu nennen pflegen, ist es gewesen, die durch die epochemachende Leistung der kritischen Philosophie in den Schatten gedrängt wurde. Eine andere, nicht zutage liegende, aber um so tiefer in die geheimen Gründe des deutschen Gemüts eindringende Wirkung hat Leibniz auf das klassischejahrhundert der deutschen Dichter und Denker ausgeübt, aufdem Wege über Herder, über Goethe und über Schelling. Vor allem ist durch ihn jener dynamische Pantheismus, jener Glaube an die durch nichts umzubringende Lebendigkeit des schaffenden Geistes, im deutschen Bewußtsein gefestigt worden. Man kennt das berühmte Gespräch, das Goethe anläßlich der Beerdigung seines alten Freundes und Dichtergenossen Wieland mit einem gewissen Falk geführt hat, in dem er seinen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele mit dem Leibnizschen Gedanken begründete, daß eine Entelechie, eine geistige Krafteinheit, wie er sie selber in sich fühlte, über die Schwäche und den allmählichen Niedergang der körperlichen Kräfte hinaus so unzerstörbar ihre Energien besäße, daß es undenkbar sei, zu meinen, daß solche Kraftzentren, solche Entelechien, durch den leiblichen Tod wirklich erschöpft würden. Aber solche Kronzeugenschaft, wie sie Leibniz für die Periode der Klassik besaß, entsprang nicht wirklich dem ganzen und dem eigentlichen Geiste der Leibnizschen Philosophie, und so ist auch zu verstehen, daß die Philosophie Leibnizens zwar die Phantasie und die allgemeine dichterische Empfänglichkeit des Geistes und Gemüts stets angezogen und begeistert hat, daß er aber eine wirklich gefestigte Wirkung im Leben der Wissenschaft nur teilsweise und unvollkommen errang. Dieses Leibnizsche System ist ja von einer phantastischen Künstlichkeit. Leibniz hat die Behauptung aufgestellt, der wahre Kern der Wirklichkeit, das, was über die phänomenale, die erscheinungsmäßig y Außenseite hinaus und hinter ihr das eigentliche und wahrhaft Wirkliche sei, das seien Monaden, lebendige Einheiten, die, in sich selbst vereinzelt, jede danach trachten, die in ihnen gelegene Kraft und Energie des Vorstellens zu entwickeln. Jede dieser Monaden, jede dieser Einheiten, ist auf das Ganze des Seienden bezogen. Sie sind, wie er es genannt hat, Spiegel des Universums, und keine dieser Einheiten steht überhaupt in einer unmittelbaren Beziehung zu irgendeiner anderen solchen Einheit. Die Monaden, wie er formuliert hat, haben keine Fenster, und dabei meint er mit diesen Einheiten nicht nur jene Seelenmonaden, nicht nur jene durch Geist, durch Selbstbewußtsein charakterisierten Einheiten, die wir aus unserer Selbsterfahrung kennen. Ja, er beschränkt sie
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nicht einmal auf das, was wir die lebendige organische Welt nennen. Nicht nur die Organismen, sondern die gesamte Natur hat diesen Charakter, daß sie in ihren letzten Bausteinen aus Einheiten besteht, dIe in Bezug zum Ganzen der Welt stehen. Und so kam Leibniz zu der phantastischen Behauptung, daß die Welt im Grunde daraus besteht, daß von jedem solchen Einheitspunkt aus eine Spiegelung des Ganzen, ein Sich-Vorstellen des Ganzen erfolgt. Daß dieses Ganze aus vielen Blick- und Augenpunkten überhaupt eine Welt ist, daß nicht jedes dieser in sich geschlossenen Monadenwesen nur für sich ist und eine imaginäre Welt erzeugt, das sei nur durch die Annahme zu erklären, daß im vorhinein Gott die Übereinstimmung aller dieser Augenpunkte und Perspektiven begründet habe. Leibniz liebte es, das in Bildern darzustellen, wie etwa in dem von ganz gleich gehenden Uhren. Wie sind gleich gehende Uhren zu erklären? Nun, entweder dadurch, daß immerfort einer da ist, d~r dafür sorgt, daß sie gestellt werden, oder dadurch, daß überhaupt nur eine einzige Maschine existiert und alle die verschiedenen Zeiger gleichsam von diesem Uhrwerk gedreht werden. Beide Annahmen hält er aus Gründen, die wir noch zu erörtern haben, fur unmöglich. Die einzige befriedigende Annahme sei die, daß alle 9iese Uhren - will sagen, alle diese Monaden - von Gott so genau konstrui~rt seien, daß sie gleichsam alle ständig die gleiche Stunde des Seins schlügen. Das ist ein phantastischer Gedanke, und Leibniz hat ihn mit dem stolzen Bewußtsein ausgesprochen, daß allein sein neues System eine befriedigende Erklärung oder ein befriedigendes Verständnis der Welt, der Natur und des Menschen ermöglicht. Es ist nicht schwer, an dieser Idee Kritik zu üben. Es liegt zum Beispiel nahe, sich zu fragen: Was ist eigentlich der Inhalt jener Spiegelungen, die das Wesen der Monaden ausmachen sollen? Sind es nicht immer nur Spiegelungen von Spiegelungen? Ist da überhaupt noch etwas da, das gespiegelt wird? In der Tat gibt es eine ganze Reihe ähnlicher Fragen, die man an dieses System Leibnizens stellen kann und die keine befriedigende Antwort im Schulsinne der Philosophie finden. Denn die Grundlage, von der aus ein so phantastischer Entwurf des Systems möglich scheint, war die Gottesidee, war die Voraussetzung, daß eben allejene Perspektiven, in deren Einheiten sich die Welt darstellt - ob das nun Pflanzen oder Lebewesen, Tiere oder Menschen oder Geister sind -, daß alle diese Perspektiven zusammen in ddr unendlichen Monade Gottes, gleichsam in einer unendlichen Perzeption, in der Erfassung durch den göttlichen Geist allein begründet liegen. Das ist das Leibnizsche )System<. Wir müssen uns darüber im klaren sein daß dieser Name eines Systems vor Leibniz wohl kaum mit vollem Rech~ überhaupt angewandt werden kann. Der Begriff des Systems, wie wir ihn in ~er ~llge~einen Sprache der Philosophie seither gebrauchen, war ursprünghchJewel1s ein Ausdruck für das System der Welt, also nicht für ein Bild der
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Welt, sondern für die Struktur, die Architektur der Welt selbst, und Leibniz ist einer der ersten gewesen, die diesen Begriffdes Systems auf die von ihnen erdachte und geforderte Weltsicht, auf ihr eigenes Bild der Welt anwandten. Was hat ihn zu dieser künstlichen Hypothese der prästabilierten Harmonie in sich verschlossener Monaden geführt? Es war kein beliebiges Spiel seiner Phantasie, sondern es war der geniale Blick für die durch die neuere Geschichte des philosophischen Denkens herbeigeführte Problemlage. Diese Problemlage des neueren Denkens war durch die Entwicklung der neuen Wissenschaft bestimmt, die mit mathematischer Methode die Erkenntnis der Natur unternahm. Ihr glänzendes Vorbild und zugleich ihre abschließende Formulierung fand sie in der damals führenden neuen Disziplin der Naturwissenschaft, der Mechanik, welche in Newtons )Principia( ihre Vollendung gefunden hat. In der Tat wurde dieses Modell der Mechanik zum Vorbild der Wissenschaften. Durch die von Galilei, Kepler und anderen erkannten Gesetze des mechanischen Geschehens erfolgte eine ungeheure Veränderung für die gesamte Weltstellung des Menschen. Von hier aus wurde erst die Gestaltung der Technik möglich, die seither jeden Schritt unseres Daseins fuhrt und gefährdet. Mechanik, Verständnis des Zustandekommens der Naturerscheinungen aus ihren elementaren Voraussetzungen, gibt ja zugleich die Möglichkeit der künstlichen Erstellung solcher Voraussetzungen. Somit schwebt dieser Idee der Wissenschaft die Idee der Machbarkeit vor, die Idee der Mechanik, der künstlichen Herstellung von Wesen mit eigenen Wirkungen und Leistungen. Diese neue Wissenschaft, die ganz von der Idee dessen, was Menschen machen und herstellen können, beseelt war, trat demnach in Auseinandersetzung mit der ganzen geistigen Überlieferung des Abendlandes. Wir pflegen, zumindest in Deutschland, den entscheidenden Denker, in dem sich diese Auseinandersetzung zuerst vollzog, in Descartes zu erkennen, der zuerst zeigte und formulierte, daß jene Anwendung der Mathematik auf die Naturerkenntnis eine bestimmte Weise des Seins betrifft: das Sein, sofern es ausgedehnt ist und soweit es mit den Mitteln der von ihm entwickelten mathematischen Methoden beschrieben werden kann. Und derselbe Descartes hat andererseits gesehen, daß es noch ein anderes Sein gibt, das die mathematische Naturwissenschaft niemals zum Gegenstand ihrer Berechnung und Beherrschung machen kann: das Sein, das durch Selbstbewußtsein charakterisiert ist und durch das es gerade erst möglich ist, daß man mit methodischer Bewußtheit die Mathematik auf die Natur anwendet. So trat damals in das philosophische Denken ein für die gesamte gesellschaftliche und geistige Lage der Zeit charakteristischer Widerspruch, ein Dualismus der Auffassung der Welt nach Maßgabe der durch mathematische Methoden beherrschbaren und einer ganz anders gearteten Wirklichkeit, die in der Innensicht des Selbstbewußtseins aufgeht. Im siegreichen Enthusiasmus der neugeschaffenen Wissenschaft von der
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Natur suchte manjenes Ideal der Machbarkeit,der mechanischen Erklärung des Seienden, so weit wie möglich zu treiben. Nach Descartes waren auch die Tiere bloße Maschinen, und diejenigen waren aus cartesischem Geiste geboren, die in der späteren Philosophie der Aufklärung auch den Menschen als eine bloße Maschine, als eine Art Automaten zu beschreiben unternahmen. Angesichts dieser enthusiastischen Einseitigkeit des neuen mechanischen Wissenschaftsgedankens war nun die Aufgabe gestellt, die Grenzen dieses Gedankens festzustellen und die Einheit des Weltbewußtseins mit diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu versöhnen. Das ist die Problemlage, vor die Leibnii gestellt war und der er nicht ausweichen konnte. Er fand das folgende unlösbar scheinende Problem vor: Wie wirkt jene eine Substanz, die durch Ausgedehntheit charakterisiert ist, aufjene andere Substanz, die durch Selbstbewußtsein charakterisiert ist, ein? Wie ist etwa jene beunruhigende und so selbstverständliche Tatsache zu erklären, daß wir unseren Leib als Körper wie jede andere Gegebenheit des mathematischphysikalischen Systems zum Gegenstand mathematisch-physikalischer Gesetzesforschung machen können und daß dennoch dieser Leib unser Leib ist - das von einem Ich belebte, von Sinnlichkeit und Bewußtsein erfüllte Leben ist? Wie ist der Zusammenhang von Leib und Seele zu denken? Dieses Thema hat diejahrhunderte hindurch, seit es durch die modeme Naturwissenschaft gestellt wurde, philosophische Spekulation und Erfahrungsforschung nach allen Richtungen gebunden und beschäftigt. Leibniz war der erste, der eine wirkliche Lösung dieses Problems suchte bzw. dem eine wirkliche Lösung dieses Problems in einem großen Weltentwurf vorschwebte. Leibniz selbst erzählt uns den Werdegang dieser Gedanken. Was er in Leipzig lernte, war freilich nichtjene cartesianische Philosophie, sondern war die ältere aristotelische Scholastik, der protestantische Aristotelismus. Aber er erkannte früh - eine berühmte Selbstschilderung sagt uns, daß das bei einem Spaziergang im Rosenthai geschah -, daß die Annahme jener aristotelischen Formgedanken, die Meinung, die Natur wäre damit erklärt, wenn man etwa sage, das Feuer lodere nach oben, weil es von Natur aus das Element des Flammens sei, angesichts der modemen Naturwissenschaft nichtssagend ist. Er machte sich ganz selbständig von dieser Herkunft der aristotelischen Tradition vom Joch des Aristotelismus, wie er es nannte -los, als er die Hypothese kennenlernte, die die modeme Wissenschaft der Mechanik ihm als die befriedigende statt dessen anbot. Es war die Hypothese von den Atomen, welche im leeren Raum stehen und die in der Verknüpfung der einzelnen Atome zu den sichtbaren Gestalten die Wirklichkeit bilden. Aber da nun zeigte sich das eigentümliche und selbständige Genie von Leibniz, indem sich diese atomistische Hypothese bei längerem Nachdenken und Prüfen als ebenso unbefriedigend erwies wie die alte aristotelische. Er erkannte, daß es
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unter dieser Voraussetzung nicht gelingt, wirklich zu begreifen, was als Einheit in dieser Welt wirklich und real ist. Er erkannte, daß diese Hypothese der mechanischen Teilchen im Grunde eine unendliche Teilbarkeit der Materie verlange und daß wir keine sinnvolle Möglichkeit haben, zu verstehen daß aus dem mechanischen Treiben solcher Teilchen gerade diese Ges~alten des Seins, die wir als Ordnung der Natur und als die Bildung von Seele und Geist aus Erfahrung kennen, hervorgehen. So kam er zu einer Art von Zurückholung des aristotelischen Gedankens der beherrschenden Formen, der Zweckprinzipien, welche dem ganzen mechanischen Geschehen der Natur gleichsam als eine übergeordnete und höhere Ordnungsform zugrunde liegen. Er zeigte, daß der Punkt, das wahrhaft Unteilbare, ein Nichts an Ausgedehntheit und etwas Unwirkliches ist und daß alles, was über den Punkt hinausgeht, jede Erstreckung, ein Kontinuum ist, d. h. aber unendlich teilbar ist und der Teilbarkeit keine Schranken setzt, so daß wir also von dieser Voraussetzung aus immer nur zu einer Zerstückelung und niemals zur Erkenntnis der Einheit kommen. Das einzige, was wirklich Einheit der Wirklichkeit ist und eine Wirklichkeit verständlich mache, sei das Geeintwerden durch einende Kraft, und das geschehe nur, Wo eine Kraft eine Wirkungsrichtung hat und wo die Folgen dieser Wirkungen, die aus dieser einen Kraft hervortreiben, gleichsam aus dieser einen Kraft hervorgehen. Er hat durch eigene Forschungen auf dem Gebiete der Dynamik, durch l-Ieranziehung gewisser Erkenntnisse der Biologie (mit Hilfe des Mikroskops hatte man damals die ersten Wassertierchen beobachtet) und aus allen möglichen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen s:ine~ Zei~ di: Hypothese entwickelt, daß die eigentlichen Einheiten der WIrklIchkeit dIese Monaden seien, die das Ganze vorstellen (>perzipieren<). Das klingt nach einem romantischen Animismus, und doch ist es ein ganz strenger Gedanke, von dem Leibniz ausgeht. Das, was ich eben am Beispiel der Kraft zeigte, gilt allgemein. Die Kraft, die auf die Folgen ihrer Wirkungen bezogen ist, ist das Schema, nach dem man jede Art von wirklicher Einheit eines Seienden denken kann, und das große Vorbild, das große Modell, an dem man solche Einheit des Seienden kennt, ist das Selbst, die Seele, das Ich - also all das, was wir im Selbstbewußtsein, in jenem cartesianischen Begriff des Selbstbewußtseins, finden. Das also ist die notwendige höhere Weltansicht, eine Erkenntnis der Realität gleichsam in der Innenansicht, in jener Perspektive, in der von einer Einheit aus die Vielheit dargestellt wird, die sie umschließt, so wie im Selbstbewußtsein die Vielheit seiner Vorstellungen dennoch immer Vorstellungen dieses einen denkenden Ichs sind. So ist überall das, was wahrhaft ist, in der Vielheit seiner Folgen eins, und von dieser Voraussetzung der wahren Einheit aus, zu der er denkend gezwungen war, kam Leibniz zu der Behauptung, die Naturwissenschaft, wie Descartes sie for-
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muliert hat, gelange nur in das Vorzimmer der Wahrheit. Im wirklichen Kabinett der Natur sind in Wahrheit andere Gedanken, Zweckgedanken, entscheidend, und das wahre Sein ist die prästabilierte Harmonie dieser Formen, zusammengefaßt in einer obersten Zentralmonade, die >Gott< heißt. Es war also eine wissenschaftliche Notwendigkeit, die Leibniz zu dieser künstlichen und waghalsigen und - wie wir eingestehen müssen - wissenschaftlich sehr bald überholten Hypothese veranlaßte. Die Sinnbezüge di~ser Hypothese aber schlossen Momente ein, die gerade in dem Augenblick (der nicht lange aufsich warten ließ), in dem die Kritik diese Hypothese zerstörte, ein eigenes Leben begannen. Es war ja nicht schwer, diese Hypothese zu kritisieren. Am allerwenigsten war es schwer, die theologische Voraussetzung des Ganzen zu bestreiten, jene phantastischen Bemühungen Leibnizens, zu zeigen, daß diese Welt mit all ihren Furchtbarkeiten und Verwirrungen dennoch die bestmögliche Ordnung des Seins überhaupt darstellt. Leibniz hat diese Behauptungen im wesentlichen dadurch gestützt, daß er die neue Erkenntnis von der Unendlichkeit des Universums auswertete. Ersuchte zu zeigen, daß wir gar nicht die Maßstäbe haben, über all das eine Rechnung aufzumachen, über Gutes und Böses in der Schöpfung, über die Verteilung von Freuden und Leiden der Kreatur. Denn jene Einheit, die wir übersehen, dieser unser Planet, istja nur ein winziges Gebilde inmitten des damals gerade in seiner Unendlichkeit aufgegangenen Kosmos, und wer wollte sich erkühnen zu wissen, daß Gott es besser auf dieser Erde hätte einrichten können wenn wir so wenig von dem Ganzen seines Schöpfungsplanes zu überschaue~ vermögen. Diese Hypothese mit ihrer Rechtfertigung des Leidens und des Bösen war, insbesondere von der täglichen Erfahrung der Menschen und dem Geist, der diese Erfahrungen gebiert, leicht zu widerlegen. So wurden Teilkräfte des Leibnizschen Denkens feie Und es muß ausgesprochen werden, daß diese Teilkräfte des Leibnizschen Kosmos, die nun aus dieser metaphysischen Klammer sich loslösten, verhängnisvolle, schicksalsvolle Wirkungen aufdie deutsche Geschichte des Geistes ausgeübt haben. Da ist vor allem jene Entdeckung Leibnizens, die wir im Begriff der Kraft kennenlernten. Sie hatjene für das deutsche Wesen so eigentümliche und doch auch so gefahrvolle Vorliebe für das Dynamische im deutschen Geiste erweckt. Das Ausland pflegtja geradezu von dem deutschen Dynamismus zu sprechen, von jener Tendenz, alle vorgegebenen Ordnungen jeweils nur als Versteinerungen, als vorübergehende Verkrustungen eines sprengenden Schaffenswillens und Wirkungswillens zu betrachten. Gerade die Zerstörung und Verpönung aller bleibenden und statischen Ordnung, jenes sich so gern aufFaust berufende Selbstbewußtsein der deutschen Seele, hat sich durch den von Leibniz entwickelten Kraftbegriff auf dem Wege über'Herder bestätigt. Und ein Zweites: Leibniz ging davon aus, daß die Perzeptionjener Monadenja nur in den allerseltensten Fällen - dort, wo sie nämlich zur Geistesklar-
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heit des Selbstbewußtseins gesteigert sind - selbständiges, freies, klares Perzipieren, Vorstellen, sind. Im allgemeinen ist es ein verworrener Zustand, wie eine solche Einheit des Seins dem Ganzen des Universums entspricht, wie sie es spiegelt. Die unbewußte Vorstellung geht der Steigerung zum Bewußten voraus und ist das ursprüngliche Sein. Auch das hat insbesondere in der deutschen Romantik zu einer ungeheuren Wirkung geführt und hat jenen romantischen Irrationalismus mitbegründet, dessen Wirkungen bis in die Verhängnisse unserer Tage reichen. Damals geschah jene Abdrängung der Wissenschaft aus dem Gesamtbewußtsein d~s Geiste~, der auf der anderen Seite entspricht, daß das ästhetische BewußtseIn, daß dIe Erfahrung, welche uns die Kunst als eine Wahrheit eigener Art vermitte.lt, subjektiv und außerhalb der wissenschaftlichen Begrifflichkeit g~le~e~ seI. Endlich ein Drittes: Jene Lehre von den Perspektiven, von den mdlvlduellen Einheiten des Seins, die jeweils ihre eigene Weltperspektive haben, ist die Vorform jenes historischen Individualismus und Relativismus, der im 19. Jahrhundert das historische Bewußtsein und das historische Denk~n ~er deutschen Wissenschaft besonders stark bestimmt hat. Jede Perspektive 1st gleichsam gleichberechtigt, und es ist notwendig, die Wahrheit von einer Fülle solcher möglichen Ausgangspunkte aus anzuvisieren. Das gab der historischen Wissenschaft das Selbstbewußtsein, daß es auf das erfahrbare Individuelle im Geschehen der Geschichte allein ankommen könne und daß ein begreifendes Durchdringen des Ganzen unseres gesellschaftlichen Schicksals eine Unmöglichkeit sei. Und schließlich als Letztes, aufs Ganze gesehen, der methodische Subjektivismus, der sich aus Leibnizens Philosophie herleitet, d. h. die Meinung, die unser ganzes Denken seither insbesondere durch die Gestalt des deutschen Idealismus beherrscht, daß alles, was Geltung hat, alles, was auf wahres Sein Anspruch erheben kann, aus einer Schöpfung unserer subjektiven Verstandeshandlung letzten Endes begriffen werden muß. Dieser Subjektivismus der neuen Zeit hat ja am Ende zu dem tiefen Gefühl geführt, daß die Kritik am Idealismus der'letztenJahrzehnte das deutsche Kulturbewußtsein stärker noch als das der anderen Kulturvölker mit einer großen Last stimmungsmäßiger und geistiger Art beladen hat. Alle diese vier Formen romantischer Nachwirkung des Leibnizschen Denkens sind gleichsam Vorformen und Wegbereiter jener Krise des Nihilismus undjener Verzweiflung an der Vernunft, deren Formen uns schmerzhaft bewußt sind. Demgegenüber scheint mir die Aufgabe, die uns das unerschöpfte Vermächtnis Leibnizens darstellt, hier an das in seinem theologischen Weltbild gebundene Wissen anzuknüpfen. Wir wissen, daß Leibniz gegenüber jenen deutschen Krankheiten die Abwehrmittel gewann: die Einsicht, daß der Begriff der Kraft bei Leibniz auf den Begriff der Vemunft bezogen ist, daß
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jene Kraft, die sich selbst verdrängt und über sich selbst hinaus steigert, gerade zum aufgeklärten Selbstbewußtsein aufsteigt und die Ordnung des Seins, wie sie die Gottesentelechie geschaffen hat, nachzudenken vermagin den Grenzen der endlichen Möglichkeiten des Menschen. Und wenn das Unbewußte als eine primäre Gegebenheit gegenüber der Macht der Vernunft erscheint, so wird uns ebenfalls Leibniz erinnern, daß die Aufklärung des Geistes gerade zur Einsicht in das Kunstwerk der Welt führt und daß jener Sinn für Proportionen, jene nicht begreifende, noch konfuse, noch unbestimmte Wahrnehmung und Empfindung der geheimen Gesetzmäßigkeit des Seienden, wie sie uns die Kunst bietet, keine andere Welt gegenüber der Wahrheit der Wissenschaft ist, sondern eine andere Form, die die gleiche Aufg~~e der Erkenntnis des Universu~s fö~dert. D~r P~rsp~ktivismus unp RelatIVISmuS des modernen Denkens WIrd SIch an Leibniz ennnern müssen, daß ja gerade das Universum in dieser Perspektive, daß gerade die nach Leibniz von Gott geschaffene Ordnung des Seins von diesem Blickpunkt aus sichtbar wird. Und so wird endlich die Aufgabe, wie sie Leibniz zu seiner Zeit formulierte, von unseren Voraussetzungen aus als Aufgabe noch immer erkannt und übernommen werden müssen: das Weltbewußtsein des Menschen, jene Welt menschlicher Lebenserfahrung, in der uns Bedeutendheiten begegnen, in der uns Entscheidungen aufgezwungen werden, in der wir also einheitliche Zusammenhänge begreifen und schaffen, mit jener anderen W~lt der durch die Wissenschaft bezwungenen Natur und gestalteten ZivilisatIon zu verknüpfen und das Weltbild der physikalischen Wissenschaft mit dem allgemeinen Lebensbewußtsein des Menschen zu versöhnen, ohne in den bequemen Ausweg eines irrationalen Bildungsdenkens zu verfallen. ~ür Leibniz ~ar das die große Versöhnung von Vernunft und FrömmigkeIt. Vor uns WIrd - aus welchen Kräften es uns immer gelingen wird, ob e~enfalls aus uner~chöpften Kräften der christlichen überlieferung oder aus emem neuen sozIa~en Kraftbewußtsein unserer Generation - die gleiche Aufgabe stehen, dIe Ordnung des Seins wieder ganz in das Bewußtsein unseres .Lebens aufzunehmen und der Vernunft die ihr demgemäß gebührende fuhr.ende Ste.llung zurückzugeben. Die Ordnung des Seins begegnet ~ns aber nIcht nur In dem großen Schauspiel der Natur, sondern auch, wie SI: dem Menschen für die Ordnung des menschlichen Seins aufgegeben ist. ~Ie g~oßen .Gedank.en ~es Völkerrechts und der Rechtsordnung überhaupt, di~ dem ]unste? LeIbnlz von Anbeginn an als eine der großen Aufgaben in semer phantas~schen Weltsicht vor Augen standen, sind auch für uns eine der großen, Wiederzugewinnenden Aufgaben des allgemeinen Bewußtseins unseres Volkes. Und so darfich damit schließen, daß ich diesen kurzen Abriß des Leibniz~chen r::>enke.ns und seiner geschichtlichen Wirkung vor Augen stellte, damit Jene DIffamIerung der Aufklärung, die aus der Leibnizschen Schule ein
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verhängnisvolles Erbe des deutschen Geistes geworden ist, und jener Triumph des Schulmeistergeistes, der in der Wolffschen Schule schließlich zur tiefsten Diskriminierung dieser Dinge geführt hat, durch die ganze Tiefe, mit der Leibniz die Aufgabe der vernünftigen Aufklärung des Menschen erfaßt hat, überwunden wird. Dann wird uns aus Leibniz in der überwindung nicht nur der verzweifelten Lage, in der wir selbst uns als Volk befinden, sondern mehr noch - in der ständig drohenden Verzweiflung an dem Schicksal und den Möglichkeiten der menschlichen Kultur überhaupt - gegen die Gefahr des Kulturpessimismus eine neue Kraft erstehen, eine Kraft aus dem unsterblichen Geiste Leibnizens. Die Tiefe dieses Leibnizschen Optimismus, der Drang und Geist zugleich umfaßt, der nicht auf die platte, nüchterne Verständigkeit eines bloßen Zweckdenkens abzielt, sondern das Geheimnis des Lebens mit der Kraft des Geistes zu bewältigen sucht, das ist, wie ich hoffe, der neue Leibniz, der am Ende in das allgemeine Bewußtsein unseres Volkes zu seinem Besten und zum Besten von unser aller Zukunft eingehen möge.
Die Stellung der Philosophie in der heutigen Gesellschaft
25. Die Stellung der Philosophie in der heutigen Gesellschaft (1967)
In einer Stunde, in der die gesellschaftliche Entwicklung und die beherrschende Rolle von Wissenschaft und Technik, Technik der Natur- und der Menschenbeherrschung, die alte Stellung der Philosophie als Königin der Wissenschaften zu entthronen begonnen hat, in einer Stunde, in der selbst im Unterricht der Universitäten und der künftigen Lehrerbildung die Rolle der Philosophie in Frage gestellt ist, erschien es mir richtig, in meinen einleitenden Worten nicht unmittelbar zur Sache zu sprechen, und ohne den Ehrgeiz, dem Fachmann etwas Neues zu sagen, vor dem öffentlichen Bewußtsein Rechenschaft darüber zu geben, was wir uns bei unserer Existenz, was wir über unsere Gegenwart und über unsere Zukunft, d. h. über unsere Aufgaben in der heutigen Gesellschaft, denken. Die Allgemeine Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, die diesen Kongreß veranstaltet, ist kein Fachverband. Hier sind \~leit über die Grenzen der Lehrer und Forscher auf dem Gebiete der Philosophie hinaus Persönlichkeiten versammelt, denen Philosophie mehr ist als nur eine der Wissenschaften, in denen sie ihre Ausbildung gefunden haben oder in denen sie produktiv arbeiten. Mehr - aber in manchem vielleicht auch weniger, und gerade deshalb erregend und beunruhigend. Wir begrüßen alle, die es zu einem philosophischen Austausch drängt u~d die sich deshalb als Mitglieder in unserer Gesellschaft vereinigt haben. WIr begrüßen auch alle Gäste, die aus dem gleichen Antrieb heraus an unserer Arbeit teilnehmen wollen, und verzeichnen das große Interesse, das di~ öffe?t1ichen Nac~richtenmittel unserer Sache entgegenbringen. So drangt SIch von dem Außerlichsten der Situation her die Frage auf, der ich meine Betrachtungen widmen möchte. Was vereinigt hier, was führt hier die Fachleute und einen weiteren Kreis von Liebhabern so zusammen, wie wohl keine andere Wissenschaft sonst das Zusammenkommen zwischen Fachleuten und Liebhabern pflegt? Ist das legitim? Und woher hat es seine Legitimation? Oder bedarf es keiner Legitimation für das Interesse an der Metaphysik als einer Naturanlage des Menschen? Ist die alte Antwort noch wahr, die schon Plato auf einen seiner berühmten Zeitgenossen gemünzt hat, wenn er von ihm sagte: In dieses Mannes Geist ist von Natur etwas von Philosophie?
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Nun ist das Wort >Philosophia<, das Plato an dieser Stelle gebraucht, freilich etwas anderes, als wir heute unter diesem Worte verstehen. Es ist nur zu einem Teile das gleiche. Denn unser Begriff von Philosophie ist tatsächlich durch den Gegensatz und den Unterschied geprägt, der zwischen der Philosophie und der neuen Wissenschaft besteht, die im 17. Jahrhundert aufkam und seitdem das Zeitalter der Moderne bis in die letzten Fasern hinein bestimmt. >Philosophia< bedeutete ehedem auf selbstverständliche Weise beides, den Inbegriffdessen, was man erkennen und wissen kann, und den stets unbefriedigten Drang nach letzten Erkenntnissen - und das so, daß der Gegensatz zwischen dem einen und dem anderen überhaupt nicht strittig war. Spezialisten hat es gewiß auch damals schon gegeben, aber sie waren mehr eine zufällige Begrenzung in der universalen Tendenz des Wissenwollens. Der griechische Ausdruck für diese Spezialisierung ist >Techne<, und >Techne< heißt eigentlich Kunst, d. h. Ersinnung von Möglichkeiten des Herstellens aus vorgängigem Wissen. >Techne< heißt aber zugleich auch das Lehrbuch, das praktische Handbuch, durch das man Rhetorik, durch das man Baukunst, durch das man Astronomie oder was immer als ein lehrbares Ganzes vermittelt bekam. Sie meint also die Wissenschaft selbst. In diesenl Sinne war >Philosophia< immer der Inbegriff alles dessen, was man überhaupt zu wissen vermag. Heute aber herrscht die Spezialisierung. Sie ist das Gesetz der modernen Wissenschaft. Die sogenannte Synthese, die der Laie von der Philosophie zu verlangen oder sich von ihr zu wünschen pflegt, ist sie legitim? Ist sie nicht immer die Synthese der Wissenschaften von gestern, und ist dies noch Wissenschaft, die Wissenschaften zu einem Ganzen zu vereinigen, ohne ihren Erkenntnissen dabei etwas hinzuzufügen? Die Frage ist ernst genug. Sie läßt sich nicht abweisen. Hat nicht die Wissenschaft inzwischen das Erbe der Philosophie angetreten, und das mit einer steigenden Ausschließlichkeit? Wenn schon der frühe Positivismus das Zeitalter der Metaphysik durch das Zeitalter der Wissenschaft abgelöst meinte, hat nicht inzwischen der Lauf der Geschichte - nicht zuletzt durch die Ausbreitung der europäischen Zivilisation über den ganzen Erdball gezeigt, daß die Wissenschaft am Ende auch über alle Ersatzgestalt.en vO,n Metaphysik triumphiert, die unter dem Namen» Weltanschauung« dIe BreItenwirkung der Philosophie in den letzten hundert Jahren gebildet haben? Wer hier in Heidelberg im vorigen Jahre den mit Max Webers berühmtem Namen verknüpften Allgemeinen Kongreß für Soziologie erlebt hat, die bis zum letzten Platz gefüllte große Aula und diese jugendlichen Scharen soziologischen Fußvolkes, die da aufmarschiert waren, kann sich über die Zeichen der Zeit nicht täuschen. Läßt sich aus dem weltanschaulichen Bedürfnis, wie man zu sagen liebte, überhaupt noch eine Legitimation für unsere Arbeit gewinnen? Sind wir nicht gerade durch die emotionalen und affektgeladenen Momente, die mit dem Wesen der Weltanschauung verknüpft
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sind, durch den unheilvollen Fanatismus, der sich mit dem weltanschaulichen Bedürfnis zu verbinden pflegt, genugsam gewarnt? Fühlen wir uns nicht auf die Wissenschaft verpflichtet und können damit auch nur ein~r wissenschaftlichen Philosophie - und das ist bis heute fast immer nur eine Philosophie der Wissenschaften gewesen - eine solche Legitimation zugestehen? In der Tat scheint es mir charakteristisch für die Lage der Philosophie in der heutigen Gesellschaft, daß die Gesellschaft die Ersatzgestalt von Weltanschauungen, die in den letzten hundert Jahren der Philosophie etwas von ihrem universalen Anspruch bewahrte und ihr einen fast religionsähnlichen Zauber verlieh, mit dem gleichen Verdacht belegt, der auf der Traditionsgestalt der Metaphysik seit langem lastet. Heute, im Zeitalter der immer weiter um sich greifenden wissenschaftlichen Durchdringung und Lenkung unseres Lebens, scheint nur noch eine einzige wirkliche Basis für das öffentliche Interesse an der Philosophie zu existieren, und das ist ihre Bedeutung und ihr Nutzen für die Wissenschaft. Das aber hieße, Philosophie erscheint im Zeitalter der Wissenschaft nur legitimierbar als Positivismus - mag auch der Inhalt dieser Formel »Positivismus« in einer großen Bedeutungsbreite schwanken, zwischen der Erneuerung des Positivismus durch die von Mach ausgehende Bewegung, die über Wien schließlich die ganze Welt überzogen hat, und der von Husserl entgegengestellten apriorischen Wesenslehre, die der wahre Positivismus zu sein beanspruchte. Nicht umsonst hat gerade der letztere, hat Husserl in seinem Programm von 1911 sein Beginnen betitelt: >Philosophie als stenge Wissenschaft< und hat damit gegen die Weltanschauungsphilosophie Position bezogen und später, 1935, die gewaltige Wirkung seines genialen Schülers Heidegger in den zwanziger Jahren als ein Überbranden des weltanschaulichen Bedürfnisses über die Philosophie als strenge Wissenschaft beklagt. Der Historismus, das, was die deutsche Philosophie bis zum heutigen Tage auszeichnet und Gegner und Verteidiger des Historismus in gleicher Weise verbindet, erscheint heute vielen als eine romantische Fehlentwicklung der spätbürgerlichen Epoche, und vollends ist der jungen Generation der Anspruch, den der esprit definesse darstellt, beunruhigend. - Das Wort »Bildung«, dieses so wenig Greifbare und so wenig Mechanisierbare, ist vollends dem Sicherheitsbedürfnis und dem Nüchternheitspathos unserer Zeit verdächtig. Und was mehr ist, sein Anspruch beginnt der Jugend langsam fremd zu werden. Insbesondere das aus der neopositivistischen Schule hervorgegangene Bestreben einer >Philosophy of science< - in Deutschland erst im Re-Import langsam wirksam werdendscheint heute vielen als das dringendste Desiderat, ja, als die einzige Legitimation der Philosophie im Leben eines wissenschaftlichen Zeitalters. Wenn man indessen wirklich die Legitimation der Philosophie in ihrem Nutzen für den Fortschritt von Wissenschaft und Forschung suchen wollte,
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dann stünde es wohl heute schlechter mit ihr, als die Vertreter des philosophischen Positivismus sich eingestehen. Schwerlich hat je, seit es eine >Philosophy of science< gibt, die >science< selbst, d. h. die ernsthafte Forschung, erst aus den theoretischen Klärungen der Begriffsbildung und der sprachlichen Fixierung, die dort betrieben werden, ~twas ~u lernen gehab,t. Der nlodernen Wissenschaft im Sinne von >science< hegt vIelmehr selbst eIn positi~v"istisches Postulat zugrunde, das ihr so selbstverständlich ist, daß der Forscher als solcher darüber kein Wort und keine Zeit zu verlieren braucht. Die Rechtfertigung desselben ist nicht seine Sache. Niemand würde vom Positivismus und seiner Bedeutung reden oder je geredet haben, wenn es nicht die Metaphysik und ihren Anspruch, die erste aller Wissenschaften, die Philosophia prima zu sein, gäbe. Niemand würde aber, wie ich meine, mit solcher polemischen Verve von der >science< und ihrem Methodenideal das Heil erwarten, wenn es sich dabei nur um die Naturwissenschaften handelte. Hier ist nichts strittig. Für sie ist es eine gelassene Selbstverständlichkeit, daß alle Aussagen der Forschung verifizierbar sein müssen und überhaupt nur einen Erkenntnissinn haben, wenn sie einen Weg der Verifikat.ion oder der Falsifikation einschließen. Anders freilich ist es auf dem Gebiete der sogenannten Geisteswissenschaften. Dort ist heute die Parole der Verifizierbarkeit zu einem Kampfruf geworden, der die Verwandlung der geschichtlichen Wissensch~fte~ in Sozialwissenschaften echter methodischer Prägung fordert. Und hier hegt die Wurzel des Enthusiasmus, mit dem die positivistische Theorie einer jungen Generation die Befreiung von uneinlösbaren, .dun~len un~ anspruchsvollen Spekulationen verheißt. Was an den geschIchtlI~he~WIsse~ schaften Wissenschaft ist, soll der gleichen Bedingung der Venfizlerbarkelt entsprechen wie die Naturwissenschaften und ist, methodisch g~sehen, im gleichen Sinne >science<. Was an ihnen nicht in diesem Sin.ne W:Issenscha~t ist, gilt einfach als rückständig. Die Soziologie vor allem memt, dIe romantIsche Periode der deutschen Geisteswissenschaften endlich in >science< beenden zu können, ohne die humanities oder belles-lettres, die in unseren N achbarländern freilich von einem selbstverständlichen Gemeingeist getragen werden, anders als mit einem mitleidigen Blick zu streifen. Nun hat diese Tendenz, die durch die Wandlungen unseres gesellschaftlichen Lebens, durch die Bedürfnisse der hochindustrialisierten Wirtschaft und durch den modernen Verwaltungsstaat sich immer mehr steigert, ihre Rückwirkung auch auf die Thematik und den Arbeitsstil der Philosophie selbst. Wenn es ehedem hieß, daß Aufgabe und Wahrheitsmöglichkeit der Philosophie grundsätzlich über das hinausliegen, was methodischer Veri~ kation fähig ist, weil sie die transzendentalen Bedingungen der MöglichkeIt aller Erfahrung zu ihrem Gegenstande haben, scheint heute die Devise ei~e ganz andere. Philosophie soll dem, was in den Wissenschaften TheOrIe
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heißt, gleichen. Auch philosophische Aussagen müssen in ihrer logischen Konsistenz unanfechtbar sein, das ist die erste Forderung des wissenschaftlichen Bewußtseins an die Philosophie. Und lieber sich mit trivialen Einsichten begnügen, die auf exakte Weise erworben sind, als angeblichen Tiefsinn ohne methodische Sicherung wagen. Man muß darin eine Wirkung des Gesetzes des Kontrastes sehen und damit eine in sich berechtigte Gegenbewegung - aber man wird an sie, meine ich, die Erwartung knüpfen Inüssen, daß die bessere Übung im logischen Handwerk sich mit der Wachheit eines echten Problembewußtseins und mit der Leidenschaft des radikalen Fragens fruchtbar vermitteln möge. Was aber sind die Probleme, denen ein wachsames Problembewußtsein sich heute öffnen muß? Hegel hat, nachdem Kants große Zerstörungstat an der Schulmetaphysik des 18. Jahrhunderts zu vollem Erfolge geftihrt hatte, die herausfordernde, oder besser: die alles wieder ins gleiche stellende Formulierung gewagt, ein gebildetes Volk ohne Metaphysik zu sehen sei wie einen sonst mannigfaltig ausgeschmückten Tempel ohne Heiligtum. Ist es die Gestalt der Metaphysik, auf die alles Bemühen der Philosophie auch unserer Tage letzten Endes gerichtet ist? Hat die Metaphysik in der Gestalt, die ihr Aristoteles oder die ihr Thomas gegeben hat, oder hat sie in der Gestalt, welche die nachkantische Transzendentalphilosophie mit Fichte und Hegel wieder annahm, oder hat sie als die drängende Frage nach der Überwindung der Metaphysik, wie sie Heidegger in unseren Tagen gestellt hat, noch eine privilegierte Stellung? Ist das, was wir so selbstverständlich als die Tradition der abendländischen Philosophie ansehen, am Ende eine selber bedingte Gestalt des gesellschaftlichen Geistes, eine Art Klassenideologie des Bildungsbürgers, der ahnungslos die regressiven und repressiven Tendenzen der gesellschaftlich und wirtschaftlich Privilegierten unterstützt? Solches scheint uns die Ideologiekritik zu sagen. Ist der große Säkularisierungsprozeß des Christentums, der die abendländische Neuzeit ausfüllt, auf dem Felde der Philosophie nur noch nicht zu Ende gedacht, so daß es theologische Endgestalten sind, die in der Philosophie von gestern, in der transzendentalen Philosophie der Freiheit, der Erfahrung der Grenzsituationen bei Jaspers, der These von der Seinsvergessenheit bei Heidegger, der These von der Gottesfinsternis bei Martin Buber erkennbar sind, letzten Endes Ausfaltungen der theologischen Lehre von dem Deus absconditus? Nicht zu reden von der Gestalt der Philosophia perennis, die den natürlichen Teil der katholischen Theologie ausmacht und die mühsam den Anschluß an den modernen Geist zu wahren sucht. Ist es so? Oder gibt es einen unaufgelösten Zwiespalt zwischen der Wissenschaftstheorie der Moderne und dem Erbe der klassischen Metaphysik - und ist erst die Aufgabe, über diesen Zwiespalt in Wahrheit hinaus zu sein und beides zu umfassen, die Aufgabe der Philosophie?
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In der Tat, die heutige Gesellschaft, von ihren technologischen Träumen erfüllt und von den Berauschungen des technokratischen Taumels bewegt, ständig genötigt, über die Grenzen des durch die Wissenschaft Erkannten hinaus Entscheidungen zu treffen, und das heißt, Erkenntnis zu behaupten, wenn es auch nur Wahrscheinlichkeiten sind, die dabei als wahr unterstellt werden können - gerät sie, indem sie sich nur auf die Wissenschaft beruft, nicht in die undurchschaute Abhängigkeit von all dem, was wahrhaft entscheidet und entschieden wird? Denn die Wissenschaft hat zu all dem nichts zu sagen, weil es wissenschaftlich nicht gesichert werden kann. Müssen wir da nicht anerkennen, daß die Grenzen unserer wissenschaftlichen Erkenntnis bei allem Fortschritt der Wissenschaften - ja gerade wegen des Fortschrittes der Wissenschaften, wegen des zum Wesen der Wissenschaft gehörigen Nichtstillstehens - eine Antizipation des Ganzen notwendig machen? Und ist es nicht das Unheilvolle unserer Lage, daß die Traditionsgestalten der Metaphysik und der sie auflösenden und ablösenden Weltanschauungen, in denen eine solche Antizipation des Ganzen noch auftritt, unglaubhaft geworden sind? Woran sich halten, wenn Sich-an-die-Stimme-des-Expertender-Wissenschaft-Halten in Wahrheit dem gleichkommt, sich in undurchschauter Weise den Manipulationen derer zu überlassen, die die Wissenschaft ihren Machtinteressen dienstbar machen? Woran sich halten? Wir sind mit dieser Frage an das Thema herangekommen, das uns in diesen Tagen beschäftigen soll. Denn es gibt eine Antizipation des Ganzen, die allen teilhaften Schematisierungen der Wissenschaft schon vorausliegt und sie umfaßt. Das ist die Sprache, in die wir hineinwachsen und in der wir miteinander reden und uns als Handelnde miteinander verständigen, über uns selbst und über unsere Welt. Ich meine Sprache nicht alsjenes Objekt der Wissenschaft, rätselvoll, reizvoll, vielfaltig und voller Überraschungen, wie es die Sprachwissenschaften bearbeiten, sondern das Thema Sprache als Unterpfand eines unausweichlichen Bezugs auf das Ganze unseres In-derWelt-Seins. Mir scheint, dieses Thema der Sprache ist der legitime Zugang, an dem sich das Problembewußtsein unserer Tage orientieren kann. Denn hier ist nichts vorentschieden, nichts von dem vorausgesetzt, was sich den verschiedenen geistigen Antrieben unserer Zeit jeweils als Vorurteil, als undurchschautes oder als unzureichend erkanntes Vorurteil entgegenstellt. Die sprachliche Weltauslegung, in der wir aufwachsen und die uns die erste Prägung gibt, ist freilich selbst von Herkommen, Überlieferung, undurchschauten Vorurteilen der Gesellschaft, Bedingungen d~s geschichtlichen Lebens bestimmt. Insofern liegt nicht in der Sprache als solcher irgendein Kriterium oder Ansatzpunkt für die Befreiung von Vorurteilen oder ftir die Veränderung der Welt in Richtung auf das Richtige. Aber in ihr geschieht das Gespräch - über die gesellschaftlichen Gruppen und Parteien, über die Nationen und Kulturen hinweg: Sprechen zu können heißt, sich über die
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eigenen Grenzen erheben zu können. So impliziert die universale Möglichkeit des menschlichen Gesprächs, des Miteinander- und des Gegeneinanderredens, einen Bezug aufVernunft als das gemeinsame menschliche Medium, in dem Einsicht gelingt. Einsicht aber heißt immer bessere Erkenntnis. Einsicht wird dort, wo die Wissenschaften etwas wissen, ihnen folgen. Aber sie wird als Einsicht wissen, daß nicht die Summe der Erkenntnisse aller Einzelwissenschaften Wahrheit garantieren oder auch nur ermöglichen kann. Einsicht legt Vorurteile ab und liebgewordene Denkgewohnheiten; Einsicht erkennt an, was einem von der Sache her oder vom anderen Menschen her entgegentritt. Nun ist vielleicht nichts so charakteristisch für das Gesetz der modernen Wissenschaft, als daß ihre eigentliche sprachliche Fixierung sie in weitem Umfange durch die ihr notwendige Zeichensprache der Mathematik und der Formeln in den elfenbeinernen Turm ihrer methodischen Einsamkeit einschließt. Trotzdem bleibt die Sprache für uns alle, auch für die Forscher, die sich an die strenge Methode ihres Faches gebunden wissen, die Lebensform unserer menschlichen Erkenntnis. Als eine Gestalt und Vollzugsform des Lebens wird sie den Fortschritt an Erkenntnis, wo er sich bietet, einbeziehen und sich niemals von der Veränderung der materiellen und ideellen Bedingungen unseres Lebens abscheiden. Sie wird sich im technischen Zeitalter ändern. Die Sprache des technischen Zeitalters, die mehr und mehr die Sprache der jüngeren Generation wird und die uns Altere mit der leise komischen Attitüde des altmodisch-kunstvollen Redegebrauchs zeichnet, bleibt noch Sprache. Unzweifelhaft ist die Verfremdung, die mit der technischen Begriffsapparatur in die Sprache eindringt, selbst ein Ausdruck und Abdruck unserer Wirklichkeit, in der wir leben. Aber diese Verfremdung zu einer rein funktionalen Sprache, die aus technischer Nomenklatur und exakt klingenden Feststellungen und Folgerungen besteht, geht in die Sprache, die wir alle sprechen, ein und erleidet damit die Dialektik der Präzision. Um das kurz auszuführen: Man kann wohl sagen, je profilierter der Wortgebrauch ist, den Wissenschaft und Technik hervorbringen, desto größer wird auch die Spannung zu dem von diesen Hilfsmitteln freien Wort, das am Ende als das treffende Wort immer wieder gesucht werden muß und das die Verständigungsmöglichkeiten, auch die der Fachleute, inl Grunde trägt. Wir als Philosophen, gerade wenn wir vor einem weiteren Kreis von Gästen zu unseren Gesprächen zusammenkommen, wollen es gern eingestehen: Wir haben in unserem eigenen Tun genauso Grund, uns kritisch zu betrachten, wie diejenigen, die den Jargon der Technik und der Montage in ihre Lebenssphäre und Sprachsphäre eindringen lassen. Ich gebrauchte eben das Wort »Jargon« - ein Wort, das, wie mir scheint, treffend bezeichnet, was hier Echtes und was hier Falsches ist. Jargon ist nicht gleichbedeutend mit dem Gebrauch einer Terminologie.
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Jede Terminologie wächst aus den gegebenen Möglichkeiten des Sprechens heraus und bleibt an sie zurückgebunden. Jeder Terminus und jedes terminologische Sprechen muß mindestens durch die natürliche Sprache erläutert werden können und muß auf diese Weise in gewissem Umfange immer wieder in das Leben der Sprache zurückzukehren wissen. Es gibt sicher auf den verschiedenen Gebieten sehr verschiedene Funktionen der Terminologie. So ist es eines der Verdienste des Sprachforschers Johannes Lohmann, gezeigt zu haben, wie auf den Gebieten, in denen vollkommen neue Gegenstände erkannt werden, z. B. in der Mathematik, die Terminologie sozusagen eine autonome Funktion hat, während sie überall dort, wo sie mit der in der Sprache wirksamen Lebenserfahrung kommuniziert, auch an die Grenze dieser Sprache zurückgebunden bleibt. Terminologie ist eine Forderung des präzisen und nach Eindeutigkeit strebenden Wortgebrauchs im wissenschaftlichen Erkennen. Dagegen ist der Jargon, wie ich meine, gerade dadurch gekennzeichnet, daß er gegen das Sprechen oder mit dem Sprechen nicht mehr kommuniziert, daß er eine ausschließende Funktion übt; ob es der Jargon einer Verbrechergilde oder einer philosophischen Gesellschaft ist, spielt dabei keine Rolle. Der Jargon, der eine ausschließende Funktion ausübt, indem er eine schon vorgeformte Sprache und' Ausdruckswelt darstellt, an die man sich hält, scheint mir in unserer Zeit genauso eine Gefahr für das Sprechen der Philosophie, wie eine Gefahr für das Sprechen der Menschen untereinander der Einbruch der technischen Nomenklaturen ist. Ob es sich um Restgestalten des spekulativen und romantischen Idealismus handelt, etwa in Nachwirkung Othmar Spanns und seines Ganzheitsbegriffs, ob es sich um den Jargon der Phänomenologie handelt, die ihre Begrifflichkeit mit den Mitteln des Neukantianismus zu ordnen versuchte, oder ob es sich um den Jargon der positivistischen Theorie handelt oder um den des Marxismus, ob es sich um den Jargon der Eigentlichkeit oder den Jargon der Uneigentlichkeit handelt, immer ist da unmittelbare Sachnähe verfremdet. So läßt es sich heute als die allgemeine Aufgabe des philosophischen Denkens fonnulieren, diesen Verfremdungen zu widerstehen, sie zurückzuschnlelzen in echte, denkende Anstrengung. So könnte sich, wie ich glaube, die gegenseitige Überfremdung, die zwischen der Methodik der Wissenschaften und den Antizipationen unserer Welterfahrung spielt, klären und reinigen. Noch hat sich die Bedeutung der Sprache als des universalen Feldes unserer menschlichen Erkenntnis und Vernunftübung nicht in ihrer vollen Universalität in unserem Problembewußtsein angesiedelt. Da gibt es auf der einen Seite unter den Stichworten der positivistischen Erkenntnistheorie Theoretiker, welche von der Schaffung einer exakten Sprache im Stile einer >characteristica universalis< des Leibniz eine allgemeine Reinigung unseres philosophischen Bewußtseins erwarten und dabei vielleicht nicht genug in
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Die Stellung der Philosophie in der Gesellschaft
Rechnung stellen, welche Rückbindung an natürliche Sprache und ihren Bezug auf das Ganze der erfahrbaren Wirklichkeit in jeder Zeichensprache impliziert ist. Umgekehrt gibt es Analytiker der Umgangssprache, die ihr gleichsam ihre logische Struktur abhorchen wollen. Und gewiß ist es wahr, daß Sprache ein zentraler Punkt aller Erkenntniskritik ist, wie schon Bacons Denunzierung der Idola fori gezeigt hat. Philosophie ist immer auch Sprachkritik. Aber dennoch ist und bleibt Sprache der riesige Rahmen, der die jeweilige Summe unserer menschlichen Lebenserfahrung und der Erfahrung der Wissenschaften umschließt. N eben die Sprachlogik und die Wissenschaftstheorie, die dem Problem der Sprache die Sorgfalt ihrer logischen und analytischen Kunst widmen, werden ganz andere Formen wissenschaftlicher, philosophischer Forschung treten müssen, wenn man die wahre Universalität von Sprache und Vernunft nicht verkürzen will. Heute scheint mir in Amerika bereits in großem Umfang eine solche Bewegung in Gang zu kommen,- auch in einigen europäischen Ländern gibt es Ansätze dazu. Sie gründet sich auf die Bedeutung der Rhetorik als der Wissenschaft vom Sprechen, vom sprachlichen Wirksammachen des Wahrscheinlichen. Gerade in einem Zeitalter, das sein Selbstbewußtsein in der Wissenschaft hat, gilt es, darauf hinzuweisen, daß die Wissenschaft außerhalb der engen Forschungsstätten der Wissenschaft - und in gewissem Umfange sogar innerhalb derselben - überhaupt keine Wirksamkeit hätte ohne Rhetorik, d. h. ohne die Kunst, etwas, was andere nicht recht verstehen können, ihnen dennoch überzeugend zu machen. Wir sind der Physik gegenüber fast alle in dieser beklagenswerten Lage, von ihr gar nichts zu verstehen und doch aus ihren Erkenntnissen zu leben, und sind auf die in einem weiten Sinne geübte, legitime Kunst des Überzeugendmachens angewiesen. Sie scheint ~ir in der Tat der eigentlichen Situation der menschlichen Erkenntnis ebenso notwendig wie die Wissenschaftstheorie und ihre Methodenlehre. Zur Rhetorik gehört aber als ihr Gegenstück die Hermeneutik, die Wissenschaft von den Formen, Bedingungen und Grenzen der Verständigung zwischen Menschen. Sie hat nicht nur die Kommunikation zwischen den Menschen, sondern ebenso auch die Fragestellungen der Wissenschaft und die Bedingungen ihres Methodengebrauchs zum Gegenstand. So weit reicht das Thema Sprache: von den Wissenschaften aller Art bis in die Vollzugsformen der Lebenspraxis in Wirtschaft und Politik, Recht und Religion, Unterricht und Erziehung hinein - von dem ausgezeichneten Falle der sprachlichen Kunst, das heißt der Dichtung, ganz zu schweigen.
26. Welt ohne Geschichte? (1972)
Wenn ich über das Thema )Welt ohne Geschichte?< reflektiere, will ich damit keinen Beitrag zu der Arbeit der nächsten Tage leisten, sondern möchte die Öffentlichkeit, die, wenn auch hier kaum vertreten, doch in unser aller Bewußtsein stets mit gegenwärtig ist, mit dem Thema und den Interessen unserer Arbeitstagung bekannt machen. Es mag auffallen und es soll auffallen, daß wenigejahre nach unserem denkwürdigen Treffen inJerusalem, wo wir das Thema der geschichtlichen Erkenntnis ausführlich diskutiert haben es existiert auch eine Publikation dieser Diskussionen -, nach so kurzer Frist, bei unserem Zusammentreffen in Heidelberg, dem ersten Zusammentreffen in Deutschland, das wir uns schon lange gewünscht haben. und das wir nun zu unserer Freude veranstalten können, ein ~ähnliches Thema zur Diskussion steht. Wir wollen uns über Wahrh~it und Geschichtlichkeit austauschen, und wenn wir das wie eine Wiederholung gewisser Probleme empfinden, die inJerusalem den Mittelpunkt unserer Diskussion bildeten, so ist eben die Tatsache, daß dasselbe schon in wenigenjahren ein anderes werden kann, selber ein Beitrag zu dem Thema, über das ich einige Reflexionen vortragen möchte. Die Aktualität dieses Themas ist heute offenkundig eine andere geworden, als sie es wenigejahre zuvor war. Stärker, als überhaupt vorauszusehen war, hat das öffentliche Bewußtsein, von dem wir alle nicht unergriffen bleiben und das uns mit prägt, neue Gesichtspunkte, neue Wertungen und neue Erwartungen zu entwickeln begonnen. Was wir in diesen Tagen miteinander diskutieren werden, wird zwar, glaube ich, kein Grabgesang des Historismus sein - aber vor allem deswegen nicht, weil man bei einem Grabgesang das Wort befolgt: De mortuis nihil nisi bene. Es wird eher wie ein Todesstoß gegen eine Gestalt des Geistes erscheinen, die lange Zeit vor allem die geistige Geschichte Mitteleuropas beherrscht hat. Und die Frage wird sein, ob dieser Todesstoß eine lebende Figur trifft - oder vielleicht wie auf dem Theater eine planvoll zurechtgestellte Puppe. Zweifellos aber ist es nicht eine zufällige Aktualität, die das Thema )Geschichtlichkeit und Wahrheit< in Heidelberg und in Deutschland beanspruchen kann. Das geschichtli-
che Bewußtsein und die bedenkliche Frage, die damit an den Wahrheitsanspruch der Philosophie gestellt wird, ist seit den Tagen der Romantik und bis in unser Jahrhundert hinein ein Vorzugsthema des philosophischen Denkens in Deutschland. Aber dieses geschichtliche Bewußtsein ist nicht eine Erfmdung der Philosophen, und es ist in seiner Bedeutung und Wirkung auf uns alle nicht beschränkt durch die Anathemata oder die Exhortationes der Philosophen. Hinter der Problematik des Historismus, die mit dem Zerfall der Hegeischen Philosophie der Geschichte hervortritt, steht vielmehr eine echte Wandlung des Bewußtseins, wie sie das immense Sensorium von Herder exemplarisch zur Darstellung bringt. Herder hat das große Verdienst, indem er in seiner AllfüWigkeit die große Ernte der neuzeitlichen Menschheit einzubringen sucht, ein neues geschichtliches Bewußtsein als eine Aufgabe der Zukunft anzukündigen. Seit Herder und dem gewaltigen Einfluß, den Herders universalgeschichtliches Pathos und sein freier Blick über die Weltkulturen geübt und den Hegel durch seinen Aufweis der Vernunft in der Geschichte legitimiert hat, ist die Aufgabe allverbindlich geworden, den eigenen Weg des Denkens durch historische Selbstdeutung zu rechtfertigen. Das hat im besonderen in der deutschen Tradition das heraufgerufen, was man einmal die erdrückend historische Einstellung der deutschen Philosophie genannt hat. Hinter der Entstehung des geschichtlichen Bewußtseins im Zeitalter der Romantik, das gewiß einen Epocheneinschnitt markiert, steht ein weit größeres Ereignis, das Freunde und Gegner des historischen Denkens in gleicher Weise geprägt hat, und das ist die Auflösung der Traditionsgestalt der Philosophie als der Einheitswissenschaft überhaupt. Man kann sich davon gar nicht genug durchdringen, daß mit der Entstehung der rnodernen Erfahrungswissenschaften die Lage der Philosophie prekär geworden ist. Von dem Augenblick an, in dem das Wort »Philosophie« den besonderen Akzent erhielt, den wir heute mit diesem Worte verbinden, ging in Wahrheit eine große Tradition abendländischen Wissens zu Ende und begann neuen Gestalten zu weichen. Noch heute zeigt der englische Sprachgebrauch und insbesondere der fortgehende Sprachgebrauch der gelehrten Literatur jenen Sinn von »Philosophie«, der bis ins 18.Jahrhundert den Inbegriff aller Wissenschaften umfaßte. Man denke nur an den Titel von Isaac Newtons Hauptwerk: >Philosophiae naturalis principia mathematica<. Das ist das eigentlich Neue, was hinter der jüngeren Gestalt des Historismus und seiner Problematik als das weit ältere und weiterreichende Geschehen sichtbar wird, daß gegenüber dem Wahrheitsanspruch der modernen Wissenschaft die Wahrheitslegitimation philosophischer Erkenntnis problematisch wurde. Es ist daher auch kein Zufall, daß das, was wir» Philosophie« nennen, in der modernen Gesellschaft nie mehr die unmittelbare und zentrale Funktion ausgeübt hat, die der Inbegriff von Wissenschaft unter dem Namen »Philo-
sophie« für die ersten zwei Jahrtausende der" europäischen Geschichte besessen hat. Was uns, die wir alle durch den modemen Begriff von Wissenschaft geprägt sind, in erster Linie beherrscht und womit wir uns als Denkende ständig konfrontiert sehen, ist, daß die Wissenschaft unser Leben von Grund auf verändert und die eigentliche Führung der menschlich-gesellschaftlichen Praxis übernommen hat. Man kennt dies Verhältnis als das der Anwendung von Wissenschaft. Nur sehr ungenau entspricht dem das Verhältnis von Theorie und Praxis. Denn das Problem der Anwendung von Wissenschaft setzt bereits voraus, daß Wissenschaft als solche vor aller Anwendung und frei von allem Blick auf mögliche Anwendung ihre selbstgewisse und autonome Existenz besitzt. Aber gerade dank ihrer Zweckfreiheit gibt sie ihre Erkenntnisse für beliebige Anwendung frei-eben weil sie-über ihre Anwendung nicht aus eigener wissenschaftlicher Kompetenz zu entscheiden vermag. In unserem Sprachgebrauch prägt sich das als das Verhältnis von Wissenschaft und Technik aus. Dagegen ist das griechische Wort >Techne< und was Aristoteles oder Plato mit diesem Worte meinen, nicht in einem ähnlichen Gegensatz zu der »Wissenschaft « (>Episteme<) der griechischen Tradition. Am allerwenigsten stellt der griechische Begriff der >Praxis< eine bloße Anwendung von Wissen dar. Ist >Episteme< vor allem die von allem praktischen Bezug freie, durch ihr beweisendes Verfahren ausgezeichnete Mathematik, so ist >Techne< alles Wissen, das dem erlernbaren Verfahren des Herstellens gilt. Aber wie>Techne< eine begrenzte Vielfalt des }3rauchbaren für die menschliche Gemeinschaft bereitstellt, ohne über den Gebrauch selber Herr zu sein, so beruht auch die Möglichkeit der »freien« Theorie nicht aufsich selbst, sondern verlangt einen durch das Gemeinwesen ermöglichten freien Raum und stellt insoweit eine Form der Praxis dar. Es ist ein Wandel in der menschlichen Lebenssituation überhaupt, wenn wir statt dessen von der Wissenschaft Anwendung erwarten, die selber nicht durch Wissenschaft verantwortet werden kann und die wir dennoch verantworten müssen. Es scheint mir zur Charakteristik unserer neuzeitlichen gesellschaftlichen Kultur zu gehören, daß die Technologie, also die unmittelbare Anwendung von Wissenschaft in der Technik, das eigentliche Glaubenselement des neuzeitlichen Bewußtseins prägt. Machen können, was man kann, das scheint einen großen Horizont von Fortschritt und Zukunft aufzureißen, und die bange Frage, vor der die Menschheit seit längerem steht, ist, ob dieser Fortschritt wirklich ein Fortschritt zur Beförderung der Humanität ist oder werden kann - um mich mit Herder auszudrücken. Seit langem schon weiß man und beklagt es, daß der große Fortschritt in der Bewältigung der Natur, den die moderne Wissenschaft gebracht hat, nicht von einem gleichen Fortschritt im politischen und gesellschaftlichen
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Die Stellung der Philosophie in der Gesellschaft
Leben der Menschen begleitet wird. Es ist die tiefe Sorge um Freineit und Frieden, die aus dieser Situation der Diskrepanz zwischen dem, was man machen kann, und dem Wissen llm das, was man machen soll oder machen will, erwächst. Seit einigen Jahren nun tritt immer mehr in unser Bewußtsein, daß sich die Erwartung, die man in die Wissenschaft setzt, und die Rolle, die die Wissenschaft in unserer Welt spielt, in neue Zusammenhänge einformt. In diesem Sinne ist das Thema meiner Bemerkungen zu verstehen, wenn ich von einer» Welt ohne Geschichte« sprechen möchte. Es scheint, daß die Hoffuung auf das Überleben, die nach dem großen Trauma der Hiroshima-Bombe lange Jahre - und aus gutem Grunde - eine sehr vage und schwache Hoffnung schien, sich für die Generationen, die jetzt heranwachsen, langsam stärkt. Es ist so etwas wie eine Erwartung in de~jüngeren Generationen der Menschheit, daß die Wissenschaft es fertigbnngen müßte und fertigbringen werde, die Gefahren, die sie selber heraufbeschworen hat, zu bannen und Zukunft in einer noch nicht dagewesenen Weise Zum Gegenstand ihrer Fürsorge und ihres Wissens zu machen. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Vergangenheit beginnt sich damit gründlich zu wandeln. Die vergangene Vergangenheit scheint etwas langsam Dahinwelkendes gegenüber dem beständig straWenden Aufblühen der Utopien der Zukunft. In dem heutigen Bewußtsein der jüngeren Generation tritt geradezu eine neue Disziplin, die sogenannte Futurologie, mit einer Art Missionsanspruch auf, und es wird einem allen Ernstes als Einwand entgegengehalten, daß unsere akademischen Einrichtungen, unsere Universitäten und unser Bildungswesen sich zu einem überwältigenden Teile mit der vergangenen Vergangenheit beschäftigen und überhaupt nicht auf eine systematische und methodische Weise mit dem, worauf doch alles ankomme, mit der Zukunft. Das ist nicht nur ein in seiner Albernheit offenliegendes Mißverständnis - als ob man wissen könne, was man nichtwissen kann und wovon man bestenfalls etwas wissen kann auf Grund des Wissens von dem was war. Es ist auch der Ausdruck dessen, daß sich das Bewußtsein der i~ der hochindustrialisierten Gesellschaft heranwachsenden Menschheit ändert. Denn wenn die Arbeit der Industrie, wenn die Verbreiterung der wissenschaftlichen Möglichkeiten der Technik nicht mehr vor der menscWichen Gesellschaft und ihren Lebensformen Halt macht und wenn der Experte, der aufdem Gebiete der Naturwissenschaften eine unbestrittene Autorität genießt, nun auch auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaften die Verantwortung für politische und gesellschaftliche Entscheidungen übern.immt, dann ändert sich in der Tat das Lebensbewußtsein eines jeden, der erner solchen Gesellschaft zugehört. Dann ist er plötzlich selber ein namenloses und der Selbstverantwortung beraubtes Glied in einer neuen, durch Gesellschaftsingenieure betreuten Gesellschaftsmaschine. Daß das so gekommen ist, ist nicht ein Irrweg, den man mit dem erhobe-
Welt ohne Geschichte?
Jll
nen Zeigefinger des Magisters seiner Irrigkeit überführen kann, sondern hat einen tiefliegenden und eben deshalb nicht leicht zu korrigierenden FeWsinn. Es gehört zur Idee des Machenkönnens unausweicWich, daß der, der machen kann, nicht durch sein Machenkönnen selber über die Anwendung dessen, was er machen kann, Bescheid weiß. Das ist ein uraltes Problem der Philosophie, das die Platoniker unter uns sehr genau kennen, daß die ,Chresis< von der ,Poiesis< grundsätzlich getrennt ist - allerdings für ein gesundes gesellschaftliches Bewußtsein so, daß die herstellenden Künste von der ,Chresis<, vom Gebrauch, ihre Vorschriften und Normen empfangen. Wenn aber das Machenkönnen als die eigentliche Form des Wissens das gesellschaftliche Bewußtsein durchdringt, und vor allem wenn das, was wir brauchen können, selber wieder von Machern des Gebrauchenkönnens verwaltet wird, dann ist es unvermeidlich, daß die Gesetze des Machens, des Herstellens, auch über die gesellschaftliche Existenz des Menschen Herr werden. Das Gesetz des Machens ist aber, daß alles Gemachte wieder gemacht werden kann - oder anders gesprochen: daß alles, was gemacht werden kann, ersetzbar ist. Ich brauche nicht auszuführen, wie sehr in unserem Bewußtsein alles, was wir in der technischen Produktionswelt unserer Tage machen, durch schnelle Ersetzbarkeit charakterisiert ist und daß vor allem selbst der Konsum, also dies, was man ,Chresis< in der griechischen Welt nannte, stärker von dem, was wir machen können, bestimmt wird als von der Echtheit unserer Bedürfnisse. Man denke nur daran, welche Bedeutung die Werbung, die Reklame - und das heißt: die Einredung und Aufschwätzung von Bedürfnissen - für das ökonomische Leben unserer modernen Industriewelt besitzt. Das sind nicht etwa irgendweIche zufalligen Fehlentwicklungen, die sich durch Einseitigkeiten der menschlichen Kulturentwicklung ergeben und leicht korrigieren lassen. Es sind vielmehr unmittelbare Auswirkungen der Idee von Wissenschaft, die zu der ungeheueren Steigerung der Naturbeherrschung in der Neuzeit geruhrt hat und deren asketische Methodenstrenge die verantwortlichen Ziele menschlicher Tätigkeit und Arbeit nicht mehr aus eigener Kompetenz zu wissen erlaubt. Die Kompetenz einer anderen Art von Wissen als die der Wissenschaft verschwindet mehr und mehr aus dem allgemeinen Bewußtsem. Wir charakterisieren die Physiognomie unserer Zeit - wie ich glaube, mit Recht - mit Vorliebe durch den Begriff der Verwaltung. Wir sprechen von einer »verwalteten« Welt. Nun ist das Ideal einer Verwaltung, daß es so gemacht wird, wie es schon immer gemacht wurde, daß die letzte Rechtfertigung eines Verwaltungsaktes die bloße funktionierende Entsprechung zu der Ordnung des Gesamten der Verwaltung darstellt und daß das Selberdenken und das persönliche Verantworten einer Entscheidung dem Sinne einCl" geordneten Verwaltung schon beinahe widerspricht. Ich möchte hier nicht
den Laudator temporis acti spielen. Man mißversteht meine Bemerkungen überhaupt, wenn man darin eine bös gesinnte Kulturkritik hört. Ich möchte vielmehr verstehen, was uns heute als Denkende herausfordert und was wir eben im Bewußtsein, herausgefordert zu sein, nicht ohne unsere eigenen Beiträge und Antworten lassen können. In diesem Zusammenhang scheint mir das, was ich ),Welt ohne Geschichte« nannte, doch auch der Gegenformulierung oder der Gegenantwort zu bedürfen. Man sollte das Fragezeichen mithören, das ich hinter die Formulierung dieses Titels innerlich immer gesetzt habe. Kann es eine Welt ohne Geschichte geben? Eine Welt ohne Geschichte stellt nicht nur die gewiß gefährliche politische Situation des Augenblicks dar, in der das stalemate der Supennächte echte geschichtliche Evolutionen ständig unterdrückt und lähmt und auf diese Weise eine Art von versteinertem Status quo herauffUhrt - ich meine noch mehr als das. Ich meine vor allem, daß sich unser eigenes Bewußtsein heute einer Manipulation ausgesetzt sieht, sofern die öffentliche Meinung mehr und mehr den Techniken des wissenschaftlich fundierten Machenkönnens ausgeliefert ist. Was gibt es anderes in dieser Lage, als selber sehen? Das ist das Ideal der wissenschaftlichen Forschung in allen Richtungen ihres Wissenwoliens - es umschließt aber notwendig auch das große Buch der geschichtlichen Überlieferung, das große Buch von dem, was anders war. Ich sehe mehr und mehr - und ich glaube, das ist nicht ein falscher Blick in unsere Lage - eine neue Mündlichkeit heraufkommen, ein Vergessen der schönen alten Kunst des Lesens. Die Allpräsenz der ständig strömenden Informationsflut hat die Unmittelbarkeit eines gewaltigen Formungsdrukkes. Wer heute den allgemeinen Nachrichtenmitteln von der Presse über den Rundfunk bis zum Fernsehen folgt und sich begreiflicherweise der Suggestion, die von dort aus ausgeübt wird, nicht entziehen kann, der wird genau zu dem, was die Techniker der Gesellschaft aus dem Menschen von heute zu machen versuchen: Er wird zu einem ersetzbaren Rädchen in der großen Gesellschaftsmaschine. Er ist einbezogen in das Funktionieren des gesellschaftlichen Apparates - und jeder, der sich nicht auf andere Wege oder Möglichkeiten der Information und der Meinungsbildung zurückziehen kann, ist da wehrlos. Was so heraufkommt, hat die Züge einer sich selbst verborgenen und uneingestandenen Unfreiheit, die sich in der Illusion wiegt, überall dabei zu sein, zu sehen und zu hören, was geschieht. Ist es da nicht wirklich eine notwendige Folgerung, daß man in einem neuen Bewußtsein ein Humanist ist - denn Humanist-Sein heißt Lesenkönnen - daß man in dieser Lage die Kunst des Lesens hochhält, des Lesens, da; die einzigartige Freiheit zur Kritik gibt, die das unmittelbare Wort und Bild in seiner drängenden Gegenwärtigkeit so leicht nimmt? Uns als Platoniker ist unvergeßlich, wie Sokrates, wenn er den Rombos einer großen Rede, etwa der des Protagoras im gleichnamigen Dialog, angehört hat und nun sagen
soll, was er dazu denkt, antwortet, daß er leider nicht das Gedächtnis und nicht die geistige Kraft besitze, eine so lange Rede wirklich zu verstehen. Ihm müsse man es in kleinen Stücken beibringen, in dem kleinen Spiel von Frage und Antwort. Nun, dies kleine Spiel von Frage und Antwort wird in unserer literarischen Kultur durch das Lesen geübt. Wir spielen ständig, wenn wir lesen, dieses Spiel, und was wir uns damit erwerben, das ist, meine ich, Freiheit. Wer so das Lesen verteidigt, wird damit nicht zu einem Laudator temporis acti. Denn er meint ebensosehr unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Ohne Wissen und ohne Besinnung auf unsere eigenen Möglichkeiten gibt es für uns keine Zukunft. Das aber heißt: nicht ohne Geschichte. Denn diese bedeutet kein Ausweichen in die Vergangenheit, sondern ist ,memoria vitae(, Gedächtnis des Lebens, wie Cicero die Historie genannt hat. Geschichte, die Welt der Geschichte, ist nicht eine zweite Welt des Vergangenen neben der natürlichen Welt, die uns umgibt - sie ist ein ganzes unerschöpfliches System von Welten hinter dem Monde, die uns näher sind als der noch so nahe gerückte Trabant unserer Erde. Denn Geschichte ist die Welt des Menschen. Ihr Studium hält die Amplitude des Menschseins offen. Dank ihrer sind wir nicht aufdas beschränkt, was wir als unser Eigenes wissen oder meinen. Sie beschreibt alle unsere Möglichkeiten. Und was fUr Zukunft wir je haben werden, wird davon abhängen. wie weit wir das Erbe der geschichtlichen Tradition, aus der wir alle kommen und das uns alle mehr und mehr vereinigt, wahren und mehren.
Historik und Sprache
27. Historik und Sprache (1987)
Nicht umsonst hat Reinhart Koselleck mit Heideggers ,Sein und Zeit< eingesetzt, um zu zeigen, wie sich von den Fragestellungen des Historikers aus die Grundstrukturen der Heideggerschen Daseinsanalyse erweitern und modifizieren müssen. Das entspricht in gewissem Sinne meinen eigenen philologisch-ästhetischen Antrieben, aus denen heraus ich Heideggers Anfänge und den von ihm empfangenen Anstoß ins Eigene weiterzuentwickeln versucht habe. Es ist für michjedoch nicht leicht, ein paar vernünftige Worte zu dem Gedankengang eines Historikers zu sagen. Es geht mir da so, daß ich mich eines berühmten Hegel-Wortes erinnern muß. Er hat von der Zeitung gesagt, sie sei für den Denker der realistische Morgensegen. So etwas wie ein realistischer Morgensegen klang mir auch die mir heute zu meinen Ehren gewidmete Vorlesung von Reinhart Koselleck. Ich weiß mich wahrlich geehrt. Nicht nur, daß es einer meiner Freunde und Schüler ist, der sich in so konsequenter und sicherer Weise über das, was er tut, und über das, wohin es ihn gewiesen hat, Rechenschaft gegeben hat. Mehr noch bedeutet mir, daß er uns diese Rechenschaftsgabe in dieser Form und bei diesem Anlaß vorgelegt hat. Das gilt mir in Wahrheit als eine Best~tigung meines eigenen Bemühens. Wer Hermeneutik wichtig findet, der muß vor allem wissen, daß man zuhören muß und daß man nur einem, der zuhören kann, etwas zu verstehen. geben kann. Wir wurden heute zu einem Gespräch eingeladen, und ich wünschte mir, wir könnten dieses Gespräch öfters fortsetzen. Mein eigener hermeneutischer Entwurf ist seiner philosophischen Grundabsicht nach nicht viel anderes als der Ausdruck der überzeugung, daß wir nur im Gespräch an die Sachen herankommen. Nur dann, wenn wir uns der möglichen Gegensicht aussetzen, haben wir Chancen, über die Enge unserer eigenen Voreingenommenheiten hinauszugelangen. Nun kann ich gewiß nicht hoffen, daß mir im Augenblick und in einer solchen Situation die Gegenantwort wirklich gelingt, die Antwort, die kein Gegen ist, sondern wie jedes Wort Antwort ist, das heißt, auf etwas antwortet, von dem man begriffen hat, daß es fragt und daß es Antwort heischend an einen gerichtet ist. Ich kann nicht hoffen, im Augenblick ein solches Gegenwart, das wirkliche Antwort wäre, zu finden. Doch, jeder Versuch einer Antwort,
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auch wenn er nicht das Gegenwart ist, bringt in das Offene des Fragehorizontes etwas ein, eine Sinnbestimmtheit, die Gemeinsamkeit schafft. Ich möchte daher, in der Fortsetzung des unendlichen Dialoges, den man Denken nennt, aus Rede und Gegenrede, Rückblick und Ausblick, Vorwärts und Rückwärts etwas von dem Gemeinsamen zur Sprache bringen, das sich uns in solchem Augenblicke darstellt. Als ich mich bereit erklärte, am Schluß dieser mir gewidmeten Feier ein Wort des Dankes zu sagen, erftillte mich das Bewußtsein, daß wir in einer besonderen Weltstunde leben - in einer gefährdeten Welt und mit einem gefährdeten Zukunftsbewußtsein, wie es alle Menschen heute, und sicherlich am stärksten die jungen Menschen, empfinden müssen. So kommt es, daß man von dem, der das Fach der Philosophie im akademischen Unterricht vertritt und vertreten hat, noch etwas anderes erwartet als nur einen dankerfüllten Rückblick auf den eigenen Erfahrungs- und Denkweg, den Ältere, Gleichaltrige und immer wieder Jüngere begleitet und bereichert haben. Im Grunde wissen wir alle, daß vielleicht die größte Möglichkeit, die das Leben immer wieder an uns heranträgt, die der Theorie ist, des theoretischen Abstandes und der freien Sicht, die von da aus zu gewinnen ist - und daß diese immer an Bedingungen zurückgebunden bleibt, wie sie Reinhart Koselleck so kraftvoll entwickelt hat. Ich meine die mächtigen Realitäten, in denen sich menscWiches Zusammenleben abspielt. Richten wir auf diese den Blick, dann kann die >Freude am Sinn<, diese allumfassende >Philologie<, wie das Ausweichen in eine Traumwelt scheinen. Man braucht nur daran zu denken, daß die geistige Welt, in.der ein Mensch sich seiner eigensten Bestimmung nach zu bewegen sucht, mit einer so ungeheuren Tatsache zusammengeht wie der, daß die menschliche Spezies den Krieg erfunden hat, etwas, was in der Natur unter Angehörigen derselben Art bei Lebewesen höherer Organisationsstufe sonst nicht vorkommt. Schon dieser allererste Einsatz in der Rede von Koselleck hat mich in Gedanken verstrickt, die auch ich oft darüber gesponnen habe. Ich bin mir dessen voll bewußt, daß der Blick des Verstehenden jeder Sinnspur nachschaut und immer nach Sinn Ausschau hält, der ihm in der Unvernunft des Geschehens und der Geschichte so etwas wie Horizonte des Erwartens, des Hoffens, des Wagens und des Nichtverzagens immer wieder sich öffnen läßt. Vielleicht muß man sagen, daß dies die größte menschliche Kraft ist, angesichts aller Herausforderungen, die die Wirklichkeit durch Unsinn, Wahnsinn und bestürzende Sinnlosigkeit uns zumutet, standzuhalten und im Suchen nach Verstehbarem und nach Sinn unermüdlich zu bleiben. Ich kann kaum hoffen, mich über die Grundlagen dieser Wahrheit in Kürze deutlich ausdrücken zu können. Wenn ich die Eigentümlichkeit des Menschseins mit aristotelischen Mitteln zu formulieren suche - und er ist scWießlich der Meister derer, welche wissen -, so heißt das: darüber nach-
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denken, was es bedeutet, daß der Mensch die Sprache hat. Gewiß ist es wahr, daß die Sprache in gewissem Sinne gegenüber den eigentlich bestimmenden Faktoren des menschlichen Sichbefmdens und Verhaltens fast mehr eine Art von umfassender Nachholung ist. Und doch hat Aristoteles recht, wenn er den Menschen gegenüber den Tieren dadurch auszeichnet, daß der Mensch die Sprache hat, das heißt, nicht nur sich den instinktgegebenen Zielen oder den drohenden Gefahren gegenüber durch Zeichen kommunikativ austauscht, wie es etwa die Vögel durch ihren Warnruf oder Lockruf tun oder wie all die anderen Austauschformen sind, in denen Tiere durch Zeichengabe miteinander umgehen. Der Mensch dagegen ist aus dem Gefüge der natürlichen Anlagen und Fähigkeiten so herausgedreht, daß in dieser Freiheit zugleich die Verantwortung für sich und die Seinen, mr sich und uns alle, eingelagert ist. Das ist es, was in unsere eigentümliche Sonderstellung innerhalb des Gesamten der lebendigen Natur eingeboren ist: Wir folgen zwar wie die anderen Naturwesen Zwängen, Drängen, Dispositionen wie getrieben - und dennoch ist da ein Spielraum von Möglichkeiten, der uns bleibt, ein Spielraum anderer Art, der für uns geöffuet ist. Es ist der Raum der dahingestellten Möglichkeiten, der Plausibilitäten, die nicht nur im Spielraum des Offengelassenen stehen, mit dem der Gedanke spielt, sondern in dem auch die Entscheidungen stehen, in denen sich der beständige Kampf um Herrschaft und Unterliegen abspielt, der Spielraum menschlicher Geschichte. So steht denn auch die berühmte Definition des Menschen, die man auflateinisch kennt, ein >animal rationale( zu sein, in der Schrift des Aristoteles über die Politik. Was der griechische Text uns in Wahrheit lehrt, ist, daß es sich hier nicht so sehr um die Vernunft handelt als um die Sprache. Sie ist nicht nur Zeichenaustausch wie der Lockruf und Warnruf der Tiere. Ihre Auszeichnung ist vielmehr, Sachverhalte vorzustellen - sich selbst und dem anderen. Schon das Wort »Sachverhalt« hat etwas sehr Eigentümliches. Es ist etwas Selbstloses darin, wenn wir der Sache ihr eigenes Verhalten zubilligen und uns diesem Verhalten in unserem Verhalten beugen. Das ist etwas von dem, was wir mit Recht Vernunft nennen und was sich in unserem rationellen Handeln auslebt. Es stellt sich in dem Wunder von Distanz dar, das wir in Sprache vermögen: etwas dahingestellt sein zu lassen. Die Hermeneutik - wenn ich in den bescheidenen Grenzen, in denen ich mich mitverantwortlich fühlen muß, dies erwähnen darf - ist die Ausarbeitung dieses ebenso wunderbaren wie gefährlichen Könnens. Daß man etwas dahingestellt sein lassen kann, es in seinen Gewichten wägen und in seinen Möglichkeiten immer wieder aufs neue in den Blick nehmen kann, ist mehr als nur eine der zweckvoll natürlichen Ausstattungen eines Lebewesens. Aristoteles fährt, wenn er seinen Satz gesagt hat, fort: denn der Mensch hat eben durch diese Fähigkeit des >Logos( Sinn für das, was zuträglich und was abträglich ist. Das heißt, er hat Sinn für etwas, was im Augenblick vielleicht nicht
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verlockend ist, aber für später etwas verspricht. Er hat also die eigentümliche Freiheit, sich auf Ziele in der Ferne hin zu entwerfen und die rechten beiträglichen Mittel zur Erreichung des Zieles zu suchen. Das ist eine wunderbare, gegenüber der Weisheit und festen Bestimmtheit der Naturzwänge gefährliche Fähigkeit, sich in die Zukunft voraus zu entwerfen. Der Mensch hat den Sinn für Zeit. Dazu gehört nun (wie mit innerer Folgerichtigkeit Aristoteles zu verstehen gibt) der Sinn für das Rechte und für das Unrechte. Etwas von dieser Folgerung erfahren wir immer wieder an der bedenklichen Freiheit des Verstehenkönnens und Verstehenwollens. Immer stößt man an Realitäten - und am meisten an die Realität des anderen Menschen. >Recht< ist im Grunde die große, von den Menschen geschaffene Ordnung, die uns Grenzen setzt, uns aber auch erlaubt, Nichtübereinstimmung zu überwinden - und wenn wir einander nicht verstehen, einander mißverstehen oder gar mißhandeln, immer wieder alles neu zu ordnen und in ein Gemeinsames einzufügen. All das >machen< wir nicht; all das geschieht mit uns. So wird es wohl so sein, wie der gerade und nüchterne Blick des Historikers es uns denkend vor Augen gestellt hat, daß wir der Geschichte nie Herr sind. Wir kennen nur Geschichten. Und um Geschichten möglich zu machen, sind wir schon immer in all die unerbittlich scharfen Grundgegensätze eingelassen, die der Historiker aufgezeigt hat, diese Gegensätze von Freund und Feind, von Geheim und Öffentlich und all die anderen Grundkategorien, deren Polarität zujeder >Geschichte< gehört. So hängt beides aneinander und macht die Auszeichnung des Menschen aus, Sprache zu haben und Geschichte zu haben. Es ist daher ganz legitim, wenn ein Historiker >Sein und Zeit< auf seinen anthropologischen Aussagegehalt hin liest und wenn er die Kategorien der Geschichtlichkeit in solcher Weise entfaltet, wie Koselleck es hier tut. Aber es bleiben dann Kategorien, Grundbegriffe einer Gegenstandswelt und ihrer Erkenntnis. Sie unterscheiden sich, scheint mir, grundsätzlich von den Heideggerschen Begriffen, die die Geschichtlichkeit des Daseins und nicht die Grundstrukturen der Geschichte und ihrer Erkenntnis'herauszuarbeiten suchen. Gewiß kann auch die von Heidegger vorgelegte Analytik des Daseins wieder ihrerseits vom Historiker in geschichtlichem Abstand als eine geschichtliche oder mindestens als eine zeitgeschichtliche Erscheinung verstanden werden. Geschichte ist ein »Universale«. Kosellecks >Historik< bietet eine Kategorienlehre dieses Universums, die ein riesiges Gegenstandsfeld menschlicher Erkenntnis artikuliert - eine Legitimierung des Interesses an dieser Gegenstandswelt der Geschichte und der Geschichten will diese Kategorienlehre nicht geben. Und doch liegt in aller historischen Erkenntnis >Verstehen<. Droysens >Historik< spricht das entschlossen aus und ist insofern eine >Hermeneutik<. Das heißt nicht, daß Droysen nur an die Sprache und die sprachlichen Zeugnisse denkt, wenn er als die Aufgabe des Historikers
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diese an Wiede~erkennungsmacht nicht erreicht. Auch mit unseren Geschichten bauen wir mit - wie mit jeder unserer Entscheidungen des praktischen Lebens - an der Gemeinsamkeit dessen, was uns Sinn bedeutet, was uns das Gute, das Bessere, das Rechte scheint. Mit diesen großen, schönen Worten füWe ich mich fast als Erben einer kaum noch erhaltenen Erbschaft und meine doch, daß wir alle, in voller Bewußtheit. angesichts der sich immer mehr verschärfenden Spannungen und der s~eigenden Unordnung, des Mißhandelns und des FehlhandeIns, unseren verstehenden Blick auf das uns allen Gemeinsame richten sollten, das wir im Anderen besser erkennen als in uns selbst, und daß wir nicht aufgeben sollten, die harten Realitäten der Geschichte immer wieder in unsere humanen Möglichkeiten einzugestalten.
28. Von Lehrenden und Lernenden (1986)
Es liegt mir nahe, in einem Augenblick, an dem ich für eine freundschaftlicheindringliche Würdigung meines Werkes zu danken habe, davon zu reden, was andere für das Werden eines einzelnen bedeuten. Am Ende hängt die Menschlichkeit unserer Existenz daran, wieweit wir die Grenzen, die wir in unserem Wesen gegenüber dem Wesen anderer haben, sehen zu lernen vermögen. Diese Überzeugung steht auch hinter dem leidenschaftlichen Anliegen, das mich VOn jeher beseelt, weiterzugeben, was mir selber an Erkenntnis und Einsicht geworden ist. Man lernt von denen, die von einem lernen. Nun habe ich, wie ich meine, keine besondere Berufung, wie sie der von mir hochverehrte Namensträger dieses Preises, KariJaspers, hatte, zu den Ereignissen der politischen Wirklichkeit jeweils ausdrücklich Stellung zu nehmen. Ich bin vielmehr der Überzeugung, Denken und Schulung von anderen im Denken, freie Urteilskraft zu üben und in anderen zu wecken, ist als solches ein eminent politisches Tun. In diesem Sinne glaube ich, daß auch meine eigene Urteilsfähigkeit immer an dem Urteil des Anderen und seiner Urteilsfähigkeit ihre Grenze findet und von ihm bereichert wird. Das ist die Seele der Hermeneutik. So ist mir in dem heutigen Vortrag meines Freundes Wilhelm Anz ein altbekanntes Wort haften geblieben, das ich noch nie so gehört habe. Er hat es wohl auch nur im Vorbeigehen angerührt. Das Wort heißt: Hörerschaft. Das meint hier nicht eine Versammlung von Studenten - wie sie gewiß auch in meinen Augen zum Lernen des Denkens gehört -, sondern es meint uns alle. Wir alle sind Hörerschaft, wir müssen lernen zu hören, auf dem einen und dem anderen Wege, und stets gegen die eigene Ichbefangenheit anzugehen, in die Eigenwille und Geltungsdrangjeglichen geistigen Antrieb einzufangen streben. Was ich so im allgemeinen andeute, möchte ich am Beispiel meiner selbst vor Augen führen. Es liegt mir heute nahe, wie ich es auch in meiner Autobiographie getan habe, an die Figuren zu denken, die in meinem eigenen Lebensgange eine solche Funktion des Anderen, auf den man zu hören lernt, darstellten. Dabei möchte ich private Erfahrungen dieser Art, von Freunden und Lebensgefährten, nicht erwähnen und nur, wie es sich in
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Von Lehrenden und Lernenden
einer wissenschaftlichen Veranstaltung geziemt, von den Lehrern sprechen, an denen ich diese Grundaufgabe des Menschen, Hörendf'r zu werden, lernen durfte, und denen ich es verdanke, wenn ich vielleicht auch dem einen oder anderen meiner Hörer und Studenten etwas zu sagen hatte. Mein politisches Alibi sehe ich darin, daß sich in dem großen Multiplikationsproze~ der öffentlichen Meinungsbildung ein Wort, das vom Katheder gesagt wird oder öffentlich niedergelegt ist, zu bewähren hat. In:. Z~iche~ des Dankes möchte ich zwei mit mir selbst zeitgenössische Personhchkeaen nennen und zwei, die über die Zeiten hinaus unser aller Lehrer sind. Die Zeitgen?ssen heißen Heidegger und Jaspers. Ich füge den ~ amenJ aspers zu dem mich entscheidend bestimmenden Heidegger hinzumcht nur aus Anlaß dieser Ehrung, der ich als Nachfolger des Namensträgers dieses Preises nun zuteil geworden bin. Ich gedenke vielmehr einer früheren und insofern viel mehr richtungsweisenden Erfahrung aus jungen Jahren.
Gelehrte zu durchlaufen hatten, nach der Inflation, nach der Zerstörung des mittelständischen Wohlstandes, angewiesen auf ein System von Stipendien, das seine feste finanzielle und organisatorische Basis noch nicht bewährt :latte und charakteristischerweise »Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft« hieß. Es war letzten Endes die Macht dieses von Heidegger ausgehenden Impulses, die uns befahigte, die eigene Kraft zusammenzuhalten, Verzicht zu leisten und uns ganz auf die eigene Aufgabe zu konzentrieren ein Ansporn von höchster Mächtigkeit. Daß gegenseitige Freundschaft, die A~seinandersetzung und der Wetteifer im Zusammenleben mit den anderen eine Gemeinsamkeit des Entbehrens und des Wagnisses stifteten, war uns dabei hilfreich. Das versteht sich von selber. Dann kamen die Jahre, in denen Heidegger, von Marburg nach Freiburg zurückgekehrt, uns junge Dozenten der Philosophie allein ließ - oder sagen wir besser: freiließ. Denn es bedeutet einen großen Unterschied, ob man, was man gelernt hat, auf eigene Weise weitergeben darf, ohne daß die Nähe des Meisters ständig für einen fühlbar ist. Es war eine großartige Möglichkeit, die sich uns jungen Dozenten bot - das war Kar! Löwith, das war Gerhard Krüger, dem ich heute auch ein Wort dankbaren Angedenkens widmen möchte, und das war ich selbst. Wir waren plötzlich zu Erben eines großen Auftrages berufen. In diesem Augenblick erschienen nun nach zehn Jahren langen Schweigens die ersten Publikationen von Kar!Jaspers, das kleine Göschenbändchen ,Die geistige Situation der Zeit< und vor allem die drei Bände, die den Namen )Philosophie< trugen und die in ihrem ganzen Habitus von dem normalen akademischen Stil eines Professors für Philosophie völlig abwichen. Dies Werk von tausend Seiten enthielt kein gemeinsam umfassendes Inhaltsverzeichnis und nicht einmal eine einzige Anmerkung - ganz zu schweigen von einem computerverfertigten Register. Das war wie eine Überraschung: Da war noch einer, der sich dem akademischen Routinewesen entzogen hatte und die Würde des akademischen Berufes gerade dadurch neu zur Darstellung zu bringen wußte. Es war im besonderen der humane Ton einer ungezwungenen Gelassenheit, der mich anrührte und mir die Aufgabe stellte, diese Humanität mit dem gewaltigen Aufbruchspathos Martin Heideggers zu verbinden. In diesem ungeheuren Leser, der Kar! Jaspers war, wurde der ganze Bildungsreichtum unserer Tradition in seinem menschlichen Reichtum lebendig. Andererseits war er durch eine ganze Welt von all dem getrennt, wozu wir erzogen worden waren. Wenn ich Hermeneutik auf eine neue Weise definieren darf und sage. Hermeneutik heißt an keine Übersetzung glauben, dann müßte ich Kar! Jaspers einen großen Teil der Quellen seiner Weisheit streitig machen. Daß Hermeneutik das lebendige Wort sozusagen auszulegen hat und das zur Schrift erstarrte Wort neu zum Leben zu erwecken hat, stellt hier die eigent-
Wilhe~m Anz hat es vor uns zu erwecken vermocht, was in den zwanziger Jahren die Denkenergie, die Radikalität, Entschlossenheit und Konzentration, die in einem Naturgenie des Denkens, wie Martin Heidegger eines ,,:ar, zutage trat, für uns Jüngere bedeutet hat. Es war überwältigend. Ich bin eigentlich desh~lb klassischer Philologe geworden, weil ich das Gefühl hatte, von der Uberlegenheit dieses Denkens einfach erdrückt zu werden wenn ich nicht einen eigenen Boden gewann, auf dem ich vielleicht feste; stünde als dieser gewaltige Denker selber. Nun, im Marburg der zwanziger J:hre gab es noch manchen anderen, der unsere geistige Entwicklung zu fordern wußte: RudolfBultmann und Ernst Robert Curtius, Nicolai Hartmann und Paul Friedländer, aber auch Richard Hamann und all die anderen die ich in meiner Autobiographie geschildert habei. Gleichwohl war di; ~nergie, mit der Heidegge.r seine eigene Konzentrationskraft sozusagen uber uns ausgoß, so etwas Wie eine Taufe zu einem neuen Aufbruch, zu einer neuen Lebendigkeit des Denkens. Das hat uns alle damals, wie man sich denken kann - so sind eben junge Leute -, mit einem maßlosen und unverdienten Selbstbewußtsein erfüllt. Wir fühlten uns als von diesem Meister Ins?irierte, ~nd ich kann mir ungefahr vorstellen, wie es für die Kollegen Heidegge.rs m Marburg, i~ allen möglichen Wissenschaften, schwierig gewesen sem. muß, .we~ die Nachahmer der radikalen Denkenergie und Frageenergie Martm Heideggers die Seminare und Unterrichtsveranstaltun_ gen d~rch ~in so~enanntes radikales Fragen unsicher machten. Heidegger ar fur uns alle eme große Herausforderung. Wenn ich daran zurückdf'nke, m welcher kärglichen Lebenssituation wir damals unseren Werdegang als
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. 1 ,Philos?ph~sche Lehrjahre< (Frankfurt 1977). Daraus in Kapitel V dieses Bandes u. a. dIe Abschmtte über]aspers, Krüger und Löwith.
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liche Aufgabe dar. Keine Übersetzung ist aber wirklich lebendig, und nur aus lebendiger Sprache erwächst die Erweckungskraft, die uns im Wunder der Sprache verliehen ist, nämlich, über das Gesagte hinaus die eigentliche Intention des Sprechenden zu erfahren. Dazu waren wir erzogen worden, und ich habe das bis zum heutigen Tage festgehalten. Sprache zum Leben zu erwecken. Selbst in der ausgedehnten Reise- und Vortragstätigkeit in fremden Ländern, der ich mich nach meiner Emeritierung zugewandt habe, versuchte ich, jeweils in der fremden Landessprache zu sprechen. Demgegenüber bedeutete es ein ganz andersartiges Talent oder Genie, wie Karl Jaspers durch Übersetzungen hindurch in wahrhaft universaler Weite überall das Grundwissen herauszulesen wußte, das in seiner geistigen Gestalt zutage trat. Er las es heraus, wie ein Physiognomiker aus dem Gesichtsausdruck eines in fremder Sprache Sprechenden zu lesen weiß. Diese Gabe, die Jaspers selber »Kommunikation« genannt hat, mit der Radikalität und wissenschaftlichen Strenge zu vereinigen, zu der wir in unserer eigenen Arbeitsweise erzogen waren, ließ uns nochmals unsere Grenzen erkennen und stellt den Grund dar, warum neben dem großen Denker Martin Heidegger die geistige Leistung von Karl]aspers für mich eigene Bedeutung gewann. Freilich, ich hatte das Glück, neben diesen zwei Männern noch zwei größere Lehrer zu finden. Der eine war Plato, und der andere war Hege!. Das sind gewiß zwei sehr verschiedene Figuren unserer Geschichte, die sich nicht leicht und willig gemeinsam integrieren lassen. Sie in unserer geistigen Geschichte gemeinsam gelten zu lassen, kann nicht ganz ohne innere Eigenleistung gelingen. Um mit Hegel zu beginnen: Daß die Hegeische magistrale enzyklopädische Denkleistung sich von Plato, diesem einzigartigen Fall eines ebenso philosophisch-begrifflichen wie poetisch-kreativen Geistes, von Grund auf unterscheidet, mag jeder sogleich empfinden. Es bleibt mir immer ein Rätsel, wie Hegel zu einer internationalen Lehrerfigur seiner Epoche werden konnte, dieser schwäbische Professor auf dem märkischen Sande. Wer weiß, was schwäbisch ist und wie Hegel selber schwäbisch sprach, muß sich fragen, wie durch die Verfremdung dieses Dialektes hindurch die geistige Erweckungskraft des Denkens vernehmbar und wirksam werden konnte - eine geheimnisvolle Durchdringung von Klanglaut und Wortsinn. Hegel erschien uns als die große Zusamm~nfassung des vom Griechentum herkommenden, durch die Latinisierung und Christianisierung hindurchgeschrittenen und nun in den neueren Sprachen, also vor allem in unserer eigenen Muttersprache, zu neuem Denken erweckenden Wortes. Das Mysterium der Sprachlichkeit ist mir an Hegel in seiner ganzen Gewalt bewußt geworden. Gerade neben dem revolutionären und gewaltigen Radikalismus des Heideggerschen Umgangs mit Sprache tat das seine Wirkung. Dem Laien mag das verwunderlich klingen. Er weiß eben nicht, wie sehr er mit Hegel redet, wenn er zunl Beispiel sagt, »an und für sich ist
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die Sache so und So«. Erst recht gilt das von dem Erbe Luthers und der deutschen Mystik sowie dem Geiste der deutschen Dichtung, die Hegel in seine philosophische Umprägung der Tradition eingeführt hat. Ich sehe es daher nicht als einen Einwand an - der mir freilich immer wieder von vielen Seiten, auch von Heidegger selbst. gemacht worden ist -, daß ich mich in meinen Arbeiten nie ganz aus der Sprachwelt des deutschen Idealismus gelös,t habe. Was ich lebendig erfahren hatte, sollte auch in meinen eigenen Denkversuchen am Leben bleiben. Und nun erst Plato, der Lehrer aller, die Philosophie als Aufgabe nicht von sich tun können. Wenn man die geistige Geschichte unserer Kultur im ganzen aufzunehmen sucht und insbesondere die Wissenschaft vor Augen hat, die damals bei den Griechen ihre ersten Schritte wagte, um in der Neuzeit so ganz andere und ungeahnt folgenreiche Fortschritte zu zeitigen, dann fragt man sich, wie Plato unser aller Lehrer sein kann. Vor dem großen Geschichtshintergrund des antik-christlichen Erbes und seiner Umsetzung in das Denken der Gegenwart er.scheint es als ein wahres Wunder, daß dieser Denker und Dichter so unmittelbar zu uns spricht, wie die großen Kunstwerke aller Zeiten zu uns zu sprechen vermögen. Was verleiht ihm die alterslose Unsterblichkeit des großen schöpferischen Künstlerturns ? Und doch, da folgen wir einem Gespräch des Sokrates mit irgend einem Jungen oder Alten, wie er dessen inners[l' Ansprüche an Selbstverständnis zum Scheitern bringt, wie er ihn vor sich selbst bloßstellt und wie er von der Gemeinsamkeit aus, die er damit zwischen sich selbst und dem Anderen stiftet, die großen Visionen beschwört, in denen sich die Ordnung des Alls, die Ordnung der Gesellschaft und die Ordnung der Seele zu einer großartigen einheitlichen Ordnung zusammenfügen. Wie sollten wir in unserer spannungsreichen, fragmentarischen und gefährdeten Weltlage uns nicht ständig aufgerufen fühlen, die große Aufgabe des Verstehens Adieser Vision und des Stiftens von Einverständnis mit diesem einzigen und einzigartigen Lehrer auf uns zu nehmen. Das ist der Hintergrund meiner ganzen Arbeitsweise. Ich bin dankbar, daß diese Universität mir auch im hohen Alter noch ihre Hörsäle öffnet und daß ich zu den vielen jungen Leuten ebenso reden darf, wie ich ehedem meinerseits vor den großen mich übertreffenden Lehrern saß und ihnen zuhören durfte.
Die Universität Heidelberg und die, Geburt der modernen Wissenschaft
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Was heutigen Menschen die Geschichtstiefe der eigenen Vergangenheit bedeuten kann, deren das 600jährige Jubiläum der Heidelberger Universität zu gedenken Anlaß gibt, lehrt der spektakuläre Erfolg der Gastvisite der Bibliotheca Palatina in diesem Jahre. Mit der Beredsamkeit dieser Dokumentation kann kein einzelner wetteifern wollen. Doch kann sie nur für die ältere Geschichte unserer Universität zeugen. Nun hat aber unsere RupertoCarola auf diesen ihren Doppelnamen ein besonderes Recht. Er spielt auf so etwas wie eine zweite Gründung an, auf den Beginn des neuen Aufbaus der Universität am Anfang des 19. Jahrhunderts. Da brach nach Zeiten des Niedergangs eine neue Epoche an, die Heidelberg zum Weltruhm emporgeführt hat. Diese Epoche soll unser Thema sein. Daß das moderne Heidelberg und daß die moderne Wissenschaft, die hier eine ihrer Stätten hat, in die große Bewegung der neuzeitlichen Aufklärung gehört, bedarf keiner Darlegung. Wir erkennen geradezu im Wiederaufbau der Universität Heidelberg als der ersten Universität des neugeformten Landes Baden, der mit dem Jahre 1803 einsetzte, den grundsätzlichen Sieg der großen Forderung der Aufklärung wieder, gegenüber Thron und Altar geistige Freiheit zu gewähren. Freilich hat es noch immer lange gedauert, bis Zensur und politisch bedingter Eingriff den geistigen Auftrag der Wissenschaft nicht mehr massiv beeinträchtigen. Nun fällt der Wiederaufbau der Universität Heidelberg in die gleiche Zeit, in der Heidelberg als eine der Kultstätten der Romantik aufblühte. Aufklärung und Romantik - man fragt sich, wie diese Kräfte zusammenwirken konnten. Gewiß ist der negative, pejorative Ton im Ausdruck >Romantik< ein späteres Entwicklungsresultat pragmatisch-nüchterner Denkweise, ein von der neuen Religion der harten Taler geprägtes Feindbild. Gleichwohl bleibt die Verbindung der beiden Begriffe >Aufklärung< und >Romantik< Ausdruck eines prekären Antagonismus. Immer wird etwas wie Unwirklichkeit in der Beschwörung der romantischen Vergangenheit mitschwingen, in der die romantische Bewegung selber ihr höchstes Ziel, sah. In
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Wahrheit gehört der Geist der Romantik in den Aufklärungszug des Abendlandes selbst. Das zeigt sich in negativer Weise in der produktiven Kritik, die die Romantik an einem verhärteten, scholastisch-kahlen Rationalismus geübt hat, und positiv in einer der größten Errungenschaften der Moderne, in dem neuen Zugewinn des geschichtlichen Denkens. Entdeckung der Seele der Völker in Liedern, Blick für das Volkstum und das Volkstümliche waren nur der Vorklang und die Begleitmusik eines größeren Geschehens, dessen Kraft in der Französischen Revolution freigesetzt wurde. Deutschland war freilich von den verklingenden Brandungswellen der Französischen Revolution nur gerade angenagt worden. Die dynastische Staatsform sollte noch ein Jahrhundert bestimmend bleiben. Dennoch war es das Bürgertum, die aufdas bäuerliche Hinterland gestützte Stadtkultur, die mit ihrem Gewerbefleiß Kunst und Wissenschaft zu neuer Geltung emportrug. Was wir als einen Epochenbegriff der Geistesgeschichte mit >Romantik< bezeichnen, war für das Leben einer wissenschaftlichen Institution wie der Universität freilich mehr eine atmosphärische Bedingung. So bedeutete die romantische Bewegung in Heidelberg gegenüber den Beharrungstendenzen einer althergebrachten Einrichtung wie der Universität höchstens nur eine provokatorische Randerscheinung. Indessen war die Epoche, in der die Romantik in Heidelberg aufblühte, als ganze eine überaus stürmische. Da war die Nähe der Französischen Revolution. Da war die Napoleonische Rheinbundpolitik. Da war der nationale Aufschwung der Befreiungskriege und die nachfolgende Enttäuschung der nationalen und demokratischen Erwartungen all das ließ die ästhetische Religion der Romantik, die sich in Jena entwickelt hatte, in Heidelberg zu einer politisch-historischen Bewegung werden. Ihr sollte die Zukunft gehören. Selbst die Restaurationspolitik der nachnapoleonischen Ära mußte am Ende an den neuen Wirklichkeiten von Staatsvolk und Volksstaat ihre Grenze finden. Da gehört es nun zu der Auszeichnung des Musterländle, der die Universität Heidelberg ihr besonderes Aufblühen verdankte, daß der Druck der Reaktion dort milde blieb und daß insbesondere nach dem Verebben der Stürme des Jahres 1848 keine neue Repression einsetzte, sondern eine tolerante und kulturfreudige Staatsfürsorge sich der Universität Heidelberg annahm. Es war keineswegs die Selbstbestimmung der gelehrten Körperschaft, wie sie die Universität des späteren Mittelalters besaß, sondern der Kulturwille des Landesherrn und seiner Berater, was hier am Werke war. So kam es zur Geburt der neuen Wissenschaft in Heidelberg. Nicht allein aus dem Geist der Aufklärung, sondern gerade auch vom Geist der Romantik umweht, entfaltete sich zunächst ein neues geschichtliches Denken in Theologie und Jurisprudenz und in den historischen Wissenschaften selbst zu einer Schule des lebendigen Geistes. Mythologie und Pandektenwissenschaft, Staatsrechtslehre, Staatswirtschaftslehre und politisch akzentuierte
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Universalhistorie, dazu eine Theologische Fakultät, in der neben dem Hegelianer Daub der Rationalist Paulus, und eine Philosophische Fakultät, in der neben dem Romantiker Creuzer der nüchterne Voß lehrte, haben das Klima gestaltet, in dem sich im Laufe der Zeit die neuen großen Kulturen der Naturwissenschaft und der auf sie gegründeten Medizin zu ihrer Blüte entfalten soUten. Am Ende konnte es nun nicht ohne Einfluß auf das Ganze bleiben, als die spekulativen Träume der Naturphilosophie am Geiste ernüchterter Experimentalforschung zerstoben. Es begann die neue, mit Liebig einsetzende Ära der Leben rettenden Chemie. Physik und Physiologie lösten den Feuerstoff und das Wunder des Lebens in Forsch~gsfelder der Wissenschaft auf, und sogar die Musik, dieser vielleicht höchste Ausdruck des Genius der deutschen Romantik, enthüllte in den Händen eines Helmholtz die ihr zugrundeliegenden Naturgesetzlichkeiten. Man muß sich erinnern, was diese Naturphilosophie ihrem eigenen Grunde nach war. Sie war durchaus nicht, wie die romantischen Dichterträume eines Novalis, Beschwörung des Naturgeistes, der in der Gruft des Zauberers Merlin schlummerte. Sie war vielmehr selber ein Teil des letzten großen Unterfangens der Philosophie im Zeitalter der Aufklärung, moderne Wissenschaft und überlieferte Metaphysik zu versöhnen und eine rationale Gesamtwissenschaft zu schaffen. Als »Wissenschaftslehre« sucht die Philosophie ein letztes Mal alles, was ist und gewußt werden kann, zu umfassen und die ganze Wirklichkeit in die Ordnung des Gedankens zu erheben. Den Griechen war nur die Natur und vor allem ihre sichtbare Ordnung am Himmel als ein Beweis des Geistes und des Guten erschienen. Nun soUte auch die wechselvolle Welt der Geschichte mit allem ihrem wilden Wirrwarr und sollten am Ende schließlich sogar die Mysterien der Religion im Begriff zu sich selbst gekommen sein. Wie universal mußte die Reaktion darauf werden! Wie mußte die Abkehr von einem konstruktiven Apriorismus, der zu sagen wagte: » Um so schlimmer für die Tatsachen! «, aufder ganzen Linie der fortschreitenden Forschung einsetzen. Zwar waren Schelling und Hegel in Heidelberg nicht so herausfordernd präsent wie in Berlin. Die zwei Jahre Hegelscher Enzyklopädie waren kurz. Gleichwohl meldete sich die Gesamttendenz der neuen Forschungsgesinnung im damaligen Heidelberg nicht so sehr in der noch rückständigen Naturwissenschaft wie im Gesamt der Wissenschaften dieser Jahrzehnte. Sie waren durch langsamen Abbau pseudoapriorischer Elemente charakterisiert: Abbau von Naturrecht zugunsten rechtsgeschichtlichen Denkens, von Geschichtskonstruktion zugunsten von Geschichtsforschung, von theologischer Dogmatik zugunsten historisch verfeinerter Exegese - das läßt sich selbst an den damaligen bedeutenden Vertretern des Rationalismus in Heidelberg ablesen, an Thibaut, an J. H. Voß, an Schlosser, an Paulus, später an Eduard Zeller und manchem anderen.
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Heute mögen wir vielleicht auch manches, was seinerzeit in Natur und Kultur aus romantischem Geiste beschworen war, auf methodisch-wissenschaftlicher Basis wieder einzuholen Ursache haben. Damals galt es gewiß, erst einmal den Erfahrungsstandpunkt, kontrollierbare Beobachtung, Experiment, Methode und Kritik gegen bloße Spekulation zu Ehren zu bringen. Daß das geschehen konnte, ohne in Einseitigkeiten eines,technologischen Pragmatismus zu verfallen und ohne die Wissenschaften von der Gesellschaft und der Geschichte in ihrer Eigenart und in ihrer Ebenbürtigkeit zu verkennen, verdanken wir nicht zuletzt der ehrfurchtgebietenden Symbolfigur von Hermann Helmholtz. Damit stehen wir bereits in der Mitte der zweiten neuen Aufbauphase der Heidelberger Universität, die ihr eine unter den deutschen Universitäten der Zeit ungekannte Internationalität verschafft hat. Als die naturwissenschaftliche Forschung im Heidelberg der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch zurücklag, waren es mehr die Juristen und die Historiker, die die Szene beherrschten. Jetzt, mit der übersiedlung von Heimholtz aus Bonn nach Heidelberg, fand eine Entwicklung ihre Krönung, die das moderne Gesicht der Naturwissenschaften in Heidelberg geprägt hat. Dort traf Helmholtz mit so großen Naturforschern wie dem Chemiker Bunsen und dem Physiker Kirchhoff zusammen. Es ist interessant genug: Als Helmholtz 1862 seine Prorektoratsrede )über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaft< hielt, klang der alte Primat der Staatswissenschaften und der Gotteswissenschaften - um ihres menschheitlichen Gehaltes willen - über die Wissenschaft von der Materie noch deutlich nach. Es hört sich wie eine Apologie an, wenn Helmholtz mahnte, daß man die für die Technik der Naturbeherrschung entscheidenden Wissenschaften nicht aus dem Gesamt der akademischen Wissenschaften herauslösen und in Fachschulen stecken dürfe - oder gar, daß man die Universität insgesamt nicht in Fachhochschulen auflösen solle. Man erkennt daran das wahrhaft Neue und Revolutionäre der neuen Wissenschaft. Die großen Pioniertaten der Wissenschaft im 17. und 18.Jahrhundert sind meist gegen die Universitäten und von Außenstehenden vollbracht worden. Der Widerstand der Universitäten gegen die moderne Wissenschaft war groß und wirkte lange nach. In der Substanz der Argumentation stellt nun HeImholtz' Rede ein siegreiches Bekenntnis zur kritischen Methodik bei der empirischen Erforschung der Tatsachen dar. John Stuart Mill hatte mit seiner >Induktiven Logik< das Grundbuch dieser Forschungsgesinnung geschaffen. Ein neues Selbstbewußtsein sprach auch aus Helmholtz. Er sagte geradezu, daß die eiserne Arbeit des selbstbewußten Schließens in der Naturwissenschaft der Lösung der wissenschaftlichen Aufgabe näher gekommen sei als im allgemeinen in den übrigen Wissenschaften. Das hielt Heimholtz nicht ab, auch diesen anderen Wissenschaften ihre
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Wissenschaftlichkeit zuzubilligen. Er sah in ihnen eine andere Art Denken am Werke, die künstlerische Induktion, die in einer unbewußten Vergleichung und Verallgemeinerung vor sich gehe. Sie könne freilich nie in ihren Resultaten die Ausnahmslosigkeit des Naturgesetzes erreichen. Man begreift etwas von der Wissenschaft der Neuzeit, wenn man beachtet, wie in dem Begriff des Gesetzes (auch dem griechischen Worte thesei nach) das durch Konvention Festgesetzte liegt. Nun wurde in der Neuzeit, auf dem Wege über die säkularisierte Schöpfungstheologie, strenge Gesetzmäßigkeit zur Auszeichnung der Natur, also dessen, was physei ist. Auch im ursprünglichen deutschen Sprachsinn liegt im Ausdruck »Gesetz« das Gesetztsein und gerade nicht das von Natur Gegebensein. Man fragt sich, wohin in diesem Zusammenhang die Mathematik zu stellen ist. Eine empirische Erforschung von Tatsachen betreibt sie doch gewiß nicht. Es sind aber auch nicht einfach psychologische Tatsachen, die sich im Wunder der ZaW und in den Rätseln der Zahlentheorie offenbaren. Dieser von HeImholtz versuchte Weg zur Begründung der Mathematik konnte nicht das Richtige sein. So ist der Kampf gegen den Psychologismus, der für die Philosophie an der Wende zum ZO.Jahrhundert bezeichnend wurde - man denke an Frege und Husserl-, schon Jahrzehnte vorher durch den Neukantianismus, vor allem durch Cohen, eröffnet worden. Eher mag man als psychologische Tatsachen beschreiben, was im Geschichtsprozeß und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vor sich geht, und damit begründen, daß dort der rationalen Erklärung eine Grenze gesetzt ist. Aber ist es nur das? Nur eine Begrenzung? Nur eine Grenze des Wissenkönnens? Oder liegt hier in der Sache eine andere Art von Rationalität, die auch ein anderes Wissen verlangt? An dieser Frage hat sich die Philosophie in den letzten einhundert Jahren abgearbeitet. In Wahrheit war die Frage bereits mit den Anfangen der neuzeitlichen Wissenschaft gestellt. Eine Weile konnten sich die Rechts- und Staatswissenschaften wie die geschichtlichen Wissenschaften noch dem traditionellen Wissenschaftssystem als »praktische Philosophie« einordnen. Selbst der deutsche Idealismus setzte das mit Hegels Rechtsphilosophie fort. Als sich aber das Zeitalter der Wissenschaften mehr und mehr durchsetzte und das vollendete sich in der Mitte des 19.Jahrhunderts, kehrte man mi~ neuer Entschlossenheit zu Kant zurück, in dem man den Befreier der Wissenschaft von allen metaphysischen Schlacken des Rationalismus und den Garanten wissenschaftlicher Philosophie sah. Das heißt: Philosophie wurde zur »Erkenntnistheorie«. Eduard Zeller hat hier in Heidelberg diesen Ausdruck und diese Deutung Kants auf den Schild erhoben, die heute noch in: der angelsächsischen Welt das Kantbild allzu einseitig beherrscht. In Wahrheit hat Kant sein kritisches Werk in letzter Absicht einer moralischen Metaphysik untergeordnet, um damit der Aufklärung ihre Grenzen zu
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zeigen. Die Autonomie der praktischen Vernunft ist nach Kantauf das Vernunftfaktum der Freiheit gegründet, das durch empirische Tatsachenforschung weder widerlegt noch bestätigt werden kann. Für den Begriff von Wissenschaft, den Helmholtz vor Augen hatte, war das keine Auskunft. Da mochte sich die historische Schule zu ihrer wissenschaftstheoretischen Rechtfertigung auf Kategorien der Freiheit gründen. Der Heidelberger Späthegelianismus Kuno Fischers mochte Hegels absolute Idee als Entwicklung deuten, die in jeder ihrer Wachstumsstufen schon ist, was sie ist - wie die Natur. Die neukantianische Schule Heidelbergs in unserem Jahrhundert mochte die Kulturwissenschaften erkenntnistheoretisch aufden Wertbegriffgründen - Helmholtz hätte es doch wohl mit einem anderen Großen der Heidelberger Universität gehalten, mit Max Weber. Dieser wohl größte Gelehrte Heidelbergs im ZO.Jahrhundert hatte gerade in der Kritik an einer späten Nachblüte der Romantik, der organischen Staatstheorie, seine Waffen geschärft, um eine wertfreie Soziologie zu entwerfen und alle Wertentscheidungen aus der Wissenschaft zu verweisen. Und doch bleiben die Wissenschaften vom Menschen auf eine evidente Weise unterbestimmt, wenn es keine andere Rationalität geben soll als die der Gesetzlichkeit der empirischen Tatachen. Gewiß gibt es auch in den Gesellschaftswissenschaften und nicht zuletzt in den Wirtschaftswissenschaften Erfahrungsbestände, die so etwas wie Gesetzlichkeit zeigen und die sich mit rationalen Mitteln darstellen lassen, etwa durch Ausarbeitung mathematischer Modelle. Solches Wissen ermöglicht dann sogar Prognosen, aber spezifisch ungewisse. Es lohnt sich zu fragen, warum sie ungewiß sind. Liegt es an einem immer noch unzureichenden Datenbestand, wie das für die Meteorologie gilt, die schonJohn Stuart Mill mit den Geisteswissenschaften verglichen hatte - schwerlich zu beider Ehren? Aber was wäre ein zureichender Datenbestand? Man wird sagen, wenn er erlaubt, das unberechenbare Wesen des menschlichen Verhaltens in diesen Prozessen im groben Durchschnitt zu berechnen. Aber wenn sich nun allzu viele erlauben würden, allS den rationalen Prognosen dieser Wissenschaften praktische Folgerungen zu ziehen? Dann würde deren Rationalität gerade dadurch widerlegt, daß die Menschen aus Rationalität den Prognosen Rechnung trügen. Man muß hier, scheint mir, von Grenzen der Objektivierbarkeit reden, und ebenso in vielen anderen Fällen, in denen Naturwissenschaft auf komplexe Lebensverhältnisse, insbesondere des Menschen, angewendet wird. Das gilt grundsätzlich zum Beispiel von der medizinischen Wissenschaft, die sich selbst begrenzt, wenn sie auf die ,Kunst< des Arztes vertraut. Auch der wissenschaftliche Arzt kann die Gesundheit nicht >machen<. wie sonst ein wissender Könner etwas fabrizieren kann. Er kann stets nur Beihilfe leisten. damit die Natur sich selbst hilft. Da sagen wir dann, daß der Kranke >mitmacht< oder nicht mitmacht. Das mögen Redensarten sein, die die
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Grenzen der ärztlichen Möglichkeit aussprechen. Man wird es aber kaum eine bloße Redensart nennen wollen, wenn ein Mensch sich nach ernster Prüfung in seinem Handeln so oder so entscheidet. Ein anderer mag es noch so richtig (oder nicht richtig) vorausgesehen haben, daß er sich so entscheiden wird: Er selbst hat es nicht >gewußt<. Der Wählende sieht sich in seiner Wahl frei. Er kann sie sogar bereuen und beweist auf alle Weise, daß er sich seine eigenen Taten zurechnet. So gibt es zu denken, daß ein so großer Bewunderer von Max Webers wissenschaftlichem Rigorismus wie der Psychiater und Philosoph KarlJaspers sich nicht damit beruhigen konnte, daß letzte Existenzentscheidungen aus dem Bereich des Rationalen herausfallen. Max Weber schien dIese Grenze unseres Wissens mit seiner unbeugsamen Tapferkeit hinzunehmen, wenn er auf der Wertfreiheit der Wissenschaft bestand und sie auf reine Zweckrationalität beschränkte. Aber hatte Jaspers nicht recht, wenn er die Vernunft in der Existenz selber zu finden suchte und geradezu von »Existenzerhellung« sprach? Oder nehmen wir ein anderes Heidelberger Beispiel. Der vielversprechende junge Sinnesphysiologe Viktor von Weizsäkker hat in einer wahren Lebensentscheidung seinen Platz als Arzt am Krankenbette gewählt. Wenn er am Ende noch die Krankheit selbst wie eine selbstgewählte Ausflucht der Seele zu hinterfragen gewagt hat, ging es ihm vor allem um Erkenntnis. Ob mit Recht oder Unrecht glaubte er sich vor wirklichen Tatsachen zu finden, wenn ihm, jenseits des ganzen Bereiches von Zählen, Messen und Wägen, im Gespräch, zwischen Mensch und Mensch, der psychosomatische Zusammenhang einer Krankheit aufging, und vielleicht konnte er dadurch dem Kranken helfen, daß er selber so >verstand .. Man mag noch so sehr über die Ikarus-Flüge der spekulativen Philosophie lächeln, wenn sie die Natur als Geist denken wollte oder wenn sie als Identitätsphilosophie die Erforschung der Tatsachen zu einem äußerlichen Tun herabwürdigte. Hegel hat es »äußere Reflexion« genannt, deren endloser Fortgang nie zu dem Selbst des Seienden und des Geistes vordringe. Dagegen mußten sich die Erfahrungswissenschaften wehren. Ihnen gilt die Natur als ein methodisch wohldefinierter Forschungsbereich. Vollends werden wir heute einer idealistischen Gleichung von Natur und Geist nicht mehr folgen können, seit wir die inneren VerwicklunQ:en von Natur und Geist durch Nietzsche, durch Freud und die weitere Fors~hung der Neurologen kennengelernt haben. Aber die menschliche Lebenspraxis besitzt so gut wie alle Schöpfungen und Einrichtungen, die sie aus sich herausgestaltet und die wir >Kultur< nennen, eine ihr eigene Rationalität. Das unterscheidet sie offenkundig von der Rationalität der Natur. So wird auch die Wissenschaft von dieser Lebenspraxis und ihren Erstellungen anders aussehen müssen. In ihr geht es weit weniger um sichere Beherrschung von Tatbeständen der
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Erfahrung. - In ihr geht es um mehr: um Teilhabe, um Teilnahme und um Beteiligung des einen am anderen. Immer wird ein Gran Selbsterkenntnis im Spiele sein, in allen Begegnungen von Menschen mit Menschen und mit ihren Schöpfungen. Dieser Einschlag spekulativer Identität ist dem Menschen eingeboren. Er geht in alle seine Bemühungen ein und spielt selbst dort hinein, wo der Forscher nur den »eisernen Gesetzen des rationalen Schließens« zu folgen meint. Ahnungen, Vermutungen, Wiedererkennungen müssen es wohl in aller Wissenschaft sein, die die Phantasie des Forschers beleben. Er wird nichts ungepruft gelten lassen. Aber ein jeder findet sich bereits in einer Welt vor, in der er lange vor seinen ersten Schritten als Forscher eine vorgängige Weltorientierung erworben hat. Er hat sprechen gelernt und hat von den anderen zu lernen begonnen und hat diese Lehre nie ausgelernt. Hier liegt der Primat der Sprache und der in ihr gespeicherten Erfahrung, die das hermeneutische Universum beherrscht. Aus der Gemeinsamkeit der Überlieferung und im Zuge sprachlicher Verständigung blitzen Einsichten, überraschende Vermutungen auf. Was durch Worte suggeriert wird, mag oft beirren - wir kennen die Warnung vor den idola Jori. Doch manchmal wird es als Wink von urzeitlicher Herkunft Richtung weisen. Nicht zu reden von der Schematisierung aller Erfahrung durch die Grammatik, der Nietzsche so viel Bedeutung flir das Leben, Heisenberg so viel für die Naturforschung zugemessen hat. Davon haben die Romantiker etwas gewußt - und es scheint, daß alle echten Forscher, auf allen Gebieten des Wissens, davon etwas wissen. Helmholtz hat seinerzeit den gemeinsamen Grund aller Erkenntnis mit den Mitteln der zeitgenössischen induktiven Logik beschrieben und von da aus bewußtes und unbewußtes Verallgemeinern, logische und künstlerische Induktion unterschieden. Man erkennt die Nachwirkung der aristotelischen Logik. Aber wenn er den Geisteswissenschaften die überlegene Rolle des Gedächtnisses zuwies, hat er doch wohl überschätzt - oder gar unterschätzt? _, was dessen eigentliche Leistung ist: nicht bloße Speicherung von Wissen, wie si.e etwa im Wörterbuch, im Katalog usw. zubereitet wird. Das Gedächtnis entspricht vielmehr dem Erfahrungserwerb, den der Naturforscher in seinem Bereich - oft injahrelanger Vorbereitungsarbeit für sein Experiment - erarbeitet. In beiden Fällen führt es in die Irre, hier lediglich psychologische Tatsachen am Werke zu sehen. Gedächtnis ist nicht eine bloße automatische Festheftung von ehedem Gegenwärtigem, sondern ein kunstvolles Lebenssystem von Behalten und Vergessen, von Festhalten und Verdrängen, kurz: ein Verhalten. Man hat Gedächtnis für etwas und für anderes nicht, man kann sogar Gedächtnis ehren und pflegen, und man weiß warum. Ebenso gilt: die Bildung von Begriffen ist nicht die Leistung eines bewußten oder unbewußten Schließens. Da ist kein Schluß von,vielen Fällen auf alle. Der Dogmatismus dieses Induktionsbegriffs, der so nicht bei Ari-
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Die Stellung der Philosophie in der Gesellschaft
Die Universität Heidelberg und die Geburt der modernen Wissenschaft
stoteles ist, scheint mir von Popper mit Recht entmythologisiert worden zu sein. Aber man muß weitergehen. In Begriffsbildung liegt eine eigene Rationalität. Sie ist ein Lebensvorgang, in dem Auswahl, Unterscheidung und Identifizierung vor sich gehen. All das sind Denkhandlungen, die nicht aus blinder Eingebung zu einer Setzung fUhren, sondern durch die Mühsal des Denkens, das fruchtbare Annahmen macht, um dann weitere Rationalität, wie in logischer Deduktion, in Prüfung und Bewährung der Folgerungen zu gewinnen. Wir stehen damit im Bereich der >Inventio<, die aller >Deductio< vorausliegt. >Inventio< kommt von ,invenire<, und ,invenire< heißt: »auf etwas kommen, es finden«. Was ist es aber, was man da finden soll? Es ist die Frage. überall, wo sich innerhalb der Erwartungslinien - der Lebenspraxis wie der Wissenschaft - das Unerwartete zeigt, gilt es, die Fragen zu finden, die man zu stellen hat. Das Unerwartete gehört immer schon in einen Erwartungshorizont, in dem sich Möglichkeiten abzeichnen. Hier auf die richtigen Fragen zu kommen, Fragen zu finden, die sich wirklich stellen lassen, auf die es eine Antwort, so oder so, geben kann, das hat seine eigene Rationalität. In der Lebenspraxis kennen wir diese Möglichkeiten als die tunlichen. Zwischen ihnen allein kann die praktisch richtige Antwort gesucht werden. Nicht anders ist es im Bereich theoretischer Erkenntnis. Auf die richtige Fragestellung kommt es in der Wissenschaft an. Auf eine schiefe, sinnlose Frage, die nichts Fragliches trifft, gibt es keine Antwort, hier wie dort. Was eine gute oder eine richtige, eine treffende Frage ist, kann sich zwar erst in ihrer rationalen Prüfung bewähren. Aber fruchtbare Fragen zu finden ist selber eine Kunst. Nein, ein Können, das von eigener Rationalität ist - nicht minder rational wie das Finden des Tunlichen im Entscheidungsprozeß der Lebenspraxis. Diese Kunst zu üben begleitet unser ganzes Leben. Wir üben sie täglich: im Suchen des rechten Wortes, wenn wir einem anderen etwas sagen wollen, wie im Treffen der rechten Wahl im Handeln - und sei es das Handeln des Forschers. Es scheint, daß auch in den neuen Wendungen der Wissenschaftstheorie nicht so sehr das Modell der reinen Konstruktion und ihrer überprüfbarkeit als alleiniges Ideal der Rationalität gilt. Man muß sich nur klarmachen, was fUr Aufgaben und Einsichten der Systemtheorie, der Krisentheorie oder der Katastrophentheorie zugrunde liegen, deren mathematische Durchführung weit über meine Fassungskraft hinausgeht. Wir gehen auf das Ende eines Jahrhunderts zu, das den Rationalitätsbereich im Sinne wohlberechneter Lebensorganisationen immer mehr erweitert hat. Damit hat sich die Freiheit der Gestaltung und Umgestaltung der Dinge notwendig eingeschränkt. Das gilt auch für die Wissenschaft selber, die sich neuer Computertechniken zu bedienen lernt und neue Daten und
Datenzusammenhänge aufschließt. Sie vedangen um so mehr nach den rechten Fragen des rechten Forschers. Mit Notwendigkeit vergrößert sich ständig der Bereich, in dem Rationalität des Berechnens geübt wird, und verengt sich der Freiraum derjenigen Rationalität, in der sich die geniale Improvisation und Innovation bildet. Ihn gilt es zu wahren zu zu erfüllen. Man erkennt daran, was Forschung eigentlich ist, wie selten, wie glückhaft. Aber Fühlung mit Forschung zu vermitteln, das ist die Aufgabe, an der eine Universität ihre Lebensberechtigung hat, gerade auch in der Ausbildung des Lehrers, des Pfarrers, des Juristen, des Arztes, die den Zwängen einer durchorganisierten Gesellschaft unterliegen. Damit verschärft sich - nach mehr als einem Jahrhundert wissenschaftl icher und gesellschaftlicher Erfahrung - das Argument, das Helmholtz ehedem für das Gesamt der Universität plädieren ließ. Bei aller Bedeutung, die den Naturwissenschaften durch ihre Resultate im überlebenshaushalt der modernen Menschheit zukommt, gilt es, die innere Verwobenheit von Geschichtlichkeit und Gesetzmäßigkeit, von Abstraktionskraft und Konkretionskraft, von Wissen und von Urteil, von Können und von Weisheit zu bewahren - und wo sie verlorengeht, wieder herzustellen. Das ist das Gleichgewicht, das wir auch sonst Gesundheit nennen. Es ist der Zukunft der Menschheit als Aufgabe gestellt und ebenso der Zukunft der Universitäten. Es geht nicht um große Pläne. Es geht um den Kreislauf des Lebens, seinen Erhalt. Ungleichgewichte abzubauen, neue Gleichgewichtslagen zu fmden, ist die Aufgabe in allen Bereichen unseres so beängstigend steigenden Lebensdrucks. Sie ist die gleiche in unserem eigensten Bereich von Forschen und Lehren - ja, sie liegt nicht zuletzt in unserem eigenen Bereich. Beides wird von uns gefordert, es zu haben und es zu lehren: »Können, das sich verhält, und Weisheit, die sich bescheidet«.
Mit der Sp~ache denken
30. Mit der Sprache denken (1990)
Als ich im Jahre 1968 vom Lehramt zurücktrat, begann ich ein für mich ganz neues Reiseleben. Während der Zeit meiner Lehrtätigkeit hatte ich Vortragsreisen immer auf die vorlesungsfreie Zeit beschränkt. Das Übergewicht solcher Vortragsveranstaltungen empfand ich zu sehr als eine Schwächung meiner Präsenz auf dem Katheder. Schon öfters hatte ich auch an mich ergangene Einladungen nach Amerika abgelehnt. Dabei kam hinzu, daß ich mir bewußt war, mich zwar im damaligen Europa ganz gut auf Französisch behelfen zu können, während mir die englischsprachige Welt, mit der ich nur durch Lektüre verbunden war, unzugänglich war. Jetzt, 1968, folgte ich einer Einladung der Vanderbilt-University zu einem ScWeiermacher-Kolloquium und lernte auf der anscWießenden Vortragsreise viele amerikanische Universitäten kennen. So begann ich es mir zuzutrauen, im Laufe der Zeit auch genügend Englisch sprechen zu lernen. Eine Lehrtätigkeit in USA und Canada hatte in meinen Augen keinen Sinn, wenn ich nicht meinen eigenen Stil des Denkens in der fremden Sprache zum Ausdruck bringen konnte. In den folgenden Jahren bewog mich das, in den Vordergrund meiner Lehrtätigkeit in Amerika die gemeinsame Herkunft der Philosophie aus dem Griechentum zu stellen. Damit scWoß sich meine Lehrtätigkeit aufReisen an meine eigene Forschungsarbeit an. Ich konnte meine Studien zur griechischen Philosophie auf vielfache Weise erproben, auch in Europa, später zum Beispiel in Italien, in Spanien, in Frankreich, Belgien, Holland, Irland und in Skandinavien. Nach all den früheren Reisen im alten Europa, die sich auf die akademischen Ferien beschränkten, bedeutete die Reise in die angelsächsische Welt etwas Neues und brachte mir viele Erfahrungen. Das erste war für mich natürlich, langsam die Sprachbarriere überwinden zu lernen, und dabei half mir vor allem meine Vorliebe für die lyrische Poesie. Durch Eliot, Yeats und Wallace Stevens lernte ich etwas von der Musik des Englischen. Aber die Erwartung, die ich bei meinen Reisen in der angelsächsischen Welt haben mußte, stellte auch neue Denkaufgaben. Daß dort überall die analytische Philosophie einen großen Raum einnahm und die sogenannte Kontinentalphilosophie ganz im Schatten war, bedeutete für mich keine Überra-
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schung, auch nicht, daß die deutsche Philosophie unserer Ze~t überhaupt fa~t nur durch die Phänomenologie Husserls bekannt war, Heldegger und dIe Hermeneutik dagegen nicht. Als ich aber langsam besser englisch sprechen lernte, zeigte es sich, daß auch von der analytischen Philosophie her Brücken zur Hermeneutik gangbar wurden. Ich hatte selber nach der Fertigstellung meines Hauptwerkes den späten Wittgenstein zu studieren begonnen und sah da manches, was mir längst vertraut war. Auch in Deutschland war es damals schon nichts Ungewöhnliches mehr, von »Sprachspielen« zu reden. Ein anderes Bindeglied zwischen meiner eigenen Herkunft und dem neuen Kontinent stellte ferner die Theologie dar. In beiden Konfessionen bedeutete die Existenz theologischer Fakultäten eine gewisse Präsenz des Griechischen, und in den katholischen Universitäten auch di~ des Lateinischen. Gewiß hatte ich selber keine Kompetenz als Theologe. Aber die griechische Metaphysik hat die christliche Dogmatik durch die Übernahme des Aristoteles in so weitem Umfang geprägt, daß die mir längst vertraute Spannung zwischen dem katholischen metaphysischen Aspekt des Gottesbegriffs als des höchsten Seienden und den exegetischen Subtilitäten in den protestantischen Fakultäten höchst stimulierend war. Überdies fand man da meistens eine gute Kenntnis des Griechischen und der griechischen Kulturwelt, vor allem philosophisches Interesse gegenüber den griechischen religiösen Kulten, das aufdie Gottesfrage, aufdas >Göttliche<, konzentriert war. Das war eine Spannung, die mir bei meinen Studien der griechischen Philosophie auch in Deutschland durch die Anteile des Platonismus und des Aristoteles in der Geschichte der Metaphysik wohl vertraut war, insbesondere, seit durch die dialektische Theologie das Problem des Redens von Gott die Theologie in Atem hielt. Die Wiederaufnahme der griechischen Seinsfrage konnte unter diesen Umständen neue Aufgaben stellen. Wie in Deutschland beschränkte sich aber auch in dem neuen Kontinent das Interesse an der hermeneutischen Philosophie nicht nur auf den philosophischen Fachbereich. Es ist ja überall fühlbar, !jaß die große Erbmasse des griechisch-christlichen Denkens in unserem Zeitalter der Wissenschaft nicht mehr in dem Fachbereich der Philosophie allein anzutreffen ist. So hatte die hermeneutische Fragestellung in vielen Fächern längst ihr Heimatrecht. Es war nicht nur die Theologie, zu der sich bei meinen amerikanischen Besuchen Fäden anspannen, sondern auch die philologischen Wissenschaften, insbesondere die Komparatistik. Mir schien sogar, daß in dem neuen Kontinent dort weit mehr von kontinentaler Philosophie präsent war als in den philosophischen Departments. Auch sOnst begannen andere Disziplinen mit den Problemen der hermeneutischen Philosophie bekannt zu werden, so die Juristen und die Mediziner sowie alle Fachbereiche, die von den Problemen der Ästhetik gestreift sind. Was wir in Deutschland die Geisteswissenschaften nennen und im Englischen >humanities<, im Französischen ,lettres< heißt,
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steht eben im Erbgang der Metaphysik. Freilich bedeutet es einen riesigen Unterschied, daß der englische Ausdruck für Wissenschaft, >science<, für das, was wir Geisteswissenschaften nennen, damals überhaupt noch nicht gebraucht wurde und auch heute nur aus Verlegenheit gebraucht wird. Science ist Naturwissenschaft. Das hat seine gewaltigen Folgen im Bereich der Philosophie selber. Die Sprache hat eine ganz andere Stellung in der uns vertrauten Tradition der Philosophie, als es in der angelsächsischen Philosophie der Fall ist. Gewiß ist auch dort das Erbe der humanistischen Tradition in den herrschenden Begriffen ständig fühlbar, aber sie haben keine andere Begriffsfunktion, als sie dort in der Sprache der Naturwissenschaften, die man mit Windelband auch Erfahrungswissenschaften nennt, gebräuchlich ist. Wenn man den Unterschied philosophisch formulieren will, mag man sich an den scholastischen Gegensatz von Nominalismus und Realismus erinnern. In dieser Entgegensetzung bedeutet >Realismus< natürlich den Begriffsrealismus der Scholastik. Damit wird es sofort klar, daß die Sprache der neueren Wissenschaft ganz und gar von dem scholastischen Nominalismus geprägt ist. Wort und Begriffsind im Forschungsbereich der Naturwissenschaften wie die mathematischen Symbole lediglich ein Instrument und werden als ein Mittel der Bezeichnung für die Forschung und Gewinnung ihrer Resultate angesehen. Dieses Begriffsverständnis ist im Zeitalter der Neuzeit derart dominierend, daß sogar in der deutschen Tradition der Philosophie, nicht zuletzt gerade auch im deutschen Idealismus, die Sprache des Begriffs überhaupt nicht Gegenstand philosophischer Nachfrage war. Als ich selber in Deutschland meine philosophischen Studien begann (1918), sprach der herrschende Neukantianismus noch immer die aus der Schulmetaphysik des 18. Jahrhunderts stammende, ins Deutsche umgeformte Begriffssprache Kants. Es war einem nicht einmal bewußt, daß etwa die neueren Bestrebungen der Phänomenologie den Sinn von Begriff selber verändern mußten und mindestens auf eine Herkunft zeigten, die von Franz Brentano her über Frege, Husserl, Meinong und andere aufeine neue Denkdisziplin hinzielte, in der der Begriff nicht bloß ein Instrument und ein Verständigungsmittel ist, sondern die Sache der Philosophie selbst. Erstaunlich genug, daß man dann mit überraschung etwa in dem letzten großen Systementwurf des deutschen Idealismus, bei Hegel, den Grundriß einer Logik kennenlernte, die vom »Sein« zum» Wesen« und dann zum »Begriff« führt. Dieser »Begriff« soll dort die Einheit von Sein und Wesen bilden, hat also auf der Seite unseres denkenden Verhaltens gar kein Heimatrecht, sondern macht eben das wahre Sein und Wesen der Sache aus. Immerhin spiegelt sich das in dem deutschen Sprachgebrauch von »Inbegriff«, der das ganze Wesen der Sache und nicht nur das durch unser Begreifen Begriffene meint. Jedenfalls war es für mich selber eine neue Erfahrung, als ich bei der ersten
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Begegnung mit Heidegger den Ausdruck »Begrifflichkeit« hörte und ein kritisches Verhältnis zu den Begriffen der philosophischen Terminologie unter dem Titel »Destruktion« zu lernen hatte. Da ging mir langsam auf, daß die Sprache der "Philosophie, die in der deutschen Philosophie üblich war, voll von Vorgreiflichkeit war, und ich lernte langsam die Sprachkraft der Worte heraushören, die in jedem Sprachgebrauch (oder von seinen Herkünften her) noch mitsprach. Mit anderen Worten: Die Sprache der Philosophie begann selber wieder zu sprechen. Gegenüber der herrschenden Zeichentheorie und ihrer instrumentalen Funktion bedeutete das ein langsames Umlernen. Dem trug der junge Heidegger, als er die Vorgreiflichkeit der herrschenden Begrifflichkeit erkannt hatte, Rechnung, indem er seinerseits den von Kierkegaard eingeführten Ausdruck »formale Anzeige« übernahm und damit das phänomenologische Prinzip des Sichzeigens der Sache selbst ins Spiel brachte. Es genügt nicht, wie in den Wissenschaften, die nötigen Bezeichnungen mit dem dadurch bezeichneten >Gegebenen< zu verbinden. Denn was ist in der Philosophie das Bezeichnete? Wie kann etwas einem so gegeben sein, daß wir dann auch nach beliebiger Konvention eine Bezeichnung für es einführen und weil das dann wie Defmition aussieht und sich sogar noch philosophisch vorkommt? Das ist freilich nicht die Art, wie Worte im Denken der Philosophie »arbeiten«, um mit dieser Anspielung zugleich die Nähe zu Wittgenstein anzudeuten. Die Worte, die wir in der Sprache gebrauchen, sind uns so vertraut, daß wir sozusagen in den Worten darin sind. Sie werden nicht Gegenstand. Gebrauch der Sprache ist überhaupt kein Gebrauch von etwas. Wir leben in einer Sprache wie in einem Element. wie die Fische im Wasser. Im sprachlichen Umgang und in allem, was wir ein Gespräch nennen, suchen wir die Worte. Sie kommen einem, und sie erreichen den Andern oder verfehlen ihn. Das Gemeinte wird im Austausch der Worte den Teilnehmern am Gespräch mehr und mehr gegenwärtig und vertraut. Wir nennen das wohl eine natürliche Sprache, die uns so verbindet. Nun gebrauchen wir freilich in der Philosophie ständig auch Worte, die nicht der natürlichen Sprache angehören, und dasselbe gilt in den Wissenschaften. Dort nennt man das Fachausdrücke oder Terminologie. Aber während die Fachausdrücke in den Erfahrungswissenschaften lediglich den Anspruch erheben müssen, eine eindeutige Bezeichnung für etwas zu ermöglichen, das man durch Erfahrung prüfen kann und was im Grunde genommen durch die Symbolsprache der Mathematik allein angemessen 6xierbar ist. sieht es im philosophischen Sprachgebrauch anders aus. Da sind die Fachausdrücke, die wir gebrauchen, von sich aus aussagekräftig. Sie sind nicht wie Zeichen auf etwas bezogen, das man kennt, sondern erzählen selber etwas und bilden von ihrer eigenen Herkunft aus den Bedeutungshorizont, den die Rede und das Denken auf das Gemeinte hin öffnet.
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Mit der Spr.ache denken
Heidegger hat die Aufgabe der Philosophie geradezu als Destruktion bezeichnet, und er gehorchte damit dem phänomenologischen Grundsatz, alle theoretischen Konstruktionen zu vermeiden und auf die Sachen selbst zurückzugehen. Das war Husserls berühmte Parole gewesen, der er aufseinen eigensten Gebieten, den Problemen der Mathematik und der Logik sowie in der Analyse von Grundbegriffen wie Zeit und Raum, mit sehr fein differenziertem deutschem Sprachgebrauch gefolgt ist. Als Heidegger bei Husserl in die Lehre ging und die hohe deskriptive Kunst der phänomenologischen Begriffsanalyse von ihm lernte, gewann nun diese Aufgabe eine ganz neue Dimension, eben die der Herkunftsgeschichte, die in den Fachausdrücken der Philosophie mehr oder minder verdeckt noch im Hintergrund ist und doch mitspricht. Heidegger hatte sich schon injüngerenJahren intensiv mit dem Werk von Wilhelm Dilthey beschäftigt und damit einen Zugang zu dem romantischen Erbe der deutschen Philosophie gewonnen, das sonst in dem herrschenden Neukantianismus wenig Präsenz besaß. Die enorme historische Bildung, die Dilthey als Schüler ScWeiermachers und seiner Schülergeneration erworben hatte, kam nun dem jungen Heidegger zugute. Die neukantianische Philosophie war zwar gewiß nicht ganz so spröde und flir die sogenannten Geisteswissenschaften unzugänglich wie die analytische Philosophie im angelsächsischen Raum. Aber es war schon eine Besonderheit, die Ernst Cassirer damals darstellte. Schließlich war er ein Schüler der Marburger Schule, das heißt der systematischen Wiederbelebung Kants, die unter dem Faktum der Wissenschaft wie der Kant der >Prolegomena< durchaus nur die Natunvissenschaften verstanden hatte. Die enorme Flexibilität von Ernst Cassirer, seine riesige Belesenheit und offenbar eine gute Portion natürlichen historischen Sinnes zeichneten ihn aus, so daß er eine Anwendung der Transzendentalphilosophie auf die geschichtliche Welt ohne Begriffsscholastik fruchtbar machen konnte. Aber sonst war die neukantianische Schulphilosophie weder flir so etwas wie Begriffsgeschichte noch flir ihre sprachlichen Voraussetzungen besonders kompetent. Ihr Verhältnis zur Geschichte der Philosophie war zwar durchaus wesentlich. Aber der Neukantianismus verstand die Geschichte der Philosophie als Problemgeschichte und meinte in den Problemen Invarianten zu haben, so daß man sich um ihre Herkunft, die in Wahrheit aus der Hegelschen Logik kam, überhaupt nicht kümmerte, sondern sie wie feste Kategorien zugrundelegte. Freilich war in der Nachgescbchte des deutschen Idealismus die Entfaltung des historischen Bewußtseins in Deutschland stark entwickelt worden, so daß angelsächsische Besucher schon vor dem Ersten Weltkrieg zu der Meinung kamen, die deutsche Philosophie sei »in Geschichte ertrunken«. Das ist es, was man vielleicht mit einem gewissen Recht damals von den wissenschaftlichen Leistungen der Mehrzahl der deutschen Philosophieprofessoren sagen konnte. Sie waren
wirklich mehr eine Ausweitung und Sondersparte der »historischen Schule«, die in der Nachgeschichte der deutschen Romantik den Ruhm der deutschen Universitäten des späteren 19. Jahrhunderts zu einem guten Teil ausgemacht hat. Der junge Heidegger war aber kein solcher Fall eines bloßen Historikers der Philosophie. Wer von Heideggers Auftreten inspiriert wurde, konnte die Trennung von Philosophie und ihrer Geschichte überhaupt nicht mehr vollziehen. So sehr wurde das gegenwärtig, was im Abbau der geschichtlichen Verdeckungen hinter der Begriffstradition des abendländischen Denkens zu sprechen begann. Heidegger hat selbst Husserl überzeugen können, daß Aristoteles noch vor dem Begründer der Phänomenologie, also noch vor Husserl, ein Phänomenologe gewesen sei. Heidegger aber hatte die Gabe, die Grunderfahrungen selber ins Auge zu fassen, die in den Aristotelischen Texten mit analytischer Meisterschaft hin und her gewendet werden. Mit einem Male wurde Aristoteles nicht mehr mit den Augen des Thomas von Aquin gelesen, sondern zeugte vom Anfang des griechischen Denkens überhaupt. Es war nur folgerichtig, daß im Durchgang durch Aristoteles Heidegger am Ende die Frage nach dem Anfang der Philosophie zu stellen begann. Bekanntlich besitzen wir nur wenige fragmentarische Stücke, die von dem Anfang des griechischen Denkens Zeugnis geben, und auch diese sind am Ende dank dem Interesse erhalten, das Aristoteles flir diese Anfänge geweckt hatte und durch dieJahrhunderte der griechischen Spätzeit der europäischen Bildungsgeschichte überliefert hat. Die Bedeutung des Anfangs ist aber gerade auch unter hermeneutischem Gesichtspunkt eine besondere. Im strengen Sinne des Wortes ist es ja ein fast sprachloser Anfang. Es sind Zitate, das heißt, sie sind selber herausgerissen aus dem Flusse des Denkens, und der Zusammenhang, in dem diese Sätze ursprünglich sprechend waren, ist nicht mehr gegeben. So sind sie wie die Probleme der Problemgeschichte und wie die >statements< angelsächsischer Schultradition. Alle philologische Rekonstruktion kann das nicht ersetzen, was wirkliches Sprechen seinem Wesen nach ist. Die ersten wirklichen philosophischen Texte der Griechen, die wir besitzen, sind diePlatonischen Dialoge und die sogenannten Lehrschriften des Aristoteles. Beide stellen uns unmittelbar vor das hermeneutische Grundproblem der Schriftlichkeit. Platos Dialoge sind von einem großen Meister dichterischer und philosophischer Kunst geschriebene Gespräche, und wir wissen von Plato selbst, daß er eine schriftliche Darstellung seiner Lehre nicht hinterlassen hat und nicht hinterlassen wollte. So hat er uns unzweideutig vor die Notwendigkeit gestellt, durch eine mimetische Verdopplung, das heißt durch das geschriebene Gespräch auf das ursprünglich gesprochene Gespräch, in dem das Denken seine Worte findet, hindurchzugehen - eine nie
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völlig lösbare Aufgabe. Gewiß kann man nun mit den Augen des Aristoteles sehen und lesen, was in diesem Gespräch wohl gedacht worden ist. Aber dann liest man abermals in einer nochmaligen Vermittlung die Spur der gesprochenen Rede, die in den sogenannten Texten des Aristotelischen Corpus hinterlassen ist. Es ist kaum nötig, hinzuzufügen, daß die Latinisierung der aristotelischen SchuIsprache der Philosophie eine nochmalige Aufgabe stellt - die Aufgabe, Griechisches auf lateinisch zu denken. Und wenn man die ganze Arbeit beobachtet, die die Übernahme der griechischen Bildung den Römern gekostet hat, und die Tatsache ernst nimmt, daß noch in frühchristlicher Zeit, also um 200, im römischen Rom Philosophie nicht auf lateinisch, sondern auf griechisch getrieben worden ist, ermißt man auch die Bedeutung des weit späteren Einschnitts, als die Schulsprache des christlichen Humanismus in der beginnenden Neuzeit in die Nationalsprachen eingeformt worden ist. Das Wort »Destruktion« durchmißt die ganze Schichtung unserer Überlieferung - und nicht um etwas zu zerstören, sondern um etwas freizulegen. Die Frage, die sich stellt, ist: Was ist die eigentliche Sprache der Philosophie? Wessen Sprache ist die Sprache der Philosophie? Gibt es das überhaupt, die Sprache der Philosophie? Am Ende erkennen wir darin die Aufgabe, die Sprache selbst - welche immer es auch sei - in ihrer eigenen Lebendigkeit, in allen diesen sprachgeschichtlichen Etappen, ja auch noch in den Trümmern einer sprachlosen Vergangenheit die vorsprachliche Geschichte der Menschheit und ihr Potential zu erkennen. Ich meine nicht die von der Sprachforschung rekonstruierte indogermanische Sprache, die den meisten Kultursprachen Europas zugrundeliegt, oder etwa eine Ursprache. Ich meine vielmehr die Sprachlichkeit als solche, durch die sich und aus der sich überhaupt erst Sprachen bilden können und aus der sich die Vielheit der Sprachen gebildet hat, die nicht nur die unseres eigenen Kulturkreises sind. Es kann nicht ausbleiben, daß der unlösbare Problemzusammenhang zwischen Denken und Sprechen die Hermeneutik nötigt, zur Philosophie zu werden. Man muß immer in einer Sprache denken - auch wenn es nicht immer die gleiche Sprache sein muß, in der man denkt. Dem Anspruch auf Universalität kann die Hermeneutik nicht ausweichen, weil Sprache als Sprachlichkeit ein menschliches Vermögen darstellt, das mit Vernunft überhaupt unlöslich verbunden ist. Es wiederholt sich hier gleichsam, was Aristoteles einmal betonte. Da ging es ihm um die Universalität des Sehens und den Reichtum der von ihm erfaßten Unterschiede. Aber auf der anderen Seite mußte er den Gehörsinn auszeichnen, weil er insofern überhaupt gar keine Begrenzung kennt, sofern zu dem, was man hört, auch die Sprache gehört - die als der Logos schlechthin alles umfaßt. Hier liegt der Grund, warum der Entwurf einer hermeneutischen Philosophie immer wieder auf die griechische Philosophie zurückgehen muß. In der Sprache und der
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philosophischen Begriffsbildung der Griechen lebt noch die Unmittelbarkeit der Erfahrung, aus der sich die Begriffe bilden. Auch die Wissenschaftssprache hat sich so gebildet - gerade sie, die am Ende zu dem Aufbau der mathematischen Wissenschaft geführt hat. (Der geometrische Begriff für >Winkel< ist y6vv = Knie.) Aber erst recht gilt das für die kühne Fragelust des Denkens der Philosophen, daß sie aus der von allen gesprochenen Sprache schöpft. Sie lehnt sich an die kunstvolle Ausbildung derselben in der Homerischen und Hesiodischen Verskunst an und dann später an die zu hoher Kunstfähigkeit gediehene Rhetorik, mit der sie im Anspruch auf Erziehung den Kampf um die Jugend aufnimmt, der viele Jahrhunderte im Bündnis von Rhetorik und Dialektik fortgewirkt hat. So öffnete sich das Tor zu Europa - in dem gleichen]ahrhundert, in dem Athen und die griechische PoliskuItur den Angriff der Perser siegreich bestand. Seitdem hat >Philosophie< seinen griechisch-sprachlichen Grundklang.
Schreiben und Reden
31. Schreiben und Reden (1983)
Die Kunst des Schreibens ist von der Kunst des Redens und gar von der Kunst des Lehrens zutiefst verschieden, Nur in geziemendem Abstand kann sich der akademische Lehrer denen anreihen, für die die Kunst des Schreibens den Beruf darstellt - und vollends der philosophische Lehrer, dessen unerreichtes Vorbild der große Weise ist, der nie eine Zeile schrieb. Das geschriebene Wort ist, wie Plato uns gelehrt hat, für das Denken bedenklich. Selbst die Redekunst ist verdächtig, sobald sie ein gewisses Maß der Meisterschaft erreicht. Sokrates konnte den Redekünstlern seiner Zeit denkend nicht folgen - und wirklich, das gilt auch heute. Zwanzig oder dreißig Stunden in der Woche kann kein Mensch, geschweige denn ein junger wissenshungriger, gedankendurstiger Student, einem perfekten Redner zuhören. Das Lesen ist ein anderer Vorgang, und insofern ist es bei der Kunst des Schreibens etwas anderes. Aber auch die Kunst des Schreibens übt einen bedenklichen Zauber aus - und gerade, wenn sie gelingt. Sie droht einzunehmen, statt freizumachen. Oder ist sie nur zu schwer Hir uns? Es ist wahr, daß es etwa für mich eine fürchterliche Qual ist, schreiben zu sollen. Wo ist das Gegenüber, diese schweigende und dennoch beständig antwortende Anwesenheit des Anderen, mit dem man das Gespräch sucht, um das Gespräch mit sich selbst fortzusetzen, das man Denken nennt? Jeder Schriftsteller wird auf seine Weise solchen Dialog wohl ebenfalls suchen. Aber seine Kunst besteht darin, daß er durch nichts als sein Schreiben und ohne daß er unmittelbar jemanden vor sich hat, solchen Dialog zu eröffnen und zu führen weiß. Wir, die Lehrer, sind da sehr verwöhnt. Wir sind wochen- und monatelang mit den gleichen Partnern im Gespräch, die uns verstehen (oder zu verstehen glauben), selbst wenn wir uns selber manchmal kaum verstehen. Das ist der Kunst - der des Redens, erst recht der des Schreibens - nicht günstig. Seit die moderne Reproduktionstechnik uns mit unseren eigenen Vorträgen oder Vorlesungen in wörtlicher Recorder-Abschrift konfrontiert, sind wir da vollends ohne Illusionen. Wie ungenau, lückenhaft, fremd liest sich das - und wirklich; Was hat da alles mitgewirkt, damit Sinnvolles herauskam, das eigene zögernde Suchen und manchmal freudige Finden der rech-
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ten Worte, das gespannte Zuhören der anderen, der Wellenschlag der Reaktionen, Bereitschaft oder Widerstand, Zustimmung oder befremdete Überraschung. Nein, von der Kunst des Schreibens, die das alles vorwegnimmt und in sich realisiert, lernen wir wenig, verstehen wir wenig, wir Lehrer. So schiebe ich das Schreiben eben immer so lange hinaus, wie es eben geht - ich meine, bis es nicht mehr anders geht. Bis es einen drängt, mit oder ohne Auftrag, mit oder ohne Termindruck, etwas Lesbares niederzuschreiben. Der erste Satz ist der schwerste. Nun hat Paul Valery von dem ersten Vers eines Gedichtes ähnliches gesagt. Indessen, das scheint unvergleichbar. Der erste Satz eines Gedichtes ist wohl wie eine erste Einladung an die Imagination des Dichters, auch an seine sprachliche. Der erste Vers ist ihm gekommen. - Der erste Satz, den ich zu Papier bringe, ist mir ganz und gar nicht gekommen, sondern ist aus Verzweiflung gewählt, aus Verzweiflung und in der Hoffnung, es möchten sich weitere Sätze anschli~ßen, und dann solche, die kommen und mehr an das heranfUhren, was zu sagen ist. Und trotzdem, in beiden Erfahrungen liegt doch wohl ein zutiefst Gemeinsames: die große Passion des Menschen, in der Zeit zu sei!] - und nicht im All der Gegenwart, auch nicht der des wachsten Geistes. Da mag es Naturwunder geben, wie das lyrische Genie von Goethe, der ein liedhaft Ganzes bei nächtlichem Sternenlicht wie einem Diktate folgend aufs Papier wirft. Aber bei ausgedehnteren Kunstformen wird auch er sich dem Leiden der Zeitlichkeit ausgesetzt gefühlt haben, wie ein jeder von uns. Alles auf einmal sagen zu wollen - wer das könnte, wäre kein Mensch mehr. Wir sind Stammler. Wir sind immer schon beim Nächsten, und deswegen will das Allernächste, das richtige Wort, oft nicht kommen. Hölderlins Gedichtentwürfe sind ein höchstes Beispiel dieser Passion. Selbst bei diesem kompositionsgewaltigen Dichter verschieben sich immer wieder die Voreintragungen, mit denen er weitere Strophen notiert. »Nie treffich, wie ich wünsche, das Maß.« Die Worte tragen uns. Sie führen uns weiter, aber nicht immer zum Ziel. Das weiß jeder, der schreibt, jeder, der denkt. Und was sind für den Denkenden, der auf nichts Seiendes verweist, es bezeichnend oder evozierend, die rechten Worte? Nicht wie beim Dichter und großen Schriftsteller die Worte, die sich zu Gestalt und Gesang fügen. Im besten Falle sind es die Worte, die sich ganz zurückzunehmen wissen und im Leser wie im Hörer seine eigenen Gedanken und Gesichte in Gang zu setzen vermochten - wie das Schwungrad, das die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden treibt (um mit Heinrich von Kleist zu sprechen). Wenn einer unsere Worte wiederholt, ist ihr Echo wie unsere Widerlegung. Das Echo dagegen, das ein Kunstwerk der Sprache findet, ist wie unser Trost, fast wie eine Verheißung, die sich fUr uns kaum je erfüllt.
Die deutsche Philosophie zwischen den beiden Weltkriegen
32. Die deutsche Philosophie zwischen den beiden Weltkriegen (1987)
Wenn man die Lage der deutschen Philosophie im Laufe der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, im Zeitalter der beiden Weltkriege, verstehen will, muß man sich als erstes klarmachen, welche Explosion des Nationalismus der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutet hat. Man kann sich kaum vorstellen, welche Überraschung es im Grunde war, als die sozialistischen Parteien aller europäischen Länder in den Nationalismus ihres eigenen Landes einschwenkten. Die Internationale der Arbeiterschaft erwies sich plötzlich als eine relativ ohnmächtige Deklamation im Vergleich zu der Gewalt der nationalen Leidenschaften, die damals ausbrachen. Dieses Ereignis war der Beginn der Provinzialisierung Europas. Das gilt natürlich auch für die Philosophie. Hermann Lübbe hat mit kritischer Bestürzung dargestellt, wie die akademische Philosophie sich im damaligen Deutschland in den allgemeinen Taumel verlor. Genau das gleiche war aber in Frankreich oder England der Fall. Damit erlitt das geistige Europa eine schwere, bis heute nicht ausgeheilte Wunde. Was ehedem noch unter der Generation meiner philosophischen Lehrer selbstverständlich war - etwa bei Paul Natorp, bei dem ich noch in Marburg meinen Doktor gemacht habe -: internationaler Austausch, indem man in englischen, französischen oder amerikanischen Zeitschriften veröffentlichte, ebenso wie ein englischer oder französischer Philosoph in einer deutschen Zeitschrift veröffentlichte, - das war für lange Jahrzehnte vorbei. Die geistige Entwicklung der europäischen Länder, aber auch der von der europäischen Entwicklung abgeschnittenen Länder, wurde provinziell. Unser Thema ist die deutsche Sonderstellung in dieser Entwicklung. Deswegen spreche ich nicht - wie der Titel es ja auch zeigt - von solchen Strömungen der Philosophie, die überall den gleichen Boden hatten. Ich spreche nicht von der Philosophie des Empirismus, qicht von der durch den Wiener Kreis repräsentierten Forschungsrichtung, die ja auch in Berlin ihre Entsprechung hatte und die später in den angelsächsischen Ländern zum Siege kam und bis heute ihre Vorherrschaft behauptet. Ich spreche, wie der Titel es schon sagt, von den spezifischen Bewegungen auf der deutschen Szene, die durch die Benennungen )Neukantianismus<, >Phänomenologie<
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und )Existenzphilosophie< umschrieben sind. Diese drei Begriffe gehören natürlich in den größeren Zusammenhang, in dem Philosophie in der Neuzeit überhaupt ihre Sonderaufgabe gestellt bekam, sich gegenüber der neuen >Wissenschaft< zu defmieren. Das war für Philosophie im älteren Sinne k~ineswegs ein Problem. Sie war ehedem die >regina scientiarum<, die Königin der Wissenschaften, das heißt, sie war die oberste Wissenschaft, die Wissenschaft vom Obersten, die zugleich den gesamten Bereich unseres menschlichen Wissens überhaupt in sich umfaßte. Man denke daran, daß das Grundbuch der neuzeitlichen Physik, Newtons Hauptwerk, den Titel trug )Philosophiae naturalis principia mathematica<. So selbstverständlich war dieser weite Begriff von )Philosophia< noch damals. Aber mit der Ausbreitung der modernen Wissenschaften änderte sich das. Die sogenannten Erfahrungswissenschaften zeigen das schon durch das Wort an, das einer >contradictio in adiecto< gleichkommt, wie jeder Grieche und jeder Kenner der antiken Kultur weiß. Für die antike Welt war >Wissenschaft( gerade dadurch gekennzeichnet, daß ihre Erkenntnisse nicht der Erfahrung bedürfen, sondern so wißbar sein müssen wie mathematische Wahrheiten, lMathemata<, Dinge, die man lernt und von denen man sicher sein kann, daß sie wahr sind, ohne daß man neu hinzusehen braucht. Jetzt stellte sich die Aufgabe, die Philosophie neu zu bestimmen, seit es die Wahrheit der Wissenschaften in einem antithetischen Sinne zur Philosophie gab. Es ist auch für die Entstehung des Neukantianismus in der Entwicklung des 19. Jahrhunderts bedeutsam. Er stammt aus der Erbmasse des deu tschen Idealismus. Darunter verstehen wir die Bewegung, die von Kant über Fichte und Schelling zu Hegel führte. Diese Bewegung des deutschen Idealismus stellte den letzten großen Versuch einer Synthese zwischen dem alten Erbgut der metaphysischen Philosophie und der modernen Wissenschaft dar. Diese Synthese, die sich in Hegels ,Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften< repräsentativ zusammenfaßte, brach schnell zusammen. Bekanntlich wurde die Naturphilosophie geradezu der Prügelknabe des Jahrhunderts, und die Geschichtsphilosophie, die apriorische Konstruktion des Verlaufes der Weltgeschichte, die Hegel gewagt hatte, wurde durch die Kritik der historischen Schule, insbesondere durch die großen Historiker Berlins und natürlich auch in anderen Ländern - schnell überwunden. So bahnte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rückkehr zu Kant an. Das war die erste. Sonderentwicklung auf der deutschen Szene, die noch das 20. Jahrhundert in seiner ersten Hälfte bestimmt hat, die Entstehung des Neukantianismus. Etwas an Bedeutung, Ausdehnung und internationaler Anerkennung genau Vergleichbares gab es in den anderen großen Kulturländern Europas nicht. Dort gab es neben den neueren empiristischen, >positivistischen( Entwicklungen, die in Gestalt von]. St. Mills >Induktiver Logik, allgemein anerkannt waren, einen durchgehenden Traditionszug des Hege-
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lianismus. In Italien, in Frankreich, in England, in Holland sind bekannte Denker im Geiste Hegels bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein tätig gewesen. Anders in Deutschland. Dort bildete sich eine neue Art Vermittlung zwischen dem Anspruch der Wissenschaften und dem Erbe der Philosophie, eine universale Synthese, die aufden Namen "Erkenntnistheorie« getauft war (was man auf englisch >epistemology< nennt), ein Wort, das in Deutschland, als ich Student war, einen beinahe religiösen Klang hatte. "Erkenntnistheorie« hieß der Beginn und das Fundament aller Philosophie, und das bedeutete, daß man im Zeichen Kants - eines neu aufgegriffenen, erneuerten Kant - zwischen den Erfahrungswissenschaften und den apriorischen Elementen aller Begriffsbildung und Erkenntnis eine Vermittlung suchte. Diese Bewegung war am Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem durch zwei Schulen repräsentiert, den Marburger Neukantianismus und den sogenannten südwestdeutschen Neukantianismus. Ihre Grundidee war eben der Komprorniß, den die Philosophie im akademischen Zeitalter ihrer Existenz mit den modernen Erfahrungswissenschaften schloß. Nachdem die Philosophie nicht mehr beanspruchen konnte, eigene und unüberholbare Erkenntnis aus Begriffen neben den Resultaten der Wissenschaften zu besitzen, lieferte sie statt dessen aller wissenschaftlichen Erkenntnis die methodische Grundlage, und das nannte sich Erkenntnistheorie. Das bedeutete, daß man sowoW im Felde der Natur wie im Felde der Kultur die eigene Aufgabenstellung von der Wissenschaft übernahm. Es wurde geradezu ein Schlagwort der Marburger Schule, von dem "Faktum der Wissenschaft« auszugehen. Der Ausdruck lehnt sich den >Prolegomena< Kants an, jener Schrift, die Kant zur Popularisierung seiner eigenen >Kritik der reinen Vernunft< geschrieben hat und die zu dem raschen siegreichen Durchbruch des kritischen Denkens führte. Kant baute dort die ganze Fragestellung auf die Fragen auf: Wie ist Mathematik möglich? Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? Das Faktum der Wissenschaft bildet überall den Ausgangspunkt. Entsprechend gliederten sich die beiden Schulen des Neukantianismus: Die Marburger Schule faßte vor allem die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften ins Auge. Hermann Cohen, der Begründer der Schule, und Paul Natorp, sein Freund und Waffengenosse, versuchten zu zeigen, wie sich der Begriff des Gegebenen nur vom methodischen Verfahren der Wissenschaft aus defmieren läßt. Mein Lehrer Natorp pflegte zu sagen: Das Gegebene ist das Aufgegebene. Das Ding an sich, dieser Stein des Anstoßes schon für Fichte, sei im Grunde nichts als die unendliche Aufgabe des Bestimmens der Realität durch die methodisch gesicherten Verfahren der Wissenschaftl. Ebenso hat die südwestdeutsche
Schule, die, von Hermann Lotze herkommend, durch Windelband und Ricken vertreten war und der etwa ein so großer Forscher wie Max Weber seine philosophische Ausrüstung verdankte, im Bereiche der geschichtlichen und Kulturwissenschaften den gleichen methodischen Grundgedanken durchgeführt. Für sie war Geschichte das, was in der Geschichtswissenschaft als geschichtlich beglaubigt anerkannt ist. So wurde der Begriffder Tatsache von der wissenschaftlichen Bedeutung her defmiert. Das hat etwas sehr Einleuchtendes. Was ist denn eine historische Tatsache? Doch nicht das, was sich wirklich begeben hat, doch nicht dieses, daß irgendjemand irgendwann einen Schnupfen bekam. Aber wenn Napoleon in der Schlacht von Wagram - oder wo es war - einen Schnupfen bekam und deswegen seine erste große Niederlage einsteckte, dann ist das eine historische Tatsache. Das hatte historische Bedeutung, wie wir ganz naiv sagen würden. Philosophen drükken sich nie so naiv aus. So heißt das gleiche in diesem Falle: Erst durch ihren Wertbezug bekommt die Tatsache die Würde einer echten Tatsache. Das zeigt nun schon die südwestdeutsche Werttheorie in ihrer ganzen Reichweite. Das System der Werte definiert alle auf den Menschen und seine Kultur bezogenen Tatsachenbereiche. So bestimmt sich die Aufgabe der Philosophie als Rechtfertigung der Kultmwissenschaften durch den Wertbezug, so wie sich die Naturwissenschaften von dem Kantischen System der Kategorien bestimmt hatten. Es charakterisiert das Wesen des Neukantianismus, daß es sich stets darum handelte, die alleinige Legitimität des methodischen Erkennens zu rechtfertigen und auf die Philosophie zu übertragen, um sich selbst als wissenschaftliche Philosophie gegen die sogenannten Weltanschauungen zu legitimieren. Die zweite, daraus sich entwickelnde Bewegung war nun die >Phänomenologie<, ein Wort, das der Laie damals sicherlich mit einer leisen Andacht hörte. Ich erinnere mich, als ich 19 Jahre alt war und mich zu einem kleinen Gremium von Reformern gesellte - man ist ja nie so veränderungsfreudig, wie wenn man 19 Jahre alt ist -, da gab es eine Reihe von Vorschlägen, wie man nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die zerstörte Kulturwelt Europas wieder in Ordnung bringen könnte. Viele Vorschläge wurden da vorgebracht. Da sagte einer: "Das einzige, was uns wieder herstellen kann, ist die Phänomenologie!« (Ich hatte keine Ahnung, was das war, aber es machte tiefen Eindruck auf mich. Die Folge ist klar: Ich bin in dieser Schule großgeworden.) Was zeichnete die Phänomenologie gegenüber der bisherigen neukantianischen, erkenntnistheoretisch begründeten Philosophie eigentlich aus?2 Man erinnert sich der berühmten Parole des Begründers der phänomenologischen Schule, Edmund Husserls: "ZU den Sachen selbst!«
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Siehe dazu auch den Beitrag über Natorp in diesem Band, S. 375 ff.
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2 AusfUhrlich dazu die Arbeiten in Ges. Werke Bd. 3, KapitellI. Siehe auch in diesem Band u. a. die Beiträge Nr. 8 und 9.
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Man versteht, daß darin eine bestimmte Pointe gegen gewisse Formen des Neukantianismus eingeschlossen war. Die »Sachen selbst« - und nicht die Wissenschaft von ihnen - war das eigentliche Ziel dieser Reflexionen und löste eine neue philosophische Bewegung aus. Der Ausdruck >Phänomen<, den Husserl sicherlich teils aus dem Neukantianismus, teils aus dem Sprachgebrauch der Psychiatrie und dergleichen geschöpft hat, hatte einen polemischen Klang. Es genügt, zu wissen, daß diese >Phänomenologie< den Anspruch erhob, unter »den Sachen selbst« nicht nur das Faktum der Wissenschaften zu verstehen, sondern alles, was sich im Erfahrungsleben der Menschheit zeigt. >Phänomen< heißt: »was sich zeigt«. Diese Bestimmung des Begriffs>Phänomenologie< schloß klarerweise in sich, daß es nicht mehr die Welt der Wissenschaften allein ist, mit der es die Philosophie zu tun hat, und Husserl hat dafür ein neues Wort gefunden. Es gibt sehr wenige Fälle, in denen ein l?hilosoph ein Wort findet, das in die Sprache eingeht. Hegel oder Kant haben solche Leistungen vollbracht. Wenn wir etwa vom >Ding an sich< sprechen, so ist das Kant, oder wenn wir vom >An-und-für-sich-Sein< reden, so ist das Hegel. So hat Husserl das Wort »Lebenswelt« gefunden 3 . Ein Wort, das sehr beliebt geworden und inzwischen in vielen Sprachen nachgebildet worden ist. Noch vor 30, 40 Jahren hat man es in Frankreich und in England nicht übersetzt, sondern als deutsches Fremdwort benutztso wie» Weltanschauung«, das bekanntlich auch lange Zeit in keine andere Sprache übersetzt worden war, sondern einfach auf deutsch verwendet wurde. Inzwischen haben sich dafür Übersetzungen eingebürgert. Das gilt auch für» Lebenswelt «. Der Sache nach geht es hier darum, daß Erfahrung nicht mehr die Erfahrung der Erfahrungswissenschaften allein ist. Was das für eine Ausweitung des philosophischen Rechtfertigungsproblems einschloß, müssen wir uns in ein paar Gedankenschritten klarmachen. Die Phänomenologie vollzog ihren ersten Eintritt in die philosophische Diskussion mit den Husserlschen >Logischen Untersuchungen(, ein ungeheuer analytisches und subtiles Buch, das in zwei, drei Bänden die Unabhängigkeit der Logik von der Methodik der Erfahrungswissenschaften vertrat. Die Methodik der Erfahrungswissenschaften hatte zu dem Vorurteil geführt, daß das Logische lediglich ein psychologisches Problem sei. Denken ist ein seelischer Vorgang; die Erfahrungswissenschaft, die mit dem Denken zu tun hat, ist also die Psychologie. Alle logischen Probleme sind somit letztlich psychologische Probleme. Diese Doktrin nennt man seit Husserl »Psychologismus«. Parteinamen in der Philosophie sind interessanterweise immer polemische Bildungen. Wir sind sozusagen scharfsichtiger für das Negative als für das Positive. Das gilt vom 17. Jahrhundert an für alle solche Begriffe wie Deismus, Theismus, Pantheismus, Idealismus, Realismus, Ma~eria1is-
tnus, Empirismus, Nihilismus, Essentialismus, Logizismus usw. Es sind eilles Schimpfworte gewesen. Ebenso ist es bei Husserl mit » Psychologismus«. Er zeigte überwältigend klar, daß z. B. der Satz des Widerspruchs nicht ein psychologisches Faktum formuliert, nämlich daß es unangenehn1 oder unzweckmäßig sei, Widersprüche zu denken. Vielmehr ist es ein logisches Problem, das zwei einander widersprechende Sätze in bezug auf dasselbe nicht gleichzeitig wahr sein können. Nur deswegen vermeiden wir Widersprüche, weil wir einsehen, daß ein auftretender Widerspruch eine angeblich wahre Erkenntnis widerlegt. In dieser Weise hat Husserl eine Reihe von bedeutenden Klärungen gebracht. Er hat z. B. das Wesen der Sprache von einer bestimmten Seite aus neu gesehen, indem er gezeigt hat, daß die Sprache nicht einfach ein Ausdrucksphänomen der menschlichen Psyche ist, sondern daß darin ein Bestand von Bedeutungen gelegen ist, und diese Bedeutungen haben keine empirisch reale Existenz, sondern, \vie er es genannt hat, intentionale Existenz. Wörterbücher sind nur lnöglich, v·.'ei 1 man die Bedeutungen der Wörter so sehr auf ihre ideale Einheit hin konzentrieren und vonjedem Gebrauche ablösen kann. Eine andere wichtige Rolle spielt bei Husserl das Phänomen der Wahrnehlnung. Wahrnehmung war im Zeitalter des Psychologismus das Resultat einer Mechanik der Empfindungen, wobei die Empfindungen dann, in der ganzen Konfusion dieses späten 19. Jahrhunderts, mit den Reizen, die auf das Nervensystem ausgeübt werden, gleichgesetzt waren. In Wahrheit besteht das Problem gerade darin, wieso durch Reizung eines organischen N ervensystems so etwas wie Empfindung erzeugt wird und wie auf ihr aufgebaute Wahrnehmung entstehen und als ein Bewußtseinsphänomen existieren kann. Husserl hat nun - und das ist ein erster wichtiger Punkt - Wahrnehmung dadurch charakterisiert, daß in ihr etwas »leibhaft gegeben« ist. Ein Beispiel: Dieses Glas hier ist Gegenstand einer Wahrnehmung. Sie oleint: Da steht dies Glas, ich kann es sehen, ich kann es anfassen, ich kann es auch nur beschreiben, ohne irgend etwas derartiges zu tun. Aber eines gilt immer: daß ich es nie gleichzeitig von vorn und hinten sehen kann. Wahrneholung ist immer »abgeschattet«, wie der berühmt gewordene Ausdruck von Husserl lautet. In der Wahrnehmung zeigt sich etwas in dem Wie seines Sichzeigens, >phänomenologisch<, und diese Abschattung hat Evidenz - wie daß zwei mal zwei vier ist. Es ist wohl klar: wenn ich dies hier als das Glas vor mir habe, so meine ich es - ich kann mich ja irren, ich phantasiere vielleicht das Glas, aber ich meine, das steht da wirklich. Das hat Husserl »leibhafte Gegebenheit« genannt und sich auch auf diese Evidenz berufen. Nun entwickelte sich von seiten der Psychologen ein reges Schrifttum, in dem sie zeigten, Evidenz sei doch kein Kriterium. Als ob es keine Evidenztäuschungen gäbe! Tatsächlich gibt es Evidenztäuschungen, da ist kein Z\veifel. Ich glaube freilich nicht, daß ich mich inl Augenblick täusche und das Glas gar
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Siehe dazu )Die Wissenschaft von der Lebenswelt< in Ges. Werke Bd. 3 (Nr. 7).
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nicht wirklich hier steht. Aber es wäreja denkbar, daß ich mir in der Rage des Vortrags die Sorgfalt der technischen Vorbereiter dieser Vorlesung etwas übergroß vorstelle und das Glas da hinphantasiere, weil meistens so etwas da steht. Jedenfalls ist das psychologisch kaum zu widerlegen. Husserl sah sich also genötigt, das Kriterium der Evidenz, das er in Anspruch nahm, selber zu rechtfertigen. So wurde er aufdas erkenntnistheoretische Problemfeld des Neukantianismus zurückgeführt und sagte mit Descartes: Es gibt eine Evidenz, die von jeder möglichen Evidenztäuschung frei ist, und das ist die des Selbstbewußtseins. Cogito, ergo sumo Daran kann man nicht mehr zweifeln. Das hatte schon Descartes gezeigt, daß man, wenn man zweifelt, als der Zweifelnde, als der Denkende existiert. »Ich denke, also bin ich« hat - wie Husserl es dann getauft hat- apodiktische Evidenz, d. h. eine Evidenz, deren Leugnung einen Widerspruch einschließen würde. (So etwas nennt man in der Logik apodiktisch.) So hat Husserl den Anspruch erhoben, auf die apodiktische Evidenz des Selbstbewußtseins alle anderen Evidenzen der Philosophie zu gründenein Riesenprogramm! Er war von einem missionarischen Bewußtsein erfüllt. Ich erinnere mich, wie ich ihn einmal in einer Unterhaltung - ich war junger Doktor - nach irgendeiner Theateraufführung oder einem Konzert fragte, und er mit dem weichen österreichischen Idiom, das er sprach, antwortete: »Ach wissen Sie, Herr Doktor, ich liebe auch sehr Theater und Musik, aber ich habe keine Zeit, ich muß erst die Phänomenologie vollenden.« Das ist ihm natürlich nicht gelungen. Man kann sich auch denken, daß die beschriebene Wendung, die Husserl wieder in die Nähe des Neukantianismus und der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung brachte, nicht die Sympathien seiner Bewunderer und Nachfolger gewann. Sie hatten an ihm vielmehr die plastische Konkretion seiner Beschreibungskunst bewundert, die in der Tat bemerkenswert war. Man hatte, wenn Husserl eine Vorlesung hielt, das Gefühl, er präsentiere alles in allen drei Dimensionen, wovon er redete. Ich kannte nur noch einen, der es ihm darin gleichtat, und das war Heidegger. Von diesen beiden wurde alles so anschaulich hingestellt, daß man wirklich zum Schluß das Gefühl hatte, wir sind darum herumgegangen und haben es von allen Seiten gesehen. Abp.r Husserls Begründung dessen im Selbstbewußtsein ist etwas anderes. Sie fand ihren Widerstand. Die phänomenologische Schule selber ist Husserl durchaus dadurch nicht im vollen Umfang gefolgt. Husserl war erst Professor in Göttingen. Er war Mathematiker von Hause aus, hat bei dem berühmten Zahlentheoretiker Weierstraß Assistent gespielt, war wohl auch damals schon mehr an den philosophischen Problemen der Arithmetik interessiert, wurde in Halle für Philosophie habilitiert. Dann wurde er Professor in Göttingen, und während des Krieges wurde er nach Freiburg berufen. Dieser Wechsel von Göttingen nach Freiburg bedeutete in gewissem Sinne die Spaltung der Schule.
:;Jer große Antagonist von Husserl, der neben ihm eine wirklich geniale Figur war und der leider in der Welt nicht so bekannt ist wie Husserl, war Max Scheler4 • Ursprünglich dem Neukantianismus angehörig, ist er zum katholischen Bekenntnis übergetreten, von dem Ordogedanken der katholischen Tradition stark angezogen, und hat in einer sehr bedeutenden Arbeit die phänomenologische Wertethik begründet. Das ist das Buch mit dem Titel )Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik<. Scheler begrenzte, im Unterschiede zu Husserl, die Phänomenologie auf ihre Aufgabe der apriorischen Wesensforschung und behauptete, daß Philosophie noch mehr sei als das. Philosophie betreffe nicht nur die apriorische Struktur der Wesenheiten, wie die Einheit der Bedeutung oder das Wesen des Wahrnehmungsgegenstandes, der leibhaft gegeben ist, aber immer in Abschattung usw. Das sind alles Wesenseinsichten, die Husserl aufgezeigt hat. Scheler akzeptierte das, sagte aber, das sei nur eine Seite der Philosophie. Diese apriorischen essentialistischen Einsichten müßten sich mit einer Wirklichkeitswissenschaft verbinden, mit einer Metaphysik, die die noch hinter den Naturwissenschaften sich zeigenden Wesensgesetzlichkeiten zum begrifflichen Gegenstand habe. Sein Gedanke war also nicht, das Bewußtsein und das Selbstbewußtsein zum Fundament aller Wahrheit zu erheben, wie Husserl forderte, sondern das Getragensein dieses Selbstbewußtseins durch die realen Lebenskräfte anzuerkennen. Er nannte das den Drang, der den Geist trage und überhaupt erst zu seiner denkerischen Freiheit aufsteigere. Kenner der Geschichte der Philosophie mögen sich erinnern, daß Schelling im selben Sinne die Naturphilosophie als den physikalischen Beweis des Idealismus, also als Voraussetzung des Geistes, eingeführt hai. Scheler hat diesen Gedanken des Angewiesenseins des Geistes auf den Drang und damit die Grundbestimmung der Realerfahrung als Widerstandserfahrung gelehrt, die sich von jedem Bewußtseinsinhalt unterscheide. Es ist ja wahr, daß das Bewußtsein im fließenden Strom seiner Präsenzen dieselben gleichsam als ein widerstandsloses Reich durchwaltet, daß dagegen Widerstand erst Realität verbürgt. Es bedarf der harten Wände der Tatsächlichkeit, wie Dilthey es einmal formuliert hat. Es war Schelers Lehre, die Phänomenologie derart auf die formale Wesenswissenschaft zu reduzieren und durch eine im Bündnis mit den Wissenschaften sich vollziehende Wirklichkeitswissenschaft, eine >Meta<-Physik, zu ergänzen. Genau hier setzt die dritte Phase in der Geschichte der Phänomenologie ein, das Werk von Heidegger. Damit nähern wir uns dem Übergang in die Existenzphilosophie. Es sind zwei Dinge, durch die Heidegger die phänomenologische Schule Husserls - und damit in gewisser Sympathie mit Scheler - bereicherte. Das eine war, daß er ein Realitätsmoment in das 4
Siehe dazu auch den Abschnitt in Kapitel V dieses Bandes, S. 380ff.
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Bewußtsein sozusagen hineinnahm, die Geschichtlichkeit unseres Denkens. Das war als das Historismusproblem bekannt, das von Dilthey über Troeltsch damals die deutsche philosophische Szene in Atem hielt. Die Frage war: Wie kann man je beanspruchen, ewige und absolute Wahrheiten zu erkennen, wenn doch der Erkennende immer Sohn seiner Zeit ist, immer in den Vorurteilen seiner eigenen Epoche gefangen ist, und deshalb - im Unterschied zu den objektivierenden Methoden der Naturwissenschaftenjenseits der eigentlichen Wissenschaftlichkeit bleiben muß. Man nennt das den historischen Relativismus. Jede Epoche hat sozusagen ihre eigenen Beziehungen zur Wahrheit. Eine absolute Beziehung zur absoluten Wahrheit kann es nicht geben. Das war der Einwand des Historismus gegen die traditionelle, auch die neukantianische Philosophie. Heidegger nahm diese Kritik ernst. Er sah in Dilthey seinen Helfer gegen Husserls Rückfall in den Neukantianismus. Dilthey war von Husserls Ideal einer Philosophie als strenger Wissenschaft aus - in Husserls berühmtem Logos-Aufsatz von 1911 - wie alle weltanschauungsgebundene Philosophie als Relativist und als die tödliche Gefahr der Skepsis angeprangert worden. Es ist bezeugt, daß Heidegger in seinen Studien- und Werdejahren fleißig Dilthey studierte. Er mußte ihn damals noch in den dickleibigen Bänden der Berliner Akademie der Wissenschaften studieren, in denen die Diltheyschen Aufsätze allein zugänglich waren. Das war das eine Moment, von dem aus Heidegger »Realität« in die Phänomenologie Husserls einbrachte. Das zweite war ein von weither kommender Anstoß. Ich meine die Wiederentdeckung Kierkegaards im Anfang des 19. Jahrhunderts. Kierkegaard war ein dänischer Denker und Schriftsteller, der als Schüler Schellings begann und dann in christlicher Bedrängnis die vermittelnde Religionsphilosophie und Dialektik Hegels mit brillanter Polemik angriff. In seinem berühmten Buch >Entweder-Oder< hat er der spekulativen Philosophie des deutschen Idealismus vorgeworfen, sie kenne kein Entweder - Oder, weil von ihr alle Gegensätze dialektisch vermittelt wurden. Kierkegaard hat natürlich dänisch geschrieben. Aber die Sprache ist immerhin verwandt genug, daß der Einfluß seiner Wortprägungen auf die deutsche Szene nicht verlorenging. So wurde von ihm der Ausdruck >Existenz< eingeführt. Es gibt sein berühmtes Wort, »der absolute Professor in Berlin« (er hat damit Hegel gemeint) habe das Existieren vergessen. Damit war gemeint, daß Existenz sich nicht der dialektischen Begriffsbildung oder - mit Husserl zu sprechen - der eidetischen Reduktion auf den phänomenologisch-analytischen Begriff des >'Wesens< unterwirft. Wer etwas von Theologie weiß, wird spüren, wie die uralten Probleme der >essentia< und >existentia< dahinterstehen. Unter den Stürmen des Ersten Weltkrieges wurde das Existenzproblem neu virulent. Die Vorausschauenden standen schon viele Jahre unter dem Druck des sich zusammenbrauenden Verhängnisses und waren sich der
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Schwächen des liberalen Zeitalters bewußt. So wurde damals, in dem ersten und zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, Kierkegaard ins Deutsche übersetzt. Er leitete noch einmal die Kritik am Idealismus ein, vor allem dank Karl Jaspers, der in seiner >Psychologie der Weltanschauungen' ein Referat Kierkegaards, eine sehr wohlabgewogene systematische Darstellung dieses spätromantischen Schriftstellers, vorlegte und damit Kierkegaard sozusagen zum Diskussionsgegenstand in der akademischen Philosophie erhob. . Das eigentliche Anliegen Kierkegaards war, wie man leicht sehen kann, die Kritik an der unendlichen Vermittlung und Distanz, mit der die christliche Botschaft in der christlichen Kirche seiner Zeit verkündet wurde. Er hat z. B. die Rechnung gemacht, daß es doch nur 60 Generationen seien, die uns vom LebenJesu trennen. Das klingt ganz anders als 1800 oder 1900 Jahre. Er hat also die Gleichzeitigkeit als das eigentliche Wesen der christlichen Botschaft wieder in Erinnerung gerufen. Sie ist nicht durch die Geschichte vermittelt. Einjeder ist gleich unmittelbar durch die Heilsbotschaft angert~ det und ebenso durch die Verdammnis betroffen - so ungefähr war das Kierkegaardsche Pathos der Existenz, die jedermanns Eigenstes sei und die ein jeder als seine eigenste niemals mit anderen teilen könne. Es ist klar, daß hinter diesem Bewußtsein der Einzigkeit und Endlichkeit der Existenz das Problem des Todes stand. Heidegger hat nun diese beiden Dinge zusammengebracht, die historische Hermeneutik Diltheys und das Existenzpathos Kierkegaards. Sein Begriff, den er dafür in >Sein und Zeit< prägte - später hat er ihn aufgegeben -, war »Hermeneutik der Faktizität«s. Man hört vie1leicht in diesen schönen Kunstworten, mit denen wir Philosophen uns so gerne schmücken, die Bedeutung des Paradoxes heraus. Hermeneutik ist die Kunst, Sinnhaftes zu verstehen. Hermeneutik setzt Sinnhaftigkeit voraus. >Faktizität< dagegen, dieses fast gnostische Wort, meint das Faktum des Faktums. Faktizität meint also, daß da etwas nicht zu verstehen, sondern als Faktum hinzunehmen sei. Und nun s01l diese Faktizität des ins Dasein geworfenen Menschen in sich selbst »Verstehen« sein. Heidegger hat beides im »Verstehen« zusammengebracht, das Verständliche und das per definitionem Unverständliche, das darin besteht, daß wir da sind und nicht gefragt wurden, ob wir da sein w01len, daß wir »geworfen« sind - wie Heidegger es in bewußter Analogie zu den Katzen nannte und zur Lehre der Gnosis von dem Fa1l der Seele in das Dunkel und die Fremde der Welt. Geworfenheit ist daher eine Grundbestimmung der Existenz. Aber wichtiger noch als die Geworfenheit ist ihr Gegenbegriff, der Entwurf, der im Verstehen liegt. Dasein heißt »verstehen«. Das 5 Siehe dazu in diesem Band, S. 61 ff. und zu Heidegger allgemein die Hinweise S. H6 auf weitere Beiträge in dieser Ausgabe.
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war die Lösung eines Paradoxes. Verstehen ist nicht etwas, was das Dasein gelegentlich tut, wenn es Sinnhaftem begegnet, sondern Verstehen ist das, was es als Dasein definiert. Der Mensch ist etwas, das verstehen will und das sich verstehen muß. Das ist nicht mehr das Selbstbewußtsein des transzendentalen Idealismus, sondern, wie der inzwischen - direkte Wirkung Heideggers - modisch gewordene Ausdruck heißt: Selbstverständnis. Diese neue Bestimmung des Wesens des Menschen reicht weit. Zunächst wurde klar: was ich da in phänomenologischer Beschreibung eines Wahrnehmungsdinges als einen Fall reiner Wahrnehmung vorstellte, dies Wasserglas, das in seinen Abschattungen erscheint, stellt in Wahrheit eine reine Abstraktion dar. Das gibt es gar nicht. Es gibt keine reine Wahrnehmung. Es gibt die beschriebene Wahrnehmung etwa, wenn ich als Redner heiser werde und nun bemerke, ja, ja das Glas ist da. Es begegnet also die angeblich »reine« Wahrnehmung lediglich im Zusammenhang eines verständlichen Verhaltens. Ich verstehe das als ein Wasserglas und nicht als ein rundes, gläsernes Etwas, in dem es glitzert. Es ist »zur Hand«. Heidegger hat den Begriffder Zuhandenheit eingefUhrt, um zu zeigen, wie vorurteilsvoll es ist, alle Dinge zunächst als vorhandene zu sehen, als ob die Vorhandenheit und nicht die Zuhandenheit des Wasserglases das primär Gegebene wäre. Max Scheler hat, wie der amerikanische Pragmatismus, die Lehre von der reinen Wahrnehmung ebenso als eine Abstraktion entlarvt. Scheler hat das mit der modernen Triebpsychologie zusammengebracht und hat gezeigt, was wir ja alle an uns erfahren, wie die Antizipationen unseres Lebensdranges das mitbestimmen, was wir wahrnehmen. Eine eigene Erfahrung mag das illustrieren: Ich habe einmal durch ein Mißverständnis der russischen Verwaltung drei Tage lang in einem deutschen Gefängnis gesessen. Da wurden die Namen der Häftlinge, die zum Verhör gebracht werden sollten, ausgerufen - und ich habe bei dem Ausrufen jedesmal meinen Namen zu hören gemeint, weil ich so sehr wartete. Das nur als Beispiel fUr etwas, was jeder von uns kennt. Wir sind von unseren Drängen bestimmt, wenn wir etwas als »da« wahrnehmen. Heidegger ging noch weiter. Er kritisierte auch noch die Schelersche Bereicherung der phänomenologischen Szene. Er zeigte, daß der Dualismus von Drang und Geist uns aus der Verlegenheit, in der sich das Denken der erkenntnistheoretischen, neukantianischen Tradition bewegt, nicht herausfUhrt. Aristoteles wurde fUr Heidegger der große Helfer. Heidegger hatte das Glück, zwei große Lehrer zu haben. Der eine war Husserl, ein genialer Deskriptionskünstler mit einem subtilen und feinen Begriffsvokabular- und der andere war Aristoteles: Heidegger war als junger Mann in der neuscholastischen Tradition erzogen worden. Ausgerüstet mit dem phänomenologischen Blick, den Husserl in ihm ausgebildet hatte, las er Aristoteles mit neuen Augen und fand etwas ganz anderes, als was er in seinem akademischen Studium gelernt hatte. Er entdeckte den Aristoteles
der Rhetorik und der Ethik, der praktischen Philosophie. Auf der anderen Seite sah er, wie einseitig Aristoteles die Frage nach dem Sein in seiner >Metaphysik< entwickelte. Er hat dafür den Namen ,>Ontotheologie« eingeführt. Das sollte heißen, daß die Frage nach dem Sein, die »ontologische« Frage, an dem höchsten Seienden, dem Göttlichen, orientiert war, in dem sich das Wesen des Seins exemplarisch darstelle. Höchstes Sein heiße, immer da zu sein. Man kennt es aus der Theologie als die Allgegenwart Gottes. Dies ist ein griechisches Erbe im theologischen Denken. Ob der Gott des Alten Testaments mit Recht durch diesen Begriff des Immerseins zu charakterisieren ist, ist sehr die Frage. Dort handelt es sich um ein Personalverhältnis, für das die Griechen nicht einmal ein Wort hatten. Insofern war Aristoteles fUr Heidegger eher ein Gegenbild als ein Vorbild. Was von Aristoteles als »Sein« gedacht wird, ist Dasein im Sinne des Vorhandenseins, des immer Antrefibarseins, eine Gegenwart, die Vorhandenheit ist. Heidegger zeigte nun, daß das der unerkannte Hintergrund unserer ganzen modernen Probleme mit der Subjektivität ist. Das Wort ,subiectum< zeigt es uns an. Es hat nämlich sprachlich und begriffsgeschichtlich nichts mit Bewußtsein zu tun. >Subiectum< ist das, was darunter liegt (was in der griechischen Sprache >Hypokeimenon< heißt) und das Substrat aller Veränderungen ist. Was wir das ,Subjekt< nennen, ist nur der ausgezeichnete Fall eines solchen Zugrundeliegenden, nämlich, daß jemandes Vorstellungen alle die seinen sind, seinem Selbstbewußtsein angehören. Das ist zwar richtig, aber der Mensch ist noch anderes als ein solches ,Subjekt<. Nun wurde Aristoteles für Heidegger nicht nur als ein solches Gegenbild wichtig, sondern auch als Vorbild. Vorbild war er im besonderen dadurch, daß er in der praktischen Philosophie seine Lehre von der Phronesis, von der >Klugheit<, wie man meistens übersetzt, gegen Plato gekehrt hat. Ich würde vorziehen, ,Phronesis< durch ,Vernünftigkeit< wiederzugeben. Vernünftigkeit ist ja nicht einfach Ausstattung mit Vernunft, sondern Vernünftigkeit ist eine positive >Eigenschaft<, die ein Mensch hat und die ihn zu vernünftigen und verantwortlichen Entscheidungen befähigt. Vernünftigkeit ist also nicht bloß eine Fähigkeit, etwas zu denken, zu sehen und zu erkennen, sondern eine Grundhaltung des eigenen Seins. Das, was Aristoteles )Ethos< genannt hat, wird durch den Logos dieser Vernünftigkeit gelenkt und ist nur dann die durch Gewöhnung erworbene zweite Natur, die griechisch >Ethos< und >Arete<, lateinisch >virtus< hieß und die wir in der deutschen Sprache früher einmal >Tugend< nannten. Hierin sehe ich nun eine neue Perspektive, einen neuen Zugang zur Frage nach dem Sein und zur Frage der Metaphysik. Denn was ist das, was in dieser Vernünftigkeit erkannt wird, dieses Richtige oder Rechte in der konkreten Situation? Was ist das für eine Art von Sein? Da kam mir Kierkegaard zu Hilfe; es ist ein »existenzielles« Erfahren. Hier ist die Existenz des
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Menschen, als der, der er ist, auf dem Spiele. Auch Jaspers hat nach dieser Richtung im gleichen Sinne Stellung genommen. Dieses Interesse an dem Existenzbegriff ist nicht das Interesse des Existentialismus in der Prägung, die Sartre ihm gegeben hat 6 . Heidegger hat 1945 einen berühmt gewordenen Briefzur Abgrenzung gegen diesen französischen Existentialismus geschrieben. Die Bedeutung des französischen Existentialismus wird dadurch gar nicht gemindert, daß er die Frage nach dem Sein, die Heidegger von Aristotdes her und von seinem Unbefriedigtsein durch Aristoteles wieder aufzunehmen suChte, überhaupt nicht meint, sondern ein Humanismus blieb. Es war etwas anderes, was Heideggers Denken auf die Bahn brachte: der Rückgang hinter die griechische Ontologie. Das ist nun etwas, was sich in den 30er und 40er Jahren unter Ausschluß der Öffentlichkeit weiter entwikkelte, als Heidegger wegen des Regimes Publikationsprobleme hatte. Es ist daher erst nach dem Zweiten Weltkrieg, also erst in den 50er Jahren, zum Tragen gekommen. Insofern steht es außerhalb meines Themas, das die Epoche zwischen den beiden Kriegen meint. Doch darfich zusammenfassend noch einen Vorblick auf das werfen, was danach kommen konnte und entsprechend gekommen ist. Es gibt ein Problem, an dem sich die Wende, die Heidegger »Kehre« nannte, fast ablesen läßt. Der tragende Grundbegriff der griechischen Philosophie ist )Logos( dieser Begriff ,Logos(, den Heidegger als das »Zusammenlesen«, als die »Lese«, als das, was als das »Zusammengegriffene« im Gedanken ist, sehr schön interpretiert hat. Dieser Begriff des )Logos( ist nicht mit unserem Begriff der Sprache bedeutungsgleich. Die Griechen hatten kein Wort für ,Sprache(. Sie konnten ,Glotta( sagen - das heißt: die Zunge -, und sie konnten ,Logos( sagen, und das hieß: das Gesagte. Aber da war kein Wort für ,Sprache<. Hier zeigt sich bis in die Semantik hinein eine Grenze des philosophischen Weltzuganges der Griechen. Aristoteles hat mit seiner Theologie des sich immer selber denkenden Gottes, der immerfort da ist, weil er seiner selbst immer gewärtig, d. h. gegenwärtig ist, die logische, begriffliche Folgerung aus der primären denkenden Weggegebenheit an das Sichtbare der Dinge, an ihr ,Eidos<, gezogen. Sprache dagegen ist ein tief verborgenes Geheimnis, dieser Knochen Sprache, wie Hamann gesagt hat, an dem er sein Leben lang kaute wie ein Hund, der seinen Knochen nicht losläßt, auch wenn kein Pitzelchen Fleisch mehr daran ist. Das Thema Sprache wurde das Zentralthema der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Freilich machte es einen Unterschied, ob man Sprache mit den Linguisten und den Strukturalisten als ein Regelsystem und als einen semantischen Code zum Gegenstand macht - oder ob man mit dem späteren Zu Sartre siehe in diesem Band Beitrag Nr. 10. Vgl. auch ,Existentialismus und Existenzphilosophie< in Ges. Werke Bd. 3 (Nr. 9). 6
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Heidegger (und auch mit den Beiträgen anderer, ich habe das auch versucht?) die Sprache als das zu sehen sucht, worin wir leben und die unser Element ist. Was das Element ist, in dem man lebt, ist etwas, das man nicht zum Gegenstand macht. Das Element, die Luft, die wir atmen, ist nicht Gegenstand - es sei denn, daß einem der Wind sehr ins Gesicht bläst. Dann kann man über die scharfe Luft klagen. Oder, wenn in einem geschlossenen Raume »schlechte Luft« ist. Aber sonst ist die Luft das, worin wir leben und was wir nicht zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit machen, wenn wir sie atmen. So ist es auch mit der Sprache. Sie ist sozusagen das, worin wir zu Hause sind, was uns so heimisch sein läßt auf diesem merkwürdig bevorzugten Planeten eines riesigen Universum. Was uns da zu Hause und heimisch sein läßt, drückt sich nicht zuletzt in der Sprache aus. Das zu begreifen, dahin sind wir unterwegs, noch immer. Wir haben einerseits die Sprache zu einem neuen Forschungsfelde erhoben und durch Entschleierung einiger ihrer Geheimnisse einer neuen Aufklärung ausgesetzt. So ist sie das Objekt der Linguisten, der Semantiker, der Semasiologen (und ich weiß nicht, wie sie alle heißen). Auf der anderen Seite ist uns die Sprache das Element, in dem wir leben und das al1 unser Denken umhüllt. Sie bleibt für uns alle ein letztes Daheim- und Zuhausesein, ein Unvordenkliches, das eine entfremdete Welt, die alles auf das Machbare allein anzusehen gewohnt ist, uns gelassen hat; und dieses ist die ganze Welt noch einmal- als die Wlsere. Auf diesem Wege zur Sprache läßt sich freilich in sehr verschiedenen Weisen vorangehen. Die angelsächsische Tradition suchte die immanente Logik der wirklich gesprochenen Sprache herauszuarbeiten und auf diese Weise den künstlichen Wortgötzen der traditionel1en philosophischen Begriffs bildung ein neues analytisches Gewissen entgegenzusetzen. Hier war die Arbeit von Quine weitgehend bestimmend - und auf der deutschen Bühne das besonders verdienstliche Buch von Tugendhat )Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie< (Frankfurt 1976). Aber nochmals sollte sich wiederholen, was Wilhe1m Dilthey in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegenJohn Stuart Mill eingewandt hatte, daß es bei ihm an historischer Bildung fehle. AhnIich war es übrigens auch mit Husserls Fortsetzung der phänomenologischen Forschung, die nach dem Kriege durch eine große, höchst verdienstvolle Ausgabe zugänglich wurde. Die hermeneutische Öffnung für die Sprachlichkeit und das Mitleben der SinnIntentionen von Sprache wurde erst in Heideggers hermeneutischer Öffnung und ihrer Fortführung in den Vordergrund gestellt. Daß in Deutschland insbesondere nach dem Vorgang Heideggers die Wiederaufnahme 7 Siehe dazu neben den einschlägigen Arbeiten in Ges. Werke Bd. 2 (Nt. 11-16) die in Ges. Werke Bd. 8 gesammelten Beiträge (Nr. 31-34) und besonders den Schlußbeirrag ,Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, (Nr. 36).
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Die deutsche Philosophie zwi~chen den beiden Weltkriegen
romantischer Antriebe, gerade in den Zeiten der Unfreiheit, der Sprache der Dichtung neue Aufmerksamkeit zuwandte, war nur eine der Formen, in denen sich Vorenthaltenes wieder zu Worte zu melden pflegt. So gewann damals in Deutschland Hölderlin durch eine große kritische Ausgabe an Zugänglichkeit, und Stefan George und Rainer Maria Rilke stellten ein vernachlässigtes, aber in Wahrheit im Verborgenen gepflegtes Potential freien, selbständigen Denkens dar. Nach 1945 trat das dann in die größere Öffentlichkeit und begünstigte die hermeneutische Wendung. Aber es gab noch andere Dinge, die neu zugänglich wurden bzw. auf ihre Lebenskraft und Bedeutung neu geprüft wurden. Das eine war die Ideologiekritik, die insbesondere von der Frankfurter Schule gepflegt wurde und dann in Jürgen Habermas einen scharfsinnigen und engagierten Fortsetzer fand, der auch an der Wendung zur Sprache Interesse nahm 8 . Die Wendung zur Sprache mußte ja, gerade in der Erinnerung an das Durchlebte, die tiefe Zweideutigkeit ins Bewußtsein heben, die in der Sprachlichkeit des menschlichen Daseins steckt. Wenn man vom hermeneutischen Denken her sagen durfte, daß Sprache im Gespräch und in der Verständigung ihr Dasein hat, so mußte sich die Frage stellen, ob es nicht gerade auch Verzerrung der Kommunikation durch Sprache gibt, und man mußte sich fragen, ob nicht die Aufdeckung solcher verzerrender Elemen~e sich in dem marxistischen Begriff der Ideologiekritik wiedererkennen ließ. Ein zweites, dem öffentlichen Bewußtsein in Deutschland weitgehend vorenthaltenes Moment war die ganze Dimension der Tiefenpsychologie, die durch Freud eine neuartige Kritik des Bewußtseins erarbeitet hatte. Auch das mußte auf dem Wege zur Sprache von Bedeutung werden, und dies wiederum führte dazu, daß das Erbe der Romantik in unseren eigenen Denkversuchen neuen Auftrieb erhielt. So gewannen Hegel, Schleiermacher und Friedrich Schlegel auch innerhalb der Fragestellungen der Hermeneutik neue Aktualität. Ebenso wurde das durch das Fortschreiten der neuen großen Ausgabe von Wilhlem Diltheys Schriften gefördert. Erst recht gilt das flir eine neue Präsenz Nietzsches. Nietzsche war zwar in Deutschland wegen der Verstümmelung und des Mißbrauchs, die ihm dort in der jüngsten Vergangenheit zugefligt worden waren, zunächst überschattet, aber um so stärker kam aus den anderen europäischen Ländern, vor allem aus Frankreich und Italien, Nietzsche zurück. Überraschend war, daß in der kontinuierlichen Nachwirkung der Lebenswerke von Husserl und Heidegger auch das Erbe Wilhelm Diltheys zu neuem Leben gelangte. Gewiß war Dilthey - ein Akademiker, ein berühmter Professor - nicht von der gleichen Präsenz und von gleichem öffentlichem Einfluß wie sein Zeit-
genosse Friedrich Nietzsche. Aber die gewaltige Unterströmung historischen Denkens, die von der Romantik und Schleiermacher an das Kulturleben des 19. und 20. Jahrhunderts befruchtet hat, besaß in Dilthey seinen weithin wirksamen und immer wirksamer werdenden Repräsentanten 9 • Das griff auch weit über das hinaus, was mit Dilthey unmittelbar zusammenhing. So zeigt etwa das Beispiel von Thomas Kuhn und seiner Revolutionstheorie in der Wissenschaftsgeschichte, wie sich diese geschichtliche Unterströmung selbst auf dem Gebiete des wissenschaftlichen Fortschrittsgedankens zur Geltung brachte. Ähnlich hat Hans Blumenberg lO mit geschichtlicher Imagination den neuzeitlichen Weg der modernen Wissenschaftswelt im Lichte geschichtlicher und philosophischer Wandlungen verfolgt und so das Selbstverständnis der Gegenwart bereichert. Auf der anderen Seite führten der enorme technische Fortschritt der Industriewelt und die bedrohlichen Rückwirkungen, die von da ausgingen, zu Verschiebungen im Kräftefeld des Gedankens. Probleme wie der Streit um die Atomenergie oder um die Gentechnologie im Bereiche der biologischen Forschung hatten auch philosophische Aspekte, insbesondere im Sinne eines Rufes nach einer neuen Ethik. Das darf freilich kaum als eine philosophische Ethik angesehen werden, wonach hier das Zeitbewußtsein verlangt. Einen erstaunlichen Widerhall fand auch die Evolutionstheorie in ihrer Anwendung bis auf die moderne Erkenntnistheorie. Ich nenne diese Resonanz erstaunlich, weil es doch eine sehr kurze Spanne ist, an den Maßen der Geschichte des Universums gemessen, welche die geistige Geschichte der Menschheit und ihres Gedächtnisses ausflillt. Aber sie reiht sich den Motiven zur Bewußtseinskritik an, die mit der weitgreifenden Präsenz Nietzsches zusammenhängt. Damit hat sich auch flir die Horizonte des geschichtlichen Gedächtnisses der Menschheit manches verschoben. Die enge Begrenzung auf den europäischen Kulturkreis und seine direkte Ausstrahlung auf den Erdball gibt der hermeneutischen Wendung des Denkens unserer Epoche immer neue Aufgaben und Perspektiven. Nicht nur die Ferne und Fremdheit der Vergangenheit, gerade auch die Ferne und Fremdheit der mit uns in neue Lebensgemeinschaft eintretenden anderen Kulturkreise stellen uns neue Aufgaben und werden ohne Zweifel in einer pluralistischen Welt neuen Gesprächsaustausch und Gewinnung neuer Sinnhorizonte einleiten, die über den Begriff der Philosophie hinausweisen, der im Abendland seine Ausbildung erfahren hat. Aus der engen Verflechtung von Dichtung und Philosophie, auch von der Gesprächskunst fremder Kulturen, wird immer Neues für uns denkwürdig werden. Die Geschichte der Philosophie wird nie zu Ende sein - aber
Siehe dazu die Beiträge zu Henneneutik und Ideologiekritik in Ges. Werke Bd. 2 (Nr. 18 und 19). 8
9 Siehe dazu u. a. die Dilthey-Aufsätze in Ges. Werke Bd. 4 (Nr. 28 und 29) und in diesem Band Beitrag Nr. 16. 10 Vgl. dazu auch Ges. Werke Bd. 4, S. 52 ff.
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wenn, wie Hegel gesagt hat, die Philosophie jeweils ihre Zeit in Gedanken gefaßt ist, dann wird mit den gewaltigen Veränderungen der Welt, in der wir uns befinden, auch der Fortgang des philosophischen Gedankens sich zeitigen, sowohl seiner Herkunft nach wie auch in der nicht absehbaren Offenheit seiner Zukunft. Einige der Probleme, denen sich das philosophische Denken wird stellen müssen, scheinen mir etwa die folgenden: das Gespräch der Religionen im Zeitalter des Massenatheismus und die Näherung der Kulturkreise aufdieser Erde. Ferner die Verwandlung der Gesellschafts- und Lebensformen durch die technische Revolution und insbesondere durch die neuen Formen der Steuerung derselben durch den Computer. Drittens: Die Stellung der eigenen Kulturtradition im Ganzen des neuen Weltausgleiches wird neu bedacht werden müssen, insbesondere, seit die Mobilität des heutigen Erdenlebens und Fluglebens sich immer stärker auswirkt. Schließlich stehen wir vor Menschheitsaufgaben, die alle Grenzen der bestehenden Kulturkreise und aUe politischen Grenzen übersteigen, in der Wirtschaftsordnung, in der Energiepolitik, in der Friedenssicherung, in der ökologischen Krisenbekämpfung und in all den neuen Verantwortlichkeiten, die ein gesteigertes Können dem menschlichen Gewissen aufladen. Die Klassiker der Philosophie werden sich dabei als die wahren Vordenker erweisen.
V. Philosophische Begegnungen
Paul Natorp De nobis ipsis silemus: so beginnt Paul Natorp die Selbstdarstellung, die er im Jahre 1920 publizierte. Es wäre nicht angemessen, eines solchen Mannes, der wußte, was Schweigen heißt, und seiner Verdienste zu gedenken, indem ich von persönlichen Erinnerungen ausginge, wie sie der junge Student der Generation nach dem Ersten Weltkrieg als einer seiner letzten Doktoranden besitzt. Paul Natorp ist in die Geschichte der Philosophie eingegangen als ein Mitglied der Marburger Schule. Seine zahlreichen Arbeiten zur Geschichte der Philosophie sind ebenso wie seine Arbeiten zur systematischen Philosophie beherrscht von dem mit Hermann Cohen geteilten philosophischen Anliegen, die kritische Tat Kants zu erneuern und weiterzuentwickeln. Die Frage ist: Was ist innerhalb dieser gemeinsamen Haltung der »Marburger Schule« - einer der eindrucksvollsten Schulgemeinschaften in' der neueren Philosophie - das Eigene, das Natorp zu sagen hatte und das erst in einem späteren Stadium seiner geistigen Entwicklung zum systematischen Durchbruch kam? Sich dessen zu vergewissern, bedarf es einer kurzen Erinnerung an den Grundgedanken des Marburger Neukantianismus. Es ist die Methode des Ursprungs, das heißt die Erzeugung der Realität durch das reine Denken. So hat es Cohen formuliert. Was diese Formulierung des transzendentalen Gedankens leitet, ist die Anschauung der Wissenschaft des 17. und 18.Jahrhunderts und insbesondere das Vorbild ihres mathematischen Prinzips, nämlich das Prinzip des Infinitesimalen l . Die mathematische Bewältigung des Kontinuums der Bewegung, die Formulierung des Erzeugungsgesetzes der Bewegung läßt verstehen, daß es das Denken ist, das hier die Realität erzeugt. Daß solche Erzeugung eine unendliche Aufgabe ist, macht gerade den universalen Sinn dieses Prinzips für das Faktum der Wissenschaften aus. Sie sind Methoden der Gegenstandserzeugung und der Bestimmung der Realität. Cohcn hat selbst die Ethik noch auf das »Faktum der Wissenschaft« gegründet und die Rechtswissenschaft als die Logik der Geisteswissenschaften verstanden. Die Mannigfaltigkeit der Richtungen solcher Objektbestimmung aber schließt in sich die Frage nach ihrer Einheit. Und hier hat Natorp schon früh sein erstes eigenes Wort zu sagen begonnen, indem er unter Berufung auf Kants transzendentale Synthesis der Apperzeption und im Einklang mit Cohens systematischen Intentionen die Aufgabe einer >Allgemeinen Psychologie< formulierte 2 . Der Richtung auf die Differenzierung der Gegen• Vgl. die systematisch grundlegende Schrift HERMANN COHENS, Das Prinzip der Infinitesimalmethode und seine Geschichte (1883). 2 Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode (1888); zweite, völlig neue Bearbeitung unter dem Titel; Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (1912).
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standsbestimmung entspricht die umgekehrte Richtung der Integration zur Einheit der Bewußtheit. Der Gegenstand der Psychologie ist nicht ein eigener Gegenstand, das Subjektive neben dem Objektiven der übrigen Wissenschaften, sondern eine andere Betrachtungsrichtung des Gleichen. Es ist dieselbe Erscheinung, die das eine Mal nach ihrem Objektivitätscharakter, das andere Mal als Moment des Erlebens eines bestimmten Subjekts ins Auge gefaßt wird. Es leuchtet ja ein, daß, wenn man sich die Totalität aller Gegenstände denkt und auf der anderen Seite die Totalität aller möglichen Ansichten, die man sich von der Totalität der Gegenstände bilden kann, dann auf der einen und der anderen Seite dieselbe Welt gedacht ist. Das war schon der geniale Gedanke der Leibnizschen Monadologie: Der Zusammenbestand der Augenpunkte aller individuellen Perspektiven, in denen sich das Ganze darstellt, ist die Welt selbst. Ein unendliches Bewußtsein enthält nichts anderes als die Totalität des Seins. Nun ist freilich für das eridliche menschliche Bewußtsein die Totalität der Gegenstandsbestimmung eine unendliche Aufgabe, und eine gleiche Unendlichkeit ist in der Idee der reinen Subjektivität gemeint 3 . Die Rekonstruktion des subjektiven Erlebens ist ebenso nur eine methodische Annäherung, verbürgt durch die präsentische AktualItät des Bewußtseins, wie sie auch das endliche menschliche Bewußtsein im Phänomen des Erinnerns und des zwischen den Individuen gemeinsamen Geistes bezeugt. Natorp bewegte sich hier auf Wegen, die sowohl mit Diltheys geisteswissenschaftlicher Psychologie wie mit Husserls Phänomenologie konvergieren. Aber seine Frage an diese Psychologie galt nicht der Aufgabe einer neuen Grundlegung der Geisteswissenschaften, auch nicht einer methodischen Neuorientierung der philosophischen Forschung, sondern dem systematischen Einheitsgedanken der Philosophie überhaupt, der sich ihm in der Korrelation von Objektivierung und Subjektivierung, das heißt aber in der vollen Herrschaft des Gedankens der Methode, des Prozesses, des fieri auch noch über das factum der Wissenschaft darstellt. So galt Natorp als der strengste Methodenfanatiker und Logizist der Marburger Schule. Genau das aber war der Punkt, an dem sich eine Differenz zu Hermann Cohen und der selbständige Weg seines späten Philosophierens zur Abzeichnung brachte: die überschreitung der Methode. Er formulierte sie in der Idee einer >Allgemeinen Logik<. Die Verallgemeinerung des transzendentalen Problems, die damit gemeint war, beschränkte sich nicht länger auf das »Faktum der Wissenschaft« und seine apriorischen Grundlagen. Das in der sittlichen Handlung und der künstlerischen Schöpf\mg, in Praxis und Poiesis schaffende Leben, nicht seine Objektivierung in den Geisteswissenschaften, sondern die im Wollen und Schaffen selbst gelegene Objektivation sollte mit
der Wissenschaft einheitlich umgriffen werden. Die Einheit von Theoretik und Praktik, in Kants Lehre vom Primat der praktischen Vernunft vorgebildet, in Fichtes Wissenschaftslehre zur Durchführung gebracht, sollte in der >Allgemeinen Logik< Natorps erst ihre volle Universalität erreichen. Sie hat ihre eigentliche Vollendung noch nicht in der Korrelation der objektiven und subjektiven Methodik, wie sie die >Allgemeine Psychologie< entwickelt hatte, sondern in der weit grundsätzlicheren Korrelation von Denken und Sein, die den unendlichen Fortgang des methodischen Bestimmens trägt und begründet. Aber auch diese Korrelation ist nichts Letztes, sondern setzt ihre ursprüngliche llunzerstückte« Einheit voraus. Das ist der Sinn der überschreitung der Methode, die Natorps spätes Denken beherrschte. Das transzendentale Ideal Kants diente ihm dabei als Anknüpfung, die Wirklichkeit als die totale Bestimmtheit, als das »Urkonkrete« zu denken. Damit gelangte erst die Idee der transzendentalen Psychologie zu ihrer vollen systematischen Auswirkung. Die Einheit der praktischen und theoretischen Vernunft bildete schon in Kants Denken den tiefsten systematischen Punkt. Ihre Durchführung in der Einheit von Sonderung und Vereinigung, von Denken des Daseins und Denken der Richtung, des Sollens, der Aufgabe, war der Leitgedanke der >Allgemeinen Logik<. Sie sollte die »Durchwirkung des Idealismus bis zum letzten Individuellen« leisten und damit die »aktuellste Frage der gegenwärtigen Philosophie«, das Problem des principium individui, lösen 4 . Dieser Zusammenhang wurde erstmals deutlich, als N atorp im Jahre 1917 eine große kritische Auseinandersetzung mit dem Kam-Buch Bruno Bauchs schriebS. Was er an dieser aus dem südwestdeutschen Neukantianismus hervorgegangenen Darstellung vermißt, ist das Verständnis für die systematische Unentbehrlichkeit einer transzendentalen Psychologie - nur von dort aus aber könne die Verallgemeinerung der transzendentalen Fragestellung auf die außertheoretischen Objektivationen ihr volles Gewicht gewinnen. Der Dualismus der logischen Formen und der amorphen Materie der Erkenntnis kann der Idee einer >Allgemeinen Logik< nicht standhalten. Die Idee einer unendlichen Bestimmbarkeit schließt die Voraussetzung der totalen Bestimmtheit des Individuellen und damit die volle Logizität des Amorphen ein. Natorp sieht nicht nur im theoretischen Felde, sondern erst recht in der Ethik das Problem der Individualbestimmung als das herrschende an und vermißt gerade hier an dem südwestdeutschen Neukantianismus das notwendige Weiterdenken des Kantischen Ansatzes in der Richtung, die Schleiermacher vorschwebte. »Die Ethik ist als Logik des Handelns, allerdings PAUL NATORP, Hermann Cohens philosophische Leistung (1918), S. 33. PAUL NATORP, Bruno Bauchs >Immanue1 Kant' und die Fortbildung des Systems des Kritischen Idealismus. In: Kantstudien 22 (1918), S. 426-459. 4
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Vgl. P'.UL NATORP, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme (1911), S. 157f.
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von seiten der Form, d. h. des Logos, aber fUr die Materie zu beg~den, und fiir sie in ihrer vollen Individualität, die überhaupt den allein haltbaren Sinn der Materie ausmacht. « Vollends aber für das systematische Problem der Religion war die Entfaltung des von der >Allgemeinen Psychologie< aus entwickelten Systemgedankens von entscheidender Bedeutung, und hier sah sich Natorp selbst gegenüber Hermann Cohen, dessen systematischen Intentionen er so nahestand, scWießlich in entscheidendem Vorteil. Denn in der Religion ist die Individualbedeutung grundlegend, nicht nur als Aufgabe und methodisches Ziel. Das gerade war die Schwäche von Cohens Ethisierung der Religion, daß sie den Umkreis der Methodik der Daseinsbestimmung Imd Willensbestimmung nicht überschritt und damit die absolute Individuität Gottes nicht angemessen zu denken vermochte. Das Motiv einer absoluten Individuität aber lag schon Natorps >Allgemeiner Psychologie( zugrunde. Zur Universalität des systematischen Prinzips erhoben, ergab es die Anerkennung der vollen Sinnhaftigkeit des konkreten Seins, mithin die Idee einer >allgemeinen< (in keiner Richtung mehr durch eine Materie, einen Rest von Unbestimmtheit, Form- und Sinnlosigkeit eingeschränkten) Logik. Natorp stellte sie unter das Motto Heraklits: »Grenzen der psyche würdest Du, gingst Du darauf aus, nicht finden, und ob Du jeden Weg beschrittest, so tief liegt ihr logos.« Der Logos, das heißt die Sinnhaftigkeit des Seins als des Unzerstückten, des Urkonkreten, liegt allerBestimmung von Sinn. aller Rationalität immer schon voraus. Das gerade ist die entscheidende Einsicht dieser >Allgemeinen Logik(, daß sie am Irrationalen, am Leben, keine Grenze hat, sondern in der Wirklichkeit der Spannung zwischen Rationalität und irrationalität. zwischen Begriffund Existenz, in ihrer Koinzidenz den Logos selbst, den Sinn, enthält. In unermüdlicher Variation seiner Gedanken hat Natorp immer wiederholt, daß in dieser letzten Koinzidenz des Auseinanderstrebenden und sich Widersprechenden das eigentliche Ja des Seins in der »Aktlebendigkeit« der reinen Schöpfung zur Erscheinung kommt. Nun erst konnte auch die dritte der systematischen Richtungen des Kantischen Denkens, die Ästhetik, unter dem Gedanken der Poiesis, der über alle Zeit- und Prozeßform erhobenen Schöpfung, ihren systematischen Anteil an der >Allgemeinen Logik< erlangen. Es ist der Gedanke der Individuität, der in der Individuität Gottes und des Ganzen des Seins alle Methode übergreift. das heißt ihr die bloße Unendlichkeit der Aufgabe zuweist. Den meisterhaften Erforscher der antiken Philosophie mußte das systematische Anliegen seiner späteren Jahre an dem Stoff seiner historischen Interpretationen zur Entfaltung drängen. Und so hat Natorp in hohem Alter sein 1903 erschienenes vielumstrittenes Plato-Werk in einem metakritischen Anhang vom Jahre 1921 selbst kritisiert und die Perspektive eines angemessenen Platoverständnissesausgearbeitet. Natorps Auffassung der platoni-
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sehen Idee war eine der paradoxesten Thesen gewesen, dieje in der historischen Forschung aufgestellt worden sind. Er verstand die Idee vom Naturgesetz her, wie es der galileischen und newtonsehen Wissenschaft zugrunde liegt. Das hypothetische Verfahren der Naturwissenschaften spricht freilich dem Gesetz keine eigene Realität zu, sondern beschreibt in ihm die Regelhaftigkeit des Naturgeschehens selbst. Die platonische Ideenlehre ist seit Aristoteles gerade deshalb Gegenstand der Kritik gewesen, weil die Ideen eine Welt fUr sich, einen intelligiblen Kosmos darstellen sollten, der von der sinnlich-sichtbaren Welt durch einen unüberbrückbaren Hiat geschieden ist. Natorp hat gleichwoW ein Gemeinsames zwischen Plato und der Wissenschaft der Neuzeit ins Auge gefaßt6 : die Idee istja das wahrhaft Seiende - das, was den Phänomenen als wahrhaft seiend zugrunde liegt. Diese Grundlage, die Hypothesis des Eidos, ist so wenig wie der mathematische Grundentwurf der Gleichung in der modernen Wissenschaft ein Seiendes neben dem Seienden. Aber nicht deshalb, weil sie neben dem Sein der Phänomene keine selbständige Existenz hätte, sondern umgekehrt: weil das Seiende der »Phänomene« eben nicht seiend ist, soweit es nicht in der unvlj'ränderlichen Selbigkeit des Eidos besteht. Es war und blieb eine gewaltige Abstraktion. die Natorp an Platos Philosophie vornahm. Der späte Natorp erkennt nun an, daß die Idee nicht nur Methode ist, sondern daß aller Vielfältigkeit der Ideen die jenseitige Einheit des Einen, Urkonkreten zugrunde liegt. Jede Idee ist jetzt nicht mehr ein bloßer Ausblick auf ein unendlich fernes Ziel, eine Setzung der Subjektivität, sondern ist ein Durchblick auf dieses Eine, der im Einen, Seienden selbst entspringt. Insofern aber ist sie auch das eigene Wesen der Psyche. Eidos und Psyche aber entsprechen sich nicht nur wie Hypothesis und Methode gegenüber der logischen Einheit des Systems, sondern sie sind, was sie sind, sofern sie mit dem Einen, » Urlebendigen, Urkonkreten«, dem »Logos selbst«, eins sind. Die Allebendigkeit des einen Lebens lebt in der Lebendigkeit ihres schöpferischen Sichsetzens. Der späte Natorp hält die Trennung des Logikers von dem Mystiker Plato, die gerade er auf die Spitze getrieben hatte, nicht mehr aufrecht. Das ist eine erstaunliche Annäherung des Platoverständnisses an den Neuplatonismus. Als ob ein Jahrhundert mühsamer Unterscheidung der in der Tradition verfilzten Masse platonischer überlieferung, an der Natorps eigene Arbeit so viel Anteil hatte, gar nicht gewesen wäre. Was in dieser extremen Konsequenz des Natorpschen Denkens zum Ausdruck kommt, ist 6 Darin ist ihm übrigens Hegel vorausgegangen. Seine Dialektik der Il verkehrten Welt« (Phänomenologie des Geistes, S. 114ff. [Hoffmeister]) denkt die »übersinnliche Welt« des Verstandes als ein Ilruhiges Reich von Gesetzen«; das »beständige Bild der unsteten Erscheinung«, mithin das platonische Eidos. ist das Gesetz. Hier liegt die Wurzel des neukantianischen Platobildes.
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aber mehr als ein individueller Vorgang philosophischer Entwic~lung. Gerade hier liegt die wirkliche, unveraltete Bedeutung Natorps; in seinem Denken die innere Zugehörigkeit des Neukantianismus des 19. Jahrhunderts zum Neuplatonismus und zum spekulativen Idealismus der Nachfolger Kants zu bezeugen. Schon im Ansatz der Cohenschen Wiederentdeckung des Grundgedankens der >Kritik( steckt ein uneingestandener Hegelianismus, und es ist Natorps Verdienst, im konsequenten Weiterdenken dieses Neukantianismus die systematischen Antriebe Fichtes und Hegels bewußt aufgegriffen zu haben. Ich möchte mit einer persönlichen Erinnerung schließen: Wenn wir jungen Leute mit dem pietätlosen Blick derJugend den kleinen eisgrauen Mann mit den großen aufgerissenen Augen, in seinem Lodencape von wahrhaft monumentaler Unscheinbarkeit, des öfteren in der Begleitung des jungen Heidegger den Rotenberg heraufwandem sahen - derJüngere dem ehrwürdigen Greis respektvoll zugewandt, aber meist beide in langem, tiefem Schweigen -, dann rührte uns in solcher stummen Zwiesprache zwischen den Generationen etwas von Dunkel und Helligkeit der Einen Philosophie an. Paul Natorps Denken jedenfalls war als Ganzes der Versuch, auf eine Frage zu antworten, die Meister Eckhart gefragt hat: »Warum gehet ihr aus?« Noch einmal lautet die' Antwort, wie sie bei Plotin, in der Mystik, bei Fichte, bei Hegel gelautet hat: um heimzufinden.
nologischen Bewegung, die etwas auf sich hielt, ein Stern erster Größe. Umstritten, gewiß. Die solide I-Iandwerkskunst des Altmeisters Husserl, dem manche auf noch solidere Weise, die an tötende Langeweile grenzte, folgten, war nicht sein Fall. Als er - als Kömer Professor - Nicolai Hartmann, den Marburger, als Kollegen empfing, sagte er zu ihm: »Mein Genie und Ihr Sitzfleisch - das gäbe einen Philosophen! « Das war nicht gerecht gegen Hartmann - aber es war ein Eingeständnis. Husserl und die phänomenologischen Anhänger, die ihm folgten, sahen Scheler mit unverhohlenen1 Unbehagen. Seine Ausstrahlung war allzu gewaltig. Was sollte auf der feurigen Esse dieses Geistes aus der Philosophie als strenger Wissenschaft werden? Ich erinnere mich genau meiner ersten und einzigen Begegnung mit ihm. Ich war junger Marburger Philosophiestudent, kannte seine Hauptwerke, die während oder vor dem Kriege erschienen waren, recht gut, war sehr beeindruckt von der Vielseitigkeit und Brillanz dieses Mannes, der zwar kein ganz so gutes Deutsch schrieb wie Nietzsche, aber vom )Umsturz der Werte< - das war der Titel einer zweibändigen Aufsatzsammlung, die er schon vor 1914 herausgebracht hatte - nicht weniger faszinierend zu sprechen wußte. Ernst Robert Curtius, der sich freundschaftlich um mich bekümmerte und damals in Marburg Romanist war, war sein großer Bewunderer, und als Scheler 1920 nach Marburg zu Vorträgen kam, eingeladen von der katholischen Studentengemeinde, rührte Curtius mich und Scheler zusammen. Es war in der Marburger Straßenbahn, wo unser Gespräch begann. Das war der fahrbare Salon dieser kleinen Weltstadt des Gedankens. Sie fuhr eingleisig, mit langem Halt an den Begegnungsstellen und in gemächlichem Tempo. Curtius hielt sich freundschaftlich-ritterlich zurück, und so war ich dem saugenden und bohrenden Gegenüber von Max Scheler schutzlos preisgegeben. Was für eine Erscheinung! Wer je im Professorenzimmer der Kölner Universität war, kennt das Porträt von Otto Dix, das dort hängt, ein begeisterndes Dokument des Stils der neuen Häßlichkeit. Es war keine Übertreibung. Es war nackte Wahrheit. Ein zwischen den Schultern versinkender Kopf-und eine Nase, die ich immerfort anstarren mußte: Ihr breiter Vorsprung hatte - welch meisterhafte Dränage - in der Mitte eine Art Regenrinne, von der es, wie ich später sah, als er seine Vorträge hielt, beständig tropfte. Bei unserem Gespräch lag sie trocken. Auch ich war schnell auf dem Trockenen. Er fragte mich nach allem möglichen, nur nicht nach dem, was mich, einen unreifen Knaben von zwanzig Jahren, damals erfüllte - der Marburger Neukantianismus Cohens und Natorps und die beginnenden Abweichungen Nicolai Hartmanns, die ich für »phänomenologisch« hielt. Er fragte mich statt dessen nach Rudolf Otto, dem berühmten Verfasser des )Heiligen<, dessen Verfahren er phäno-
Max Scheler Es ist schier unglaublich. Aber wenn man heute einen für Philosophie interessierten jungen oder selbst einen älteren Menschen fragt - er weiß kaum, wer Scheler war.' Dunkel mag ihm vorschweben, daß er ein katholischer Denker war, der eine einflußreiche » materiale Wertethik « geschrieben hat, und daß er irgendwie zu der phänomenologischen Bewegung gehört, die durch Husserl begründet worden war und die right or wrong durch Heidegger fortgesetzt wurde. Aber eine Präsenz im gegenwärtigen philosophischen Bewußtsein, die mit der von Husserioder Heidegger vergleichbar wäre, besitzt Scheler nicht. Wie kommt das? Wer war er? Es war im Jahre 1874, daß er zur Welt kam, und es ist nun über sechzig Jahre her, daß er plötzlich, vierundfünfzigjährig, starb. Liegt es an diesem frühen Tode, daß niemand ihn heute kennt? Schwerlich. Gewiß, die eigentlichen Erntejahre eines Gelehrten liegen spät. Aber Max Scheler gehörte nicht zu denen, die Warten, langsames Reifen und Ausreifen kannten. Er war auch alles andere als unbekannt. Er war selbst innerhalb der phänome-
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Max Scheler
menologisch nannte, und - zu meiner Verblüffung - nach dem Experimentalpsychologen Erich Jaensch, dem Entdecker der »eidetischen«' Anschauungsbilder, den wir abstrakten >Philosophen< gänzlich unter unserer Würde glaubten. Ich stotterte unbehaglich herum. Um endlich eine Basis zu finden, sagte Scheler schließlich: »Finden Sie nicht, daß Philosophie so etwas wie das Ziehen von Puppen an Drähten ist?« Ich erstarrte. So wenig Ernst in einem so großen Denker. Aber dann rissen seine Vorträge mich hin. Ich verstand plötzlich, was er gemeint hatte. Ziehen an Drähten, Ziehen von Puppen - ach nein: Es war weit mehr ein Gezogenwerden, eine fast satanische Besessenheit, die den Redner zu einem wahren Furioso des Gedankens fortriß. Als ich später einmal Husserl von dem dämonischen Eindruck, den Scheler auf mich gemacht hatte, erzählte, sagte er ganz bestürzt: »Oh, es ist gut, daß wir nicht nur ihn, sondern auch Pfänder haben.« (Das war der nüchternste, trockenste, undämonischste Phänomenologe, den man sich denken konnte.) Husserl ahnte damals, 1923, noch nicht, wie Heidegger war. Später sah er in beiden, in Scheler und in Heidegger, die zwei großen gefährlichen Verführer, die vom Wege des Rechten, dem Weg der Phänonlenologie als strenger Wissenschaft, fortlockten. Wer war dieser Mann, der da vom Ewigen im Menschen sprach? Ein katholischer Denker - kaum. Freilich, ein Neukantianer (der er gewesen war) noch weniger. Er war bei dem Neukantianer Rudolf Eucken, einer kulturpolitischen Berühmtheit jener Tage, - war er nicht gar ein N obelpreisträger gewesen? - habilitiert worden, mußte aber Jena bald verlassen. Die ehrbare Kleinstadt war zu eng für sein wüstes TemperaJ;Ilent. Jedenfalls wechselte er nach München - stets ein Liebhaber schöner Frauen (geheiratet hat er aber nur dreimal). Von München aus stiftete er, eine Art ruheloser Ahasver, die Verbindung zwischen der Münchner Psychologie um Theodor Lipps und der Göttinger phänomenologischen Schule um Husserl. Als ich 1920 mit ihm zusammentraf, hatte er gerade seine Kölner Lehrtätigkeit begonnen. Dazwischen lagenJahre der politischen, teils diplomatischen, teils kulturpolitischen Wirksamkeit, von denen vor allem zwei Kriegsbücher, )Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg< (1915) und >Krieg und Aufbau< (1916), Zeugnis ablegen. Man kennt das seltsame Kapitel der Kriegsbücher deutscher Philosophen, wie es Hermann Lübbe - leider in einseitiger Beschränkung aufPhilosophie und aufDeutschland - beschrieben hat. Schelers Bücher dürfen beanspruchen, daß sie in alle Kurzsichtigkeit der Stunde den Weitblick seiner Philosophie einbrachten und daher bis heute ihr Interesse behalten. Es war »linke« katholische Politik auf dem Grunde deutscher nationaler Tradition, der er seinen Geist und seine Feder lieh, bis ihn das Kriegsende und der wohlverdiente Erfolg seiner »materialen Wertethik« -
zwischen Husserls >Ideen< und Heideggers >Sein und Zeit< die bedeutendste Veröffentlichung in der Reihe der >Phänomenologischen Jahrbücher< - auf einen philosophischen Lehrstuhl an der neu gegründeten Universität Köln brachten. Was verband ihn mit der Phänomenologie? Das ist vom Negativen her leicht gesagt: die Abneigung gegen abstrakte Konstruktionen und der intuitive Blick rür Wesenswahrheiten. Darunter verstand man im phänomenologischen Kreise solche Einsichten, die nicht empirisch gewonnen oder verifiziert werden konnten, sondern nur in ideierender Abstraktion zugänglich wurden, was von Ahnungslosen gern als » Wesensschau« mystifiziert und verspottet wurde. Methode her, Methode hin, aber an intuitiver Begabung übertraf Scheler alle sogenannten Phänomenologen und war dem Meister Husserl, der mit unermüdlicher Energie seine minutiöse Deskriptionskunst der philosophischen Aufgabe der Selbstrechtfertigung unterordnete, an Anschauungskraft kaum unterlegen - und gewiß war er von einer weit überlegenen, vor nichts haltmachenden geistigen Kühnheit und Expansivität. Eine wahrhaft vulkanische Natur. Als ich 1923 zu Husserl und Heidegger nach Freiburg ging, erzählte man sich von ei~em kürzlichen Besuch Schelers bei Husserl. Er hatte den Alten mit der Frage in die Zange genommen, ob der liebe Gott rechts und links unterscheiden könne. Es klang wie ein frivoles Spiel, ein Ziehen von Puppen an Drähten. Oder war es gar ein Aufziehen des Verteidigers der Philosophie als strenger Wissenschaft? Am Ende war es ihm Ernst. Das Stichwort Intuition war schon imJahre 1901 die verbindende Brücke zwischen beiden Denkern gewesen. Es ,war bei einer Art ersten KantKongresses in Halle, dem philosophischen Auftakt zu der Kongreßseuche unseres Jahrhunderts, bei der Scheler Husserl begegnete. Schelers intuitive Naturbegabung war wahrhaft phänomenal. Zugleich hatte er etwas von einem Vampir, der seinen Opfern das Blut aussaugt. In Kants Herzen - und das war, nehmt alles nur in allem, seine Moralphilosophie, seine Lehre vom kategorischen Imperativ und dem Pflichtgefühl - blieb nicht ein Tropfen lebendigen Blutes, nachdem Scheler sich ihn zum Opfer erkoren hatte. Man ist gegen nichts so ungerecht wie gegen die eigenen Jugendtorheiten. Der Neukantianismus, den Scheler für Kant nahm, war seine Jugendtorheit gewesen. Schelers Kant-Kritik war von blinder Einseitigkeit. Aber inzwischen: Was fur Einsichten! Die Hierarchie der Werte, deren Rangverhältnisse Scheler in der »materialen Wertethik« erforschte, war alles andere als eine katholisierende metaphysische Güterlehre. Wenn Scheler die altgermanische Rechtsordnung, der zufolge selbst Totschlag, nicht zu reden von Raub, weniger schlimm war als Diebstahl, auf den Wertgegensatz von Mut und Feigheit zurückführte - und wohl auch die christliche Umwertung der Unersetzlichkeit des Lebens gegen die Belanglosigkeit des Eigentums
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stellte -, so war das von unwiderleglicher intuitiver Wahrheit. Die durchdringende Helligkeit seines Geistes enthüllte ihm eine Rangordnung von Werten und Gütern, die im Resultat, nicht in der Methodik, auf eine erneuerte mittelalterliche Stufenordnung hinauslief-mit der höchsten Dimension des Heiligen und der Personalität Gottes. War das sein letztes Wort? Es war es nicht. »Es ist der Öffentlichkeit nicht unbekannt geblieben, daß der Verfasser in gewissen obersten Fragen der Metaphysik und der Philosophie der Religion seinen Standort seit dem Erscheinen der zweiten Auflage dieses Buches nicht nur erheblich weiterentwickelt, sondern auch in einer so wesentlichen Frage wie der Metaphysik des einen und absoluten Seins (das der Verfasser nach wie vor festhält) so tiefgehend geändert hat, daß er sich als einen )Theisten< (im herkömmlichen Wortsinne) nicht mehr bezeichnen kann ... Die Ethik erscheint ihm heute wie damals wichtig auch für jede Metaphysik des absoluten Seins, , nicht aber die Metaphysik für die Begründung der Ethik. Die Änderungen der metaphysischen Ansichten des Verfassers sind außerdem überhaupt nicht auf irgendwelche Änderungen in seiner Philosophie des Geistes und der gegenständlichen Korrelate der geistigen Akte, sondern auf Änderungen und Erweiterungen seiner naturphilosophischen und anthropologischen Anschauungen zurückzuführen.« Ich erinnere mich, wie Schelers »Abfall« vom katholischen Kirchenglauben bekannt wurde und viele ihm zürnten - wohl, weil sie mehr ihm als der christlichen Botschaft geglaubt hatten. Curtius verteidigte ihn mit dem Argument, daß man es begrüßen müsse, wenn ein so großer Geist frei werde. Schelers eigene persönliche Geistigkeit hatte etwas von Ekstase, aus der man zurücksinkt in den dumpfen Drang des Lebens. Er war einer der ersten gewesen, die die Lehren Bergsons in Deutschland aufnahmen und propagierten. Der ilan vital, der ihn selbst machtvoll dahintrieb, war nicht eine Trübung seiner hohen Intellektualität, sondern wie der tragende Strom, aus dem er sich nährte. Er zog sozusagen die Summe seiner chaotisch-unausgeglichenen Natur, wenn er den Dualismus von Drang und Geist und die Ohnmacht des »reinen« Geistes lehrte. Das fiel nicht vom Himmel. Es war auch keine bloße Einkehr in sich selbst, die ihn dazu nötigte und ihn zum Bruch mit dem personalen Gottesbegriff der Kirche zwang. »Reiner« Geist ist wirklich ohnmächtig. In seiner frühen Schrift über die Sympathiegefühle und über Liebe und Haß (1912) und insbesondere in der 2. Auflage dieses Buches von 1923 bekämpfte er zwar alle Reduktion der »geistigen Gefühle« auf die Triebgewalt von Lust und Unlust (wie er auch in anderer Perspektive die Reduktion auf die ökonomische Basis der Produktionsverhältnisse kritisierte), aber er verkannte nicht, daß es die Realität des Dranges ist, die den Geist zu sich selbst emporträgt. Die »Ordnung des Herzens« (Pascal) behält
dennoch ihren eigenen Rang. Man erzählt sich, daß Max Scheler seiner zweiten FraU', der bedeutenden Schwester des großen Dirigenten Furtwängler, nach der Scheidung von ihr zeit seines Lebens zu jedem Sonntag einen langen, liebevollen Brief geschrieben habe. Aber es geht nicht nur um die private Spannweite der Persönlichkeit, die sich hier offenbart. Es geht um die Spannweite der Probleme, die dem modernen Denken gestellt sind. Das transzendentale Ego, das »Bewußtsein überhaupt«, das absolute Wissen, das Geist ist: das sind nicht die gesicherten Ausgangspunkte, das gegebene fundamentum inconcussum aller Wahrheit. Kierkegaards Einrede gegen Hege!, den absoluten Professor, der das Existieren vergessen habe, wiederholte sich gegenüber der neukantianischen Transzendentalphilosophie. Scheler wurde nicht zum Existenzphilosophen. Aber die reine Wesenslehre, als die er die Phänomenologie verstand, erschien ihm nur als die eine Seite der Philosophie, als die geistige Sphäre der entwirklichten Wesensmäglichkeiten. Die Erfahrung der Realität selbst war so nicht zugänglich. Sie bildete für Scheler das Thema einer Art empirischer Metaphysik, die hinter all den Realitäten, die von den Wissenschaften erforscht werden, eine Wissenschaft vom Realen überhaupt sein sollte. Das war kein bloßes spekulatives Abenteuer im Stile des späten Schelling, der der negativen Philosophie der Metaphysik die positive Philosophie der Mythologie und der Offenbarung entgegengesetzt hatte. Scheler war ein Kind des Jahrhunderts der Wissenschaft. Er war gewiß ein spekulativer Kopf ersten Ranges - aber was er betrieb, war zugleich die Einholung der Wissenschaften in die Metaphysik. Psychologie (Gestaltpsychologie), Physiologie und vor allem Soziologie wurden von ihm ausgewertet. Die große Studie über )Erkenntnis und Arbeit<, die den amerikanischen Pragmatismus so gut wie die Wissenssoziologie kritisch verarbeitete und 1926 erschien, enthielt die Idee einer philosophischen Anthropologie. Schelers letzte Arbeit war die programmatische Abhandlung über >Die Stellung des Menschen im Kosmos<, die im Entwurf einer solchen Anthropologie gipfelte: ein Ausblick in ein neues Land, in das hinein schon damals ein Forscher vom Schlage Helmuth Plessners und später Arnold Gehlen eigene Schritte getan haben. Max Scheler war von enormer geistiger Gefräßigkeit. Er nahm auf, was ihn irgend nähren konnte, und besaß die Penetrationskraft, die überall auf das Wesentliche hindurchstieß. Man erzählt sich, daß die jeweilige Lektüre, die er verschlang, ihn so einnahm, daß er Kollegen, die er traf, dadurch zur Teilnahme zwang, daß er aus dem Buch, das er las, ganze Bögen einfach herausriß, um sie dem überraschten in die Hand zu drücken. Von Nicolai Hartmanns >Metaphysik der Erkenntnis<, die er sehr schätzte, soll er auf diese Weise mehrere Exemplare verbraucht haben. Karl Reinhardt, der es von Maria Scheler geschildert bekommen hatte, erzählte mir einmal, wie Sche!er seinen Tag zu beginnen pflegte: Mit flackernden Händen an seinem
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Hemdenknopfoder an seiner Krawatte nestelnd, sprach er unaufhörlich vor sich hin, Möglichkeiten des Gedankens versuchend, verwerfend, wagend, in die äußersten Konsequenzen verfolgend - ein beständig in Atem Gehaltener, ein ruhelos von der Philosophie Heimgesuchter. Vielleicht ist er Husserl nie ganz gerecht geworden (sowenig wie dieser ihm). Husserls Wiederaufnahme der Fragestellung des transzendentalen Idealismus erschien ihm als ein Irrweg auf dem Wege zu den Sachen selbst. Er war sein Antipode. Aber das Genie Heideggers hat er früh erkannt. Vielleicht wird seine im Manuskript erhaltene Auseinandersetzung mit ,Sein und Zeit<, die, als er starb, für den ,Philosophischen Anzeiger< vorbereitet war, eines Tages davon Zeugnis ablegen. Auch Heidegger hat seinerseits, nachdem er den Schulzwang Husserls abgestreift hatte, die philosophische Potenz Schelers klar gesehen. Die postume Widmung des Kant-Buches zeugt davon, die die »gelöste Kraft« dieses Denkers feiert. Der wirkliche Dialog des Fünfzigers mit dem Dreißigjährigen hat nicht mehr stattgefunden. Eine gemeinsame Grundlage dafür war vorhanden. Denn Schelers Unterscheidung der verschiedenen Daseinsrelativitäten verfolgte keine transzendentale Fragestellung, sondern meinte den Aufbau der Realität selbst. Hier konnte das Gespräch mit Heidegger einsetzen, der gerade damals die transzendentale Selbstauffassung von >Sein und Zeit, zu überprüfen begann. Beiden war gemeinsam, daß sie nicht beim Selbstbewußtsein einsetzten, sondern bei dem, was solches Selbstbewußtsein und theoretische Haltung überhaupt allererst möglich machte. Scheler kritisierte den Dogmatismus in der Theorie der »reinen« Wahrnehmung. Er sah in der reizadäquaten Wahrnehmung das idealisierte Endresultat eines großen Ernüchterungsprozesses, der der überschießenden Triebphantasie des Menschen widerfahren war, und er leitete von diesem durch alles hindurchfahrenden Triebüberschuß die Erfahrung des leeren Raumes und der leeren Zeit ab. Heideggers ontologische Hinterfragung des Seins als Vorhandenheit zielte in eine ähnliche Richtung. Ob Scheler Heideggers ontologischer Fragestellung zu folgen und über den Dualismus von Drang und Geist hinauszukommen in der Lage war? Ob Heidegger Schelers Auswertung der Wissenschaften seiner eigenen ontologischen Fragestellung dienstbar gemacht hätte? Das Gespräch geht weiter. Heidegger hielt 1928, als er die Todesnachricht erhalten hatte, in seiner Vorlesung spontan einen Nachruf auf Scheler, der mit dem Satze schloß: »Abermals fällt ein Weg der Philosophie ins Dunkel zurück.« Max Scheler war ein Verschwender. Er nahm und gab. Er war unendlich reich - aber er behielt nichts zurück. Immer lebte er in Plänen und Ankündigungen neuer Bücher, die nie erschienen. Verkünder einer philosophischen Anthropologie, nährte er nach seinem frühen Tode die Erwartung, daß dies sein magnum opus aus dem NacWaß auftauchen werde. Komitees wurden
gebildet. Ein erster Nachlaßband erschien. Wunderbare Sachen, über Tod und Fortleben, über das Schamgefuhl, über Vorbilder und Führer und so weiter - in Wahrheit alles Vorarbeiten aus seiner genialsten Schaffenszeit, kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Eine neue große Ausgabe seiner Schriften begann nach dem Zweiten Weltkrieg, von seiner Witwe, Maria Scheler, sorgfältig betreut und bewacht. Inzwischen soll die Ausgabe zügig fortgesetzt werden; aber einen NacWaß, der nicht existiert, kann niemand edieren. Wenn uns nicht überraschungen bevorstehen, werden wir vorliebnehmen müssen mit dem, was längst bekannt - was längst nicht genug bekannt ist.
RudolfBultmann Als der Orden ,Pour le merite< im Jahre 1969 Rudolf Bultmann zu seinem Mitglied wählte, stand Bultmann bereits im hohen Alter von 85Jahren und konnte an unserer Tätigkeit nur noch von ferne teilnehmen. Gleichwohl hat er die Aufnahme in diesen Kreis von Gelehrten, Forschern und Künstlern mit großer Genugtuung begrüßt und hat uns seine volle Anteilnahme zugewandt. Zwar stand er längst als Altmeister neutestamentlicher Forschung in weltweitem Ansehen. Aber die eigentümliche Spannung, der der Theologe von Rang ausgesetzt ist, Forscher - Historiker, Philologe, M~nn der Wissenschaft - zu sein und zugleich ein Lehramt im Auftrag der Kirche zu versehen, hat gerade Rudolf Bultmann zeit seines Lebens mit besonderer Schärfe begleitet. So war die wissenschaftliche Anerkennung, die die Aufnahme in den Orden darstellte und die ganz außerhalb der Kirche, von Laien, beschlossen worden war, für ihn von besonderem Werte. Er stammte aus einem evangelisch-lutherischen Pfarrhaus im Oldenburgischen. Geboren am 20. Augus.t 1884, verbrachte er Kindheit und Schulzeit dort, um dann seine theologischen Studien in Tübingen, Berlin und in Marburg zu betreiben. Von Marburgs großer theologischer Schule, insbesondere von Jülicher, Wilhelm Herrmann und Heitmüller, empfing er seine Prägung, und nach vier Jahren Breslau, wo er 1916-1920 seine erste Professur innehatte, und einem Jahr in Gießen, kehrte er 1921 nach Marburg zurück, dem er bis zu seinem Lebensende treu blieb. Die letzten Jahrzehnte lebte er dort in großer Zurückgezogenheit, insbesondere nachdem Leiden und Tod seiner Gattin ihn vereinsamt hatten. Er starb im gesegneten Alter von 92Jahren am 30.Juli 1976, bis in die letzten Jahre seinen Kindern, Schülern, Freunden und dem geistigen Leben aufmerksam teilnehmend zugewandt. So hat er über ein halbes Jahrhundert Marburg, der ältesten protestanti-
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schen Universität DeutscWands, seine Präsenz geliehen. Die einzigartige Fruchtbarkeit, die er als Lehrer vieler Generationen von Theologen entfaltete, lebt bis heute in den lebendigen Treffen weiter, die alljährlich die Alten Marburger vereinigen. Sein pädagogisches Charisma war von der Produktivität seiner Forschungskraft nicht zu trennen, insbesondere nicht von seiner unermüdlichen Fragelust und seinem konzentrierten Ernst. Wer einmal eine Vorlesung von ihm gehört oder an seinem (oft allzu zaWreich besuchten) Seminar teilgenommen hat oder auch ihm im kirchlichen Amt des Predigers begegnete, wurde von der Intensität seiner Präsenz gepackt. Nichts von Pathos oder rhetorischer Kunst. Außerste Nüchternheit, bohrender Scharfsinn, Sarkasmus und manchmal erwärmender, manchmal grimmiger Humor waren ihm eigen. Aber man muß es erlebt haben, wenn er in einer exegetischen Vorlesung den Bibeltext, griechisch und in seiner Übersetzung, vorlas, als ob er es ganz nur für sich selber täte und nur, um darüber nachzusinnen. Was war da für eine Spannung in der Luft, die auch nicht nacWieß, wenn sich dann in die Interpretation die erstaunlichste Gelehrsamkeit und der subtilste Scharfsinn mit oft erbarmungslosem Spott über seine theologischen Kollegen mischte. Und wenn er im Seminar seine spitzigen, scharfen und gescWiffenen Debatten führte, jeder Gegenrede offen, seine eigene Replik blitzartig hinter den blauen Wolken seiner Pfeife hervorschießend - das war ein Schauspiel. Nein, kein Schauspiel, sondern ganz ohne Spiel und ganz ohne Schau ein Stück vorgelebter Redlichkeit. Es war diese unbeirrbare Redlichkeit, die ihn in besonderem Maße vor den Gefahren der Erbaulichkeit, des Pathos und der Routine bewahrte die sich so leicht im kircWichen Amt einstellen. Es war dieselbe unbeirrbare ~edl!chkeit, die ihm in den Zeiten der Anfechtung seine Stärke lieh, wie sie Ihm msbesondere der Kirchenkampfin der Hitlerzeit, aber auch die nichtabreißenden Konflikte mit den kircWichen Behörden vor und nach dem Dritten Reich brachten. . Die Organisation seines. Gelehrtenlebens war von beispielloser Disziplin u~d einem äußersten Willen zur Sparsamkeit. Einen nicht. geringen Teil semer wissenschaftlichen Produktion hat er auf den freien RÜckseiten von bezahlten Rec~ungen, beantworteten Briefen, ja, auf dem aufgeklappten Innern von BnefumscWägen zu Papier gebracht. Aber am sparsamsten war er mit seiner Zeit. Ohne den Lebensgenuß, das Leben in Familie und Fr~~dsc~aft ~d beim Glase Wein zu schmälern, hielt er die strengste Zeltemteilung em. Selbst die freie Zeit war sinnvoll geplant und ausgefüllt. Selbstverständlich wurde jede Reise genau vorbereitet und mit größter Planmäßigkeit durchgeführt. Seine jährliche Kur, die er für sein Hüftleiden sp~t:r r~gelmäßig im Sch.warzen Bock in Wiesbaden nahm, enthielt regelmaßlg em genau vorbereItetes Lektüreprogramm aus den verschiedensten Bereichen von Kunst und Wissenschaft. Zu seinen Freizeitliebhabereien
gehörte, neben konsequent durchgehaltenen täglichen Lektürestunden, die vor allem die klassische Literatur, aber auch moderne Literatur pflegten, das imaginäre Reisen, irgendwohin in die ferne Welt, mit genauer WaW der Züge, die er nehmen würde, der Hotels, in denen er wohnen würde, und natürlich vor allem mit genauester historischer und kunstgeschichtlicher Vorbereitung für alle Sehenswürdigkeiten, die er antreffen würde: ein einzigartiges Gemisch von Phantasie und Pedanterie, diesen Feengaben des geborenen Gelehrten. Welch ein beständiges Sammeln und Anreichern des eigenen stupenden Wissens selbst noch im Spiel. Und gar im Ernst. Es müßte ein Berufenerer ausführen, wie sich das gelehrte Werk des großen Exegeten aufbaut. Es beginnt mit der Lizentiatenarbeit über den Stil der Paulinischen Predigt und der kynisch-stoischen Diatribe (1910) - und schon damit wird die formgeschichtliche Methode der damaligen historischen Theologie bereichert, die mit seinem Standardwerk von 1921 >Die Geschichte der synoptischen Tradition< einen repräsentativen Höhepunkt erreichte. Auch später hat Bultmann, vor allem durch ungezählte begriffsgeschichtliche Beiträge, die den Neutestamentler mit der ganzen großen Literatur und Sprache des griechischen Altertums in Wechselwirkung brachten, seine Meisterschaft in der Ausübung des philologischen Handwerks bewiesen. Große exegetische Leistungen, vor allem der umfassende, ihn fast zweijahrzehnte in Atem haltende Kommentar zumJohannesevangelium, zeigen ihn auf der Höhe der historisch-kritischen Kunst. Auch wenn er kein theologischer Denker von eigener Prägung gewesen wäre, bliebe'er ein großer Philologe und ein wahrhaft überzeugter Humanist. Die griechische Philosophie, die griechische Literatur waren ihm beständig gegenwärtig, und als er nach 1945 seine Gedanken zur Reorganisation der Marburger Universität vorlegen sollte, hat er mit entscWossener Radikalität die humanistische Tradition ins Zentrum seiner Vorschläge gestellt. Und doch war er nicht nur ein Philologe, sondern ein wirklicher theologischer Denker, dessen Reflexionen beständig um die methodischen Probleme der Theologie und ihr Verhältnis zur Philosophie kreisten. In seinerJugend, in der Zeit des Ersten Weltkrieges, lag die Krisis des Historismus in der Luft. Die gewaltige Expansivität, mit der Polyhistoren wie Wilhelm Dilthey und Max Weber, große Philologen wie Wilamowitz, Historiker wie Theodor Mommsen und Eduard Meyer, Theologen wie Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch das historische Universum aufgeschlossen und unter sich aufgeteilt hatten, war ausgelebt. Reflektiertere Figuren, wie Werner Jaeger und Kad Reinhardt, Karl Barth und Friedrich Gogarten, erhoben ihre Stimme. Der junge Theologe Rudolf Bultmann war auch längst auf der Suche, wie er sein vertieftes religiöses Engagement und seine wissenschaftliche Redlichkeit miteinander in Einklang bringen sollte. So wurden zwei Begegnungen für ihn entscheidend: die mit der dialektischen Theologie.
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insbesondere mit Karl Barths Kommentar zum Römerbrief, und die mit der Existenzphilosophie, insbesondere mit Martin Heidegger in Jahren fruchtbarer Marburger Zusammenarbeit. Die damit gegebene Spannung auszuhalten, bedeutete eine Herausforderung. Sie wies dem theologischen Denker RudolfBultmann seinen vielumstrittenen Weg. Was ihn mit Karl Barth, dem reformierten Theologen, verband, war im Negativen klarer als im Positiven. Der Briefwechsel dieser beiden Theologen scharf ausgeprägter und extrem verschiedener Art, der uns heute vorliegt, spiegelt beides: ein neues Ernstnehmen des Wortes der Verkündigung in eins mit der Abkehr von der Kulturtatsache der Religion, von dem Anspruch einer natürlichen bzw. philosophischen Theologie so gut wie von dem sozialpolitischen Aktivismus einer »christlichen' Welt« und Weltbewährung. Radikaler noch als Luther kannte Rudolf Bultmann im Grunde nur ein Sakrament, das des Wortes. Dieses Wort der Verkündigung sich selbst und den anderen zum Sprechen zu bringen, dem galt sein ganzes exegetisches Bemühen - aber so, daß zugleich die Verpflichtung auf wissenschaftliche Redlichkeit und die klare Rationalität seines persönlichen Wesens jede Willkür fernhielten. Selbstverständnis im Glauben - das war, wie es das pädagogische Ziel des Lehrers Bultmann war, so auch der Maßstab, unter den er sein eigenes wissenschaftliches Werk steHtei. So hielt er aHes, was dem nicht diente, als »mythologisch« fern. Und selbst die Autoren des Neuen Testamentes, vor allem die ihm nächsten, Paulus und Johannes, waren ihm weniger Zeugen der Heilsbotschaft als Partner eines theologischen Gesprächs, mit deren Selbstverständnis er sich in Übereinstimmung wußte. So interpretierte er im Johannesevangelium aus der Rede von der Enderwartung die gesamte Zeitdimension weg. Endzeit ist jetzt, ist der »Augenblick« des Anrufs, in dem das simul iustus simul peccator wahr werden kann. Er ging in der Eliminierung des Zeitrnoments aus der Eschatologie des Johannes zeitweise sogar so weit, die Authentizität des Evangelientextes in dem Grade anzuzweifeln, daß er selbst die AbschiedsredenJesu rur den mißverstehenden, mythologisierenden, von einstiger Wiederkehr fabelnden Zusatz eines Redaktors des Evangeliums erklärte. Daß ihn die Radikalität dieser seiner eigensten Redlichkeit in Konflikt mit naiverem Glaubensverständnis und mit den kircWichen Instanzen bringen mußte, war kein Wunder. Und doch war es für ihn wie für seine Freunde eine Überraschung, als die Publikation seines im kirchlichen Lehrdienst gehaltenen Vortrags über >Die Entmythologisierung des Neuen Testaments< einen wahren Sturm erregte. Die tägliche Briefpost, die ihn erreichte, 1 Vgl. dazu auch meinen Beitrag ,Zur Problematik des Selbstverständnisses< in Ges. Werke Bd. 2 (Nr. 9).
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schneHte plötzlich in die Hunderte hinauf. Für ihn selbst und seine Schüler war dieser Vortrag in Wahrheit nur die - vielleicht etwas provokatorisch geratene - Ausarbeitung der Grundsätze seiner von eh und je geübten exegetischen Praxis: eine Formulierung des hermeneutischen Prinzips, daß Verstehen Übersetzen in die eigene Sprache sein muß, wenn es wirklich Verstehen sein soH - ein methodisches, kein dogmatisches Problem, geschweige denn eine Häresie oder Ketzerei. Daß er sich nicht nur aufgerufen, sondern auch fähig fühlte, die m ythologische Sprache der Bibel und der Bibelverkündigung in scWichte Rechenschaftsgabe mit eigenen Worten umzusetzen und daß er die methodische Klarheit seiner exegetischen Position überdies zu rechtfertigen wußte, verdankte er der zweiten wichtigen Begegnung seines theologischen Denkerturns: der Begegnung mit Martin Heidegger. Es ist hier nicht der Ort, die Marburger Atmosphäre um Heidegger zu schildern und den Austausch des Gebens und Nehmens, der zwischen Heidegger und Bultmann damals erfolgte2. Bultmann eignete sich die existentiale Analyse des menschlichen Daseins, die er aus Heideggers Lehre und aus ,Sein und Zeit< herauslas, auf seine Weise an. Sie gab ihm die begrifflichen Mittel in die Hand, sein eigenes Selbstverständnis im Glauben und seine darauf abzielende theologische Arbeit zu artikulieren. Es ist kein objektivierendes Wissen, keine Verfügbarkeit, was dem unter den Anruf des Glaubens Gestellten zuteil wird. Die von der existentialen Analytik des Daseins herausgearbeiteten Strukturen der Sorge, des Vorlaufens zum Tode, der Zeitlichkeit und der Geschichtlichkeit galten ihm ihrerseits als die Elemente eines philosophischen Daseinsverständnisses, die auch für den Theologen unvorgreifliche Wahrheit hätten, gerade weil sie existentiale Bestimmungen und nicht Existenzideale sein woHten. Das wurde ihm von theologischer wie von philosophischer Seite, von Karl Barth und Emil Brunner wie etwa auch von Karl Löwith bestritten, und in der Tat war das Augustinische und Kierkegaardsche Kolorit von Heideggers Existentialanalytik unverkennbar. Schwerer wog, daß Heideggers eigenes Denken in ganz andere Richtung weiterging. Die erste Exposition der Seinsfrage, die ,Sein und Zeit< gebracht hatte, wurde der Ausgangspunkt einer langen Reihe von Denkversuchen, die jedes anthropologische Verständnis seines ersten großen Werkes desavouierten. Dabei mußte es die Theologie wahrlich interessieren, wie jetzt statt der Eigentlichkeit des Daseins Sterbliche und Unsterbliche, Mythos und Sage, Dichtung und Sprache, Hölderlin und die Vorsokratiker das Denken des Denkers beherrschten. RudolfBultmann konnte ihm darin nicht folgen. In der immer wieder aufflammenden Auseinandersetzung mit Karl Barth 2
Siehe dazu >Die MarburgerTheologie< in Ges. Werke Bd. 3 (Nr. 11).
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bestand er darauf, daß der Theologe einer geklärten Begrifflichkeit bedürfe. Nur die Philosophie habe eine solche dem Selbstverständnis im Glauben zu bieten, sofern sie die allgemeine Struktur des Daseinsverständnisses in den Begriff erhebe. So hielt er mit Scharfsinn an der einmal gewonnenen Klarheit fest, unbeirrt durch alle theologischen Konflikte, in die ihn seine Redlichkeit verstrickte, sei es mit Karl Barth, sei es mit Karl Jaspers, dessen Kritik an der Entmythologisierung er mit Überlegenheit abwehrte, sei es gegen die Tendenzen seiner eigenen Schüler, die historische Dimension in ~er neutestamentlichen Forschung wieder stärker zu akzentuieren oder dogmatische Folgerungen zu ziehen, die an den späteren Heidegger oder gar an Hegel heranrückten. Dergleichen verfolgte er mit Skepsis - aber auch mit jenem bereiten Wohlwollen dessen, der um die Endlichkeit und Geschichtlichkeit des Menschen nicht nur in der Theorie weiß. Das sakramentale Leben der Kirche, seine Symbolik wie seine Dogmatik, blieb ftir den unermüdlichen Exegeten weiter im Hintergrund. Aber er bewahrte seine äußerste Redlichkeit und den Wahrheitspunkt seiner Einsichten noch über den Tod hinaus, als nach seiner eigenen letztwilligen Verftigung in der kirchlichen Trauerfeier außer dem Rahmen klassischer Musik nur der Gemeindegesang und das Wort der Heiligen Schrift zu Gehör kamen: Worte des Alten und des Neuen Testaments, die diesem langen und erfüllten Leben ein stilles Gedenken liehen, kamen zum Sprechen.
gesetzt und lehrte die ersten Jahre nach dem Kriege an dieser Universität, bis er 1948 dem Ruf an die Universität Basel folgte, den er in früheren Jahren wegen der Kriegsverhältnisse nicht hatte annehmen können. Wenn man seine philosophische Leistung würdigen will, muß man sich zunächst dessen bewußt sein, daß sich in seiner Person ein Außenseiter des damaligen philosophischen Lebens in Heidelberg durchsetzte. Die Universität Heidelberg war damals eine der Hochburgen des herrschenden Neukantianismus. Insbesondere in der Zeit der großen Entwicklung der Nationalökonomie und der Sozialwissenschaften, die Heidelberg im Beginn unseres Jahrhunderts erlebte, hatte es Wilhelm Windelband verstanden, auch der Philosophie in Heidelberg ein starkes Profil zu geben. Er war es gewesen, der als erster den transzendentalen Gedanken der Kantischen Philosophie auf das weite Feld der sogenannten Kulturwissenschaften ausdehnte. Als Lehrer versammelte er eine große Zahl begabter Schüler um sich, z. B. Emil Lask, Paul Hense!, Julius Ebbinghaus, Richard Kroner, Ernst Hoffmann, Fjodor Stepun, Eugen Herrigel, Ernst Bloch und Georg Lukacs, und diagnostizierte mit richtigem Blick das Erwachen eines neuen philosophischen Interesses an Hege!, das sich in diesem Kreise vollzog. Vollends unter seinem Nachfolger, Heinrich Rickert, straWte die südwestdeutsche Wertphilosophie als eine Spielart des Neukantianismus in die ganze Welt. Im Zusammenhang dieser neukantianischen Schule war den Naturwissenschaften und insbesondere der Wissenschaft von der menschlichen Seele kein bevorzugter Platz bereitet.So wuchs KariJaspers in Heidelberg außerhalb dieser Schule heran. Als Arzt und Forscher auf dem Gebiete der Psychiatrie beginnend, wurde er am Ende der seltene Fall eines Professors der Philosophie, der nicht im Fache der Philosophie seinen Doktortitel erworben hatte, sondern Dr. med. war. Erst aus Anlaß seines 70. Geburtstages verlieh ihm die Philosophische Fakultät Heidelberg die Würde eines Dr. phi!. h. c. I Das erste große Werk von Karl Jaspers lag noch auf dem Felde der psychiatrischen Fachwissenschaft: seine >Allgemeine Psychopathologie, (1913; 4., völlig neu bearb. Auflage 1946). Schon dieses Werk zeigte die spezifischen Gaben seines weitblickenden und ordnenden Geistes. Seine Darstellung der vielseitigen Forschungsrichtungen auf dem Gesamtgebiete der Psychopathologie erwies ihn nicht nur als einen Mann, dem jede dogmatische Einseitigkeit verdächtig und verhaßt war - sie entsprang vielmehr einem tiefen Antrieb seines Wesens: dem Anspruch universalen Wissenwollens, wie er für den einwärts gewandten Blick des Philosophen durchaus nicht gewöhnlich ist. In der Tat war der nüchterne Tatsachensinn seiner oldenburgischen Heimat auch in ihm. Das helle, beobachtende Auge, das er auf sein Gegenüber richtete, aufmerksam, kritisch und vor allem begierig, den Anderen zu ermessen, seinen "Punkt« zu finden, charakterisierte auch seinen Umgang mit der Welt der Bücher. Er war ein enormer Leser. In
Karljaspers Karl Jaspers ist am 26. Februar 1969 in Basel gestorben, wenige Tage' nach seinem 84. Geburtstag. Zwei Jahrzehnte hat er in Basel gelehrt und gewirkt und sich durch eine große Zahl von Vorträgen, Aufsätzen und Büchern im großen Stile eines Moralisten als philosophischer Schriftsteller internationalen Ruhm erworben. Insbesondere seine Stellungnahme zu aktuellen Fragen öffentlichen und kulturellen Lebens gab ihm eine weithin hallende Resonanz. GleichwoW ist Kar! Jaspers durch sein ganzes Leben und Werk auf unlösbare Weise mit Heidelberg verbunden. Hier hat er den größten Teil seiner Studienzeit verbracht, in der Psychiatrischen Klinik von Heidelberg war er wissenschaftlicher Assistent, in Heidelberg hat er sich 1913 für Psychologie habilitiert und wurde 1921 Professor der Philosophie. Nach seiner Absetzung im Jahre 1937 lebte er weiter in Heidelberg. Als der Neuaufbau begann, wurde er 1945 in sein Amt wiederein-
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Philosophische Beg"gnungen
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Heidelberg zeigte man noch lange nach seinem Weggang die kleine Bank in der Koesterschen Buchhandlung in der Hauptstraße, auf der dieser Mann der strengsten und sorgfältigsten Zeiteinteilung allwöchentlich einen Vormittag zubrachte und sämtliche Neuerscheinungen durchsah. Ein gewaltiges Paket von Büchern suchte er sich jeweils heraus, und es war in der Tat erstaunlich, von wievielen Dingen er durch eigene Lektüre Kenntnis nahm. Man kann verstehen, daß für einen Mann seiner Interessenvielfalt die dämonische Figur Max Webers, des letzten Polyhistors auf dem Gebiete der Kulturwissenschaften, den die Welt gesehen hat, das große Vorbild war, dem er bewundernd nacheiferte. In Max Weber trat ihm die eiserne Selbstdisziplin eines großen Forschers entgegen, der nach allen Seiten sein universales Wissenwollen produktiv vorantrieb - bis an die Grenzen, die ihm sein wissenschaftlicher Asketismus und seine methodische Redlichkeit aufnötigten. Dabei mußte sich dem philosophischen Rechenschaftsbedürfnis von Jaspers der tiefe Irrationalismus, der hinter der donquichottehaften Großartigkeit des Verfechters der »Soziologie als wertfreien Wissenschaft« stand, als eine wahre Denkherausforderung darstellen. Das sollte der bleibende Antrieb seines Denkens werden, das sich in seiner >Philosophie< entfaltete. Doch das erste größere philosophische Werk, das den Namen Jaspers' als Philosophen bekanntmachte, die >Psychologie der Weltanschauungen< von 1919, blieb noch an der Schwelle der neuen philosophischen Vertiefung, zu der es ihn trieb. In der Nachfolge Diltheys, aber auch in der Nachbarschaft zu der Methodik der idealtypischen Konstruktion, die Max Weber begründet hatte, analysierte Kar! Jaspers in diesem Werk die »Einstellungen und Weltbilder«, die aus der menschlichen Lebenserfahrung aufsteigend dem Denken der Philosophen ihr Profil geben. Das war nicht so sehr eine Fortsetzung des Weber-Diltheyschen Weges einer Wissenschaft von der Philosophie, die die Philosophie zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Theorie machte - und als Wissenssoziologie wie als anthropologische Typologie bekannt ist -, Jaspers Typologie implizierte vielmehr einen philosophischen Widerspruch gegen die Grundlegung der Philosophie in einem Prinzip, etwa in dem »Bewußtsein überhaupt«, dem Zauberwort der neukantianischen Transzendentalphilosophie. Wenn auch in der Weise eines typologischen Denkversuchs, holtejaspers in seiner )Psychologie der Weltanschauungen< erklärtermaßen Themen und Fragestellungen in die Philosophie hinein, die in dem methodologischen Selbstverständnis des herrschenden Neukantianismus keinen Platz hatten. Uralte menschliche Grundprobleme wie Freiheit, Schuld, Tod erhielten eine neue Auszeichnung als sogenannte Grenzsituationen, in denen die theoretische Vernunft sich in Widersprüche verstrickt, ihrer Grenzen inne wird und in denen die menschliche Existenz aus tieferen Quellen des Selbstseins ihren Halt sucht und
findet. So spiegelte das erste philosophische Buch von Jaspers in erster Linie eines der großen philosophischen Ereignisse des anfangenden 20. Jahrhunderts: die Entdeckung S"ren Kierkegaards, des großen Kritikers des deutschen'Idealismus. Damals wurde dieser bedeutende philosophische Schriftsteller durch die Ausgabe des Diederichs-Verlags in Deutschland bekannt und bereitete jenen Zusammenbruch des Idealismus vor, der mit den Stürmen des Ersten Weltkrieges über den Kulturoptimismus des liberalen Zeitalters hereinbrach und das Kulturbewußtsein Mitteleuropas erschütterte. Kierkegaard ist in dem Buch von Jaspers allgegenwärtig. Ein "Referat Kierkegaards«, das ein Kapitel des Buches bildet, vermittelte erstmals - und das war ungefähr gleichzeitig mit dem Aufkommen der dialektischen Theologie - das neue Pathos der »Existenz«. In dem Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich Jaspers im neukantianischen Heidelberg mehr und mehr durch. Neben dem international berühmten Heinrich Rickert und dem ausgezeichneten Historiker der Philosophie Ernst Hoffmann wurde ihm das nicht leichtgemacht. Aber schon in meinen eigenen Studienjahren - wenn ich diese persönliche Erfahrung einflechten darf - war Heidclberg in den Kreisen der Philosophiestudierenden anderer Universitäten mehr und mehr durch Kar! Jaspers repräsentiert. Dabei war von ihm noch wenig Philosophisches veröffentlicht worden - ein erstaunliches Phänomen: Der eigentliche Begründer und Repräsentant dessen, was man damals Existenzphilosophie nannte, war in diesem Jahrzehnt nur durch die lebendige Stimme des Unterrichts vernehmbar. Als 1927 Martin Heideggers )Sein und Zeit< erschien und die »Existenzphilosophie« sich als revolutionäre Kritik an der Tradition an dieses Buch anschloß, wußten nur die Eingeweihten, daß es ein neuer philosophischer Einsatz war, in dem zwar Kierkegaard und die philosophischen Motive von Jaspers' Kierkegaard-Rezeption unverkennbar waren, aber den Ausgangspunkt einer grundsätzlichen neuen Fragestellung bildete, die in ganz andere Dimensionen zurückwies. In der größeren Öffentlichkeit erschien dieses Buch als Existenzphilosophie. Den Boden für diese »existenzielle« Inanspruchnahme Heideggers aber hatte vor allem Kar! Jaspers bereitet, der Kierkegaards Existenzdialektik in Heidelberg als akademischer Lehrer wiederholte. Jahre später erst trat Jaspers literarisch wieder hervor. Im Jahre 1931 veröffentlichte er als das Goeschenbändchen Nr. 1000 die Schrift )Die geistige Situation der Zeit(, ein Büchlein von gewaltiger Wirkung, dessen theoretische Grundlegung den eigenen philosophischen Beitrag von Kar! Jaspers ankündigte. Zwar war das kleine Werk in seinen Grundlinien weitgehend eine kulturkritische Auseinandersetzung mit dem »Zeitalter der anonymen Verantwortlichkeit« und glossierte in prägnanten Anmerkungen die herrschenden Strömungen und Tendenzen des gesellschaftlichen Lebens, aber sein eigentlicher Kern lag in dem, was der Titelbegriff der »Situation«
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andeutet. Daß eine Situation nicht einfach ein Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein kann, mußte einleuchten. Allzu deutlich liegt ja in diesem Begriff der Situation das Umfangende und Befangende, das dem forschenden Subjekt die Distanz gegenüber der Welt der Objekte verwehrt. Allzu deutlich fordert das Wesen von »Situation« ein Wissen, das nicht die Objektivität anonymer Wissenschaftlichkeit hat, sondern durch Horizont und Perspektive, durch Engagement und erhellende Einsicht in die eigene Existenz geprägt ist. Die· Stimme des· Moralisten Karl Jaspers, die hier zum ersten Male hörbar wurde, fand darin zugleich ihre theoretische Legitimation. Gleichwohl war es eine echte Überraschung, als 1932 in drei Bänden Jaspers mit seinem Hauptwerk hervortrat, dem er den schlichten Titel >Philosophie< gab. Ein Titel ist oft ein Programm. Auch dieser allgemeinste und scheinbar farbloseste Titel, den ein philosophisches Buch überhaupt haben kann, klang wie ein Programm - gewiß nicht als das Programm eines Systems, wohl aber als die programmatische Erklärung eines Verzichts auf die hergebrachte Systematik der Philosophie und als Zentrierung der vorgelegten Bewegung des Denkens in der Existenz des Philosophierenden. Das Ganze dieser drei Bände durchwaltet ein meditativer Zug. Man muß sich in die philosophische Bewegung hineinziehen lassen und ihr Schritt für Schritt folgen. Charakteristisch und absichtsvoll, daß diesem großen dreibändigen Werk ein allgemeines und ins einzelne gehendes Inhaltsverzeichnis fehlt. Nur das einzelne Kapitel trägt an seiner Spitze ein solches. Offenkundig wollte der Verfasser die Orientierung über das, was er sagte, erschweren und diskreditieren - oder positiv gewendet: zur Teilhabe an dem meditativen Gange nötigen. Dem entspricht auch der Stil. Wer ]aspers' philosophische Veröffentlichungen auf das Werden und Reifen seines eigenen Stiles hin betrachtet, wird zwar in den früheren Veröffentlichungen manche Elemente entdecken, die später die Eigenart seines höchst persönlichen Stiles ausmachen, z. B. jene distanzierte Verallgemeinerung, die zum Träger der Aussagen ein unpersönliches »man« macht, und die wahlweise gehäuften Umschreibungen, die er gebrauchte. Aber jetzt wird dies alles in der Strenge eines Stilwillens gebunden, der seinen Sätzen eine kristallinische Struktur verleiht. Nordische Nüchternheit paart sich darin mit fast feierlichem Pathos. Ein jeder einzelne Satz von ]aspers klingt nun auf eine unnachahmliche Weise persönlich und sachlich zugleich. Wie aus tausend Facetten sich das funkelnde Feuer eines edlen Steines verstrahlt, leuchtet auch aus den Sätzen von ]aspers' >Philosophie< die feinkörnige Helligkeit von Erfahrung, Einsicht und existenzieller Bewegung. Es ist ein Stil der Umschreibungen. Ohne starren Formalismus werden doch jeweils Extreme formuliert, um das mittlere Wahre sichtbar zu machen. Sich fortspinnendes Denken sucht
alle dogmatischen Gehäuse zu durchbrechen und im sanften Wellenschlag der Reflexion die Weite eines offenen Horizontes zu gewinnen. Jaspers liebte es z. B., eine Problemstellung in der Form einzuführen, daß er schreibt: »Es ist zu fragen ... « So bewegt er sich in einem Medium von gedanklichen Möglichkeiten, vieles erwägend, nicht um in unverbindlicher Distanz zu verharren, sondern um im Spiegel der Reflexion sichtbar zu machen, was nicht mehr Reflexion ist, sondern Entscheidung und existenzielle Verbindlichkeit fordert. Das große philosophische Hauptwerk von Karl Jaspers wiederholt die Grundlinien der philosophischen Systematik Kants, und das nicht zufällig. Der erste Band seines Werkes, >Weltorientierung< überschrieben, zeigt unter dem Titel »Bewußtsein überhaupt« die Grenzen der theoretischen Vernunft, d. h. der wissenschaftlichen Ausbreitung von zwingendem Wissen. Er entspricht insofern der Grenzsetzung, die die >Kritik der reinen Vernunft< vornahm. Der zweite Band, )Existenzerhellung< genannt, wendet die Grenzerfahrungen der theoretischen Vernunft ins Positive. Wie Kant auf das Vernunftfaktum der Freiheit zurückging, die man theoretisch nicht beweisen kann, aber unter dem Anspruch des sittlichen Imperativs anerkennen muß, so kommt im Denken von Jaspers Existenz erst eigentlich zu sich selbst, wo sie von der Anonymität der wissenschaftlichen Erkenntnis im Stich gelassen ist. Auf dem Boden solcher inneren Existenzwahl eröffnet sich endlich ein neuer Zugang zu den Wahrheiten der Metaphysik. Der dritte Band des Werkes, der die großen Transzendenzerfahrungen der Menschheit in Philosophie, Kunst und Religion wiederholt, entspricht insofern der »moralischen Weltanschauung«, die Kant und Fichte auf der Vernunftgewißheit der Freiheit in der sogenannten Postulatenlehre der praktischen Vernunft errichtet hatten. Die klassischen Themen der Metaphysik, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die die theoretische Vernunft in unlösbare Widersprüche verstrickten, erhalten, wie bei Kant auf dem Wege der praktischen Vernunft, als Lesen der Chiffrenschrift der Transzendenz itn Lichte der sich selbst hellgewordenen Existenz eine neue Legitimation. Diese >Philosophie< ist nicht mehr die appellierende Protestgebärde, mit der Kierkegaard das idealistische Denken herausgefordert hatte. Sie wiederholt aber auch nicht einfach die irrationalistische Gespaltenheit Max Webers, der die Grenzen der wissenschaftlichen Weltorientierung, so sehr er sie nach allen Seiten erweiterte, gleichwohl so hart zog, daß die Entscheidungen, die das Leben von dem einzelnen verlangt, aus anderen Tiefen geschöpft werden mußten als denen des Wissens. Gerade das war für die Generation, der Jaspers seine Stimme lieh, unerträglich geworden, daß die Wissenschaft, die Max Weber mit imperialer Gewalt verkörperte, das wahrhaft Wissenswürdige der irrationalen Wahl überantwortete, weil der Asketismus der Wissenschaft es so verlangte. ]aspers fragte demgegenüber nach dem Wissen,
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dessen Helligkeit uns leitet, wenn wir als persönliche Existenz mit allen ihren Bindungen und Bedingtheiten zu wählen und zu entscheiden haben. Das ist nicht die Unendlichkeit des Wissensfortschritts. Gerade die Endlichkeit und Bedingtheit unseres Wissens wird das Entscheidende. So steht hinter der gedanklichen Bewegung dieses Philosophierens die scharfe Entgegensetzung von Vernunft und Existenz, aber auch die Einsicht, daß das eine nicht ohne das andere sein kann. Unverkennbar folgt Jaspers in seinen Analysen den tiefen Ahnungen Schellings, des Lehrers Kierkegaards, der innerhalb des idealistischen Denkens die Scheidung der bloßen Möglichkeiten der Vernunft von dem ruhenden Wirklichkeitsgrunde, aus dem sie lebt, reflektiert. Wie Heidegger in >Sein und Zeit<, brachte auch Jaspers, etwa in dem Kapitel »Das Gesetz des Tages und die Leidenschaft zur Nacht«, einen neuen, ungewohnten Ton in der Philosophie zum Erklingen - doppelt ungewohnt in dem neukantianischen Heidelberg dieser Tage. Insofern war es kein äußerliches Rubrizieren, sondern eine treffende Charakterisierung, wenn man damals Heidegger und Jaspers als die Repräsentanten der Existenzphilosophie ansah. Hier war das Denken der großen Außenseiter des 19. Jahrhunderts, Kierkegaards und Nietzsches, in das Innere der Philosophie hineingeholt worden. Jaspers berief sich geradezu auf die Ausnahmeexistenzen, die Kierkegaard und Nietzsche darstellen, um die neue Regel eines existenziell gebundenen Denkens zu begründen. Dabei war er so wenig einem vernunftlosen Dezisionismus hold, wie er in jenen Tagen im politischen Leben sich vorbereitete, daß ihm Existenz und Vernunft nur in ihrer inneren Bezogenheit aufeinander das Wechselspiel des Denkens bedeuteten. Er sagte einmal selbst von seiner Philosophie, sie wolle ein Transzendieren systematisch vollziehen: »In der philosophischen Weltorientierung, um zur Schwebe zu bringen über alle mögliche Fesselung an gewußte Dinge in der Welt, - in der Existenzerhellung, um zu erinnern und zu erwecken, was eigentlich der Mensch selbst ist, - in der Metaphysik, um die letzten Grenzen zu erfahren und die Transzendenz zu beschwören . . . Es entfaltet sich ein Denken, das nicht bloß ein Wissen von etwas anderem ist, auf das als ein Fremdes es sich bezieht, sondern das selber ein Tun ist, ob es erhellend, erweckend, verwandelnd wirkt. « Die Logik dieser Philosophie, die Jaspers als )Philosophische Logik< bezeichnete und deren ersten Band er unter dem Titel)Von der Wahrheit< 1947 veröffentlichte, entfaltet das Selbstbewußtsein der universalen Vernünftigkeit, die sich auf dem Grunde einer solchen existenziellen Bewegung ausbreitet. Es war wie die breite Ausfaltung solcher universaler Vernünftigkeit, wenn Jaspers in der Folge in einer großen Reihe von Darstellungen die klassische Tradition des philosophischen Denkens beschwor. Die erste dieser Darstellungen, die die meisterhafte Beherrschung der Quellen mit einer souveränen Reflexionshaltung verband, war ein seltsam
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systematisierter Nietzsche. Selbst der extrem versucherische Nietzsche, dem nichts Mittleres beschieden war und genügen konnte, wurde aüf die sorgsame Mitte dieser existenziellen Vernünftigkeit zurückbezogen, in der sich die Erfahrungen des Menschseins erhellen. Dem Nietzsche-Buch folgte ein Descartes-Buch, eine Art Rechenschaft über einen großen Andersartigen, und dann nach dem Krieg u. a. ein Buch über ScHelling, über Nicolaus Cusanus. Vor allem aber zeigte der erste Band von )Die großen Denken, was Jaspers auszeichnete: daß er die Grenzen der philosophischen Auseinandersetzung kühn und weltweit ausdehnte. Vielleicht konnte nur ein Geist, der in der beobachtenden Vernunft so geschult war wie der Psychiater Karl Jaspers, das Wagnis vollbringen, die europäische Tradition der Philosophie und die aus den Quellen erarbeitete Kenntnis derselben zu überschreiten und die großen Zeugnisse menschlichen Denkens in den Hochkulturen Asiens zu beschwören. Jesus, Buddha und Konfuzius traten neben Sokrates, den »maßgebenden Menschen« der abendländischen philosophischen Tradition. Wer ohne den Urlaut der Originalsprache den philosophischen Umriß eines Denkens zu gewahren imstande ist, besitzt eine eigene Gabe. Ich möchte sie das physiognomische Denken nennen, das nicht aus den Worten, sondern aus den Zügen zu lesen versteht. Gewiß vermag solches Deuten nicht das in der Einzelausgliederung artikulierter Rede allein Sagbare zu erfassen, wohl aber den Drang ins Helle zu erraten und zu beschreiben, der in allen menscWichen Denkbewegungen liegt. Es ist etwas Unverhältnismäßiges in diesem Vollzug universaler Vernünftigkeit, der Räume und Zeiten überspielt und einer inneren Gewißheit folgt, die - in aller Verehrung des Großen - dennoch etwas Richterliches für sich in Anspruch nimmt. Existenz antwortet auf Existenz. Jaspers war auch in seiner Auseinandersetzung mit der Tradition der Philosophie der große Moralist, der er in seinen Baseler Jahrzehnten als politischer Schriftsteller wurde. Es ist seltsam genug, daß man in unserem Lande die Figur des Moralisten in ihrer eigenen Legitimität so wenig kennt und schätzt. Wort und Sache stammen aus der französischen Kulturwelt, und die großen Beispiele eines Montaigne oder La Rochefoucauld sind in der deutschen Welt von heute unbekannt. Schopenhauer und Nietzsche, die in ihnen ihr großes Vorbild sahen, waren Außenseiter der Schultradition der Philosophie geblieben. Es macht die Auszeichnung von KarlJaspers aus, daß er in einem ein überlegener philosophischer Lehrer und ein Moralist war. Sein umfassender Geist, dem die große Kunst einer breitströmenden und fein nuancierten Rede zu Gebote stand, mußte dabei das Schicksal der Endlichkeit, das er nie vergaß, auch an der Unvollendbarkeit seines universalen Wissenwollens erfahren. Einem ersten Band der )Philosophischen Logik< folgte kein zweiter, einem ersten Band der )Großen Denker< war nur das
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Programm eines zweiten Bandes beigegeben, von dem wir hoffentlich noch einmal - außer den genannten Einzeldarstellungen - ausgeführte Stücke werden lesel'\ können. Aber nicht nur in solchem äußeren Sinn drängt sich dem, der LebensLeistung und Wesens-Sein von Karl ]aspers würdigt, auf: »Es gibt keinen Abschluß.«
Hans Lipps Hans Lipps muß dem heutigen Leser mit ein paar Worten vorgestellt werden. Der Fachmann kennt von ihm - lange nicht genug - zwei nicht sehr umfangreiche Bücher, in denen mit bestürzender Direktheit von metaphysischen, logischen und vor allem von sprachphänomenologischen Fragen die Rede ist. Dazu treten zwei postum veranstaltete Aufsatzsammlungen, die Vittorio Klostermann herausgebracht hat. Alle diese Bücher haben ein unverwechselbares Gepräge. Sie führen den Leser nicht ein. Sie bereiten niemanden für das vor, wovon die Rede sein wird. Es wird einfach angefangen. Ganz selten, daß Lipps einmal auf philosophische Fachliteratur verweist. S6 ist es überhaupt nicht le'icht, sich über die Gedanken von Hans Lipps zu informieren. Es gibt nur eins: sich von ihm ins Gespräch ziehen zu lassen. »In die Philosophie kann man nur )versetzt< werden.« Wer ihn gekannt hat, erinnert sich der impetuosen Art, mit der er sich seinem Partner zuwandte - ohne jeden Rückhalt, ohne jede Floskel, sehr konzentriert. Die großen Augen traten ihm beinahe aus dem Kopfe, wenn er sagte, was er dachte. Und er sagte immer ohne Vorbehalt, was er d~chte. Was er sagte, war immer' klug. Aber es war nicht immer klug, daß er es sagte, wie er während des Dritten Reiches manchmal mit Bestürzung erfahren mußte. Ein Original in entschiedenem Sinne. Als er 1936 als Ordinarius nach Frankfurt berufen worden war, nahm er in Bad Homburg Wohnung. Wenn man ihn dort besuchte und es war Winter, empfmg er einen in ungeheiztem Raum, in Mantel und Decken gehüllt. Er besaß nämlich von seiner Familie her einen riesigen Gummibaum, der über die ganze breite Fensterfront seine Zweige trieb, und war überzeugt, daß der Gummibaum keine Heizung vertrüge . . . Er hatte ein winzig kleines Auto, das er mit halsbrecherischen, stakkatohaften Methoden durch die Straßen Frankfurts zu steuern wußte, und dem er als ein wahrer Riese entstieg. »Ich bin einszweiundachtzig. Das ist mein Maß.« Der Leser fmdet dieses seltsame Stakkato im Stil seiner Prosa wieder: kurze, abgehackte Sätze, abrupt einset-
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zend, pointiert endend, die sich, dem Zwange einer ganz inneren Logik folgend, aneinanderreihen. Niemals habe ich eine der seinen vergleichbare Handschrift gesehen. Wenige, in riesigen Maßen hingemalte Wörter bedeckten die Seite. Man konnte sie nur im Abstand entziffern. Kaum vorstellbar, wie er sichje Notizen gemacht haben soll. Mit solchem monumentalen Schriftgestllsläßt sich schwer hantieren. Auf dem Katheder folgte er ohnehin ganz dem inneren Diktat der sich fortspinnenden Gedanken. Dabei war sein persönliches Verhalten alles andere als großspurig. Er war ganz ohne Selbstbezogenheit, völlig bei der Sache und von einer breit ausladenden, ruckartigen Gestik getrieben. Ein Unikum. Wer ihn näher gekannt hat, spricht mit rückhaltloser Verehrung von ihm. Wie soll man seinen philosophischen Ort und seinen philosophischen Rang beschreiben? Man kann Außeres nennen. Er war 1889 geboren, Schüler des berühmten Kreuz-Gymnasiums in Dresden, sowohl künstlerisch als auch naturwissenschaftlich reich begabt. Nach einigen anderen Versuchen widmete er schließlich seine Studien der Medizin und der Philosophie, und zwar vor dem Ersten Weltkriege in Göttingen. Er wurde dann Arzt, als solcher im Kriege, und 1921 Privatdozent der Philosophie in Göttingen. Ich folge der Reihe seiner Schriften und entnehme der ersten in dieser Reihe, den >Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis. 1. Teil. Das Ding und seine Eigenschaften< (1927), was schon der Titel verrät: Er war Schüler und Verehrer Husserls, der ja bis zum Jahre 1916 in Göttingen gelehrt hat. Husserls Göttinger Phänomenologenkreis war eine intensive Gruppe junger Forscher, zu denen auch von außen her andere, wie Max Scheler und die Münchner Bewunderer, wie Pfänder und Geiger, hinzutraten - eine wah~e »Schule« der neuen, auf deskriptive Sorgfalt und Anschauung gerichteten Denkgesinnung. Nach dem frühen Tode von AdolfReinach wurde der junge Lipps der stärkste Repräsentant dieser fruchtbaren Göttinger Phänomenologie. Seine eigenen Arbeiten haben aber nichts von der Schulmanier. Er unterscheidet sich unverwechselbar sowohl von Husserl selbst wie von allen seinen Folgern. Eins freilich teilt er vor allem mit Husserl und Scheler: den Blick. Die scharfen und subtilen Unterscheidungen, in denen sich seine Analysen fortbewegen, halten einen hohen Abstraktionsgrad ein, und zugleich überschütten sie einen förmlich mit konkret veranschaulichten Phänomenen, die Schritt mr Schritt seine Fragestellungen illustrieren und artikulieren. Was heißt das, daß das Ding Eigenschaften hat? Hat es sie? Ist es etwas fur sich oder besteht es aus ihnen? Diese von Herbart exponierte Frage, der auch Husserl bekannte Analysen gewidmet hat, wird von Lipps wie mit einen1 Ruck aus der logischen und erkenntnistheoretischen Abstraktion ins Konkreteste gewendet. Schon in diesem frühen, mit Heideggers >Sein und Zeit< gleichzeitig erschienenen Buch hat die Welt der Praxis den unbedingten
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methodischen Vorrang. »Allererst auf dem Boden eines solchen Umgangs mit den Dingen kann das konzipiert werden, was etwas)an sich< ist.« »Das >ln-Wirklichkeit-Sein< hat nicht nur die Funktion eines Arguments für eine Wahrheit in dem sublimierten Sinn, wie sie sich in der Sphäre des reinen Bewußtseins konstituiert. So als ob eine autonome Vernunft nur eben hineingesetzt wäre in eine brutale Wirklichkeit. « Man könnte fortfahren, Motive Nicolai Hartmanns (>Metaphysik der Erkenntnis<, 1921), den er nicht zitiert, Max Schelers (>Die Formen des Wissens und der Bildung<, 1925), den er zitiert, und Martin Heideggers wiederzuerkennen (den .er damals noch nicht zitieren konnte). Aber welche großartige Unbekümmertheit spricht aus der Art, wie er selber im Vorwort seine Wendung zu »fürs Erste verdeckten Motiven« hin charakterisiert: »Darin liegt wohl eine Wendung gegenüber manchen Formulierungen von Husserl. Aber ich glaube, daß ich auch dort nur sein Schüler bleibe. « Tatsächlich ist er beharrlich seinen eigenen Weg gegangen, - um seine eigene Formel zu gebrauchen - »zwischen Pragmatismus und Existenzphilosophie«. Er blieb gewiß nicht unbeeinflußt von dem, was in der Philosophie geschah, insbesondere von Heideggers Vorbereitung der Seinsfrage. In dem ersten Werk seiner Reifezeit, den )Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik<, zeigt sich der Einfluß von )Sein und Zeit< deutlich. Da wird auf Aristoteles und die Wurzeln der Aussagenlogik zurückgegangen, um den Hintergrund zu bereiten, von dem sich Sprache als der lebendige Umgang mit den Dingen und als Existenzvollzug abheben läßt. Der vierte Abschnitt, »Wort und Bedeutung«, ist ein wahres Gegenstück zu der berühmten ersten Logischen Untersuchung Husserls. Weder Ausdruck noch Zeichen, noch irgendeine feste Zuordnung von Wort und Bedeutung werden dem gerecht, was Sprache ror den Menschen ist. Ein zweites Buch hat Lipps noch selbst rur den Druck vorbereitet, aber sein Erscheinen nicht mehr erlebt. Er ist anl10. September 1941 in Rußland als Regimentsarzt gefallen. Das Buch, )Die menschliche Natuc<, durchmißt eine bunte Reihe von Phänomenen der Psychologie und der moralischen Anthropologie. Hinter den knappen Pointierungen, mit denen er die Phänomene darstellt, verrät der Verfasser - aber fast müßte man sagen: versteckt er - seine ungewöhnliche Weltkenntnis und die Weite seiner Bildung. Unter dem schönen, vielsagenden Titel >Die Verbindlichkeit der Sprache< und dem etwas farblosen >Die Wirklichkeit des Menschen< vollenden zwei Aufsatzbände das überaus konzentrierte Werk des früh Dahingegangenen. Es sollte heute erneut seine Stunde finden. Denn was in England im Gefolge von Wittgenstein, Austin, Searle an Schürfung im Gestein der Sprache unternommen worden ist, hat nicht nur einen Vorgänger, sondern ein großartiges Gegenstück in Hans Lipps - ganz ohne Programmatik. Es ist eine schier unerschöpfliche Auskunft, die Lipps aus der Abfragung der
Sprache, ihrer Wörter, Wendungen, Redensarten, Spric~wört.em und pra~ tischen Funktionen gewinnt. Es ist die Sprache - und nIcht eIn erkenntnIstheoretisches Apriori -, worin sich der Umgang mit den Dingen niederschlägt und greifen läßt. Dies Ohr für die Sprache und dieser Blick nir ihr~ Gestik zeichnete Hans Lipps unter den Phänomenologen aus. Man lernte bel ihm der Sprache aufs Maul schauen.
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Paul Friedländer Als Paul Friedländer Anfang der zwanziger Jahre als klassischer Philologe nach Marburg kam, war ich als junger Doktorand von Paul Natorp ganz davon in Anspruch genommen, mein eigenes erstmaliges Studium der Platonischen Dialoge in das Dissertationsthema einzufügen, das mir N atorp gegeben hatte. So kam es, daß ich fur meine Promotion und den daran anschließenden Weggang von Marburg zu Heidegger nach Freiburg über die griechische Philosophie Arbeitsversuche unternahm, bevor ich eigentlich durch ein solides Studium der klassischen Philologie dafür ausgerüstet war. Mir wurde erst in dem direkten Umgang mit Martin Heidegger, der inzwischen mein Marburger Lehrer geworden war, deutlich, daß ich mich noch ganz anders ausrüsten mußte, wenn ich den phil~sophisch~n Ideen Heideggers irgendwie gewachsen sein wollte. So begann. Ich - .angeslchts der überlegenen Wucht der philosophischen Persönlichkeit Heldeggers - .an meiner eigenen philosophischen Begabung zu zweifeln und entschloß mIch nach meiner Promotion zu einem konsequenten Studium der klassischen Philologie in Marburg. Bei meinen Interessen und meiner Vorbildung war Paul Friedländer, der damals gerade den ersten Band seines Plato-Buches in Arbeit hatte, der richtige Mann. Da läßt sich nun immer viel erzählen, wenn man seine Studienerfahrungen als ein jüngerer, werdender Gelehrter mit einem se~ner Lehrer in E~inn~ rung ruft. Es war ein kleiner Kreis- klassischer Phtlologen, der SIch In Friedländers Vorlesungen und Übungen sammelte. Das Oberseminar Friedländers, in das ich aufgrund meines Protreptikos-Aufsaties (in dessen erster Fassung) zugelassen wurde, bestand nur aus drei Teilnehmern; der Althistoriker Hans Schaefer, der als mein späterer Heidelberger Kollege in der Türkei bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam, gehörte zu ihnen. So >selbdritt< hatte man viel zu arbeiten und viel zu lernen. Friedländers Art war ja alles andere als locker, ungezwungen, natürlich. Es-war etwas Forciertes, Verkrampftes in seinem Wesen. Dabei war er ein hochgebildeter.und
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im Grunde ein geselliger Mensch. Er machte. den geradezu tollkühnen Versuch, in Marburg, diesem protestantisch-nüchternen Marburg, einen »Jour« einzuführen, bei dem man unter der sicheren Obhut seiner Gattin in der Tat an einer freundlichen und angenehmen Plauderstunde im Kreise beachtenswerter Persönlichkeiten teilnehmen konnte. Dort traf ich Ernst Robert Curtius, Siegfried Kaehler, Friedrich Klingner, Georg Rohde und noch eine Menge anderer Namen, die ich inzwischen vergessen habe. Meine Teilnahme an Friedländers Seminaren war sehr engagiert. Ich bewunderte sein Sprachgefühl und habe wohl auch etwas davon mitbekommen. Allerdings war ich ein sehr eiliger Student, denn ich strebte nach meiner Promotion auf die längere Sicht doch die Habilitation im Fache Philosophie an. So schloß ich meine philologischen Studien nach wenigen Jahren ab, um dieses weitere Ziel zu erreichen. Ich wurde von Friedländer, Heidegger und Lommatzsch in der Staatsprüfung für das Höhere Lehramt geprüft: mit großer Ritterlichkeit von seiten der Examinatoren. Meine Kenntnisse waren nicht groß. Im ungezwungenen Gespräch des Seminars und später in der von Friedländer bis zu seinem Weggang nach Halle eifrig gepflegten Graeca, die mich mit jüngeren Kollegen benachbarter Fächer, auch mit Georg Rohde, zusammenführte, gab es eine wachsende freundschaftliche Näherung zwischen Friedländer und mir, und das etwas starre Äußere in Friedländers Auftreten taute auf. Selbst wenn er, was ja seine alte Vorliebe war, wagte, . anerkannte Thesen umzustoßen, und das mit scharfsinnigen Beweisversuchen, war es durchaus nicht so, daß er den Gegenargumenten verschlossen war. Man lernte eigentlich bei ihm ein für allemal, daß die Echtheit einer überlieferten Schrift nur in sehr seltenen Fällen überhaupt zu beweisen ist. Aber selbst wenn seine Versuche im Stile des )Großen Alkibiades< nicht durchdrangen, lernte man sehr genau hinsehen, und Friedrich Klingner, mit dem ich damals befreundet war, hat ja wohl gerade auch diese Seite an Friedländers philologischem Talent besonders geschätzt und für sich fruchtbar gemacht. Noch heute findet sich unter meinen Papieren eine Studie, die ich für Friedländer über , den platonischen >Kleitophon( geschrieben habe; mit dem Versuch, die eigene Bestimmung dieses wohl kaum unechten Dialoges richtig zu deuten, kam ich freilich nicht recht zu Rande. Heute würde ich mich dafür schon etwas besser gerüstet fühlen - wenn nur nicht inzwischen meine Arbeitskraft versagte. Dafür habe ich in einer unpubliziert gebliebenen >Festschrift< zu Friedländers 50. Geburtstag ihm einen Beitrag gewidmet, der nach 50Jahren im Rahmen meiner >Gesammelten Werke< erstmals erschienen ist!. Damals war jede Diskussion mit Friedländer etwas für mich Förderliches 1
,Praktisches Wissen( in Ges. Werke Bd. 5 (Nr. 5).
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und sozusagen ein dogmatisches Gegengift gegen die opinio recepta. Ich war später auch mit Wemer Jaeger in Kontakt und dann vor allem mit Karl Reinhardt, der in Leipzig und Frankfurt mein Freund und Kollege wurde. Die beiden Männer, Jaeger und Reinhardt, waren extreme Gegensätze, in ihrem Verhalten wie in ihrer Persönlichkeit, wie ich oft geschildert habe. Aber Paul Friedländer war wieder eine ganz eigene Figur. Gewiß lag über allen diesen Männem der Riesenschatten von Wilamowitz. Aber jeder hatte doch auch seine eigene, bewußte Haltung gegenüber der Zeit wie gegenüber seiner Wissenschaft, und im Falle Friedländers war das eine besondere Verehrung für den Dichter Stefan George. Das spielte zwar in meine persönlichen wissenschaftlichen Beziehungen zu Paul Friedländer kaum hinein, aber es war etwas Verbindendes, das mich auch später mit ihm in Verbindung hielt. Er schätzte einige meiner späteren Arbeiten; wir w.aren .auch später noch von drüben in brieflichem Kontakt, und unvergessen t~t mtr d~r Augenblick seines Abschiedes von Deutschland. Es muß wohl tn Berhn gewesen sein, daß dieser unser gegenseitiger Abschied vor sich ging. ~r hatte Tränen in den Augen, und wie in manchen anderen Fällen war es mIt mir wohl auch nicht anders. Ein Wiedersehen war uns nicht beschieden. Als ich 1969 zum ersten Mal in den USA war, habe ich seine Frau und seine Tochter wiedergesehen und im Austausch alter Erinnerungen die Gestalt dieses bemerkenswerten Gelehrten und Menschen in mir dankbar wiedererrichtet. Inzwischen hat sich der Ehrgeiz Friedländers, des jüngeren Schülers von Wilamowitz, dem Plato-Werk seines großen Lehrers ein anderes dauerhaftes, zu Plato selbst hinführendes Werk philologischer Kunst entgegenzusetzen, über alles Erwarten erfüllt. In englischer wie in deutscher Gestalt hat dieses dreibändige Werk eine wahrhafte Omnipräsenz erreicht. Es weist jedem den Weg, der in Plato nicht nur Schulweisheit sucht, sondern ein Vorbild im Wagnis des Denkens wie des Gestaltens. Es hat viele gelehrt. im Ang.esicht der großen Kunst der Platonischen Dialogdichtung, für die Fri_edländer die Augen öffnet, - um es mit einem berühmten Wort von Altred North Whitehead zu sagen - »Fußnoten zu Plato« zu schreiben.
Brich Frank Erich Frank, lange Jahre Heidelberger Privatdozent und dann Professor in Marburg, nach seiner Emigration Professor in den Vereinigten Staaten, ist im Sommer 1949, als er auf einer Besuchsreise zum ersten Male wieder europäischen Boden betrat, einem Herzschlag erlegen.
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Erieh Frank
In der philosophiegeschichtlichen Forschung hat sich Frank durch sein gelehrtes und temperamentvolles Buch über >Plato und die sogenannten Pythagoreer< einen Namen gemacht. Auch wird man sich im besonderen der ausgezeichneten Rezension von Jaspers' philosophischem Hauptwerk entsinnen l , in der Frank ebensosehr seine innere Verbundenheit mit dem Philosophieren von Karl Jaspers bekundet hat, wie seine Fähigkeit zur geschichtlichen Durchleuchtung der Gegenwart. Inzwischen aber hat er drüben ein philosophisches Buch erscheinen lassen, das seine eigenen philosophischen Anliegen an einem für ihn wie für das gegenwärtige Philosophieren zentralen Punkte zur Darstellung bringt2 . Solange Franks umfassende Studien zur griechischen Philosophie nicht in literarischer Form einen Abschluß und öffentliche Mitteilung gefunden haben, sind diese sechs im Bryn Mawr-College gehaltenen Vorlesungen sein eigentliches Vermächtnis. Und wirklich vereinigen diese Vorlesungen alle Vorzüge seines Denkens: einen umfassenden philosophiegeschichtlichen Horizont mit großartig detaillierter Gelehrsamkeit, konkrete Nähe zu dem modemen Leben und seinen geistigen Antrieben mit Perspektiven voll Entschiedenheit und Kühnheit. Frank stellt das alte Thema des Verhältnisses von Wissen und Glauben, Philosophie und Religion, vor den ganzen Hintergrund seiner ehrwürdigen Geschichte. Aber da er es in seinem gegenwärtigen Stande aufsucht, ist in dem ganzen reichen philosophiegeschichtlichen Inhalt des Buches keine Zeile, die nicht der Selbsterhellung des gegenwärtigen Bewußtseins diente. Vielleicht darf man es als einen geistigen Beitrag Amerikas zu dem in diesem Buche sich darstellenden Denken vermerken, daß Frank mit größter Unbefangenheit die wirklichen Antriebe des modemen Lebens - und keineswegs bloß die mehr oder minder museale Spiegelung derselben im Bereich der Schulphilosophie - aufnimmt. Es ist zwar gerade auch im deutschen Denken der letzten Jahrzehnte - in der »existenzphilosophischen« Kritik am Idealismus, bei Jaspers wie bei Heidegger - ein neues Element des Gedankens gewonnen worden, das den alten Gegensatz von Schule und Leben, der seit Schopenhauers Tagen zu einem unauflöslichen Konflikt zugespitzt schien, von innen her aufzulösen vermag. Aber der Tatsachensinn des angelsächsischen Geistes und der pragmatistische Einschlag, der dort selbst extrem szientifischen Strömungen positivistischer Art das Gepräge gibt, stellt für diese Aufgabe zum mindesten ein besonders günstiges Klima dar. In der Tat hat das Denken Erich Franks, dem es an phantasievoller Kühnheit der Perspektiven und Radikalität der Thesen nie fehlte, durch das Maß des Realen, auf das es hier bezogen bleibt, an Konsistenz und Fruchtbarkeit gewonnen.
Die erste Vorlesung handelt von der »Natur des Menschen«. Sie geht davon aus, daß der Konflikt von Religion und Philosophie durch den Sieg der modernen Aufklärung entschieden scheint. Frank bemerkt mit Recht, daß diese modeme Aufklärung in den westlichen Ländern in zwei Schritten verlaufen ist: im 18.Jahrhundert innerhalb der herrschenden Gesellschaftsklassen, sodann aber - unterbrochen und verzögert durch den f\ufstieg der religiös noch stärker gebundenen Mittelklassen, der sich im Zuge der Demokratisierung der Welt vollzog - aufs neue eingesetzt hat und jetzt erst zu voller Universalität vordringt. (Frank hat nicht ausdrücklich gesagt, daß es die sozialistische Bewegung war, die in Europa im Laufe der letzten hundert Jahre die Masse der Industriearbeiterschaft mit den Parolen der Aufklärung durchsetzte und damit eine vermittelnde Rolle spielte, die die geschichtliche Kontinuität der Aufklärungsbewegung herstellt.) Die Vorlesung entwickelt nun die Aporien der modernen Aufklärung, welche sowohl die intellektuelle wie die moralische Souveränität des Menschen an den Grenzerfahrungen der Existenz in Frage stellen. Der Sache nach ist es Jaspers' Lehre von den Grenzsituationen, die Frank hier geltend macht und deren Ursprung aus der Kantischen >Kritik< Frank selbst ehedem in der genannten Rezension nachgewiesen hatte. Doch geht Frank wohl einen bedeutsamen Schritt weiter, wenn er selber ausdrücklich aufdie platonische Dialektik hinweist. Denn das bedeutet, daß die Erfahrung des Widerspruches nicht in der Vernunft oder der endlichen Existenz des Menschen ihren Ursprung hat, sondern in einem Antagonismus im Sein selber. Frank gewinnt hieraus als das Thema seines ganzen Buches die Frage, ob nicht der religiöse Glaube, in dem sich die menschliche Existenz ihrer Abhängigkeit bewußt ist, auch dann noch eine Bedeutung behält, wenn er durch die Aufklärung zersetzt wird - mit anderen Worten: ob in der Begrenzung des menschlichen Daseins und Denkens nicht eine philosophische Wahrheit gelegen ist, die gültig bleibt. Das wird zunächst an dem Problem der Existenz Gottes zum Austrag gebracht. Frank betont mit Recht, daß alle Gottesbeweise der Tradition bereits den Glauben an Gott voraussetzen und daher vor der modernen Aufklärung als Beweise nicht bestehen können. Aber er vermag dagegen zweierlei zu erinnern: zunächst, daß diese Gottesbeweise in der Ausarbeitung, die sie in der klassischen Antike erfuhren, überhaupt keine eigentlichen Existenzbeweise waren, denn die antiken Menschen sahenja das Göttliche als in der Welt selbst gegenwärtig an. Die Gottesbeweise »dienten in erster Linie dazu, die wahre Natur, das Wesen ihrer Götter zu erweisen, und nicht eigentlich ihre Existenz«. Erst mit der Jenseitigkeit Gottes wird seine Existenz zum Problem. Aber auch Beweisversuche wie der ontologische Beweis Anse1ms setzen den Glauben an Gott voraus. Mit der Ausschaltung dieser Voraussetzung des Glaubens, die der Sache nach bei Descartes zuerst
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In: Theologische Rundschau N.F. Bd. 5 (1933), S. 301-318. ERICH FRANK, Philosophical Understanding and Religious Truth. NewYork 1945.
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vorliegt, werden diese Beweise selber hinfällig. Das hat Kant dann in aller Grundsätzlichkeit bewiesen. Es ist eine interessante Wendung, die Frank aus diesen bekannten Tatsachen nimmt, daß nämlich die falsche Überlastung dieser Beweise im neuzeitlichen Denken dem philosophischen Atheismus in Wahrheit Vorschub geleistet hat. - Das zweite, was noch viel wichtiger ist: die Verborgenheit des christlichen Gottes bedeutet, daß das Suchen der Philosophie nach Gott nicht mehr in die Welt blickt, sondern den Suchenden auf sein eigenes Bewußtsein zurückwirft. Kierkegaards extremer Willenssprung in den Glauben legt nur ein allgemeines Problem des Christentumsgegenüber dem heidnischen Glauben an die welthafte Nähe der Götter bloß. Das Entscheidende dabei ist, daß eben deshalb gerade durch den christlichen Gottesbegriff der radikale Abfall von Gott, das >experimentum medietatis< (um auf den Titel der Studie von Walter Rehm anzuspielen), ermöglicht ist. Frank weist mit Recht daraufhin, daß der antike Atheismus im Grunde gar nicht die Existenz der Götter leugnete, sondern eine Vernunftreligion vertrat, und daß selbst noch der moderne, wahrhaft radikale und verzweifelte Atheismus eine Art Beweis oder Bezeugung Gottes ist, eine Art negativer Theologie. Denn allerdings kann von Gott, so wie das Christentum ihn versteht, Existenzja doch nicht im Weltsinne dieses Wortes ausgesagt werden, sondern nur im analogischen Sinne. - An dieser Bemerkung ist sicher richtig, daß die modeme Gottesleugnung einen Wandel in der Ontologie anzeigt. Es ist der Sieg des nominalistisch-naturwissenschaftliehen Begriffs von Realsein, der den Begriff des Atheismus im modernen Sinne zugespitzt hat. Seither stellen die Probleme der Entmythologisierung, d. h. der Versöhnung oder auch nur der Vermittlung des wissenschaftlichen Weltbildes mit dem der religiösen Überlieferung, eine immer neu zu lösende und immer neuen Anstoß gebende Aufgabe dar. Franks Berufung auf das Prinzip der Analogie hält sich freilich in Abhängigkeit von der Idee der »negativen Theologie«. Bleibt sie damit nicht im Grunde auch in Abhängigkeit von dem modemen 'Realitätsbegriff und wird um ihren eigentlichen Sinn verkürzt, den Sinn der >analogia entis<, demzufolge das Sein Gottes der >Terminus< der Analogie des Seins ist? Das sind weitreichende Fragen, denen die Musterung der Geschichte der Gottesbeweise nur soweit dient, .als sie dem »modernen Denken« dadurch den Anschein der Selbstverständlichkeit nimmt, daß sie es mit dem antiken und dem frühen christlichen Denken konfrontiert. Dem gleichen Ziele dient das dritte Kapitel »Schöpfung und Zeit«. Hier liegt ja die Abhebung gegen das Griechentum besonders nahe, und auch hier wird aus dieser Abhebung etwas für das Sachverständnis Wesentliches gewonnen. Die Lehre von der Schöpfung ist als kosmologische These unvertretbar. Sie setzt die ]enseitigkeit Gottes voraus, mithin die Auflösung der antiken Gleichung von Gott und Welt. Daher hat die Lehre von der Schöpfung keinen kosmologischen
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Sinn, sondern sie formuliert die wesenhafte Zeitlichkeit und Kontingenz aller Dinge. Diese Interpretation des Schöpfungsgedankens liegt übrigens ganz in der Linie des augustinischen Denkens. Denn Augustin ist es gewesen, der die innere Verknüpfung der Schöpfungslehre mit dem Problem der Zeit im elften Buch der >Confessiones< erkannt hat. Ich rechne es zu den Verdiensten des Franksehen Buches, daß es die Notwendigkeit dieses Zusammenhangs verständlich gemacht hat. Im antiken Denken konnte der Bezug von Zeit und Seele im Grunde kein Problem darstellen. Auch wo er berührt wird, wie in der Zeitanalyse des Aristoteles, spielt er nur nebenbei mit. Denn Seele ist ja welthaft gedacht (z. B. als Gestimseele) . Das ändert sich mit dem christlichen Seelenbegriff. Im christlichen Bewußtsein tritt der objektiven Weltzeit die subjektive Zeit gegenüber, die nun nicht mehr zyklisch, sondern zukunftsbezogen und damit innerlich-geschichtlich ist. Selbst die »wahre Gegenwart«, die allein die Gottes ist, wird vom christlichen Bewußtsein zukünftig-jenseitig im Glauben und in der Hoffnung gegründet. Was im Gedanken der Schöpfung philosophisch gedacht ist, ist also die mit allem Zeitdasein - auch dem unserer menscWichen, vernünftigen Existenz - gesetzte Begrenztheit3 • Die grundsätzlichen Fragen, die im 2. Kapitel des Buches angerührt wurden, werden im 4. Kapitel, »Truth and Imagination« überschrieben, ausdrücklich. Wieder wird von dem modemen Denken ausgegangen, fur das Gott ein bloßes Produkt der Einbildung (>imagination<) ist'und keine objektive Realität hat. Es fragt sich aber, ob der Gegensatz zwischen Einbildung und objektiver Realität ein echter und ausscWießlicher Gegensatz ist. Denn woraufauch immer man den Begriffeiner objektiven Realität gründen mag, auf >perception<, auf praktische Erfahrung oder was sonst, immer ist darin )imagination< wirksam, d. h., immer ist eine grundsätzliche Inkongruenz zwischen Wissen und Gewußtem gegeben. Insofern ist der Begriff der »reinen Wahrheit« ein Unbegriff. Während nun im Bereich der Erkenntnis die Mitwirkung der >imagination< eine Beeinträchtigung der Möglichkeit der Wahrheit darstellt, ist sie im Bereich der Künste die eigentliche Basis. Denn hier ist >imagination< prcduktiv und erzielt eine tiefe, alle Wissenschaft übertreffende subjektive Wahrheit - aber freilich, diese Wahrheit vermag keinen echten Anspruch auf Wirklichkeit zu erheben. Lediglich im religiösen Glauben liegt beides vor: produktive >imagination< und doch Wirklichkeitsanspruch. Zwar hat die religiöse Skepsis den Anteil der >imagination< an den religiösen Vorstellungen gegen den Wahrheitsanspruch der Religion gekehrt und von früh an den Anthropomorphismus in den religiösen Vor3 Siehe dazu den nach seinem Tode erschienenen Aufsatz FUNKS) The Role of History in Chrisrian Thought( in: The Duke Divinity School Bulletin XIV 3 (Nov. 1949), S.66-77.
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stellungen der Menschheit nachgewiesen. Aber die skeptische Konsequenz, die aus diesem Nachweis gezogen wird, ist haltlos. Denn trotz der Menschlichkeit dieser Vorstellungsweisen ist das in ihnen Gemeinte offenbar gerade im Unterschiede zur Einbildungskraft der Kunst - als real gemeint. Die Wahrheit der Religion ist also, sofern sie auf )imagination< beruht, gewiß der der Kunst verwandt, und dennoch ist sie nicht nur subjektiv. Frank folgert aus dieser Sachlage eine Revision des Begriffs der »reinen Wahrheit«. Wahrheit ist nicht unmittelbar angemessener Ausdruck des Seins selbst. Das gilt nur etwa fiir die mathematischen Wahrheiten, deren Sein hinwiederum kein reales ist. Wahrheit ist vielmehr die Angemessenheit des Ausdrucks des Seinsverhältnisses zwischen Wissen und Sein. Religiöse Wahrheit ist also freilich »existentielle« oder »essentielle« und nicht einfach »objektive« Wahrheit - denn )imagination< hat an ihr teil. Aber gleichwohl ist sie Ausdruck einer realen Beziehung, der zu Gott, und insofern Ausdruck der Realität der eigenen Existenz. Der Mensch findet aber seine Realisation nur in der Geschichte. Daß die »Bestimmung des Menschen« auf dem Weg seiner geschichtlichen Erfahrung zu ihrer Realisierung heraufgefiihrt werde, dieser Perfektibilitätsglaube des 18. Jahrhunderts ist freilich aufgrund der furchtbaren Erfahrungen der letztenjahrzehnte überall in Auflösung. Statt dessen erscheint die Geschichte als eine reale Macht, der der einzelne auch dann erliegt, wenn er sich frei meint. Der Begriffder Ideologie ist kennzeichnend für diese neue Erfahrung der Macht der Geschichte. Die Erfahrung der Ohnmacht des einzelnen redet einem Glauben an das Fatum oder die Notwendigkeit das Wort. Aber das Wesen der Geschichte erfiillt sich nicht in der Erfahrung und Entfaltung von Macht. Frank sucht das durch die Gegenüberstellung von Cäsar und Christus zu verdeutlichen. Nicht der Begründer des Imperium Romanum, sondern Christus hat Geschichte )gemacht<, d. h., er hat eine geistige Umwälzung heraufgerufen, die wahrhaft Neues sein und geschehen ließ. Nun ist es freilich aussichtslos geworden, aus dem Unvorhergesehenen und Unscheinbaren solcher geschichtlichen Wenden einen Glauben an die göttliche Vorsehung zu begründen. Der Glaube an den Sinn in der Geschichte, der von Gottes Plan gesetzt sei, ist durch die modeme Aufklärung zerstört worden. Aber gerade die übermacht, die zu dem prometheischen Aufstand gegen Gott in der modemen Welt geführt hat, steht in einem unauflösbaren Bezug zu dem von Christus bestimmten Säkulum. Insofern ist sie eine Manifestation von Sinn in der Geschichte und damit eine - freilich entstellte - Manifestation Gottes. Die schöpferische Freiheit des Menschen ist selbst noch ein religiöser Begriff, aber einer, ohne den das Problem von Geschichte und Bestimmung des Menschen nicht auflösbar ist. Man wird den postulatorischen Charakter dieses » Beweises Gottes aus der Geschichte«, d. h. aus der übermacht der Gottlosigkeit in ihr, nicht verken-
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nen. Auch Frank leugnet ihn nicht. Aber er rechtfertigt ihn grundsätzlich. Denn es ist unleugbar, daß sich hier ein Glaube auslegt, nämlich der an die schöpferische Freiheit. Es ist Schellings Position gegenüber Hegel, die Frank schon ehedem in dem Aufsatz )Das Problem des Lebens bei Hegel und Aristoteles<4 verteidigt und erneuert hat. In der Tat ist das die philosophische Konklusion, zu der Frank im Schlußkapitel »Geist und Buchstabe« schreitet, daß alle Philosophie nur einen zugrundeliegenden Glauben auszulegen vermag.Frank leitet diese methodische Selbstbeschränkung aus dem christlichen Begriff des »Geistes« ab, den er einleuchtend gegen den antiken wie modemen Begriff von Geist und Seele abhebt. Der »Geist« im christlichen Sinne ist der »Geist der Liebe«(. Der aber ist gerade keine menschliche Möglichkeit - alle menschlichen Möglichkeiten sind vielmehr »Buchstabe« und müssen im Geist gelesen und verstanden werden. Das gelte auch noch für die Wahrheit der Wissenschaft, soweit sie nicht bloße Mathematik ist. Weit mehr als dem Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs unterstehe alle Wissenschaft dem Prinzip der Analogie. Auch die Philosophie muß von sich wissen, daß sie Buchstabe ist, wenn sie in Analogien die Wahrheit ausdrükken will. D. h. aber, sie muß sich durch etwas bestimmt wissen, was als letztlich religiös begründeter Glaube allem Vernunftgebrauch vorausliegt. überblickt man den Gedankengang des Frankschen Buches im ganzen, so ergibt sich, daß nicht nur die Ausgangserfahrung der »Grenzsituation« der Philosophie von Jaspers entspricht, sondern in gewissem Sinne auch die erkenntnistheoretische Position. Denn die Betonung des Prinzips der Analogie bei Frank hat wenig mit dem aristotelisch-scholastischen Gedanken der Analogia entis zu tun, sondern ist ganz im subjektiven Sinne gemeint. Das Prinzip der Analogie entspricht also dem Lesen der Chiffrenschrift, auf das Jaspers seine )Metaphysik< gründet. Doch gibt Frank dem eine geschichtsphilosophische Begründung, durch die er sich vonjaspers entfernt. Denn es ist für ihn keine zeitlose Möglichkeit der Existenz, sondern das im Christentuni gesetzte Prinzip des »Geistes«, das in dem analogischen Erkennen der Wahrheit wirksam ist. Jaspers dagegen hatte gerade in seiner neuen geschichtsphilosophischen Schrift >Vom Ursprung und Ziel der Geschichte( (1949) durch den Begriff der »Achsenzeit« die Bedeutung der christlichen Wende relativiert. Wenn alle drei großen Weltreligionen und -kulturen als Erfahrungsweisen der Transzendenz auf eine Stufe rücken, ist die einmalige Voraussetzung des Christentums in der antiken Weltfrömmigkeit und der von Frank daraus abgeleitete Charakter des radikalen Atheismus der Moderne ohne echte Relevanz. Frank steht hier Schelling näher, als es Jaspers tut. Denn auch für ihn ist das Christentum das zurechtgestellte Heidentuln, nur daß er über diese Zurechtstellung hinaus auch seine moderne Entstellung im 4
In: Deutsche Vierteljahrsschrift Bd. 5 (1927), S. 609-643.
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radikalen Atheismus von da aus versteht. Es ist offenbar ein dem Frankschen Buch verwandter Gedanke, denjaspers erwägt: » Tiefer fUhrt die These, eine Dialektik der geistigen Entwicklung fuhre aus dem Christentum, getrieben v?n chris.t1~chen Motiven, zu einer so radikalen WahrheitserheIlung, daß dIes~ ReligIon s~lbst aus ihren eigenen Kräften die Umkehr gegen sich be~rke. Aber~~eser Weg braucht wiederum nicht in die Glaubenslosigkeit zu fuhren. Im Ubergang schmerzvoller und gefährlicher Umschmelzung, g~h:n zwar d~g~atisc~e Positionen verloren, aber die Metamorphose der bIblIschen RelIgIon bleIbt möglich. « Frank hätte dem gewiß nicht widersprochen, aber daraufbestehen müssen, daß die beschriebene Dialektik auch dann notwendig und zwingend bleibe, wenn die Selbstzerstörung der Religion des femen und ins Innere gewendeten Gottes am Ende durch ihre innere (dem Philosophen verstehbare) Wahrheit gebannt werde. Franks Gottesbe~eis aus dem Atheismus ist wesenhaft dialektisch, d. h., er entspringt einem In der Sache gelegenen Verhältnis. Es scheint mir daher bezeichnend, daß Fran~ über. die subjektive Vernunftdialektik im Sinne Kants auf die objektive DIalektik Platos zurückgeht. Es fragt sich, ob er in der Folge nicht genötigt worden wäre, auch den subjektiven Charakter des Analogiedenkens und damit den Jaspersschen Begriff der Metaphysik zu überwinden. Denn die Dialektik der Geschichte ist kein bloßer Schein der Vernunft.
meinen Logik< - und den Weg zu den jungen Leuten, die sich um ihn drängten. Ein blasser junger Student, der aus Tübingen gekommen war, aber offenkundig ein Berliner, meldete sich zu Wort und entwickelte in knappen und präzisen Sätzen das Verfangensein der Selbstreflexion in sich selber. Das war Gerhard Krüger. Was an ihm damals sofort auffiel, war nicht nur die Schärfe und Klarheit seines Verstandes, sondern vor allem die große Nüchternheit, mit der er der idealistischen Philosophie gegenübertrat. So war er vorbestimmt, die Selbstauflösung der Marburger Schule mitzuvollziehen, die damals vor allem in Nicolai Hartmanns Abkehr vom neukantianischen Idealismus ihren Ausdruck fand. Etwas Entschiedenes, bis zur Schroffheit Beharrliches und Sicheres war von früh an in seinem Auftreten. Er konnte einem die verblüffendsten Dinge direkt ins Gesicht sagen, nicht ohne auch sich selbst und seine Position am Andern mit Sorgfalt zu prüfen. Aber wenn unbeirrbare Konsequenz im Denken, ohne nach rechts oder nach links zu sehen, eine philosophische Tugend ist - Gerhard Krüger besaß sie in hohem Grade und verdankte ihr seine frühe geistige Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Und es war eine spannungsvolle, von starken geistigen Vorbildern geprägte Atmosphäre, in der wir im damaligen Marburg aufwuchsen. Es war die »Marburger Schule« des Neukantianismus, die sich in voller Auflösung befand. Paul Natorp selbst folgte nach dem Weggang Hermann Cohens lange zurückgehaltenen Antrieben, die ihm aus Mystik und Musik zuwuchsen. Nicolai Hartmann, mehr und mehr seinen Abstand von dem Marburger Idealismus suchend und ermessend, schloß uns alle zusammen und übertrug etwas von der wilden Intensität endloser nächtlicher Diskussionen aus seinem Petersburger Studentenleben in das bäuerlich-bürgerliche Marburg - und dann trat, stürmisch und mitreißend und alles in den Strudel ungewohnter neuer und radikaler Fragen ziehend, der junge Martin Heidegger auf den Plan. Es war nicht so leicht, als ein noch so begabter junger Student ein eigenes Profil zu gewinnen. Da war aber auch die Marburger Theologie, die sich in diesen Jahren, den Anstößen Friedrich Gogartens und Karl Barths folgend, vor allem in der Gestalt von Rudolf Bultmann auf neue Wege der historischen Selbstkritik und der dialektischen Selbstbegründung wagte. In beiden Bereichen zeichnete sich Gerhard Krüger früh aus. Im besonderen vertiefte sich Krüger in die Kantische Philosophie, deren metaphysische Einschläge von Nicolai Hartmann und Heinz Heimsoeth gegen den Neukantianismus gekehrt wurden. Aber auch der gewaltige philosophische Impetus, der von Martin Heidegger ausging, als er 1923 seine fünfjährige Marburger Lehrtätigkeit begann, wies ihn in die gleiche Richtung. Denn was in Heidegger zu Wort kam, war für unser damaliges Bewußtsein vor allem deshalb revolutionär, weil hier
Gerhard Krüger! Gerhard Krüger begann seine Studien aus historisch-politischem Interesse bei Haller in Tübingen und kam von da nach Marburg. Sein erstes Auftreten dort ist mir unvergeßlich., Es war im Jahre 1920 im Philosophischen Seminar der Universität. Der Blick fiel durch große, kirchenähnliche Fenster im neugotischen Stil auf den Hühnergarten des Universitätskastellans. Paul Natorp saß an der Stirnseite des Hufeise~tisches und suchte, in sich versunken, den Ausweg aus dem MethodologIsmus der Marburger Schule ins Freie und Ganze einer )Allge. 1
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auf ursprüngliche Existenzerfahrungen zurückgegangen wurde, die anstelle der in den Wissenschaften verarbeiteten Erfahrung der radikalen philosophischen Besinnung die Aufgabe stellten. Gerhard Krüger begann unter diesem Eindruck die philosophische Bedeutung der menschlichen Lebenserfahrung auch an Kants Philosophie herauszuarbeiten. Indessen bestand er mit Beharrlichkeit, so sehr ihn auch Heideggers genialer Griff gepackt hielt, auf dem » realistischen « Gegenzug zum Idealismus, der ihm in Nicolai Hartmann begegnet war, und im Felde der Diskussionen um Kierkegaard und die neue dialektische Theologie warnte er früh vor den verborgenen idealistischen Motiven in Karl Barths RömerbriefKommentar, in einem viel beachteten Aufsatz in >Zwischen den Zeiten<. Schüler Rudolf Bultmanns, nahm er an der Erneuerung der theologischen Problematik teil, als die dialektische Theologie die liberale Historie einer leidenschaftlichen Kritik unterwarf. In der Anerkennung der U nverfügbarkeit des Glaubens und der göttlichen Gnade fand seine kritische Abkehr vom idealistischen Denken ihren positiven Gegenhalt. In seinen logischen Bemerkungen zu Barths Römerbrief werden die philosophischen Implikationen des »dialektischen« Redens von Gott kritisch aufgedeckt und die Frage vorbereitet, » wie der Glaubende in der zeitlichen Geschichte sei«. Führt nicht die Herrschaft des Begriffes immer wieder in die Nähe jener Autokratie des Denkens, gegen die schon Kierkegaards Hegelkritik gerichtet war? Und wenn die Autontät der christlichen Lehre oder die Predigt dem entgegensteht - wie soll dies angemessen denkend begriffen werden? Krüger ist dieser frühen Frage mit erstaunlicher Konsequenz treu geblieben. Er gehörte mit Heinrich Schlier bald zu dem engsten Freundeskreis von Rudolf Bultmann und war so etwas wie ein philosophischer Zensor in den bewegten Kreisen der »Marburger Akademischen Vereinigung«, in der sich eine Elite theologischer und philosophischerJugend zusammenfand. Kann man sich heute überhaupt noch ein Bild davon machen, wie wir damals - in den »goldenen« zwanziger Jahren - heranwuchsen, nach unserem Doktorat ganz am Rande der Universität, eine kleine Gruppe junger Akademiker, die vor ihrer Habilitation nietnals lehrend vor Studenten traten und völlig ins Ungewisse hinein arbeiteten und ärmlich von Stipendien lebten? Wir taten auch anderes. Gerhard Krüger war ein begnadeter Vorleser, und wir haben im engsten Familien- und Freundeskreis Tausende und Tausende von Seiten Dostojewskij und Tolstoi, Gogol und Gontscharow, Hamsun und Dickens, Balzac und Meredith gemeinsam gelesen. Daneben war Rudolf Bultmanns Graeca, in der wir die griechische Literatur auf eine ähnlich gesellige Weise pflegten. Da lasen wir durch viele, viele Jahre griechische Autoren, Homer und die Tragiker, Herodot und Clemens, Aristophanes und Lucian. Heinrich Schlier, Günther Bornkamm, Erich Dinkler waren die theologischen, Gerhard Krüger und ich die philosophischen Mit-
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glieder dieses allwöchentlich zusammentretenden Kreises, mit Rudolf Buhmann verbunden durch Verehrung und Freundschaft und durch die gemeinsame Liebe zur griechischen Sprache und Kultur. So war es auch eine gesellige Zeit. Bis uns das Katheder vereinzelte und auf eine neue Weise vereinigte. Krügers mit überlegener Sicherheit vorgetragene Vorlesungen übten eine starke Wirkung aus, insbesondere dank den philosophischen Interessen der Marburger Theologenschaft. Unter den Marburger Studenten hieß es damals von Krüger und mir: Bei Krüger lernt man, wie alles richtig ist, bei Gadamer, wie wenig man weiß, was richtig ist. Aber entschieden war Krüger ein vorzüglicher Lehrer, und seine Wirksamkeit setzte sich auch nach 1933 fort, als unser Kreis sich lichtete und unsere Lage sehr schwierig wurde. Die Unbeirrbarkeit, ~it der Gerhard Krüger die Antwort auf seine Frage nach dem Sein des Glaubenden in der zeitlichen Geschichte bei der philosophischen Tradition suchte, war erstaunlich - und nicht minder unbeirrbar war seine menschliche und politische Haltung in den Zeiten fragwürdiger Gleichschaltung. Das hat auch seinen Freunden, zu denen ich gehörte, viel bedeutet. Inzwischen war Gerhard Krügers Habilitationsschrift >Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik< erschienen (1931), ein glänzendes Buch. Krüger riefKant zum Zeugen dafür auf, daß die Schöpfungsordnung, eine hinzunehmende Gegebenheit, allein eine Philosophie der Moral begründen könne, in der Freiheit nicht so sehr Selbstbestimmung als Selbstbindung an das Sittengesetz bedeute - ein ungewohnter Kant, der nicht ohne heftigen Widerspruch blieb, heute ein repräsentativer Beitrag zur Kantfo:schung, der insbesondere auch dank Eric Weils Anregung in französischer Ubersetzung gewirkt hat. Was war das für ein neuartiger Kant! Wir haben woW alle viel aus diesem Buch, insbesondere aus der Auslegung der Moralphilosophie Kants, gelernt. Aber am lehrreichsten waren nicht die überzeugenden Seiten dieser Kantinterpretation, sondern eher die Entschiedenheit, mit der sich das eigene philosophische Anliegen des Verfassers durchsetzte, wenn er den Begründer der kritischen Philosophie, den Verkünder der sittlichen Autonomie und der praktischen Freiheit, fast als Verteidiger, wenn nicht gar als Erneuerer der christlichen Metaphysik erscheinen ließ. Die Autonomie der praktischen Vernunft wurde als unbedingter Gehorsam gegenüber de~ Sittengesetz, als ein Sichbeugen unter seinen Anspruch gedeutet, und dIe metaphysischen Einschläge in Kants >Kritik<, der schöpfungstheologische Hintergrund seiner Vermögenslehre und seiner umstrittenen Lehre von der Affektion, schlossen sich mit den angedeuteten Linien einer moralischen Theologie zu einer höchst ungewohnten Figur zusamlnen. Sehr bald sollte sich die philosophische Intention, die Krüger leitete, von diesem ersten Einsatz lösen. Krüger vertiefte sich mehr und mehr in die
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Aporien der modernen Aufklärung. Leibniz und vor allem Descartes, in dem bedeutenden Aufsatz über die Herkunft des philosophischen Selbstbewußtseins, gaben ihm Gelegenheit, die Problematik der modernen »selbstbewußten Freiheit« in aller Schärfe herauszuarbeiten und damit die Frage zu stellen, ob nicht »die Wege unserer älteren philosophischen Tradition, die Möglichkeit des theologischen Denkens, die richtigen waren«. Es macht,nun die besondere Eigenart von Krügers Weg aus und bezeichnet zugleich seinen Rang, daß er sich' gleichwohl nicht einfach auf die christliche Synthese der antiken Philosophie und des Evangeliums zurückwandte und im Anschluß an das scholastische Denken sein Genüge fand, sondern die philosophischen Motive wiederzubeleben suchte, aus denen die klassische Tradition der Philosophie stammt. So wies ihn sein eigenes Fragen aufPlato. Sein Buch über Plato, auf volle Beherrschung der gesamten wissenschaftlichen und philosophischen Platoforschung gegründet, war eine Art Grundlegung natürlicher Gotteserkenntnis. Das war es, was er in Plato, dem Kritiker des heidnischen Polytheismus, der doch ganz in der religiösen Tradition des Griechentums stand, wiederzuerkennen suchte. Eine neue Leidenschaft zur Einsicht, Eros philosophos, läßt Plato die leidenschaftliche Weltbefangenheit der griechischen Frühzeit überwinden, aber gleichzeitig ihre religiöse Grundlage bewahren. Der Gegenbegriff des souveränen Denkens der Moderne, dessen Aporien Krüger unablässig verfolgte, verleiht der klassischen Philosophie die auszeichnende Charakteristik, hinnehmende Vernunft zu sein. Krüger suchte von da aus die welthafte Ordnung der Dinge, welche die christliche Schöpfungslehre auf die Basis der Offenbarung gegründet hatte, mit den Mitteln des philosophischen Denkens als einen teleologischen Kosmos von Gütern zu erweisen. In dem Mittelpunkt des ausgezeichnet gearbeiteten Buches, das den Titel >Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens< (1939, 5. Auflage 1983) trägt, steht Platos >Symposion<. In der Einleitung desselben entwickelte Krüger den religiösen Hintergrund des griechischen Vernunftbegriffs auf souveräne Weise. Die 70 Seiten dieser Einleitung dürften zu den bleibenden Meisterleistungen philosophischen Gesprächs mit den Griechen zählen. Die tragende Bedeutung der moralischen Lebenserfahrung, die in einer an sich gegebenen und nie ganz unkenntlich werdenden Ordnung aller Willkür des Verfügens eine absolute Grenze setzt, soll am Ende auch dem dunklen Rätsel, das dem modemen Denken die Geschichte bedeutet, seine beunruhigende Gewalt und Schärfe nehmen. »Wir bleiben trotz unserer Modernität Menschen, wie sie zu allen Zeiten gelebt haben, und wir können daher Plato und andere Denker der Vergangenheit nicht nur historisch verstehen, sondern auch sachlich wiederholen. Wir begegnen uns mit allen denen, die in der Anerkennung einer einheitlichen Welt ebenfalls über die Grenzen ihrer geschichtlichen Situation hinausgesehen haben. « In diesen Sätzen Gerhard
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Krügers ist ausgezeichnet zusammengefaßt, was den sicheren Stil seiner philosophischen Lehrtätigkeit bestimmte. Gerhard Krügers frühe Selbständigkeit führte ihn auch zur kritischen Auseinandersetzung mit seinen Lehrern. So schrieb er eine sehr gründliche Kritik von Nicolai Hartmanns >Theorie des geistigen Seins<. Und nach dem Kriege, als Martin Heideggers )Holzwege< von dem Wandel seines philosophischen Denkens, den er »die Kehre« nannte, öffentlich zeugten, suchte Gerhard Krüger in einer kritischen Betrachtung nachzuweisen, daß Heideggers Denkversuche ihn nicht aus dem Bannkreis Hegels zu befreien vermöchten. So nahm Gerhard Krüger seine frühen Zweifel am Idealismus wieder auf. Daß man in der berühmten »querelle des anciens et des modernes« auch als ein Kind der Neuzeit aus Gründen auf die Seite der »Alten« treten kann, eine Einsicht, die ihn insbesondere mit Leo Strauss verband1 , dessen frühes Spinoza-Buch ihn stark beeindruckt hatte, nötigte ihn zu einer Haltung entschiedener Abwehr und Kritik gegen das zeitgenössische Denken, die die Züge seines Charakters zuweilen verhärtete. Gewiß trug er an der Entschiedenheit nicht leicht, zu der er sich selber geführt sah, Doch wurde seine Stimme eben dadurch unüberhörbar. Die wichtigste Sammlung seiner kleineren Arbeiten, die er noch vor seiner Erkrankung geschrieben hatte, trug den Titel )Freiheit und Weltverwaltung< (1958). Ich erinnere mich, daß dieser Titel mich damals verblüffte, obwohl mir der Inhalt des Bandes und die philosophische Position Gerhard Krügers genau bekannt waren. Aber hat er nicht recht bekommen? Liest man nicht diesen Titel heute ohne alles Erstaunen, ja, mit der inneren Zustimmung, daß in diesem Titel in der Tat zu einer Formel vereinigt ist, was allen unlösbaren Widerspruch unserer Weltstunde ausmacht: in einer immer sorgf'altiger und immer konsequenter verwalteten Welt die unversieglichen Quellen menschlicher Geschöpflichkeit und der ihr anvertrauten Freiheit wahrhaben zu sollen? Es war dem Verlag Klostermann und der Hilfe seiner Freunde, insbesondere dem selbstlosen Einsatz von Wilhelm Anz, zu danken, daß aus Krügers Vorlesungen ein Buch zur Einführung in die Philosophie veröffentlicht werden konnte, das die Stimme des verstummten Lehrers und die gediegene Klarheit seiner Gedanken noch einmal weiteren Kreisen vernehmbar machte: )Grundfragen der Philosophie. Geschichte. Wahrheit. Wissenschaft< (1958). Es war eine Stimme, die den Heutigen wie »zwischen den Zeiten« klingen mag. Aber heißt das nicht Denken - zwischen den Zeiten zu sein und über alle Zeit hinaus zu fragen?
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Siehe dazu auch in diesem Band S. 250 f.
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Philosophische Begegnungen
Kar! Löwith war ein Mann von unverwechselbarer Eigenart. Es war eine tiefe Seinstraurigkeit um ihn ausgegossen - zugleich wahrte er die würdigste Gefaßtheit gegenüber dem Fremden, Befremdenden des Daseins, das uns auferlegt ist. Ein unfaßlicher Gleichmut schien ihn zu beseelen. In der Gleichmäßigkeit seiner Stimme, die sich kaumje zu dem leisen Nachdruck des Lehrers steigerte, war dieser Gleichmut wie leibhafte Gegenwart. Selbst wenn er auf dem Katheder sprach, war das fast eher ein ins Unendliche gehendes Selbstgespräch. Aberjeder, der ihn kannte, kannte auch das plötzliche Aufschauen und den Blick des Einverständnisses, das einen verband. Auf dem Grunde dieses Gleichmutes lag eine ihm eingeborene Distanz, ein Gefühl für Abstand und ein ständiges Bewußtsein von Abstand. Er hielt sie stets ein, die Distanz zu sich selber, die Distanz zu den Freunden, zu den Menschen, zur Welt. Das war sein Ethos: ein illusionsloses Hinnehmen der Dinge, wie sie sind, ein Anerkennen der Natürlichkeit des Natürlichen, aber auch ein beharrliches Festhalten an allem, was ihmje nahe war. Sein Lebensweg entsprach dem. Was war für ihn Heimat? Da waren seineJugendjahre in München, die Zeit seiner Kriegsgefangenschaft droben im Kastell von Genua, die Studienjahre in Freiburg und Marburg, Florenz und Rom oder später Jahre der Lehre in Japan und am Ende die letzten 20Jahre in Heidelberg. Seine Lebensgeschichte selbst, die ihm manches Schwere und Bittre auferlegte, vermochte nicht die letzte Unberührbarkeit anzutasten, die ihm eigen war. Wenn man ihn vor sich sieht, wenn man seine Haltung, seine Reaktione~, sein Schweigen vor sich erstehen läßt - man spürte stets etwas Zeitloses, Agyptisches in ihm. Nicht jung, nicht alt, allen Extremen abhold und doch hoffnungslos getrennt von der Selbstverständlichkeit der Konventionen, sprach sich sein unverwechselbares Wesen aus. Insbesondere hatte ihn seinejugendliche Einkehr in das lateinische Wesen geprägt, als er knapp dem Tode in der Schlacht entronnen, an den italienischen Soldaten, die seine Bewacher waren, eine ihm zutiefst gemäße Lebenshaltung erkannte: Hingabe an den Augenblick, das Natürliche natürlich fmden, das Unvermeidliche hinnehmen. So war ihm Nietzsche und der Amor fati der natürlichste Ausdruck seines Weltgefiihls und Weltdenkens. Er liebte die Ungeniertheit und verteidigte sie. Und doch war seinem leisen und in sich gekehrten Wesen eine höchste Diskretion eigen, gegen sich selbst wie gegen andere, und sie verließ ihn auch nie, wenn es um Philosophie ging. Verstiegenheit der Spekulation reizte ihn bis zum Unwillen - und doch zog es ihn auch immer wieder an, sozusagen dahinterzukommen, was da eigentlich dahinter war. Als denkender Vermittler großer Gedankenschöpfungen hatte er die erstaunlichste Gabe, mitten im sprödesten Stoffdes Begriffes das Individuelle und Anekdotische aufzufinden, in dem die Spur des Menschlichen deutt
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lieh hervortrat. Sein Verhältnis zu Nietzsche, sein Verhältnis zu Heidegger, ja selbst sein Verhältnis zu Hegel hatte von da etwas spannungsvoll Zwiespältiges. Die einfachen, natürlichen, verständlichen Re~ung~n unseres Menschseins wußte er überall aufzufinden, auch dort, wo einer 1m Namen des Weltgeistes zu sprechen vorgab, und blieb selber. immer i~ Abstan~. Wirklich war ihm beides gleich verständlich und gleIch unerreIchbar: dIe radikale Waghalsigkeit des Denkens, wie sie ihm in Nietzsche oder Heidegger begegnet war, wie die Solidität Und skeptische R~serve ~es Bas.ler Patriziersohnes Jacob Burckhardt. Sein gleichmütig-gletch~äßtger .Bh~k ermaß die extremsten Möglichkeiten als die geringen VarIanten, dIe dIe Natur dem Menschen zugebilligt hat. Die letztenJahre seines Lebens vertiefte er sich ganz in Paul Vale.ry, des~en mediterrane Skepsis, helle Rationalität und naturhafter PaganIsmus Ihn verwandt berührten. Als er den letzten Band der langen Reihe der >Cahiers<, diese unermüdliche Selbstreflexion und Selbstprotokollierung Valerys, aus der Hand gelegt hatte, ging auch sein eigenes Leben zu Ende, wie wenn ein Punkt gesetzt war. Es sei der Versuch unternommen, den Weg seines Denkens aus der Perspektive eines Weggenossen zur Darstellung zu bringen. D~ß Perspe.ktiven einen Wert haben, daß Perspektiven nicht nur Erkenntniswege SInd, sondern sogar ein Teil unserer eigentlichen Existenz, das hat niemand so deutlich gesagt als Löwith selber in seinem ersten Buch. Dieses Bu.ch, d~s betitelt war >Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen<, hatte seInerzeIt in der großartigen Schule, die wir alle bei Martin Heidegger ~~pfangen haben, ein ganz eigenes Anliegen verfolgt: den Menschen als IndIVIduum zu sehen, sowohl gegenüber den Wesensallgemeinheiten des philosophisch~n Denkens als auch gegenüber den sozialen Rollen, die er spielt. Wenn man In einer verkürzenden Form sagen darf, was Löwiths Buch damals in die philosophische Diskussion einzubringen suchtel , so war es die ~rhellung dessen was das Du in seiner radikalen Einzelheit rür das Menschsein bedeutet. D~s war in der damaligen Situation, die letzten Endes durch die Kritik Heideggers an der abendländischen Metaphysik, beso?ders der M~taphysik der Griechen bestimmt war, die Sonderanwendung etner allgemeinen Opposition, die durch Heidegger sichtbar geworden war. Die.Krit~k da:an, da~ der Mensch wesentlich Logos sei und daß das Wesen der DInge thr EIdos seI, fand hier ihre Anwendung auf den Begriff der Person, welcher aus der römischen Tradition stammt und in der neueren Philosophie eines der schwierigsten moralphilosophischen und metaphysischen Probleme ~ar stellt. Als Löwith die Duhaftigkeit des Menschen gegen den allgemeInen Personenbegriff wahrnahm, als er an Pirandello zeigte, daß die Rolle, die der 1
Siehe dazu auch Ges. Werke Bd. 4, S. 234-239.
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einzelne in seinen Beziehungen zu diesem und jenem spielt, sein eigenstes Selbst ist, hat er in einem Teilaspekt an der idealistischen Tradition der Philosophie die radikale Kritik geübt, die vorher schon ihre theologische Aussage durch Männer wie Kierkegaard, Buber, Ebner, Barth, Gogarten und Bultmann gefunden hatte. Ich glaube nun, daß man sehr schön an den weiteren Schritten, die Löwith als junger Dozent tat, die Richtung seines ganzen geistigen Werdens charakterisieren kann. Es ging von diesem ersten Ansatzpunkt einer Kritik des Idealismus weiter, indem Löwith zunächst die Zeugen einer solchen Kritik aufrief: Charakteristischerweise behandelte der erste Aufsatz nach der Habilitation Feuerbachs Kritik an Hegel. Aufsätze über Kierkegaard und Nietzsche, die großen Gegner der idealistischen Spekulation, waren weitere Zeichen dieses eigenen Weges. Da aber zeigte sich ebenso früh eine zweite Komponente, die die Kritik des Idealismus nach einer anderen Richtung fortsetzte, und mir schien es immer (wenn ich hier wieder als Weggenosse sprechen darf), daß die Einordnung in die - wenn auch noch so fragwürdige - Institution der Universität nicht ganz ohne Bedeutung dafür gewesen ist, daß Löwith zunehmend mehr die gesellschaftliche Bedingtheit des Individuums neben die persönlich-mitmenschliche Bedingtheit zu stellen begann. Dabei war es besonders die glanzvollfi Abhandlung über Karl Marx und Max Weber, die der Betrachtung des Individuums die gesellschaftliche Fragestellung zur Seite rückte. Löwith hat in dieser Arbeit zwei Perspektiven gegeneinander abgegrenzt. Er hat vom Standpunkte eines Marx aus Max Webers Gedankenwelt zu beleuchten versucht - und umgekehrt. Er hat dann Marx und Kierkegaard einander gegenübergestellt, Burckhardt und Nietzsche, Goethe und Hegel, und in diesen Konfrontationen begibt sich so etwas wie die Verwandlung einer durch die Grundlegung des ersten Buches gewonnenen Erkenntnis in eine Methode. Perspektivität - das war die ursprüngliche Einsicht jenes ersten Ansatzes schon - ist zugleich ein Aufweis des wahren Seins. Es war gerade nicht so, wie Löwith damals noch zu meinen schien, daß die Perspektivität unseres Daseins es nicht möglich mache, Einsicht in das wahre Sein des Individuums außerhalb der jeweiligen Beziehungen, in denen es steht, überhaupt zu gewinnen. Im Gegenteil, das Individuum ist das Ganze der Perspektiven. Diese Erkenntnis einer >pirandellotischen< Ontologie diente Löwith zur Legitimierung seiner vergleichenden Studien zur Geistesgeschichte. Die Methode der Perspektivik ist keine willkürlich angewendete, sondern jede Perspektive hebt einen Faden aus dem Seinsgeflecht heraus, das da und wirklich ist. Gleichwohl scheint mir - wenn ich mir erlauben darf, so weiter zu deuten, was ich habe entstehen und werden sehen -, daß die Methode der Perspektivik, die Löwith auf die Geistesgeschichte anwandte allmählich und in ihrer weiteren Ausübung immer deutlicher ein Festwerd~n bestimm-
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ter Standorte, bestimmter Ausgangspunkte ergab, von denen aus sich anderes nur noch in der Perspektive zeigte: eine Art Auspendeln der Waage, auf der die Wahrheit erwogen wurde. Wenn Kierkegaard und Nietzsche, ja selbst noch wenn Weber und Marx zusammengestellt waren, so konnte man aus der Relativität beider Positionen eben nur ihre Relativität deutlich entnehmen. Wenn dagegenJacob Burckhardt und Nietzsche in einem Buche in Perspektive gesetzt werden, so war schon deutlich, daß Karl Löwith inJac.ob Burckhardt eine höhere menschliche Wahrheit erschien. Und man wird gleichermaßen spüren, daß die Position, die Goethe gegenüber Hegel einnimmt Löwith näher steht, d. h. wahrer scheint, als etwa die umgekehrte. Das giit schließlich auch für die Wahrheit in Nietzsche selber, und das ist vielleicht die merkwürdigste Entwicklung, die ich in Löwiths Denken sehe: Nietzsche ist für ihn in gewisser Weise, mit allen Einschränkungen, die ~r gegen Nietzsche anbringt, selber eine Art fester Standort geworden, e~n Zeuge gegen das, was er den Historismus nennt. Denn es ~ar .o~fenbar die Absicht Löwiths, zu zeigen, daß eine entschlossene Radlkahslerung des ethischen Denkens die Grenze des Historismus sichtbar macht. Wenn wir uns nun dieses Auspendeln der Waage zwischen einander zugeordneten geistigen Erscheinungen, wie es Löwith noch in zahlreiche.n anderen Fällen herbeizuführen versucht hat, vor Augen stellen, werden wir das Bedürfnis empfinden, uns zu fragen: Aufgrund wovon gewährt Löwith gewissen Perspektiven den Vorzug? Aber dazu werden wir e~st wissen müssen: Wo ist der Standort, von dem aus diese Betrachtungsweise fruchtbar wird? Was ist das Gemeinsame, das Maßsystem, mit dem hier gemessen wird? Ich denke, daß man sagen kann, daß vor allem anderen die Skepsis, ein traditionelles Motiv philosophischer Besinnung seit alters, an den geisti~en Kronzeugen, die Löwith zu zitieren liebt, das Gemeinsame ist,. ~nd da~ diese Skepsis somit auch sein eigenstes Anliegen war.. Aber freIlIch, WIe alle Skepsis hat auch diese Skepsis ihren bestimmten Sinn d~rch. das, . wo~egen sie sich richtet und woran sie sich ausübt. Ich darf vielleIcht m diesem meinem Versuch, eine eigene Perspektive auf Löwith zu verfolgen, die Skepsis Löwiths eine Skepsis gegen die Schule nennen. Unter » Schule« verstehen wir in der Philosophie die zünftige Form der akademischen Wissenschaft seit Schopenhauer, der ihrerseits seit dem späten Altertum die traditionelle Form der philosophischen Schulbildung vorausging. Und wenn ich Löwiths allererstes Auftreten. in de~ akademisc~en Leben Deutschlands hier nachzeichnen darf: Ich besmne mich sehr deutlIch auf mein erstes Zusammentreffen mit ihm imJahre 1920 im Wandelgang der Münch~ner Universität. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, aber mein allererster unbestimmter Eindruck war genau der, daß damals schon das eigentlich~ Anliegen Löwiths, das ihn auch in die Nähe zu dem damalige.n radikal-revolutionären Heidegger brachte, die Kritik an der Schule war, dte
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Kritik an der akademischen Philosophie; die Kritik auch an der Unterweisung, di~ ~er Meister phänomenologischer Einzelforschung, die Husserl uns gab. Kntlk an der Schule ist ein altes Motiv. Sie verfolgt die Schule seit Jahrhunderten wie ihr eigener Schatten. Die französischen Moralisten lebten von ihr ganz, es gibt diese Kritik aber auch - und mit ganz besonderem Recht - im 19.Jahrhundert, als die Professoren in der Philosophie die Oberhand gewannen und nur mehr wiederholten und erneuerten, ohne das Zeitbewußtsein noch zu erreichen. In unserer Jugend hatte die Skepsis Löwiths gegen die Schule erstmals ~nnerhal~ der akademischen Philosophie selber ihre Legitimation gefunden, I~ Begnff des Existenziellen, der insbesondere in Heideggers Auftreten sel~e Verk.örperung erlangte. Aber am Ende sollte auch noch Heideggers PhIlosophie von Löwiths Skepsis verfolgt werden. Wie sich Heideggers Denken seit >Sein und Zeit< vor Löwiths Augen ausbaute, wurde es ihm das reinste ~egenteil dessen, was ihm der existenzielle Appell des ursprünglichen Heldeggerschen Ansatzes zu verheißen schien. Ich kann hier nicht dar.auf eingehen~ warum. Hei~egger selber auf einem so anderen Wege w~Itergegangen 1st,. als es I~ Smne der Kritik Löwiths an der SchulphilosophIe lag. Doch schemt es mIr rur Löwith bedeutsam, daß sich sein Denken in solchen Spannungen formiert hat. Ein z~ei~~r Punkt von Löwiths Skepsis scheint mir die Skepsis gegen alle ~ogmatIk ub~rhaupt, vor allem die einer philosophischen Theologie und' emer spekulatIven Geschichtsphilosophie. Alle spekulative Geschichtsdeutun? erscheint i?m a~s ein unerkanntes und illegitimes Fortleben der Heilsgeschichte. Das 1st dIe Stelle, an der Löwiths skeptisches Denken in die besonde~e Nähe zu einem Zentralmotiv der protestantischen Theologie geraten 1st. Und da ist schließlich als letztes seine Skepsis gegen die Geschichte überhaupt. Da.s ist das Motiv, das Löwith schon an Goethes Mißvergnügen an d~r Geschichte, sc~on anJacob Burckhardts Abscheu vor der Macht und an Nle~zsc~es >Unzeitgemäßen Betrachtungen< angezogen hatte. Positiv for.muhert Ist. es das Motiv der Natur und der Natürlichkeit, das sich hier mit dem skeptIschen Motiv vereinigt. ..D~r Begri~ der Natur scheint fiir die systematische Funktion, die er bei L?wlth geWInnt, beso?ders vorgeprägt. Es wird einem im allgemeinen mcht. bewußt: daß es em Fremdwort ist, das diesen uns natürlichsten aller Begnffe bezelc~et. >Natur< ist ja kein deutsches Wort, und man muß sich fragen, was gleichwohl diesem Begriffder Natur eine solche Sagkraft verliehen hat, daß er in de~ Tagen Rousseaus und Hölderlins »mit Waffenklang erwachen« konnte. Uber die Geschichte des Wortes will ich hier nicht sprechen und nur hervorheben, daß das Wort itn Griechischen wie im Deutschen erst dann philosophisch relevant und zum Begriff geprägt wird,
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. wenn Natur vom Gegensatz des Menschlichen her gesehen wird, z. B. im Gegensatz zu Kunst oder auch im Gegensatz zum Supranaturalismus der kirchlichen Orthodoxie, also erst dann, wenn es nicht hur die bloße natura rerum~ die >Natur von etwas( meint. Es liegt nun eine tiefe sachliche Wahrheit darin, daß sich der Skeptiker aufdie Natur beruft. Die Skepsis ist zuletzt und vor allem gegen die luftigen Gebilde des philosophierenden Geistes gerichtet. So sucht Löwith gegenüber der spekulativen Auflösung alles Handfesten die N"atur als die Konstante der Wirklichkeit, den Granit, der alles trägt, zur Geltung zu bringen. Mit dem Thema der Natur und der Natürlichkeit kommt aber der Sache nach das älteste Motiv der abendländischen Metaphysik zu Worte, das Motiv der Physis, freilich in polemischer Form, die gegen die Reflektiertheit der Philosophie wie gegen den Geist des technischen Denkens der Neuzeit gerichtet ist. In der Tat wurde es Löwiths philosophisches Hauptanliegen, den Problemhorizont der einen einheitlichen Welt als philosophisches Thema wiederzugewinnen. Eine Reihe von Abhandlungen, die er der Kritik der geschichtlichen Existenz (1960), der christlichen Überlieferung (1966) widmete, sowie einige Beiträge zur Arbeit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften dienen diesem Ziele2 • A So ist er auf dem Wege über die Skepsis zu einem Anwalt ältester Wahrheiten der abendländischen Metaphysik geworden, und mir scheint, daß sich in diesem Bogen, den sein Denken durchlaufen hat, eine echte philosophische Funktion der Skepsis an ihm bewährt hat: das zu erhärten, was keine Skepsis umbringen kann, weil es als überlegene Wahrheit standhält.
Thrasyboulos Georgiades Thrasyboulos Georgiades, von Geburt Grieche, seines Zeichens Musikhistoriker, war im Rahmen seines Faches eine höchst ungewöhnliche Erscheinung. Aber es läßt sich kaum ein Rahmen denken, in dem er nicht eine höchst ungewöhnliche Erscheinung gewesen wäre. Als er, ein anerkannter Gelehrter, imJahre 1974 in den Kreis des Ordens >Pour le merite< aufgenommen wurde, ging ihm der Rufvoraus, nicht nur einer der führenden Musikhistoriker unserer Zeit zu sein, sondern selbst fast so etwas wie ein Musiker, ein musischer Historiker, dem sein Forschungsfeld Präsenz hatte, nicht die Inzwischen liegen seine >Sämtlichen Schriften< in neun Bänden im Verlag]. B. METZ(Stuttgart 1981-88) vor, mit einem Ergänzungsband >Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht< (Stuttgart 1986). 2
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von Dokumenten und Noten, sondern die klingende Präsenz der Töne. Und in der Tat: Wie sein Feld für ihn, so war er selbst von zwingender Präsenz, der große Kopfzwischen breiten Schultern, die starke Gestik des Südländers und vor allem seine Art zu sprechen. Seine Beherrschung der deutschen Sprache war vollkommen, seine Vertrautheit mit der deutschen Dichtung ein elementares Faktum seiner geistigen Existenz - er gehörte der deutschen Sprachwelt ganz und gar an. Und wenn er sprach, sehr artikuliert, langsam, zögernd, das rechte Wort suchend und findend, war dies Sprechen wie ein schöpferisches Entdecken: als ob jedes Wort aus dem Granit der Sprache eben herausgehauen würde, scharfkantig, von blitzender Neuheit und von einer Nennkraft, die noch den Meißelschlag des Sprechers nachzitternließ. Aber so war er. Das war seine Natur, immer derselbe, ob er im intimen Gespräch sich ganz zuwandte oder in größerem Kreise das Wort nahm -er >nahm< förmlich das Wort -, oder ob er vom Vortragspult aussprach und seine Sache, das flüchtige ·Zeitleben der Töne, mit Worten und mit der Gestik der Stimme und der Hände wahrhaft hinzauberte - durchaus kein >Redner<, kein anspruchsvoller Stilist, fast formlos, selbstvergessen in seiner Sache aufgehend. Seine Sache aber war die Musik. Sie hatte ihn unwiderstehlich angezogen, von Jugend an, und als er, damals schon ein junger Bauingenieur, mit 23Jahren nach München kam, wurde er der Schüler des dortigen Musikhistorikers Rudolf von Ficker, dessen Nachfolger er eines Tages sein sollte. Seine Frau wurde die Cembalistin Anna Barbara Speckner. Zu seinen Lehrern und Freunden zählte auch Carl Orff. Damals hat es sich entschieden: Er wählte Deutschland, er wurde Historiker. Aber er war Grieche, und für ihn war die Musik nicht nur der Gegenstand seiner Liebe und seiner Erkenntnisinteressen, sondern eine elementare Mitgift seiner griechischen Heimat. Die griechische Volksmusik - an deren rhythmischer Kraft er sogar etwas von der antiken Musik wiederz~erkennen suchte - bildete den Hintergrund, von dem aus er sich selbst begriff, er, der vonjugend aufein glühender Bewunderer der Wiener Klassik war. Wie dies reifen konnte, wie die Musik >absolute< Musik wurde, diese lange Geschichte der abendländischen Musikentwicklung von den Griechen an war es, dem fortan seine Forschung galt. So wurde er ein adoptier.ter Sohn der romantischen Geisteswissenschaften. Er sollte ihnen Ehre machen. Nun ist das Verhältnis von Sprache und Musik mindestens seit dem gregorianischen Choral für die abendländische Musikgeschichte derart bestimmend, daß ihm von jeher das Interesse der Musikforscher gegolten hat. Was Georgiades auszeichnete, war seine wahrhaft philosophische Gabe, die ursprünglichen Phänomene selbst, Wort und Ton, Nennen und Erklingen, in ihren Strukturen zu durchleuchten und damit das Wechselverhältnis von Sprache und Musik von ihrem Zeitbezug her so tief zu erfassen, daß die
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>absolute Musik< selber wie eine eigene Sprache sichtbar wurde, mit ihrer eigenen Syntax: der Satztechnik - und das so, daß dennoch ihr durch ihre eigene Zeitgestalt bestimmtes Verhältnis zum Wort niemals unkenntlich wird. Das Verhältnis von Sprache und Musik blieb ihm das Leitmotiv seines Denkens und Forschens. Den Höhepunkt bildete für ihn das Mozartsche musikalische Theater und die musikalische Lyrik Schuberts. Er deutete sie als zwei verschiedene Möglichkeiten der zu ihrer Reife gelangten abendländischen Geschichte der Musik. Da ist die Wiener Klassik, sie ist das absolute Geschehen in Tönen, immer Selbstbegegnung des Menschen, Zeit und Geist, und somit in einem wesentlichen Sinne Schau aufsich selbst, das heißt >Theater< - im Unterschied zu der selbstvergessenen Selbstaussprache des lyrischen Ich, die in Wort und Tönen des Liedes Gestalt wird: zwei Vollendungen, die für Georgiades ein Ende bedeuteten. Die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts blieb ihm demgegenüber kunstvoller Nachhall oder reines Experiment. Bezeichnend, daß er angesichts der extremen Auszeichnung, die Adorno der Musik Alban Bergs zuerkannt hatte, für den neoklassizistischen Strawinsky mit Entschiedenheit Partei nahm. Entschiedenheit - das war überhaupt einer seiner Wesenszüge, und wie alle Lehrer von großer und zwingender Entschiedenheit wirkte er eminent schulbildend. Was er von seinem griechischen Blutserbe in die geschichtliche Erkenntnis eingebracht hat, hängt nicht davon ab, ob sich die Kontinuität mit der griechischen Musik, die er behauptete, beweisen läßt. Aber daß Musik zeitlicher Vollzug und Erklingen ist und die Komposition, die sich aufzeichnen läßt, den Grundcharakter einer Handlungsanweisung nicht überschreitet, das gab ihm gegenüber den philologisch-historischen Methoden der modernen Wissenschaft, die er voll beherrschte, eine zusätzliche Orientierung. Es versteht sich, daß ein Mann, der solche Präsenz ausstrahlte, nicht eigentlich ein Mann der Bücher war. In Vorlesung und Vortrag gab er sein Eigentlichstes. Und wenn seine Freunde und Bewunderer, zu denen ich selbst zähle, von ihm ein grundlegendes theoretisches Buch über Nennen und Erklingen erwarteten und ein seine historische Forschung krönendes Werk über die Wiener Klassik - wir hoffen noch, daß der Nachlaß einiges von diesen Hoffnungen erfüllt! -: er selbst zog es vor, das ganze reiche Instrumentarium seiner Einsichten und seines Wissens am Einzelthema ins Spiel zu bringen. So ist auch sein Schubertbuch )Schubert: Musik und Lyrik< ein imponierendes Ineinander minutiöser Beobachtung und Analyse auf der einen Seite und von ins Weiteste zielenden Perspektiven philosophischer und 1 Vgl. mittlerweile THRASYBOULOS GEORGIADES, Nennen und Erklingen: Die Zeit als Logos. Aus dem Nachlaß hrsg. v. IRMGARD BENGEN. Mit e. Geleitwort v. H.-G. GADAMER. Göttingen 1985.
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historischer Art auf der anderen Seite. Ergänzt durch eine Sammlung seiner kleinen Schriften, die von seinen Schülern im Januar 1977 zu seinem siebzigsten Geburtstag herausgebracht wurde, steht sein Lebenswerk vor uns. Es wird noch auf lange hinaus seine Wirkung tun und nach Ausschöpfung verlangen. Das Bild dieses in griechischer Kultur erzogenen, im süddeutschen Katholizismus großgewordenen Mannes wäre aber unvollständig, die Weite seines Geistes entschieden unterbestimmt, wenn man nicht zwei Namen heraufriefe, die für den Musikforscher wie für den musischen Menschen, der Georgiades war, von bestimmender Bedeutung wurden, zwei Protestanten reinsten Wassers. Ich meine Heinrich Schütz, der das Vermächtnis der Reformation in musikalische Schöpfungen umsetzte, die von der Nennkraft und Anredekraft des Predigtwortes etwas in sich aufnahmen, - und ich meine Friedrich Hölderlin, dessen dichterischer Ton mit dem Personalstil von Georgiades auf unwiederholbare Weise zusammenklang. Seine Dichtweise und Georgiades' Sprechweise, die ich oben beschrieb, waren wie füreinander geschaffen. Und überdies: Der deutsche Sänger, der das Griechische suchte, mußte dem Sohne Griechenlands, der das Deutsche fand, wie ein Unterpfand sein, das ihm seine zweite irdische Heimat verbürgte.
Fritz Kaufmann Fritz Kaufmann hat seinen geistigen Werdegang und die Prägung seiner philosophischen Persönlichkeit in dem Kraftfelde erfahren, das in denjahren nach dem Ersten Weltkriege die Freiburger phänomenologische Schule darstellte. Was damals von dem redlichen und ganz von der Größe seiner Mission durchdrungenen Husserl ausging, läßt sich nur schwer beschreiben. Die große, wahrhaft monumentale Geduld, mit der Husserls an der »Ehrlichkeit« mathematischer Evidenz geschulter Geist die Aufgabe anpackte, durch die neue phänomenologische Methode, die er entwickelt und theoretisch gerechtfertigt hatte, die Philosophie zur »strengen Wissenschaft« zu machen, gewann eine unerwartete Einschlagskraft in das Bewußtsein einer Zeit, deren stolzes und selbstgewisses Kulturbewußtsein mit einem Schlage zusammengebrochen war. So unglaubhaft das heute erscheinen mag - in den Wirren der ersten Nachkriegsjahre war die Parole »ZU den Sachen selbst!«, die Husserls Phänomenologie der vom Systemglauben beherrschten Philosophie des Neukantianismus entgegenstellte, wie eine Heilsbotschaft erklungen.
Fritz K~ufmann
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Unzweifelhaft waren die Erwartungen, mit denen damals eine junge Generation sich in die methodische Zucht der phänomenologischen Schule begab, auf weit mehr gerichtet als auf die Begründung der Philosophie als strenger Wissenschaft. Unklare religiöse, politisch-gesellschaftliche und moralisch-existenzielle Bedürfnisse, die mit dem Zusammenbruch der Vorkriegskultur ihre Erfüllung, ja, jede Orientierung verloren hatten, gärten in einer suchenden Generation. Es mußte zu gewaltigen Stauungen führen, wenn sich diese Jugend mit dem Entwurf eines langfristigen philosophischen Forschungsprogramms und mit der minutiösen Analyse so alltäglicher und unproblematischer Phänomene wie dem der Dingwahrnehmung konfrontiert sah. Die produktive Entladung, die aus dieser geistigen Spannungslage und Stauung befreite, ereignete sich dadurch, daß der junge Martin Heidegger in den Verband der phänomenologischen Schulgemeinschaft eintrat und als junger Freiburger Privatdozent die Gleichaltrigen wie die Jüngeren in den Strudel eines radikalen, revolutionären Fragens zog. Fritz Kaufmanns erste Studien, die allen seinen späteren Arbeiten die Richtung wiesen, sind von dem plötzlichen Einbruch der radikalen Fragegesinnung geprägt, die das junge Genie Heideggers in das ruhige Gleichmaß der phänomenologischen Arbeitsweise gebracht hatte. Schopenhauers Angriffe gegen die Kathederphilosophen, ja, selbst Nietzsches zerstörerischer Extremismus, der die gesamte Tradition der abendländischen Philosophie herausforderte, übertrafen kaum die radikale Selbstkritik, mit der der junge Heidegger vom Freiburger Katheder aus mit der akademischen Philosophie und ihrer angemaßten Voraussetzungslosigkeit ins Gericht ging. Während aber so manche, und insbesondere die Jüngeren, der Faszination dieses Radikalismus so sehr erlagen, daß sie zu dem Forschungsemste der Husserlschen Phänomenologie überhaupt keinen Zugang mehr fanden, gehörte Fritz Kaufmann mit Heidegger selbst, mit Wilhelm Szilasi und Oskar Becker zu denjenigen, die das Erbe des verehrten Meisters phänomenologischer Disziplin mit der Hingabe an die neuen revolutionären Parolen zu verbinden trachteten. Was Fritz Kaufmanns unmittelbarstes philosophisches Interesse gefangennahm, war mit der musischen Sensibilität, dem hohen Geschmacksniveau eines vielseitig gebildeten Mannes einerseits, mit der Hingabefähigkeit und Verehrungsbereitschaft eines zarten und in sich gekehrten Wesens auf der anderen Seite gegeben. Es war der Bereich des Ästhetischen, der dubiose Reiz ästhetischer und künstlerischer Erfahrung, der ihm sein Problem stellte, das ihn bis zu seinem Tode festhalten sollte: das Sphinx-Antlitz der Kunst, ihr Blick wie aus zwei Augen. Die Probleme der Asthetik nahmen in Husserls phänomenologischem Forschungsprogramm, das von den elementaren oder für elementar gchalte-
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nen Phänomenen ausging, die der bisherigen Erkenntniskritik den Boden entziehen sollten, eine'äußerste Randstellung ein. Wohl hatte Husserl gegenüber dem Wahrnehmungsbewußtsein, in der Kritik an der erkenntnistheoretischen Bildtheorie, gelegentlich aufdie Sonderprobleme hingewiesen, die die »Neutralitätsmodifikation « des ästhetischen Bildbewußtseins stellten und ließ auch eine gewisse Affinität zwischen der phänomenologische~ Wesensforschung und dem Wesensblick des schaffenden Künstlers empfinden. Aber eine eigene Ausarbeitung dieser Problemzusammenhänge war noch zu leisten. Fritz Kaufmann konnte hier anknüpfen. Indessen bedeutete der gewaltige philosophische Impuls, den Fritz Kaufmann von dem jungen Heidegger empfing, keine einfache Ermutigung seiner ästhetischen und phänomenologischen Interessen, sondern ihre radikale Infragestellung. Man braucht sich nur dessen zu erinnern, daß der Begriff der »)Existenz«, der den damaligen philosophischen Tendenzen einen einheitlichen Ausdruck gab, durch Kierkegaard, den erbitterten Kritiker des »ästhetischen Stadiums« der menschlichen Existenz, in dem Sinne geprägt worden war, der nun zum Widerklingen kam. Zwar war im deutschen Idealismus, insbesondere durch Schelling, die hohe Nachbarschaft zwischen Kunst und Philosophie, zwischen der produktiven und der transzendentalen Einbildungskraft, zwischen der künstlerischen und der intellektuellen Anschauung aufgezeigt worden, so daß die Kunst geradezu als ein Werkzeug, ein Organon der Philosophie gewürdigt werden konnte. Aber durfte man sich, nach Kierkegaards Angriff auf die Reflexionsphilosophie, nach Husserls Diskriminierung aller dialektischen Konstruktion, nach Heideggers existenzieller Kritik an allem von der griechischen Substanzontologie überfremdeten Subjektivitätsdenken auf solche Vorbilder noch berufen? War nicht der ganze Begriff des Ästhetischen und insbesondere der des »ästhetischen Bewußtseins« durch den Aufweis seiner griechischen Abkunft einer radikalen ontologischen und existenziellen Kritik verfallen? War es nicht die Weltverfallenheit dieses Denkens, das im ästhetischen Phänomen seine radikalste Zuspitzung hatte? Und war das ästhetische Bewußtsein nicht damit als das Extrem der Uneigentlichkeit des Daseins erwiesen, wie es Kierkegaard geschildert hatte? Und wenn man schon der Eigenart des ästhetischen Bewußtseins seine phänomenologische Legitimation nicht ganz vorenthalten konnte, sofern dieses ästhetische Bewußtsein ein unleugbares Moment unseres Bildungsbewußtseins darstellt, mußte eine solche Legitimation, nachdem man sich in bewährter phänomenologischer Manier der eigenen Wesensstruktur des ästhetischen Bildbewußtseins deskriptiv bemächtigt hatte, nicht gerade seine Abkünftigkeit als die Verfallsgestalt ursprünglicheren Existenzverhaltens erweisen? In der Tat spürt man der frühesten Kaufmannschen Arbeit, die )Das
Bildwerk als ästhetisches Phänomen< behandelt, den Zwiespalt zwischen der erlernten phänomenologischen Beschreibungskunst und dem neuen Anspruch existenzieller Kritik und Motivationsableitung an. Die »phänomengeschichtliche« Seite der vorgelegten Untersuchung sucht dem letzteren Bedürfnis Rechnung zu tragen. Der Herkunftsnachweis, den Kaufmann unternimmt, zeigt überdies, welche anderen Interessen und Empfänglichkeiten ihn bestimmten, die mit dem Anspruch radikaler Selbstbekümmerung, der ihm durch Heidegger geweckt worden war, verschmolzen. Die Zeitgenossenschaft des jungen Heidegger mit der Kunstgesinnung des Expressionismus war ohnehin unverkennbar. Sie ging in Kaufmanns Erstling ein, sofern der Sinn für archaische Kunstwelten, für die ägyptische Kunst, für die Kunst der Primitiven, für die Höhlenzeichnungen und überhaupt der Sinn für religiöse und sakrale Bildfunktion den Herkunftsnachweis des ästhetischen Bildbewußtseins beherrscht. Dem Historiker unseres Jahrhunderts wird auch die ausdrückliche Anknüpfung an Heideggers erste Freiburger Vorlesungen von dokumentarischem Interesse sein. Nicht nur die Nachbarschaft zu Georg Simmel fällt in diesen (nicht eigentlich authentischen) Umschreibungen Heideggerscher Anregungen auf, die den Existentialsinn des Ästhetischen herausarbeiten, sondern ebenso die U rsprünglichkeit der Begriffsbildung (» Welten«, »Sich-Ausweiten«), durch die das Hegelsche Problem der Objektivation des Geistes von Heidegger fort- und umgestaltet wurde. Indessen, so sehr demjungen Philosophen durch Heidegger die Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins eingeschärft worden war, die Aufgabe, die ihm, so wie er war und sich anzunehmen hatte, gestellt war, mußte eine Rechtfertigung desselben sein. Schon in der Dissertation kündigt sich das an, »ob es nicht eine Möglichkeit gibt, in der AusweItung statt des aktuellen, von Sorgen befangenen und zerstreuten Unwesens, jenes Wesen darzutun und eben in diesem Ausgestalten erst eigentlich zu realisieren, das im Abstoß von allen diesen Unfreiheiten und Zersplitterungen gesammelt in sich und aus sich lebt«. Daß die künstlerische Gestaltung (und ihr N acherleben) eine solche Möglichkeit sei, war schon damals Kaufmanns Überzeugung, und schon damals sah er die existentielle Rechtfertigung des ästhetischen Phänomens darin, »daß die Verständnismöglichkeiten für fremdes Wesen und damit für eine echte Gemeinschaft mit ihm durch seine wahrhaftige Offenbarung im Werke gesteigert und erweitert werden«. Gewinn und Verlust halten sich hier nach Kaufmann die Waage. Je mehr die bindende Kraft gemeinsamen Lebens, wie sie ursprünglichen, religiös gebundenen Zeiten eigen ist, schwindet, desto mehr fällt dem Künstler zu, in dessen bildnerischem Ausdrucksvermögen der schöpferische Grund allen Weltwesens sich manifestiert. Die Selbstvergewisserung des eigenen Schöpferturns, die zuerst bei Michelangelo alle religiösen Inhalte in sich zieht,
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macht die eigentliche Wahrheit unseres Zeitalters aus, eine höchst bedenkliche, die endlichen Möglichkeiten des Menschseins vielfach übersteigende Wahrheit. Der Zwiespalt zwischen der universalen Ausgesetztheit des Künstlers und den Bindungsforderungen des mitlnenschlichen Lebens ist unlösbar. Die Tragödie des Künstlertums t die unauflösliche Zweideutigkeit, die mit der »weißen und schwarzen Magie der Kunst« gegeben ist, verbietet es, die gemeinschaftsbildende Funktion des ästhetischen Bewußtseins zu überschätzen. Aber daß der Künstler und die Kunst als die großen Stellvertreter zu gelten haben, durch die uns ein tieferer Einklang mit dem Unendlichen erfahrbar bleibt, und daß die ästhetische Erfahrung damit eine letzte Rechtfertigung findet, ist offenbar das Thema aller Denkversuche, die Kaufmann vorgelegt hat. Es war sein Plan, dieselben in einer systematisch durchgeführten Philosophie der Kunst zusammenzufassen, als ihm der Tod die Feder aus der Hand nahm. So sind es Bausteine zu einem solchen großen Gebäude, die er uns hinterlassen hat. Da ist ein erster großer Teil, der von seinen phänomenologischen Anfangen her die philosophische Durchdringung des ästhetischen Phänomens in fortschreitenden Versuchen in Angriff nimmt. Die Linie dieser systematischen Grundlegung ist nicht bis zu Ende ausgezogen, als Fritz Kaufmann Deutschland verlassen mußte. Die systematischen Konsequenzen, die sich am ehesten noch in der 1934 erschienenen Arbeit >Sprache als Schöpfung< angedeutet finden, müssen aus den konkreten Studien zur Philosophie der Kunst herausgelesen werden, die Fritz Kaufmann später veröffentlicht hat, vor allem auch aus seinem großen Buch >Thomas Mann: The World as Will and Representation< (1957) und seiner Auseinandersetzung über >Karl]aspers und die Philosophie der Kommunikation< (1956). Die englische Übersetzung von Vorstellung, representation, die im Titel des Thomas-Mann-Buches erscheint, stellt einen indirekten Hinweis auf die tragende systematische Grundanschauung Fritz Kaufmanns dar. So angemessen Schopenhauers >Welt als Wille und Vorstellung< den weltanschaulichen Horizont Thomas Manns umschreibt, das philosophische Bemühen eines Mannes, der sich zwischen die Forschungsaufgaben des transzendental gereinigten Bewußtseins der rIusserlschen Phänomenologie und Heideggers grimmige Apotheose der Faktizität des menschlichen Daseins gestellt sah, mußte hinter den Dualismus Schopenhauers wie hinter den deutschen Idealismus auf die metaphysische Wurzel zurückgewiesen werden, in der Wille und Vorstellung ursprünglich vereinigt sind: aufLeibniz, bei dem die Ideen Kräfte sind und für den» Vorstellung«, repraesentatio, nicht nur ein Aktcharakter des menschlichen Bewußtseins war, sondern ein. metaphysisches Grundprinzip, die Seinsweise der Monade, die ist, indem sich das Universum in ihr spiegelt. Sein heißt Sichdarstellen (esse = repraesentari). Die Analyse der konstitutiven Probleme, durch die sich für das reine Bewußtsein
Fritz Kaufmau!"'
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alle Objektgeltung gestaltet, mußte auf deIn. Grunde der Leibüiz::1chen Metaphysik ihr tieferes ontologisches Fundament fmden. Denn dort war die Selbstkonstitution alles Seienden gedacht, die in der transzendenta~enKonstitution im reinen Bewußtsein ihre phänomenologische Ausarbeitung erfährt - oder anders ausgedrückt: Dort werden die konstitutiven Leistungen des Bewußtseins bis auf die das Universum konstituierenden Kräfte zurückverfolgt. Diese Zurückführung aber fmdet ihre Ausweisung im schöpferischen Vermögen des Künstlers, dessen Werk Selbstdarstellung und Weltkonstitution zugleich ist. Leibniz und Spinoza, aber selbst noch Kants Theorie des Genies als des »Günstlings der Natur« stehen dafür, daß die phänomenologische Methode gerade in ihrer Anwendung auf das Phänomen der Kunst und des Künstlers die letzte Einheit von Natur und Geschichte erreicht und damit auf Gott als den absoluten persönlichen Seinsgrund weist. So etwa mag sich die metaphysische Rechtfertigung des Schöpferischen der künstlerischen Seinserfahrung skizzieren lassen, die Fritz Kaufmann vorschwebte. Dieser Grundlage schließen sich eindringliche Einzelstudien zu großen Künstlern der Neuzeit an, deren Werk und deren Selbstdeutung die beiden Aspekte des Künstlertums vorbildlich darstellen. Daß die Reihe dieser kostbaren kleinen Monographien mit Michelangelo beginnt, versteht sich von jener Richtung auf die Selbstvergewisserung des Schöpferischen her, die Kaufmann bei ihm zuerst gewahrt; daß sie mit Rilke und Thomas Mann endet, in denen das Leiden an dem Zwiespalt mitmenschlicher Verbindlichkeit und künstlerischer Zweideutigkeit mit schonungsloser Aufrichtigkeit zur Darstellung kommt, entspricht dem schwermütigen Grundton, der durch alle Äußerungen Fritz Kaufmanns hindurchklingt. Und doch ist es mehr als bloße Hoffnungswilligkeit und mehr als eine verklärende Verheißung, wenn der dritte Teil des großen kunstphilosophischen Werkes, an dem Fritz Kaufmann arbeitete, Kunst als »Feier des Daseins« zu würdigen beabsichtigte. Es sind vor allem zwei Dokumente, die die Reichweite und die Tiefe der positiven Wendung, auf die Fritz Kaufmann gerichtet war, zeigen: die Berufung· auf Goethe, der sich aus einem »dunklen Produkt der Natur« in ein »klares Produkt seiner selbst« erhoben hat und für den »der Mensch - und zuhöchst der künstlerische Mensch - die schöpferische Mitte in dem Prozeß universaler Mitteilung des Seins ist«; und die Würdigung des »herzzerreißenden De Profundis der deutschen Seele, das Thomas Mann Doktor Faustus genannt hat«. Wenn Kaufmann dort am Ende schreibt: In ihrem eigenen Überschwang ))wandelt« so die Trauer ))den Sinn« - ihren Sinn und den des Menschen: »Sie schwingt aus ihrem Dunkel über ins Licht«, so ist dies nicht nur ein schönes Zeugnis der in ihm selbst wirksamen Kräfte der Versöhnung, es zeigt auch an, wieweit jene »vertiefte Philosophie der Kommunikation« gereicht hätte,
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die den »finalen Idealismus« in ein neues Licht rücken sollte - »als einen nicht bloß ästhetischen Idealismus«.
Emilio BettiNiemand kann über seinen Schatten springen. Das gilt ebenso, wenn ich über Emilio Betti und zu seiner Ehre das Wort ergreife, wie es für Emilio Betti galt, der in Heidegger, in Bultmann und in mir selber immer nur schwere Irrtümer zu sehen meinte. Natürlich bedauerte ich es, daß er das Gemeinsame und die Gemeinsamkeit der Aufgabe, die ich mit ihm teilte, nicht wahrhaben wollte. Dabei war nichts von persönlichem Übelwollen im Spiel. Ich erinnere mich genau jenes Heidelberger Vortrags, als er auf meine Einladung in meinem Seminar sprach. Die Spannung und Erregung, mit der er auftrat, war ganz unverkennbar, aber es war weder Feindseligkeit darin noch freilich auch die Toleranz, die er selber so hoch einstufte. Gewiß hoffte er mich zu überzeugen. Aber dessen bedurfte es kaum. Was er bekämpfte, war nichts, worin ich mich überhaupt wiedererkennen konnte. Ich schätzte und verehrte in ihm einen ganz erstaunlichen Mann, einen Rechtshistoriker von internationalem Ansehen, der zugleich ein treuer Erbe und ein glühender Anwalt der Philosophie des deutschen Idealismus war wie wohl kein zweiter. Sein >Hermeneutisches Manifest< von 1954 hatte ich seinerzeit mit Bewunderung gelesen, fast wie eine Erinnerung an das, was mir selber in der Tradition meiner Herkunft ständig vor Augen war. Ach nein, ich unterschätzte die Dankesschuld gegenüber dem Idealismus nicht, unter der wir Heutigen allesamt stehen. Wir alle - das schließt Heidegger und Bultmann ebenso wie Emilio Betti ein. Im Grunde war unsere deutsche Problemsituation auch gar nicht so verschieden von der, ~or die sich Betti gestellt sah, als er sich von dem beherrschenden Einfluß Benedetto Croces zu befreien suchte. Er mag davon selber etwas empfunden haben, obwohl wir natürlich verschiedene Sprachen sprachen und aneinander vorbeiredeten. Jedenfalls verlief sein Besuch sehr freundschaftlich. Er lud mich dringend ein, ihn auf seinem Gut zu besuchen. Vermutlich erhoffte er von mir doch, ich könnte lernen, über meinen Schatten zu springen. Aber ich sah gar nicht, wohin ich springen sollte. Für mich war Croces Abwertung der Objektivität in den Naturwissenschaften zur bloßen »Praktik« und die globale Theorie des schöpferischen Ausdrucks, die er aus dem Hegelianismus entwickelt hatte, nicht so wie für Betti ein Druck, der auf ihm lastete. Daß das Streben nach Objektivität das Verhalten der Wissen-
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schaft nur in begrenztem Sinne definiert, war mir selbstverständlich. Auch die Problematik des historischen Relativismus, die Dilthey und Troeltsch in Atem hielt, hatte nichts Bedrohliches fur jemanden, der an Heidegger die leibhaftige Überwindung des Historismus durch die Kraft des Gedankens erlebt hatte. Die kurzschlüssige Wendung zu einem >realistischen< Objektivismus hatte ich nicht mehr nötig. Oh, ich verstand schon, was ihn bewegte. Er empfand wie wir alle die ganze Wucht der Geschichte und unserer eigenen Geschichtlichkeit, und nun suchte er den relativistischen Konsequenzen, die darin drohen, zu entgehen. Was uns in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg umgetrieben hatte, mochte für ihn in der faschistischen Ara und nach ihrem Ende eine neue Dringlichkeit gewonnen haben. Sicher war ihm dabei das Schauspiel der zeitgenössischen Rechtswissenschaft und ihrer Akkomodation an die Macht ein beständiger Ansporn, Abstand zu gewinnen. Leider orientierte er sich dabei nicht an neueren Entwicklungen des philosophischen Gedankens, sondern an jener Art von phänomenologischem Realismus, den Max Scheler und Nicolai Hartmann aus dem frühen Husserl herausgelesen hatten. So erschien ihm Heidegger als ein Rückfall in den Historismus und meine eigene Weiterfuhrung Heideggerscher Gedanken und insbesondere auch mein Versuch, mich gegen die große hermeneutische und geschichtsphilosophische Tradition des deutschen Idealismus von Schleiermacher bis zu Diltheyabzusetzen, als ein vermessenes Unterfangen. In Wahrheit wäre ich der letzte, zu leugnen, daß wir alle noch immer im Schatten Hegels stehen. Aber freilich - wer wäre denn bereit, in dem Vernunftglauben Hegels sich selber ganz wiederzuerkennen? Ein Jahrhundert der Kritik am Selbstbewußtsein, wie sie durch Marx und Nietzsche, durch Freud und Heidegger vorwärtsgetrieben wurde, läßt sich nicht auslöschen. Da fugt der Halbschatten Croces und die Emanzipation von ihm, die Betti betrieb, kaum etwas hinzu. Betti schien mir zwar die Aufgabe richtig zu sehen. Es war ja seine eigenste Sache gewesen, die innere Wechselwirkung zwischen dem rechtshistorischen und dem rechtsdogmatischen Interesse zu verteidigen. Aber seine erkenntnistheoretische Naivität verwickelte ihn in einen krassen Psychologismus, wenn er den Akt des Verstehens als den gegenläufigen Prozeß zum Akt des Schaffens auffaßte. Das ging mit seinen im übrigen gesunden Einsichten über die ratio legis nicht zusammen. Hier tritt die Halbherzigkeit, mit der er der Tradition des deutschen Idealismus folgte, deutlich zutage. Denn die Entsprechung von Schaffen und Denken hatte im spekulativen Idealismus der Identitätsphilosophie ihren Grund. Es ist nur die Wirkung Schleiermachers auf die Psychologie, nicht aber sein spekulativer Idealismus, was Betti inspirierte. Auch ich selber hatte es mir mit meiner Schleiermacherkritik etwas zu leicht gemacht. Ich hatte dem Umstand nicht genü-
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gend Rechnung getragen, daß Schleiermachers >Hermeneutik< von seiner >Dialektik< gefolgt war und daß dort die spekulative Verflechtung von Denken und Sprechen und der Wahrheitsbezug, der das Denken leitet, das ausdrückliche Thema bildeten. Freilich bleibt Schleiermachers künstliche Abtrennung der hermeneutischen Fragestellung von der auf Erkenntnis gerichteten Dialektik in meinen Augen unbefriedigend. Weit mehr mußte es mir aber unbefriedigend sein, wie Betti seine Typenlehre der Auslegung aufstellte. Da stellte er die sogenannte wissenschaftliche Auslegung ganz für sich und trennte sie von der reproduktiven wie von der praktischen Anwendung gänzlich ab. Statt in dem reproduzierenden Künstler oder dem praktizierenden Richter oder Seelsorger an erster Stelle das kognitive Moment hervorzuheben und dann erst als einschränkende Bedingungen die Realisation durch schöpferisches Tun einzufiihren, drehte sich flir ihn die Sache förmlich um. Der naive Objektivismus, durch den er die wissenschaftliche Auslegung auszuzeichnen suchte, zwang ihn, diese anderen Formen der Auslegung, die schöpferische Auslegung, völlig davon abzusetzen - statt gerade die Unlösbarkeit von Verstehen und Auslegen in ihnen allen anzuerkennen. Er wollte nicht wahrhaben, daß die zusätzlichen Entscheidungen, die der Übersetzer, der Schauspieler, der Musiker zu treffen haben, ebenso wie die praktischen Entscheidungen des Richters oder des Seelsorgers, im Verstehen entspringen und das Richtmaß des >rechten< Verstehens ganz und gar gelten lassen. Im Hinblick aufdiese Fragen habe ich selber von der ästhetischen Nichtunterscheidung gesprochen 1, die im besonderen in den reproduktiven Künsten die entscheidende Rolle spielt, sofern die Art und Weise der Reproduktion nicht eigentlich zum Gegenstand wird. Im gleichen Sinne bleibt das kerygmatische Moment für den Theologen, das Bestreben nach gerechter Lösung flir den Richter und das Gericht maßgeblich. Das macht deutlich, daß der Begriff des Objektes und der Objektivität dort nicht ausreicht, wo es sich nicht um die Bemächtigung eines Gegenstandes und die Überwindung eines Widerstandes handelt, sondern um die Wiedergewinnung einer Teilhabe an Sinn. Das aber nennen wir Verstehen. . Man wird auch nicht im Ernst die ehemalige Scheidung von Tatsache und Wert erneuern wollen. Das wollte auch Betti nicht. Wenn Betti einmal mit Nicolai Hartmann die Erkennbarkeit der Werte mit der der theoretischen >Kategorien< in Parallele setzt, erkennt er in beiden Hinsichten das subjektive Moment der Perspektive durchaus an. Aber freilich, wenn er die Objektivität der Erkenntnis als Maßstab verteidigt, mochte das für die wissenschaftliche Forschung eine angemessene Beschreibung sein, die den Prozeß von Fortschritt und Annäherung, die das Schrittgesetz der wissenschaftlichen 1
>Wahrheit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1), S. 122ff.
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Arbeit sind, gut formuliert. Aber wenn er die Objektivität auch auf unser Wertgefühl erweitert, verwickelt er sich durch eine sol.che ~arallel~sierung in heillose Aporien. Der Wertforscher kommt dann In dIe prekare, um nicht zu sagen: lächerliche Rolle eines überlegenen Richt~rs über d~e Vor- . züge und Einseitigkeiten gelebter Ethosgestalten und nImmt gleIchsam selber eine Art Oberethos in Anspruch. Nicolai Hartmann hatte es den Wert der Wertfülle genannt. Ich war selber nicht zuletzt von Nicolai Hartmann erzogen worden, freilich nie überzeugt von seiner sich ph.änomenologisch glaubenden Wertforschung, die er zur Erforschung Jenes Himmels der Werte im Lampenlicht seiner Studierstube betrieb, wenn er nicht gerade den wirklichen Sternenhimmel mit seinem Zeiss-Teleskop begeistert beobachtete. In Wahrheit scheint mir trotz Scheler, Hartmann und Betti mit der Idee der Wertforschung die Grenze erreicht, an der das Ethos der Wissenschaft und ihrer Objektivität in das Wider-Ethos des Theoretisierens und des Wegreflektierens praktischer Verbindlichkeiten umschlägt. Es ist nun in hohem Grade belehrend zu sehen, wie eine jüngere Generation italienischer Juristen und Philosophen, die den neueren Entwicklungen auf der deutschen Szene mit Sympathie gefolgt ist, die Spannungen, Probleme und Aporien sieht, in die sich. die Gedanken des verehrt~n Meisters Betti verstricken. Es ist wahrlich nicht so, als ob da nur dIe Sache eines anderen erzählt würde. Es ist vielmehr unsere eigene Sache, die da mit auf dem Spiele steht. Das Erbe Hegels, die romantischen Ursprünge des geschichtlichen Denkens, das die deutschen G~isteswissen schaften so groß gemacht hat, steht in unseren Tagen wahrhch auf dem Spiele. Es ist nicht nur das alte Mißvergnügen an der Geschichte, unter dem schon Goethe gelitten hat. Es ist vielmehr ein steigendes Verlangen nach Sicherheit, was überall um sich greift, mag es sich im Methodenglauben der Wissenschaft - insbesondere in d:n mo~er~en Sozialwi~ senschaften - befriedigen, mag es nach der BefestIgung In eIner IdeologIe verlangen, die sich von der Kritik aller Ideologien nährt. Wieder einmal fragt eine jüngere Generation, wie der junge Heidegger nach dem Ersten Weltkrieg angesichts des neukantianischen Bildungsidealismus gefragt hatte, 'was diese Tradition eigentlich noch ist, die der Bildungsstolz eines bürgerlichen Zeitalters gewesen war. Im Zeitalter der Technokratie und der Bürokratie, der Massenmedien und der technischen Reproduzierbarkeit, der engagierten Literatur und der Anti-Kunst, des Emanzipationspathos und des Autoritätsverfalls, erscheint die Berufung auf das alles tragende Einverständnis, das das Zusammenleben der Menschen er~ögli~ht, wie eine falsche Romantik. Man mag es zwar anerkennen, daß die WIrksamkeit der sozialen Institutionen ebenso wie die letzten Grundwerte unseres Daseins nicht selber der wissenschaftlichen Rationalisierung unterlie-
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gen. Aber ein Einverständnis über diese Dinge zu postulieren, scheint eher einer konservativen Option als einer philosophisch begründeten Einsicht zu entspringen. So verkenne ich nicht, daß es hier andere Einwände gibt, die insbesondere unter dem Stichwort der Ideologiekritik vorgetragen worden sind. Das hermeneutische Urmodell ist das Gespräch, und dieses steht unter der Leitidee der Erzielung von Verständigung. Das braucht natürlich nicht immer zu Einverständnis zu führen. Es kann auch verständnisvoller Austausch von Gründen und Gegengründen sein. Aber auch dann noch ist ein tragendes Einverständnis dabei vorausgesetzt. Denn das Resultat der Verständigung ist insofern positiv, als sich dadurch die Überbrückung von Gegensätzen, Vermittlung und Komprorniß anbahnen können. Nun ist es gewiß wahr, daß es ideologische Barrieren gibt, die bis in das Vokabular des täglichen Meinungsaustausches hinabreichen, und es ist ebenso wahr, daß die Bereitschaft zum Gesprächsaustausch unter dem Druck solcher Barrieren zum Erliegen kommen kann. Aber daß unter vernünftigen Wesen am Ende allein der vernüftige Austausch der menschliche Weg der Lösung zwischenmenschlicher Probleme sein kann, wird in Wahrheit auch nicht von den Theoretikern der Ideologiekritik bestritten. Man soll die Begriffe von Tradition, Autorität, Kontinuität usw. nicht mit >kontrafaktischen< Optionen belasten. Sie formulieren die Tatsache, daß unsere Vernunft und Vernünftigkeit von wesenhafter Begrenztheit ist. Wenn sie ihre Grenzen nicht wahrhat, verirrt sie sich in abstrakte Deklamatorik. Es braucht hier nicht wiederholt zu werden, was durch die fruchtbare Diskussion zwischen Hermeneutik und Ideologiekritik nach beiden Seiten hin an Klärung erreicht worden ist. Es besteht, denke ich, Übereinstimmung darüber, daß man niemals Vernunft von Kritik trennen kann. Es ist die eine und einzige Grundausstattung des Menschen, daß er nicht in bloße Instinktbahnen des Reagierens eingesperrt ist, sondern Möglichkeiten denken kann und im praktischen Verhalten zwischen Möglichkeiten zu wählen vermag. Wählen aber heißt immer Kritik üben: unterscheiden, vorziehen und zurücksetzen. Freilich, die Bedingungen vernünftiger Praxis und praktischer Vernünftigkeit müssen jeweils vorgegeben sein'. Keiner beginnt auf dem Nullpunkt der Vorurteilslosigkeit und Unvoreingenommenheit., Wir stehen in einem Prozeß - und das, was man heute Sozialisierung nennt, ist eine Phase dieses Prozesses. Die Einformung des einzelnen in die Gesellschaft stellt einen komplexen Vorgang dar, in welchem Überkommenes, Gewöhnung und Sitte und eingeprägte Verhaltensmuster nach und nach, mehr oder minder radikal, zur Rede gestellt werden und vernünftiger Abweisung oder Aneignung verfallen, jedenfalls durchaus nicht notwendig einer emanzipatorischen Reflexion überantwortet sind. Es ist also die allgemeine ontologische oder anthropologische Grundver-
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fassung des Menschen, an die eine philosophische Hermeneutik gegen abstrakte Begriffe von Vernunft und Reflexion zu erinnern hat. Das habe ich am Modell des Dialogs zu tun versucht, und wie ich meine, im Rückgang auf ursprüngliche Phänomene menschlich-gesellschaftlicher Existenz auszuweisen gesucht. Daß damit eine weit ursprünglichere Dimension von Vernunftübung anvisiert ist als die der Wissenschaft und ihrer Objektivität, die auf dieselbe erst aufgebaut ist, ist ein Umstand, der mir den denkenden Rechenschaftsversuchen, wie sie Emilio Betti unternahm, weitgehend zuzustimmen erlaubt - und der freilich weit darüber hinauszugehen und weit dahinter zurückzugehen zur philosophischen Pflicht macht.
Bruno SneIl Bruno Snell, geboren am 18. Juni 1896 in Hildesheim und verstorben am 31. Oktober 1986 in Hamburg, war bereits in hohen Jahren, als er in den Kreis des Ordens )Pour le merite< trat. Wir alle haben es dankbar empfunden, daß er uns seine Gegenwart schenkte. Das scharfe Profil eines überaus kritischen Geistes und das hell und freundlich blickende Auge eines Humoristen und unvergeßlichen Erzählers hat jedes unserer Gespräche bereichert und belebt. Man konnte an ihm die Erfahrung machen, was diskrete Präsenz ist. Ohne Frage war er in Deutschland nach Karl Reinhardts Tod die führende Gestalt der klassischen Altertumswissenschaft in den letztenjahrzehnten, im Ausland so geschätzt und beliebt wie bei uns. Wieder einmal hatten die nördlichen Gaue unseres Vaterlandes der gelehrten Welt einen großen Philologen geschenkt. Ein Sohn Lüneburgs, hat ihn Stammesart, Begabung und glückliche Fügung schon in frühen Jugendjahren nach England geführt. Ebenso hat er seine späteren Wege im deutschen Universitätsleben so gewählt, daß seine Öffnung nach dem Englischen hin erhalten blieb. Da war seine Promotion in Göttingen, dieser deutsch-englischen Hochburg der nördlichen Aufklärung, seine Habilitation in Hamburg und sein ganzes weiteres akademisches Leben, das er seit 1931 als Professor in Hamburg verbrachte. Umweht von der frischen Luft einer großen alten Bürger- und Hafenstadt, hat er sich in den Jahren der Entstellung und Bedrückung seine ebenso unauffällige wie stolze Unabhängigkeit stets zu wahren gewußt. Als Hamburg schon in Trümmern lag und Leipzig dem bald folgen sollte, hat er bei einem Besuch in Leipzig vor uns Arkadien beschworen. Es ist l11ir unvergeßlich, wie er in den Räumen des Lamprechtschen Instituts, in denen ehedem Goethe seinen berühmten Besuch bei Gottsched machte, in seinen1
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Vortrag den Traum von Europa in fmsterer Zeit vor uns neu aufdämmem ließ. So wurde er denn auch beim Wiederaufbau der intemationalen Beziehungen, sowohl in seiner eigenen, wahrhaft internationalen Wissenschaft als auch an einer Universität, die an einem seit alters weltgeöffneten Ort ihren Platz hatte, einer der Ersten und Tätigsten. Sein Werdegang hatte manches Ungewöhnliche. Als er zum Abschluß seiner Studien in Göttingen seine Dissertation vorlegte, konnte er damit die Billigung seiner dortigen philologischen Lehrer nicht fmden. Das war zu philosophisch, diese Untersuchungen über die Worte des Wissens in der frühen griechischen Literatur. Dem Philologen schien er damit zu sehr auf dem Wege zum Begriff. Es war Georg Misch, Wilhelm Diltheys Schwiegersohn und Inhaber eines philosophischen Lehrstuhls in Göttingen, der diese Arbeit nicht zu philologisch fand - und es war der große Wilamowitz, der sie nicht zu philosophisch fand, sondern als ein Glanzstück in die berühmte Reihe seiner >Philologischen Untersuchungen< aufnahnl. Man möchte es kaum glauben, daß eine so entschieden philologische Begabung, die in diesen Studien das neuere philosophische Interesse an der Begriffsgeschichte vorausnahm, erst auf solch ehrenvollem Umweg zur Anerkennung in der klassischen Philologie gelangte. Oh gewiß, er war ein streitbarer Philologe, der keine ausgetretenen Wege ging, sondern sich seinen eigenen Pfad im Dickicht des Unbekannten schlug. So erregte er abermals mit seiner Habilitationsschrift >Aischylos und das Handeln im Drama< durch die kühne These Aufsehen, daß erst dort, im Drama, das schon dem Namen nach das Schauspiel des HandeIns ist, die Griechen ein wirkliches Bewußtsein vom Handeln aus freier Entscheidung erwartet und zur Darstellung gebracht hätten, so daß etwa im Homerischen Epos noch kein Wort fur Handeln und Entscheiden ein solches Bewußtsein bezeuge. Das war in einem Augenblick gesagt, in dem die Schule Werner Jaegers die aristotelischen Begriffe von Phronesis und Prohairesis, Episteme und Apodeixis wie ein Unterpfand für historische Angemessenheit bei der Interpretation griechischer Texte in Anspruch nahm. Der junge Erforscher der geschichtlichen Wandlungen der Worte des Wissens mußte sich herausgefordert füWen und mußte seinerseits mit seinem Buche über Aischylos eine Herausforderung darstellen. Er wußte sich mit überlegener Schärfe zu verteidigen sowie zu wehren und bewies, daß auch das historischen Sinn verlangt, von Worten und Begriffen in historischer Arbeit den rechten Gebrauch zu machen. So war es eine große Sache, als seine Heimatuniversität Hamburg ihm 1931 in der Nachfolge von Friedrich Klingner dessen Lehrstuhl übertrug, von dem aus er auch weiterhin eine scharfe Klinge zu führen wußte. Als junger Kollege so bedeutender Forscher wie Ernst Cassirer, Aby Warburg, Erwin Panofsky, Ernst Kapp und Emil Wolff, von denen ihn die meisten
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bald verlassen sollten, hat er sein genaues Wissen und die hohe Ern pfindlichkeit für das geschichtliche Leben der Begriffe beständig verfeinert und vertieft. So wurde er als Philologe ein wahrer Meister der Begriffsgeschichte. In der eleganten Form des Essays durchmaß er die ganze Geschichte der klassischen griechischen Literatur - bis an die Schwelle des hellenistischen Zeitalters - und siehe da, am Ende war diese Reihe von Essays ein konsequent durchgeführtes Buch über ein einziges großes Thema: >Die Entdekkung des Geistes<. Es wurde ein wahrhaft klassisches Buch, indem es aus der Beobachtung des Sprachforschers und des empfänglichen Interpreten von Dichtung Zugänge zu dem Geheimnis der Begriffsbildung erschloß und der Vorbereitung begrifflichen Denkens durch die griechische Sprache nachging. Es ist eine Frage, die auch die Philosophie angeht, wie hier exakte Wortforschung den Weg des Gedankens zu klären vermocht hat. »Kein Ding sei, wo das Wort gebricht« - in den Händen Bruno Snells wurde dieser Satz des Dichters Stefan George eine wahre Forschungsmaxime. Ein Aufkommen neuer Worte bedeutete für ihn, daß etwas Neues entdeckt wird, eine Selbstentdeckung des Geistes geschieht. Die Geschichte des Geistes stellte in Snells Augen ein neues Absolutes dar, das sich im geschichtlichen Wandel bewahrt und bewährt. Wer denkt da nicht an Hegel? Und doch war Snell zugleich ein strenger und nüchterner Philologe. Es war scharfsinnige Kleinarbeit, mit der er sich in musterhaften Editionen schlecht überlieferter Texte, vor allem am Bakchylides und in der Fragmentensamn1lung der griechischen Tragiker und sogar in der Entzifferung von Papyri, bewährte. Aber es geht der kühne spekulative Zug durch alle seine Arbeiten. Es war mehr als ein Zufall, daß er mit seiner philologischen Dissertation von einem Philosophen promoviert wurde. Ebenso V\Tar es kein Zufall, daß der reife und gefeierte Forscher, mehrfacher Ehrendoktor, Mitglied zahlreicher internationaler Akademien und Empfänger mancher Auszeichnung, angesichts seines Lebenswerkes den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart verliehen bekam. Er wurde der erste Preisträger dieses von der Hein1atstadt Hegels gestifteten angesehenen Preises. Es bestand wirklich ttine geistige Affinität des Philologen mit dem despotischen Herrscher im Reich der Begriffe. Wie Hegel seinerzeit die neu aufgegangene geschichtliche Welt in das enzyklopädische Gedankenwerk des Begriffs integriert hatte, so hat Snell umgekehrt in unerbittlich exakter Arbeit am konkreten Text eine Verfeinerung des historischen Sinnes auf einem Felde zuwege gebracht, das der Philologe zumeist meidet: das dornige Feld der Begriffe - und siehe da, es wurde eine Entdeckung des Geistes. Snell hat diesem Feld auch ein rein theoretisches Werk gewidmet, in dem er mehr als Philosoph und Phänomenologe spricht. Unter dem Titel )Der Aufbau der Sprache< hat er das schöne Gleichgewicht seines Geistes ganz von der anderen, der spekulativen Seite seines Gegenstandes aus zur Darstellung
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gebracht. >Der Aufbau der Sprache<, 1952 erschienen, war ein Buch, das Bruno Snell besonders lieb war - vielleicht gerade, weil es nicht die gleiche Resonanz fand wie seine sonstigen Arbeiten. In der Tat ist es selbst wieder ein Dokument seiner stolzen Unabhängigkeit, wie er dort in phänomenologischer Manier die Grundkonstanten der Sprache aufzuzeigen versuchte, obwohl er nur aus der ihm allein zugänglichen indogermanischen Sprachenfamilie schöpfte. Das mußte der modernen Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie als eine zu enge Basis erscheinen - und der klassischen Philologie umgekehrt als ein zu weiter Ausgriff in die dem Historiker unbetretbaren Räume apriorischer Strukturen. So hat ihn gerade dieses Buch bis in seine letzten Arbeitsjahre hinein begleitet. Vielleicht werden wir bei einer Neuauflage die Früchte seiner unablässigen Weiterarbeit zu diesem Thema eines Tages noch kennenlernen. (Der Nachlaß befindet sich in der Obhut der Bayerischen Staatsbibliothek in München.) Sein reiches philologisches Werk könnte im einzelnen nur aus berufenem Philologenmunde gewürdigt werden. Aber in fast allen seinen Arbeiten leitet ihn ein Gedanke, durch den ein philosophisches Problem hindurchschimmert. Was bedeutet das erste Auftauchen von Worten in der Überlieferung einer Literatur? Bezeugt sich darin eine neue Erfahrung des Menschen oder ein erstes reflexives Bewußtsein? Und ist nicht solch ein erstes Bewußtsein immer so etwas wie ein beginnender Abschied von etwas? Bewußtsein von etwas bedeutet immer Abschied von der Eindeutigkeit des >So und nicht anders< und ein Heraustritt in die Möglichkeit des >So oder anders<. .. Als Menschen sind wir immer schon vor dies >So oder anders< gestellt. Wenn der Dichter Menschen in ihrem Schwanken schildert, >weiß< er, was das ist, vor dem >So oder anders< zu stehen. Und doch bedeutet es etwas Neues, wenn Worte des Wissens fur solches Wissen aufkommen. Der Weg zum Begriff zeichnet sich ·ab. Es war das Bedürfnis des Philologen Snell, exakt zu sein und nicht erbaulich. Jedenfalls bestand er auf den Worten und folgte dem Wandel von Worten bis hin zum Begriff. Vielleicht hat er sich damit sein eigenes geistiges Werden und Wachsen selbst zum Bewußtsein gebracht und uns zum Vorbild den Satz Pindars erfüllt, der lautet: yevoLo oro~ ~oot ~aß-~v. Auf deutsch heißt das: »Werde, wer du bist, durch alles, was du erfahren und begriffen hast.« Oder heißt es »trotz allem, was du erfahren und \>egriffen hast«? Es ist schwer zu übersetzen. Was ~aß-cbv - d. h. wörtlich: einer, der gelernt hat - für das Sein des Menschen bedeutet, läßt uns der Dichter nur ahnen. Er läßt es offen - wohl weil es offen bleibt, wo einer ein Mensch ist, zu sein und zu werden und zu wissen. Von Bruno Snell nehmen wir Abschied als von einem, der diesen offenen Raum durchmessen hat und uns sein Wissen hinterließ.
Bibliographische Nachweise Genannt sind nur die Erstveröffentlichungen. Die Beiträge selbst erscheinen in überarbeiteter Form.
1. Erinnerungen an Heideggers Anfänge. Auf der Grundlage eines Vortrags bei dem am 16.117. September 1985 in Bochum veranstalteten Symposium zum Thema >Faktizität und Geschichtlichkeit< Erstveröffentlichung in überarbeiteter Form in: Heideggeriana. Saggi e poesie nel decennale della morte di Martin Heidegger (1976-1986), hrsg. von Giampiero Moretti. Editrice Itinerari Lanciano 1986 (= Itinerari, 25.Jg. 1986, Nr. 1/2), S. 5-16.
2.
Heidegger und die Sprache. Vortrag unter dem Titel >Heideggers Sprachverständnis in philosophiegeschichtlicher Perspektivec auf dem Internationalen Heidegger-Symposium in Marburg am 7. /8. Oktober 1989. Erstdruck in: Martin Heidegger - Faszination und Erschrecken. Die politische Dimension einer Philosophie, hrsg. von Peter Kemper. CampusVerlag FrankfurtlNew York 1990, S. 95-113.
3.
Heidegger und die Griechen. Vortrag auf dem 11. Fachsymposium der Alexander von Humboldt-Stiftung in Bonn vom 24.-28. April 1989 zum Thema >Philosophische Aktualität Heideggers(. Erstdruck in: Alexander von Humboldt-Stiftung/Mitteilungen, Heft 55 (August 1990), S. 29-38.
4.
Heidegger und die Soziologie: Bourdieu und Habe~mas. Die Rezension zu Pierre Bourdieu, >Die politische Ontologie Martin Heideggers( (Syndikat-Verlag Frankfurt/M. 1975) erschien zuerst in: Philosophische Rundschau26 (1979), Heft 1/2, S.143-149. Die Rezension des Heidegger-Kapitels aus Jürgen Habermas' >Der philosophische Diskurs der Modeme. ZwölfVorlesungel1( (Suhrkamp-Verlag Frankfurt/M. 1985) war bislang unveröffentlicht.
5.
Hermeneutik und ontologische Differenz. Entstanden 1989. Bisher ungedruckt.
6.
Die Kehre des Weges. Entstanden 1985. Bisher ungedruckt.
7.
Denken und Dichten bei Heidegger und Hölderlin. Beruht auf Teilen eines Vortrags auf der zweiten Tagung der Martin-HeidcggcrGesellschaft in Meßkirch am 26.127. September 1987 (siehe dazu auch Ges. Werke
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Bibliographische N:-1(".h~leise Band 9, Nr. 4: >Dichten und Denken irn Spiegel von Hölderlins >Andenken«). Erstveröffentlichung des ursprünglichen V,:>rtrags unter dem Titel >Von der Wahrheit des Wortes< in: Denken und Dichten bei Martin Heidegger. Privatdruck Meßkirch 1988 (= Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft 1988), S. 7-22.
8.
Subjektivität und Intersubjektivität, Subjekt und Person. Vortrag 1975 in Dubrovnik. Bisher ungedruckt.
9.
Phänomenologie, Hermeneutik, Metaphysik. Vortrag, gehalten am 24. Februar 1981 in der Aula der Kolumbianischen Akademie der Literatur in Bogota und im Mai 1983 in der Aula der Philosophischen Fakultät der Universität Complutense in Madrid. Erstveröffentlichung auf Spanisch in: Cuadernos de filosofia y letras (Bogota), Band6 (1983), Nr.1/2, S.9-14. Auf deutsch bisher ungedruckt.
10. >Das Sein und das Nichts<
O. P. Sartre).
Vortrag auf dem Internationalen Sartre-Kongreß vom 9.-12.Juli 1987 an derJohann Wolf~ang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Erstveröffentlichung in: Sartre. EIn Kongreß, hrsg. von Traugott König. Rowohlts Taschenbuch Verlag 'Hamburg 1988 (= Rowohlts Enzyklopädie Nr. 475), S. 37-52.
11. Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus. Abschlußvortrag auf einem bei der Werner Reimers-Stiftung in Bad Homburg vom 28. -30. August 1986 veranstalteten Kolloquium zur )Aktualität der Frühromantik<. Erstveröffentlichung in: Die Aktualität der Frühromantik, hrsg. von Ernst Behler und Jochen Hörisch. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn/München/Wien/Zürich 1987, S. 251-260.
12. Dekonstruktion und Hermeneutik. Zugrunde liegt ein Brief an Fred Dallmayr als Antwort auf dessen Aufsatz )Hermeneutics and Deconstruction: Gadamer and Derrida in Dialogue< (in: F. Dallmayr, Critical Encounters : Between Philosophy and Politics. Notre Dame/Ind. 1987, S. 130-158). Erstveröffentlichung in: Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag, hrsg. von Annemarie GethInann-Siefert. Friedrich Frommann Verlag Günther Holzboog Stuttgart/Bad Cannstatt 1988, Band 1 (= Reihe )Spekulation und Erfahrung< 117), S. 3-15.
13. Hermeneutik auf der Spur. Entstanden 1994. Erstveröffentlichung.
14. Die Grenzen der historischen Vernunft. Vortrag auf dem Philosophie-Kongreß in Mendozal Argentinicn vom 30. März -9. April 1949 (siehe dazu auch den Beitrag in Ges. Werke Band2, Nr.2: )Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie<). Erstveröffentlichung in: Actas del primer congreso nacional de filosofia, hrsg. von Luis Juan Guerrero. Universidad Nacional de Cuyo 1949, Band 3, S. 1025-1029.
Bibliographische Nachweise
443
15. Vom Wandel in den Geisteswissenschaften. Erstveröffentlichung unter dem Titel )Auf schwankendem Boden: V'om Wandel in den Geisteswissenschaftcn< in: Bilder und Zeiten. Beilage der Frankfürtcr Allg~mei nen Zeitung Nr. 225 vom 28. September 1985, S. 4.
16. Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule. Um eine Nachschrift erweiterte Sammelrezension gleichen Titels in: Philosophische Rundschau 38 (1991), Heft 3, S. 161-177.
17. Geschichte des Universums und Geschichtlichkeit des Menschen. Abschlußvortrag an der Mainzer Universität zum Wintersemester 1987/88 im Rahmen der Vortragsreihe )Geisteswissenschaften - wozu?<. Erstveröffentlichung in: Geisteswissenschaften - wozu? Beispiele ihrer Gegenstände und Fragen. Eine Vortragsreihe der Joharmes Gutenberg-Universität Mainz im WinterscOlcster 1987/88, hrsg. von Hans-Henrik Krummacher. Franz Steiner Verlag Wiesbaden, Stuttgart 1938, S. 267-281.
18. Bürger zweier Welten. Vortrag im August 1983 in Caste1gandolfo auf einem Kolloquium zum Thema >Das Bild des Menschen in der Perspektive der modernen Wissenschaft<. Erstveröffentlichung in: Der Mensch in den modernen Wissenschaften. Castelgandolfo-Gcspräche 1983, hrsg. von Krzysztof Michalski. Verlag Klett-Cotta Stuttgart 1985, S.185-199.
19. Die Idee der praktischen Philosophie. Ergänzte Fassung eines Vortrags auf dem We1tkongreB über Aristoteles vonl 7.-14. August 1978 in Thessaloniki. Erstveröffentlichung des Vortrags in: Praktika Pankosmiou Synedriou )Aristotclcs<, hrsg. vonl griechischen Ministerium fi\r Kultur und Wissenschaft. Athen 1983, Band 4, S. 386-392.
20. Geschichtlichkeit und Wahrheit. Erstdruck mit dem Untertitel )Zur versäumten Fortsetzung von Gespräch('n in Walberberg< in: Versöhnung. Versuche zu ihrer Geschichte und Zukunft. Festschrift für Paulus Enge1hardt OP, hrsg. von Thomas Eggensperger/Ulrich Engcl/Otto Hermann Pesch. Matthias Grünewald Verlag Mainz 1991 (= Walberberger Studien. Philosophische Reihe Bd. 8), S. 17-28.
21. Vernunft und praktische Philosophie. Beitrag zu einer internationalen Tagung der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung itn April 1985 in Trier. Erstdruck in: Vernunft und Kontingenz. Rationalität und Ethos in der Phänom'cnologie, hrsg. von Ernst Wolfgang Orth. Verlag Karl Alber Freiburg/München 1986 (= Phänolnenologischc Forschungcn Bd. 19), S. 174-185.
22. Europa und die Oikoumene. Vortrag aufeinem von der Martin-Heidegger-Gesellschaft an1 5.16. Oktober 1991 in Meßkirch veranstalteten Synlposium zunl Thema )Europa und die Philosophic<.
444
Bibliographische Nachweise Erstdruck ip: Europa und die Philosophie, hrsg. von Hans-He1muth Gander. Vittorio Klostermann Verlag Frankfurt/M. (= Martin-Heidegger-Gesellschaft Schriftenreihe Bd. 2), S. 67-86.
Bibliographiselle Nachweise
445
hundertjahrfeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, hrsg. von Eike Wolgast. Verlag Edition Braus Heidelberg 1987, S. 138-145.
30. Mit der Sprache denken. 23. Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft. Rede bei der Übernahme des Rektorats der wiedereröffueten Universität Leipzig am 5. Februar 1946. Erstdruck als Heft 14 der Leipziger Universitätsreden. Johann Ambrosius Barth Verlag Leipzig 1947 (16 S.).
Geschrieben als Ergänzung zu den in Ges. Werke Band 2 erschienenen Beiträgen >Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer< (Nr. 31) und )Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik< (Nr. 1).
31. Schreiben und Reden. 24. Zum 300. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz: Festrede an der Universität Leipzig. Gehalten am l.Juli 1946 in der Aula der Universität Leipzig. Erstmals gedruckt in: Studia Leibnitiana22/1 (1990), S. 1-10. Siehe in diesem Zusammenhang auch mein Vorwort zu dem Leibniz-Buch von Renato Cristin: Heidegger e Leibniz. 11 sentiero e la ragione. Verlag Bompiani Milano 1990, S. IX-XIII.
25. Die Stellung der Philosophie in der heutigen Gesellschaft. Eröffnungsvortrag beim Kongreß der Allgemeinen Gesellschaft fur Philosophie in Heide1berg am 23. Oktober 1966. Erstveröffentlichung in: Das Problem der Sprache. 8. Deutscher Kongreß für Philosophie, Heidelberg 1966, hrsg. von HansGeorg Gadamer. Wilhelm Fink Verlag München 1967, S. 9-17.
26. Welt ohne Geschichte? Improvisierte Eröffnungsansprache bei der Tagung des >Institut international de philosophie< vom 12.-16. September 1969 in Heidelberg. Erstveröffentlichung in: Truth and Historicity/Verite et Historicite. Entretiens de Heide1berg, 12-16septembre 1969, hrsg. von Hans-Georg Gadamer. Verlag Martinus NijhoffDen Haag 1972, S. 1-8.
27. Historik und Sprache. Antwort auf den Festvortrag Reinhart Kosellecks >Historik und Hermeneutik< am 16: Februar 19~5 in.der Alten ~ula der Universität Heidelberg. Erstveröffentlichung belder Reden m: Sltzungsbenchte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1987, Bericht 1. earl Winter Universi~ tätsverlag Heidelberg 1987, S. 9-28 (Koselleck) bzw. S. 29-36 (Gadamer).
28. Von Lehrenden und Lernenden. Dankrede aus Anlaß der Verleihung des Karl-jaspers-Preises am 15. Juni 1986 in der Al~en Aula der Universität Heidelberg. Erstveröffentlichung in: Rhein-NeckarZeItung, 42.Jg., Nr. 163 vom 19.120. Juli 1986, S. 45.
29. Die Universität Heidelberg und die Geburt der modernen Wissenschaft.
Erstveröffentlichung unter dem Titel )Wort Wld VerheißWlg< in: Neue Zürcher Zeitung, 204.Jg., Nr. 144 (Fernausgabe) vom 24. Juni 1983, S. 38.
32. Die deutsche Philosophie zwischen den beiden Weltkriegen. Überarbeitete Fassung eines Vortrags 1985 an der Universität Heidelberg. Erstdruck in: Neue Deutsche Hefte34 (1987), Heft 3, S.451-467. Ergänzt um die Seiten 377-380 aus dem Nachwort zum 3. Band (Neuausgabe) des )Philosophischen Lesebuchs< (Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt/M. 1989).
Philosophische Begegnungen Dem autobiographischen Band >Philosophische Lehrjahre< (Vittorio Klostcrll1a1l1l Verlag Frankfurt/M. 1977) entnommen sind die Beiträge über Paul Natorp (zuerst in: Kantstudien 46, 1954/55, S. 129-134); Max Scheler (zuerst in: Bilder und Zeiten. Beilage der Frankfurter Allgenleinen Zeitung Nr. 195 vom 24. August 1974, S. 4); Hans L;pps (zuerst in: Hans Lipps, Werke Bd. I: Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis (Neudruck der Ausgabe BOlm 1928) Vittorio Klostermann Verlag Frankfurt/Mo 1976, Vorwort S. VII-XI); KarlJaspers (zuerst in: Ruperto Carola, 21.Jg., 1969, Bd. 46, S. 50-56); Gerhard Krü<-~er (zuerst in: Einsichten. Festschrift für Gerhard Krüger zum 60. Geburtstag, hrsg. von Klaus Oehler und Richard Schaemer. Vittorio Klosternlann Verlag Frankfurt/Mo 1962, Geleitwort S. 7-10); Karl LöuI;th (zuerst in: Rhein-Neckar-Zeitung, 18.Jg., Nr.6 VOlll 9.Januar 1962. Feuilleton S. 5). In der Reihe )Reden und Gedenkworte des Ordens Pour lc merite für Wissenschaft und Künste< (Lambert Schneider Verlag Heidelberg) erschienen die Beiträge über Rudolf Bultmann (13. Band, 1976/77, S. 131-139; vorgetragen in der öffentlichen Sitzung des Ordenskapitels in der Paulskirche in Frankfurt am Main am 7. Juni 1977)~ Thrasyboulos Georgiades (14. Band, 1978. S.27-31; vorgetragen in der öffentlichen Sitzung des Ordenskapitcls in der Aula der Universität Bonn anl 30. Mai 1978); Bruno Snell (22. Band, 1987-89. S. 37-42; vorgetragen in der öffentlichen Sitzung des Ordenskapitcls im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbl'sitz in Berlin am 2.Juni 1987).
Rede bei der Eröffnung der Festwoche zum Jubiläum >600Jahre Universität Heidcl-
be~g( am 12. Oktober 1986. Erstveröffentlichung auszugsweise in: Rhein-Neckar~eltun~, 42.Jg., Nr.241 vom 18.119. Oktober 1986. Vollständig als Separatdruck 1m Sprmger-Verlag Berlin/Heidelberg/New York 1987 (21 S.) sowie in: Die Sechs-
Den Beitrag über Er;ch Frank bildet eine Rezension seines Buchs )Philosophical Undcrstanding and Religious Truth< (New York 1945) in: Theologische RundschJ.lI N. F. 1~ (1950), Heft 3, S. 260-266.
446
Bibliographische Nachweise
Der Beitrag über Paul Friedliinderist zuerst ers(,;hic.;n.'~n in: Eikasmos4 (1993), S. 179-181. Erstdruck des Beitrags über Emilio Betti unter denl Titel >Emilio Betti und das idealistische Erbe< in: Quaderni Fiorentini 7 (1978), S. 5-11. Der Beitrag über Fritz Kaufmann erschien zuerst als Nachwort zu Kaufmanns Buch >Das Reich des Schönen. Bausteine zu einer Philosophie der Kunst< (W. Kohlhammer Verlag Stuttgart 1960), S. 397-402. Die Reihe der >Philosophischen Begegnungen< ergänzt sich ferner durch die folgenden anderswo veröffentlichten Arbeiten zu Nicolai Hartmann in Ges. Werke Band 4, Nr. 13; Edmund Husserl in Ges. Werke Band 3, Kapitel II, und in diesem Band, Nr. 8 und 9; Martin ~eid~eger in Ges. Werke Band 3, Kapitel III, und in diesem Band, Kapitel I u. ö.; Eugen Fmk In Ges. Werke Band 4, Nr. 5a; Karl Reinhardt in Ges. Werke Band 6, Nr. 17 und 18; Wolfgang Schadewaldt in Ges. Werke Band 6, Nr. 19; Helmut Kuhn in Ges. Werke Band 4, Nr. Sb und 14a; BandS, Nr. 9 sowie Philosophische Rundschau 39 (1992), Heft 1/2, S.1-2.
Namenregister Achi1l213 Adomo, Th. W. 46, 52, 425 Agamemnon 213 Aischylos 438 Ajax78 Alexanderd. Gr. 267 Anaxagoras 244 f. Anaximander 11 f., 215, 257 Anselm v. Canterbury 407 Anz, W. 15,331 f., 417 Apollo 82 Archimedes 40 Aristophanes 414 Aristoteles4ff., 11, 13, 15, 18ff., 23, 26, 32f., 37 ff. , 43, 48,51 ff., 63 ff. , 67f., 72f., 78 ff. , 88 ff. , 100, 103f., 108, 115f., 125ff., 133, 145ff., 149, 150ff., 154,157,167, 169f(, 195, 199,201, 204,212,214,228,230,234,238-246, 250 f., 253 f., 255 ff., 259 ff., 268, 275f., 278, 281 f., 302f., 312, 319, 326ff., 343, 347,351 f., 366ff., 379, 402,409 Äskulap221 Athene213 Augustinus4, 68f., 92,102,128,139, 271 ff., 391,409 Aulus Gellius 256 Austin,j. L. 204,402 Baader, F. von 282 Bacon, F. 316 Bakchylides 439 Balzac, H. de414 Barth, K. 16, 130, 181,249, 389f., 391 f., 413f., 420 Bauch, B. 377 Beaufret,j. 125, 149 Becker,().20,194,202,427 Behler, E. 190,200
Benn, G. 140 Berg, A. 425 Bergson,H. 110, 180,256,384 Betti, E. 432-437 Biel, G. 4 Biemel, W. 113 Bloch,E. 10,53, 180,393 Blumenberg, H. 371 Boeckh, A. 187, 190ff. Böhme,]. 282 Boethius98 Bollnow, O. 185, 188f. Bormann, A. von 134 Bornkamm, G. 414 Bourd~u,P.46-53,54,56,97
Braig, C. 104 Brentano, F. 90, 115f., 348 Bröcker, VV.3, 11,20,248 Brou\ver, L. E.j. 181 Brunner, E. 391 Buber,~.88,95, 130,312,420 Bubner, R. 130 Buddha 76, 399 Bultmann, R. 16,72,332,387-392, 413ff., 420,432 Bunsen, R. 339 Burckhardt,j. 208,329, 419ff. Caesar410 Carnap, R. 118 f. Cassirer, E. 10,52,143,180,350,438 Cassirer, T. 52 Celan, P. 55,149, 159f., 174,269 Char, R. 55 Cho, K.K.39 Chomsky, N. 26 Cicero 203, 323 Clemens v. Alexandrien 414 Cohen, H. 7, 52, 93,101,143,340,358, 375(,378,380,381,413
448
Namenregister
Collingwood, R. G. 201, 211 Creuzer, F. 338 Croce, B. 432 f. Curtius, E. R. 249, 332,381,384,404 Cusanus s. Nicolaus Cusanus
Daub, K. 338 Derrida,j. 54,125-137, 138ff., 147, 148ff., 152ff., 157ff., 165, 167, 169f., 173,200 Descartes, R. 65, 90f., 99, 102, 115, 119, 123,181,191,242,254,268,289, 301 ff., 362, 399, 407, 416 Dickens, Ch. 414 Dilthey, W. 8f., 22, 33f., 57, 61 f., 72, 101,104,133, 176ff., 179ff., 185-202, 242, 247f., 250, 252,328, 350, 363ff., 369ff., 376,389,394, 433,438 Dinkler, E. 414 Dionys H. 151 Dionysios Areopagita 170 f., 256 Dionysos82 Dix, 0.381 Dostojewskij, F. 414 Droysen,j. G. 187, 190,327 Duns Scotus 4 Ebbinghaus,j. 4, 7, 10,393 Ebeling, G. 99 Ebner, F. 88,95, 130,420 Eckhart (Meister) 14, 20, 22, 82, 255, 282,380 Einstein, A. 181 Eliot, T. S. 346, Empedokles 168 Eucken, R. 382 Falk,]. D. 299 Faust 304 Fetscher,1. 111 Feuerbach, L. 250, 420 Fichte,]. G. 26,88,95,115, 121, 131 f., 135, 195, 273,312, 357f., 377, 380, 397 Ficker, R. von 424 Fink, E. 113, 446 Finke, H. 104
Fischer, K. 341 Foucault, M. 54, 155,208,259 Frank, E. 405-412 Frank, M. 118, 131f., 190 Frege,C;.100,340,348 Freud,S.25,47,91,181,342,370,433 Freyer, H. 189 Friedländer, P. 332, 403-405 Fritz, K. von 241, 244 Furtwängler, W. 385 C;aiser, K. 276 Galilei, G. 23,66,214,232,242,301,379 Gallinger, A. 95 Garve, Chr. 251 C;ehlen, A. 385 Geiger, M. 3, 95, 401 GelIert, J. F. 251 George,St.45,181,370,405,439 Georgiades, Th. 423-426 C;iacometti, A. 55 Goethe,j. W. 159, 214ff., 251, 255, 283, 299, 355, 420ff., 431,435, 437 Gogarten, F. 16,95,249,389,413,420 Gogh, V. van 55 Gogol, N. 414 Gontscharow, 1. A. 414 Gottsched,j. Chr. 437 Groetbuysen, B. 189 Grondin,J. 271 f. Guardini, R. 81 Gurwitsch, A. 87, 100, 113 Habermas,j. 53-57, 73, 142,370 Haecker, Th. 88, 95, 130 Haller,]. 412 Hamann,J. G. 23,114,368 Hamann, R. 332 Hamsun, K. 69, 414 Harnack, A. von 389 Hartmann, N. 4, 7, 21, 32f., 55,143, 249,270,332,381,385, 402, 413f., 417, 433ff., 446 Hegel, C;. W. F. 7, 9f., 12f., 15,20, 23f., 26,28,41 ff., 51, 53f., 56, 63,65, 67ff., 73, 82, 88, 9Of., 94, 111 f., 114ff., 120ff., 128, 130f., 135f., . 142f., 146f., 153f., 177, 179f., 190,
Namenregister
210,215,230,234, 247f., 251 f., 260, 262, 268, 282, 312,318, 324, 334f., 338, 34Off., 348, 350, 357 f., 360, 364, 370,372, 379f., 385, 392, 393,411, 414, 417, 419ff., 429, 433, 435,439 Heidegger, M. 3-13,14-30,31-45, 46-57, 58-70, 71-75, 76-83, 92ff., 102ff., 107, 110ff., 122ff., 131 ff., 137, 138ff., 149ff., 165, 170, 178, 182, 185ff., 192ff., 231 f., 248ff., 252 f., 255 ff., 259 f., 262, 268 ff. , 273f., 280ff., 310, 312, 324, 327f., 332ff., 347, 349ff., 362ff., 380, 382f., 385, 390, 391 f., 395,398, 401 f., 403f., 406, 413f., 417, 419,421 f., 427 ff., 432 f., 435, 446 Heimsoeth, H. 413 Heisenberg, W. 277, 343 Heitmüller, W. 387 Hektor213 Held, K. 34, 36f. Hellingrath, N. von 81 Helmholtz, H. 338 ff., 343, 345 Henrich, D. 31,130 Hensel, P. 393 Heraklit 11 f., 27, 49, 80f., 108, 134, 154, 256,378 Herbart,j. F. 190,401 Herder,j. G. 23,26, 114,299,304, 318f. Herodot211 f., 255, 414 ,Herrigel, E. 393 Herrmann, F. -W. von 75 Herrmann, W. 387 Hesiod215,353 Hildebrand, D. von 95 Hitler, A. 50,210,290 Hölderlin, F. 15, 29f., 45, 57, 69, 73, 76f.,81f., 106, 146f., 178,255,355, 370,391,422,426 Hoffmann, E. 393, 395 HOlner209f., 212ff., 255, 353, 414, 438 Humboldt, W. von 26f., 140,158,273 Huppert, H. 160 Husserl, E. 3, 5f., 8ff., 17f., 32, 34, 51 f., 56f., 61, 71 f., 87, 92 ff., l00ff., 110ff., 120f., 125f., 128, 130, 133ff., 139, 141, 149f., 152ff., 158, 180ff., 185,188, 193ff., 202f., 231, 248f.,
449
259,268, 270,310, 340, 347f., 350f., 359 ff., 366, 369 f., 376, 380 ff., 386, 401f.,422,426ff.,430,433,446 Huygens, Chr. 242 Jaeger, W.38, 146, 182,389,405,438 Jaensch, E. 382 Jaspers, K. 88,182,312,331 ff., 342, 365,368,392-400,406(,411(,430 JauB, H. R. 135 Jensen, H. D. 277 Jesus Christus 17, 68, 127,365,390,399, 410 J oachim de Fiore 29 Johannes (Apostel) 15,154,390 Jonas, H. 98 Jülicher, A. 387 Jünger, E. 48, 50 Kaehler, S. 404 Kant, I. 4, 7, 22ff., 26, 41 f., 52, 55, 65, 73, 88f., 91, 99, 101,116,130,145, 156f., 176, 180,190, 199, 217f., 230, 233ff., 240, 259f., 264f., 276, 278f., 298,312, 340f., 348, 350. 357ff., 375, 377f., 380, 383, 393, 397, 407f., 412ff., 431 Kapp, E. 438 Kaufmann,F.186,426-432 Kepler,j. 171,242,301 Keyserling, H. Graf182 Kierkegaard, S. 7, 9f., 13, 17,34,57,70, 72,88,94, 127f., 130f., 133, 140,143. 150,181 f., 249ff., 256, 260, 262, 349, 364 f., 367 f., 385, 391,395,397 f., 408, 414, 420 f. , 428 Kirchhoff, R. 339 Klee, P. 55 Kleist, H. von 355 Klingner, F. 404, 438 Kojeve, A. 111 f., 116 Kommerell, M. 273 Konfuzius 399 Koselleck, R. 324f., 327, 329 Krafft, V. 242 Kroner, R. 10, 180,393 Krüger, G. 10,60,333,412-417 Kuhn, H. 446 Kuhn, Th. S. 371
450
N ame~register
Namenregistt'r
Landgrebe,L. 113, 186 La Rochefoucauld, F. de 399 Lask, E. 5, 52, 393 Leibniz, G. W. 6,20,65, 91, 94, 99, 295-307,315,376, 416,430f Lehmann, K. 15 Lessing, H.-V. 19,33 Levi-Strauss, C. 155 Levinas, E. 130, 143, 160,226, 259f. Liebig, J. 338 Lipps, H. 188,400-403 Lipps, Th. 92, 95, 382 Livius 211,295 Locke,]. 89,99 Lohmann, J. 315 Lommatzsch, E. 404 Lotze, H. 101, 190, 359 Löwith, K. 4, 333, 391, 418-423 Lübbe, H. 356, 382 Lucian414 Ludwig XIV. 250 Lukacs, G. 5, 10, 180,393 Luther, M. 4, 8, 14, 22f., 68, 72, 98, 140, 146,186,196,254,282,335,390 Mach, E. 310 MacIntyre, A. 261, 264 Man, P. de 125 Mandonnet, P. 66 Mann, Th. 430 f. Mannheim, K. 259 Mare, F. 55 Marx, K. 91,94,112,120,181, 420f, 433 Meinong, A. 348 Melanchthon, Ph. 192 Mendelssohn, M. 217 Menon277 Meredith, G. 414 Merleau-Ponty, M. 103, 110 Merlin 338 Meyer, E. 48,389 Michelangelo 429,431 Mill,]. St. 179,339,341,357,369 Milojcic, V. 210 Misch, G. 8, 185, 188ff., 192ff., 438 Monimsen, Th. 389 Montaigne, M. de 399
j\i1Ül:r)S~
eh. W. 135
Mo~se, G. 49 M02art, W. A. 425 Muralt, A. de254
Napoleon 337, 359 Natorp, P. 4, 7, 18, 32f., 38,51, 72, 113, 117,143,157,185,202,249,356,359, 375-380, 381, 403,412f. Newton, 1. 215f., 242, 298, 301, 318, 357,379 Nicolaus Cusanus 255, 399 Nietzsehe, F. 4f., 13,25,29, 39f., 53 ff. , 60,63,69,91,93,107,125,138f., 142,147, 149f., 154f., 176ft, 179ff, 200,203,281 f., 342f., 370f., 381, 398f., 418ff., 427, 433 Nohl, H.189 Novalis 44,338 Odysseus 27,214 Orff, C. 424 Ott, H. 15 Otto, R. 16,58,249,381 Otto, W. F. 82 Overbeck, F. 146 Pan 174 Panofsky, E. 438 Parmcnides 11 f., 27, 59, 65, 80f., 117f, 147,157,197,228 Pascal, B. 384 Paulus (Apostel) 4, 15. 127,249,390 Paulus, H. E. G. 338 Peirce, Ch. S. 135 Peperzak, A. 259f. Perelman, Ch. 243 Pfänder, A. 92, 95, 382, 401 Phaidros 174 Pindar440 Pirandello, L. 419 f. Plato 6, 18f., 21 f., 31, 37f., 40, 43, 48, 65f., 69, 72, 80f., 89, 100,107, 109, 117f., 126f., 134, 143f., 146f., 150ff., 157, 167ff., 187, 197f., 201 f., 215,226,228,233,235,238, 244f., 247,251, 253ff., 262f., 268f., 275f..
279f., 282, 308f., 319, 334f., 351, 354,367,378f.,403ff.,412,416 Plessner, H. 385 Plotin 22, 69, 380 Pöggeler, O. 15, 72, 75 Popper, K. 344 Protagoras 322 Quine, W. v. O. 369 Ranke, L. von 186 Rehm, W. 408 Reinach, A. 401 Reinhardt, K. 385,389,405,437,446 Rembrandt 166 Rickert, H. 51, 62, 71,101,104,179, 359,393,395 Rilke, R. M. 37,56,255,370,431 Ringer, F. K. 49 Ritter,]. 44 Rodi, F. 185, 187, 189ff., 199 Rohde, G. 404 Rosales, A. 75 Rosenzweig, F. 38, 95, 130 Rothacker. E. 180, 189 Rousseau,].]. 240, 422 Sardanapal241 Sartre,]. P. 103, 110-124,368 Saussure,F.de135,155 Schadewaldt, W. 446 Schaefer, H. 403 Scheler, M. 5f., 55, 90, 92, 95, 99, 102f., 116,182,232,249,270,363,366, 380-387, 40If. ,433,435 Schelling, F. W.]. 13, 15,22,26,34,64, 82,91,120.171,179,215,217,256, 299,338,357, 363f., 385, 398f., 411, 428 Schiel,]. 179 Schiller, F. 15,81 Schlegel, F. 129f, 134f., 187, 190, 200f., 370 Schleiermacher, F. 61,72,99,134, 179f., 187f., 190, 199,242,249,328, 3S0,370(,37~433(
Schliemann, H. 212 Schlier, H. 414
451
Schlosser, F. C. 338 Schopenhauer.A.22.25,215.399,406, 421,427.430 Schrempf, Chr. 88. 130 Schubert. F. 283, 425 Schulz, W. 75 Schütz, A. 87, 100 Schütz, H. 426 Schwibs, B. 47 Searle.]. R. 402 Sextus Empiriclls 214 Sheehan, Th. 3 Siger von Brabant 66 Simlnel, G. 9f., 52, 197f., 429 Simplicius 214,244 Sinn, D. 75 Snell, B. 437-440 Sokrates 14,21,29,107,130,174.215. 244f.,261, 322, 335,354.399 Spalding, G. L. 251 Spann, O. 315 Speckner, A. B. 424 Spengler, O. 48ff., 61, 209 Spinoza, B. de 242, 431 Spranger, E. 189 Stepun. F. 393 Stevens, W. 346 Strauss, L. 38, 250f., 417 Strawinsky, I. 425 Szilasi, W. 427 Thales 209,292 Theophrast 255 Theunissen, M. 95 Thibaut, A. F.]. 338 Thomas von Agllin 8, 18, 66. 69, 312. 351 Thomasius, Chr. 23 Thukydides 211,214,329 Tillich, P. 256 Timaios 167, 169 Tolstoi, L. 414 Trakl, G. 255 Trendelenburg. F. A. 143 Tristram Shandy 78 Troeltsch, E. 8, 180, 189.247,364,389, 433 Tugendhat. E. 3,369
452
Namenregister
Unamuno, M. 88 Valery, P. 355, 419 Vernant,j. P. 170 Verwey, A. 45 Vico, G. B. 242 Voß,j. H. 338 van der Waerden, B. L. 37 Waldenfels, B. 259 Warburg, A. 438 Weber, M. 8, 38,144, 182f., 247, 278, 309, 341(,359, 389, 394, 397, 420 ( Weierstraß, K. 101,362 Weil, E. 415 Weiß,H.3 Weizsäcker, V. von 88, 342 Whitehead, A. N. 202, 405
Wieland, ehr. M. 299 Wilamöwitz, U. von 182,213,389,405, 438 Windelband, W. 10,101, 179f., 207, 348,359,393 Wittgenstein, L. 14, 94, 107, 146, 149, 156,204,347,349,402 Wolff, ehr. 23, 55, 299, 307 Wolff, E. 438 Wright, K. 75
Verzeichnis der Gesammelten Werke von Hans-Georg Gadamer
Band 1 Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik 1986,21990
Yeats, W. B. 346 Yorck, P. Graf8f., 186, 191, 198 Zarathustra281, 283 Zeller, E. 338, 340 Zeno81,118 Zeus213,215,254
Wahrheit und Methode (1960) [verbessert und ergänzt fur die neue Ausgabe] - Seite 1
Band 2 Hermeneutik 11. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. 1986,21993 I. Zur Einfiihrung 1. Zwischen Phänomenologie und Dialektik - Versuch einer Selbstkritik (1986) - Seite 3
II. Vorstufen
2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie (1943) - 27 Wahrheit in den Geisteswissenschaften (1953) - 37 Was ist Wahrheit? (1957) - 44 Vom Zirkel des Verstehens (1959) - 57 Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge (1960) - 66 Begriffsgeschichte als Philosopllie (1970) - 77 Klassische und philosophische Hermeneutik (1968) - 92 III. Ergänzungen
9. Zur Problematik des Selbstverständnisses. Ein hermeneutischer Beitrag zur Frage der Entmythologisierung (1%1) -121 10. Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz (1965) - 133 11. Mensch und Sprache (1966) -147 12. Über die Planung der Zukunft (1965) - 155 13. Semantik und Hermeneutik (1968) - 174 14. Sprache und Verstehen (1970) - 184 15. Wie weit schreibt Sprache das Denken vor? (1970) -199 16. Die Unfähigkeit zum Gespräch (1972) -207
454
IV. WeitercntHJicklungen 17. Die Universalität des hermeneutischen Problems (1966) - 219 18. Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode (1967) -232 19. Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik (1971) - 251 20. Rhetorik und Hermeneutik (1976) -276 21. Logik oder Rhetorik? Nochmals zur Frühgeschichte der Hermeneutik (1976) -292 22. Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe (1978) - 301 23. Probleme der praktischen Vernunft (1980) - 319 24. Text und Interpretation (1983) - 330 25. Destruktion und Dekonstruktion (1985) - 361
V. Anhänge 26. 27. 28. 29. 30. 31.
Inhalt der Bände
Verzeichnis der Gesammelten Werke
Exkurse I bis VI (1960) - 375 Hermeneutik und Historismus (1965) - 387 Hermeneutik (1969) - 425 Vorwort zur 2. Auflage (1965) - 437 Nachwort zur 3. Auflage (1972) - 449 Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer (1973) - 479
15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23.
b) Heidegger und die Ethik
24. Gibt es auf Erden ein Maß? (W. Marx) (1984) - 333 25. Ethos und Ethik (Maclntyre u. a.) (1985) - 350
c) Heideggers Anfänge 26. Vom Anfang des Denkens (1986) - 375 27. Aufdem Rückgang zum Anfang (1986) -394 28. Der eine Weg Martin Heideggers (1986) - 417
Band 4
Band 3
Neuere Philosophie 11. Probleme, Gestalten
Neuere Philosophie 1. Hege!, Husserl, Heidegger
1987
1987
I. Der Begriff in der Geschichte
I. Hegel 1. 2. 3. 4. 5.
Hegel und die antike Dialektik (1961) - Seite 3 Die verkehrte Welt (1966) - 29 Die Dialektik des Selbstbewußtseins (1973) - 47 Die Idee der Hegelschen Logik (1971) - 65 Hegel und Heidegger (1971) - 87 II. Husserl
6. Die phänomenologische Bewegung (1963) - 105 7. Die Wissenschaft von der Lebenswelt (1972) -147 8. Zur Aktualität der Husserlschen Phänomenologie (1974) -160 III. Heidegger
a) Heideggers Wege 9. 10. 11. 12. 13. 14.
Existentialismus und Existenzphilosophie (1981) -175 Martin Heidegger 75Jahre (1964) -186 Die MarburgerTheologie (1964) -197 >Was ist Metaphysik?< (1978) -209 Kant und die hermeneutische Wendung (1975) -213 Der Denker Martin Heidegger (1969) -223
Die Sprache der Metaphysik (1968) - 229 Plato (1976) -238 Die Wahrheit des Kunstwerks (1960) -249 Martin Heidegger 85Jahre (1974) - 262 Der Weg in die Kehre (1979) -271 Die Griechen (1979) - 285 Die Geschichte der Philosophie (1981) -297 Die religiöse Dimension (1981) - 308 Sein Geist Gott (1977) - 320
1. Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten jahrhunderts (1965) - Seite 3 2. Rationalität im Wandel der Zeiten (1979) - 23 3. Lob der Theorie (1980) - 37 3a. Die Legitimität der Neuzeit (H. Blumenberg) (1968) - 52 3b. Neuzeit und Aufklärung O. Mittelstrass) (1971) - 60 4. Die Philosophie und die Religion des Judentums (1961) - 68 5. Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie (1971) -78 5a. Spiel und Welt (E. Fink) (1961) - 95 5b. Liebe, Geschichte eines Begriffs (H. Kuhl1) (1977) - 103 6. Kausalität in der Geschichte? (1964) - 107 I I. Das Rätsel der Zeit
7. 8. 9. 10.
Die Zeitanschauung des Abendlandes (1977) -119 Ober leere und erfüllte Zeit (1969) -137 Das Alte und das Neue (1981) -154 Der Tod als Frage (1975) -161
IH. Zu Problemen der Ethik 11. Ober die Möglichkeit einer philosophischen Ethik (1963) -175 12. Das ontologische Problem des Wertes (1971) - 189
455
4-'b
Verzeichnis der Gesammelten Werke Inhalt der ,Bände
13. Wertethik und praktische Philosophie (1982) - 203 14. Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicherVemunft (1974) -216 14a. Begegnung mit dem Sein (H. Kuhn) (1954) -229 14b. Ich und Du (K. Löwith) (1929) - 234
IV. Zu Problemen der Anthropologie 15. 16. 17. 18.
Theorie, Technik, Praxis (1972) -243 Apologie der Heilkunst (1965) -267 P~osophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz (1964) -276 DIe Erfahrung des Todes (1983) - 288
V. Gestalten 19. 20. 21. 22.
Nikolaus Cusanus und die Gegenwart (1964) -297 Oetinger als Philosoph (1964) - 306 Herder und die geschichtliche Welt (1967) -318 Kants >Kritik der reinen Vernunft< nach 200Jahren. »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus« (1981) - 336 23. Kant und die Gottesfrage (1941) -349 24. Das, ~roblem der Sprache bei Schleiermacher (1968) _ 361 25. SchleIermacher als Platoniker (1969) - 374 26. Hege! und der geschichtliche Geist (1939) -384 27. Hegel und die Heidelberger Romantik (1961) -395 28. D~s Proble~ Diltheys. Zwischen Romantik und Positivismus (1984) _ 406 28a. Wtlhelm Dtlthey zu seinem 100. Geburtstag (1933) _ 425 28b. D.er Unvollendete und das Unvollendbare. Zum 150. Geburtstag von Wilhel Dllthey (1983) - 429 m 29. W~lhelm Dilthey und Ortega. Philosophie des Lebens (1985) _ 436 30. Nletzsche - der Antipode. Das Drama Zarathustras (1984) - 448 31. Das Erbe Hegels (1980) - 463
BandS Griechische Philosophie I 1985 1. Abhandlungen 1. Platos dialektische Ethik (1931) - Seite 3 , 2. D~r aris~otelische >Protreptikos( und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der anstotelischen Ethik (1927) -164 3. Plato und die Dichter (1934) -187 4. Die neue Platoforschung (1933) - 212 5. Praktisches Wissen (1930) - 230 6. Platos Staat der Erziehung (1942) - 249 7. Antike Atomtheorie (1935) - 263
457
ff. Rezensionen
8. Zurgriechischen Metaphysik W. D. Ross, Aristotle's Metaphysics (1929) -283 WernerJaeger, Aristoteles (1928) - 286 Julius Stenzel, Metaphysik des Altertums (1929) - 294 Harald Schilling, Das Ethos der Mesotes (1932) - 300 Ernesto Grassi, 11 problema della metafisica Platonica (1933) - 304 Ernesto Grassi, Vom Vorrang des Logos (1940) - 310 9. Sokrates Erwin Wolff, Platos >Apologie< (1931) -316 Helmut Kuhn, Sokrates (1936) -322 10. Plato als politischer Denker Günter Rohr, Platos Stellung zur Geschichte (1932) - 327 Kurt Hildebrandt, Platon, der Kampf des Geistes um die Macht (1935) - 331 M. B. Foster, The Political Philosophies ofPlato and Hege! (1936) - 338 11. Zur platonischen Dialektik Hermann Langerbeck, i10EII EI1IPYIMIH (1936) - 341 W. F. R. Hardie, A Study in Plato (1938) - 343 Gerold Prauss, Platon und der logische Eleatismus (1974) - 346 Paul Stöcklein, Über die philosophische Bedeutung von Platons Mythen (1939) - 349 12. Zur geistigen Überlieferung Alfred Körte, Der Begriffdes Klassischen in der Antike (1935) - 350 Klaus Reich, Kant und die Ethik der Griechen (1938) - 351 Hans Rose, Klassik als künstlerische Denkform des Abendlandes (1940) - 353 Geistige Überlieferung. Ein Jahrbuch. In Verbindung mit Walter F. Otto und Kar! Reinhardt, hrsg. von Ernesto Grassi (1943) - 357
Band 6 Griechische Philosophie 11 1985 J. Abhandlungen
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Die griechische Philosophie und das modeme Denken (1978) - Seite 3 Zur Vorgeschichte der Metaphysik (1950) - 9 Das Lehrgedicht des Parmenides (1936) - 30 Platon und die Vorsokratiker (1964) - 58 Amicus Plato magis amica veritas (1968) - 71 Dialektik und Sophistik im siebenten Platonischen Brief (1964) - 90 Vorgestalten der Reflexion (1966) - 116 Platos ungeschriebene Dialektik (1968) - 129 Über das Göttliche im frühen Denken der Griechen (1970) - 154 Logos und Ergon im platonischen .Lysisc (1972) -171 Die Unsterblichkeitsbeweise in Platos ~Phaidonc (1973) - 187 Gibt es die Materie? Eine Studie zur Begriffsbildung in Philosophie und Wissenschaft (1973) -201
458 13. 14. 15. 16. 17. 18.
Inhalt det: Bände
Verzeichnis der Gesammelten Werke
Das Vaterbild im griechischen Denken (1976) "- 218 Vom Anfang bei Heraklit (1974) -232 Idee und Wirklichkeit in Platos >Timaios< (1974) - 242 Phil~sophie ~d Philologie. über UIrich von Wilamowitz-Moellendorff(1982) -271 Schem und Sem. Zum Tode von Kar! Reinhardt (1958) -278 Die Krise des Helden. Zum Gedenken an Kar! Reinhardt nach zehn Jahren (1966) 285
16. Freundschaft und Selbsterkenntrüs: Zur Rolle der Freundschaft iil d.~r ~rj("thi€rhen Ethik (1985) - 396 17. Denken als Erlösung. Plotin zwischen Plato und Augustin (1980) - 407 18. Natur und Welt. Die hermeneutische Dimension in Naturerkenntnis und Naturwissenschaft (1986) - 418
Band 8 Ästhetik und Poetik 1. Kunst als Aussage 1993
11. Rezensionen 19.
Zur Aktualität von Hellas Richard Harder, Die Eigenart der Griechen (1963) -295 Wolfgang Schadewaldt, Hellas und Hesperien (1975) - 297
Ästhetik und Wahrheit
20. Zur aristotelischen Ethik
L'Ethique aNicomaque. Introduction, traduction et commentaire par R. A. Gauthier et]. Y.Jolif(1962) -302 Aristote: L'Ethique a Nicomaque. 2e edition avec une introduction nouvelle par R. A. Gauthier (1969) - 304
21.
1. 2. 3. 4. 5.
Zu Plato
J. N. Findlay, Plato. The Written and Unwrittell Doctrines (1977) -
Band 7 Griechische Philosophie IH. Plato im Dialog 1991
6. Zu Poetik und Hermeneutik: Lyrik als Paradigma der Moderne (1968). Die nicht mehr schönen Künste (1971) - 58 7. Ober den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit (1971) - 70 8. Dichtung und Mimesis (1972) - 80 9. Das Spiel der Kunst (1977) - 86 10. Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest (1974) - 94
Die TranszendetlZ des Schönen
1. Aufdem Wege zu Plato Parmenides oder das Diesseits des Seins (1988) - Seite 3 Hegel und Heraklit (1991) - 32 Heraklit-Studien (1991) - 43 Sokrates' Frömmigkeit des Nichtwissens (1986) - 83
II. Sokratischer Dialog und Platonische Dialektik 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
.Platos dialektische Ethik< - beim Wort genommen (1989) - 121 Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978) - 128 Plato als Porträtist (1988) - 228 Unterwegs zur Schrift? (1983) -258 Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen (1983) - 270 Mathematik und Dialektik bei Plato (1982) -290 Der platonische .Parmenides< und seine Nachwirkung (1983) -313 Zur platonischen .Erkenntnistheorie< (1988/91) - 328 Dialektik ist nicht Sophistik. Theätet lernt das im .Sophistes< (1991) - 338
III. Im Zeichen Platos 14. Die sokratische Frage und Aristoteles (1990) - 373
15. Aristoteles und die imperativische Ethik (1989) - 381
Ästhetik und Hermeneutik (1964) - Seite 1 Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins (1958) - 9 Dichten und Deuten (1961) -18 Kunst und Nachahmung (1967) -25 Von der Wahrheit des Wortes (1971) -37
Poetik und Aktualitiit des Schönen
307
B. L. van der Waerden, Die Pythagoreer (1981) -312
1. 2. 3. 4.
459
11. 12. 13. 14. 15. 16.
Ästhetische und religiöse Erfahrung (1964/78) - 143 Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft (1984) -156 Mythos und Vernunft (1954) -163 Mythos und Logos (1981) - 170 Mythologie und Offenbarungsreligion (1981) -174 Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft (1981) -180
Vom Schönen zur Kunst - von Kant zu Hegc1 17. Anschauung und Anschaulichkeit (1980) - 189 18. Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Anti-Kunst von heute (1985) - 206 19. Die Stellung der Poesie im System der Hegelschen Ästhetik und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst (1986) - 221 20. Philosophie und Poesie (1977) - 232
Die Kunst des Wortes 21. Philosophie und Literatur (1981) -240 22. Stimme und Sprache (1981) -258 23. Hören - Sehen - Lesen (1984) - 271
460
Inhalt der Bände
Verzeichnis der Gesammelten Werke
24. Lesen ist wie Übersetzen (1989) - 279 25. Der )eminente< Text und seine Wahrheit (1986) - 286
20. Ich und du die selhe seele (1977) -245 21. Der Vers und das Ganze (1979) -249 22. Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (1983) - 258
Zur bildenden Kunst 26. 27. 28. 29. 30.
Über die Festlichkeit des Theaters (1954) -296 Begriffene Malerei? - Zu A. Gehlen: Zeit-Bilder (1962) - 305 Vom Verstummen des Bildes (1965) - 315 Bild und Gebärde (1967) - 323 Über das Lesen von Bauten und Bildern (1979) - 331
An den Grenzen der Sprache 31. 32. 33. 34.
Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt (1990) - 339 Grenzen der Sprache (1985) - 350 Musik und Zeit. Ein philosophisches Postscriptum (1988) - 362 Heimat und Sprache (1992) - 366
Aufdem Wege zur hermeneutischen Philosophie 35. Wort und Bild - )SO wahr, so seiend< (1992) - 373 36. Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1992) - 400
23. 24. 25. 26.
27. Hilde Domin, Lied zur Ermutigung 11 (1966) - 320 28. Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr (1971) - 323 29. Die Höhe erreichen (1988) -329 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38.
Band 9 Ästhetik und Poetik 11. Hermeneutik im Vollzug 1993 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.
Hölderlin und die Antike (1943) - Seite 1 Hölderlin und das Zukünftige (1947) -20 Die Gegenwärtigkeit Hölderlins (1983) - 39 Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins )Andenken< (1987) - 42 Goethe und die Philosophie (1947) - 56 Goethe und die sittliche Welt (1949) - 72 Vom geistigen Laufdes Menschen (1949) - 80 Goethe und Mozart- das Problem Oper (1991) -112 Das Türmerlied in Goethes )Faust< (1982) -122 Die Natürlichkeit von Goethes Sprache (1985) -128 Bach und Weimar (1946) -142 Prometheus und die Tragödie der Kultur (1946) -150 Der Gott des innersten Gefühls (1961) -162 Vergänglichkeit (1991) -171 Karl Immermanns )Chiliastische Sonette< (1949) -180 Zu Immermanns Epigonen-Roman (1964) -193 Gesang Weylas (1989) - 207
18. Der Dichter Stefan George (1968) - 211 19. Hölderlin und George (1971) - 229
Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins (1955 ) - 271 Poesie und Interpunktion (1961) - 282 Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien (1967) -289 Rainer Maria Rilke nach 50Jahren (1976) - 306
Gedicht und Gespräch (1988) - 335 Ernst Meister, Gedenken V (1977) - 347 Denken im Gedicht (1990) - 349 Kafka und Kramm (1991) - 353 Verstummen die Dichter? (1970) - 362 Im Schatten des Nihilismus (1990) - 367 Wer bin Ich und wer bist Du? (1986) - 383 Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan (1975) - 452 Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan? (1991) - 461
Band 10 Hermeneutik im Rückblick 1995 I. Heidegger im Rückblick 1. Erinnerungen an Heideggers Anfänge (1986) - Seite 3 2. Heidegger und die Sprache (1990) -14 3. Heidegger und die Griechen (1990) - 31 4. Heidegger und die Soziologie: Bourdieu und Habermas (1979/85) - 46 5. Hermeneutik und ontologische Differenz (1989) - 58 6. Die Kehre des Weges (1985) - 71 7. Denken und Dichten bei Heidegger und Hölderlin (1988) -76
11. Die hermeneutische Wende 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.
Subjektivität und Intersubjektivität, Subjekt und Person (1975) - 87 Phänomenologie, Hermeneutik, Metaphysik (1983) -100 )Das Sein und das Nichts< O.P. Sartre) (1989) - 110 Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus (1987) -125 Dekonstruktion und Hermeneutik (1988) -138 Hermeneutik auf der Spur (1994) - 148 Die Grenzen der historischen Vernunft (1949) -175 Vom Wandel in den Geisteswissenschaften (1985) - 179 Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule (1991) -185 Geschichte des Universums und Geschichtlichkeit des Menschen (1988) -206
461
462
Verzeidmis der Gesammelten Werke
111. Hermeneutik und die praktüche Philosophie 18. 19. 20. 21. 22.
Bürger zweier Welten (1985) - 225 Die Idee der praktischen Philosophie (1983) - 238 Geschichtlichkeit und Wahrheit (1991) -247 Vernunft und praktische Philosophie (1986) - 259 Europa und die Oikoumene (1993) - 267
IV. Die Stellung der Philosophie in der Gesellschaft 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32.
Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft (1947) - 287 Zum 300. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Ldbniz (1946/90) -295 Die Stellung der Philosophie in der heutigen Gesellschaft (1967) - 308 Welt ohne Geschichte? (1972) -317 Historik und Sprache (1987) - 324 Von Lehrenden und Lernenden (1986) -331 Die Universität Heidelberg und die Geburt der modernen Wissenschaft (1986) -336 Mit der Sprache denken (1990) -346 Schreiben und Reden (1983) - 354 Die deutsche Philosophie zwischen den beiden Weltkriegen (1987) - 356
V. Philosophische Begegnungen Paul Natorp (1954) - 375 Max Scheler (1974) -380 RudolfBultmann (19n) - 387 KarlJaspers (1%9) -392 Hans Lipps (1976) - 400 Paul Friedländer (1993) - 403 Erich Frank (1950) - 405
Gerhard Krüger (1962) - 412 Karl Löwith (1 %2) - 418 Thrasyboulos Georgiades (1978) - 423 Fritz Kaufmann (1960) - 426 Emilio Betti (1978) - 432 Bruno Snell (1987) -437
Register der Texte In der alphabetischen Folge des ersten sinntragenden Wortes verzeichnet das Register: Titel (Jahreszahl) Band:Seite des Abdrucks in den Gesammelten Werken. Enthalten sind auch Alternativtitel und Titel von Teilfassungen, die wichtige Entstehungsstufen darstellen. Ästhetik und Hermeneutik (1964) 8: 1 Ästhetische und religiöse Erfahrung (1964/ 78) 8:143 Zur Aktualität der HusserIschen Phänomenologie (1974) 3:160 Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest (1974) 8:94 Das Alte und das Neue (1981) 4:154 Amicus Plato magis amica veritas (1968) 6:71 Vom Anfang bei Heraklit (1974) 6:232 Vom Anfang des Denkens (1986) 3:375 Anrufung des entschwundenen Gottes: Das Denken Martin Heideggers zwischen Metaphysik und technischer Welt (1977) 3:320
Anschauung und Anschaulichkeit (1980) 8:189 Apologie der Heilkunst (1965) 4:267 Aristoteles und die imperativische Ethik (1989) 7:381 Aristoteles: Gibt es die Materie? (1973) 6:201
Aristotle's Metaphysics, Hrsg. von W. D. Ross (Rez. 1928) 5:283 Aristoteles siehe auch: L'Ethique aNicomaque (Rez.); Idee der praktischen Philosophie; Idee des Guten; Jaeger (Rez.); Ross (Rez.); sokratische Frage Der aristotelische )Protreptikos< und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der aristotelischen Ethik (1927) 5:164 Antike Atomtheorie (1935) 5:263 Augustin siehe: Denken als Erlösung Über Autorität: Die Wahrheit in den Geisteswissenschaften (1953) 2:37
Bach und Weimar (1946) 9:142 Begegnung mit dem Sein (H. Kuhn) (Rez. 1954) 4:229 Begriffene Malerei? - Zu A. Gehlen: ZeitBilder (Rez. 1962) 8:305 Begriffsgeschichte als Philosophie (1970) 2:77 Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie (1971) 4:78 BeWer (Rez.) siehe: Hermeneutik und die Dilthey-Schule Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit (1971) 8: 70 Betti - Emilio Betti (1978) 10:432; E. B. und das idealistische Erbe (1978) 10:432 Bild und Gebärde (1967) 8:323; siehe auch: Lesen von Bauten und B.; Verstummen des B.; Wort und B.; Begriffene Malerei? Die Bildung zum Menschen (1949) 9:80 Das Blatt zwischen uns (Ernst Meister, Gedenken V) (1977) 9:347 Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (Rez. 1968) 4:52 Bollnow (Rez.) siehe: Hermeneutik und die Dilthey-Schule Bourdieu - Pierre Bourdieu. Die politische Ontologie Martin Heideggers (Rez. 1979) 10:46; siehe auch: Heidegger und die Soziologie Bürger zweier Welten (1985) 10:225 Bultmann - Rudolf Bultmann (1977) 10:387
Celans Schlußgedicht (1987) 9:367 Celan siehe auch: Phänomenologischer und semantischer Zugang; Schatten des Ni-
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Register der Texte
Verzeichnis der Gesammelten Werke
hilismus; Sinn und Sinnverhüllung; Verstummen die Dichter?; Wer bin Ich? Cusanus siehe: Nikolaus Dekonstruktion und Hermeneutik (1988) 10:138; siehe auch: Destruktion und D.; Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus; Text und Interpretation; Hermeneutik auf der Spur Denken als Erlösung. Plotin zwischen Plato und Augustin (1980) 7:407 Denken im Gedicht (1990) 9:349 Denken und Dichten bei Heidegger und Hölderlin (1988) 10:76 Der Denker Martin Heidegger (1969) 3:223 Destruktion und Dekonstruktion (1985) 2:361 Die deutsche Philosophie zwischen den beiden Weltkriegen (1987) 10:356 Zur deutschen Philosophie im 20. Jahrhundert (1987) 10: ~56 Die Dialektik des Selbstbewußtseins (1973) 3:47 Dialektik ist nicht Sophistik. Theätet lernt das im >Sophistes< (1991) 7:338 Dialektik und Sophistik im siebenten Platonischen Brief (1964) 6:90 Dialektik siehe auch: Hegel und die antike D.; Mathematik und D. bei Plato; Platos dialektische Ethik; Platos ungeschriebene D.; Zwischen Phänomenologie und
D. Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins >Andenken< (1987) 9:42; 10:76 Dichten und Deuten (1961) 8:18 Dichtung und Mimesis (1972) 8:80 Dichtung und Nachahmung (1972) 8:80 Dilthey - Wilhelm Dilthey zu seinem 100. Geburtstag (1933) 4:425; Der Unvollendete und das Unvollendbare (1983) 4:436; W. D. und Ortega (1985) 4:436; siehe auch: Hermeneutik und die Dilthey-Schule; Problem D.s; Der Unvollendete Domin - Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr (1971) 9:323; H. D., Lied zur Ermutigung 11 (1966) 9:320; Die Höhe erreichen - H. Ds. Frankfurter PoetikVerlesungen 9:329 Das Drama Zarathustras (1983) 4:448
Der >eminente< Text und seine Wahrheit (1986) 8:286 Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Anti-Kunst von heute (1985) 8:206 Das Erbe Hegels (1980) 4:463 Die Erfahrung des Todes (1983) 4:288; siehe auch: Tod als Frage L'Ethique aNicomaque. Introduction, traduction et commentaire par R. A. Gauthier et J. Y.Jolif (Rez. 1962) 6:302; 2. Auf!. (Rez. 1969) 6:304 Ethos und Ethik (MacIntyre u. a.)(Rez. 1985) 3:350; siehe auch: Aristoteles und die imperativische E.; Der aristotelische >Protreptikos<; Freundschaft und Selbsterkenntnis; Goethe und die sittliche Welt; Möglichkeit einer philosophischen E.; Wert-E. und praktische Philosophie Ethos und Logos (1989) 7:381 Europa und die Oikoumene (1993) 10:267 Existentialismus und Existenzphilosophie (1981) 3:175; siehe auch: Deutsche Philosophie zwischen den beiden Über die Festlichkeit des Theaters (1954) 8:296 Findlay, Plato. The Written and Unwritten Doctrines (Rez. 1977) 6: 307 Fink, Spiel als Weltsymbol (Rez. 1961) 4:95 Fink, Spiel und Welt (Rez. 1961) 4:95 Foster, The Political Philosophies of Plato andHegel (Rez. 1936) 5:338 Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins (1958) 8:9 Frank-Erich Frank (1950) 10:405 Freundschaft und Selbsterkenntnis. Zur Rolle der Freundschaft in der griechischen Ethik (1985) 7:396 Friedländer - Paul Friedländer (1993) 10:403
Frühromantik, Hermeneutik, struktivismus (1987) 10:125
Dekon-
Gadamer - Selsbtdarstellung Hans-Georg Gadamer (1973) 2:479; Zwischen Phänomenologie und Dialektik: Versuch einer Selbstkritik (1986) 2:3; >Platos dia-
lektische Ethik< - Beim Wort genommen (1989) 7: 121 Geburt der modernen Wissenschaft (1986) 10:336
Gedicht und Gespräch - Überlegungen zu einer Textprobe Ernst Meisters (1988) 9:335 Das Gedicht zwischen Autor und Leser (Hilde Domin) (1966) 9:320 Die Gegenwärtigkeit HölderJins (1983) 9:39 Die Gegenwart der sokratischen Frage in Aristoteles (1990) 7:373 Gehlen (Rez.) siehe: Begriffene Malerei? Geistige Überlieferung. Ein Jahrbuch. In Verbindung mit Walter F.Otto und Karl Reinhardt hrsg. von Ernesto Grassi (Rez. 1943) 5:357 Vom geistigen Lauf des Menschen - Studien zu unvollendeten Dichtungen Goethes (1949) 9:80 George - Der Dichter Stefan George (1968) 9:211; St. G. 1868-1933 (1985) 9:258; siehe auch: Hölderlin und G.; Ich und du die selbe seele; Vers und das Ganze; Wirkung St. G.s Georgiades - Thrasyboulos Georgiades (1978) 10:423 Gesang Weylas (1989) 9:207 Die Geschichte der Philosophie (1981) 3:297 Geschichte des Universums und Geschichtlichkeit des Menschen (1988) 10:206
Geschichte siehe auch: Kausalität in der G.?; Kontinuität der G.; Problem der G.; Welt ohne G.?; Hegel und der geschichtliche Geist; Herder und die geschichtliche Welt; Hermeneutik und Historismus; Grenzen der historischen Vernunft; Historik und Sprache Geschichtlichkeit und ~1ahrheit (1991) 10:247
Gibt es auf Erden ein Maß? (W. Marx) (Rez. 1984) 3:333 (Fortsetzung 1985) 3:350
Gibt es die Materie? (1973) 6:201 Goethe und die Philosophie (1947) 9:56 Goethe und die sittliche Welt (1949) 9:72 Goethe und Mozart - das Problem Oper (1991) 9: 112
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Goethe siehe auch: Vom geistigen Lauf; Natürlichkeit; Türmerlied Über das Göttliche im frühen Denken der Griechen (1970) 6:154 Der Gott des innersten Gefühls (1961) 9:162 Die Gottesfrage der Philosophie (1941) 4:349 Grassi, n problema della metafisica Platonica (Rez. 1933) 5:304 Grassi, Vom Vorrang des Logos (Rez. 1940) 5:310 Die Grenze des Titanischen: Prometheus. Pandora (1948) 9:80 Die Grenzen der historischen Vernunft (1949) 2:27; 10: 175 Grenzen der Sprache (1985) 8:350 Die Griechen (1979) 3:285 Die griechische Philosophie und das moderne Denken (1978) 6:3 Die Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts (1965) 4: 3 Guardini - Romano Guardini, Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins: (Rez. 1955) 9:271 Habermas (Re:::.) siehe: Heidegger und dil' Soziologie Harder, Die Eigenart der Griechen (Rez. 1963) 6:295 Hardie, A Study in Plato (Rcz. 1938) 5:343 Hegel und der geschichtliche Geist (1939) 4:384 Hegel und die antike Dialektik (1961) 3:3 Hegel und die Heidelberger Romantik (1%1) 4:395 Hegel und Heidegger (1971) 3:87 Hegel und Heraklit (1991) 7:32 Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins (1973) 3:47 Hegel siehea14ch: Ende der Kunst; Erbe H.s; Idee der H.schen Logik; Sprache der Metaphysik; Stellung der Poesie; verkehrte Welt Heidegger und die Geschichte der Philosophie (1981) 3:297 Heidegger und die Griechen (1979) 3:285 Heidegger und die Griechen (1990) 10:31 Heidegger und die Soziologie: Bourdil'll und Habermas (Rez. 1979/85) 10:46 Heidegger und die Sprache (1990) 10: 14
466
Verzeichnis der Gesammelten Werke
Heidegger und die Sprache der MetaphyNatui und Welt; Phänomenologie, H., sik (1972) 3:229 Metaphysik; Rhetorik, H., IdeologieHeideggers Rückgang auf die Griechen kritik; Replik; Rhetorik und H.; Seman(1987) 3:394 tik und H.; Text und Interpretation; Heideggers Sprachverständnis in philoUniversalität des h. Problems (vgl. Versophiegeschichtlicher Perspektive (1990) stehen) 10:14 Hermeneutische Probleme der praktischen Heidegger - Martin Heidegger und die Vernunft (1982) 2:319 Marburger Theologie (1964) 3:186; Der Die heutige Unfähigkeit zum Gespräch als Denker M. H. (1969) 3:223; M. H. zum philosophisches Problem (1971) 2:207 85. Geburtstag (1974) 3:262; Der eine Hildebrandt, Platon. Der Kampf des GeiWeg M. H.s (1986) 3:417; siehe auch: Anstes um die Macht (Rez. 1935) 5:331 fang des Denkens; Denken und Dichten; Historik und Sprache (1987) 10:324 Ethos und Ethik; Existentialismus; GeDie Höhe erreichen - Hilde Domins schichte der Philosophie; Gibt es auf ErFrankfurter Poetik-Vorlesungen (1988) den; Die Griechen; Hege! und H.; Her9:329 meneutik und ontologische Differenz; Hölderlin und das Zukünftige (1947) 9:20 Kant und die hermeneutische Wendung; Hölderlin und die Antike (1943) 9:1 Kehre des Weges; Die Marburger TheoHölderlin uud George (1971) 9:229 logie; Nur wer mitgeht; Plato u. H.; reliHölderlin siehe auch: Denken und Dichten; giöse Dimension; Rückgang zum AnDichten und Denken; Gegenwärtigkeit fang; Sein Geist Gott; Sprache der MetaH.s physik; Wahrheit des Kunstwerks; Was Hören - Sehen - Lesen (1984) 8:271 ist Metaphysik; Weg in die Kehre Husserl siehe: Aktualität der H. schen PhäHeidelberg siehe: Universität; Hege! und nomenologie; phänomenologische Bedie Heidelberger Romantik wegung; Wissenschaft von der LebensHeimat und Sprache (1992) 8:366 welt; Subjektivität und Intersubjektivität Heraklit-Studien (1991) 7:43 Heraklit siehe auch: Anfang bei H.; Hege! undH. Ich und Du (K. Löwith) (Rez. 1929) 4:234 Herder und die geschichtliche Welt (1967) Ich und du die selbe seele (1977) 9:245 4:318 Vom Ideal der praktischen Philosophie Hermeneutik (1969) 2:425 (1980) 2:319 Hermeneutik (Artikel Hist. Wb. Phi!. Die Idee der Hegclschen Logik (1971) 3:65 1974) 2:92 Die Idee der praktischen Philosophie Hermeneutik als theoretische und prakti(1983) 10:238 sche Aufgabe (1978) 2:301 Die Idee des Guten zwischen Plato und Hermeneutik auf der Spur (1994) 10: 148 Aristoteles (1978) 7:128 Hermeneutik und bildende Kunst (1979/ Idee und Wirklichkeit in Platos )Timaiosc 82) 8:331 (1974) 6:242 Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule Immanente Ästhetik - Ästhetische Refle(Rez. 1991) 10:185 xion - Lyrik als Paradigma der Moderne Hermeneutik und Historismus (1965) (Rez. 1968) 8:58 2:387 Immermann - Karl Immermanns )ChiliaHermeneutik und ontologische Differenz stische Sonette< (1949) 9: 180; Zu Immer(1989) 10:58 manns Epigonen-Roman (1964) 9:193 Hermenutik siehe auch: Ästhetik und H.; Dekonstruktion und H.; Frühromantik, jaeger, Aristoteles (Rez. 1928) 5:286 H., Dekonstruktivismus; Kant und die jaspers - Karljaspers (1969) 10:392 h. Wendung; Klassische und philo- judentum: Die Philosophie und die Relisophische H. ; Logik oder Rhetorik?; gion des]. (1961) 4:68
Register der Texte Kafka und Kramm (1991) 9:353 Kant und die Gottesfrage (1941) 4:349 Kant und die hermeneutische Wendung
(1975) 3:213 Kant und die philosophische Hermeneutik (1975) 3:213 Kants )Kritik der reinen Vernunft< nach 200jahren. ) Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus
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über das Lesen von Bauten u.l1d ßildern (1979) 8:331 Liebe, Geschichte eines Begriffs (H. Kuhn) (Rez. 1977) 4: 103 Lied zur Ermutigung 11 (1966) 9:320 Lipps - Hans Lipps (1928/76) 10:400 Lob der Theorie (1980) 4:37; siehe auch: Theorie, Technik, Praxis Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (Rez. 1929) 4:234 Löwith - Kad Löwith (1962) 10:418 Logik oder Rhetorik? Nochmals zur Frühgeschichte der Hermeneutik (1976) 2:292 Logos und Ergon im platonischen )Lysisc (1972) 6: 171 Lyrik als Paradigma der Moderne (Rez. 1968) 8:58 Die Marburger Theologie (1964) 3: 197 Marx siehe: Gibt es auf Erden ein Maß? Materie siehe Aristoteles Mathematik und Dialektik bei Plato (1982) 7:290 1 MacIntyre (Rez.) siehe: Ethos und Ethik Meister - Enlst Meister, Gedenken V (1977) 9:347; siehe auch: Gedicht und Gespräch Mensch und Sprache (1966) 2: 147 Metaphysik: )Was ist M.?< (1978) 3:209; siehe auch: Phänomenologie, Hermeneutik, M.; Sprache der M.; Stenzel (Rez.); Vorgeschichte der M.; Begegnung mit dem Sein (Rez.); Sein Geist Gott; )Das Sein und das Nichts( (vgJ. Philosophie) Mittelstrass, Neuzeit und Aufklärung (Rez. 1973) 4:60 über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik (1963) 4: 175 Mozart und das Problem der Oper (1992) 9:112 Musik und Zeit. Ein philosophisches Postscriptum (1988) 8:362 Mythologie und Offenbarungsreligion (1981) 8:174 M ythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien (1967) 9:289 Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft (1981) 8: 180 Mythos und Logos (1981) 8: 170
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Register der Texte
Verzeichnis der Gesammelten Werke
Mythos und Vernunft (1954) 8:163 Mythos und Wissenschaft (1981) 8:170, 8: 174, 8: 180
Philosophie und Literatur (1981) 8:240 Philosophie und Philologie. Ober Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1982)
Natorp - Paul Natorp (1954) 10:375 Die Natürlichkeit VQn Goethes Sprache
Philosophie und Poesie (1977) 8:232 Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz (1964) 4:276 Philosophische Ethik als Klugheitsethik
6:271
(1985) 9: 128
Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge (1960) 2:66 Natur und Welt. Die hermeneutische Dimension in Naturerkenntnis und Naturwissenschaft (1986) 7:418 Die neue Platoforschung (Rez. 1933) 5:212 Neuzeit und Aufklärung siehe: Mittelstrass Nietzsehe - der Antipode: Das Drama Zarathustras (1984) 4:448 Nikolaus Cusanus und die Gegenwart (1964) 4:297
»Nur wer mitgeht, weiß, daß es ein Weg ist«: Begegnungen mit Martin Heidegger (1974) 3:262 Oetinger als Philosoph (1964) 4:306 Die offene Geschichte (1985) 4:107 Das ontologische Problem des Wertes (1971) 4:189
Ortega siehe: Dilthey und O.
(1%4) 4:175
Die philosophischen Grundlagen des zwanzigstenJahrhunderts (1965) 4:3 Ober die Planung der Zukunft (1965) 2: 155 Plato (1976) 3:238 Plato als Porträtist (1988) 7:228 Plato und Heidegger (1976) 3:238 Plato und die Dichter (1934) 5:187 Platon und die Vorsokratiker (1964) 6:58 Der platonische >Parmenides( und seine Nachwirkung (1983) 7:313 Zur platonischen )Erkenntnistheorie( (1988/91) 7:328
Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen (1983) 7:270 Platos dialektische Ethik (1931) 5:3; - beim Wort genommen (1989) 7: 121 Platos Staat der Erziehung (1942) 5:249 Platos ungeschriebene Dialektik (1968) 6:129
Parmenides oder das Diesseits des Seins (1988) 7:3; siehe auch: Retraktationen Phänomenologie, Hermeneutik, Metaphysik (1983) 10: 100; siehe auch: Aktualität der Husserlschen P.; Subjektivität und Intersubjektivität; Wissenschaft von der Lebenswelt; Zwischen P. und Dialektik Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1992) 8:400 Die phänomenologische Bewegung (1963) 3:105 PhänomenologischerundsemantischerZugang zu Celan? (1991) 9:461 Die Philosophie (1961) 4:68; siehe auch: Begriffsgeschichte als P.; Begriffsgeschichte und die Sprache der P.; deutsche P. zwischen den Weltkriegen; Existentialismus und Existenz-P.; Geschichte der P.; Goethe und die P.; griechische P. und das moderne Denken; Problem der Geschichte; Stellung der P. (Ilgi. Ethik; Metaphysik; praktische Philosophie)
Plato siehe auch: Amicus Plato; Denken als Erlösung; Dialektik ist nicht Sophistik; Dialektik und Sophistik; Findlay (Rez.); Foster (Rez.); Gegenwart; Grassi (Rez.); Hardie (Rez.); Hildebrandt (Rez.); Idee des Guten; Idee und Wirklichkeit; Kuhn (Rez.); Logos und Ergon; Mathematik und Dialektik; Neue P.-forschung; Prauss (Rez.); Retraktionen; Rohr (Rez.); Schleiermacher als Platoniker; Sokrates' Frömmigkeit; Sokratische Frage; Stöcklein (Rez.); Unsterblichkeitsbeweise; Wolff (Rez.) Plotin siehe: Denken als Erlösung Poesie heute. Die nicht mehr schönen Künste: Grenzphänomene des Ästhetischen (Rez. 1972) 8:58; siehe auch: Stellung der Poesie Poesie und Interpunktion (1961) 9:282 Zu Poetik und Hermeneutik: Lyrik als Paradigma der Moderne (Rez. 1968). Praktische Philosophie: Die Idee der p. P. (1983) 10:238; siehe auch: Vernunft und
p. P. Wertethik und p. P.; Wissenschaftsgeschichte und p. P. (Rez.) (vgl. Ethik, Philosophie) Praktisches Wissen (1930) 5:230 Praxis: Was ist P.? (1974) 4:216; siehe auch: Theorie, Technik, P.; Lob der Theorie; Probleme der praktischen Vernunft; Hermeneutik als theoretische u. praktische Aufgabe Prauss, Platon und der logische Eleatismus (Rez. 1974) 5:346 Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie (1943) 2:27; 10:175 Das Problem der Sprache bei Schleiermacher (1968) 4:361 Das Problem Diltheys. Zwischen Romantik und Positivismus (1984) 4:406 Zur Problematik des Selbstverständnisses. Ein hermeneutischer Beitrag zur Frage der Entmythologisierung (1961) 2:121 Probleme der praktischen Vernunft (1980) 2:319
Prometheus und die Tragödie der Kultur (1946) 9:150 Rationalität im Wandel der Zeiten (1979) 4:23
Reflexionen über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft (1984) 8:156 Reich, Kant und die Ethik der Griechen (Rez. 1938) 5:351 Reinhardt - Kar! Reinhardt (1958) 6:278, Die Krise des Helden. Zum Gedenken an K. R. nach zehn Jahren (1966) 6: 285; Schein und Sein: Zum Tode von K. R. (1958) 6:278
Die religiöse Dimension (1981) 3:308 Retraktationen zum Lehrgedicht des Parmenides (1952) 6:30 Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu )Wahrheit und Methode( (1967) 2:232 Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Replik zu )Hermeneutik und Ideologiekritik( (1971) 2:251 Rhetorik und Hermeneutik (1976) 2:276; siehe auch: Logik oder Rhetorik? Riezler - Kurt Riezler, Parmenides (1936/ 1970) 6:30
469
Rilke - Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins (Rez. 1955) 9:271; R. M. R. nach 50 Jahren (1976) 9:306~ siehe auch: Mythopoietische Umkehrung; Poesie und Interpunktion Rodi (Rez.) siehe: Hermeneutik und die Dilthey-Schule Rohr, Platons Stellung zur Geschichte (Rez. 1932) 5:327 Rose, Klassik als künstlerische Denkform des Abendlandes (Rez. 1940) 5:353 Ross, Aristotle's Metaphysics (Rez. 1929) 5:283
Auf dem Rückgang zum Anfang (1986) 3:394
Rückkehr aus dem Exil (1992) 8:366 Sartre siehe: )Das Sein und das Nichts( Schadewaldt, Hellas und Hesperien (Rez. 1975) 6:297
Im Schatten des Nihilismus (1990) 9:367 Schein und Sein siehe: Reinhardt Scheler - Max Scheler (1974) 10:380 Schilling, Das Ethos der Mesotes (Rez. 1932) 5:300
Schleiermacher als Platoniker (1969) 4:374 Schleiermacher siehe auch: Problem der Sprache Schreiben und Reden (1983) 10:354 Auf schwankendem Boden: Vom Wandel in den Geisteswissenschaften (1985) 10:179 Sein Geist Gott (1977) 3:320 )Das Sein und das Nichts( O. P. Sartre) (1989) 10:110 Selbstkritik siehe: Gadamer Semantik und Hermeneutik (1968) 2: 174 Sirul und Sinnverhüllung bei Paul Cclan (1975) 9:452
Die sittliche Verwandlung (1985) 4: 107 Snell- Bruno SneH (1987) 10:437 Sokrates' Frömmigkeit des Nichtwissens (1986) 7:83
Die sokratische Frage und Aristotcles (1990) 7:373
Sokrates siehe aruh: Kuhn (Re.<.); Wolff (Rez.) Das Spiel der Kunst (1977) 8:86 Spiel und Welt (E. Fink) (Rez. 19(1) 4:95 Mit der Sprache denken (1990) 10:346
470
Verzeichnis der Gesammelt~n 'Werke
Die Sprache der Metaphysik (1968) 3:229 Sprache und Verstehen (1970) 2:184; siehe auch: Grenzen der S.; Heidegger und die S.; Heidegger und die S. der Metaphysik; Heimat und S.; Historik und S.; Mensch und S.; Natur der Sache; Natürlichkeit von Goethes S.; Phänomenologie von Ritual und S.; Problem der S. bei Schleiermacher; Stimme und S.; Vielfalt der S.; Wie weit schreibt S. das Denken vor? Die Stellung der Philosophie in der heutigen Gesellschaft (1%7) 10:308 Die Stellung der Poesie im System der Hegelsehen Asthetik und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst (1986) 8:221 Stenzei, Metaphysik des Altertums (Rez. 1929) 5:294
Stimme und Sprache (1981) 8:258 Stöcklein, über die philosophische Bedeutung von Platons Mythen (Rez. 1939) 5:349 Subjektivität und Intersubjektivität, Subjekt und Person (1975) 10:87 Text und Interpretation (1983) 2:330; siehe auch: Der )eminente( Text und seine Wahrheit Theorie, Technik, Praxis (1972) 4:243 Der Tod als Frage (1975) 4:161; siehe auch: Erfahrung des Todes Das Türmerlied in Goethes )Faust( (1982) 9:122
Die Unbegreiflichkeit des Todes: Philosophische Überlegungen zur Transzendenz des Lebens (1974) 4: 161 Die Unfähigkeit zum Gespräch (1972) 2:207 Die Universalität des hermeneutischen Problems (1966) 2:219 Die Universität Heidelberg und die Geburt der modemen Wissenschaft (1986) 10:336 Die Unsterblichkeitsbeweise in Platos )Phaidon( (1973) 6:187 Unterwegs zur Schrift? (1983) 7:258 Der Unvollendete und das Unvollendbare siehe: Dilthey Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft (1947) 10:287
Das Vaterbild· im griechischen Denken (1976) 6:218
Vergänglichkeit (1991) 9: 171 Die verkehrte Welt (1966) 3:29 Vernunft und praktische Philosophie (1986) 10:259; siehe auch: Grenzen der historischen V.; Mythos und V.; Probleme der praktischen V.; Rationalität im Wandel Der Vers und das Ganze (1979) 9:249 Verstehen und Spielen (1963) 2:121; siehe auch: Sprache und V.; Vom Zirkel des v.; Vielfalt der Sprachen (vgl. Hermeneutik) Vom Verstummen des Bildes (1965) 8:315 Verstummen die Dichter? (1970) 9:362 Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt (1990) 8:339 » Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus« (1981) 4:336 Zur Vorgeschichte der Metaphysik (1950) 6:9 Vorgestalten der Reflexion (1966) 6:116 van der Waerden, Die Pythagoreer (Rez. 1981) 6:312
Der wahre Schein der Kunst (1975) 8:86 Wahrheit: Was ist W.? (1954) 2:44; siehe auch: Geschichtlichkeit und W. Die Wahrheit des Kunstwerks (1960) 3:249 Von der Wahrheit des Wortes (1971) 8:37 Von der Wahrheit des Wortes (1988) 9:42; 10:76 Wahrheit in den Geisteswissenschaften (1953) 2:37
Wahrheit und Dichtung: Ober den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit (1971) 8:70; siehe auch: Der )eminente< Text und seine Wahrheit Wahrheit und Methode (1960) 1:1; ExkurseI bis VI (1960) 2:375; Vorwort zur 2. Auflage (1965) 2:437; Nachwort zur 3. Auflage (1972) 2:449 Vom Wandel in den Geisteswissenschaften (1985) 10:179 Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaCtJicher Vernunft (1974) 4:216 Der Weg in die Kehre (1979) 3:271 Welt ohne Geschichte? (1972) 10:317 Wer bin Ich und wer bist Du? - Kommen-
Register der Texte tar zu Celans Gedichtfolge )Atemkristall( (1986) 9:383 Wertethik und praktische Philosophie (1982) 4:203 Die Wiedergeburt der Metaphysik aus dem Gewissen (Rez. 1954) 4:229 Wie weit schreibt Sprache das Denken vor? (1970) 2:199 Wilamowitz-Mocllendorff siehe: Philosophie und Philologie Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (1983) 9:258 Wissenschaft, Praxis und Selbstbewußtsein unserer Zeit - in der Sicht der Philosophie (1981) 4:37 Die Wissenschaft von der Lebenswelt (1972) 3:147; siehe auch: Geburt der modernen W.; Mythos im Zeitalter der W.; Natur und Welt; Reflexionen über das Verhältnis von Religion und W.; Ursprünglichkeit der W.; Wahrheit in den Geistes-W.; Wandel in den Geistes-W. Wissenschaftliche Malerei? siehe: Begriffene Malerei (Rez.)
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Wissenschaftsgeschichte und pl'aktische Philosophie (1973) 4:60 Wolff, Platos )Apologie< (Rez. 1931) 5:316 Wort und Bild- )so wahr, so seiend( (1992) 8:373; siehe auch: Wahrheit des Wortes Wort und Verheißung (1983) 10:354 Die Zeitanschauung des Abendlandes (1977) 4: 119; siehe auch: Leere und erfüllte Zeit; Musik und Zeit; Das Alte und das Neue Ziehen an Drähten, Ziehen von Puppen siehe: Scheler Vom Zirkel des Verstehens (1959) 2:57 Zwischen Aufklärung und Romantik. Heidelberg und die Geburt der modernen Wissenschaft (1986) 10:336 Zwischen den Zeiten siehe: Krüger Zwischen Ferne und Nähe: Goethe lesen (1982) 9: 122 Zwischen Phänomenologie und Dialektik - Versuch einer Selbstkritik (1986) 2:3
maex Ol .r.ngnsn tr'UlSIClUUI1~ Intuition and Vividness 8: 189 The Inverted World 3:29 jaspers - Karljaspers 10:392
Index ofEnglish translations Fo.r the ~on~enie?~e of English language readers who want to consult the original texts pnnted m this edltion of Collected Works the English translations are listed here alphabetically together with the numbers of volume:first page. Aesthetic and Religious Experience 8: 143 Aesthetics and Hermeneutics 8: 1 Amicus Plato Magis Amica Veritas 6:71 Are the Poets Falling Silent? 9:362 Aristotle see: Idea of the Good Art and Imitation 8:25 Being, Spirit, God 3:320 Bultmann - RudolfBultmann 10:387 Celan see: Are the Poets Falling Silent; Shadow ofNihilism On the Circle ofUnderstanding 2:57 Citizens ofTwo Worlds 10:225 Composition and Interpretation 8:18 Concerning Empty and Fulfilled Time 4:137 The Continuity of History and the Existential Moment 2: 133 On the Contribution of Poetry to the Search forTruth 8:70 Dallmayr see: Letter to Dallmayr Destruction and Deconstruction 2:361 Dialectic and Sophism in Plato's Seventh Letter 6:90 Domin - Hilde Domin, Poet of Return 9:323 The Drama ofZarathustra 4:448 The Eminent Text and Its Truth 8:286 The Festive Character ofTheater 8:296 Gadamer on Gadamer 7: 121 George see: Hölderlin and G.; Verse and the Whole
Hegel and Heidegger 3:87 Hegel and the Dialectic of the Ancient Philosophers 3:3 Hegel's Dialectic of Self-consciousness 3:47 Hegel see also: Heritage ofH.; Idea ofH. 's Logic; Inverted World Heidegger and the History of Philosophy 3:297 Heidegger and the Language of Metaphysics 3:229 Heidegger's Later Philosophy 3:249 Heidegger's Paths 3:271 Heidegger - Martin Heidegger 3:262; see also: Being, Spirit, God; Hegel and H.; Plato and H.; Religious Dimension The Heritage ofHegel4:463 Hermeneutics and Historicism 2:387 Hermeneutics and Logocentrism 10: 125 Hermeneutics as a Theoretical and Practical Task 2: 301 Hermeneutics as Practical Philosophy 2:301
Historical Transformations ofReason 4:23 The History ofConcepts and the Language ofPhilosophy 4:78 History of Science and Practical Philosophy 4:60 Hölderlin and George 9:229 Husserl see: Phenomenological Mov,:ment; Science ofthe Life-World Idea and Reality in Plato's Timaeus 6:242 The Idea ofHegel's Logic 3:65 The Idea of the Good in Platdnic-Aristotelian Philosophy 7:128 The Ideal ofPractical Philosophy 2:319 Image and Gesture 8:323
Kant see: » New epoch ... « Krüger - Gerhard Krüger 10:412 Letter to Dallmayr 10: 138 Lipps - Hans Lipps 10:400 Löwith - Karl Löwith 10:418 Logos and Ergon in Plato's Lysis 6: 171 Man and Language 2: 147 Martin Heidegger and Marburg Theology 3:197 Mittelstrass see: History of Science Mythopoetic Inversion in Rilke's Duino Elegies 9:289 Natorp - Paul Natorp 10:375 Natural Sciencc and Hermeneutics: Thc Conccpt of Nature in Ancient Philosophy 7:418 The Nature ofThings and the Language of Things 2:66 ) A new epoch in the history of the world begins here and now« 4:336 Nietzsehe see: Drama of Zarathustra Notes on Planning for the Future 2: 155 The Old and the New 4: 154 On the Origins of Philosophical Hermeneutics 2:479 The Phenomenological Movement 3: 105 The Philosophical Foundations of the Twentieth Century 4:3 Philosophy and Literature 8:240 Philosophy and Poetry 8:232 The Philosophy and Religion of Judaism 4:68 Plato and Heideggcr 3:238 Plato and the Poets 5: 187 Plato's Dialectical Ethics: Phenomenological Interpretations Relating to the Philcbus 5:3 Plato's Educational State 5:249 Plato's Parmenides and its Influcnce 7:313 Plato's Unwritten Dialectic 6:129 Plato see also: Amicus Plato; Dialectic and
Sophism; Idea and Reality; Idea of the Good; Logos and Ergon; Proofs of Immortality; Religion alld Religiosity The Play of Art 8:86 Poetry and Mimesis 8:80 On the Primordiality ofScience: A Rectoral Address 10:287 The Problem of Language in Schleiermacher's Hermeneutics 4:361 On the Problem of Self-Undcrstanding 2:121 On the Problematic Character of Aesthctic Consciousness 8:9 The Proofs of Immortality in Plato 's Phaedo 6:187 Reinhardt - Karl Reinhardt 6:285 Religion and Religiosity in Socrates 7:83 The Relevance of thc Beautiful: Art as Play, Symbol and Festival 8:94 The Religious Dimension in Hcidcgger 3:308
Rhetoric, Hermeneutics and the Critique of Ideology: Metacritical Comments on )Truth and Method< 2:232; Reply to My Critics 2:251 Rilkc see: M ythopoetic Inversion Scheler - Max Scheler 10:380 Schleiermacher see: Problem of Language The Science ofthc Lifc-World 3:147 On the Scope and Function of Hermeneutical Reflection 2:232; Reply to My Critics 2:251 Semantics and Hermencutics 2: 174 Under the Shadow ofNihilism 9:367 Socrates see: Religion and Religiosity The Specchless Image 8:315 Text and Interpretation 2:330 Theory, Technology, Practice: Thc Task of the Science of Man 4:243 To What Extend Docs Languagc Prcform Thought? 2: 199 Truth and Method 1: 1; Foreword to the Second German Edition 2:437 The Universality of the Hermeneutical Problem 2:219 The University of Heidclbcrg Jnd the Birth ofModern Science 10:336
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Verzeichnis der Gesammelten Werke
The Verse and the Whole 9:249 What is Practice?: The Conditions ofSocial Reason 4:216
The \'(lestern View ofthe Inner Experience ofTime and the Limits ofThought 4: 119 White - Reply to Nicholas P. White 7:328
Index des traductions fran~aises Pour les lecteurs fran~ais qui veuillent consulter les textes originaux publies dans cette edition du Recueil des CEuvres les traductions fran~aises sont enumerees ici par ordre alphabetique avec les numeros de volume: premiere page. L'actualite du beau: L'art comme jeu, symbole et fete 8:94 Art et imitation 8:25 Celan voir: Qui suis-je; Poetes se taisentils? Du cercle de la comprehension 2:57 La contribution de la poesie a la recherche de la verite 8:70 Creation poctique et interpretation 8: 18 Le dcfi hermeneutiquc 2:330 Dialectique et sophistique dans la VII c lcttre de Platon 6:90 La dialectique non ecrite de Platon 6: 129 Entre phcnomenologie et dialectique: Essai d'autocritique 2:3 Esthetique et hermeneutique 8: 1 Ethique des valeurs et «philosophie pratiqUC»
4:203
Etrc, Esprit. Dieu 3:320 L'etre et le neant 10:110 Existentialisme et philosophie de I'existence 3: 175 Experience csthetique et experience rcligieuse 8: 143 L'experience interieure du temps et l'echec de la reflexion dans la pensee occidentale 4:119 De la fcstivite thcatrale 8:296 Les fondemencs philosophiques du XX C siede 4:3 Hegcl ct Heidegger 3:87 Hegcl voir aussi: Itineraire de H.; Signification
Heidegger et le langage de la metaphysique 3:229 Heideggcr et l'histoire de la philosophie 3:297 Heidcgger - Martin Heidegger 3:262; M. H. et la theologie de Marburg 3: 197; I/oir aussi:. Etre, Esprit, Dieu; Existentialisme; Hegel et H.; Kant et l'hcrmcneutique philosophique; Qu'est-ce que la mctaphysique?; Rayonnement dc H. Hermeneutique et historicisme 2:387 L'hermeneutique, une tache theorique et pratique 2:301 L'homme et le langage 2: 147 L'image du pere dans la pensee de la Grece 6:218 L'intuition et le visible 8: 189 Itineraire dc Hcgd 4:463 Jaspers - Karl]aspers 10:392 ]usqu'a quel point la langue prcformc-telle la pcnsee? 2: 199 et J'hermeneutique philosophiquc 3:213 Krüger - Gerhard Krüger 10:412
K./l1r
Lipps - Hans Lipps 10:400 Löwith - Kar! Löwith 10:418 Logos et Ergon dans le Lysis de Platon 6: 171 Marburg voir: Heidegger et la theologie La mise en question de la conscicnce csthctique 8:9 La mort commc question 4: 161
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Verzeichnis der Gesammelten Werke
Natorp - Paul Natorp 10:375 La nature de la «res» et le langage des choses 2:66 La philosophie dans la societe moderne 10:308 Philosophie et litterature 8:240 Philosophie et poesie 8:232 Platon portraitiste 7:228 Platon voir aussi: Dialectique et sophistique; Dialectique non ecrite; Logos et Ergon; Schleiermacher platonicien Les poetes se taisent-ils? 9:362 Poesie et mimesis 8:80 Sur la possibilite d'une ethique philosophique 4:175 Le probleme hermeneutique, 1. L'universalite du probleme hermeneutique 2:219 Qu'est-ce que la metaphysique? 3:209 Qu'est-ce que la verite? 2:44 Qui suis-je et qui es-tu?: Commentaire de Cristaux de souffle de Paul Celan 9:383
Lc rayonnement de Heidegger 3:262 Reinhardt - Karl Reinhardt 6:285 Rhetorique, hermeneutique et critique de I 'ideologie: Commentaires metacritiques de <Wahrheit und Methode> 2:232; Replique a hermeneutique et critique de l'ideologie 2:251 Sartre voir: L'etre et le neant 10: 110 Scheler-Max Scheler 10:380 ScWeiermacher platonicien 4:374 Signification de la de Hegel3:65 Du silence des tableaux 8:315 Tableau et geste 8:323 Texte et interpretation 2:330 Transformations historiques de la raison 4:23 L'universalite du probleme hermeneutique 2:219
v erite
et methode 1: 1; Postface (Je cd.
Indice delle traduzioni italiane Per eommodita dei letton italiani ehe vogliano consultare il testo originale pubblicato in questa CoUezione deU' Opera Omnia le traduzioni italiane sono date qui in ordine alfabetieo insieme al numero dei volume: pa<~ina tlUmero ,mo. Agostino vide: pensiero come redenzione Amicizia e conoscenza di se. 11 ruolo dell' amicizia nell'etica grcea 7:396 Amicus Plato magis amiea veritas 6: 71 L'ammutolire del quadro 8:315 Aristotcle vide: L'idea dcl bene Arte e imitazione 8:25 L'attualidl del bello: Arte come gioco, simbolo e festa 8:94 Attualira di Hälderlin: il tormento dell' ineffabile 9:39
1972) 2:449
Bach e Weimar 9: 142 Betti - Emilio Betti e la scienza giuridia del Novecento 10:432 Bultmann - RudolfBultmann 10:387 II cammino spirituale delJ'uomo: Studi Sll poemi incompiuti di Goethe 9:80 Causalita nella storia? 4: 107 Celan vide: Chi sono io Che cos'e la prassi? Lc condizioni di una ragione soeiale 4:216 Chc eos'e la verita? 2:44 »Che eos'e mctafisica?« 3:209 Chi sono io, chi sei tu: Su Paul Cclan 9:383 Sul cireolo crmeneutico 2:57 «Cittadini di duc mondi» 10:225 La concezione dcl tempo nell'Occidentc 4:119 La continuid dclla storia c l'animo di csistenza 2: 133 Il contributo dcll'arte poetica nclla ricerca dclla vcrid 8:70 Decostruziollc c interpretazionc 2:361 Oi qua c oggi comincia una nuova epoca nella storia dcl mondo 4:336 La dialcttica ddl'autoscienza 3:47
Dialettica e sofistica Ilclla settima lcttera di Platone 6:90 Dialettica non scritta di Platone 6: 129 Dilthey tra romanticismo e positivismo 4:406 La dimensione rcligiosa 3:308 La dimcnsione rcligiosa in Heideggcr 3:308 11 dia del piil intimo semirc 9: 162 11 dramma di Zarathustra 4:448 Elogio dclla teoria 4:37 Eraclito vide: Hegel ed E. L'ercdita di Hegc14:463 Ermcnelltica (Encicl. dcl Novecento 1977) 2:92 Esistcnzialismo c filosofia dcll'esistenza 3:175 Essere, Spirito, Dio 3:320 Estctica cd ermenclltica 8: 1 Etica dialettica di Platone: Interpretazioni fenomcnologiche dd Filebo 5:3 La festivita del teatro 8:296 Filosofia e lctteratllra 8:240 Filosofia e poesia 8:232 I fondamenti filosofici dcl XX sccolo 4: J Frühromantik, ermcnctltica, dccostruzionismo 10: 125 Gehlen "ide: Pittura concettuale? Gesto e pittura 8: 323 Il gioco dell'arte 8:86 Goethe e il mondo morale 9: 72 Goethe e la filosofia 9: 56 Goethe vide: Bach e Wcimar~ Cammino spirituale I Greci 3:285
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Verzeichnis der Gesammelten Werke
Hegel e la dialettica antica 3:3 Hegel e Heidegger 3:87 Hegel ed Eraclito 7:32 Hegel e I'ermeneutica 4:463 Hegel vide: dialettica dell'autoscienza; L'eredita di H.; L'idea delia logica hegeliana; Mondo invertito; Studio ermeneutico; teoria hegeliana Heidegger e i Greci 3:285 Heidegger - Martin Heidegger 3:262; M. H. e la teologia di Marburg 3: 197; Il pensatore M. H. 3:223; I 75 anni di M. H. 3:186; Gli 85 anni di M. H. 3:262; vide: )Che cos'e metafisica?«; Dimensione religiosa; Esistenzialismo; Essere, Spirito, Dio; Greci; Kant e la fJ.1osofia ermeneutica; Linguaggio della metafisica; Platone eH.; Sentiero verso la svolta; Soggettivita; Storia della filos06a; Verita dell'opera d'arte Hölderlin e l'antichita 9: 1 Hölderlin e l'avvenire 9:20 Hölderlin vide: Attualita di H. L'idea del bene tra Platone e Aristotele 7:128 L'idea della logica hegeliana 3:65 Idea e realta nel Timeo di Platone 6:242 L'ideale della fIlosofia practica 2:319 Imperativo e saggezza 7:381 Intendimento e Rischio 2: 121 Intuizione e intuitivita 8: 189 Istorica e Linguaggio: Una Risposta 10:324 Jaspers - KarlJaspers 10:392 Kant e la filosofia ermeneutica 3:213 Kant e la svolta ermeneutica 3:213 Kant vide: Di qua e oggi comincia Kleist - Il Dio del sentimento piu intimo 9:162 Kaselleck vide: Istorica e Linguaggio Krüger - Gerhard Krüger 10:412 Leggere e come tradurre 8:279 La lcttura di edifici e di pinti 8:331 Illinguaggio della metafisica 3:229 Lipps - Hans Lipps 10:400 Löwith - Kar! Löwith 10:418 Logos e ergon nel Liside di Platone 6: 171
Maestri c allievi 10:331 Marburg 'Jide: Martin Heidegger e la teo-
Indice delle traduzioni itaiane Riflessioni sul rapporto tra rcligionc e scienza 8: 156
10gb Matematica e dialettica in Platone 7:290 Il mondo invertito 3:29 La morte come problema 4:161 Natorp - Paul Natorp 10:375 La natura dell' oggetto e illinguaggio delle cose 2:66 Nietzsche vide: Dramma di Zarathustra Il Parmenide platonico e la sua influenza 7:313 Il pensatore Martin Heidegger 3:223 Il pensiero come redenzione: Plotino tra Platone e Agostino 7:407 Per una pianificazione del futuro 2: 155 Pittura concettuale? 8:305 Platone e Heidegger 3:238 Platone e i poeti 5: 187 Platone e i presocratici 6:58 Platone e il pensare in utopie 7:270 Platone vide: Amicus Plato; Dialettica e sofistica; Dialettica non scritta; Etica dialettica; Idea del bene; Idea e realta; Logos e ergon; Matematica e dialettica; Parmenide platonico; Pensiero come redenzione; Prove dell'immortalita; Religione c religiosita; Schleiermacher platonico; Stato educativo PlotillO lIide: Pensiero cOIße redenzione Pocsia e mimesis 8:80 Poetare e interpretare 8: 18 Sulla possibilita di un'etica filosofica 4: 175 Prefazione (per: Hcidegger, ehe cos'e metafisica?) 3:209 Prefigurazioni della Riflessione 6: 116 Sulla preistoria della metafisica 6:9 Il problema della storia nella filosofia tedesca contemporanea 2:27 La problematicira della coscienza estetica 8:9 Le prove dell'immortalita nel Fedone di Platone 6: 187 Rcinhardt - Karl Reinhardt 6:285 Religione e !"eligiosid in Socrate 7:83 Retorica, crmeneutica e critica dell'ideologia: Considerazioni metacritiche su )Verita c metodo< 2:323; Replica 2:251
Scheler - Max Schcler 10:380 Schleiermacher platonico 4:374 11 sentiero verso la svolta 3:271 Socrate vide: Rcligione c religiosira Soggettivita e illtcrsoggettivid nella prospettiva di Heideggcr 3:271 Lo stato educativo di Platone 5:249 La storia della filosofia 3:297 Uno studio ermeneutico: l'estetica di Hegcl e il cenacolo romantico di Heidclberg 4:395
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La teologia di Marburgo 3: 197 naUa tcoria hcgcliana dc.'l caratterl? pa~;sato dcll'arte all'odierna antiarte 8:206 Testo e interpretaziol1c 2:330 Il testo eminente c la sua vcrita 8:286 Udire, vedcre, lcggere 8:271 L'univcrsalira dcl problema ermel1<.'\1tico 2:219 Vomo e linguaggio 2: 147 La verira dell'opera d'arte 3:249 Vcrita e metodo 1: 1